Pädagogische Hochschule Salzburg Beiträge aus
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Ausgabe 04 2011 Pädagogische Hochschule Salzburg Beiträge aus Wissenschaft und Lehre AUSGABE 04/2011 Inhaltsverzeichnis EDITORIAL Heterogenität in Schule und Unterricht Elfriede Windischbauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 ASPEKTE DER LEHRERiNNENBILDUNG Wohin die Reise geht Josef Sampl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Berufswahl im Spannungsfeld von Geschlecht und Zeitgeist Jürgen Bauer, Maria Haderer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Lehrgang „Berufsbezogene Fremdsprache Englisch“ Didaktische Konzeption und Kompetenzenkatalog Christian Lutsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 BEITRÄGE AUS WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG Heterogenität in der Neuen Mittelschule Angelika McMahon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Es war einmal ... eine homogene Lerngruppe Vom Mythos der Homogenität und dem Umgang mit Heterogenität Hans-Peter Gottein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dialog der Esskulturen Ursula Buchner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Berufsstimme am Stimmarbeitsplatz Schule Das Stimmbetreuungsprojekt an der Pädagogischen Hochschule Salzburg Hannes Tropper, Josef Schlömicher-Thier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 . . . . . . . . . . . 25 . . . . . . . . . . . 32 . . . . . . . . . . . 41 GASTBEITRAG Mehrsprachige Gesellschaft - zweisprachige Schulen? Anmerkungen zum Umgang mit sprachlicher Vielfalt Rudolf de Cillia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 PROJEKTE „Cora kocht und Bernhard baut - Oder doch nicht?“ Geschlechtersensible Atelierangebote an der Praxissvolksschule der Pädagogischen Hochschule Heike Niederreiter, Silvia Nowy-Rummel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aus anderer Sicht - ein Projekt an der Pädagogischen Hochschule Christian Treweller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Lesetagebuch als Beitrag zur individuellen Leseförderung Christine Schober . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Differenzierung durch Komplexität - Heterogenität im Mathematikunterricht begegnen Myriam Burtscher, Barbara Herzog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 60 65 69 KOOPERATIONEN Impulse der internationalen Zusammenarbeit für inklusive Pädagogik in Österreich Irene Moser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 ARBEITEN VON STUDIERENDEN Mathematik mit Kindern, die schwerhörig oder gehörlos sind Bettina Lorenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 PUBLIKATIONEN VON MITARBEITERiNNEN DER PH SALZBURG Kinder bei Tod und Trauer begleiten Sagmeister, Raimund - Rezension von Friedrich J. Drechsler . . Kompetente Beratung in der Schule Magnus, Andrea - Rezension von Ewald Moser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 AUTORINNEN / AUTOREN Kurzporträts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 INHALT |3 EDITORIAL Elfriede Windischbauer Heterogentität in Schule und Unterricht Sehr geehrte Leserin, sehr geehrter Leser! lernt anders und hat andere Voraussetzungen.“ (Dräger/ Ölkers 2009: 4) Mit diesem Heft halten Sie die Nummer 4 von ph.script in Händen, die sich erstmals einem Schwer punkthema widmet. Die Mehrzahl der Beiträge setzt sich mit dem Thema Heterogenität auseinander. In diesem Sinn beschäftigen sich die AutorInnen der vorliegenden Nummer von ph.script aus unterschiedlichen Perspektiven mit dem Thema Heterogenität. Die Gesellschaft, in der wir leben, ist durch das Nebeneinander unterschiedlicher Lebensstile und Wertorientierungen geprägt. Globalisierung, offene Grenzen innerhalb der EU, Arbeitsmigration und internationale Fluchtbewegungen verstärken die Entwicklung hin zu einer zunehmend heterogenen Gesellschaft. Unabhängig davon, ob LehrerInnen und LehrerbildnerInnen diesen Tendenzen positiv oder kritisch gegenüberstehen, kann Schule als wesentliche gesellschaftliche Institution sich diesen sich verändernden gesellschaftlichen Bedingungen nicht verschließen. Vielmehr muss sie versuchen, der in der Gesellschaft bestehenden Heterogenität gerecht zu werden und die individuellen Bedürfnisse und Fähigkeiten der SchülerInnen besser wahrzunehmen. „Die Heterogenität von Kindern und Jugendlichen anzuerkennen bedeutet, die Unterschiedlichkeit in den Lernbegabungen, den Interessen, den Lerntypen, den ethnischen und kulturellen Hintergründen zu erkennen und sie im Unterricht zu berücksichtigen. Ein modernes Bildungssystem fördert das Potential jedes Kindes und unterstützt das Lernen des Einzelnen, denn jedes Kind, jeder Jugendliche 4| EDITORIAL Geschlechtersensible Fragen, wie z.B. die Berufswahlentscheidung von Burschen und Mädchen oder das Angebot in offenen Lernphasen an der Praxisvolksschule der Pädagogischen Hochschule werden ebenso behandelt wie Themenbereiche der Integration und Inklusion von Menschen mit Lernschwierigkeiten und Behinderungen. Wie unterschiedliche Lernwege und Inter essen von SchülerInnen im Unterricht berücksichtigt werden können, wird anhand der Mathematik und der Arbeit mit Lesetagebüchern gezeigt. Im Gastbeitrag wird auf den Umgang mit sprachlicher Vielfalt an den Schulen eingegangen. Weiters ist der Umgang mit Heterogenität in den Neuen Mittelschulen Thema wie auch die Tatsache, dass der Umgang mit Heterogenität u.a. von Persönlichkeitsmerkmalen der LehrerInnen beeinflusst wird. Die Redaktion hofft, mit dieser Nummer von ph.script auch auf die heterogenen Interessen und Zugänge der LeserInnen eingehen zu können! Elfriede Windischbauer im Namen der Redaktion von ph.script Literatur: Dräger, Jörg / Ölkers, Jürgen: Heterogenität und Bildung. Individuelles Fördern in Deutschland. Hindernisse und Herausforderungen. Gütersloh, 2009. Josef Sampl WOHIN DIE REISE GEHT Wohin die Reise geht Josef Sampl Die Zukunft hat schon begonnen (Robert Jungk) Die Zukunft war früher schon einmal besser (Karl Valentin) Die LehrerInnenaus-, -fort- und -weiterbildung steht zurzeit im Fokus der Bildungsreform in Österreich. Die Zweigleisigkeit zwischen der Ausbildung von PflichtschullehrerInnen und Lehrer Innen der AHS/BSH wird diskutiert. Durchlässige und flexible Aus-, -Fort- und Weiterbildungsstrukturen, die das professionelle Handeln von Lehrenden in einer modernen Wissens- und Lerngesellschaft gewährleisten, müssen das Ziel der Reform sein. Der Reformprozess löste eine intensive, unkonventionelle Diskussion aus, in der der vorliegende Beitrag eine deutliche Positionierung einnimmt. 1. Von den Ursprüngen der LehrerInnenbildung „Ich muss den Gelehrten (Franz Michael Vierthaler) bewundern, der von seinen geliebten Büchern scheiden konnte, der den sichern Weg zum Ruhme verließ, um sich mit der elementaren Bildung armer Schulpräparanden abzugeben, und der sich ohne Aussicht auf Ruhm und Belohnungen für besseren Unterricht und bessere Erziehung des Volkes sein Leben lang einsetzen wollte“ (Arnthaller 1880:17) formulierte Arnthaller, nachdem Franz Michael Vierthaler im November 1790 ein „Schullehrerseminar“ eröffnet und damit in Salzburg die institutionelle LehrerInnenbildung begründet hatte. Seit diesem Zeitpunkt sind über 200 Jahre vergangen und die LehrerInnenbildung hat in Salzburg und in Österreich eine wechselvolle Entwicklung genommen. Intensive Reformphasen wechselten mit längeren Perioden der Reformruhe. Während das Gymnasiallehramt aus dem Theologiestudium entstand und so von Beginn an in der Universität lokalisiert war, begann die Ausbildung zum Pflichtschullehrer mit einem bloßen Anlernen bei erfahrenen Schulmeistern nach einer Art Meisterlehre. Erst Ende des 18. Jahrhunderts entwickelten sich Lehrerseminare – wie in Salzburg das von Vierthaler gegründete. Ungefähr zur selben Zeit kam es durch eine „Trennung vom Theologenamt“ im deutschen Sprachraum zu einer institutionalisierten Gymnasiallehrerausbildung an den Universitäten. Die Entwicklung des Gymnasiallehramtes war aber von Anfang an durch die Abgrenzung von der Ausbildung der Pflichtschullehrer/innen geprägt. (Vgl. Heinzel 2009:265 ff) In den letzten 40 Jahren betrafen die Reformen der LehrerInnenausbildung allerdings in erster Linie die PflichtschullehrerInnenbildung. Mit der Einführung der Pädagogischen Akademien im Jahre 1968 anstelle der bisherigen LehrerInnenbildungsanstalten wurde in der PflichtschullehrerInnenbildung ein großer Reformschritt gesetzt. Von kleineren Veränderungen abgesehen, sollte es 30 Jahre dauern, bis durch das Akademien studiengesetz 1999 erste Elemente tertiären Bildungswesens in die österreichische PflichtschullehrerInnenausbildung Eingang ASPEKTE DER LEHRERiNNENBILDUNG |5 WOHIN DIE REISE GEHT Josef Sampl fanden (vgl. Härtel 2010:24 ff). Erst durch das Hochschulgesetz 2005 (HG 2005) wurde die Ausbildung der PflichtschullehrerInnen auf ein akademisches Niveau angehoben und endgültig im tertiären Bildungsbereich verankert - einundneunzig Jahre nachdem der namhafte Schulreformer Otto Glöckel in der Arbeiterzeitung vom 27.3.1920 die schon am Lehrertag 1876 aufgestellte Forderung nach einer akademischen PflichtschullehrerInnenausbildung bekräftigt hatte. 2. Die jüngsten Entwicklungen Seit dem Hochschulgesetz 2005 und dem Beginn der Pädagogischen Hochschulen mit dem Studienjahr 2006/07 gibt es um die LehrerInnenbildung in Österreich eine notwendige permanente Reformdiskussion. So wurde im November 2008 von Unterrichtsministerin Claudia Schmied und dem damaligen Wissenschaftsminister Johannes Hahn die ExpertInnengruppe „LehrerInnenbildung NEU. Die Zukunft der Pädagogischen Berufe“ unter der Leitung des Bildungsexperten und Geschäftsführers der Steirischen Volkswirtschaftlichen Gesellschaft, Peter Härtel, eingesetzt. Die Ergebnisse der ExpertInnengruppe, der in erster Linie VertreterInnen der Universitäten aber auch zwei Mitglieder der Pädagogischen Hochschulen angehörten, wurden am 18.2. von Schmied und Hahn der Presse vorgestellt, der Endbericht am 26.3.2011 veröffentlicht. (Vgl. www.bmukk. gv.at/medienpool/19218/labneu_endbericht.pdf) In einem für bildungspolitische Vorhaben in Österreich völlig neuen Verfahren wurden diese Ergebnisse nun diskutiert. Bildungspolitik wurde in Österreich bisher von einem (kleinen) Kreis von ExpertInnen und Politiker Innen gestaltet. Die beiden Ministerinnen Schmied und Karl beschritten nun einen völlig neuen und zukunftsweisenden Weg. In vier sogenannten Stakeholderkonferenzen in Linz (12.11.), Wien (30.11.), Graz (3.12.) und Innsbruck (9.12.) wurde in der zweiten Jah- 6| ASPEKTE DER LEHRERiNNENBILDUNG reshälfte 2010 mit 269 VerantwortungsträgerInnen aus über dreißig Institutionen unter Beisein beider Ministerinnen in einem jeweils sechsstündigen Meeting der Bericht (kritisch) diskutiert. Die Ergebnisse dieses demokratiepolitisch wegweisenden „Begutachtungsverfahrens“ werden nun vor einer allfälligen bildungspolitischen Festlegung in das Konzept ein- bzw. dieses entsprechend umgearbeitet. Eine Vorbereitungsgruppe unter der Leitung des steirischen Pädagogen Andreas Schnider ist zurzeit mit der Ausarbeitung von folgenden Eckpunkten befasst: Eckpunkten und Standards für Rahmencurricula Eckpunkten und Standards für Ausbildungsgänge Qualitätsstandards für die Trägerorganisationen Inhaltlichen Grundlagen für Einrichtung eines Entwicklungsrates für „PädagogInnenbildung NEU – Die Zukunft der Pädagogischen Berufe“ (Vgl. www.bmukk. gv.at/medienpool/19976process.pdf) Im Herbst wird ein Entwicklungsrat eingerichtet, der die weiteren Implementierungs arbeiten begleitet. Seine wesentlichen Aufgaben sind: “Entwicklungsplan für die Umstellungsphase Richtlinien für Rahmencurricula, Ausbildungsgänge, Trägerorganisationen Akkreditierung der Studiengänge Sicherung der Ausbildungsstandards Förderung der Qualität der Lehre und Forschung Beratung der zuständigen MinisterInnen“ (www.bmukk.gvt.at/medienpool/19976 process.pdf) 3. Die notwendige Professionalität Dass professionelles Handeln von Lehrenden in einer modernen Wissens- und Lerngesell- Josef Sampl schaft von entscheidender Bedeutung ist, ist unbestritten. Die Lehrerinnenbildungsprofessionalität bestimmt wesentlich die individuellen Bildungsverläufe und diese haben, empirisch belegt, „stets starke Rückkopplungseffekte auf Berufsverläufe und damit nicht nur Auswirkungen auf Berufs- und Lebenserfolg von Individuen, sondern auch für die Realisierung gesamtgesellschaftlicher Aufgabenstellungen (z. B. Stabilisierung demokratischer Strukturen, Umgang mit Mi gration und Integration) ebenso wie auf das Wirtschafts- und Beschäftigungssystem (z. B. Ressourcenallokation, Entwicklung des Humankapitals)“. (Zlatkin – Troitschanskaia u. a. 2009:13) Für ein gelingendes professionelles Handeln ist daher eine entsprechende spezifische Aus- und Fortbildungsinstitution unabdingbar. Die Komplexität der Bedingungs-, Prozessund Wirkungszusammenhänge, die professionelles Lehrhandeln ermöglicht, wurde und wird stark unterschätzt. Trotz des intensiven Bemühens und der Bereitstellung beträchtlicher Mittel haben sich „zentrale Probleme unserer Bildungssysteme wie soziale Selektion, mangelnde Chancengerechtigkeit und unzulängliche individuelle Förderung in der letzten Dekade eher verschärft als abgeschwächt“. (Zlatkin – Troitschanskaia u. a. 2009:13) 4. Wohin die Reise geht Die RektorInnenkonferenz der öffentlichen Pädagogischen Hochschulen Österreichs (RÖPH) (vgl. Brunner 2010:233 ff.) hat im März 2011 eine Stellungnahme veröffentlicht, die die Meinung aller Rektorate der öffentlichen Pädagogischen Hochschulen wiedergibt. Unter dem Titel „Das Lernen lehren, das Lehren lernen. Positionspapier der RÖPH zu ‘LehrerInnenbildung NEU. Die Zukunft der pädagogischen Berufe‘“ wird eindeutig festgestellt: „Pädagogische Berufe stellen eine eigenständige Profession WOHIN DIE REISE GEHT dar: ExpertInnen in den pädagogischen Handlungsfeldern brauchen akademische Bildung in Verbindung mit vielfältigen Lernorten ihrer Berufsrealität. Die Ausgestaltung des Theorie-Praxis-Bezugs verlangt ein wissenschaftlich fundiertes und forschungsgeleitetes Konzept der PädagogInnenbildung. Die Zielsetzung orientiert sich an der Schaffung, Verwirklichung und Weiterentwicklung einer bestmöglichen Gestaltung erzieherischen und unterrichtlichen Handelns in den pädagogischen Herausforderungen unseres Landes und seiner Menschen für die Gegenwart und Zukunft. Dies betrifft schulische Lernorte, aber auch und in zunehmendem Maß außerschulische und nicht-institutionelle Lern- und Lebensräume. Dafür erforderlich ist ein konzentrisches und partizipatives Zusammenwirken aller beteiligten Akteure von Wissenschaft, Bildungsmanagement und pädagogischer Praxis. Die dazu notwendige Entwicklung erfordert strukturell, institutionell und im Sinn einer Konzentration der Kräfte wie auch in anderen Expertenberufen als eigenen Typus eine Universität für pädagogische Berufe.“ (www.bmukk.gv.at/ medienpool/20260pb_roeph.pdf) Für eine konsequente Entwicklung der professionellen LehrerInnenbildung spricht auch, dass die Ausbildung von PädagogInnen Elemente der zentralen Lenkung benötigt. Es kann nicht sein – wie dies zurzeit in der universitären LehrerInnenbildung der Fall ist –, dass wesentliche, notwendige Vorgaben für professionelles Lehrhandeln in der Ausbildung unberücksichtigt bleiben. Das bm:ukk hat gegenwärtig aufgrund der Vollrechtsfähigkeit und der damit verbundenen Autonomie der Universitäten wenig bis keine Möglichkeiten, entscheidende Inhalte für professionelles Lehrerhandeln im schulischen Kontext in die Ausbildung der AHSund BHS- LehrerInnen strukturiert und verlässlich zu implementieren. Als Beispiele seien nur Themen wie Gewaltprävention, Individualisierung, Bildungsstandards, die Neue MitASPEKTE DER LEHRERiNNENBILDUNG |7 WOHIN DIE REISE GEHT Josef Sampl telschule oder die teilzentrale, kompetenzorientierte Reifeprüfung genannt. Auch der Einflussnahme der Universitätsleitungen auf die Lehramtsstudien sind aufgrund der Freiheit von Wissenschaft und Lehre enge Grenzen gesetzt, sodass es in der Quantität und Qualität der fachdidaktischen Ausbildungselemente an ein und demselben Standort zu großen Unterschieden kommen kann. Aus meiner Sicht als Rektor der Pädagogischen Hochschule Salzburg ergeben sich für die nächsten Dekaden zwei wesentliche Forderungen: 1. Höchstmögliche Bologna-konforme Qualifikation für alle pädagogischen Berufe 2. Zusammenführung der Ausbildungen in einer vollwertigen tertiären Bildungsinstitution (z. B. Pädagogische Universität), an der Qualitätssicherung, Schulentwicklung und berufsfeldbezogene Forschung und die Aus-, Fort- und Weiterbildung für alle pädagogischen Berufe stattfindet. 8| ASPEKTE DER LEHRERiNNENBILDUNG Alle nun gesetzten Maßnahmen wie die geplanten Kooperationen der Pädagogischen Hochschulen mit den Universitäten, die Akkreditierung von Studiengängen, die Richtlinien für Rahmencurricula etc. sind auf dem Weg dazu hilfreich. Literatur: Anthaller, Franz (1880): Franz Michael Vierthaler, der Salzburger Pädagoge. Ein Beitrag zur Geschichte der Pädagogik. Zitiert nach: W. von der Fuhr (Hg.) (1904): Franz Vierthalers pädagogische Hauptschriften. Paderborn: Ferdinand Schöningh Verlag (Sammlung der bedeutendsten pädagogischen Schriften aus alter und neuer Zeit. Bd. 29). Brunner, Ivo (2010): Führung und Steuerung pädagogischer Hochschulen im Handlungskontext der österreichischen Rektorenkonferenz (RÖPH) – Möglichkeiten und Grenzen. In: Zeitschrift zu Theorie und Praxis der Ausund Weiterbildung von Lehrerinnen und Lehrern 28.2. 233-241. Härtel, Peter (2010): Die Zukunft der pädagogischen Berufe: Wissenschaft und Forschung als integrales Element von LehrerInnenbildung NEU. In: Erziehung und Unterricht. 1 und 2. 24-30. Heinzel, Friederike (2009): Gleichwertige universitäre Bildung für den Elementar- Primar-, und Sekundarbereich in Deutschland. In: Dorit Posse und Peter Posch (Hg.) (2009): Schule 2020 aus Expertensicht. Zu Zukunft von Schule, Unterricht und Lehrerbildung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. 265-270. Zlatkin-Troitschanskaia, Olga u.a. (2009): Perspektiven auf „Lehrerprofessionalität“. Einleitung und Überblick. In: Zlatkin-Troitschanskaia u.a. (2009): Lehrerprofessionalität. Bedingungen, Genese, Wirkungen und ihre Messung. Weinheim und Basel: Beltz Verlag. 13-33. www.bmukk.gv.at/medienpool/19218/labneu_endbericht.pdf (Zugriff 7.4.2011). www.bmukk.gv.at/medienpool/19976process.pdf (Zugriff 3.4.2011). www.bmukk.gv.at/medienpool/20260pb_roeph.pdf (Zugriff 3.4.2011). Jürgen Bauer / Maria Haderer BERUFSWAHL IM SPANNUNGSFELD Berufswahl im Spannungsfeld von Geschlecht und Zeitgeist Jürgen Bauer/ Maria Haderer „Geschlechterverhältnisse werden heute als historische, kulturell wandelbare Kategorien betrachtet, die für die Betroffenen Ordnungs- und Orientierungsfunktion haben, die gesellschaftlich die Verteilung von Macht und Einfluss strukturell regeln und die Teilhabemöglichkeiten und Chancen der Einzelnen bestimmen. Außerdem schwingen die Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit in der Arbeit von Kunst, Wissenschaft und Medien mit.“ (Scheffler u. Baumann 2011: 50) Betrachteten wir obiges Zitat im Hinblick auf die Berufswahl und brächten wir die Aussage mit den Berufswahltheorien in Verbindung, so müssten wir feststellen, dass es trotz intensiven Bemühens von Schüler- und BildungsberaterInnen und trotz Berufsorientierungsunterrichts zu keiner Veränderung in der Wahl der Berufe gekommen ist. So können und wollen wir das aber nicht gelten lassen. Der Artikel soll aufzeigen, inwieweit sich der Zugang zur Berufswahl verändert hat. Wird obiges Zitat im Hinblick auf die Berufswahl betrachtet und wird die Aussage mit den Berufswahltheorien in Verbindung gebracht, so stellt sich die Frage, ob das intensive Bemühen von Schüler- und BildungsberaterInnen und der Berufsorientierungsunterricht zu Veränderungen in der Wahl der Berufe beigetragen hat. Dafür erscheint es notwendig, zunächst die Berufswahltheorien heranzuziehen: Der entscheidungstheoretische Ansatz betrachtet die Berufslaufbahn als Entscheidungsprozess, den das Individuum vollzieht. Der entwicklungstheoretische Ansatz ist ein lebenslanger, auf die Person bezogener Prozess. Die psychologische Berufswahltheorie beschäftigt sich mit den Persönlichkeitstypen nach Holland und der Allokationstheorie liegen sozioökonomische Zuweisungen zu Grunde. Abhängig von der jeweiligen Theorie wird erläutert, welche Einflussfaktoren auf die Entscheidung einwirken. Dies können die Familie, soziale oder wirtschaftliche Faktoren sein. Aus heutigen Erkenntnissen muss überlegt werden, ob die Berufswahl ausschließlich über die Berufs- wahltheorien erklärt werden kann, da sich u.a. die Arbeits- und Berufswelt wie auch die Berufsbilder gewandelt haben (vgl. Hammerer, Kanelutti, Melter 2011: 14). Darüber hinaus ist zu fragen, inwieweit schulische Bildung Geschlechterrollen verfestigt oder deren Aufbrechen begünstigt. Vor 15 Jahren stellte Dickinger fest: „Dem derzeitigen Bildungssystem können Merkmale der bürgerlichen Mädchenbildung nicht abgesprochen werden. (...) Trotz des formalen Ziels, die Ausbildung [Bundeslehranstalten für wirtschaftliche Berufe] solle zur Ausübung gehobener Berufe in der Wirtschaft, im Sozial- und Gesundheitswesen befähigen, haben Absolventinnen nur wenige Chancen, tatsächlich einen ausbildungsadäquaten Beruf zu ergreifen.“ Dickingers Untersuchungen ergaben, dass Mitte der 1990er Jahre die Absolventinnen dieses Schultyps nach wie vor eher traditionelle „weibliche“ Berufe ergriffen und eher heim- als berufsorientiert wären (vgl. Dickinger 1995: 102f). Sollten diese Aussagen auch heute noch Gültigkeit haben, würde das bedeuten, dass Mädchen überwiegend aus langer Tradition in typische geschlechtsspezifische Ausbildungen und Berufe streben und Burschen ihnen das gleichtun und alle Initiativen der letzten Jahre, die das Gegenteil angestrebt haben, wie MUT (Mädchen und Technik), Girls Day, Boy‘s Day und einige mehr, ihr Ziel verfehlt hätten. Allerdings sollte hier auch hinASPEKTE DER LEHRERiNNENBILDUNG |9 BERUFSWAHL IM SPANNUNGSFELD Jürgen Bauer / Maria Haderer terfragt werden, was die Koedukation von Mädchen und Burschen für die Berufswahl positiv beigesteuert hat, welchen Einfluss die soziale, geographische, kulturelle und sprachliche Herkunft und gesellschaftliche „Trends“ sowie die Wirtschaftslage auf die Berufsorientierung haben und ob und wie diese Vielfalt für die Berufswahl positiv nutzbar gemacht werden kann. Fakt ist, dass die oben genannten Faktoren einen Einfluss auf die Berufswahl besitzen. Der Grad der Beeinflussung kann auch gesteuert werden: „Soziale Mobilität, die Möglichkeit, das Milieu oder den ‘Stand‘ zu verlassen, in den man hineingeboren wurde, einen Beruf zu ergreifen oder einen Lebensentwurf zu machen, der sich von den Erfahrungen und normativen Erwartungen der Vorgeneration unterscheidet, führt dazu, dass erreichte soziale Positionen und die zugehörigen sozialen Identitäten keine Auskunft mehr geben über den dahinterliegenden Lebensweg.“ (Dausin 2011: 29) Grundsätzlich wird heute in der fortgeschrittenen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft davon ausgegangen, dass Menschen ihre Position nicht mehr überwiegend aufgrund von „Tradition“, sprich Status erwerben, sondern durch Leistung. Ein anderes Bild zeigen Bildungstests, da gerade in Österreich der Bildungsgrad der Eltern großen Einfluss auf die soziale Mobilität ihrer Kinder nimmt. So weisen 52% der jungen Menschen einen gleichen Bildungsstand wie ihre Eltern auf, 25% sind Bildungsaufsteiger und 22% Bildungsabsteiger (vgl. Specht 2009: 153). Beruf und Person werden zu einem wesentlichen Teil gleichgesetzt und der Beruf dient als Informationsquelle, mit welcher Person wir es zu tun haben. Der Beruf ist ein stabilisierender Faktor in einer leistungsorientierten Gesellschaft (vgl. König 2002). Geht man in das Mittelalter zurück, war ein gesellschaftlich stabilisierender Faktor die Stand- und Schichtzugehörigkeit, in die man hineingeboren wurde. Der Beruf war nicht frei wählbar, sondern wurde von Generati- 10| ASPEKTE DER LEHRERiNNENBILDUNG on zu Generation vererbt. Durch die Zünfte wurde die Zugehörigkeit zu einem Berufsstand abgesichert und gefestigt. Zum Schutz des Handwerkers mussten Gesellen, die die Meisterwürde erlangen wollten, eine strenge Prüfung ablegen, von ehelicher Geburt sein, das Freiheitsrecht besitzen, den Gesellenbrief und Kundschaftsbriefe vorlegen, verheiratet sein, das Bürgerrecht besitzen und sich mit einer respektablen Geldsumme in die Zunft einkaufen (vgl. Breitlinger/ Weinkamer/Dohle 2009). Das Gerechtsame (das Anrecht/Vorrecht) eines Handwerks konnte vererbt, erheiratet, verkauft oder verpachtet werden. Frauen waren bis in das 16. Jahrhundert in einigen Handwerken tätig und durften Zünften (wie der Weberzunft) beitreten oder gehörten einer reinen Frauenzunft (wie Seidenspinnerinnen) an. Im 16. Jahrhundert wurde Frauen das Arbeiten in einem Handwerk und das Führen eines Gewerbes untersagt (vgl. Mitterauer 1993). Mit der Gründung der ersten Manufakturen verrichteten Männer zunehmend außerhäusliche Produktionstätigkeit. Mit der Industrialisierung entstanden viele neue Berufe in der Produktion, Verwaltung und im Vertrieb. Die Ausbildung dafür wurde unsystematisch und begrenzt durchgeführt, sodass Anfang des 20. Jahrhunderts - aus gesamtgesellschaftlichem Interesse und zur Verbesserung, Ordnung und Standardisierung - der Staat berufsbildende Schulen, einschließlich den Berufsschulen einrichtete (vgl. Beck/Brater/Daheim 1980). Frauen erhielten nur bedingt eine Ausbildung, sie waren häufig als Anlern- und Hilfskräfte in Fabriken, als Dienstboten oder - beginnend - als Angestellte tätig. Die bürgerliche Frau durfte keiner außerhäuslichen Erwerbsarbeit nachgehen. So forderten Frauen des Proletariats und der unteren Mittelschicht „Schutz vor einem Zuviel an Arbeit“ und bürgerliche Frauen „Recht auf Arbeit“ (vgl. Brinker-Gabler 1979). Einigkeit gab es darüber, dass der Hausfrauen- und Mutterberuf der Erwerbsarbeit vorzuziehen sei (vgl. Kerchner 1992). Jürgen Bauer / Maria Haderer Geschlechtsspezifität und Schule/Lehre Aus dem Zitat von Dickinger sowie aus den oben erläuterten Strukturen, wie Berufe erlernt und übertragen wurden und sich veränderten, gilt es, einen Blick auf die geschlechtsspezifisch unterschiedlichen Bildungskarrieren zu werfen. Die heutigen „Top Ten der Lehrberufe“ zeigen nach wie vor das Bild typisch weiblicher und männlicher Berufe (vgl. Abb. 1). Ein ähnliches Bild zeigt sich bei der Wahl von berufsbildenden Schulen. Bis heute ist in technischen Schulen der Mädchenanteil weit geringer als der der Knaben, obwohl er von 2,2% 1990 auf 27,2% 2005 gestiegen BERUFSWAHL IM SPANNUNGSFELD ist. Hier könnte vermutet werden, dass Programme, welche mehr Frauen dazu motivieren sollten, traditionell typische Männerberufe zu wählen, erfolgreich waren. Das gegenteilige Bild zeigen die Bemühungen, Männer für typische Frauenberufe zu interessieren. An wirtschaftsberuflichen Schulen stieg der Knabenanteil geringfügig von 0,5% 1990 auf 5,5% 2005 (vgl. Abb. 2). Es scheint also die Frage angebracht, ob es nicht entsprechender Initiativen bedarf. Auswirkungen des veränderten Bildungsangebotes zeigen sich in der Zahl bestandener Reifeprüfungen, die von 1970 auf 2008 um ca. 62% auf 41.546 gestiegen ist. Der Anteil der Maturantinnen betrug im Schuljahr 2008/09 bereits 57,9%. Abb. 1: Die zehn häufigsten Lehrabschlüsse nach Lehrberufen und Geschlecht Abb. 2: Schülerzahlen berufsbildender Schulen – nach Schularten (1960-2005) ASPEKTE DER LEHRERiNNENBILDUNG |11 BERUFSWAHL IM SPANNUNGSFELD Jürgen Bauer / Maria Haderer Die Heterogenität der Geschlechter und die damit verbundenen Eigenschaften und Stärken kommen auf Grund der unveränderten Wahl der Lehrberufe und gering veränderten Wahl einer berufsbildenden Schule (siehe oben) kaum zu tragen und haben somit keinen nennenswerten positiven Einfluss auf das von der Gesellschaft wahrgenommene Rollenbild, das vorgibt, in Prozess, in Veränderung zu sein. Das Geschlecht spielt nach wie vor eine entscheidende Rolle für den Bildungsverlauf und die damit verbundene Berufswahl. (Vgl. Scheffler & Baumann 2011: 51) Person und Umwelt Der Einfluss von Personen und Umwelt auf die Berufswahl darf nicht vernachlässigt werden. Zu berücksichtigen ist die Zeit, in der die Entscheidung stattfindet. „Berufswahl findet notwendigerweise immer in einem sozialen und historischen Kontext statt.“ (Hirschi 2011: 99) Einflussfaktoren, die noch Anfang des 20. Jahrhunderts Gültigkeit hatten, haben sich auf Grund der historischen Entwicklung verändert. Hier sind die veränderten Ausbildungsmöglichkeiten, der offene Bildungszugang für beide Geschlechter, die Berücksichtigung des Migrationshintergrundes und Maßnahmen in der Berufsorientierung zu erwähnen. Wenngleich auch die Unterstützungsmaßnahmen breiter und vielfältiger werden und die Heterogenität in der Berufsorientierung als positiver Faktor gesehen werden kann, muss darauf hingewiesen werden, dass die soziale Herkunft nicht nur einen massiven Einfluss auf die Berufswahl, sondern auch auf die Chancen im Berufsleben und die Karriere selbst hat. „Im beruflichen Bereich ist gut dokumentiert, dass der soziale Status des Elternhauses, das Geschlecht, die Nationalität oder die Hautfarbe einen bedeutenden Einfluss auf berufliche Entwicklungsverläufe haben.“ (Kirkpatrick, Johnson & Mortimer 2002, zit. n. Hirschi 2011: 99f) In vielen Bereichen lässt sich nicht erkennen, dass kulturelle Vielfalt und die damit oftmals 12| ASPEKTE DER LEHRERiNNENBILDUNG einhergehende Mehrsprachigkeit positiven Einfluss auf das Fortkommen im Beruf haben. In international agierenden Firmen wird erkannt, wie wichtig es ist, dass die MitarbeiterInnen mit den Sitten, Gebräuchen und der Sprache der Kooperations- und Geschäftspartner vertraut sind. Trotzdem bedeuten in vielen gängigen Berufen diese Kompetenzen keinen Mehrwert. Im Gegenteil, oft führt die Herkunft zur Benachteiligung, wenn es um die Berufschancen geht. Zu beachten ist, dass Personen dennoch einen Einfluss auf ihre Laufbahn besitzen, wie folgendes Zitat belegt: „Wir können somit festhalten, dass Berufswahl und berufliche Entwicklung immer von der Dynamik von Person (Persönlichkeit, Einstellungen zur Berufswahl, Handlungen zur Berufswahl), sozialem Umfeld (Familie, Peers, MentorInnen, soziale Netzwerke) sowie dem Arbeitsmarkt (Berufsanforderungen, Arbeitsmarkt, Personalselektion) bestimmt werden.“ (Hirschi, 2011: 100) Bewusstmachung der Thematik im Unterricht Für LehrerInnen stellt sich die Frage, wie die Inhalte an Jugendliche herangetragen und diese für die Berufswahlfaktoren sensibilisiert werden können, um selbst bestimmte Entscheidungen treffen zu können. Aus diesem Grund wurden im Rahmen des Lehrgangs „Berufsorientierung“ an der Pädagogischen Hochschule Salzburg die zukünftigen BerufsorientierungslehrerInnen zu einem historischen Rundgang durch die Altstadt Salzburgs eingeladen, alte Handwerksbetriebe wurden besucht, deren Geschichte, die damaligen Einflussfaktoren auf deren Entwicklung und deren Fortbestand bis zur Jetztzeit besprochen und ein Einblick in historische und aktuelle Bildungsstatistiken (Schülerzahlen an Pflicht-, Mittel- und berufsbildenden Schulen, Studierende je Studienart an Universitäten und Fachhochschulen, Geschlechterverhältnisse) gegeben. Im Anschluss daran sollten die Studierenden Jürgen Bauer / Maria Haderer didaktische Modelle für den Unterricht gestalten, mit dem Ziel, Bewusstsein für Berufswahlentscheidungen zu entwickeln. Einige Ergebnisse dieses Projektes werden im Folgenden präsentiert: 1. Rollenspiel: Folgende Situation wird den SchülerInnen vorgegeben, die sie weiterspielen sollen: Ein Fahrer kommt mit seinem Sportwagen in die Kfz-Werkstätte und berichtet über einen für ihn nicht erklärlichen technischen Defekt an seinem Fahrzeug. Dem Kunden wird eine junge Kfz-Technikerin zugewiesen, die sich laut Werkstättenleiter um die Fehlerbehebung kümmern wird. 2. Vergleich Hausfrauentätigkeit – Managementtätigkeit Die SchülerInnen suchen im Internet oder in einer Zeitung ein Stellengesuch für eine mittlere Führungskraft und listen auf, welche Eigenschaften an die gesuchte Person gestellt werden (z.B. Flexibilität, Stressresistenz, Fähigkeit zur Kommunikation). Die Eigenschaften werden jenen einer Hausfrau gegenübergestellt, die zuerst herausgearbeitet werden müssen. Danach wird über den Wert von Arbeit diskutiert. 3. Beleuchtung der eigenen Berufsbiografie Als Input dient eine Einladung eines Frisörs und einer Mechanikerin in den Unterricht. Ziel ist es, mittels Interviews die Berufsbiografien der eigenen Familie zu gestalten und die Zufriedenheit mit der Ausbildung und der damit verbundenen Berufswahl innerhalb der Generationen zu erfragen. 4. Erarbeiten generations- und geschlechtsübergreifender Berufsbiografien Als Hausübung erarbeiten die SchülerInnen die Berufsbiografien der Großeltern (jeweils Großmutter und Großvater), der Eltern (jeweils Mutter und Vater) und gegebenenfalls der Geschwister (Schwester und Bruder). Der mögliche Unterschied zwischen den Generation wird im Unterricht herausgearbeitet. BERUFSWAHL IM SPANNUNGSFELD Weiters wird der Unterschied innerhalb einer Generation betrachtet. Im dritten Schritt soll die Gruppe den Einfluss auf die eigene Berufswahl herausarbeiten. Die Ergebnisse werden auf Plakaten gesichert und im Plenum präsentiert und diskutiert. Die vier Beispiele zeigen, dass es im Unterricht vielfältige und durchaus kreative Wege gibt, sich mit der Thematik zu beschäftigen. Zusammenfassung Im 20. Jahrhundert haben zwei Weltkriege dazu geführt, dass die Trennlinien zwischen Männerarbeit und Frauenarbeit aufgehoben wurden. Nach dem Krieg verlief die Eingliederung der Männer in das Erwerbs- und Familienleben nicht ohne Probleme, denn Frauen hatten über ihre traditionelle Rolle hinaus Erfahrungen gemacht. Trotzdem erhielten Kriegsteilnehmer sowie Familienväter wegen des herrschenden Arbeitsmangels bevorzugt einen Arbeitsplatz. Frauen, die nicht unbedingt einen Arbeitsplatz benötigten, wurden entlassen. Frauen haben gezeigt, dass sie durchaus in der Lage waren, Männerarbeit zu leisten. Nichtsdestotrotz wurden nach beiden Weltkriegen die „alten“ Verhältnisse weitgehend wiederhergestellt (vgl. Wetterer 2002: 65f; Rouette 1993). Das seit den 1960iger Jahren gewachsene Bildungsangebot brachte sehr wohl eine Veränderung auf der Ebene der Qualifikation, denn inzwischen hat sich das Bildungsund Ausbildungsniveau der Frauen an das der Männer angeglichen. Zwischen den Geschlechtern lässt sich mittlerweile weder auf Ebene der schulischen Abschlüsse, noch auf derjenigen der beruflichen Ausbildung, noch bei Fachhochschul- und Universitätsabschlüssen ein Bildungsgefälle messen. Allerdings zeigen sich weiterhin nicht die gewünschten Auswirkungen einer Geschlechterhomogenität bei der Berufswahl. Wie aktuelle Untersuchungen zeigen, sind Traditionen hinsichtlich der Geschlechterrollen schwer aufzulösen, die UnterschieASPEKTE DER LEHRERiNNENBILDUNG |13 BERUFSWAHL IM SPANNUNGSFELD Jürgen Bauer / Maria Haderer de in der Berufswahl bleiben bestehen. Es gibt eine ganze Reihe von Berufen, die aus verschiedensten ökonomischen, politischen, rechtlichen, sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen im Laufe der Zeit das Geschlecht gewechselt haben, wie Sekretär, Computerprogrammiererin (war anfänglich ein „typisch“ weiblicher Beruf und wurde erst später zu einem „typisch“ männlichen Beruf) oder Volksschullehrer (Anm. d. Auto- Literatur Breitinger, Friedrich / Weinkamer, Kurt / Dohle, Gerda (2008): Handwerker, Bauern, Wirte und Händler. Salzburgs gewerbliche Wirtschaft zur Mozartzeit. Salzburg - Wien - München: Pustet. Brinker-Gabler, Gisela (Hg.) (1979): Frauenarbeit und Beruf. Frankfurt am Main:Fischer. Bundeskanzleramt - Bundesministerin für Frauen (2010, Hg.): Frauenbericht 2010. URL: http://www.frauen.bka.gv.at/site/7207/default.aspx [9.3.2011]. Dausien, Bettina (2011): „Das beratene Selbst“ – Anmerkungen zu Bildungsbiografien im gesellschaftlichen Wandel und Strategien ihrer professionellen Bearbeitung. In: Marika Hammerer, Erika Kanelutti, Ingeborg Melter (Hg.) (2011): Zukunftsfeld Bildungs- und Berufsberatung. Neue Entwicklungen aus Wissenschaft und Praxis. Bielefeld: W. Bertelsmann. 21-40. Dickinger, Ilse (1995): Das patriarchalische System als Ursache der Diskriminierung von Frauen im Beruf. Linz: Universitätsverlag Trauner. (Schriften der Johannes-Kepler-Universität. Reihe B - Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. 10). Hammerer, Marika / Kanelutti, Erika / Melter, Ingeborg (2011): Einleitung. In: Marika Hammerer, Erika Kanelutti, Ingeborg Melter (Hg.) (2011): Zukunftsfeld Bildungs- und Berufsberatung. Neue Entwicklungen aus Wissenschaft und Praxis. Bielefeld: W. Bertelsmann. 13-18. Hirschi, Andreas (2011): Berufswahl im Spannungsfeld von Person, sozialem Umfeld und Arbeitsmarkt. In: Marika Hammerer, Erika Kanelutti, Ingeborg Melter (Hg.) (2011): Zukunftsfeld Bildungs- und Berufsberatung. Neue Entwicklungen aus Wissenschaft und Praxis. Bielefeld: W. Bertelsmann. 99-104. 14| ASPEKTE DER LEHRERiNNENBILDUNG ren: Hier wurde auf die Genderschreibweise bewusst verzichtet.). Wobei es sich zeigt, dass der Wechsel des Geschlechts eines Berufes von männlich zu weiblich in der Regel mit einem Statusverlust des Berufs und somit auch seines Trägers/seiner Trägerin einhergeht. Bislang gibt es keine Berufe, die ihre Geschlechtszugehörigkeit völlig verloren hätten (vgl. Wetterer 2002:156f; Hoffmann 1987; auch Bundeskanzleramt 2010). Hoffmann, Ute (1987): Computerfrauen. München: Hampp. Kerchner, Brigitte (1992): Beruf und Geschlecht: Frauenberufsverbände in Deutschland, 1848 - 1908. