Frauen in Wissenschaft und Technik
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Frauen in Wissenschaft und Technik
Astrid Franzke/Rudolf Schweikart (Herausgeber) Frauen in Wissenschaft und Technik Ergebnisse einer Fachtagung vom 30. September bis 2. Oktober 1999 am Fachbereich Sozialwesen der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig (FH) Leipzig, September 2000 Inhalt Vorwort 5 Grußwort des Dekans des Fachbereiches Sozialwesen der 13 HTWK Leipzig Grußwort der Gleichstellungsbeauftragten der Stadt Leipzig 15 Grußwort der Gleichstellungsbeauftragten der HTWK Leipzig 21 Barbara Bertram Neue Formen der Arbeitsorganisation Neue Chancen für die Vereinbarkeit von Familienund Berufsarbeit? 1. Gravierende Veränderungen der Erwerbsarbeit sind im Gange 2. Erfahrungen mit der Vereinbarkeit von Familie und Beruf 3. Zu einigen neuen Formen der Arbeitsorganisation im Einfluss auf Vereinbarkeit an Beispielen 23 23 29 38 Gesine Bächer Frauen in Wissenschaft und Technik Chancen und Risiken moderner Formen der Arbeitsorganisation 1. Telearbeit – eine moderne Form der Arbeitsorganisation 2. Motive für Telearbeit 51 52 61 2 Inhalt Gabriele Hartung Frauen ins Netz Die Informationsgesellschaft im Wandel 1. Die Informationsgesellschaft im Wandel 2. Frauen ins Netz 3. Informationen im Netz 4. Informationssuche durch Suchmaschinen 5. Anhang 73 73 75 77 80 82 Barbara Stiegler Heim zur Arbeit Telearbeit und Geschlechterverhältnis 85 1. Problemstellung 85 2. Technikentwicklung als „Gendering-Prozess“ und Telearbeit als ihr Produkt 88 3. Der Ein- und Ausschluss von Frauen durch Telearbeit 92 4. Die Unvereinbarkeit der Telearbeit mit dem Vereinbarkeitsargument 100 5. Tele(heim)arbeit als Mittel der Umverteilung von Geld, Arbeit und Macht zwischen den Geschlechtern? 106 6. Fazit 111 Gabriele Winker Virtuelle Unordnung im Geschlechterverhältnis Umverteilung von Arbeit als Chance? 1. Einführung 2. Informationsgesellschaft und Normalarbeitsverhältnis 3. Geschlechtshierarchische Arbeitsteilung in der Informationsgesellschaft 4. Chancen und Risiken der Flexibilisierung 5. Verbesserung der Lebensqualität für Frauen und Männer 115 115 116 122 127 135 3 Ellen Sessar-Karpp Frauen geben der Technik neue Impulse 1. Hintergrund 2. Frauen und (neue) technische Berufe 3. Frauen geben Technik neue Impulse – Initiativen und Strategien 4. Ausblick 141 141 142 145 147 Karin Hildebrandt Professionelle Arbeits- und Berufsfelder Entwicklungschancen für Frauen in den neuen Bundesländern. Selbstständigkeit in Freien Berufen als erfolgversprechende Alternative 1. Ausgangsbedingungen 2. Entwicklung der Selbstständigkeit und der Professionen in Freien Berufen in der DDR und den neuen Bundesländern 3. Frauen in Freien Berufen 4. Förderungsmöglichkeiten und Vorstellungen der Freiberuflerinnen zur Verbesserung ihrer Situation Anlage 1: Katalogberufe Anlage 2:Frauenanteile an den Selbstständigen in Freien Berufen in den alten und neuen Bundesländern Anlage 3: Freie Berufe in Sachsen 1995 und 1997 149 149 152 161 166 169 171 171 Astrid Franzke Anfänge des Frauenstudiums in Leipzig 1. Der Beitrag des Allgemeinen deutschen Frauenvereins für die Etablierung des Frauenstudiums 2. Die "Gymnasialkurse für Mädchen" des AdF 3. Die ersten Studentinnen 4. Die erste Akademikerinnengeneration 173 175 177 180 185 4 Inhalt Karin Reiche Mädchen in naturwissenschaftlichen und technischen Studienrichtungen Ergebnisse der Sommeruniversität für SchülerInnen an der TU Dresden 193 Inga Kirst Die AbsolventInnengeneration des Jahres 1998 der HTWK Leipzig Integrationschancen in den Erwerbsarbeitsmarkt 205 Vorwort Astrid Franzke, Rudolf Schweikart Der Fachbereich Sozialwesen der HTWK Leipzig richtete vom 30.September bis 2.Oktober 1999 eine Fachkonferenz aus, die geschlechterspezifische Aspekte neuer Formen der Arbeitsorganisation in den Mittelpunkt stellte. Der vorliegende Konferenzband ist mit zwei Aufsätzen mit Ergebnissen von am Fachbereich Sozialwesen laufenden Projekten erweitert. Unterstützt wurde diese Publikation durch die Gleichstellungsbeauftragte der Stadt Leipzig. Die Konferenzidee entstand mit Blick auf das fachliche Profil der HTWK Leipzig, als einer vorwiegend technisch-naturwissenschaftlich ausgerichteten Hochschule und im Kontext aktueller Entwicklungen in den Informations- und Kommunikationstechnologien und den sich daraus ergebenden geschlechterspezifischen Fragestellungen. Zu Beginn der Konferenz stellten der Dekan, Prof. Dr. Thomas Fabian, Profil und Aufgaben des Fachbereichs Sozialwesen dar und die Gleichstellungsbeauftragte der HTWK Leipzig, Dipl.-Ing. Andrea Hildebrandt, betrachtete die Hochschule aus der Frauenperspektive. Die Gleichstellungsbeauftragte der Stadt Leipzig, Dipl.-Ing. Genka Lapön, hielt in einem ebenso nachdenklich stimmenden wie eindrucksvollen Begrüßungsbeitrag ein Plädoyer für die Selbstverständlichkeit der Kinder- und Familienarbeit für beide Geschlechter. Sie reflektierte dies vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen unter dem Aspekt „das unendliche Märchen über die Vereinbarkeit von Frau mit sich selbst“ und „die unendliche Geschichte der Frauenförderung ohne Förderer“. Es nahmen ca. 40 Personen die Einladung zur Fachtagung an. Darunter waren überwiegend Frauen, die auf naturwissenschaftlichtechnischem Gebiet und in Frauen- und Mädchenzentren arbeiten, Studentinnen, Vertreterinnen von Frauenverbänden und -vereinen aus verschiedenen östlichen und westlichen Bundesländern und aus dem westeuropäischen Ausland. 6 Vorwort Die gegenwärtigen gesellschaftlichen Strukturveränderungen sind mit einem gravierenden Wandel in der Arbeitswelt verbunden. Der Dienstleistungssektor weitet sich aus. Der Einsatz neuer Informationsund Kommunikationstechnologien prägt diese Prozesse entscheidend mit. Klassische Formen der Arbeitsorganisation sowie Ausbildungs- und Erwerbschancen verändern sich. Mit diesen Veränderungen scheinen Chancen und Risiken der Frauenerwerbstätigkeit gleichermaßen verbunden zu sein. Neue Möglichkeiten der Erwerbstätigkeit von und neue Berufsfelder für Frauen scheinen in Entwicklungen zu liegen, die mit dem Begriff „New Work“ zusammengefasst werden. Es könnten sich neue Perspektiven für die individuelle Ordnung des Arbeitstages und die Verbindung von beruflicher und familialer Arbeit eröffnen. Andererseits scheint aber auch ein Comeback der Frauen als „elektronische“ Heimarbeiterinnen mit den Folgen häuslicher Isolation, Verlust an personaler Kommunikation und Reproduktion überkommener Geschlechterrollenstereotype nicht ausgeschlossen zu sein. Diese und ähnliche Problem- und Fragestellungen wurden aus unterschiedlichen Fachperspektiven in den Beiträgen vorgestellt. Die Einzelbeiträge verdeutlichen verschiedene Erkenntnisinteressen und Herangehensweisen. Sie zeigen, die Spannbreite vorhandener Forschungsergebnisse auf diesem Gebiet, aber auch die noch offenen Fragen. Daraus resultieren sowohl interessante Sichtweisen in der Zusammenführung von ost- und westdeutschen Forschungsergebnissen als auch von praktischen Erfahrungen im Umgang mit den neuen Medien. Es zeichneten sich auf der Konferenz vor allem zwei inhaltliche Schwerpunkte ab, auf die sich das Interesse der Teilnehmerinnen und Teilnehmer konzentrierte: • Chancen und Risiken der Vereinbarkeit von familialer und beruflicher Tätigkeit von Frauen und den Perspektiven von Frauen in Selbstständiger Erwerbstätigkeit, • Ursachen und mögliche Handlungsoptionen für das rückläufige Berufswahlverhalten von Mädchen und jungen Frauen für technischnaturwissenschaftliche Fachrichtungen. Prof. Dr. phil. habil. Barbara Bertram, Soziologin, Leipzig, eröffnete mit einem Überblicksreferat zum Thema „Neue Formen der Arbeitsorganisation - neue Chancen für die Vereinbarkeit von Familien- und Berufsar- Astrid Franzke, Rudolf Schweikart 7 beit“ die inhaltliche Debatte. Die Referentin bearbeitete es aus der ostdeutschen Perspektive unter Berücksichtigung der historisch anderen Erfahrungen der Verknüpfung von familialer und beruflicher Tätigkeit. Sie skizzierte dies vor dem Hintergrund des zeitlichen Zusammenfallens einer doppelten Entwicklung. Es sind einerseits Veränderungen zu bewältigen, die aus dem wenn auch geringer gewordenen strukturellen Umbruch, der durch den gesellschaftlichen Transformationsprozess bedingt ist, erwachsen und andererseits solche, die durch die rationalisierungs- und technisierungsbedingten Entwicklungen hervorgerufen worden sind. Diese Überlegungen wurden ausgehend von den gravierend veränderten Rahmenbedingungen bis hin zu gegenwärtigen Perspektiven von Frauenerwerbstätigkeit im Kontext der Veränderung von Arbeitsinhalten, des Wandels der Arbeitsorte, der Entzeitlichung und Enträumlichung von Arbeit, der Flexibilisierung und Teilzeittätigkeit geführt. Das Thema „Virtuelle Unordnung im Geschlechterverhältnis. Umverteilung von Arbeit als Chance?“ behandelte Prof. Dr. rer. pol. Gabriele Winker, FH für Technik und Wirtschaft Furtwangen. Sie thematisierte in ihrem Beitrag die Veränderungsprozesse im Geschlechterverhältnis im Rahmen der Informationsgesellschaft, wobei sich auf den Aspekt der Erwerbsarbeit unter Bezug auf die Reproduktionsarbeit konzentriert wird. Die mit der Erwerbsarbeit in der Informationsgesellschaft einhergehenden Produktivitätsfortschritte sind sowohl mit raum-zeitlichen Entkopplungen von Erwerbsarbeitsprozessen verbunden, als auch mit der Erosion des Normalarbeitsverhältnisses. Die Flexibilisierung der Erwerbsarbeitsverhältnisse wird an drei Dimensionen festgemacht: a) Erwerbsarbeitsmenge: Verringerung des Erwerbsarbeitsvolumens und Zunahme von minderbezahlten, befristeten, ungeschützten Beschäftigungsverhältnissen b) Erwerbsarbeitszeit: Flexibilisierung nach betrieblichen Anforderungen c) Erwerbsarbeitsort: Zunahme der mobilen, alternierenden und isolierten Telearbeit. „Heim zur Arbeit. Telearbeit und Geschlechterverhältnis“, so lautet der Titel des Beitrags von Dr. Barbara Stiegler, Friedrich-Ebert-Stiftung Bonn. Vier Perspektiven dieses Themas werden diskutiert. Telearbeit wird als ein Teil der Technikentwicklung analysiert, der auf der auf der 8 Vorwort Vergeschlechtlichung (gendering) aufbaut und sie beeinflusst. Darüber hinaus wird Telearbeit als widersprüchliche Form des Ein- und Ausschlusses von Frauen in technisch unterstützter Erwerbsarbeit untersucht. Das Versprechen einer besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie durch Telearbeit wird als eine Stabilisierung der Geschlechterhierarchie dargestellt. Schließlich werden die Möglichkeiten der Veränderung der Geschlechterhierarchie durch Telearbeit geprüft. Gesine Bächer, M.A., bearbeitet in einem Promotionsvorhaben das Thema „Frauen in Wissenschaft und Technik – Chancen und Risiken moderner Formen der Arbeitsorganisation“. In einem ersten Teil ihres Beitrages wird eine detaillierte Analyse der Formen und Verbreitung der Telearbeit sowie ihrer Rahmenbedingungen unterbreitet. Telearbeit an verschiedenen Orten, Rechtsformen der Telearbeit und schließlich auch der Begriff der Telearbeit erfahren u.a. eine nähere Bestimmung. In einem zweiten Teil diskutiert sie die Motive für die Telearbeit von Frauen. Ausgehend von der Doppelorientierung im Lebenskonzept junger Frauen, das beide Lebensbereiche Partnerschaft/Familie einerseits und Beruf andererseits umfasst, werden Lebenskonzepte und ökonomische Motive junger Frauen untersucht. Schließlich wird die Telearbeit hinsichtlich ihrer Chancen für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie befragt. Dr. Ellen Sessar-Karpp, Internationales Netzwerk (INET e.V.), Technologie- und Beratungszentrum für Frauen, Dreiskau-Muckern, gegründet 1995 als europäisches Modellprojekt im Leipziger Landkreis, stellte die Initiative „Frauen geben der Technik neue Impulse“ vor. Diese Initiative ordnet sich, ähnlich wie die FrauenTechnikzentren, von denen das erste in den neuen Bundesländern 1990 in Leipzig gegründet wurde, in die Bemühungen der Frauen ein, auf die Veränderungen in der Arbeitswelt zu reagieren. Sie wurde Anfang 1990 als Gemeinschaftsaktion des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, der Bundesanstalt für Arbeit und der Deutschen Telekom ins Leben gerufen. Zielstellung ist es, junge Frauen zu motivieren, sich für gewerblich-technische Berufe zu entscheiden. An der FH Bielefeld, an der seit 1996 die Koordinierungsstelle der Initiative ihren Sitz hat, gibt es erprobungsweise für fünf Jahre im Rahmen des Elektrotechnikstudiums eine neue Studienrichtung „Energieberatung und -marketing“, die von Frauen sehr angenommen wird. Dadurch konnte der Frauenanteil in der Elektrotechnik an der FH Bielefeld bereits auf 25 % gesteigert werden (im Durchschnitt liegt der Frauenanteil an allen Studienanfängern nur bei ca. 5 %). Astrid Franzke, Rudolf Schweikart 9 Ein Beitrag, der die praktischen Fähigkeiten der Teilnehmerinnen im Umgang mit den neuen Medien herausforderte, bildete der Workshop zum Thema „Frauen ins Netz - Die Informationsgesellschaft im Wandel“. Dipl.-Päd. Gabriele Hartung, COBRA - Frauen gestalten Zukunft e.V. Leipzig, die den Workshop leitete, gab eine Einführung in die historischen Anfänge von Frauen im Netz , z.B. zu den „Cyberfrauen“ Grace Murray Hopper, Betty Holberton sowie Esther Dyson, der First Lady des Internet und in die praktische Nutzung des Internets. Daten zur Nutzung des Mediums Internet aus dem Jahre 1999 belegen, dass in Deutschland nur etwa 9 % der Bevölkerung online sind. Im Vergleich dazu haben in Leipzig etwa 5 bis 7% der Privathaushalte einen Internetanschluss. Berührungsängste bezüglich der Internetnutzung von Frauen sind nachweisbar. Nach Untersuchungen der w3b-Online-Umfrage von Hamburger Marktforschern sind gegenwärtig rund drei Viertel aller Nutzer Männer und nur knapp ein Viertel Frauen. Zu den Fragen wie Internet „funktioniert“, „gewusst wo und gewusst wie“, was Frau mit oder im Netz machen kann, wie Informationssuche zielgerichtet gestaltet werden kann, wurden interessante Einblicke vermittelt, praktische Handreichungen bis hin zu empfehlenswerten Suchmaschinen unterbreitet. Professionelle Arbeits- und Berufsfelder - Entwicklungschancen für Frauen in den neuen Bundesländern thematisierte Dr. Karin Hildebrandt, BTU Cottbus, anhand von Untersuchungen zur „Selbstständigkeit in Freien Berufen als erfolgversprechende Alternative“. Aus soziologischer Sicht legte sie den Schwerpunkt auf die Selbstständige Erwerbsarbeit von Frauen und verortete sich damit im aktuellen Diskurs um Existenzgründungen von Frauen. Mit einem historischen Rückblick zur Situation der Selbstständigen in der DDR wurde die Entwicklung der Frauen in Freien Berufe in den neuen Bundesländern aufgezeigt. Die sprunghafte Zunahme von Existenzgründungen und „Freien Berufen“ nach 1989 in den neuen Bundesländern impliziert einen Entwicklungsprozess von der abhängigen zur Selbstständigen Erwerbsarbeit und die zunehmende Attraktivität dieser Form der Erwerbsarbeit für Frauen. Günstige Voraussetzungen für Frauen, wie ihre Sozialkompetenz und Kommunikationsfähigkeit scheinen mit bewirkt zu haben, dass in Sachsen 1995 32 % der Selbstständigen in freien Berufen Frauen waren. Die Referentin reflektierte ausgehend von den zahlreichen Programmen zur 10 Vorwort Förderung von Existenzgründungen auch Vorstellungen der Freiberuflerinnen zur Verbesserung ihrer Situation. Zu den Anfängen des Frauenstudiums in Leipzig im Jahre 1906 führt der Aufsatz von Dr. Astrid Franzke, Philosophin, FB Sozialwesen der HTWK Leipzig. Am Beispiel der Universität Leipzig ging sie der Frage nach, wie sich die Integration der Studentinnen in die Hochschule vollzog, welchen Beitrag dafür die sich organisierende bürgerliche Frauenbewegung leistete. Dabei fanden insbesondere deren Verdienste um die Frauen- und Mädchenbildung in Leipzig ihre Berücksichtigung. Nach Karlsruhe (1893) und Berlin (1893) waren die Leipziger Gymnasialkurse für Mädchen des Allgemeinen deutschen Frauenvereins (1894) deutschlandweit die dritte Möglichkeit, die Frauen zum Ablegen des Abiturs befähigte, eine elementare Voraussetzung für die Zulassung zum Universitätsstudium. Das Studienwahlverhalten der Frauen zeigte bereits zu diesem Zeitpunkt eine ausgeprägte Geschlechterspezifik. Weibliche Studentinnen waren zuerst an der philosophischen Fakultät und an der medizinischen Fakultät zu finden. Die Gründe dafür dürften aber auch in den spezifischen Zugangsvoraussetzungen der Frauen gelegen haben. Die meisten der Frauen hatten über Studienanstalten und Lehrerinnenseminare den Hochschulzugang erworben, der lediglich zum Pädagogikstudium berechtigte. Ergebnisse der Sommeruniversität 1998 und 1999 an der TU Dresden „Mädchen in naturwissenschaftlichen und technischen Studienrichtungen“ präsentierte Dr. Karin Reiche, Physikerin und Gleichstellungsbeauftragte der TU Dresden. Zielstellung war es, ausgehend von der Geschlechterspezifik des Studienwahlverhaltens eine spezielle Form der Studienberatung für Schülerinnen unter dem Motto „erst ausprobieren dann studieren“, vorzunehmen. In zwei Jahren haben 286 Mädchen und junge Frauen das insgesamt über 3 bzw. 4 Projektwochen laufende Angebot angenommen. Die Auswertung der Sommeruniversität zeigte, dass das persönliche Interesse, die Schule und die Familie auf das Berufswahlverhalten entscheidenden Einfluss haben. Besonders hohe Bewertungen erhielten praxisbezogene Veranstaltungsangebote: z.B. Experimentalvorträge der Fachrichtung Elektrotechnik, “Akustik - Wohlklang Lärm - Information“, „Der sprechende Computer“, „Alternative Energiegewinnung - Solarenergie“. Inga Kirst, Dipl.-Sozialarbeiterin/Sozialpädagogin, stellt in ihrem Beitrag Ergebnisse einer im Jahre 1999 durchgeführten Erhebung zu Astrid Franzke, Rudolf Schweikart 11 den Integrationschancen von AbsolventInnen der HTWK Leipzig in den Erwerbsarbeitsmarkt vor, anhand einer quantitativen Erhebung unter der AbsolventInnengeneration des Jahres 1998. Von den 523 AbsolventInnen beteiligten sich 179, d.h. 34,2%. Es zeigten sich u.a. geschlechterspezifische Unterschiede hinsichtlich der Wahl des Studienfachs, der Berufserfahrungen vor dem Studium und der Bewerbungsstrategien. Der größte Teil der männlichen Absolventen hatte sich laut offizieller AbsolventInnenstatistik für einen der technischen Studiengänge entschieden (77%). Die Frauen dominierten dagegen in der Verpackungstechnik, im Bibliothekswesen und im Sozialwesen. Deutlich mehr Männer als Frauen hatten eine Ausbildung vor dem Studium zumindest begonnen. Die Absolventinnen präferierten stärker die Stellensuche über die traditionellen Medien. Die Absolventen gaben häufiger an, dabei auf das Medium Internet zurückzugreifen. Hinsichtlich des Berufsstarts sagten 33% der Männer gegenüber 13,7% der Frauen, dass sie sofort nach der Beendigung des Studiums einen Arbeitsplatz erlangt hatten. 12 Grußwort des Dekans des Fachbereiches Sozialwesen der HTWK Leipzig Thomas Fabian Sehr geehrte Damen und Herrn, ich begrüße Sie ganz herzlich und heiße Sie am Fachbereich Sozialwesen der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig willkommen. Als erstes möchte ich im Namen des Fachbereiches Frau Dr. Franzke und Frau Kirst für die Organisation dieser Tagung und die Zusammenstellung des Programmes ausdrücklich danken. Es handelt sich hier um die erste von Mitgliedern unseres Fachbereiches ausgerichtete Tagung. Und dabei freut es mich ganz besonders, daß sie ein interdisziplinäres Thema gewählt haben. Die HTWK Leipzig wurde erst 1992 gegründet, sie kann jedoch auf eine längere Geschichte zurückblicken. Ich möchte nur zwei Daten nennen: 1838 wurde die Königlich-Sächsische Baugewerkenschule zu Leipzig und 1977 wurde die Technische Hochschule Leipzig gegründet. Die HTWK Leipzig setzt die Tradition ihrer Vorgängereinrichtungen fort. Abgesehen von den Studiengängen Bibliothekswesen, Museologie und Betriebswirtschaft befindet sich die Mehrzahl der Studiengänge und der Studienplätze in den technischen Fachbereichen Bauwesen, Elektrotechnik, Maschinen- und Energietechnik sowie Polygraphische Technik. Insofern führte die Gründung der Fachbereiches Sozialwesen im Jahre 1994 zu einer Erweiterung des Fächerspektrums auf bisher völlig ungewohntem Gebiet. Nach anfänglicher Skepsis seitens mancher Kollegen aus den technischen Fachbereichen sind wir – so glaube ich feststellen zu dürfen – inzwischen gut integriert. 14 Grußwort des Dekans des Fachbereiches Sozialwesen der HTWK Leipzig Erlauben Sie mir in diesem Zusammenhang zwei Sätze zum Tagungsthema aus einer hochschulinteren Perspektive des Fachbereiches Sozialwesen: Ich bin überzeugt, daß Ihre Tagung einen wichtigen Beitrag zur weiteren Annäherung und Zusammenarbeit zwischen dem Fachbereich Sozialwesen und den technischen Fachbereichen führen wird. Der Bereich Technik ist ein Markenzeichen unserer Hochschule und frauenspezifische Themen sind wesentlicher Bestandteil des Studiums und der Forschung am Fachbereich Sozialwesen. Die Auseinandersetzung mit Fragen der Technikentwicklung ist sicher ungewöhnlich für einen Fachbereich Sozialwesen und die Beschäftigung mit sozialwissenschaftlichen Perspektiven gehört ebenfalls nicht zum Alltag technischer Fachbereiche. Schon allein deshalb wird diese Tagung einen besonderen Stellenwert in der interdisziplinären Diskussion an unserer Hochschule erhalten. Ich bin sicher, daß Sie angesichts des vielseitigen inhaltlichen Tagungsprogramms anregende Diskussionen führen werden. Auch das kulturelle Rahmenprogramm verspricht interessante Begegnungen. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Tagungsverlauf und hoffe, Sie behalten ihren Aufenthalt an unserem Fachbereich und in der Stadt Leipzig in guter Erinnerung. Grußwort der Gleichstellungsbeauftragten der Stadt Leipzig Genka Lapön Sehr geehrte Damen und Herren, die Frau, die Wissenschaft, die Technik, die Arbeit und die Organisation – 5 Worte aus dem Tagungstitel. Sie sind alle weiblich, zumindest aus der Grammatikperspektive. Da es aus anderen Perspektiven nicht so ist, sind Sie nach Leipzig gekommen, um Erfahrungen auszutauschen und Strategien für gesellschaftliche Veränderungen zu erarbeiten, damit nicht nur die Worte, sondern auch die Inhalte dem weiblichen Geschlecht selbstverständlich Chancengleichheit anbieten. Die Arbeit und ihre Organisation. Damit möchte ich beginnen. Die Zukunft der Arbeit beschäftigt viele Gehirne – elektronische und natürliche. Jeden Tag werden Schubladenfächer mit innovativen Konzeptionen gefüllt und die Printmedien sorgen mit vollen Seiten dafür, dass die Zukunft nicht klarer, aber die Diskussion ausführlicher geführt wird. Ob das für eine Frau immer gut ist? Beim Blättern durch „Zeit-Punkte“ – unter diesem Titel erscheint eine Herausgabe der Zeit-Redaktion – entdeckte ich ein Leitinterview mit einem Vertreter vom Institut für Arbeits- und Berufsforschung (IAB). Die Überschrift machte mich neugierig. Es stand mit dicken Lettern geschrieben: Kinder und eine Karriere in der neuen, flexiblen Arbeitswelt? „Da muß man sich eben entscheiden.“ Einige Auszüge möchte ich Ihnen nicht vorenthalten. Frage: „Wie werden wir morgen arbeiten?“ Antwort / IAB: „Das Normalarbeitsverhältnis, in dem Arbeitszeit, Arbeitsort und Arbeitsaufgaben, die Hierarchie und das Einkommen langfristig festgelegt waren, wird sich zum Teil auflösen und durch offene Arbeitsformen ersetzt werden. 16 Grußwort der Gleichstellungsbeauftragten der Stadt Leipzig In den Multimediaberufen, wo vor allem Hochschulabsolventen arbeiten, sind knapp die Hälfte der neuen Arbeitsverhältnisse freiberuflich und projektbezogen.“ Frage: „In Zukunft wird lebenslanges Lernen immer wichtiger. Wie finanziere ich die eigene Weiterbildung, wenn die Selbstständigkeit zur Norm wird?“ Antwort / IAB: „Wenn ein Projekt fertig ist , kann ein nachfolgendes Beschäftigungsloch zur Fortbildung genutzt werden. Vorher müssen Sie etwas sparen, wie das Eichhörnchen. Das abhängige Arbeitsverhältnis und die soziale Sicherung hat den Menschen zu einer gewissen Verantwortungslosigkeit geführt.“ Frage: „Für Frauen wird es eng mit der Nachwuchs-Planung. Das heißt also: Kinder oder Karriere?“ Antwort / IAB: „Wer Kinder will, muß schauen, wie er das ökonomisch einplant.“ Frage: „Motto: Heirat oder Sozialhilfe – die Frauen als Verliererinnen?“ Antwort / IAB: „Wenn sich Rollenverständnisse nicht wandeln, schon. Aber wenn Männer sich mehr an der Erziehung beteiligen, ist das kein Frauenproblem mehr.“ Im Interview war mir der Mann echt unsympathisch. Seine, die IABVorstellungen, fand ich nicht gerade sozial. An wen hatte er gedacht? Was hatte er erlebt oder wem geholfen? In einem Punkt war ich echt begeistert! Meine Damen, unsere einzige Chance, als Mütter nicht zu den ständigen Verliererinnen zu zählen, ist es, den Vätern Familienaufgaben ohne Wenn und Aber zu übertragen und das gesamtgesellschaftlich zur Selbstverständlichkeit werden zu lassen, und das ohne schlechtes Gewissen und ohne Rabenmutter-Gefühl zu praktizieren. Die Naturwissenschaft und die Technik werden selten mit Frauen in Verbindung gebracht. Den Berufsalltag in dieser Männerdomäne hat die Hamburger Psychologin Renate Kosuch untersucht. Sie kam zu dem Ergebnis, dass die inneren Konflikte von Naturwissenschaftlern und von Ingenieuren der beruflichen Integration von Frauen im Wege stehen. Frauen werden beruflich ausgegrenzt, weil sie Frauen sind. Verhalten sie sich entsprechend ihrer Berufsrolle, sind sie nicht weiblich genug. Setzen sie sich erfolgreich durch, bezeichnen sie jedoch manche Kollegen als „bessere Männer“, die nur an der Arbeit interessiert und nicht emoti- Genka Lapön 17 onal genug seien. Arbeitsplätze in Naturwissenschaft und Technik sind auf männliche Lebensmuster abgestimmt. Die meisten der befragten Frauen haben keine Kinder. (11 Frauen und 11 Männer wurden befragt, die in Norddeutschland in naturwissenschaftlichen oder technischen Berufen tätig sind.) Interessant ist es, welche Empfehlung Frau Kosuch aus ihrer Studie ableitet: Naturwissenschaftler und Ingenieure sollten Seminare besuchen, die dazu beitragen, dass sich ihr Selbstbild vom innovativ arbeitenden Einzelgänger zum sozial kompetenten Teamarbeiter verändere, kommunikative Fähigkeiten verbessert, Konkurrenzverhalten abgebaut und sie selbst zu mehr Selbstkritik fähig würden. Dies könne sich auch positiv auswirken auf die Übernahme von Familienarbeit. Das Thema „Frauen in Naturwissenschaft und Technik“ lässt mir keine Ruhe. Studiert habe ich an einer Technischen Universität mit 2 % Frauenanteil an den Studierenden. Meinen akademischen Titel – Dipl.Ing. habe ich auf dem Gebiet der Technischen Kybernetik und der Automatisierungstechnik mit Auszeichnung erworben. Mein Einstieg in die Berufswelt war eine Katastrophe, da ich über die Eigenschaften weiblich, mit Kinderwunsch und Ausländerin verfügte. Das hinderte die so sehr gewünschte wissenschaftliche Karriere zwischen Messinstrumenten und Programmiermaschinen. Nur mit Hilfe von sozial denkenden und klugen Menschen gelang mir die Unterzeichnung meines ersten Arbeitsvertrages in einem kleinen Industrieunternehmen. Es war nun das Jahr 1984 und das geschah im Land der Vollbeschäftigung - in der DDR. Dankbar bin ich dafür, dass ich nicht von der Universität sofort ins Labor kommen durfte. In dem kleinen Betrieb – damals 130 Beschäftigte – herrschten fast familiäre Verhältnisse. Für große Veränderungen der innerbetrieblichen Abläufe war diese Tatsache eher ein Hindernis, für das Nachvollziehen von einzelnen Berufsbiografien war es eine echte Fundgrube. Da mir das Arbeitsgebiet Betriebsorganisation und Rechentechnik übertragen wurde, kam ich in Kontakt mit allen Abteilungen und auch mit Frauen unterschiedlichen Alters. Diese Erfahrungen – über die ich Ihnen nicht im einzelnen berichten möchte – werden meinen Berufsweg und meine ideellen Ziele für menschliches Handeln begleiten. 18 Grußwort der Gleichstellungsbeauftragten der Stadt Leipzig Erste Erfahrung ... oder das unendliche Märchen über die Vereinbarkeit von Frau mit sich selbst. Kinder bereichern das Leben beider Eltern und bestimmen die Zeitplanung der Familie maßgeblich mit. Zeitbudgets von beiden Eltern sollen die Komponente Kind enthalten. Eine Frau ist nicht Arbeitskraft minderer Wertigkeit, wenn sie Mutter ist und sich an der Erziehung ihrer Kinder beteiligt. Das Vatersein eines Mannes darf nicht nur mit dem Tragen eines symbolischen Titels verglichen werden, dazu gehören die Rechte und die Pflichten der Kindererziehung in der Familie. Ein Mann ist nicht Arbeitskraft höherer Wertigkeit, wenn er als verheirateter Mann und Vater ständig für das Unternehmen da ist, zu einem Einzelgänger mit Sonderbehandlung in der Familie wird und das Leben an ihm vorbeizieht. Eine Vereinbarkeit von Familie und Beruf ausschließlich auf dem Rücken der Frauen halte für die falscheste politische Entscheidung und für eine Flucht der Frauen vor ihren Problemen zu einer Frauennische, die zu einer großen Sonderbehandlungszone wird. Nicht viel weiter wird uns dieser Weg führen. Mütter werden an der Zeit und an ihren Wünschen hart basteln müssen, solange die Männer – befreit von diesen Zwängen – in der nächsten Sitzung über effektivere Zeitabläufe nachdenken oder Überstunden schieben, um die steigenden Lebenshaltungskosten gerade für die Familien aufzufangen. Zweite Erfahrung ... oder die unendliche Geschichte der Frauenförderung ohne Förderer. Junge Frauen mit Fachschul- oder mit Hochschulabschluss kamen in den 80er Jahren in mein damaliges Unternehmen per Absolventenvermittlung. In der Technologie oder in der Konstruktion hatten viele einen Arbeitsplatz erhalten. Die meisten hatten kleine Kinder und äußerten keine Karrierewünsche. Die älteren Technologen und Konstrukteure freuten sich über die „jungen, hübschen Dinger“, um so mehr, wenn sie Kaffee kochten und ständig Abwaschdienst hatten. An einer Fortbildung oder an anspruchsvollen und mit hohem persönlichem Einsatz verbundenen Aufgaben für die jungen Kolleginnen dachte kein Leiter. Der Frauenförderplan war voller Unverbindlichkeiten und voller Berichte mit Eigenlob für Betriebs- und Gewerkschaftsleitung. Mit dem Aufbau Genka Lapön 19 eines Rechenzentrums holte ich mir gezielt akademisch gut ausgebildete und an ihren Arbeitsplätzen ständig unterforderte junge Mütter. Der Widerstand anfangs war groß, vor allem bei den Frauen. Die neuen Aufgaben allerdings haben sie motiviert, sich fortzubilden und auch in der Freizeit über das eine oder das andere Problem nachzudenken. Fortbildungen machten sich notwendig. Auf einmal bekamen die Frauen Schwierigkeiten in der eigenen Familie. Ein Ehemann weigerte sich, Einkäufe zu erledigen, das sei eine Frauenaufgabe. Das sind lustige Episoden am Rande. Leicht hatte ich es als Chefin auch nicht immer mit den Damen. Termineinhaltung und die Kontrolle der Ergebnisse war ja mein bitteres Los. Reine Anwesenheit zu belohnen, war nicht mein Ding. Motiviert, ergebnisorientiert und intelligent sollten die Mitarbeiterinnen ihre Arbeitszeit gestalten. Unbewusst betrieb ich damals eine Förderung für Frauen von Frauen. Diese Entwicklung haben meine damaligen Mitarbeiterinnen nicht bereut. Sie haben heute gute, interessante und sichere Arbeitsplätze in der Datenverarbeitung. Nach meinem Lebenstraum 1989 gefragt, antwortete ich prompt: „Einen Frauenbetrieb gründen, um den Frauen Mut zu machen und zu zeigen, dass jede Funktion auch von Frauen sehr gut ausgeführt werden kann.“ Meine Erfahrungen lehrten mich damals, dass über Frauenförderung viel geschrieben und am 8. März auch viel geredet wurde, aber eigentlich Männer- Förderung aktiv betrieben wurde. Der DGB-Vorstand, Abteilung Frauenpolitik, berichtete im Info-Brief vom März 1999 über die Ergebnisse einer Studie, die das Frauenministerium in Nordrhein-Westfalen in Auftrag gegeben hatte: „Danach werden 90 % der Männer, aber nur 57 % der Frauen von ihren Vorgesetzten gefördert.“ Die Meldung überraschte mich nicht, sondern sie bestätigte nur meinen ausdrücklichen frauenparteilichen Wunsch, endlich die heimliche Männerquote offen zu legen und sie auf 50 % herunterzufahren. Da sind die Frauen gefragt. Nicht ihre ewige Geduld, ihr Kampfgeist ist gefordert. Die Zukunft setzt auf uns, auf die Frauen, und sie wird es uns übel nehmen, wenn wir bei Dummheit und Überheblichkeit im globalen Maße nicht eingreifen mit den uns in der Demokratie zur Verfügung stehenden Mitteln, und mit einem großen Veränderungswillen gegen Verkrustung und festgefahrene Normen und Regeln. Gute Ansätze finde ich bei den Wettbewerben auf Landesebene – „Frauenfreundlicher Betrieb“ – und auf Bundesebene – „Familienfreundlicher Betrieb“, um gesellschaftliche Vorbilder und Akzeptanz zu errei- 20 Grußwort der Gleichstellungsbeauftragten der Stadt Leipzig chen. Denn was wollen Frauen, was wollen Männer? Die Entwicklung rollt und darf die Frauen nicht überrollen oder gar vergessen. Es liegt in unserer Hand, die Weichen anders zu stellen. Aktionen wie „Frauen ans Netz“ geben auch die Chance, sich vom Stricknetz zu befreien. Lassen Sie uns dann nicht bei den Telekundinnen bleiben, sondern zu den Gestalterinnen und zu den Macherinnen gehören. Das Netz soll zur Hälfte uns gehören – von uns geschaffen und für alle menschlich annehmbar. Erschrecken Sie dabei nicht vor den Nebenwirkungen in der nächsten Phase. Lassen wir uns lieber übertriebene Berufsneigung vorwerfen als stille Güte und Fügsamkeit in der einsamen elektronischen Heimathölle mit Kind und Kübel – das Letzte wegen der gewünschten Reinheit... Im Namen der Stadtverwaltung begrüße ich Sie recht herzlich in Leipzig und wünsche Ihnen einen aufregenden Aufenthalt und viele anregende Diskussionen. Locken Sie Ihren Mut aus der tiefsten Körpernische heraus und machen Sie sich stark für die entscheidenden Jahre am Anfang des nächsten Jahrtausends. Frauen haben die Chancen, Frauen und Männer tragen die Risiken! Nur beide gemeinsam können es schaffen! Grußwort der Gleichstellungsbeauftragten der HTWK Leipzig Andrea Hildebrandt Sehr geehrter Herr Dekan, meine Damen und Herren, auch ich möchte Sie ganz herzlich an unserer Hochschule begrüßen und freue mich, dass sich so viele kompetente Leute mit dem wichtigen Thema „Frauen in Wissenschaft und Technik“ beschäftigen werden. Meine Aufgabe als Gleichstellungsbeauftragte der HTWK Leipzig ist es, auf Chancengleichheit von Frauen und Männern zu achten und die Hochschule auf Defizite und Mängel in diesem sensiblen Bereich hinzuweisen. Unsere Hochschule ist mit rund 400 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und etwa 4.800 Studierenden eine vergleichsweise überschaubare Einheit. Sowohl bei den Mitarbeitern als auch bei den Studierenden sind etwa 50 % weiblich. Das klingt erst mal ganz gut, aber geht man ins Detail, relativieren sich die Zahlen: von 174 Professuren sind nur 23 mit Frauen besetzt und leider sind Leitungsposten wie Rektor, Prorektoren, Kanzler und alle Dekane sämtlich fest in Männerhand! Bei den Studierenden sieht es ähnlich aus: den hohen Frauenanteil verdanken wir Fachbereichen wie Buch und Museum und Sozialwesen, während in den technischen Fachbereichen Elektrotechnik, Maschinenbau oder Bauingenieurwesen der Frauenanteil unter 10 % liegt. Und damit sind wir beim Thema: Die Wirtschaft benötigt dringend gut ausgebildete Ingenieurinnen und Ingenieure. Und gerade große Unternehmen wie Volkswagen oder die Telecom möchten explizit mehr Frauen für Forschungs-/Entwicklungsabteilungen haben, weil „gemischte“ Teams effizienter arbeiten und das Arbeitsklima besser ist. Nun werden uns nach VDE/VDI in den nächsten Jahren Tausende Ingenieure fehlen (wohlgemerkt, damit sind gut ausgebildete und lernfä- 22 Grußwort der Gleichstellungsbeauftragten der HTWK Leipzig hige Absolventen gemeint, nicht die vielen arbeitslosen Ingenieurinnen und Ingenieure älterer Jahrgänge, die es reichlich gibt). Und fehlen werden die Absolventen und erst recht die Absolventinnen, weil in den letzten 8 Jahren kaum einer ein bestenfalls Arbeitslosigkeit verheißendes Ingenieurstudium absolviert hat. Langsam steigen die Studentenzahlen wieder an. Und zur Steigerung des Frauenanteils bieten viele Hochschulen Sommeruniversitäten für Frauen, Schnupperstudien oder Mädchentechniktage an. Dazu werden wir ja noch etwas hören. Und an zwei Fachhochschulen gibt es monoedukative Ingenieurstudiengänge. Andererseits dürfen wir nicht vergessen, dass Berufsfelder, die nur oder überwiegend von Frauen besetzt sind, einen geringeren gesellschaftlichen Wert erfahren, was sich auch bei der Bezahlung auswirkt. Ich wünsche uns viele interessante Vorträge und eine lebhafte Diskussion. Und ich möchte mich bei Frau Dr. Franzke, Frau Kirst und Herrn Prof. Schweikart für Ihre engagierte Arbeit bedanken, der wir diese Tagung hier zu verdanken haben. Neue Formen der Arbeitsorganisation Neue Chancen für die Vereinbarkeit von Familien- und Berufsarbeit? Barbara Bertram Veränderungen im Bereich der Arbeit vollziehen sich ständig, aber in den letzten Jahren vehementer, rascher und mit weitreichenderen existenziellen Auswirkungen. Das gilt nach wie vor mehr für Ost- als für Westdeutschland. In den neuen Ländern treffen die immer noch anhaltenden, wenn auch geringer gewordenen, strukturellen Umbrüche durch den gesellschaftlichen Transformationsprozess mit den rationalisierungsund technisierungsbedingten Entwicklungen zusammen. Sie haben Einfluss auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Die folgenden Ausführungen beziehen Ergebnisse von verschiedenen sozialwissenschaftlichen Untersuchungen ein, vorzugsweise vom Deutschen Jugendinstitut (DJI) München/Leipzig. Sie stellen ostdeutsche Bedingungen mehr in den Mittelpunkt, verweisen jedoch auf Unterschiede zu den westdeutschen. 1. Gravierende Veränderungen der Erwerbsarbeit sind im Gange Wir sprechen heute nicht mehr nur von der Einführung neuer Technologien und einem Wandel der Arbeit schlechthin, sondern von einer Revolutionierung der Erwerbslandschaft (Liesering 1999, S. 985). Das geschieht im Zusammenhang mit den tiefgreifenden Auswirkungen auf Qualifikations-, Beschäftigungsstrukturen und Arbeitsinhalte, die sich v. a. mit dem immensen Fortschreiten der Informations- und Kommunikationstechnologien vollziehen. Die Entwicklungen im Multimediabereich beeinflussen alle anderen Wirtschaftsbereiche. Es gibt Stimmen, die eine Revolutionierung von Arbeit v. a. in Ostdeutschland noch für ferne Zukunftsmusik halten. Aber fest steht, dass viele in den letzten Jahren prognostizierten Entwicklungen im Erwerbsarbeitsbereich und 24 Neue Formen der Arbeitsorganisation am Arbeitsmarkt rascher eintraten, weil zu den Veränderungen, mit denen wir es zu tun haben, auch eine immense Tempobeschleunigung gehört und bestimmte Zusammenhänge und Folgen von immer weiter ansteigender Technisierung und Flexibilisierung nur sehr schwer exakt vorauszuberechnen sind. Zudem nehmen wir bereits heute einige solche Prozesse überdeutlich wahr, die sich schon vor 1990 in Westdeutschland und teilweise auch in Ostdeutschland bemerkbar machten - aber hier nicht revolutionär für den gesamten Beschäftigungsbereich und nicht existenziell für die Erwerbstätigen. Solche Prozesse, sind: Eine zunehmende Verknappung von Erwerbsarbeit durch fortschreitende Technisierung und Rationalisierung, besonders in Ostdeutschland anhaltend viele Firmenkonkurse aus anderen Gründen (schlechte Auftragslage, ungenügende Konkurrenzfähigkeit am Markt gegenüber Großfirmen/-ketten, fehlende finanzielle Rücklagen usw.). Arbeitsplatzreduzierungen konnten um 1999 in Westdeutschland ansatzweise durch neu entstehende Branchen aufgehalten werden, aber entsprechend Prognosen auch nur vorübergehend. Die Arbeitslosenzahlen gingen dort 1999 leicht zurück, vor allem die Dienstleistungsbranche legte zu. In Ostdeutschland konnte die systematische Verknappung von Erwerbsarbeit bisher überhaupt nicht ausgeglichen werden. Die Massenarbeitslosigkeit war im Herbst 1999 doppelt so hoch wie in Westdeutschland, ohne Aussicht auf nennenswerte Reduzierung. Prognosen für die nächsten 10-20 Jahre gehen dahin, dass wir bundesweit einem immensen Abbau von Arbeitsplätzen in allen Branchen, auch im Dienstleistungssektor, entgegengehen und neu entstehende Arbeitsfelder, die auch Einstiegsmöglichkeiten für Frauen bringen könnten, das nicht annähernd auffangen. Wirkliche Lösungen für dieses Problem kann nur eine Umverteilung von Erwerbsarbeit mit neu zu erschließenden Bereichen (Umwelt u. a.), neuen Inhalten, Zeit- und Beschäftigtenstrukturen bringen. Vielfältige, möglichst solidarische, Formen der Umverteilung von Arbeit sind gefragt (Zukunftskommission 1998, S. 189). Die Verknappung von Arbeitsplätzen wird von einer Reihe Politiker und Unternehmen zum Anlass genommen, Frauen wieder vom Arbeitsmarkt zu verdrängen. Das bezieht sich in Ostdeutschland auch auf ehemalige Frauenberufe und -arbeitsplätze. Es drückt sich in Diskriminierung von Frauenerwerbsarbeit sowie in der bevorzugten Auswahl von Männern bei Bewerbungen gegenüber gleich qualifizierten Frauen aus, besonders wenn Kinder vorhanden sind oder noch kommen könnten. Es Barbara Bertram 25 drückt sich ferner in einer zunehmenden Härte der Unternehmen gegenüber Vereinbarkeitsregelungen aus, selbst entgegen vorhandener gesetzlichen Bestimmungen, wie etwa bei Kinderkrankheit. („Hier gelten nur Firmeninteressen, Kinder sind Privatsache.“ „Sie können bei mir arbeiten, aber Sie haben ständig verfügbar zu sein, Ausfälle wegen des Kindes sind nicht möglich.“ – Aus Untersuchungen des DJI, Leipzig.) Auf Grund des Abbaus von Arbeitsplätzen in der Wirtschaft nimmt bisher der geförderte Arbeits- und Ausbildungsmarkt anteilmäßig zu, ganz besonders in Ostdeutschland. Die Frage ist, wie lange und mit welchen Langfristeffekten das noch anhält und wie sich das überhaupt „rechnet“. Ursprünglich als „Brücke“ zum 1. Arbeits- und Ausbildungsmarkt vorgesehen, hat sich der geförderte inzwischen verSelbstständigt. Zunehmend fanden Frauen hier Bildung und Beschäftigung, inzwischen entsprechend Gesetz nach ihren Anteilen an Arbeitslosigkeit. Das ist ambivalent zu bewerten in bezug auf Gleichstellung und künftige Möglichkeiten am 1. Arbeitsmarkt. Eine anteilmäßige Zunahme der geförderten Beschäftigung und Bildung bedeutet keinen gleichwertigen Ersatz zum 1. Arbeitsmarkt (da kurzzeitig befristet, oft nicht der Qualifikation entsprechend, niedriger bezahlt, unfreiwillig in Teilzeit, weniger anerkannt) oder zur regulären, insbesondere betrieblichen, Berufsausbildung (durch Entkopplung von Arbeitsplätzen usw.). Die Einbeziehung der Frauen in den geförderten Arbeits- und Ausbildungsmarkt ist eine Alternative zur Arbeitslosigkeit bzw. zum Hausfrauendasein mit Kindern. Sie kann unter Umständen, z. B. als ABMStelle, die Vereinbarkeit aktuell erleichtern gegenüber einer Vollzeitbeschäftigung oder kann das individuelle Arbeitskraftangebot für später verbessern helfen (z. B. über FuU). Aus solchen und anderen Gründen (Verdienst, Kommunikation, Einbezogensein, Leistungsansprüche vom Arbeitsamt usw.) sind die Förderungen unverzichtbar geworden. Da im Anschluss an solche Maßnahmen jedoch heute – vor allem in Ostdeutschland – meist wieder Arbeitslosigkeit oder sogar „MaßnahmeKarrieren“ (Wechsel von Maßnahme – Arbeitslosigkeit) ohne Wiedereinstiegschancen in den 1. Arbeitsmarkt stehen, ist auch unter dem Aspekt der Vereinbarkeit der geförderte Markt dem regulären nicht gleichzusetzen. Die Umverteilung und Flexibilisierung von Arbeit durch Beschäftigungsförderung widerspricht dem Bestreben der Frauen nach existenzsichernder Vollzeitbeschäftigung und realer Gleichstellung. Durch die Ungleichverteilung der Vermittlungen (an den geförderten Markt mehr 26 Neue Formen der Arbeitsorganisation Frauen, an den 1. Arbeitsmarkt mehr Männer) wird das Geschlechterverhältnis zuungunsten der Frauen stabilisiert. Im Zusammenhang mit der starken Verknappung von Arbeit, der bundesweit bestehenden, aber im Osten flächendeckenden Wegrationalisierung ganzer Branchen, Berufsgruppen und Betriebe nahmen arbeitsbedingtes Pendeln oder Umziehen in andere Regionen mit günstigeren Arbeitsplatzbedingungen zu. Es ist anzunehmen, dass sich das noch ausbreitet, man „fährt der Arbeit nach“. Das betrifft vor allem die Richtung von Ost nach West. Da Frauen mit Kindern stärker in die Familie eingebunden sind als Männer, haben sie solche Möglichkeiten der Arbeitssuche in geringerem Maße, obwohl Ostfrauen lt. Untersuchungen vor dem Eintreten von Mutterschaft sogar stärker als Männer bereit sind zum Pendeln oder Umziehen (Leipziger Längsschnittstudie II des DJI). Vereinbarkeit und regionale Mobilität stehen sich entgegen, trotzdem riskieren das nicht wenige ostdeutsche Frauen, wenn Kinder größer sind und noch eine andere Obhut haben. Fortschreitende Technisierung und Rationalisierung verbindet sich mit Globalisierung und Internationalisierung. Gleichzeitig wird eine zunehmende Vereinzelung und Individualisierung von Arbeit erwartet – z. B. das durchweg flexible Individuum als sein eigener Arbeitgeber. Das heißt Beschäftigungsstrukturen, Arbeitsverhältnisse, Berufsfelder und Arbeitsaufgaben verändern sich nach Organisationsform, Inhalt, Ort und Zeit. Temporäre Arbeitsverhältnisse verschiedenster Art, allmählich auch ortsflexible Arbeitsmöglichkeiten, gewinnen weiter an Gewicht. Für Frauen mit Kindern ergeben sich hierdurch möglicherweise neue Chancen zur Beteiligung an Erwerbsarbeit, z. B. über zeitliche Flexibilität, Heimarbeit, Selbstständigkeit. All diese neuen Arbeitsformen sind jedoch – vielfach im Gegensatz zu den Behauptungen der Anbieter – nicht ohne weiteres günstig zur Vereinbarkeit, oft ungünstig. Frauen können durch unplanmäßige Arbeitseinsätze, Überstunden oder termingebundene Heimarbeit weitaus stärker unter Zeit- und Verantwortungsdruck geraten als bei Normalarbeitsverhältnissen mit geregelter Arbeitszeit und fester Kinderbetreuung außer Haus. Lebenslange Weiterbildung ist Trend. Einmal erworbene Berufsqualifikationen sind schon seit längerer Zeit in vielen Bereichen nicht mehr lebenslang anwendbar. Erfahrungswissen wird durch moderne Information(-stechniken) ersetzt. Berufsinhalte und -strukturen wandeln sich, Barbara Bertram 27 veränderte Basis- und Schlüsselqualifikationen gewinnen in vielen Branchen an Bedeutung. Prognosen sagen Gesamttendenzen zu höheren Qualifikationsanforderungen bei weiter abnehmenden angelernten Tätigkeiten voraus. Durch die schnelllebigen Trends zum Wissens- und Technisierungsverschleiß treten massenhaft Entwertungen von Qualifikation auf. Diese werden in Ostdeutschland durch die Transformation des westdeutschen Wirtschafts- und Bildungssystems stark verschärft und bundesweit durch Arbeitslosigkeit auch in solchen Berufen vergrößert, die an sich noch „brauchbar“ wären. Gleichzeitig sind Trends zum Gewinn an Qualifizierung, Information, Erfahrung und Persönlichkeitsreife bei den ArbeitnehmerInnen, die sich bildungs- und aufgabenbezogen flexibel halten, unverkennbar. Der Druck zur Weiterbildung bzw. Information, zum Wechsel von Arbeitstätigkeiten und -orten, zu flexiblem und mobilem Verhalten hat einerseits viele belastende Aspekte, aber andererseits auch persönlichkeitsfördernde. Die fortschreitenden Wissens- und Technisierungstendenzen müssen von den Erwerbstätigen über Weiterbildungsmaßnahmen, Zusatzqualifikationen, Umschulungen, mehrfache und höhere Bildungsabschlüsse abgefangen werden. Wer nicht mithalten kann, dessen Arbeitsmarktchancen sinken rapide. Umgekehrt werden bei Bewerbungen zusätzliche Zertifikate als Ausdruck von Flexibilität des Bewerbers angesehen. Ostdeutsche Frauen mit Berufsabschluss sind entsprechend vielen einschlägigen Untersuchungen in der Gesamttendenz sehr - sogar stärker als Männer - weiterbildungsbereit, um ihren/einen Arbeitsplatz zu erhalten. Problem ist jedoch, dass Mütter von zu betreuenden und erziehenden Kindern sehr große Mühe haben, hierbei konkurrenzfähig zu Männern zu bleiben. Familie oder Beruf geraten leicht ins Hintertreffen, wenn Weiterbildung außerhalb von Arbeitszeit oder Wohnort liegt bzw. kostenintensiv ist. Für viele stellt sich dann gerade aus solchen Gründen die Entscheidung: Beruf oder Familie? – was für ostdeutsche Frauen neu ist. Sie entscheiden sich dann eher gegen (weitere) Kinder und für Erwerbsarbeit einschließlich der Perspektive einer ständigen Weiterbildung. Das alte „Normalarbeitsverhältnis“ zerbricht immer mehr (unbefristete qualifikationsgerechte Vollzeitbeschäftigung in einem Unternehmen nach fester Arbeitszeitvereinbarung auf 8-Stunden-Tag-Basis, in dauerhafter Anstellung über 40 bzw. 45 Jahre). Das löst sich auf zugunsten von befristeten Arbeits-/Werk-/Honorar-/Projekt-Verträgen mit variabler 28 Neue Formen der Arbeitsorganisation und Teil-Arbeitszeit, oft unterhalb der Qualifikation, mit Wechsel zur Arbeitslosigkeit, häufig mit ungenügender sozialer Absicherung. Heute sind bundesweit mindestens für ein Drittel der Beschäftigten die alten Normalarbeitsverhältnisse weggebrochen (Zukunftskommission 1998, S.227), die berechenbarer waren, besonders für Frauen in bezug auf die Vereinbarkeit mit einer Familie. Die neuen Arbeitsverhältnisse sind variabler, flexibler, diffuser und insgesamt gesehen perspektivisch weniger berechenbar für Vereinbarkeit. Als aktuelle Variante, am Erwerbsleben überhaupt teilnehmen zu können, sind solche flexiblen Arbeitsverhältnisse mitunter eine Chance für Mütter. Vom Wegbrechen des Normalarbeitsverhältnisses sind auch Männer betroffen. Aber insgesamt gesehen geraten Frauen häufiger und zunehmend in unsichere, oft nicht existenzsichernde Arbeitsverhältnisse – über zeitliche Befristung, den 2. Arbeitsmarkt, (Schein-) Selbstständigkeit, geringfügige Beschäftigung, Heimarbeit, Leiharbeit usw. (vgl. auch Frauen in... 1998, S. 11). In Ostdeutschland geschieht das besonders häufig unterhalb ihrer guten Qualifikation (ostdeutsche Frauen bis etwa zum 50. Lebensjahr besitzen das gleiche, hohe, Qualifikationsniveau wie ostdeutsche Männer). Das bedeutet oft zu wenig Verdienst, um die Familie mit Kindern ausreichend versorgen zu können. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Ost-Einkommen geringer als die im Westen sind und Frauen 43% des Familieneinkommens aufbringen (Drauschke 1999, S. 109, Sozialreport 1999). Neue Formen von Erwerbsarbeit entkoppeln zunehmend Einbeziehung in den Arbeitsmarkt und existenzsicherndes Einkommen (Zukunftskommission 1998, S. 305). All diese Prozesse der Veränderung von Arbeit sind von einer ungeheuren Tempobeschleunigung gekennzeichnet. Das heißt, Techniken, Wissen und Erfahrungen verschleißen im Zuge der gegenwärtigen und künftigen Wissenschafts- und Technisierungsentwicklung, speziell der neuen Informationstechniken, rascher, menschliche Erfahrung tritt gegenüber Technik- und Wissens-Know-How in den Hintergrund. Frauen mit Familie geraten leicht mehrfach in den Rückstand: Sie haben generell weniger Zeit und Gelegenheit, sich auf diese Entwicklungen außerhalb einer festgelegten Arbeitszeit einzustellen; sie kommen bei Fehlzeiten (Kinderkrankheiten usw.) oder nach dem Erziehungsurlaub nicht selten in fachliche Rückstände. Unterstellt wird ihnen das häufig auch dann, wenn sie Arbeitsunterbrechungen verkürzen (z. B. nur Barbara Bertram 29 1 Jahr Erziehungsurlaub beanspruchen) oder zur Weiterbildung nutzen – was in Ostdeutschland zunehmend geschieht. Hier wirken Vorurteile. Untersuchungen belegen schon heute, da die neuen Formen der Arbeitsorganisation, speziell die Informationstechnologien, noch am Anfang stehen, dass der Trend zur Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse für Frauen sowohl Chancen als auch Risiken bringt. Das gilt nicht nur für Vereinbarkeit, sondern für das Geschlechterverhältnis überhaupt. Chancen liegen im Einstieg in die neuen Berufe, beispielsweise im Multimediabereich. Die bisherigen Erfahrungen haben ergeben, dass sich dieses nicht im Selbstlauf zu Gunsten der Frauen ändert, sondern im Gegenteil zu deren Ungunsten, wenn sie zu wenig dafür tun. Die meisten Männer mit Kindern nehmen für sich in Anspruch, Anpassungsleistungen an die hochgradig flexibilisierte Arbeitswelt letztenendes ohne Rücksicht auf die Familie zu bringen. Obwohl sich Differenzierungen bezüglich einer gemeinsam zu tragenden Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und Elternschaft während der letzten Jahrzehnte nachweisen lassen, hat sich im generellen Trend nichts Grundlegendes geändert. Vereinbarkeit ist in der allgemeinen Tendenz vor allem Frauen-, weitaus weniger Männersache. Beispielsweise leisten bundesweit Mütter täglich fast 6 Stunden Haus- und Familienarbeit, Väter etwa die Hälfte. Männer „unterstützen“ vielfach bei der Vereinbarkeit, ziehen sich aber häufig sehr rasch aus der familiären Vereinbarkeitsverpflichtung zurück, wenn es dabei ernsthafte Probleme gibt. Die Mehrheit der Frauen, auch in Ostdeutschland, fördert das allerdings, gibt unter Entscheidungszwang der Erwerbsarbeit des Mannes den Vorrang - soweit überhaupt eine Entscheidungsmöglichkeit vorhanden ist. Die Entscheidung Beruf oder Familie steht für Männer selten, offiziell und in der öffentlichen Meinung gar nicht. Bei all diesen Trends gibt es allerdings individuellfamiliäre und auch Ost-/West-Unterschiede. 