Mobilität als Schicksal: Zwei süddeutsche Matrosen auf
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Mobilität als Schicksal: Zwei süddeutsche Matrosen auf
Frank Meier Mobilität als Schicksal: Zwei süddeutsche Matrosen auf holländischen Kriegsschiffen des 18. Jahrhunderts Christian Bantlen und Johann Jakok Weberbeck Der Zwang zur Mobilität bestimmte über Jahrhunderte hinweg das menschliche Leben sehr viel stärker als im heutigen Europa. Je weiter wir in die Geschichte zurückblicken, um so weniger wissen wir über tragische Einzelschicksale. Dies gilt auch für harte Leben auf den Kriegsschiffen der europäischen Mächte im 18. Jahrhundert. Nur wenige authentische Zeugnisse der Matrosen, die oft aus allen Herren Ländern Europas kamen, um an Bord zu einer Gemeinschaft zusammenwachsen zu müssen, haben sich erhalten. Zwar gibt es hier und da noch Soldbücher, deren Seiten über Namen, Herkunftsort, An- und Abmusterung sowie über die Heuer Auskunft geben – die meisten Einzelschicksale jedoch verlieren sich im Dunkel der Geschichte. Und um zwei dieser armen Matrosen geht es: um den Tagelöhner Christian Bantlen aus Balingen und den Nadlergesellen Johann Jakob Weberbeck aus Isny.1 1 Vgl.: Frank Meier, Von Heselwangen auf ein Kriegsschiff - die Odyssee eines Tagelöhners im 18. Jahrhundert, in: 793 - 1993: 1200 Jahre Endingen, Frommern, Heselwangen, Weilstetten, Zillhausen. Veröffentlichungen des Stadtarchivs Balingen, Band 5, Balingen 1993, S. 407-410; Erlebnisse des J. Weberbeck auf einem holländischen Kriegsschiff 1780-1783, in: Allgäuer Geschichtsfreund, Neue Folge Nr. 38, 1935, S. 32 - 44, S. 43. 1 Das Soldbuch des niederländischen Linienschiffes „Gelderland“ Das erhalten gebliebene Soldbuch des niederländischen Linienschiffes „Gelderland“ aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert enthält die Namen und Herkunftsorte von Seeleuten aus allen Gegenden Europas. Es wurde bislang nicht ediert. So verzeichnet es für den 15. April 1783 die Einschreibung von Christiaan Bantele van Balinge als Matrose, um dessen Lebensschicksal es hier geht. Der Werber Hageman bekam für die Anwerbung des württembergischen Tagelöhners Algemeen Rijksarchief. Archieven der Admi- am 6. Mai 131 Gulden ausbezahlt. ralteitscolleges. Inv. Nr. 2176, Soldbuch der Am 12. April 1783 erhielt Christian “Gelderland”. Bantlen eine erste Heuer von 15 Gulden. Die nächsten Handgelder sind in unregelmäßiger Reihenfolge mit wechselnden Beträgen aufgeführt. Am 9. Juli 1785 erhielt Christian Bantlen seine letzte Bezahlung mit dem Vermerk Aff op. Capt. Boot.2 Christian Bantlen hat in seinen zwei Jahren als Matrose auf der „Gelderland“ 404 Gulden an Heuer bekommen. Das Soldbuch vermerkt den Betrag von 535 ½ Gulden, wovon die 131 ½ Gulden für die Anwerbung abzuziehen sind. 2 Algemeen Rijksarchief. Archieven der Admiralteitscolleges. Inv. Nr. 2176, fol. 256. 2 Algemeen Rijksarchief. Archieven der Admiralteitscolleges. Inv. Nr. 2176, fol. 256, Soldbuch der “Gelderland”. Im 4. Englisch-niederländischen Krieg 1780-84 wurde die Anwerbesumme von 50 Gulden auf über 100 Gulden erhöht und die Heuer der Seeleute stieg von 3 durchschnittlich 14 Gulden auf 16 Gulden.3 Werber war ein lukrativer Beruf. Denn ein Matrose auf einem holländischen Kriegsschiff mit einer durchschnittlichen Heuer von 15 Gulden monatlich musste, um auf den Betrag seines Anwerbers zu kommen, neun Monate zur See fahren – vorausgesetzt, er überlebte diese Zeit! Christian Bantlen auf der „Gelderland“ 1783-1785 Die „Gelderland“, auf der Christian Bantlen 1783-1785 Dienst tat, wurde 1781 auf der Werft der Admiralität von Amsterdam gebaut. Die Bewaffnung des Li- Engel Hoogerheyden, Niederländische Flotte aus der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts. www.artonline.nl/.../ catalog/hoogerheyden.jpg. 3 Jaap R. Bruijn, The Dutch Nayy of the seventeenth and eighteenth Centuries, Columbia, 5. Aufl. 1998, S. 199. 