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. König, René (2002): Arbeit und Beruf in der modernen Gesellschaft. Opladen: Leske + Budrich. (=Schriften 16). Mitterauer, Michael (1993): “Als Adam grub und Eva spann …“ Geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in vorindustrieller Zeit. In: BologneseLeuchtenmüller Birgit; Mitterauer Michael (Hg.): Frauen-Arbeitswelten. Wien: Verl. für Gesellschaftskritik. 17-42. Rouette, Susanne (1993): Nach dem Krieg:Zurück zur „normalen“ Hierarchie der Geschlechter. In: Hausen Karen (Hg.): Geschlecherhierarchie und Arbeitsteilung. Zur Geschichte ungleicher Erwerbchancen von Männern und Frauen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 19-39. Scheffler, Sabine / Baumann, Heinz (2011): Gender und Beratung – Das Geschlecht bei der Arbeit. In: Marika Hammerer, Erika Kanelutti, Ingeborg Melter (Hg.) (2011): Zukunftsfeld Bildungs- und Berufsberatung. Neue Entwicklungen aus Wissenschaft und Praxis. Bielefeld: W. Bertelsmann. 49-55. Specht, Werner (Hg.) (2009): Nationaler Bildungsbericht Österreich 2009, Band 1: Das Schulsystem im Spiegel von Daten und Indikatoren. Graz: Leykam. URL: http://www.bifie.at/buch/657 [20.3.2011]. Statistik Austria (2011): URL: http://www.statistik.at/web_de/statistiken/soziales/gender-statistik/bildung/043955.html [Stand: 12.3.2011] Wetterer, Angelika (2002): Arbeitsteilung und Geschlechterkonstruktion. Konstanz: UVK. Christian Lutsch BERUFSBEZOGENE FREMDSPRACHE ENGLISCH „Berufsbezogene Fremdsprache Englisch“ Didaktische Konzeption und Kompetenzenkatalog Christian Lutsch Der landesweite berufsbegleitende Lehrgang „Berufsbezogene Fremdsprache Englisch an Berufsschulen“ an der Pädagogischen Hochschule Salzburg vermittelt als zusätzliche Lehrbefähigung jene Kompetenzen, die für den Unterricht an österreichischen Berufsschulen (BS) im Pflichtgegenstand „Berufsbezogene Fremdsprache Englisch“ (BFE) und im Freigegenstand „Lebende Fremdsprache“ an Berufsschulen (BS) notwendig sind. Dieser Beitrag erläutert die pädagogisch-didaktische Konzeption und den zugrunde liegenden Kompetenzenkatalog dieses Lehrgangs. Berufliche Handlungskompetenz – Kompetenzmodelle Im Mittelpunkt der Berufspädagogik steht die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Art und Weise der Vermittlung der beruflichen Handlungskompetenz, welche die Gesamtheit des Wissens, der Einstellungen sowie der Fertigkeiten beschreibt, die zur erfolgreichen Ausübung eines Berufs nötig sind. In der Folge soll exemplarisch auf zwei Modelle beruflicher Handlungskompetenz näher eingegangen werden, die für die Konzeption des Lehrganges BFE maßgeblich sind. Zum Ersten sei der Begriff „Arbeitsprozesswissen“ von Felix Rauner (2004: 14) erwähnt, der den Zusammenhang von praktischem und theoretischem Wissen beschreibt und thematisiert. Beide Arten von Wissen können sowohl subjektiv als auch objektiv sein und werden kontextbezogen, handlungsleitend und explizit in beruflichen Tätigkeiten angewendet. Zum Zweiten sind die für die österreichische Berufsbildung zentralen Bildungsstandards anzuführen. Analog zum Kompetenzmodell von Rauner (2004) und zu jenem von Anderson & Krathwohl (2001) unterscheidet das Raster für die Bildungsstandards ebenso zwei Dimensionen: die Handlungsdimension und die Inhaltsdimension. Die Inhaltsdimension umfasst inhaltliche Bereiche, die für einen Gegenstand oder einen Fachbereich von Relevanz sind. Die Handlungsdimension umfasst fünf Elemente, welche die kognitiven Prozesse in Bezug auf den Inhalt beschreiben, d.h., wie der Lernende mit dem Inhalt umgehen soll. (Projekthandbuch 2010: 11) In späterer Folge werden beide Kompetenzmodelle um eine dritte, reflektierende, Komponente, die den Bereich der Einstellungen thematisiert, erweitert, auf die jedoch aus Platzgründen in diesem Beitrag nur hingewiesen werden kann (vgl. Rauner 2009, 9 und Projekthandbuch 2010: 19). Sprachen- und Fachsprachendidaktik Da Studierende berufliches Sach- und Fachwissen zertifiziert durch eine abgeschlossene Berufsausbildung in den Lehrgang mitbringen, liegt der Lehrgangsfokus neben der Erweiterung der Sprachkompetenzen auf dem Gebiet der Sprachendidaktik. Durch das doppelte Ausbildungsziel der berufsbildenden Schulen (Allgemeinwissen und berufliche Bildung) ist für den Lehrgang BFE neben allgemeiner Sprachendidaktik für den Bereich Allgemeinwissen die Fachsprachendidaktik und CLIL (Content and Language Integrated Learning) in Hinblick auf die berufliche Handlungsfähigkeit von besonderer Bedeutung. Im Bereich der Fremdsprachen werden die Kompetenzen der Bildungsstandards in der Berufsbildung auf Basis des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen (GERS) beschrieben. Der hier grundASPEKTE DER LEHRERiNNENBILDUNG |15 BERUFSBEZOGENE FREMDSPRACHE ENGLISCH Christian Lutsch gelegte Kompetenzbegriff beinhaltet Handlungsorientierung als zentrales Element: und der Bedarfsanalyse, die in der Folge näher erläutert wird. „Der [im GERS] gewählte Ansatz ist im Großen und Ganzen ‚handlungsorientiert‘, weil er Sprachverwendende und Sprachenlernende vor allem als ‚sozial Handelnde‘ betrachtet, d.h. als Mitglieder einer Gesellschaft, die unter bestimmten Umständen und in spezifischen Umgebungen und Handlungsfeldern kommunikative Aufgaben bewältigen müssen, […]“ (http://www.goethe. de/Z/50/commeuro/201.htm) Bedarfsanalyse Die Methodenkompetenz im Bereich Allgemeinwissen (vgl. Domänen „Privat“ und „Öffentlich“ in Tabelle 5 GERS), erfährt keine berufsbezogene Ausdifferenzierung. Im Bereich BFE, jenem Bereich, der in Tabelle 5 des GERS den Domänen „Beruflich“ und „Bildung“ entspricht, erfährt die Handlungsorientierung eine deutlich berufsspezifische Prägung. Die kommunikative Kompetenz in der Fremdsprache ist Teil der beruflichen Handlungskompetenz: Berufliche Handlungskompetenz in der Fremdsprache bedeutet, dass SprecherInnen über das Wissen, die Einstellungen sowie Kompetenzen verfügen, die sie befähigen, in berufsspezifischen Umgebungen und berufsbezogenen Handlungsfeldern kommunikative Aufgaben zu bewältigen. Das bedeutet für die Sprachendidaktik eine berufsbezogene Ausdifferenzierung der Methodenkompetenz in den Kompetenzbereichen Sprechen/mündliche Interaktion, Schreiben/schriftliche Interaktion, Hören, Lesen, Grammatik, Vokabeln und Kultur in Richtung Fachsprachendidaktik und Fremdsprache als Arbeitssprache (FAA) bzw. Content and Language Integrated Learning (CLIL). Diese berufsbezogene Ausdifferenzierung basiert auf zwei Säulen: der oben beschriebenen Handlungsorientiertheit gemäß GERS 16| ASPEKTE DER LEHRERiNNENBILDUNG Die Bedarfsanalyse (engl. needs analysis) dient dazu, herauszufinden, in welchen beruflichen Handlungsfeldern und zu welchem Zweck die Zielsprache gebraucht wird. „An ESP approach to language teaching is an approach which bases content and method on the learners’ reason for learning.“(Hutchinson and Waters 1987: 19) In der Fachsprachendidaktik und in CLIL geht es letztlich um die Vermittlung der Methodenkompetenz, um die Sprachlehrenden zu befähigen, berufsspezifische Bedarfsanalysen durchzuführen und davon abzuleiten, welche sprachlichen Mittel und Kompetenzen und welche Methoden zu deren Vermittlung im BFE-Unterricht benötigt werden. „A core element of ESP language teaching is a needs analysis of the learner. […]ESP is defined to meet specific needs of the learner. ESP makes use of the underlying methodology and activities of the discipline it serves. ESP is centred on the language, skills, discourse and genres appropriate to these activities.“ (Dudley-Evans 1997: 5 ff.) Eine Bedarfsanalyse resultiert in der Regel in den sprachlichen Produktions- sowie Interaktionsanlässen und dem berufsspezifischen Fachwissen, die für die Handlungsfelder eines bestimmten Berufes gebraucht werden. Konkrete Anleitungen zu Bedarfsanalysen finden sich in Gaderer (2009: 31 ff.). Eine berufsbezogene Ausdifferenzierung der Sprachendidaktik erfordert von den Lehrenden fundiertes berufliches Sach- und Fachwissen sowie fundierte methodologische und didaktische Kompetenzen. Der Kompetenzenkatalog des Lehrgangs BFE unterscheidet dabei sieben Kompetenzbereiche: Christian Lutsch Kompetenzenkatalog für das Curriculum Lehrgang BFE Berufliche Handlungskompetenz Sprachkompetenz und Sprachverwendungskompetenz Kulturelle und interkulturelle Kompetenz Methodenkompetenz Planungskompetenz Evaluationskompetenz Personale Kompetenz 1. Berufliche Handlungskompetenz Berufliche Handlungskompetenz beschreibt die Gesamtheit des Wissens, der Fertigkeiten und der Einstellungen, die zur erfolgreichen Ausübung eines Berufs nötig sind. Für die Studierenden der Weiterbildung im Lehrgang BFE ist eine zertifizierte Berufsausbildung Anstellungserfordernis an einer BS und somit auch Zugangsvoraussetzung zum Studiengang Lehramt Berufsschulpädagogik. 2. Sprachkompetenz und Sprachverwendungskompetenz Sprachkompetenz und Sprachverwendungs kompetenz umfasst das Wissen, die Fertigkeit und die Bereitschaft, die eigene Sprachkompetenz laufend zu pflegen und zu verbessern. Dazu gehört, den GERS und das Europäische Sprachenportfolio zur Selbstbewertung als Instrument zur Messung der persönlichen Sprachkompetenz einsetzen zu können und Strategien für autonomes Sprachenlernen zu entwickeln. 3. Kulturelle und interkulturelle Kompetenz Kulturelle und interkulturelle Kompetenz umfasst das Wissen, die Fertigkeit und die Bereitschaft, Begrifflichkeiten im Zusammenhang mit interkultureller und multikultureller Umgebung zu kennen und in der Lage zu sein, interkulturelles Verständnis im beruflichen sowie persönlichen Kontext zu entwickeln. Dazu gehört, über die Verbindungen zwischen Lehren und Lernen von Sprachen und der Vermittlung sozialer und kultureller Werte Bescheid zu wissen und im Klassenmanage- BERUFSBEZOGENE FREMDSPRACHE ENGLISCH ment entsprechend agieren zu können. Dabei können Sprachen und Kulturen in ihrer Unterschiedlichkeit in Bezug auf Lernende und Zielsprache betrachtet werden. Darunter werden auch das Wissen, die Fertigkeit und die Bereitschaft verstanden, Möglichkeiten zu kennen und anzuwenden, um Kontakte zu PartnerInnen im Ausland (einschließlich Besuche, Austausche oder IKT-Verbindungen) aufzubauen. Dazu gehört auch, über Möglichkeiten eines Arbeitsoder Studienaufenthalts in einem Land oder in Ländern, in denen die Fremdsprache als Muttersprache gesprochen wird sowie über bilaterale Austauschvereinbarungen zwischen Einrichtungen Bescheid zu wissen (z. B. Europäische Förderprogramme). Dazu zählen auch Möglichkeiten und Initiativen, die es erleichtern, in mehr als einem Land den Unterricht zu beobachten oder daran teilzunehmen sowie der Aufbau von Kontakten zu Bildungseinrichtungen in den entsprechenden Ländern. 4. Methodenkompetenz Methodenkompetenz umfasst das Wissen, die Fertigkeit und die Bereitschaft mehrere methodische Ansätze, Unterrichtstheorien sowie Unterrichtstechniken kritisch und kreativ im Sprachunterricht anzuwenden. Dazu gehört, Lernziele in den Kompetenzbereichen Sprechen/mündliche Interaktion, Schreiben/ schriftliche Interaktion, Hören, Lesen, Grammatik, Vokabeln und Kultur in Unterrichtsabläufe umsetzen zu können. Hierzu zählen insbesondere das Wissen, die Fertigkeit und die Bereitschaft, methodische Ansätze und Strategien in den Bereichen Fachsprache und Fremdsprache als Arbeitssprache/CLIL im Sprachenunterricht anzuwenden. Dazu gehören auch das Wissen, die Fertigkeit und die Bereitschaft, Informations- und Kommunikationstechnologien im Unterricht methodisch-didaktisch angemessen einzusetzen und Methoden und Strategien des autonomen Sprachenlernens anzuwenden ASPEKTE DER LEHRERiNNENBILDUNG |17 BERUFSBEZOGENE FREMDSPRACHE ENGLISCH Christian Lutsch und diese Methoden und Strategien weiterzuvermitteln. 5. Planungskompetenz Planungskompetenz umfasst das Wissen, die Fertigkeit und die Bereitschaft, nationale oder regionale Lehrpläne im Hinblick auf Ziele, Zielsetzung und Ergebnisse kritisch zu evaluieren und bei der praktischen Umsetzung der Lehrpläne den Unterricht an den Bildungskontext und die individuellen Bedürfnisse der Lernenden anzupassen. Hierbei werden im Rahmen der Unterrichtsplanung die Lernziele formuliert, die Unterrichtsinhalte festgelegt und die Unterrichtsorganisation geplant, um diese dann im Rahmen von Unterrichtsstunden praktisch umzusetzen. Dazu gehören ebenso das Wissen, die Fertigkeit und die Bereitschaft, Informations- und Kommunikationstechnologien in der persönlichen Planung, Organisation und beim Recherchieren von Ressourcen einzusetzen sowie Unterrichtsmaterialien und –ressourcen kritisch zu evaluieren, zu entwickeln und praktisch anzuwenden. 6. Evaluationskompetenz Evaluationskompetenz umfasst das Wissen, die Fertigkeit und die Bereitschaft, unterschiedliche Formen der Beurteilung und Aufzeichnung von Lernfortschritten auf Basis des GERS und der gültigen nationalen sowie institutionellen Benotungssysteme zu kennen und anzuwenden sowie Fehleranalysen durchzuführen und konstruktives Feedback zu geben. 7. Personale Kompetenz Personale Kompetenz umfasst das Wissen, die Fertigkeit und die Bereitschaft, Lehren und Lernen als kontinuierlichen Prozess zu sehen und das eigene Lehren im Sinne der reflexiven Praxis und Selbstbeurteilung kritisch zu hinterfragen. Diese Kompetenz beinhaltet auch, Aktionsforschung und Integration von Forschung in den Unterricht passend einzubauen und Peer-Beobachtung und Peer Re- 18| ASPEKTE DER LEHRERiNNENBILDUNG view gezielt durchzuführen. Dazu zählt ebenso das Wissen um das Europäische Portfolio für Sprachlehrende in Ausbildung (EPOSA) und die Fertigkeit sowie die Bereitschaft, dieses passend als Instrument zur Reflexion der Unterrichtspraxis anzuwenden. Der oben beschriebene Kompetenzenkatalog wurde vom Autor dieses Artikels auf der Grundlage von GERS, Profil und EPOSA ausgearbeitet. Dieser Kompetenzenkatalog wurde im Rahmen der Tagung der Arbeitsgruppe Berufsbezogene Fremdsprache Englisch in Baden bei Wien im März 2010 vom Autor dieses Artikels vorgestellt und fand Eingang in das vom zuständigen Ministerium österreichweit empfohlene Rahmen- bzw. Mustercurriculum für Lehrgänge für eine weitere Lehrbefähigung für den Gegenstand Berufsbezogene Fremdsprache Englisch an Berufsschulen. Glossar BS BFE EPOSA FAA CLIL GERS Berufsschule Berufsbezogene Fremdsprache Englisch Europäisches Portfolio für Sprachlehrende in Ausbildung Fremdsprache als Arbeitssprache Content and Language Integrated Learning Gemeinsamer Europäischer Referenzrahmen für Sprachen Literatur BMUKK, Sektion II Berufsbildung (2010): Bildungsstandards in der Berufsbildung, Englisch 13. Schulstufe. Wien. URL: www.bildungsstandards.berufsbildendeschulen.at/fileadmin/content/bbs/AGBroschueren/EnglischBHS. pdf [Stand: 01.02.2011]. Dudley-Evans, Tony (1997): An Overview of ESP in the 1990s. In: Thomas Orr (Ed.). Proceedings 1997: The Japan conference on ESP. Japan: Aizu University. Gaderer, Heinz (2009): Communication at Work. Teaching and Learning English for Specific Purposes. Wien: htp. Hutchinson, T. & Waters, A. (1987): English for specific purposes. Cambridge: Cambridge University Press. 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Der Hauptfokus liegt auf einer starken inneren Differenzierung in allen Gegenständen mit der Absicht, alle SchülerInnen an ihre persönlichen Leistungsgrenzen heranzuführen und ihnen durch innovativen Unterricht für eine Vielfalt von Begabungen und Interessen in flexiblen Lerngruppen Spitzenleistungen zu ermöglichen. (Vgl. http://www.bmukk. gv.at/schulen/bw/nms/index.xml) Für die Schulen bedeutet das Arbeiten in heterogenen Gruppen in allen Unterrichtsfächern vermehrtes Arbeiten und Unterrichten im Team und damit verbunden eine ständige Auseinandersetzung mit Planung und Gestaltung von Unterricht und förderlichen Formen der Leistungsbeurteilung. Im „Haus der NMS“ finden sich alle Schwerpunkte der Neuen Mittelschule unter einem Dach. Sinnvolle Differenzierung als tragende Säule verbindet die lernseitige Orientierung und den Umgang mit Differenz. Rückwärtiges Lerndesign, auf das in Punkt 3 näher eingegangen wird, und förderliche Leistungsbeurteilung sind zwei weitere wichtige Säulen des Kompetenzlernens und der lernseitigen Orientierung. Abb.1: „Haus der Neuen Mittelschule“ (Westfall, Tanja 2010: Powerpointpräsentation im Rahmen des 4. Regionalen Lernateliers – G2. Salzburg. 9. März 2011) 1. Umgang mit Differenz Seit Mitte der 1990er Jahre ist die Frage des Umgangs mit Differenz verstärkt in den Fokus der Pädagogik gerückt. Begriffe wie Differenz, Pluralität und Heterogenität und ihre zunehmende Bedeutung weisen darauf hin, dass das pädagogische Bewusstsein um gesellschaftliche Diversität zunimmt, was für die Arbeit in der Schule bedeutet, dass nicht mehr von einer „irgendwie selbstverständlich gegebenen Gleichheit“ (Mecheril und Arens 2010: 9) ausgegangen werden kann, sondern dass SchülerInnen auf unterschiedliche Weise in sehr unterschiedliche Lebenszusammenhänge eingebunden sind. Unter dem Motto „Jede/r ist anders anders“ geht es für Paul Mecheril und Susanne Arens um die Frage, wie Schule im Kontext gesellschaftlicher Pluralität angemessen handelt, ohne „das Andere“ im Sinn stereotyper Zuschreibungen als störend zu betrachten. Von entscheidender Bedeutung ist dabei eine reflexive Haltung, die es ermöglicht, die Vielfalt im Klassenzimmer ohne Festschreibungen als Grundverfassung schulischer Wirklichkeit zu verstehen. Das erfordert von LehrerInnen unter anderem, eigene Deutungs- und Erklärungsmuster von Differenz zu beobachten und zu verändern, ihr pädagogisches Handeln danach auszurichten und die Verschiedenheit systematisch ins Unterrichtsgeschehen einzubeziehen. (Vgl. Mecheril und Arens, 2010: 9-11) BEITRÄGE AUS WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG |19 HETEROGENITÄT IN DER NEUEN MITTELSCHULE Angelika McMahon 2. Lernen und lernseitige Orientierung Um lernseitige Orientierung im Unterricht umzusetzen und Lernen zu ermöglichen bzw. wie Käthe Meyer-Drawe es formuliert „Lernen zu verwahrscheinlichen“ (Meyer-Drawe 2008), ein ausdrückliches Ziel der Neuen Mittelschule, erfolgt im Rahmen der Unterrichtsentwicklung in den NMS eine intensive Auseinandersetzung mit dem Begriff „Lernen“und seiner Bedeutung. Michael Göhlich und Jörg Zirfas formulieren ihre Überlegungen zu einem Arbeitsbegriff des Lernens folgendermaßen: „Lernen bezeichnet die Veränderungen von Selbst- und Weltverhältnissen sowie Verhältnissen zu anderen, die nicht aufgrund von angeborenen Dispositionen, sondern aufgrund von zumindest basal reflektierten Erfahrungen erfolgen und die als dementsprechend begründbare Veränderungen von Handlungs- und Verhaltensmöglichkeiten, von Deutungs- und Interpretationsmustern und von Geschmacks- und Wertstrukturen vom Lernenden in seiner leiblichen Gesamtheit erlebbar sind; kurz gesagt: Lernen ist die erfahrungsreflexive, auf den Lernenden sich auswirkende Gewinnung von spezifischem Wissen und Können.“ (Göhlich & Zirfas 2007:17) Lernen ist demnach ein kontinuierlicher Prozess, der uns zunehmend wissend handeln lässt. Käthe Meyer-Drawe geht davon aus, dass Lernen Erfahrung bedeutet. Sie sagt über das Lernen: „Lernen ist nicht nur Erkennen. Es hat viele Facetten, welche den Menschen als leibliches Wesen betreffen. Etwas in Zweifel zu ziehen, um den Grad an Gewissheit der Erkenntnis zu steigern, ist etwas anderes, als in eine Ausweglosigkeit zu geraten, weil alles Gewohnte versagt. Lernen beginnt in dieser Hinsicht dort und dann, wo und wenn das Vertraute seinen Dienst versagt und das Neue noch nicht zur Verfügung steht…“(Meyer-Drawe 2008: 15). und John Holt ist der Überzeu- 20| BEITRÄGE AUS WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG gung: „Lehren erzeugt kein Lernen. Lerner erzeugen Lernen. Lerner erschaffen Lernen.“ (Holt 2009: 94) Michael Schratz bezeichnet das Erschaffen von Lernen durch die Lernenden selbst mit dem Begriff „lernseits von Unterricht“ (Schratz 2009: 19). Wenn man davon ausgeht, dass Lehren kein Lernen erzeugt, bedeutet das für die Schule, alte Muster zu verlassen und die Aufgaben einer Schule für morgen zu erarbeiten. Das Ziel ist eine lernende Schule, „in der die Menschen kontinuierlich die Fähigkeiten entwickeln, ihre wahren Ziele zu verwirklichen, in denen neue Denkformen gefördert und gemeinsame Hoffnungen freigesetzt werden, in denen Menschen lernen, miteinander zu lernen.“ (Senge 1996:11). Michael Schratz sieht in den Begriffen „Leadership“ und „Lernen“, die aus seiner Sicht in einer starken Wechselwirkung stehen, Schlüsselworte für eine lernseitige Orientierung. Im Rahmen des internationalen Projekts „Leadership for Learning“(vgl. McBeath u.a. 2006), in dem der Frage nachgegangen wurde, wie „lernende Organisationen“ arbeiten, wurde herausgearbeitet, „dass es drei Ebenen im Systembezug zu verbinden gilt: das Lernen der SchülerInnen, das Lernen der LehrerInnen sowie das Systemlernen.“(Schratz 2009:18) Für alle Systemebenen ist eine starke Lernumgebung notwendig. Damit sind Voraussetzungen gemeint, die Lernen unterstützen. Dazu wurden im Projekt „Leadership for Learning“ fünf Schlüsselaspekte formuliert, die im Entwicklungsprozess Beachtung finden müssen: Fokus auf das Lernen auf allen 3 Ebenen förderliche Bedingungen, die als Ziel des Unterrichts das Lernen der SchülerInnen in den Mittelpunkt stellen (nicht was der/ die LehrerIn unterrichtet) ein wirksamer Dialog als das konstitutive Element von Bildungsprozessen shared Leadership im Sinne eines gemeinsamen Bemühens, komplexe He rausforderungen zu bewältigen und Angelika McMahon Verantwortungsübernahme jedes/jeder Einzelnen. (vgl. Schratz 2007: 18-19). Joachim Bauer meint zu den Bedingungen für gelingende Bildung, dass die wichtigste Voraussetzung „konstruktive, das Lernen befördernde Beziehungen“ seien und dass es Schulen über weite Strecken nicht gelingt, Unterrichtssituationen herzustellen, die Lernen ermöglichen. (Vgl. Bauer, 2007, 11-12) 3. Rückwärtiges Design Grant Wiggins sieht LehrerInnen als DesignerInnen. Ein wesentlicher Aspekt des Lehrberufs ist seiner Meinung nach das „Bereitstellen“ von Curricula im Sinn von „Lernlaufwegen“ und das Bereitstellen von Lernerfahrungen, um gewisse Absichten und Ziele zu erreichen. Er sieht LehrerInnen auch als DesignerInnen von Leistungsbewertung, um Lernstand und Lernbedürfnisse von Lernenden zu diagnostizieren und damit SchülerInnen, LehrerInnen und Eltern die Beurteilung zu ermöglichen, ob bzw. inwieweit Lernziele erreicht wurden. Nationale Standards und Curricula, die festlegen, welche Kompetenzen SchülerInnen an bestimmten Punkten ihrer Bildungslaufbahn erworben haben, sollen helfen Prioritäten des Lehrens und Lernens zu identifizieren und sind Grundlage der Unterrichtsplanung und der Leistungsbeurteilung. Zu den Vorgaben von außen gilt es, in der Unterichtsplanung die Unterschiedlichkeit der SchülerInnen und ihrer Interessen genauso zu bedenken wie das Prinzip, dass der funktionale Aspekt dem formalen Aspekt übergeordnet ist. Wiggins legt den Fokus der Unterrichtsplanung auf die Ergebnisse, die erzielt werden sollen, und darauf, woran festgemacht werden kann, dass diese Ergebnisse tatsächlich erzielt wurden, d.h., er geht bei seinen Planungen nicht von Methoden, Schulbüchern und „bequemen“ Aktivitäten aus. Er nennt seinen Ansatz der Unterrichtsplanung „rückwärtiges Design“ und unterteilt diesen in drei Schritte: Im ersten Schritt ermittelt er die gewünsch- HETEROGENITÄT IN DER NEUEN MITTELSCHULE ten Lernergebnisse, indem er überlegt, was SchülerInnen am Ende einer Unterrichtseinheit wissen, verstehen und tun können sollen. Er verschafft sich auf der Grundlage von Curricula und Standards Klarheit über Prioritäten, um aus der vorhandenen Fülle von Inhalten eine entsprechende Wahl zu treffen. Im zweiten Schritt stellt er sich die Frage, woran erkennbar ist, dass die SchülerInnen die erwünschten Ergebnisse erzielt haben, bevor er im dritten Schritt auf der Basis von klar definierten Ergebnissen und adäquaten Belegen für das erreichte Ziel über die geeigneten Aktivitäten im Unterricht nachdenkt. (Vgl. Wiggins & McTighe 2005: 13-18) 4. Differenzierung Binnendifferenzierung bedingt eine schülerorientierte Didaktik und erfordert eine Unterrichtspraxis, die eine Strategie für zielorientiertes Lernen anbietet. Das bedeutet, unterschiedliche Lerntempi zu erlauben und damit unterschiedlich viel Zeit für Zielerreichung zu geben, für den jeweiligen Lernfortschritt die benötigten Lernmaterialien und methodischen Hilfen anzubieten und bei Bedarf – wenn auf eine Weise kein Lernfortschritt erzielt werden kann - durch andere Lernmaterialien zu ersetzen sowie SchülerInnen entsprechend zu belohnen oder zu ermutigen. (Vgl. Bönsch 2009: 118) Grundlage für die Differenzierung im Rahmen der Neuen Mittelschule ist das Theoriemodell der US-amerikanischen Wissenschaftlerin Carol Ann Tomlinson. Sie geht davon aus, dass differenzierter Unterricht unterschiedliche Zugangsweisen zum Lernen bedeutet und hat ihr Differenzierungsmodell aus der Erkenntnis entwickelt, dass LehrerInnen Konzepte brauchen, die es ihnen ermöglichen, mit der gesamten Lerngruppe, mit Kleingruppen und mit Individuen zu arbeiten, wobei hier nicht homogene Kleingruppen gemeint sind, in denen SchülerInnen mit ähnlichen Leistungsniveaus BEITRÄGE AUS WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG |21 HETEROGENITÄT IN DER NEUEN MITTELSCHULE Angelika McMahon Abb. 2: Differenzierungsmodell nach C. A. Tomlinson (vgl. Tomlinson, 2005: 15) zusammenarbeiten, sondern flexible Gruppen, in denen SchülerInnen mit unterschiedlichen Stärken voneinander profitieren können. (Vgl. Tomlinson 2001: 2-4) Das Konzept von Tomlinson berücksichtigt im Rahmen der Differenzierung drei Ebenen (vgl. Abb. 2). LehrerInnen, die mit Erfolg differenzieren, differenzieren einen Teil ihres Unterrichts in einem Teil der Unterrichtszeit. Damit werden nicht alle Lerninhalte, Lernprodukte, Lernumfelder und Lernprozesse grundsätzlich differenziert und auch nicht immer, sondern dort, wo es sinnvoll und notwendig erscheint. Um festzustellen, wo, wann und wie differenziert werden muss, ist die ständige Lernstandsbeobachtung eine wichtige Grundlage. Daraus beziehen die LehrerInnen die Daten, die ihnen Auskunft über die Lernbereitschaft, die Interessen und die Lernprofile ihrer SchülerInnen geben. Leistungsfeststellung dient nicht in erster Linie dazu, die Ergebnisse am Ende einer Unterrichtseinheit einzuschätzen, sondern als Grundlage für die Gestaltung der nächsten Schritte des Unterrichtshandelns. LehrerInnen erhalten so Einblick darin, inwieweit und in welchem Ausmaß Kernideen verstanden wurden, wer von den Lernenden die erzielten Fähigkeiten tatsächlich erworben hat und welcher Grad an Interesse vorliegt. In differenzierten Lernumgebungen dient die Leistungsfeststellung als Messinstrument für den Lernzuwachs. (Vgl. Tomlinson, 2005:10-11) 22| BEITRÄGE AUS WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG Im Gegensatz zu vorherrschenden Definitionen, die unter Lernbereitschaft in erster Linie Motivation verstehen, meint Tomlinson mit Lernbereitschaft den Ausgangspunkt der SchülerInnen in Relation zum Erwerb einer gewissen Fähigkeit im Sinn von Vorwissen und Vorerfahrungen, also im Sinn der fachlichen Lernbereitschaft. Dieser Ausgangspunkt gibt Aufschluss darüber, welche Herangehensweisen für die einzelnen Lernenden zielführend sein können. Während die einen vielleicht daran arbeiten müssen, Lücken in ihren Vorkenntnissen zu schließen, brauchen andere unterschiedlich komplexe Aufgaben, mehr oder weniger Unterstützung der LehrerInnen, verschiedene Lerntempi bzw. differenzierte Stufen der Abstraktion, um einige Beispiele zu nennen. (Vgl. Tomlinson 2005: 11) Die Interessen beziehen sich auf die Affinität, die Neugier und Wissbegierde oder auch die Leidenschaft, mit der SchülerInnen an besondere Themen herangehen. Lernprofile geben Auskunft darüber, wie Einzelne lernen. Sie setzen sich aus Präferenzen hinsichtlich unterschiedlicher Intelligenzen, Geschlecht, Kultur und Lernstilen zusammen. (Vgl. Tomlinson, 2005: 11) Unter Berücksichtigung dieser drei Charakteristika auf Schülerseite ist es Aufgabe der Angelika McMahon LehrerInnen, den Unterricht hinsichtlich der Lerninhalte, der Lernprozesse, der Lernprodukte und des Lernumfelds zu gestalten. Es ist dabei nicht notwendig, alle vier Elemente zu jeder Zeit zu differenzieren. In wirksamen differenzierenden Lernumgebungen ist die Arbeit mit der Gesamtgruppe ein ebenso wichtiger Teil des Unterrichts. Differenzieren sollte man dann, wenn man erkennt, dass es besondere Bedürfnisse seitens der Lernenden gibt bzw. wenn dadurch die Wahrscheinlichkeit steigt, dass Lernende zu besseren Lernergebnissen kommen. Grundprinzipien der Differenzierung nach den oben genannten Elementen sind aus der Sicht Tomlinsons respektvolle Aufgaben, die einzelnen Lernenden Lernoptionen bieten, die für sie passend sind, ständige Lernstandsbeobachtung und flexible Gruppen. (Vgl. Tomlinson 2005: 12-14) Differenzierung ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass SchülerInnen ihr Lernen personalisieren – das heißt ihr Lernen ihren persönlichen Lernstilen, ihrer Lernbereitschaft und ihren Interessen anpassen - können, indem sie als einzigartiger Mensch anerkannt werden und die Möglichkeit haben, das eigene Lernen mit entsprechender Unterstützung selbst zu gestalten und Urheberschaft darüber zu erleben. Ausgehend von der persönlichen Identität werden in der persönlichen Auseinandersetzung und der Auseinandersetzung mit dem sozialen Umfeld im bewertungsfreien Raum einzigartige Ergebnisse durch persönliche Aktivitäten erzielt. (Vgl. Schratz / Westfall-Greiter 2010: 26) „Personalisierung erfolgt durch Selbstgestaltung und im Dialog über die Aneignung von Wissen, Fähigkeiten und Haltungen mit sich selbst und mit anderen während Reflexionsphasen und im Gespräch, in dem Austausch und gemeinsame Deutung (making meaning) stattfindet.“ (Schratz & WestfallGreiter 2010: 26) HETEROGENITÄT IN DER NEUEN MITTELSCHULE 5. Leistungsbeurteilung Differenzierter Unterricht schließt die Leistungsbeurteilung ebenso ein wie die Unterrichtsplanung. Demnach ist der Umgang mit Differenzen nicht nur ein wichtiger Teil der Unterrichtsarbeit, sondern ein ebenfalls zentraler Faktor in der Leistungsfeststellung im Hinblick darauf, den Anspruch der lernseitigen Orientierung zu erfüllen. Im Rahmen der Neuen Mittelschule erfolgt eine Auseinandersetzung mit Leistungsbeurteilung in differenzierten Lernumgebungen unter dem Aspekt der Fairness, die nicht gleichbedeutend mit Gleichbehandlung ist. Rick Wormeli formuliert Prinzipien für erfolgreiche Leistungsbewertung in differenzierten Lernumgebungen. Als erstes Prinzip für erfolgreiche Leistungsbeurteilung nennt er „Begin with the End in Mind“, also den Blick darauf richtend, was am Ende einer Lerneinheit an Lernertrag herauskommen soll. Es sieht es als eine mögliche Herangehensweise, den Lernenden am Beginn einer Lerneinheit den Test vorzulegen, den sie am Ende absolvieren sollen, und räumt gleichzeitig ein, dass der Vorschlag etwas radikal wirken mag. Diese Vorgangsweise trage jedoch zur Transparenz der Lernziele bei und gebe den Lernenden eine klare Vorstellung darüber, worauf sie sich in ihrem Lernprozess konzentrieren sollten. Je klarer die Arbeitsaufträge seien, desto wahrscheinlicher sei es, dass sich Lernende ernsthaft um Ergebnisse bemühen, weil sie ein klares Bild von den erwarteten Produkten hätten. Nichts sei so frustrierend für Lernende wie die Arbeit an einer Aufgabe, die viel Zeit in Anspruch nimmt und am Ende nur zu der Erkenntnis führt, dass sie nicht entsprechend gelöst wurde. (Vgl. Wormeli 2006: 21-22) Ein weiterer Aspekt ist der Blick darauf, was SchülerInnen am Ende einer Lerneinheit wissen, verstehen und tun können sollen. Ebenso wichtig ist laut Wormeli die LernbeBEITRÄGE AUS WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG |23 HETEROGENITÄT IN DER NEUEN MITTELSCHULE Angelika McMahon reitschaft der Lernenden. Es gilt herauszufinden, welche Kenntnisse und Kompetenzen Lernende in Relation zu den erwünschten Lernergebnissen einer Lerneinheit bereits mitbringen. Um das herauszufinden, ist eine Lernstandserhebung zielführend, die unter der Prämisse mit dem „Ende vor Augen“ zu beginnen von dem abschließenden Test einer Lerneinheit ausgeht. Bei der Erstellung einer solchen Lernstandserhebung gilt es folgende Fragen zu beachten: Welches sind die wesentlichen und nachhaltig verfügbaren Fertigkeiten und Inhalte, die beurteilt werden sollen? Wie können die Lernenden im Rahmen der Leistungsbeurteilung ihre Meisterschaft zeigen? Sind alle Bestandteile der Lernziele in der Leistungsbeurteilung berücksichtigt? Gibt es andere Wege für die Lernenden, zu zeigen, dass sie entsprechende Lerninhalte gemeistert haben? Ist die Leistungsfeststellung eine Feststellung hinsichtlich des Lernprozesses oder des Lernprodukts und ist das der Absicht der Leistungsfeststellung entsprechend? Für die Entwicklung von Leistungsfeststellung ist es zielführend, drei Arten zu unterscheiden: (vgl. Wormeli 2006:22 - 27) 1. L ernstandserhebungen (Preassessment), die die Lernbereitschaft und Vorkenntnisse der Lernenden bewerten und damit eine wichtige Entscheidungsgrundlage für das Planungshandeln und den Verlauf des Unterrichts bilden. 2. Formative Leistungsfeststellung: Diese Form der Leistungsfeststellung wird während des Lernprozesses häufig angewendet. Das Feedback unterstützt sowohl Lernende als auch Lehrende in der weiteren Gestaltung der Lernprozesse. 3. Summative Leistungsfeststellung: Das ist jene Leistungsfeststellung, die am Ende einer Lerneinheit der Leistungsbeurteilung dient. 24| BEITRÄGE AUS WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG Wenn man davon ausgeht, dass formative Leistungsfeststellung eine Feststellung des Lernstands ist, deren Ergebnisse zur Anpassung weiterer Lernprozesse führen und damit durch wiederholtes Feedback zum Lernertrag beitragen, ist es zielführend, zwischen Lernaufgaben und Leistungsaufgaben zu differenzieren. Während Lernaufgaben und die Rückmeldung darüber weitgehend der Steuerung des Lernprozesses dienen, erzeugt die summative Beurteilung im Rahmen einer Leistungsaufgabe durch Benotung ein spezifisches Leistungsbild zu einem bestimmten Zeitpunkt. Im englischen Sprachraum werden diese Formen der Leistungsfeststellung als Beurteilung für Lernen (formativ) und Beurteilung von Lernen (summativ) bezeichnet. Eine dritte Ebene ist Beurteilung als Lernen (konstitutiv). Die konstitutive Leistungsfeststellung fordert die Lernenden heraus, Leistungsbeurteilung als Teil ihres eigenen Lernens zu erleben und mit Methoden der Selbsteinschätzung, des Peer-Feedback und der Selbstkontrolle zur Lernautonomie zu gelangen. (Vgl. Earl 2003: 21 – 28). Zentrale Prinzipien guter Leistungsfeststellung (vgl. Wormeli, 2006: 39 – 41): Gute Leistungsfeststellung dokumentiert nicht nur, sondern bringt Lernen voran und ist ein integraler Bestandteil des Unterrichts. Leistungsfeststellung konzentriert sich auf grundlegendes und nachhaltiges Verständnis sowie damit verbundene Fertigkeiten. Gute Leistungsfeststellung gibt dem Lehrer/der Lehrerin Informationen über den Unterrichtsverlauf und steht niemals isoliert am Ende einer Einheit. Gute Leistungsfeststellung ist transparent, beginnt mit „dem Ende vor Augen“ und ermöglicht den Schülerinnen und Schülern von Anfang an ein klares Bild, welche Leistungen von ihnen erwartet werden. Angelika McMahon Gute Leistungsfeststellung ist authentisch und der Lebenswelt der Lernenden entsprechend. Sie bildet Anforderungen ab, mit denen die Lernenden im späteren Leben konfrontiert sein werden. Gute Leistungsfeststellung ist ein valider Indikator, was Lernende tun können, enthält oft mehr als eine Disziplin und verlangt nach unterschiedlichen Herangehensweisen und Lösungsstrategien. 