2. Erfahrungen mit der Vereinbarkeit von Familie und Beruf Frauen in Ostdeutschland streben generell und in Westdeutschland zunehmend nach einer langanhaltenden Erwerbstätigkeit im Leben, unabhängig von Verheiratung und „Versorgungsleistungen“ eines Eheman- 30 Neue Formen der Arbeitsorganisation nes. Das heißt, junge Frauen wollen nach ihrer beruflichen Ausbildung über weite Zeiträume ihres arbeitsfähigen Alters erwerbstätig sein. Darüber hinaus möchten die meisten Frauen eine eigene Familie mit Kindern haben. Das erfordert günstige Bedingungen zur Vereinbarkeit von Familie/Elternschaft und Beruf im gleichen Zeitraum (wie in Ostdeutschland bisher üblich) oder nacheinander in unterschiedlichen Lebensphasen (wie bisher mehr in Westdeutschland üblich) oder Verzichtsbereitschaften im Rahmen der Rollen als Erwerbstätige bzw. Elternteil. Gegenwärtig gehen die Tendenzen allerdings in Ost- wie in Westdeutschland eher in Richtung erzwungener Verzichtsbereitschaften. Im folgenden wird versucht, allgemeine Tendenzen zu beschreiben, die sich bei einzelnen Frauen(-gruppen) ganz anders darstellen können. Landfrauen beispielsweise hatten schon immer Kinder und Landarbeit im gleichen Zeitraum zu bewältigen. Nicht wenige hochqualifizierte westdeutsche Frauen in höheren Positionen vereinbaren Beruf und Familie über spezielle, meist erkaufte, Rahmenbedingungen. Aber es geht hier um Trends bei Mehrheiten. Im Zusammenhang mit Erwerbstätigkeit ist heute viel von „neuen Lebensentwürfen“ die Rede. Die neuen Lebensentwürfe der jungen Frauen in Westdeutschland bedeuten: Heraustreten aus den Hausfrauenrollen, wie sie vielfach die Müttergeneration noch innehatte, Hinwenden zur Berufsrolle, aber auf Kinder möglichst nicht verzichten. Möglichkeiten und Rahmenbedingungen zur Vereinbarkeit schaffen sich westdeutsche Frauen, anders als ostdeutsche, durch häufigere Teilzeitarbeit, verbreitetere private, statt öffentliche Kinderbetreuung - besonders im Alter bis zu 3 Jahren (teils erzwungen über die regionale Ausstattung mit Kindertagesstätten bzw. deren Öffnungszeiten), längere Baby- und Kleinkind-Pausen, eine häufigere Anreihung mehrerer Erziehungsurlaube. Man muss aber auch festhalten, dass sich westdeutsche Frauen schon länger als ostdeutsche zu einer Entscheidung: Beruf oder Kind? gezwungen sehen, vor allem bei Karriereabsichten. Hervorgehend aus Unterschieden in den Traditionen von Lebensentwürfen der Mütter-/Großmüttergenerationen in West und Ost (als Hausfrau oder Erwerbstätige), in den verbreiteten öffentlichen Wertvorstellungen zur Erwerbstätigkeit von Müttern, in der Haltung der Partner dazu sowie den Rahmenbedingungen zur Kinderbetreuung und sonstigen Unterstützung von Vereinbarkeit sind die Haltungen der west- und ostdeutschen Frauen zu dieser Problematik heute bei aller Annäherung Barbara Bertram 31 noch nicht gleich. Obwohl die jüngere Generation bundesweit am liebsten Erwerbstätigkeit und Kinder hätte, „kämpfen“ viele ostdeutsche Frauen mehr um die Vereinbarkeit (sind in organisatorischen Fragen diesbezüglich auch geübter und werden meist von ihren Lebenspartnern unterstützt) oder sie wählen bei einer notwendigen Entscheidung eher die Berufsarbeit als die Geburt eines Kindes (vgl. Sass/Jaeckel 1996, S. 73 ff; Hildebrandt/Wittmann 1996, S. 36 ff). Das heißt, der Unterschied zeigt sich im Grad der Identifizierung von großen Mehrheiten mit dem Beruf: Bei ostdeutschen, hier auch älteren Frauen, ist das Streben nach Vereinbarkeit intensiver, es hat eine positiv erlebte/vermittelte Tradition, und bei Unvereinbarkeit geht die Entscheidungstendenz heute eher zum Beruf, aber nur notgedrungen. Wenn anhaltend kein Arbeitsplatz zu bekommen ist, zieht sich inzwischen nur ein geringer Teil ostdeutscher Frauen resignierend auf Gelegenheitsjobs oder staatliche Unterstützungen zurück. Die weitaus meisten halten ihren Erwerbsanspruch aufrecht. Eine sehr geringe Minderheit junger ostdeutscher Frauen will ihre Identität als Frau auf der Skala: „Nur Beruf – Beruf und Familie – nur Familie“ lediglich aus der Familie beziehen. In Westdeutschland sind das immer noch mehr Frauen, aber weniger diejenigen mit höherer Bildung. Bei diesen polarisiert sich die Entscheidung für nur Beruf oder nur Familie deutlicher; nur ein Teil von ihnen sieht durch ausreichendes Einkommen gute Chancen, auch private Kinderbetreuung zu bezahlen. In Ostdeutschland sind die Lebensentwürfe nach der Wende wesentlich differenzierter als vorher geworden, die Bedingungen dafür weniger eng und starr. Restriktionen – was erwartet wird – sind zunächst entfallen, wurden aber versucht in umgekehrter Richtung wiederaufzubauen: In der DDR sollte eine gesunde Frau im arbeitsfähigen Alter möglichst 2 Kinder haben und in Vollzeit berufstätig sein; aus demographischen und wirtschaftlichen Gründen (hoher Arbeitskräftebedarf) sowie der Zielstellung „soziale Gleichheit von Frau und Mann“ gab es für die Vereinbarkeit staatliche Unterstützungen. Heute gibt es Versuche, Frauen mit und ohne Kind „freiwillig“ an den Herd zurückzudrängen - erfolglos, wie man inzwischen sieht. Die ostdeutschen Frauen gingen nicht ab vom Anspruch auf Erwerbsarbeit, gleichberechtigt zu den Männern. Auch die „eigentlichen“ Kinderwünsche sind stabil geblieben: mehrheitlich 2 Kinder, teils 1 Kind, kaum mehr. Stark verändert hat sich die Realisierung dieser Wünsche: auf spätere Jahr/späteres Lebensalter verschoben oder reduziert. Aber trotz aller neu entstandenen Probleme am Arbeitsmarkt 32 Neue Formen der Arbeitsorganisation ist die partnerschaftliche Familie mit 2 Erwerbspersonen und 2 Kindern unter den Ostdeutschen noch die am meisten verbreitetste und gewünschte Familienform (Sozialreport SH1+2 1998, S. 54; Zukunftskommission 1998, S. 331). Der Anspruch auf Erwerbstätigkeit wird von ostdeutschen Frauen bei Mutterschaft unabhängig von Alter und Zahl der Kinder aufrecht erhalten. Bei der Nachwende-Jugend deuten sich jedoch bereits Veränderungen in den Wertorientierungen an: Stand in der Skala von hauptsächlichen Lebenswerten vor der Wende die Familie (Kinder haben) an der Spitze vor dem Beruf, ist die Erwerbsarbeit (erwerbstätig sein) – bei immer noch hohem Wert „Kind(er)“ - heute deutlich wichtiger (Bertram 1997, S. 34 und 72; Bertram/Schröpfer 1999, S. 39; Sozialreport II/98, S. 7). In Ostdeutschland trat schon die heutige Mütter- und Großmüttergeneration der jungen Frauen (die gegenwärtig 40- bis 60/70Jährigen) aus der traditionellen Hausfrauenrolle heraus. Ihre Probleme mit der Vereinbarkeit lagen vor allem außerhalb der Arbeit: zu viel Zeitaufwand und Mühe nach einem langen Arbeitstag für die tägliche Versorgung der Familie, generelle Versorgungslücken beim Handel, ungenügende familiäre Arbeitsteilung – obwohl sich im Laufe der Jahrzehnte bei letzterer bestimmte Veränderungen durchsetzen ließen. Unter diesen Bedingungen stiegen Teilzeit-Wünsche rapide an, vor allem Ende der 80er Jahre. Gleichzeitig sanken die Geburtenzahlen (rückläufige Mehrkindfamilien). Besonders deutlich wurden bei den karrierebewussten Studentinnen/Akademikerinnen wachsende Tendenzen, auf das 2. Kind zu verzichten und teilweise auch den Geburtszeitpunkt des 1. Kindes bewusst in die Studienzeit vorzuverlegen, um dann ohne größere Unterbrechungen die Berufslaufbahn gehen zu können. Das war schwer, aber mit viel universitärer und staatlicher Unterstützung in einigen Fachrichtungen möglich. Heute sind StudentInnen mit Kind wieder die Ausnahme geworden. In Ostdeutschland vereinbart demnach jetzt bereits die 3. Frauengeneration Beruf und Familie als üblichen Lebensentwurf in Form einer generellen Erscheinung. Die Probleme dabei sind anders, aber einige wesentliche Merkmale blieben über die Jahrzehnte und die politische Veränderungen hinweg gleich: 1. Lösungen haben weitgehend auf individuell-familiärer Basis zu erfolgen, trotz aller Unterstützung, die irgendwie nie ausreicht(e). 2. Vereinbarkeit ist vor allem ein Mütterproblem (Vereinbarkeit von Mutterschaft, kaum Vaterschaft, und Beruf). Barbara Bertram 33 Auch bei Unterstützung durch den Partner sind die Belastungen der Frauen ungleich höher. Die hauptsächlichen Probleme, die ostdeutsche Frauen bei der Vereinbarkeit heute haben, liegen im Arbeitsprozess und außerhalb. Sie betreffen: 1. die Verfügbarkeit für den Arbeitsplatz (deren Umfang, die Planungsmöglichkeiten von Überstunden, nicht selten auch die Arbeitsintensität – ohne Pausen bei hohem Arbeitsanfall), 2. die Organisierung und Bezahlung der Kinderbetreuung, vor allem bei differenzierten Arbeitszeitsystemen, denen die Kita-Öffnungszeiten nicht entsprechen, oder bei Kinder-Krankheit. Das sind Probleme, die westdeutsche Frauen auch haben - etwas abgewandelt durch die häufigere Teilzeitarbeit einerseits und die immer noch nicht flächendeckenden Kinderbetreuungseinrichtungen bzw. deren Öffnungszeiten andererseits. Bis etwa Mitte der 90er Jahre wurden in Westdeutschland ca. 80% aller Kindergartenplätze nur als Halbtagsplätze angeboten - für weniger als eine Halbtagsarbeit infolge der Schließung über Mittag und der maximal 4-Stunden-Regelung. Bis heute sind diese Dinge noch nicht in allen, v. a. ländlichen Regionen entsprechend den Erwerbsabsichten der Frauen realisiert. Aber auch in Ostdeutschland deuten sich neue Probleme bei der öffentlichen Kinderbetreuung an: Schließungen von Einrichtungen verlängern die Wege mit dem Kind, problematisieren den Wiedereinstieg nach Arbeitslosigkeit, ergeben längere Wartezeiten auf einen Platz. Verteuerungen der Elternbeiträge sind ein zunehmendes Problem für Geringverdienende, besonders für viele Alleinerziehende. Teilzeitregelungen für das Personal unterschreiten vielfach schon die Qualitätsgrenze der Betreuung. Ostdeutsche junge Eltern bevorzugen trotzdem nach wie vor die öffentliche Kinderbetreuung (kaum Tagesmütter wie westdeutsche), auch vor dem 3. Lebensjahr. Junge Eltern, die zu DDR-Zeiten selbst die Kinderkrippe besuchten, betrachten diese mehrheitlich für ihr Kind als Selbstverständlichkeit. Es gibt hier eine Tradition mit überwiegend positiven Erfahrungen – 1989 besuchten in der DDR 80% der Kinder von 1-3 Jahren die Kinderkrippe (Frauenreport 90, 1990, S. 141). An dieser Tradition konnten auch die Verteufelungen nach der Wende nichts ändern. Andere Betreuungsmöglichkeiten werden im allgemeinen Trend bis heute eher als Ergänzung gewünscht. In den letzten Jahren traten vor allem ostdeutsche Großeltern - auch vereinbarkeitsgeübte Großväter – neu in die Kinderbetreuung ein. Vor der Wende standen sie dafür nicht zur Ver- 34 Neue Formen der Arbeitsorganisation fügung, ähnlich anderen Verwandten, da selbst im Arbeitsprozess stehend. Heute sind sie vielfach arbeitslos oder in Frühverrentung, und die Enkel sind jünger durch das nach oben verlegte Lebensalter der Eltern bei Geburten gegenüber DDR-Zeiten. Zu betonen ist die Rolle der Ehe-/Lebenspartner bei der Vereinbarkeit. Untersuchungsergebnisse belegen, dass ostdeutsche Männer die Erwerbstätigkeit der Frauen, auch ihrer eigenen Partnerin, eindeutiger befürworten und real stärker unterstützen als westdeutsche (Hildebrandt ...a.a.O.). In Westdeutschland noch vorzufindende Aussagen: „Meine Frau hat es nicht nötig zu arbeiten, ich verdiene genug.“, kann man von Ostdeutschen schon lange nicht mehr hören, und die Frauen würden sich dagegen wehren. Ostdeutsche Frauen plan(t)en und realisier(t)en vor wie nach der Wende ihren Lebensentwurf und ihre Erwerbstätigkeit generell mit den Männern (Partner, Kollegen) – anfangs sehr zum Unverständnis mancher westdeutschen Frauenforscherinnen, die nicht zu Unrecht mehr Eigenständigkeit im Kampf um reale Gleichstellung anmahnten. Aber – bei aller noch vorhandenen Ungleichheit, die nicht wegdiskutiert werden darf – muss festgehalten werden: Ohne das Aufeinander-Einstellen der Partner, ohne das Mitziehen der ostdeutschen Männer in Familie und Betrieb hätte die Frauenerwerbstätigkeit in der DDR nicht solche Ausmaße annehmen können (über 90 % der Frauen im arbeitsfähigen Alter waren in Arbeit oder Ausbildung). Die damalige familiäre Arbeitsteilung war noch ungenügend, die Stellung der Frauen im Arbeitsprozess den Männern nicht gleich, das Versorgungsumfeld oft vereinbarkeitshemmend - was von den Frauen sehr kritisch gesehen wurde (nachzulesen in vielen wissenschaftlichen DDRQuellen). Trotz der Mängel waren der erreichte Stand von Arbeitsteilung und das Zusammengehen der Frauen mit den Männern neben der öffentlichen Kinderbetreuung und staatlichen Unterstützung sehr entscheidende Voraussetzungen für Vereinbarkeit. Die Vereinbarkeit ist unter den Bedingungen des allgemein verbreiteten „Normalarbeitsverhältnisses“ ohne einen nichterwerbstätigen Partner im Hintergrund erreicht worden. Dieser Stand wurde bisher weder im damaligen West-, noch im heutigen Gesamtdeutschland erlangt. Trotz ihrer Probleme besaßen die DDR-Frauen hier einen Gleichstellungsvorsprung. Die Erfahrungen in Westdeutschland zeigen, dass dies unter marktwirtschaftlichen Bedingungen ohne Kitas und öffentliche Unterstützung für Familien mit Kindern generell nicht möglich war: „... das Normalar- Barbara Bertram 35 beitsverhältnis setzt voraus, dass hinter jedem, der sich an ihm als Vollzeitbeschäftigter beteiligt, eine zweite Person steht, die den Rücken freihält für die Organisation des Alltagslebens, die Versorgung und Pflege der Kinder und älterer Angehöriger.“ (Winker 1998, S. 19) Gegenwärtig deuten sich insgesamt gesehen zwei Trends zur Bewältigung von Vereinbarkeit an: • über Auflösung/Ablehnung des Normalarbeitsverhältnisses (Vereinbarkeit vor allem durch Teilzeit, familiengünstige Arbeitszeiten und orte) oder • über Ausdifferenzierung der bisher üblichen einseitigen Rahmenbedingungen in West- wie auch in Ostdeutschland. Das heißt, ein Normalarbeitsverhältnis könnte durchaus mehrheitlich von beiden Elternteilen mit Kindern ohne eine ständige Betreuungsperson im Hintergrund vereinbart werden, wenn genügend bezahlbare öffentliche Betreuungseinrichtungen zu flexibleren Zeiten von hoher Qualität nutzbar sind. Andere Betreuungspersonen aus der Familie könnten in diesem Fall die zusätzliche Rolle einnehmen. Es ist jedoch nicht zu übersehen, dass es eher andere gesellschaftliche Trends gibt, indem vor allem den ostdeutschen Frauen (und Männern) zu hohe Ansprüche an Arbeitsplätze vorgeworfen werden. Die positiven Erfahrungsseiten mit der Vereinbarkeit sind in ostdeutschen Familien noch heute tragfähig, da sie auch von der Elterngeneration an die jüngere übertragen werden (Vorbildwirkungen der Väter usw.). Es gibt von Anbeginn nach der Wende Bemühungen, die Familien enger zusammenzuschmieden, um die Erwerbstätigkeit einzelner Familienmitglieder abzusichern. Das betrifft heute vielfach auch die arbeitende Mutter durch den arbeitslosen Vater. Individuelle „Prestige“Ansichten der Männer und vorrangige Rollenzuschreibungen auf Beruf erschweren das allerdings, denn Frauenerwerbsarbeit neben dem Mann wird durchweg als „normal“ empfunden, anstatt des Mannes noch nicht überall. Umgekehrt entwickeln sich andere Tendenzen: Bei aufrecht erhaltenem Anspruch der Frauen (und Männer) an die Frauenerwerbstätigkeit treten die Frauen beruflich eher zugunsten ihrer Ehepartner zurück, wenn sich Vereinbarkeit unter den neuen Arbeitsbedingungen schlecht lösen lässt. Genau genommen war das aber schon zu DDRZeiten so: Frauen leisteten im Interesse der Vereinbarkeit häufiger Verzicht als ihre Ehemänner: Sie veränderten ihren Arbeitsplatz oder –ort 36 Neue Formen der Arbeitsorganisation zugunsten der Berufsarbeit des Mannes, gaben Karriereabsichten auf usw. Die Möglichkeiten zur Vereinbarkeit differenzieren sich heute sehr stark nach der Haltung von Lebenspartnern, nach Arbeitszeitregelungen und dem Einkommen der Familien. Wer über ausreichendes Einkommen verfügt, kann sich die notwendige Kinderbetreuung kaufen. Auch dadurch lassen sich Vereinbarkeitsprobleme nicht generalisieren, stets nur Tendenzen feststellen. 10 Jahre nach der deutschen Vereinigung ist immerhin klar, dass die ostdeutschen Frauen in ihrem Anspruch auf Erwerbsarbeit nicht zurückgehen und westdeutsche Frauen hierbei immer mehr zulegen. Das hat vor allem, aber bei weitem nicht nur, materielle Gründe. Frauen wollen heute arbeiten aus dem Streben nach Selbstständigkeit, Kontakten, Kommunikation, Einbeziehung, Gebrauchtwerden außerhalb der Familie, Anerkennung. Indem die eingangs erwähnten Technisierungsund Globalisierungstendenzen immer mehr hochqualifizierte Arbeitsplätze für immer weniger Arbeitskräfte mit hohem Veränderungspotential bringen, sind auch immer mehr (west- wie ostdeutsche) Frauen gezwungen zu arbeiten und sich dafür fit zu halten. Eher als auf Erwerbsarbeit wird daher tendenziell auf die andere Seite der Vereinbarkeit verzichtet, vor allem in Ostdeutschland. Unter den Gründen für den dortigen Geburtenrückgang rangieren auf Platz 1-3: 1. Angst vor Arbeitslosigkeit, 2. steigende Kosten für Kinder, 3. fehlende soziale Absicherung (Sozialreport II/98, S. 7). Für die allgemeine Zufriedenheit im Leben ist die Erwerbstätigkeit (Arbeit haben/nicht haben und die Art des Beschäftigungsverhältnisses) inzwischen zum hauptsächlichen Differenzierungsfaktor geworden (Kurz-Scherf 1999). Es ist nicht mehr wegzudiskutieren, dass die Erwerbsarbeit heute und in Zukunft fest zum Lebensentwurf der bundesdeutschen jungen Frauen in Ost und West gehört. Das sollte von allen politischen Richtungen akzeptiert und in alle Überlegungen zum Arbeiten in der Zukunft einbezogen werden. Denn fest steht, dass die gegenwärtigen Marktbedingungen die Vereinbarkeit von Elternschaft und Erwerbsarbeit beider Partner nicht begünstigen - nicht nur in bezug auf Kinder, sondern vor allem wegen der anhaltenden Massenarbeitslosigkeit und den schwierigen Wiedereinstiegsbedingungen für Frauen in den 1. Arbeitsmarkt. Die Trends der Erwerbsverläufe von Frauen in Ost und West während der letzten 10 Jahre sind unterschiedlich. Seit 1990/91 nahmen die Barbara Bertram 37 Erwerbstätigenquoten der ostdeutschen Frauen ab (Anteile der 1860jährigen Erwerbstätigen an der gleichaltrigen Wohnbevölkerung). Sie lagen 1997 in Ost nur noch bei 63%, in West sind sie bis 59% angestiegen. Hier gibt es für die ostdeutschen Frauen eine Negativ-Angleichung. Nicht so stark ist das bei den Erwerbsquoten, die Arbeitslose einschließt, also alle Frauen mit Erwerbsanspruch erfasst (Anteil der 15-65jährigen Erwerbspersonen [Erwerbstätige plus Erwerbslose] an der gleichaltrigen Wohnbevölkerung). Die Erwerbsquoten lagen 1997 in Ostdeutschland bei 73%, in Westdeutschland bei 60% (Beckmann/Engelbrech1999 , S. 216). Diese Zahlen verdeutlichen, dass der Anspruch der Frauen auf einen Arbeitsplatz in Ostdeutschland wesentlich höher als die Realität ist, während dieser in Westdeutschland annähernd erfüllt wird. Das erklärt sich einerseits durch das unterschiedliche Ausgangsniveau, andererseits durch den Anstieg von Frauenarbeitsplätzen in West (vor allem im Dienstleistungsbereich und als Teilzeit-, oft geringfügige Beschäftigung), gegenüber dem Abbau in Ost. Nach Quellen des Statistischen Bundesamtes waren 1998 in Deutschland West 11.3 Mill. Frauen abhängig beschäftigt, in Ost 2.8 Mill. mit einer durchschnittlich höheren Wochenstundenzahl. Hauptbereiche sind in West wie Ost Private und öffentliche Dienstleistungen (insgesamt 69%), Handel/Gastgewerbe, Banken/Kredit/Versicherungswesen (jeweils über 50% - vgl. Frauenquoten, 1999, S.10). Das sind aber auch die Bereiche, in denen es in Ostdeutschland Ende der 90er Jahre die meisten Entlassungen von Frauen gab, wo Firmenpleiten neben Expansion stehen und wo die Verdrängung durch Männer anhält. In den handwerklich-technischen Bereichen liegen die Frauenanteile ohnehin unter einem Drittel oder unter 10%. Was die genannten Beschäftigungszahlen nicht ausdrücken, ist eine ungeheure Dynamik verschiedenartiger Prozesse: z. B. Wechsel zwischen Erwerbstätigkeit und Arbeitslosigkeit, Wechsel zwischen verschiedenen Berufen, Branchen und Arbeitsplätzen, zwischen Voll- und Teilzeit u.a.. Das geschieht in den neuen Ländern noch immer weitaus häufiger als in den alten und besonders bei Frauen. Da die Arbeitsmarktsituation den oben erwähnten Wünschen vieler Frauen nach Normalarbeitszeit und Absicherung der Kinderbetreuung nicht entspricht, sind die Frauen zu vielerlei Kompromissen bereit, um am Erwerbsleben teilnehmen zu können - und zwar noch häufiger und weitgehender als Männer, wie verschiedenste Untersuchungen der letzten Jahre zeigen (z. B. am Deutschen Jugendinstitut München/Leipzig, am SFZ Berlin-Brandenburg; 38 Neue Formen der Arbeitsorganisation vgl. auch Pfarr 1999, S. 17). Die Alternative, keine Arbeit zu haben, erhöht die Bereitschaft, sich für den Beruf/Job, flexibel und fit zu halten, größere Anstrengungen zu akzeptieren, familiäre Belastungen im Sinne der Vereinbarkeit auf sich zu nehmen, berufliche Nachteile wie Qualifikations- und Geldeinbußen hinzunehmen u.a. Insofern nehmen Tendenzen zu immer kürzer befristeten Arbeitsverträgen zu, ferner zur (in Ostdeutschland weitgehend unerwünschten) Teilzeitarbeit, zu Arbeitsverträgen unterhalb der Qualifikation, Arbeitszeitregimen, die mit der Familie schlecht vereinbar sind, Niedriglohnjobs unter dem Existenzniveau oder einem dauerhaften Abschieben auf den 2. Arbeitsmarkt. Es deutet sich dabei schon an, dass die neuen Formen der Arbeitsorganisation in ihrer realen Handhabung zumindest ambivalente Wirkungen für Frauen auslösen und nicht schlechthin Chancen bieten. 3. Zu einigen neuen Formen der Arbeitsorganisation im Einfluss auf Vereinbarkeit an Beispielen Unter dem Blickwinkel der Vereinbarkeit werden aus der Vielzahl neuer Formen der Arbeitsorganisation drei typische Veränderungstendenzen herausgehoben, die bereits eine Rolle spielen und bei denen sich ambivalente Wirkungen zeigen. Es sind Veränderungen nach Zeit, Arbeitsort und Arbeitsinhalt. Dabei wird hier die eigentlich wichtigste Veränderung ignoriert - der weiter anhaltende und prognostizierte Abbau von Arbeitsplätzen, dessen Ausgleich durch Neugründungen bisher nicht in Sicht ist: Ohne Arbeitsplatz gibt es weniger geplante Kinder, unter den Bedingungen immer knapper werdender Arbeitsplätze eine immer härtere Konkurrenz um die Verbleibenden und eine immer problematischere Vereinbarkeit. Nur in diesem Kontext kann das Folgende vollständig betrachtet werden. Veränderung der Arbeitsinhalte Die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien werden den Strukturwandel zur Dienstleistungsgesellschaft beschleunigen und tief in einzelne Arbeitsfelder eingreifen. Die klassischen Dienstleistungen werden nicht nur innerhalb des eigentlichen Dienstleistungsbereichs zu Barbara Bertram 39 finden sein, sondern zunehmend auch in anderen Wirtschaftsbereichen (produktionsnahe Dienstleistungen). Der Dienstleistungsbereich selbst verändert sich: primäre Dienstleistungen (Verkauf, Büro, Lager, Versand, Transport, Reinigung, Bewirtung usw.) nehmen ab, sekundäre zu (Managen, Forschen/Entwickeln, Betreuen, Pflegen, Beraten, Lehren, Informieren usw.). Zwischen Produktion und Dienstleistungsbereichen, speziell Wissen und Information, kommt es zu engeren Verknüpfungen. Auf Grundlage der neuen Informations- und Kommunikations-(IuK-) Technologien wird Information zum vierten Produktionsfaktor (Tischer 1999, S. 951-952). Das alles greift umfassend in die Beschäftigungsstrukturen ein und verändert alle Bereiche. Es wird Zuwächse an Beschäftigungsmöglichkeiten geben, v. a. über Neuerstellung und Vertrieb von IuK-Technologien, Dienstleistungen und -Berufen, im Multimediabereich, im Infrastrukturbereich (Werbung usw.) und besonders für Hochqualifizierte. Beschäftigungsabbau erfolgt durch a) Rationalisierung von Arbeitsplätzen infolge erweiterter Techniken/Technologien; b) Ersetzen von Produkten, Verfahren, Leistungen... durch neue, weniger personalaufwendige (z. B. durch Druckmedien, Postdienste, virtuelle Firmen mit Teleshopping, -banking usw. - vgl. auch Salimi Asl 1999, S. 2); c) Überflüssigwerden infolge Produktivitätssteigerungen in anderen Bereichen (nicht nur Arbeitsplätze, sondern umfassende Berufsfelder sind weggefallen und durch EDVgestützte Technologien ersetzt worden, z. B. im Druckereiwesen) sowie d) besonders für Niedrig-/Falschqualifizierte. Die prognostizierten Zahlen über das Verhältnis von Beschäftigungszuwachs und -abbau gehen auseinander, werden jedoch eher ungünstiger, je mehr die neuen Technologien bereits wirken. Obwohl Frauen von Seiten ihrer Bildung, Arbeitseinstellungen, Aktivitäten zu Weiterbildung und Fachkompetenzen in ganz bestimmten Branchen sehr gute Voraussetzungen für die neuen Beschäftigungsbereiche haben, ist auch hier die Verdrängung durch Männer schon sichtbar. Die Konkurrenz um Arbeitsplätze wird härter, und gegen Frauen wirken bei Bewerbungen vor allem zwei Argumente: ihr notwendiges Engagement für Kinder und Familie (hervorgehend aus dem Rollenbild: „Vereinbarkeit von Mutterschaft und Beruf“ – nicht „Vaterschaft und Beruf“) und ihr geringeres Hinwenden zu technisch orientierten Berufsfeldern was unter heute modernen Berufsbedingungen bereits nicht mehr so eindeutig ist, wenn man den Umgang mit Computern am Arbeitsplatz 40 Neue Formen der Arbeitsorganisation oder die „Soft-Technik“-Bereiche ansieht (Frauen zeigen mehr Interesse an anwenderbezogener Technik und interdisziplinären Technikrichtungen, ähnlich schon zu Vorwende-Zeiten: z. B. Ingenieurökonom usw. in der DDR). Gegenwärtig sind die Frauen in den modernen Informations- und Kommunikationsberufen unterrepräsentiert. Ihr Anteil in den Computer-Kernberufen wird nach einer von der Bundesregierung in Auftrag gegebenen Studie mit 23% (in den neuen Ländern mit 41%) benannt. Dieses Ungleichgewicht besteht trotz durchschnittlich besserer Schulabschlüsse von Frauen. Das Aktionsprogramm „Innovation und Arbeitsplätze in der Informationsgesellschaft des 21. Jahrhunderts“ soll Verbesserungen anregen (Studie 1999, S. 9). Die IuK-Technik wird gegenwärtig vorwiegend von Männern entwickelt, gestaltet und eingesetzt. Frauen sind Minderheiten im Entscheidungsbereich, eher Nutzerinnen auf unteren Ebenen (Frauen in ...1999, S. 6-7). Damit setzt sich ein uraltes Problem fort, denn auf einer solchen Basis werden ungünstige Weichen für die Zukunft gestellt. Die Erfahrung zeigt: Trotz aller Frauenförderung, Gleichstellungsgesetze oder „Gender-Mainstreaming“-Strategien bevorzugen Männer für verantwortliche/leitende Positionen eher Männer. Nur wenn Frauen dagegenhalten und wenn (frauenbewegte!) Frauen auf den Entscheidungspositionen für mehr Frauen auf wichtigen Arbeitsplätzen und für mehr Lösungen zur Vereinbarkeit sorgen, ändern sich solche Geschlechterproportionen auf längere Sicht. Es geht nicht nur um gegenwärtige Arbeitsplätze, Mitentscheidungsmöglichkeiten und Verdienstvarianten schlechthin, sondern inzwischen um Privilegien durch den Einstieg in die neuen IuK-Techniken – Nutzung der umfassenden Informationsangebote für Beruf und Privat – und damit um Konsequenzen für die Zukunft. Nicht selten wird Frauen mangelndes technisches Interesse und Verständnis vorgeworfen, wenn es um die modernen Highligth-Berufe oder Arbeitsplätze gehen. Das entspricht aber nur zum Teil der Realität. Zu Vorwendezeiten waren ostdeutsche Frauen zu wenig, aber häufiger als westdeutsche in technisch-handwerkliche Berufe integriert. Bei den ostdeutschen ging das inzwischen rapide zurück. Trotz positiver Traditionen gab es nach der Wende überwiegend negative Erfahrungen in diesem Bereich (Preiß/Wahler/Bertram 1999, S.23): Massenentlassungen zuerst und gehäuft bei Frauen, geringere Zugangschancen für Mädchen zu Berufsausbildung und Arbeitsplätzen – außer wenn es bei neuen Bran- Barbara Bertram 41 chen/Berufen aktuell zu wenig modern ausgebildete Spezialisten gibt (z. Zt. z. B. Informatik oder Maschinenbau mit Hochschulabschluss, was Frauen selten wählen). Diese Erfahrung wiederum zeigt, dass Frauen ihre Chancen bei neu kreierten Berufen und Arbeitsbereichen schnell ergreifen müssen, solange noch Bedarf besteht – soweit sie dafür qualifiziert sind. Um das zu erreichen, sind jahrelange Debatten und Überzeugungsversuche nicht mehr sinnvoll, sondern rasches Handeln. Jedoch ist langfristig nötiger denn je, in Elternhaus und Schule Mädchen ähnlich Jungen von früher Kindheit an auf Technik zu orientieren - wie das in Westdeutschland seit langem zur Debatte steht und in Ostdeutschland auch schon vor zwei Jahrzehnten gefordert wurde (vgl. u. a. Typisch weiblich... 1989). Aber selbst dies macht die Straße zum Arbeitsplatz für Frauen mit Kind nicht frei, im Gegenteil. Infolge der sehr differenzierten, weit über den früher üblichen „Feierabend“ ausgedehnten, von Überstunden behafteten Arbeitszeiten in modernen Branchen (im Multimediabereich, aber auch in Banken, Versicherungen u. a.) haben Frauen mit Kinderbetreuungspflichten große Probleme. Selbst wenn Väter und andere Familienmitglieder einspringen können, sind die flexiblen Arbeitszeiten oft nicht familienfreundlich. Für alleinerziehende Mütter bedeutet das häufig den Ausschluss. Wandel der Arbeitsorte Andere Formen der Veränderung im Bereich der Arbeit werden mit „Entzeitlichung und Enträumlichung“ beschrieben. Moderne Informationstechnologien machen die räumliche und zeitliche Trennung von Betrieb/Auftraggeber auf der einen und Arbeit-/Auftragnehmer auf der anderen Seite möglich, auch über Ländergrenzen hinweg. Bilder dazu zeigen den mit Computer, Internetanschluss und Handy ausgerüsteten Mann arbeitend am sonnigen Strand von Mallorca oder die Frau bei Teleheimarbeit mit spielendem Kind im Zimmer – nicht umgekehrt! Flexible Arbeitsorte bedeuten, dass Fachleute, die von verschiedenen Orten zusammengeführt werden, ohne räumliches Zusammensein miteinander kommunizieren und arbeiten können. Das bringt Wandlungen in der Produktionsweise mit sich, neue Formen von Jobsharing, Jobrotation und Just-in-time-Arbeit. Standardisierte Massenproduktion wird immer weiter automatisiert oder in Billiglohnländer verlegt, Lager-Produktion reduziert, was weitere Arbeitsplatzverluste in Deutschland bringt. Ent- 42 Neue Formen der Arbeitsorganisation zeitlichung und Enträumlichung führen weiter weg von unbefristeten Anstellungen der ArbeitnehmerInnen in ein- und demselben Unternehmen. Abhängige Lohnarbeit wird abnehmen zugunsten freier Berufstätigkeit und neuer Selbstständigkeit (Rabe/Schmidt 1999, S. 376-377). Feste, begehbare Betriebsstandorte können sich in der Zukunft zur virtuellen Organisation entwickeln, mit aktuell abrufbaren Leistungsangeboten. Das alles kann Frauen mit Kindern nur teilweise und kurzzeitig bei der Vereinbarkeit helfen. Aufs Ganze gesehen sind die damit verknüpften Anforderungen an fachliche, räumliche und terminliche Disponibilität, an Flexibilität für den Arbeitsauftrag, an Stressresistenz, Anpassungsfähigkeit, Verantwortung und Konkurrenzfähigkeit gegenüber den Männern eher hinderlich für die Familienarbeit und umgekehrt. Eine Lösung für Vereinbarkeit auf längere Zeit sind diese neuen Formen weder aus der Sicht der Erwerbsarbeit, noch der Familienarbeit, weil die Belastungen immens steigen und die “Freiräume“ für die Familie Fiktion sind. Aber für eine begrenzte Zeit, z. B. im Erziehungsurlaub bzw. im Kleinkindalter, bei Krankheiten der Kinder oder bei fehlendem KitaPlatz, können solcherlei Flexibilitätsangebote, speziell mit Heimarbeit, hilfreich sein. Es zeigt sich jedoch, dass Frauen in Heimarbeit mit Kind ihre individuelle Zeitsouveränität, räumliche Unabhängigkeit bei der Arbeit und ihr Zusammensein mit der Familie durch Termindruck, sehr hohe Eigenverantwortlichkeit, Isolation von Kollegen, hohe Präsenzerwartungen, oft auch fachliche Einseitigkeit, Abgeschnittenheit von Weiterbildung, von Informationen und Aufstiegsmöglichkeiten erkaufen müssen. Die Erfahrungen belegen, dass sich Männer bei Heimarbeit – meist in Vollzeit - von der Familie abschirmen (lassen), um ungestört noch effektiver arbeiten zu können, während Frauen versuchen, bei Heimarbeit - meist in Teilzeit -, die Familien- und Hausarbeit nebenher zu erledigen. Das funktioniert auf Dauer nicht (Stiegler 1998, S. 17). Auch andere Formen der räumlichen Veränderungen von Arbeit können für erwerbstätige Mütter eher zum Problem als zur Chance werden. Allein schon die insgesamt verlängerten Arbeitswege, besonders in Ostdeutschland (der Arbeit nachfahren, pendeln), Dienstreisen oder Fahrten zur Weiterbildung sind nur bei völlig abgesicherter Kinderbetreuung/-aufsicht möglich. Die Tendenz zur Auflösung fester, unbefristeter Arbeitsverträge birgt Risiken: Kann ich meine Familie ernähren, Barbara Bertram 43 genügend versorgen? Die Tendenz zur freien Anbietung der eigenen Arbeitskraft, die VerSelbstständigung als Auftragnehmer verlangt neben Risikobereitschaft ein absolut flexibles, immer auf der Höhe der Aufgaben befindliches, voll einsatzfähiges Individuum – was mit Kindern kaum zu leisten ist: Wie soll sich eine Mutter mit Kindern so flexibel, mobil und zugleich fachlich fit halten? Die Gefahr liegt nahe, dass vorwiegend Männer und Frauen ohne Kinder solche Chancen bei anspruchsvoller, teils einkommensstarker Tätigkeit wahrnehmen können, während für Mütter allenfalls einfache und trotzdem schwer zu vereinbarende Tätigkeiten oder Arbeitslosigkeit bleiben. Flexible Arbeitszeit, Teilzeit Die Trends am Arbeitsmarkt gehen zu zeitlich und räumlich flexibleren Arbeitsmodellen in Teil- und Vollzeitjobs. Unter der Voraussetzung, dass Arbeitgeber- und Arbeitnehmerinteressen bei derartigen neuen Lösungen gleichermaßen berücksichtigt und wesentliche Rahmenbedingungen darauf abgestimmt werden (z.B. variable Öffnungszeiten der Kitas), können sie über den Abbau von Mehrarbeit und Überstunden sowohl die Erschließung neuer Arbeitsplätze als auch die Vereinbarkeit von Beruf und Familie fördern. Solche Möglichkeiten stellen sich real in Ost- und Westdeutschland z. Zt. noch unterschiedlich dar. In Westdeutschland gibt es weitaus mehr und positivere Erfahrungen von ArbeitnehmerInnen mit flexibler Arbeitszeit, auch im Interesse von Vereinbarkeit. Während der letzten Jahre entstanden in verschiedenen Regionen aus Modellversuchen abgeleitete Verträge zwischen Großbetrieben und ArbeitnehmerInnen bzw. deren Vertretungen zur Nutzung von flexibler Arbeitszeit für Familienaufgaben - bei verbleibender Sicherheit des Arbeitsplatzes. In Ostdeutschland ist die Situation noch wenig ausgereift: Flexible Arbeitszeit hat sich in ihrer Formenvielfalt geringer ausgebreitet, und wo sie besteht, existieren nicht von vornherein vereinbarkeitsfördernden Lösungen. Aber es gibt auch hier bereits Modellversuche zur Problematik, beispielsweise angeregt durch Gleichstellungsbeauftragte bei Arbeitsämtern. Eine Reihe von Rahmenbedingungen erschwert in Ostdeutschland solche Beschäftigungsverhältnisse objektiv oder subjektiv. Viele Unternehmen wagen sich auf Grund der unsicheren Wirtschaftslage nicht an Jahresarbeitszeitkonten heran, das können meist nur große Arbeitgeber in gesicherter Position tun - meist mit westdeut- 44 Neue Formen der Arbeitsorganisation schem Stammhaus. Wir stießen bei Unternehmen aber auch auf negative Beispiele, die nur im Arbeitgeberinteresse geregelt werden: Die Basis flexibler Arbeitszeiten sind dort sehr häufig Zeitverträge ohne Tarifbezahlung, Urlaubsanspruch usw. Die täglich zu leistende Stundenzahl ist nicht immer vorher festgelegt. Ein Teil der anfallenden Überstunden wird weder bezahlt, noch „abgebummelt“. ArbeitnehmerInnen – meist Frauen – haben keine Mitspracherechte bei der Planbarkeit von täglichen und längerfristigen Überstundenregelungen. Solches ist mit einer Familie nur bei größeren Kindern oder flexiblem Kinderbetreuungsangebot möglich. Da es bundesweit hierzu auch beispielhafte positive Erfahrungen gibt, wären Erfahrungsaustausche sinnvoll, ferner neue Modellprojekte, z. B. in Zusammenarbeit von Kommunen, Unternehmen und Fachwissenschaftlern, ggf. auf der Basis von Fördermitten. Gleichzeitig erscheint es notwendig, arbeitnehmerInnen- und frauendiskriminierende Modelle von flexibler Arbeitszeit in bestimmten Unternehmen stärker öffentlich zu diskutieren. Teilzeitarbeit ist für viele Frauen die Möglichkeit, in Erwerbstätigkeit einsteigen oder verbleiben zu können. Die Haltungen der Frauen zur Teilzeit veränderten sich im Verlauf der letzten 10 Jahre: War der Wunsch danach zu DDR-Zeiten stets höher als die eingeräumten Möglichkeiten und Ende der 80er Jahre stark ansteigend, glaubten nach der Wende viele Frauen, v.a. Mütter kleinerer Kinder, hierdurch Beruf und Familie günstig verbinden zu können. Aber die Erfahrung, dass Teilzeitjobs in Ostdeutschland neben anderen Nachteilen (auf den Gebieten der gleichberechtigten Einsatz- und Aufstiegsmöglichkeiten, des Einkommens und der sozialen Absicherung für später) besonders anfällig für Stellenabbau und Arbeitslosigkeit sind, reduzierte in den letzten Jahren die Teilzeitwünsche erheblich. Das ist auch im Zusammenhang mit der steigenden Erwerbslosigkeit der Männer, den geringeren Familieneinkommen sowie den Diskontinuitäten und Unsicherheiten in den ostdeutschen Erwerbsverläufen zu sehen – wesentliche Ursachen für unterschiedliche Einstellungen und Handhabungen zur Teilzeit gegenüber Westdeutschland, wo deren Quote höher, der individuell vereinbarte Stundenanteil aber durchschnittlich niedriger ist (vgl. auch Beckmann/Engelbrech 1999, S. 216-21; Schirmer 1998, S. 9-11). Die vertraglich festgelegte Teilzeitarbeit ist in Ostdeutschland oft nur wenig geringer als Vollzeit (z. B. 6 statt 8 Stunden tägliche Arbeitszeit), real wird oft Barbara Bertram 45 länger gearbeitet als vertraglich geregelt. Auf der anderen Seite steht geringfügige Arbeitszeit, die in Westdeutschland aber verbreiteter ist. Etwa die Hälfte der verheirateten Frauen in West- und ein Viertel (mehrheitlich unerwünscht) in Ostdeutschland arbeitet in Teilzeit (Pfarr 1999, S. 19). In den aktuellen Wünschen nach Teilzeitarbeit unterscheiden sich zwar Altersgruppen immer noch ein wenig, aber stets entsprechend ihrer sozialen und familiären Lage, den Arbeitsplatzangeboten und den zu befürchtenden künftigen sozialen Unsicherheiten. Einerseits strebt ein geringer Teil vornehmlich junger ostdeutscher Mütter auf Grund ungünstiger Arbeits-/Wegezeiten nach Teilzeitarbeit, ferner manch ältere Frau, die sich den steigenden Arbeitsbelastungen nicht mehr voll gewachsen fühlt – und sie können dies wegen entgegenstehender Unternehmensinteressen oft nicht realisieren. Andererseits wird in einigen Branchen (z.B. Handel) Teilzeitarbeit häufig an AusbildungsabsolventInnen vergeben, die daran kein Interesse haben, weil sie am Anfang ihres Arbeitslebens „power machen“ und mehr verdienen möchten, um Selbstständig zu werden. Auch beim geförderten Arbeitsmarkt (LKZ, ABM usw.) ist der Anteil von Teilzeitarbeit wesentlich höher als von den Frauen v.a. aus finanziellen Gründen gewünscht. Die Haltungen und Möglichkeiten zur Teilzeitarbeit sind insgesamt gesehen ambivalent und widersprüchlich. Interessen und Realitäten laufen noch zu wenig zusammen, das zeigt sich in unterschiedlichen Ausmaßen bundesweit (IAB-Agenda `98, S.63 ff). Es gäbe einerseits mehr Möglichkeiten, über größere Teilzeitangebote BürgerInnen zur Arbeit zu verhelfen, gepaart mit Überstundenabbau. Andererseits dürfte die Qualität der zu leistenden Arbeit dadurch nicht in Frage stehen. Das aber ist in verschiedenen ostdeutschen Regionen durch Stellenabbau und Teilzeitarbeit von Angestellten in Kitas bereits der Fall – es geht auf Kosten der Betreuungsqualität der Kinder! (Plöger 1999, S. 5) Gleichzeitig müssten an Teilzeitarbeit bessere soziale Absicherungen geknüpft sein, sonst gehen Vorhaben zu ihrer Ausdehnung schnell an den Interessen der Betroffenen vorbei. 1998 fragten z. B. nur 3,3% % der Leipziger Arbeitslosen einem Teilzeitarbeitsplatz nach (Frauen und..., 1998, S. 12). Es gibt bisher zu wenig attraktive Teilzeitangebote (mehr als ½ Stelle, existenzsicherndes Einkommen, gesicherter Arbeitsplatz für die nächsten Jahre, auf Wunsch planbarer Umstieg in Vollzeit, auch für hochqualifizierte Positionen). Das ist in Ostdeutschland 46 Neue Formen der Arbeitsorganisation zu wenig der Fall, würde aber den Mut zur Teilzeitarbeit erhöhen, auch bei Männern, und Familien bei der Vereinbarkeit helfen. Laut Mikrozensus waren beispielsweise 1998 in der Stadt Leipzig 18,7% der weiblichen Erwerbstätigen in Teilzeitarbeit beschäftigt, ähnlich dem Vorjahr (Statistisches LA des Freistaates Sachsen). Es betraf v.a. Frauen im Angestelltenverhältnis, weitaus weniger Arbeiterinnen und keine Selbstständigen. Damit hat sich in den letzten Jahren nichts am Geschlechterrollenverhältnis verbessert. In den Unternehmen verbindet sich Teilzeitarbeit nur selten mit verantwortungsvollen Positionen und Karrierelaufbahnen. Zudem ist Teilzeitarbeit oft nicht existenzsichernd, ein Teil dieser Beschäftigten bekommt begleitende Sozialhilfe, besonders viele alleinerziehende Mütter. Nicht wenige Teilzeitarbeitende sind nur geringfügig beschäftigt, besonders Frauen. Deutschlandweit wurde der Frauenanteil an diesem Beschäftigungsverhältnis bereits 1997 auf 75% geschätzt (Tischer 1999, S. 954). Aber die Dunkelziffer ist groß. Die geringfügigen Beschäftigungen konzentrierten sich am häufigsten auf die Bereiche: Gastronomie, Reinigungsdienste, Zeitungsvertrieb, Lagerarbeiten/Regalauffüllung, Schreib-/Bürodienste, Verkaufsaushilfen/Werbung, Pflege/Betreuung/ Haushalttätigkeit. Sie stellten bis 1998 zunehmend nicht nur Hinzuverdienste zu anderen Einkommensarten dar (z.B. für Mütter im Erziehungsjahr, Studenten, Rentner), sondern wurden von Unternehmen als geteilte Vollzeitjobs für Arbeitnehmer kostensparend eingesetzt - besonders in großen Gastronomie-, Handelsketten und im Gesundheitswesen: Neben einem verringerten Stammpersonal mit Tarifbezahlung werden viele jederzeit abrufbereite Jobber auf 530/620.-DM-Basis beschäftigt, mehrheitlich Frauen. Diese Art von Beschäftigung liegt im Interesse einer kleineren Gruppe von Frauen, die beispielsweise viel Zeit für die Kinder haben und hinzuverdienen wollen. Die meisten würden jedoch auf der Basis regulärer Arbeitsverträge gern mehr arbeiten und verdienen. Zusammenfassend und schlussfolgernd lässt sich folgendes feststellen: Die unterschiedlichen neuen Formen der Arbeit haben eine sehr differenzierte Wirkung auf die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Grundsätzlich lässt sich nicht sagen, dass eine bestimmte Form eine durchweg negative oder positive Wirkung hätte. Es kommt auf die konkrete familiäre und berufliche Ausgangssituation der jeweiligen Frau, Barbara Bertram 47 auf die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte mit Arbeit, Familie und Vereinbarkeit im gesamten Umfeld sowie auf die jeweilige konkrete Handhabung neuer Formen von Arbeitsorganisation an. Aus Erfahrungen wie speziellen Untersuchungen lässt sich erkennen, dass gegenwärtig Weichen für die Chancen der Frauen bei der Erwerbsarbeit gestellt werden müssen. Ohne Zutun, im Selbstlauf realisiert der Wandel von Arbeit für Frauen keine günstigeren Arbeits- und Geschlechterrollenpositionen. Nur durch entsprechende Aktivitäten können für Frauen Chancen durch neue Erwerbsbereiche und Arbeitssituationen errungen werden. Frauen bringen dafür nicht weniger günstige Voraussetzungen als Männer mit, beispielsweise durch ihren unbedingten Willen zur Erwerbsarbeit, ihre Flexibilitäts- und Anpassungsbereitschaften , ihr insgesamt hohes Bildungs- und Qualifikationsniveau, einschl. Weiterbildung. Günstig wirken auch positive Erfahrungen und gewachsene Bereitschaften der Familien zur Vereinbarkeit. Gleichzeitig brauchen die Frauen Unterstützung. Vereinbarkeit sollte stärker zur Sache von Frau und Mann werden. Die öffentliche Kinderbetreuung müsste – unter Einhaltung der Qualitätsstandards - der Flexibilisierung von Erwerbsarbeit beider Eltern besser angepasst werden in Zeit, Ort und Kosten. Erforderlich ist eine stärkere Unterstützung durch die Politik, die wesentliche Rahmenbedingungen setzt: Akzeptanz des Gleichberechtigungsanspruchs der Frauen auf Erwerbsarbeit, auch in HighlightBerufen und an führenden Positionen - ohne dass Frauen zwischen Kind und Erwerbsarbeit entscheiden müssen; Beendigung der diskriminierenden Zurückweisungen an den Herd, sofern Frauen nicht wünschen nur Hausfrau zu sein; Herstellung von mehr öffentlicher Lobby für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Schaffung von günstigeren Rahmenbedingungen für sehr differenzierte Lebensentwürfe von Frauen und Männern – in denen mehr Varianten als heute allgemein üblich vorkommen und wo beispielsweise auch sozial abgesicherte, planbare Wechsel einzelner Lebensphasen ihren Platz haben, die Erwerbsarbeit, Familienarbeit, Weiterbildung, ehrenamtliche Tätigkeit oder gesicherte Umstiege zwischen Voll- und Teilzeitarbeit beinhalten. 48 Neue Formen der Arbeitsorganisation Literatur Beckmann, Petra/Engelbrech, Gerhard: Beschäftigungsentwicklung und Perspektiven ostdeutscher Frauen in den 90er Jahren. In: BeitrAB 223, Bundesanstalt für Arbeit, Nürnberg 1999 Bertram, Barbara/Schröpfer, Haike: Bewältigung von Ausbildung und Berufseinstieg. In: Walter Bien, Ralf Kuhnke, Monika Reißig (Hrsg.): Wendebiographien. Ergebnisse der Leipziger Längsschnittstudie III. Verlag Deutsches Jugendinstitut, München 1999 Bertram, Barbara: Das Vereinbarkeitsdilemma – Ostdeutsche Frauen mit neuem Frust in alten Rollen? In: Barbara Bertram/Hans Bertram/Ingo Gensch/Marita Körner/Eva Marie v. Münch/Franz Ruhland: Vater, Mutter und Beruf? Aktuelle Fragen der Politik Heft 22, Hrsg. Konrad-Adenauer-Stiftung, Sankt Augustin 1995 Bertram, Barbara: Keine Wende zum Heimchen am Herd! Forschungsbericht. Arbeitspapier 3/1997, Deutsches Jugendinstitut München Drauschke, Petra: Alleinerziehen – nach acht Jahren Vereinigung immer noch eine Lust? In: Sozialreform statt Sozialabbau – Versuch einer sozialen Bilanz. Protokollband 9. Tagung „Sozialunion in Deutschland“, Verlag am Turm Berlin 1999 Frauen in der Informationsgesellschaft. Forum Info 2000, AG 9, Bonn 1998 Frauen und Arbeitsmarkt in Sachsen 11/1998, Landesarbeitsamt Sachsen Chemnitz 1998 Frauenquoten im Wirtschaftsleben. In: Neues Deutschland v. 30. 9. 1999 Frauenreport ´90. Verlag Die Wirtschaft GmbH Berlin (Ost) 1990 Hildebrandt, Karin/Wittmann, Svendy: Lebensziel Kinder? In: Die Frau in unserer Zeit 4/96 IAB-Agenda ´98. Wissenschaftliche Befunde und Empfehlungen zur Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik. IAB Werkstattbericht Nr. 10/1998 Kurz-Scherf, Ingrid: Leben in Ostdeutschland – dominante Tendenzen, mögliche Perspektiven. Referat zur 10. Tagung „Sozialunion in Deutschland“: Transformation – wohin? Berlin 27. 10. 1999 Liesering, Sabine: Chancen von Frauen im Multimediabereich. In: ibvinformationen 13/99, Bundesanstalt für Arbeit Nürnberg Pfarr, Heide: Marginalisierung von Frauen im arbeitsmarktpolitischen Bereich. In: Sozialreform statt Sozialabbau – Versuch einer sozialen Bilanz. Protokollband 9. Tagung „Sozialunion in Deutschland“, Verlag am Turm Berlin 1999 Plöger, Elke: Schlimmste Befürchtungen wurden Realität. In: Neues Deutschland v. 25./26. 9. 1999 Preiß, Christine/Wahler, Peter/Bertram, Barbara, unter Mitarbeit von Constanze Klar: Einstieg auf Raten? Berufliche Integrationsprobleme Barbara Bertram 49 Jugendlicher in einer ostdeutschen Region. Abschlußbericht. Arbeitspapier4/1999, Deutsches Jugendinstitut München Rabe, Brigitte/Schmid, Günther: Eine Frage der Balance: Reform der Arbeitsmarktpolitik. In: BeitrAB 223, Bundesanstalt für Arbeit, Nürnberg 1999 Salimi Asl, Reza: Noch ist die vielgepriesene neue Arbeitswelt nichts als eine schöne Vision. In: Neues Deutschland v. 4. 10. 1999 Sass, Jürgen/Jaeckel, Monika: Leben mit Kindern in einer veränderten Welt. Verlag Deutsches Jugendinstitut, München 1996 Schirmer, Sabine: Frauen in den neuen Bundesländern wollen die volle Beteiligung am Erwerbsleben. In: Frauen in Ostdeutschland. Wirtschaftsbulletin Ostdeutschland 5/1998, Hrsg. Hans-Böckler-Stiftung Sozialreport II. Quartal 1998: Neue Bundesländer. SFZ Sozialwissenschaftliches Forschungszentrum Berlin-Brandenburg e.V./HansBöckler-Stiftung, Berlin 1998 Sozialreport SH 1+2 1998: Zur sozialen Situation und deren subjektiven Reflexionen in den neuen Bundesländern. SFZ Sozialwissenschaftliches Forschungszentrum Berlin-Brandenburg e.V./Hans-BöcklerStiftung, Berlin 1998 Sozialreport 1999. Daten und Fakten zur sozialen Lage in den neuen Bundesländern. Hrsg. Sozialwissenschaftliches Forschungszentrum Berlin-Brandenburg e.V., Verlag am Turm Berlin 1999 Stiegler, Barbara: Heim zur Arbeit. Telearbeit und Geschlechterverhältnis. Friedrich-Ebert-Stiftung Bonn 1998 Studie: Wenig Frauen in Informationsberufen. In: Neues Deutschland v. 4. 10. 1999 Tischer, Ute: Arbeit im Wandel. In: ibv-informationen 13/99, Bundesanstalt für Arbeit Nürnberg Typisch weiblich – typisch männlich? Autorenkollektiv unter Leitung von Barbara Bertram. Dietz Verlag Berlin 1989 Winker, Gabriele/Oechtering, Veronika (Hrsg.): Computernetze – Frauenplätze. Verlag Leske+Budrich, Opladen 1998 Zukunftskommission der Friedrich-Ebert-Stiftung: Wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, sozialer Zusammenhalt, ökologische Nachhaltigkeit. Drei Ziele – ein Weg. Verlag J. H. W. Dietz Nachf. Berlin 1998 50 Frauen in Wissenschaft und Technik Chancen und Risiken moderner Formen der Arbeitsorganisation Gesine Bächer Die Entwicklung neuer Informations- und Kommunikationstechniken wirkt sich nicht nur auf die in wissenschaftlichen und technischen Berufen eingesetzten Arbeitsmittel aus, sie bedeuten nicht alleine Veränderungen im Konsum, Freizeit und Unterhaltungsbereich. Der Umbau zur Informationsgesellschaft führt auch zu Veränderungen in den Erwerbsprozessen und -strukturen, d.h. neue Technologien in der Datenverarbeitung und -übertragung haben in den letzten Jahren die Grundlage für neue Arbeitsformen geschaffen. Nicht nur die technischen Veränderungen ermöglichen eine Öffnung der Arbeitsstrukturen, sondern auch Veränderungen im Bewusstsein der Menschen, die Erwerbsarbeit nicht mehr als einzigen Lebensinhalt sehen, sondern versuchen Arbeit und Freizeit besser zu integrieren. „Outscouring“, „Core competencies“, „Telecommuniting und Telework“ werden zu Kennwörtern neuer Konzeptionen. Mit dieser Entwicklung werden Vollbeschäftigung, Arbeitsplatzsicherung und Sicherung sozialer Netze neu definiert, d.h. dieser Strukturwandel hat Auswirkungen auf Zeit und Qualität der traditionellen Arbeitsplätze, auf Arbeitsbedingungen, Arbeitsverhältnisse und die Struktur des Arbeitsmarktes. Die Erwerbstätigkeit und damit auch das Erwerbsverhalten vieler Frauen ist nach wie vor durch die Doppelbelastung in Beruf und Haushalt gekennzeichnet. Daran anknüpfend soll die Frage beantwortet werden, welche Chancen und Risiken die neuen Formen der Arbeitsorganisation Frauen in Wissenschaft und Technik bei dem Versuch bieten, Beruf und Familie vereinbaren zu können. 