4 nienschiffes unter Kapitän Evert Christiaan Staring bestand aus 64 Kanonen, die Besatzung betrug ca. 450 Mann.4 Im Juli 1783 verließ die „Gelderland“, nun mit Christian Bantlen an Bord, zusammen mit sechs anderen Schiffen Amsterdam und nahm Kurs auf die Nordseeinsel Texel. Im November 1783 lief die „Gelderland“ den französischen Kriegshafen Toulon an. Um den Jahreswechsel 1783/84 segelte sie als Teil einer Flotte mit Geschenken für den Dey von Algier nach Nordafrika. Im März 1784 wurde die „Gelderland“ zur Küste von Flandern kommandiert, um dort als Teil eines Geleites auf die sogenannte Oost-Indische Retourvloot (Ostindische Re tourflotte) zu warten und die Kauffahrer nach Holland zu geleiten. Nach Erfüllung dieser Aufgabe finden wir das Linienschiff am 17. Juni 1784 im holländischen Hafen Vlissingen, um zusammen mit dem Schiff „De Lynx“ eine neue Geleitzugsaufgabe zu übernehmen. Am 29. Oktober erreichte die „Gelderland“ wieder den Vlissinger Hafen. Am Karte der Niederlande. http://www.blc.berlin.de/imperia/md/images/2 4 G. H. Bom, D`Vrijheid, 1781-1797, Geschiedenis van een vlaggeschip, Amsterdam/London 1897. www.histofig.com/naval/volie_didiers_hollande.html 5 12. Dezember 1784 begleitete sie mit den Schiffen „De Lynx“ und „Het Zeepard“ eine Handelsflotte nach West-Indien und kehrte im Juli 1785 von dieser Reise zurück. Christian Banten musterte ab. 1789 wurde das Schiff in Nieuwediep abgewrackt.5 Ein Zeugnis voller Tränen: Der Brief des Tagelöhners Christian Bantlen Heselwangen bei Balingen. http://www.balingen.de/ortsteil/heselwangen/o_hes01.jpg Christian Bantlen stammte aus der kleinen Gemeinde Heselwangen, die zum Oberamt Balingen im Herzogtum Württemberg zählte. Die meisten der Einwohner arbeiteten als Nebenerwerbslandwirte bzw. Tagelöhner im benachbarten Balingen. Christian Bantlen hatte die blanke Not auf die See getrieben. Von Bord 5 Ebd.; vgl. ebenfalls zur Geschichte der „Gelderland“: G. D. Bom Hgz., „D`Vrijheid“, 1781 – 1797, Gescheidenis van een vlaggeship, Amsterdam/London 1897. (Geschichte eines Flaggschiffs). Bildquellen: Bild von N. A. van Rijneveld beim Verlassen von Toulon; Stich von Engel Hoogerheyden van „De „Secrete Magt“ ter rede van Vlissingen in 1784“, Rijksmuseum „Nederlands Scheepvart Museum“ in Amsterdam. 6 des holländischen Kriegsschiffes „Gelderland“, die vor Texel lag, schrieb er am 23. August 1783 nach Haus. An und für sich nichts ungewöhnliches, ungewöhnlich aber, dass sein Brief erhalten blieb und erst 1789 sein Ziel erreichte.6 Dieser Brief, der dem Eintrag vom 20. April im Inventur- und Teilungsbuch der Gemeinde von 1790-1796 beigelegt ist, geht unter die Haut:7 Dieser Brief zukommen Herrn Conrad Jetter, Dorfsvogt in Heselwangen bey Balingen im Württemberger Land abzugeben in Balingen 5 Württemberger Land Heut. Dato. 23. Aug. 1783 In seiner Gnade einen herzlichen Gruß an Dich, herzlich geliebte Ehegattin, und auch an mein kleines Kind, wo ich gelassen habe. 10 Ich hoffe, meine wenigen Zeilen werden auch Weib und Kind wie auch meinen viele geliebten Schwagervater und Schwiegervater und auch meine Schwägerinnen in guter Gesundheit antreffen. Was aber mich anbelangt, bin ich allzeit reich und gesund, so lang Gott will. Ich will euch jetzt auch berichten, wo ich jetzt bin. 15 Ich habe Dienst genommen in Holland auf 4 Jahre. Wenn mir Gott das Leben schenkt, so kann ich mich mit Weib und Kind reichlich ernähren. Ich habe jeden Monat 15 Gulden und dabei Fleisch und Trank, freie bezahlte Kleidung. Wenn aber die zerrissen ist, so muss ich mich darin erhalten, wann das Schiff abgeht. Wir liegen jetzt vor der Insel Texel auf 6 Der Balinger Stadtarchivar Dr. Hans Schimpf-Reinhard machte mich 1992 auf diesen Brief aufmerksam mit der Bitte, einen Beitrag für die anstehende Festschrift daraus zu machen. 