6. Die Rolle der LehrerInnen SchülerInnen suchen Bestärkung, die Möglichkeit der Beteiligung, Herausforderungen, Ziele und Macht über ihren eigenen Lernprozess. (Vgl. Marzano 2003: 2-4/Tomlinson 2005: 12) Die Aufgabe der LehrerInnen ist es, eine Fülle von Lerngelegenheiten zu bieten, in Lernprozesse zu investieren, zum Lernen einzuladen, Lernprozesse zu reflektieren und Beharrlichkeit zu zeigen. Das Curriculum soll in diesem Prozess eine Herausforderung bieten, zielgerichtet, bedeutend, ansprechend und mit passenden Unterstützungsstrukturen versehen sein. LehrerInnen haben einen sehr hohen Anteil am Lernerfolg der SchülerInnen. Kompetente LehrerInnen erfüllen dabei mehrere Funktionen, die sich in drei Hauptaufgaben unterteilen lassen. Sie treffen Entscheidungen über die effizientesten Unterrichtsstrategien, gestalten die Lernwege in einer Weise, die den Lernenden Lernen ermöglicht und sie haben ein effektives „Classroom Management“. (Marzano 2003: 3) Welche Bedeutung LehrerInnen für den Lernerfolg ihrer SchülerInnen haben, geht aus einer Studie hervor, die 1997 von S. Paul Wright, Sandra Horn und William Sanders mit einer Population von 60 000 Schülerinnen und Schülern durchgeführt wurde. (vgl. Marzano 2003:1) Die Studie belegt, dass der wichtigste Faktor für Lernen der Lehrer/die Lehrerin ist. Kompetente LehrerInnen scheinen mit Lernenden aller Leistungsniveaus HETEROGENITÄT IN DER NEUEN MITTELSCHULE ungeachtet des Grads der Heterogenität in ihren Klassen erfolgreich zu sein. (Vgl. Marzano 2003:1) Vergleiche zeigten, dass Lernende, die ein Jahr von LehrerInnen unterrichtet wurden, die als höchst kompetent eingestuft wurden, ihre Leistung um 52 Prozentpunkte steigerten, während SchülerInnen in Klassen, deren LehrerInnen als wenig kompetent eingestuft wurden, ihre Leistung lediglich um 14 Prozentpunkte steigerten. Der Unterschied wird umso deutlicher, wenn die Schätzung der ForscherInnen berücksichtigt wird, dass ein Leistungszuwachs von sechs Prozentpunkten allein dadurch bedingt war, dass die Lernenden während der Durchführung der Studie ein Jahr älter geworden waren und entsprechende Erfahrungen gemacht hatten. Was macht eine/n kompetente/n Lehrer/in aus? Kompetente LehrerIinnen haben ein großes Instrumentarium an Unterrichtsstrategien zur Verfügung. Sie sind fähig, Methoden des kooperativen Lernens einzusetzen, können Abläufe graphisch darstellen, können Hausübungen, Fragen, Lernpläne und dgl. so einsetzen, dass der Lernprozess damit gefördert wird. Zudem wissen sie, welche Strategien in Zusammenhang mit spezifischen Schüler Innen und spezifischen Inhalten förderlich sind. Ihre zweite Stärke liegt im Curriculumdesign (Anm. Curriculum wird hier nicht im Sinn von Lehrplan verwendet, sondern meint die Gestaltung der Lernwege). Die Abfolge der Inhalte und das Tempo stehen hier im Mittelpunkt. Anstatt auf die Sequenzen des Lehrwerks zu vertrauen, ziehen LehrerInnen die Bedürfnisse der Lernenden in Betracht und planen dementsprechend. Zudem besitzen sie die Fähigkeit, Lernaufgaben und neue Inhalte in unterschiedlichen Formaten, wie zum Beispiel Geschichten, Erklärungen, und anderen Demonstrationsformen, zu präsentieren und sich dabei unterschiedlicher Medien zu bedienen. BEITRÄGE AUS WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG |25 HETEROGENITÄT IN DER NEUEN MITTELSCHULE Angelika McMahon Zudem verfügen erfolgreiche LehrerInnen über gutes Management der Lernumgebung. Regeln im Klassenzimmer sind oft lehrerabhängig und unterteilen sich in diverse Kategorien wie Erwartungen an Verhalten, Routinen für den Anfang und das Ende des Unterrichts, Übergänge und Unterbrechungen, den Gebrauch von Materialien und Ausstattung, Gruppenarbeit und lehrerzentrierte Aktivitäten. In allen Bereichen ist es wichtig, SchülerInnen in die Erarbeitung eines Regelwerks einzubeziehen. (Vgl. Marzano 2003: 4-26, Helmke 2009: 173 ) Die LehrerInnen an den österreichweit mittlerweile 320 Standorten der Modellversuche Neue Mittelschule setzen sich in intensiven schulinternen und schulübergreifenden Prozessen mit den Herausforderungen auseinander, die mit dem Anspruch der Neuen Mittelschule, kein Kind zurückzulassen und möglichst alle an ihre persönlichen Leistungsgrenzen heranzuführen, verbunden sind. Sie arbeiten daran, Schule und Unterricht im Sinne des im vorliegenden Beitrag Skizzierten „neu zu denken“. Literatur: Arens, Susanne & Paul Mecheril (2010): Schule – Vielfalt – Gerechtigkeit. Schlaglichter auf ein Spannungsverhältnis, das die politische und erziehungswissenschaftliche Diskussion in Bewegung gebracht hat. In: Die Lernende Schule 49. 9 – 11). Bönsch, Manfred (2009): Intelligente Unterrichtsstrukturen. Eine Einführung in die Differenzierung. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. Earl, Lorna M. (2003). Assessment as Learning. Using Classroom Assessment to Maximize Student Learning. G. Thousand Oaks, California: Corwin Press. Göhlich, Michael & Jörg Zirfas (2007). Lernen. Ein pädagogischer Grundbegriff. Stuttgart: Kohlhammer. Helmke, Andreas (2009): Unterrichtsqualität und Lehrerprofessionalität. Diagnose, Evaluation und Verbesserung des Unterrichts. 2. Auflage. SeelzeVelber: Kallmeyer. Holt, John (2009): In jeder wachen Stunde. In: John Holt (Hg.): Das Freilerner-Buch. Winsen (Luhe): Anahita Verlag. 93-96. Marzano, Robert J. (2009). Classroom Management that works. ResearchBased Strategies for Every Teacher.New Jersey. Pearson Education. 26| BEITRÄGE AUS WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG Meyer – Drawe, Käthe (2008). Diskurse des Lernens. München. Wilhelm Fink Verlag. Schratz, Michael & Tanja Westfall – Greiter (2010): Das Dilemma der Individualisierungsdidaktik. Plädoyer für personalisiertes Lernen in der Schule. In: Journal für Schulentwicklung. 1. 18 – 31. Schratz, Michael et al. (2007): Domänen von Lehrer/innenprofessionalität im internationalen Kontext. In: Journal für Lehrerinnen- und Lehrerbildung. 7, 2. 70 – 79. Schratz, Michael (2009): „Lernseits“ von Unterricht. Alte Muster, neue Lebenswelten – was für Schulen? In: Lernende Schule. 46-47. 16-21. Senge, Peter. (1999): Die Fünfte Disziplin. Kunst und Praxis der lernenden Organisation. 2. Auflage. Stuttgart. Klett-Cotta. Tomlinson, Carol Ann (2005): The Differentiated Classroom. Responding to the needs of all Learners. New Jersey: Pearson. Wormeli, Rick (2006): Fair Isn’t Always Equal. Portland, Maine: Stenhouse Publishers. http://www.bmukk.gv.at/schulen/bw/nms/index.xml (Stand: 1. März 2011). Hans Peter Gottein ES WAR EINMAL ... EINE HOMOGENE LERNGRUPPE Es war einmal... eine homogene Lerngruppe Vom Mythos der Homogenität und dem Umgang mit Heterogenität Hans Peter Gottein Begriffe wie Individualisierung, Differenzierung oder Heterogenität sind in der pädagogischen Fachliteratur der letzten Jahre sehr prominent vertreten. Es stellt sich die Frage nach dem Warum: pädagogische Notwendigkeit oder vorübergehender Hype? Im folgenden Beitrag wird auf Heterogenität im schulischen Umfeld eingegangen. Im Anschluss daran wird der Einfluss von LehrerInnen-Persönlichkeitsmerkmalen auf deren Einstellung zu einem positiven Umgang mit Heterogenität im Sinne der Binnendifferenzierung dargestellt und durch eine aktuelle Untersuchung belegt. Ausgangsvoraussetzungen Unsere Welt verändert sich derzeit in einer Geschwindigkeit und Radikalität, wie es in der Geschichte der Menschheit noch nie festzustellen war (beispielsweise die immer schneller werdende Entwicklung der Kommunikationstechnologie oder die abnehmende Halbwertszeit des Wissens – siehe dazu weiter unten). Nicht umsonst fordert Ehlers (2008) die Ausrufung des Antropozäns, des Zeitalters des Menschen. Diese – und andere – Entwicklungen bedingen auch eine Veränderung bzw. Anpassung schulischen Unterrichts. Viele Schulsysteme stellen sich nur langsam und zögerlich auf Anforderungen hinsichtlich einer Individualisierung und Differenzierung des Unterrichts ein. Der fragend-entwickelnde Unterricht ist immer noch die dominante Unterrichtsform (vgl. Astleitner 2007: 137). Chen (2008: 5) spricht in diesem Zusammenhang von einem „Dominanzparadigma“. Bastian (2007: 104) spricht von der Dominanz eines spezifischen Unterrichtsskripts, das er als „instruierendes Unterrichtsgespräch“ bezeichnet. Auf der anderen Seite geraten SchülerInnen durch diese Unterrichtsmethodik in Gefahr, schulische Inhalte lediglich oberflächlich aufzunehmen. Klippert (2008: 17) spricht in diesem Zusammenhang von vordergründigem, nicht nachhaltigem Lernen und „Konsumismus“. Der Veränderungsbedarf von Schulsystemen wird häufig u.a. durch die abnehmende Halbwertszeit des Wissens begründet. Derzeit entstehen täglich ca. 20.000 neue wissenschaftliche Publikationen (vgl. Wiater 2007: 40). Im Jahr 1900 waren 95 % aller Arbeitsplätze mit keinen oder geringen, in kurzer Zeit anlernbaren Qualifikationen bewältigbar (vgl. Darling-Hammond 2008), ein Großteil der Arbeitsplätze heute verlangt jedoch weitaus anspruchsvollere Kompetenzen und Qualifikationen, wie z.B. Selbstmanagement, Kommunikations- und Teamkompetenz, Anwendung von Wissen und Kompetenzen in veränderten Situationen usw. Darling-Hammond argumentiert, dass unsere SchülerInnen auf Jobs vorbereitet werden, die zum Zeitpunkt des Schulbesuchs noch gar nicht existieren. Prensky (2001: 1) drückt dies so aus: „Our students have changed radically. Today’s students are no longer the people our educational system was designed to teach.” Homogenität vs. Heterogenität Der Versuch, Lerngruppen weitestgehend zu homogenisieren, hat insbesondere im deutschsprachigen Raum (im Gegensatz zum englischsprachigen Raum, vgl. dazu z.B. Ratzki 2004, Rüttimann 2009) eine lange Tradition. Schon im 18. Jh. schlug Ernst Christian Trapp - der erste Pädagogikprofessor Deutschlands - vor, den Unterricht an den sogenannten „Mittelköpfen“ auszurichten, d.h. BEITRÄGE AUS WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG |27 ES WAR EINMAL ... EINE HOMOGENE LERNGRUPPE Hans Peter Gottein den imaginären DurchschnittsschülerInnen (vgl. Helmke 2009: 245). Die Geschichte der Pädagogik im deutschsprachigen Raum ist folglich geprägt vom Bestreben, Lernende in homogene Lerngruppen einzuteilen (äußere Differenzierung). Dies ist in mehrfacher Hinsicht problematisch. Die zu Grunde gelegten Leistungskriterien sind normativ, d.h., sie unterliegen den in einer Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt gültigen Normen, und sie sind selektiv, d.h., sie teilen Personen in auf ein bestimmtes Merkmal gerichtete Gruppen ein (vgl. Grubich 2005: 485-486). Das vordergründige Einteilungsmerkmal ist die Lernleistung im jeweiligen Fachbereich. Zahlreiche Untersuchungen belegen jedoch, dass viele andere Kriterien einfließen, wie z. B. der sozioökonomische Status des Kindes oder das Schulangebot in Wohnortnähe (ebda.: 486). Aber auch das Kriterium der Leistung ist kritisch zu betrachten. Viele Untersuchungen weisen nach, dass Leistungen offensichtlich nicht an einer Sachnorm (Lehrplan) gemessen werden, sondern sich an Normalverteilungen annähern, d.h., das Leistungsniveau der jeweiligen Lerngruppe hat erheblichen Einfluss auf die Einschätzung der Leistung (vgl. z.B. Eder, Neuweg & Thonhauser 2009: 256-259). Wie bereits weiter oben angedeutet, deuten trotz aller Forderungen nach homogenen Lerngruppen aktuelle Forschungsergebnisse darauf hin, dass „Lernzuwachs und Lernergebnisse aller Schülerinnen und Schüler unter Bedingungen von Heterogenität besser sind“ (Klauer & Leutner, 2007, zit. n. Kiper 2008). Ähnliche Forschungsergebnisse belegen Stierle und Wagner (2004). Die Autoren berichten, dass vor allem bei Gruppenaufgaben heterogene Gruppen kreativere und qualitativ hochwertigere Ergebnisse zuwege bringen als homogene Gruppen. Rüttimann (2009) fasst Ergebnisse aus der Integrationsforschung zusammen und stellt u.a. fest, dass im integrativen Unterricht von lernbehinderten und nicht lernbehinderten SchülerInnen letztere keine Leistungsminderungen aufweisen, dass gemischte Lerngruppen kognitiv gute Effekte zeigen sowie dass lernbehinderte SchülerInnen in gemischten Gruppen deutlich bessere Schulleistungen zeigen, allerdings auch ein leicht niedrigeres Selbstwertgefühl. (Vgl. Rüttimann 2009). Viele Untersuchungen belegen es eindeutig: Eine homogene Lerngruppe gibt es nicht! Auch wenn es noch so unpraktisch erscheint, LehrerInnen sind aufgefordert, die Tatsache der Heterogenität anzuerkennen. Scheunpflug bezeichnet die zunehmende Heterogenität insofern als große pädagogische Herausforderung, da „heterogene Lerngruppen auf eine Lehrerschaft stoßen, die eine homogene schulische Gruppe erwartet“ (Scheunpflug 2008: 66). Kampshoff und Walther (2010: 401) verweisen auf den Grundtenor vieler Studien und formulieren vorsichtig, indem sie feststellen, dass eine „adäquate Reaktion der Lehrerschaft auf heterogene Lerngruppen [….] in der empirischen Schul- und Unterrichtsforschung in Zweifel gezogen“ wird. Best-practice Beispiele, wie z.B. die in Reinhard Kahls Film „Treibhäuser der Zukunft“ vorgestellten Schulen oder die sog. „Leuchtturmschulen“ (vgl. Fauser et. al. 2007), sind mittlerweile sehr bekannt. Doch was sind Voraussetzungen auf Seiten der Lehrerschaft, um erfolgreich mit einer heterogenen Lerngruppe umgehen zu können? Viele AutorInnen haben sich mit dieser Frage beschäftigt, dementsprechend gibt es unterschiedliche Anforderungskataloge. Einen umfangreichen Katalog legt Helmke (2009: 253-255) vor und nennt als Erfolgsfaktoren u.a. den nötigen Einstellungswandel, diagnostische Kompetenz, Professionswissen und didaktische Expertise, passendes Lehr- und Diagnosematerial sowie den bewussten Einbezug außerschulischer Faktoren. 28| BEITRÄGE AUS WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG Voraussetzungen auf Seiten der Lehrer Innen für einen erfolgreichen Umgang mit Heterogenität Hans Peter Gottein Beliefs und Persönlichkeitsmerkmale Eine professionelle Lehrperson wird von verschiedenen AutorInnen unterschiedlich definiert. Beispielsweise nennen Kampshoff und Walther (2010: 402) in Anlehnung an Baumert und Kunter (2006) als Elemente der LehrerInnen-Professionalität u.a. Professionswissen (Fachwissen, fachdidaktisches Wissen) und die sog. ‚beliefs‘. Dabei handelt es sich um „Überzeugungen, Werthaltungen, motivationale Orientierungen und selbstregulative Fähigkeiten“ (ebda.). Über den Einfluss von „beliefs“ auf das Verhalten von LehrerInnen im Unterricht ist in einer Studie bei Kampshoff und Walter (2010: 402) nachzulesen. In diesem Aufsatz liegt der Fokus auf zwei ausgewählten Persönlichkeitsmerkmalen, dem Orientierungsstil und der Motivationsstrategie. Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, ob diese beiden Persönlichkeitsmerkmale einen Einfluss auf eine positive Einstellung gegenüber Heterogenität im Sinne der Binnendifferenzierung haben. Dazu werden die theoretischen Konstrukte dargestellt und mit empirischen Daten belegt. Die Auswahl hinsichtlich des Orientierungsstils begründet sich u.a. durch empirische Erkenntnisse von z. B. Kempas (1995) oder Huber und Roth (1999), die einen Zusammenhang zwischen der Bereitschaft zur Umsetzung bestimmter didaktischer Konzepte und der Ungewissheitsorientierung feststellen konnten. Das Konstrukt der Autonomieförderung steht auch bereits bei oberflächlicher Betrachtung offensichtlich im Zusammenhang mit der Bereitschaft zur Binnendifferenzierung. Orientierungsstil von LehrerInnen Untersuchungen zum Orientierungsstil von LehrerInnen sind im deutschsprachigen Raum bislang nicht sehr häufig. Huber und Roth (1999) stellen fest, dass jede Situation einen Informationswert und einen affektiven Wert besitzt. Je weniger tatsächliche Informationen verfügbar sind, desto unsicherer ist die Situation bzw. deren Ausgang. Hier setzt ES WAR EINMAL ... EINE HOMOGENE LERNGRUPPE die Untersuchung des Persönlichkeitsmerkmals an. Die zentrale Fragestellung ist dabei der Umgang mit der Unsicherheit. Besonders intensiv haben sich Richard Sorrentino und Christopher Roney (vgl. z.B. Sorrentino & Roney, 2000) mit dieser Frage auseinandergesetzt. Sie definieren den Orientierungsstil als bereichsübergreifendes Persönlichkeitsmerkmal, d.h. ein Merkmal, das in praktisch allen Lebenssituationen zum Tragen kommt. Weiters stellen sie fest, dass es sich um ein überdauerndes Merkmal handelt, d.h. einmal gebildet, ist es nur schwer veränderbar. Die Autoren unterscheiden in ihrer Theorie zwischen Gewissheits- und Ungewissheitsorientierung. Ungewissheitsorientierte Menschen (UOs) sehen in unbekannten Situationen mit Lernpotential etwas Anregendes, etwas Spannendes. Sie nutzen diese Situationen nicht nur, sie suchen sie sogar aktiv auf (vgl. Sorrentino & Roney, 2000 4-5). Im Gegensatz dazu versuchen gewissheitsorientierte Menschen (GOs), genau diese Situationen zu vermeiden. Sie fühlen sich in vertrauten Situationen besonders wohl, was jedoch nicht bedeutet, dass diese Menschen Neuem gegenüber nicht aufgeschlossen sind. Sorrentino und Roney (vgl. ebda.: 7) konnten jedoch nachweisen, dass Misserfolgserlebnisse in ungewissen Situationen von solchen Menschen als besonders negativ empfunden werden. UOs und GOs bilden die beiden Enden eines Kontinuums. Zunächst stellt sich die Frage, wie sich dieses Merkmal bildet. Huber und Roth (1999: 96) merken hinsichtlich der Ausgangslage an: „Wir können davon ausgehen, dass Menschen nicht gewissheitsorientiert auf die Welt kommen.“ Im Laufe der Sozialisation mit Erwachsenen wird jedoch der Orientierungsstil geprägt. Wie schon angemerkt, ist er bereichsübergreifend und wirkt somit bei LehrerInnen auch im Unterricht. Allerdings konnte nachgewiesen werden, dass gezielte Interventionen bei UOs und GOs Veränderungen herbeiführen können (vgl. Kempas 1994). BEITRÄGE AUS WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG |29 ES WAR EINMAL ... EINE HOMOGENE LERNGRUPPE Hans Peter Gottein Aufgrund obiger Ausführungen kann vermutet werden, dass GOs das unterrichtliche Geschehen stärker strukturieren und planen wollen als ihre KollegInnen mit eindeutiger Tendenz zur Ungewissheitsorientierung. Es soll der Frage nachgegangen werden, ob GOs eine weniger positive Einstellung zum Umgang mit Heterogenität im Sinne von Maßnahmen der Binnendifferenzierung haben als UOs. Verschiedene Maßnahmen der Binnendifferenzierung, die zwangsläufig vermehrt mit Formen offenen Unterrichts im weitesten Sinne einhergehen, bedingen Unsicherheit bzw. mangelnde Vorhersagbarkeit unterrichtlichen Geschehens, was GOs Unbehagen bereitet. Huber und Roth (vgl. 1999: 34-37 bzw. 86-90) konnten dies in einer Fallstudie nachweisen, ebenso Kempas (1994) und Dalbert (1999). In einer kürzlich durchgeführten Untersuchung (vgl. Gottein, 2010: 131-132) konnte dieser Zusammenhang ebenfalls belegt werden. 19,4 % der Befragten (N = 150) konnten eindeutig einer Gruppe (UO oder GO) zugewiesen werden. Eine Korrelation nach Pearson erbrachte ein signifikantes Ergebnis (r = .199, p = .015). Somit kann festgestellt werden, dass Orientierungsstil und Individualisierung signifikant positiv miteinander korrelieren, allerdings ist der Zusammenhang nicht allzu hoch. Es kann demnach angenommen werden, dass ungewissheitsorientierte Personen eine positivere Einstellung zur Binnendifferenzierung haben als Personen, die eher gewissheitsorientiert sind. Dieses Ergebnis stimmt auch mit den Ergebnissen von Huber und Roth (1999: 34 bzw. 86) überein. Das Autorenteam berichtet, dass gewissheitsorientierte LehrerInnen ihren Unterricht stärker strukturieren und weniger sozialen Austausch zulassen als ihre ungewissheitsorientierten KollegInnen. Motivationsstrategie von LehrerInnen Die Selbstbestimmungstheorie der Motivation nach Deci und Ryan (vgl. z. B. Reeve, Deci & Ryan 2004; Deci & Ryan 2003) versucht – vereinfacht gesagt – den Zusammenhang 30| BEITRÄGE AUS WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG zwischen Motivation und Lernen auf Basis einer Theorie des Selbst darzustellen. Es handelt sich dabei um eine Makrotheorie menschlicher Motivation, die bis dato im deutschsprachigen Raum wenig Eingang in die wissenschaftliche Diskussion bzw. Forschung gefunden hat. Motivationen lassen sich demnach im Wesentlichen auf drei Quellen zurückführen, und zwar auf physiologische Bedürfnisse, psychologische Bedürf nisse sowie Emotionen (vgl. Deci & Ryan 2003). Edward Deci und Richard Ryan (2002) unterscheiden in ihrer Selbstbestimmungstheorie vier Komponenten. Im Zusammenhang mit Schule und Unterricht besonders interessant erscheint die Causality Orien tations Theory (COT). Es geht dabei insbesondere um die Zusammenhänge zwischen Autonomieförderung, Struktur und Kontrol le. Die Theorie beschreibt dabei vor allem Tendenzen zu selbstbestimmtem Verhalten. Dabei werden drei mögliche Orientierungsvarianten unterschieden: Autonomieorientierung, Kontrollorientierung sowie unpersönliche Orientierung (führt zu amotiviertem Verhalten). Demzufolge wird Unterricht von SchülerInnen nur dann als autonomiefördernd erlebt, wenn er wenig kontrollierend und gleichzeitig auch sehr strukturiert abläuft. Autonomiefördernder Unterricht hat demnach nichts mit einem niedrigen Strukturierungsgrad zu tun, im Gegenteil: Nur durch eine klare Struktur können LehrerInnen nötige Schritte zum Erreichen der Ziele aufzeigen (vgl. Reeve, Deci & Ryan 2004: 51). Die Selbstbestimmungstheorie räumt dem Bereich der intrinsischen Motivation einen zentralen Stellenwert ein. Dass die Förderung und Beachtung der intrinsischen Motivation im schulischen Umfeld – realistisch betrachtet - nicht im Mittelpunkt steht, muss weitgehend akzeptiert werden. Es scheint jedoch möglich, durch gezielte Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen LehrerInnen zumindest soweit für diesen wichtigen Themenbereich zu sensibilisieren, dass durch eine entsprechende Unterrichtsplanung und –gestaltung Hans Peter Gottein vorhandene intrinsische Motivation zumindest nicht unterdrückt bzw. zerstört wird (vgl. Reeve, Deci & Ryan 2004). Dabei ist die Beachtung der weiter oben bereits angesprochenen grundlegenden psychologischen Bedürfnisse von großer Wichtigkeit. Von Druck und Kontrollverhalten geprägter Unterricht ist wesentlich ineffektiver als solcher, der in einer positiven Atmosphäre unter Berücksichtigung der Interessen abläuft. Deci und Ryan bezeichnen dies als das Paradoxon der Leistung, indem sie feststellen: „The harder you push the less you get“ (Deci & Ryan 2002, zit. n. Martinek 2007: 58). SchülerInnen, die ihre LehrerInnen als autonomiefördernd erleben, entwickeln eher ein intrinsisch motiviertes Verhalten. Martinek (2007) fasst die diesbezüglichen Forschungsergebnisse aus verschiedenen Studien von Deci und Ryan bzw. Hardre und Reeve wie folgt zusammen (gekürzt): Autonomiefördernde Lernumgebungen korrelieren positiv mit Lerninteresse und schulischer Kompetenz. Intrinsische Motivation fördert effektives Lernen. Kontrollierende Motivationsformen (z.B. extrinsische Motivation) führen öfter zu Schulabbruch als autonome Motivationsformen (z.B. intrinsische Motivation). Selbstbestimmte Motivationsformen bringen häufiger qualitativ hochwertigere Lernergebnisse hervor. Autonomieförderung führt zu besserer Tiefenverarbeitung des Lernstoffes. Dies bedingt integriertes (vernetztes) und somit intelligentes Wissen (vgl. Martinek 2007). Auf der anderen Seite fördert kontrollierendes Verhalten die externe Motivation. Dies wiederum löst negative Emotionen aus, die sich in vielfältigster Weise individuell unterschiedlich manifestieren können. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach den Ursachen für kontrollierende ES WAR EINMAL ... EINE HOMOGENE LERNGRUPPE Verhaltensweisen. Lehrerinnen und Lehrer fühlen sich vielfach von mehreren Seiten unter Druck gesetzt. Einerseits wird immer wieder der Druck nach Erfüllung der Lehrpläne genannt. Nicht zu unterschätzen ist auch Anpassungsdruck an KollegInnen, an bestimmte althergebrachte Arbeits- und Beurteilungsweisen an bestimmten Schulstandorten, Vorgaben durch Vorgesetzte, FachbereichsleiterInnen und Ähnliches. Dazu kommt sicherlich noch, dass die Wichtigkeit autonomiefördernder Maßnahmen in der Ausbildung zukünftiger Lehrerinnen und Lehrer kaum thematisiert wird (vgl. Reeve 2002). Martinek (2007) berichtet über eine israelische Studie von Assor und Kollegen. Darin konnte nachgewiesen werden, dass regelmäßige Leistungstests bei LehrerInnen verstärkt kontrollorientiertes Verhalten bewirken können. (Vgl. Martinek 2007) In oben angesprochener Untersuchung (vgl. Gottein 2010) waren von insgesamt 143 Personen 39 eindeutig kontrollorientiert, 28 eindeutig autonomieorientiert, 76 Personen wiesen keine eindeutige Tendenz auf. Die Prüfung von Zusammenhängen zwischen Kontroll- bzw. Autonomieorientierung einerseits und der Einstellung zu Maßnahmen der Binnendifferenzierung andererseits ergab beidseitig hoch signifikante Zusammenhänge. Autonomiefördernde LehrerInnen haben eine positive Einstellung zu Maßnahmen der Binnendifferenzierung (r = .264, p = .≤.05), je kontrollorientierter eine Person ist, desto skeptischer ist die Einstellung gegenüber Binnendifferenzierung (r = -.221, p ≤.05). Praxisbezug Die oben dargestellten Ergebnisse weisen nach, dass Personen mit Tendenz zur Ungewissheitsorientierung auch eine Tendenz zu bzw. positivere Einstellung gegenüber Individualisierungsmaßnahmen und Maßnahmen der Binnendifferenzierung haben. Dies bestätigen u.a. die Erkenntnisse von Kempas (1994) oder Dalbert (1999). Dieses Ergebnis mag auf BEITRÄGE AUS WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG |31 ES WAR EINMAL ... EINE HOMOGENE LERNGRUPPE Hans Peter Gottein den ersten Blick erfreulich erscheinen: Personen, die ungewisse Situationen aufsuchen bzw. sich in solchen wohlfühlen, sind auch in der Lage bzw. willig, Individualisierungsmaßnahmen zu setzen. Allerdings stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage nach der Anzahl der ungewissheitsorientieren LehrerInnen im beruflichen Umfeld. Betrachtet man die berufliche Situation von LehrerInnen näher, so muss man feststellen, dass diese nicht gerade förderliche Bedingungen für ungewissheitsorientierte Personen bietet. Eine Entscheidung für den Lehrberuf bringt in der Regel eine klar vorgezeichnete Berufsbiografie mit sich. Hat man erst die ‚Unsicherheiten‘ der ersten Berufsjahre (Dienstvertragsverlängerung, Versetzungen und andere Unsicherheiten im Dasein von JunglehrerInnen) überwunden, bewegt man sich in meist klar vorgezeichneten Bahnen. Aufstiegs- und Weiterentwicklungsmöglichkeiten sind im Schuldienst eher dünn gesät, allerdings fällt auch die Unsicherheit hinsichtlich eines möglichen Arbeitsplatzverlustes oder unklarer Einkommensverhältnisse weg. Für die Praxis in Aus-, Fort- und Weiterbildung ergibt dies die Forderung, in der Konzeption von Unterricht und Seminaren auf die verschiedenen Ausprägungen von Orientierungsstil und Motivationsstrategie so weit wie möglich Rücksicht zu nehmen. Die Untersuchungen von Kempas (1994) sowie Huber und Roth (1999) bieten dazu gute Erkenntnisse. Dabei werden Rahmenbedingungen beschrieben, die die Bedürfnisse aller drei Gruppen miteinander vereinen können. So brauchen beispielsweise gewissheitsorientierte Lernende (also auch LehrerInnen in Ausbildung bzw. in der Fort- und Weiterbildung) individuelle Lernformen, während ungewissheitsorientierte Lernende vermehrt kooperative Lernformen bevorzugen. UOs fühlen sich in Situationen wohl, in denen ein hohes Informationsangebot dargeboten wird und in denen sie sich mit diesem Informationsangebot inhaltlich aktiv auseinandersetzen können, z. B. durch Diskussionen oder Rollen- 32| BEITRÄGE AUS WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG spiele. Im Gegensatz dazu brauchen GOs einen klar strukturierten Handlungsspielraum. Die Kenntnis dieser Bedürfnisse ermöglicht es LeiterInnen von Seminaren, eine ausgewogene Balance von Inhalten und Vorgangsweisen zu finden, um den Personengruppen hinsichtlich des Orientierungsstils zumindest ansatzweise gerecht werden zu können. Abschließend muss noch betont werden, dass ungewissheits- bzw. gewissheitsorientierte LehrerInnen in ihren Klassen sowohl ungewissheits- als auch gewissheitsorientierte SchülerInnen vorfinden. Je nach Kombination können sich SchülerInnen von Lehrpersonen hinsichtlich ihres Orientierungsstils mehr oder weniger angesprochen bzw. verstanden fühlen. Die Erkenntnisse von Huber & Roth (1999), Dalbert (1999) und Sorrentino & Roney (2000) belegen, dass der Orientierungsstil ein überdauerndes Persönlichkeitsmerkmal darstellt, das sich – einmal gebildet – nur mehr sehr schwer verändern lässt. Gerade jedoch LehrerInnen von jüngeren SchülerInnen (insbesondere in der Grundschule, aber auch noch in der Sekundarstufe I) treffen auf SchülerInnen, die in ihrer Persönlichkeit noch nicht gefestigt sind, bei denen sich der Orientierungsstil erst herausbildet. Sicherlich wird der wesentliche Einfluss aus dem Elternhaus stammen, der Einfluss des schulischen Umfeldes darf in diesem Zusammenhang jedoch keinesfalls unterschätzt werden. Individualisierung und Binnendifferenzierung wurden vor allem in den letzten Jahren intensiv erforscht. Es gibt mittlerweile viele Belege für die positive Wirkung von Individualisierungs- und Differenzierungsmaßnahmen. In der Umsetzung solcher unterrichtlicher Maßnahmen kommen jedoch insbesondere Personen mit Tendenz zur Gewissheitsorientierung und/oder Tendenz zur Kontrollorientierung in eine Konfliktsituation, denn vermehrte Binnendifferenzierung bringt es zwangsläufig mit sich, dass man einen Teil der Kontrolle im Klassenzimmer aufgeben muss und dass die Planbarkeit – und somit Gewissheit – von un- Hans Peter Gottein terrichtlichen Situationen ebenfalls nicht im gewünschten Ausmaß gegeben ist bzw. gegeben sein kann. Binnendifferenzierung kann dadurch zum Problem werden, sowohl für SchülerInnen als auch für LehrerInnen: Eine „Pseudo-Differenzierung“ durch die Lehrperson kann nicht gelingen, wenn SchülerInnen durch die Lehrperson wieder stark kontrolliert werden, sozusagen durch die ‚Hintertür‘. So wäre es etwa vorstellbar, dass eine Lehrperson SchülerInnen während Phasen des offenen Lernens individuell an Sachverhalten arbeiten lässt, die dabei erzielten Ergebnisse jedoch nicht beachtet und am Ende dieser Phase den SchülerInnen genau vorgibt, welcher Lehrstoff wichtig war, was bis wann zu lernen ist etc. Ein auf diese Weise scheindifferenzierter Unterricht wird aller Wahrscheinlichkeit nach auch den SchülerInnen als unglaubwürdig erscheinen. Es stellt sich auch die Frage – und dies wäre ein äußerst interessanter und hochaktueller Forschungsanlass – wie sich die Einführung der Bildungsstandards im Jahr 2009 und der teilzentralen Reifeprüfung ab 2012 auf die Motivationsstrategie von LehrerInnen auswirkt. Diese Instrumente wurden als Instrumente der Qualitätssicherung eingeführt. Sollte es nicht gelingen, LehrerInnen zu vermitteln, dass diese Instrumente eine Hilfestellung für den Unterricht darstellen, werden sie aller Wahrscheinlichkeit nach als Kontrollinstrumente verstanden werden. Schon 1982 konnten Deci und Mitarbeiter nachweisen, dass Lehrerinnen und Lehrer, die unter Druck bzw. Erklärungsbedarf hinsichtlich des Leistungsstandes ihrer SchülerInnen standen, signifikant kontrollorientierter agierten als ihre Kolleginnen und Kollegen, die diesen Druck nicht verspürten. ES WAR EINMAL ... EINE HOMOGENE LERNGRUPPE Literatur Astleitner, H. 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Die Ernährung des Menschen: physiologisches Grundbedürfnis und kulturelles Regelwerk So vielfältig wie Menschen und ihre Lebensumstände sind, so vielfältig sind auch die Esskulturen, die sich in den verschiedenen Lebenszusammenhängen entwickelt haben. Esskultur soll hier verstanden werden als jede konkrete Ausgestaltung der naturgegebenen Notwendigkeit der Nahrungszufuhr und somit prinzipiell jede Ernährungweise (vgl. Barlösius 1999). Das Verständnis von Kultur als „Summe aller materiellen und immateriellen Errungenschaften“ (Methfessel 2005: 7) des Menschen macht deutlich, dass Ernährung sowohl als naturwissenschaftliches als auch kultur- und gesellschaftliches Lernfeld verstanden werden muss und Ernährungs pädagogInnen sich deshalb einem integrativen Wissenschaftsverständnis verpflichtet fühlen, das einem Bildungsanspruch im Sinne von Differenzfähigkeit und Mündigkeit Rechnung trägt. Ein Hunger – viele Möglichkeiten satt zu werden Alle Menschen der Welt teilen sich die Sorge ums tägliche Sattwerden. Wir benötigen (sauberes) Wasser und Nährstoffe, die als Inhaltsstoffe unserer Nahrung zu körper eigenen Stoffen und Energie umgewandelt werden („Stoff-Wechsel“). Der Mensch zählt zu den Omnivoren, die das gesamte Nahrungsspektrum für sich nutzen, und kann sich dadurch an die unterschiedlichsten Nah- 34| BEITRÄGE AUS WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG rungsangebote der Regionen anpassen. Das sichert das Überleben. Anders als Tieren fehlen dem Menschen jedoch instinkt gebundene, angeborene Ernährungsweisen. Die damit verbundene Unsicherheit bezüglich des „richtigen“ Handelns macht Orientierungswissen (Essbar, nicht essbar? Roh oder gekocht genießbar?) nötig. Dieses erwerben Menschenkinder im Zuge ihrer Ernährungssozialisation. Ernährungssozialisation ist der Prozess der Aneignung von Handlungsmustern, Werten und Normen in Bezug auf Essen und Ernährung, Nahrungsbeschaffung, Kostzusammenstellung und -zubereitung, Essverhalten und Gestaltung des Ernährungsumfeldes.(REVIS, Glossar) In der öffentlichen Ernährungskommunikation hat sich eingebürgert, Empfehlungen für eine „gesunde Ernährung“ in Form von Essenskreisen und Ernährungspyramiden zu visualisieren. Abgesehen davon, dass in solchen Visualisierungsmodellen ein arg reduziertes Verständnis von Gesundheit bemüht wird, mutet angesichts des Ungleichgewichts von Hunger und Sattsein die jüngst in Österreich ausgetragene Diskussion über die „richtige“ Anordnung der Lebensmittel in einer „österreichischen“ Ernährungspyramide grotesk an, da sie den Blick auf Ernährung als fundamentales Problem der Menschheit verstellt: 1. B asis für Nahrungsversorgung und Schutz vor Krankheit bildet die Sicherstellung der Ursula Buchner Wasserversorgung. Trotz vorhandenen Wissens und trotz verfügbarer Technologien ist der Zugang zu (sauberem) Trinkwasser weltweit nach wie vor nicht zufriedenstellend gelöst. 2. Getreide, Hülsenfrüchte, Knollen und Wurzeln sind welternährungswirtschaftlich gesehen die wichtigsten Energielieferanten und sichern gemeinsam mit Gemüsen, Früchten und Samen die Nährstoffversorgung und somit das Überleben. 3. Tierische Lebensmittel (Milchprodukte, Fleisch, Fisch, Ei) reduzieren das zur Energiebedarfsdeckung notwendige Nahrungsvolumen, da schon kleine Mengen gut resorbierbare biologisch hochwertige Inhaltsstoffe zur Verfügung stellen. (vgl. Koerber, Männle & Leitzmann 2004 und Schlieper 2004) Schiebt man die Dimension Nahrung auf die Seite, so eröffnet die „nationale“ Ernährungspyramide dann auch den Blick auf die kulturelle Dimension von Ernährung: In allen Gesellschaften wird nicht alles, was potentiell Nährstoff- und Energielieferant ist, gegessen. Das gilt vor allem für tierische Lebensmittel, für die es auch in fast jeder Esskultur Nahrungstabus gibt. Ein Vergleich der Pyramiden und Essenskreise in österreichischen und z.B. japanischen Schulbüchern verdeutlicht: „Es ist biologisch festgelegt, dass Menschen sich ernähren müssen und dass ihre Nahrung gewissen physiologischen Anforderungen genügen muss, (...) aber es ist nicht biologisch festgelegt, wie er dieses natürliche Bedürfnis befriedigt, sondern es ist Gegenstand kultureller Gestaltungen und sozialer Auseinandersetzungen.“ (Barlösius 1999: 37) Esskultur lernen Essen ist naturgemäß ein egoistischer Akt: Was ich hinunterschlucke, bleibt anderen für immer verwehrt. Die daran geknüpfte bange Frage: „Ist genug für alle da“? wird seit alters her mit einem differenzierten Re- DIALOG DER ESSKULTUREN gelwerk gelöst, das in seiner Gesamtheit als Esskultur bezeichnet werden kann. „Ernährungskultur soll heißen die Gesamtheit der mit der Erzeugung, Verarbeitung, Verteilung und dem Verzehr von Nahrung in Zusammenhang stehenden Konfigurationen des Denkens, Wahrnehmens, Fühlens, Verhaltens und Handelns innerhalb einer Gesellschaft, die durch Symbole vermittelt, in Wertvorstellungen und Normen ausgedrückt und durch soziale Institutionen auf Dauer gestellt werden sowie in Waren, Werkzeugen etc. materielle Gestalt annehmen.“ (Setzwein, 2003: 67f.) Im sogenannten Drei-Komponenten-Modell beschreiben Pudel/ Westenhöfer (1991) die das Essverhalten beeinflussenden Faktoren: Spielt für den Säugling noch die Hunger- und Sättigungswahrnehmung und die Dringlichkeit, Spannung (Hunger) raschest zu befriedigen, die größte Rolle, so wird mit zunehmendem Alter die körperliche Befindlichkeitswahrnehmung überlagert von sozialen Einflüssen (Peers u.a. soziale Modelle) bis dann im höheren Lebensalter Kognitionen (z.B. subjektive Gesundheitstheorien) selbst grundlegende Bedürfnisse wie Hunger oder soziale Zugehörigkeit überlagern können. Menschen sind fähig, die unterschiedlichen Sinnesqualitäten der aufgenommenen Nahrung wahrzunehmen und zu bewerten. Dabei gibt es zwar genetische Dispositionen (z.B. die Vorliebe für den Geschmack „süß“ als auch die Abneigung gegen Bitteres, beides wird als „Sicherheitsgeschmack“ der Natur interpretiert), aber „guter“ Geschmack ist in erster Linie durch Wiederholung und „learning by tasting“ herausgebildete Gewohnheit. Die Gewöhnung an den „guten“ Geschmack - das als „mere exposure effect“ bezeichnete Phänomen - umschreibt die Tatsache, dass wir lieben, was wir essen, und nicht, dass wir essen, was wir lieben (vgl. Ellrott 2009 und Klotter 2007). BEITRÄGE AUS WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG |35 DIALOG DER ESSKULTUREN Ursula Buchner Über die Art der Ernährungsweise kann gesellschaftliche Zugehörigkeit oder Abgrenzung demonstriert werden. Distinktion - nach der Theorie von Bourdieu - eignet sich besonders gut „zur Erfüllung einer gesellschaftlichen Funktion der Legitimierung sozialer Unterschiede.“ (Bourdieu 1982: 27) Esskulturlernen ist Diskriminierungslernen und das Stilmittel der Distinktion dient gleichzeitig als Mittel der Identifikation. Das Wort identisch bedeutet zwar ‚dasselbe‘, ‚das Gleiche‘, das Nomen Identität drückt jedoch gleichzeitig eine gelungene Individualität und damit Einzigartigkeit aus. Menschen entwickeln ihre individuelle und soziale Identität im Spiegel der Anderen. Der Begriff der „normativen Inversion“ beschreibt, dass Kulturen sich immer als Gegenkultur zur jeweils geltenden Herrschaftskultur entwerfen. Im Gegenentwurf findet sich zwar grundsätzlich noch die ursprüngliche Kultur, gleichzeitig wird sie jedoch vollständig enttabuisiert (vgl. Leitner 2011: 94). „Eine jede soziale Lage ist mithin bestimmt durch die Gesamtheit dessen, was sie nicht ist, insbesondere jedoch durch das ihr Gegensätzliche: soziale Identität gewinnt Kontur und bestätigt sich in der Differenz.