52 Frauen in Wissenschaft und Technik 1. Telearbeit – eine moderne Form der Arbeitsorganisation 1.1. Was versteht man unter Telearbeit? Die Unsicherheiten in Wissenschaft und Forschung sowie bei den Anwendern (Unternehmen und Telearbeiter), bezüglich dessen was unter Telearbeit verstanden werden kann, haben eine Vielzahl von Definitionen des Begriffes „Telearbeit“ hervorgebracht. Mit anderen Worten, eine verbindliche Begriffsbestimmung, an der sich diejenigen die etwas über die Verbreitung und Auswirkungen dieser Form der Arbeitsorganisation aussagen wollen, orientieren können existiert nicht. So unterschiedlich die Formulierungen jeweils klingen mögen und unabhängig davon, wo jeweils der Schwerpunkt gesetzt wird, beinhalten sie jedoch alle mehrere gemeinsame Dimensionen, die für die Charakterisierung von Telearbeit bedeutsam sind. Zunächst betrifft dies den Arbeitsort: Telearbeit liegt dann vor, wenn ein Teil der zu erledigenden Arbeit außerhalb der zentralen Geschäftsräume des Auftraggebers verrichtet wird, wobei außerhalb immer wohnort- bzw. kundenah heißt. Telearbeit kann also in der Privatwohnung des Arbeitnehmers, in Nachbarschaftsbüros, die von mehreren Arbeitgebern genutzt werden, in Filial-, Außen- oder Satelittenbüros, in Hotels, Fahrund Flugzeugen oder Geschäftsräumen der Kunden stattfinden. Kurz gesagt: Aufgrund der IuK- Technologien und der möglichen Vernetzung mit dem Arbeitgeber oder auch dem Kunden, ist Telearbeit an jedem beliebigen Ort möglich, da man immer erreichbar und somit zumindest kundennah arbeiten kann. Wie schon zu erkennen war, spielt der Umfang der außerhalb der Zentrale verbrachten Arbeitszeit eine entscheidende Rolle. Für Telearbeit heißt dies, die Arbeit muss mit gewisser Häufigkeit und Regelmäßigkeit außerhalb der zentralen Büros stattfinden. Nichts ausgesagt wird in den allgemeinen Begriffsbestimmungen über das Verhältnis der innerhalb und außerhalb des Betriebes verbrachten Arbeitszeit. Dazu muss Telearbeit nach seinen verschiedenen Formen differenziert werden. Die Dimensionen Arbeitsort und Arbeitszeit alleine sind kein Charakteristikum nur für Telearbeit. Berufe wie die der Journalisten, Architekten, Wissenschaftler usw. nutzen schon immer die Möglichkeit, unab- Gesine Bächer 53 hängig vom betrieblichen Geschehen bzw. freiberuflich zu Hause zu arbeiten. Es muss das Kriterium Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologie hinzukommen, welches für Telearbeit als neue Form der Arbeitsorganisation charakteristisch ist. An dieser Stelle ist eine Festlegung zu treffen, welche technikgebundene Arbeit mit Telearbeit gemeint ist: Handelt es sich nur um die Arbeiten die sozusagen in Auftrag gegeben werden oder kann man auch private Arbeit (wie Homebanking, Teleshopping) unter dem Begriff Telearbeit einordnen? Um die private Nutzung der IuK-Technologie als Telearbeit auszuschließen, wird Telearbeit in diesem Rahmen als ein Verhältnis zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer (zunächst unabhängig von der Rechtsform dieses Verhältnisses) verstanden, bei dem immer auf Grundlage der Kombination von Computer und Nutzung der Fernmeldedienste gearbeitet wird. Trotz der erwähnten Abgrenzungsschwierigkeiten dieser Arbeitsform, soll eine vorläufige zusammenfassende Eingrenzung des Begriffes Telearbeit als Grundlage für eine Differenzierung der verschiedenen Formen von Telearbeit dienen. Telearbeit ist also jede auf Informations- und Kommunikationstechnologien gestützte Tätigkeit, einschließlich der Übertragung der Arbeitsergebnisse, die ausschließlich oder alternierend an einem räumlich außerhalb des Betriebes im herkömmlichen Sinne liegenden Arbeitsplatz verrichtet wird, der mit der zentralen Betriebsstätte durch elektronische Kommunikationsmittel verbunden ist. 1.2. Formen der Telearbeit Entsprechend der diskutierten Dimensionen, die für die Arbeitsform der Telearbeit kennzeichnend sind, lassen sich verschiedene Formen bzw. Ausprägungen von Telearbeit unterscheiden. Dabei kann einmal nach der Organisationsform, d.h. nach Arbeitsort und Arbeitszeit und andererseits nach der Rechtsform differenziert werden. Telearbeit an verschiedenen Orten Tele-Heimarbeit oder isolierte Telearbeit. Dabei wird die Arbeit mittels Computer in der Wohnung der Arbeitnehmer ausgeführt und die Arbeitsergebnisse und -aufträge werden ganz oder teilweise über den mit der Firma vernetzten PC ausgetauscht. Es handelt sich also um aus- 54 Frauen in Wissenschaft und Technik schließliche Arbeit zu Hause, wobei die Kommunikation mit der Zentrale nur durch Austausch von Arbeitsunterlagen stattfindet. Angewendet wird diese Form vorwiegend für Softwareherstellung, Übersetzungstätigkeiten und allgemeine Schreibarbeiten. • Kollektive Telearbeitsbüros. Bei dieser Form werden einzelne Funktionseinheiten eines Unternehmens räumlich dezentralisiert, wobei die Telearbeiter zusammen mit unternehmensinternen oder –externen MitarbeiterInnen in den dezentralen Büros in Wohnortnähe arbeiten. Dabei werden Satelittenbüros von Nachbarschaftsbüros unterschieden. In ersteren arbeiten mehrere Arbeitnehmer eines Unternehmens zusammen in ausgelagerten Büros des Unternehmens. In Nachbarschaftsbüros hingegen sind Beschäftigte verschiedener Unternehmen in einem wohnortnahen Büro tätig. • Telekooperation. Unter Telekooperation versteht man die mediengestützte arbeitsteilige Leistungserstellung von individuellen Aufgabenträgern, Organisationseinheiten und Organisationen, die über mehrere Standorte verteilt sind (vgl. Reichwald 1996). Dezentralisierte, selbstverantwortliche Einheiten können durch Satelittenbüros, Nachbarschaftsbüros, Tele-Teams oder Tele-Heimarbeit realisiert werden, wodurch eine weitläufige Vernetzung der Unternehmen möglich wird. • Mobile Telearbeit. Aufgrund der handlich und leistungsfähig gewordenen PC’s und der sich ausbreitenden Mobiltelefone, werden zunehmend Reisezeiten für Büroarbeiten genutzt. Warte- und Aufenthaltsräume, Hotels, Fahr- und Flugzeuge und Geschäftsräume der Kunden sind dabei mögliche Orte der Telearbeit. Die Abgrenzungskriterien bei diesen Außenbüros sind nicht zufriedenstellend, da selten festzustellen ist, wann die Arbeit im Außenbüro tatsächlich Telearbeit und wann reguläre Büroarbeit ist. Bezüglich der Technik steht die Frage, was an IuK-Technologie kennzeichnet einen mobilen Telearbeiter? Reicht ein mobiles Telefon oder Fax als Verbindung zur Zentrale oder benötigt man Hoch-Technologie-Equipment, um als Telearbeiter zu gelten? Um die genannten Probleme zu verringern, möchte ich folgende Abgrenzung übernehmen: Telearbeit wird als Form der technisch unterstützten organisatorischen Dezentralisierung definiert, bei der die Wohnortnähe und nicht primär die Kundenähe zum Kriterium der Auslagerung wird (vgl. Glaser 1995). Gesine Bächer 55 Die mobilen Arbeitsformen werden damit ausgeschlossen und der Begriff der Telearbeit im wesentlichen auf die Arbeit in der eigenen Wohnung beschränkt. Was genau damit gemeint ist, drückt die Form der alternierende Telearbeit aus. • Alternierende Telearbeit. Die Telearbeiter verbringen einen Teil ihrer Wochenarbeitszeit zu Hause am dezentralen Arbeitsplatz und den anderen Teil im Unternehmen. Dabei unterscheidet man die bürozentrierten und die wohnungszentrierte Telearbeit, wobei der Hauptteil der wöchentlichen Arbeitszeit jeweils hauptsächlich im Büro der Firma bzw. im Büro der Wohnung verrichtet wird. Rechtsformen der Telearbeit Arbeitnehmer Als Arbeitnehmer gilt, wer nur für einen Auftraggeber „telearbeitet“, andauernde Dienstbereitschaft hat und genau zugeteilte Arbeiten bekommt. Außerdem erledigt er für ein Unternehmen ständig die gleiche Arbeit und für die Erledigung der Aufgaben setzt er Arbeitsmittel ein, die dem Auftraggeber gehören und auf die er angewiesen ist (vgl. BMA; BMWi; bmb+f 19981).Unabhängig von der Organisationsform, d.h. ob Telearbeit alternierend, mobil oder in Satellitenbüros durchgeführt wird, gelten für das Arbeitnehmerverhältnis in Telearbeit sämtliche Rechte und Schutzvorschriften (Arbeitszeit, Direktionsrecht, Gehalt, Kündigung, Krankheit, Urlaub, Arbeitsschutz usw.), wie sie für das sogenannte Normalarbeitsverhältnis zutreffen. Im Arbeitsvertrag zusätzlich vereinbart werden sollten (vgl. BMA; BMWi; bmb+f 1998): • Ort, Dauer und Zeit der Telearbeit, d.h. Anzahl der Telearbeits-Tage pro Woche, die tägliche Präsenzpflicht sowie die Art der Anwesenheit im Betrieb, • die Art der Arbeit, • Haftung im Falle der Beschädigung oder des Verlustes von technischer Einrichtung im häuslichen Büro, Versicherungsschutz, Datenschutz und Aufwandsentschädigung für Miete und Strom für die außerbetriebliche Arbeitsstätte. 1 Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung; Bundesministerium für Wirtschaft; Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie (Hg.): Telearbeit. Ein Leitfaden für die Praxis. Bonn 1998 56 Frauen in Wissenschaft und Technik Das Arbeitnehmerverhältnis ist die in Deutschland am weitesten verbreitete Rechtsform der Telearbeit, unter anderem weil dies die Gewerkschaften und Betriebsräte von den Unternehmen fordern. Heimarbeit „Heimarbeiter ist, wer zu Hause allein oder mit seinen Familienangehörigen erwerbsmäßig im Auftrag von Gewerbetreibenden oder Zwischenmeistern arbeitet und diesen die Verwertung seiner Arbeitsergebnisse überlässt.“ (vgl. BMA; BMWi; bmb+f 1998, S.43) Zeitsouveränität ist eine Voraussetzung für das Vorliegen von Heimarbeit, d.h. wird die Arbeitszeit nach Lage und Dauer durch den Auftraggeber vorgeschrieben, liegt keine Heimarbeit vor. Die Versicherungsbeiträge für Kranken-, Pflege-, Renten- und, Arbeitslosenversicherung übernimmt der Auftraggeber zur Hälfte und für die Unfallversicherung ganz. Telearbeit als reine Heimarbeit gibt es eher selten, aber in letzter Zeit wurden einige Telearbeitsplätze in Form von Heimarbeit geschaffen, um die Kostenvorteile gegenüber den Telearbeitnehmern auszunutzen. Freier Mitarbeiter/Unternehmer Wenn Telearbeiter ihre Tätigkeiten in Form eines freien Mitarbeiters oder Selbstständigen Unternehmers anbieten, werden Werk- oder Dienstverträge geschlossen. Dabei trägt der Telearbeiter das unternehmerische Risiko alleine und muss die technische Ausstattung selbst anschaffen und finanzieren. Arbeitszeit und Arbeitsweise legt der Auftragnehmer selbst fest. Anhand der Analyse verschiedener Definitionsvorschläge und der Unterscheidung der verschiedenen Telearbeitsformen nach Organisations- und Rechtsform, kann eine Eingrenzung des Begriffs Telearbeit vorgenommen werden, die hier als Arbeitsdefinition gilt. Telearbeit ist also jede auf Informations- und Kommunikationstechnologien gestützte Tätigkeit, einschließlich der Übertragung der Arbeitsergebnisse, die alternierend in Wohnortnähe, d.h. zum Teil im Firmenbüro und zum Teil an einem räumlich außerhalb des Betriebes liegenden Arbeitsplatz verrichtet wird. Eingeschlossen sind zunächst alle möglichen Rechtsformen der Telearbeit. Gesine Bächer 57 1.3. Verbreitung von Telearbeit Seit Beginn der 90er Jahre hat das Thema Telearbeit in Deutschland an Interesse gewonnen, was nicht zuletzt an der Vielzahl von Publikationen deutlich wird. Telearbeit wird jetzt nicht mehr nur auf Tele-Heimarbeit reduziert, sondern es werden die verschiedenen Formen der Telearbeit betrachtet. In der öffentlichen Diskussion werden heute eher die Chancen statt der Risiken betont. Stichworte wie Autonomie, Kosteneinsparungen für Unternehmen, Schaffung von Arbeitsplätzen in peripheren Räumen, Integration von Behinderten oder die Reduzierung von Verkehr und Umweltbelastungen dienen als Mittel zur Aufbesserung des Image von Telearbeit. Demgegenüber stehen aber auch kritische Stimmen, die die Vorteile der Telearbeit keineswegs abstreiten, aber sie etwas relativieren. Inwieweit der Diskussionsstand und die kritischen Meldungen Einfluss auf die heutige Verbreitung von Telearbeit hat, kann nicht eindeutig nachvollzogen werden. Fest steht, dass dem Potential von Telearbeit eine eher geringe Verbreitung dieser Arbeitsform, zumindest in Deutschland gegenübersteht. Will man sich die zahlenmäßige Verbreitung der Telearbeit heute näher betrachten, stößt man auf Hindernisse. Zum einen begegnet man dem schon bekannten Definitionsproblem von Telearbeit, d.h. es existiert keine einheitliche Grundlage dafür was unter Telearbeit verstanden werden kann und wie sie operationalisiert werden kann. Das führt zu sehr unterschiedlichen Angaben darüber, wie viel Telearbeitsplätze in Deutschland und Europa existieren. Zudem dürfte es in vielen kleineren Unternehmen Telearbeitsplätze geben, die überhaupt nicht bekannt sind und somit auch nicht erfasst werden. Es handelt sich also offenbar um ein beinah aussichtsloses Unterfangen, genaue Zahlen über die Verbreitung von Telearbeit zu liefern. Ein kleiner Überblick soll jedoch versucht werden2. 2 Alle Angaben wurden einer Untersuchung von empirica entnommen: vgl.: Kordey; Korte 1998 58 Frauen in Wissenschaft und Technik Abbildung 1: Anzahl der Telearbeiter in Europa 1994 Italien Spanien Deutschland Frankreich Großbritannien 0 100.000 200.000 300.000 400.000 500.000 600.000 Quelle: Kordey; Korte 1998, S.27 Für Großbritannien werden Telearbeitsplätze zwischen 250.000 und 1,5 Millionen vermutet. Betrachtet man die Zahlen im europäischen Vergleich, wird deutlich, dass Großbritannien in Europa der Voreiter in Sachen Telearbeit ist (Abbildung 1). Für Deutschland schwanken die Zahlen zwischen 30.000 über 70.000 bis zu 150.000 Telearbeitsplätzen. In diesen Zahlen sind jedoch nicht diejenigen enthalten, die ein Notebook besitzen oder ab und zu zu Hause am PC arbeiten. Die Anzahl der Unternehmen in Deutschland, die Telearbeiter beschäftigen betrug laut Kordey und Korte 1994 rund 4,8% (vgl. Kordey, Korte 1998) und nach Matuschek 1997 21% (vgl. Matuschek 1999). Inwieweit der Anteil der Unternehmen in diesem Zeitraum tatsächlich gestiegen ist, lässt sich aufgrund der genannten Definitionsprobleme nicht sagen, denn die Autoren haben möglicherweise andere Erhebungskriterien für Telearbeit zugrunde gelegt. Gesine Bächer 59 1.4. Rahmenbedingungen für die Entwicklung von Telearbeit Es soll der Frage nachgegangen werden, welche Bedingungen überhaupt dazu geführt haben, dass Telearbeit eine diskutierte Form der Arbeitsorganisation geworden ist und wie sich diese in Zukunft gestalten müssen, damit Telearbeit für Unternehmen und Arbeitnehmer attraktiv bleibt und wird. Ohne Technik geht nichts Wie die Definitionsversuche des Begriffes Telearbeit gezeigt haben, handelt es sich um eine Form der Arbeit, die sich auf Informations- und Kommunikationstechnik stützt. Genauer gesagt, muss ein Telearbeitsplatz, um als solcher zu gelten, mit der entsprechenden Hard- und Software ausgestattet sein und über eine Verbindung zum Server der Firma verfügen. Die rasante Entwicklung der Telekommunikationstechnologie sowie der Hard- und Software für computergestützte Arbeitsplätze, die weiter sinkenden Investitionskosten für PC’s, die Entwicklung der mobilen PC’s, die Weiterentwicklung der Informations- und Kommunikationssysteme (ISDN, Online-Dienste, Fax, Mobiltelefone) sowie die sinkenden Kosten für Telekommunikation machen die Datenübertragung immer einfacher und billiger. Die technische Entwicklung ermöglicht die heute geforderte Flexibilität und hat damit die Entstehung dieser modernen Form der Arbeitsorganisation erst möglich gemacht. Globale Märkte zwingen zur Arbeitszeitflexibilisierung „Für die Betriebe wie für die Regierung ist die Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse die gegenwärtig erforderliche ‚arbeitspolitische Innovation‘, die Leitidee mit Blick auf die Beschäftigungsprobleme wie die Konkurrenz auf den EG- und Weltmärkten.“ (Daheim 1993, S.150) Weniger die Neugier auf etwas neues als die Notwendigkeit unter dem Druck des globalen Wettbewerbs die Produktivität zu erhöhen, wird die Unternehmen dazu bringen, über neue Formen der Arbeitsorganisation nachzudenken. Anders ausgedrückt, erfordert die Zunahme des glo- 60 Frauen in Wissenschaft und Technik balen Wettbewerbs von den Unternehmen eine Steigerung der Produktivität und ein flexibles Reagieren auf Marktanforderungen. Unter diesen Bedingungen kommt man an einer Auseinandersetzung mit dem Schlagwort der Arbeitszeitflexibilisierung nicht vorbei. Dabei steht das sogenannte Normalarbeitsverhältnis zur Diskussion, genauer gesagt, der Einsatz der Arbeitskräfte hinsichtlich der Arbeitszeit, d.h. Lage und Dauer, und des Arbeitsortes. Die beteiligten Menschen fordern und sind gefordert Nicht nur die Entwicklung der Informations- und Kommunikationstechnik sowie die Erfordernisse der wirtschaftlichen Situation, sondern auch die Individuen mit ihren Fähigkeiten sowie ihren Wertvorstellungen haben entscheidenden Einfluss auf die zukünftige Entwicklung der Telearbeit. Auf der einen Seite sind es die Arbeitnehmer bzw. die potentiellen Telearbeiter und auf der anderen Seite die Arbeitgeber, d.h. konkret das Management im Unternehmen, deren Einstellungen und Verhalten die erfolgreiche Realisierung von Telearbeit maßgeblich beeinflussen werden. Die Entwicklung neuer Arbeitsformen resultiert nicht zuletzt aus der Entwicklung im gesellschaftlichen Bewusstsein. Begründet wird die Tendenz der Arbeitnehmer zu flexiblen Arbeitsformen häufig mit einem Wertewandel der sich in der Gesellschaft vollzieht. Aus den Prozessen der Modernisierung und Individualisierung ergibt sich für die Menschen moderner Gesellschaften die Möglichkeit und die Notwendigkeit, sich gleichzeitig an verschiedenen Lebensbereichen zu orientieren. Selbstentfaltung heißt, Erwerbsleben und Privatleben gleichermaßen betonen zu können und zu müssen, d.h. beide Bereiche zur subjektiven Zufriedenheit zu vereinbaren. Auf der gesellschaftlichen Ebene scheint es jedoch schwer, Erwerbsleben und Privatleben tatsächlich zu integrieren und dies insbesondere für Frauen. Wollen Frauen teilhaben an Karrierechancen so müssen sie im Erwerbsleben ständig präsent sein, was ihnen aber durch ihre natürliche und soziale Mutterschaft nur schwer möglich ist. Die Vorstellung von der gleichzeitigen Teilhabe am Erwerbsleben und am Privatleben als Möglichkeit der Selbstentfaltung ist also mit Forderungen an strukturelle Gegebenheiten verbunden. Gesine Bächer 61 Eine diese Forderungen könnte sein, dass Arbeitsdauer, Arbeitsdichte und Arbeitsintensität in der Art zu ändern sind, dass die Lebensqualität steigt und der Einzelne auch nach der Arbeit fähig bleibt, am kulturellen Leben zu partizipieren. Gefragt sind heute Zeitautonomie, Mitgestaltung, Betriebsklima und Selbstverwirklichung in der Erwerbsarbeit. Wahlzeiten, nach dem sich der Arbeiter die Arbeitsstunden selbst einteilen kann, sind von wachsender Bedeutung (vgl. Schnarrer 1996). In den westlichen Industrienationen findet ein Wertewandel in der Einstellung zur Arbeit statt. Die zunehmende Betonung von Selbstbestimmung, Gesundheit und Freizeit führt zu einem Spannungsverhältnis zwischen Karriere und Freizeit, woraus sich veränderte Wertvorstellungen der Arbeitnehmer zur Arbeitszeitgestaltung, d.h. Veränderung der Länge und Lage der Arbeitszeit, ergeben. Die Formen der Telearbeit können einen Beitrag dazu leisten, dass Arbeitszeiten flexibel gestaltet werden und somit die Möglichkeit besteht, auch im Privatleben dem Wunsch nach Selbstentfaltung nachzukommen. Umgekehrt ist es aber diese Wertvorstellung der gleichzeitigen Orientierung an Berufs- und Privatleben, die eine Forderung nach flexiblen Arbeitszeiten laut werden lassen und somit den Weg dafür frei machen, dass sich flexible Formen der Arbeitsorganisation überhaupt entwickeln. 2. Motive für Telearbeit Im folgenden soll analysiert werden, warum insbesondere Frauen ein großes Interesse an dieser Form der Arbeitsorganisation haben. Zunächst kann davon ausgegangen werden, dass die Motivation für eine Telearbeit der für Erwerbsarbeit, unabhängig von ihrer Organisationsform, prinzipiell entspricht. Die Intensionen für eine flexible Form der Arbeitszeitgestaltung entspringt den Arbeits- und Lebensbedingungen der Frauen, so die zugrundeliegende These. Es muss also zunächst gefragt werden, warum Frauen heute zunehmend erwerbstätig sind und sein wollen. Im nächsten Schritt stehen die Rahmenbedingungen der Erwerbstätigkeit im Mittelpunkt, die letztendlich eine Motivation für flexible Arbeitszeiten, d.h. auch für Telearbeit hervorbringen können. Mit anderen Worten: Es gibt nicht den einen Grund, der isoliert von den anderen für eine Erwerbstätigkeit spricht. 62 Frauen in Wissenschaft und Technik Das Zusammenspiel von individuellen Bedürfnissen, außerberuflichen Lebensbedingungen, gesellschaftlichen und institutionellen Rahmenbedingungen sowie den Arbeitsbedingungen selbst führt letztendlich zu dem Bedürfnis nach flexiblen Arbeitszeiten. In den letzten Jahrzehnten sind vor allem verheiratete Frauen zunehmend am Erwerbsleben beteiligt. So war 1994 die Erwerbsquote verheirateter Frauen zwischen 35 und 50 Jahren 20% höher als 1977 (vgl. Gesellschaft für Informationstechnologie und Pädagogik am IMBSE 1998). Warum hat sich die Erwerbsorientierung geändert bzw. welche Motive haben Frauen heute, erwerbstätig zu sein? 2.1. Lebenskonzepte junger Frauen Der entscheidende Faktor für ein verändertes Erwerbsverhalten sind die veränderten Lebenskonzepte junger Frauen von heute. Die Lebensentwürfe der Frauen werden heute durch einen besseren Zugang zu Bildung und Ausbildung, der Änderungen im Geschlechtsrollenverständnis, der anderen Bedeutung von Partnerschaft und Familie sowie einer geänderten Bedeutung von Erwerbstätigkeit herausgebildet. Gekennzeichnet sind die Lebenskonzepte heute durch eine doppelte Orientierung der Frauen an Berufsleben und Familienleben. Als Ursache für die zunehmende Betonung von Selbstentfaltungswerten wird immer wieder der Modernisierungsprozess von Gesellschaften herangezogen. Der Prozess der Modernisierung ist gekennzeichnet durch eine zunehmende Individualisierung, d.h. einerseits die Veränderung vorgegebener sozialer Lebensformen (Geschlechtsrollen, Formen des Zusammenlebens, Nachbarschaft, Normalbiographien) und andererseits die Entstehung neuer institutioneller Anforderungen, Kontrollen und Zwänge (vgl. Beck 1994). Der Modernisierungsprozess ist gekennzeichnet durch eine beschleunigte Erosion eines verbindlichen Rahmens mit festen Zeitvorgaben, klaren Rollenzuschreibungen, standardisierten Lebensverläufen und verbindlichen Werten und Normen für die Lebensgestaltung. Bezogen auf die Beschäftigungsverhältnisse und Arbeitszeiten findet eine Deregulierung statt, d.h. unbefristete Arbeitsverhältnisse mit hohen sozialversicherungs- und arbeitsrechtlichen Schutz verlieren an Bedeutung, die ihrerseits zu mehr Offenheit und Unsicherheit der beruflichen Perspektive führt. Modernisierung heißt hier, dass Zeitvorgaben im Alltag Gesine Bächer 63 flexibler werden und zeitliche Rahmenbedingungen alltäglichen Handelns werden offener. Damit bleibt es den Individuen überlassen, wie sie die unterschiedlichen Zeitordnungen koordinieren. Modernisierung heißt außerdem eine Individualisierung von Lebenslagen und Biographiemustern. Anders ausgedrückt: Personen werden aus traditionellen Bindungen freigesetzt. Dadurch wirken traditionelle Normen und soziale Bindungen weniger prägend auf die Lebensbedingungen und das Verhalten der Individuen und der Spielraum für individuelle Gestaltungsmöglichkeiten erweitert sich. Soziale Beziehungen können stärker nach eigenen Bedürfnissen und Notwendigkeiten geknüpft werden und müssen gleichzeitig selbst hergestellt werden. Damit sind Individuen auch neuen Anforderungen und Zwängen ausgesetzt. Mit diesen Prozessen kommt es zur Pluralisierung von Werten und Lebensformen, denn es existieren keine konkreten Verhaltens- und Orientierungsangebote mehr. Die Person muss sich aus der Wertevielfalt einen eigenen Wertekanon zusammenstellen an dem sie ihr Handeln orientiert. Was bedeutet das im einzelnen? Das traditionelle Lebensmodell der Ehefrau, Hausfrau und Mutter, das auf die Sorge für andere ausgerichtet war, wird zunehmend abgelöst durch den Anspruch auf eine stärker selbstbestimmte und eigenständige Lebensführung, die sich von Geschlechtsrollenzuschreibungen zu lösen beginnt (vgl. Seidenspinner 1994). Das heißt, die ausschließliche Fixiertheit der Frau auf Familie und Partnerschaft verliert an Bedeutung und damit erweitern sich die Lebensoptionen von Frauen. Der Zugang zu neuen, umfassenden Bildungsinhalten war die Voraussetzung für Bewusstseinsprozesse und die aktive Auseinandersetzung der Frauen mit Restriktionen ihrer Lebensgestaltung, wodurch sie ein privates und politisches weibliches Selbstbewusstsein herausgebildet haben (vgl. Brüderl 1992). Frauen können und wollen heute mehr in Bildung und Ausbildung investieren, was ihnen eine Erwerbsbeteiligung und damit finanzielle Existenzsicherung und materielle Unabhängigkeit ermöglicht. In diesem Zusammenhang verlieren partnerschaftliche Formen des Zusammenlebens nicht etwa an Bedeutung, wie manchmal aufgrund steigender Scheidungsraten prognostiziert wird. Vielmehr besitzen feste Partnerschaften als solche weiterhin einen hohen Stellenwert, wenngleich die institutionelle Verbindlichkeit, d.h. die rechtlich-formelle Absicherung durch die Eheschließung eine immer geringerer Rolle spielt, 64 Frauen in Wissenschaft und Technik denn Frauen sind materiell nicht mehr an die Institution Ehe gebunden. Neben der Partnerschaft hat Erwerbsarbeit für Frauen an Bedeutung gewonnen. Die hohe Investition in Bildung und Ausbildung erhöht das Humankapital der Frauen in der Weise, dass sie dieses nicht durch eine Erwerbsunterbrechung verlieren wollen. Daraus kann abgeleitet werden, dass die Familie zwar nicht an ihrer Bedeutung als Lebensinhalt verliert, aber ihre Bedeutung als ausschließlicher biographischer Rahmen hat verloren währenddessen Erwerbstätigkeit einen festen Stellenwert im Lebenszusammenhang erhalten hat. Die subjektiven Ansprüche an die Erwerbstätigkeit selbst tragen dazu bei, dass Berufsarbeit neben Familie und Partnerschaft, zunehmend an Bedeutung gewinnt. Frauen sehen heute in einer Erwerbsarbeit die Möglichkeit, ihren Bedürfnissen nach Selbstdarstellung und entwicklung nachzukommen. Sie wollen ihre angeeigneten intellektuellen und kommunikativen Fähigkeiten in kooperativen Vollzügen anwenden, lehnen sachlich nicht begründete Autoritätsverhältnisse ab und sehen Arbeit als Gelegenheit, etwas neues zu lernen und sich weiterzuentwickeln (vgl. Baethge 1994). Frauen entwickeln ein verändertes Anspruchsniveau bezüglich ihrer berufsbezogenen Orientierung, d.h. sie arbeiten nicht mehr primär aus materiellen Zwängen, sondern haben eine hohe intrinsische Motivation. Doppelorientierung im Lebenskonzept junger Frauen heißt, dass die beiden Lebensbereiche Partnerschaft/Familie einerseits und Beruf andererseits keine alternativen Lebensoptionen darstellen, sondern gleichgewichtig in ihrer Bedeutung sind. Der Beruf hat Bedeutung für die Identität, die von Partnerschaft oder dem Wunsch nach Kindern nicht verringert wird, d.h. der Beruf und die Gründung einer Familie haben die gleiche Relevanz. Junge Frauen sind heute familien- und berufsorientiert, d.h. sie wollen beide Entwicklungsaufgaben wahrnehmen. Diese hohe Bedeutung des Berufes neben Familie und Partnerschaft, motiviert Frauen erwerbstätig zu sein. 2.2. Ökonomische Motive für eine Erwerbstätigkeit Auch wenn gezeigt wurde, dass Frauen zunehmend aus intrinsischer Motivation heraus erwerbstätig sein wollen, so stehen daneben ökonomische Faktoren, die eine Erwerbstätigkeit notwendig erscheinen lassen. Gesine Bächer 65 Die ökonomischen Gründe verlieren an Bedeutung, wenn Tätigkeiten im Bereich der qualifizierten Berufsgruppen ausgeübt werden. Dann wird eher die Erhaltung des arbeitsmarktspezifischen Humankapitals, d.h. der Bildungsressourcen und beruflichen Qualifikationen, durch eine Erwerbstätigkeit im Vordergrund stehen. Frauen sind umso mehr an kontinuierlicher Erwerbstätigkeit interessiert, je höher ihre berufsbezogene Qualifikation und Verdienstmöglichkeiten sind, da sie nur so die Ressourcen langfristig verwerten, sichern und weiterentwickeln können (vgl. Heinritz; Walper 1993). Die Motivation von Frauen erwerbstätig zu sein, hat ihren Ursprung nicht in einem einzigen Grund, sondern im Zusammenspiel ökonomischer Faktoren und persönlich-individueller Wünsche (vgl. Hegner 1989). Eine zentrale Rolle spielt dabei die Erhaltung oder Erweiterung der beruflichen Qualifikation und Sozialkontakte, ein eigenes Einkommen und ein Gefühl der finanziellen Unabhängigkeit zu haben, der Wunsch nach sozialer Absicherung und rechtzeitiger Vorsorge für den Fall der Eheauflösung, nach einem gesellschaftlich anerkannten Sozialstatus und der Wunsch nach Selbstständigkeit durch Anerkennung der Arbeitsergebnisse außerhalb des Familien- und Haushaltkontextes. Um die spezifische Motivation für einen Telearbeitsplatz zu analysieren, soll das zentrale Motiv für eine Erwerbstätigkeit, die Doppelorientierung an Familie und Beruf, im Mittelpunkt stehen. 2.3. Telearbeit – Chance für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie? „Die tatsächliche Möglichkeit (oder Wahlfreiheit, wie politisch oft postuliert) beider Lebensoptionen, das heißt Beruf und Familie miteinander zu verbinden, scheitert noch immer am Fehlen gesellschaftlicher Rahmenbedingungen, wie zum Beispiel familiengerechte Arbeitswelt sowie ausreichende und bedarfsgerechte Kinderbetreuungsmöglichkeiten.“ (Simm 1989, S.127) Dieser Satz enthält zwei Aussagen. Zum einen wird behauptet, dass eine doppelte Orientierung auf Beruf und Familie nicht lebbar sei und dies aufgrund von bestimmten Rahmenbedingungen. Ich möchte diese Aussage anders formulieren und erweitern: Die Möglichkeit, Beruf und Familie miteinander zu verbinden, ist abhängig von verschiedenen Rahmenbedingungen. Individuelle Lebensbedingungen verhindern oft die 66 Frauen in Wissenschaft und Technik Realisierung beruflicher Ziele und äußere Ereignisse können eine Neugewichtung familiärer und beruflicher Ziele erforderlich machen. Zu diesen gehören die Bedingungen der Arbeitswelt, der Familie, gesellschaftlich-institutionelle Bedingungen sowie die Einstellungen der Frauen selbst, wobei nicht eine dieser Bedingungen für sich die Realisierung der Doppelorientierung bestimmt, sondern das Aufeinandertreffen der Rahmenbedingungen der verschiedenen Lebensbereiche. Wie ein roter Faden durchzieht diese Lebensbedingungen die immer noch vorhandene traditionelle Selbstverständlichkeit der Gesellschaft, der Partner und oftmals der Frauen selbst, dass Familienarbeit sowie Kinderbetreuung und -erziehung eine Sache der Frau sei und es demnach ihr Problem ist, wie sie das mit ihrer vorhandenen Berufsorientierung vereinbaren kann. Nicht die Gleichzeitigkeit von Familien- und Berufsorientierung der Frau, sondern die Gleichzeitigkeit der traditionellen Selbstverständlichkeit von Familienbildung und geschlechtsspezifischen Rollendifferenzierung auf der einen Seite und der individuellen Orientierung auf Arbeitsmarkt und Konsum auf der anderen Seite generiert den Konflikt der Vereinbarkeit von Beruf und Familie (vgl. Gavranidon 1993). Bezüglich der Arbeitsbedingungen sind es vor allem die Arbeitszeiten, die in das Familienleben eingreifen bzw. ihm eher entgegenstehen. Es gibt kaum Angebote, die zeitlich gesehen zwischen einer Teilzeit- und einer Vollzeiterwerbstätigkeit angesiedelt sind und für die doppelte Orientierung an Beruf und Familie ideal wären. Teilzeit ist vom Zeitfaktor zwar ideal, kann aber dem ökonomischen Motiv nach einem (zusätzlichen) Einkommen nicht gerecht werden. Vollzeitarbeit bleibt aufgrund der wenig entsprechenden Öffnungszeiten von Kindertagesstätten mit erheblichen Kompromissen bezüglich der Familienarbeit verbunden. Betrachtet man die Familie als Einflussfaktor auf die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, so sind es Familienstand, Familienereignisse und die Partnerschaft, die dabei eine Rolle spielen. Familienstand meint hier, ob man mit einem festen Partner zusammenlebt oder nicht. Lebt eine Frau alleine und hat Kinder, so ist sie einerseits auf die Erwerbstätigkeit angewiesen und muss andererseits die Familie alleine versorgen, d.h. hat zum Beispiel bei der Betreuung keine Unterstützung durch einen Partner zu erwarten. Ob eine alleinerziehende Mutter Familie und Beruf zufriedenstellend verbinden kann, soll nicht explizit untersucht werden, aber es wird im wesentlichen vom Unterstützungssystem der Frau abhängen. Gesine Bächer 67 Bedingungen der Familie meint hier auch die verschiedenen Familienphasen oder -ereignisse. Bevor eine Frau eine Familie gründet, entwirft sie ein Lebenskonzept mit einer Reihe von alternativen Optionen: Beruf, Kinder, Freunde, Reisen, Freizeit haben zunächst die gleiche Bedeutung, d.h. Familie und Beruf sind noch keine sich ausschließende Optionen. Je konkreter jedoch die Verwirklichung des Kinderwunsches wird, umso mehr erhöhen sich die Unsicherheiten bei Frauen, denn mit der Familiengründung verlagert sich die Bedeutung in Richtung Familientätigkeit, insbesondere wenn die Frau mehr als ein Kind hat. Ist ein Kind vorhanden, nimmt die Anzahl der Paare, in denen beide erwerbstätig sind, entscheidend ab (vgl. Krombholz 1993). Die Möglichkeiten, Familie und Beruf entsprechend der ursprünglichen Doppelorientierung zu leben, nehmen mit zunehmender Kinderzahl ab, da mehr in die Familienarbeit investiert werden muss, was wiederum zum Beispiel an Zeit für eine Erwerbstätigkeit nicht mehr zur Verfügung steht. Zu den Rahmenbedingungen der Familie, die die Realisierung der doppelten Orientierung beeinflussen, gehört auch die Einstellung der Partner zu den Geschlechterrollen. Ein Rollenwandel in die Richtung, dass auch der Mann für Haus- und Familienarbeit verantwortlich ist, wird noch relativ einseitig von den Frauen forciert. Mit steigender Erwerbsbeteiligung insbesondere verheirateter Frauen mit Kindern, gewann die Forderung nach Beteiligung der Männer an Aufgabenbereichen, die bisher in der Verantwortung der Frauen lag, an Bedeutung. Bei den Männern ist zunehmend zwar ein Einstellungswandel zu erkennen, dass sie sich genauso für die Reproduktionsarbeit verantwortlich fühlen und eine Erwerbstätigkeit ihrer Partnerin befürworten, aber im tatsächlichen Handeln sind die sogenannten Traditionen noch fest verankert. Würden die Männer gleichberechtigt einen Teil der Familienarbeit übernehmen, so würden die Frauen entlastet und könnten einer Erwerbstätigkeit ungehinderter nachgehen. Zu den gesellschaftlichen Bedingungen, die Erwerbsleben und Familienleben als gleichwertige Lebensperspektiven realisierbar machen, gehört einmal das Leitbild was eine Gesellschaft diesbezüglich vertritt also als Rolle an die Frau heranträgt und zum anderen die strukturellen Bedingungen, die eine Gesellschaft schafft, um beide Bereiche vereinbaren zu können. Während noch bis in die 60er Jahre eine starke Ausrichtung im Sinne des traditionellen Leitbildes, d.h. die Erwerbstätigkeit von Müttern stand den Pflichten und Aufgaben der Frau als Mutter und E- 68 Frauen in Wissenschaft und Technik hegattin entgegen, wirksam war, gewann in den 80er Jahren die politische Einstellung, dass die Vereinbarkeit von Beruf und Familie gestützt werden muss, immer mehr an Bedeutung, da sonst mit einem weiteren Geburtenrückgang gerechnet werden muss (vgl. Lamm-Heß; Wehrspaun 1994). Zur gesellschaftlichen Norm wurde die Erwerbstätigkeit von Müttern, aber nicht in den familienintensiven Lebensphasen. Das zeigt sich unter anderem darin, dass die sozialpolitischen Hilfeleistungen von einem familienzyklischen Modell der mütterlichen Erwerbstätigkeit ausgehen, d.h. zum Beispiel längerer Erziehungsurlaub statt mehr Kindergartenplätze und den Arbeitzeiten entsprechende Öffnungszeiten der Kinderbetreuungseinrichtungen. Die Gesellschaft unterstützt zwar hiermit die Erwerbstätigkeit der Frauen und Mütter, aber dies tut sie nicht in der intensiven Familienphase, was die Bedingung für eine erfolgreiche Realisierung von Beruf und Familie wäre. Oftmals verhindert die ambivalente Haltung der Frauen gegenüber der Erwerbstätigkeit und Familientätigkeit eine Verwirklichung der Vereinbarkeit. Auf der einen Seite stehen die Ansprüche an eine gute Mutter, die unter anderem durch die zunehmende Sozialisationsfunktion der Familie wahrgenommen wird. Frauen wollen ihre Kinder erziehen und fördern und haben auch deshalb oft Schwierigkeiten, die Kinderbetreuung für eine gewisse Zeit Dritten zu überlassen. Zum anderen wollen sie auch ihre beruflichen Wünsche realisieren und haben das Bedürfnis, auch außerhalb der Familienarbeit anerkannt zu werden. So entsteht ein Konflikt zwischen der Rolle als Berufstätige und dem Hausfrauendasein, d.h. Mütter bleiben hin- und hergerissen zwischen beruflichen Wünschen und ihren Verpflichtungen den Kindern gegenüber. Wenn es Probleme gibt, wird oftmals sofort die Berufstätigkeit in Frage gestellt, d.h. es wird nicht gefragt, ob die Kindertagesstätten und Schulen länger geöffnet haben könnten oder Partner mehr helfen könnten oder die Organisation verbessert werden könnte (vgl. Mertens 1996). Der Vereinbarkeit von Beruf und Familie als gleichwertige Lebensoptionen steht der Intrarollenkonflikt zwischen Mutter/Hausfrau und Berufsfrau entgegen. Wie sich bis hier her gezeigt haben soll, kann der doppelte Lebensentwurf von Frauen aufgrund gesellschaftlicher Bedingungen, der ungelösten Probleme der Kinderbetreuung, der geschlechtsspezifischen innerfamiliären Arbeitsteilung sowie der Rollenkonflikte der Frauen selbst nicht konsistent umgesetzt werden. „In der Individualisierungsdebatte Gesine Bächer 69 wird davon ausgegangen, dass Frauen zwischen neuen, individualisierten Lebensformen und traditionellen Zusammenhängen hin- und hergerissen werden, weil sie zum einen Familie leben, zum anderen aber auch erwerbstätig sind und sein wollen, und das womöglich noch gleichzeitig und in häufig nicht konsistenter Form.“ (Seidenspinner 1994, S.24) Die Unvereinbarkeit der beiden Lebensbereiche basiert also auf einer Reihe von mangelnder Unterstützung für Frauen, wie das Fehlen von Kinderbetreuungsplätzen und den Öffnungszeiten der Kindertagesstätten, die den familienunfreundlichen Arbeitszeiten nur unzureichend entsprechen sowie die geringe Bereitschaft der Männer und Väter sich gleichberechtigt an Hausarbeit und Kindererziehung zu beteiligen. Unter diesen Bedingungen handelt es sich um eine doppelte Belastung für Frauen. Ziel müsste es demnach sein, dass die Frauen Entlastung in beiden Bereichen anstreben. In der gesellschaftlichen Diskussion wird vor allem das Normalarbeitsverhältnis von Frauen problematisiert und es werden Forderungen nach täglichen Arbeitszeitverkürzungen, flexiblen Arbeitszeiten sowie Fördermaßnahmen erhoben. Betrachtet man die propagierten Vorteile der Telearbeit, so wird immer wieder die bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie in den Mittelpunkt gerückt. Durch die Möglichkeit der flexiblen Zeiteinteilung der Telearbeit, soll eine Entlastung der Frauen erreicht werden, um Familie und Beruf besser vereinbaren zu können. Dies entspricht einer Entlastung im Bereich der Erwerbsarbeit. Wenn Telearbeit aber als Möglichkeit zur Vereinbarkeit dienen soll, muss eine Entlastung in allen Lebensbereichen geschaffen werden, denn Vereinbarkeit meint, die Lebensbereiche Familie/Partnerschaft und Erwerbsarbeit gleichwertig realisieren zu können. „Frauen können zwar ohne weiteres so viel wie Männer und mit Sicherheit sind sie auch in der Lage, dies ebenso gut zu leisten, aber ohne grundsätzliche Veränderungen im gesellschaftlichen Umfeld werden für Frauen keine prinzipiellen Verbesserungen ihrer Möglichkeiten zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie erzielt. Die Forderungen, die sich aus der Gleichberechtigungsstrategie herleiten, müssen durch Forderungen zu Veränderungen der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und durch Forderungen nach partnerschaftlichen Umgang miteinander ergänzt werden (Simm 1989, S.63) Nicht die Flexibilisierung der Arbeitszeiten alleine, sondern ein Einstellungswandel der Männer und die Änderung gesellschaftlicher Rahmenbedingungen werden die Vereinbarkeit besser möglich machen. 70 Frauen in Wissenschaft und Technik Die Konsequenz daraus heißt, dass in der Forschung die gängige Trennung von Reproduktions- und Erwerbsarbeit überwunden werden muss. Will man Telearbeit als Möglichkeit der Vereinbarkeit von Beruf und Familie analysieren, müssen die Arbeits- und Lebensbedingungen von Telearbeitern untersucht werden, denn dadurch wird das Ineinandergreifen von Erwerbsarbeit und Reproduktionsarbeit deutlich. Es sollen also nicht nur die Arbeitsbedingungen der beruflichen Tätigkeit untersucht werden, sondern es soll analysiert werden, wie Frauen und Männer Familien- und Hausarbeit organisieren und bewältigen und welche Konsequenzen sich für die doppelte Arbeit der Frauen zu Hause sowohl für ihre berufliche als auch ihre Familienarbeit ergeben. So können die Dependenzen einzelner Belastungsformen, die sich gegenseitig verstärken oder aufheben können, heraus gearbeitet werden und Telearbeit als mögliche Form der besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf aus der Sicht der Frauen identifiziert werden. Literatur Baethge, Martin: Arbeit und Identität. In: Beck, Ulrich; Elisabeth BeckGernsheim (Hg.): Risikante Freiheiten. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 1994, S.245-261 Beck, Ulrich; Elisabeth Beck-Gernsheim (Hg.): Risikante Freiheiten. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 1994 Brüderl, Leokadia; Bettina Paetzold (Hg.): Frauenleben zwischen Beruf und Familie. Weinheim, München: Juventa-Verlag 1992 Daheim, Hansjürgen; Günther Schönbauer: Soziologie der Arbeitsgesellschaft. Grundzüge und Wandlungstendenzen der Erwerbsarbeit. Weinheim, München: Juventa Verlag 1993 Gesellschaft für Informationstechnologie und Pädagogik am IMBSE (Hg.): Beschäftigungsrisiko Erziehungsurlaub. Opladen, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1998 Glaser, Wilhelm R.; Margit O. Glaser: Telearbeit in der Praxis. Psychologische Erfahrungen ,it Außerbetrieblichen Arbeitsstätten bei der IBM Deutschland GmbH. Neuwied, Kriftel, Berlin: Luchterhand 1995 Gavranidon, Maria: Frauen wollen doch nicht nur das eine – Berufsorientierung von Frauen. In: Nauck, Bernhard (Hg.): Lebensgestaltung von Frauen. Eine Regionalanalyse zur Integration von Familien- und Erwerbstätigkeit im Lebensverlauf. München: Juventa-Verlag 1993, S.87-117 Hegner, F.; Klocke-Kramer, M.; Lakemann, U.; Schlegelmilch, C.: Dezentrale Arbeitsplätze. Eine empirische Untersuchung neuer Erwerbsund Familienformen. Frankfurt/M., New York: Campus-Verlag 1989 Gesine Bächer 71 Kordey, Norbert; Werner B. Korte: Telearbeit erfolgreich realisieren. Das umfassende aktuelle Handbuch für Entscheidungsträger und Projektverantwortliche. Braunschweig, Wiesbaden: Verlag Viehweg 1998 Krombholz, Heinz: Die Erwerbstätigkeit in der Partnerschaft – Wunsch und Wirklichkeit. In: Nauck, Bernhard (Hg.): Lebensgestaltung von Frauen. Eine Regionalanalyse zur Integration von Familien- und Erwerbstätigkeit im Lebensverlauf. München: Juventa-Verlag 1993, S. 209-233 Lamm-Heß, Yvette; Charlotte Wehrspaun: Frauen- und Müttererwerbstätigkeit im Dritten und Vierten Familienbericht. http://www.unikonstanz.de/ZE/Bib/vv/soz/luescher/guv09a.htm Juli 1994 Matuschek, Thomas: Marktbarometer Telearbeit. http://www.media. nrw.de/offensiven/ta/tamarktbarometer.html 02.06.1999 Mertens, Heide: Hausfrau – Karrierefrau? Vereinbarkeit von Beruf und Familie als Herausforderung. Münster: Votum-Verlag 1996 Reichwald, Ralf: Telearbeit und Telekooperation – Arbeitsformen der Informationsgesellschaft. Möslein 1996 Schnarrer, J. Michael: Arbeit und Wertewandel im postmodernen Deutschland. Eine empirische, ethisch-systematische Studie zum Berufs- und Arbeitsethos. Hamburg: Kovac 1996 Seidenspinner, Gerlinde; Barbara Keddi: Lebensentwürfe: wie junge Frauen leben wollen. In: Hildebrandt, Regine; Ruth Winkler (Hg.): Die Hälfte der Zukunft. Lebenswelten junger Frauen. Bund-Verlag 1994 Simm, Regina: Partnerschaft und Familienentwicklung. In: Wagner, Gert; Notburga Ott; Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny (Hg.): Familienbildung und Erwerbstätigkeit im demographischen Wandel. Berlin u.a.: Springer Verlag 1989, S. 117-135 Walper, Sabine; Sigrid Heinritz: Mütter nach der Kleinkindphase: Zur Gestaltung der Berufsbiographie in unterschiedlichen Bildungsgruppen. In: Brüderl, Leokadia; Bettina Paetzold (Hg.): Frauenleben zwischen Beruf und Familie. Weinheim, München: Juventa-Verlag 1992, S.49-67 72 Frauen ins Netz Die Informationsgesellschaft im Wandel Gabriele Hartung 1. Die Informationsgesellschaft im Wandel Die moderne Gesellschaft befindet sich im Wandel. Kommunikationsund Informationstechnologien prägen unsere Zeit. Informationen sind nicht nur vielfältiger und umfassender geworden, sie bestimmen zunehmend unser gesamtes Leben. Ebenso vielfältiger sind die Möglichkeiten der Informationsvermittlung. Das sich am schnellsten expandierende Informationsmedium - das Internet - umspannt die Erde und bildet eine neue Dimension aus Daten, Kabeln und Netzen. Es wächst rasant und greift in unsere Arbeitswelt und in unser Leben ein. Es verändert die Art, wie wir Menschen einander begegnen, wie wir lernen, kommunizieren und wie wir die Wirklichkeit wahrnehmen. Einige interessante Zahlen sollen das untermauern: Nach Schätzungen des NUA Internet Surveys gab es im März 1999 weltweit etwa 163,5 Mio. User/-innen. Mehr als die Hälfte davon (etwa 92 Mio.) lebt in den USA und in Kanada, etwa 36 Mio. in Europa, 27 Mio. in Asien, 4,5 Mio. in Südamerika und etwa 1 Mio. in Afrika. Auch innerhalb von Europa gibt es deutliche Unterschiede zwischen den Ländern: während in Island fast 45% der Bevölkerung online sind, sind es in Schweden und Finnland etwa 30%, in Deutschland nur 9% und in Frankreich etwa 5%.3 Im Vergleich dazu haben in Leipzig nur etwa 5 bis 7% der Privathaushalte einen Internetanschluss (Tendenz langsam steigend).4 3 4 zitiert aus Barabara Schwarze: Frauen ans Netz! Die Internetzukunft ist weiblich (NUA Internet Surveys, 3/99) in: die frau in unserer zeit 2/99 Kleinwächter, Leipziger Volkszeitung vom 28.9.99 74 Frauen ins Netz Weltweit wächst die Zahl der User/-innen ständig. Prognosen des NUA Surveys für 2005 verdeutlichen das:5 Im Jahr 2005 rechnet man mit 717 Mio. Usern/Userinnen weltweit, d.h. im einzelnen: Nordamerika (USA + Canada) Westeuropa Asien/Pazifik Süd- und Mittelamerika Mittlerer Osten + Afrika 230 Mio. 202 Mio. 171 Mio. 43 Mio. 23 Mio. Interessant ist auch die Altersstruktur der Nutzer/-innen. Daraus ergibt sich folgendes Bild: 50 Jahre und älter 10,4% 40 bis 49 Jahre 15,2% 30 bis 39 Jahre 30,5% 20 bis 29 Jahre 35,1% 19 Jahre und jünger 8,7% (100,0% gesamt)6 Die jüngeren Nutzergruppen (unter 20 Jahren) und auch die älteren (über 50 Jahre) wachsen prozentual gesehen immer mehr an. Hingegen nimmt die Bedeutung der Altersgruppe der 20 bis 29-Jährigen immer mehr ab: Sie ist seit 1995 um 28% auf heute 35% gesunken. Die WWW-Anwenderinnen sind im Durchschnitt jünger als ihre männlichen Kollegen - in den Altersgruppen zwischen 14 und 30 Jahren sind besonders viele Frauen vertreten. Vor allem Studentinnen und Auszubildende zählen zu den Nutzerinnen. Hinsichtlich der bisherigen Nutzungsdauer des WWW zählen die meisten Nutzerinnen zu den Neulingen im Netz (57% sind noch keine zwei Jahre online).7 5 6 7 www.nua.ie siehe: 8.w3b-Umfrage, 1999; www.w3b.de Fittkau & Maaß, 1995-99 Gabriele Hartung 75 2. Frauen ins Netz Einige Zahlen auch hier zur Verdeutlichung der derzeitigen Situation: Nach Untersuchungen der w3b – Online-Umfrage von Hamburger Marktforschern sind gegenwärtig 76,8% aller User Männer und 23,2% sind Frauen.8 Die weltweit steigenden Zahlen der Internetzugänge sollten vor allem Frauen ermutigen, sich aktiv mit den Möglichkeiten und Chancen des Internets auseinander zu setzen und es zu gestalten. Dabei ist es wichtig zu wissen, wie das Internet „funktioniert“, was Frau mit oder im Netz machen kann und wo andere Frauen sind (nicht nur im virtuellen Raum!), mit denen sie sich austauschen und kommunizieren kann. Sensibel zu beobachten, was sich im Netz tut und kompetent mit dem Medium umzugehen, sind dabei wichtige Orientierungshilfen. Und es tut sich sehr viel im Netz, auch oder insbesondere durch engagierte Frauen weltweit. Nach meinen Erfahrungen gibt es bei Frauen verschiedene Ansätze und Motivationen, sich mit dem Internet zu befassen: Da sind z.B. die „Pionierinnen“, die „Cyberfrauen“, die von Anfang an das Internet mit gestalteten. Die amerikanischen Programmiererinnen Grace Murray Hopper, Betty Holberton sowie Esther Dyson, die „First Lady des Internet“ gehörten und gehören dazu. • • • 8 Grace Murray Hopper (1996 – 1992) entwickelte mit an der Programmiersprache Cobol und Betty Holberton (81 Jahre) war maßgeblich beteiligt an der Entwicklung des ersten kommerziellen elektronischen Computer Univac/Universal Automatic Computer). Esther Dyson (47 Jahre) gründete Anfang der 80er Jahre den Newsletter Release 1.0, ein Diskussionsforum für alle Fragen, die sich aus der Nutzung des Internets für wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Zwecke ergeben. Zudem schrieb sie 1997 die „Bibel des Internet“: Release 2.0 – Die Internet-Gesellschaft. Spielregeln für unsere digitale Zukunft, (Droemer Knauer, München 1997). www.w3b.de 76 Frauen ins Netz Seit Beginn der 90er Jahre sind viele „Cyberfrauen“ aktiv und im Netz präsent. Unternehmen, Organisationen, vernetzte Initiativen, Mailboxen, Frauennetze und Online-Magazine gründeten sich und verbreiteten ihre Erfahrungen, Ziele und jede Menge Informationen über das neue Medium. Einige von ihnen, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, sind: • die besagte Amerikanerin Esther Dyson • Rena Tangens (Mitbegründerin der BIONIC-Mailbox und des FoeBuD e.V.) • die Britin Sadie Plant (die „Cyber-Feministin“ und Autorin von „Nullen und Einsen“, wo sie behauptet: „...Frauen können mit unstrukturierten Informationen einfach besser umgehen...“ und „...Die Struktur des Netzes gründet sich genau auf so eine Art informeller Kontaktaufnahme, es gibt kein Kommandozentrum, keinen organisatorischen Kern – und genau deshalb ist das Netz wie für Frauen gemacht...“9) • Nicola Tilling (sie war Mitbegründerin des ersten InternetProviderdienstes von Frauen für Frauen in Hamburg: w4w.10 Zudem spielte sie eine wesentliche Rolle bei der Schaffung der FrauenMailbox „Fenestra“) • die Amerikanerin und „weibliche Ausgabe“ von Bill Gates: Kim Polease (Computerwissenschaftlerin und Biophysikerin, hat Java mit entwickelt und vermarktet) • die Amerikanerin Aliza Sherman (gründete eigene WebdesignAgentur Cybergirl, schuf mit anderen das weltweite Frauennetzwerk Webgirls, ein Forum von Frauen, die sich für Internet und neue Technologien interessieren • Karin Maria Schertler (das erste deutsche Webgirl, „spinnt“ mit anderen die Fäden für ein bundesdeutsches Netzwerk von Frauen in den neuen Medien.11 Viele engagierte Frauen haben Netzwerke und Internet-Projekte kreiert und sind im Netz präsent (siehe Anhang 1: Frauenseiten im Netz). 9 10 11 Interview mit Sadie Plant: Das Netz ist weiblich in: konr@d Dezember/Januar 98-99 www.w4w.de siehe: Das starke Geschlecht die Cyberfrauen. konr@d – Der Mensch in der digitalen Welt. Dezember/Januar 98 /99 Gabriele Hartung 77 Leider sind nur wenig ostdeutsche Frauen im Internet vertreten. Es gibt kaum bzw. keine ostdeutschen Mailboxen oder Frauennetze. Dennoch tut sich auch einiges in den Neuen Bundesländern. Bürger/-innen Projekte und Frauen-Internetprojekte entstehen, die öffentlichkeitswirksamer werden. Zudem interessiert sich eine zunehmende Zahl von „Normalverbraucherinnen“ für das Internet. Seminare, Schulungen, Workshops und Schnupperkurse haben regen Zuspruch seitens vieler Frauen. Die Aktion „Frauen ans Netz“ wird derzeit, nach erfolgreichem Start Ende 1998, bundesweit fortgesetzt.12 Dennoch muss viel getan werden, um der „zivilen“ Nutzung des Internets, gerade durch Frauen mehr Förderung zu geben. Noch immer gibt es starke Berührungsängste vor der „neuen“ Technik, psychologische Barrieren und Vorurteile. Diese gilt es abzubauen. Ein verbesserter und preiswerter Zugang zum Internet, kostenlose und kostengünstige Surfmöglichkeiten vielerorts sowie „medienkompetente“ und pädagogisch begabte Frauen bei der Durchführung von Seminaren Kursen und Schnupperangeboten sind positive Schritte in diese Richtung. 3. Informationen im Netz Die Fragen „Gewusst wo und gewusst wie?