7 StA Balingen, Inventur- und Teilungsbuch 1790 – 1796, Eintrag vom 20. April 1790, Nr. 49. Beigefügter Brief des Christian Bantlen vom 23. Aug. 1783. 7 20 dem Meer. Unsere Bezahlung ist so gewiss sobald die vier Jahre vorüber sind, so ist die völlige Bezahlung. Da fehlt uns kein Heller. Das Schiff gehört dem Prinzen von Oranien, der Schiffskapitän heißt Stäring. Und das Schiff hat seinen Namen Gellerland. Die Größe kann ich nicht beschrei ben. Es hat 68 Kanonen, darauf die Anzahl von Männern sei 500. 25 Was für Brot, Fleisch, Bier und Wein darauf ist, Branntwein, Butter, Käse und Nahrungsmittel, dass ist unzählbar. Denn wir müssen uns auf drei oder vier Jahr versorgen. Ich weiß wohl, dass ich mich verzählt habe. Ich bete aber Tag und Nacht zu Gott, dass er mir meine Missetat vergeben wollte. 30 Ich weiß auch das, wenn ich wieder nach Hause komme, dass ihr mich das nicht vergelten lasst. Denn Gott der Allmächtige wird auch an die Seinen denken, dass ihr alle meine Missetaten vergesst. Denn ich will gewiss, wenn ich gesund bleibe, auch 300 Gulden nach Hause bringen. Ich bitte euch mit heißen Tränen, betet für mich, denn ich bin jetzt diese vier 35 künftigen Jahre allezeit auf dem Wasser. Das ist sicher mein Trost und meine Hoffnung, dass Gott zu Wasser ist als wie zu Land. Obgleich Mast und Segel bricht, lässt Gott die Seinen nicht [ohne] Hilfe, die er aufgeschoben hat. Er [hat] sie darum nicht aufgehoben. Hilft er nicht zu jeder Frist, so hilft er doch wenn es nötig ist. Jetzt kann ich es nicht unterlassen, 40 auch einen herzlichen Gruß an meinen herzlich geliebten Herrn Beichtva ter, Magister Hoffmann in Balingen [zu senden] und hoffe, sie wollen mich auch in ihr Gebet einschließen, insbesondere auch einen herzlichen Gruß an den Vorsteher der Gemeinde Heselwangen, namens Herrn Conrad Jetter, Dorfvogt, und bitte, er wolle mein Weib und Kind versorgen, 45 bis ich die Gnade von Gott erlange, dass ich sie selber versorgen kann. Jetzt will ich meiner Freundschaft auch gedenken und sie auch mit einem herzlichen Gruß begegnen. Viel geliebter Vetter Jacob Dreher, ich weiß, dass ihr alle, meine ganze Freundschaft, auch wollen für mich beten, auch 8 insbesondere meine geliebte Gevatterschaft und bitte, ihr wollt mein Kind 50 nicht verlassen. Weiteres kann ich euch auch diesmal nicht schreiben als einen tausendfachen Gruß an die ganze Freundschaft auf beiden Seiten. Ihr werdet mir nicht schreiben können, denn ich kann den Brief schwer lich bekommen. Doch wenn ihr schreiben wollt, so macht die Adresse an Johann Georg Vogel in Amsterdam, wohnt in Ren Armsteg im Goldenen 55 Löwen und auch den Brief sicher an Christian Bantle, Matrose auf dem Schiff Gellerland bei Kapitän Staring. Ich verbleibe euer getreuer Freund T. Christian Bantle bis in den Tod. Der unter Tränen geschriebene Brief macht deutlich, wie ein einfacher Mann um 1780 fühlte und dachte, wie er keinen Rat mehr wusste, als Frau und Kind zu verlassen, um unter Einsatz des eigenen Lebens auf einem holländischen Kriegsschiff anzuheuern. Eine historische Spurensuche Die kleine württembergische Gemeinde Heselwangen bei Balingen, besaß in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts etwa 80 Einwohner. Viele Leute arbeiteten als Tagelöhner oder Handwerker in Balingen. Die entsprechende Teilungsakte des Heselwanger Inventur- und Teilungsbuches der Jahre 1790 - 17968, in dem vor allem Besitz bzw. Hinterlassenschaften einzelner Bürger aufgelistet sind, erlaubt die Rekonstruktion der Geschichte der Familie des Christian Bantlen.9 8 GA Heselwangen, Inventur- und Teilungsbuch 1790 – 1796. 