“ (Bourdieu 1982: 279) Essen ist individuelles und situatives Verhalten, das von Emotionen, Kognitionen und Motiven gesteuert wird, die mit Ernährung im Sinne physischer Bedarfsdeckung nichts zu tun haben müssen. Physische, psychische und soziale Wahrnehmungen und Befindlichkeiten stehen in wechselseitigen Abhängigkeiten zueinander und bedingen und beeinflussen Essverhalten und Ernährungshandeln. Allzu häufig werden jedoch psychische und soziokulturelle Einflüsse auf das Gesundheitsbzw. Ernährungsverhalten im Lernfeld Ernährung nur als „Barrieren“ wahrgenommen, die es zu überwinden gelte. In interkulturellen Debatten werden Unterschiede, wie sie z.B. in Nahrungstabus sichtbar werden, oft stellvertretend für die eigentliche Esskultur 36| BEITRÄGE AUS WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG behandelt und in vielfältigen Erklärungsversuchen gedeutet, rational, dogmatisch, funktional, hedonistisch oder populistisch argumentiert. An dieser Stelle können wir den ersten Dialog der Esskulturen eröffnen und uns über das, was nach außen sichtbar Esskulturen klassifiziert, austauschen: Nahrungsauswahl und Würzmittel, Techniken der Nahrungszubereitung und Tischgeräte, Mahlzeitenrhythmen und Tischordnungen … erzählen und zuhören, artikulieren und respektieren, nachfragen und verstehen: „Was tust du da, und wie kommst du dazu, das … so zu verstehen, wie du es tust?“ Die biografische Methode bietet sich an. Das Lernfeld Ernährung: Vielfalt statt Einfalt! Das über Bildung vermittelte Orientierungswissen erfolgt nach Baumert (in Klieme 2003: 67f.) durch Erschließung der Phänomene der Welt über vier mögliche Modi der Weltbegegnung: der kognitivinstrumentellen Modellierung der Welt, der ästhetisch-expressiven Begegnung und Gestaltung, der normativ-evaluativen Auseinandersetzung und ultimaten Fragestellungen. Jeder Modus erschließt die Welt auf andere Weise, jeder Modus ist für sich alleine aber unvollständig. Jeder Modus hat seine eigenen Wahrnehmungsmuster (Methoden) und die damit verbundenen Erkenntnisräume, aber eben auch Grenzen. (Vgl. Dressler 2006) „Aus naturwissenschaftlicher Perspektive sieht die Welt anders aus als aus ästhetischer oder religiöser Perspektive. Keine dieser Perspektiven hat einen prinzipiellen Geltungsvorrang, keine erschließt die Welt „besser“ als die andere, sondern immer nur „anders“. Relativ besser ist eine Welterschließungsperspektive nur jeweils in bestimmten Frage- oder Handlungskontexten.“ (Dressler 2006: 5) Ursula Buchner Menschen nähern sich ihrer eigenen Ernährung sinnlich wahrnehmend und emotional bewertend: sehen, riechen, schmecken, spüren,… wir empfinden Wohlbefinden und Freude oder Abscheu und Ekel. Die Ausstattung des Körpers mit Rezeptoren gestattet uns einen Zugang zur Nahrung über unsere Sinne. Anlässlich einer gemeinsamen Mahlzeit eröffnet sich die Möglichkeit eines täglich neuen Dialogs über das subjektive Erleben und Empfinden und in diesem Sinn kommt dem gemeinsamen Essen auch als Mittel zur Beziehungspflege in Familien mit Kindern eine bedeutsame Rolle zu. „Sind genügend Omega-3-Fettsäuren drinnen?“ Funktionale Überlegungen beginnen vom sinnlichen Vergnügen abzulenken. Aus der Zusammensetzung des menschlichen Körpers und Erforschung der Stoffwechselabläufe wird auf den Bedarf von zufuhrpflichtigen Inhaltsstoffen geschlossen. Ein mechanistisches Körperverständnis ist weit verbreitet: Gegen Muskelkrämpfe Magnesium, Schokolade als Stimmungsaufheller, Vitamin C bei Erkältungen ... Fragen nach dem Energie- und Nährstoffgehalt, nach dem Bedarf und der Bedarfsdeckung über die Kost werden diskutiert, Essen und Trinken sind ja grundsätzlich existentielle Lebenserfahrungen, wenngleich die darin tief verwurzelte Sorge ums Überleben in den Wohlstandsgesellschaften auch zu paradoxen Artefakten führt und der herbeigeredete Mangel der Ernährungswirtschaft zu satten Gewinnen verhilft. Die Kunst der Dialogführung im kognitiv-instrumentellen Paradigma in Zusammenhang mit Ernährungskommunikation besteht darin, interessensgebundene Manipulationsstrategien zu erkennen und die buchstäbliche Bevormundung der Ernährungsindustrie zu erkennen. „Muss/kann/darf/soll ich (etwas) essen/ nicht essen?“ Die normativ-evaluative Auseinandersetzung mit dem Phänomen „Ernährung des Menschen“ bezieht sich auf Werte und die daraus abgeleiteten Normen DIALOG DER ESSKULTUREN und konkreten Handlungsanweisungen, die unterschiedliche Verbindlichkeitsgrade haben. Normen klären die Beziehungen zwischen Mensch zu Gott (Religion), Mensch zu Mensch (Gesellschaft und Wirtschaft), Mensch zu Körper (Medizin) und Mensch zu Natur (Ökologie): Eine Kost wird ‚kosher‘ oder ‚halal‘ genannt, wenn sie den religiösen Dogmen entsprechend kultisch rein ist. Soziokulturelle Regelwerke regeln die Verteilung der Nahrung in den Dimensionen Zeit, Raum und soziale Gruppe: wer isst was, wann, wie viel, wo und mit wem? Sie können der Vergangenheit verpflichtet sein („gut ist, weil es bis jetzt immer schon so war“) oder in die Zukunft weisen (Food Trends). Der gesamte Produktionskreislauf von der Herstellung (z.B. Codex Alimentarius) über Verarbeitung (z.B. HACCP-Konzept) und Handel (z.B. Marktgesetze) bis zur Werbung (z.B. Health Claims VO) ist mit vielen Rechtsnormen unterlegt. Die ADI-Werte normieren Empfehlungen zur Nährstoffzufuhr, die EU-Bio-Verordnungen 834/2007 und 889/2008 sind für Herstellung von BioLebensmitteln verpflichtend. In pluralistischen Systemen resultieren da raus zwangsläufig Wertekonflikte. Wer „Recht hat“ und was „wahr ist“, lässt sich – auch wenn diese Simplifizierung gerne gemacht und gewünscht wird – inhaltlich nicht für alle Bereiche gemeinsam gültig definieren. Die Möglichkeit und Notwendigkeit, täglich aufs Neue Entscheidungen über die eigene Ernährungsweise fällen zu müssen, zwingt uns Wertehierarchien zu bilden um den Preis der Verantwortung für die Folgen des Ernährungshandelns. Ist der Gesundheitswert der Nahrung (Mensch-Körper) oder sind der Genusswert und die Beziehungspflege im gegebenen Kontext (Mensch-Mensch) vorrangig? Was tun, wenn ökonomische Zwänge ernährungsökologische Ideale (Mensch-Natur) torpedieren? Dialoge, die nach der DilemmaMethode geführt werden, bieten sich an. BEITRÄGE AUS WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG |37 DIALOG DER ESSKULTUREN Ursula Buchner „Essen wir, um zu leben, oder leben wir, um zu essen?“ Das Lernfeld Ernährung lässt sich auch über ultimate Fragen nach dem Sinn des Seins erschließen, die Fragen des „Woher? – Wohin? - Wozu?“ des menschlichen Daseins greifen Philosophie und Religion auf. Nach Dressler befähigt Bildung, Phänomene der Welt aus unterschiedlichen Perspektiven zu erschließen und zu erkennen, dass damit auch Grenzen (blinde Flecke) verbunden sind. Bildung ist nicht einheitswissenschaftliche Weltsicht, sondern Differenzfähigkeit: die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel und dem damit verbundenen Unterscheidungsvermögen der Weltwahrnehmung in beruflichen, gesellschaftlichen oder privaten Systemzusammenhängen. (Vgl. Dressler 2006: 7) „...[Allgemeinbildung bedeutet] die Fähigkeit, die Probleme eines verantwortlichen Weltumgangs ökonomisch, ethisch, pädagogisch, politisch, ästhetisch und religiös zu reflektieren und zu begreifen, dass zwischen diesen unterschiedlichen Deutungsmustern kein harmonisches Verhältnis herstellbar ist.“ (Dressler 2006: 8) Regelwerke zur Gestaltung eines „guten Lebens“ gehören seit der Antike zur Philosophie. Die Diätetik - die Lehre vom „rechten und guten Leben“ - ist eine Teildisziplin der Ethik. Regelwerke zu kennen ist gerade heute in einer Zeit des Wegfalls traditioneller Autoritäten eine Orientierungshilfe in der schier unübersichtlich gewordenen Vielfalt der Ansprüche an Ernährungsentscheidungen, an Begründungen für unser Handeln und Wählen in Bezug auf Lebensmittel und Lebensgestaltung. „Unter dem Begriff Ernährungserziehung werden alle Lernprozesse, die im Zuge der Ernährungssozialisation (der Übernahmen von Werten und Normen) im familiären, schulischen, beruflichen oder freizeitlichen Kontext ablaufen, subsummiert. Diese Lernprozesse können gezielt auf die Beeinflus- 38| BEITRÄGE AUS WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG sung des Ernährungsverhaltens gerichtet sein oder andere Lernprozesse begleiten (z.B. Gemeinschaftserziehung: Erziehung zu regelkonformem Verhalten auch bei Tisch)“. (Thematisches Netzwerk Ernährung 2009: 3) Bildungsbedarf wird evident, wenn es da rum geht, Orientierungen im Ernährungshandeln nicht nur zu kennen und anwenden zu können, sondern auch zu erkennen, ob die gewählte Perspektive der jeweiligen Situation angemessen ist. Ernährungsbildung erschließt im Unterschied zu Ernährungserziehung das Lernfeld Ernährung mehrperspektivisch, umfasst alle Dimensionen des Lernfeldes und Modi der Weltbegegnung, nicht nur das normative Paradigma: „Mit dem Begriff ‘Ernährungsbildung‘ wird der Anspruch auf eine ganzheitliche Persönlichkeitsbildung erhoben. Ausgehend von einem Menschenbild, das auf der Fähigkeit zur Reflexion des Handelns aufbaut, soll die Fähigkeit und Bereitschaft, sich für eine bedarfsgerechte und nachhaltige Ernährung entscheiden zu können, gefördert werden. Bildung stellt den Menschen, der isst und trinkt, in den Mittelpunkt, nicht die Nahrung als solche. Sie nimmt für sich in Anspruch, dem Menschen jene Sach-, Handlungs- und Entscheidungskompetenzen zu vermitteln, damit dieser selbstverantwortlich das Problem Ernährung in den einzelnen Lebensbereichen und Lebensphasen zufrieden stellend lösen kann. Das Problem Ernährung wird dabei umfassend im gesamtgesellschaftlichen und welternährungswirtschaftlichen Kontext gesehen“. (Thematisches Netzwerk Ernährung 2008: 5) Der Zugang über die vier Modi der Weltbegegnung soll zum Verständnis der erfrischenden Meinungsvielfalt beitragen, die es im Lernfeld Ernährung gibt. Wenn wir uns Esskulturen über ästhetisch-expressive, kognitiv-instrumentelle, normativ-evaluative als auch ultimate Fragestellungen nähern, eröffnet sich ein weites Feld für intra-, inter- und transkultu- Ursula Buchner relle Dialoge. Dialoge der Esskulturen können innerhalb eines Modus geführt werden oder das Spannungsfeld zwischen unterschiedlichen normativen Kontexten beleuchten. Ein so verstandener Dialog der Esskulturen leistet einen Beitrag zur Allgemeinbildung, fördert Reflexivität (Selbst-Bewusstsein) und Differenzfähigkeit (Mündigkeit) im Umgang mit Vielfalt. Thesen zum Umgang mit Vielfalt im Lernfeld Ernährung Durch Bildungsarbeit im Lernbereich Ernährung sollen „Schülerinnen und Schüler befähigt werden, sich für eine der Gesundheit dienliche Ernährungsweise entscheiden zu können“. Im Beitrag des Faches Ernährung und Haushalt zu den Aufgaben der Schule heißt es weiter: „Verantwortungsvolles Verbraucherverhalten durch nachhaltige Nutzung von Ressourcen; Kultur des Zusammenlebens und partnerschaftliche Arbeitsteilung in Fragen der Alltagsgestaltung; Orientierungen für die Entwicklung sozial- und gesundheitsverträglicher Lebensstilkonzepte“. (BMUKK Fachlehrplan Ernährung und Haushalt 2000) These 1: Dialoge zur Esskultur sind fair zu führen Der Dialog der Esskulturen beginnt als intraschulischer Dialog. Er stellt sicher, dass die Bildungsanliegen im Lernfeld Ernährung nicht durch die Art und Weise des Verpflegungsangebots in der Schule konterkariert werden. Ernährungssozialisation findet auch in der Schule durch das Nahrungsangebot am Schulbüffet und die Gestaltung von Essenssituationen in der Schule statt. Es ist unfair, Unmündige für ihre „falsche“ Lebensmittelauswahl zu verantworten und dies auch noch als Legitimation für ein nicht-nachhaltiges Nahrungsangebot innerhalb der Schule zu verwenden! DIALOG DER ESSKULTUREN Die Verantwortung für eine bedarfsgerechte, gesundheitsförderliche Ernährung des Kindes und nachhaltige Angebotsgestaltung liegt bei den Erwachsenen. Ein Kind muss sich verlassen können, dass die Nahrung, die es angeboten bekommt, zu seinem Wohl beiträgt. Wie in anderen Lebensbereichen, in denen Erwachsene für Kinder Entscheidungen fällen, muss hier der Vertrauensgrundsatz herrschen. Erwachsenen ist zuzumuten, dass sie über die zugrundeliegenden Entscheidungskriterien Bescheid wissen und auch Konfliktentscheidungen (z.B. Preis versus Gesundheitswert) dem Kindeswohl entsprechend lösen. Kindgerechte Ernährungsentscheidungen eröffnen dem Kind die Freiheit der Wahl zwischen zwei grundsätzlich gesundheitsfördernden Produkten. (Vgl. Thematisches Netzwerk Ernährung 2009: 4) These 2: Dialoge legen Orientierungen offen Das im Paradigma der Vielfalt enthaltene Prinzip für Diversity Management lautet: Die Suche nach Gemeinsamkeiten steht dabei im Vordergrund. Wie „gesunde“ Ernährung in den Übungen zur Nahrungszubereitung im Unterricht veranschaulicht wird, ist im Lehrplan nicht weiter geregelt. Die Lehrkraft wird bestimmte Lebensmittel auswählen, um ein sachlich relevantes Zubereitungskriterium zu demonstrieren und zu üben, wie z.B. das Dampfgaren. Der Aushandlungsprozess „Was kochen wir heute?“ innerhalb der Lerngruppe kann aber auch als beispielhafter Lernanlass für soziales Lernen dienen. Das Aushandeln unter Berücksichtigung von sach- und situationsgerechten Kritierien erfordert Zeit, die mit der notwendigen Übungszeit zur Nahrungszubereitung konkurriert, sich aber als wertvolle Lernzeit für sozialintegratives Lernen im Unterricht in Ernährung und Haushalt legitimiert. Wo Menschen miteinander leben und arbeiten, gibt es unterschiedliche GestaltungsBEITRÄGE AUS WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG |39 DIALOG DER ESSKULTUREN Ursula Buchner wünsche, wobei die zugrundeliegenden normativen Modelle dazu selten bewusst sind, da die eigenen kulturellen Handlungsmuster als „normal“ und „natürlich“ angesehen werden. Es ist nicht nur in der Ernährungspädagogik eine Herausforderung, mit Blick durch die eigene kulturelle Brille interkulturelles Verständnis zu fördern. „Um den unterschiedlichen Wert- und Normvorstellungen zur Lebensgestaltung gerecht zu werden, sind unterschiedliche Lösungstrategien zuzulassen.“ (BMUKK 2000) These 3: Verantwortlichkeitskonzepte erfordern die Auseinandersetzung mit Dilemmata Dialoge über Esskultur und Ernährung in der Schule greifen einen sehr persönlichen und familiär (vor)gestalteten Lebensbereich des Menschen auf. SchülerInnen stehen im Spannungsfeld zwischen der gelebten Esskultur in der Familie und den in der Schule thematisierten Entscheidungsgrundlagen wie Gesundheit und Nachhaltigkeit. Je konkreter die Bildungsarbeit in der Schule sich mit Essen beschäftigt und damit den soziokulturellen Kontext, religiöse Überzeugungen, bewährte familiäre Gewohnheiten und populäre Meinungen über Tatsachen berührt, desto offensichtlicher werden Divergenzen. Man könnte fast geneigt sein zu behaupten, dass ein abstrakt gehaltener, naturwissenschaftlich-technisch orientierter Ernährungsunterricht eine Form der Konfliktvermeidung ist, da er Distanz und Hierarchie gegenüber dem Elternhaus aufrechterhält. Kaum ein Konsumfeld ist so ressourcenaufwändig und trägt so offensichtlich zum Ungleichgewicht von Wohlstand und Hunger bei wie die Ernährung des Menschen. Jeder Ernährungsentscheidung wohnen Ziel- und Interessenskonflikte inne, die schwer zu bewältigen sind, wollte man sich täglich neu einer bewussten Entscheidungsfindung widmen. Es bilden sich Routinen aus, die kogni- 40| BEITRÄGE AUS WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG tive Dissonanzen ausblenden und vor Überforderung schützen. Es braucht Dialoge, die sich nicht in moralisierender Weise einer Katastrophenpädagogik bedienen, sondern die Urteilsfähigkeit und die Bildung von Verantwortlichkeitskonzepten unter dem Paradigma der Nachhaltigkeit unterstützen. These 4: Wissen über Kulturtechniken ist (noch) nicht interkulturelle Kompetenz Das kulturelle Erforschen von Nahrungsmittelbeschaffung, -erzeugung, -zubereitung und -konsum in den unterschiedlichen Regionen der Welt bietet auf allen Bildungsstufen - vom Kindergarten bis zur Universität - die Möglichkeit, Gesundheitswissen und Bildung für nachhaltige Entwicklung zu vermitteln. Besonders im Kulturvergleich (z.B. Brotkulturen, Gartechniken) wird Wissen über Kulturtechniken sichtbarer, lassen sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede (z.B. Würzmittel) erkennen. Kulinarische Weltreisen mit der damit verbundenen Küchenpraxis werden von SchülerInnen in der Regel „geliebt“, entsprechen diese doch dem „natürlichsten“ Zugang zu Ernährung über die sinnästhetische Begegnung und expressive Gestaltung. Die Gefahr, dass mit der folkloristischen Zubereitung von regionalen „Länderküchen“ die Andersartigkeit des Anderen als quasi natürlich verabsolutiert wird, ist gegeben. Ob der Bildungsanspruch kulturelle Kompetenz durch einen solcherart verstandenen Aktionismus erfüllt wird, ist fraglich. These 5: Die Gefahr des Kulturalismus ist gegeben Das Phänomen „Kultur“ wird für vielerlei soziale Probleme (politische, ökonomische, soziale) und die Festschreibung von Unterschieden in kulturellen Differenzen (vgl. Gürses 2010) verwendet. Damit wird die Andersartigkeit des Anderen als natürliche Erscheinung verabsolutiert und bestenfalls Ursula Buchner im politisch korrekten Diskurs als „Diversität“ erkannt, im schlimmeren Fall als Kulturalismus verstanden. (Vgl. Leitner 2011: 99) „Versuche, Kultur zum Gegenstand von Lern-, Kompetenzerwerbs und Bildungsmaßnahmen zu machen, führen demnach zur weiteren Kulturalisierung, zur Reproduktion von kulturellen Klischees, zur Verschleierung von Machtbeziehungen sowie von gesellschaftlichen Strukturen der Ungleichheit.“ (Gürses 2010: 285). Eine Überforderung der Heranwachsenden, deren lokale Umgebung von nationalen Perspektiven geprägt wird, mag nicht verwundern. Jugendliche auf dem Weg zur Identitätsfindung sind, auch wenn sie Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund sind, nicht vorrangig Kulturträger, sondern pubertierende Jugendliche auf der Suche nach einem Selbstkonzept, die möglicherweise als eine Strategie zur Abgrenzung und Identitätsfindung kulturelle Stereotype ebenso wie ihre Lehrkräfte benutzen. Das Konzept „Interkulturelle Bildung“ und die Theorien zur „interkulturellen Kompetenz“ sind kritisch zu hinterfragen, weil sie womöglich manifestieren, was sie zu lockern vorhatten. „Kulturalität soll auf eine jeweils besondere Konstellation von Geschichte, Machtverhältnissen, Wissen und Handlungsmöglichkeiten hindeuten. Diese Konstellation ist nicht überall und zu jeder Zeit gleich. Ein solches Konzept will die Aufmerksamkeit gegenüber dieser Differenz (Kulturalität) zum Prinzip erheben.“ (Gürses 2009: 294) These 6: Mädchen essen anders, Burschen auch Ein weiterer Ansatz für die Wahrnehmung und Erklärung von Heterogenität lenkt die Aufmerksamkeit auf die gesellschaftliche Konstruktion von Geschlechterrollen. Eine im Sinne des Gender Mainstreaming geforderte geschlechtersensible Pädagogik ist DIALOG DER ESSKULTUREN im Unterricht in Ernährung und Haushalt in mehrfacher Weise bedeutsam. Zum einen haben Mädchen und Jungen mit Beginn des Wachstumsschubs in der Pubertät tatsächlich unterschiedliche Bedarfe an Energie und Nährstoffen. Zum anderen stellen Männer und Frauen – und damit auch Mädchen und Burschen - jeweils unterschiedliche Erwartungen an Ernährung und damit verbundene Körpermodellierung. Das spiegelt sich auch in den Ernährungsberichten und Daten zum Lebensmittelverzehr wider. Drittens kommen im Ernährungsunterricht noch mögliche Schwierigkeiten mit der eigenen Rollenfindung im Haushalt zum Tragen, die sich auch in der Verweigerung der Mitarbeit in der Schulküche oder dem „Vergessen“ der Arbeitsschürze - als Attribut einer weiblichen Rolle - äußern können. Dialoge der Esskulturen unterstützen die Meinungsbildung zu Themen, die geschlechtersensibel bearbeitet werden müssen, wie z.B. Ernährung und Körpermodellierung oder Fragen der Zuständigkeit von Männern und Frauen für Ernährung und damit verbundener Hausarbeit im Privathaushalt. Wichtig erscheint, dass diese Themen nicht nur in geschlechtshomogenen Gruppen bearbeitet werden, sondern eben auch gemischtgeschlechtlich thematisiert werden. So können Geschlechterstereotype in der Wahrnehmung (z.B. Werbung, Models) auch hinterfragt werden. Wird die soziale Arbeit, die in der familiären Ernährungsfürsorge steckt, sichtbar gemacht, kann die damit verbundene Rolle auch Wertschätzung erfahren. These 7: Grenzen überschreiten - Kompetenzen abgeben Im Idealfall schafft Ernährung und Essen in der Schule Platz für Sinnlichkeit und Sinnes erfahrung, Genuss und Wohlbefinden. Kinder und Jugendliche erleben jedoch auch Essensmarotten, „geschmackliche“ Mutproben und andere extrem anmutende Experimente wie z.B. Wettessen und Saufgelage. BEITRÄGE AUS WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG |41 DIALOG DER ESSKULTUREN Ursula Buchner Wie in jedem Verhaltensbereich des Menschen finden auch in Bezug auf Essen Übertreibungen statt und die Grenzen zu Bulimie und Anorexie, Orthorexia Nervosa oder Binge Eating Disorder können überschritten werden. Dialoge der Esskulturen führen bedeutet hier: über Wahrnehmungen reden können, ohne gleich jede extrem anmutende Variante der Esskultur zu pathologisieren und zu pädagogisieren. Die Grenzen zwischen ernährungspädagogischen und ernährungstherapeutischen Interventionen sind zwar fließend, die Grenzen der eigenen Kompetenz im Lehrberuf sollten jedoch klar sein. Hauptsache, es schmeckt! Esskultur lernen ist ein unterschätzter Bildungsauftrag. Neben der Sicherung der demokratischen Grund- und Freiheitsrechte bleibt die nachhaltige Sicherung der Lebensgrundlagen eine permanente Lebensfrage der Menschheit. Dennoch ist die grundlegendste kulturelle Errungenschaft des Menschen – Ernährungssouveränität – kein selbstverständliches Bildungsgut. In einer „Grundstruktur der Allgemeinbildung“ hat Jürgen Baumert (zitiert in: Klieme 2003: 68) die vier Modi der Weltbegegnung den Unterrichtsgegenständen des Fächerkanons der allgemein bildenden Schulen zugeordnet. Ein Unterrichtsfach Ernährung kommt in dieser Grundstruktur der Allgemeinbildung nicht vor – das Fehlen lässt sich aus der Geschichte des Schulwesens zwar erklären – angesichts der ungelösten Schlüsselprobleme der Welt (vgl. Klafki 1994) in Bezug auf Zugang zu und gerechte Verteilung von Ressourcen ist die Fortschreibung des Mangels an Ernährungsbildung heutzutage aber unverständlich. 42| BEITRÄGE AUS WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG Literatur Barlösius, E. (1999): Soziologie des Essens. Eine sozial- und kulturwissenschaftliche Einführung in die Ernährungsforschung. Weinheim und München: Juventa. BMUKK. (2000): Lehrplan für Hauptschule, Fachlehrplan Ernährung und Haushalt. Wien. Bourdieu, P. (1982): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Buchner, U. (2002): Ernährung in Erziehung und Unterricht. In M. Schuh, J. Seiter, & M. Sertl, Mahlzeit? Es ist angerichtet. Schulheft 107. Wien: Studienverlag. 120-142. Dressler, B.: Modi der Weltbegegnung als Gegenstand fachdidaktischer Analysen. Vortrag bei der 40. Tagung für Didaktik der Mathematik. Osnabrück. Abgerufen am 15. 11 2010 von http://www.uni-marburg.de/zfl/ueber_uns/artikel/rede_dressler_modi Ellrott, T. (2009): Entwicklung des Essverhaltens im Kindesalter. In VFEDaktuell - Nr. 109. 3-10. Gürses, H. (2010): Kultur lernen: Auf der Suche nach dem eigenen Ebenbild? Philosophische und politikheoretische Überlegungen zur Kulturalität. In: SWS Rundschau, 50. 3. Klafki, W. (1994): Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Zeitgemäße Allgemeinbildung und kritisch-konstruktive Didaktik. Weinheim - Basel: Beltz. Klieme, E. (2003): Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards. Eine Expertise. Abgerufen am 18. Oktober 2003 von http://www.dipf.de/aktuelles/ expertise_bildungsstandards.pdf Klotter, C. (2007): Einführung Ernährungspsychologie. München: Reinhardt. Koerber, K. v., Männle, T., & Leitzmann, C. (2004): Vollwert-Ernährung. Konzeption einer zeitgemäßen und nachhaltigen Ernährung. Stuttgart: Haug. Leitner, G. (erscheint April 2011): Ernährungskultur - Ein Blick über den Tellerrand. In: U. Buchner, G. Kernbichler, & G. Leitner, Methodische Leckerbissen. Beiträge zur Didaktik der Ernährungsbildung. Schulheft 141. Innsbruck: Studienverlag. 92-111. Methfessel, B. (2005): Fachwissenschaftliche Konzeption: Soziokulturelle Grundlagen der Ernährungsbildung. In: Paderborner Schriften zur Ernährungs- und Verbraucherbildung 7. Pudel, V., & Westenhöfer, J. (1991): Ernährungspsychologie. Göttingen: Hogrefe. REVIS. (2010): Glossar. Abgerufen am 15. Oktober 2010 von Reform der Ernährungs- und Verbraucherbildung in Schulen: http://www.evb-online.de Schlieper, C. (2004): Grundfragen der Ernährung. Hamburg: Handwerk und Technik. Setzwein, M. (2003): Was ist Ernährungskultur? Ein Diskussionsbeitrag. In: Internationaler Arbeitskreis für die Kulturforschung des Essens (IAKE) Mitteilungen. Heft 11. 64f. Thematisches Netzwerk Ernährung. (2009): Ernährungsbildung in Österreich. Stand der Entwicklungen der Ausbildungssituation. Allgemeinbildung - Berufliche Bildung. Abgerufen am 15. November 2010 von http:// imst.uni-klu.ac.at/programme_prinzipien/rn_tn/thema/ernaehrung/berichte/TNE_EVA_Ernaehrungsbildung_oesterreich.pdf. Thematisches Netzwerk Ernährung. (2008): Referenzrahmen für die Ernährungs- und Verbraucherbildung in Österreich. Abgerufen am 15. November 2010 von http://imst.uni-klu.ac.at/programme_prinzipien/rn_tn/thema/ernaehrung/berichte/Dokumentation_EVA2008.pdf. Hannes Tropper, Josef Schlömicher-Thier DIE BERUFSSTIMME AM STIMMARBEITSPLATZ SCHULE Die Berufsstimme am Stimmarbeitsplatz Schule Das Stimmbetreuungsprojekt der Pädagogischen Hochschule Salzburg Hannes Tropper, Josef Schlömicher-Thier Die Expertengruppe LehrerInnenbildung Neu des Unterrichsministeriums richtet in ihren Ausgangsüberlegungen den Fokus auf die PädagogInnen-Persönlichkeit, ihre Kompetenzen, ihre Einstellungen und ihre Fähigkeiten. Betrachtet man das Anforderungsprofil für LehrerInnen, weisen wissenschaftliche Arbeiten das Berufsprofil als überaus kommunikations-, stimmintensiv und stimmbelastend aus. Daher stellt die stimmliche Konstitution und die Fähigkeit, mit seiner Stimme richtig umzugehen zweifellos eine Grundkompetenz für dieses Berufsfeld dar. Die Anzahl an Berufen mit hohen stimmlichen Anforderungen nimmt stetig zu. Heute sind 80 bis 90 Prozent aller ArbeitnehmerInnen beruflich auf ihre Stimme angewiesen. Eine Begleiterscheinung dieser Entwicklung ist die steigende Zahl von Stimm- und Sprechstörungen. Besonders davon betroffen sind LehrerInnen. (Vgl. Medical Tribune 2008) von etwa 80dB, die sich in bestimmten Unterrichtssituationen, wie z.B. dem Sportunterricht bis auf 115dB erhöhen kann. Abb. 2: Der Alltag der Lehrerstimme (Hammann 2004:163) Abb. 1: Berufliche Stimmbelastung (Gaipl 2010: 61) PädagogInnen sind am Stimmarbeitsplatz Schule einer Sprech-Dauerbelastung ausgesetzt. Kaum ein anderer Beruf zeigt eine zeitlich vergleichbare Sprechdauer von vier bis acht und auch mehr Stunden und das durchgehend. Die Lehrperson hat etwa pro Unterrichtsstunde zwei- bis dreihundert wechselnde Kommunikationssituationen bzw. PartnerInnen, d.h., sie wechselt zwei- bis dreihundert Mal die KommunikationspartnerInnen. Wenn man sich einen leeren Klassenraum vorstellt, in dem sich noch kein einziger Mensch aufhält, herrscht dort eine Lärmbelastung von etwa 35 bis 54 dB. Befinden sich in diesem Klassenraum SchülerInnen, kommt man auf eine Sprechlärm-Belastung Trockene, staubige Luft infolge ungenügender Raumklimatisierung erhöht zudem die stimmliche Belastung. Moderne Pä dagogik fordert zusätzliche Stimmaktivitäten außerhalb des regulären Unterrichts: bei Exkursionen, Sport- und Kulturwochen, Schulschikursen, Sportfesten, im Pausenhof u.a. PägagogInnen suchen aus allen Berufsgruppen mit Abstand am häufigsten Stimmfachärzte wegen ihrer Stimmprobleme auf. Sie sorgen sich mehr als alle anderen, ob sie ihre Berufskarriere durchhalten können, und erleben ihre Stimmprobleme stärker als Beeinträchtigung ihrer Tätigkeit. (Vgl. Amon 2009,9) Etwa die Häfte hält ihr Stimmproblem für eine Quelle von Frustra tion und Stress und gesteht auch eine BEITRÄGE AUS WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG |43 DIE BERUFSSTIMME AM STIMMARBEITSPLATZ SCHULE Hannes Tropper, Josef effektive Unterrichtsverschlechterung ein, die damit einhergeht. Abb.3: Gesundheitliche Beschwerden bei LehrerInnen (LehrerIn 2000: 167) Jede neunte Lehrerperson hat ständig Probleme mit dem Hals oder der Stimme, weitere 61% geben an, zeitweise unter diesen Beschwerden zu leiden. Das bedeutet, fast drei Viertel der LehrerInnen verspüren in dieser Hinsicht Beschwerden. Das am weitesten verbreitete Gesundheitsproblem der LehrerInnen geht nach Meinung der Befragten zum größten Teil auf den Lehrberuf zurück. (Vgl. LehrerIn 2000: 167/168) Die in Österreich bislang unbeachtete volkswirtschaftliche Dimension von Stimmproblemen hat inzwischen international beträchtliche Ausmaße erreicht. Man spricht von einem teuren Massenproblem. In Großbritannien sind rund fünf Millionen ArbeitnehmerInnen von regelmäßigem Stimmverlust betroffen. In den USA betragen die Folgekosten von Stimm- und Sprechstörungen bereits 2,5% bis 3% des BIP. (Vgl. Medical Tribune 2008) Auch Österreich ist davon betroffen. Bereits 1997 beschäftigte sich das Austrian Voice Institute unter der Leitung des Salzburger Stimmarztes Josef Schlömicher-Thier mit diesem Problem. Eine Studie zeigte schon damals, dass LehrerInnen das Fortbildungsangebot einer Stimmtrainingswoche in den Sommerferien einerseits liebend gerne annahmen und andererseits eine stimmliche Problematik aufwiesen, die denjenigen LehrerInnen entsprach, die bereits mit entspre- 44| BEITRÄGE AUS WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG Schlömicher-Thier chenden massiven Diagnosen in der Praxis eines HNO-Arztes bzw. Phoniaters in Behandlung waren. (Vgl. Schlömicher u.a. AVI, Studie 1997/1998) Es wurden daraufhin in der Steiermark in Zusammenarbeit mit dem Landesschulrat und dem Pädagogischen Institut Fortbildungsseminare eingerichtet und in Zusammenarbeit mit der Beamtenversicherung und der Kur- und ThermenAG ein Stimmkurmodell für Bad Gleichenberg entwickelt und erfolgreich erprobt. Bis zum Jahr 2000 nahmen rund 300 steirische PädagogInnen an Veranstaltungen dieser Programme teil, die danach wieder abgesetzt wurden. Die neueste österreichische wissenschaftliche Arbeit zu dieser Thematik zeigt, dass die Problematik unverändert vorzufinden ist. Von insgesamt 484 AHS-LehrerInnen in Kärnten waren 245 (51%) Personen aufgrund von Stimmstörungen auch bereits im Krankenstand, davon drei Viertel Frauen (183, 75%) und ein Viertel Männer (62, 25%), wie die folgende Statistik zeigt. Abb. 4: Leistungseinschränkung bzw. Krankenstand aufgrund von Stimmstörungen (Kutej 2011,91) Kosten durch allgemeine Arztbehandlungen bzw. Medikamente, Kosten durch Behandlungen in Rehabilitationskliniken (16-20% aller PatientInnen sind LehrerInnen), Kosten durch Unterrichtsausfall / Supplierungen und Kosten durch Frühpensionierungen entstehen, wurden jedoch nicht hochgerechnet. (vgl. Hammann 2004: 167) Die gestörte Lehrerstimme hat Auswirkungen auf die SchülerInnen. Diese imitieren nämlich auch unphysiologische Verhaltensweisen. Schüler nehmen Inhalte signifikant schlechter auf, die von Hannes Tropper, Josef Schlömicher-Thier einer stimmgestörten Person vermittelt werden. (Vgl. Hammann 2004: 164) Die Untersuchung von Schahnaz macht deutlich, dass ca. 45% stimmgestörte LehrerstudentInnen unter den ProbandInnen zu finden waren. Damit gleichen die Zahlen älteren Daten. Pathologische Stimmbefunde sollten früh diagnostiziert und behandelt werden, möglichst bevor es zur Aufnahme eines sprechintensiven Berufes kommt. Prophylaktische Maßnahmen zur Stimmbeurteilung sind deshalb von Seiten der PhoniaterInnen unbedingt zu fordern. Eine Stimmüberprüfung vor Berufsbeginn in einem Sprechberuf wäre eine denkbare Umsetzung dieser Forderung, wobei neben den üblichen subjektiven Untersuchungen auch objektive Tests in die Tauglichkeitsuntersuchung einbezogen werden sollten. (Vgl. Schahnaz 2004: 56) Schneider-Stickler betont diesbezüglich: „Man kann konstitutionell schwache Stimmen trainieren. Unser Ziel muss sein, unter den zukünftigen Stimmberuflern diejenigen herauszufinden, die eine konstitutionelle Stimmschwäche haben.“ (Schneider-Stickler 2008: 16) Im Jahr 2002 begann die Pädagogische Hochschule Salzburg auf Initiative des damaligen Vizerektors Gottfried Niedermüller im Bewusstsein der Verantwortung der Ausbildungsinstitution, sich der Problematik ernsthaft anzunehmen und installierte gemeinsam mit Josef Schlömicher-Thier das Stimmenscanning und den Freigegenstand „Stimmtraining“. Neben der stimm- und arbeitsmedizinischen Betreuung durch den Arzt wurde die stimm- und sprechpädagogische Betreuung des Projektes einem Stimmpädagogen übertragen, der selbst aus der Berufsgruppe kommt und daher über die dafür wichtige Einsicht verfügt, sich in die Probleme der LehrerInnen einfühlen kann und die Faktoren der Stimmbelastung im Unterricht aus eigener Erfahrung kennt. Im Stimmenscanning werden alle Studierenden des 1. Semsters erfasst. Der Ablauf wurde im Laufe der Jahre so optimiert, dass pro Probanden ein Zeitrahmen von 20 Minuten DIE BERUFSSTIMME AM STIMMARBEITSPLATZ SCHULE Abb. 5: Stimmenscanning / PH-Salzburg / Testanordnung / technische Einrichtung ausreichend ist. Grundlage für die wissenschaftliche Gestaltung des Testablaufes sind das Stimmdiagnostik-Protokoll der European Laryngological Society (ELS) und der Voice Handycap Index (VHI/SSI) nach Nawka in der deutschen Fassung. Das Stimmenscanning, bestehend aus Perzeption, akustischen und aerodynamischen Messungen und subjektiver Selbstevaluation, wird durch zwei Personen, den Stimmpädagogen und den Stimmarzt oder seine Assistentin durchgeführt. Das einzig relevante Messinstrument in der Perzeption ist das geschulte Ohr des Untersuchers, des Stimmpädagogen und des Stimmarztes. EDV-unterstützt wird das Stimmenscanning durch das Ling Waves digital System for Speech and Voice / Stimmfeld VDC 2007, das die PH-Salzburg 2010 dafür angekauft hat. Die Ergebnisse des Tests werden auf einem eigens dafür entwickelten Stimmstatusblatt eingetragen. Perzeptiv erfolgt die Funktionsanalyse der Sprechstimme (Stimmeinsatz, Stimmansatz, Resonanz, Tragfähigkeit, Prosodie, Artikulation, Sprechtempo, Nasalität) während des Lesens des im deutschsprachigen Raum eingeführten Testtextes: „Der Nordwind und die Sonne“ in Verbindung mit einer Tonaufnahme, gespeichert in Ling Waves und dem Probanden als Feedback vorgespielt. Im Rahmen der akustischen Messung werden die Ruftonlautstärke (mind.: 91dB w, 96dB m) und der Tonumfang (mind.: 24 Halbtöne) gemessen sowie die Indifferenzlage mit dem Messprogramm und ohrenakustisch überprüft. Die BEITRÄGE AUS WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG |45 DIE BERUFSSTIMME AM STIMMARBEITSPLATZ SCHULE Hannes Tropper, Josef Stimmqualität wird nach dem Dysphonia Severity Index (DSI Referenzwert: ≥ 4,4) in Verbindung mit der perzeptiven ohrenakustischen Beurteilung nach der RBH-Skala nach Seidner-Wendler beurteilt. Aerodynamisch wird die Tonhaltedauer in Sekunden gemessen und in Ling Waves gespeichert (m = ≥ 20 sec., w = ≥ 15 sec). Die subjektive Selbstevaluation erfolgt mit dem VHI-Fragebogen durch den Probanden selbst. Am Ende des Testablaufes bekommen die Probanden ein mündliches und schriftliches Feedback in Form des doppelseitigen Feedback-Blattes der PH-Salzburg, das einerseits den Studierenden persönlich mitgegeben und andererseits im Studienakt zur Dokumentation abgelegt wird. Die Studierenden werden vier Gruppen/Klassen zugeteilt, je nachdem, Abb. 6a und 6b: Klasse I - Stimmfeld 46| BEITRÄGE AUS WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG Schlömicher-Thier wie sich ihre Stimmbeschaffenheit bzw. ihre Basiswerte konstituierten. Gruppe/Klasse I: In die erste Gruppe werden Studierende aufgenommen, die außer ordentlich gute Basiswerte, sowohl in der stimmphysiologischen als auch in der stimmpädagogischen Beurteilung bei der gesamten Stimmuntersuchung erzielten. Gruppe/Klasse II: In der zweiten Gruppe werden diejenigen angesiedelt, die keine pathologisch auffälligen Werte zeigten und gute Basiswerte aufwiesen. Gruppe/Klasse III: Der dritten Gruppe werden Personen zugeteilt, die einen Sprechstimm- und/oder Sing-Förderbedarf erkennen lassen. Diese Personen weisen explizit keine pathologisch auffälligen Werte auf, je- Abb. 7a und 7b: Klasse II - Stimmfeld Hannes Tropper, Josef Schlömicher-Thier doch zeigen sie einen physiologisch auffälligen Stimm- und Sprechbefund. Der Besuch des Freigegenstandes Stimmtraining wird dringend empfohlen. Gruppe/Klasse IV: Die Personen, die der vierten Gruppe zugeteilt werden, erzielen schlechte Basiswerte. Es wird ihnen nahegelegt, sich einer stimmärztlichen Untersuchung zu unterziehen. Auch wird ein Stimmtraining dringend empfohlen. Personen der Gruppe/Klasse IV wiesen nach einer phoniatrischen Untersuchung folgende Diagnosen auf: Stimmlippenödem, Stimmlippenpolyp, Allergie, Zyste, beginnende Knötchen, Refluxlaryngitis, Hyperfunktion, Hypofunktion, Asthma, psychogene Stimmstörung, Pseudozyste, Bulimia, Hypernasylität, Pansinusitis. Abb. 8a und 8b: Klasse III - Stimmfeld DIE BERUFSSTIMME AM STIMMARBEITSPLATZ SCHULE Eine von A. Pichler von 2002 bis 2005 durchgeführte Untersuchung an 644 Studierenden, davon 520 einer Gruppe zugeordnet (Gruppe I - 2,3% / 12 Pers., Gruppe II - 35,6% / 185 Pers., Gruppe III – 49,9% / 244 Personen, Gruppe IV – 14% / 73 Pers., und damals noch Gruppe V (deutliche, pathologische Befunde): 1,2 % / 6 Personen) führte dazu, dass das Rektorat der PH-Salzburg dem Stimmenscanning und Stimmtraining mehr Aufmerksamkeit und die Zuteilung von Ressourcen schenkte. Die Situation in Bezug auf die Stimmkonstitution der Studierenden am Beginn des Studiums zeigte sich von 2002 bis dato beinahe unverändert. Rund die Hälfte der Studierenden zeigen einen deutlichen Betreuungsbedarf. Abb. 9a und 9b: Klasse IV – Stimmfeld BEITRÄGE AUS WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG |47 DIE BERUFSSTIMME AM STIMMARBEITSPLATZ SCHULE Hannes Tropper, Josef Schlömicher-Thier Abb. 10: Ergebnisse im Vergleich 2002-2005, 2009/10 und 2010/11 Für die Studierenden der Feedback Klasse III und Klasse IV wurden im Sommersmester 2011 erstmals 8 Unterrichtseinheiten für ein Stimmtraining in einer ersten Interventionsphase bereitgestellt. Resümee “Ich glaube fest daran, dass man eine Stimme durch kontinuierliche Ausbildung und Pflege vor den ganzen Stimmproblemen schützen kann.