“ werden zum wesentlichen Antrieb des Menschen in unserer Gesellschaft. Informationen braucht Frau und Mann ständig, egal ob z.B. es darum geht, wo sich welches Amt befindet, wann im Kindergarten Elternabend ist, oder welche Ausschreibungen veröffentlicht wurden, und welche Fördermittel zu beantragen sind. Immer geht es um Informationen! Mit der Wichtigkeit der Informationen und der technischen Entwicklung gab es in der Geschichte immer Medien, die den Menschen Informationen aufbereiteten und zur Verfügung stellten. Da war die Erfindung der Printmedien, wie Bücher, Zeitungen und Zeitschriften sowie des Telegrafen, Radios und des Fernsehens. Mit der Zunahme der Informationen wurde es auch dringend notwendiger, neue Technologien der Informationsvermittlung zu entwickeln. Von großer Bedeutung war dabei die Schnelligkeit der Übertra12 eine gemeinsame Aktion von BRIGITTE, der Initiative „Frauen geben Technik neue Impulse“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, der Bundesanstalt für Arbeit, der Telekom und T-online siehe: www.brigitte.de 78 Frauen ins Netz gung. Nachrichtenagenturen entstanden. Sie nutzten für das Überbringen von Informationen nach den Boten und Flugtauben auch den Telegrafen. Die elektronische Datenvermittlung entwickelte sich rasant und wurde zu einem wesentlichen Wettbewerbsfaktor. In enormer Geschwindigkeit sind gerade in den letzten Jahren die Möglichkeiten der Informationsbeschaffung und die Informationsmenge gewachsen. Mit dem Ziel der Vernetzung von Informationen und Nachrichten entstanden die Vorläufer des heutigen Internet Ende der 60er Jahre in den USA. So richtig bekannt und nicht nur von Forschungseinrichtungen und Militär genutzt, wurde das Internet erst 20 Jahre später. Mit der Erfindung des WorldWideWeb (WWW) von Schweizer Wissenschaftlern 1991 („Erfinder“: Tim Berners-Lee) wurde das Internet weltweit populär. Eine Web- bzw. e-mail-Adresse auf der Visitenkarte gehört inzwischen zum „guten Ton“ und ist ein absoluten Muss für Seriosität und Modernität von Unternehmen und Organisationen geworden. Die rasant fortschreitende Entwicklung der Technik beeinflusst aber auch andere Gesellschaftsbereiche. Es entsteht ein neuer, kaum überschaubarer Arbeitsmarkt, eine Vielzahl von neuen, häufig verschwommenen Berufsbildern und Tätigkeiten entwickelt sich. Jobs in der Multimedia - Arena setzen vielfach eine Mischung aus technischem Knowhow, betriebswirtschaftlichen Kenntnissen, künstlerisch-gestalterischen und organisatorischen Fähigkeiten, Managementwissen und sozialer Kompetenz voraus. Fähigkeiten, wie „Medienkompetenz“ sind auf dem Markt gefragt, wie nie zuvor. Medienkompetenz kann erworben werden. Dazu zählen u.a. Fähigkeiten, wie: • die Nutzung verschiedener Informationsmedien, wie (Rundfunk, Fernsehen, Printmedien, Internet, Handy, Fax etc.) • die gezielte Suche nach Informationen, deren Aufarbeitung und die Erschließung von Hintergrundinformationen (verstehen und lesen zwischen den Zeilen) • technische Grundkenntnisse im Umgang mit Informationstechnologien und Erfahrungen in deren Anwendung (Computerprogramme, Internet, Intranet etc.) • das Denken in virtuellen Dimensionen und Zusammenhängen. Gabriele Hartung 79 Die geforderte Interdisziplinarität führt zu neuen Berufs- und Tätigkeitsbildern. Die entsprechenden Anforderungen zielen darauf, dass sich äußerst vielseitige Fähigkeiten in einer Person vereinigen. In neuen Dimensionen und virtuellen Arbeitszusammenhängen zu denken, Medienund Online-Kompetenz zu erwerben sind die benötigten Eigenschaften der neuen “Spezialisten”. Technisch fundiertes Basiswissen und fachliche Kompetenz bilden die Voraussetzungen dafür. Neue Berufsbilder oder Tätigkeitsprofile sind entstanden. So gibt es eine Vielzahl wirklich neuer Berufe und Berufsprofile. Einige von ihnen sind z.B.: • Online- oder Internet-Redakteur/-in • Multimediaproduzent/-in • Screendesigner/-in • Multimedia-Programmierer/-in • Webmaster Info-Broker • Medientechniker/-in oder: • System-Administrator/-in • Web-Designer/-in im Creative-Bereich • Netzwerkbetreuer/-in • Informationsmanager/-in. Aber auch ganz „normale“ Berufe mit „Medienerfahrung“ sind zunehmend gefragt, wie: • Buchhalter • Designer • Einkäufer • Kundenberater. Stellenmärkte und Jobsuche online wird zunehmend populärer. Z.B. „durchforstet“ AOL (American-Online) auf Knopfdruck 720 Stellenmärkte mit mehr als 35.000 Angeboten. Fast jede renommierte Zeitschrift ist online und hat eigene oder „verlinkte“ Jobmärkte, die mit steigender Tendenz genutzt werden. 80 Frauen ins Netz 4. Informationssuche durch Suchmaschinen Um bei der Suche nach bestimmten Informationen erfolgreich zu sein, werden sogenannte Suchmaschinen genutzt. Das sind Programme, mit deren Hilfe Mann oder Frau das Web nach Webseiten durchsuchen kann. Dahinter stehen riesige Datenbanken. Suchmaschinen haben sich darauf spezialisiert, umfangreiche Listen interessanter Webseiten aus aller Welt nach Themenbereichen organisiert anzubieten und diese nach Stichworten zu durchsuchen. Leider gibt es inzwischen auch bei den Suchmaschinen eine ganze Reihe und jede/r sollte seine eigenen Erfahrungen sammeln. Dennoch seien im folgenden einige empfehlenswerte Adressen genannt: • www.yahoo.de • www.altavista.de • www.lycos.de • www.aladin.de • www.spider.de • www.allesklar.de • www.entry.de • www.eule.de • www.excite.de • www.web.de • www.fireball.de.de • www.dino-online.de • Deutschsprachige Suchmaschinen Acoon, Aladin, Alles klar, Altavista (D), Bellnet, Eule, Fux, Intersearch, Lycos (D), Nathan, Netfind, Rex, Sharelook.de, Sharelook.ch, Spider, Simple Search, Suchmaschine.de, Swiss Search, Web.de, Witch.de, Yahoo (D) • Internationale Suchmaschinen About, Excite, GoTo, Hotbot, Infomak, Looksmart, Lycos.com, Magellan, NorthernLight, Questfinder, Scrub the web, Search.MSN.com, Snap, Thunderstone, Webcrawler, Yahoo.com • Medizinische Suchmaschinen Datadiwan, Gesundheitstipps, Medivista, Medguide B.H. Selbstmedikation Gabriele Hartung • • • • 81 Online-Presse: Computerzeitschriften c't, Chip, Computerwoche, iX, Telepolis Domainnamen Viele TOP-LEVEL Domains gleichzeitig(!) abfragen - auch mehrere Domainnamen gleichzeitig möglich. Erfasst sind derzeit die TLD's DE, COM, ORG, NET, CH, AT, SW, NL. Jobbörsen dv-jobs.de, Heise-Stellenmarkt, Jobs & Adverts, job-suche.de, Job-Interactive, Jobware, Stellen Online, ZEIT Stellenmarkt Share- und Freeware Shareware.de, Shareware.com, Freewarepage 82 Frauen ins Netz 5. Anhang Frauen im Netz (Webseiten und Adressen) Adresse Bemerkungen http://internetfrauen.w4w.net Hamburger Fraueninitiativen im Internet Die erste deutsche Internet-Providerin; viele Frauen-Links Deutsches Frauennetz www.w4w.de www.woman.de www.webgirls.de www.frauennews.de www.diemedia.de www.femmenet.de http://lovelace.fhbielefeld.de/seiten/home.html www.hausfrauenseite.de www.zerberus.de www.bellissimo.de Deutsches Netzwerk für Frauen in neuen Medien Frauenzeitung im Netz, u.a. Pool für Arbeiten zum Thema Frauen, Datenbank für Frauen- und Geschlechterforschung Frauen-Information Online, Weiterbildungsangebote, Links Beratung, Schulung, Links, Datenbank, Bücher Initiative: Frauen geben Technik neue Impulse (BMBF, BfA, Telekom) Was Hausfrauen alles noch können, u.a. Mütter mit Modem viele interessante Fraueninitiativen, u.a. Mailbox BIONIC Frauensuchmaschine Gabriele Hartung 83 Interessante Literatur zum Thema: Frauen und Internet Broschüre der Universität Bremen, FB Mathematik und Informatik: „Informatik – Informatikerin – Informatikerinnen“, Bremen 1996 Esther Dyson, Release 2.0 - Die Internet-Gesellschaft, Spielregeln für unsere digitale Zukunft, Droemer Knaur, 1997, ISBN 3-426-27000-5 FrauenUmweltNetz (Hg.), Computervernetzung für Frauen, Mailboxen, Internet und alles andere. Ein Handbuch für Einsteigerinnen, eFeF 1995, ISBN 3-905493-79-9 Gabriele Hooffacker, Rena Tangens: Frauen & Netze, Rowohlt 1997, ISBN: 3499198738 Gabriele Hooffacker: Online-Kompetenz: Informationsmanagement. Zielgenau suchen, auswerten, aufbereiten. Rowohlt 1999, ISBN: 3499600706 Ibv Zeitschrift für berufskundliche Information und Dokumentation 13/99 vom 13.März 1999: Frauen in der Informationsgesellschaft, Bundesanstalt für Arbeit Ilse Stiller, Frauen Computer Schule, Internet auf den Punkt gebracht, ipunkt Verlag für Kürzestprosa GmbH 1998, ISBN 3-931004-07-4 Rena Tangens, Alice im Cyberspace in: „die frau in unserer zeit“ 2/99, Konrad-Adenauer-Stiftung Sadie Plant: Nullen und Einsen - digitale Frauen und die Kultur der neuen Technologien , Berlin-Verlag 84 Heim zur Arbeit Telearbeit und Geschlechterverhältnis13 Barbara Stiegler 1. Problemstellung Die neuen Techniken verändern die Arbeitswelt. Während die einen prophezeien, dass es neue und interessante Arbeitsplätze geben wird, dass die Umwelt entlastet wird und dass demokratische Prozesse durch für jede und jeden zugängliche Informationen verstärkt werden, befürchten andere, dass eine neue Rationalisierungswelle sowie eine weitere Aushöhlung gesicherter Arbeitsverhältnisse entstehen wird, dass die Umwelt durch den Elektroschrott um so mehr belastet wird und dass es eher zu einem Kommunikationsverlust und zu wachsenden Kontrollmöglichkeiten des Privaten kommen wird. Die Geschlechterhierarchie als wesentliches Strukturmerkmal der Gesellschaft spielt in solchen Szenarien überhaupt keine Rolle. Es wird vielmehr der Eindruck erweckt, als träfen die Verheißungen oder der Fluch der technischen Entwicklung die Menschen unabhängig von ihrem Geschlecht. Feministische Technikkritik stellt demgegenüber das Geschlechterverhältnis in den Mittelpunkt der Analysen. Dabei werden die Formen des Ausschlusses von Frauen aus der Technik, aber auch die widersprüchlichen Arten ihres Einlassens und Einbezogen-Werdens aufgespürt. Technikentwicklung und Anwendung werden als Prozesse beschrieben, die auf das Geschlechterverhältnis wirken und von ihm beeinflusst sind. 13 Erstveröffentlichung in: Expertisen zur Frauenforschung: Stiegler, B., Heim zur Arbeit, Telearbeit und Geschlechterverhältnis, Friedrich-Ebert-Stiftung, Abteilung Arbeits- und Sozialforschung, Bonn 1998. 86 Heim zur Arbeit Telearbeit ist eine neue Form der Arbeit, die auf zukunftsweisenden Techniken beruht. Telearbeit ist definiert als Erwerbsarbeit, die durch die Nutzung von Telekommunikationsmedien nicht am Ort des Betriebes, der Firma oder der Verwaltung durchgeführt wird. Die Arbeit in Telehäusern, Telecentern, Call-Centern oder virtuellen Firmen gehört genauso wie die mobile Telearbeit und die Tele(heim)arbeit dazu. Im europäischen Vergleich scheint die Bundesrepublik Deutschland im Hinblick auf die Verbreitung der Telearbeit einen Nachholbedarf zu haben. So wird die Telearbeit in den letzten Jahren politisch und finanziell gefördert. Programme zur Wirtschaftsförderung, Projekte, Beratungsinstitute, Studien und Modellversuche beschäftigen sich mit Telearbeit. Die Schätzungen darüber, wie viele Telearbeitsplätze im Moment in Deutschland eingerichtet sind, schwanken zwischen 2.000 (DIHT), 150.000 (Empirica 1997), bis hin zu fast 900.000 (BMA 1997). Das letztgenannte Gutachten, das vom Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation erstellt wurde, bietet eine quantitative Differenzierung nach der Art der Telearbeit: Danach gibt es etwa 500.000 Arbeitsplätze für mobile Telearbeit, 350.000 Arbeitsplätze für alternierende Telearbeit, 2.200 Arbeitsplätze, an denen ausschließlich zu Hause gearbeitet wird, 3.500 Arbeitsplätze in Satelliten- und Nachbarschaftsbüros. Experten und Expertinnen halten die Telearbeit für eine in den nächsten zehn Jahren durchaus gängige und normale Arbeitsform (IAT 1997, S. 315). Immer wenn Telearbeit als ideale Schnittstelle zwischen dem Arbeitgeberinteresse an Kosteneinsparung und dem Arbeitnehmerinteresse an mehr Autonomie gepriesen wird, aber auch in der üblichen Aufzählung von Vor- und Nachteilen der Telearbeit taucht das „Vereinbarkeitsargument“ auf, mit dem behauptet wird, Telearbeit eigne sich besonders für Frauen, weil diese Arbeitsform es ermöglichen soll, Beruf und Familie zu vereinbaren. Dass die Arbeitsmärkte geschlechtsspezifisch segregiert sind, und dass es die Frauen sind, die weniger gute Chancen, Positionen und materielle Ressourcen zur Verfügung haben, ist unbestritten. Telearbeit als eine neue Form der Erwerbsarbeit, die durch die Technikentwicklung ermöglicht wird, kann diese Situation verstärken oder entschärfen. Sie kann dazu beitragen, dass Frauen die Unterbewertung ihrer Arbeit abbauen oder dass neue Formen unterbewerteter Frauenarbeit entstehen. Neuere Ansätze der feministischen Technik- und Arbeitsmarktforschung Barbara Stiegler 87 greifen die Dekonstruktionstheorie auf und versuchen, Technik- und Arbeitsmarktentwicklung unter der Frage zu verstehen, welche Prozesse zu der beobachtbaren Differenz zwischen den Geschlechtern führen, wie die Geschlechterdifferenz immer wieder neu hergestellt bzw. wie die Geschlechterhierarchie verfestigt wird. Wenn die technischorganisatorische Entwicklung als ein Prozess gesehen wird, der die Vergeschlechtlichung von Arbeit, Arbeitsformen und Berufen bewirkt und das Geschlechterverhältnis gestaltet, - ob im Sinne der Veränderung oder Stabilisierung, bleibt zunächst offen, - dann ist es eine geschlechterpolitische Aufgabe, den Prozess so zu beeinflussen, dass die traditionellen Geschlechterrollen nicht verstärkt werden. Wenn es zutrifft, dass Arbeit im Umbruch ist, dass die zukünftige Gesellschaft weniger Erwerbsarbeit und nicht genug für alle haben wird, dann stellt sich die Frage, ob die neuen Formen der Arbeit dazu beitragen, dass es insgesamt zu einer geschlechtergerechten Arbeitsteilung kommen kann oder ob sie sich vielmehr als Trendverstärker bestehender geschlechtsspezifischer Benachteiligungs- und Unterbewertungsprozesse erweisen werden. Im folgenden wird am Beispiel der Tele(heim)arbeit untersucht, inwieweit sie zu einem Diskriminierungspfad für Frauen werden kann und unter welchen Bedingungen sie zur Umverteilung von Arbeit und Geld zwischen den Geschlechtern beitragen kann. Vier Aspekte werden dabei diskutiert: 1. Telearbeit wird als ein Teil der Technikentwicklung analysiert, der auf der Vergeschlechtlichung (gendering) aufbaut und sie beeinflusst. 2. Telearbeit wird als widersprüchliche Form des Ein- und Ausschlusses von Frauen in technisch unterstützter Erwerbsarbeit untersucht. 3. Das Versprechen einer besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie durch Telearbeit wird als eine Stabilisierung der Geschlechterhierarchie dargestellt. 4. Die Möglichkeiten der Veränderung der Geschlechterhierarchie durch die Telearbeit werden geprüft. 88 Heim zur Arbeit 2. Technikentwicklung als „Gendering-Prozess“ und Telearbeit als ihr Produkt Die feministische Technikdebatte folgt der sozialwissenschaftlichen Technikdiskussion an der Stelle, an der von der prinzipiellen Offenheit der Entwicklung ausgegangen wird und der Technikdeterminismus abgelehnt wird. Diese prinzipielle Offenheit in den Entwicklungsbahnen der Technik wird allerdings von den Frauen durch die Hypothese ergänzt, dass die Entwicklung auch durch die Geschlechterhierarchie beeinflusst wird und an den herrschenden Geschlechterbildern orientiert ist. Jeder prinzipiell offene Pfad in der technischen Entwicklung gewinnt seine Richtung auch durch die geschlechtsspezifischen, Männern zugeordneten Sichtweisen und Erfahrungen und schließt andere, Frauen zugeordnete Sichtweisen und Erfahrungen aus. Wenn auch die Geschlechterbilder nicht immer und überall gleich und stabil sind, im Hinblick auf Epochen, Regionen, Klassen und Schichten variieren, so sind sie doch immer durch eine binäre Konstruktion von Gegensätzen geprägt: Als Männlich gilt, was nicht als Weiblich gelten kann und umgekehrt. Die gesellschaftlichen Geschlechterbilder sind mächtig, in viele Strukturen eingelassen und korrespondieren insbesondere mit der gesellschaftlichen Zuweisung von Arbeitsorten an die Geschlechter. Danach ist für Frauen die private Arbeit im Haushalt, die hauswirtschaftliche, erzieherische und pflegende Arbeiten umfasst, vorgesehen, für Männer die als Erwerbsarbeit organisierte Arbeit. Die gesamte sozialstaatliche Sicherung basiert auf dieser geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung und sieht die finanzielle Abgängigkeit derjenigen vor, die die private Arbeit leisten. Frauen und Männer, Mädchen und Jungen müssen sich sowohl mit den identitätsstiftenden Geschlechterbildern als auch mit den ihnen entsprechenden gesellschaftlichen Strukturen auseinandersetzen, individuell verschieden, mehr oder weniger stark. Die sich aus diesen Auseinandersetzungen bildenden Reaktionsformen in Form von Lebensentwürfen und Lebensformen, Sicht- und Verhaltensweisen werden häufig als Belege für die Differenz der Geschlechter interpretiert. Eine solche Interpretation verkennt jedoch die Wandelbarkeit und interindividuelle Varianz der Prozesse, die zu den scheinbar geschlechtstypischen Sichtweisen und Lebensformen geführt haben. Die Chancen, diesen Prozess Barbara Stiegler 89 der Vergeschlechtlichung rückgängig zu machen, liegen nicht etwa in der Angleichung der den Frauen zugeschriebenen Sicht- und Verhaltensweisen an die den Männern zugeschriebenen, sondern vielmehr in der Aufwertung sogenannter weiblicher Werte sowie in der Auflösung der Dualität der Geschlechterbilder. Die Arbeitsteilung in der Gesellschaft, nach der vornehmlich die Männer für die durch Erwerbsarbeit herzustellende Sicherheit nach außen, die harten Geschäfte zuständig sind, die Frauen aber für die sogenannten kleinen Dinge des Lebens, die Schwachen und Bedürftigen sorgen, hat unter anderem den gravierenden Nachteil, dass im Außen die Sichtweisen, die zu dem Innen gehören, fehlen und dem Innen die Sichtweisen, die zum Außen gehören. Geschlechtsspezifische Verkürzungen sind bei beiden Geschlechtern gegeben: Je mehr sich eine Person mit der traditionellen Geschlechterrolle identifiziert, desto stärker muss sie alles, was zu der je anderen Geschlechterrolle gehört, von sich abspalten, desto stärker ist auch ihre Bereitschaft, sich in die gegebenen, polaren geschlechtsspezifischen Muster und Strukturen einzupassen, womit diese ihre Stärkung erhalten. Mädchen und Frauen definieren sich in der Tat häufiger analog dem traditionellen Frauenbild und stehen zu Werten wie Zuwendung, Gefühl und sensiblen Formen des Umgangs, sie schaffen sich Lebenssituationen, in denen sie für andere zu sorgen haben, wenn auch nicht immer und überall. Jungen und Männer definieren sich in der Tat häufiger analog zum traditionellen Männerbild an Durchsetzung, Härte, Rationalität, sie schaffen sich Lebenssituationen, in denen sie die Sorge für andere delegieren können, wenn auch nicht immer und nicht überall. Analog diesen polaren Geschlechterbildern interpretieren einige feministische Technikwissenschaftlerinnen auch die Entwicklung von Technologien und Produkten (vgl. Wajcman 1994). Sie stellen fest, dass die technische Entwicklung der Zielsetzung von (noch mehr) Stärke, (noch mehr) Geschwindigkeit, (noch mehr) Beherrschung von Lebensprozessen folgt, während Werte wie Beharrlichkeit, Mitgefühl und Intuition keine entscheidende Rolle spielen. Viele Beispiele für Technikpfade, die nach den Männern zugeschriebenen Sichtweisen entwickelt wurden, werden angeführt: so werde der massive Ausbau der Reproduktionstechnologie von dem Interesse an der Beherrschung der Reproduktion getragen. Demgegenüber werde die Erforschung der Ursachen von Unfruchtbarkeit und die Entwicklung von Techniken, die die Stärkung der Eigenverantwortung von Frauen in den Vordergrund stellen, vernachlässigt. 90 Heim zur Arbeit Ebenso präge das männliche Interesse an großräumlicher Mobilität die Entwicklung neuer Verkehrsmittel sowie den Straßen- und Städtebau und anstatt die eher kleinräumlichen Mobilitätsinteressen vor allem der Frauen ernst zu nehmen. Die Anwendungsgebiete der Technik liegen vornehmlich dort, wo Erwerbsarbeit geleistet wird. Die Haus- und Familienarbeit zu erleichtern, ist bislang kein vorrangiges Ziel technischer Entwicklungen gewesen. Technik tritt in den den Frauen zugewiesenen Privatbereichen eher als Fremdes auf, wird eher selten zum Instrument, das Leben besser, lebenswerter und leichter zu machen. Die empirische Untersuchung der Entwicklung der Haushaltstechnik belegt, dass zwar körperliche Anstrengungen im Laufe der Zeit vermindert wurden, dass aber die Anforderungen im Haushalt sich nur verlagert haben, sogar gewachsen sind und neue hinzukamen, für die es wiederum bisher keine technischen Lösungen gibt (Meyer, Schulze 1993). Wenn auch die Anzahl und Komplexität technischer Produkte für die Haushaltsführung zunehmend steigt, so ist es in vielen Fällen eine Reaktion auf die Veränderung der Lebensbedingungen, die auch durch die Technisierung in anderen Bereichen hervorgerufen worden sind. Wie Hellmann (1993) am Beispiel des Kühlschranks erläutert, haben Veränderungen in den gesellschaftlichen Versorgungsformen die Kühltechnik im Haushalt nötig gemacht: die Kühllagerung im gewerblichen Bereich bereitete mit ihren leicht verderblichen Nahrungsmitteln die Grundlage für den Bedarf eigener Kühllagerung in den Haushalten. Die Frauen, deren Hauptinteresse in der Familienarbeit liegt, beeinflussen nicht die technischen Entwicklungen für diesen Bereich. Technische Entwicklungen von Frauen, wie das sich selbst putzende Haus, konnten sich im Mainstream der Technik nicht durchsetzen. Ausgehend von der prinzipiellen Offenheit der Technikentwicklung und ihrer Steuerung durch männliche Zielvorstellungen und den Ausschluss von Frauen und den ihnen zugeschriebenen Werten und Erfahrungen, entsteht die Option, der anderen Seite mehr Macht und Recht zu geben. Dabei wird nicht das ganz andere Wesen der Frauen postuliert, das endlich zum Zuge kommen sollte, sondern der Ausschluss der den Frauen zugeschriebenen Arbeitsfelder und den darin zu machenden Erfahrungen kritisiert, und deren Relevanz für ein humanes Leben und für ein Weiterleben der Generationen behauptet. Bislang sind es vor allem die Frauen, die die gesellschaftlich notwendige Sorgearbeit leisten und Barbara Stiegler 91 dafür den Einfluss auf technische Entwicklungen einbüßen. Ihre Erfahrungen und ihre Wertungen in dem Entwicklungsprozess von Technik zum Tragen kommen zu lassen, das ist die Vision feministischen Technikverständnisses. Wenn überwiegend Frauen die politische Gestaltungsmacht hätten, würden auch andere Technikentwicklungen gefördert als die bisherigen. Bereits heute zeigt sich, dass die umweltschonenden Technologien in den Händen von Frauen sind, die als Ingenieurinnen arbeiten. Die Erfahrungen von Frauen werden eher von Frauen ernst genommen, und sie brauchen die Chancen, auch die Technikentwicklung zu beeinflussen. Es wäre spannend zu erproben, welche Techniken wie entwickelt würden, wenn sie Frauen mit ihren Erfahrungen aus der privaten Arbeit beeinflussen könnten. Auch die privat organisierte Haus- und Sorgearbeit braucht eine technische Unterstützung, nicht zuletzt mit der Option, ihre Organisationsform zu transformieren. Frauen werden diese Unterstützung aus ihrem berechtigten Interesse heraus, sich zu entlasten, eher schaffen als Männer, die in der Regel wenig Berührung zu dieser Arbeit haben. Aus dieser Perspektive brauchen Frauen keine technischen Hilfen zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie, sondern die Macht, die technische Entwicklung so zu beeinflussen, dass sie eine geschlechtergerechte Organisation der Haus- und Familienarbeit unterstützt. Telearbeit ist nun keine technische Entwicklung im engeren Sinne. Telearbeit als kommunikationstechnische Anbindung von Betrieb und Wohnung ist aber eine Folge der breiten Vernetzung, die auch den privaten Raum mit einbezieht. In den Haushalten werden die zukünftigen Konsumenten der neuen Kommunikationselektronik gesucht, die Datennetze für alle sind die Voraussetzung für ihre breite Nutzung. Tele(heim)arbeit, ob alternierend oder nicht, ist eine Option für die Organisation der Erwerbsarbeit, die sich daraus ergibt. Frauen standen nicht am Beginn der Entwicklung. In Management, Politik und Wissenschaft, also den Stellen, in denen die Entscheidungen über Vernetzungen und die Marktstrategien für die Telekommunikationsmittel fallen, sind sie nur ganz selten vertreten. Telearbeit beruht auf einer technischen Strategie, bei deren Entwicklung die Erfahrungen von Frauen nicht implementiert und richtungsweisend sind und an der die Frauen von Beginn an nicht beteiligt sind. Sie berührt jedoch einen für das Geschlechterverhältnis wesentlichen Bereich, nämlich den privaten Raum, der vor allem für Frauen immer auch ein Arbeitsort ist. Tele(heim)arbeit bedeutet nun 92 Heim zur Arbeit die Übertragung von Erwerbsarbeit in diesen privaten Raum. Den Frauen zugeschriebene Sichtweisen und die Erfahrungen aus dem privaten Raum haben nicht die Weichen für die Telearbeit gestellt. Die Vernetzung ist eine technische Strategie, die aus Männersicht entworfen und umgesetzt wird und deren Ergebnisse dann den Erfahrungen von Frauen aufgesetzt werden. Folgerichtig taucht ein geschlechtsspezifischer Bezug erst bei der erwerbsarbeitsbezogenen Endnutzung auf (vgl. Kap.4). Nicht die geschlechtergerechte Organisation der Haus- und Familienarbeit bildet den Ausgangspunkt für die Entwicklung und Nutzung der Vernetzungstechnik, die private Arbeit wird zwar berührt, ihre Organisation und geschlechtsspezifische Verteilung aber für gegeben hingenommen. 3. Der Ein- und Ausschluss von Frauen durch Telearbeit 3.1. Der quantitative Ausschluss weiblicher Personen aus der Technik Analysen aus den verschiedensten Perspektiven belegen die Tatsache: Frauen sind an vielen Stellen quantitativ dort nicht präsent, wo Technik Lerngegenstand, Entwicklungsgegenstand oder Machtmittel ist. Frauen sind unterrepräsentiert in Bereichen, in denen technische Kompetenz vermittelt wird: in Schule, Hochschule und Weiterbildung, (Kursen, Studiengängen, Qualifizierungsmaßnahmen). Als ein Ergebnis vieler Studien hat sich immer wieder bestätigt: viele Mädchen und junge Frauen haben eine andere Interessenstruktur in bezug auf Technik und Informatik, Mädchen sind in den Fächern und Kursen unterrepräsentiert, die eine informatorische und technische Grundbildung vermitteln, und der Anteil junger Frauen im Studium der Technik und Informatik ist rapide gesunken. In beruflichen Qualifizierungsmaßnahmen ist ihr Anteil gemäß der geschlechtsspezifischen Segregation des Arbeitsmarktes: Technikbezogene Weiterbildung im Bürobereich wird von Frauen genauso wie von Männern in Anspruch genommen, während Frauen in der technischen Weiterbildung kaum vertreten sind. Barbara Stiegler 93 Diese Unterrepräsentanz von Mädchen und Frauen wird nun auf verschiedene Arten erklärt. 1. Mädchen und jungen Frauen wird qua Geschlecht eine Technikferne als Persönlichkeitsmerkmal unterstellt. Ihnen werden spezifische Fähigkeiten und Interessen im Gegensatz zu Jungen abgesprochen. Frauen weisen danach ein Defizit im Vergleich zu Männern auf. Eine solche Annahme wird durch Studien widerlegt, in denen Fähigkeiten und Interessen von Jungen und Mädchen im Zeitverlauf untersucht werden: Bis zu einem bestimmten Alter - etwa bis zur 6. Klasse - weisen Jungen und Mädchen keine wesentlichen Differenzen in den gemessenen Fähigkeiten und Interessen auf. Ebenso entwickeln Mädchen in reinen Mädchenschulen eine andere Interessenstruktur als Mädchen in gemischten Schulen. 2. Die Technikferne der Frauen wird nicht als ihr Defizit sondern als ihre besondere Qualität angesehen. Eine sogenannte weibliche Herangehensweise wird positivierend beschrieben, der andere, genuin weibliche Blick dafür verantwortlich gemacht, dass Frauen der Zugang zu der männlichen Technik versperrt wird. Eine solche Hypothese basiert ebenso wie der erstgenannte auf der Geschlechterdualität, nach der die Frauen sich wesentlich von den Männern unterscheiden, eine Dualität, die auf der symbolischen Ebene fest verankert ist. Auch die Positivierung von Geschlechtercharakteristika hält empirischer Überprüfung nicht stand, allerdings führt diese Sichtweise zumindest zu einer kritischen Analyse der Technikstruktur, die nicht als gegeben hingenommen wird. 3. In einem dritten Erklärungsansatz wird davon ausgegangen, dass Frauen und Männer prinzipiell die gleichen Fähigkeiten und Interessen besitzen, dass aber die individuelle Entwicklung jedes Menschen dadurch gekennzeichnet ist, dass ein sozialisatorischer Zwang besteht, sich einem Geschlecht zuzuordnen. Das, was ein Mann oder eine Frau an sich selber als weiblich oder männlich bezeichnet, ist jeweils ein Ergebnis ihrer oder seiner individuellen Auseinandersetzung mit den Geschlechtszumutungen. Geschlecht ist danach nicht etwas, was jeder Mensch hat, sondern was jeder Mensch für sich definieren muss. Die Unterrepräsentanz von Frauen in der Technik wird damit erklärt, dass Technikinteresse, Technikfaszination und Technikumgang in der symbolischen Geschlechterordnung männlich zugeordnet sind und als Teil der männlichen Identität konstruiert werden. 94 Heim zur Arbeit Umgang mit Technik bietet sich damit Jungen und Männern als geschlechtsidentitätsbildend an, Mädchen und jungen Frauen aber gerade nicht. Eine solche Erklärung kann die empirische Vielfalt zwischen Frauen einerseits und die empirische Ähnlichkeit zwischen vielen Frauen und vielen Männern besser erklären als ein Defizit- oder Differenzansatz. Frauen sind aber nicht nur im Bildungsbereich unterrepräsentiert, folgerichtig sind sie es auch in Bereichen, in denen technische Kompetenz eingesetzt wird (Berufspositionen), und in den Bereichen, in denen über technische Entwicklungen bestimmt wird (Management, Politik, Verbände und Wissenschaft). 3.2. Der Ausschluss von Frauen durch Verdrängung Neben der Tatsache, dass nicht gleich viele Männer wie Frauen mit Technik beschäftigt sind und sich mit Technik beschäftigen, gibt es das Phänomen, dass der Teil der Arbeit, den Frauen an oder mit Technik erbringen und erbracht haben, verleugnet und nicht registriert wird. Auch das ist eine Form des Ausschlusses qua Geschlecht. Im Bereich der Bürokommunikation und Textverarbeitung, in vielen Sachbearbeitungsbereichen sind überwiegend Frauen die Anwenderinnen von neuen Techniken. Untersuchungen an Arbeitsplätzen haben ergeben, dass tatsächlich heute mehr Frauen als Männer computerunterstützte Arbeit verrichten (IAT 1997). In den Verwaltungen waren die Frauen diejenigen, die die Computer in den Arbeitsalltag implementiert haben, und das häufig ohne eine ausreichende Schulung, in Kleinbetrieben sind Frauen oft die einzigen Expertinnen (Holtgreve 1997). Diese Leistung der Frauen wird nicht gewertet, nicht als Leistung von Frauen diskutiert. Der Ausschluss besteht nun darin, dass durch diese Verdrängung die herrschende Auffassung von der Technikferne der Frauen verstärkt wird und die vorhandenen Gegenbeweise nicht zur Kenntnis genommen werden. Eine ähnliche Blindheit zeichnet die herrschende Technikgeschichtsschreibung: Erst allmählich ist es Technikhistorikerinnen gelungen, die Leistungen von Frauen in der Technikentwicklung ins Licht der Gegenwart zu rücken. Barbara Stiegler 95 3.3. Der Ausschluss durch Einschluss des Besonderen von Frauen: Der Fall Tele(heim)arbeit Im herrschenden Technikdiskurs findet sich immer wieder die Problematisierung von Frau und Technik. Es scheint, als hätten Männer kein Geschlecht und als wäre die Beziehung zwischen Mann und Technik nicht diskussionswürdig. Wenn die Geschlechterproblematik überhaupt auftaucht, dann ist sie gekennzeichnet durch die Konzentration auf das Besondere, Andere von Frauen, das sich von dem Allgemeinen, dem Normalen der Männer absetzten lässt. Mann wird mit Mensch gleichgesetzt, die Frau wird zum Objekt der neugierigen Fragen. Auch dies ist ein Ausschluss von Frauen, nämlich ein Ausschluss durch Bezugnahme auf das Besondere. Eine andere Variante dieser Ausschlussstrategie liegt in den gängigen Erwartungen an die wenigen Frauen, die speziell an höheren Positionen im technischen Bereich arbeiten. Von ihnen wird eine besonders hervorragende Leistung verlangt, wenn sie mit Männern gleichgestellt werden wollen, oder aber es wird postuliert, dass sie als Frauen die ganz andere Technik machen. In beiden Fällen werden Personen aufgrund ihres Geschlechtes mit spezifischen Erwartungen konfrontiert. Entsprechen sie diesen Erwartungen nicht, wird der Schluss gezogen, dass es weder für das Betriebsergebnis noch für die gesellschaftliche Entwicklung lohnenswert ist, wenn Frauen in technischen Bereichen gefördert werden. Die Betonung des Besonderen, Anderen an dem Verhältnis Frau und Technik ist auch ein Instrument des Ausschlusses. In der Debatte um die Informationsgesellschaft spielt die Geschlechterfrage eine geringe Rolle, und nur wenigen Frauen gelingt es, sie mitzubestimmen ( AG 9 Forum Info 2000, 1998 ). Um so erstaunlicher ist die verbreitete Bezugnahme auf das Geschlecht in der Diskussion um die Telearbeit. Untersucht man jedoch den Kontext, in dem Frauen in dieser Debatte erwähnt werden, so zeigt sich, dass es sich wiederum um eine Form des Ausschlusses handelt, weil auf das Besondere der Frauen qua Geschlecht abgehoben wird: ihr Vereinbarkeitsproblem. Telearbeit wird in der Diskussion nicht etwa als besonders geeignet für Mütter mit Kindern oder gar für Väter mit Kindern dargestellt, vielmehr wird pauschal die ganze Geschlechtsgruppe „Frauen“ genannt. Offenbar spielt es keine Rolle, ob die Personen die Dienstleistung nur für ihren Ehemann oder auch zusätzlich für Kinder, kranke oder alte Menschen mit ihrer Er- 96 Heim zur Arbeit werbsarbeit zu vereinbaren haben. Die Nähe, in die Frauen zur Tele(heim)arbeit gerückt werden, verstärkt die Assoziation von Frau und Heim (und Herd) und damit ein altbekanntes Muster, mit dem schon immer die Verdrängung von Frauen aus existenzsichernder Erwerbsarbeit gelang. Der Versuch, statt Frauen Familien zu etikettieren, (vgl. Ausschreibung des Projektes „Familienfreundliche Telearbeit“ durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Frühjahr 1998) ist solange unzureichend, wie nicht ausdrücklich eine geschlechterparitätische Besetzung der Arbeitsplätze vorgesehen ist. Die faktisch stärkere Zuordnung von Frauen zur Familie wird ansonsten nur weiterhin hingenommen und die real herrschende geschlechtshierarchische Arbeitsteilung in der Familienarbeit verstärkt. Die enorm hohe Teilzeitquote von Frauen(80%) und der verschwindend geringe Anteil der Väter am Erziehungsurlaub belegen nur zu deutlich, wer das Vereinbarkeitsproblem zugeschoben bekommt und zu lösen hat bzw. zu lösen versucht. Das schließt nicht aus, dass es immer wieder und vielleicht immer mehr Väter gibt, die sich nicht den herrschenden Geschlechterbildern anpassen. Gerade dann, wenn die Tele(heim)arbeit als Lösung des Vereinbarkeitsproblems angepriesen wird, Frauen also in ihrer besonderen Position im Geschlechterverhältnis angesprochen werden, müssen Frauen dieses Lösungsmuster als eine Herausforderung annehmen und es zurückweisen. Nicht Frauen haben ein Vereinbarkeitsproblem als besondere Lebenslage, sondern Männer nehmen ihre Verantwortung für Kinder, Alte und Kranke zu wenig ernst, arbeiten zu wenig in der Familie, und dort liegt das Defizit, das für Frauen zum Problem wird. Der empirische Normalfall, dass Frauen mit Computern arbeiten, dient nicht der Auflösung der androzentrischen Sichtweise, nach der das Verhältnis von Frauen zur Technik ein ganz besonderes ist, sondern zu dem Versuch, Frauen mit Hilfe der Technik dorthin zurückzudrängen, wohin sie nach der herrschenden Geschlechterordnung gehören, in die Privatheit der Familie. Die durch die technische Vernetzung verstärkte Grenzverschiebung von Öffentlichkeit und Privatheit wird genutzt, um wiederum neue geschlechtsspezifische Grenzen zu etablieren und Ausgrenzungen vorzunehmen: Weil Frauen das Vereinbarkeitsproblem zugeschrieben wird, wird ihnen ein Stück Flexibilität gewährt und der Arbeitsort zur Disposition gestellt: Der private Raum darf genutzt werden, für Frauen offenbar Barbara Stiegler 97 um so attraktiver, als dieser Raum immer schon ein Arbeitsort für sie ist, allerdings für ihre private Arbeit. Andere Formen des Ausschlusses könnten sich aus der Telearbeit ergeben. Zunächst scheint es, als ob Telearbeit nur äußere Rahmenbedingungen der Aufgabenerfüllung beträfe. Allerdings gibt es Anzeichen dafür, dass diese äußeren Bedingungen sich sehr schnell mit anderen Veränderungen verknüpfen, die unter vor allen für Frauen typischen Verhältnissen zu gravierenden Verschlechterungen führen. So kann die erhebliche Verminderung und Veränderung des Kontaktes zu Kollegen und Kolleginnen für viele Frauen zu einem motivationshemmenden Faktor werden. Aus den Studien zur Wiedereingliederung von Frauen ist bekannt, dass es für diese Frauen oft gerade wichtig ist, die häusliche Umgebung zu verlassen und an einem anderen Ort und in einer anderen Form sozial eingebettet zu sein. Darüber hinaus besteht die Gefahr, dass diejenigen, die nicht mehr dauernd am Arbeitsort präsent sind, bei Aufstiegsmöglichkeiten und Weiterbildungschancen den Kürzeren ziehen. In diesem Fall würde sich der Ausschluss von Frauen, der bereits bei Teilzeitbeschäftigung zu verzeichnen ist, weiter verschärfen. Im Bereich der einfacheren Arbeit, die als Tele(heim)arbeit organisiert wird, bleibt ein altes Problem der Frauenarbeit nicht nur ungelöst, sondern es verschärft sich: Die Arbeitsteilung, die bisher dazu geführt hat, dass einzelne Schritte einer Gesamtarbeit verberuflicht wurden, wie es bei Schreibarbeit und Datenerfassung geschah, wird bei der als modern deklarierten Tele(heim)arbeit noch gefestigt. Technisch vorgegeben ist die Taylorisierung jetzt auch noch, weil als Tele(heim)arbeit nur Arbeit am PC und mit der vorhandenen Software in Frage kommt. Die Chancen der Anreicherung durch nicht-PC-gebundene Arbeit und/oder qualifiziertere PC-Arbeit werden nun geringer. Dieses Problem entsteht nicht nur bei Tele(heim)arbeit sondern auch im ganzen Spektrum der neuen Arbeitsformen durch Telekommunikationsmedien wie in CallCentern. Darüber hinaus steht zu befürchten, dass noch ganzheitliche Aufgabenzusammenhänge auseinander getrennt werden, und zwar in für in Telearbeit geeignete und nicht geeignete und eine neue Form der Taylorisierung favorisiert wird. Die computertechnische Bearbeitung von Arbeitsaufgaben wird gefördert, die Aufgaben können nur so bearbeitet werden, wie Hard - und Software es zulassen. Nicht technisierbare Prozesse müssen gesondert, zu anderen Zeiten und an anderen Orten erledigt werden, oder aber ihre Relevanz wird geleugnet und sie fallen fort. 98 Heim zur Arbeit Die Chance, dass die bestehende Arbeitsteilung überwunden wird, ist denkbar gering. Auch diese Tendenz kann eine geschlechtsspezifische Wirkung zulasten der Frauen bekommen, weil Frauen überwiegend an Arbeitsplätzen sitzen, an deren stark routinisierte Arbeit geleistet werden muss. Tele(heim)arbeit, die aus dem Betrieb nach Hause verlagert wird, wird kaum dem Interesse von Frauen, Aufgaben anzureichern und zu qualifizieren, dienen, eher gegenteilige Effekte haben. Call-Center, eine nicht-häusliche Variante der Telearbeit, zeigen, wie eine neue Phase der Taylorisierung von Arbeitsprozessen entsteht: Die Aufgaben, die dort an Telekommunikationsgeräten erfüllt werden, sind hochgradig verengt, müssen unter zeitlichem Druck ausgeführt werden und sind aus dem betrieblichen Zusammenhang gerissen, womit die Chance, diesen Zusammenhang zu kennen, mit einzubeziehen oder gar die Stelle zu wechseln, sehr gering geworden ist. Bereits heute ist die geschlechtshierarchische Arbeitsteilung in Call-Centern zu beobachten: Einfache Auskünfte und Bestellannahmen, die Durchführung einfacher kommunikativer Operationen sind Aufgaben von Frauen, während Männer überwiegend mit technischen Dienstleistungen, Kontroll- und Managementaufgaben beschäftigt sind. Es gibt wenig Debatten über die Gestaltung der Arbeitsaufgaben, vielmehr konzentriert sich die Diskussion um die Abwehr der neu entstandenen Gefahren. Nicht mehr die Gestaltung qualifizierter Mischarbeit ist vorrangiges gewerkschaftliches Ziel, sondern die Absicherung der Tele(heim)arbeit und der Schutz vor den neuen Gefahren der Ausgrenzung oder der Schadenshaftung (vgl. die Kritik in ÖTVFrau 1998). Wenn Telearbeit im Bereich geringer qualifizierter Arbeit wie Sachbearbeitung, Buchhaltung, telefonischer Dienstleistungsarbeit, Schreibarbeit, einfacher Programmierarbeit, oder Datenerfassung organisiert wird, trifft es überproportional Frauenarbeitsplätze und hier wird insbesondere der bereits teilzeitbeschäftigten Frau die Vereinbarkeit schmackhaft gemacht. In diesen Bereichen ist die Gefahr des Outsourcing besonders hoch. Tele(heim)arbeit kann ein erster Schritt des Abschiebens in die sogenannte ScheinSelbstständigkeit sein: Sind erst einmal die Raumkosten für einen Arbeitsplatz verringert, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass auch noch andere Arbeitskosten verringert werden, insbesondere die Sozialabgaben. Damit fallen die Frauen jedoch aus einer auch in Teilzeit sozial geschützten Beschäftigung in die prekären Beschäftigungsverhältnisse, die ohne tarifliche Bindung und gesetzliche Barbara Stiegler 99 soziale Sicherung eine Verschlechterung ihres bisherigen Status bedeuten. Dass besonders Ehefrauen sich für eine solche Beschäftigung eignen, belegen ihre bereits heute überproportional hohen Anteile an den ungeschützten Beschäftigungsverhältnissen: in ScheinSelbstständigkeit sind 3,3% aller erwerbstätigen Frauen, aber nur 2,8% aller erwerbstätigen Männer, wie das IAB 1996 feststellte. Die ehelichen Unterhaltsverpflichtungen bilden die Basis dieser Tendenz. Jede weitere Ausdehnung der Selbstständigkeit in Bereichen gering qualifizierter Arbeit verstärkt den Ausschluss von Frauen aus geschützter Beschäftigung. Dadurch wird ihre Abhängigkeit vom Ernährer verstärkt oder sie werden in die Armut getrieben. Die Gefahr der Ausgrenzung aus geschützter Beschäftigung ist auch im Bereich der Hochqualifizierten gegeben, wobei die neue Selbstständigkeit oftmals von diesen selbst angestrebt wird. Eine im Job erworbene Spezialisierung wird dann auf dem Markt Selbstständig angeboten. Diese Form der Arbeit erfordert noch weitaus mehr Qualifikationen, da die eigene Beschäftigung und soziale Sicherheit selbst organisiert werden muss. Die neue Selbstständigkeit wird hier nicht aus Vereinbarkeitsgründen gewählt, sondern entweder aus Mangel an alternativer gesicherter Beschäftigung oder aus einem unternehmerischen Geist heraus, der die Chancen zu Mehrverdienst sieht und die größere Unabhängigkeit von Direktiven nutzen will. Da Frauen in den hierfür in Frage kommenden Außendienstpositionen und Spezialarbeitsplätzen weniger vertreten sind, wird diese Folge der Tele(heim)arbeit, die neue Selbstständigkeit, die geschlechtsspezifische Segmentierung von Aufgabenfeldern eher verstärken und ihr gerade nicht entgegenwirken. 100 Heim zur Arbeit 4. Die Unvereinbarkeit der Telearbeit mit dem Vereinbarkeitsargument 4. 1. Das Vereinbarkeitsargument verschleiert und individualisiert den geschlechterspezifischen Arbeits- und Lebenszusammenhang Im folgenden wird die Funktion des Vereinbarkeitsversprechens für das Geschlechterverhältnis analysiert. Dabei ist es wichtig, zwei verschiedene Perspektiven zu unterscheiden: die subjektive, den Einzelfall betreffende und die politische, das Geschlechterverhältnis steuernde. Jede Frau und jeder Mann lebt unter ganz bestimmten Bedingungen und auch das je gelebte Modell der Geschlechterbeziehung ist nicht nur Ausdruck persönlicher Vorstellungen und Wünsche, sondern oft auch ein Kompromiss und eine temporäre Form, mit der auf die jeweiligen Gegebenheiten reagiert wird. Viele dieser Umstände sind nicht direkt individuell gestaltbar, sondern Ergebnis politischer Prozesse. Schon der Vergleich von West- und Ostdeutschland zeigt deutlich, wie stark die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen das Geschlechterverhältnis und die subjektiven Vorstellungen von Männern und Frauen über ihr Zusammenleben prägen: Selbst subjektiv ist für die meisten Frauen in Ostdeutschland das Problem der Vereinbarkeit von Beruf und Familie nicht im Vordergrund, ihr Erwerbsverhalten ist relativ unabhängig von der Kinderzahl (Zukunftskommission 1998). Offenbar basiert diese Einstellung und Lebenspraxis noch auf den über Jahrzehnte hinweg erfahrenen Umstand, dass in der DDR die Tatsache, Kinder zu haben, nicht automatisch zu einer Verkürzung der Erwerbsarbeit führte. Demgegenüber haben Frauen im Westen eine andere Erfahrung. Hier müssen oder wollen sie sich auf die angebotenen und gesellschaftlich favorisierten Modelle von Erziehungsurlaub und Teilzeitarbeit sowie die damit verbundene Abhängigkeit von einem Ernährer oder staatlicher Unterstützung einlassen. Teilzeitarbeit von Müttern gilt als Königsweg der Vereinbarung von Beruf und Familie und eben nicht die Arbeitszeitreduktion von Vater und Mutter. Tele(heim)arbeit fügt sich als Muster der Arbeitsorganisation hier reibungslos ein, weil sie unter bestimmten Bedingungen eine relative Entlastung bringen kann. Barbara Stiegler 101 Eine zweite Perspektive ist nun genau die der gesellschaftspolitischen Steuerung, das politische Schaffen von Rahmenbedingungen für die Entwicklung des Geschlechterverhältnisses. Tele(heim)arbeit ist eine arbeitspolitische Option, die Auswirkungen auf das Geschlechterverhältnis hat. Der Diskurs, der mit der Verbreitung der Telearbeit geführt wird und in dem das Vereinbarkeitsargument eine nicht unwichtige Rolle spielt, ist dabei ebenso bedeutend wie der gezielte Einsatz von Steuermitteln für Entwicklungen, welche die Einführung von Tele(heim)arbeit unterstützen sollen. Die politische Funktion des Vereinbarkeitsarguments muss also nicht mit dem je individuellen Nutzen der Tele(heim)arbeit übereinstimmen. Daraus darf jedoch nicht der Schluss gezogen werden, dass es eine geschlechterpolitische Funktion gar nicht gibt. Wenn die Geschlechterhierarchie dadurch bedingt ist, dass Arbeit, Macht und Geld zwischen den Geschlechtern ungleich verteilt sind, dann ist eine Umverteilung in diesen drei Dimensionen politisch zu erreichen. Das Ziel der Vereinbarkeit von Beruf und Familie kann dabei nicht einmal als Zwischenetappe angestrebt werden, weil es in die falsche Richtung führt. Am Beispiel der in das Vereinbarkeitsmodell passenden Teilzeitarbeit für Frauen kann man erkennen, dass angebotene Lösungen eine Antwort auf falsch gestellte Fragen sein können. Wer nämlich die Vereinbarkeit von Beruf und Familie durch Teilzeitarbeit ermöglicht, mutet denjenigen, die Teilzeitarbeit leisten, vornehmlich also den Frauen, damit gleichzeitig zu, weniger zu verdienen, mehr unbezahlte Arbeit zu leisten und an den Rand der mit mehr Entscheidungsmöglichkeiten und damit Macht ausgestatteten Positionen in der Erwerbsarbeit gedrängt zu werden. Wer die Geschlechterhierarchie als politisches Problem sieht, das es zu lösen gilt, darf nicht die Vereinbarkeit von Beruf und Familie als Lösungsmuster ansehen. Auch die Erweiterung der Formel auf die Männer, für die diese Vereinbarkeit ebenso wie für Frauen herzustellen ist, bleibt wirkungslos. Bei den herrschenden Verhältnissen sowohl bezüglich der individuellen Vorstellungen als auch hinsichtlich der gesellschaftlichen Gegebenheiten sind, wie die Realität zeigt, weder der Erziehungsurlaub noch die Teilzeitarbeit für Väter attraktiv. Obschon für Väter der rechtliche Anspruch auf Erziehungsurlaub genauso gilt wie für Mütter, nehmen sie ihn doch in einem kaum wahrnehmbaren Umfang in Anspruch. Die Teilzeitarbeit hat als Arbeitsform eine solche geschlechtsspezifische Aufladung, dass sogar andere Namen gefunden 102 Heim zur Arbeit wurden, um sie überhaupt allgemein, also auch für Männer attraktiv zu machen: Mobilzeit, Flexi-Zeit, alle diese Bezeichnungen bedeuten genau wie Teilzeit auch eine unbezahlte Arbeitszeitverkürzung, werden aber nicht geschlechtsspezifisch aufgeladen. So wie Teilzeitarbeit zunächst als vormittägliche Erwerbsarbeit für Frauen, die nachmittags ihrer Familienarbeit nachgehen, gesehen wird, so deutet sich an, dass Tele(heim)arbeit wiederum eine spezifische Arbeitsform für Frauen werden könnte, die ihnen die Familienarbeit ermöglichen soll, zumal sie häufig gerade auch für Teilzeitarbeiterinnen als besonders geeignet erscheint. Genau diese Verknüpfung steuert wiederum in die Richtung der Etablierung der traditionellen Geschlechterhierarchie. Tele(heim)arbeit und Teilzeitarbeit als Vereinbarkeitslösung sind sicherlich unter anderem angesichts der unzureichenden öffentlichen Kinderbetreuungsmöglichkeiten eine individuelle Lösung der Probleme, die sich aus der Geschlechterhierarchie und der durch sie erzeugten je individuellen Lebenslage ergeben, sie sind aber kein Schritt zu ihrer Aufhebung. 4.2. Das Vereinbarkeitsargument basiert auf einer männerspezifischen Sichtweise der Familienarbeit Wer die häusliche Erwerbsarbeit als Möglichkeit der Vereinbarkeit von Berufs- und Familienarbeit ansieht, unterstellt, dass die bloße Anwesenheit zu Hause ausreicht, um Kinder zu betreuen oder alte und kranke Menschen zu pflegen. Dabei wird die reale Arbeit, die aus Beziehungsarbeit, konkreter Betreuungsarbeit, aus materieller Versorgungsarbeit, und qualifizierter Pflegearbeit besteht, auf die reine Präsenz einer Person reduziert. Das entspricht einem Blick auf die Haus- und Familienarbeit, nach der die Haus- und Familienarbeit gar keine Arbeit ist, weder Zeit, noch Qualifikation braucht, sondern nur durch die Präsenz einer weiblichen Person erfüllt wird. Diese Sicht zeugt von der Unterbewertung der Familienarbeit, die als selbstverständliche Ausstülpung weiblichen Wesens angesehen wird und die allenfalls in einer imaginären Überhöhung der Frau und Mutter gewürdigt wird. So wie die gesellschaftlich zugestandene Zeit für die Betreuung von Kleinstkindern als Urlaub bezeichnet wird, wird suggeriert, dass die Haus- und Familienarbeit „nebenbei“, also neben der Tele(heim)arbeit, erledigt werden kann. Barbara Stiegler 103 Die ersten Erfahrungen von Müttern mit Tele(heim)arbeit widerlegen diese Annahmen. Mütter mit Kleinstkindern arbeiten, wenn das Kind schläft, also tagsüber in nicht absehbaren Zeitrhythmen, meistens abends und nachts, also unter Zwängen, die für die meisten Männer nicht nachvollziehbar sind (Troltenier o.J.). Je älter die Kinder werden, je weniger Schlafphasen sie tagsüber brauchen, je unmöglicher wird die Vereinbarkeit durch parallele Arbeiten. Niemand kann Krabbelkinder betreuen oder Kranke pflegen und gleichzeitig eine Computerarbeit verrichten, sei sie noch so routiniert. Es hängt entscheidend von dem Ausmaß der notwendigen Betreuungsarbeit ab, ob nur eine höhere Flexibilität oder eine direkte Zuwendungsarbeit erforderlich ist. Hinzu kommt, dass viel Energie für die Abgrenzung von Erwerbsarbeit und Betreuungsarbeit aufgewandt werden. Genesende, viele ältere Menschen und erst recht Kleinkinder lassen sich nur schwer und nur unter ständig neuer Anstrengung vertrösten, wenn die Telearbeit für die Person ansteht, die eigentlich zur Betreuung zu Hause ist. Die Anforderungen, sich von den Ansprüchen aus dem häuslichen Bereich abzugrenzen, werden bereits als neue Qualifikationsanforderungen formuliert ( Kühlwetter 1995). Abgrenzungsfähigkeit von häuslichen Störfaktoren wird neben Belastbarkeit und der Fähigkeit zum Umgang mit Stress als soziale Kompetenz mit zunehmender Bedeutung für die semiprofessionelle Nutzung von Multimedia genannt. Die Annahme, dass Haus- und Familienarbeit parallel zur Arbeit am Computer oder Telefon geleistet werden könnte, basiert auf einer völligen Unterschätzung dieser Arbeit und hat sich auch bereits real als unhaltbar erwiesen. Bei Tele(heim)arbeit bleiben also statt der versprochenen Vereinbarkeit gegenüber einer betriebsortgebundenen Arbeit eine höhere zeitliche Flexibilität und eine Zeitersparnis durch den Wegfall der täglichen Wegezeiten: höhere Flexibilität durch mehr Selbstbestimmung bei der Festlegung von Beginn und Ende der Arbeitszeit und der Pausen. Die Zeitersparnis durch Wegezeiten fallen allerdings auch nur dann ins Gewicht, wenn der Wohnort vom Arbeitsort weit entfernt oder schlecht zu erreichen ist. Die erhöhte Flexibilität ist nur dann gegeben, wenn die Arbeitstätigkeit frei wählbare Pausen zulässt und nicht durch technische Einbindung oder Kontrolle an bestimmte Zeiten gebunden ist. 104 Heim zur Arbeit 4.3. Das Vereinbarkeitsargument bezieht sich auf das falsche Geschlecht Meist wird es direkt formuliert, manchmal feiner verschleiert: Während die einen platt die bessere Vereinbarkeit für Frauen anbieten, umgehen die anderen vorsichtiger eine solche geschlechtsspezifische Zuweisung und formulieren die bessere Vereinbarkeit für Familien: die familienorientierte Telearbeit (BFJMG). Wenn Telearbeit ein Versuch wäre, eine wirkliche Entlastung von der Haus- und Familienarbeit zu schaffen, fehlt bei den Adressaten eine wesentliche Zielgruppe: die Männer und Väter. Sie sind es nämlich, die ein enormes Defizit an Arbeitsleistung im Haushalt, Kinderbetreuung, Kranken- und Altenpflege aufzuweisen haben, und die sich von diesem Defizit durch Delegation an Frauen befreien. Und diese Delegation wird noch unterstützt, wenn Tele(heim)arbeit als frauenspezifische Arbeitsform angeboten wird: Tele(heim)arbeit der Mütter ist eine neue Garantie für die häusliche Versorgung des Mannes, seiner Kinder und seiner alten und kranken Verwandten. Wenn die Haus- und Familienarbeit in ihrer Bedeutung, in ihrem Umfang und in ihrer Qualität wirklich ernst genommen wird, dann ist eine Entlastung von Frauen, besonders von Müttern, angesagt. Diese Entlastung kann durch öffentliche Institutionen geschaffen werden, sie kann auch durch die Männer und Väter erfolgen. In diesem Fall wären allerdings vorrangig Männer und Väter die Zielgruppe für Tele(heim)arbeit. Die Frage, welchen Beitrag Tele(heim)arbeit zur besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie auch für Männer leisten kann, ist aber ebenso falsch gestellt wie sie es für Frauen ist. Nicht Männer oder Frauen haben Vereinbarkeitsprobleme, sondern die Arbeitsbedingungen in der Erwerbsarbeit und in der Familienarbeit sind problematisch. Individuelle Versuche, die getrennten und geschlechtsspezifisch zugeordneten Arbeitsbereiche zu vereinbaren, müssen scheitern, und zwar so, dass diejenigen, die es versuchen, meistens Frauen, aber auch Männer, wenn sie es tun, immer mit einer Verschlechterung ihrer Erwerbsarbeitsbedingungen rechnen müssen. Bereits das Beispiel der Teilzeitarbeitenden hat deutlich gemacht, dass Dequalifizierung, potentielle Ausgrenzung und mangelhafte soziale Sicherheit sowie finanzielle Abhängigkeit von anderen Personen die Folge sind. Bei der Tele(heim)arbeit entstehen spezifische Gefahren der Ausgrenzung (vgl. Kap.3). Nur wenn es den Männern Barbara Stiegler 105 und Vätern besser gelingt, diese Gefahren für sich zu umgehen, - und das ist bei ihren besseren Ausgangspositionen im Erwerbsleben nicht ausgeschlossen, - und wenn sie die höhere Flexibilität und die gesparte Zeit auch wirklich für die Haus- und Familienarbeit nutzen, ist Tele(heim)arbeit eine Chance, ihr geschlechtsspezifisches Defizit in dem privaten Arbeitsbereich ein wenig auszugleichen. 