9 StA Balingen, Inventur- und Teilungsbuch 1790 – 1796. Eintrag vom 20. April 1790, Nr. 49, S. 62. 9 Heselwangen Balinger Oberamts Datum d. 20. Apr. 1790 5 in Gegenwart des Vogtes, Conrad Jetter, des Richerts, Hans Martin Kiefer Catarina, geb. Jetterin, verheiratete sich an Martini 1781 an Christian Bantlen, Tagelöhner, welcher aber nach Verfluss [von] 1 ¼ Jahr nach Amsterdam ging und von da aus nach Haus schrieb, dass er auf das 10 Wasser gehe und nach vier Jahren wieder mit seinem Gesparten heim kommen wolle. An dem 15. Mai 1789 aber die zweite Nachricht als vor geblicher 2. Konstabler auf dem holländischen Schiff Medemblik von Livorno aus nach Haus gab, dass er nach 2 Jahren mit seinem Vermögen nach Hause kommen wolle. Indessen begab sich das Eheweib in 15 Magdsdienste nach Balingen. Das mit dem Bantle erzeugte Kind, Hans Martin, aber ihren Vater, A. Martin Jetter, dahier 6 Jahre in der Kost. Die Mutter kam nach Haus und starb vor 7 Wochen, das hinter lassene Kind Hans Martin aber vor 14 Tagen, in einem Alter von 7 ½ Jah ren. Man hat daher nicht Ammanngeld. [...] Das hinterlassene Vermögen der Ehefrau und des Kindes sollte nach der Teilungsakte vom 20. April 1790 an Christian Bantlen fallen. Da aber über das weitere Schicksal des Seemannes nichts bekannt war, entschied Oberamtmann Jetter das Vermögen bis zum 70. Jahr nach der Taufe des Christian Bantlen – also am 1. Januar des Jahres 1828 – in Administration zu geben. 10 Pfarrarchiv Heselwangen, Taufregister, Eintrag vom 1. Januar 1758. Geburt des Christian Bantlen. Pfarrarchiv Heselwangen, Taufregister, Eintrag vom 27. Oktober 1781. Heirat des Christian Bantlen mit Catharina Jetterin. Gemeindearchiv Heselwangen, Inventur- und Teilungsbuch, Eintrag vom 20. April 1790. Aus dem Geburten- bzw. Taufregister des Pfarrarchivs in Heselwangen geht hervor, dass der am 1. Januar 1758 geborene Tagelöhner Christian Bantlen am 15. November 1781 im Alter von 23 Jahren die 22jährige Katharina Jetter heira11 tete. Am 27. Oktober 1782 wurde ihr Sohn namens Hans Martin Bantlen geboren.10 Das Heselwanger Sterberegister vermerkt für die Monate März und April des Jahres 1790 zahlreiche durch Blattern und Masern verursachte Todesfälle, worunter sich vorwiegend Kinder befanden. Katharina Bantlen starb nach Auskunft des Heselwanger Sterberegisters am 1. März 1790 im Alter von 30 Jahren, 4 Monaten und 18 Tagen an den Masern, ihr Sohn Hans Martin im Alter von nur siebeneinhalb Jahren wenige Wochen später an derselben Krankheit. Christian Bantlen hat also Frau und Kind nicht mehr lebend gesehen. Da wir weder im Heselwanger Sterberegister noch in der Inventur- und Teilungsakte vom 20. April 1790, die nach dem Ableben seiner Frau und seines Sohnes angelegt wurde, einen Hinweis auf einen Tod in der Heimat finden, dürfte Christian Bantlen in der Fremde verstorben sein.11 Im Jahre 1789 – sechs Jahre nach seinem Aufbruch aus Heselwangen – traf der eingangs zitierte zweite Brief vom 23. April 1783 des Christian Bantlen aus Livorno in Italien auf abenteuerlichem Wege in Heselwangen ein.12 Der Brief des Heselwanger Matrosen war demnach über sechs Jahre unterwegs. Er war einem Schreiben des Sohnes Ludwig Hipp vom 16. Mai 1789 an seinen Vater Christoph Ludwig Hipp zu Schlath bei Göppingen beigelegt und erreichte diesen von Livorno aus am 23. Juni desselben Jahres. Einen Tag später leitete dann Pfarrer Hipp den Brief des Christian Bantlen nach Heselwangen weiter.13 Auch dieser Brief ist im Original der entsprechenden Teilungsakte beigelegt.14 10 Pfarrarchiv Heselwangen, Taufregister (Familienname: Bantlin), Eintrag vom 20. April 1790. 