“, meint Berit SchneiderStickler (2008: 16) Das Stimmenscanning ist als ein wissenschaftliches Testverfahren geeignet, um die stimmliche Konstitution der Studierenden zu beurteilen und stellt ein Instrument der gesundheitlichen Vorsorge dar, nämlich „kranke“ und konstitutionell schwache Stimmen frühzeitig zu entdecken. Der Begriff Screening „als ein[en] Prozess zur Erkennung einer bestimmten Krankheit bei anscheinend gesunden Menschen mit Hilfe von Reihenuntersuchungen“ (Kutej 2011: 127) böte sich dafür auch an. Für die Studierenden an den Pädagogischen Hochschulen und Universitäten, die sich für den Schuldienst entschieden haben, ist eine derartige Stimmeignungsprüfung leider noch nicht flächendeckend in Ös- 48| BEITRÄGE AUS WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG terreich eingeführt. Gerade für die Berufsgruppe der LehrerInnen ist diese Eignungsprüfung zu Beginn des Studiums dringend geboten, nicht nur für den persönlichen und pädagogischen Erfolg der Studierenden, sondern auch aus arbeitsmedizinischen und rententechnischen Gründen, denn ein zu frühes Ausscheiden aus dem Lehrberuf wegen berufsbedingter Stimmstörung und damit häufig einhergehendem Burnout mit erforderlicher Berufsunfähigkeitsrente oder Umschulung bringt ein hohes Maß an Kosten, Zeitaufwand und Stress für ArbeitnehmerInnen und ArbeitgeberInnen. Die Stimmkonstitution und die Stimm- bzw. Sprechkompetenz mancher Studierenden bei Eintritt in das Studium ist kritisch. Es gibt Überlegungen, ob mangelnde Stimmkonstitution, Stimm- und Sprechkompetenz wie in vergleichbaren Studiengängen in den stimmintensiven Fächern der Kunstuniversitäten nicht ein Drop Out darstellen könnte. Das aktuelle Curriculum in der LehrerInnenbildung sieht noch keine kontinuierliche Stimm- und Sprechausbildung in Vorbereitung auf den stimmintensiven Beruf vor. Das Bewusstsein für die Thematik ist jedoch nur zu einem äußerst kleinen Teil vorhanden, denn die Stimme findet in der üblichen Erziehung und Schulbildung der Menschen Hannes Tropper, Josef Schlömicher-Thier derzeit so gut wie keine Beachtung, obwohl sie in der Kommunikation eine nicht zu unterschätzende Wirkung ausübt. „Stimmen“ sind erlernbar und willkürlich veränderbar: Jeder Mensch wählt sich (wenn auch oft unbewusst) seine Stimme selber. (Vgl. Eckert/ Laver 1994: 9) D.h., Bewusstseinsbildung und Training in Aus- und Fortbildung wären notwendig, wie zum Beispiel Information über die Stimmbelastung im Sprechberuf LehrerIn, über Anatomie und Biomechanik der Stimme, Stimmtrainingslehre, Methoden der Sprecherziehung, Stimmhygiene. (Vgl.LehrerInn 2000: 195 u. Amon 2009: 137) Auch die Umsetzung der Lehrplaninhalte (Sprecherziehung/Standardsprache) ist sicherzustellen, z.B. „Individuelle Hilfen für das richtige Bilden von Lauten anbieten können.“ (VSLehrplan 2008: 48) Die Ergebnisse des an der PH-Salzburg im Sommersemester 2011 vorgesehenen Stimmbelastungstests werden voraussichtlich weitere deutliche Hinweise über die Stimmtauglicheit und Stimmkompetenz der Studierenden bringen. Diese können eine Grundlage sein für die Entscheidungsfindung, in welchem Maß einer kuntinuierlichen Stimm- und Sprechausbildung in Zukunft Ressourcen zustehen sollen. Der richtige Umgang mit der Stimme und deren Vorbildwirkung auf die SchülerInnen gehört zu den Kernkompetenzen der LehrerInnen in einer qualitätsvollen, zukunftsorientierten LehrerInnenbildung. Der Bedarf an SprecherzieherInnen bzw. StimmtrainerInnen, die aus der Berufsgruppe der LehrerInnen kommen und daher über die nötige Empathie verfügen, ist deutlich gegeben. DIE BERUFSSTIMME AM STIMMARBEITSPLATZ SCHULE Literatur Amon, Ingrid (2009): Gut bei Stimme, Richtig sprechen im Unterricht, Beruf LehrerIn, Linz: Veritas URL: http://beruf-lehrerIn.veritas.at (12.02.2011) Eckert, Hartwig / Laver, John (1994): Menschen und ihre Stimmen, Aspekte der vokalen Kommunikation, Weinheim: Beltz Psychologie Verlags Union ExpertInnengruppe LehrerInnenbildung Neu (2010) Die Zukunft der pädagogischen Berufe, Die Empfehlungen der ExpertInnengruppe, Endbericht, Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur, Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung, Wien Friedrich, Gerhard /Dejonkere, Philipp: Das Stimmdiagnostik-Protokoll der European Laryngological Society (ELS) Laryngo-Rhino-Otol 2005; 84: 744752, Georg Thieme Verlag Stuttgart – New York Gaipl, Christoph (2009): Untersuchungen zur Stimmbelastbarkeit bei stimmgestörten Patienten. Evaluation eines neuen Testverfahrens, Dissertation, Philipps-Universität, Marburg, URL: http://archiv.ub.uni-marburg.de/ diss/z2010/0059/pdf/dcg.pdf (03.01.2011) Hammann, Claudia (2004): Die Lehrerstimme im Ausbildungsnotstand: Problemevaluation und Lösungsdiskussion, in Sprachtherapie Aktuell, Tagungsbericht zum 5. Wissenschaftlichen Symposium des Deutschen Berufsverbandes der akademischen Sprachtherapeuten, Zimmermann/ Iven/Maihack Hrsg.,Bochum, PROLOG Kutej, Waltraud (2011): Prävention von Stimmstörungen, Sie Stimme als wichtiges Arbeitsinstrument in Sprechberufen, Wissenschaftliche Schriften im Schulz-Kirchner Verlag, Idstein LehrerIn 2000 (2000): Arbeitszeit, Zufriedenheit, Beanspruchungen und Gesundheit der LehrerInnen in Österreich, Studie im Auftrag von Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur, Bundesministerium für öffentliche Leistung und Sport, Gewerkschaft Öffentlicher Dienst, Wentner♦Havranek Hrsg. SORA Institute for Social Research and Analysis Klinische Abt. Arbeitsmedizin, AKH Wien, ,Oktober 2000 Lehrplan der Voklsschule BGBl. Nr.134/1963 in der Fassung BGBl. II Nr. 290/2008 URL: http://www.bmukk.gv.at/medienpool/14055/lp_vs_komplett.pdf (21.2.2011) Medical Tribune (2008): Berufsdysphonie, Die Stimme ist trainierbar, 40.Jahrgang, Nr.15, 9.April 2008, S.16 URL: http://extranet.medical-tribune.de/volltext/PDF/2008/MT Oesterreich/15 mtoe/MTA 15 S16.pdf (17.02.2011) Nawka, Tadeus / Wiesmann, Ulrich /Gonnermann,Ute: Validierung des Voice Handycap Index (VHI) in der deutschen Fassung. In: HNO (2003) 51:921-929 Pichler, Alexandra /Schlömicher, Josef /Tropper , Hannes /Janssen, Philipp /Weikert, Matthias (2005): Voice Scanning, Berufsstimmprävention an der Pädagogischen Akademie Salzburg, 49. Österr. HNO-Kongress 2005, 158, Diplomarbeit-A.Pichler; Univ.Sbg., Inst.f.Linguistik; Poster: Pan European Voice Conference(Pevoc 6), London 2005 Schahnaz, Ettehad (2004): Subjektive und objektive Stimmuntersuchungen zur Erfassung der Stimmbefunde bei Pädagogikstudenten, Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der gesamten Medizin, Philipps-Universität Marburg Schlömicher-Thier, Josef /Weikert, Matthias /Tropper, Hannes, Austrian Voice Institut (1998) Ergebnisse der Untersuchung des stimmintensiven Berufes Österreichischer GrundschullehrerInnen im Vergleich eines kurativen und präventiven Kollektives,Schuljahr 1997/98, Bad Gleichenberg / Salzburg-Regensburg-Graz Schneider,Berit /Cecon,Mikis/Hanke,G./Wehner, S./Biegenzahn,W. (2004): Bedeutung der Stimmkonstitution für die Entstehung von Berufsdysphonien, Studie, AKH-Wien,BMUKK, HNO 2004.52:461-467, Springer-Verlag URL: http://resources.metapress.com/pdf-preview.axd?code=wdtung9apq2 mb6vb&size=largest (17.02.2011) BEITRÄGE AUS WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG |49 MEHRSPRACHIGE GESELLSCHAFT - ZWEIPSRACHIGE SCHULEN Rudolf de Cillia Mehrsprachige Gesellschaft – zweisprachige Schulen? Anmerkungen zum Umgang mit sprachlicher Vielfalt an den Schulen Rudolf de Cillia Der folgende Beitrag geht, sich auf Erkenntnisse der Soziolinguistik und Spracherwerbsforschung berufend, davon aus, dass gesellschaftliche und individuelle Mehrsprachigkeit (MS) die Regel sind, was sich in unterschiedlichen Formen von MS in den Schulen manifestiert. Schulischer Sprachunterricht konzentriert sich aber in erster Linie auf die Entwicklung fremdsprachlicher Zweisprachigkeit in der lingua franca Englisch. An den kritischen Befund schließen sich Vorschläge für eine bessere Förderung der Sprachenvielfalt an den Schulen an. 1. „Einsprachigkeit ist heilbar“ „Einsprachigkeit ist heilbar – Überlegungen zur neuen Mehrsprachigkeit Europas. Monolingualism is curable - Reflections on the new multilingualism in Europe. Le monolinguisme est curable - Réflections sur le nouveau plurilinguisme en Europe”. (Ammon/ Mattheier/ Nelde 1997) So betitelten die Herausgeber die Nr. 11 der einmal im Jahr erscheinenden Zeitschrift „Sociolinguistica“. Sie brachten damit mit einer etwas drastischen Metapher Erkenntnisse der Wissenschaft in den Jahrzehnten davor auf den Punkt, die zu einem völligen Umdenken im Umgang mit MS geführt hatten, und zwar sowohl mit individueller als auch mit gesellschaftlicher MS. Bis in die 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts war die Auffassung vorherrschend, dass individuelle Einsprachigkeit die Regel sei, zu frühe MS sogar gefährlich, wie folgendes Zitat des angesehenen Germanisten Leo Weisgerber in einem Artikel der ebenso angesehenen germanistischen Zeitschrift „Wirkendes Wort“ zeigt: „Dort, wo Anlagen, Familienverhältnisse, Lebensschicksale und unablässiges Mühen zusammenkommen, wird es unter Tausenden von Fällen einmal gelingen, die ideale Form der Zweisprachigkeit zu gewinnen: die Stufe der souveränen Beherrschung zweier Sprachen, [...]. Für die große Menge behält es Geltung, daß der Mensch im Grun- 50| GASTBEITRAG de einsprachig ist. [...] Vor allem aber gehen corruption du langage und corruption des moeurs Hand in Hand [...]. Das geht von einer Störung der geistigen Entfaltung zu einer Einbuße der Geistesschärfe selbst; geistige Mittelmäßigkeit ist die Folge, […..].Die Trübung des sprachlichen Gewissens führt nur zu leicht zum Erschlaffen des Gewissens insgesamt.“ (Weisgerber, 1966: 73, Hervorhebung von mir) Die sich seit den 1970er Jahren rasant entwickelnde (Zweit)Spracherwerbsforschung, die sich im letzten Jahrzehnt zu einer „Mehrsprachigkeitsforschung“ weiterentwickelt hat, hat schlüssig nachgewiesen, dass individuelle MS die Regel ist, und Befürchtungen widerlegt, dass frühe MS schädlich sei, ja sogar bis zur moralischen Verderbnis führen könne. Die Spracherwerbsforschung weist nach, dass der menschliche Spracherwerbsmechanismus ein mächtiges Instrument ist, das durchaus in der Lage ist, schon in frühem Alter und in bestimmten Fällen von klein auf simultan zwei Sprachen gleichzeitig im so genannten ungesteuerten, natürlichen Spracherwerb zu erwerben. Das passiert in komplexen Sozialisationsverläufen, v. a. dort, wo drei Sprachen involviert sind, für die es noch keine unumstrittenen theoretischen Modellierungen gibt – aber so viel ist man sich klar: Zweisprachigkeit/ Mehrsprachigkeit ist nicht nur eine Addition von L1 + L2 + L3, und die Spracherwerbsfähigkeit ist ein unteilbares kognitives Rudolf de Cillia Modul, in dem die je vorher schon gemachten Sprachlernerfahrungen die weiteren Sprachlernprozesse beeinflussen. Wie positiv sich Zweisprachigkeit durch natürlichen, ungesteuerten Spracherwerb entwickelt, z.B. in der Situation der Migration, hängt jedenfalls von einer Reihe von Faktoren ab, wie z.B. den Einstellungen zur MS und zur eigenen Sprache: Sprachliches Selbstbewusstein ist wichtig – Minderwertigkeitsgefühle und Ablehnung der eigenen Sprache – in der Situation der Migration eine mögliche Reaktion - wirken sich negativ aus. Angst versus Selbstvertrauen in die eigene sprachliche Identität und in die MS sind ganz wichtige Variablen, die auch im schulischen Spracherwerb eine zentrale Rolle spielen. Aber nicht nur individuelle, auch gesellschaftliche MS ist die Regel: Hier haben die Soziolinguistik und die Sprachenpolitikforschung gezeigt, dass das Konzept des europäischen Nationalstaats „ein Staat = eine Sprache“ nicht die gesellschaftliche Realität trifft und dass es auch nicht sinnvoll ist, das anzustreben. Bei den Mitteln, sprachliche Minderheiten zu unterdrücken, war man vom beginnenden 19. Jahrhundert bis in die jüngste Vergangenheit nicht zimperlich, und die Schule spielte dabei eine zentrale Rolle: Um eine einheitliche Nationalsprache durchzusetzen, wurde Kindern verboten, in der Schule ihre Erstsprache zu sprechen, z.B. in der Bretagne. Wer dabei erwischt wurde, musste Eselsohren aufsetzen. Noch vor nicht allzu langer Zeit konnte man im früheren Bahnhof von St. Brieuc auf einer Tafel lesen: „Défense de cracher par terre et de parler breton.“1 – ein besonders krasser Ausdruck für die Verachtung der anderen Sprache. Trotz all dieser Versuche kam die MS durch die Hintertür wieder herein, in Form der neuen, im Zug von Migrationsbewegungen entstandenen neuen Minderheiten. Lenkt man den Blick weg von Europa, ist ohnehin sehr schnell klar, dass eben die gesellschaftliche MS die Regel ist, 1 MEHRSPRACHIGE GESELLSCHAFT - ZWEIPSRACHIGE SCHULEN nicht die Einsprachigkeit. Länder wie Indien oder Kenia, in denen kleinräumige regionale Sprachen neben Verkehrssprachen wie Hindi bzw. Kisuaheli und der ehemaligen Kolonialsprache Englisch ko-existieren und der gesellschaftlichen Kommunikation dienen, zeigen das. Und den geschätzten 2500 – 8000 Sprachen auf der Erde stehen ca. 200 Staaten gegenüber. Sogar in Europa, wo dieses nationalstaatliche Modell am weitesten umgesetzt wurde, werden, schätzt man, 230 Sprachen gesprochen – der Europarat hat 47 Mitgliedstaaten. Und in Österreich hat die letzte Volkszählung von 2001 an die 60 unterschiedliche Umgangssprachen dokumentiert. Nur ca. 88,6% der Wohnbevölkerung gaben damals an, ausschließlich Deutsch zu sprechen. (Statistik Austria 2002) 2. „Der monolinguale Habitus der multilingualen Schule“ So hat die Hamburger Erziehungswissenschafterin Ingrid Gogolin ihr 1994 erschienenes Buch genannt, in dem sie sich mit dem Umgang der Schule mit MS befasst hat. Sie drückt damit aus, dass in unseren Schulen vielfach noch die im obigen Zitat von Weisgerber ausgedrückte Vorstellung vorherrscht: dass nämlich Einsprachigkeit als natürlicher Normalzustand wahrgenommen wird, obwohl es sich um ein gesellschaftliches Phänomen handelt – eben einen Habitus im Bourdieu‘schen Sinn. Schulen gehen oft noch davon aus, Individuen seien einsprachig, obwohl die Realität in den Klassen dem nicht entspricht. Viel anschaulicher als alle Statistiken drücken die von Hans-Jürgen Krumm gesammelten Sprachenporträts diese Tatsache aus. Er hat Kindern die Silhouette eines menschlichen Körpers vorgelegt und sie wurden gebeten, „alle ’ihre Sprachen’ dort hineinzumalen und dabei für jede Sprache eine andere Farbe zu benutzen.“ (Krumm „Es ist verboten, auf den Boden zu spucken und Bretonisch zu sprechen“ GASTBEITRAG |51 MEHRSPRACHIGE GESELLSCHAFT - ZWEIPSRACHIGE SCHULEN 2001: 5f) Die Ergebnisse zeigen, dass bereits in der dritten Klasse Kinder, die nur mit einer Sprache Kontakt hatten bzw. für deren sprachliche Identität nur eine Sprache relevant ist, die große Ausnahme sind. In der Regel entstanden bunte, vielsprachige Porträts, in denen Erst-, Zweit-, Fremdsprachen in ganz unterschiedlichen Kombinationen genannt werden wie etwa bei einem Mädchen, das „Kurdisch, Deutsch, Österreichisch, Russland, Oberösterreichisch, Ungarisch, Turkish und English“ (a. a. O. 47) angibt und dessen Porträt vielleicht die Geschichte einer Familienmigration erzählt. Diese Porträts dokumentieren auch eine moderne, zeitgemäße Auffassung von Zweiund MS. Diese erfasst nämlich nicht nur die perfekte Beherrschung zweier Sprachen, sondern ein Kontinuum von sprachlichen Kompetenzen, ausgehend von der schulischen Beherrschung von zwei oder mehreren Sprachen, die durch den Fremdsprachenunterricht gelernt wurden, über durch ungesteuerten Spracherwerb im Sprachkontakt erworbene Fertigkeiten bis hin zum ausgewogenen Bilinguismus von Menschen, die in Familien mit unterschiedlichsprachigen Eltern aufwachsen. 3. Formen schulischer Mehrsprachigkeit MS an den Schulen zeigt sich also nicht nur in den durch den Fremdsprachenunterricht erworbenen Kenntnissen, sondern auch in der so genannten lebensweltlichen MS (der autochthonen Minderheiten, der Zuwanderungsminderheiten, der Gebärdensprachminderheiten, z.T. sind wohl auch Englischkenntnisse schon Teil dieser lebensweltlichen MS) und auch der „innersprachlichen“ MS. Im Folgenden sollen diese drei Formen der MS kurz charakterisiert werden: 3.1. Innersprachliche MS Kompetente SprecherInnen einer Sprache verfügen über unterschiedliche Varietäten 52| GASTBEITRAG Rudolf de Cillia dieser Sprache – und gerade im deutschsprachigen Raum spielt diese innersprachliche MS im schulischen Kontext eine gewisse Rolle. Gemeint ist damit z.B. die Diglossie zwischen Dialekt und Standardsprache bzw. die sprachliche Variation innerhalb der plurizentrischen deutschen Standardsprache, die über zumindest drei Varietäten - das Schweizer Hochdeutsch, das österreichische Deutsch und das deutschländische Deutsch – verfügt. Im schulischen Kontext spielt hier die Einstellung der Lehrpersonen zur eigenen Varietät, z.B. zum österreichischen Deutsch, eine wichtige Rolle, etwa im Korrekturverhalten. Befunde aus der Forschung deuten darauf hin, dass österreichische DeutschlehrerInnen eher geringe Sprachloyalität der eigenen Varietät gegenüber aufweisen und sich an bundesdeutschen Normen orientieren, also dazu tendieren, Austriazismen als fehlerhaft zu markieren (vgl. Ammon 1995: 423-445). Die Diglossie zwischen Dialekt und Hochsprache wiederum, die in den 1970er Jahren unter dem Vorzeichen „Dialekt und Sprachbarrieren“ diskutiert wurde, ist heute in der Sprachdidaktik völlig zu Unrecht kaum ein Thema, obwohl sie regional in der Praxis mit Sicherheit von Bedeutung ist. Zahlen zu Österreich liegen allerdings keine vor. Aber Erfahrungen in der Lehrerfortbildung in Vorarlberg zeigen, dass Lehrpersonen dort immer wieder damit konfrontiert sind, dass SchülerInnen Referate im Dialekt halten wollen. In der Schweiz ist die Verwendung des Dialekts im Unterricht selbstverständlich: nur 7,5 % der SchülerInnen verwenden regelmäßig ausschließlich Hochdeutsch in der Schule, 52,7 % Schweizerdeutsch und Hochdeutsch und immerhin 39% nur Schweizerdeutsch. (Vgl. Lüdi /Werlen 2005: 83). Wenn wir mit MS die Beherrschung nicht nur von Varietäten, sondern von mehr als einer Sprache meinen, so unterscheidet man einerseits fremdsprachliche MS - andererseits lebensweltliche MS. Rudolf de Cillia 3.2. Fremdsprachliche Zwei-/ Mehrsprachigkeit und Fremdsprachenunterricht Die zahlenmäßig wohl wichtigste Form der MS in den europäischen Schulen wird im Fremdsprachenunterricht erworben - in der Regel in Sprachen, die zu den fünf großen internationalen Sprachen gehören. Dabei spielt die Schulsprachenpolitik eine zentrale Rolle für die gesamte europäische Sprachenpolitik, denn Fremdsprachenkompetenzen werden in erster Linie in den schulischen Bildungsinstitutionen erworben: 59% der EuropäerInnen erwerben ihre Fremdsprachenkenntnisse in einer weiterführenden Schule – nur 24% in der Grundschule (vgl. Eurobarometer spezial 2006: 22). Im Jahr 2005 verfügte übrigens etwas weniger als die Hälfte der Bevölkerung EUweit über überhaupt keine Fremdsprachenkenntnisse (44% Durchschnitt EU-25, 62% in UK, 1 % Luxemburg, D 33%, AT 38%; a.a.o.: 10)2. Die wichtigste Fremdsprache (FS) ist Englisch (38 %) vor Deutsch (14 %) und Französisch (14%), Spanisch (6 %) und Russisch (6%) (a.a.o.; 13). Zwei Fremdsprachen sprechen 28% der EuropäerInnen, drei Fremdsprachen 11%. (a.a.O. 9). Diese Sprachenkenntnisse hängen wohl unmittelbar mit den in den Schulen unterrichteten Fremdsprachen zusammen: 2005/06 lernten in den EU-27 Ländern auf der Sekundarstufe I (ISCED 2)3 86,4% der SchülerInnen in den Schulen Englisch (E), 24,5% Französisch (F), 11,4% Deutsch (D), 7,6 Spanisch (ES) und 2,7% Russisch (RU). Im Primarschulbereich (ISCED 1) lernten 73,2 % der SchülerInnen mindestens 1 FS, dabei 59,0% E (Tendenz steigend), 6,1% F, 4,0% D (Eurydice 2008, 62). Auf der Sekundarstufe II (ISCED 3) waren es 84,1% für E, 24.3 % für D, 22,2 für F, 15,4 % ES und 4,0% RU. (Eurydice 2008, 71). MEHRSPRACHIGE GESELLSCHAFT - ZWEIPSRACHIGE SCHULEN Ein wesentliches Merkmal dieser europäischen Schulsprachenpolitik ist übrigens, dass nach wie vor noch nicht in allen Ländern zwei Fremdsprachen im Laufe der Schulpflicht gelernt werden, wie es die EU empfiehlt (Barcelona-Ziele): 45,6% der SchülerInnen lernen auf der Sekundarstufe I nur eine Fremdsprache, auf der Sekundarstufe II sind es 37,0% (Eurydice 2008: 58). Ein zweites Merkmal europäischer Fremdsprachenpolitik ist die geringe Diversifizierung, d.h. die Beschränkung auf einige wenige Sprachen, wie die obigen Zahlen zeigen. Die Tendenzen gehen eindeutig in die Richtung Förderung von Zweisprachigkeit in der jeweiligen Staatssprache und der Globalsprache Englisch. Der Befund zur fremdsprachlichen MS in Österreich zeigt: Es hat in den letzten Jahrzehnten zwar eine wesentliche Entwicklung zur Verbesserung der Fremdsprachen-Kenntnisse gegeben – jedeR SchulabgängerIn – bis hin zum allgemeinen Sonderschüler – hat, nach Abgang von der Schule zumindest eine Fremdsprache gelernt. Aber das österreichische Schulwesen ist noch stärker auf fremdsprachliche Zweisprachigkeit ausgelegt, und nicht auf MS: Das zeigen die Zahlen, die für den österreichischen Länderbericht im Zuge des Language Education Policy Profile-Prozesss erhoben wurden.4 Der Großteil der SchülerInnen lernt nur Englisch als FS, da die österreichische Schule bis zum Pflichtschulabschluss nur eine verpflichtende lebende Fremdsprache vorsieht. 2004/05 lernten in der vierten Schulstufe 98,61% der SchülerInnen EN, 1,76% FR, 1,44% IT, 0,19% RU und 0,10% ES. In der 8. Schulstufe haben wir in der Hauptschule 99,76% für EN, 3,72% FR, 3,49% IT – alle anderen Sprachen bewegen sich unter 1% - , Fragestellung: „Einmal abgesehen von Ihrer Muttersprache: Welche Sprachen können Sie gut genug sprechen, um sich darin zu unterhalten? ISCED = International Standard Classification for Education 4 In den Jahren 2006 – 2008 wurde in Zusammenarbeit mit dem Europarat ein sogenanntes „Profil der Sprach- und Sprachunterrichtspolitik“ (Language Education Policy Profile/Profil de politiques linguistiques éducatives, kurz LEPP genannt) für Österreich entwickelt. Dabei handelt es sich um folgendes Verfahren: Die sprachenpolitische Abteilung des Europarats bietet den Mitgliedsländern Unterstützung bei der Entwicklung der (Schul)Sprachenpolitik an. Ziel: nach bestimmten Richtlinien eine Selbst-Evaluation der Bildungssprachenpolitik eines Landes in Zusammenarbeit mit ExpertInnen des Europarats durchzuführen. Im Rahmen dieses Verfahrens wird u. a. auch eine Bestandsaufnahme der Sprachunterrichtspolitik in Form eines Länderberichts erstellt. (S. http://www.oesz.at/ download/publikationen/lepp_dt.pdf) 2 3 GASTBEITRAG |53 MEHRSPRACHIGE GESELLSCHAFT - ZWEIPSRACHIGE SCHULEN in der AHS 99,78% für EN, 20,69% FR, 3,37% IT 1,17% RU, 3,96% SP. 5 Erst auf der Sekundarstufe II diversifiziert der Sprachunterricht in einem nennenswerten Ausmaß. Als Beispiel sei hier die AHS/ 10. Schulstufe genannt: 98,95% EN, 56,48% FR, 23,62% IT, 16,23% SP und 2,26% RU. (bmukk/ bmwf 2007: 137f). Aber 92, 85% der SchülerInnen in der Volksschule lernten nur eine FS und 89,81 in der Sekundarstufe I. Und auch auf der Sekundarstufe II sind es immer noch 59,6%, die nur eine FS lernen. (Vgl. Haller 2007) Eine derartige Sprachausbildung entspricht im Übrigen nicht dem gesellschaftlichen Sprachbedarf: Eine Untersuchung des ibw zum Sprachbedarf in österreichischen Betrieben zeigt zwar eine hohe Nachfrage nach Englisch (81%), aber auch eine gewisse Nachfrage (zwischen 8 und 30%) nach Französisch und den Nachbarsprachen, die durch das öffentliche Schulsystem nicht gedeckt wird (vgl. Archan/ Dornmayr 2006). In vielen gesellschaftlichen Bereichen gibt es im Übrigen weiteren Bedarf an qualifizierter MS in den Migrationssprachen, in den medizinischen Berufen, in Pflegeberufen, bei der Exekutive und nicht zuletzt in den Kindergärten und Schulen. 3.3. Lebensweltliche Mehrsprachigkeit 3.3.1. Schulische Mehrsprachigkeit und autochthone Minderheitensprachen In allen europäischen Staaten gibt es autochthone, seit langem auf dem jeweiligen Siedlungsgebiet ansässige Sprachminderheiten, die häufig durch gesetzliche Maßnahmen geschützt sind und für die es mit der 1998 in Kraft getretenen „Europäischen Charta für Regional- und Minderheitenspra- Rudolf de Cillia chen“ auch ein Instrument gibt, das die ratifizierenden Staaten zu aktivem Minderheitenschutz verpflichtet (vgl. de Cillia/ Busch 2005) – zumindest was die lautsprachlichen Minderheiten betrifft. In Österreich leben sechs offiziell anerkannte lautsprachliche Minderheiten6, deren Kinder in der Regel zweisprachig aufwachsen, schon zweisprachig in die Schule kommen und so zur MS der Schule beitragen. Und es gibt eigene Minderheitenschulgesetze für Kärnten und das Burgenland, in denen Regelungen für Slowenisch, Burgenlandkroatisch und Ungarisch festgeschrieben sind. Diese sehen im Prinzip bilingualen Unterricht in der VS vor - dieser Unterricht hat trotz des minderheitenfeindlichen Klimas in diesem Bundesland eine große Akzeptanz und 2/3 der zweisprachigen Schüler kommen aus deutschsprachigen Familien –, ein sehr mangelhaftes Angebot an den HS (mit Ausnahme einer bilingualen HS in Großwaradorf/ Veliki Boriostof) und bilinguale Angebote an einzelnen Gymnasien und HAKs (in Klagenfurt/Celovec bzw. Oberwart/ / Felsöör/Borta). Für Tschechisch und Slowakischsprachige gibt es die private Komensky-Schule in Wien, die alle Schulformen anbietet. Die schulische Ausbildung von Gehörlosen/ Hörbehinderten erfolgt im Rahmen des Behindertenschulwesens, und sie werden in den Schulen „oralistisch“ erzogen, d. h., man bringt ihnen Sprechen bei, ohne ihnen die genuine Sprachform, die Gebärdensprache, verpflichtend zu vermitteln. Und das, obwohl im Language Education Policy Profile ausdrückliche Empfehlungen für bilinguale Schulformen enthalten sind, wonach die Österreichische Gebärdensprache und Deutsch als Unterrichtssprachen zu verwenden sind – und obwohl gerade erst ein neuer Lehrplan erlassen wurde. Mehr als doppelt so viele SchülerInnen wie die AHS besuchen in Österreich die HS: 25.358 gegenüber 69.163, z. B. im Schuljahr 2004/2005. Die wichtigsten Minderheitenschutzbestimmungen finden sich im Artikel 8, Abs. 2 der Österreichischen Bundesverfassung, im Artikel 7 des Staatsvertrags von 1955 und im Volksgruppengesetz 1976. 5 6 54| GASTBEITRAG Rudolf de Cillia 3.3.2. Schulische Mehrsprachigkeit und SchülerInnen mit Migrationshintergrund Die zahlenmäßig weitaus gewichtigere Form lebensweltlicher MS in unseren Schulen bringen SchülerInnen aus Familien mit Migrationshintergrund mit. Der Prozentsatz der „SchülerInnen mit einer anderen Erstsprache als Deutsch“, wie der offizielle Terminus heißt, macht gesamtösterreichisch 21,7% der PflichtschülerInnen aus (Zahlen aus 2008/2009), in der Metropole Wien ist der Prozentsatz mit ca. 54,2% besonders hoch, Salzburg liegt mit 19,73 % etwas unter dem Durchschnitt. Am geringsten ist er in den Bundesländern Steiermark (11,6%) und Kärnten (10,8%). Die Verteilung auf die unterschiedlichen Schultypen zeigt eine klare Bildungsbenachteiligung dieser SchülerInnen mit Migrationshintergrund: In der Sekundarstufe sind sie in Hauptschulen (20,5%) und Sonderschulen 27,8%!) überrepräsentiert und in den Gymnasien (AHS, 13,3%, bzw. BHS, 11,0%) deutlich unterrepräsentiert. Und es gibt die völlig unberechtigte Tendenz, diese SchülerInnen mit sonderpädagogischen Maßnahmen zu versorgen. Die schulischen Regelungen für diese Minderheitensprachen ruhen in Österreich, wie in den meisten europäischen Ländern, auf den drei Säulen: 1. Zweitsprachenunterricht (in unserem Fall DaZ-Unterricht) im Ausmaß von bis zu 12 Wochenstunden (integrativ oder unterrichtsparallel); 2. Interkulturelles Lernen als Unterrichtsprinzip – d.h. der Anspruch, die MS und kulturelle Vielfalt in allen Unterrichtsfächern zu berücksichtigen; 3. Muttersprachlicher Unterricht und Förderung der jeweiligen Muttersprachen und Familiensprachen als Muttersprache als freiwilliges Angebot (3-6 Wochenstunden, ca. ein Fünftel der SchülerInnen nehmen das Angebot auch wahr). Diese SchülerInnen stellen im Übrigen eine große Sprachenvielfalt dar. Im Schuljahr 2007/08 wurden im Rahmen des mutter- MEHRSPRACHIGE GESELLSCHAFT - ZWEIPSRACHIGE SCHULEN sprachlichen Unterrichts insgesamt 19 Sprachen von 316 muttersprachlichen LehrerInnen unterrichtet: Albanisch, Arabisch, Bosnisch/Kroatisch/Serbisch (BKS), Bulgarisch, Chinesisch, Italienisch, Makedonisch, Persisch, Polnisch, Romanes, Rumänisch, Russisch, Slowakisch, Spanisch, Tschetschenisch, Türkisch und Ungarisch, wobei österreichweit der weitaus größte Teil auf Serbokroatisch (Bosnisch/Kroatisch/Serbisch) und Türkisch entfällt. Zumindest diese Sprachen waren also in einem so großen Ausmaß als Muttersprachen neben Deutsch vorhanden, dass eigene Sprachkurse für sie eröffnet werden konnten. Ein Problem im Zusammenhang mit den neuen Minderheitensprachen stellt die Ausbildung der LehrerInnen dar: Es gibt für Deutsch als Zweitsprache keine formelle LehrerInnenausbildung an PHs - nur an wenigen PHs ist DaZ Pflichtfach (z.B. an der KPH Wien) – es gibt nur Zusatzstudien auf freiwilliger Basis. Es existieren auch keine Lehramtsstudien für die Migrationssprachen in der Pflichtschullehrerausbildung an den PHs. Lediglich an den Universitäten gibt es ein Lehramt für Bosnisch/ Kroatisch/ Serbisch in Wien und Graz, allerdings keines für Türkisch. Und an der Universität Wien ist ein Studien element Deutsch als Zweitsprache Pflichtfach im Lehramtsstudium Deutsch. 4. Umgang mit Sprachenvielfalt an den Schulen Die derzeitige Situation des Sprachunterrichts an den Schulen – und damit komme ich zu meinem Titel „Mehrsprachige Gesellschaft – zweisprachige Schulen?“ zurück – ist dadurch gekennzeichnet, dass die vorhandene Sprachenvielfalt zu wenig gefördert wird: Das ist u.a. zurückzuführen auf einen ineffizienten Fremdsprachen“unterricht“ in den Volksschulen (vier Jahre Schnuppern), der den früheren Beginn einer zweiten FS blockiert, auf eine zu geringe Diversifizierung, die unmittelbar damit zusammenhängt, und GASTBEITRAG |55 MEHRSPRACHIGE GESELLSCHAFT - ZWEIPSRACHIGE SCHULEN auf eine zu geringe Förderung der Ressource lebensweltliche MS, v.a. in den Migrationssprachen, aber auch der verfassungsmäßig anerkannten Österreichischen Gebärdensprache. Die Schule konzentriert sich v.a. auf die Förderung von sprachlicher „Zweifalt“ statt Vielfalt im Fremdsprachenunterricht, und das gegen die schon seit 15 Jahren vorliegenden Empfehlungen der EU, wonach im Rahmen der Pflichtschulausbildung L1 + L2 erworben werden sollen. Die große Mehrheit der SchülerInnen in Österreich lernt neben der Unterrichts- und Bildungssprache Deutsch nur eine FS, die lingua franca Englisch. Die Vielfalt möglicher Fremdsprachen (im Angebot alle Nachbar- und Minderheitensprachen, Französisch, Spanisch, Russisch, BKS, Türkisch ….) wird zu wenig genutzt, und das entspricht auch nicht dem gesellschaftlichen Sprachbedarf. Die Förderung lebensweltlicher MS wiederum lässt sehr zu wünschen übrig. Um eine Förderung sprachlicher Vielfalt zu ermöglichen, die nicht nur den Fremdsprachenunterricht, und da wiederum in erster Linie den Englischunterricht, fördert, wäre ein integrativer Zugang des Sprachenlernens notwendig, der alle Formen des Sprachenlernens umfasst, den Unterricht in der Bildungssprache Deutsch (Entwicklung „genereller Sprachkompetenzen“, Unterricht in Erstsprache, Zweit- oder Drittsprache), die lebensweltliche MS unterschiedlicher Formen und den „klassischen“ Fremdsprachenunterricht. Rahmenbedingungen, Vorgaben, Richtlinien für einen derartigen Sprachenunterricht könnten durch ein Gesamtkonzept sprachlicher Bildung vorgegeben werden, wie es etwa die Schweiz schon 1998 ausgearbeitet hat und wie es derzeit in Österreich im Auftrag des bmukk entwickelt wird. Eine Reihe von anderen, jetzt schon umsetzbaren Möglichkeiten, die sprachliche Vielfalt an den Schulen zu fördern, seien im Folgenden angeführt: Zunächst gilt es schlicht und einfach, die MS an den Schulen, die häufig versteckt und verdrängt wird, sichtbar zu 56| GASTBEITRAG Rudolf de Cillia machen. Das kann in den Klassen durch das Anfertigen und Besprechen von Sprachenporträts, wie sie oben gezeigt wurden, erfolgen oder durch den Einsatz des europäischen Sprachenportfolios, durch Erstellen von Schulsprachenprofilen oder sprachlichen Landkarten. Durch solche Maßnahmen wird allen Beteiligten schlagartig klar, dass die MS die Regel ist, auch in den Klassenzimmern, und es werden vorhandene sprachliche Ressourcen auf Seiten der SchülerInnen, aber auch der LehrerInnen sichtbar. Die Erstellung eines Sprachenprofils kann als Maßnahme der Schulentwicklung gesetzt werden: Durch eine Bestandsaufnahme aller Sprachen, die an einer Einzelschule als Ressourcen vorhanden sind, können die Stärken eines bestimmten Standorts weiterentwickelt werden. Dabei stellen sich Fragen wie: Wie sieht die sprachliche Situation an unserer Schule aus? Über welche Sprachkenntnisse verfügen SchülerInnen und LehrerInnen? Wie, wo ist man mit lebensweltlicher MS, mit anderen Erstsprachen als Deutsch an unserer Schule konfrontiert? Welche positiven Aspekte hat das? Welche negativen Aspekte hat das? Welche Probleme ergeben sich daraus? Was brauchen wir an unserer Schule, um die Ressourcen der MS optimal nutzen zu können? Welche Unterstützung wünschen wir uns, z.B. durch Maßnahmen der schulinternen Lehrerfortbildung? Die Einbeziehung aller Sprachen in den Schulalltag heißt auch, für eine möglichst große symbolische Präsenz aller tatsächlich gesprochenen Sprachen in den Schulen zu sorgen, z.B. durch Einladungen in den Muttersprachen der Kinder an die Eltern für Elternabende, durch den Ankauf von Lektüre in allen Sprachen in den Schulbibliotheken, dadurch, dass man, wenn möglich und nötig, für Dolmetscher bei Elterngesprächen und Elternsprechtagen sorgt. Vorarlberg hat z.B. hier mit den „BrückenbauerInnen“ des Vereins „okay zusammen.leben“ eine Struktur geschaffen, die es ermöglicht, bei Be- Rudolf de Cillia darf ausgebildete LaiendolmetscherInnen anzufordern.7 Der Einsatz von Programmen zur Sprachsensibilisierung, wie sie in den EU-Projekten EVLANG und JA-LING8 entwickelt wurden – in Österreich heißen die Materialien KIESEL und sind über das Österreichische Sprachen Kompetenzzentrum ÖSZ zu beziehen - , kann ein Weiteres zur Sichtbarmachung von und Sensibilisierung für MS beitragen.9 Ein verstärktes Angebot muttersprachlichen Unterrichts bzw. von Migrationssprachen als Schulfremdsprachen wären weitere Maßnahmen in diesem Sinn, die v. a. bei Angehörigen der Minderheitensprachen zu einer Stärkung der sprachlichen Identität und damit des Selbstbewusstseins insgesamt führen können. Weitere Anregungen für Maßnahmen zur Förderung von innovativen Konzepten im Sprachenunterricht geben die Projekte, die beim Bewerb für das ESIS - Europasiegel für innovative Sprachprojekte - eingereicht wurden. Ergebnisse einer Studie, die die Einreichungen der ersten Jahre des Europasiegels in Österreich ausgewertet hat (de Cillia/ Kettemann / Haller 2005) haben etwa folgende Maßnahmen als innovativ erfasst: Ein breiteres Sprachenangebot im Unterricht einer Fremdsprache als Arbeitssprache (nicht nur EAA); ein breiteres Sprachenangebot durch Förderung bilingualer Schulen bzw. bilingualer Zweige; die Einführung von Intensivphasen bzw. Intensivkursen im Regelschulwesen ; die Umsetzung von Modellen der Interkomprehension, wie sie in Deutschland schon erprobt werden: Bei EuroComRom etwa werden – ausgehend vom Französischen – rezeptive Kenntnisse in anderen romanischen Sprachen vermittelt. Für die LehrerInnenaus- und -weiterbildung schließlich sollte aus der Tatsache, dass le- MEHRSPRACHIGE GESELLSCHAFT - ZWEIPSRACHIGE SCHULEN bensweltliche MS letztlich die Regel ist, folgen, dass SprachlehrerInnen zu „ExpertInnen für MS“ ausgebildet werden, nicht nur für eine bestimmte Sprache, und dass MS thematisierende Module in die Ausbildung eines jeden Unterrichtsfachs integriert werden sollten, nicht nur der Sprachfächer. Denn letztlich ist jeder Unterricht Sprachunterricht und MS geht alle Unterrichtsfächer an, nicht nur Deutsch und die Sprachfächer Literaturhinweise Ammon U. (1995): Die deutsche Sprache in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Das Problem der nationalen Varietäten. Berlin u.a.: de Gruyter. Ammon, Ulrich/ Mattheier, Klaus J./ Nelde, Peter H. (Hrsg.) (1997): „Einsprachigkeit ist heilbar – Überlegungen zur neuen Mehrsprachigkeit Europas. Monolingualism is curable - Reflections on the new multilingualism in Europe. Le monolinguisme est curable - Réflections sur le nouveau plurilinguisme en Europe” Sociolinguistica Bd 11. Archan, Sabine/ Dornmayr, Helmut (2006): Fremdsprachenbedarf und -kompetenzen. (=ibw Schriftenreihe 131 Wien: ibw). Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur bmukk, Hg. (2009): SchülerInnen mit einer anderen Erstsprache als Deutsch. Statistische Übersicht Schuljahre 2000/2001 bis 2007/2008. In: Informationsblätter des Referats für Interkulturelles Lernen 2. Wien: bmukk Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur bmukk (2007): Der muttersprachliche Unterricht in Österreich. Statistische Auswertung für das Schuljahr 2006/07. 9. aktualisierte Auflage. Informationsblätter des Referats für interkulturelles Lernen Nr. 5/2007. Wien: bmukk. Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur bmukk / Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung bmwf. (Hrsg.) (2007): Language Education Policy Profile: Länderbericht. Sprach- und Sprachunterrichtspolitik in Österreich: Ist-Stand und Schwerpunkte. Wien: bmukk & bmwf. de Cillia, Rudolf / Busch, Brigitta (2006): Language Policies / Policies on Language in Europe. In: Brown, Keith. ed. Encyclopedia of Language and Linguistics. 2nd ed. Oxford: Elsevier. Art. 4263, Vol 9, 707. de Cillia, Rudolf (1998ff): Spracherwerb in der Migration. Wien: Informationsblätter des Referats für Interkulturelles Lernen 3/98. bmukk. de Cillia, Rudolf/ Haller, Michaela/ Kettemann, Bernhard (2005): Innovation im Fremdsprachenunterricht. Eine empirische Studie zum Europasiegel für innovative Sprachenprojekte. Frankfurt am Main u. a.: Peter Lang. de Cillia, Rudolf (2010): Mehrsprachigkeit statt Zweisprachigkeit - Argumente und Konzepte für eine Neuorientierung der Sprachenpolitik an den Schulen. In: de Cillia/ Gruber/ Krzyzanowski/ Menz (Hrsg.) Discourse – Politics – Identity. Diskurs – Politik –Identität. FS für Ruth Wodak. Tübingen: Stauffenburg: 245-255. Eurobarometer Spezial 243, Welle 64,3 (2006): Befragung: November – Dezember 2005. Brüssel: Europäische Kommission. Eurydice (2008): Schlüsselzahlen zum Sprachenlernen an den Schulen in Europa. Ausgabe 2008. Gogolin, Ingrid (1994): Der monolinguale Habitus der multilingualen Schule. Münster/ New York: Waxmann Haller, Michaela (2007): Der schulische Fremdsprachenunterricht in Österreich - Erste Ergebnisse einer Studie zum Schuljahr 2004/05. Graz: ÖSZ Krausneker, Verena (2006): Taubstumm bis gebärdensprachig. Die österreichische Gebärdensprachgemeinschaft aus soziolinguistischer Perspektive. Alfa e Beta: Bozen. Krumm, Hans-Jürgen (2001): Kinder und ihre Sprachen – lebendige Mehrsprachigkeit. Sprachenporträts – gesammelt und kommentiert von HansJürgen Krumm. Wien: eviva. Statistik Austria (2002): Volkszählung 2001. Hauptergebnisse I - Österreich. Wien. Lüdi, Georges/ Werlen, Iwar (2005): Eidgenössische Volkszählung 2000. Sprachenlandschaft in der Schweiz. Neuchâtel: Bundesamt für Statistik. Weisgerber, Leo (1966): Vorteile und Gefahren der Zweisprachigkeit. In: Wirkendes Wort 16/2--1966: 273-289. http://www.okay-line.at/deutsch/okay.zusammen-leben/okay.zusammen-leben/, 3.3.2011. 8 Informationen über das Socrates / Lingua-Projekt „Éveil aux langues“ (1997-2001) und das am Europäischen Fremdsprachenzentrum in Graz durchgeführte Projekt « Janua Linguarum“ finden sich unter folgender Adresse: http://jaling.ecml.at/default.htm, eingesehen am 3.3.2011. 9 Der österreichische Beitrag zu EVLANG waren unter dem Namen KIESEL entwickelte Unterrichtsmaterialien, s. http://www.oesz.at/sub_main.php?page=bereich. php?bereich=8-tree=24, eingesehen am 3.3.2011. 7 GASTBEITRAG |57 CORA KOCHT UND BERNHARD BAUT Heike Niederreiter, Silvia Nowy-Rummel „Cora kocht und Bernhard baut – Oder doch nicht?“ Geschlechtersensible Atelierangebote an der Praxisvolksschule Heike Niederreiter/ Silvia Nowy-Rummel Bereits Vorschulkinder haben stereotype Bilder von „weiblich“ und „männlich“ erworben. So werden von ihnen z.B. „schwach, sanft“ als Eigenschaften für Frauen und „stark, laut“ als Eigenschaften für Männer genannt. Diese Zuordnungen entsprechen im Wesentlichen bereits denen, die Erwachsene treffen, wenn sie Eigenschaften die „typisch weiblich“ und „typisch männlich“ sein sollen, benennen (vgl. Alfermann 1996: 13). Atelierangebote der Praxisvolksschule zum Thema „Gender Mainstreaming“ bieten eine Möglichkeit, in diesem sensiblen Bereich anzusetzen. Geschlechterordnung Barabara Rendtorff (vgl. 2003: 24), die u.a. einen ihrer Forschungsschwerpunkte auf die Entwicklung von Geschlechterbildern legt, beschreibt die in unserer Gesellschaft etablierte Geschlechterordnung als eine Ordnung, die aufgrund einer Spaltung in zwei Geschlechter entstand. Diesen „zwei“, Frau und Mann, werden oftmals Seiensweisen, Charaktere, Interessen zugeschrieben, die als naturgegeben gehandelt werden. Rentdorff sieht in dieser Geschlechterordnung eine auf der Kultur und Geschichte eines Volkes basierende Übereinkunft, die die sozialen Beziehungen untereinander regelt und als Orientierungshilfe für jede/n Einzelne/n dient. Das wesentliche Ordnungselement ist die Trennung und Entgegensetzung von Öffentlichkeit und Privatsphäre. Frauen wird dabei der private Raum zugeordnet, was wiede rum zur typischen geschlechtlichen Arbeitsteilung beiträgt. Die Arbeiten im Haus und alle „naturnahen“ Aufgaben (dazu gehören u.a. die körperliche Versorgung, Kochen, Reinigungsarbeiten etc.) sind weiblich konnotiert, während der öffentliche Raum dem Mann zugewiesen wird. Bereits 1802 schreibt der Mediziner Cabanis, dass der Mann kühn, stark und unternehmend sein muss, das Weib hingegen schwach, furchtsam und verschlagen (vgl. Rendtorff 2003: 26f). Sol- 58| PROJEKTE che Vorstellungen und Zuteilungen übertrugen sich auf die gesellschaftlichen Normen, Strukturen und Organisationen, sie entfalten heute noch ihre Wirksamkeit und machen auch vor der Bildungsinstitution Schule nicht halt. Geschlechterstereotype Noch wirksamer als die oben erwähnten Ordnungselemente sind Geschlechter stereotypen. „Stereotype stellen verbreitete und allgemeine Annahmen über die relevanten Eigenschaften einer Personengruppe dar.“ (Alfermann 1996: 9) Mit Hilfe dieser Stereotypen werden Annahmen von Frauen und Männern und ihren personalen Eigenschaften festgemacht, deren Grundlage ein Kategorisierungsprozess ist, der dazu dient, Personen in bestimmte Kategorien einzuteilen. Diese Kategorien lassen sich nicht nur kognitiv erklären, sondern erfüllen laut dem Begründer des Kategorienansatzes in der Sozialpsychologie, Henri Tajfel (1969), auch eine motivationale Funktion - nämlich die Rechtfertigung der bestehenden Rang- und Wertordnung und deren Aufrechterhaltung einer jeweiligen Gesellschaft. In einer kulturvergleichenden Studie, die in dieser Art bislang nicht wiederholt wurde, ließen Williams & Best (1990) Männern und Frauen aus 25 Nationen weibliche und männliche Eigenschaften zuordnen. Die in Heike Niederreiter, Silvia Nowy-Rummel Tabelle 1 angeführten Eigenschaften wurden übereinstimmend in allen (25) oder fast allen (24) Staaten* als typisch männlich bzw. weiblich bezeichnet. Stereotype maskuline Eigenschaften abenteuerlustig aggressiv dominant kräftig kühn maskulin robust selbstherrlich stark unabhängig unternehmungslustig Stereotype feminine Eigenschaften einfühlsam gefühlvoll liebevoll träumerisch unterwürfig (Alfermann 1996: 16f.) Das Thema Geschlechterrollenübernahme im Bereich der Schule In der Organisation Schule ist es unumgänglich sich mit dem Phänomen der rollenspezifischen Geschlechtsidentifikation zu beschäftigen, was durch den gesetzlichen Auftrag in Form des Unterrichtsprinzips „Erziehung zur Gleichstellung von Frauen und Männern“ im österreichischen Lehrplan verankert ist (vgl. bm:ukk 1996). Dieses Unterrichtsprinzip entspricht dem Grundsatz des Gender Mainstreams, zu dem sich auch die österreichische Regierung und die Europäische Union bekennen. „Gender Mainstream is the (re) organisation, improvement, development and evaluation of policy processes, so that a gender equality perspective is incorporated CORA KOCHT UND BERNHARD BAUT in all policies at all levels and at all stages, by the actors normally involved in policymaking“ (Council of Europe 1998: 1). Allerdings kommt es innerhalb des „heimlichen Lehrplans“, wie ihn die koedukationskritische Forschung (vgl. Löw 2006: 69) bezeichnet, implizit und explizit immer wieder zu alltagstheoretisch geleiteten Aussagen von Lehrpersonen über die Geschlechter und deren Platzzuweisungen. „Kinder durchlaufen in Schulen geschlechtsspezifische Sozialisationsprozesse, in denen sie sich neben dem offiziell vermittelten Lehrstoff auch Wissen über als angemessen geltendes geschlechtsspezifisches Handeln aneignen.“ (Löw 2006: 69) Neben dem starken Einfluss der Printmedien, dem Fernsehen, der Spielzeugindustrie und natürlich dem familiären und sozialen Umfeld, trägt die Schule dazu bei, dass Mädchen wie Buben langsam lernen eine bestimmte Position einzunehmen, die sowohl von ihnen selbst, von der Peergroup, sowie von der Gesamtgesellschaft ihrer Kultur als allgemein gültig und akzeptabel hingenommen wird. Sie lernen sich “typisch weiblich“ bzw. „typisch männlich“ zu verhalten, zu agieren, sich zu kleiden, die Haare so zu tragen, wie es erwartet wird, einen Sprachstil zu entwickeln, der angemessen erscheint und sich für das zu interessieren, was zum jeweiligen Geschlecht „passt“, nicht zuletzt um sich der „eigenen“ Gruppe zugehörig zu fühlen. Atelierangebote in der Praxisvolksschule zum Thema „Gender Mainstreaming“ Astrid Kaiser (Kaiser 2003: 18ff) belegt anhand einer ganzen Reihe empirischer Untersuchungen der pädagogischen Frauenforschung, dass Schule bislang ihrem Auftrag, gendergerechten Unterricht zu gestalten, nicht ausreichend nachkommt und somit zur Reproduktion der hierarchischen Ge- (* Australien, Bolivien, Brasilien, Kanada, England, Finnland, Frankreich, Deutschland, Irland, Indien, Italien, Israel, Japan, Malaysia, Niederlande, Neuseeland, Nigeria, Norwegen, Pakistan, Peru, Schottland, Südafrika, Trinidad, USA, Venezuela) PROJEKTE |59 CORA KOCHT UND BERNHARD BAUT Heike Niederreiter, Silvia Nowy-Rummel Theorie 4: Erwachsene haben Bilder von Weiblichkeit und Männlichkeit im Kopf und geben diese unbewusst an Kinder weiter. Kinder lernen somit das, was Erwachsene von Ihnen erwarten. Theorie 5: Die Arbeitsteilung der Geschlechter in einer Gesellschaft prägt Mädchen und Jungen in ihrer Persönlichkeit. schlechterverhältnisse beiträgt. „Die bisherige Praxis an Schulen erfolgt weitgehend ohne eine bewusste Fokussierung von Geschlechterdifferenzen im didaktischen Denken.“ (Kaiser 2003: 20). Theorie 6: Das Selbstbild von Kindern wird dadurch gebildet, dass Mädchen und Jungen ständig sehen und hören, was von ihnen verlangt wird. Um einer geschlechterbewussten Bildung Rechnung zu tragen, werden in der Praxisvolksschule Atelierangebote (siehe dazu Pelzmann 2010: 52ff) initiiert, die auf die nachfolgenden sieben „Theorien zur Erklärung der Geschlechterungleichheit“ aufbauen, welche (neben der Theorie der Erwartungshaltung, die hier nicht explizit ausgeführt wird) als Diskussionsgrundlage in seriösen Debatten herangezogen werden (vgl. Kaiser 2003: 24): Theorie 7: Jede Gesellschaft hat bestimmte Rollen für Männer und Frauen vorgesehen. Mit heimlichen und offenen Vorschriften und Begrenzungen wird bei Kindern allmählich das typisch männliche bzw. weibliche Rollenbild herausgebildet.(vgl. Kaiser 2003: 24) Theorie 1: Vorbilder sind entscheidend, da Kinder durch die erwachsenen Vorbilder ihrer Umwelt lernen, was männlich und weiblich sein soll. Ausgehend und aufbauend auf diese „Theorien zur Erklärung der Geschlechterungleichheit“ wurden (und werden) folgende Inhalte in der Ateliersarbeit der Praxisvolksschule Salzburg angeboten: Theorie 2: Lassen wir Mädchen nur mit Puppen spielen und Jungen nur mit technischem Spielzeug, dann lernen sie entsprechende Verhaltensweisen. Die Übung ist entscheidend. Zu Theorie 1) Erfinderinnen und berühmte Frauen Der Schwerpunkt lag auf weiblichen Vorbildern. Speziell für Mädchen, aber auch für interessierte Buben wurden Lebensbiographien namhafter aber auch völlig unbekannter Erfinderinnen und Entdeckerinnen vorgestellt. Um eine Realbegegnung zu schaffen, wurde die Dirigentin Elisabeth Fuchs eingeladen. Theorie 3: Mädchen identifizieren sich mit ihren Müttern, während Jungen sich von ihnen abgrenzen, weil sie merken, dass sie zum anderen Geschlecht gehören. Zu Theorie 2) Bauen und Konstruieren nur für Mädchen (Lego Mind Storm) Mädchen wurde in diesem Atelier die Gelegenheit gegeben, sich mit technischen 60| PROJEKTE Heike Niederreiter, Silvia Nowy-Rummel Anforderungen auseinander zu setzen. Sie konnten mit unterschiedlichen Materialien frei bauen und nach Bauplänen Roboter konstruieren und programmieren. Parallel dazu wurden Garten- und Koch ateliers für Jungen angeboten, mit dem Ziel der praktischen Anwendung und dem Erleben eines verantwortungsvollen Umgangs mit der Natur. Zu Theorie 3) Um speziell den Buben, aber auch interessierten Mädchen, männliche Identifikationspersonen aus dem sozialen Bereich näher zu bringen, wurden ein Kindergartenpädagoge und ein Hausmann eingeladen, die aus ihrer täglichen Arbeit berichteten und eindrucksvoll die Arbeit mit Kleinkindern präsentierten. CORA KOCHT UND BERNHARD BAUT Dass ein Meinungsumbildungsprozess bei Schülerinnen und Schülern tatsächlich stattfinden kann, untersuchte eine der beiden Autorinnen bereits 2001, indem sie ihren geschlechtssensiblen Unterricht evaluierte. (Nowy-Rummel, 2001) In einer nicht-repräsentativen Fragerunde am Ende der Arbeitsphasen der Ateliers war ebenfalls deutlich eine Meinungs- und Bewusstseinsänderung erkennbar.In diesem Sinne und im Sinne des Gendermainstreaming ist es wichtig, dass auch in den kommenden Jahren wieder Ateliers mit geschlechtersensiblen Themen angeboten werden. Es bleibt aber abschließend anzumerken: „…nur in dem Maße, wie sich bei den Lehrkräften die starren Grenzen stereotyper Bilder von Männlichkeit und Weiblichkeit lösen, können auch bei Kindern Entwicklungen fortgeführt werden.“ (Kaiser 2003: 29) Zu Theorie 4) Nicht als eigenes Atelier zu werten, aber ein wesentlicher Punkt einer Pädagogik der Gleichberechtigung, ist die im Rahmen der Atelierarbeit ständig stattfindende Reflektierung der eigenen Erwartungen der Lehrkräfte an Mädchen und Jungen. Dies passiert u.a. im Rahmen von kollegialen Gesprächen. Zu Theorie 5) Zukunftsträume-Berufe In Zusammenarbeit mit dem Projekt MUT (Mädchen und Technik) wurden u.a. durch Selbst- und Fremdeinschätzungsübungen SchülerInnen bestärkt, ungewöhnliche Berufsvorstellungen zu äußern und als durchaus realisierbar anzusehen. Zu Theorie 6 und 7) Mädchen und Buben Themenschwerpunkt war hier die Aus einandersetzung mit der eigenen Rolle und dem anderen Geschlecht. Dies geschah in Rollenspielen und sorgfältig ausgewählten Arbeitsmaterialien. Literatur: Alfermann, Dorothee (1996): Geschlechterrollen und geschlechtstypisches Verhalten. Stuttgart, Berlin, Köln: Kohlhammer. bm:ukk/Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur: Grundsatzerlass zum Unterrichtsprinzip „Erziehung zur Gleichstellung von Frauen und Männern“ 1995 URL: http://www.bmukk.gv.at/schulen/unterricht/prinz/ erziehung_gleichstellung.xml [Stand: 30.3.2011]. Council of Europe (1998): Directorate General of Human Rights and Legal Affairs Gender Equality Division ; Gender mainstreaming: Action undertaken by the Council of Europe. URL: http://www.coe.int/t/dghl/standardsetting/equality/03themes/gender-mainstreaming/Factsheet-GMainstr_ en.pdf [Stand: 4.4.2011]. Kaiser, Astrid (2003): Projekt geschlechtergerechte Grundschule. Erfahrungsberichte aus der Praxis. Opladen: Leske und Budrich. Löw, Martina (2006): Einführung in die Soziologie der Bildung und Erziehung.2. durchgesehene Auflage. Opladen & Farmington Hills: Barbar Budrich. Nowy-Rummel, Silvia (2001): Mögliche Auswirkungen eines geschlechtssensiblen Unterrichts. Diplomarbeit. Rosa Mayreder College. Wien. Pelzmann, Deborah (2010): Unterricht in Ateliers. Aus dem Schulalltag erzählt… In: ph.script. Pädagogische Hochschule Salzburg. Beiträge aus Wissenschaft und Lehre 2010. Heft Nr. 02. 52ff. Rendtorff, Barbara (2003): Kindheit, Jugend und Geschlecht. Einführung in die Psychologie der Geschlechter. Weinheim, Basel, Berlin: Beltz. PROJEKTE |61 AUS ANDERER SICHT Christian Treweller „Aus anderer Sicht“ Ein Projekt an der Pädagogischen Hochschule Salzburg Christian Treweller Gesellschaft als Ganzes besteht aus vielen unterschiedlichen Teilen, erst die Summe aller Teile gibt der Gesellschaft ihren gesamten Wert. Zu diesen Teilen gehören auch Menschen mit Behinderungen, mit voller Teilnahme an gesellschaftlicher Mitgestaltung in allen Bereichen. Bildung stellt auch und gerade bei Menschen mit Behinderungen nicht nur einen von mehreren Lebensbereichen dar, sondern legt elementare Grundvoraussetzungen für viele andere gesellschaftliche Bereiche, wie etwa Erwerbsleben, kulturelle Teilhabe und gesellschaftspolitisches Engagement, in denen Menschen mit Behinderungen nach wie vor Diskriminierung erfahren. (Vgl. Behindertenbericht, Diskriminierung von Gehörlosen, Essl Social Index) Um Menschen mit Behinderungen eine uneingeschränkte und gleichberechtigte Teilnahme und Mitgestaltung an der Gesellschaft zu ermöglichen, ist eine Schule notwendig, welche diese Teilhabe fördert. Dazu gehören vor allem qualifizierte LehrerInnen, die nicht nur aufgrund theoretischer Grundlagen in der Ausbildung mit ihren Haltungen und Einstellungen den Lebensraum Schule prägen. Einen praxisrelevanten Teil der LehrerInnenbildung an der Pädagogischen Hochschule Salzburg stellt hierbei das Projekt „Aus anderer Sicht“ dar. Ursprung und Entwicklung des Projektes Aufgrund unterschiedlicher regionaler, nationaler und interessensbedingter Gegebenheiten existiert keine allgemeine Definition des Begriffes „Behinderung“. Den unterschiedlichen Definitionen gemeinsam ist die zumindest sechs Monate dauernde Beeinträchtigung der Teilhabe am wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben aufgrund ungünstiger Umweltfaktoren und persönlicher Eigenschaften (vgl. International Classification of..., Bundesbehindertenbericht 2008, Bundesbehinderteneinstellungsgesetz 1970/2011, Salzburger Behindertengesetz). „Barrierefreiheit“ meint generelle Zugänglichkeit und Benützbarkeit von Angeboten, Dienstleistungen, Information etc. für alle, 62| PROJEKTE egal ob mit oder ohne Behinderungen (vgl. Integration:Österreich 2003 und Bundesbehindertengleichstellungsgesetz 1970/2011). Das Projekt „Aus anderer Sicht“ wurde 1998 im Behindertenbeirat der Stadt Salzburg entwickelt. Intention der im Behindertenbeirat vertretenen Interessensverbände war eine nachhaltige Sensibilisierung und der Abbau von Barrieren für Menschen mit Behinderungen. Zu dieser Zeit gab es so gut wie keine vergleichbaren Initiativen (in der Recherchearbeit wurde der Behindertenbeirat im deutschsprachigen Raum nur in Bern, Schweiz, fündig; vgl. AKBS 81 1981). Die Konzeptentwicklung betrat damit Neuland und bezog die theoretischen Grundlagen vor allem aus der Auswertung von qualitativen Interviews (vgl. Lamnek 1995) mit VertreterInnen von Interessensverbänden der Salzburger Behindertenorganisationen, Jugendeinrichtungen und LehrerInnen. Im Juni 2001 konnten auf Initiative von Angela Faber erstmalig Studierende der „Pä dagogischen Akademie Salzburg“ das Projekt erleben. Aufgrund des positiven Echos setzte sich der Direktor der damaligen „Pädagogischen Akademie“, Josef Sampl, für eine kontinuierliche Einbettung der Projektinhalte ein und das Projekt wurde als Bestandteil der LehrerInnenausbildung in Salzburg institutionalisiert. Mittlerweile ist das Projekt im Seminar „Integration und Inklusion“ für Christian Treweller alle Studiengänge im 3. Semester der Ausbildung an der Pädagogischen Hochschule fest verankert. Nach wie vor stehen die Mitgliedsorganisationen des Behindertenbeirates der Stadt Salzburg einhellig mit bereitgestellten Personalressourcen zu diesem Projekt und zudem ist dieses Projekt in Österreich nach wie vor einzigartig mit dem umfassenden Anspruch, alle Behinderungsformen einzubinden und so eine entsprechende Vielfalt zu bieten. Intention Das Projekt „Aus anderer Sicht“ soll durch Kennenlernen, Selbsterfahrung und Reflexion zu einem nachhaltigen Barriereabbau beitragen und die unterschiedlichen Lebensrealitäten von Menschen mit Behinderungen vermitteln. Inhaltlicher Ablauf AUS ANDERER SICHT Die Aktivitäten in den Gruppenphasen gliedern sich in drei Bereiche: Kennenlernen bzw. Information - Selbsterfahrung - Reflexion. Kennenlernen bzw. Information: Durch den persönlichen Kontakt mit Menschen mit Behinderungen entsteht ein vertrauteres Verhältnis, welches beitragen soll, Berührungsängste, Unsicherheiten und Vorurteile abzubauen. In direktem Dialog erfahren Studierende mehr über den Alltag, bestehende Barrieren und mögliche Chancen von Menschen mit Behinderungen. Selbsterfahrung: Soweit wie möglich erleben Studierende die Lebensrealitäten von Menschen mit Behinderungen durch Ausprobieren, z.B. durch Ertasten der sonst vertrauten Umgebung mit Blindenbrille und Langstock, durch eine Tour im Rollstuhl, durch Lippenlesen und Kommunikation in Gebärdensprache... . In Blöcken zu je vier Unterrichtseinheiten treffen sich die Studierenden des 3. Semesters mit betroffenen ExpertInnen in Gruppengrößen von durchschnittlich 10 bis 15 Personen. Die Thematik in den Gruppen ergibt sich aus den unterschiedlichen Formen von Behinderungen (Mobilitätsbeeinträchtigung, Sehbehinderung, Gehörlosigkeit, Psychische Krankheit und Lernbeeinträchtigung). Orte der Umsetzung sind einerseits das den Studierenden vertraute Umfeld an der Pädagogische Hochschule und andererseits die Niederlassungen der Behinderteninteressensverbände bzw. alltägliche Orte von Menschen mit Behinderungen. Beteiligte Partnerorganisationen stammen aus dem Behindertenbeirat der Stadt Salzburg und stellen die wesentlichen Vertreter aller Menschen mit Behinderungen in Salzburg dar (Gehörlosenverband, Blinden- und Sehbehindertenverband, Zivilinvalidenverband, Pro Mente, Laube, Lebenshilfe...). PROJEKTE |63 AUS ANDERER SICHT Christian Treweller Diese veränderte Perspektive lädt ein, bisher bewusste, aber auch unbewusste Denkmuster zu hinterfragen und in der Folge neue Sichtweisen zu entwickeln. Reflexion: Die Information und durch Selbsterfahrung getätigte Erlebnisse werden in Begleitung der ExpertInnen aufgearbeitet, in Frage und Antwort können noch offene Punkte besprochen werden. Die Studierenden erstellen nachfolgend einen Bericht, in dem ihre Erfahrungen aufgearbeitet und zusammengefasst werden. Neben Fachkompetenz durch Wissenszuwachs über unterschiedlichste Formen von Behinderung und den damit einhergehenden Barrieren und Möglichkeiten, stellt die Erlangung von vor allem sozialen Kompetenzen und Selbstkompetenzen die Zielsetzung des Projektes dar. In einem erweiterten Verständnis für grundlegende Begriffe wie „Behinderung“ und „Barrierefreiheit“ können Einstellungen und Haltungen der Studierenden nachhaltig verändert werden und können somit in die spätere Unterrichtspraxis mit einfließen. Inklusion als Perspektive Der lebendige Praxisbezug, die Berührtheit durch den persönlichen Kontakt und die Erweiterung des eigenen Horizontes wird von den Studierenden selbst immer wieder als bereichernder Nutzen geschildert. In der Folge sollten aber auch die SchülerInnen dieser angehenden LehrerInnen von einer durch Verständnis für „Inklusion“ geprägten Haltung profitieren. Den Begriff „Inklusion“ erklärt Andreas Hinz im schulischen Kontext wie folgt: „Das Einbezogensein als vollwertiges Mitglied der Gemeinschaft ist zentral (‚full membership‘, LIPSKY/GARTNER 1999, 13), unabhängig von Fähigkeiten und Unfähigkeiten. Es ist keine Qualifikation nötig für die Zugehörigkeit zum gemeinsamen Unterricht, die über eine 64| PROJEKTE Diagnose von Mindestfähigkeiten erfolgen müsste, ein Kind muss sich nicht erst sein Recht auf Inklusion verdienen oder kämpfen es zu erhalten‘ - ‚a child does not have to earn his or her right to be included or struggle to maintain it‘ (SAPON-SHEVIN 2000, 4).“ (Hinz 2002) „Inklusion“ insgesamt geht von der Grundannahme aus, dass alle Menschen gleichberechtigten Zugang und Mitwirkungsmöglichkeiten besitzen sollten. Schließen etwa Regelungen und Strukturen bestimmte Teile der Gesellschaft hiervon aus, so sind diese Regelungen und Strukturen zu ändern, sodass in der Folge strukturelle Förderung wirksam werden kann - und nicht die dadurch ausgeschlossenen Personen oder Gruppen gänzlich außerhalb bleiben. Rückmeldungen der Studierenden Im Wintersemester 2010/11 wurden den Studierenden im Rahmen einer abschließenden Evaluation zum Seminar „Integration und Inklusion“ folgende Fragen zur Evaluation vorgelegt: 1. Welche Barrieren entstehen für Menschen mit Behinderungen in unserer Gesellschaft/ in unserem Bildungssystem? 2. Welche Angebote, Assistenzleistungen und Unterstützungsmöglichkeiten gibt es für Menschen mit Behinderungen? 3. Wie hat sich durch das Projekt meine persönliche Sichtweise verändert? 4. Welche Auswirkungen hat das Projekt auf meine berufliche Praxis? Von den 250 Studierenden im 3. Semester im Studienjahr 2010/11 konnten anhand der zur Verfügung gestellten schriftlichen Aufzeichnungen von drei Seminargruppen insgesamt 97 Rückmeldungen ausgewertet werden: Vorab: Die Fragen 1 und 2 wurden zum Teil sehr ausführlich beantwortet und gaben den individuellen, kognitiven Lernzuwachs Christian Treweller wieder. Hier erfolgte eine beinahe durchgängige Wiedergabe der von den ExpertInnen erläuterten Problemstellungen, Möglichkeiten und Angebote. Besonders relevant für eine Evaluation des Projektes war die Auswertung zu den Fragen 3 und 4. Eine klare und detaillierte Auswertung ist hier allerdings nicht möglich, da die schriftlichen Rückmeldungen der Studierenden formal sehr indifferent gestaltet sind, von der kurzen Schilderung persönlicher Eindrücke bis hin zu umfassenderen Beschreibungen bzw. einem konkreten Eingehen auf die Fragestellungen. Die folgende Auswertung kann daher nur Tendenzen in den Rückmeldungen aufzeigen, die sich an der inhaltlichen, qualitativ orientierten Auswertung der Texte orientiert. ad 3: Grundsätzlich war festzustellen, dass der persönliche Profit umso höher lag, je weniger Vorerfahrung im Umgang mit Menschen mit Behinderungen die Studierenden hatten. Aussagen wie „Es war mir nicht bewusst, dass...“ belegen, dass sich ein großer Teil der Studierenden in der bisherigen Lebenspraxis wenig Kompetenzen in der Arbeit mit Menschen/SchülerInnen mit Behinderungen aneignen konnte. Unter Aussagen wie etwa „war mir neu“, „ich wusste nicht, dass...“ und „das Projekt hat mir neue Sichtweisen eröffnet...“ fand sich folgender Anteil von Studierenden: hat neue Sichtweisen eröffnet: 82% war bereits bekannt 12,5% ohne Angaben 5,5% Beinahe durchgängig wurde als entscheidender Faktor für die Veränderung der persönlichen Sichtweise der direkte Kontakt zu betroffenen ExpertInnen (Menschen mit Behinderungen) genannt. Der unmittelbare Kontakt und der zum Teil sehr intime Einblick in den Alltag von Menschen mit Behinderungen berührte, wie in Beiträgen von Studie- AUS ANDERER SICHT renden zu lesen war: „ich war beeindruckt von der Lebensfreude...“, „...war begeistert, wie Frau/Herr XY ihr/sein Leben meistert...“. Immer wieder überraschend für Studierende war, wie ein praktisch „normales“ Leben trotz Behinderung geführt werden kann. Die prozentuelle Auswertung der Rückmeldungen ergibt folgendes Bild: Von ExpertInnen beeindruckt und berührt: 48,5% aufgrund beruflicher Erfahrungen bereits sehr vertraut: 3% ohne Angaben 48,5% Der Selbsterfahrungsanteil beim Projekt wird als sehr bereichernd beschrieben, jedoch im Rahmen der Möglichkeiten der jeweiligen Veranstaltung vereinzelt als zeitlich zu kurz empfunden: Selbsterfahrung war wichtig und bereichernd: 36% ohne Angaben: 64% ad 4: Hier war zu beobachten, dass der von den Studierenden selbst eingeschätzte Profit durch das Projekt mehr auf der Bereicherung der persönlichen Haltungen und Einstellungen lag als auf der direkten Verwertbarkeit für die berufliche Praxis: für Beruf Neues gewonnen: 41% derzeit keine Transfermöglichkeiten: 6% ohne Angabe: 53% Manche Studierende (aus der Volks- und HauptschullehrerInnenausbildung) berichteten zum Teil sehr kompetent, wie sie sich einen Unterricht in Integrationsklassen vorstellen können und welche Voraussetzungen dafür erforderlich sind: kann mir nun gut vorstellen mit SchülerInnen mit Behinderungen bzw. in Integrationsklassen zu unterrichten: 19% kann ich mir nicht vorstellen: 1% ohne Angabe: 80% PROJEKTE |65 AUS ANDERER SICHT Christian Treweller Schlussbemerkung Um inklusiven Unterricht zu gewährleisten, ist nicht nur die selbstverständliche Teilnahme von SchülerInnen mit unterschiedlichen Behinderungen als Teil einer Lerngemeinschaft Voraussetzung. Die Einbindung der Kompetenz von Menschen mit Behinderungen in die LehrerInnenausbildung und im schulischen Alltag bewährt sich, um der Zielsetzung eines Verständnisses von „normalem“ Miteinander auf allen Ebenen näher zu kommen. Ein Anliegen ist sicherlich die Entwicklung weg von einem Modellprojekt hin zu einem selbstverständlichen Bestandteil in der LehrerInnenausbildung, über die Grenzen Salzburgs hinaus. „Ich hoffe, dass sich dieses System mithilfe der Inklusionsansätze ändern wird, denn alle haben ein gleiches Recht auf Bildung und Anerkennung“, so eine Studierende der Pädagogischen Hochschule im Studienjahr 2010/11. Links zum Projekt und den dabei engagierten Organisationen: http://www.sisal.at/aas (Soziale Initiative Salzburg) http://www.gehoerlose-salzburg.at (Salzburger Gehörlosenverband) http://www.sbsv.at (Salzburger Blindenund Sehbehindertenverband) http://www.promentesalzburg.at (Pro Mente Salzburg) http://laube.at (Laube) http://www.oeziv.org (Zivilinvalidenverband) http://www.lebenshilfe-salzburg.at (Lebenshilfe Salzburg) http://bundessozialamt.gv.at (Bundessozialamt) http://www.stadt-salzburg.at/internet/ salzburg_fuer/menschen_m_behinderu/ p2_93658.htm (Behindertenbeauftragte der Stadt Salzburg) Nachtrag Im Projekt „Teacher Education for Inclusion“ der “European Agency for Development in Special Needs Education” (siehe Seite 72 in der aktuellen Ausgabe) wurde das Projekt „Aus anderer Sicht“ bereits als Modellprojekt aufgenommen. ExpertInnen aus allen Ländern Europas haben die Möglichkeit, von diesen Erfahrungen zu lernen. Im Rahmen einer nationalen RektorInnen-Konferenz im Frühjahr 2011 mit internationaler Beteiligung werden im Kontext der LehrerInnenbildung NEU Modelle vorzeigenswerter Praxis auch anderen Pädagogischen Hochschulen in Österreich nähergebracht. (Siehe http:// www.european-agency.org/agency-projects/teacher-education-for-inclusion/country-info) 66| PROJEKTE Literatur: AKBS 81 (Hg.) (1981): Knacker. Bern. Integration:Österreich (2003): Buch der Begriffe. Wien. Behinderteneinstellungsgesetz (BEinstG): BGBl. Nr. 22/1970 idF BGBl. I Nr. 7/2011 Bundesgesetz über die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz – BGStG). BGBl. I Nr. 82/2005 idF BGBl. I Nr. 7/2011. Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz (Hg.) (2008): Behindertenbericht 2008 - Bericht der Bundesregierung über die Lage von Menschen mit Behinderungen in Österreich. Wien. Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz (Hg.) (2010): Sozialbericht 2009 - 2010, Ressortaktivitäten und sozialpolitische Analysen. Wien. Essl Foundation (2010): Essl Social Index. Pilotstudie 2010, Situation von Menschen mit Behinderungen. Klosterneuburg. Hinz, Andreas (2002): Von der Integration zur Inklusion - terminologisches Spiel oder konzeptionelle Weiterentwicklung? In: Zeitschrift für Heilpädagogik 53. 354-361. Abrufbar unter der Webseite: http://bidok.uibk.ac.at/library/hinz-inklusion. html#id3229796. (25. März 2011). Lamnek, Siegfried (1995): Qualitative Sozialforschung. Methoden und Techniken. Bd. 2, 3. korr. Aufl. Weinheim. Österreichischer Gehörlosenbund (Hg.) (2008): Diskriminierungsbericht 2007/08. Wien. Weltgesundheitsorganisation (Hg.) (2005): Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit. Genf. Christine Schober DAS LESETAGEBUCH ALS BEITRAG ZUR INDIVIDUELLEN LESEFÖRDERUNG Das Lesetagebuch als Beitrag zur individuellen Leseförderung1 Christine Schober Den Leselernprozess erfolgreich zu begleiten stellt für VolksschullehrerInnen immer wieder eine Herausforderung dar. Besonders die Heterogenität der Leseleistungen versetzt PädagogInnen in die schwierige Lage, den individuellen Entwicklungsstand zu berücksichtigen und gleichzeitig Arbeitstechniken zu vermitteln, die das Fortkommen aller Kinder einer Klasse garantieren. In diesem Beitrag soll durch das Konzept des Lesetagebuches eine Möglichkeit aufgezeigt werden, wie sich beides vereinen lässt. Das Thema Lesen, dem immer dann vermerkte Aufmerksamkeit geschenkt wird, wenn PISA-Ergebnisse veröffentlicht und in den Medien präsentiert werden, ist für LehrerInnen täglich präsent. SchülerInnen weisen sehr unterschiedliche Lesekompetenzen auf und die Förderung bzw. Forderung aller SchülerInnen sollte eine Selbstverständlichkeit darstellen. Es gilt also, den individuellen Leistungsstand zu berücksichtigen und die Motivation zum Lesen im Allgemeinen zu fördern. Im vorliegenden Beitrag soll dargelegt werden, wie mithilfe eines Lesetagebuches ein ganzheitlicher Lesebegriff und die Berücksichtigung von Interessen in einem In strument zusammenfließen und wie damit der Leseunterricht für alle zu einem befriedigenden und förderlichen Unternehmen werden kann. Dazu wird vorerst der mehrdimensionale Lesebegriff und das Konzept der Basic Needs kurz vorgestellt. Im Anschluss folgt der Entwurf des Lesetagebuches, der zu eigenen Konzeptionen anregen soll. Lesen in kulturwissenschaftlicher Perspektive Hurrelmann (2002) plädiert für einen Lesebegriff, der neben der kognitiven auch motivationale, emotionale und interaktive Komponenten inkludiert. Erstere betreffen das umfassende Verstehen von Texten, das beim Ermitteln von Informationen beginnt, den Bogen über die Interpretation spannt und mit Reflexion von Inhalt und Form endet. Dieser Lesekompetenzbegriff, der auch die Grundlage für PISA stellt, wird bei Hurrelmann (vgl. 2002: 8) um weitere wichtige Aspekte zur Anwendung in der Lesedidaktik erweitert: Die motivationale Dimension umfasst die positive Hinwendung zu Texten und das Verständnis, etwas Wertvolles darin entdecken zu können. Darüber hinaus ist auch eine gewisse Beharrlichkeit erforderlich, wenn es gilt, das Ziel des Textverständnisses nicht aus den Augen zu verlieren und die Wertigkeit hochzuhalten. Der emotionale Aspekt ermöglicht das Verbinden eigener Erfahrungen und erlebter Gefühle mit der Lektüre genauso, wie die individuell richtige Wahl des Lesestoffes. Auch das Ertragen vorübergehender Unlustgefühle einerseits und der Genuss literarischer Ästhetik andererseits werden hier inkludiert. Der soziale bzw. interaktive Faktor schließlich betrifft die Möglichkeit, sich über die gelesenen Inhalte auszutauschen. Hier werden Interpretationsvarianten diskutiert und gleichzeitig Verständnis gebildet für die soziale Konstruktion unterschiedlicher Meinungen. Diese neben der Kognition so wichtigen Aspekte der Motivation, der Emotion und der Interaktion sollen im Folgenden in einem theoretischen Hintergrund verankert werden. 