4.4. Das Interesse der Arbeitgeberseite an der Entlastung von Familienarbeit ist nicht so ausgeprägt, wie es das Vereinbarkeitsargument suggeriert Haus- und Familienarbeit werden immer noch als Privatsache angesehen. Wer Kinder hat, muss sehr weitgehend selber dafür sorgen, dass sie unter guten Bedingungen erwachsen werden können. In der Regel wird die alltägliche Versorgung zur Aufgabe der Mütter. Ihnen werden, nachdem das Problem bei ihnen liegt, gesellschaftlich Lösungen angeboten, die ihnen langfristige und nachhaltig Nachteile erbringen: Favoriten betrieblicher Frauenförderpläne, dort wo es sie überhaupt gibt, sind Verlängerungen des Erziehungsurlaubs, Beurlaubungen und Teilzeitarbeit. Weitaus seltener werden betriebliche Kindertagesstätten errichtet, die für viele eine wirkliche Entlastung bieten könnten. Faktisch stützen betriebliche Regelungen die Geschlechterhierarchie, das Ernährermodell mit der Zuverdienerin. Dem entspricht auch die Argumentation bei Tele(heim)arbeit: Den hochqualifizierten Experten wird sie nicht angeboten, damit diese ihre Kinder besser betreuen oder gar für ihre Frau die Bluse bügeln können. Ihnen wird sie aus Flexibilitätsgründen und zwecks noch besserer Nutzung ihrer Arbeitskraft angeboten. Und die wenigen Frauen in diesen Positionen sind zumeist unverheiratet oder wenigstens ohne kleinere Kinder (Weißbach 1997). Gering qualifizierte und bereits teilzeitarbeitende Frauen gelten als Zielgruppe für die Tele(heim)arbeit, also Frauen, deren betriebliche Stellung nicht gerade die sicherste, deren betrieblicher Stellenwert eher gering und deren berufliche Perspektive aus betrieblicher Sicht wenig relevant ist. Wenn ihnen eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie durch Tele(heim)arbeit versprochen wird, entspricht dies eher dem Interesse des Arbeitgebers an Kostenentlastung, gerade weil langfristig kaum ausgeschlossen werden 106 Heim zur Arbeit kann, dass dies der erste schritt zum Outsourcing der Arbeit ist. Die Modelle der Tele(heim)arbeit während des Erziehungsurlaubes sind angesichts der heute bestehenden Regelung des 3jährigen Ausscheidens aus dem Interesse des Arbeitgebers zu verstehen, eine qualifizierte Fachkraft zu erhalten und weitere Kosten für Qualifizierung und Einarbeitung von Ersatzkräften zu sparen. Dieses Interesse trifft auf das der Mütter im Erziehungsurlaub, am Ball zu bleiben. Eine gezielte sozialpolitische Maßnahme für das Wohl der Kinder ist es nicht. Maßnahmen, die eine wirkliche Entlastung von der Haus- und Familienarbeit bringen sollen, können nicht kostenneutral sein, denn die unbezahlte Leistung von Müttern und teilweise von Vätern müsste dabei ans Tageslicht treten und durch einen angemessenen finanziellen Ausgleich kompensiert werden. Wenn solche Kompensationen bisher aber noch nicht einmal im Sozialstaat durchsetzbar waren, ist es nicht verwunderlich, dass die betriebliche Kostenkalkulation weit davon entfernt ist. 5. Tele(heim)arbeit als Mittel der Umverteilung von Geld, Arbeit und Macht zwischen den Geschlechtern? Die indirekten Diskriminierungsmechanismen über das Geschlecht sind tief in den gesellschaftlichen Strukturen verankert und wirken so, dass sie ungerechte Verteilung von Geld, Arbeit und Macht zwischen den Geschlechtern stabilisieren. Moderne Entwicklungen, so auch die Tele(heim)arbeit, passen sich in diese indirekten Diskriminierungsmechanismen ein, es sei denn, diese ihre Funktion wird rechtzeitig erkannt und bewusst verändert. Statt der Vereinbarkeit von Berufs- und Familienarbeit unter den bestehenden Rahmenbedingungen steht vielmehr die Veränderung von Berufs- und Familienarbeit an, um die Hierarchie im Geschlechterverhältnis aufzuheben. Veränderungen müssen sich auf mehrere Ebenen beziehen. Die geschlechtsspezifischen Spaltungen des Erwerbsarbeitsmarktes in Segmente, aber auch in gesicherte und ungeschützte Arbeitsverhältnisse, sind aufzulösen, die geschlechtsspezifische Hierarchie der Verteilung von Lohn, Arbeitszeitvolumen und Positionen ist abzubauen und die geschlechtsspezifisch ungleiche Verteilung der privaten Sorgearbeit ist aufzuheben. Letzteres kann durch entlastende Barbara Stiegler 107 Infrastrukturangebote geschehen, aber auch durch sozialpolitische und rechtspolitische Regelungen, die für gleiche Macht- und Arbeitsteilung im Zusammenleben der Geschlechter sorgen. Ebenso muss eine angemessene und eigenständige Absicherung für die Zeiten, in denen Familienarbeit geleistet wird, eingeführt werden, für Eltern und Pflegende müssen flexible Arbeitszeiten ermöglicht werden und ihre Sorgearbeit muss als wichtige Kompetenz anerkannt werden. Alle Veränderungen müssen daran gemessen werden, ob sie es ermöglichen, dass auch Männer zunächst für sich selber und zur Hälfte für ihre Kinder und pflegebedürftigen Angehörigen sorgen können, soweit es ihnen nicht durch infrastrukturelle Angebote in öffentlicher Regie abgenommen wird. Wenn Tele(heim)arbeit als neue Form der Arbeitsorganisation in der sogenannten Informationsgesellschaft als besonders geeignet empfohlen wird, Familie und Beruf zu vereinbaren, bewirkt sie jedoch gemessen an diesen Kriterien eher eine Verschärfung der geschlechtshierarchischen Verhältnisse: Die bisherigen Erfahrungen belegen, dass hochqualifizierten Männern und Frauen Tele(heim)arbeit angeboten wird, damit sie mehr individuelle Freiheit bei ihrer Arbeit bekommen und damit ihre Konzentration und Effektivität gesteigert wird. In diesen Fällen geht es nicht um die bessere Vereinbarkeit, weil diese Männer und Frauen sich bereits von der Familienarbeit fernhalten, sei es, dass sie weder Kinder noch Pflegebedürftige betreuen, sei es, dass sie diese Arbeit komplett delegieren können. Tele(heim)arbeit verschärft hier im Vergleich zur betriebsortgebundenen Arbeit dann die geschlechtshierarchische Arbeitsteilung, wenn der Vater Tele(heim)arbeit leistet und die Ehefrau nicht erwerbstätig ist, sondern die Haus- und Familienarbeit leistet. Für diese Frauen bedeutet die Tele(heim)arbeit der Väter, dass sie zusätzlich für seine Ruhe zu Hause Sorge tragen müssen. Nun ist nicht nur die Ruhe nach der Arbeit, sondern auch die Ruhe bei der Arbeit herzustellen, was je nach räumlichen Gegebenheiten nicht so leicht zu bewerkstelligen ist. Als weitere Belastung kommt die tägliche Versorgung mit Essen hinzu. Eine nicht erwerbstätige Mutter wird kaum wieder eine Erwerbsarbeit aufnehmen, weil ihr Ernährer Tele(heim)arbeit leistet. Es besteht sogar die Gefahr, dass die Ehefrau unbezahlte Zuarbeit zu seiner Telearbeit leistet, und so eine moderne Form mithelfender Familienangehöriger ohne Entgelt und soziale Sicherung entsteht. Die Väter, die gerade wegen der Kinderbetreuung oder Altenpflege Tele(heim)arbeit machen, weil sie diese Arbeit nicht delegieren wollen oder können, sind Protagonisten 108 Heim zur Arbeit eines neuen Geschlechterverhältnisses, zahlenmäßig bilden sie eine extreme Minderheit. Für hochqualifizierte Frauen ist Tele(heim)arbeit eine Falle, wenn sie glauben, häusliche Verpflichtungen ließen sich nebenbei und besser mit erfüllen. Darüber hinaus verfestigt sich die geschlechtshierarchische Arbeitsteilung in den Paarbeziehungen, wenn die Frau Tele(heim)arbeit leistet, um diesen Verpflichtungen besser nachkommen zu können. Tele(heim)arbeit im Erziehungsurlaub ist ein, z. B. in einigen Versicherungsunternehmen verbreitetes Angebot des Arbeitgebers, während des Erziehungsurlaubs teilzeitbeschäftigt zu bleiben. Unter dem Kriterium der Umverteilung von Geld und Arbeit zwischen den Geschlechtern ist es die schlechtere Variante im Vergleich zu der, die dem anderen Elternteil geboten wird, nämlich die kontinuierliche Weiterbeschäftigung am angestammten Arbeitsplatz bei voller Anbindung, vollem Verdienst und umfangreicher sozialer Sicherheit. Die Kritik richtet sich allerdings in diesem Falle nicht auf die Tele(heim)arbeit, sondern die Regelungen zum Erziehungsurlaub, die für denjenigen oder diejenige, der oder die ihn in Anspruch nimmt, generell eine zu lange Zeit des Ausscheidens beschert. Erst eine gleiche Teilung des Erziehungsurlaubs zwischen Vätern und Müttern könnte die damit im Moment verbundenen negativen Folgen mildern. Unter den herrschenden Bedingungen ist eine Tele(heim)arbeit während dieses sogenannten Urlaubs in bezug auf die Verteilung von Geld und Macht zwischen den Geschlechtern besser für die Position der Frauen als das sonst übliche völlige, wenn auch befristete Ausscheiden mit dem spärlichen Erziehungsgeld. Dennoch zeigen die ersten Erfahrungen mit diesem Modell, dass die gleichzeitige Betreuung des Säuglings und Kleinstkindes nicht möglich ist und allenfalls die höhere Flexibilität zwischen den beiden Arbeitsweisen eine Entlastung der Mütter bringt (Troltenier,o.J.). Ein attraktives Angebot für Väter ist die Tele(heim)arbeit im Erziehungsurlaub unter den herrschenden Bedingungen nicht. Im Fall der teilzeitarbeitenden Tele(heim)arbeiterin und dem Mann im Normalarbeitsverhältnis mit betrieblichem Arbeitsort ist die geschlechtshierarchische Arbeitsteilung zementiert: Welcher Mann sieht, wenn er volltags außer Haus erwerbstätig ist, eine Notwendigkeit, Familienarbeit zu leisten, wenn die Frau nur Teilzeit arbeitet und noch dazu nicht von zu Hause entfernt? Das Vereinbarkeitsproblem ist für den Mann in der klassischen Weise durch Delegation gelöst. Barbara Stiegler 109 Auch die eheliche Machtverteilung wird zu Lasten von Frauen verschoben. Wenn bereits die Teilzeitarbeit eine finanzielle Abhängigkeit begründet, so wird die Tele(heim)arbeiterin auch noch ihrer potentiellen sozialen Unterstützungen und der Stärkung des eigenen Bewusstseins durch Kollegen und Kolleginnen beraubt. Ihr sozialer Nahraum wird zu ihrem einzigen, und nicht von ungefähr beklagen die Frauen, die längere Zeit zu Hause arbeiten, den Verlust des sozialen Netzes. Auch die hochgelobte alternierende Tele(heim)arbeit mit wöchentlich regelmäßigen Besprechungen am Ort des Betriebes bietet dafür keine Kompensation: Regelmäßige Pausen und Arbeitskontakte, die sich ergeben können, die face-to-face-Kommunikation, die auch ungeplant möglich ist, schaffen ein befriedigendes soziales Milieu. Selbst wenn in einzelnen Fällen Tele(heim)arbeit als „Erholung“ von sozialem Stress empfunden wird, ist sie keine Lösung für soziale Spannungen am betrieblichen Arbeitsplatz. Die Gefahr von Mobbing ist, wie erste Berichte zeigen, auch bei Tele(heim)arbeit nicht gebannt. Die Nachfrage der Frauen nach Tele(heim)arbeit darf nicht als geschlechterpolitische Legitimation benutzt werden. Tele(heim)arbeit von Ehefrauen und Müttern ist geschlechterpolitisch gesehen ein Schritt nach hinten, weil sie die Geschlechterhierarchie stabilisiert und die Zuweisung der privaten Arbeit an Frauen noch einmal verstärkt. Wer die Einführung von Tele(heim)arbeit mit dem Hinweis auf die starke Nachfrage von Frauen begründet, muss wissen, dass diese Nachfrage vollkommen anders aussähe, wenn Frauen nicht wie selbstverständlich ihren Männern die Haus- und Familienarbeit abnähmen, im extremsten Fall als Alleinerziehende. Eine moralische Aufforderung an Arbeitgeber, die Tele(heim)arbeit aus diesen Gründen nicht einzuführen oder nicht auszubreiten, erscheint nicht erfolgreich. Allerdings können die angegebenen Begründungen genauer hinterfragt werden. Ob es wirklich ein Ziel ist, Bedingungen für die bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu schaffen, kann sich daran zeigen, ob auch andere Maßnahmen, die diesem Ziel wirklich dienen, gleichzeitig durchgeführt werden und ob Väter vorrangig in die Tele(heim)arbeit einbezogen werden. In den Gewerkschaften aber, in denen sich die Interessen der Beschäftigten organisieren, scheint eine Diskussion um diese Form der Arbeit unter geschlechterpolitischen Vorzeichen fällig. Bislang fehlt ein klares Nein zur geschlechterpolitischen Begründung der Tele(heim)arbeit. Auch die Debatte über Fragen der Technikentwicklung und –nut- 110 Heim zur Arbeit zung für die Aufhebung der geschlechtshierarchischen Arbeitsteilung ist noch nicht sehr entwickelt. Diese Debatte ist aber notwendig, um eine Nachfrage an anderer Stelle zu erzeugen und eine Marktmacht zu entwickeln. Dabei ginge es um Fragen • wie die neuen Techniken zur Vereinfachung der Haus- und Familienarbeit eingesetzt oder zu bezahlbaren Dienstleistungen umgewandelt werden können • wie die Software zu gestalten ist, deren Ziel es ist, ganzheitliche Arbeitsvorgänge zu erhalten, Arbeit zu qualifizieren und sinnvoll zu machen • wie die durch Technik eingesparte Erwerbsarbeitszeit für gesellschaftlich notwendige, unbezahlte Arbeit genutzt werden könnte und wie die Verteilung dieser Arbeit zwischen den Geschlechtern erfolgen soll. Betriebs- und PersonalrätInnen, die sich in der aktuellen Situation zur Tele(heim)arbeit verhalten müssen, können nicht ein generelles Nein formulieren, weil sie es auch mit den konkreten Zwangslagen und Lebenslagen der Beschäftigten zu tun haben und sich nicht zynisch darüber hinwegsetzen können. Sie können nur versuchen, die negativen Folgen dieser neuen Arbeitsform zu verhindern und die Schäden für die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen zu begrenzen. Dazu gibt es bereits eine Reihe von strategischen Empfehlungen: • alternierende Tele(heim)arbeit, • den Erhalt des Arbeitnehmerstatus, • Freiwilligkeit, • Schadensersatzregelungen. • Schwieriger wird es, gestaltend einzugreifen und • qualifizierte Arbeitszuschnitte zu erhalten bzw. zu gestalten, was z.B. konkret bedeutet, keine reine Schreibarbeit oder Datenerfassung als Tele(heim)arbeit zu vergeben, • Satellitenbüros oder Telecenter zu bevorzugen und einzurichten, • statt mit dem Vereinbarkeitsargument Tele(heim)arbeitsplätzen zuzustimmen betriebliche Regelungen zur Vereinbarkeit durchzusetzen wie z.B. flexible Arbeitszeitregelungen, die Erreichbarkeit von Müttern und Vätern telekommunikativ zu sichern, das Recht auf Unterbrechungszeiten und Pausen bei plötzlichem Bedarf zu sichern, das Recht auf Arbeitszeitreduktion mit dem Anspruch auf Rückkehr Barbara Stiegler • 111 zur alten Arbeitszeit, betriebliche Kinderbetreuungsplätze, bei Vergabe von Arbeiten nach außen sicherstellen, dass die Anbieter in gesicherten Arbeitsverhältnissen sind, also eher an Telehäuser auslagern als an ScheinSelbstständige zu Hause. 6. Fazit Wenn mit einem Interesse speziell von Frauen an Tele(heim)arbeit gerechnet und argumentiert wird, so wird mit dem Geschlecht Frau genannt, was Ausdruck des traditionellen Geschlechterverhältnisses ist: dass nämlich Menschen aufgrund ihres Geschlechtes Haus- und Familienarbeit übernehmen und andere Menschen aufgrund ihres Geschlechtes diese Arbeit vernachlässigen bzw. delegieren. Dieses oft als Privatsache deklarierte Verhältnis zwischen Mann und Frau führt nun dazu, dass Frauen als Geschlechtsgruppe diskriminiert werden und ihnen eine den Männern gleiche Positionierung im Erwerbsleben vorenthalten wird. Die feministische Technikdiskussion verweist darauf, dass Frauen und die ihnen zugeschriebenen Sichtweisen, die aus der privaten Haus- und Familienarbeit herrühren, aus der Technikentwicklung und Gestaltung als zweitrangig und unbedeutsam verdrängt werden. Frauen werden allenfalls zu einer Problemgruppe gemacht. Demgegenüber repräsentieren sie aber in Wirklichkeit einen verdrängten Teil des gesellschaftlichen Ganzen, ohne den auch die Erwerbsarbeit nicht funktionieren könnte, bildet dieser Teil doch die Basis gesellschaftlicher Reproduktion. Die Formel von der Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist deshalb ideologisch, weil sie vorgibt, etwas zu verbessern, was gar nicht zu verbessern ist: Die Schieflage in der Bewertung von Erwerbsarbeit und Haus- und Familienarbeit kann nicht individuell ausgeglichen werden, vielmehr wird diese Schieflage durch jede individuelle Anpassung weiter verstärkt. Geschlechterpolitik, die eine Umverteilung von Arbeit, Erwerbsarbeit und Haus- und Familienarbeit, von Geld und Macht zugunsten der Frauen anstrebt, muss auf eine Veränderung von Berufs- und Familienarbeit drängen, damit Mann und Frau beides können: Berufsarbeit muss sich in Inhalt und Rahmenbedingungen verändern und stärker die Bedürfnisse von Kindern und Pflegebedürftigen berücksichtigen. Haus- und Familienarbeit muss sich verändern, indem weitaus mehr und qualitativ bessere öffentliche Dienstleistungsangebote geschaffen werden, also Teile der 112 Heim zur Arbeit heute noch privat und unbezahlt zu leistenden Arbeit gesellschaftlich getan werden. Der verbleibende Rest an unbezahlter Arbeit ist von Männern und Frauen zu gleichen Teilen zu erbringen. Welche Unterstützung die Multimediatechnik dazu liefern kann, ist eine spannende Frage, zu deren Beantwortung ein breiter Diskurs notwendig wäre. Literatur AG 9, Forum Info 2000 (1998):Frauen in der Informationsgesellschaft. Forum Info 2000 (Hrsg.) Bonn Bahl-Benker, Angelika (1992): Welche Probleme müßte Technologiepolitik aus der Sicht von Arbeitnehmerinnen aufgreifen? In: Böttger/Fieguth (Hrsg.), Zukunft der Informationstechnologie, S. 157-170 Becker-Schmidt, Regina (1994): Geschlechterverhältnis, Technologieentwicklung und androzentrische Ideologieproduktion. 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Haben die neuen flexiblen Arbeitsformen nur ‚scheinbar‘ Auswirkungen auf das Geschlechterverhältnis oder gibt es reale Veränderungen in der Informationsgesellschaft, an die das Wort ‚virtuell‘ ebenfalls anknüpft? Ich frage in diesem Artikel also nach den Veränderungsprozessen im Geschlechterverhältnis im Rahmen der Informationsgesellschaft, an deren Anfängen wir stehen. Dabei konzentriere ich mich auf den Aspekt der Arbeit, vor allem der Erwerbsarbeit, der jedoch nur mit Bezug auf die Reproduktionsarbeit sinnvoll zu behandeln ist. Weitergehend stelle ich die Frage, inwieweit mit den sich abzeichnenden Veränderungen eine Unordnung im Geschlechterverhältnis einhergeht, die ‚virtuell‘ ist im Sinne von „der Kraft oder Möglichkeit nach vorhanden“, wie das Duden Fremdwörterbuch ‚virtuell‘ definiert. Kann diese ‚potentielle‘ Unordnung mit bewusstem frauenpolitischem Handeln zur realen Aufhebung der geschlechtshierarchischen Arbeitsteilung beitragen? 14 Erstveröffentlichung in: Oechtering, V., Winker, G. (Hrsg.), Computernetze Frauenplätze, Frauen in der Informationsgesellschaft, Leske + Budrich, Opladen 1998. 116 Virtuelle Unordnung im Geschlechterverhältnis 2. Informationsgesellschaft und Normalarbeitsverhältnis Die Entwicklung zur Informationsgesellschaft beruht technisch auf der einfachen Verfügbarkeit weltweiter Vernetzungsmöglichkeiten, auf multimedialen Softwareprodukten mit Medienintegration und Interaktivität sowie auf der bereits vollzogenen Computerisierung vieler gesellschaftlicher Bereiche. Es kann von einer globalen Digitalisierung gesprochen werden in dem Sinne, dass alle Arbeits- und Lebensbereiche mit Informations- und Kommunikationstechnik durchdrungen werden. Geprägt wird die Informationsgesellschaft auf der Grundlage dieser neuen Technologien von starken Produktivitätsfortschritten im Erwerbsarbeitsbereich und einer raum-zeitlichen Entkoppelung von Erwerbsarbeitsprozessen im lokalen und globalen Sinne. 2.1. Produktivitätsfortschritte und Sinken des Erwerbsarbeitsvolumens Das Streben nach Produktivitätssteigerungen ist nicht neu, sondern der kapitalistischen Gesellschaft immanent, wird aber auf der Grundlage der Informations- und Kommunikationstechnologien durch die Intensivierung des internationalen Wettbewerbs verstärkt. Radikale Strukturveränderungen auf dem Arbeitsmarkt zeichnen sich ab und werden noch zunehmen (vgl. auch Tischer in diesem Band). Denn bisher ist das Produktivitätspotential noch lange nicht flächendeckend umgesetzt. Die Rationalisierungswelle ist im Produktionssektor noch nicht abgeschlossen und fängt im Dienstleistungssektor gerade erst an. Neue Vernetzungsmöglichkeiten und multimedial gestaltete Software verstärken Tendenzen, die bisher professionell angebotenen Dienstleistungen den KundInnen über Selbstbedienung frei Haus zu liefern. So führt Telebanking zur Schließung von Filialen im Bankgewerbe, und durch Telereisebuchungen werden immer mehr Arbeitsplätze in der Tourismusbranche gefährdet, um nur zwei Beispiele zu nennen. Nach einer Untersuchung des Lehrstuhls für Betriebswirtschaftslehre und Wirtschaftsinformatik an der Universität Würzburg liegt das Einsparungspotential von Arbeitskräften durch Integration von Organisation und Informationsverarbeitung im Bereich Transport/Logistik bei 74%, Gabriele Winker 117 bei den Banken und Versicherungen bei 61% bzw. 59%, im Bürobereich bei 55% und im Handel bei 51%. Und selbst in scheinbar rationalisierungsresistenten Feldern belaufen sich die Einsparungsmöglichkeiten durch konsequenten Einsatz der neuen Technologien auf ca. ein Drittel des derzeitigen Personalbestandes: zum Beispiel im Bereich Planung (33%), Beratung (35%) und Gesundheitswesen (35%) (Thome 1997, S.124ff.). Sicherlich wirkt die Offensive im Informations- und Kommunikationsbereich nicht nur arbeitssparend, sondern kann auch arbeitsschaffend sein. Beschäftigungszuwächse werden vorwiegend bei Unternehmen erwartet, die Medien- und Kommunikationsgüter, Software, Dienstleistungen im Bereich der Datenverarbeitung oder Telekommunikationsdienste anbieten. Der Bericht der Bundesregierung sieht im günstigsten Fall bis zum Jahr 2010 im Informationsbereich ein Potential von ca. 1,5 Mio. zusätzlicher Arbeitsplätze für Deutschland (Info 2000, S.41). Entschieden skeptischer schätzt das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung in diesem Bereich den Beschäftigtenzuwachs ein. Obwohl die inländische Nachfrage nach Medien- und Kommunikationsgütern im Jahre 2010 etwa dreimal so hoch sein soll wie Anfang der 90er Jahre, wächst nach dieser Prognose die Zahl der Beschäftigten nur um 10%, d.h. um rund 180.000 Beschäftigte auf 2,1 Mio. (DIW 10/96). Damit zeichnet sich deutlich ab, dass selbst bei optimistischen Schätzungen die entstehende Multimediabranche nicht mehr neue Arbeitsplätze schaffen kann, als durch die Produktivitätsfortschritte im Produktions- und Dienstleistungsbereich im Zusammenhang mit dem breiten Einsatz der neuen Technologien verloren gehen. Die Schere zwischen Produktivitäts- und Wachstumsraten öffnet sich weiter. So kommt es zur weiteren Abnahme des Erwerbsarbeitsvolumens. In Westdeutschland hat sich das Arbeitsvolumen, gemessen in effektiv geleisteten Arbeitsstunden pro Kopf der Wohnbevölkerung, bereits von 1975 bis 1995 um reichlich ein Zehntel vermindert (Kommission 1996, Teil I, S.1). 2.2. Raum-zeitliche Entkoppelung von Erwerbsarbeitsprozessen In der Informationsgesellschaft verliert bei vielen Erwerbsarbeitsprozessen die Zentralisierung der Beschäftigten in einer Betriebsstätte an Bedeutung. Durch die neuen Informations- und Kommunikationstechnolo- 118 Virtuelle Unordnung im Geschlechterverhältnis gien sind Kooperation und Zusammenarbeit auch über räumliche Entfernungen möglich. Die persönliche Kommunikation wird bei einzelnen Arbeitsvorgängen durch technikunterstützten Austausch von Informationen ersetzt, und damit wird die räumliche Nähe der Beschäftigten untereinander unwichtiger. Verbunden mit einer räumlichen und damit auch zeitlichen Flexibilisierung von Arbeitsabläufen ist eine Steigerung der Verantwortung der Beschäftigten. In dem Maße, wie die zeitliche Anwesenheit von Beschäftigten nicht mehr überprüft werden kann, gerät die Erbringung einer Selbstständig erarbeiteten Leistung in den Vordergrund. Gleichzeitig lässt sich beobachten, dass sich die Verkleinerung und Verschlankung der Unternehmen durch Konzentration auf die Kernkompetenzen und Auslagerung aller anderen Funktionen fortsetzt. Am Ende steht das ‚virtuelle Unternehmen‘, das unter Einbeziehung der Zulieferer elektronisch vernetzt ist. Vermittelt über die Informationsund Kommunikationstechnologien steigt gleichzeitig die Nähe zu potentiellen KundInnen. Die neuen Technologien unterstützen rasche Veränderungen der Produktionsabläufe, eine kosteneffektive Kleinserienproduktion und auf individuelle Kundenwünsche zugeschnittene Produkte. Die raum-zeitliche Entkoppelung von Arbeitsprozessen macht an nationalen Grenzen nicht halt, sie wirkt global. Viele Firmen aus Industrienationen lagern schon heute die Erfassung großer Datenbestände aus und siedeln ganze Verwaltungsabteilungen in Billiglohnländern an. Auch Produktionsstätten lassen sich standortoptimal auswählen und dann von der BRD aus leiten und überwachen. Mit einer weiter verbesserten Kommunikationstechnologie und fallenden Netzkosten werden immer mehr Tätigkeiten dorthin verlagert, wo es im internationalen Maßstab betriebswirtschaftlich am effizientesten ist. Dies bedeutet, dass das Sinken des Erwerbsarbeitsvolumens in der BRD nicht allein durch technologisch bedingte Produktivitätssteigerungen, sondern auch durch die räumliche Entkoppelung von Erwerbsarbeit verstärkt wird, da auch neu entstehende Arbeitsplätze überallhin verlagert werden können. Dies unterstreicht, dass wir es mit strukturellen Problemen zu tun haben, die sich in Zukunft noch weiter zuspitzen werden. Gabriele Winker 119 2.3. Konsequenzen in Deutschland Das Sinken des Erwerbsarbeitsvolumens und die Dezentralisierung von Arbeitsabläufen führt unter den Bedingungen weitgehender Deregulierung zur Flexibilisierung der Erwerbsarbeit in den Dimensionen der Arbeitsmenge, der Arbeitszeit und des Arbeitsortes. Dies werde ich im folgenden konkretisieren. Flexibilisierung der Zuteilung der Erwerbsarbeitsmenge Die Verminderung des Erwerbsarbeitsvolumens führt bei der derzeitigen Politik zu Segregationsprozessen auf dem Arbeitsmarkt: Statt alle Erwerbspersonen gleich lang zu beschäftigen, bilden sich in den Unternehmen sogenannte ‚Olympiamannschaften‘ als Stammbelegschaften, die unabkömmlich sind und mit abgesichertem Erwerbseinkommen bis zu 60 Stunden die Woche arbeiten. Neben diesem Bereich der Überbeschäftigung vergrößert sich auf der anderen Seite der Bereich der Unterbeschäftigung kontinuierlich. Neben der Massenarbeitslosigkeit fällt darunter minderbezahlte, unbeständige und ungesicherte Erwerbsarbeit in Form von Teilzeitarbeit, zeitlich befristeten Arbeitsverhältnissen oder geringfügiger Beschäftigung. Mit diesen Segregationsprozessen wird das Erwerbsarbeitsvolumen aus Sicht der Unternehmen flexibel auf die einzelnen Beschäftigten verteilt. Ich bezeichne diese Entwicklung als Flexibilisierung der Zuteilung der Erwerbsarbeitsmenge. Während der Anteil der Beschäftigten, die regelmäßig Überstunden leisten, ständig zunimmt – allein von 1993 bis 1995 ist er in Westdeutschland um 6% auf 45% gestiegen (Schilling u.a. 1996, S.433) –, waren 1997 in Deutschland knapp 4,4 Millionen Menschen arbeitslos gemeldet, und weit über 3 Millionen gehörten zur ‚stillen Reserve‘ (BA 1998a+b). Doch mit der flexiblen Zuteilung einer unterschiedlichen Erwerbsarbeitsmenge auf die Beschäftigten sind nicht nur die beiden Pole – keine Erwerbsarbeit oder Überbeschäftigung – gemeint. Dazwischen liegen eine Reihe weiterer Arbeitsformen, die an Bedeutung gewinnen. So stieg die Teilzeitquote in Westdeutschland von ca. 11% im Jahre 1980 auf knapp 19% im Jahre 1997 (Kohler/Spitznagel 1995, S.354 sowie Stat. Bundesamt 1998, S.8) kontinuierlich an, da immer mehr Unternehmen in der Teilzeitarbeit eine Möglichkeit sehen, Betriebsabläufe zu optimie- 120 Virtuelle Unordnung im Geschlechterverhältnis ren durch höhere Leistung pro Arbeitsstunde, höhere Flexibilität des Personaleinsatzes und Minderung der Krankheits- und sonstigen Fehlzeiten (Mc Kinsey 1994). Und auch die geringfügige, nicht sozialversicherungspflichtige Beschäftigung ist deutlich angestiegen. Nach Untersuchungen des Instituts für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik in Köln kletterte in Gesamtdeutschland die Zahl der sozialversicherungsfreien Beschäftigten von 1992 rund 3,8 Mio. auf bereits 4,9 Mio. im Jahre 1997 (BA 1998a, S.109f.). Insgesamt befand sich 1995 bereits ein gutes Drittel aller abhängig Beschäftigten in Deutschland in Nicht-Normalarbeitsverhältnissen, zu denen ausschließlich geringfügig und befristet Beschäftigte, Leih-, Kurzund HeimarbeiterInnen, Teilzeitbeschäftigte sowie sogenannte ScheinSelbstständige15 gezählt werden. Nur noch knapp zwei Drittel befanden sich in Normalarbeitsverhältnissen, also in unbefristeten sowie arbeitsund sozialrechtlich abgesicherten Vollzeitbeschäftigungen. Bei Fortschreibung der dargestellten Entwicklung wird das Verhältnis von Normal- zu Nicht-Normalarbeitsverhältnissen in fünfzehn Jahren bei eins zu eins liegen. Nur die Hälfte der abhängig Beschäftigten hätte dann noch dauerhafte, arbeits- und sozialrechtlich abgesicherte Vollzeitarbeitsplätze (Kommission 1996, Teil I, S.60ff.). Flexibilisierung der Erwerbsarbeitszeit Durch die verschärfte internationale Konkurrenz nimmt der Druck auf die Verlängerung der Betriebsnutzungszeiten weiter zu. Allerdings wird die Ausdehnung der Betriebszeiten heute nicht mehr primär durch eine entsprechende Verlängerung der Arbeitszeiten erreicht, sondern im Zusammenhang mit den neuen Technologien und neuen Produktionskonzepten durch eine zunehmende Variabilisierung der Arbeitszeiten. Die Arbeitszeiten der Beschäftigten werden flexibel an die betrieblichen Anforderungen angepasst. Ziel der Unternehmen ist es, die Schwankungen auf den Beschaffungs- und Absatzmärkten abzufedern und die Betriebsnutzungszeiten auf das Wochenende und in die Nacht hinein auszudehnen. Dies ist vor allem für kapital- und energieintensive Betriebe be15 Als ScheinSelbstständige werden Erwerbstätige bezeichnet, die sich formal im Status der Selbstständigkeit befinden, bei denen es sich aber tatsächlich um abhängig beschäftigte ArbeitnehmerInnen handelt, da sie ständig für denselben Auftraggeber tätig sind. Gabriele Winker 121 triebswirtschaftlich interessant. Die Beschäftigten geraten damit in eine stärkere zeitliche Abhängigkeit von nicht absehbaren und schon gar nicht beeinflussbaren Marktrhythmen. Nach einer Studie des Instituts zur Erforschung sozialer Chancen (Schilling u.a. 1995, S.433) ist das Ausmaß der Arbeitszeitflexibilisierung auch zwischen 1993 und 1995 noch einmal angestiegen. In dieser Untersuchung wird als Bezugsgröße ein Normalarbeitszeitstandard definiert. Darunter wird eine der Vollzeitbeschäftigung entsprechende Arbeitszeit zwischen 35 und 40 Stunden verstanden, die sich auf 5 Wochentage verteilt, in der Regel von montags bis freitags tagsüber ausgeübt wird und in ihrer Lage nicht variiert. Arbeiteten 1993 in Westdeutschland 23% der Beschäftigten unter den Bedingungen des so definierten Normalarbeitszeitstandards, so waren es 1995 nur noch 17% der Beschäftigten. Flexibilisierung des Erwerbsarbeitsorts Während die Flexibilisierung der Erwerbsarbeitsmenge und der Erwerbsarbeitszeit in der Bundesrepublik Deutschland in den letzten Jahren deutlich zugenommen hat, entwickelt sich die räumliche Flexibilisierung noch recht vorsichtig. Zwar haben die meisten Betriebe bereits erste Erfahrungen mit unterschiedlichen Formen der Telearbeit gemacht, dennoch scheint die BRD gegenüber anderen europäischen Ländern wie zum Beispiel Großbritannien und den USA zurückzustehen. So stellen Jörg Becker und Daniel Salamanca in einem Beitrag zur EnqueteKommission fest: „In den USA sind bereits über 10 Mio. Telecommuter verzeichnet, in Großbritannien arbeiten schon eine halbe Million Erwerbstätige an dezentralen Telearbeitsplätzen. In Deutschland gibt es dagegen bislang lediglich 150.000 Telearbeiter.“ (Becker/Salamanca 1997, S.27) Allerdings stimmen alle Prognosen darin überein, dass die räumliche Entkoppelung von Arbeitsprozessen auf dem Hintergrund immer besserer und kostengünstiger Netzleistung in Kombination mit multimedial gestalteter Software weiter zunehmen wird. Immer mehr Erwerbsarbeit wird in Zukunft nicht mehr in räumlich abgegrenzten Betriebsstrukturen erfolgen, sondern ortsflexibel zu Hause, bei KundInnen, im Hotelzimmer oder im Telecenter abgewickelt werden. Die ortsflexible Erwerbsarbeit findet zur Zeit noch weitgehend im Arbeitsverhältnis statt. TelearbeiterInnen haben also mehrheitlich einen 122 Virtuelle Unordnung im Geschlechterverhältnis ArbeitnehmerInnenstatus. Auch dies wird sich in Zukunft aller Voraussicht nach ändern. Es ist abzusehen, dass ohne Gegenwehr der Beschäftigten Telearbeit von Unternehmensseite als Erprobung für späteres Outsourcing genutzt wird. So werden viele zukünftige Telearbeiter und Telearbeiterinnen nicht mehr als Angestellte eines bestimmten Unternehmens tätig sein, sondern auf eigenes Risiko als Selbstständige, die ihre Dienste ergebnisorientiert an mehrere Auftraggeber vermarkten (vgl. Brandt/Winker in diesem Band). 2.4. Erosion des Normalarbeitsverhältnisses Mit den drei genannten Flexibilisierungstendenzen der Erwerbsarbeit in den Dimensionen der Menge, Zeit und des Orts setzt sich die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses beschleunigt fort. Die kontinuierliche Vollzeiterwerbstätigkeit in Büro oder Fabrik im Rahmen klar geregelter Arbeitszeiten wird somit für viele Beschäftigte bald der Vergangenheit angehören. Diese Erosion des Normalarbeitsverhältnisses bedeutet für Arbeitssuchende, aber auch für viele Beschäftigte eine existentielle Verunsicherung und löst Ängste aus, da tradierte soziale Sicherheiten verloren gehen. Als Abwehrreaktion halten vor allem die in der Regel männlichen Familienernährer verstärkt am traditionellen Leitbild, am Wunsch nach einer kontinuierlich ausgeübten und bezahlten Vollzeiterwerbstätigkeit fest (Schnack/Gesterkamp 1996, S.41ff.). Allerdings kann dieser Verunsicherung weder durch individuelle oder gesamtgesellschaftliche Verdrängungsleistungen noch durch Autosuggestion als politischer Methode sinnvoll begegnet werden. Denn die Chance, dass alle Arbeitssuchenden tatsächlich eine vollzeitige, lebenslange und sichere Erwerbsmöglichkeit erhalten, wird ohne grundsätzliches politisches Eingreifen immer geringer. Gabriele Winker 123 3. Geschlechtshierarchische Arbeitsteilung in der Informationsgesellschaft In diesem Abschnitt gehe ich der Frage nach, was die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses für die geschlechtshierarchische Arbeitsteilung bedeutet. Dazu muss zunächst der Stellenwert der Normalerwerbsarbeit für das Geschlechterverhältnis bestimmt werden. 3.1. Normalarbeitsverhältnis und Geschlechterhierarchie Mit der Konstruktion des Normalarbeitsverhältnisses entsteht das gesellschaftliche Problem, dass sich zumindest für Menschen mit Kindern die beiden Lebensbereiche der Erwerbsarbeit und der Reproduktionsaufgaben kaum vereinbaren lassen. Denn das Normalarbeitsverhältnis setzt voraus, dass hinter jedem, der sich an ihm als Vollzeitbeschäftigter beteiligt, eine zweite Person steht, die den Rücken freihält für die Organisation des Alltagslebens, die Versorgung und Pflege der Kinder und älterer Angehöriger. Auf dieser Unvereinbarkeit beider Lebensbereiche beruht die klare Trennung und geschlechtsspezifische Zuweisung von bezahltem Produktions- und unbezahltem Reproduktionsbereich. Die Verantwortung der Frauen für die häusliche Arbeit verhindert eine gleichberechtigte Teilnahme am Arbeitsmarkt. So kommt es zu Abhängigkeitsverhältnissen und Machtgefällen zwischen den Geschlechtern; es herrscht eine geschlechtshierarchische Arbeitsteilung. Dass diese geschlechtshierarchische Arbeitsteilung nach wie vor Realität ist, zeigt sich daran, dass unbezahlte Arbeit auch heute noch Frauensache ist. 35 Stunden in der Woche sind Frauen in Deutschland durchschnittlich mit hauswirtschaftlichen und handwerklichen Tätigkeiten, der Pflege und Betreuung von Kindern und Erwachsenen sowie ehrenamtlichen Tätigkeiten beschäftigt, Männer dagegen nur gut 19 Stunden. Spiegelverkehrt ist das Bild bei der Erwerbsarbeit. Einschließlich Wegezeiten sind Männer im Durchschnitt 31 Stunden und Frauen 15 Stunden wöchentlich erwerbstätig (Blanke u.a. 1996, S.6). Auch verdienen vollzeitbeschäftigte Arbeiterinnen und weibliche Angestellte in Deutschland nach wie vor im Durchschnitt ein Viertel weniger als vollzeitbeschäftigte Männer (Tischer/Doering 1998, S.519). 124 Virtuelle Unordnung im Geschlechterverhältnis Dies ist das Ergebnis einer Arbeitspolitik, für die über Jahrzehnte der männliche Alleinverdiener – verheiratet, zwei Kinder – als Bezugsperson fungierte. Und auch wenn das Normalarbeitsverhältnis der kontinuierlichen Vollzeitarbeit der Familienernährer im Zusammenhang mit diskontinuierlicher und Teilzeitbeschäftigung der Mütter nie für alle Schichten gültig war und ist, liegt das Modell der Versorgerehe bis heute der bundesdeutschen Sozialpolitik einschließlich des Steuer- und Rentensystems zugrunde und untermauert damit die klare Trennung zwischen bezahltem Produktions- und unbezahltem Reproduktionsbereich. Gleichzeitig löst sich das klassische geschlechtsspezifische Rollenmodell immer mehr auf. Denn Frauen wollen heute mehrheitlich unterschiedliche Lebensbereiche miteinander vereinbaren, bei gleichzeitig eigenständiger sozialer Absicherung. Für sie ist Erwerbsarbeit ein zentraler Fixpunkt in ihren Biographien und Lebensläufen geworden. Das zeigt deutlich die im Westen langsam, aber stetig zunehmende Erwerbsbereitschaft der Frauen und die im Osten anhaltend hohe Erwerbsbereitschaft der Frauen trotz hoher Frauen-Langzeitarbeitslosigkeit in den neuen Ländern16. Auf der anderen Seite wollen Frauen auf das Tätigsein in der Familie, im sozialen, kulturellen und politischen Bereich nicht verzichten. Diese verschiedenen Ziele zu erreichen, ist jedoch gerade für Frauen mit Kindern unter dem Primat des Normalarbeitsverhältnisses nach wie vor schwierig. So variieren sie je nach Lebensabschnitt die Dauer, die Lage und die Verteilung der Erwerbsarbeit. Aus diesen Suchprozessen ergibt sich die Pluralität weiblicher Lebensstile, die in den letzten Jahrzehnten deutlich zugenommen hat. Es entstehen komplexe weibliche Lebensverläufe im Gegensatz zu einer im Vergleich dazu eindimensional verlaufenden männlichen Normalbiographie, die in erster Linie an der beruflichen Entwicklung orientiert ist. Die weiblichen ‚PatchworkBiographien‘ beinhalten in all den Schwierigkeiten ihrer heutigen Realisierung gegen die Normalerwerbsbiographie auch Momente eines humaneren Lebens, indem sie der Desintegration der Lebensbereiche entge16 So ist im Westen die Frauenerwerbsquote von 46,2% im Jahre 1970 auf 60,3% im Jahre 1997 geklettert (die Erwerbsquote der Männer liegt 1997 bei 80,5%). Im Osten liegt die Frauenerwerbsquote 1997 nach wie vor relativ hoch bei 73,6%, die der Männer bei 79,7% (Statistisches Bundesamt 1998). Die Arbeitslosenquote der Frauen ist in den neuen Bundesländern 1997 mit 22,5% immer noch beträchtlich höher als die der Männer (16,6%) (BA 1998b). Gabriele Winker 125 genwirken. 3.2. Erosion des Normalarbeitsverhältnisses und Wanken der Geschlechterhierarchie Nun gerät mit der sich entwickelnden Informationsgesellschaft das gesamte Projekt des Normalarbeitsverhältnisses, das Frauen immer wieder neu behindert, ins Wanken. Die kontinuierliche Vollzeiterwerbstätigkeit in Büro oder Fabrik im Rahmen klar geregelter Arbeitszeiten, an der sich die in der Regel männlichen Familienernährer orientieren, entspricht für immer breitere Schichten nicht mehr der Realität, und diese Entwicklung wird weiter zunehmen. Damit wird auch die eingefahrene geschlechtshierarchische Arbeitsteilung brüchig. Diese Veränderungen im Produktionsbereich mit direkten Auswirkungen auf den Reproduktionsbereich können allerdings unterschiedlichste Auswirkungen auf das Geschlechterverhältnis haben: Ohne feministischen Gestaltungsansatz werden die Flexibilisierungstendenzen zu einer Modernisierung der Ungleichheit zwischen Männern und Frauen auf einer neuen Ebene führen. Die Segregation auf dem Arbeitsmarkt wird ebenso zunehmen wie die raum-zeitliche Verfügbarkeit der Beschäftigten für die Unternehmen. Damit wird die Realisierung verschiedenartiger weiblicher Lebensentwürfe und die oft gewünschte Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Elternschaft schwieriger. Frauen bleiben auf dem Arbeitsmarkt die ‚Defizitwesen‘, da sie – nicht vollständig zeitlich und räumlich flexibel – den Anforderungen der Unternehmen nicht umfassend gerecht werden. Für die Frauenpolitik besteht auch weiterhin die unbefriedigende Aufgabe darin, Frauen als Mitglieder einer Problemgruppe über gezielte Frauenförderung an eine an Männern orientierte Normalerwerbsbiographie anzugleichen. Doch auch für Männer werden die Nicht-Normalarbeitsverhältnisse explodieren. Auch sie werden häufiger zu eigentlich ‚frauentypischen‘ Bedingungen arbeiten: unterbezahlt, teilzeitbeschäftigt und unabgesichert. Es kommt damit auch für einen Teil der männlichen Beschäftigten zu einer ‚Feminisierung‘ der Erwerbsarbeit mit all den bekannten Folgen wie u.a. keine eigenständige finanzielle Existenzsicherung und verringerte Aufstiegschancen. Das Gefühl der Nutzlosigkeit und Wertlosigkeit führt zu Problemen mit der männlichen Identität. Die neuen Flexibilisierungserfordernisse im Erwerbsarbeitsbereich 126 Virtuelle Unordnung im Geschlechterverhältnis können allerdings auch als Ansatzpunkt einer neuen feministischen Gestaltungsoffensive genutzt werden. Der weitere Zerfall des Normalarbeitsverhältnisses ist dann als Chance für Frauenemanzipation zu begreifen. Dazu muss die bisherige Argumentation der Angleichung von Frauen an die männliche Normalerwerbsbiographie revidiert werden. Statt dessen könnten die Vorteile der unterschiedlichen Formen von Frauenarbeit, die flexibel an breite Lebensinteressen angepasst sind, als Ausgangspunkt der Gestaltung genommen werden. Denn aus den vielfältigen weiblichen Erfahrungen entsteht ein veränderter Fokus auf Arbeit, da in den ‚Patchwork-Biographien‘ neben der Erwerbsarbeit immer auch familiäre Erziehungs- und Pflegeaufgaben sowie soziale Kontakte im weiten Sinne ihren Platz haben. So lassen sich aus diesen mehrdimensionalen Lebensperspektiven von Frauen Visionen und Handlungsmöglichkeiten für ein integriertes und individualisierbares Leben ableiten. Dies könnte auch für Männer interessant sein. Männlichkeit wird dann nicht weiter mit Unentbehrlichkeit in der Erwerbsarbeit gleichgesetzt, sondern enthält neben der Identität über die Erwerbsarbeit neue Aspekte aus dem Tätigsein in der Familie und im sozialen Umfeld. Allerdings gehen die Wahlmöglichkeiten, auf die Frauen heute zurückgreifen können und müssen, einher mit einer hohen Verantwortlichkeit für die eigene Biographie. „Frauen müssen das Skript ihrer Biographie selbst entwerfen, zusammenbasteln, zusammenflicken, angesichts höchst komplexer, oft widersprüchlicher Entscheidungsfaktoren“ (Beck/Beck-Gernsheim 1993, S.183). Diese Entscheidungszwänge können Frauen unter den derzeitigen Arbeitsmarktbedingungen oft auch überfordern. Deswegen ist es wichtig, dass die an unterschiedliche Lebensstile angepasste Erwerbsarbeit mit existenzsichernden Maßnahmen verknüpft wird, wie es bisher nur für die männliche Normalerwerbsbiographie gewerkschaftlich durchgesetzt werden konnte. Gabriele Winker 127 4. Chancen und Risiken der Flexibilisierung der Erwerbsarbeit Im vorigen Abschnitt wurde gezeigt, dass das Normalarbeitsverhältnis aus feministischer Perspektive durchaus problematisch ist, da es zur Aufrechterhaltung der Geschlechterhierarchie beiträgt, und damit die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses auch Chancen für eine gleichberechtigtere Arbeitsverteilung beinhaltet. Im folgenden werde ich die im zweiten Abschnitt dargestellten Flexibilisierungstendenzen aus der Sicht weiblicher Lebensentwürfe bewerten und darauf aufbauend zu Gestaltungsvorschlägen kommen, die zum Abbau der geschlechtshierarchischen Arbeitsteilung beitragen können. 4.1. Generelle Begrenzung der Erwerbsarbeitszeit Zentraler Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist die Tatsache, dass es zur Situation der Vollbeschäftigung bei einer 38-Stunden-Woche als lebenslange Normalerwerbsarbeitszeit nicht mehr kommen wird. Bisher wird auf das knapper werdende Erwerbsarbeitsvolumen mit Segregationsprozessen reagiert, die zu einer Ausweitung der Mehrarbeit, hohen Massenarbeitslosigkeit, Zunahme der Unterbeschäftigung und damit auch Zunahme der geschlechtsspezifischen Ungleichheit führen. Denn Teilzeitarbeit wird vor allem – im Westen zu 91% – von Frauen ausgeübt (BA 1997, S.103). Männer wählen Teilzeit nur, wenn sie dazu gezwungen sind, da kein Vollzeitjob zur Verfügung steht. Auch sind drei Viertel der geringfügig Beschäftigten Frauen (BA 1998a, S.109). Und der Prozentsatz von Frauen, die unter die ScheinSelbstständigen fallen, ist doppelt so hoch wie der der Männer.17 Insgesamt hat diese Entwicklung zur Konsequenz, dass ein weit höherer Anteil der männlichen als der weiblichen Beschäftigten in einem Normalarbeitsverhältnis steht (Hoffmann/Walwei 1998, S.4). Ausgehend von den Lebensentwürfen von Frauen lässt sich der ungleichen Verteilung von Erwerbsarbeit und der Zuordnung von Teilzeitarbeit zu Frauen eine drastische Verkürzung der Normalerwerbsarbeits17 Je nach Definition der ScheinSelbstständigkeit sind entweder 0,4% aller erwerbstätigen Männer und 0,8% aller erwerbstätigen Frauen als eindeutig abhängig Beschäftigte einzustufen oder 0,9% der Männer und 1,9% der Frauen (Dietrich 1996, S.11). 128 Virtuelle Unordnung im Geschlechterverhältnis zeit für alle Erwerbspersonen entgegensetzen. Anzustreben ist eine allgemeine radikale Arbeitszeitverkürzung auf zunächst 30, mittelfristig 25 Wochenstunden, wie es u.a. Ingrid Kurz-Scherf (1990, S.3ff.) seit längerem vorschlägt. Eine solche Verkürzung kommt der von Frauen gewünschten Arbeitszeit nahe, die durchschnittlich bei 29 Stunden pro Woche liegt, während die derzeitige tarifliche Arbeitszeit ziemlich exakt den Arbeitszeitwünschen von Männern mit im Durchschnitt 38 Stunden pro Woche entspricht (Kurz-Scherf 1995a, S.982). Obwohl die effektive Jahresarbeitszeit kontinuierlich zurückgegangen ist, ist die verfügbare Nicht-Erwerbsarbeitszeit gerade für Eltern mit Kindern immer noch zu knapp bemessen. Verlängerte Wegezeiten, gewachsener Zeitaufwand für Versorgungsaufgaben, erhöhte Regenerationszeiten, mehr private Zeit für Weiterbildung beanspruchen die durch Arbeitszeitverkürzungen gewonnenen Zeitphasen. So klagen mehr als zwei Drittel der Erwerbstätigen über Zeitdruck (Kurz-Scherf 1995b, S.107). Erst der Normalerwerbsarbeitstag von durchschnittlich sechs oder besser fünf Stunden schafft neue Spielräume für die partnerschaftliche Aufteilung von Familienpflichten. Gleichzeitig müssen Frauen mit ihren erheblich verbesserten schulischen und beruflichen Qualifikationen bei einer radikal verkürzten Normalerwerbsarbeitszeit nicht mehr auf eine gleichberechtigte Teilhabe am Erwerbsleben verzichten. Sie können – und müssen dann auch – eine eigenständige, vom Partner unabhängige Existenzsicherung anstreben. Mit der Strategie einer radikalen Begrenzung der Erwerbsarbeitszeit und damit einer solidarischen Umverteilung von Erwerbsarbeit ist eine Einkommensumverteilung verbunden, da wirksame Arbeitszeitverkürzungen mit vollem Lohnausgleich nicht durchgesetzt werden können. Abstriche bei den Einkünften der bisher Vollzeitbeschäftigten gehen mit einer relativen Besserstellung von bisher Teilzeitbeschäftigten, vor allem Frauen, einher. Wenn damit in Zukunft alle Familienmitglieder im erwerbsfähigen Alter ein existenzsicherndes Einkommen beziehen, kann eine Kürzung des bisher als Familieneinkommen legitimierten Gehalts von Vollzeitbeschäftigten auch akzeptiert werden. Bei der Realisierung einer solchen Arbeitszeitbegrenzung muss allerdings eine soziale Komponente einbezogen werden, da in den unteren Lohn- und Gehaltsstufen eine finanzielle Einschränkung wegen Unterschreitung des Mindesteinkommens nicht realisierbar ist. Deswegen Gabriele Winker 129 müssen die mit der Arbeitszeitverkürzung einhergehenden Produktivitätsforschritte zum Lohn- und Gehaltsausgleich für die finanziell schwach gestellten Gruppen herangezogen werden. Dies trägt auch dazu bei, die krassen Einkommensspannen zu verkleinern. Auch müsste in einem solchen Modell der generellen Arbeitszeitverkürzung die Mehrarbeit über ein hartes Steuersystem, das Unternehmen und Beschäftigte trifft, auf Ausnahmefälle begrenzt werden. Ein konkreter Vorschlag, wie bereits heute Verkürzung der Arbeitszeit und Abbau von Überstunden durch indirekt wirkende Regelungen unterstützt werden können, wird von Marieluise Beck und der Fraktion ‚Bündnis 90/Die Grünen‘ in die bundesdeutsche Diskussion gebracht. Die Grundidee ist ein aufkommensneutrales ‚Bonus-Malus-System‘. Danach müssen Betriebe mit vielen Überstunden und überlangen Arbeitszeiten einen Zuschlag auf ihre Sozialabgaben zahlen (Malus), während Firmen, die ihr betriebliches Arbeitszeitvolumen auf relativ mehr Beschäftigte verteilen, bei den Sozialversicherungsbeiträgen entlastet werden (Bonus). Damit Betriebe nicht auf ungeschützte Kurzzeitjobs ausweichen, sollen bei der Berechnung der betrieblichen Durchschnittsarbeitszeit nur Stellen ab 19 Wochenstunden mitgezählt werden (Beck u.a. 1997). Aussicht auf Realisierung haben diese Vorschläge allerdings nur dann, wenn sich unser Leitbild radikal verändert. Dazu bedarf es eines breiten gesellschaftlichen Diskurses. Erwerbsarbeit darf nicht mehr im alleinigen Mittelpunkt unseres Wertesystems stehen, Mehrarbeit muss gesellschaftlich diskriminiert werden. Nicht mehr diejenigen, die viel arbeiten, dürfen einen hohen gesellschaftlichen Status für sich in Anspruch nehmen, sondern diejenigen, die es mit wenig bezahlter Arbeit schaffen, ein zufriedenstellendes Leben zu führen. Frauenleben, in denen neben der Erwerbsarbeit bereits heute andere sinnvolle Tätigkeiten eine zentrale Rolle spielen, können Vorbildcharakter haben. 130 Virtuelle Unordnung im Geschlechterverhältnis 4.2. Soziale Absicherung neuer Arbeitsformen Zur sozialen Abfederung einer generellen Erwerbsarbeitszeitverkürzung, aber auch zur Absicherung neuer Arbeitsformen, wie die der neuen Selbstständigen, muss im Sozialsystem der Bezug auf die ununterbrochene Vollerwerbsbiographie und die Zentrierung auf die Ehe aufgebrochen werden. Bisher beruhen die Sozialsysteme (Arbeitslosen- und Rentenversicherung) auf dem Prinzip der Lebensstandardsicherung, und es wird ‚leistungsgerecht‘ bezahlt, d.h. entsprechend des Einkommens und der Erwerbsarbeitsmenge, die im Laufe einer kontinuierlichen Erwerbsbiographie angehäuft werden. Diese Systeme sind damit vor allem auf männliche Lebensmuster ausgelegt und werden mit der Erosion des Normalarbeitsverhältnisses sowie dem Vordringen neuer Arbeitsformen zunehmend untergraben. So ist ein neues System der sozialen Absicherung anzustreben, das auch den Einkommensschwachen oder außerhalb des Erwerbsarbeitssystems Tätigen eine soziale Grundabsicherung ermöglicht und die Einkommensschere, die während der Berufszeit entsteht, nicht fortsetzt, sondern abschwächt. Ein erster Schritt in diese Richtung ist die Einführung einer existenzsichernden Grundsicherung für alle Bürgerinnen und Bürger innerhalb der bestehenden Sozialversicherungssysteme, die unabhängig von der Dauer der Erwerbstätigkeit und unabhängig vom erzielten Einkommen und damit den Zahlungen in die Sozialversicherung jedem erwachsenen Menschen zusteht. Wichtig ist, dass alle Beschäftigten, also auch diejenigen in den bisher ungesicherten Beschäftigtenverhältnissen, in die Sozialversicherung einbezogen werden (Ochs 1997, S.640ff.). Gabriele Rolf und Gert Wagner dehnen in ihrem Modell eines „voll eigenständigen Systems der Altersvorsorge“ die Rentenversicherungspflicht auf alle Personen im erwerbsfähigen Alter aus, also nicht nur auf geringfügig beschäftigte, sondern auch auf Selbstständig tätige und nicht-erwerbstätige Personen. Sie schlagen eine Mindestbeitragspflicht für alle vor, die in der Höhe 75% des Durchschnittbeitrages aller erwerbstätigen Versicherten entspricht. Für erwerbsverhinderte und nicht-erwerbstätige Personen übernimmt der Staat die Beitragszahlung zur Rentenversicherung (z.B. für drei Jahre pro Kind). Mit dem Mindestbeitrag erwirbt dann jede und jeder den Anspruch auf eine Mindestrente von derzeit rund DM 1500 (Rolf/Wagner Gabriele Winker 131 1996, S.29ff.; Rolf-Engler in ÖTV-Magazin 10/97, S.11). Dieses Modell strebt eine ausreichende eigenständige Alterssicherung für Frauen wie für Männer an und unterstützt unterschiedliche Lebensentwürfe anstatt sie – wie das derzeitige Rentensystem – zu erschweren. Um bereits heute individuelle Erwerbsarbeitszeitverkürzungen zu forcieren, ist als weiterer Schritt denkbar, dass sich für alle Beschäftigten Rentenansprüche nur auf eine reduzierte Normalerwerbsarbeitsdauer von 30 bzw. 25 Wochenstunden beziehen. Erwerbsarbeit, die darüber hinaus erbracht wird, erfordert zwar ebenfalls Abgaben in die Sozialversicherung, diese kommen jedoch nicht den Einzahlenden, sondern der Gesamtheit der Versicherten zugute. Diese skizzierten Modelle würden bereits heute Beschäftigten ermöglichen, eine verkürzte Dauer bzw. Verringerung der Erwerbsarbeit frei zu wählen, bei vollständiger sozialer Absicherung. Eine grundlegendere Umgestaltung des sozialen Sicherungssystems, die neuen Arbeitsformen zwischen Erwerbsarbeit, Eigenarbeit und Hausarbeit gerecht werden kann, wird mit dem Konzept des Bürgergeldes diskutiert. Danach haben alle erwachsenen Bürger und Bürgerinnen ein Anrecht auf ein solches Bürgergeld, das vom Finanzamt bezahlt wird und deswegen auch „negative Einkommenssteuer“ heißt. Als Grundeinkommen von zur Zeit etwa 1200 DM ersetzt es bis auf einige wenige Leistungen für spezielle Notsituationen alle bisherigen Sozialleistungen (Kessler 1996, S.113ff.). Ein solches Bürgergeld würde all diejenigen sozial absichern, die nicht in den Erwerbsarbeitsmarkt hinein wollen, sondern sich bewusst dazu entscheiden, im Bereich der Kindererziehung, Pflege, Nachbarschaftshilfe oder auch politischen Initiativen tätig zu sein. Dadurch würden Tätigkeiten aufgewertet, die heute größtenteils von Frauen unentgeltlich geleistet werden. Das Bürgergeld erleichtert gleichzeitig auch weitreichende Erwerbsarbeitszeitverkürzungen, da Beschäftigte bei einer Verringerung ihrer Erwerbsarbeitszeit durch die Verrechnung mit dem Bürgergeld nicht mehr so viel Nettoeinkommen verlieren wie heute. Dadurch werden gleichzeitig individuelle Wechsel in der Dauer der Erwerbsarbeit je nach Lebenssituationen finanziell unterstützt, was den verschiedenartigsten Biographien von Frauen entgegenkommt. 