11 12 GA Heselwangen, Inventur- und Teilungsbuch, Eintrag vom 20. April 1790. GA Heselwangen, Inventur- und Teilungsbuch, Eintrag vom 20. April 1790, Brief des Christian Bantlen vom 23. April 1783, Brief des Pfarrers Hipp vom 24. Juni 1789 (beide im Original erhalten). 13 Ebd. 14 GA Heselwangen, Inventur- und Teilungsbuch, Eintrag vom 20. April 1790, Brief des Pfar- rers Hipp vom 24. Juni 1789. 12 Obwohl unser württembergischer Tagelöhner in einem Brief vom 23. April 1783 versprochen hatte, in wenigen Jahren mit der gesparten Heuer von 300 Gulden nach Hause zu kommen, tat er es nach seiner Abmusterung im August 1785 nicht. Die Antwort kann nur lauten – Christian Bantlen hatte das Geld noch nicht. Nach dem Eintrag in der Heselwanger Teilungsakte hat Christian Bantlen dann auf dem holländischen Kriegsschiff „Medemblik“ angeheuert, wo er Dienst als 2. Konstabler tat. Als Kanonier im Unteroffiziersrang war er zuständig für die Geschütze und das Training der Geschützbedienungen. Es sind zwei Schiffe mit dem Namen „Medemblik“ belegt. Eines aus dem Jahre 1735 mit 52-60 Kanonen und eines aus dem Jahre 1779 mit 36 Kanonen.15 Mit der „Medemblik“ segelte Christian Bantlen nach Livorno in Italien, wo er offenbar im Juni 1789 seinen mittlerweile sechs Jahre alten Brief Ludwig Hipp mit der Bitte um Beförderung zukommen ließ. Dann verliert sich seine Spur. Christian Bantlen hat den für ihn wertvollen Brief die ganze Fahrten auf der „Gelderland“ und anschließend auf der „Medemblik“ sorgfältig verwahrt. Obwohl die „Gelderland“ in dieser Zeit mehrere Häfen anlief, konnte er ihn nicht aufgegeben. Denn um das Kriegsschiff verlassen zu können, benötigte ein holländischer Matrose einen Bürgen an Bord, um einer möglichen Desertation vorzubeugen. Denn zwischen 1783-1789 desertierten nicht weniger als 14% der Besatzungen holländischer Kriegsschiffe, obwohl nach den Kriegsartikeln darauf die Todesstrafe stand.16 Wir werden später darauf zurückkommen. 15 www.histofig.com/naval/voile_didiers_hollande.html 16 Bruijn 5. Aufl. 1998, S. 203. 13 Johann Jakob Weberbeck auf der Admiral de Ruyter 1780 – 1783 Während wir über die Erlebnisse Christian Bantlens an Bord der „Gelderland“ und der „Medemblik“ nichts wissen, gibt uns die von Pfeilsticker edierte Niederschrift vom 10. September 1783 des Nadlergesellen Johann Jakob Weberbeck aus Isny über dessen Zeit auf dem holländischen Linienschiff „Admiral de Ruyter“ von 1780 – 1783 einen sehr genauen Einblick in die harte Lebenswirklichkeit auf einem damaligen Kriegsschiff.17 Christian Bantlen trieb die nackte Not auf die See, Johann Jakob Weberbeck, wie er 1783 niederschrieb, die Abenteuerlust: „Die unermüdliche Begierde, der innere Trieb und die große Lust entfernte Gegenden zu besehen, war jederzeit die Triebfeder, den Grenzen meines Vaterlandes zu entfliehen und den Grund einer anderen Nation zu betreten.“18 Die anfangs noch kindliche Vorfreude gipfelt in der Aussage über den Amsterdamer Hafen: „Hier besah ich nun die große und weitberühmte Handelsstadt, wie auch den Arm von der See, worinnen sich meist bei 1000 Kauffartheyschiffe aufhalten, dieser Anblick der so schön scheinenden Schiffe, erweckte mir inniges Vergnügen, dass ich gleichfalls große Lust auf eine Seereise bekam, worüber ich auch meine Gedanken an meinen deutschen, aufrichtig denkenden Wirth eröffnete, welcher mir solches im höchsten Grad missratete.“19 Schnell von der harten Realität eingeholt, lesen sich seiner nächsten Sätze eher als Mahnung: 17 Erlebnisse des Johann Jakob Weberbeck, Nadlergesellen aus Isny während seiner Dienst- zeit zur See auf dem holländischen Kriegsschiff Admiral de Ruyter 1780-1783, in: Allgäuer Geschichtsfreund, Neue Folge Nr. 38, 1935, S. 32-44. 