1 Die in diesem Artikel dargestellten Gedanken sind in einer umfangreichen empirischen Studie bereits erschienen in: Schober, Christine (2009): Leseverhalten von Grundschulkindern. Eine empirische Studie unter den Aspekten Geschlecht und Interesse. Saarbrücken: VDM Verlag Dr. Müller. PROJEKTE |67 DAS LESETAGEBUCH ALS BEITRAG ZUR INDIVIDUELLEN LESEFÖRDERUNG Das Konzept der Basic Needs Der Mensch steht in wechselseitiger Beziehung mit seiner Umwelt. Dadurch befindet sich das Individuum in einem permanenten Veränderungsprozess, bei dem persönliche Entwicklung nicht selbstverständlich, sondern von der sozialen Umgebung abhängig ist (vgl. Deci & Ryan 2002, Krapp 2005a). Trotz dieses gegenseitigen Lernprozesses zwischen einer Person und den InteraktionspartnerInnen des sozialen Umfelds bleibt der Mensch als individuelle Einheit in Form einer „guten Gestalt“ (vgl. Krapp 1992: 301) erhalten. Dieser lebenslang wirksame Entwicklungsprozess, bei dem gewisse Inhalte in das Persönlichkeitskonzept übernommen, andere aber abgelehnt werden, steuert die Balance zwischen individuellem Wachstum und sozialer Bindung (vgl. Krapp 2005a). In diesem Zusammenhang spricht Krapp (1992: 300) von einem ‚inneren Kern‘ oder dem ‚individuellen Selbst‘ eines Individuums. Dieses Zentrum der Persönlichkeit wird durch die permanente Auseinandersetzung mit dem Umfeld und der damit einhergehenden Anpassung geformt. Welche Inhalte integriert werden und welche nur marginale Bedeutung haben, bestimmen neben einem kognitiven Regulativ vor allem auch die grundlegenden psychologischen Bedürfnisse (vgl. Deci & Ryan 2002, Krapp 1992, 2005a): Das Bedürfnis nach Kompetenz und Wirksamkeit (competence) betrifft das Kompetenzerleben eines Menschen. Darunter versteht man seine grundsätzliche Handlungsfähigkeit und den Wunsch, den gestellten Aufgaben gewachsen zu sein sowie diese durch eigenes Bemühen bewältigen zu können (vgl. Deci & Ryan 2002, Krapp 1992, 2005a). Das Streben nach Autonomie und Selbstbestimmung (autonomy) stellt eine wichtige Voraussetzung für das Kompetenz erleben dar. Skinner und Edge (2002: 301) definieren dies als „the desire to act according to their genuine desires and 68| PROJEKTE Christine Schober preferences“, Krapp (2005a) spricht vom Wunsch nach Selbstständigkeit, der bereits von früher Kindheit an besteht. Der Wunsch nach sozialer Eingebundenheit (social relatedness) gilt als drittes Grundbedürfnis und betrifft den Wunsch nach zufriedenstellenden Sozialkontakten. Jeder Mensch braucht die Inte gration in ein soziales System, wofür er/ sie auch bereit ist, Handlungsmuster und Wertesysteme bestimmter Gruppierungen zu übernehmen (vgl. Krapp 2005a). Dieses „primär emotionsgesteuerte Rückmelde- und Gratifikationssystem“ (Krapp 2005a: 634) gilt als Ausgangspunkt von Energie und Richtung für Motive und Zielsetzungen. Nachfolgende Grafik wurde zur Verdeutlichung erstellt. Grafik 1: Darstellung der Funktionsweise der Basic Needs als Grundlage für Richtung und Energie (unterbrochene Pfeile) von motivationalen Handlungen. Die Verbindung zur Person (P), die mit der Umwelt (U) in ständigem Austausch steht, fungiert mittels einer Art Regulationssystem, das über die Passung des Verhaltens Rückmeldungen an die Basis liefert. Die Basis der Bedürfnisse, die in den Basic Needs individuell festgelegt ist, steht in Christine Schober DAS LESETAGEBUCH ALS BEITRAG ZUR INDIVIDUELLEN LESEFÖRDERUNG permanentem Austausch mit dem Individuum und dessen Bezug zur Umwelt. Dabei wird eine Art Regulationssystem durchlaufen, das abklärt, inwieweit das Handeln der Person mit den drei psychologischen Grundanliegen kompatibel ist. Ein motivationales Antriebssystem (unterbrochene Linie) ermöglicht die Entwicklung bestimmter zielgerichteter Handlungspläne. So entfaltet sich ein Regelkreis, durch den Rückmeldungen an die Person erfolgen, ob die aktuellen Handlungen den grundsätzlichen Erfordernissen entsprechen oder einer Korrektur bedürfen. Folglich ist es von diesem Regelsystem abhängig, den Bezug zu einem bestimmten Gegenstand2 aufzubauen bzw. weiter zu pflegen und daraus unter bestimmten Umständen Interesse zu entwickeln (vgl. Krapp 1992). Im Individuum äußert sich diese Rückmeldung in unterschiedlichen Graden von Wohlbefinden. Herrscht hohe Übereinstimmung zwischen den Person-Umwelt-Interaktionen und den Zielen von optimalem Wachstum, stellt sich Zufriedenheit und wohltuendes Empfinden ein, bei geringer Kongruenz ist die Gefühlslage irritiert (vgl. Krapp 2005a: 631). In diesem Zusammenhang weisen Deci und Ryan (2002) darauf hin, dass Erfahrung von Kompetenz und Autonomie die intrinsische Motivation ansteigen lassen, was höchst förderlich für sämtliche Lernprozesse ist. Es gilt als erwiesen, dass Interessen eine positive Komponente im motivationalen Geschehen darstellen. Das Einbinden von neuen Lerninhalten in bereits bestehende Schemata erfolgt schneller und erfolgreicher. Auch Lösen komplexer Inhalte und Ermitteln unkonventioneller Lösungsoptionen gelingt bei vorhandenem Interesse wesentlich besser (vgl. Krapp 2005b). Wie sollen nun die unterschiedlichen Interessen Berücksichtigung im Leseunterricht erfahren? Wie können neben den kognitiven auch die motivationalen, emotionalen und interaktiven Aspekte des Lesekompetenzmodells verwirklicht werden? Dazu wird nachfolgend das interessengeleitete Lesetagebuch vorgestellt. Lesetagebuch Dieses Instrument stellt kein Tagebuch im herkömmlichen Sinne dar (vgl. Block 2004), sondern der Einsatz ist sowohl für offenen als auch für gebundenen Unterricht verstanden. Da nach Krapp (2005b: 635) eine Person sich nur dort Handlungsfreiheit wünscht, „wo sie glaubt, anstehende Aufgaben mit hinreichender Wahrscheinlichkeit erfolgreich bewältigen zu können“ (Krapp 2005b: 635), werden die Aufträge vorstrukturiert. Damit soll sichergestellt werden, dass alle SchülerInnen Kompetenz im Sinne der grundlegenden psychologischen Bedürfnisse erleben können. Das Autonomieerleben ist durch die Wahlmöglichkeit von Aufgaben gegeben. Ein während der Bearbeitung oder im Anschluss erfolgender Austausch über die Ergebnisse entspricht der interaktiven Komponente. Die Ausführung erfolgt in Einzel- oder auch in Gruppenarbeit und kann sowohl für kurze Texte als auch für Bücher konzipiert werden. Die Eintragungen können in einem Heft oder auf Blättern erfolgen, die in einer Mappe gesammelt werden. Somit schaffen SchülerInnen eine Art Journal zu den bearbeiteten Texten, was die Wertigkeit von Lesen wiederum erhöht. Die Aufgabenstellungen müssen drei Typen enthalten, die auch in der Komplexität unterschiedliche Dimensionen aufweisen: Kognitive Aufgaben, wie beispielsweise Fragen zur inhaltlichen Erfassung Aufträge affektiver Art, die die unterschiedlichen Gefühlslagen aufgreifen und Angebote zur freien Gestaltung, bei denen der Phantasie keine Grenzen gesetzt sind. 2 Als ‚Gegenstand‘ werden in diesem Verständnis alle kognitiven Schemata bezeichnet, die im Repräsentationssystem eines Menschen als strukturierte Einheit abgebildet sind (vgl. Krapp 1992: 305). PROJEKTE |69 DAS LESETAGEBUCH ALS BEITRAG ZUR INDIVIDUELLEN LESEFÖRDERUNG Bei der Bearbeitung von Texten in dieser Weise ist auch die Rückmeldung der Lehrperson besonders wichtig. Diese darf keineswegs wertend oder in Form einer Notenbeurteilung stattfinden, sondern muss direkt auf den Inhalt Bezug nehmen und eventuell dadurch noch zum Weiterarbeiten anregen. Tabelle 1 zeigt eine Auswahl an möglichen Arbeitsaufträgen, die auf die jeweilige Lektüre und die Entwicklungsstufe der SchülerInnen zugeschnitten und erweitert werden kann und soll (vgl. Schober 2009: 87ff). Der Einsatz dieses Lesetagebuches wurde an der Volksschule Faistenau im Schuljahr 2006/2007 im Rahmen einer Masterarbeit erprobt und lieferte sehr erfreuliche Ergebnisse. Es ist in hohem Maße gelungen, unterschiedliche Interessen und Kompetenzniveaus in einem Instrument zu vereinen und Arbeitsangebote fern von geschlechtstypischen Zuschreibungen zu stellen. Der erfolgreiche Einsatz dieses Tagebuches hängt wesentlich von der Auswahl der Geschichten ab, inwieweit sich die Kinder mit den ProtagonistInnen identifizieren und/oder phantastische Elemente aufgreifen und als reizvoll erachten. Konstant hoch fielen die Werte für positive Emotionen und Kompetenzerleben aus. 70| PROJEKTE Christine Schober Zusammenfassend soll festgehalten werden, dass die Beachtung von Motivation, Emotion und Interaktion möglichst in allen Unterrichtssituationen stattfinden soll. Besondere Bedeutung erhalten diese Komponenten jedoch im Leseunterricht. Dabei kann dieser Beitrag möglicherweise als Anregung dienen, das interessengeleitete Lesetagebuch selbst zu erproben. Literatur: Block Iris (2004): Lesetagebücher im 2. Schuljahr. In: Grundschulzeitschrift 51. 11. 27-34. Deci Edward & Ryan Richard (1993): Die Selbstbestimmungstheorie der Motivation und ihre Bedeutung für die Pädagogik. In: Zeitschrift für Pädagogik 39. 2. 223-238. Deci Edward & Ryan Richard (2002): Overview of Self-Determination Theory: An Organismic Dialectical Perspective. In: Edward Deci & Richard Ryan (Hg.): Handbook of Self-Determination Research. Rochester: University Press. 3-33. Hurrelmann, Bettina (2002): Leseleistung – Lesekompetenz. Folgerungen aus PISA, mit einem Plädoyer für ein didaktisches Konzept des Lesens als kultureller Praxis. In: Praxis Deutsch 176. 6–18. Kluge, Friedrich (2002): Etymologisches Wörterbuch der Deutschen Sprache. 24. Auflage. [CD-ROM]. Berlin: Schneider. Krapp, Andreas (1992): Das Interessenkonstrukt. Bestimmungsmerkmale der Interessenhandlung und des individuellen Interesses aus der Sicht einer Person-Gegentands-Konzeption. In: Andreas Krapp & Manfred Prenzel (Hg.): Interesse, Lernen, Leistung. Neuere Ansätze der Pädagogisch-Psychologischen Interessenforschung. Münster: Aschendorff. 297-329. Krapp Andreas (2005a): Das Konzept der grundlegenden psychologischen Bedürfnisse. In: Zeitschrift für Pädagogik 51. 5. 626-641. Krapp Andreas (2005b): Die Bedeutung von Interesse für den Grundschulunterricht. In: Grundschulunterricht 52. 10. 4-8. Schober, Christine (2009): Leseverhalten von Grundschulkindern. Eine empirische Studie unter den Aspekten Geschlecht und Interesse. Saarbrücken: VDM Verlag Dr. Müller. Skinner Ellen & Edge Kathleen (2002): Self-Determination, Coping, and Development. In: Edward Deci & Richard Ryan (Hg.): Handbook of SelfDetermination Research. Rochester: University Press. 297-337. Myriam Burtscher, Barbara Herzog DIFFERENZIERUNG DURCH KOMPLEXITÄT Differenzierung durch Komplexität Heterogenität im Mathematikunterricht begegnen Myriam Burtscher, Barbara Herzog Mit der Implementierung der Bildungsstandards in Österreich und der Entwicklung von Kompetenzmodellen, die diesen Standards zugrunde liegen, wurde die Forderung nach kompetenzorientiertem Unterricht laut – einem Unterricht, der neben inhaltlichen auch methodische, soziale oder kommunikative Kompetenzen fördert. Gleichzeitig gilt es, den individuellen Bedürfnissen von SchülerInnen in sehr heterogenen Lerngruppen gerecht zu werden. Für den Mathematikunterricht wurden in den letzten Jahren Modelle und Aufgabenformate entwickelt, die einerseits Differenzierung ganz „natürlich“ zulassen und dabei die Kompetenzentwicklung unterstützen. Heterogenität als Normalität Die Leistungsheterogenität in Schulklassen und Lerngruppen ist eine mittlerweile unumstrittene Tatsache. Largo (2009) zeigt in seinen Langzeitstudien zur kindlichen Entwicklung eindrucksvoll, wie stark Vielfalt ausgeprägt sein kann: So ergab etwa eine Untersuchung 20 Siebenjähriger ein Entwicklungsalter von 5.5 bis 8.5 Jahren (vgl. Largo 2009: 32). Um diese interindividuelle Heterogenität auszugleichen, sieht unser Schulsystem verschiedenste Mechanismen vor. Zurückstellung, Klassenwiederholung oder der Unterricht in Leistungsgruppen sollen einer Homogenisierung dienen, wie Tillmann (2004: 6) in seinem Beitrag „Schule jagt Fiktion – Die homogene Lerngruppe“ ausführt. All diese Maßnahmen ändern jedoch nichts an der Tatsache, dass sich nach wie vor in allen Klassen SchülerInnen mit unterschiedlichsten Lernvoraussetzungen, Vorkenntnissen, Motivationslagen und Interessen finden, die sich trotz dieser Maßnahmen nicht homogenisieren lassen. Der Umgang mit Heterogenität stellt demnach eine große Herausforderung – nicht nur an den Mathematikunterricht – dar. Differenzierung als Notwendigkeit im Umgang mit Heterogenität Während das Schulsystem dieser Heterogenität vor allem mit äußerer Differenzierung (wie oben ausgeführt) begegnet, ver- suchen Lehrkräfte den unterschiedlichen Lernvoraussetzungen durch innere Differenzierung gerecht zu werden. Dies geschieht häufig durch Organisationsformen von offenem Unterricht, wie etwa der Wochenplan- oder Werkstattarbeit. Peschel (2009: 9ff.) sieht in diesen Unterrichtsformen Kriterien wie etwa Eigenverantwortung oder auch Differenzierung jedoch nur bedingt umgesetzt. Er verwendet hier die Bezeichnung „geöffneter Unterricht“ als Vorstufe für offenen Unterricht. Die Öffnung bezieht sich dabei auf den nach seinem Erachten weniger wichtigen Aspekt der Unterrichtsorganisation (vgl. Peschel 2009:88). Die Differenzierung wird „von oben“ (vgl. Peschel 2004: 21ff.) inszeniert, indem LehrerInnen den Lehrstoff in von ihnen festgelegten „Portionen“ bzw. Schwierigkeitsgraden und in Form von unterschiedlichen Arbeitsmaterialien und –mitteln anbieten. Peschel (2004: 21ff.) bezweifelt jedoch, dass den unterschiedlichen Bedürfnissen und Lernvoraussetzungen von SchülerInnen durch diese Differenzierung von oben entsprochen werden kann. Er sieht hier nicht schülerzentrierten und damit differenzierten Unterricht realisiert, sondern vielmehr „materialzentrierten Unterricht“ (vgl. Peschel 2009: 9ff). Materialeinsatz im differenzierten (Mathematik-)Unterricht Diese kritische Ansicht wird beispielsweise auch von Krauthausen & Scherer geteilt, die PROJEKTE |71 DIFFERENZIERUNG DURCH KOMPLEXITÄT Myriam Burtscher, Barbara Herzog die Diskussion über den Umgang mit Heterogenität und Differenzierung sehr stark in organisatorisch-methodischer Hinsicht wahrnehmen: „Praxisberichte und Fortbildungen machen Vorschläge zur Organisation von Lernstationen, Werkstattarbeit, Lerntheken und (letztlich) zur Vergrößerung der Material flut.“ (Krauthausen, Scherer 2010a: 3). Große Mengen an Materialien (z.B. Arbeitsblätter, Lernspiele) sind in den letzten Jahren auch auf verschiedensten Internetplattformen einfach und häufig kostenlos erhältlich. Durch diese einfache Zugänglichkeit besteht möglicherweise die Gefahr, dass Arbeitsblätter und Materialien unreflektiert übernommen werden und die Differenzierung in erster Linie durch den Materialeinsatz stattfindet. So werden beispielsweise den SchülerInnen Arbeitsblätter in unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden angeboten. Dabei – so die Kritik von Krauthausen & Scherer (2010a) – ist jedoch nicht gesichert, dass diese vordefinierten Schwierigkeitsgrade auch den Bedürfnissen der SchülerInnen entsprechen. Darüber hinaus ist darauf zu achten, dass Kriterien, die generell für Unterrichtsmaterialien gelten, nicht ins Hintertreffen geraten: Die Materialien und Veranschaulichungen im Mathematikunterricht sollen der Entwicklung und Festigung von Zahl- und Operationsverständnis dienen. Ziel ist es, dass sich die Kinder, ausgehend von konkreten Handlungen an Materialien letztlich von diesen lösen und die Aufgaben mit guten Strategien im Kopf bewältigen können (vgl. Schipper 2009: 288). Materialien sollen den Kindern also als Hilfe beim Aufbau von leistungsfähigen mentalen Vorstellungen dienen und nicht nur dem Lösen einer bestimmten Aufgabenstellung. Dafür ist es unter anderem notwendig, dass die an den Materialien vollzogenen Handlungen strukturell mit den angestrebten Operationen übereinstimmen und dass im Material an sich die grundlegenden mathematischen Strukturen repräsentiert sind (vgl. Schipper: 302). 72| PROJEKTE In den angeführten bzw. empfohlenen Unterrichtsformen und im materialgeleiteten Unterricht besteht also die Gefahr, dass die Differenzierung an Material festgemacht wird und die Bedürfnisse der SchülerInnen in den Hintergrund geraten (vgl. Krauthausen, Scherer: 2010a). Auf inhaltlicher Ebene findet die Differenzierung häufig durch die Reduktion von Komplexität und damit einem reduzierten Lernangebot besonders für langsame oder schwache LernerInnen statt. Bezogen auf mathematische Inhalte wird eine solche Reduktion zum Teil sehr kritisch bewertet, da die Gefahr besteht, dass damit ein inhaltlicher Verlust einhergeht (vgl. Krauthausen, Scherer 2010: 5). „Natürliche“ Differenzierung im Mathematikunterricht Die bisher gängigen Formen innerer Differenzierung werden v.a. in Bezug auf den Mathematikunterricht nun um das Modell der „natürlichen Differenzierung“ erweitert (vgl. Krauthausen, Scherer 2010). Mathematikunterricht, der diesem Prinzip folgt, soll einerseits mathematisch angemessene Komplexität erhalten und gleichzeitig Differenzierung ermöglichen. Die Differenzierung findet dabei „von unten“ – also in der Art und Weise, in der SchülerInnen eine Aufgabe oder Lernumgebung bearbeiten, in der Wahl individueller Lernwege und Bearbeitungsstrategien - statt. Lernumgebungen, die zum Ziel haben, alle Kinder zu fördern und nach dem Prinzip der natürlichen Differenzierung aufgebaut sind, unterscheiden sich demnach wesentlich von Aufgaben, die nach der inneren Differenzierung vorgehen: Alle SchülerInnen arbeiten an einem Arbeitsauftrag, der Wahlmöglichkeiten bietet und so die natürliche Differenzierung ermöglicht (vgl. Wittmann, Müller 2004: 15). Scherer und Moser Opitz (2010: 57f) beschreiben solche Aufgaben Myriam Burtscher, Barbara Herzog DIFFERENZIERUNG DURCH KOMPLEXITÄT als besonders geeignet für den fördernden Mathematikunterricht. Aufgabenstellungen, die diese natürliche Differenzierung ermöglichen sollen, müssen auch gewissen innermathematischen oder sachbezogenen Kriterien entsprechen. So haben Hirt und Wälti den auf Kompetenz erwerb und die mathematische Tätigkeit ausgerichteten Lernumgebungen folgende Kriterien zu Grunde gelegt: Thema und Intention: „Mathematische Substanz mit sichtbar werdenden Strukturen und Mustern (fachliche Rahmung) Orientierung an zentralen Inhalten Hohes kognitives Aktivierungspotential Orientierung der Tätigkeit an mathematischen und inhaltlichen Prozessen Eigentätigkeit aller Lernenden Förderung individueller Denk- und Lernwege sowie eigener Darstellungsformen Zugänglichkeit für alle: Ermöglichen mathematischer Tätigkeit auch auf elementarer Ebene durch die Möglichkeit an Vorkenntnisse anknüpfen zu können Herausforderungen für schnell Lernende mit anspruchsvollen Aufgaben Ermöglichen des sozialen Austauschs und des Kommunizierens über Mathematik“ (Hirt, Wälti 2008: 14) Bei Ulm (2008) wird deutlich, dass auch solche Aufgaben gut geeignet sind, die eine „Modellierung außermathematischer Situ ation erfordern, um die Bedeutung der Mathematik für ein Verständnis der „Welt“ erlebbar zu machen“ (Ulm 2008: 8). Ein Unterrichtsbeispiel aus der Praxis Nachfolgende Aufgabenstellung ist dem Buch „Gute Aufgaben Mathematik – Heterogenität nutzen“ (Ulm 2008: 37ff) entnommen und wurde im Schuljahr 2009/10 im Rahmen der unverbindlichen Übung „Mathematik Begabungsförderung“ an einer Salzburger Volksschule ausprobiert. Entsprechend den Kompetenzbereichen der österreichischen Bildungsstandards für Mathematik, lassen sich diesem Beispiel alle vier allgemeinen Kompetenzbereiche zuordnen. In der Erarbeitungsphase kommen vor allem das Modellieren (Entnahme relevanter Information aus einer Sachsituation, Finden passender Lösungswege), das Operieren (Durchführung arithmetischer Operationen und Verfahren) und das Problemlösen (Bezug zu einem innermathematischen Problem, Anwendung geeigneter Lösungsaktivitäten und zielführender Denkstrategien) zum Tragen. In der Phase der Partnerarbeit und der Präsentation spielt darüber hinaus auch das Kommunizieren (Beschreibung und Protokollierung der Vorgehensweise, Vergleich und Begründung von Lösungswegen) eine große Rolle (vgl. Bifie 2009: 17). Bei Ulm (2008) wird zudem besonders der Aspekt des Problemlösens hervorgehoben: Problemorientierte Aufgaben zeichnen sich dadurch aus, dass den Kindern zunächst kein Standardverfahren zur Bewältigung bekannt ist. Ob eine Aufgabenstellung zu einem Problem wird, hängt also stark vom Vorwissen der SchülerInnen ab, welches im Lösungsprozess neu strukturiert, geordnet und kombiniert werden muss (vgl. Ulm 2008: 37). Durchführung: Ausgehend von der dargestellten Aufgabe versuchten 18 Kinder (14 Buben, 4 Mädchen) einer sehr heterogenen Lerngruppe (2. bis 4. PROJEKTE |73 DIFFERENZIERUNG DURCH KOMPLEXITÄT Myriam Burtscher, Barbara Herzog Schulstufe) diese offene Knobelaufgabe zu lösen. Um den Kindern eine eigenständige Auseinandersetzung mit der Problemstellung und ein Anknüpfen an das individuelle Vorwissen zu ermöglichen, arbeiteten die SchülerInnen in der ersten Phase alleine. Bereits hier zeigten sich sehr unterschiedliche Denk- und Lösungsansätze. Auch in ihrer Herangehensweise unterschieden sich die SchülerInnen stark voneinander. Die Art der Aufgabenstellung, die sich deutlich von den sonst üblichen Aufgaben im Unterricht unterschied, verunsicherte die SchülerInnen anfangs, vor allem hinsichtlich der Tatsache, dass es nicht den einen richtigen und zuvor erlernten Lösungsweg zu geben schien. In einer zweiten Phase tauschten sich die SchülerInnen mit einem bzw. einer selbst gewählten PartnerIn aus und arbeiteten gemeinsam am Lösungsweg weiter. Dabei wurden unterschiedliche Strategien sichtbar. Exemplarische Bearbeitungsansätze: Von den 18 beteiligten SchülerInnen haben 10 ohne Hilfestellungen den gesamten Lösungsweg eigenständig bewältigt. Bei weiteren 4 SchülerInnen waren bis zu zwei Interventionen der Lehrerin notwendig, um die Bearbeitung der Aufgabe abzuschließen. 4 SchülerInnen haben darüber hinaus Hilfestellungen benötigt und 2 von ihnen waren zudem nicht in der Lage, am Ende des Bearbeitungsprozesses ihre Lösungen richtig zu interpretieren. Zwei Schüler der zweiten Klasse näherten sich der Problemstellung zeichnerisch und malten auf ein Plakat immer wieder die drei unterschiedlichen Fahrzeuge, bis die geforderte Anzahl der Räder (52) erreicht war. Allerdings mussten sie dazu öfter nachzählen, was zu einigen Fehlern führte. Ganz anders gingen zwei Schüler der dritten Klasse vor, die sich zunächst ihre unterschiedlichen Lösungsansätze gegenseitig erklärten 74| PROJEKTE und offensichtlich in der Lage waren, den Denk- und Lösungsweg des Partners nachzuvollziehen. In dem von ihnen zur Präsentation gewählten Lösungsweg multiplizierten sie die Anzahl der Autoreifen (4) mit einer angenommenen Größe (10). Die so erhaltenen 40 Räder, zogen sie von der Ausgangszahl 52 ab. Die restlichen 12 Räder teilten Sie auf die beiden verbleibenden Fahrzeugtypen auf und kamen zu dem Ergebnis, dass 10 Autos, 2 Dreiräder und 3 Roller vor dem Kindergarten stehen könnten. Anschließend berechneten sie noch 3 weitere Möglichkeiten. Im Gegensatz dazu stand der Lösungsansatz zweier Schüler der vierten Klasse: Diese hatten offenbar zuvor den Algorithmus der schriftlichen Division gelernt und waren sich darin einig, dass bei dieser Aufgabenstellung die Division anzuwenden sei. (Wir interpretieren das als Ergebnis eines schulischen Lernprozesses, in dem Sach- und Textaufgaben häufig in engem Zusammenhang mit direkt davor Erlerntem bearbeitet werden.) Sie zählten zunächst die Anzahl der Räder aller Fahrzeugtypen zusammen (7) und dividierten die Gesamtzahl der Räder (52) durch 7. Diese Division mit Rest stellte für die Kinder kein Problem dar. Jedoch waren sie nicht in der Lage, den Zusammenhang zur Aufgabe herzustellen. So konnten sie auch nach mehrmaliger Anregung ihr Ergebnis nicht interpretieren und waren sich nicht im Klaren darüber, was der Rest in Bezug auf die Aufgabe zu bedeuten hatte. In einer dritten Phase stellten die SchülerInnen ihre Arbeitsergebnisse auf einem Plakat dar und präsentierten dieses der gesamten Gruppe. Dadurch wurden erste Diskussionen und Gespräche über die unterschiedlichen Lösungswege angeregt. Besonders jene Kinder, die ihre Lösungswege eigenständig gefunden hatten, waren sichtbar an denen der anderen SchülerInnen interessiert. Letztlich konnten in dieser Phase alle SchülerInnen ein Plakat präsentieren, da alle zu ei- Myriam Burtscher, Barbara Herzog nem Ergebnis gekommen waren. Durch die Diskussion und nach der Präsentation der jeweils anderen stellte sich sogar bei den beiden Viertklässlern, welche ihr Ergebnis zunächst nicht interpretieren hatten können, ein „Aha-Erlebnis“ ein: Sie verstanden nun, was der von ihnen errechnete „Rest“ in Bezug auf die Aufgabenstellung zu bedeuten hatte. Resümee Kompetenzorientierte Aufgaben und Lernumgebungen eigenen sich dazu, Kindern in heterogenen Lerngruppen Mathematik auf „ihrem Niveau“ zu ermöglichen. Ausgehend von ihren Vorerfahrungen nähern sie sich den Aufgabenstellungen auf ganz individuelle Art und Weise. Lernumgebungen und gute Aufgaben sollten daher als Lernanlässe gemeinsamen Mathematiktreibens andere Unterrichtsformen ergänzen. Um die entsprechenden allgemeinen mathematischen Kompetenzen aufbauen zu können, ist es notwendig, dass SchülerInnen die Möglichkeiten bekommen, auch im Bereich der Mathematik auf unterschiedliche Art und Weise tätig zu sein. Zudem wird es DIFFERENZIERUNG DURCH KOMPLEXITÄT entscheidend sein, dass LehrerInnen zunehmend unterschiedliche Denk- und Lösungsansätze nicht nur zulassen, sondern diese auch fördern und unterstützen. Literatur Bifie (Hg.) (2009): Praxishandbuch für „Mathematik“ 4. Schulstufe. Graz: Leykam. Hirt, Ueli; Wälti, Beat (2008): Lernumgebungen im Mathematikunterricht. Natürliche Differenzierung für Rechenschwache bis Hochbegabte. Seelze-Velber: Kallmeyer/Klett. Krauthausen, Günter; Scherer, Petra (2010): Umgang mit Heterogenität. Natürliche Differenzierung im Mathematikunterricht der Grundschule. URL: http://www.sinus-an-grundschulen.de/fileadmin/uploads/Material_aus_ SGS/ Handreichung_Krauthausen-Scherer.pdf (Stand:12.3.2011). Krauthausen, Günter; Scherer, Petra (2010a): Heterogenität, Differenzierung, Individualisierung – Hintergründe des EU-Projekts NaDiMa (Natürliche Differenzierung im Mathematikunterricht). URL: http://www.mathematik. tu-dortmund.de/ieem/cms/media/BzMU/BzMU2010/BzMU10_KRAUTHAUSEN_Guenter_Differenzierung.pdf (Stand: 12.3.2011). Largo, Remo (2009): Kinderjahre. Die Individualität des Kindes als erzieherische Herausforderung. 17.Auflage. München: Piper. Peschel, Falko (2004): Ganz normale Kinder! Differenzierung von oben oder Individualisierung von unten. In: Friedrich-Jahresheft (2004). XXII. 21ff. Peschel, Falko (2009): Offener Unterricht. Idee – Realität – Perspektive und ein praxiserprobtes Konzept zur Diskussion. 5. Auflage. Baltmannsweiler: Schneider (Basiswissen Grundschule). Schipper, Wilhelm (2009): Handbuch für den Mathematikunterricht an Grundschulen. Braunschweig: Westermann/Schrödel. Scherer, Petra; Moser Opitz, Elisabeth (2010): Fördern im Mathematikunterricht der Primarstufe. Heidelberg: Spektrum (Mathematik Primar- und Sekundarstufe). Tillmann, Klaus-Jürgen (2004): System jagt Fiktion. Die homogene Lerngruppe. In: Friedrich-Jahresheft (2004). XXII. 6ff Ulm, Volker (Hg.) (2008): Gute Aufgaben Mathematik – Heterogenität nutzen. Berlin: Scriptor. http://www.mathematik.tu-dortmund.de/ieem/cms/media/BzMU/ BzMU2010/BzMU10_KRAUTHAUSEN_Guenter_Differenzierung.pdf. PROJEKTE |75 INKLUSIVE PÄDAGOGIK Irene Moser Impulse der internationalen Zusammenarbeit für inklusive Pädagogik in Österreich Irene Moser Die internationale Zusammenarbeit im Bereich der Sonderpädagogik hat bereits eine lange Tradition. Schon vor dem Beitritt Österreichs zur Europäischen Union haben österreichische VertreterInnen an HELIOS Programmen (Bildungsprogramme der EU mit dem Schwerpunkt Sonderpädagogik) teilgenommen und den Wert der europäischen Vernetzung erkannt (vgl. Bürli 2010). Der folgende Beitrag soll exemplarisch zeigen, welche Impulse von internationalen Projekten und Deklarationen ausgegangen sind und wie sie die sonderpädagogische Förderung in Österreich beeinflusst haben. 1. Die Gründung und die Aufgaben der European Agency Die eingangs angesprochenen HELIOS Projekte wurden 1996 nicht mehr weitergeführt, weshalb eine Lücke geschlossen werden musste. Innovative PädagogInnen und Bildungsverantwortliche gründeten deshalb in Zusammenarbeit mit den jeweiligen Ministerien die Agentur „European Agency for Development in Special Needs Education“ (EA). Diese versteht sich als selbst verwaltete Einrichtung, die seitdem von den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union sowie Island, Norwegen und Schweiz als Plattform für die Zusammenarbeit im Bereich der sonderpädagogischen Förderung genutzt wird. Die Organisation ermöglicht und unterstützt den Wissenstransfer und bietet den Mitgliedsländern verschiedene Möglichkeiten des Informations- und Erfahrungsaustausches im Rahmen von Tagungen und Seminaren für ExpertInnen oder durch virtuelle Plattformen. Auf der Website der EA sind Länderinformationen im Bereich der Sonderbzw. Integrationspädagogik genauso abrufbar wie die Ergebnisse diverser Projekte im Bereich der Frühförderung, Aktivitäten im schulischen Bereich oder Maßnahmen zur Unterstützung für Studierende mit Behinderungen im tertiären Bildungsbereich (www. european-agency.org). 76| KOOPERATIONEN Nominierte Fachleute des Bildungsministeriums (bmukk), der Pädagogischen Hochschulen und Sonderpädagogischen Zentren in Österreich arbeiteten von Beginn an aktiv in der EA mit und unterstützten diese Projektaktivitäten mit dem Ziel, die Lernbedingungen für Kinder und Jugendliche mit besonderen Bedürfnissen zu verbessern. Die Leitprinzipien von Chancengleichheit, Partizipation und Inklusion orientieren sich an den europäischen Deklarationen zur sonderpädagogischen Förderung, welche die inklusive Bildung stark ins Zentrum des Interesses rücken. 2. Internationale Deklarationen unterstützen den inklusiven Ansatz Zu nennen wären beispielsweise die Salamanca Deklaration, die sich für eine gemeinsame, stärkenorientierte Bildung aller Kinder ausspricht, die Chancengleichheit fördert und individuelle Unterschiede wertschätzt. Wegweisend sind auch die zentralen Botschaften im Europäischen Jahr der Menschen mit Behinderungen (2003): „Gleichstellung durchsetzen, Selbstbestimmung ermöglichen und Teilhabe verwirklichen“ sowie die UN-Standardregeln (1993), welche besagen, dass allgemeine Bildungssysteme grundsätzlich für die Bildung jedes einzelnen Schülers/ jeder Schülerin verantwortlich sind. In den Dokumenten, die sich auch auf die Irene Moser Menschenrechtskonvention von 1949 beziehen, finden sich Empfehlungen zur Weiterentwicklung von demokratischen Grundsätzen, zum Abbau von Barrieren für Menschen mit Behinderungen, zur Wertschätzung der Vielfalt als Chance für multikulturelle Gemeinschaften und zur Entwicklung von inklusiven Kulturen. Sie betonen die Wertigkeit der inklusiven Bildung als eine Grundlage für ein friedliches soziales Miteinander, das vor allem als normatives Konzept verstanden wird. (Vgl. Meijer 2010) 3. Von der Integration zur Inklusion Die Bedeutung von Inklusion geht in diesem Kontext gesellschaftspolitisch und im pädagogischen Sinne weiter als der Begriff Integration. Hinz beschreibt Integration als Hereinnehmen eines „nicht Gleichwertigen“ (Hinz 2002a) unter den Bedingungen einer sozialen Gruppe, welche die Norm vorgibt. Diejenigen, die außerhalb der Norm stehen, benötigen Unterstützung bei der Anpassung. Festgestellte Defizite Einzelner sollen verbessert werden, um ihnen den Verbleib in der Gruppe zu ermöglichen, wie es die Integration von Kindern mit Förderbedarf vorsieht. Inklusion meint das selbstverständliche und gleichwertige Recht aller, Teil der sozialen Gruppe zu sein und gleiche Bildungschancen vorzufinden. Für die österreichische Schule würde das bedeuten, dass auch Kinder und Jugendliche mit schweren Behinderungen oder mit schweren Verhaltensauffälligkeiten, mit Migrationshintergrund oder aus bildungsfernen Haushalten selbstverständlich in der Regelschule unterrichtet werden können und die notwendigen Maßnahmen zur Integration bereit gestellt werden. Dazu müssen sich auch die schulischen Strukturen ändern. Das ist eine Vision, die auch von allen getragen wird, die hinter einer Pädagogik der Vielfalt stehen. (Vgl. Prengel 1995) Zudem wäre es nicht nur Aufgabe der Schule, für eine optimale Inklusion zu sorgen, auch INKLUSIVE PÄDAGOGIK die Gemeinden und deren Mitglieder sollten dafür verantwortlich zeichnen. Dass dies keine leichte Aufgabe ist und es eines immerwährenden Entwicklungsprozesses bedarf, konnte ich als Schulentwicklungsberaterin in mehreren Prozessen von Schulen und als nationale Koordinatorin der European Agency in den oben genannten Projekten erfahren. 3.1. Projekte vorzeigenswerter Praxis Reutte in Tirol ist in den „sonderpädagogischen Communities“ als ein Bezirk bekannt, in dem bereits in den 1990er Jahren alle Sonderschulen aufgelöst worden sind, um die Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf in den Regelschulen zu unterrichten. Seitdem wurden noch weit mehr Initiativen gesetzt. Die Region Außerfern z.B. hat ein Inklusionsleitbild erstellt, in dem es um mehr soziale Integration von Menschen geht, die tendenziell eher am Rande der Gesellschaft stehen, wie alte Menschen, psychisch Kranke und Drogenabhängige, Menschen mit Migrationshintergrund und mit Behinderungen. Die European Agency hat in einem dreijährigen Projekt (2006-2009) zum Thema Assessment mit den Lehrkräften der Region zusammengearbeitet, um deren Know-how an andere ExpertInnen weitergeben zu können und Impulse zur Qualitätsentwicklung der Integration von Kindern und Jugendlichen mit schweren Behinderungen in den Volks- und Hauptschulen in Reutte zu geben. (Vgl. Moser 2009: 48) Ebenfalls zum europäischen Vorzeigeprojekt hat sich Wiener Neudorf entwickelt. Ausgehend von einer Schulentwicklungsinitiative mit dem Ziel einer verbesserten Integration der Kinder und Jugendlichen in Kindergärten, Volks- und Hauptschulen erweiterte sich das Projekt auf die Gemeindeebene mit der wissenschaftlichen Begleitung der Pä dagogischen Hochschule Niederösterreich. Die MitarbeiterInnen haben sich am „Index für Inklusion“ (vgl. Booth/Ainscow 2003) orientiert. Das ist ein Analyse- bzw. ReflexiKOOPERATIONEN |77 INKLUSIVE PÄDAGOGIK Irene Moser onsinstrument, um über die verschiedenen Arbeitsfelder der integrativen Pädagogik in Schulentwicklungsprozessen strukturiert reflektieren zu können. Nachzulesen ist der derzeitige Stand der Entwicklung auf der Website: http://www.wiener-neudorf.gv.at/ system/web/zusatzseite.aspx?menuonr=218 605890&detailonr=218608690. Die EA hat in Zusammenarbeit mit der UNESCO die Wiener Neudorfer Initiative im Projekt „Inklusive Bildung in Aktion“ aufgegriffen und mit anderen europäischen Projekten vorzeigenswerter Praxis publiziert (http:// www.inclusive-education-in-action.org). 4. Das Projekt QSP Das Zentrum für Schulentwicklung in Zusammenarbeit mit der Pädagogischen Akademie der Diözese Graz- Seckau startete 2005 eine ExpertInnenstudie zum Thema „Qualität in der Sonderpädagogik“ (QSP). Auf Basis dieser Ergebnisse wurden unter der wissenschaftlichen Leitung von Werner Specht österreichweite Arbeitsgruppen eingerichtet, die sich über ein Jahr mit folgenden zentralen Themen der Förderpädagogik befassten: Integrativer Unterricht als Leitform sonderpädagogischer Förderung Flexibilisierung der Ressourcenvergabe Sonderpädagogische Zentren als Qualitätsagenturen Objektiviertes Verfahren zur Feststellung von Fördernotwendigkeiten Individuelle Förderpläne – Prozessstandards für die sonderpädagogische Förderung Optimale Nutzung von Ressourcen und Förderpotentialen in voll ausgebauten Integrationsklassen Mindeststandards für materielle und personelle Ausstattung. (Vgl. Feyerer/Specht 2009: 39) Die Entwicklung der Rahmenstandards in den Regelschulen führte in den sonderpä- 78| KOOPERATIONEN dagogischen Fachkreisen zu intensiven Diskussionen, ob für Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf Standardtestungen durchgeführt werden sollten. Problematisch erschien den österreichischen ForscherInnen und Bildungsverantwortlichen des bmukk vor allem der wissenschaftlichmethodische Zugang für Testungen von SchülerInnen mit Lernbehinderungen oder schweren geistigen Behinderungen (vgl. Specht et al. 2006: 69f.). Das bmukk hat sich in den Folgejahren deshalb für die Einführung der Prozess- und Rahmenstandards und die verpflichtende Einführung der individuellen Förderpläne ausgesprochen. Im Rundschreiben Nr. 18/2008 wird detailliert beschrieben, was unter Qualität verstanden werden soll. (Nachzulesen unter: http://www.cisonline. at/fileadmin/kategorien/RS_18_2008_Qualitaetsstandards_5.8.08.pdf) Internationale Entwicklungen und Projekte der EA, wie beispielsweise „Inclusive Education and Classroom Practise“ und „Assessment in Inclusive Settings“, haben diese Qualitätsentwicklungsmaßnahmen sicherlich beeinflusst. 5. Die Auswirkungen der UN-Behindertenrechtskonvention im Bildungsbereich in Österreich Die aktuell bedeutendste Grundlage zur Gewährleistung des Rechts auf Bildung für Menschen mit Behinderung, die UN- Behindertenrechtskonvention (2008: §24), haben fast alle europäischen Staaten ratifiziert. Sie verpflichten sich damit, ihre Bildungspolitik auf die beschriebenen Grundsätze auszurichten und in Folge ein integratives Bildungssystem auf allen Ebenen zu entwickeln. „Praktisch gesehen bedeutet dies mittel- und langfristig eine deutliche Reduzierung der Sonderschulen, die Umstrukturierung der Regelschulen und den Abbau von baulichen Barrieren, um Kindern mit Behinderung eine hochwertige Bildung anbieten zu können.“ (Hausotter 2009: 1) Laut Feyerer Irene Moser zielt die EU auf einen Integrationsgrad von 80 bis 90 %, „was bei einer SPF Quote von 5% einem Segregatinsquotienten von weniger als 1% entsprechen würde. Dieses rein quantitative Ziel wäre in drei Bundesländern (Steiermark, Burgenland, Oberösterreich) bereits erreicht, andere sind noch meilenweit davon entfernt.