10. Einheit: «1819 – Das Marmorbild, Joseph von Eichendorff»

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10. Einheit: «1819 – Das Marmorbild, Joseph von Eichendorff»
10. Einheit:
«1819 – Das Marmorbild, Joseph von Eichendorff»
Autor
Das Leben von Freiherr Joseph von Eichendorff (1788­1857) verlief großteils in geregelten Bahnen. Trotz Adels hatte seine Familie finanzielle Probleme, sein Vater flüchtete vor Gläubigern, 1822 waren alle Besitztümer verloren. Nach einem Jusstudium (u.a. auch in Wien), wurde er Beamter und arbeitete in einem Berliner Ministerium. Sein Sohn Hermann gab 1862 eine (beschönigte) Biographie seines Vaters heraus. Eichendorffs konstanter Wortschatz ist geprägt durch die Abwehrhaltung gegenüber den Entwicklungen seiner Zeit. Er wurde oft als nationaler Aktivist oder Volkskämpfer dargestellt (1941 von den Nazis so geschehen). Seine zahlreichen Werke sind teils populär, teils uninteressant. Zum ersteren Teil gehören: die Novelle „Aus dem Leben eines Taugenichts“, seine Lyrik (die große Nachhaltigkeit mit sich brachte), v.a. Lieder und Vertonungen. Der vernachlässigte Teil besteht aus seinen Dramen, Romane und Essays. „Das Marmorbild“ liegt irgendwo dazwischen. Entstehung
Textgenese
1817: Eichendorff berichtet seinem Freund Fouqué über die Vollendung seines Werkes. Ein anderer Freund liest es sich durch und streicht die „gar zu bunten Stellen“ (nicht jugendfrei).
1819: „Das Marmorbild“ erscheint im „Frauentaschenbuch“. Die erste Kritik ist nicht begeistert.
1826: Gemeinsam mit „Aus dem Leben eines Taugenichts“ und einem lyrischen Anhang als Buch veröffentlicht. Quellen
Breites, intertextuelles Spektrum, von der Antike bis zur Romantik, auch auf eigene Werke wurde zurückgegriffen. Tannhäusersage (Wagner, Tieck, etc.): Ritter verfällt dem Venusberg bzw. der dort sitzenden Venus, direkte Anspielung auf Tiecks Werk durch Fortunato. Größte Vorlage bot aber das Werk von Eberhard Happel: „Größte Denkwürdigkeiten“ (siehe S. 3 des Handouts); in „Die Teufflische Venus“ berichtet er von einer Venusstatue, die durch einen Ring eines Jünglings – Alessandro ­ zum Leben erwacht → sie bindet sich an ihn, er kann erst durch einen Schwarzkünstler gerettet werden.
Textgestalt
Personen
(siehe S. 4, Konstellation) Kontrast deutlich zwischen Christentum/Heidentum, Tag/Nacht, Gut/Böse. Florio („der Blühende“) ähnelt dem Jüngling Alessandro bei Happel, beide sind anfällig für Versuchungen, sie entsprechen dem romantischen Heldentypus (wie z.B. Anselmus bei „Der Goldne Topf“). Florios positive Bezugsperson ist Fortunato („der Glückliche/Heitere“), der weltgewandte Sänger, ein Bote des Friedens, der in Florio Liebe und Ehrfurcht erweckt, dessen Gegenfigur ist der Ritter Donati (Donatisten, eine der ersten Sekten), der u.a. mit einem Nachtfalter verglichen wird → Nachtseite. Bianka („weiß“) stellt die positive weibliche Figur dar, sie verkörpert Reinheit und Unschuld (etymologisch sehr deutlich, genau wie z.B. beim „Sandmann“ → Klara, „die Reine“), während die heidnische Göttin der geschlechtlichen Liebe, Venus, die Rolle der Verführerin einnimmt. Inhalt
Exposition: Figuren werden vorgestellt, Florio begibt sich auf Wanderschaft und trifft auf seinem Weg nach Lucca den Sänger Fortunato, bei einem Fest in der Stadt darauf erblickt er zudem Bianka, in die er sich verliebt. Donati erscheint als Feststörer, Fortunato singt über Liebe und Tod. Donatis Pferd scheuchte vor den Toren der Stadt → Zeichen der Schuldhaftigkeit. Florio träumt von Sirenen, die sich in einem ihm unbekannte Gestalt verwandeln → sexuelle Wünsche werden erweckt, er überträgt die neue Lust auf die Landschaft. Bei einem Weiher erblickt er eine Venusstatue, diese erweckt zwar die Sehnsucht nach Liebe, aber die toten Augenhöhlen entsetzen Florio so sehr, dass er flüchtet. Steigerung: Fortunato erkennt die Gründe von Florios Melancholie, er nennt den Glauben und die Natur als Problemlösung. Florio zieht es in die Weinberge, in einem Garten erblickt er eine wunderschöne Lautenspielerin, die wie Venus aussieht, außerdem trifft er dort den schlafenden Donati, der ein Verwandter der schönen „Venus“ ist. Retardation: Donati lädt Florio zur Jagd ein, obwohl Sonntag ist, Florio lehnt aber ab. Bei einem Tanzfest trifft er auf eine Art Doppelgängerin der Venus, sie ist eine Griechin mit dunklem Haar. Sie lädt ihn zu sich in den Palast ein, auch sie hat einen ähnlich toten Gesichtsausdruck wie die Venusstatue beim Weiher.