132 Virtuelle Unordnung im Geschlechterverhältnis 4.3. Individuelle Zeitsouveränität Statt über Arbeitszeitverkürzung wird zur Zeit viel über Arbeitszeitflexibilisierung gesprochen. Unternehmen teilen ihren Beschäftigten Arbeitszeiten nach betrieblichen Notwendigkeiten zu. In welchen Lebensphasen und Lebensformen sich die Beschäftigten gerade befinden, ob sie allein erziehen, ob und wie viele Kinder sie haben, wird kaum zur Kenntnis genommen. Häufig gelten familiäre Verpflichtungen, die die zeitliche Flexibilität begrenzen, als Einschränkung des betrieblichen Leistungsvermögens. Gerade bei der Arbeitszeitflexibilisierung wird deutlich, dass Erwerbsarbeit in der modernen Gesellschaft als eigenständiges System getrennt von der Familienwelt organisiert ist und sich gegen die Anforderungen der Familienwelt strukturell rücksichtslos verhält. Die weitere Flexibilisierung im Unternehmensinteresse führt so zu verschärften Abstimmungsproblemen zwischen Beruf und Familie. Soziale und zwischenmenschliche Beziehungen sind vom Problem einer permanenten Terminabstimmung geprägt. Insgesamt dehnt sich die von der beruflichen Sphäre bestimmte Zeit aus. Frauen werden noch mehr zum Puffer zwischen Betrieb und Familie. Wieder ausgehend von weiblichen Lebensmodellen ist neben und in Ergänzung der generellen Begrenzung der individuellen Erwerbsarbeit die Autonomie in der Arbeitszeitgestaltung wichtig. Unter Arbeitszeitautonomie oder individueller Zeitsouveränität werden die Einflussmöglichkeiten der Beschäftigten auf die Dauer, Lage und Verteilung der persönlichen Arbeitszeit verstanden. In einer Gesellschaft, in der sich unterschiedliche Lebensstile herausbilden, ist diese selbstbestimmte zeitliche Flexibilität entscheidend für Handlungsmöglichkeiten bei der Realisierung der eigenen individuellen Lebensentwürfe. Dreh- und Angelpunkt einer individuellen Zeitsouveränität ist allerdings deren Verbindung mit der generellen Begrenzung der durchschnittlichen Erwerbsarbeitszeit. Auch wenn dadurch die Zeitautonomie in der Erwerbsarbeitsdauer nach oben rigide begrenzt wird, führt nur in dieser Kombination individuelle Arbeitszeitflexibilisierung zu mehr individueller Freiheit und nicht mehr, wie beispielsweise heute bei der Teilzeitarbeit, zu Segregationsprozessen auf dem Arbeitsmarkt. Für Frauen ist wichtig, dass persönliche Zeitpräferenzen von der großen Mehrheit der Beschäftigten je nach persönlicher Lebenslage genutzt und in diesem Sinne ‚normal‘ werden. Dies ermöglicht, dass Frauen Gabriele Winker 133 in Zukunft über die individuelle Wahl unterschiedlicher Erwerbsarbeitszeiten nicht weiter in ihren beruflichen Karrieren beschnitten werden. Auf dem Hintergrund einer Höchstarbeitszeit von 25 Stunden pro Woche gehören individuell gestaltbare, zeitlich flexible Beschäftigungsformen auch nicht mehr nur ins Reich der Notwendigkeit zur Vereinbarkeit von Berufs- und Familienarbeit, sondern auch ins Reich der neuen Optionen, mit denen im eigenen Leben bewusst Schwerpunkte gesetzt werden können. Durch individuelle Zeitsouveränität lassen sich zum Beispiel in Abhängigkeit von der familiären Situation bewusst gemeinsame bzw. bewusst versetzte Arbeitszeiten der LebenspartnerInnen planen. Je nach Lebensphase ist auch eine vorübergehende Reduzierung oder Unterbrechung der Erwerbsarbeit realisierbar, die im größeren Maßstab vor- oder nachgearbeitet wird. Das Sabbatjahr-Modell ist beispielsweise im neuen Rahmen nicht mehr eine besondere Form der Teilzeit, sondern eine von vielen zeitlichen Optionen, mit der die begrenzte Erwerbsarbeitsmenge individuell, zeitlich souverän umgesetzt wird. Beschäftigte können über sechs Jahre mehr als die festgesetzte Wochenobergrenze arbeiten, um im siebten Jahr bei fortlaufendem Einkommen auszusetzen. Zur schrittweisen Umsetzung einer individuellen Zeitsouveränität bieten sich unterschiedliche Formen von Zeitkonten wie zum Beispiel Jahresarbeitszeitkonten an. Je größer der mögliche Ausgleichszeitraum ist, um so mehr wird die Regelarbeitszeit nur noch zu einer als Durchschnittswert definierten Größe. In einem solchen Fall besteht eine hohe Zeitautonomie. Damit rückt auch das eigentliche Arbeitsergebnis in den Vordergrund, und die konkrete Verteilung der hierfür aufgewendeten Zeitdauer wird für die Unternehmen sekundär, solange der eingeplante grobe Zeitrahmen eingehalten wird. Wichtig ist auch ein veränderter Umgang mit diesen Zeitkonten. Während bisher eine möglichst lange Anwesenheit mit Leistung gleichgesetzt wurde, gilt es in Zukunft, die Überschreitungen des Arbeitszeitbudgets auch aus betrieblicher Sicht zu sanktionieren und die Unterschreitungen als Zeichen produktiven Arbeitens positiv zu bewerten. Auch wenn die Individualisierung von Arbeitszeitgestaltung über hohe Attraktivität verfügt, so darf nicht übersehen werden, dass sie ohne kollektivrechtliche Flankierung zu einer Spielwiese für die Durchsetzung der Arbeitszeitinteressen von Stärkeren gegenüber Schwächeren – zwischen Unternehmensleitung und Beschäftigten, aber auch unter den 134 Virtuelle Unordnung im Geschlechterverhältnis Beschäftigten – wird. Denn es gibt eklatante Widersprüche zwischen einerseits betrieblichen Flexibilitätsanforderungen und andererseits individueller Autonomie zur Arbeitszeitgestaltung (Seifert 1996, S.442ff.). Die Mehrzahl der Beschäftigten in der Krankenpflege beispielsweise hat eine minimale Autonomie zur Arbeitszeitgestaltung trotz weitreichender Flexibilisierungsanforderungen. Deswegen bedarf es gemeinschaftlicher, kollektivrechtlich abgesicherter Regelungen, welche die Zeitsouveränität im Interesse und nach den Bedürfnissen der Beschäftigten stärken. Denkbar sind Selbstbestimmungsrechte über Arbeitszeiteinteilungen in teilautonomen Gruppen, wobei auf Gruppenbasis betriebliche Anforderungen wie zum Beispiel Öffnungszeiten abzudecken sind. Auch lässt sich ein Mix zwischen individuell festlegbaren Arbeitszeiten und einem Arbeitszeit-Korridor vorstellen, über den das Unternehmen verfügen kann. Zeitautonomie verlangt insofern nicht nach einer Deregulierung, sondern nach einer Stärkung kollektiver, gewerkschaftlicher Durchsetzungsmacht. Ein Beispiel ist das ÖTV-Projekt „Neue Zeitpraxis“ (ÖTV Argumente Nr.4, November 1997) bei dem auch über Zeit-Faktorisierung neu nachgedacht wird. So ist beispielsweise eine Nachtschicht wie anderthalb Tagschichten zu werten. Darüber hinaus könnten auch Zeitzuschläge für die Bereitschaft zur kurzfristigen Flexibilität vereinbart werden. 4.4. Individuelle Ortssouveränität Die räumliche Entkoppelung von Arbeitsprozessen wird auf dem Hintergrund immer besserer und kostengünstiger Netzleistung weiter zunehmen. Auch wenn mit Telearbeit keine grundlegende Veränderung der Organisation des Alltags und damit der Veränderung der Geschlechterrollen einhergeht, kann Ortsflexibilität Vorteile bringen (vgl. Brandt/Winker in diesem Band). Gerade im Rahmen einer Begrenzung der Normalerwerbsarbeitszeit und erhöhter Zeitsouveränität können bestimmte Formen von Telearbeit die Reintegration von Beruf und Familienalltag erleichtern. Die Bewertung der unterschiedlichen Telearbeitsmodelle ist allerdings noch recht schwierig. Ausgehend von weiblichen Lebensstilen lässt sich festhalten, dass eine umfassende Ortssouveränität von Interesse sein kann, in der auch kurzfristig ortsflexibel gearbeitet werden kann. Denn gerade für Men- Gabriele Winker 135 schen mit Familienpflichten ist es wichtig, je nach konkreter Lebenssituation zwischen der Telearbeit zu Hause und dem Tätigsein in der zentralen Betriebsstätte wechseln zu können. Ortssouveränität verbindet die Vorteile des zentralisierten sozialen Zusammenarbeitens im Team mit den Vorteilen der örtlichen Flexibilität für bestimmte Situationen und Tage. Individuelle Ortssouveränität ermöglicht zum Beispiel das Abarbeiten einzelner zeitlich drängender Tätigkeiten zu Hause im Krankheitsfall von Angehörigen. Da gerade Frauen ausreichend Erfahrungen mit spontanen Umdisponierungen im Familienbereich wegen kranker Kinder oder Angehöriger haben, wissen sie den Vorteil zu schätzen, bei Bedarf zeitflexibel zu Hause arbeiten zu können. Gleichzeitig bewerten gerade Frauen auch den kommunikativen Gewinn des Arbeitens im Team sehr hoch und sehen darin oft auch einen der Hauptgründe für die Erwerbstätigkeit. Gerade qualifizierte Aufgabenfelder wie Management, Programmierung, Forschung und Entwicklung, qualifizierte Sachbearbeitung usw. mit hohem Anteil an Informationsarbeit und mit einem hohen Grad an zeitlicher und inhaltlicher Autonomie, wie sie in der Informationsgesellschaft zunehmen werden, eignen sich für ortsungebundenes Tätigsein. Wichtig ist, dass bei der Telearbeit die kollektivrechtlichen Regelungen und damit der institutionell-rechtliche Rahmen des Arbeitsverhältnisses möglichst weitgehend gültig bleiben und nur auf ausdrücklichen Wunsch der Beschäftigten in Richtung Selbstständigkeit aufgelöst werden kann. 5. Verbesserung der Lebensqualität für Frauen und Männer Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass bei dem hier vorgeschlagenen Vorgehen das Ziel nicht mehr heißt, Frauenarbeit an das männlich orientierte Normalarbeitsverhältnis anzugleichen. Statt dessen werden weibliche Arbeits- und Lebensstile als Ausgangspunkt für die Modernisierung der Arbeitsverhältnisse in der Informationsgesellschaft begriffen. Sie lassen sich zwar bisher nur schwierig realisieren und sind mit großen Nachteilen vor allem in der sozialen Absicherung und der beruflichen 136 Virtuelle Unordnung im Geschlechterverhältnis Entwicklung verbunden, ermöglichen jedoch im Ansatz eine bessere Verbindung aller Lebensbereiche. Ausgehend von den weiblichen Arbeitsund Lebensbedingungen mit ihrer zunehmenden Pluralisierung konnten folgende Handlungsmöglichkeiten aufgezeigt werden: • • • generelle Begrenzung der durchschnittlichen Erwerbsarbeitszeit auf 30, mittelfristig 25 Wochenstunden, soziale Absicherung unabhängig von der Erwerbsarbeit, möglichst weitgehende individuelle Zeit- und Ortssouveränität. Mit einer generellen Erwerbsarbeitszeitverkürzung, einer erwerbsunabhängigen sozialen Absicherung, einer individuellen Zeit- und Ortssouveränität ist für Frauen und Männer eine deutlich bessere Verbindung von unterschiedlichen Lebensbereichen möglich, als dies heute der Fall ist, oder mit den Krücken der Teilzeit- und Teleheimarbeit erreicht werden soll. Unter diesen Voraussetzungen, bei denen Arbeit, Einkommen und Zeit unter dem Gerechtigkeitsaspekt neu verteilt werden, haben Frauen wie Männer nicht nur mehr Zeit für Reproduktionsarbeiten, sondern auch für die breiter definierte Eigenarbeit. Dann muss ehrenamtliche Arbeit auch nicht staatlich gefördert werden, wie bei der von Ulrich Beck in die Diskussion gebrachten „Bürgerarbeit“ (Kommission 1997, Teil III, S.146ff.). Ein tatsächlich freiwilliges soziales Engagement von BürgerInnen kann unter den dargestellten Bedingungen zur Bereicherung des Lebens beitragen. Schon heute lässt sich feststellen, dass ehrenamtliche Arbeit eben gerade nicht substitutiv, sondern eher komplementär zu einer Erwerbstätigkeit ist (DIW 4/1998, S.82ff.). Die Chancen zur Durchsetzung des dargestellten Modells stehen heutzutage gar nicht so schlecht, da auch bereits Männer von der ‚Feminisierung‘ der Erwerbsarbeit betroffen sind. Sie werden arbeitslos oder befinden sich in prekären Arbeitsverhältnissen, so dass sie ihrer traditionellen Ernährerrolle nicht mehr gerecht werden können, und auch für sie eine gerechtere Verteilung von – bezahlter und unbezahlter – Arbeit von Interesse sein könnte. Unter den Bedingungen einer rigide verkürzten Erwerbsarbeitszeit können Männer in die Reproduktionsarbeit einsteigen und Verantwortung für die Lebensgrundlage der nächsten Generationen übernehmen. Und dennoch wird das von mir skizzierte Modell nicht von heute auf morgen erreichbar sein, da die gesellschaftli- Gabriele Winker 137 che Redefinition des Stellenwerts der Erwerbsarbeit ein kultureller Prozess ist, der Zeit benötigt. Doch es kann ein zentraler Mosaikstein sein, der zur notwendigen, breit zu führenden Diskussion um die Zukunft der Arbeit einlädt. Komme ich also zu meiner Fragestellung vom Beginn zurück, so lässt sich festhalten, dass das Geschlechterverhältnis nicht virtuell, sondern ganz konkret und greifbar in Bewegung und damit in Unordnung gerät und diese Entwicklung weiter voranschreiten wird. Gleichzeitig enthält diese Bewegung, diese Unordnung eine Chance für die Emanzipation von Frauen. Und diese Emanzipation lässt sich als virtuell bezeichnen, da einerseits die Emanzipationschancen im Rahmen der sich entwickelnden Informationsgesellschaft zunehmen können. Andererseits, und viel wichtiger, verweise ich mit virtuell auf die potentielle Kraft, auf ein potentielles Vermögen, welches heute noch keine Gegenständlichkeit besitzt. Die Chance einer veränderten und gleichberechtigteren Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern ist aber „der Kraft oder Möglichkeit nach vorhanden“. Sie muss und kann von einer neu aktiv werdenden Frauenbewegung genutzt werden. Gefragt ist heute Phantasie, um auf dem Hintergrund neuer Flexibilisierungsanforderungen eine Informationsgesellschaft zu gestalten, in der morgen tatsächlich der Wunsch nach einem ‚besseren‘ Leben für beide Geschlechter Realität wird. Individualisierte Biographien für Frauen und Männer, in denen auf dem Hintergrund einer für alle Menschen reduzierten und abgesicherten Erwerbsarbeitsmenge zeitliche und räumliche Optionen realisiert werden, werden dann in der Zukunft zum festen Bestandteil einer hohen Lebensqualität gehören. Damit kann sich dann die virtuelle Unordnung im Geschlechterverhältnis zukünftig in eine gleichberechtigte Geschlechter-Ordnung verwandeln, die Frauen wie Männern genügend Platz für eine individuelle Lebensführung ermöglicht. 138 Virtuelle Unordnung im Geschlechterverhältnis Literatur Beck, Marieluise u.a.: Beschäftigungsorientierte Arbeitszeitpolitik: Bonus-Malus-System als Anreiz zur Verkürzung der Arbeitszeiten und zum Abbau von Überstunden. Antrag. Deutscher Bundestag, 13. Wahlperiode, Drucksache 13/7800, 3.6.1997 Beck Ulrich, Beck-Gernsheim, Elisabeth: Nicht Autonomie, sondern Bastelbiographie. Anmerkungen zur Individualisierungsdiskussion am Beispiel des Aufsatzes von Günter Burkhart. In: Zeitschrift für Soziologie 3/1993, S.178-187 Becker, Jörg; Salamanca, Daniel: Globale elektronische Netze und internationale Arbeitsteilung. In: Enquete Kommission (Hrsg.): Zur Ökonomie der Informationsgesellschaft. Perspektiven, Prognose, Visionen. Bonn: ZV Zeitungs-Verlag Service, 1997 Blanke, Karen; Ehling, Manfred; Schwarz, Norbert: Zeit im Blickfeld. Ergebnisse einer repräsentativen Zeitbudgeterhebung. Stuttgart, Berlin, Köln: Kohlhammer, 1996 Bundesanstalt für Arbeit (BA): Arbeitsmarkt 1996: Arbeitsmarktanalyse für die alten und neuen Bundesländer. In: Amtliche Nachrichten der Bundesanstalt für Arbeit, 45. Jg., Sondernummer, 13. Juni 1997 Bundesanstalt für Arbeit (BA): Arbeitsmarkt 1997: Arbeitsmarktanalyse für die alten und neuen Bundesländer. In: Amtliche Nachrichten der Bundesanstalt für Arbeit, 46. Jg., Sondernummer, 1998a (im Erscheinen) Bundesanstalt für Arbeit (BA): Geschäftsbericht 1997. Nürnberg, 1998b Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW): Multimedia: Beschäftigungszunahme im Medien- und Kommunikationssektor vielfach überschätzt. In: DIW-Wochenbericht 10/96 Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW): „Bürgerarbeit“: Kein sinnvoller Weg zur Reduzierung der Arbeitslosigkeit. In: DIWWochenbericht 4/98 Dietrich, Hans: Empirische Befunde zur „ScheinSelbstständigkeit“. IABWerkstattbericht 7/1996 Hoffmann, Edeltraut; Walwei, Ulrich: Beschäftigung: Formenvielfalt als Perspektive? Teil 1: Längerfristige Entwicklung von Erwerbsformen in Westdeutschland. In: IAB-Kurzbericht Nr. 2 vom 27.1.1998 Info 2000. Deutschlands Weg in die Informationsgesellschaft. Bericht der Bundesregierung, Bonn 1996 Kessler, Wolfgang: Wirtschaften im dritten Jahrtausend. Leitfaden für ein zukunftsfähiges Deutschland. Oberursel: Publik-Forum Verlagsgesellschaft mbH, 1996 Kohler, Hans; Spitznagel, Eugen: Teilzeitarbeit in der Gesamtwirtschaft und aus der Sicht von Arbeitnehmern und Betrieben in der Bundes- Gabriele Winker 139 republik Deutschland. In: Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung 3/95 Kommission für Zukunftsfragen der Freistaaten Bayern und Sachsen: Erwerbstätigkeit und Arbeitslosigkeit in Deutschland. Entwicklung, Ursachen und Maßnahmen. Teil I: Entwicklung von Erwerbstätigkeit und Arbeitslosigkeit in Deutschland und anderen frühindustrialisierten Ländern, Bonn 1996 und Teil III: Maßnahmen zur Verbesserung der Beschäftigungslage, Bonn, 1997 Kurz-Scherf, Ingrid: Das Patriachat als Organisationsform der Arbeit. In: Fricke, Werner (Hrsg.): Jahrbuch Arbeit und Technik 1990, Bonn, 1990 Kurz-Scherf, Ingrid: Krise der Arbeitsgesellschaft: Patriarchale Blockaden. Feministische Anmerkungen zu einem von Männern beherrschten Diskurs. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 8/1995a Kurz-Scherf, Ingrid: Zeit der Vielfalt – Vielfalt der Zeiten. Schriftenreihe der Senatsverwaltung für Arbeit und Frauen Nr. 11, Berlin, 1995b Mc Kinsey: Teilen und Gewinnen – Das Potential der flexiblen Arbeitszeitverkürzung, München, 1994 Ochs, Christiane: Mittendrin und trotzdem draußen – geringfügige Beschäftigung. In: WSI-Mitteilungen 9/1997 Rolf, Gabriele; Wagner, Gert: Alterssicherung in der Bundesrepublik Deutschland. Stand und Perspektiven. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 35/96, S.23-32 Schilling, Gabi; Bauer, Frank; Groß, Hermann: Arbeitszeiten, Arbeitszeitwünsche und Zeitverwendung in Deutschland. In: WSIMitteilungen 7/1996 Schnack, Dieter; Gesterkamp, Thomas: Hauptsache Arbeit. Männer zwischen Beruf und Familie, Reinbek, 1996 Seifert, Hartmut: Arbeitszeitkonten – Modelle für mehr Zeitsouveränität oder absatzorientiertes Zeitmanagement. In: WSI-Mitteilungen 7/1996 Statistisches Bundesamt (Hrsg.): Bevölkerung und Erwerbstätigkeit. Leben und Arbeiten in Deutschland – Mikrozensus 1997 –. Ergebnisse des Pressegesprächs am 14. Mai 1998 in Frankfurt am Main Thome, Rainer: Arbeit ohne Zukunft? München: Vahlen, 1997 Tischer, Ute; Doering, Gabriele: Arbeitsmarkt für Frauen. Aktuelle Entwicklungen und Tendenzen im Überblick. In: Informationen für die Beratungs- und Vermittlungsdienste der Bundesanstalt für Arbeit, ibv 8/98 vom 25.2.1998. 140 Frauen geben der Technik neue Impulse Ellen Sessar-Karpp 1. Hintergrund Der Strukturwandel unserer Gesellschaft ist in vollem Gange. Der Einsatz der neuen Medien, die Informations- und Kommunikationstechnologien (IuK) prägen ihn entscheidend, Ausbildungs-, Erwerbs- und Beschäftigungschancen verändern sich. Die Ausweitung des Dienstleistungssektors lässt sich beobachten, dabei werden neben den primären (einfachen) Dienstleistungen die höher qualifizierten (z.B. Forschen, Planen, Beraten) mehr und mehr wichtig. Informations- und wissensbasierte Tätigkeiten nehmen zu. Wesentlich bei diesen Veränderungen ist, dass die klassische Sektoreneinteilung (Landwirtschaft, Produktion, Dienstleistungen) sich auflöst und Dienstleistungstätigkeiten sich auch in den anderen Sektoren ausweiten („produktionsnahe Dienstleistungen“). Information wird zum vierten Produktionsfaktor. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesanstalt für Arbeit (BA), Nürnberg, stellt fünf Megatrends fest, die den Wandel der Arbeitswelt kennzeichnen: • Tertiarisierung: Entwicklung zur Dienstleistungsgesellschaft • Qualifizierung: mehr Bedarf an höherqualifiziertem Personal (Fachhochschul-, Hochschulabsolventen) • Informatisierung: Durchdringung aller Bereiche durch IuK; wobei die technisch verfügbaren Potentiale bis jetzt bei weitem nicht ausgeschöpft sind • Globalisierung • Individualisierung: Ablösung des „Normalarbeitsverhältnisses“ und Ausweitung differenzierter und flexibler Erwerbsarbeitsformen“ (Informationen für die Beratungs- und Vermittlungsdienste der BA - ibv - , Nürnberg, Nr. 13/99). 142 Frauen geben der Technik neue Impulse Bei dem Trend zu mehr Dienstleistungen sind Frauen nicht, wie sich vielleicht erwarten ließe, automatisch die Gewinnerinnen. So haben in den neuen Bundesländern – auf die ich mich bei den weiteren Ausführungen vorrangig beziehe - vor allem Frauen hier Arbeitsplätze verloren (mit Ausnahme des Handels, des Gastgewerbes und der Öffentlichen Verwaltung), während Männer gerade in den letzten Jahren (Statistik bis 1997) im Dienstleistungsbereich Gewinne verzeichnen konnten. 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0 1991 1995 Öffentliche und private Dienstleistungen Öffentliche Verwaltung Kredit- und Versicherungsgewerbe Verkehr und Nachrichtenübermittlung Handel und Gastgewerbe 1997 Dinestleistungen darunter: in Prozent Abbildung 1: Anteil der weiblichen Erwerbstätigen im Dienstleistungsbereich in den neuen Bundesländern im April 1991,1995,1997 in % 2. Frauen und (neue) technische Berufe Der Anteil technisch ausgebildeter Frauen in den neuen Bundesländern ist bekanntermaßen überdurchschnittlich hoch. So gab es in der DDR im Jahr 1989 531.000 Ingenieure, darunter 23 % Frauen (= 121.000 Personen). 40 % von ihnen hatten einen Hochschulabschluss, 60 % einen Fachschulabschluss. Trendmäßig stieg in der DDR der Anteil von Frauen mit Hochschulabschluss an. Ellen Sessar-Karpp 143 Ohne im weiteren auf den Verbleib der Ingenieurinnen nach der Wende näher einzugehen (Verringerung ihrer Erwerbszahlen, Aufnahme artfremder oder unterqualifizierter Tätigkeiten, Pendler in die alten Bundesländer, Übergang in Fort- oder Umschulungsmaßnahmen oder auch in Selbstständigkeit), lässt sich hier in jedem Fall ein qualifiziertes Potential erkennen, das damit für die strukturellen Veränderungen gut vorbereitet sein sollte. Dieses Potential wird ganz allgemein Frauen zugeschrieben, verfügen sie doch über die wichtigen Fach-, Sozial- und Methodenkompetenzen, die bei den neuen Berufen, insbesondere auch den Mischberufen, erforderlich sind. Abbildung 2: Ausbildungsverträge Stand 31.12.1997 Neue Ausbildungsberufe in Kraft seit Mitte insgesamt Frauenanteil 1996 bzw. 1997 in Prozent Werbe- und Medienvorlagehersteller/in 1.688 56 Film- und Videoeditor/in 36 56 Mediengestalter/in in Bild und Ton 500 28 Informations- und Telekommunikationselekt1.485 5 roniker/in Fachinformatiker/in 1.783 12 Informationsund Telekommunikations756 26 kaufmann/-kauffrau Informatikkaufmann/-kauffrau 772 24 Quelle: Bundesanstalt für Arbeit/RBF 2/99, DIHT. Die Zahlen von Frauen in technischen Bereichen sind allerdings gerade in den sensiblen Zukunftsbereichen wie Informatik und Elektrotechnik und (für die neuen Bundesländer) in den Ingenieurwissenschaften insgesamt rückläufig. Waren mit Aufnahme der Informatik als Studiengang Frauen daran etwa mit 18 % beteiligt, so liegt ihr Anteil heute bei ca. 12 %. Unter den InformationselektronikerInnen sind 5 % Frauen, bei den Informations- und Tele-Kommunikationskaufleuten sind rund 25 % Frauen. Insgesamt nutzen Frauen die neuen Ausbildungsberufe (ITSystem-ElektronikerIn; FachinformatikerIn; IT-System-Kaufmann/ -Kauffrau; Informatikkaufmann/-frau) wie auch techniknahe Weiterbildungsangebote von erheblich weniger als (junge) Männer. 144 Frauen geben der Technik neue Impulse Frauen arbeiten weniger in sogenannten Computer-Kernberufen und setzen an ihren Arbeitsplätzen Computer eher als Werkzeuge denn zur Technikgestaltung ein. Abbildung 3: Erwerbstätige in Computer-Kernberufen in Deutschland Berufe Frauenanteil in Prozent Insgesamt (327.700) 23 Alte Bundesländer (297.000) 21 Neue Bundesländer (30.700) 41 Anwendungssoftwaretechniker/innen 40 Datenverarbeitungsfachleute 31 Rechenzentrums- und DV-Benutzerservicefachleute 24 Datenverarbeitungskaufleute 23 Sonstige Datenverarbeitungsfachleute 22 Softwareentwickler/innen 20 Softwareentwickler/innen, allgemein 19 Informatiker/innen o.n.A. 18 DV-Beratungs- und Vertriebsfachleute 17 DV-Organisatoren/Organisatorinnen 16 Systemsoftwareentwickler/innen 12 DV-Leiter/innen 11 Quelle: Bundesanstalt für Arbeit/RBF 2/99, Mikrozensus 1993, Dostal MatAB, 2/1996. Auch Telearbeit wird überwiegend von Männern ausgeübt, nur etwa ein Drittel der telearbeitenden Personen sind Frauen. Dieser erwartungswidrig geringe Anteil wird in der Forschung mit dem hohen Anteil mobiler Telearbeit erklärt, der überwiegend von männlichen Außendienstlern wahrgenommen wird. Frauen sind eher in den Bereichen der alternierenden Telearbeit oder in Teleheimarbeit zu finden, beides Bereiche, die insgesamt zahlenmäßig nicht sehr ins Gewicht fallen. Und wo sind die Frauen im Netz? In den USA entwickelt sich gerade das Internet zu einem von Frauen sehr angenommenen Medium. In Deutschland gibt es auch steigende Zahlen; so handelt es sich um schätzungsweise 20 Prozent aller Frauen, die sich in unserem Land gegenwär- Ellen Sessar-Karpp 145 tig mit dem Internet beschäftigen. Das Interesse von Frauen scheint durchaus gegeben, wie die ersten Ergebnisse der Aktion „Frauen ans Netz“ zeigen. Und es sind nicht nur Anwenderinnen, sondern es gibt auch gestaltende Initiativen von Frauen als Webgirls oder Providerinnen. Aber eine befriedigende Situation ist es nicht und zukunftsorientiert ist sie auch nur in Ansätzen. 3. Frauen geben Technik neue Impulse – Initiativen und Strategien Seit Jahren engagieren sich Frauen in vielfältiger Weise, um auf die neuen Entwicklungen in der Arbeitswelt und Gesellschaft hinzuweisen und junge Frauen zu motivieren, sich für technische Berufe zu entscheiden. Die FrauenTechnikZentren, von denen das erste in den neuen Bundesländern 1990 in Leipzig gegründet wurde, sind nur ein Beispiel für solche Aktivitäten von Frauen. Ein weiteres ist die bundesweite Initiative „Frauen geben Technik neue Impulse“: hier soll kurz dargestellt werden, um was es geht und welche konkreten Handlungsfelder bearbeitet werden. Die Initiative „Frauen geben Technik neue Impulse“ ist eine Gemeinschaftsaktion des Bundesministerium für Bildung und Forschung, der Bundesanstalt für Arbeit und der Deutschen Telekom, die Anfang der 90er Jahre aufgrund der oben beschriebenen Situation ins Leben gerufen wurde. Sie setzte die Bemühungen fort, die Ende der 70er Jahre in der damaligen Bundesrepublik unter dem Motto „Mehr Mädchen in gewerblich-technische Berufe“ gestartet wurden. Die Koordinierungsstelle der Initiative hat seit 1996 ihren Sitz an der Fachhochschule Bielefeld. Ziel der Initiative ist es, den Anteil von Frauen in technischen Berufen und Studiengängen zu erhöhen. Hierzu erledigt sie komplexe Aufgaben: • Erfassung und Bündelung der Interessen der aktiven FrauenTechnik-Netzwerke, Projekte und Verbände • Angebot der Koordinierungsstelle als Dienstleister • Umfangreiche Öffentlichkeitsarbeit (Broschüren, Schriftenreihen, Fachveranstaltungen, Messepräsenz u.a.) 146 • • Frauen geben der Technik neue Impulse Entwicklung neuer Ansätze, z.B. Anregungen für die Weiterentwicklung neuer technischer Studiengänge, die Frauen ansprechen Präsenz im Internet und Bereitstellung einer Datenbank. Abbildung 4: Am Arbeitsplatz genutzte Software – in Prozent der Befragten mit EDV Softwarekategorie Männer Frauen Textverarbeitung 55,8 63,2 Datenbank- Informationssysteme 58,3 46,1 Buchhaltungs- und Abrechnungssysteme 26,2 37,9 Tabellenkalkulations- und Statistiksysteme 41,7 35,2 Sonstige Softwaresysteme 27,1 22,1 Buchungs- und Bestellsysteme 19,9 20,8 Finanz- und Börsensysteme 12,3 13,6 Programmiersysteme 16,0 8,8 Fertigungsorientiere Systeme 20,9 7,9 DTP, Grafiksysteme 12,3 5,6 Bild- und Videobearbeitungssysteme 8,3 5,4 CAD-Systeme 11,6 3,4 Quelle: Bundesanstalt für Arbeit/RBF 2/99, Sonderauswertung aus der IAT-Beschäftigtenbefragung 1995/1996, NRW 1997. Durch das Bestehen der Koordinierungsstelle ist eine Vernetzung der am Thema arbeitenden und interessierten Personen und Einrichtungen gelungen. In zahlreichen, in der Öffentlichkeit beachteten Veranstaltungen wurden die brennenden Probleme vorgestellt und neue Themen aufgegriffen. So fand zum Beispiel hier in Leipzig im vergangenen Jahr das dritte überregionale Expertinnengespräch mit dem Thema „Strategien des beruflichen Auf- und Wiedereinstiegs von Frauen in Technik und Wirtschaft“ (23.-24.11.1998) statt, wobei es wesentlich darum ging, dem Verfall der vorhandenen technischen Qualifikationen von Frauen aus den neuen Bundesländern entgegenzuwirken. Gerade im Zusammenhang mit dem letzten Thema möchte ich als weiteres Beispiel schließlich noch auf das Technologie- und Beratungszentrum für Frauen im Leipziger Landkreis hinweisen. Diese Einrichtung, die 1995 zunächst als europäisches Modellprojekt entstand, hat mit Ellen Sessar-Karpp 147 dem Einzug in das Göselhaus in Dreiskau-Muckern, an der Tagebaukante südlich von Leipzig, einen längerfristigen Standort bezogen. Die im Haus ansässigen Vereine und Unternehmen haben es sich zur Aufgabe gemacht, Frauen - vorrangig aus technischen Berufen - bei ihren Bemühungen, wieder auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, zu unterstützen. Das Göselhaus verfügt über eine Infrastruktur, die mindestens der üblicher Technologiezentren vergleichbar ist (gut ausgestattete Büro- und Veranstaltungsräume mit erforderlicher Technik, günstige Nutzungskonditionen, gastronomische Versorgung, Testlaborräume, ggfs. Kinderbetreuung). Darüber hinaus kann das Knowhow der Mitarbeiterinnen genutzt werden, um Kontakte zu knüpfen, Zugang zu Netzwerken zu erhalten und durch Synergien den eigenen Zielen näher zu kommen. 4. Ausblick Die Wirtschaft braucht die Frauen und die Technik braucht die Frauen! Damit Qualität im Sinne nachhaltiger gesellschaftlicher Entwicklung vorangebracht wird. Welche Konsequenzen sind daraus zu ziehen? Ansätze und erfolgreiche Beispiele aus gelungener Förderung technischer Interessen von Mädchen und Frauen und hinsichtlich ihres Ausbildungswahlverhaltens sind auszuwerten und in flächendeckende Umsetzungsmodelle zu übertragen. Was nützen die bald zahllosen Berichte und Empfehlungen, wenn ihre Erkenntnisse nicht in konkretem Handeln münden? In dem Zusammenhang möchte ich auf die Koedukationsforschung hinweisen, die an vielen Beispielen gezeigt hat, was Mädchen hindert, sich für Technik zu interessieren bzw. ihr (verborgenes) Interesse zu aktivieren. Ich beziehe mich auf neue technische Studiengänge, die von Frauen sehr angenommen werden, zum Beispiel an der FH Bielefeld die neue Studienrichtung „Energieberatung und -marketing“. Diese steht im Rahmen des Elektrotechnikstudiums für fünf Jahre erprobungsweise ausschließlich Frauen zur Verfügung und wird sehr nachgefragt. Mit dieser neuen Studienrichtung konnte der Anteil von Frauen an der ETechnik der FH Bielefeld bereits auf 25 % gesteigert werden. Im Durch- 148 Frauen geben der Technik neue Impulse schnitt liegt ihr Anteil an allen Studienanfängern in diesem Fach allgemein nur bei ca. 5 %. Fragen möchte ich nach den Lehren, die aus der Situation von Frauen in technischen Berufen der ehemaligen DDR gezogen werden können? Diese scheinen mir bislang noch zu wenig ausgewertet zu sein. Sie könnten Hinweise darauf geben, mit welchen Mitteln Mädchen für technische Richtungen interessiert wurden, welche Rolle dabei u.a. Mütter und Väter, Lehrerinnen und Lehrer spielten und inwieweit evtl. auch die beruflichen Aussichten motivierten. Wichtig erscheinen mir weiter folgende Aktivitäten: ein verstärktes Einsetzen weiblicher Vorbilder (Mentorinnenmodell) und eine noch intensivere Netzwerkbildung. Erforderlich sind auch noch mehr Flexibilität und Ideen bei den Bemühungen, vorhandene technische Qualifikationen und Kompetenzen von Frauen zu nutzen, zu fördern und die Wirtschaft darauf aufmerksam zu machen, dass das fehlende Arbeitskräftepotential in technischen Bereichen aufgrund der demographischen Situation nur von Frauen kommen kann. Wirtschaftsnahe Wiedereinstiegsmodelle für arbeitslose Ingenieurinnen sollten auf den Weg gebracht, internationale Erfahrungen dabei verwendet werden. Technische Ausbildungen und die neuen Berufe sollten allen Mädchen frühzeitig nahegebracht und ihr Interesse daran geweckt werden. Hierin liegt eine verantwortungsvolle Aufgabe für Eltern, Schulen, Berufsberatungspersonal, Ausbildungseinrichtungen und Hochschulen. Entscheidend sind meiner Meinung nach allerdings die Signale des Arbeitsmarktes. Welches Mädchen entscheidet sich für ein ingenieurwissenschaftliches Studium, wenn ihre Mutter arbeitslose Ingenieurin ist. Es geht also darum, noch mehr Vertreter der Wirtschaft und Arbeitgeber für das Thema zu interessieren. Es geht uns alle an, welche Zukunftsperspektiven jungen Frauen eröffnet werden. Neues Engagement ist gefragt von allen Seiten. Professionelle Arbeits- und Berufsfelder Entwicklungschancen für Frauen in den neuen Bundesländern. Selbstständigkeit in Freien Berufen als erfolgversprechende Alternative Karin Hildebrandt 1. Ausgangsbedingungen Der Strukturwandel zur Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft führt zu gravierenden Veränderungen im Zusammenleben und der Zusammenarbeit der Menschen. Insbesondere der im Verlauf des ostdeutschen Transformationsprozesses sich vollziehende gesellschaftliche und wirtschaftliche Wandel wirkte und wirkt sich dramatisch auf die Arbeitsmarkt- und Beschäftigungssituation der ostdeutschen Bevölkerung und hier besonders auf die Situation der Frauen aus. Hohe Arbeitslosigkeit und zunehmender Beschäftigungsabbau in den neuen Bundesländern gehen einher mit gravierenden beruflichen Veränderungen in den unterschiedlichsten Berufs- und Tätigkeitsfeldern (Vgl. Bläsche/Gensior 1998: 78). Vom Arbeitsplatzabbau Anfang der 90er Jahre war zunächst das produzierende Gewerbe mit seinem hohen Männeranteil in Ost- und Westdeutschland stärker betroffen als der Dienstleistungsbereich, indem der überwiegende Teil der Frauen tätig war und ist. Während allerdings in Westdeutschland vor allem Männer freigestellt wurden, kam es in Ostdeutschland insbesondere zwischen 1991 und 1995 bei Frauen zu größeren Arbeitsplatzverlusten als bei Männern. Anders als in Westdeutschland waren in Ostdeutschland auch im Dienstleistungsbereich Frauen die Verliererinnen am Arbeitsmarkt (vgl. IAB-Kurzberichte 1997, Heft 9, S.1). „Gerade im Rahmen des ostdeutschen Transformationsprozesses laufen sozusagen im ‘Zeitraffer’ Umstrukturierungsprozesse ab„, die „so- 150 Professionelle Arbeits- und Berufsfelder wohl Tendenzen der Reprofessionalisierung als auch der Deprofessionalisierung beinhalten können„ und sich besonders in professionellen Berufsfeldern zeigen. „Die durch die gesellschaftlichen Veränderungen zugleich erzeugte Modernisierung der verschiedenen professionellen und sich professionalisierenden Berufsfelder fördert nicht nur Entwicklungs- und Innovationspotentiale, sondern kann auch zu vielfältigen ökonomischen und sozialen Problemen führen, wenn z.B. die Wettbewerbssituation ungünstig ist, die nachholende inhaltliche Neuorientierung und arbeitsorganisatorische Stabilisierung nur schwer gelingt und Konkurrenz und Kooperation nicht ins richtige Lot geraten„ (Bläsche/Gensior 1998: 80). Aus beschäftigungssoziologischer und Gender - Perspektive erscheinen in diesem Zusammenhang die Entwicklungen und Veränderungen im Bereich der Einsatzfelder hochqualifizierter professioneller Berufe von besonderem Interesse. Denn „in den neuen Bundesländern kann als Voraussetzung und Folge des Transformationsprozesses von einer Restrukturierung der Arbeit in professionellen Berufsfeldern gesprochen werden; ein zunehmender Aufschwung im Bereich der ‘Freien Berufen’ bestätigt dies„ (Bläsche/ Gensior 1998: 78). Aufgrund des hohen Qualifikationsniveaus der Frauen in den neuen Bundesländern, ihrer nicht abnehmenden Erwerbsorientierung und des weiterhin vorhandenen hohen Stellenwertes der Erwerbstätigkeit können diese Berufsfelder zunehmend auch als Chance für Frauen angesehen werden. Hier setzt auch die Forschung an, die am Lehrstuhl für Wirtschafts- und Industriesoziologie der BTU Cottbus mit dem Projekt „Selbstständige in Dienstleistungsberufen„ begonnen wurde. Am Beispiel von typischen Professionen - der Anwälte, Architekten, Steuerberater und im DV- Dienstleistungsbereich - wird die Rekonstruktion hochqualifizierter Arbeits- und Berufsfelder in den neuen Bundesländern nachgezeichnet, die vor allem zum Bereich der Freien Berufe zählen. Diese Forschung knüpft damit an eine in der jüngeren Vergangenheit in der Bundesrepublik wenig weitergeführten Diskussion struktureller Bedingungen professioneller Berufe in modernen Gesellschaften an (vgl. Bläsche/Gensior: ebenda). Mit dieser Untersuchung wollen wir auch der Frage nachgegangen, wo Chancen und Risiken weiblicher Selbstständiger Erwerbsarbeit in professions- und organisationsbezogener Perspektive sind? Wie sich die Situation der Frauen in den Freien Berufen entwickelt und welche Entwicklungslinien weiblicher Erwerbstätigkeit sich dabei erkennen lassen? Karin Hildebrandt 151 Betrachten wir die gesellschaftlichen Entwicklungen, so ist davon auszugehen, dass Erwerbsarbeit weiterhin das Leitbild der Gesellschaft prägen wird - insbesondere in den neuen Bundesländern, allerdings bei einem radikalen strukturellen Wandel auf der sektoralen Ebene infolge der Globalisierung. Der Wandel bringt einerseits eine Konzentration auf hochwertige technologische Produkte und andererseits eine Konzentration im Dienstleistungssektor hervor. Insgesamt hohes subjektives Interesse an einer existenzsichernden Erwerbsarbeit ist bei Männern und Frauen im Osten weiter stark ausgeprägt (vgl. Wagner, 1999: 14). Aus allen Untersuchungen zum Transformationsprozess geht deutlich hervor, dass Frauen in den neuen Bundesländern ungebrochen an der Erwerbsarbeit festhalten, dass hierbei weiterhin erhebliche Unterschiede in Ost- und Westdeutschland bestehen, aber auch, dass ein Verdrängungskampf (auch im Dienstleistungssektor) zu ungunsten der Frauen begonnen hat - wie aus den Untersuchungen von Nickel zum Finanzdienstleistungsbereich hervorgeht. „Gleichzeitig haben die Konkurrenzen unter den Frauen zugenommen und Prozesse sozialer Differenzierung zeigen bereits ihre Wirkung„ (Nickel/Völker/Hüning 1998: 6). Wie sich aber diese hohe Erwerbsorientierung der Frauen auch in reale Chancen auf dem Arbeitsmarkt umsetzen kann, soll anhand der möglicherweise erfolgversprechenden individuellen Handlungsstrategien von Frauen, nämlich der Option der beruflichen Selbstständigkeit, näher betrachtet werden. Ich formuliere dies bewusst so vorsichtig, weil dazu wenig Untersuchungen vorliegen und diese dann häufig das Geschlecht unbeachtet lassen bzw. meist nur die Erfolgreichen einbeziehen. 152 Professionelle Arbeits- und Berufsfelder 2. Entwicklung der Selbstständigkeit und der Professionen in Freien Berufen in der DDR und den neuen Bundesländern 2.1. Einordnung der Selbstständigen in Freien Berufen und Definition „Professionen im klassischen Sinne werden als ‘Freie Berufe’ bezeichnet und sind dem Bereich der Selbstständigen Erwerbsarbeit zu zuordnen. Im Zuge der Wandlungsprozesse in der sich modernisierenden Berufswelt wurde der Professionalisierungsbegriff auch auf hochqualifizierte Tätigkeiten im abhängigen Erwerbsbereich angewandt„ (Bläsche/Gensior 1998: 79); wobei sich bei der statistischen Darstellung der Entwicklung der Freien Berufe das Problem der Abgrenzung zeigt (Abb. 1). „Freiberufler erbringen ihre Leistungen in persönlicher und sachlicher Unabhängigkeit von privaten und staatlichen Weisungen oder Anordnungen. Als wesentliches Merkmal werden persönliche individuelle Leistungen erbracht, deren Ergebnisse ihrem Wesen nach Unikate sind. Der Freiberufler handelt als Experte mit qualifizierter (gewöhnlich akademischer) Ausbildung und hoher fachlicher Kompetenz, der seine Fähigkeit einem Dritten zur Lösung von dessen Problemen zur Verfügung stellt. Die Basis der Leistungserbringung bildet ein besonderes wechselseitiges Vertrauensverhältnis, dem angesichts nicht immer vorhersagbarer Ergebnisse der Leistung (z. B. ärztlicher Behandlung, juristischer Beratung) eine besondere Bedeutung zu kommt„ (IAB-Kurzbericht 1997, Heft 11, S.8). Für den Einzelfall gestaltet sich eine eindeutige Zuordnung zum Kreis der Freien Berufe oft als komplexe (steuer-) rechtliche und berufssoziologische Herausforderung, zu deren Bewältigung die jeweilige Tatbestandsvielfalt beruflicher Wirklichkeit und deren stetiger Wandel berücksichtigt werden muss. Karin Hildebrandt 153 Abbildung 1: Einordnung der Selbstständigen in Freien Berufen in die Gruppe der Erwerbstätigen Erwerbstätige Abhängige Beschäftigte Beamte Αrbeiter Angestellte (z. B. auch in freien Berufen) Selbstständige Gewerbe/ Gewerbetreibende Freiberufler Mithelfende Familienmitglieder Selbstständige in der Landwirtschaft Heilkundliche Berufe Rechts- und wirtschaftsberatende Berufe (Anwälte, Steuerberater) Technische und naturwissenschaftliche Berufe (Architekten, DVDienstleistungsbereich) Pädagogische und übersetzende Berufe Publizistische und künstlerische Berufe Quelle: Eigene Zusammenstellung. In: Bläsche/Gensior/Hildebrandt 1999. Den Kern der Freien Berufe bilden die sog. „Katalogberufe„ entsprechend den Regelungen im Einkommenssteuergesetz (Anlage 1). Daneben werden in individueller Rechtsprechung „den Katalogberufen ähnliche Berufe„, die teils auch gewerblich ausgeübt werden können, als Freie Berufe klassifiziert (wie z. B. medizinische Bademeister, Rechtsbeistand, Gartenarchitekt, Unternehmensberater). Die Berufsforschung unterscheidet darüber hinaus noch sog. „Schwellenberufe„ (wie 154 Professionelle Arbeits- und Berufsfelder Infobroker, PR-Berater), die in wesentlichen Teilen sowohl in gewerblicher als auch freiberuflicher Form ausgeübt werden können und in „potentielle Freie Berufe„ (Umweltgutachter, Berufsbetreuer), die dem Spektrum der Freien Berufe noch nicht explizit zugeordnet werden, jedoch aufgrund der Erfüllung aller entscheidenden Kriterien für die Bestimmung der Freiberuflichkeit diesen zugeordnet werden (vgl. dazu Oberlander 1997), was in der Endkonsequenz die statistische Erfassung erschwert. Selbstständige in Freien Berufen sind Erwerbstätige, die sich durch Arbeits- und Qualifikationsanforderungen auszeichnen. Sie sind geprägt durch • hohe Professionalität • Verpflichtung gegenüber dem Gemeinwohl/Standespflichten • strenge Selbstkontrolle und • Eigenverantwortlichkeit/Unabhängigkeit • persönliche Beziehungen 2.2. Selbstständige in der DDR - ein Exkurs Die Freien Berufen und die Selbstständigen spielten in der DDR, im Vergleich zur alten Bundesrepublik, nur eine geringe Rolle. Freie Berufe hat es, in der nach den in der Bundesrepublik existierenden Definitionen, noch in weit geringerem Maße gegeben als es die amtliche Statistik auswies. Es wurde davon ausgegangen, dass nur ca. 2.000 der 16.000 in der DDR registrierten Freiberufler den Anforderungen der in der BRD geltenden Zugehörigkeitsbestimmungen entsprachen. Charakteristisch war, dass sie einerseits in hohem Maße staatlich kontrolliert waren und andererseits gleichzeitig in bestimmten Phasen in ihrer Entfaltung teilweise wieder begünstigt wurden. In der Folge dieser Entwicklung war das Durchschnittsalter der Freiberufler in der DDR meist hoch, was bei einem Fortbestand der DDR dazu geführt hätte, dass die Zahl weiter gesunken wäre. Selbstständige in Freien Berufen der DDR hatten einen relativ niedrigen sozialen Status; er korrespondierte mit einem geringen Einkommen. Die sogenannte „freischaffende Intelligenz“ in den Freien Berufen wurde vor allem über das Steuerrecht der DDR, in dem die Freien Berufe eine Sonderstellung18 18 § 18 EstG (1): Einkünfte aus Selbstständiger Tätigkeit sind: 1. Einkünfte aus Freien Karin Hildebrandt 155 einnahmen, definiert, in dem das ‘Schöpferische‘ und die ‚Konstruktivität‘ als Wesensmerkmale galten, während andere Elemente der Ausübung des Berufes (Eigenverantwortung, besonderes Vertrauensverhältnis) keine Erwähnung fanden. Der Freie Beruf wurde in der DDR wie folgt definiert: „Freiberuflich tätige Personen, die der Verordnung über die Besteuerung der Berufsgruppen freiberuflich Tätiger unterliegen und diese Tätigkeit hauptberuflich ausüben. Dazu gehören auf kulturellem, pädagogischem, künstlerischem und schriftstellerischem Gebiet Tätige wie z.B. Musiker, Lehrer, Schriftsteller, Übersetzer, aber auch im Gesundheitswesen und in anderen Bereichen Praktizierende wie Ärzte, Zahnärzte, Tierärzte, Ingenieure, Architekten, Reiseleiter. Nicht hierzu zählen: Im Arbeitsverhältnis stehende Berufstätige, die auf den angeführten Gebieten nur nebenberuflich tätig sind, sowie alle sonstigen auf eigene Rechnung ein Gewerbe ausübenden Berufstätigen, deren Tätigkeiten Produktions-, Handels- oder Dienstleistungscharakter trägt (Blumenverkäufer, Straßenhändler u.s.w.).“ (Staatliche Zentralverwaltung für Statistik der DDR 1975) Zu verweisen ist darauf, dass es bei einer Reihe von Freien Berufen trotz der grundlegenden Unterschiede im Gesellschaftssystem durchaus weitreichende Kontinuität gibt, während andere in der veränderten Aufgabenstellung neu entstanden und einige zum Teil erhebliche fachliche Gegensätze aufweisen, wie Rechtsanwälte und Notare. Aber auch bei Berufen mit komplementären Berufsbezeichnungen waren die fachlichen Anforderungen sehr unterschiedlich. Eine Reihe von Freien Berufen, die in der Bundesrepublik eine bedeutende Rolle spielen, gab es in der DDR nicht oder nur mit erheblich abweichenden Tätigkeitsprofilen, wie z.B. Wirtschaftsprüfer und Steuerberater. Berufe wie Unternehmensberater hatten beispielsweise in der Planwirtschaft keinen Platz. Andererseits wurden in der DDR Berufe ausgebildet, die in der BRD in unmittelbarer Form nicht ausgeübt wurden (z. B. Veterinäringenieur). Die Zahl der Freien Berufe wird in der amtlichen Statistik der DDR Berufen. Zu den Freien Berufen gehören insbesondere wissenschaftliche, künstlerische, schriftstellerische, unterrichtende oder erzieherische Tätigkeit, die Berufstätigkeit der Ärzte, Rechtsanwälte und Notare, der Ingenieure, der Handelschemiker, der Dentisten, der Steuerberater, der Buchsachverständigen und ähnlicher Berufe. 156 Professionelle Arbeits- und Berufsfelder seit dem Jahr 1952 ausgewiesen. Ihre Zahl betrug nicht mehr als 60.000. Ab dem Jahr 1952 wurde die Auflösung der freiberuflichen Strukturen zugunsten der staatlichen Einrichtungen konsequent vorangetrieben (so durch die Zurückdrängung der privaten Architekten- und Ingenieurbüros, die Aufnahme der Juristen in die Anwaltskollegien). Bereits im Jahr 1953 wurden 14.000 Freiberufler weniger registriert. Nach dem ersten Rückgang der Anzahl der Freiberufler erfolgte bis zum Jahr 1955 wieder ein Anstieg, der im Zusammenhang mit den Zugeständnissen an die Intelligenz infolge der Ereignisse des 17. Juni 1953 sowie mit Steuervergünstigungen für einige Freie Berufe zu sehen ist. Nach 1955 ging die Zahl der Freiberufler infolge der Verstaatlichung bis 1979 stetig zurück (Abbildung 2). Nach 1979 stieg die Zahl wieder leicht an. Im Jahr 1989 wurden im Vergleich zum Vorjahr zusätzlich 3.000 Freiberufler mehr registriert, insbesondere im Kulturbereich. Damit beschränkte sich die Rekonstruktion freiberuflicher Strukturen vor allem auf den kulturellen Bereich. Im Oktober 1990 gab es 16.000 Freiberufler, von denen die Mehrzahl künstlerischen und publizistischen Berufsfeldern zuzuordnen ist. Differenzierungen nach dem Geschlecht liegen nicht vor. Die Selbstständigenquote in der DDR lag bei 1,4 % (Dietrich 1993: 202). Im Jahr 1991 wurde bei der Zahl der freiberuflich Tätigen das Niveau von 1952 erreicht. Karin Hildebrandt Abbildung 2: Zahlenmäßige Entwicklung der Freien Berufe in der DDR bzw. in den neuen Bundesländern im Zeitraum 1952 bis 1993 Quellen: Statistische Jahrbücher der DDR (1952 bis 1989), Institut für Freie Berufe Nürnberg (1990 bis 1993). 157 158 Professionelle Arbeits- und Berufsfelder 2.3. Entwicklung der Freien Berufe in den neuen Bundesländern Abbildung 3: Entwicklung der Existenzgründungen von 1991 bis 1995 „Die in der ostdeutschen Gründungsforschung19 festgestellte sprunghafte 19 Untersuchungen über das ostdeutsche betriebliche Gründungsgeschehen nach der politischen Wende 1989 sind u.a. in folgenden Forschungsarbeiten thematisiert: Claus, T. u.a. 1996; Hinz, T. u.a. 1992 u. 1994; Klandt, H./ Brüning, E. 1996; Valerius, Karin Hildebrandt 159 Zunahme von Existenzgründungen und ‘Freien Berufen’ nach dem Jahre 1989 in den neuen Bundesländern impliziert einen enormen Entwicklungsprozess von der abhängigen zur Selbstständigen Erwerbsarbeit. ...Insbesondere innerhalb professioneller Tätigkeitsfelder bleibt dieser Prozess nicht ohne Folgen, es entstehen neuartige Formen von Arbeitsorganisationen“ (Bläsche/Gensior 1998: 79/80). Im Vergleich zur Gründungsforschung sind die Untersuchungen zu den Freien Berufen selten. Tabelle 1: Entwicklung der Selbstständigen in Freien Berufen im Zeitraum 1991 – 1998 Jahr BRD 1991 458. 429 Alte Bundesländer 437. 496 Neue Bundes- Anteil NBL länder 20. 933 4,6 % 1992 513. 561 453. 806 59. 755 11,6 % 1993 532. 894 467. 620 65. 274 12,3 % 1994 553. 000 481. 900 70. 900 12,9 % 1995 564. 000 492. 600 71. 400 12,7 % 1996 576. 500 502. 700 73. 800 12,8 % 1997* 637. 000 515. 000 76. 000 12,9 % 1998 646. 000 561.000 85. 000 13,2 % Quelle: Eigene Zusammenstellung nach Angaben des Instituts für Freie Berufe Nürnberg (1998) * Aufgrund von veränderter statistischen Ausweisungen mussten 2000 Freiberufler aus den neuen auf die alten Bundesländer übertragen werden. Die Zahl der Selbstständigen in Freien Berufen in den neuen Bundesländern ist seit dem Jahr 1990 von ca. 16.000 auf 85.000 im Jahr 1998 angestiegen (Tabelle 1). Sie weisen ein stärkeres Wachstum auf als die übrigen Selbstständigen, denn insbesondere aufgrund der Marktlage waren Existenzgründungen in Freien Berufen erfolgreicher als im geG./ Wolf-Valerius, P. 1993. 