18 Erlebnisse des J. J. Weberbeck, S. 32. 19 Erlebnisse des J. J. Weberbeck, S. 33. 14 „Jedoch in kurzer Zeit musste ich zu meinem größten Schmerz den Verlust meiner verscherzten Freiheit beklagen, indeme ich mich unter einer Nation sahe, die mit dem schwärzesten Laster, gleich einer glänzenden Tugend prangen und welche weder Religion, noch Menschenliebe in einem gesellschaftlichen Umgang von sich spüren lassen, hier sahe man nichts als grobes, rohes und ungesittetes Betragen, hier hörte man nichts anderes, als bei einer jeden gleichgültigen Rede, die allerschrecklichsten Flüche, davor selbsten die Erde beben möchte, nun war ich also [...] wie ein Schaf unter den Wölfen und musste mich mit aller christlicher Gelassenheit, in einer schmeichelnden Hoffnung baldiger Befreiung Gott und dem Schicksal überlassen.“20 Johann Jakob Weberbeck beurteilt in der Niederschrift seiner Erlebnisse vom 10. Sept. 1783 die Absicht, viel Geld an Bord holländischer Kriegsschiffe zu sparen – wie es Christian Bantlen vorhatte – als Ding der Unmöglichkeit: „Wegen großen Reichtum zu sammeln, darf man wirklich den Weg nicht nach einem Orlog oder Kriegsschiff betreten, denn die vielen Bedürfnisse, welche die geringe Kost erfordert, verzehrt nebst einer großen Abgabe des Geldes wiederum den Sold.“21 Auch unter welchen Bedingungen man Landgang erhielt, berichtet uns Johann Jakob Weberbeck: „Als nun unser Volk wiederum in Amsterdam gewesen, jedoch mit größe ren Bedingungen als das erste Jahr geschehen war, so musste diesmahlen einer von den anderen Caution stellen und der Bürge wurde so lang an Bord behalten, bis dass sein Kamerad vor welchen er Bürge gestanden, wieder zurückgekommen war, wo hernach der andere auch abgehen konnte. Auf diese Weise stellte ich auch vor einen Bareuther Namens Georg Heinrich Herold Caution, welcher zum ersten abgehen durfte, seine 20 Erlebnisse des J. J. Weberbeck, S. 33 f. 21 Erlebnisse des J. J. Weberbeck, S. 44. 15 Zeit verfloss und seine Gegenwart zugleich, er fand den unrechten Weg und kam glücklich in seiner Vaterstadt an. Aber ich Unglücklicher musste seinen Frevel und seine Bosheit entgelten und zur Strafe Amsterdam diesmahl mit dem Rücken ansehen.“22 Da haben wir es: Cristian Bantlen bekam vermutlich keinen Landgang, weil er keinen Bürgen fand. So blieb ihm nichts anders übrig, als den für ihn wertvollen Brief weiter mit sich herum zu tragen. Die nüchterne Geschichte: Der 4. Englisch-niederländische Krieg Die Anheuerung des Heselwanger Tagelöhners auf der „Gelderland“ 1783 fiel in die Zeit des 4. Englisch-niederländischen Krieges 1780-84. Der Friedensvertrag zu Paris besiegelte den Untergang der Republik der Niederlande als selbständige Großmacht. Der 4. Englisch-niederländische Krieg wurde zur See ausgefochten. Die Ausgangslage für die Generalstaaten war denkbar schlecht. Als Folge der früheren Kriege gegen England war die niederländische Seemacht zu einer Flotte zweiten Ranges herabgesunken, während die englische Flotte nach Ausschaltung der holländischen Konkurrenz zur führenden Kriegsflotte in Europa emporstieg. 1775 konnten die Generalstaaten nach unterschiedlichen Quellenangaben den 108 bzw. 117 britischen Linienschiffen 11 bzw. 26 eigene entgegenstellen.23 22 Erlebnisse des J. Weberbeck auf einem holländischen Kriegsschiff 1780-1783, in: Allgäuer Geschichtsfreund, Neue Folge Nr. 38, 1935, S. 32 - 44, S. 43. 23 Glete Bron, Navies and nations, 549-674; G. Modelski and W. R. Thompson, Seapower in Global Politics, 1494-1993, London 1988, S. 68 - 70; Jaap R. Bruijn, Varend verleden. De nederlandse oorlogsvloot in de zeventiende en achtiende eeuw, Leeuven 1998, S. 148; Bruijn 5. Aufl. 1998, S. 185. 