Objektive Hermeneutik - Studieren, aber richtig

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Objektive Hermeneutik - Studieren, aber richtig
Studieren, aber richtig
Gerald Poscheschnik
Objektive Hermeneutik
Ergänzung zu Abschnitt „V.1. Qualitative Auswertungsmethoden“
Die Objektive Hermeneutik ist eine qualitative Datenauswertungsmethode, die
von Ulrich Oevermann (Oevermann 2002; Oevermann et al. 2010) begründet wurde. Ursprünglich entwickelt für die Analyse natürlicher Interaktionen, hat sich die
Domäne der Objektiven Hermeneutik mittlerweile auf alle Arten von Texten und
Dokumenten ausgedehnt. Die Objektive Hermeneutik zielt darauf ab, die hinter
den subjektiven Bedeutungen verborgenen objektiven Sinn-Strukturen zu dechiffrieren. Das heißt, ähnlich wie bei der Psychoanalytischen Textinterpretation (s.
Abschnitt V.1) geht es um die Entdeckung von Strukturen, die das Datenmaterial
in seiner vorliegenden Form bestimmen. Man könnte auch sagen, die Objektive
Hermeneutik rekonstruiert die zugrundeliegenden Strukturen eines Texts.
Die Objektive Hermeneutik (s.a. Flick 2004; Mayring 2002; Reichertz 2004)
differenziert zwischen zwei Ebenen des Texts: Zum einen die subjektiven Bedeutungen, die eine Handlung für die erzählenden bzw. handelnden Akteure hat. Zum
anderen die dahinter liegenden objektiven Bedeutungsstrukturen, also die latente
Sinnstruktur der Handlung. Die subjektiven Bedeutungen und die zugrundeliegenden Bedeutungsstrukturen sind nicht ident; für gewöhnlich werden letztere
vom Subjekt auch nicht unbedingt erkannt, können aber mithilfe der Objektiven
Hermeneutik erschlossen werden. Der subjektive Sinn der Handlungen, sprich das,
was die Handelnden gemeint, gefühlt, intendiert und gedacht haben, ist nicht Gegenstand der Objektiven Hermeneutik. Der Objektiven Hermeneutik geht es also
weniger darum, den vom Sprecher bzw. Textproduzenten intendierten Sinn zu ergründen, sondern den latenten Sinn bzw. die Struktur des Textes zu erschließen.
Zu diesem Zweck wird soziales Handeln in einen Text transformiert, der dann auf
handlungsgenerierende latente Sinnstrukturen untersucht wird. Das Ziel besteht
darin, die objektiven Bedeutungsstrukturen zu rekonstruieren. Ähnlich wie bei anderen qualitativen Auswertungsmethoden auch handelt es sich um ein mehrglied3
Hug, Theo & Poscheschnik, Gerald unter Mitarbeit von Bernd Lederer und Anton Perzy (2010)
Empirisch Forschen. Über die Planung und Umsetzung von Projekten im Studium
Stuttgart: UVK/Huter&Roth (UTB, 3357, ISBN 978-3-8252-3357-0)
Gerald Poscheschnik : Objektive Hermeneutik
riges, regelgeleitetes Verfahren, das nichtsdestotrotz bis zu einem gewissen Grad
eine Kunstlehre bleibt. Den Kern des Verfahrens bildet ein sukzessiver Vergleich
von möglichen Bedeutungsfacetten einer Handlung mit seinem tatsächlichen Bedeutungsgehalt. Entscheidend für die Objektive Hermeneutik ist somit das Verhältnis zwischen den möglichen Bedeutungen und der tatsächlichen Bedeutung, denn
aus diesem Spannungsfeld wird im Prozess der Analyse schrittweise die objektive
Bedeutungsstruktur des Falles herausgefiltert. Grundlage der Interpretation ist die
Annahme, dass die Sprache ein System intersubjektiv geteilter Regeln und Bedeutungen ist, das zwar nicht immer offensichtlich ist, sich aber rekonstruieren lässt.
Vor dem Beginn der eigentlichen Analyse müssen eine Reihe von Erkenntnishindernissen aus dem Weg geräumt werden: So muss der unmittelbare Interpretationsdruck aufgehoben werden zugunsten einer zeitintensiven Reflexion über den Sinn
von Handlungen. Zudem müssen neurotische oder ideologische Tendenzen des
Interpreten, die die Auswertung verzerren könnten, ausgeschalten werden. Und zu
guter letzt müssen die Interpreten kundige Mitglieder der Sprachgemeinschaft sein,
um überhaupt potenziell verstehen zu können. Die Objektive Hermeneutik kann
sinnvoll dort eingesetzt werden, wo es um die Aufdeckung von Strukturen geht, die
hinter dem Textmaterial stehen. Eine objektiv-hermeneutische Interpretation sollte
immer von einer Gruppe mehrerer Interpretinnen, die gemeinsam an einem Text
arbeiten, vorgenommen werden. Ob die Objektive Hermeneutik auch für kleinere
wissenschaftliche Studien geeignet ist, sei dahingestellt, denn das Verfahren ist sehr
zweitaufwändig. Für die Auswertung eines einseitigen Transkripts braucht man
eine Gruppe von fünf Auswertern, die mindestens 30 Stunden daran arbeiten und
im Zuge dessen ein 50seitiges Auswertungsprotokoll produzieren. Bedenkt man
nun, dass auch noch weitere Fälle nötig sind, um die Interpretationen abzusichern,
wird es eng mit den Ressourcen, die z.B. im Rahmen einer Bachelorarbeit zur Verfügung stehen (s. Kap. I und II).