160 Professionelle Arbeits- und Berufsfelder werblichen Bereich. Dies entspricht dem Trend, der sich für die gesamte Bundesrepublik zeigt (Abbildung 4). Da die Selbstständigen in den Freien Berufen der DDR kaum eine Rolle spielten, verdeutlichen die Zahlen, dass ein beachtlicher Nachholund Aufholprozess vonstatten ging (Tabelle 1), der auf die Deckung eines vorhandenen Bedarfs an qualifizierten freiberuflichen Dienstleistungen verweist. Besonders deutlich zeigt sich diese enorme Zunahme freiberuflicher Tätigkeiten von 1991 - 98 bei Ärzten (6000 auf 17600), Apothekern (600 auf 3150), Rechtsanwälten (2000 auf 6000), Architekten (600 auf 5100) und in den Kulturberufen (6000 auf 17600). (vgl. Tabelle 2 ) Die Zahlen belegen, dass es im Prozess der Integration der neuen Bundesländer gelungen ist, freiberufliche Berufs- und Tätigkeitsstrukturen aufzubauen, auch wenn die Aufgabenrealisierungen in einzelnen Berufen durch Berufsträger aus den alten Bundesländern wahrgenommen wurden und werden (ihr Anteil in den einzelnen Berufen ist unterschiedlich; statistische Angaben sind dazu nicht vorhanden). So sind doch insgesamt von den Existenzgründungen in den Freien Berufen gute Beschäftigungschancen zu erwarten. Freiberufliche Strukturen entstanden in den neuen Bundesländern zum einen aus der Auflösung staatlich organisierter und regulierter Aufgabenfelder (ambulante medizinische Versorgung, Apothekenwesen, Tierärzte – die Niederlassung war oft die einzige Möglichkeit der Berufsausübung); zum anderen aus neuen oder wesentlich erweiterten Handlungsfeldern (bei rechts-, wirtschafts- und steuerberatenden Berufen). Rechtsanwälte und Notare waren nicht nur mit veränderten, sondern auch erheblich erweiterten Aufgabengebieten konfrontiert. Steuerberater und Wirtschaftsprüfer mussten in kurzer Zeit Schlüsselfunktionen zur Gewährleistung der Wirtschaft und des Steuerwesens erfüllen. Da hier die Qualität der Leistungserfüllung entscheidend war, mussten die Versorgungslücken von qualifizierten Fachkräften aus den alten Bundesländern geschlossen werden. Hinzu kommt, dass Existenzgründung durch spezielle Förderprogramme für geeignete und interessierte Arbeitslose - durch zur Verfügungsstellung von sogenanntem Überbrückungsgeld - unterstützt wurde. Jeder 7. mit Überbrückungsgeld Geförderte machte sich 1997 in der Bundesrepublik in einem Freien Beruf Selbstständig. Schätzungsweise zwei Fünftel aller Existenzgründungen in den Freien Berufen nutzten Karin Hildebrandt 161 diese Möglichkeit, die das Arbeitsamt bot (vgl. IAB-Kurzbericht 1997, Heft 7). Ein Blick auf die Altersstruktur der geförderten ostdeutschen Freiberufler zeigt, dass sie im Durchschnitt fast um 2 Jahre älter sind als die Westkollegen und das der Anteil, der über 50Jährigen mit über 20% doppelt so hoch liegt wie in den alten Bundesländern. Dies verweist mit auf den Existenzdruck, der auf den Arbeitslosen Gründern lastet (vgl. IABKurzbericht, ebenda). 3. Frauen in Freien Berufen Bei der Betrachtung der Frauen in Freien Berufen zeigt sich eine ähnliche Problematik wie sie aus anderen Bereichen bekannt ist, geschlechtsdifferenzierte Aussagen sind eine Seltenheit. Es gibt für die Gesamtheit der Freien Berufe keine statistischen Angaben über die Geschlechterverteilung. Aussagen können deshalb nur für einzelne Freie Berufe getroffen werden (vgl. Oberlander 1995: 239). Insgesamt ist aber zu konstatieren, dass Selbstständigkeit und Freiberuflichkeit für Frauen an zunehmender Attraktivität gewinnt. Die Frauen in der unabhängigen Erwerbstätigkeit eine Chance zur Integration in den Arbeitsmarkt sehen. Während in den alten Bundesländern die Anteile der Frauen vor allem an den Selbstständigen in Freien Berufen in der Regel kontinuierlich wachsen, haben Freiberuflerinnen in den neuen Bundesländern noch in erheblich höherem Maße Teilhabe an der Gestaltung freiberuflicher Dienstleistungen. In den alten Bundesländern betrug der Anteil der Frauen unter den Selbstständigen 24,3%, in den neuen Bundesländern waren es 33,3% (Berechnungen auf der Grundlage der Daten des Statistischen Jahrbuches 1992, S. 116 und von 1993, S. 118). In einer Studie zur Entwicklung, Situation und Stellung der Freien Berufe in den neuen Bundesländern wird festgestellt, dass in einzelnen Berufsgruppen ein sehr viel höherer Anteil „weiblicher Berufsträger„ in den neuen Bundesländern als in den alten Bundesländern besteht (Oberlander 1995: 239ff.). Als Ärztinnen20 in Selbstständigen Praxen arbei20 bezogen auf das Jahr 1993 162 Professionelle Arbeits- und Berufsfelder ten beispielsweise 58% in den neuen Bundesländern hingegen 25% in den alten Bundesländern. Bei der Gruppe der Zahnärzte sieht das Verhältnis in bezug auf männliche und weibliche freiberufliche Tätigkeit 57% zu 25% aus; bei den Selbstständigen Apothekern fallen die Differenzen nicht so stark aus: in den neuen Bundesländern gibt es 59% und in den alten Bundesländern 37% freiberufliche Apothekerinnen (Abbildung 4). Abbildung 4: Frauenanteil der Selbstständigen in Freien Berufen in den alten und neuen Bundesländern 1993 Quelle: IfFB Nürnberg auf der Grundlage von Angaben der Berufsorganisation, z.T. geschätzt. Die Frauenanteile bei den Rechtsanwälten liegen in den neuen Bundesländern bei 25%, bei den Patentanwälten bei 10% und besonders hervorstechend sind sie bei den Nur-Notaren mit 49%. Im Gegensatz dazu geht nur 3% der Frauen in den alten Bundesländern dem Beruf Nur-Notar nach, 18% sind freiberufliche Rechtsanwältinnen und 6% Patentanwältinnen. Juristische aber auch steuerberatende Berufe stellen neben me- Karin Hildebrandt 163 dizinischen und dem Beruf der Apothekerin ein wichtiges Berufsfeld für Frauen in den neuen Bundesländern dar (Anlage 2). Dagegen stellen die freiberuflichen Architektinnen nur 11% in den neuen; im Vergleich zu 7% in den alten Bundesländern dar. Weitere technische Berufe und DVDienstleistungsberufe werden nicht untersucht (vgl. Oberlander 1995: 140; keine Untersuchung bekannt21). Analog stellt sich die Situation für Sachsen dar. 1992 gab es in Sachsen 23.500 Selbstständige in Freien Berufen (vgl. Anlage 3). Ihre Zahl stieg bis 1995 auf 26.600. Der Frauenanteil lag bei ca. 32%. . Frauen bringen insgesamt günstige Voraussetzungen für freiberufliche Tätigkeiten mit, wie Sozialkompetenz und Kommunikationsfähigkeit. Als Gründe für die Entwicklung der hohen Frauenanteile bei Freien Berufen in den neuen Bundesländern können zum einen die schwierige Arbeitsmarktsituation, die Frauen verstärkt dazu zwingt, sich Selbstständig zu machen und zum anderen insbesondere ihr vorhandenes hohes Qualifikationsniveau angesehen werden. Frauen in den neuen Bundesländern besitzen einerseits eine den Männern ähnliche - wie es heißt Humankapitalausstattung, wenn sie in die berufliche Selbstständigkeit eintreten (Begriff z. T. weitgefasst: Gesundheit, Bildung, Berufserfahrung, innerbetriebliche Aus- und Weiterbildung - Frauen gute Ausgangsbedingungen - was fehlt spezifisches unternehmerisches Humankapital eigene Erfahrungen mit Selbstständigkeit, Führungserfahrungen, Vorbilder durch z. B. die Eltern; vorherige Branchenerfahrung). Hinzu kommt, dass die Berufstätigkeit der Frauen in den neuen Bundesländern weiterhin zur Selbstverständlichkeit zählt; zum anderen ist die Situation in den Freien Berufen anders, als im Vergleich zum Bereich der gewerblichen Selbstständigkeit zu sehen. Hier gründen Frauen teilweise Betriebe, die eher als randständige Selbstständigkeitsexistenzen betrachtet werden können (der Grund dafür ist auch, dass auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sie eher auf die marginalen beruflichen Positionen verwiesen werden; eher kleine Betriebe gründen, da sie über weniger Startkapital verfügen - vgl. Jungbauer-Gans/Priesendörfer 1992). Die Folge ist dann, dass die „Frauenbetriebe„ im Vergleich zu „Männerbe21 Quelle: Institut für Freie Berufe 1993: Freie Berufe in den neuen Bundesländern 1993. S. 2-11. Die Zahlen für die alten Bundesländer beziehen sich auf das Jahr 1988, die Zahlen für die neuen Bundesländer auf das Jahr 1992. 164 Professionelle Arbeits- und Berufsfelder trieben„ geringere Überlebenschancen haben und auch weniger expansiv sind. Gründen jedoch Frauen aufgrund ihrer selben Humankapitalressourcen in die gleiche Art von Betrieben, sind kaum geschlechtsspezifische Unterschiede bei den Bestands- und Überlebenschancen vorhanden und dies wird bei der Entwicklung der Freien Berufe deutlich (vgl. ebenda). Auch wenn Frauen unter den Selbstständigen und bei den Selbstständigen in Freien Berufen nicht paritätische Anteile bei allen Berufsfeldern erreichen, zeigt sich eine zunehmende Tendenz, dass Frauen erfolgreich sich in der Selbstständigen Rolle behaupten können. Die zunehmende Attraktivität der Freien Berufe für Frauen mit qualifizierter Ausbildung liegt des weiteren mit daran, dass die Selbstständigkeit nicht nur aus der „Ökonomie der Not„ (Bögenhold 1987), sondern auch aus dem Wunsch nach Selbstständigkeit, Unabhängigkeit sowie Verbesserung der Arbeitsmöglichkeiten gewählt wurde. Mit dem Wegfall des Arbeitgebers und des betrieblichen Kontextes entfallen gleichzeitig eine Reihe von Mechanismus, über die Frauen in der Regel auf schlechter bezahlte Positionen, auf Positionen mit geringeren Aufstiegschancen sowie Entscheidungsbefugnissen verwiesen werden. Es entfallen damit für Frauen einige Hürden, die ihre Chancen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt beschränken. Inwieweit neue oder andere entstehen, dazu gibt es bisher kaum Forschungen. Insgesamt werden nach Untersuchungen von Oberlander in der Selbstständigkeit der Berufsausübung (vgl. Oberlander 1995: 240): • • • • geringere Hemmnisse für eine erfolgreiche Gestaltung des beruflichen Weges vermutet als in von Männern dominierten Organisationen. Möglichkeiten einer flexiblen Gestaltung der Arbeitszeit, die familiäre Bindungen besser mit Erwerbsarbeit vereinbaren kann und Belastungen durch Flexibilität gemildert werden können, gesehen. Möglichkeiten, im Vergleich zu männlichen Berufskollegen entsprechende Einkünfte zu erzielen, werden oft besser als in anderen Bereichen (Gebührenordnungen – Garantiefunktion ) betrachtet sowie ein vergleichsweise hohes Ansehen gesehen. Allerdings sind generelle Aussagen über geschlechtsspezifische Gründe für eine Niederlassung von Frauen und Männern aus den wenigen Un- Karin Hildebrandt 165 tersuchungen nicht entnehmbar. Frauen in Freien Berufen sehen aber auch eine Reihe von Benachteiligungen gegenüber männlichen Kollegen. Sie ergeben sich durch eine im Vergleich höhere Arbeitsbelastung für Frauen. Sie müssen, so konstatiert Oberlander, mehr Arbeit aufwenden (12-13 Stunden), um das gleiche Einkommen wie Männer zu erzielen. Vorurteile bei männlichen Kollegen und Leistungsnehmern insbesondere in die Leistungsbereitschaft und -fähigkeit von Frauen erschweren ihnen die Arbeit noch zusätzlich. Verschlechterte Möglichkeiten hinsichtlich der Kinderbetreuung und familienbezogene Rollenerwartungen führen auch zu hohen Belastungen außerhalb der Berufstätigkeit (vgl. Oberlander 1995: 247). Als weitere Begründungen für Benachteiligungen von Frauen in Freien Berufen gegenüber männlichen Kollegen wurden genannt: • • • Benachteiligungen von Frauen bei den Banken und Ämtern, Vorurteile bei den männlichen Kollegen - vor allem aus den alten Bundesländern sowie geringe Repräsentanz der Frauen in den Gremien der Berufsorganisationen, die dazu führt, da werden Probleme und Interessen von weiblichen Berufsträgern wenig beachtet werden. Frauen in den Freien Berufen sehen sich mit Stereotypen konfrontiert, die weit über berufsspezifische Einflüsse hinausreichen: Traditionen, die bestimmte Rollenerwartungen bewahren und weitergeben, sind ohne Zweifel als generelle Hemmnisse auf dem Weg zur Schaffung gleicher Voraussetzungen für die Berufsausübung von Frauen und Männern zu sehen sowie Vorurteile gegenüber der Leistungsfähigkeit der Frauen. Allerdings äußert sich die überwiegende Mehrheit der Frauen (80%), dass sie - trotz der Belastungen und Probleme, die mit der Ausübung der freiberuflichen Tätigkeit verbunden sind - keine Benachteiligungen gegenüber männlichen Berufskollegen empfinden. Nur knapp 19% (nach Oberlander 1995: 244) der Frauen benannten Benachteiligungen in der Berufsausübung - insbesondere die Zahnärztinnen. Dies verweist einerseits auf wenig im Bewusstsein der Frauen in den neuen Bundesländern registrierende Formen von Benachteiligungen und andererseits auch auf Forschungsdefizite, die diese Benachteiligungen durch undifferenzierte geschlechtsspezifische Betrachtungen zu wenig ins Blickfeld der Öffent- 166 Professionelle Arbeits- und Berufsfelder lichkeit rücken. Forschungsbedarf besteht dabei insbesondere hinsichtlich der längerfristigen Integration von Frauen in Freie Berufe, insbesondere in technischen Berufen und DV-Dienstleistungsberufe vor dem Hintergrund einer anhaltenden, überproportional hohen Arbeitslosigkeit von Frauen in den neuen Bundesländern. Abschließend zu diesem Punkt soll nicht unerwähnt bleiben, dass die Freien Berufe auch wichtige Träger von Aus- und Arbeitsplätzen für Frauen im Angestelltenverhältnis darstellen. So wurden in Sachsen z. B. 1995 1452 Ausbildungsplätze bei Zahnärzten bereitgestellt, 734 bei Rechtsanwälten (727 Frauen) und 1055 bei Steuerberatern (884 Frauen). 4. Förderungsmöglichkeiten und Vorstellungen der Freiberuflerinnen zur Verbesserung ihrer Situation Zahlreiche Programme zur Förderung der Existenzgründung wurden neben den Starthilfen des Arbeitsamtes - insbesondere von der EU im Zusammenhang mit den Initiativen zu „Aufschwung Ost„ bereitgestellt, die den Aufbau von freiberuflichen Strukturen in den neuen Bundesländern unterstützen halfen22. So • EPR - Kredit für Existenzgründungen und Investitionen • Eigenkapitalhilfeprogramm zur Förderung der Selbstständiger Existenzen • Investitionskreditprogramm • Investitionskredite der Deutschen Ausgleichsbank • Bürgerschaftsprogramm • Förderung von Unternehmensberatungen für kleinere und mittlere Unternehmen. Hinzu kommen Förderprogramme der Länder so z. B. • das Mittelstandsförderprogramm Sachsen • Begleitende Maßnahmen zur Förderung von Freiberuflern in Sachsen 22 Hier stellt sich allerdings die Frage nach der Höhe der Fördersumme der einzelnen Programme. Karin Hildebrandt 167 das Sächsische Programm zur Förderung der Existenzgründung in freien Heilberufen (aufgrund der Herauslösung der Heilberufe aus der EPR-Förderung)23. Neben dieser finanziellen Unterstützung gehört auch Mut, Risikobereitschaft und Stehvermögen dazu, um sich als Freiberuflerin zu behaupten und zu bestehen. Insbesondere folgende Maßnahmen werden von den Frauen zur Verbesserung der Situation als notwendig angesehen (vgl. Oberlander 1995: 283): • stärkere Förderung und Unterstützung von Existenzgründungen von Frauen, • gesellschaftliche Akzeptanz arbeitender Frauen (Umdenken in einer von Männern dominierten Gesellschaft), • gezielte Frauenförderung; Werbung für weibliche Freiberufler und Öffentlichkeitsarbeit, • Entwicklung neuer Arbeitszeitmodelle; fließende Arbeitszeiten, • entsprechende Arbeitsgestaltung im Rahmen der Praxisgemeinschaften als Möglichkeit zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie, • Förderung der Kooperationsbereitschaft vor allem seitens der männlichen Kollegen, • verstärkter Erfahrungsaustausch mit Kolleginnen, • Abbau bürokratischen Elemente der freiberuflichen Tätigkeit, • vermehrte, finanzierte oder bezuschusste Fortbildungsmaßnahmen, die vor allem Informationen im wirtschaftlichen Bereich aufweisen und deren Termine in Ferienzeiten wahrgenommen werden können; verbunden mit Ortsnähe, • Beteiligung an Entscheidungen in den Berufsorganisationen sowie • anteilmäßig gleiche Verteilung von öffentlichen Aufträgen an Frauen und Männern sowie • Eigeninitiative und • kostenlose persönliche Vertretung. Zusammenfassend ist einzuschätzen, dass sich die Situation der Freiberuflerinnen in dem Maße entscheidend verbessert, wenn insgesamt ein frauenfreundlicheres Klima in der Gesellschaft geschaffen wird. Not• 23 Nähere Ausführungen dazu in Institut für Freie Berufe Nürnberg „Freie Berufe im Land Brandenburg, Nürnberg 1993. 168 Professionelle Arbeits- und Berufsfelder wendige Schritte dazu sind: weiteres Vorantreiben der Frauen- und Geschlechterforschung, Verstärkung der Öffentlichkeitsarbeit und Ausbau der Netzwerkaktivitäten. Literatur Bläsche, Alexandra /Gensior, Sabine 1998: Anwälte und Architekten in den neuen Bundesländern: Strukturelle und arbeitsorganisatorische Wandlungsprozesse in professionellen Arbeits- und Berufsfeldern. In Forum der Forschung 6. Bläsche, Alexandra/Gensior, Sabine/Hildebrandt, Karin 1999: Arbeitsund Qualifikationsanalyse in neuen Arbeits- und Berufsfeldern – am Beispiel des Anwaltes, Architekten und des Finanz- und Dienstleistungsbereiches„. Zwischenbericht zur Expertise der Senatsverwaltung für Arbeit, Berufliche Bildung und Frauen Berlin, unveröffentlicht. Bögenhold, Dieter 1987: Der Gründerboom, Realität und Mythos der neuen Selbstständigkeit. Frankfurt. Dietrich, H. 1993: Selbstständige in den neuen Bundesländern. Strukturen und Mobilitätsprozesse. In: Geißler, R. (Hg.) Sozialer Umbruch in Ostdeutschland. Opladen. S. 197-220 Jungbauer-Gans, Monika/Priesendörfer, Peter 1992:Frauen in der beruflichen Selbstständigkeit. Eine erfolgversprechende Alternative zur abhängigen Beschäftigung. In: Zeitschrift für Soziologie. S.61-77 Nickel, Hildegard Maria/Völker, Susanne/Hüning, Hasko 1999: Chancenstrukturen weiblicher Erwerbsarbeit. In: Bulletin 16. ZiF der Humboldt-Universität zu Berlin. Oberlander, Willi 1995: Freie Berufe in den neuen Bundesländern. Empirische Untersuchung über Entwicklung, Struktur und wirtschaftliche Situation. Nürnberg. Oberlander, Willi 1995 a: Frauen in Freien Berufen in Sachsen. Institut für Freie Berufe Nürnberg. Oberlander, Willi 1997: Neue freiberufliche Dienstleistungen - Potentiale und Marktchancen. Köln. Wagner, Alexandra 1999: Die Zukunft der Erwerbsarbeit und der Beruflichen Bildung im Strukturwandel. In Expertisen für ein Berliner Memorandum zur Modernisierung der Beruflichen Bildung. Schriftenreihe der Senatsverwaltung für Arbeit, Berufliche Bildung und Frauen. 38. Karin Hildebrandt 169 Anlage 1: Katalogberufe • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • Arzt Zahnarzt Tierarzt Rechtsanwalt Notar Patentanwalt Vermessungsingenieur Ingenieur Architekt Handelschemiker Wirtschaftsprüfer Steuerberater Beratender Volks- oder Betriebswirt Vereidigter Buchprüfer Steuerbevollmächtigter Heilpraktiker Dentist Krankengymnast Journalist Bildberichterstatter Dolmetscher Übersetzer Lotse Im Einzelnen sind nach der Berichterstattung der Bundesregierung die Freien Berufe in folgende Gruppen zu fassen, die die Katalogberufe beinhalten und ergänzen werden:24 Freie heilkundliche Berufe • Ärzte • Zahnärzte • Tierärzte 24 vgl. Deutscher Bundestag, 12. Wahlperiode: Unterrichtung durch die Bundesregierung – Fortschreibung des Berichtes über die Lage der Freien Berufe in der Bundesrepublik Deutschland, Drucksache 12/21 vom 3.1.1991 (Sachgebiet 70), S.6 ff. 170 • • • • • • • • • Professionelle Arbeits- und Berufsfelder Apotheker Psychotherapeuten Hebammen Heilpraktiker Krankengymnasten Masseure/medizinische Bademeister Krankenschwestern/Krankenpfleger Logopäden Beschäftigungs- und Arbeitstherapeuten Freie technische/naturwissenschaftliche Berufe • Architekten • Vermessungsingenieure • Beratende Ingenieure • Sachverständige • Chemiker • Lotsen • Restauratoren Freie rechts- und wirtschaftsberatende Berufe • Rechtsanwälte/Rechtsbeistände • Patentanwälte • Notare • Wirtschaftsprüfer • Steuerberater/Steuerbevollmächtigte • Unternehmensberater/Wirtschaftsberater • Werbe- und Public-Relations-Berater Freie Kulturberufe • Schriftsteller • Musiker • Darstellende Künstler • Bildende Künstler/Designer • Journalisten • Pädagogen (Tanzlehrer, Musiklehrer, u.a.) • Dolmetscher/Übersetzer Karin Hildebrandt 171 Anlage 2: Frauenanteile an den Selbstständigen in Freien Berufen in den alten und neuen Bundesländern (1992 und 1998 bzw. 1995/1997) Beruf Alte Bundeslän- Neue Bundes- Sachsen der länder 1992 1998 1992 1998 1995 1998 Ärzte 27% 56% 57% Zahnärzte 23% 57% 58% Tierärzte 23% 17% 13% Apotheker 56% 60% 57% Rechtsanwälte 15% 21% 25% 27% 25% 26% Patentanwälte 6% 9% 13% Nur-Notare 1% 51% 42% 42% Steuerberater k.A. 22% k.A. 39% 40% 43% Architekten 7% 10% 11% 19% 17% 25% Quelle: Zusammenstellung aus verschiedenen Angaben des Instituts für Freie Berufe Nürnberg; Oberlander 1995: Freie Berufe in den neuen Bundesländern, S. 245 und eigene Erhebungen. Anlage 3: Freie Berufe in Sachsen 1995 und 1997 Beruf 1995 1997 Ärzte 5327 5648 Zahnärzte 3188 3198 Tierärzte 492 503 Apotheker 750 851 Rechtsanwälte 1700 1930 Notare 186 185 Steuerberater 746 1180 Architekten 1733 1949 Beratende Ingeneure 1500 2000 Quelle: Zusammenstellung aus Angaben des Instituts für Freie Berufe Nürnberg 172 Professionelle Arbeits- und Berufsfelder Tabelle 3: Selbstständige in Freien Berufen in den neuen Bundesländern im Zeitraum 1991 – 199825 Freie Berufe Ärzte Zahnärzte Tierärzte Apotheker Andere Heilberufe Rechtsanwälte Patentanwälte Nur-Notare Steuerberater/Bevollmächtigte Wirtschaftsprüfer Unternehmensberater Andere wirt. Und Steuerberatende Berufe Architekten Beratende Ingenieure Andere technische und naturwissenschaftliche Berufe Kulturberufe Gesamt 1991 6.000 4.000 k.A. 600 k.A. 1992 14.370 7.800 2.150 2.000 5.500 1993 15.800 8.700 2.035 2.100 6.350 1994 18.532 9.137 2.025 2.403 6.300 1995 16.790 9.626 2.054 2.450 6.380 1996 17.111 9.766 2.082 2.614 6.500 1997 17.389 9.761 2.104 2.746 6.800 1998 17.659 9.878 2.148 3.148 6.900 2.000 161 500 2.500 2.900 227 458 2.800 3.050 212 527 2.600 3.400 217 556 2.500 3.700 146 563 2.800 4.400 151 574 2.850 5.200 148 570 3.200 6.000 148 561 2.630 72 150 150 150 150 159 190 293 k.A. 500 500 500 550 550 560 600 k.A. 3.500 3.650 3.700 3.800 3.900 4.000 4.700 600 2.000 2.100 3.300 2.500 3.650 3.853 4.400 4.458 4.600 4.890 4.650 5.065 4.700 5.128 4.800 k.A. 2.500 2.650 2.750 2.850 2.950 1.700 4.000 2.500 9.500 10.800 10.500 10.500 10.800 10.900 14.500 20.933 59.755 65.274 70.900 71.400 73.800 76.000 85.000 Quelle: Eigene Zusammenstellung nach Angaben des Instituts für Freie Berufe Nürnberg (1998) 25 Teilweise mit Ostberlin Anfänge des Frauenstudiums in Leipzig Astrid Franzke Als am 11.03. 189126 erstmalig ein Antrag zum Thema "Frauenstudium", zunächst für die Zulassung zum ärztlichen Studium, im Deutschen Reichstag (1893 2. Debatte, 1898 3. Debatte)27 verhandelt wurde, löste dieser bei den Abgeordneten noch Erheiterung und Unverständnis aus.28 Dies geschah zu einem Zeitpunkt, zu dem in anderen Ländern Europas (z.B. Russland 1860, Frankreich 1863, Schweiz 1864, England 1870, Niederlande 1875, Italien 1876, Österreich 1897) und den USA 186029, Frauen nicht nur bereits studiert, sondern auch promoviert hatten. Deutschland, dem „klassischen Land der Bildung“, dessen Wissenschaft vor der Jahrhundertwende weltweit außerordentlich geschätzt wurde30, drohte nun die Gefahr der Abseitsposition und mit dieser der Verlust internationaler Reputation. Es war eines der letzten europäischen Länder, das die Zulassung der Frauen zum Studium aussprach.31 Anfang des 20. Jahrhunderts konnte das Wilhelminische Kaiserreich dem Zeitgeist nicht länger entgegenstehen. Nahezu 1000 Semester mussten vergehen, ehe das weibliche Geschlecht an der 1409 gegründeten Alma Mater Lipsiensis, der zweitältesten deutschen Universität mit ununterbrochenem Lehr- und Wissenschaftsbetrieb, die Chance erhielt, die Höhen der Wissenschaft zu erklimmen und einen akademischen Berufsabschluss zu erwerben. Frauen wurde nun der Zugang zu regulärer universitärer Ausbildung (volle Immatrikulation) gestattet. In den einzelnen deutschen Ländern erfolgte dies auf Grund der föderalen Zuständigkei- 26 27 28 29 30 31 Vgl. Boedeker 1939, XXIX Vgl. Boedeker 1939, XXXI, XXXVI; von Soden/Zipfel 1979, 16 Vgl. Lange/Bäumer 1911, 90/91 Vgl. Boedeker 1939, LII; LIII Vgl. Jarausch 1991, 313/314 Vgl. Schmidt-Harzbach 1977, 41 174 Anfänge des Frauenstudiums in Leipzig ten allerdings zu unterschiedlichen Zeitpunkten, zuerst in Baden 1900. In Sachsen wurde dieser Weg den Frauen im Jahre 1906 eröffnet. Das Frauenstudium wurde im Prozess gravierender Veränderungen in der bürgerlichen Gesellschaft Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts schließlich auch in Deutschland Realität. Dafür waren eine Reihe von Gründen ausschlaggebend: • Die reale Lebensgestaltung bürgerlicher Frauen wurde, bedingt durch die Industrialisierung und die mit dieser einhergehenden technischen Neuerungen in der Hauswirtschaft insofern schwieriger, als nun Frauen nicht mehr in so großer Zahl gebraucht wurden und auf diese Weise immer weniger zu ihrem Lebensunterhalt beitragen konnten.32 Auch mit Blick auf den „Frauenüberschuss“ im Gefolge der Kriegsverluste war die Versorgung unverheirateter Töchter und die der zahlreichen Witwen, die über keinen „Ernährer“ verfügten, und die Ehe nicht als bloße Versorgungsgemeinschaft akzeptieren konnten, auf traditionelle Weise nicht mehr gesichert.33 Die Frage nach weiblicher, existenzsichernder Arbeit auf Basis qualifizierter Berufsarbeit tat sich immer stärker auf. • Die zunächst privaten Initiativen zur Reform des Mädchenschulwesens, die die bildungsmäßigen Voraussetzungen für eine universitäre Ausbildung beförderten, zeigten erste Ergebnisse. Gesuche einzelner, nun nicht mehr nur ausländischer Frauen um eine Studienzulassung an deutschen Universitäten nahmen zu.34 Lehrerinnen, die in Volksschulen tätig waren, gab es bereits. Angesichts dieser Tatsache war real nicht zu begründen, wieso das wissenschaftliche Lehramt für Frauen zumindest an Höheren Mädchenschulen nicht möglich sein sollte. • Angesichts des ethisch-moralischen Grundkonsenses der bürgerlichen Gesellschaft konnte auch die wachsende Nachfrage nach weiblichen Ärzten insbesondere für Frauenheilkunde nicht länger ignoriert werden.35 Der Beginn des Frauenstudiums an der Leipziger Universität und die erste Akademikerinnengeneration sind ohne das Wirken der bürgerli32 33 34 35 Vgl. Wehler 1995, 1218 Vgl. Franzke/Notz 1997, 129 Vgl. Mertens 1988, 203 Vgl. Wehler 1995, 1218 Astrid Franzke 175 chen Frauenbewegung und insbesondere ihrer Verdienste um die Frauen- und Mädchenbildung in Leipzig nicht zu erklären. Ziel dieses Beitrages ist es, auf diese regionalhistorischen Entstehungs- und Entwicklungszusammenhänge von Frauenbewegung, Frauenbildung und Frauenstudium in Leipzig aufmerksam zu machen und sie in Ansätzen aufzuzeigen. Es ist zu untersuchen, wie das Frauenstudium an der Leipziger Universität als Schnittstelle von weiblicher Schulbildung, dem Beginn weiblicher Professionalisierung und Berufsintegration mit Biographiemustern und Karriereverläufen der ersten Studentinnen- und Wissenschaftlerinnengeneration verknüpft war. 1. Der Beitrag des Allgemeinen deutschen Frauenvereins (AdF) für die Etablierung des Frauenstudiums Mit der Gründung des in der Tradition des Bildungsbürgertums stehenden AdF im Oktober 1865 in der Deutschen Buchhändlerbörse zu Leipzig, Ritterstraße 12 (heute: Gästehaus der Universität Leipzig), war ein bedeutender Schritt auf dem Weg der Organisierung der bürgerlichen Frauenbewegung in Deutschland erreicht. Das jahrzehntelange, aufopferungsvolle Wirken der Frauen mündete in die erste gesamtnationale deutsche Frauenorganisation, die nach dem Prinzip der Selbstorganisation gestaltet war36. Zu den wichtigsten Initiatorinnen gehörten die Leipziger Frauenrechtlerinnen Louise Otto-Peters37 (1819-1895), Auguste Schmidt38 (1833-1902), Ottilie von Steyber39 (1804-1870) und Henriette 36 37 38 39 Vgl. Leipziger Frauengeschichten 1995, 42; Nur Frauen war es gestattet, die Mitgliederrechte wahrzunehmen. Vgl. Herve‘/Nödinger 1996, 192f.; Vgl. Boetcher Joeres 1983; Ludwig/Jorek 1995 Auguste Schmidt wirkte seit 1862 zunächst als Lehrerin an der von Ottilie von Steyber gegründeten Höheren Mädchenschule und nach deren Tod übernahm sie für fast 30 Jahre die Leitung des Steyberschen Instituts. Als im Jahre 1894 der Bund deutscher Frauenvereine (BdF) gegründet wurde, wurde sie dessen 1. Vorsitzende. Der BdF engagierte sich u.a. für die Zulassung der Frauen zu allen wissenschaftlichen, technischen und künstlerischen Hochschulen. Vgl. Boedeker 1939, XXXIV Zum Wirken der Ottilie von Steyber als Gründungsmitglied des AdF und vor allem als Gründerin einer privaten Schule für Höhere Töchter in Leipzig (1847/48), die zum Abschluss der 10. Klasse führte, ist bislang nur wenig gearbeitet worden. Hierzu ist ein biographischer Aufsatz von mir in „Leipziger Lerchen“. Hrsg. Louise Otto-PetersGesellschaft e.V. erschienen. 176 Anfänge des Frauenstudiums in Leipzig Goldschmidt40 (1825-1920). Der AdF setzte einen seiner Hauptschwerpunkte bis Anfang des 20. Jahrhunderts auf den Erwerb des Zugangs der Frauen zu den Hochschulen. Sah er doch gerade in ihren geringen Bildungs- und Berufsausbildungschancen eines der Haupthindernisse für die Frauenerwerbstätigkeit.41 1888/89 ging es erstmals in einer Petition des AdF darum, "den Frauen den Zutritt zu den ärztlichen Berufen und dem wissenschaftlichen Lehrberufe durch Freigebung und Beförderung der dahin eingeschlagenen Studien zu ermöglichen.” Zu dem Zweck wurde ferner gebeten: "daß den Frauen das Studium an den Landesuniversitäten freigegeben werde, respektive, daß sie zu den dazu erforderlichen Eintritts- und Abgangsprüfungen zugelassen werden." - sowie "…, daß auch diejenigen, Studien und Prüfungen, durch welche die Männer die Befähigung zum wissenschaftlichen Lehramt erhielten, den Frauen freigegeben werden."42 In der am 09.03.1889 daraufhin eingehenden Antwort aus dem Sächsischen Ministerium des Kultus und des öffentlichen Unterrichts erklärte dieses sich für die Entscheidung der Zulassung von Frauen zu medizinischen Prüfungen für nicht zuständig, da dies Reichsangelegenheit sei. Das zweite Anliegen wurde für bereits realisiert erklärt, da sofern die entsprechenden Prüfungen absolviert seien, obere Lehrerstellen an Töchterschulen schon jetzt für Frauen offen seien.43 Der AdF konzentrierte und begrenzte sich in den Forderungen das Frauenstudium betreffend, auf die Zulassung der Frauen zur Befähigung zum höheren Lehrerinnen- und Ärztinnenberuf und beschränkte sich 40 41 42 43 Henriette Goldschmidt gründete 1911 die Hochschule für Frauen in Leipzig (heute: Goldschmidt-Str. 20) als höhere pädagogisch-soziale Bildungsstätte für Frauen (vgl. Goldschmidt 1911; vgl. Kemp 1994; Sahle 1999, 41 f.). 1921 ging sie als „Sozialpädagogisches Frauenseminar“ in den Besitz der Stadt Leipzig über und schied damit aus der akademischen Berufsausbildung für Frauen aus. (Vgl. Boedeker 1939, XLIII) Im Unterschied zum AdF konzentrierte sich der 1888 von Johanna (Hedwig) Kettler in Weimar (vgl. Boedeker 1939, XXVII) gegründete „Frauen-Reformverein“ (auch „Frauenverein-Reform“, „Deutscher Frauenreformverein“) in seinen Petitionen (18881913) a) ausschließlich auf die Eroberung des Hochschulzugangs für Frauen, b) auf die dazu erforderlichen Bildungsvoraussetzungen (Erwerb der Matura) und forderte c) ohne Einschränkung den gleichberechtigten Zugang der Frauen nicht nur zu allen Studiengebieten, sondern darauf aufbauend d) schließlich auch zu allen wissenschaftlichen Berufen. (Vgl. Schmidt-Harzbach 1977) Vgl. Plothow 1907, 211; vgl. Lange/Bäumer 1901, 89; Otto-Peters 1890, 80-82 Vgl. Otto-Peters 1890, 83 Astrid Franzke 177 dabei auf die sogenannten Frauenberufe. Die Gründe dafür scheinen eher im Festhalten am tradierten Ehe-, Frauen- und Familienbild und dem Konzept der "geistigen Mütterlichkeit"44 zu liegen, denn taktischer Art zu sein. Das Infragestellen der überkommenen Geschlechterrollenstereotype, wonach die bürgerliche Frau für die Familie und das Haus zuständig war, vollzog sich behutsam und setzte zunächst dort an, wo der Bruch mit den bislang als weiblich gepriesenen helfenden und erziehenden Fähigkeiten am ehesten möglich erschien. Es war dies nicht die radikale Forderung nach Zulassung der Frauen zu allen Studienrichtungen und damit auch zu allen akademischen Berufen. Der AdF beschränkte sich aber nicht auf das unermüdliche Formulieren von Petitionen und Forderungen, sondern er gab praktische Unterstützung für das Frauenstudium. Bereits 187945 wurde die Einrichtung eines Stipendienfonds für Universitätsfrauenstudien beschlossen, der durch mehrere bedeutende Schenkungen im Verlaufe der Jahre eine beachtliche Entwicklung nahm. Erstmals konnte 1886 ein Aufruf in den “Neuen Bahnen”46 zur Bewerbung für ein Stipendium an Frauen und Mädchen aus Deutschland gerichtet werden, die sich auf die Maturität (Abitur) vorbereiteten.47 2. Die "Gymnasialkurse für Mädchen" des AdF Das inhaltliche Hauptargument gegen das Frauenstudium waren die fehlenden bildungsmäßigen Voraussetzungen, denn die staatliche Mädchenschulausbildung sah das Abitur nicht vor. Als die Aussichten auf Zulassung von Frauen zum Studium in den 80er Jahren größer wurden, arbeitete die bürgerliche Frauenbewegung intensiv an der Bewältigung dieser Aufgabe und setzte dabei vor allem auf private Initiativen. Die bahnbrechenden 1894 ins Leben gerufenen Leipziger "Gymnasialkurse für Mädchen" des AdF waren nach dem Realgymnasium in 44 45 46 47 Diesen Begriff führte 1865 Henriette Schrader-Breymann ein. Durch ihn werden die den Frauen polar zugeordneten Eigenschaften beschrieben. (Vgl. Nave-Herz 1997, 24) Vgl. Boedecker 1939, XXVI; vgl. Otto-Peters 1890, 50 Die “Neuen Bahnen” waren das Organ (Zweiwochenzeitschrift) des AdF. Sie wurden von Louise Otto-Peters und Auguste Schmidt redigiert. Die erste Nummer erschien bereits 1866. Vgl. Otto-Peters 1890, 70-72; Neue Bahnen, Nr. 6/1886, 56 178 Anfänge des Frauenstudiums in Leipzig Karlsruhe 189348 und den Berliner Realgymnasialkursen49 1893 die dritte Einrichtung in Deutschland, die zum Erwerb der Universitätsreife für Mädchen führte. Das Ziel dieser "Realgymnasialkurse für Mädchen" war die Vorbereitung der studierwilligen Mädchen auf das Abitur in 4 bis 4 1/2-jährigen Kursen. Der Lehrplan entsprach auch in den naturwissenschaftlichen Fächern und dem Lateinunterricht dem der Knabenschulen. Der Besuch dieser Kurse war nur im Anschluss an die 10klassige höhere Mädchenschule gestattet. Die Mädchen mussten mindestens 16 Jahre alt sein und hatten jährlich 260 Mark Schulgeld zu entrichten.50 Seit ihrer Gründung im Jahre 1894 wurden die „Gymnasialkurse für Mädchen“ insgesamt 20 Jahre von Dr. phil. Käthe Windscheid (18591943) geleitet, die nicht nur dadurch an der Geschichte des Frauenstudiums in Deutschland mitgeschrieben hat. Käthe (Katharina) Windscheid hatte die Höhere Töchterschule in München besucht, 1882 das Sprachlehrerinnenexamen in Berlin und 1890 das Lehrerinnenexamen in Dresden absolviert. Sie promovierte bereits 1894 zum Dr. phil. Sie war nicht nur eine der ersten Promovendinnen der Heidelberger Universität, sondern auch die erste deutsche Frau, die an einer deutschen Universität nach regulärer Ausbildung den philosophischen Doktorgrad erwarb.51 Da für Frauen vor der Jahrhundertwende Promotionen regulär nicht möglich waren, bedurfte es auch in ihrem Falle einer Ausnahmeregelung. Auf Grund der Freundschaft ihres Vaters, des renommierten Leipziger Professor der Rechtswissenschaften, Bernhard Windscheid, mit dem Großherzog von Baden, wurde ihr diese Ausnahmeregelung zuteil.52 Käthe Windscheid begann die „Gymnasialkurse für Mädchen“ 1894 mit einer Klasse von 10 Schülerinnen, die sie anfangs im Studierzimmer ihres Vaters unterrichtete (Parkstr. 11, heute: Richard–Wagner-Str. ). 48 49 50 51 52 Vgl. Reichenberger 1918 Ab 1892 wurden Mädchen in Preußen (bald im ganzen Deutschen Reich) zu den Reifeprüfungen an den öffentlichen Jungengymnasien zugelassen und eine Neuordnung des höheren Mädchenschulwesens durchgeführt, wodurch es Helene Lange gelang, ihre Realkurse in Realgymnasialkurse umzuwandeln. (Vgl. Nave-Herz 1997, 25 Vgl. Stadtarchiv Leipzig (StAL), Acta, den AdF betr. Cap. 35, Blatt 33-41 Vgl. Mertens 1991, 20 Vgl. Leipziger Frauengeschichten 1995, 35/36; Bernhard Windscheid leitete die erste Kommission zur Erarbeitung des BGB im Jahre 1874 und war damit federführend an dessen Abfassung beteiligt. Die Leipziger Windscheidstraße erinnert an sein Wirken. Astrid Franzke 179 Fünf von ihnen konnten bereits 1898 das Examen ablegen.53 Die Absolventinnen wurden allerdings vom sächsischen Kultusministerium nicht direkt zum Universitätsstudium zugelassen. Sie mussten ihre Abiturprüfungen zunächst an einem Knabengymnasium ablegen. Das einzige, das 1898 in Sachsen dazu befugte, war das Königliche Gymnasium zu Dresden-Neustadt.54 Vier Jahre später, 1898, waren es bereits vier Klassen.55 Diese nachfolgenden Jahrgänge konnten dann als Externe am städtischen Realgymnasium geprüft werden.56 Von 1898-1914 wurden insgesamt durch diese Gymnasialkurse des AdF 187 junge Frauen auf das Abitur vorbereitet. Um die eigene schwierige Erfahrung der akademischen Bildung und Berufsausübung von Frauen wissend, wurde Dr. Käthe Windscheid zu einer der wichtigsten Wegbereiterinnen des Frauenstudiums, der Etablierung und Profilierung der Frauengymnasialbildung in Leipzig. Forschungen dazu und vor allem zu dem von ihr in der Praxis so überaus erfolgreich vertretenen Konzept der Mädchenbildung57 stehen noch aus. Im Jahre 1914 erfolgte die Selbstauflösung der „Gymnasialkurse für Mädchen“, da nach sächsischem Mädchenschulgesetz aus dem Jahre 1910 die Kurse in das öffentliche Schulwesen überführt werden sollten. Der AdF lehnte 1911 das diesbezügliche Angebot der Stadt Leipzig ab, da die Kurse dann unter männlicher Leitung gestanden hätten, was aber seinen Grundprinzipien der Selbstorganisation und der Selbsthilfe von und für Frauen widersprach.58 Eben zu dieser Zeit, 1897, hielten sich die Vorbehalte gegen das Frauenstudium in Deutschland unter der Professorenschaft noch überaus hartnäckig, die stärksten Gegner waren die Mediziner. Befürworter, Förderer und Gegner des Frauenstudiums repräsentiert eine Umfrage aus dem Jahre 189759 unter 122 deutschen Universitätsprofessoren. Dennoch aber sah etwa die Hälfte der Befragten keinerlei stichhaltige Gründe für den Ausschluss der Frauen vom Studium.60 Dieser Umstand 53 54 55 56 57 58 59 60 Vgl. Lange/Bäumer 1901, 97; Leipziger Frauengeschichten 1995, 36 Vgl. Brentjes/Schlote 1993/94, 72 Vgl. StAL, Acta, den AdF betr. Cap. 35, Nr. 174 Vgl. Leipziger Frauengeschichten 1995, 130 Vgl. Windscheid 1897, 401 ff.; Windscheid 1901, 149 Käthe Windscheid selbst, nun bereits 55-jährig, wurde als Lehrerin an die Städtische I. Höhere Mädchenschule (Schletterplatz) übernommen. Vgl. Kirchhoff 1897, 66 Vgl. Boedeker 1939, XXXVI 180 Anfänge des Frauenstudiums in Leipzig repräsentierte sich auch im Meinungsspektrum der befragten Leipziger Professoren. Es sprachen sich für das Studium der Frauen im Einzelfall und bei einer den Männern gleichen Vorbildung die Leipziger Professoren der Medizin Wilhelm His (Anatomie), Friedrich Trendelenburg (Chirurgie), Victor Birch-Hirschfeld (Pathologie), der Chemieprofessor Friedrich Strohmann, der Nobelpreisträger Wilhelm Ostwald und am entschiedensten der Professor der experimentellen Psychologie Wilhelm Wundt (1832-1920) aus. Letzterer formulierte: "Ich meine: die Frau, die nach bestimmten Richtungen hin die gleichen Fähigkeiten hat wie der Mann, ist genau ebenso wie dieser an und für sich berechtigt, diese Fähigkeiten auszubilden und anzuwenden. Das so oft gehörte Argument: es seien schon in allen Gebieten die Angebote männlicher Bewerber zahlreich genug, es bestehe daher kein Bedürfnis auch nach weiblicher Konkurrenz und dergleichen, - dieses Argument erscheint mir lediglich als der Ausdruck eines brutalen Geschlechtsegoismus, der nicht besser ist als irgend ein Klassenegoismus der Vorrechte für sich in Anspruch nimmt." 61 Die im Vergleich zu anderen Ländern (z.B. Schweiz, USA, Italien) besonders ausgeprägte Verbeamtung, die in der Regel mit Vollbeschäftigung verbunden war, scheinen die Hartnäckigkeit der Widerstände zu begründen und erklären die späte Zulassung der Frauen zum Studium in Deutschland.62 3. Die ersten Studentinnen 3.1. Gasthörerschaft für Frauen Die Gasthörerschaft für Frauen war ein erster Schritt auf dem Wege des Frauenstudiums. Allerdings war es den Gasthörerinnen nicht möglich, einen wissenschaftlichen Grad zu erlangen. Die Universität Leipzig, an der ab 187063 bzw. 187164 die Gasthörerschaft möglich war, nahm neben der Universität Heidelberg, die 1869 einzelne Hörerinnen zuließ, eine Pionierrolle unter den deutschen Universitäten ein. Da erstmals nun 61 62 63 64 Zit. Nach Brentjes/Schlote 1993/94, 66 Vgl. Siegrist 1988, 30 Drucker 1956, 280 Nauck 1953, 12 Astrid Franzke 181 auch an deutschen Universitäten Frauen als Hörerinnen Aufnahme fanden, wird dieser Umstand als einschneidender Präzedenzfall bezeichnet. Das Gasthörerverzeichnis der Universität Leipzig ist erst ab 1873/74 erhalten geblieben. Die ersten beiden Hörerinnen, die sich im WS 1873/74 einschrieben, waren Ausländerinnen. Es waren die Russinnen Elisabetha von Boguslawsky und Lydia von Karganoff65, die zuvor bereits in der Schweiz studiert hatten. Die Zahl der Gasthörerinnen wuchs im Laufe der Jahre auf eine beträchtliche Größenordnung an. Darunter waren immer mehr Frauen deutscher Nationalität. So nimmt es nicht Wunder, dass die Bestrebungen der Frauen verstärkt wurden, eine reguläre Immatrikulation zu sich erreichen. Als eine der ersten Frauen wandte sich die Leipziger Professorentochter Marie Lie (später, verheiratete Leskien) mit der Bitte um ordnungsgemäße Immatrikulation an das sächsische Ministerium des Kultus und des öffentlichen Unterrichts. Sie gehörte zu den ersten 5 Examinandinnen, die 1899 die Realgymnasialkurse des AdF bei Käthe Windscheid beendeten und das Abitur bestanden.66 Obwohl 1899 über die Studienzugangsberechtigung, das Abitur, verfügend, blieb ihr die Immatrikulation noch bis SS 1906 versagt. Sie musste sich ab WS 1899/1900 bis WS 1905/06 für insgesamt 12 Semester mit der Gasthörerschaft an der Leipziger Universität begnügen. Viele Jahre später erwarb sie sich nach Absolvierung des Pädagogikstudiums, in der Frauenbildung durch die Leitung von Abiturkursen der 10klassigen Mädchenschulen in Leipzig Verdienste. Noch 1900, in den Verhandlungen im Sächsischen Landtag zum Thema „Frauenstudium“ sprach sich der Staatsminister von Seydewitz dafür aus, dass Frauen von den Universitäten auszuschließen sind, aber als Hörerinnen und zu den Prüfungen (Medizin, höheres Lehramt) zugelassen werden können.67 In diesem Kontext unterbreitete er den Vorschlag, eine Frauenuniversität zu gründen, allerdings nur mit einer medizinischen und einer philosophischen Fakultät, für deren Finanzierung seitens des Landes er keine Veranlassung sah. 65 66 67 Vgl. Drucker 1956, 279 Vgl. StAL, Acta, den AdF betr. Cap. 35 Nr. 174, Blatt 33-41 Vgl. Boedeker 1939, XXXIII 182 Anfänge des Frauenstudiums in Leipzig 3.2. Erste Studentinnen ab Sommersemester 1906 Als in Sachsen im SS 1906 die ersten Studentinnen regulär zum Studium zugelassen waren, hatte Marie Curie (1867-1934) bereits ihre ordentliche Professur an der Pariser Sorbonne-Universität inne. Dennoch stand Leipzig in der Reihe der 8 deutschen Universitäten, die 1906 Studentinnen immatrikulierten, gegenüber den 13, die keine Frauen zum Studium aufnahmen.68 Im Sommersemester 1906 schrieben sich die ersten 27 Studentinnen an der Leipziger Universität ein. Unter diesen waren eine ganze Reihe von Absolventinnen der Realgymnasialkurse für Mädchen des AdF. Sie verteilten sich allerdings nur auf zwei der vier Fakultäten, auf die philosophische (15) und die medizinische (12). Die Motivstruktur für diese Studienwahl scheint keineswegs ausschließlich von den spezifischen Interessenlagen der Frauen und einer quasi "angeborenen” besonderen Neigung für diese Fachdisziplinen zu liegen, sondern vor allem durch folgende Gründe bedingt zu sein: • die geschlechterspezifischen bildungsmäßigen Voraussetzungen. Viele Frauen hatten den Hochschulzugang über Studienanstalten, Lehrerinnenseminare erworben, die eben nur den Zugang zum Pädagogikstudium eröffneten und keineswegs die Voraussetzungen für das Studium aller Fachrichtungen69, • das weibliche Rollenverständnis. Der Bruch mit dem traditionellen Mutter-, Ehe- und Hausfrauenbild schien im Falle der Berufsausübung als Lehrerin oder Ärztin nicht so radikal, verband man doch gerade mit diesen Berufszweigen eine Qualifizierung, die noch sehr stark an die pädagogisch-erzieherischen Fähigkeiten (Kindererziehung, Mutterrolle) und im Falle des ärztlichen Berufs mit der helfenden Tätigkeit der Frau verbunden war. • die beruflichen Verwertbarkeit des Wissens. Die Chancen für eine spätere Berufsausübung der Frauen als Lehrerinnen und als Ärztinnen, waren am ehestes realistisch. • die gesetzlichen Regelungen. Die Normativverordnungen des sächsischen Kultusministeriums schlossen explizit aus, "den Frauen auch zu den Berufen als Geistliche, Richter, Rechtsanwälte oder juristi68 69 Vgl. Kästner 1994, unveröff. Manuskript, 3 Vgl. Mitteilungen für Studierende 1913/14 , 22; vgl. Huerkamp 1988, 209 Astrid Franzke 183 sche Verwaltungsbeamte Zutritt zu gewähren"70 Die erste Studentin der Leipziger Universität, die sich am 19.04.1906 immatrikulieren ließ, war die 1886 in Dresden geborene 20-jährige Kaufmannstochter Martha Beerholdt (Matrikel 440), Absolventin der Realgymnasialkurse des AdF in Leipzig.71 Sie studierte an der medizinischen Fakultät. Nach fünfjährigem Medizinstudium und Dissertation im Jahre 1912 an der Universität Leipzig erhielt sie ihre Approbation als Ärztin. Sie betrieb in Leipzig eine Praxis für Frauen, Kinder und Geburtshilfe.72 Die erste Studentin der philologischen Fakultät schrieb sich am 21.04.1906 ein. Es war Lily Engelsmann, 23-jährig, Kaufmannstochter aus Leipzig, Matrikel 662. Auch sie war Absolventin der Realgymnasialkurse des AdF.73 Mit deutlichem zeitlichen Abstand wurde erst 1908 die erste Studentin der juristischen Fakultät, Rose Stolte, Verlagsbuchhändlertochter aus Potsdam, Matrikel 1698, bereits 26-jährig immatrikuliert. Nochmals weitere zwei Jahre später, 1910, war die erste Studentin der theologischen Fakultät, Margarete Ridding, 24-jährige Lehrertochter aus Preußen, Matrikel 1919, auszumachen. Die Ursachen für den späten Eintritt der ersten Frauen in die juristische und in die theologische Fakultät lagen keineswegs am fachlichen Desinteresse an diesen Wissenschaftsgebieten. Sie korrespondierten vielmehr mit den herrschenden Weiblichkeitsbildern und den gesetzlichen Regelungen, die einen Berufseinstieg für Frauen außerordentlich schwierig bzw. gar unmöglich machten.74 Die oben genannte Normativverordnungen des sächsischen Kultusministeriums, implizieren die überaus hartnäckigen, Vorbehalte gegen das uneingeschränkte Frauenstudium. Sie sollten sich noch viele Jahre später an dem sehr langsamen Anwachsen des Frauenanteils unter den Studierenden nachweisen lassen: 70 71 72 73 74 Erlaß 175 A, 16.2.1900, in Universitätsarchiv Leipzig (UAL), Rep. II/IV/35, 57 a b; Brentjes/Schlote 1993/94, 67/68 Vgl. StAL, Acta, den AdF betr. Cap. 35, Nr. 174, Blatt 48/49 f. Vgl. Leipziger Frauengeschichten 1995, 36; Schwendler/Katsch 1990, 26; vgl. Kästner 1994, A.a.O. 14 Vgl. StAL, Acta, den AdF betr. Cap. 35, Nr. 174, Blatt 61 Vgl. Mertens 1991, 61 184 Anfänge des Frauenstudiums in Leipzig (Theologische Fakultät Zeitraum: WS 1911/12 - WS 1918/19 Höchststand SS 1914 4 Studentinnen, 0,7%, Juristische Fakultät Zeitraum: WS 1911/12 - WS 1918/19 Höchststand WS 1918/19 12 Studentinnen, 0,9 %, eine Tendenz, die für Gesamtdeutschland konstatierbar war. Formal gleiche Studienzugangsberechtigung von Frauen und Männern bedeutete zu diesem Zeitpunkt keineswegs gleiche Chancen zur Berufsausübung und zum beruflichen Aufstieg. Die soziale Herkunft der ersten Studentinnengeneration rekrutiert sich aus dem gehobenen Bildungsbürgertum, dem Besitzbürgertum und dem Adel. Vor allem drei Berufsgruppen der Väter sind es, deren Töchter als erstes die Chance universitärer Ausbildung erhielten: 1. Kaufmann (9 x), 2. Professoren (4x), 3. Lehrer (4x), 4. Fabrik- und Rittergutsbesitzer (3x), 5. Pastoren und Rechtsanwälte (3x). Der Hochschulzugang war zunächst ausschließlich ein Privileg der Frauen der höheren Stände und noch keine gleichberechtigte Teilhabe aller Frauen. Die Studentinnengeneration von 1906 zeigte nach der Altersstruktur betrachtet, das hohe Immatrikulationsalter der Frauen von durchschnittlich 26,2 Jahren. Damit lag es deutlich über dem der gesamten Matrikel. Die Ursachen dafür lagen in der späten Chance für das Frauenstudium in Deutschland und in Sachsen im besonderen sowie im längeren Bildungsweg für Mädchen. Der größte Teil der ersten Studentinnen kam seiner regionalen Herkunft nach aus Sachsen (15), 9 Frauen aus Nichtsachsen, davon die meisten aus Preußen (7) und drei Frauen aus dem Ausland (Österreich, Rumänien, Russland). Das entsprach in etwa den Proportionen des Verhältnisses von Sachsen und Nichtsachsen an der Gesamtzahl der Studierenden des Jahrgangs. Die Integration der Frauen in die Universität vollzog sich in den ersten Semestern nach Zulassung zum Studium ab SS 1906 bis WS 1914/15 mit langsam steigender Tendenz: Astrid Franzke Semester SS 1906 SS 1908 WS 1910/11 WS 1914/15 185 Studentinnen insgesamt 27 35 80 200 Studentinnenanteil an den Studierenden 0,65 % 0,85 % 1,63 % 4,85 % 4. Die erste Akademikerinnengeneration 4.1. Die ersten Promotionen von Frauen Als per ministeriellem Erlass vom 16.06.1900 (843 A) Promotionen für Frauen regulär möglich wurden, wenn sie an deutschen Hochschulen 6 Semester immatrikuliert waren, nutzten dies die ersten Frauen auch an der Leipziger Universität. Ausnahmen hatte es vereinzelt auch bereits früher gegeben.75 Der größte Teil der ersten Doktorpromotionen76 von Frauen wurde an der medizinischen Fakultät ab 1902 und an der philosophischen ab 1908 verteidigt, was mit dem Studienwahlverhalten der ersten Studentinnengeneration korrespondierte. Die erste Promotion an der medizinischen Fakultät war die von Ethel Blume im Jahre 1902 zum Thema "Zur Kenntnis der tuberculösen Blutgefässerkrankungen". Drei weitere Promotionen folgten noch bis 1907. Darunter befanden sich 1903 Elisabeth Friederike Fällingen und 1904 Elli Meyer. Beide zählten zu den ersten 5 Examinandinnen der Realgymnasialkurse des AdF.77 Die erste Promovendin aus dem nichtmedizinischen Bereich, die nach regulärer Studienzeit ihre Promotionsschrift im Jahre 1908 an der philosophischen Fakultät zu dem wirtschaftswissenschaftlichen Thema "Theorie und Praxis der Versteigerungen, besonders der Grosshandelsversteigerungen" verteidigte, war die 28-jährige Marie Kröhne. Die 1880 75 76 77 Vgl. Drucker 1956, 280, 285 Doktorpromotionen von Frauen sind regulär in Deutschland ab 1900 verteidigt worden, wobei es Unterschiede unter den Ländern gab, insbesondere verstärkt an der Berliner Universität. Ausnahmen gab es selbstverständlich auch schon früher. Vgl. StAL, Acta, den AdF betr., Cap. 35, Nr. 174; vgl. Kästner 1994 a.a.O. 186 Anfänge des Frauenstudiums in Leipzig in Dresden geborene Tochter eines Schriftsetzers absolvierte 7 Semester als Gasthörerin an der Leipziger Universität und gehörte im SS 1906 (Matrikel 959) zu den ersten Studentinnen (Nationalökonomie, Geschichte, Geographie). Bis 1896 war sie Schülerin am von Auguste Schmidt (ab 1892 Vorsitzende des AdF) geleiteten Steyberschen Institut78. Ab Ostern 1897 besuchte sie die "Realgymnasialkurse für Mädchen" des AdF und schloss diese nach 4 1/2 Jahren mit dem Abiturexamen am königlichen Gymnasium in Dresden-Neustadt im Herbst 1901 ab. Nach jetzigem Recherchestand promovierte die erste Frau auf regulärem Wege erst 1913 an der Leipziger Universität zum Dr. jur., es war dies Margot Schoepke mit einer Arbeit zu dem geschlechterspezifischen Thema "Die Unterhaltspflicht der Ehegatten während der Ehe und nach der Scheidung der Ehe". Erst ab 1922 wurden Frauen zu den Ämtern und Berufen der Rechtspflege zugelassen. Bis 1925 gab es in ganz Deutschland noch keinen weiblichen Richter und keine Staatsanwältin, jedoch bereits 55 Rechtsanwältinnen und weiblichen Notare.79 Auf Grund dieser über einen langen Zeitraum hinweg kaum vorhandenen Berufschancen war der geringe Studentinnenanteil an der juristischen Fakultät nicht verwunderlich. Weitere zwei Jahre mussten vergehen, ehe auch die letzte der vier Fakultäten ihre erste Doktorin kürte. 