Peripetie: Aufbruch Florios zum Palast der Griechin, wo gerade ein Fest gefeiert wird. Tête­à­tête mit Gastgeberin → gemeinsamer Rückzug ins Gemach, als sie sich entkleidet hört Florio draußen ein frommes Lied → „Venus“ verwandelt sich in Statue, Florio flüchtet zu Donatis Villa, diese ist aber nun eine schäbige Hütte, Donati selbst ist unauffindbar.
Harmonische Auflösung: Florio will Lucca verlassen, Fortunato, Pietro und ein Knabe begleiten ihn bei seiner Reise aus der Stadt. Sie sehen eine alte Ruine eines Venustempels, Fortunato erzählt von der schönen Heidengöttin. Er gibt sich als Florios Retter zu erkennen, er hat das fromme Lied gesungen, das die Verführerin in Stein verwandelt hat. Er wendet sich Bianka zu und verspricht ihr ewige Treue – sie ist der Knabe, der sie begleitet → versöhnliches, in Zukunft verweisendes Ende
Struktur
Adoleszenzgeschichte: junger Mann lernt eigene Sexualität kennen und kämpft mit ihr. Der Aufbruch zur Reise markiert einen neuen Lebensabschnitt. Strukturschema: siehe S. 1 des Handouts. Naiv – Verblendung durch Heidentum und Liebe. Kunst als bändigende Kräfte der dämonischen Kräfte.
Strukturelle Ähnlichkeiten mit Tiecks „Runenberg“: Motive der Verführung, die Figur der Venus zieht schwärmerische Jünglinge in ihren Bann, immer in unwirtlichen Umgebungen; Wiederbegegnungen, die von der übrigen Welt nicht wahrgenommen wird. Unterschied: bei Tieck geht der Held durch den negativen Einfluss („der Fremde“) verloren, hier gelingt es ihm, sich von Donati abzuschütteln.
Aspekte der Textanalyse
Italien
Italienreisen: Italien das Sehnsuchtsland der deutschen Literaten seit Goethe. Zeitgenössische antike Ausgrabungen in Pompeji und Herculaneum. Italiener anderer Menschenschlag → Umwelttheorie: mediterranes Klima soll gut für den menschlichen Körper sein. Goethe sprach nach seiner Reise von „geschärften eigenen Wahrnehmung“. Italien als Errangement der Zeichen in der Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts oft vertreten. Klischeevorstellungen übernommen, für viele ist die Literatur die einzige Möglichkeit Italien zu „erleben“ → angelesene Italienbilder, auch bei denen, die nie in Italien waren, wie z.B. Büchners „Leonce und Lena“; Italien als Inbegriff der Idylle, der exotischen Flora, Land des ewigen Sommers → siehe S. 2 Goethe (schrieb er, bevor er in Italien war), die Beziehungen zu „Das Marmorbild“ sind in dem Gedicht mannigfaltig, Mignon als Zwitterwesen (Bianka als Knabe verkleidet), erwähnte „Marmorbilder“ usw. Landschaft: Italien als Landschaft dichterischer Wunschvorstellung (siehe S. 4 Huch), eine erfundene Landschaft rahmt die Erzählungen, „Das Marmorbild“ einziges Werk Eichendorffs, das nur in Italien spielt; Fantasiegeografien sind ansonsten ein zentraler Bestandteil der Märchen.