Das konkrete Vorgehen bei der Objektiven Hermeneutik ist äußerst differenziert und komplex, weshalb die vorliegende Darstellung zwangsläufig vereinfachend bleiben muss:
1.
Forschungsfrage festlegen: In einem ersten Schritt müssen Forschungsfrage
und Forschungsgegenstand festgelegt werden. Ist der Gegenstand des Interesses die
Persönlichkeitsstruktur des Interviewten oder seine Identitätskonstruktionen; geht
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es um die Interaktionen zwischen Interviewerin und Interviewter oder vielleicht
um die Struktur eines Sozialsystems, über das der Interviewte erzählt?
Grobanalyse: Dem folgt eine Grobanalyse, in der die Rahmenbedingungen
des Datenmaterials analysiert werden. Hierbei werden die äußeren Kontexte, in die
die jeweiligen Handlungen eingebettet sind, analysiert. Diese soll offenbaren, wie
der zu analysierende Text überhaupt entstanden ist. Eine Interaktion zwischen einem Psychotherapeuten und einem Patienten gehorcht einer anderen Logik als ein
gewöhnliches Experteninterview. Die Rahmenbedingungen bilden den Kontext des
Datenmaterials und sind somit auch Referenzpunkt des folgenden Analyseschritts.
2.
Sequenzielle Feinanalyse: Der nächste und eigentliche Schritt der Objektiven Hermeneutik ist die so genannte Sequenzielle Feinanalyse. Hierbei wird das
Material in einzelne Interakte bzw. Sequenzen zergliedert, die nacheinander analysiert werden. Der Text wird Zug um Zug interpretiert. Dabei werden in einer Art
Gedankenexperiment alle möglichen Bedeutungen einer Handlung exploriert. An
die zu analysierende Textstelle wird die Frage gerichtet: Was könnte das bedeuten?
Hierbei ist es wichtig dem Text quasi einen Sinnüberschuss zu unterstellen und
möglichst viele, auch unwahrscheinliche Lesarten zu bedenken. Im Unterschied
zum Alltagsverstehen wird also das Geschehen nicht nur auf eine einzige Art und
Weise interpretiert, sondern viele verschiedene, auf den ersten Blick auch weniger
wahrscheinliche Lesarten erwogen. Daraus lassen sich dann sukzessive allgemeine
Struktureigenschaften des Materials ableiten. Aus dem vorherigen Interakt werden
dann mögliche Konsequenzen für den folgenden Interakt analysiert. Das geschieht
unter anderem, indem man versucht gedankenexperimentell zu erwägen, wie es
mit dem Interaktionsprozess nun weitergehen könnte. Die tatsächliche nächste Äußerung wird dann kontrastiert mit den gefundenen Lesarten, was zu einem
schrittweisen Ausschluss unzutreffender Lesarten führt. Durch den sukzessiven
Ausschluss alternativer Lesarten des Geschehens kristallisiert sich allmählich eine
Bedeutungsstruktur heraus.
3.
Strukturgeneralisierung: Im letzten Schritt der Objektiven Hermeneutik
werden Strukturgeneralisierungen angestrebt. Dabei werden verschiedene Fälle, die
sich auf die anfangs definierte Fragestellung beziehen, miteinander verglichen. Um
von singulären Aussagen (Einzelfallstrukturrekonstruktion) zu allgemeinen Aussagen (Strukturgeneralisierung) zu gelangen, arbeitet man mit dem so genannten
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Hug, Theo & Poscheschnik, Gerald unter Mitarbeit von Bernd Lederer und Anton Perzy (2010)
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Falsifikationsprinzip. Das heißt, die am einzelnen Fall entwickelte Interpretation
wird als zu falsifizierende Heuristik verwendet, um weitere Fälle zu analysieren.
Man kann also aus der objektiv hermeneutischen Fallanalyse Hypothesen ableiten, die an weiteren Fällen geprüft werden können. Stimmt eine Textpassage mit
der aufgestellten Hypothese nicht überein, gilt diese als falsifiziert. Die Strukturgeneralisierung strebt die Aufdeckung von Strukturgesetzlichkeiten an, die sowohl
einzelfallspezifisch als auch allgemein sind.
Literatur
Flick, Uwe (2004): Qualitative Sozialforschung. Eine Einführung. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
Mayring, Philipp (2002): Einführung in die Qualitative Sozialforschung.
Weinheim:Beltz.
Oevermann, Ulrich; Allert, Tilman; Konau, Elisabeth & Krambeck, Jürgen (1979).
Die Methodologie einer „objektiven Hermeneutik“ und ihre allgemeine
forschungslogische Bedeutung in den Sozialwissenschaften. In: Hans-Georg
Soeffner (Hrsg.): Interpretative Verfahren in den Sozial- und Textwissenschaften. Stuttgart: Metzler, 352-434.
Oevermann, Ulrich (2002): Klinische Soziologie auf der Basis der Methodologie
der objektiven Hermeneutik – Manifest der objektiv hermeneutischen
Sozialforschung. http://www.ihsk.de/publikationen/Ulrich_OevermannManifest_der_objektiv_hermeneutischen_Sozialforschung.pdf. Download
am 26.04.2010.
Literaturtipp
Wernet, Andreas (2009): Einführung in die Interpretationstechnik der Objektiven
Hermeneutik. 3. Aufl. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.
Reichertz, Jo (2004): Objektive Hermeneutik und hermeneutische Wissenssoziologie.
In: Flick, Uwe; von Kardorff, Ernst & Steinke, Ines (Hrsg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, S. 514–524.
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