Inhalt und formale Gestaltung

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Inhalt und formale Gestaltung
Peter Paul Rubens (1577–1640),
Der Höllensturz der Verdammten,
1620/21
Öl auf Eichenholz, 288 × 225 cm;
München, Bayerische Staatsgemäldesammlungen,
Alte Pinakothek, Deutschland
46 Gemälde von Peter Paul Rubens bildeten den Schwerpunkt der berühmten Gemäldesammlung des Kurfürsten Johann Wilhelm von der Pfalz in Düsseldorf, wo der aus dem Hause Wittelsbach stammende Sammler residierte. Neben bedeutenden, großformatigen Altarblättern, die der Kurfürst den Jesuiten in Neuburg an
der Donau abgekauft hatte, befand sich unter ihnen ein Gemälde, das diesen zwar thematisch verwandt ist
aber dennoch eine einmalige Bilderfindung von Rubens darstellt: Der Höllensturz der Verdammten. Wie die
meisten anderen Bilder gelangte es nach einer wechselhaften Sammlungsgeschichte über Mannheim nach
München und bildet heute einen besonderen Anziehungspunkt unter den Gemälden der Alten Pinakothek.
Inhalt und formale Gestaltung
Mehrere Themenbereiche der christlichen Ikonographie hat der Maler zu einem neuen, selbstständigen
Bildthema verknüpft. Es ist einmal der Kampf des Erzengels Michael gegen die abtrünnigen Engel unter der
Führung Luzifers, worüber die Offenbarung des Johannes (12,7–9) berichtet: „Da kam es zu einem Kampf
am Himmel: Michael mit seinen Engeln schickte sich an, mit dem Drachen zu kämpfen, und der Drache mit
seinen Engeln trat ihm entgegen; aber sie vermochten sich nicht zu behaupten, und es blieb am Himmel keine Stätte mehr für sie. Herabgestürzt ward der große Drache, die alte Schlange, genannt der Verleumder und
Widersacher, der die ganze Welt verführt, herabgestürzt ward er auf die Erde, und mit ihm wurden auch seine Engel gestürzt.“ Der Drache wurde zuvor beschrieben: „Er hatte sieben Köpfe und zehn Hörner und sieben Diademe auf seinen Köpfen.“
Diese Engelsturzthematik, die auch oft mit der Schöpfungsgeschichte des Alten Testaments in Beziehung
gesetzt wird, der Trennung von Licht und Finsternis, von gut und böse, verbindet Rubens mit einem Aspekt
des Jüngsten Gerichts, auf den in vielen Bibelstellen hingewiesen wird. So heißt es etwa im Matthäus-Evangelium (25,41 und 46): „Dann wird er fortfahren zu denen auf seiner Linken: Weichet von mir, ihr Verfluchten, ins ewige Feuer, das dem Teufel und seinen Engeln bereitet ist! (...) Und diese werden hingehen in
die ewige Pein, die Gerechten aber in das ewige Leben.“ Und die Geheime Offenbarung (20,14–15) berichtet
von der Vision des Jüngsten Tages: „Dann wurden Tod und Totenreich in den Pfuhl des Feuers geworfen.
Das ist der zweite Tod, der Pfuhl des Feuers. Wer sich nicht im Buche des Lebens geschrieben fand, ward in
den Pfuhl des Feuers geworfen.“
Die Dramatik dieser Schilderungen hat Rubens in genialer Weise in eine dynamische Dialogkomposition
umgesetzt. Durch die aufgerissenen dunklen Wolken stürzen auf einer Lichtbahn Michael und seine Streiter
hervor, bewaffnet mit Schild und Blitzbündel. Die Wucht ihres Eingreifens schleudert abgefallene Engel und
ganze Lawinen nackter Verdammter herab, die in Menschentrauben verknäult dem Höllenpfuhl entgegenfallen. Teuflische Gestalten zerren und stoßen die nackten Leiber der Sünder ins Feuer. Der Menschenwirbel
erscheint selbst in der Form einer riesigen auflodernden Flamme. Die in komplizierten Haltungen herabstürzenden Körper werden teilweise von aufblitzenden Lichtern erfaßt und in ihrer Expressivität noch gesteigert.
