Wenn ich mich recht erinnere… Das Endspiel zur Fußball
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Wenn ich mich recht erinnere… Das Endspiel zur Fußball
Wenn ich mich recht erinnere… Das Endspiel zur Fußball-WM 1954 Im Juli 1954 war ich fast sechs Jahre alt. Meine Familie und ich wohnten in einem Mehrfamilienhaus gemeinsam mit meinen Großeltern. Im ersten Stock bei den Großeltern gab es das „Raucherzimmer“, in dem Opa seine Zigarren rauchte oder wir an einem großen Radiogerät Sportübertragungen hörten. Das Gerät brauchte zwar mehr als zwei Minuten, um warm zu werden, es läuft jedoch auch heute noch, wenn es auch kaum noch Sender störungsfrei empfängt. Doch um dieses Radio geht es gar nicht, denn Opa schleppte im Frühling einen großen „Möbelkasten“ an. Öffnete man dessen Türen, dann kam darin ein Fernseher hervor. Nun flogen zwei Sessel aus dem Raucherzimmer, um Platz für den Fernseher zu schaffen, denn das Zimmer war nur drei mal vier Meter groß. Das Radio thronte dann obenauf, denn das Fernsehen sendete ohnehin nur abends ein Programm, von dem ich auch noch meistens ausgeschlossen wurde. Weil ja allgemein vor der Röntgenstrahlung des Fernsehers gewarnt wurde, sah der nun vom Raucher- zum Fernsehzimmer umbenannte Raum seltsam und ungemütlich aus: Auf der einen Schmalseite der Fernseher, flankiert rechts und links von Grünpflanzen, gegenüber die Couch und der Couchtisch, an den Längsseiten einmal neben der Tür je ein Sessel und gegenüber, unter dem Fenster, zwei Stühle. Dort war es am ungemütlichsten, weil wegen des Zigarrenrauches das Fenster meistens geöffnet war. Bei der Weltmeisterschaft 1954 hatten wir einige Spiele am Radio verfolgt. Die entschiedenen Partien spielten wir Kinder in der Straße nach. Bis zur baldigen Niederlage gegen die favorisierten Ungarn wollte auch jeder Morlock, Rahn, Walter und wie sie alle hießen sein. Danach dann lieber Puskas. Ich erinnere mich übrigens nicht daran, dass es Abziehbilder, Sammelalben oder Beflaggungen gab. Was sich in der Presse abspielte, weiß ich nicht, weil vor der Einschulung konnten Kinder üblicherweise nicht lesen. Und dann hatte es die deutsche Mannschaft doch ins Endspiel geschafft, gegen Ungarn am 4.Juli um 17.00 Uhr in Bern und es sollte im Fernsehen übertragen werden. Zwei Tage vorher wurde das Fernsehzimmer ausgeräumt: Die Couch, die beiden Sessel und der Tisch kamen raus, denn es würde eng werden. Mehr als 25 Nachbarn und Bekannte hatten sich angesagt, die ja nur stehend oder auf dem Boden sitzend auf zwölf Quadratmetern unterzubringen waren. Dann mussten auch noch Verhaltensregeln her: Rauchverbot, Getränke nur in Flaschen, kein Gehüpfe, denn die Decken waren Holzbalken. Selbstverständlich war auch die Gefährdung durch die Röntgenstrahlung aufgehoben, denn ich selbst saß mit den Nachbarkindern direkt vor dem Fernseher. Dann war es soweit, die Gäste trudelten ein. Manche brachten Hocker mit und auch kleinere Stärkungen wie Hackbällchen, Mettbrötchen, Block- und Fleischwurst, die in der Küche aufgebaut wurden. Ich glaube im Fernsehzimmer waren nur Männer, die Frauen waren eher in der Küche oder im Wohnzimmer. Entsprechend dem Spielverlauf, 1:0 für Ungarn in der sechsten Minute und 2:0 in der achten Minute war es zunächst totenstill und jeder rechnete mit einem erneuten Debakel. Dann in der zehnten Minute der Anschluss zum 1:2 mit verhaltenem Jubel und größeren Gefühlsausbrüchen mit dem Ausgleich. Dann das Zittern, was sich mit ständigem Geschiebe im Zimmer bemerkbar machte, weil ständig jemand raus musste oder wollte. Mit dem Halbzeitpfiff gingen die meisten kurz nach Hause, denn unsere Toilette hätte dies nicht gepackt. Aber fast alle waren wieder pünktlich da. Und dann ein Schrei: Rahn schoss in der 84. Minute das 3:2 und dann atemlose Stille, wie lange noch, warten, warten, warten… Kurz danach ungläubiges Staunen: Wir waren Weltmeister. Nun redeten alle durcheinander, Tränen flossen, manche waren einfach nur still. Langsam leerte sich das Zimmer, auf der Straße gab es wieder die ersten Fußgänger und es schien so, als wäre nichts passiert. Und mir, mir war nur schlecht, weil ich viel zu viele Erdnussflips gegessen hatte, die ein Besucher mir in einer riesigen Tüte mitgebracht hatte. So weit, so meine Erinnerungen Karlo Sattler