1915 verteidigte Olga Tugemann eine theologische Dissertation zu "Ludwig Feuerbachs Religionstheorie". Dieser Umstand korrespondiert mit dem außerordentlich geringen Studentinnenanteil an der Theologischen Fakultät (SS 1915/WS 1915/16 jeweils nur 1 Frau/0,23 %). Deutschlandweit gab es noch 1925 lediglich 16 Theologinnen, die als Akademikerinnen berufstätig waren.80 Der Beginn des Frauenstudiums und erst Recht die ersten Promotionen von Frauen mussten als Eindringen in die Professionen der Männer betrachtet werden, die ihnen jahrhundertelang allein vorbehalten waren. Die auf besondere Art von Berufstätigkeiten orientierten Professionen bedeuteten immer potentiell Zugang zu Macht- und Entscheidungszusammenhängen und sicherten einen damit verbundenen exklusiven sozialen Status. Eine massive Gefährdung gerade dieser Positionen bedeutete die Zulassung des Frauenstudiums und insbesondere zu den juristi78 79 80 Vgl. Anmerkung 14 Vgl. Boedeker 1939, XLV, LI Vgl. Boedeker 1939, XLV, LI Astrid Franzke 187 schen und theologischen Fakultäten, waren doch gerade die damit perspektivischen Berufspositionen dieser Fachrichtungen an die Ausübung unmittelbarer Herrschaftsfunktionen81und damit besonderer Professionen gebunden. Widerstände in diesen Bereichen hielten sich daher besonders hartnäckig. Mit dem Zugang der Frauen zum Wissen der Professionen war damit keineswegs der Zugang zur Ausübung der entsprechenden bereits gegeben.82 4.2. Die ersten promovierten Wissenschaftlerinnen im Anstellungsverhältnis (ab 1913) Die ersten Anstellungsverhältnisse von Akademikerinnen fallen in die Zeit unmittelbar vor den 1. Weltkrieg. Frauen in zuarbeitenden Frauenberufen, „Semiprofessionen“, gab es bereits wesentlich früher im Anstellungsverhältnis, so etwa als Hebammen, Schwestern (Oberin), Aufwärterinnen und Wäscherinnen in den Klinika, als Wirtschafterinnen, Buchführerinnen, Garderobiere etc. Die ersten promovierten Frauen im Anstellungsverhältnis waren Medizinerinnen. Die Augenärztin Dr. med. Constanze Siegfried arbeitete von SS 1913 bis SS 1918 an der Heilanstalt für Augenkranke (Stiftung bei der Universität), zu der 3 Professoren und 10 Assistenzärzte zählten, darunter 3 Hilfsärzte. Constanze Siegfried war die einzige Frau unter den Hilfsärzten. Die aus Sachsen Anhalt (Dessau) stammende damals 26-jährige Constanze Siegfried, Tochter eines Geh. Oberjustizrats zählte zu den ersten Studentinnen (Matrikel 1974), die sich im WS 1906 an der medizinischen Fakultät der Leipziger Universität einschrieben. Sie promovierte 1913 an der Leipziger Universität zum Thema "Ueber den Einfluß einiger gebräuchlicher Schlafmittel auf die Blutzirkulation".83 Ab WS 1914/15 sind im Personalverzeichnis der Universität Leipzig zwei weitere Ärztinnen als Angestellte verzeichnet: Dr. med. Lucie Hörhammer, Assistenzärztin an der Chirurgischen Klinik und Poliklinik, 81 82 83 Vgl. Soden/Zipfel 1979, 21 Vgl. Rabe-Kleberg 1990 Vgl. Kästner 1994 188 Anfänge des Frauenstudiums in Leipzig 1914-1918 und Dr. med. Anna Moestra bis WS 1919/1920 als Angestellte Ärztin bei der Kommission für die Allgemeine studentische Krankenkasse und hier zuständig für weibliche Studierende. Diese Struktureinheit gab es bereits früher, nicht aber die spezielle Zuständigkeit für weibliche Studierende, die nach dem Ausscheiden von Anna Moestra auch nicht weiterexistierte. Letzteres könnte belegen, dass der Geschlechterbezug für die Auswahl der Arbeitsbereiche, in denen die ersten Wissenschaftlerinnen tätig waren, sehr wohl relevant war. Auffallend ist, dass sowohl Dr. Constanze Siegfried (Hilfsärztin an der Stiftung bei der Universität) als auch Dr. Anna Moestra (Kommission für die allgemeine Krankenkasse) eher in peripheren Bereichen der Universität eine Anstellung gefunden hatten und daher kaum über Aufstiegschancen verfügt haben dürften. Auch scheint in allen drei Fällen naheliegend, dass diese Ärztinnen bezüglich einer Anstellung im akademischen Bereich vom Mangel an Wissenschaftlern bedingt durch die Kriegsjahre profitierten. Diese These stützt sich auf den Fakt, dass alle drei Anstellungsverhältnisse 1918 bzw. 1920 beendet waren und sich das Einstellungsverhalten nach Kriegsende offensichtlich wieder zu Gunsten der Männer änderte. Die ersten promovierten Wissenschaftlerinnen, die an der Universität im nichtmedizinischen Bereich eine Anstellung erhielten, fanden sich erst mit einem zeitlichen Verzug von immerhin 5 Jahren an der philosophischen Fakultät. Seit SS 1918 war dies Dr. phil. Elisabeth Jastrow, stellvertretende Assistentin am Archäologischen Institut, die bereits ab WS 1917/18, damals noch unpromoviert, als cand. phil. im Personalverzeichnis der Universität Leipzig aufgeführt wurde. Ebenfalls seit SS 1918 hatte Dr. phil. Marie Dietsch eine Anstellung am Geographischen Institut erhalten, nach ihrer Promotion zum Thema "Untersuchungen über die Aenderung des Windes mit der Höhe in Zyklonen"84, die sie im April desselben Jahres an der Universität verteidigte. Die Gutachter bezeichneten ihre Arbeit als gründlich, bewerten sie mit der Gesamtnote II.85 Die am 1890 in Frankfurt a.M. geborene Kaufmannstochter hatte Ostern 1910 die Reifeprüfung am königlichen Lehrerinnenseminar in Dresden abgelegt und ein Jahr später das Abitur an der Oberrealschule. Danach studierte sie Mathematik, Physik und Che84 85 UAL, Personalakte (PA), Phil. Fak., Blatt 4 Vgl. UAL, PA, Phil. Fak., Blatt 4 Astrid Franzke 189 mie in Dresden, Heidelberg und seit 1913 wieder in Leipzig mit Ausnahme des WS 1914/1915 "wegen Kriegsvertretung an einer Schule in Dresden". 86 Immerhin, zwei der ersten Promovendinnen der Universität Constanze Siegfried 1913 und Marie Dietsch 1918, fanden unmittelbar nach der Promotion auch eine Anstellung an dieser, allerdings nur für relativ kurze Zeit (Beschäftigungsdauer 1 bzw. 5 Jahre). Die ersten promovierten Frauen der Leipziger Universität, waren trotz nachgewiesener Professionen im universitären Bereich auf hierarchisch untergeordneten Ebenen angesiedelt, in denen sie keine wissenschafts- und lehrprofilentscheidenden Dienststellungen einnahmen. Keine der ersten Promovendinnen erreichte eine dauerhafte Integration in die Universität Leipzig und keine die nächst höhere Stufe der wissenschaftlichen Qualifikation, die Habilitation. Die Habilitation für Frauen wurde in Deutschland im Jahre 1920 im Wege eines Erlasses des Preußischen Ministers für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung möglich.87 Die erste Habilitandin der Leipziger Universität war die Indologin Dr. phil. Charlotte Krause im Jahre 1923. Sie hatte bereits 1920 an der Leipziger Universität auch promoviert und wurde 1924 auch deren erste Privatdozentin.88 Ihr folgte im Jahre 1925 die Habilitation der Ärztin Dr. med. Martha Schmidtmann.89 86 87 88 89 Vgl. UAL, PA, Phil. Fak., Blatt 4 Vgl. Zentralblatt für die gesamte Universitätsverwaltung in Preußen. Jg. 1920, 240. Aus Anlass der Eingabe von Dr. Edith Stein, aus Breslau vom 12.12.1919, trat der Minister der von ihr vertretenen Auffassung zu, „dass in der Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht kein Hindernis gegen die Habilitierung erblickt werden darf...“ bei. Vgl. UAL, PA 654 Vgl. UAL, PA 1590 190 Anfänge des Frauenstudiums in Leipzig Literatur Beckmann, Emmy: Die Entwicklung der höheren Mädchenschulbildung in Deutschland von 1870-1914. Berlin 1936. Bäumer, Gertrud: 30 Jahre Frauenstudium. In: "Die Frau". 45. 1937/38. S. 578 - 585. Boedeker, Elisabeth (Hrsg.): 25 Jahre Frauenstudium in Deutschland. Hannover 1939. Boedeker, Elisabeth (Hrsg.): 50 Jahre Habilitationen von Frauen in Deutschland. Göttingen 1974. Boetcher-Joeres, Ruth-Ellen: Die Anfänge der deutschen Frauenbewegung. Louise Otto-Peters. Frankfurt a.M. 1983. 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Wir erwarten davon natürlich Änderungen in der Arbeitsorganisation, weil Frauendenken und -anforderungen, -motivation und -erfahrungen ein Berufsbild und den Arbeitsalltag verändern können. Bei der “Sommeruniversität für SchülerInnen”, die eine spezielle Form der Studienberatung darstellt, wird auf monoedukatives Vorgehen wertgelegt. Jeweils in den Sommermonaten der Jahre 1998 und 1999 veranstaltete die TU Dresden unter dem Motto "erst ausprobieren - dann studieren" ihre “Sommeruniversität für SchülerInnen”, wobei ausgewählte Studienrichtungen vorgestellt wurden. Wegen des großen technischen Fächerspektrums ist die TU für ein solches monoedukatives Projekt sehr geeignet. Besonders in den technischen Fachrichtungen können sehr viele differenzierte Studienwünsche erfüllt werden. Dazu gehören auch solche Studienrichtungen, bei denen der Gedanke des Umweltschutzes schon in ihrer Bezeichnung hervorgehoben wird, und solche mit fächerübergreifenden Anwendungsbereichen. Diese Studienrichtungen werden von den Mädchen zunehmend ausgewählt. Die TU Dresden bietet in der Fakultät Mathematik und Naturwissenschaften weiterhin die klassischen Studienrichtungen Biologie, Chemie, Mathematik und Physik sowie die Psychologie und die Lebensmittelchemie an. Es wurde unter den Mitgliedern der TU Dresden aber auch unter den SchülerInnen selbst die Sinnhaftigkeit einer solchen Veranstaltung nur für SchülerInnen verhalten diskutiert und teilweise bestritten. Mitunter 194 Mädchen in naturwissenschaftlichen und technischen Studienrichtungen versuchten sich auch Schüler für die Sommeruniversität anzumelden. Diese Meinungsäußerungen hörten auf, als in einer TU-eigenen Zeitschrift der Artikel “Im Ausgang mal zur Uni - die Bundeswehr stellt frei” zur Studienberatung (2-Wochen-Kurse) für Wehrdienstleistende erschien. Für Mädchen und Frauen sind monoedukative Veranstaltungen eine neue Organisationsform, deren Notwendigkeit bewiesen werden muss. Mit den Bildern 1 und 2 (siehe Anhang) gelang das. Sie belegen die Entwicklung des StudentInnenanteils in den Studienjahren 1993/94 bis 1998/99 an der TU Dresden. Sie zeigen die Geschlechtsspezifik des Studienwahlverhaltens und damit die Notwendigkeit einer speziellen Studienberatung für SchülerInnen besonders in den sogenannten Männerberufen. In der Fakultät A (Architektur) liegt der StudentInnenanteil bei 50 %. Die Frauenanteile in den Fakultäten M/N (Mathematik und Naturwissenschaften, siehe auch Bild 2), FGH (Forst-, Geo- und Hydrowissenschaften) und VW (Verkehrswissenschaften) steigen stark an, wobei in den Fakultäten FGH und VW sowohl der Umweltaspekt als auch das breite Spektum attraktiv wirken. In der Fakultät WW (Wirtschaftswissenschaften) fällt der StudentInnenanteil seit sechs Jahren stetig. In den Fakultäten BIW (Bauingenieurwesen), INF (Informatik), MW (Maschinenwesen) und ET (Elektrotechnik) liegt der Frauenanteil unter 30 %. Im Bild 2 ist der StudentInnenanteil in der Fakultät Mathematik und Naturwissenschaften studienrichtungsspezifisch zusammengestellt. Die Fächer Psychologie, Biologie und Lebensmittelchemie haben einen sehr hohen Frauenanteil, der mit dem in den Erziehungswissenschaften und in den Sprach- und Literaturwissenschaften vergleichbar ist. In der Chemie und Mathematik ist der Frauenanteil deutlich kleiner, und in der Physik ist er sehr klein. Im Studienjahr 1998/99 sind 24.093 Studierende an der TU immatrikuliert. Die folgende Tabelle wurde nach dem Programm des Jahres 1999 erstellt. Sie zeigt, wie aktiv sich besonders die WissenschaftlerInnen der TU Dresden für diese zusätzliche Arbeit engagierten. Die Veranstaltungen fanden schließlich während der Prüfungsperiode und in der vorlesungsfreien Zeit statt. Dazu muss man wissen, dass der Frauenanteil bei den HochschullehrerInnen an der TU Dresden 6,7% beträgt (Frauenanteil im unbefristeten wissenschaftlichen Personal: 32% und im befristeten wissenschaftlichen Personal: 29%). Die folgende Tabelle zeigt die geschlechtsspezifische Auswertung dazu, wieviel Veranstaltungen der Karin Reiche 195 “Sommeruniversität für SchülerInnen” von HochschullehrerInnen, akademischen MitarbeiterInnen bzw. von außeruniversitären ReferentInnen durchgeführt worden sind. Tabelle 1: Geschlechtsspezifik zur Durchführung der Veranstaltungen Anzahl der Veranstal- davon von Frauen tungen durchgeführt HochschullehrerInnen 42 33% akademischen Mitarbei116 66% terInnen außeruniversitären Refe12 100% rentInnen Summe 170 60% Die Resonanz auf die vom Referat Gleichstellung für Frau und Mann organisierte “Sommeruniversität für SchülerInnen” war größer als erwartet. Insgesamt nahmen in diesen zwei Jahren 286 Mädchen, vorwiegend aus Sachsen, an unserer Sommeruniversität teil. Es gab aber auch TeilnehmerInnen (etwa jede fünfte) aus den alten und den übrigen neuen Bundesländern. Der überwiegende Teil der SchülerInnen besuchte zum Zeitpunkt der Anmeldung die 11. oder 12. Klasse. Der Anteil der SchülerInnen aus den Klassen 10 und 13 war demgegenüber gering. Im Jahre 1998 wurden drei und im Jahre 1999 vier Projektwochen angeboten. In jeweils einer von diesen sieben Projektwochen hatten die GymnasiastInnen fünf Tage lang Gelegenheit, verschiedene Fachrichtungen in Einführungsvorträgen, Vorlesungen, Praktika und Übungen hautnah zu erleben. Der gebotene Mix an verschiedenen Formen der Studienorientierung kam gut an. Besonderen Anklang fanden praxisnahe Veranstaltungen, wie Labor- und Betriebsbesichtigungen, aber auch individuelle Gespräche mit HochschullehrerInnen und StudentInnen sowie Gruppengespräche. Die folgenden zwei Tabellen charakterisieren die TeilnehmerInnen an der “Sommeruniversität für SchülerInnen” in den Jahren 1998 und 1999 hinsichtlich ihres Wohnorts und ihres Alters. 196 Mädchen in naturwissenschaftlichen und technischen Studienrichtungen Tabelle 2: Nach Herkunft TeilnehmerInnen, neue Bundesländer (davon aus Sachsen) (davon aus Dresden) TeilnehmerInnen, alte Bundesländer TeilnehmerInnen, gesamt 1998 125 (108) (28) 8 133 1999 148 (131) (34) 5 153 1998 9 83 32 7 2 133 1999 8 78 54 7 6 153 Tabelle 3: Nach Klassenstufen 10. Klasse 11. Klasse 12. Klasse 13. Klasse berufst./prakt. Jahr/AZUBI/Au pair Summe In einer Fragebogenaktion haben wir die SchülerInnen nach ihrer individuellen Ausgangssituation vor der Teilnahme an der Sommeruniversität befragt. Wir wollten erfahren, wer unsere Universität kennen lernen will, wer die zukünftigen MathematikerInnen, NaturwissenschaftlerInnen oder IngenieurInnen sind. In einer Nachbefragung interessierten wir uns für den Erfolg der Sommeruniversität und für deren Einordnung in die Vielfalt der Angebote zur Studienberatung. Von 100 befragten SchülerInnen waren 40 Einzelkinder, die übrigen hatten ein (43), zwei (14) bzw. drei (3) Geschwister, die sich überwiegend noch in schulischer bzw. beruflicher Ausbildung befanden. Bei mehr als der Hälfte dieser SchülerInnen hatte mindestens ein Elternteil einen Hochschulabschluss, bei jeder vierten Schülerin sogar beide Elternteile. Jede dritte Schülerin hatte von ihrem zukünftigen Beruf schon mehr oder weniger konkrete Vorstellungen. Beim überwiegenden Teil der SchülerInnen entwickelte sich der Studien- und Berufswunsch im Alter zwischen 15 und 17 Jahren, d. h. in den Klassenstufen 9 bis 11. Deshalb Karin Reiche 197 ist das Praktikum interessant, das die meisten SchülerInnen im Rahmen ihrer schulischen Ausbildung absolvierten. Wir fragten danach und mussten feststellen, dass diese Praktika sehr selten auf naturwissenschaftlichen und technischen Gebieten angesiedelt waren. Als Tätigkeitsfelder wurden Arztpraxen, Apotheken, Kindergärten/Krankenhäuser/ Altersheime, Kanzleien und Steuerbüros, Werbeagenturen und der Handel häufig genannt. Hier versäumen die Hochschulen im Freistaat Sachsen eine Chance der Einflussnahme auf die Studienwünsche der SchülerInnen. In der Schule interessierten sich die Mädchen besonders für die Fächerkombinationen Mathematik und Naturwissenschaften oder Sprachen und Naturwissenschaften. In diesen Fächern wurden meist auch Bestleistungen erzielt. Bei den Freizeitbeschäftigungen rangierte an erster Stelle der Sport, gefolgt von Literatur und Musik. Alle anderen möglichen Tätigkeiten waren unterrepräsentiert, auch die Arbeit am Computer. Das wäre bei Jungen sicher nicht passiert. Besonders großes Interesse und damit auch großen Informationsbedarf zeigten die SchülerInnen, befragt am Anfang der Projektwoche, an den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fachrichtungen, wobei Biologie, Mathematik, Psychologie und Chemie bevorzugt wurden. Die Tabelle 3 zeigt die Zusammenstellung. Wesentliche Einflussfaktoren auf die Berufsentwicklung sind persönliches Interesse, der Unterricht und die Familie. Hieraus lässt sich schlussfolgern, dass dem Unterricht, in dem ja oft durch die Gestaltung persönliches Interesse geweckt wird, besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden muss, wenn es um die Gewinnung von SchülerInnen für mathematisch-naturwissenschaftliche und technische Studienrichtungen geht. Nicht zu unterschätzen ist natürlich auch der Einfluss der Familie mit ihrer Berufs- und Lebenserfahrung, in die insbesondere allgemein verbreitete Ansichten und die gesellschaftliche Anerkennung von Frauen in bestimmten Berufen eingehen (z. B. frauentypische Berufe wie Lehrerin usw. oder untypische Berufe wie Diplomingenieurin). Die meisten SchülerInnen (74 %) konnten ihre Eltern bei deren Arbeitstätigkeiten beobachten. Gespräche zum Berufs- bzw. Studienwunsch fanden in allen Familien der befragten TeilnehmerInnen statt. Über die Hälfte (57 %) sprach mit den Eltern (davon wiederum etwa jede zweite zusätzlich mit Geschwistern oder Großeltern), fast die Hälfte (43 %) sprach mit allen im Fragebogen aufgeführten Familienangehörigen. Fast 198 Mädchen in naturwissenschaftlichen und technischen Studienrichtungen alle SchülerInnen (94) unterhielten sich darüber hinaus mit ihren FreundInnen über ihren Berufs- oder Studienwunsch. Tabelle 4: Informationsbedarf der SchülerInnen laut vorgetragenem Wunsch Fakultät/Fachrichtung Architektur (A) Bauingenieurwesen (BIW) Elektrotechnik Forst-, Geo- und Hydrowissenschaften (FGH) Forstwissenschaften Geographie, Kartographie, Geodäsie Wasserwesen Informatik (INF) Maschinenwesen (MW) Maschinenbau Verarbeitungs- und Verfahrenstechnik Werkstoffwissenschaft Mathematik/Naturwissenschaften (M/N) Biologie Chemie/Lebensmittelchemie Mathematik/Technomathematik/ Wirtschaftsmathematik Physik Psychologie Verkehrsingenieurwesen/ Verkehrswirtschaft (VW) Wirtschaftsingenieurwesen (WW) 1998 9,0 % 5,2 % 3,5 % 18 % 2,9 % 9,3 % 5,5 % 1999 10,7 % 3,8% 4,4 % 14,7% 2,7 % 5,2 % 6,9 % 3,5 % 9,6 % 3,5 % 4,1 % 2,0 % 42 % 12 % 6,4 % 8,1 % 6,7 % 8,2 % 3,6 % 3,3 % 1,3 % 40,3 % 11,1 % 7,8 % 6,1 % 3,8 % 12 % 5,2 % 4,4 % 10,9 % 4,0 % 4,1 % 7,1 % 23 SchülerInnen schätzten sich im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich als sehr talentiert ein, 61 als talentiert, 14 als mittelmäßig und 2 als wenig talentiert. Etwas ungünstiger fällt die Einschätzung der Begabung im technischen Bereich aus. Hier hielt sich nur eine Schülerin für sehr talentiert, 24 fanden, dass sie talentiert sind, 49 schätzten sich Karin Reiche 199 als mittelmäßig talentiert ein, 22 als wenig talentiert und 2 als gar nicht talentiert. Sicher wirkt sich in dieser Bewertung das fehlende Angebot an technischen Fächern in der Schule aus, so dass es den SchülerInnen schwerfällt, ihre Begabung in diesem Bereich einzuschätzen. Für den wirtschaftlichen Bereich hielten sich etwa ein Fünftel der SchülerInnen für sehr talentiert (4) oder talentiert (17), etwa die Hälfte (47) schätzten sich als mittelmäßig talentiert ein und etwa ein Drittel als wenig (29) oder gar nicht (3) talentiert. Die reichliche Hälfte der SchülerInnen ist im künstlerisch-musischen Bereich sehr begabt (20) oder begabt (35), etwa ein Viertel (24) hält sich für mittelmäßig begabt und etwa ein Fünftel für wenig (16) oder gar nicht begabt (5). Ihre Begabung für den sozialpflegerischen Bereich schätzten die SchülerInnen folgendermaßen ein: Jede zehnte hält sich für sehr talentiert, ein Viertel (26) findet sich talentiert, zwei Fünftel (39) meinen, dass sie mittelmäßig talentiert sind, ein Fünftel (21) hält sich für wenig talentiert und 4 SchülerInnen glauben, dass sie gar kein Talent für diesen Bereich besitzen. Interessant waren für uns auch die Vorstellungen der TeilnehmerInnen von der Arbeit einer Ingenieurin, da dies kein frauentypischer Beruf ist. Etwa jede 5. Schülerin (21%) meinte, dass bei der Arbeit einer Ingenieurin Arbeit im Team, am Computer und Reißbrett o. ä., Leitung und Organisation sowie Forschung und Entwicklung eine Rolle spielen, ein knappes weiteres Fünftel (18%) entschied sich für die eben genannte Kombination ohne Leitung und Organisation bzw. 16% ohne Team und 10% ohne Computer. Bei nur einer Schülerin tauchte die Kategorie körperlich schwere Arbeit an der Maschine auf (in Kombination mit Arbeit im Team und Computertätigkeit). Die Fragen zur Lebensplanung zu beantworten war für die SchülerInnen nicht leicht. Der überwiegende Teil der SchülerInnen (84%) schätzt für sich persönlich ein, dass es schwierig ist, während des Studiums ein Kind großzuziehen. Etwa jede zehnte (12%) hält dies für nicht möglich, eine Schülerin möchte überhaupt keine Kinder. Nur 3 SchülerInnen können sich vorstellen, Studium und Kindererziehung gleichzeitig ohne Probleme zu meistern. Auch während der Berufstätigkeit halten es immer noch 59 Mädchen für schwierig, ein Kind großzuziehen, 2 schätzen dies für sich als unmöglich ein. 38 SchülerInnen können sich jedoch nun vorstellen, Berufstätigkeit und Mutterschaft problemlos zu 200 Mädchen in naturwissenschaftlichen und technischen Studienrichtungen vereinbaren. In der Nachbefragung wollten wir wissen, welche Resonanz die Sommeruniversität bei den SchülerInnen hatte. Wir konnten feststellen, dass die Sommeruniversität die Erwartungen und Wünsche der meisten SchülerInnen gut bzw. sehr gut erfüllt hat und auch für eine Reihe von technischen Studiengängen besonderes und größeres Interesse weckte. 95 Mädchen besuchten demnach Veranstaltungen naturwissenschaftlicher Studiengänge (was mit den Studienwünschen gut übereinstimmt), 84 die technischer, 67 die mathematischer und 46 die wirtschaftswissenschaftlicher Studiengänge. Die Veranstaltungen mit der größten Resonanz zu nennen fiel den SchülerInnen nicht leicht. Überproportional viele entschieden sich dann für die Experimentalvorträge der Fachrichtung Elektrotechnik "Akustik Wohlklang-Lärm-Information", "Der sprechende Computer", "Alternative Energiegewinnung - Solarenergie" sowie für die Betriebsbesichtigung bei SIMEC. Ein besonderes Lob erhielten auch die Veranstaltungen: • "Exkursion in die Forststadt Tharandt" • "Lebensmitteltechnik - interessante Verbindung von Naturwissenschaft und Ingenieurtechnik" • "Von der Gartenkunst zum Nationalpark" • "So lügt man mit Statistik" • "Warum fliegt ein Flugzeug?" • "Experimentieren mit AHA-Effekt" • "Pflanzenvielfalt aus aller Welt" Aus dieser Bewertung geht hervor, dass die Sommeruniversität im Vergleich mit anderen Formen der Studienberatung sehr gut abschneidet (alle SchülerInnen hielten sie für sehr sinnvoll oder sinnvoll). Etwa gleich gut liegt die individuelle Beratung (96% sehr sinnvoll oder sinnvoll). Gut kommen auch der Tag der offenen Tür an der TU Dresden (85% sehr sinnvoll oder sinnvoll) und die Informationsbroschüren (80% sehr sinnvoll oder sinnvoll) an. Die Beratung beim Arbeitsamt wird dagegen nur von knapp einem Drittel der SchülerInnen für sinnvoll oder sehr sinnvoll gehalten. Karin Reiche 201 EZW SLW PhF JF MED A M/N FGH VW WW BIW INF MW ET 1993 76,0 75,7 57,1 49,4 48,1 53,0 44,1 24,0 24,9 46,4 18,0 15,7 14,2 6,5 1994 75,7 77,3 55,8 49,4 49,4 49,0 43,7 37,5 25,9 42,6 17,5 14,5 11,2 5,6 1995 75,1 75,1 56,7 53,0 49,9 48,7 46,9 38,8 29,9 39,4 19,4 12,1 10,9 5,5 1996 74,6 75,9 56,7 54,6 50,1 49,6 49,1 42,1 34,2 37,5 20,8 11,1 12,9 5,0 1997 78,9 77,0 57,9 55,0 53,0 50,3 49,9 43,3 36,2 36,0 20,8 12,7 12,4 5,5 1998 77,7 78,5 59,8 55,6 54,6 51,9 53,5 44,7 38,4 35,6 21,8 12,8 12,7 6,5 A M/N FGH VW WW BIW INF MW ET 1993 53,0 44,1 24,0 24,9 46,4 18,0 15,7 14,2 6,5 1994 49,0 43,7 37,5 25,9 42,6 17,5 14,5 11,2 5,6 1995 48,7 46,9 38,8 29,9 39,4 19,4 12,1 10,9 5,5 1996 49,6 49,1 42,1 34,2 37,5 20,8 11,1 12,9 5,0 1997 50,3 49,9 43,3 36,2 36,0 20,8 12,7 12,4 5,5 1998 51,9 53,5 44,7 38,4 35,6 21,8 12,8 12,7 6,5 202 Mädchen in naturwissenschaftlichen und technischen Studienrichtungen Psychologie Biologie Lebensmittelchemie Chemie Mathematik Physik 1993 62,0 1994 70,2 72,2 63,6 40,5 30,2 7,7 54,3 66,6 35 15,2 1995 71,3 72,4 60,8 37,0 32,7 7,3 1996 72,6 73,8 64,7 35,8 35,6 7,3 1997 77,1 72,5 66,2 30,9 25,2 6,8 1998 77,8 72,4 65 39,2 37,1 7,7 Abbildung 1: Studentinnenanteil in ausgewählten Fakultäten 60 50 1993 1994 1995 1996 1997 1998 in Prozent 40 30 20 10 0 A M/N FGH VW WW BIW INF MW ET Karin Reiche Abkürzungen: A BIW ET EZW FGH INF JF M/N MED MW PhF SLW VW WW Architektur Bauingenieurwesen Elektrotechnik Erziehungswissenschaften Forst-, Geo- und Hydrowissenschaften Informatik Juristische Fakultät Mathematik/Naturwissenschaften Medizinische Fakultät Maschinenwesen Philosophische Fakultät Sprach- und Literaturwissenschaften Verkehrswissenschaften Wirtschaftswissenschaften 203 204 Die AbsolventInnengeneration des Jahres 1998 der HTWK Leipzig Integrationschancen in den Erwerbsarbeitsmarkt Inga Kirst Zusammenfassung Die Absolventinnen des Jahres 1998 der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig (FH) haben durchschnittlich bessere Abschlussnoten als ihre männlichen Kollegen. Auf dem Arbeitsmarkt können sie diesen Vorsprung jedoch nicht umsetzen. Nicht allein, dass sie länger auf der Suche nach Arbeit sind. Sie landen auch eher bei Teilzeitund/oder befristeten Tätigkeiten. Den Frauen bringt ihr Diplom zudem bedeutend weniger Geld ein als den Männern. Neben der "normalen" Diskriminierung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt scheinen die Gründe allerdings auch bei den Hochschulabsolventinnen selbst zu liegen: Die meisten der technisch-naturwissenschaftlichen Studiengänge finden weitestgehend ohne weibliche Beteiligung statt, während die Frauen ihre Domänen in der Betriebswirtschaft, im Verlags- und Bibliothekswesen sowie in der Sozialarbeit haben. Erfreulich für beide Geschlechter ist, dass ein Diplom der HTWK Leipzig ein gutes Argument für die Arbeitsplatzsuche ist - nur wenige der AbsolventInnen des vergangenen Jahres sind noch ohne Anstellung. Das sind in Kürze einige der Resultate einer Erhebung durch die HTWK Leipzig im Frühjahr 1999. Von den 523 AbsolventInnen des Jahrgangs 1998 haben 179, d.h. 34,2% den umfangreichen Fragenkatalog der quantitativen Erhebung beantwortet, 6 Frauen beteiligten sich an der anschließenden qualitativen Erhebung. Zu einigen Resultaten dieser Befragung im Detail: 206 Die AbsolventInnengeneration des Jahres 1998 der HTWK Leipzig Quantitative Erhebung Berufserfahrung vor dem Studium Die erste Überraschung: Frauen und Männer starten mit deutlich unterschiedlichem Erfahrungshintergrund ins Studium und in den Beruf. Während nämlich 26 der befragten Frauen (38,8%) bereits zuvor eine Ausbildung begonnen hatten und 41 nicht (61,2%), ist das Verhältnis bei den Männern genau umgekehrt: 69 hatten schon eine Ausbildung zumindest angefangen (61,6%), hingegen 43 nicht (38,4%). Sowohl Männer als Frauen hatten begonnene Ausbildungen bis auf jeweils eine Ausnahme auch abgeschlossen. Der Trend setzt sich fort, geht es um die vorhandene Berufserfahrung: nur 18 der Absolventinnen dieses Jahrganges haben in einem zuvor erlernten Beruf bereits gearbeitet (26,9%) gegenüber 41 der männlichen Absolventen (36,6%). Wahl des Studienfachs Die offizielle AbsolventInnenstatistik der HTWK Leipzig, die an dieser Stelle zitiert wird, sagt aus, dass 328 Männer und 195 Frauen 1998 das Diplom erworben haben. Sie zeigt zugleich, dass sich die Wege der Geschlechter bei der Auswahl des Studienfachs bereits getrennt haben: Von den männlichen Absolventen hatten sich 255, also 77,7%, für einen der technischen Studiengänge entschieden (der vielschichtigen Studiengang Verlagsherstellung wurde hierbei ganz den technischen Fächern zugeordnet). Spitzenreiter war dabei das Bauingenieurwesen mit 96 Diplomanden (29,3% der Männer). Hingegen zogen die technisch-naturwissenschaftlichen Studiengänge nur 62 Frauen an, d.h. 31,8%. Die Fachbereiche Informatik, Maschinenbau und Automatisierungstechnik hatte zu Beginn des Studiums 1994 keine einzige Studentin gewählt. Unter den 37 Elektrotechnikern gab es nur eine Frau. In die Männerbastion Bauingenieur brachen lediglich 5,6% der Studentinnen, also 11 Frauen ein. In der Architektur herrschte fast Gleichstand: 24 Männer, aber auch 23 Frauen studierten dieses Fach, das damit bei letzteren mit 11,8% bereits an vierter Stelle in der Beliebtheitsskala lag. Die Studentinnen dominierten hingegen die Verpackungstechnik mit 5 Absolventinnen gegenüber lediglich einem Mann. Inga Kirst 207 Mit 44 Studentinnen wählte mehr als jede 5. Frau die Betriebswirtschaftslehre, hingegen mit 39 nur etwa jeder 8. Mann. Das Bibliothekswesen bildete mit 15,4% Platz 2 der Studienfachwahl bei den Studentinnen (30 der Frauen). Zählt man die Buchhandels- und Verlagswirtschaft, die Drucktechnik sowie die Verlagsherstellung hinzu, wollte sich mehr als jede 3. Studentin mit gedruckten Büchern beschäftigen (73 gleich 37,4%), jedoch mit 32 Männern weniger als ein Zehntel der Kommilitonen. Ein deutliches Übergewicht der Frauen zeigte sich im Sozialwesen, für 20 Frauen (10,3%) das gewählte Studienfach, während nur 6 Männer (1,8%) dieses Fach belegten. Diese allgemeine Statistik findet sich übrigens treffgenau in der befragten Gruppe von 179 AbsolventInnen wieder: 22 dieser 67 Studentinnen (32,8%) hatten ein technisches Fach gewählt gegenüber 87 von 112 Studenten (77,7%). Abbildung 1: Geschlechtsverteilung bei der Studienfachwahl, Matrikel 1994 100% 80% 60% 40% 20% El ek tr ot ec hn ik In fo rm at M A ik as ut ch om in at e is nb ie au ru ng st B au ec in hn ge ik ni eu W irt rw sc es ha en fts in ge ni En eu er r gi et ec hn D ik ru ck te B et ch rie ni k bs w irt sc ha ft A rc hi te kt ur So zi al Ve w rla es en gs he rs te llu ng W M us irt sc eo B ha lo uc gi fts hh e m an at de he ls m -/V at ik er la gs w B ib es lio en th ek sw es en 0% Frauen Männer Quelle: Amt für Studienangelegenheiten. HTWK Leipzig 208 Die AbsolventInnengeneration des Jahres 1998 der HTWK Leipzig Technische Vorbildung Die Wahl des Studienfaches steht in einem Zusammenhang zur Berufsausbildung vor dem Studium. Wie bereits erwähnt, hatten 69 der befragten Männer bereits eine Ausbildung begonnen bzw. abgeschlossen. Von diesen wiederum nannten 67 ihre früheren Berufe. Dabei standen 50 "technische" Berufsbilder 17 "nicht-technischen" gegenüber. Von den 26 Frauen mit einer Ausbildung nannten 25 diese Berufe: 7 mal handelte es sich um "technische", hingegen 18 mal um "nicht-technische" Tätigkeiten. Die Abgrenzung der Berufsfelder richtete sich dabei im Zweifelsfall nach der Beschäftigung mit Mechanik, Mathematik und Elektronik. So wurde beispielsweise eine Bauzeichnerin den technischen Berufen zugeschlagen, der Baufacharbeiter hingegen den nicht-technischen. Die Abgrenzungen schönen sogar das Bild leicht zu Gunsten der Frauen. Abschlussnoten und Regelstudienzeit Bei den Abschlussnoten erzielen die Frauen einen deutlichen Vorsprung. Lediglich einer der befragten 112 Männer erlangte ein Diplom mit Auszeichnung (0,9%), hingegen 4 ihrer 67 Kommilitoninnen (6%). 19 der Frauen (28,4%) gelangten lediglich mit "befriedigend" ans Studienziel, doch 41 Männer (36,6%) trugen diese relativ schwache Note nach Hause. Bei der Studiendauer gab es keine signifikanten Unterschiede zwischen den Geschlechtern: 41 der befragten Studentinnen und 64 der Studenten (61,2% bzw. 57,1%) mussten die Regelstudienzeit um ein Semester überziehen. 39 der 41 Studentinnen nannten auch die (Haupt)Gründe für die Verzögerung: 18 erklärten, für die Diplomarbeit länger als geplant gebraucht zu haben, 6 hatten ein Vertiefungs-, Praktikums- oder Auslandssemester eingeschoben, 5 weitere (12,8%) gaben familiäre Gründe wie Kindererziehung oder Schwangerschaft an. Von den 60 Studenten, die hierzu Angaben machten, nannten 32 die Diplomarbeit als Hindernis, ein freiwilliges Zusatzsemester hatten sich nur 2 geleistet. Familiäre Ursachen oder die Kindererziehung gab kein einziger der jungen Männer als Grund für die Verzögerung an. Während also die Diplomarbeit bei beiden Geschlechter für jeweils rund der Hälfte der Überschreitungen der Regelstudienzeit verantwortlich war - auch hinter dieser Angabe verstecken sich gewiss weitere Gründe - ist eindeutig jede 8. Studentin gezwungen, aus familiären Gründen länger als geplant zu studieren. Allerdings leis- Inga Kirst 209 teten 3 der befragten Männer während des Studiums den Zivil- oder Militärdienst ab. Praxisorientierung im Studium Praktisch keine Unterschiede zwischen den Geschlechtern gibt es bei der Beantwortung der Frage, wie gut man/frau sich durch das Studium auf den Beruf vorbereitet glaubt. 41,8%, das waren 28 von 67 Studentinnen, bzw. 47 von 112 Studenten (42%) antworteten hier mit "gut" bzw. "sehr gut". 49,8% (33 Frauen) bzw. 47,3% (53 Männer) meinten "teils-teils", während 9% der weiblichen Absolventen (6 Frauen) und 10,7% ihrer Kommilitonen (12 Männer) sich wenig oder gar nicht auf das Berufsleben präpariert vorkamen. Hohe Zufriedenheit bestand hinsichtlich der theoretischen Ausbildung an der HTWK Leipzig. Hingegen wurde die Praxisorientierung teilweise als nicht ausreichend bezeichnet. Bewerbungsstrategien Die Untersuchung wollte auch klären, ob es geschlechtsspezifische Unterschiede in den Bewerbungsstrategien gibt. 65 Frauen und 107 Männer gaben dazu Auskunft. Mit 51 bzw. 29 Nennungen stehen das Studium des Stellenanzeigenteils der Zeitungen bzw. der Fachzeitschriften bei den Frauen im Mittelpunkt. Die Männer, die diese Fragen beantworteten, verließen sich mit 68 (Zeitung) bzw. 32 (Fachzeitschrift) Nennungen zwar immer noch stark auf die traditionellen Medien, jedoch deutlich erkennbar nicht so sehr wie ihre Kommilitoninnen. Statt dessen wurde von den Studenten bereits 50 mal die Stellensuche im Internet genannt gegenüber 24 Nennungen bei den Frauen. 29 von 65 Absolventinnen ließen sich beim Arbeitsamt beraten, hingegen nur 26 ihrer Kommilitonen. 42 von 107 Männern schickten Blindbewerbungen los, 22 der Absolventinnen taten es ihnen gleich. Die meisten Befragten machten auch Angaben, zu wie vielen Bewerbungsgesprächen sie eingeladen wurden. Danach führten 69,1% der Frauen und 60% der Männer maximal drei Gespräche, bis sie sich mit einem Arbeitgeber einig waren. 210 Die AbsolventInnengeneration des Jahres 1998 der HTWK Leipzig Berufsstart Wenn es galt, das frisch erworbene Wissen auf dem Erwerbsarbeitsmarkt einzusetzen, hatten die Männer den weitaus besseren Start: 33% von ihnen (30 von 91 Antworten) gegenüber nur 13,7% (7 von 51 Frauen) erhielten sofort einen Arbeitsplatz. 55% der Absolventinnen benötigten 1 bis 3 Monate für die Suche wie auch 50,5% der männlichen Kommilitonen. Dieses Bild spiegelt sich in der Zahl der Bewerbungen, die eingereicht wurden. 13,1% der Männer (13 von 99 Angaben) machten sich die Mühe überhaupt nicht - in der Regel, weil sie den Job auch ohne Bewerbung schon in der Tasche hatten. Keine einzige ihrer weiblichen Konkurrenten legte einen solchen Schnellstart hin. 6,1% der Männer und 6,8% der Frauen (6 von 99 Studenten; 4 von 59 Studentinnen) gaben an, mehr als 50 - zum Teil sogar mehr als 100 - Bewerbungen geschrieben zu haben. Abbildung 2: Dauer der Arbeitsplatzsuche, Matrikel 1994 30 25 20 15 10 5 0 Sofort 1 Monat 2 Monate 3 Monate 4 Monate 5 Monate 6 Monate Über 6 Monate Frauen 7 11 9 8 3 4 7 2 Männer 30 19 13 14 5 4 2 4 Inga Kirst 211 Befristung von Arbeitsverhältnissen Schließlich werden die Frauen sowohl hinsichtlich des Verdienstes als auch in der Sicherheit des Arbeitsplatzes deutlich von den Männern "abgehängt". Von den berufstätigen Frauen haben nur 63% (34 von 54 Antworten) eine unbefristete Vollzeittätigkeit angetreten, während es bei den Männern 79,4% (77 von 97 Befragten) waren. Mit befristeter Vollzeitarbeit mussten sich 22,2% (12) der Studienabgängerinnen zufrieden geben, aber nur 9,3% (9) ihrer Kommilitonen. Eine unbefristete Teilzeittätigkeit nahmen 4 von 54 der Frauen auf (7,4%), aber lediglich 2 der 97 antwortenden Männer (2,1%). Während kein einziger Mann auf einem befristeten Teilzeitjob "hängen blieb", mussten 2 Frauen damit vorlieb nehmen (3,7%). Im Gegenzug machte sich mit 9,3% fast jeder 10. männliche Student Selbstständig, ihre weiblichen Kolleginnen nur zu 3,7%. Wirft man einen Blick zurück auf die Studienfachwahl, so wird erkennbar, dass die von den Frauen bevorzugten Berufe auch nicht unbedingt zur Selbstständigkeit geeignet sind. Verdienstmöglichkeiten Am Monatsende ist bei den Frauen deutlich weniger auf dem Gehaltskonto als bei den Männern. Von den Befragten machten 53 Frauen und 96 Männer zu diesem Punkt Angaben. 20,8% der Frauen - das sind 11 Diplomandinnen - müssen sich mit einem Bruttoeinkommen unter 2.500 DM begnügen. Bei den Männern sind es ganze 3 (3,1%). Auch in der nächsten Verdienststufe bis 3.500 DM sind die Frauen häufiger zu finden: 28,3% gegenüber 13,5% (15 Frauen, 13 Männer). Zwischen 3.500 DM und 4.500 DM treten die Männer erst richtig an: hier sind 39 von ihnen zu finden (40,6%) und 16 der Frauen (30,2%). Eine Gruppe höher, bis 5.500 DM, sind die ehemaligen Studenten schon weit in Führung: mit 28 Nennungen gleich 29,6% verdient fast jeder dritte Berufsanfänger so gut, aber nur noch 7 der Diplomandinnen - das sind 13,2%. In der Welt jenseits der 6.500 DM monatlich als Startgehalt sind die Männer fast unter sich: jeder 20. (5 Nennungen gleich 5,2%) gehört zu den Spitzenverdienern, aber lediglich eine einzige der Frauen (1,9%). An der unterschiedlichen Wahl der Studiengänge allein liegt es nicht, wenn Männer und Frauen nach dem Studium sogleich Gehaltsunterschiede aufweisen. Das wird deutlich, wenn wir die Bezahlung in den 212 Die AbsolventInnengeneration des Jahres 1998 der HTWK Leipzig Männerdomänen der technischen Berufe untersuchen. Brechen Frauen hier in die Vormachtstellung ihrer Kommilitonen ein, werden sie deutlich schlechter bezahlt als diese und finden sich vor allem in den unteren Hierarchie- und Lohnebenen wieder, während andererseits ein nicht unerheblicher Teil der männlichen Berufsanfänger gleich Spitzengehälter erzielt. Abbildung 3: Bruttoeinkommen der HTWK-AbsolventInnen, Matrikel 1994 60 50 40 in % 30 20 10 0 bis 2.500 DM bis 3.500 DM bis 4.500 DM bis 5.500 DM bis 6.500 DM über 6.500 DM Männer (n=96) 3 13 39 28 8 5 Frauen (n=53) 11 15 16 7 3 1 Inga Kirst 213 Abbildung 4: Einkommensverteilung in den technischen Studiengängen, Matrikel 1994 50 45 in % des jeweiligen Geschlechts 40 35 30 Männer (n=78) 25 Frauen (n=27) 20 15 10 5 0 bis 2.500 DM bis 3.500 DM bis 4.500 DM bis 5.500 DM bis 6.500 DM über 6.500 DM Männer (n=78) 3 11 33 22 4 5 Frauen (n=27) 5 6 10 3 2 1 Arbeitsplatzzufriedenheit und Motivation Künftigen Befragungen von HTWK-Absolventinnen bleibt vorbehalten zu klären, ob Frauen neben den schlechter bezahlten auch noch die weniger attraktiven Jobs angeboten und angenommen haben. Bemerkenswert ist, dass jede 4. Frau (13 von 53 oder 24,5%) angibt, bei ihrer jetzigen Tätigkeit handele es sich nur um eine "Durchgangsstation", bis die "richtige" Stelle gefunden ist. Bei den Männern sahen das 14,4% (14 von 97) so. Etwa gleich viele Ex-Studentinnen und Ex-Studenten (33 gleich 62,3% bzw. 64 gleich 66%) erklärten hingegen, die jetzige Berufstätigkeit entspreche ihren Interessen und sei auf Dauer angelegt. Auf den Zusammenhang zwischen gewähltem nicht-technischem Studienfach und Verdienst weisen die Mittelwerte der Netto-Einkommen in einzelnen, ausgewählten Berufsgruppen hin. So liegen z. B. die Elektrotechniker mit 3.500 DM im Schnitt deutlich über den AbsolventInnen des Fachbereiches Sozialwesen mit nur 2.100 DM. Zugleich wird dabei ein Zusammenhang zwischen Verdienst und Bewerbungsintensität deut- 214 Die AbsolventInnengeneration des Jahres 1998 der HTWK Leipzig lich. Die gut verdienenden Elektrotechniker reichten im Schnitt 22 Bewerbungen ein, die schlecht bezahlten Sozialarbeiter/Sozialpädagogen lediglich 5. Es ist also vergleichsweise einfach, im Sozialbereich einen Arbeitsplatz zu finden, das dort zu erzielende Einkommen ist jedoch eher niedrig. Wenn es um die Motive geht, die zur Annahme des derzeitigen Arbeitsplatzes geführt haben, steht bei den Männern mit 27,8% das Argument des interessanten Arbeitsgebietes an der Spitze aller 277 Nennungen. Mit Abstand (13,7%) folgen der gute Verdienst, die Wohnortnähe mit 10,8%, die Sicherheit des Jobs und die flexible Arbeitszeit mit jeweils 8,7% und die Aufstiegschancen mit 7,9%. Bei den Frauen führt ebenfalls das interessante Aufgabengebiet mit 29,9% der 134 Nennungen. Dahinter kommen Wohnortnähe (11,2%), gute Bezahlung und Aufstiegschancen mit je 10,4% sowie die Sicherheit des Jobs. Allerdings entfielen auf partnerschaftliche bzw. familiäre Gründe bei den Frauen 6,0% der Nennungen, bei den Männern hingegen nur 3,2%. Das könnte ein Indiz dafür sein, dass Frauen bei der Arbeitsplatzsuche mehr Rücksicht auf den Partner und/oder die Kinder nehmen als die Männer. Stärker bei den Frauen ist die Angst vor Arbeitslosigkeit: 7,5% der Nennungen bei den Gründen für die Aufnahme der jetzigen Tätigkeit hoben diese Angst hervor. Bei den Männern waren es 5%. Geschlechtszugehörigkeit und Arbeitsplatzchancen Aufschlussreich sind erwartungsgemäß die Antworten auf die Frage ausgefallen, ob die jeweilige Geschlechtszugehörigkeit bei der Suche nach einem Arbeitsplatz hinderlich oder förderlich war. 65 Frauen und 108 Männer beantworteten diese Frage. "Weder noch" meinten 60 Männer (55,6%) und 35 Frauen (53,8%). 24,1% der Männer (26) gaben an, durch ihr Geschlecht begünstigt worden zu sein - eine Zahl, die vor allem durch den hohen Anteil von Bauingenieuren entsteht: hier ist offensichtlich immer noch der "rauhbeinige Bauleiter" gefragt. 7 Frauen (10,8%) gaben an, sie seien im Vorteil gewesen. Immerhin 9 der Frauen (13,8%) fühlten sich bei ihrer Suche diskriminiert (hingegen keiner der Männer). Inga Kirst 215 Abbildung 5: Empfundene Benachteiligung durch die Geschlechtszugehörigkeit, Matrikel 1994 100% 90% 80% Weiß nicht 70% Benachteiligt 60% Weder noch 50% Begünstigt 40% 30% 20% 10% 0% Männer Frauen Ein großer Teil der Befragten erläuterte ihre Aussagen kurz. Auffällig ist dabei, dass von 20 ihr "Weder noch" begründenden Frauen nur 12 mit ihrer Einschätzung ausdrücklich die berufliche Chancengleichheit in dem Sinne meinten, dass die Qualifikation und nicht das Geschlecht entscheidet. In den 8 anderen Bemerkungen kommt zum Ausdruck, dass mit der Einstellung der Absolventin z.B. ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis am Arbeitsplatz hergestellt werden sollte, die Frau lediglich keine negative Erfahrung gemacht hatte oder sogar kein männlicher Konkurrent vorhanden war. Die 27 Männer, die ihre "Weder noch"-Wertung kommentierten, blieben hingegen auch in ihren Kommentaren zu 100% der Ansicht, das Geschlecht spiele überhaupt keine Rolle. 19 der 26 Männer, die ihre Arbeitsplatzsuche durch ihr Geschlecht begünstigt fanden, erläuterten diese Auffassung auch. 9 von ihnen gaben ihre Tätigkeit auf dem Bau (meist als Bauleiter) als Grund an. Dass sie Vorteile daraus ziehen, nicht schwanger werden zu können, meinten 2 216 Die AbsolventInnengeneration des Jahres 1998 der HTWK Leipzig der Männer. Ganz anders die Frauen: Von den 8 Absolventinnen, die ihre erlebte Benachteiligung kommentierten, gaben 4 konkret an, dass schon die Möglichkeit einer Schwangerschaft, ihre Chancen auf den umworbenen Arbeitsplatz zunichte machte. Wie oben erwähnt, hatten 7 Frauen erklärt, ihre Geschlechtszugehörigkeit habe die Stellensuche begünstigt. Alle erläuterten ihre Wertung, wobei sich herausstellte, dass diese Antworten so durchgängig positiv dann doch nicht waren. Eine der Frauen berichtete, dass ihr Chef gerne die "Waffen einer Frau" im Konkurrenzkampf einsetzen möchte. Eine weitere schilderte, dass sie auf einem schlechter bezahlten Arbeitsplatz gelandet ist, der ohnehin nicht für Männer vorgesehen war. Ob hinter den 5 weiteren Kommentaren, die sämtlich auf die Frauendominanz im gewählten Beruf oder die ausschließliche Besetzung der Stelle mit einer Frau hinweisen, nicht ebenso Unterbezahlung und Unterforderung stehen, konnte im Rahmen der durchgeführten Untersuchung nicht geklärt werden. Frauenförderung Von den befragten Studentinnen gab keine an, ihr Arbeitsplatz sei im Rahmen des Sächsischen Frauenförderungsgesetzes geschaffen worden. Und lediglich in einem einzigen Fall gab es Unterstützung aus einem anderen Frauenförderungsprogramm. Was die Frage aufwirft: Greifen die Frauenprogramme nicht oder sind die Absolventinnen der HTWK Leipzig so gut, dass sie diese Unterstützung nicht nötig haben? Auch dies konnte in der Erhebung bei den Absolventinnen nicht geklärt werden. Qualitative Erhebung Die im Anschluss an die Auswertung der Fragebögen durchgeführte qualitative Erhebung gestaltete sich noch weit schwieriger als dies zu vermuten war. Es war vorgesehen, aus allen Studienrichtungen, die 1998 Studentinnen entließen, jeweils eine Absolventin zu befragen. Hatten, wie eingangs zu sehen ist, an der Fragebogenaktion immerhin noch 67 der 195 Absolventinnen teilgenommen, so wurde die Suche nach auskunftsbereiten ehemaligen Studentinnen ebenso langwierig wie meist fruchtlos. Geschuldet war dies einer Reihe von meist objektiven Umstän- Inga Kirst 217 den, angefangen vom Datenschutz bis hin zum Adressenwechsel nach Verlassen der HTWK Leipzig. Die Tatsache, dass die überwiegende Zahl der Absolventinnen inzwischen im Berufsleben steht, kam noch hinzu. Es war vorauszusehen, dass der niedrige Prozentsatz an Frauen, die sich bei ihrer Arbeitsplatzsuche diskriminiert fühlten (13,8%), eine geringe Bereitschaft zur Folge haben würde, speziell zu diesem Thema vertiefende Fragen zu beantworten. So wurde denn die Bitte um ein qualitatives Interview von den angesprochenen Absolventinnen meist negativ beschieden. Insgesamt konnten daher nur 6 Interviews geführt werden, d. h. weniger als 9% der Teilnehmerinnen an der grundlegenden Untersuchung ließen sich noch einmal befragen. Von diesen wiederum gaben 4 an, sich bei der Arbeitssuche benachteiligt gefühlt zu haben, 2 hingegen verneinten dies. 3 von diesen 6 Befragten hatten zum Zeitpunkt der Interviews im Oktober/November 1999 noch keinen Arbeitsplatz; ein deutlicher Unterschied zu der schriftlichen Befragung. Von den 3 berufstätigen Absolventinnen ging eine einer völlig ausbildungsfremden Beschäftigung nach, um ihren Lebensunterhalt zu sichern, eine weitere war bei einer Zeitarbeitsfirma beschäftigt. Konflikte bei der Lebensplanung Trotz der geringen Zahl der Interviews ließ sich ein zentraler Konflikt bei der Lebensplanung von Frauen aufdecken. Die Aussagen zeigen, dass beruflicher Erfolg und Kinderwunsch unter den gegebenen gesellschaftlichen Voraussetzungen kaum vereinbar sind. Das bezieht sich nicht allein auf die tatsächliche oder vermutete Haltung von Arbeitgebern, sondern zum Teil auch auf das Selbstverständnis der Frauen. Wie bereits erwähnt, hielten sich 4 der 6 Frauen in der Kurzantwort für benachteiligt bei ihrer Arbeitsplatzsuche, zwei verneinten dies. Das Hinterfragen im Interview ergab allerdings ein differenzierteres Bild. So berichteten sowohl die beiden "nicht benachteiligten" Frauen ebenso wie die 4 anderen übereinstimmend, dass man sie nicht gefragt hatte, ob sie perspektivisch eine Führungsposition anstreben. Die 2 "nicht Benachteiligten" hatten übrigens beide Arbeit und bezogen ihre Wertung auch ausdrücklich nur auf den erlangten Arbeitsplatz. Grundsätzlich waren sie hingegen ebenso wie ihre 4 Kommilitoninnen mit Diskriminierungserfahrung der Auffassung, Männer seien in Bezug auf Arbeitsplatzqualität und Bezahlung bevorteilt. 218 Die AbsolventInnengeneration des Jahres 1998 der HTWK Leipzig Lediglich eine der Frauen war im Vorstellungsgespräch nicht zu Familienplanung und Kinderwunsch befragt worden. Allerdings handelt es sich in diesem Fall auch nicht um eine Tätigkeit, die einen weiten Karrierespielraum bietet. Alle 6 Interviewten wollen eine Familie gründen und Kinder haben, eine Frau hat bereits ein Kind. 5 der Frauen gaben an, berufliche Karriere und die Familie seien ihnen gleich wichtig, eine Absolventin gab der Familie den Vorrang und wünscht sich für später nur noch eine TeilzeitBerufstätigkeit. Dass ein Kinderwunsch die Karriereplanung beeinflusst, ist nicht nur aus den in den Interviews immer wieder erwähnten besorgten Fragen der (Personal-)Chefs nach Familie und Nachwuchs zu erkennen. Die Frauen spüren ebenso den Konflikt in sich. Eine von ihnen drückte das so aus: "Wenn eine Frau sagt: ich möchte nur Karriere machen, dann hat sie sicherlich genau die gleichen Chancen wie ein Mann. Ich habe da im Hinterkopf immer noch etwas anderes." Eine andere sagte: "Die [Personalchefs, I.K.] wollten halt hören, dass man ein paar Jahre kein Kind kriegt. Aber ich meine, das kann man nicht versprechen..., dann wird man 30, und dann muss man irgendwann doch anfangen." Eine der Befragten berichtete: "Ich habe mehr als 30 Bewerbungsgespräche gemacht, und in jedem wurde ich nach meiner persönlichen Lebensplanung gefragt." Aus Gesprächen mit Kommilitonen wusste sie zugleich, dass den Männern solche Fragen nicht gestellt werden. Forderung nach gesellschaftlicher Veränderung Alle interviewten Frauen - d. h. auch jene, die sich nicht benachteiligt fühlten - signalisierten gesellschaftlichen Veränderungsbedarf, um eine Chancengleichheit der Geschlechter herzustellen. Beklagt wurde, dass die politischen Parteien die Gleichberechtigung nur auf dem Papier und im Wahlkampf vertreten, die wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Entscheidungen hingegen weiterhin überwiegend von Männern getroffen werden. Unter anderem wurde verlangt, es müssten mehr Teilzeitarbeitsplätze geschaffen werden. Frauen sollten in ihren akademischen Laufbahnen - insbesondere im naturwissenschaftlichen Bereich - stärker gefördert werden. Diese Vorstellungen gehen bis zu einer Aufhebung der Koedukation in naturwissenschaftlichen Schulfächern oder etwa zur Einführung einer Frauen-Quotenregelung für die Leitungsebenen von Inga Kirst 219 Unternehmen. Allerdings erhob sich auch eine Stimme, die Frauenförderung als geradezu diskriminierend betrachtet, wenn beispielsweise "Frauen und Schwerbehinderte im gleichen Atemzug" in Stellenanzeigen bevorzugt angesprochen werden. Überwiegend weisen die Interviewten darauf hin, dass sie sich eine völlige Chancengleichheit aufgrund der biologischen Unterschiede gar nicht vorstellen können. Erwartungen an die HTWK Leipzig Was die Rolle der HTWK Leipzig bei der Arbeitsplatzsuche angeht, so wird einer deutliche Erwartungshaltung formuliert. Alle befragten Frauen vermissen Informationen zu Frauenförderprogrammen im Rahmen ihres Studiums. Auch eine Praktikums- und Jobvermittlung für Studentinnen unter Ausnutzung der HTWK-Kontakte zu Arbeitgebern wird wiederholt gewünscht. Eine Mehrheit sieht in einem gezielten Bewerbungstraining für Frauen eine Verbesserung der Chancen zur Integration in den Arbeitsmarkt. Aufgaben künftiger Erhebungen Wie bereits erwähnt, konnten einige Fragen im Rahmen der Erhebung nicht geklärt werden. Außerdem wurden durch die Befragung Erkenntnisse gewonnen, die es wert wären, sie in einer weitergehenden Erhebung näher zu betrachten. In erster Linie wäre die Frage zu nennen, aus welchen Gründen die Studentinnen die technisch-naturwissenschaftlichen Studiengänge in diesem Ausmaß meiden. Dabei sollten sowohl die schulischen Erfahrungen der Studentinnen in diesen Fächern erfragt als auch beispielsweise Zusammenhänge zwischen Studienfachwahl und persönlicher Karriereplanung erforscht werden. Grundsätzlich ist die Betrachtung aller Barrieren von Interesse, die Frauen von technischen Fachbereichen fernhalten. Zu untersuchen wäre auch, ob die gegenüber den Männern geringere Berufserfahrung der Studentinnen diese auch noch nach Abschluss des Studiums behindert - zum Beispiel in der Kommunikation mit Arbeitgebern. Hinsichtlich der deutlichen Auswirkungen familiärer Gegebenheiten auf das Studium der Frauen gilt es zu erfragen, inwieweit besondere 220 Die AbsolventInnengeneration des Jahres 1998 der HTWK Leipzig Angebote der Hochschule solche Belastungen erleichtern können. Wenn an der HTWK Leipzig jede 8. Studentin ihr Diplom aufgrund familiärer Probleme - etwa durch Doppelbelastung als Studentin und Mutter - nur mit Verzögerung erreicht, sollte das Anlass zu genauerem Hinsehen sein. Die geschlechtsabhängigen Unterschiede in den Bewerbungsstrategien und ihre Auswirkungen sowohl auf die angenommene Arbeit als auch auf die Bezahlung bieten sich als ein weiteres Untersuchungsgebiet an. Hier gilt es vor allem, die signifikanten Gehaltsunterschiede näher zu betrachten und etwa der Frage nachzugehen, ob beispielsweise die bevorzugten Fachbereiche der Männer durch eine größere Praxisnähe auch bessere Kontakte zu potentiellen Arbeitgebern bieten. Daran schließt sich sogleich die Frage an, ob die Chancen der Studentinnen durch Bewerbungstraining bzw. durch ein besonderes Engagement der HTWK Leipzig als Mittler zwischen Absolventinnen und Arbeitsmarkt verbessert werden können. Nicht zuletzt harrt die Vermutung, die Frauen erhielten nicht nur die schlechter bezahlten, sondern zugleich die weniger qualifizierten Arbeitsplätze, der Aufklärung. Dies könnte vor allem dort untersucht werden, wo Studentinnen und Studenten direkt um einen Arbeitsplatz konkurrieren. Eine Ausweitung der Erhebung in zwei weitere Richtungen erscheint sinnvoll. Zum einen wäre es vermutlich aufschlussreich, als Gegenpol die Arbeitgeber zu befragen, wie sie zu beruflichen Karrieren von Frauen und zu deren Lebensentwürfen stehen. Zum anderen wäre es reizvoll, die Erhebung der HTWK Leipzig mit Befragungen in anderen Städten des In- und Auslandes zu vergleichen. Vielleicht ist die vorliegende Erhebung ja Anstoß zu einer wissenschaftlichen Zusammenarbeit mit anderen Hochschulen und Universitäten auf diesem Gebiet.