16 England besaß zu Kriegsbeginn 1780 über 122 Linienschiffe, die Generalstaaten nur 17.24 Flottenstärke (Linienschiffe/Fregatten) (Bron, Glete: Navies and nations, S. 549674) Jahr Nied. Gr.-Br. Fr. Sp. Dän. Russl. Total 1700 83/29 127/49 108/31 -/- 32/10 -/- 350/119 1715 71/24 119/63 62/12 9/13 36/15 28/8 325/113 1730 38/18 105/45 38/7 39/11 25/9 38/10 283/100 1745 33/27 104/67 45/23 31/6 28/8 28/6 269/137 1760 28/29 135/115 54/27 49/23 30/12 24/4 320/210 1775 26/38 117/82 59/37 64/28 33/15 34/14 333/214 1790 48/38 145/131 73/64 72/46 32/16 51/30 421/323 Blok zählte für das Kriegsjahr 1780 insgesamt 94, z. T. seeuntüchtige Schiffe der Generalstaaten, die sich mit denen dafür erforderlichen 18.500 Seeleuten unmöglich bemannen ließen. Die Neubauten des Jahres 1779 waren zwar beschlossen, aber nicht ausgeführt und die Magazine waren leer.25 1781-1783 legten die Generalstaaten daher mit Hilfe gepresster Zimmerleute über 20 neue Linienschiffe mit je 60 – 74 Kanonen und über 450 Mann Besatzung auf Kiel, die kleineren Fregatten und andere Kriegsschiffe nicht mitgerechnet26: Die Kommission für Seeangelegenheiten ließ Küstenbefestigungen errichten, die Flussmündungen mit den vorhandenen Schiffen bewachen und die Arsenale auffüllen. Ferner wurden Werber für neue Seeleute entsandt. In den Provinzen drängte 24 www.zum.de/whkmla/military/18cen/anglodutch.4html 25 P. J. Blok, Geschichte der Niederlande, Bd. 6. Bis 1795, Gotha 1918, S. 457. 26 www.histofig.com/naval/volie/didiers_hollande.html 17 die Kommission auf die Bewilligung von 14 ½ Gulden.27 1782 gaben die Generalstaaten 29,5 Millionen Gulden aus, um die Flotte auf 120 Schiffe und 25.000 Mann zu bringen.28 Ein Linienschiff mit 50 Kanonen wie die „Delft“ kostete 1782 391.000 Gulden.29 Ein anonymes Aquarell von 1781 zeigt die Anwerbung von Seeleuten für die niederländische Kriegsflotte. Das Werbungslied „Daar slaat de trom“ erklang und mit Musik, freiem Trank wurde neue Matrosen angeworben, wofür die Werber dicke Prämien kassierten.30 Von den im Kriegsjahr 1782 benötigten 31.000 Seeleuten konnte die niederländische Admiralität für alle Kriegsschiffe aber nur 19.000 Männer anwerben.31 Viele der Matrosen auf niederländischen Kriegsschiffen waren Deutsche. Bruijn zählte auf Amsterdamer Kriegsschiffen zwischen 1720-1733 40 deutsche Unteroffiziere und 199 deutsche Matrosen (= 19% Anteil an der Besatzung), auf zwei Zeeländern Kriegsschiffen zwischen 1769-1772 12 Unteroffiziere und 70 Matrosen (= 31% Anteil an der Besatzung) und auf zwei Kriegsschiffen aus Noorderkwartier zwischen 1772-1775 20 Unteroffiziere und 109 Matrosen (= 35% Anteil an der Besatzung).32 Die ausländischen Seeleute stellten nach 1750 die Mehrheit auf den niederländischen Schiffen. Die deutschen Seeleute kamen längst nicht mehr nur aus den Hafenstädten, sondern von überall her.33 Matrose war ein Job für Arme. Gewöhnliche Seeleute bekamen 1770 10 holländische Gulden im Monat und nach 27 Ebd. 28 Blok 1795, S. 462. 29 Bruijn 5. Aufl. 1998, S. 200. 30 Werving voor de oorlogsvloot in 1781. Collectie Nederlands Scheepvaartsmuseum, Am- sterdam. 31 Bruijn 5. Aufl. 1998, S. 132. 32 J. R. Bruijn, De admiraliteit van Amsterdam in rustige jaren 1713-1751, Amsterdam 1970, S. 144-145. 33 Bruijn 5. Aufl. 1998, S. 200. 