Im Kontrast zu den kalten und warmen, hellen Fleischtönen stehen die feurigen Rottöne, die zwischen Goldgelb, Orange und dunklem Braun variierende Farbgebung, die noch grüne und bläuliche Akzente erhielt. Der
in der Apokalypse beschriebene vielköpfige Drache hat in der rechten unteren Bildhälfte schon den dunklen
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MdK Folge 42/1994-4 – Der Höllensturz der Verdammten (Rubens)
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Grund der Hölle erreicht, wo schreckliche Tiergestalten die Herabstürzenden erwarten. In einer Beschreibung des 17. Jahrhunderts, in Roger de Piles „Dissertation sur les ouvrages des plus fameux peintres“ (Paris
1681) werden sie als Verkörperungen der sieben Todsünden interpretiert: Die Schlange stellt den Stolz (Superbia), der Löwe den Zorn (Ira) und der Hund den Neid (Invidia) dar. Der Drache gilt als Sinnbild des Geizes (Avaritia), der Esel vertritt die Trägheit (Acedia), der Affe die Völlerei (Gula) und das Schwein die Zügellosigkeit (Luxuria). Tiere als Darstellungen der menschlichen Laster findet man seit dem hohen Mittelalter, aber als Verkörperung der Todsünden erst seit dem 14. Jahrhundert. Sie erwarten hier die jeweiligen
Verdammten, um sie zu quälen und zu bestrafen.
Farbauftrag und Pinselführung, deren sich Rubens bei der Gestaltung des dramatischen Themas bediente,
belegen zum einen seine Fähigkeit, die künstlerischen Mittel dem Bildthema entsprechend einzusetzen, markieren aber auch eine Wende in seiner Stilentwicklung. Der erwähnte de Piles formulierte es so: „Rubens
hatte sich anfänglich vorgenommen, der Malweise eines Michelangelo, eines Caravaggio zu folgen; da er sie
aber zu mühselig fand, schuf er sich eine flinkere und seinem Genie mehr entsprechende.“
Zur Maltechnik
Als Bildträger bevorzugte Rubens nach Möglichkeit Holztafeln gegenüber der Leinwand. Mindestens 50 %
seiner Werke sind auf Holz gemalt, so auch der „Höllensturz der Verdammten“. In den südlichen Niederlanden wurde fast ausschließlich Eichenholz verwendet. Die Herstellung der Malbretter lag in den Händen der
Tafelmacher. Ihre Berufsgruppe gehörte in Antwerpen schon im 16. Jahrhundert der Lukasgilde an und
zeichnete ihr Material mit den eingebrannten Gütezeichen, dem Wappen der Stadt Antwerpen: eine Burg mit
drei Türmen und zwei gespreizte Hände.
Die Holztafeln erhielten dann einen weißen, leimgebundenen Kreidegrund, deren oberste Lage meist mit Öl
imprägniert wurde. Darüber liegt in der Regel eine streifige „Imprimitur“, grau oder brauntonig. Auf diesem
Grund wurden Umrisse und Schattierungen mit dem Pinsel in flüssigen Ocker- und Umbratönen aufgetragen.
Die traditionelle Kohlevorzeichnung verwendete Rubens kaum.
Stufenweise erfolgte dann der Farbauftrag, wobei mit transparenten Farbschichten begonnen wurde. Weißhöhungen waren bei der Vorskizzierung bereits mit einbezogen worden; pastose Akzentuierungen wurden
ebenfalls integriert. In mehreren dünnen, z. T. lasurartigen Schichten wurde das Bild vollendet. Als abschließender Arbeitsgang folgte eine farbig differenzierte, schattierende Arbeit mit dem Pinsel, um die Formen zu
modellieren. Ein Schlussfirnis war bei der Widerstandskraft des sorgfältigen Farbauftrags nicht unbedingt
notwendig. Wenn nötig, wurde ein Mastix-Öl-Finis verwendet.