Das Motiv der Statuenbelebung
Motivgeschichte: geschlechtsspezifisch: Stoff der Menschenbilder → weibliche Statuen erotisch konnotiert, männliche hingegen gewalttätig bzw. Machtsymbole. Epochenspezifisch: Grenzüberschreitung zwischen „Belebtem“ und „Unbelebtem“ (wie schon beim „Sandmann“, „Isabella von Ägypten“ und „Frankenstein“); Antike: Pygmalion (Ovids Metamorphosen) → König von Zypern (Insel der Aphrodite) liebt die Göttin Venus und schnitzt sich ein Abbild aus Elfenbein → legt dieses ins Bett, Venus belebt das Abbild → „Galatea“, schauerlich und bedrohlich, aber Männerfantasie, aber auch die Beziehung zwischen Künstler und Kunstwerk (nicht so negativ wie bei „Das Fräulein von Scuderi“); Heinrich von Heine (s. S. 1) „Florentinische Nächte“ ­ Max knüpft an „Das Marmorbild“ an → Hinwendung zur religiösen Erlösung, Absage der Prüderie; Prosper Merimée: „Venus d'Ille“ ­ auf ländlichem Anwesen wird eine Statue entdeckt, Alfons steckt Ring an Finger, wird in der Nacht ermordert, seine Verlobte spricht von einer mordenden Statue → rational auflösbar? Übergabe des Rings → Bündnis
Gestaltung bei Eichendorff: ideal für romant. Kontext, Palast/Venusberg: abgeschiedener Ort der Verführung, nüchtern gesehen andere Erscheinung, gleichzeitig wird der Palast sehr dekadent dargestellt → Vorausschau auf fin de siècle? Weitere Symbole die daraufhin deuten sind die Schwäne und die femme fatale, aber auch die Üppigkeit. Wiedergängerin: Wiederauferstehung, heidnische Gottheit kehrt in christliche Welt zurück als Untote, Existenz an Lebendige gebunden (Florio), geschreckt durch frommes Lied und Gebet
Heidentum und Christentum
Die Gestalt der Venus: breites Assoziationsfeld, Figur mit unscharfen Konturen; Göttin der geschlechtlichen Liebe (bereits im Lied Fortunatos zu Beginn), antithetisch, idyllische Grundstimmung, Frühlingslandschaften mit Gottheiten, Venus durch Marienerscheinung abgelöst, tödliche Symbolhaftigkeit; Erste Begegnung: Florio erblickt sie beim Weiher (Geburt der Venus, s. S. 4) Narzissmotiv, Schwan als erotisches Symbol und Zugtier von Aphrodites Wagen; 1. Erscheinung: in griech. Kleidung, mit Laute und blonden Locken; Laute gehört zur typischen Ikonographie der Venus, sie singt in Sonettform (ansonsten dichtete Eichendorff hauptsächlich Lieder), 2. Erscheinung: Verführung im Palast: dunkles Haar! Warum? → Erklärung nicht möglich; Handspiegel → Schönheit und Eitelkeit, Schönheit ist flüchtig und nicht fassbar, wie ein Spiegelbild (s. S. 4 Velázquez), 3. Erscheinung als „Diana“: Rückkehr von der Beizjagd mit Falken (Liebessymbol), am Sonntag verboten, Rolle der Versucherin in grüngoldner Kleidung. 4. Erscheinung als „Maria“: (Botticelli verwendete für seine Venus und seine Maria dasselbe Modell), Venus im blauen Mantel (Mariensymbol).
Das Verschwinden der alten Götter: Der Leser steht vor einer Vielzahl an Zeichen und Überschneidungen, Zeichensysteme konkurrieren, antike Symbole der römischen Mythologie und christliche Symbole → Italien verbindet diese beiden Begriffe. Heidnische Götter vertrieben, keine Ko­Existenz möglich → tlw. Rückzug der alten Götter, Konflikt als kulturgeschichtliches Thema im 18. und 19. Jahrhundert; 1. Lied Fortunatos: interreligiös und intertextuell. Variierende Todesdarstellungen: Skelett (z.B. bei Lessing), in der Antike der „Todesgenius“ viel versöhnlicher, „Entrückung der heidnischen Götter ein Verlust“ ­ Schiller; Antike bot besseres Bild vom Sterben. Auch Novalis schreibt in „Hymnen an die Nacht“ positiv über die alten Götter, Eichendorff ebenfalls (s. S. 3 Eichendorff)
Fazit
Adoleszenz/Entwicklungsprozess
heilsgeschichtliche Lesart: Erwachsenwerden, über die Entsagung von Heidentum zugunsten des Christentums, Erlösung als Endpunkt der Entwicklung.
Poetologische Lesart: maßlose Fantasie (Statuenbelebung) → Gleichgewicht der Religionen, künstlerische Entgrenzung wird domestiziert, stabilisiert durch Religion. Echte Poesie: Religion als Urgrund.