18 Geographische Herkunft von Unteroffizieren und Matrosen auf niederländischen Kriegsschiffen im 18. Jh. (nach: Bruijn 1970, 144-145) Amsterdam Zeeland Noorderkwartier 1720-1773 1769-1772 1772-1775 Unteroffiziere/Mannschaften/Prozent Amster- 78 228 25% 5 21 10% 13 36 13% 29 132 13% 16 36 19% 17 22 11% 20 127 12% 7 13 7% 15 20 9% Dt. 40 199 19% 12 70 31% 20 109 35% Skandi- 29 271 24% 13 29 16% 17 67 23% Andere 10 45 4% 21 10% 2 26 7% Unbe- 14 21 3% 3 1% 2 7 2% dam Rest Holland Rest Niederlande navien und Baltischer Raum 7 kannte Ausländer einer Reise von 9 Monaten zwischen 12 - 66 Gulden als Abschlagszahlung, wenn sie abheuerten. Während des 4. Englisch-niederländischen Krieges stiegen die Heuern für Matrosen von 14 auf 16 Gulden, die Premien für die Werber da- 19 gegen von 50 auf 100 Gulden.34 Der Werber Hagman, der Christian Bantlen anwarb, strich sogar 131 Gulden ein, während der Heselwanger Matrose im Schnitt weniger als 15 Gulden im Monat ausgezahlt bekam. Erst als Konstabler auf der „Medemnlik“ verdiente er mehr, nach Bruijns Aufstellung mindestens 20 Gulden.35 Die Bedingungen auf Segelschiffen des 18. Jahrhunderts waren außerordentlich hart. Zahlreiche Männer starben an Skorbut oder Typhus. Wachvergehen wurden streng geahndet. Als Johann Jakob Weberbeck am 22. März 1781 auf der 1. Wache zwischen 8 und 12 Uhr vor dem dunklen Pulvermagazin der „Admiral de Ruyter“ einschlief und von einem Schiffsleutnant ertappt wurde, schreibt er in der Rückschau: „Diesen Abend wurde mein Verbrechen an den tyrannischen Capit = Staring überbracht, welcher mir folgenden Tag, das Todesurteil auf den Rücken vollziehen ließ, indeme ich bis auf das Hemd ausgezogen und von 2 Unteroffizieren in Gegenwart meiner Kameraden 112 Hiebe bekam, wiewohlen solches keine Stock- sondern Thauschläge waren, womit mir solches Tractament zugebracht wurde, jedoch ein solches Thau oder Strick ist von ordentlicher Dicke und mit Pech und Teer überschmiert.“36 Am 8. April 1781 verließ Kapitän Staring das Schiff und übernahm die kleinere „Argo“.37 Infolge der strengen englischen Bewachung der Nordsee und der in den Häfen oder vor Reede liegenden niederländischen Flotte gelang es nur selten, Handelsschiffe aus und nach der Ostsee zu geleiten. Bei einem solchen Geleit kam es zu dem einzigen größeren Seegefechtes des Krieges, der Schlacht auf der Doggerbank am 5. Aug. 1781. Die „Gelderland“ unter Kapitän Staring soll nach Blok an diesem Seegefecht teilgenommen haben, während Johann Jakob Weberbeck 34 Ebd., S. 198 f. 35 Ebd., S. 199. 36 Erlebnisse des J. J. Weberbeck, S. 34 f. 37 Ebd., S. 35. 20 in seinem Bericht über die Schlacht auf der Doggerbank das Schiff nicht erwähnt.38 Fazit Auf den Kriegsschiffen der frühen Neuzeit kamen Matrosen aus unterschiedlichen Ländern Europas zusammen, die gemeinsam ein schweres Schicksal teilten. Die Soldbücher holländischer Kriegsschiffe wie das der „Gelderland“ lassen dieses menschliches Handeln und Leiden lebendig werden. Ausgehend von der Auswertung des Soldbuches der „Gelderland“, d. h. der Feststellung der Namen und Herkunftsregionen bzw. -orte der Matrosen, ließen sich gezielt die Bestände kommunaler (etwa die Inventur- und Teilungsakten) und kirchlicher Archive (Tauf- und Sterbebücher) in den verschiedenen Regionen Europas nach weiteren Informationen durchforsten, um neue Einzelschicksale beschreiben zu können. So wird ein anderer Blick auf eine „Geschichtslandschaft“ nämlich vom Ort des gemeinsamen Erlebens und Leidens her geworfen. Diese methodische Vorgehensweise beweist, dass regionale Forschung mehr ist als eine auf ein Betrachtungsgebiet begrenzte und sich selbst einengende, da statische „Kulturraumforschung“, die den Faktoren Mobilität und Migration zuwenig Rechung zollt. Dass sich hierbei auch Chancen für eine personifizierende und anschauliche Geschichtsvermittlung ergeben, liegt auf der Hand. Autor: Dr. phil. Frank Meier, Akademischer Rat Pädagogische Hochschule Fach Geschichte Kirchplatz 2 88250 Weingarten Tel.: 0751-501-8397 e-mail: meier@ph-weingarten.de Homepage: http://www.ph-weingarten.de/homepage/faecher/geschichte/meier.html 38 Blok 1795, S. 460 f.; Erlebnisse des J. J. Weberbeck, S. 35 – 38. 21 22