Bildthema und Bedeutung
Anregungen zur Gestaltung seiner Bilderfindung hat Rubens den Themenbereichen Engelsturz und Weltgericht entnommen, sie aber neu und eigenständig verarbeitet. Von seinem Italienaufenthalt her kannte er Michelangelos Monumentalgemälde des Jüngsten Gerichts, das dieser 1534–1541 an der Stirnwand der Sixtinischen Kapelle in Rom geschaffen hatte. Auch Tintorettos 1562/64 entstandenes Jüngstes Gericht in der Kirche Madonna dell'Orto in Venedig war ihm bekannt. Von Tintoretto besaß er sogar eine Skizze und ein Ölbild gleichen Themas. Das Motiv des Engelsturzes war vor allem nördlich der Alpen verbreitet. Außer an
Darstellungen in Bayern sei an ein Altarbild von Frans Floris von 1554 erinnert, das sich auf einem Seitenaltar der Antwerpener Kathedrale befand und heute im dortigen Museum der Schönen Künste hängt. Er
selbst hatte das Thema schon um 1620 in einem Deckenbild der Antwerpener Jesuitenkirche dargestellt, das
jedoch im 18. Jahrhundert verbrannte. Abermals griff er das Thema 1623 in einem Altarbild für St. Peter in
Neuburg an der Donau auf, das seine Aufträge in dieser Stadt abschloss. Begonnen hatten sie mit einem
Jüngsten Gericht, das 1618 auf dem Hochaltar der dortigen Hofkirche aufgestellt wurde, die den Jesuiten zur
Verfügung stand. Dieser riesigen Arbeit (606 × 460 cm) folgte dann um 1620 das sog. Kleine Jüngste Gericht (heute ebenfalls in der Alten Pinakothek in München), das sich in seiner vielfigurigen Kleinteiligkeit
und dynamischen Komposition grundlegend von dem vorausgehenden monumentalen Werk unterscheidet,
aber eine große, auch zeitliche Nähe zum „Höllensturz der Verdammten“ aufweist.
Weltgericht und Engelsturz waren beliebte Themen der gegenreformatorischen Propaganda. Der Erzengel
Michael war gleichsam ihre Symbolfigur. In diesem Sinn findet man sein Bronzebild an der Fassade der
Münchner Michaelskirche, der ersten Jesuitenkirche nördlich der Alpen, und den Engelsturz auf dem Ge-
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mälde des Hochaltars. Auch hier bekämpft er den abtrünnigen Luzifer, in dem man den Ketzer und im 16.
Jahrhundert das Sinnbild der Protestanten sah. In dieser Weise ist auch der „Höllensturz der Verdammten“
zu deuten, wobei im Auge zu behalten ist, dass gerade zur Zeit seiner Entstehung die katholische Liga am 8.
November 1620 unter der Führung von Maximilian von Bayern den Sieg über die protestantische Union
errungen hatte und damit die stärkste politische Kraft der Gegenreformation darstellte.
Der Künstler
Geboren 1577 in Siegen als Sohn eines flämischen Juristen, kehrte die Familie nach dem Tod des Vaters
1589 wieder nach Antwerpen zurück. Peter Paul Rubens trat seine Lehre bei Tobias Verhaecht, Adam von
Noort und Otto van Veen an, wurde danach 1598 Freimeister der dortigen Lukasgilde. Unterbrochen von
einem Spanienaufenthalt 1603/04 hielt er sich zwischen 1600 und 1608 in Italien auf, vor allem in Mantua,
Venedig, Rom und Genua. Dabei lernte er die Werke der Antike, die Arbeiten der großen Renaissancemaler
und die seiner Zeitgenossen kennen. Nach der Rückkehr nach Antwerpen und seiner Heirat mit Isabella
Brandt wurde er im gleichen Jahr 1609 Hofmaler des Stadthalters der Niederlande, Erzherzogs Albrecht und
seiner Frau Isabella. Ab 1611 baute er ein großes Haus mit Ateliers, in denen in den folgenden Jahren große
kirchliche und profane Werke entstehen sollten, u. a. der umfangreiche Zyklus für Maria von Medici, der
Königinmutter des französischen Regenten, und die Deckenbilder der Antwerpener Jesuitenkirche. Reisen
im diplomatischen Dienst an die Höfe nach Spanien und England folgten. Nach dem Tod seiner ersten Frau
heiratete er 1630 Helene Fourment. Danach führte er Entwürfe für mehrere Teppichserien aus, Deckengemälde in Whitehall in London für Karl I. von England und beteiligte sich an den Festdekorationen zum Einzug des Kardinal-Infanten Ferdinand in Antwerpen. Sein letzter großer Auftrag waren Entwürfe für Gemälde
im Jagdschloss „Torre de la Parada“ bei Madrid für Philipp IV. von Spanien. 1640 starb er in Antwerpen und
wurde in der Jakobskirche beigesetzt. In seinen Arbeiten, die er mit Hilfe einer großen Werkstatt ausführte,
erreichte die flämische Malerei des 17. Jahrhunderts ihren Höhepunkt.
Johannes Zahlten