“ (Feyrer 2011: 2f.) Zur schrittweisen Verwirklichung dieser Konzepte geht das bmukk (Abteilung I/5: Diversitäts- und Sprachenpolitik; Sonderpädagogik und inklusive Bildung; Begabungsförderung) derzeit den Weg der aktiven Teilhabe der VerantwortungsträgerInnen durch sogenannte „Stakeholder Konferenzen“, um diese für die Thematik zu sensibilisieren und sie in Entscheidungsprozesse frühzeitig einzubinden. Im Frühjahr 2011 wird im Rahmen eines Expertenmeetings der EA zum Thema „Teacher Education for Inclusion“ eine Tagung in der Pädagogischen Hochschule Oberösterreich abgehalten, in die auch alle RektorInnen eingebunden sind. Internationale Fachleute aus Universitäten und lokalen Behörden (mit einer Vertreterin der OECD) werden mit den Hochschulverantwortlichen darüber diskutieren, wie man in einer zukünftigen LehrerInnenbildung für alle LehrerInnen mehr inklusive Inhalte implementieren kann. (http://www.europeanagency.org/agency-projects/teacher-education-for-inclusion) 5.1 Qualitätsentwicklung der integrativen Angebote in Salzburg 2011 Die Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention ist auch an Salzburg nicht spurlos vorübergegangen. Auf Basis des Landtagbeschlusses vom Juni 2010 werden derzeit unter der Leitung des Landeschulinspektors für Sonderpädagogik Konferenzen abgehalten, die bis Mitte Juni zu einem sogenannten „Masterplan“ führen sollen. Dieses zu entwickelnde Konzept zielt auf die Qualitätsentwicklung der integrativen An- INKLUSIVE PÄDAGOGIK gebote und deren quantitative Erhöhung. Derzeit werden an Sonderschulen 1017 und in Volks- und Hauptschulen 994 SchülerInnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf unterrichtet. Das ist eine Integrationsquote von 49,43%. Sollte es gelingen, diese um ca 10 % zu erhöhen, würde man im Bundesland Salzburg für weitere 60 Integrationsklassen Strukturen bereitstellen müssen. Um festzustellen, um welche mengenmäßigen Dimensionen es sich handelt, soll eine Analyse der Bezirke erfolgen. Die möglichen Auswirkungen einer Steigerung von Integrationszahlen, z.B. auf den Stellenplan, die Adaption von Schulbauten, die Rolle der Sonderschulen oder die Maßnahmen der Aus-, Fort- und Weiterbildung sollen von ExpertInnen in Arbeitsgruppen diskutiert werden. Parallel dazu soll für eine Reform der Sonderpädagogischen Zentren (SPZ) ein Pilotversuch eingerichtet werden, indem die SPZ Leitung von der Sonderschulleitung getrennt wird. Die Prüfung des Einsatzes von Pflegepersonen ist ebenso ein Baustein in der sonderpädagogischen Entwicklungsarbeit wie die Unterstützung der Kinder und Jugendlichen mit Autismus-Spektrumsstörungen durch ein Assistenzsystem. Ausblick Die internationale Zusammenarbeit gewinnt im Bildungsbereich immer mehr an Bedeutung. Bekannt sind die groß angelegten Studien wie PISA, TIMMS und PIRLS. Diese haben besonders in den deutschsprachigen Ländern die politischen und medialen Bildungsdiskussionen angeheizt, denn im Gegensatz zu den skandinavischen Ländern gelingt es in den deutschsprachigen kaum, Kindern aller gesellschaftlichen Schichten annähernd gleiche Bildungschancen zu ermöglichen. Diese Ergebnisse provozieren auch in Österreich einen Reformdruck, der die Chancen für die Entwicklung einer Schule für alle Kinder erhöht. Der deutsche BildungsforKOOPERATIONEN |79 INKLUSIVE PÄDAGOGIK Irene Moser scher Fischer weist darauf hin, dass derzeit „bildungspolitische, ökonomische, kulturelle und pädagogische Anstrengungen von erheblicher Reichweite erforderlich“ (Fischer 2007: 7) sind, um die Reproduktion der derzeitigen Klassenverhältnisse zu verändern. Die bereits aufgebauten internationalen Kontakte, der Wissenstransfer über moderne Medien und die Erkenntnisse der Inklusionspädagogik könnten diese Entwicklung positiv unterstützen. Literatur: Ainscow, Mel/Booth, Tony (2003): Der Index für Inklusion. Lernen und Teilhabe in der Schule der Vielfalt entwickeln. Übersetzt von Ines Boban & Andreas Hinz. Luther Universität. Halle/ Wittenberg. URL: http://www.inklusionspaedagogik.de/content/blogcategory/19/58/lang,de/ (Stand 7.2.2011). Bauer Lucie/ Moser, Irene (2009): Die European-Agency for Development in Special Needs Education – ein multinationales Netzwerk zur Verbesserung der sonderpädagogischen Förderung auf europäischer Ebene. In: BMUKK (Hg.): Sonderpädagogik aus inklusiver Sicht. Studientexte. Wien: Jugend und Volk. 45-52. Bürli, Alois (2010): Wie hast du’s, Europa, mit der Integration Behinderter? Inklusive Bildung in den nordischen Ländern im Kontext gesellschaftlicher Entwicklungen. In: Online-Zeitschrift für Inklusion, 2/2010. URL: http:// www.inklusion-online.net/index.php/inklusion/article/view/59/63 (Stand 15.11.2010) Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur (2008): Rundschreiben Nr.18. (URL: http://www.cisonline.at/fileadmin/kategorien/RS_18_2008_ Qualitaetsstandards_5.8.08.pdf (Stand 17.3.2011). European Agency for Development in Special Needs Education: international approach to inclusive education. URL: http://www.european-agency.org/agency-projects/key-principles/a-european-and-international-approach-to-inclusive-education/?searchterm=international declarations (Stand 7.2.2011). Feyerer, Ewald/ Specht, Werner (2009): Evaluationsstudien zur Entwicklung der schulischen Integration. In: BMUKK (Hg.): Sonderpädagogik aus inklusiver Sicht. Studientexte. Wien: Jugend und Volk. 34-39. Feyerer, Ewald (2011): Inklusion als Chance für Sonderschulen. In: Heilpädagogische Gesellschaft Österreich (Hg.): Sonderdruck aus der Zeitschrift für Heilpädagogik. Höbersdorf: Kaiser. 1-8. Specht, Werner et al. (2006): ZSE Report 70. Qualität in der Sonderpädagogik. Ein Forschungs- und Entwicklungsprojekt. Graz. URL: bmukk. http://qsp. or.at/downloads/ZSER70.pdf (Stand 17.3.2011). Fischer, D. (2007): Einleitung: Gerechtigkeit im Bildungssystem. In: V. Elsenbast/ D. Fischer (Hg.): Zur Gerechtigkeit im Bildungssystem. Münster:Waxmann. 7-14. Hausotter, Anette (2009): UN-Konventionen – inklusive Bildung im europäischen Vergleich. Unveröffentlichter Vortrag. Hinz, Andreas (2002a): Inklusion – mehr als nur ein neues Wort? URL: http:// www.gemeinsamleben-rheinlandpfalz.de/Hinz__Inklusion_.pdf (Stand 6.2.2011). Hinz, Andreas (2002b): Von der Integration zur Inklusion - terminologisches Spiel oder konzeptionelle Weiterentwicklung? In: Zeitschrift für Heilpädagogik 53. 354-361. Meijer, Cor (2010): Inclusive Education: Facts and trends. Speech at the Madrid conference. European Agency. Prengel, Annedore (1995): Pädagogik der Vielfalt. Opladen. Salamanca Statement (1994): http://www.unesco.org/education/pdf/ SALAMA_E.PDF (Stand 6.2.2011). Soziales Leitbild Außerfern: URL: http://www.allesausserfern.at/servicebox/ protokolle-zum-sozialen-leitbild (Stand 8.2.2011). UN Behindertenrechtskonvention (2008): URL: http://www.un.org/disabilities/documents/maps/enablemap.jpg (Stand 8.2.2011). United Nations Standard Rules (1993): URL: www.un.org/esa/socdev/enable/dissre00.htm (Stand 6.2.2011). Eine Kooperation zwischen Pädagogischer Hochschule, Universität und Fachhochschule Salzburg. Informationen: elfriede.windischbauer@phsalzburg.at 80| KOOPERATIONEN Bettina Lorenz MATHEMATIK MIT KINDERN, DIE SCHWERHÖRIG ODER GEHÖRLOS SIND Mathematik mit Kindern, die schwerhörig oder gehörlos sind Bettina Lorenz In den letzten Jahren setzte sich die Forschung intensiv mit Gebärdensprache und Sprachentwicklung gehörloser Menschen auseinander. Leider gibt es im deutschsprachigen Raum nur wenige Arbeiten, die sich mit der Ausbildung der mathematischen Fähigkeiten von Kindern, die schwerhörig oder gehörlos sind, beschäftigen. Meine Bachelorarbeit widmete sich daher genau diesem Thema mit dem Ziel, Unterrichtsideen, die auf die speziellen Stärken und Schwächen dieser SchülerInnen eingehen, anbieten zu können. Basis dieses Artikels ist die Überzeugung, dass der Gebrauch der jeweiligen Gebärdensprache für Kinder mit einer Hörbeeinträchtigung oder Gehörlosigkeit unabhängig von allen technischen Hörhilfen eine Bereicherung darstellt, Identität geben kann und Kommunikationsmöglichkeiten erschließt, was, wie im Folgenden ausgeführt, auch Auswirkungen auf die mathematischen Fähigkeiten hat. Aus verschiedensten Forschungsarbeiten während der letzten 50 Jahre ergibt sich, dass schwerhörige und gehörlose Kinder mit ihren mathematischen Leistungen im Durchschnitt ca. zweieinhalb Jahre hinter denen von hörenden Kindern liegen. Die Ursachen dafür konnten bislang nicht eindeutig geklärt werden (vgl. Iversen 2008: 87-88). Auch eine Untersuchung an der Josef-RehrlSchule Salzburg zeigt die Tendenz zu einem Entwicklungsrückstand im mathematischen Denken (Lorenz 2010: 68). Derartige Verzögerungen können jedoch nicht durch mangelnde intellektuelle Fähigkeiten erklärt werden (vgl. Nunes 2004: 9-11). Nachgewiesen werden konnte ein Zusammenhang der Rechenfertigkeiten Gehörloser mit dem Hörstatus der Eltern: War ein Elternteil gehörlos und der andere hörend, so zeigten deren Nachkommen im Schnitt die besten Rechenfertigkeiten. Dieser Gruppe folgten Menschen mit zwei gehörlosen Eltern. Am schlechtesten schnitten jene Hörgeschädigten ab, deren Eltern beide hörend waren. Aus diesen Ergebnissen leitet Kramer ab, dass der bilinguale „Erziehungs- und Kommunikationsansatz“ (Kramer 2007: 178), der Kindern sowohl lautsprachliche als auch gebärdensprachliche Kommunikation anbietet, den Kindern hilft, bessere Rechenleistunden zu erzielen (vgl. Kramer 2007: 177-178). Schwerhörige und gehörlose Menschen haben beim Lernen spezielle Bedürfnisse, die unter anderem auf eine andere Abspeicherung von Information im Gehirn zurückzuführen sind. Gehörlose Menschen kodieren Informationen visuell, während hörende Menschen dies phonologisch, also über die Lautsprache, tun. Auf diesem Unterschied basieren auch die Typen von Irrtümern, die Menschen bei der Erinnerung machen. Beispielsweise wird der Buchstabe X von Gehörlosen am ehesten mit Buchstaben wie K, M, N, deren Bild ähnlich ist, vertauscht. Hörende verwechseln dagegen Laute, die ähnlich sind. Die beiden Kodierungen (phonologisch bzw. visuell) scheinen auch einen Einfluss darauf zu haben, wie man sich an Dinge erinnert. Die phonologische Kodierung ist gün stiger, um eine serielle Ordnung zu behalten; die visuelle Kodierung hilft dagegen besser, die räumliche Anordnung zu behalten. Daher gibt es Gedächtnisleistungen, in denen gehörlose Kinder besser bzw. schlechter als Hörende abschneiden, je nachdem wie ihnen die Information präsentiert wird – räumlich oder seriell – und auf welche Weise sie wieder abgerufen wird. In einer Studie von Todman und Seedhouse sollten Kinder als ARBEITEN VON STUDIERENDEN |81 MATHEMATIK MIT KINDERN, DIE SCHWERHÖRIG ODER GEHÖRLOS SIND Bettina Lorenz Antwort auf ein willkürlich paarweise zusammengesetztes Signal mit einer Aktion antworten, zum Beispiel auf ein Quadrat vor einem rosa Hintergrund den Mund öffnen. Im ersten Schritt mussten sie eine große Anzahl dieser paarweise zusammengesetzten Signale und die dazu gehörenden Antworten lernen. Anschließend konnte das Gedächtnis je nach Präsentation (räumlich oder seriell) getestet werden. Bei der räumlichen Präsentation – hier wurde eine Matrix mit vier Mustern gezeigt, nach dem Zudecken mussten die vier Aktionen mit den Plätzen gepaart werden – schnitten die gehörlosen Kinder besser ab als die hörenden. In der seriellen Präsentation wurden die Figuren nacheinander gezeigt. Mussten nun die Antwortaktionen in der richtigen Reihenfolge erfolgen, waren die hörenden Kinder besser. Durften die Kinder in diesem Test in einer freien Reihenfolge antworten, gab es keine Unterschiede zwischen den beiden Testgruppen. Die Art der Präsentation und die Form der Abfrage beeinflussen also die Ergebnisse (vgl. Nunes 2004: 25-26). Weitere internationale Studien bestätigen die besonderen Stärken bei der räumlichen Vorstellung sowie die spezifischen Schwächen Hörgeschädigter beim ‚serial recall’ (vgl. Kramer 2007: 156-160). Leider haben Studien gezeigt, dass schon gehörlose Vorschulkinder beim Erlernen der Zahlenreihe (sowohl der lautsprachlichen als auch der Zahlenreihe in der Gebärdensprache) einen Rückstand zeigen. Das scheint nicht an den Regeln der Zahlbildung zu liegen, sondern dürfte einerseits damit zusammenhängen, dass für das Einprägen und Erlernen der Zahlenreihe der ‚serial recall’ notwendig ist, was für gehörlose Kinder bei einer größeren Anzahl einfach schwieriger ist. Dazu könnten auch noch äußere Umstände, wie z.B. kleinere Klassen, einen Einfluss haben, da die Kinder dadurch weniger Möglichkeiten erhalten, höhere Zahlen abzuzählen. Dieser Mangel an Erfahrung kann nur ausgeglichen werden, wenn LehrerInnen und BetreuerInnen schon in der Vorschulzeit 82| ARBEITEN VON STUDIERENDEN mehr Zeit für das Zählen aufwenden (vgl. Nunes 2004: 33-34). In einer weiteren Untersuchung beobachteten Nunes und Moreno gehörlose Kinder beim Abzählen. Für das Abzählen und damit das Erkennen der Anzahl der Objekte ist es notwendig, eine Eins-zu-eins-Korrespondenz der Gegenstände mit den Zahlwörtern herzustellen. Hörende Kinder benutzen dabei oft eine Hand, um auf einen Gegenstand zu zeigen, gleichzeitig sprechen sie das Zahlwort. Nunes und Moreno zeigten, dass das Hinweisen mit der einen Hand auf ein Objekt und das gleichzeitige Gebärden mit der anderen Hand gehörlose Kinder verwirrte. Sie waren sich oft nicht mehr sicher, ob sie ein Objekt bereits gezählt hatten oder nicht und fingen daher wieder von vorne an zu zählen. Kinder, die die Gebärde mit dem Zeigen auf das Objekt kombinierten, waren erfolgreicher und konnten besser abzählen. Es scheint daher für ein gehörloses Kind leichter zu sein, mit der zählenden Hand auf das Objekt hinzuweisen, d.h., die zahlengebärdende Hand zeigt gleichzeitig auf den Gegenstand, als diese beiden Bewegungen zu trennen (vgl. Nunes 2004: 35-36). In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass Nunes und Moreno Kinder untersuchten, die British Sign Language verwenden. In dieser Gebärdensprache wird einhändig gezählt. In unserem Sprachraum wäre es gar nicht möglich, mit einer Hand auf den Gegenstand zu zeigen und mit der anderen Hand zu zählen, da für die jeweilige Gebärde der Zahlen auch beide Hände benötigt werden. Erfreulich ist, dass sich die zusammengezogene Gebärde – hier wird der Zeigevorgang in die Zahlgebärde inkorporiert – als der erfolgreichere Weg herausgestellt hat, da diese Möglichkeit auch Gebärdensprache verwendenden Kindern im deutschen Sprachraum offen steht. Für Kinder, die schwerhörig oder gehörlos sind, sind Textaufgaben eine besondere He Bettina Lorenz MATHEMATIK MIT KINDERN, DIE SCHWERHÖRIG ODER GEHÖRLOS SIND rausforderung. Erstens einmal müssen sie den Text erfassen, zweitens soll dann eine richtige Lösung ermittelt werden. Um die Probleme dabei besser verstehen zu können, ist es notwendig, diverse Aufgaben bzw. Gedankengänge genau zu analysieren, um im Sinne von Modellbildung mit den SchülerInnen Lösungswege erarbeiten zu können. Als Beispiel seien hier Austauschprobleme, die der additiven Logik zuzuordnen sind, angeführt. inversen Problemen, wie x + a = b und x – a = b, müssen jedoch gleichzeitig sowohl die Veränderung der Situation als auch die der Quantität der Mengen beachtet und daraus die Schlussfolgerungen gezogen werden. Daher bedeuten sie für alle Kinder eine größere Herausforderung. Trotzdem fällt auf, dass gehörlose und schwerhörige Kinder damit statistisch gesehen signifikant mehr Schwierigkeiten haben (vgl. Nunes 2004: 55-56). Addition und Subtraktion werden auch bei Gehörlosen meistens als Hinzufügen zu bzw. Wegnehmen von einem Ganzen unterrichtet. Dabei handelt es sich jedoch um Prozeduren, die nicht helfen, Aufgabenstellungen desselben Typs erkennen und lösen zu können. Durch Modellbildung jedoch könnte die Logik eines Systems verstanden, die einzelnen Aufgaben später dem jeweiligen Typ zugeordnet und alle damit zusammenhängenden Probleme gelöst werden (vgl. Nunes 2004: 51). Um das Problemlöseverhalten dieser Kinder genauer zu untersuchen, wurden ihnen von Moreno Rechengeschichten wie: ‚Ein Bub hatte Spielsachen, sein Vater schenkte ihm noch welche dazu’, erzählt. Zu derartigen Texten wurden den Kindern zwei Bilder gezeigt (ein Kind mit wenigen Spielsachen und dasselbe Kind mit mehr), die sie nun in die richtige Reihenfolge bringen mussten. Für das Lösen der Aufgaben waren keine numerischen Angaben notwendig – die Kinder mussten also nicht rechnen. Sie sollten nur aus dem Zusammenhang erkennen, ob sich die Anzahl der Gegenstände vergrößert oder verkleinert hätte. In dieser Untersuchung wurden ca. achtjährigen SchülerInnen acht verschiedene, derartige Fragen gestellt. Es zeigte sich, dass die gehörlosen Kinder bei direkten Problemen gleich gute Ergebnisse erzielten wie hörende. Inverse Probleme fielen allen Kindern schwerer. Trotzdem schnitten hier die gehörlosen Kinder signifikant schlechter ab als die hörenden. Das Mittel der richtigen Antworten bei den Hörenden war 6,7; bei den Schwerhörigen und Gehörlosen lag es nur bei 3,0. Da keine numerische Antwort erwartet wurde, können die Probleme der Kinder mit einer Hörbeeinträchtigung allerdings nicht mit möglichen schlechteren Zählfähigkeiten erklärt werden. Dieser Typ von Textaufgaben beinhaltet jedoch eine zeitliche Abfolge (vorher – nachher), wodurch die Reihenfolge der Ereignisse nicht verändert werden darf; gleichzeitig muss erkannt werden, wie sich die Mengen verändert haben. Für das Lösen dieser Aufgaben sind daher mehrere Austauschprobleme sind gekennzeichnet durch eine Anfangsgröße, eine Änderung der Größe und einen Endstatus. Daraus lassen sich unterschiedliche Textaufgaben mit unterschiedlichen Strukturen ableiten: 1. Anfangsgröße und Änderungsrate sind bekannt, die Endgröße ist gesucht. 2. Anfangs- und Endgröße sind bekannt, die Änderungsrate ist gesucht. 3. Änderungsrate und Endgröße sind bekannt, die Anfangsgröße ist gesucht (inverse Probleme). Da die Änderungsrate jeweils steigend oder fallend sein kann, ergeben sich im Ganzen sechs verschiedenen Untergruppen: a + b = x und a – b = x; c + x = d und c – x = d; x + e = f und x – e = f Die Fälle a + b = x bzw. a – b = x, die auch als direkte Probleme bezeichnet werden, sind für die Kinder die einfachsten. Bei den ARBEITEN VON STUDIERENDEN |83 MATHEMATIK MIT KINDERN, DIE SCHWERHÖRIG ODER GEHÖRLOS SIND Bettina Lorenz aufeinanderfolgende Schritte notwendig. Nunes folgert daraus, dass bei diesen Problemen ein ‚serial recall’ notwendig ist, der eben Kindern mit einer Hörbehinderung sehr schwerfällt (vgl. Nunes 2004: 53-56). Bis zu dieser Untersuchung nahm man an, dass die Schwierigkeiten von gehörlosen Kindern, Probleme zu lösen, mit ihren Leseschwierigkeiten erklärt werden könnten. Morenos Versuche weisen nun darauf hin, dass zur Verbesserung des Problemlöseverhaltens der Fokus mehr auf Mathematik gelegt werden muss. Es wird sogar vermutet, dass dadurch auch die sprachlichen Fähigkeiten der Kinder verbessert werden könnten (vgl. Nunes 2004: 58-59). Besonders bei inversen Problemen beeinflussen unterschiedliche Wege der Präsentation der numerischen Information den Erfolg von gehörlosen Kindern. Das formale Rechnen steht hier oft nicht im Zusammenhang mit der eigentlichen Aufgabe. Um jedoch die grundsätzliche additive Logik verstehen und daraus Modelle bilden zu können, benötigen die Kinder praktische Erfahrungen und Kenntnisse (vgl. Nunes 2004: 63). Daneben sollte versucht werden, das Potenzial der räumlichen Kodierfähigkeit von Kindern mit einer Hörbeeinträchtigung zu nutzen (vgl. Nunes 2004: 82). Aufgrund ihrer Erfahrungen entwickelten Nunes und Moreno ein Interventionsprogramm, das das Problemlöseverhalten der Kinder verbessern und dafür geeignete Unterrichtsmittel anbieten sollte. In einer Langzeitstudie (Dauer ca. ein halbes Jahr) wurde dieses Programm von sechs Lehrkräften bei 23 Kindern getestet und die Aufgaben sowie die logischen Prinzipien, die sie beinhalteten, im LehrerInnenkreis diskutiert. Das Förderprogramm soll den Kindern helfen, informelle mathematische Konzepte kennenzulernen, 84| ARBEITEN VON STUDIERENDEN bzw. Verbindungen zwischen informellen und formellen Konzepten schaffen zu können. Außerdem sollen gehörlosen Kindern durch das Zeichnen von Diagrammen neue Zugänge zu Informationen eröffnet werden (vgl. Nunes 2004: 67-68). Das Material des Interventionsprogramms ist visuell aufgebaut; zusätzlich dürfen die SchülerInnen die Repräsentanten der Probleme aufzeichnen. Die Aufgaben sind nach den Themen ‚Aufgaben zu additiven Zusammensetzungen, Zahlen und Größen’, ‚Aufgaben zum additiven Verständnis’ und ‚Aufgaben zum multiplikativen Verständnis’ geordnet. Innerhalb dieser Abschnitte sind die Aufgaben nach dem Grad der Schwierigkeit sortiert (vgl. Nunes/Moreno 1998: 2). Mittels eines Vor- und eines Nachtests konnten Nunes und Moreno nachweisen, dass sich die mathematischen Fähigkeiten der Kinder, die am Interventionsprogramm teilnahmen, signifikant verbesserten (vgl. Nunes 2004: 159-161). Das Interventionsprogramm wurde von mir im Rahmen meiner Bachelorarbeit übersetzt und für den deutschen Sprachraum adaptiert und kann dort nachgelesen und im Unterricht eingesetzt werden. Literatur: Iversen, Wiebke (2008): Keine Zahl ohne Zeichen. Der Einfluss der medialen Eigenschaften der DGS-Zahlzeichen auf deren mentale Verarbeitung. Dissertation. URL:http://darwin.bth.rwth-aachen.de/opus3/volltexte/2009/2654/pdf/Iversen_Wiebke.pdf [Stand: 18.10.2009]. Kramer, Florian (2007): Kulturfaire Berufseignungsdiagnostik bei Gehörlosen und daraus abgeleitete Untersuchungen zu den Unterschieden der Rechenfertigkeiten bei Gehörlosen und Hö-renden. Dissertation. URL: http:// darwin.bth.rwth-aachen.de/opus3/volltexte/2007/1929/pdf/Kramer_Florian.pdf [Stand: 15.02.2011]. Lorenz, Bettina (2010): Mathematik mit Kindern, die schwerhörig oder gehörlos sind. Bachelorarbeit an der Pädagogischen Hochschule Salzburg. Nunes, Terezinha (2004): Teaching Mathematics to Deaf Children. London and Philadelphia: Whurr Publishers. Nunes, Terezinha / Constanza Moreno (1998): Addressing the Communication Needs of Deaf children in the Mathematics Classroom: General instructions. Per E-Mail am 19.2.2009 zur Verfügung gestellt. Friedrich J. Drechsler KINDER BEI TOD UND TRAUER BEGLEITEN Kinder bei Tod und Trauer begleiten Raimund, Sagmeister - rezensiert von Friedrich J Drechsler Der Schulalltag wird immer wieder von Tod und Trauer überschattet Diese grundlegenden Erfahrungen gehen an Kindern und Jugendlichen nicht spurlos vorüber LehrerInnen und Schulen sind herausgefordert, SchülerInnen in diesen prekären Situationen eine adäquate Unterstützung und Hilfestellung anzubieten Vielfach werden Tod und Trauer in unserer Gesellschaft tabuisiert und verdrängt Raimund Sagmeister hat eine sehr gute und praktische Handreichung für PädagogInnen verfasst, in der er sich diesem Problemfeld stellt Er geht dem Phänomen „Trauer“ sehr tiefgründig nach und legt in seinem Buch „Kinder bei Tod und Trauer begleiten – eine Aufgabe der Schule“ Grundlagen für eine adäquate Trauerbegleitung dar Nach einer differenzierten Darlegung des komplexen Phänomens der „Trauer“ werden verschiedene psychologische Konzepte des Trauerprozesses von renommierten PsychologInnen ausführlich erörtert, wie z B das fünfphasige Konzept von Kübler-Ross über den psychischen Prozess Sterbender, das sich auf den Trauerprozess und die Aufgaben der Trauerbewältigung übertragen lässt und als Grundlage neuerer Ansätze dient Erwähnung finden im Buch aber auch die Konzepte von Y Spiegel, J Bowlby, M Schilbilsky, V Kast und anderen Rituale, vor allem Trauer-, Abschieds- und Beerdigungsrituale, dienen dem positiven Verlauf eines Trauerprozesses Licht, Kerzen, Blumen, Naturmaterialien, Musik und vielerlei Formen gemeinschaftlicher Vollzüge unterstreichen diese Rituale Sie spielen in der Trauerbegleitung eine sehr wichtige Rolle, da sie symbolhaft und kreativ, in gemeinschaftlicher Verbundenheit und Anteilnahme, der Trauer Sprache, Ausdruck und Gestalt ver- leihen und starke Zeichen der Hoffnung setzen können Sie bieten Halt und Orientierung, wenn der persönliche Gefühlshaushalt großen Schwankungen ausgesetzt ist Raimund Sagmeister befasst sich eingehend mit den altersabhängigen Todesvorstellungen von Kindern und Jugendlichen, die sehr oft mit entsprechenden Ängsten und Phantasien verbunden sind Diese entwicklungspsychologischen Kenntnisse sind für PädagogInnen eine große Hilfe, um Kinder und Jugendliche einfühlsam und verständnisvoll in ihren Trauerprozessen begleiten zu können Abschließend werden die Voraussetzungen für die Begleitung von Kindern und Jugendlichen bei Tod und Trauer durch die Schule und die im Umgang mit Tod und Trauer verbundenen Schwierigkeiten dargelegt Die Trauerbegleitung setzt ein bestimmtes Anforderungsprofil voraus PädagogInnen sollen sowohl ein Einfühlungsvermögen in die Gefühls- und Gedankenwelt als auch das Wissen um die Gesetzmäßigkeit innerpsychischer Prozesse, vor allem des Trauerprozesses, aufweisen Darüber hinaus sind Kenntnisse über Regeln der Gesprächsführung hilfreich Raimund Sagmeister spricht sehr ausführlich Aspekte konkreter Begleitung von trauernden Kindern und Jugendlichen an und setzt sich sehr intensiv mit den spezifischen Aufgaben für eine Trauerbegleitung in der Schule auseinander Anmerkung: Der Autor des Buches, Raimund Sagmeister, ist Professor für Religionspädagogik an der Pädagogischen Hochschule Salzburg Literatur: Sagmeister, Raimund (2010): Kinder bei Tod und Trauer begleiten Eine Aufgabe der Schule Saarbrücken: VDM REZENSIONEN |85 KOMPETENTE BERATUNG IN DER SCHULE Ewald Moser Kompetente Beratung in der Schule Andrea Magnus - rezensiert von Ewald Moser „Kompetente Beratung in der Schule“ von Andrea Magnus ist ein wichtiges Buch in der Diskussion über die Frage, welche Kompetenzen die Lehrerrolle in der heutigen Zeit umfassen sollte Die Autorin beschreibt auf Grundlage wesentlicher Literaturquellen hilfreiche theoretische Modelle und überprüft empirisch, inwieweit ihnen im gegenwärtigen Schulalltag entsprochen wird Auch die Praxis der Kooperation mit außerschulischen Diensten wird hinterfragt und aufgezeigt, dass künftighin sowohl in der theoriegeleiteten Beratungsarbeit als auch in der differenzierten Nutzung von Helferinstitutionen Verbesserungen notwendig sind „Fachkompetenz allein genügt nicht, um die Herausforderungen zu bewältigen“, postuliert Andrea Anna Magnus, selbst Hauptschullehrerin, am Beginn des Einführungsteiles Was aber gehört noch dazu? Schon die Durchsicht des Literaturverzeichnisses lässt fundierte Aussagen erwarten, sind doch unter den AutorInnen auch die großen Namen Rogers, Watzlawick und Schulz von Thun prominent zitiert Tatsächlich gelingt es der Autorin darzustellen, dass Beratung, wenn sie kompetent bei alltäglichen Schulproblemen und deren Bewältigung eingesetzt wird, die Professionalität von Lehrkräften wesentlich erweitert Dazu gehört auch das Erkennen der Grenze zu Störungen und Krankheitsbildern, die der Unterstützung externer Dienste bedürfen In einem weiteren Kapitel führt die Autorin kurz in die Entwicklungsgeschichte der pädagogisch-psychologischen Beratung ein und beschreibt schulische Konfliktsituationen als besonders relevante Beratungsanlässe In weiterer Folge werden notwendige Schritte zum Erwerb der beschriebenen Kompeten- 86| REZENSIONEN zen in der Aus-, Fort- und Weiterbildung von LehrerInnen dargestellt Besonders wertvoll erscheint mir das folgende Kapitel, in dem die Autorin eine theoriegeleitete schulische Beratungsarbeit beschreibt, die Rolle und die Kompetenz von BeraterInnen klärt und hilfreiche theoretische Modelle hinsichtlich ihrer Praxistauglichkeit benennt In einem anschließenden empirischen Teil untersucht Frau Magnus Fragen des theorieorientierten Handelns von Lehrkräften: Theoriewissen, Einstellungen zu Aus-, Fort- und Weiterbildung sowie Wissen um verfügbare außerschulische Beratungs- und Therapieeinrichtungen Dazu wird ein selbsterstellter Fragebogen mit statistischen Auswertungen vorgelegt Die genaue Ergebnisdarstellung erleichtert das Verstehen der zusammengefassten Ergebnisse und deren Diskussion Die Schlussfolgerungen zeigen auf, „dass es in der Beratungskompetenz von Lehrkräften Verbesserungspotentiale gibt“ Dazu werden Seminarkonzepte und Ablaufplanungen angeboten Abschließend gibt die Autorin einen Überblick über außerschulische Beratungsangebote in Salzburg und verweist damit auf eine Reihe fachverwandter Einrichtungen in Ergänzung zu Schulpsychologie und Jugendamt Eine wichtige und fundierte Arbeit, besonders für LehrerInnen, die eine fachkundige Orientierung in ihrer persönlichen Fortund Weiterbildungsplanung suchen Anmerkung: Andrea Magnus, die Autorin des Buches, lehrt an der Praxishauptschule und an der Pädagogischen Hochschule Literatur: Magnus, Andrea (2010): Kompetente Beratung in der Schule Theorieorientierung im Alltagshandeln von Lehrkräften Saarbrücken: VDM Autorinnen und Autoren Ausgabe 4/2011 Jürgen Bauer Bakk. phil. MA: Lehramt für HS (M, BU, GZ, BO) und PTS. Studium der Erziehungswissenschaft an der Universität Salzburg, Koordinator des Projektbüros A-Z, Genderbeauftragter und Lehrender in der Aus-, Fort- und Weiterbildung an der PH Salzburg, externer Lehrbeauftragter an der Schule für Kinder- und Jugendlichenpflege Salzburg. Ursula Buchner Maga. Dipl.Päd.: Lehramt für den ernährungswirtschaftlichen und haushaltsökonomischen Fachunterricht an berufsbildenden mittleren und höheren Schulen, Studium Psychologie und Pädagogik, Ausbildung in Gesprächspsychotherapie, Universitätslehrgang für Fach- und Verhaltenstrainer. Seit 1986 Lehrtätigkeit in der Aus-, Fort- und Weiterbildung im Fachbereich Ernährung und Haushalt an der Pädagogischen Akademie bzw. Hochschule Salzburg. Myriam Burtscher Maga.phil. Dipl.Päd.: Lehramt für Volksschule, Studium der Erziehungswissenschaft an der Universität Salzburg, Mitarbeiterin an der PH Salzburg in der VS-Ausbildung Mathematik-Didaktik, Referentin in der Fort- und Weiterbildung Bildungsstandards Mathematik. Rudolf de Cillia Professor für Angewandte Linguistik und Sprachlehrforschung am Institut für Sprachwissenschaft der Universität Wien. Forschungs- und Publikationstätigkeit zu folgenden Gebieten: Sprachlehrforschung, Sprachenpolitik und Sprachplanung, Sprache und Politik, sprachliche Minderheiten, Migrationsforschung, kritische Diskursanalyse und linguistische Vorurteilsforschung. Friedrich J. Drechsler Mag: maturierte am Humanistischen Gymnasium der Herz Jesu Missionare, studierte Theologie an der Universität Salzburg. Koordinator für die Allgemeine Pflichtschule am Institut für Religionspädagogische Bildung der KPH-Edith Stein in Salzburg. Hans-Peter Gottein Prof. Dipl. Päd. MA: Lehramt für Hauptschulen (E, GW) an der PÄDAK Salzburg, Studium der Erziehungswissenschaften an der Universität Salzburg, Hochschullehrer an der PH Salzburg im Bereich der Aus-, Fort- und Weiterbildung. Maria Haderer Akademische Lehrerin für Gesundheitsberufe: Nach 6-jähriger Berufstätigkeit als diplomierte Kinderkrankenschwester 15 Jahre Lehrtätigkeit an einer Gesundheits- und Krankenpflegeschule, Leitung eines Bachelor-Studiengangs Gesundheits- und Krankenpflege. Derzeit Studium der Soziologie an der Universität Salzburg. AUTORINNEN / AUTOREN |87 Autorinnen und Autoren Ausgabe 4/2011 Barbara Herzog Dipl.Päd. Bakk.phil.: Lehramt für Volks- und Sonderschulen, Studium der Pädagogik an der Universität Salzburg, Mitarbeiterin an der PH Salzburg in Aus-, Fort- und Weiterbildung, Referentin, Koordinatorin der Pädagogischen Werkstatt Pinzgau (PWP). Bettina Lorenz Dipl.Päd. BEd: Lehramt für kath. Religion und Mathematik, unterrichtet seit 2003 kath. Religion an der Josef Rehrl Schule Salzburg (Volks- und Hauptschule für gehörlose und schwerhörige Kinder). Lutsch, Christian Mag. Dr.: Lehramtsstudium für die Unterrichtsfächer Englisch und Französisch, Doktorat in anglistischer Linguistik; Lehrer an den Tourismusschulen Salzburg Klessheim, Leiter der Arbeitsgruppe Englisch an humanberuflichen Schulen in Salzburg; LehrerInnen Fort- und Weiterbildung im Bereich Fremdsprachen an Berufsbildenden höheren und mittleren Schulen und im Lehrgang Berufsbezogene Fremdsprache Englisch an Berufsschulen an der Pädagogischen Hochschule Salzburg. Angelika McMahon Dipl. Päd.: Pädagogische Hochschule Salzburg, Institut für Lebensbegleitendes Lernen APS (Lehrer/innenfort- und Weiterbildung für allgemeinbildende Pflichtschulen). Arbeitsbereiche: Schulmanagement, Schulentwicklung, Neue Mittelschule, Fachdidaktik und Bildungsstandards Englisch. Ewald Wolfgang Moser Dr.phil.: Studium Psychologie und Pädagogik an der Universität Salzburg. Klinischerund Gesundheitspsychologe. Leitender Schulpsychologe beim Landesschulrat für Salzburg. Irene Moser Dipl. Pädin. Bakk. phil. MA: Lehramt für Sonderpädagogik und Ergänzungsstudien, Studium der Erziehungswissenschaften. Lehrende in der Aus-, Fort- und Weiterbildung der PH Salzburg mit den Schwerpunkten Inklusionspädagogik und Schulenwicklung. Nationale Koordinatorin der “European Agency for Development in Special Needs Education” von 1999-2010. Heike Niederreiter Maga.: Lehramt für Volksschule, Studium der Erziehungswissenschaften an der Universität Salzburg, Lehrtätigkeit in der Ausbildung der Pädagogischen Hochschule. 88| AUTORINNEN / AUTOREN Autorinnen und Autoren Ausgabe 4/2011 Silvia Nowy-Rummel Maga.Dipl. Päd.: Lehrende an der Praxisvolksschule und Pädagogischen Hochschule Salzburg. Studium der Erziehungswissenschaften an der Universität Salzburg und Feministisches Grundstudium am Rosa Mayreder College. Schwerpunkte in der Frauen- und Mädchenarbeit im Gender Mainstreaming, sowie e-Learning in der VS. Tätigkeit als Seminar- und Workshopleiterin, Gutachterin Josef Sampl Mag. Dr.: Studium der Fachbereiche Deutsch, Psychologie, Philosophie und Pädagogik an der Universität Salzburg, Lehrer an Volks-, Haupt- und Mittelschulen, Universitätslektor in Klagenfurt (1976-1979) und Salzburg(1977-1995), Mitarbeit in zahlreichen Fachgremien des Bildungsministeriums, Präsident des Landesschulrates für Salzburg von 1994 bis 1996, Rektor der Pädagogischen Hochschule Salzburg. Josef Schlömicher – Thier Dr.med.FA-HNO: Gesangsstudium in Graz, Arzt für Arbeitsmedizin, Stimmarzt der Salzburger Festspiele, Ordination in Neumarkt a. W., Vorsitzender des Austrian Voice Institutes, Europasekretär der internat. Gesellschaft der Stimmärzte / COMED, Abgeordneter zum Salzburger Landtag, seit 2002 Lehrbeauftragter der Pädagogischen Hochschule Salzburg: Stimmbetreuungsprojekt „Stimmenscanning-Stimmtraining“. Christine Schober Bakk. phil. MA: Volksschullehrerin und Volksschuldirektorin, Lehrbeauftragte an der Pädagogischen Hochschule Salzburg im Bereich Humanwissenschaften; Studium der Erziehungswissenschaften an der Universität Salzburg. Christian Treweller Diplompädagoge (Lehramt für Volksschule), Diplomierter Sozialarbeiter, Studium der Erziehungswissenschaften im Diplomarbeitsstatus. Lehrbeauftragter an der Pädagogischen Hochschule Salzburg, Leiter der Sozialen Initiative Salzburg, Mitglied im Behindertenbeirat der Stadt Salzburg. Hannes Tropper (amtlich: Johann) Mag.art. Dipl.-Päd.: Lehramt für Hauptschulen, Studium an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Graz, Gesang und Sprecherziehung, Internat. Zertifikat für Atemrhythmisch Angepasste Phonation (AAP) , stellv. Vorsitzender des Austrian Voice Institute; Präsidium „stimme.at“, Referent i.d. Erwachsenenbildung, LehrerInnenfort- und –weiterbildung, Lehrbeauftragter der Pädagogischen Hochschule Salzburg seit 2002 mit dem Projekt „Berufsstimmvorsorge“. Elfriede Windischbauer Profin. Maga. Drin.: Studium der Geschichte und Deutschen Philologie an der Univ. Salzburg, Lehramt für HS an der PÄDAK. Lehrerin an verschiedenen HS, Fachdidaktikerin für Geschichte und Politische Bildung an der PH Salzburg. Seit 2008 Leiterin des Instituts für Didaktik und Unterrichtsentwicklung an der PH Salzburg, Mitarbeiterin der Zentralen Arbeitsstelle für Geschichtsdidaktik und Politische Bildung (Fachbereich Geschichte an der Universität Salzburg). AUTORINNEN / AUTOREN |89 ph.script Beiträge aus Wissenschaft und Lehre Pädagogische Hochschule Salzburg Ausgabe 04/2011 erscheint ein- bis zweimal jährlich Impressum: Medieninhaberin, Verlegerin: Pädagogische Hochschule Salzburg Akademiestraße 23 A- 5020 Salzburg Herausgeber: Rektorat der Pädagogischen Hochschule Salzburg Rektor Dr. Josef Sampl Redaktion: Ursula Buchner, Peter Haudum, Christoph Kühberger, Hubert Mitter, Heike Niederreiter, HansPeter Priller, Dorothea Rucker, Elisabeth Seitlinger, Elfriede Windischbauer, Günter Wohlmuth Chefredaktion: Elfriede Windischbauer Layout/Satz: Hans-Peter Priller Lektorat: Peter Haudum Fotos: Günter Wohlmuth Druck: Huttegger, Salzburg Offenlegung gemäß § 25 Mediengesetz: ph.script ist die Informationsschrift der Pädagogischen Hochschule Salzburg und enthält Beiträge aus Wissenschaft und Lehre. Im Zentrum stehen Informationen über Aspekte der LehrerInnen-Bildung, wissenschaftliche Arbeiten, Projekte, Kooperationen und Publikationen von MitarbeiterInnen der Pädagogischen Hochschule Salzburg. Die veröffentlichten Beiträge geben nicht notwendigerweise die Meinung des Herausgebers wieder. Haftungsausschluss: Sämtliche Angaben in dieser Zeitschrift erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr. Eine Haftung der AutorInnen, der Verlegerin und des Herausgebers ist ausgeschlossen. Nutzungsbedingungen: Nachdruck oder sonstige Wiedergabe und Veröffentlichung, elektronische Speicherung und kommerzielle Vervielfältigung, auch einzelner Beiträge, können nur mit schriftlicher Genehmigung der Medieninhaber erfolgen. Inhalt Inhaltsverzeichnis Heterogenität in Schule und Unterricht Wohin die Reise geht Berufswahl im Spannungsfeld von Geschlecht und Zeitgeist Lehrgang „Berufsbezogene Fremdsprache Englisch“ Heterogenität in der Neuen Mittelschule Es war einmal ... eine homogene Lerngruppe Dialog der Esskulturen Die Berufsstimme am Stimmarbeitsplatz Schule Mehrsprachige Gesellschaft - zweisprachige Schulen „Cora kocht und Bernhard baut - Oder doch nicht?“ Aus anderer Sicht - ein Projekt an der Pädagogischen Hochschule Salzburg Das Lesetagebuch als Beitrag zur individuellen Leseförderung Differenzierung durch Komplexität - Heterogenität im Mathematikunterricht begegnen Impulse der internationalen Zusammenarbeit für inklusive Pädagogik in Österreich Mathematik mit Kindern, die schwerhörig oder gehörlos sind Rezensionen Autorinnen und Autoren 1 2 3 7 13 17 25 32 41 48 56 60 65 69 74 79 83 85 Ausgabe 04 2011 Pädagogische Hochschule Salzburg Beiträge aus Wissenschaft und Lehre