U1/U4 4c Wiedergutmachen - Forum Politische Bildung
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U1/U4 4c Wiedergutmachen - Forum Politische Bildung
WIEDER ENTEIGNUNG GUT ZWANGSARBEIT MACHEN? DIE VERGESSENEN OPFER STUDIENVerlag Innsbruck-Wien ISBN 3-7065-1404-4 forumpolitischebildung (Hg.) Sonderband der Schriftenreihe Informationen zur Politischen Bildung forumpolitischebildung (Hg.) WIEDER GUT MACHEN? RÜCKSTELLUNG UND ENTSCHÄDIGUNG HISTORIKERKOMMISSION GLOSSAR ZEITTAFEL LITERATUR ZUM THEMA INTERNET-ADRESSEN ZUM THEMA WIEDER GUT MACHEN? ENTEIGNUNG ZWANGSARBEIT ÖSTERREICH 1938-1945/1945-1999 ENTSCHÄDIGUNG RESTITUTION WIEDER GUT MACHEN? ENTEIGNUNG ZWANGSARBEIT ÖSTERREICH 1938-1945/1945-1999 ENTSCHÄDIGUNG RESTITUTION Herausgeber: Forum Politische Bildung Konzeption und Textauswahl: Heidrun Schulze und Gudrun Wolfgruber Redaktion: Gertraud Diendorfer Sonderband der Schriftenreihe Informationen zur Politischen Bildung Herausgegeben vom Forum Politische Bildung A-1050 Wien, Rechte Wienzeile 97 Tel.: 0043/1/545 75 35-39 Fax: 0043/1/548 06 66 e-mail: dien@polbild.vienna.at Bestelladresse StudienVerlag Postfach 104, A-6010 Innsbruck Fax: 0512/39 50 45-15 Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Wieder gut machen? Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution [hrsg. vom Forum Politische Bildung]. – Innsbruck; Wien: Studien-Verl., 1999 (Informationen zur Politischen Bildung; Sonderb.) ISBN 3-7065-1404-4 Umschlag und grafisches Konzept: Thomas Kussin Grafische Ausführung: Rosmarie Ladner Lektorat: Helga Gibs Druck: Remaprint Printed in Austria 1999 Trotz intensiver Bemühungen konnten bis jetzt nicht alle Inhaber von Text- und Bildrechten ausfindig gemacht werden. Für entsprechende Hinweise ist der Verlag dankbar. Sollten Urheberrechte verletzt worden sein, wird der Verlag nach Anmeldung berechtigter Ansprüche dies entgelten. Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 Inhalt 4 Einleitung 89 Rückstellung und Entschädigung 90 Brigitte Bailer-Galanda: Die Opfergruppen und 7 Enteignung deren Entschädigung 97 Erste Anlaufstellen/Maßnahmen für Opfer des 8 Hans Witek: „Arisierungen“ in Wien. Aspekte nationalsozialistischer Enteignungspolitik 1938–1940 21 Jonny Moser: Die Zentralstelle für jüdische Auswanderung in Wien 27 Georg Scheuer: Delogiert, deportiert, ermordet 31 Abbildung: Ansuchen um eine Geschäftsübernahme Nationalsozialismus nach 1945 98 Helga Embacher: Der Kampf um die rechtliche Anerkennung jüdischer Überlebender 103 Brigitte Bailer-Galanda: „Ohne den Staat weiter 113 124 33 Zwangsarbeit 34 Ulrich Herbert: Zwangsarbeiter im 131 132 „Dritten Reich“ – ein Überblick 46 Interview mit Florian Freund: „Die Kriegswirtschaft wäre ohne ZwangsarbeiterInnen zusammengebrochen“ 134 139 damit zu belasten …“ Bemerkungen zur österreichischen Rückstellungsgesetzgebung Frank Stern: Rehabilitierung der Juden oder materielle Wiedergutmachung – ein Vergleich Interview mit Georg Graf: „Lücken in der Gesetzgebung“ Der NS-Kunstraub Interview mit Hannah Lessing: „ Bei uns werden alle berücksichtigt“ Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus Robert Knight: „Ich bin dafür, die Sache in die Länge zu ziehen“ 55 Die vergessenen Opfer 56 Brigitte Bailer-Galanda: Beinahe vergessene Opfer – Roma und Sinti 63 Brigitte Bailer-Galanda: Vertrieben und nicht zurückgekehrt 65 Wolfgang Neugebauer: Zum Umgang mit den Opfern der NS-Rassenhygiene nach 1945 71 Jana Müller: Kinder und Jugendliche als Opfer der NS-Verfolgung 75 Martina Scheitenberger, Martina Jung: 81 85 86 87 Fürsorge – Arbeitshaus – KZ: Das Leben der Betty Voss Brigitte Bailer-Galanda: Die sogenannten „U-Boote“ – überlebt im Verborgenen Frauen im Widerstand Die Verfolgung der Zeugen und Zeuginnen Jehovas Die Verfolgung Homosexueller während des Nationalsozialismus 141 Historikerkommission Interviews mit: 142 Clemens Jabloner: „Wir liefern historische Fakten“ 146 Karl Stuhlpfarrer: „Wir müssen tun, was schon vor 30 Jahren hätte geschehen sollen“ 151 Bertrand Perz: „Was jetzt passiert, wäre vor 15 Jahren noch undenkbar gewesen“ 160 Die Archive öffnen sich: Die Erforschung der Firmen- und Bankengeschichte während der NS-Zeit 161 Glossar 178 Zeittafel 180 Literatur zum Thema 182 Internet-Adressen zum Thema Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 Einleitung „Wieder gut machen?“ – Der Titel der vorliegenden Publikation verweist auf die Problematik des Begriffs der „Wiedergutmachung“, also auf die prinzipielle Infragestellung der Möglichkeit, das während des Nationalsozialismus erlittene Leid, den Terror und die Verluste sowie psychische, physische und materielle Folgeschäden überhaupt „wiedergutmachen“ zu können. Wenn in den Jahrzehnten nach Ende der NS-Herrschaft und auch in der aktuellen Debatte von „Wiedergutmachung“ die Rede ist, so wird sie zudem meist eingeschränkt als finanzielle bzw. materielle Leistungen für die Opfer nationalsozialistischer Verfolgung verstanden. Die Notwendigkeit eines Bemühens um die moralische Rehabilitierung der Opfer, ihre Reintegration in und Unterstützung durch die österreichische Nachkriegsgesellschaft wurde und wird demgegenüber weitgehend in den Hintergrund auch der aktuellen Debatte über noch ausstehende Rückstellungen und Entschädigungen gerückt. Ursachen für die aktuelle Debatte gibt es mehrere. Zum einen gibt es bei den jüngeren Generationen eine größere Bereitschaft, sich mit dem Thema bzw. mit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen, was auch mit der Distanz der Generationen zum Nationalsozialismus zusammenhängt. Zum anderen gibt es in Europa und weltweit aufgrund der geänderten geopolitischen Situation seit längerem eine Diskussion über den Umgang mit dem Nationalsozialismus. Beschleunigt wurde die Diskussion durch die rechtliche Möglichkeit, in den USA Sammelklagen gegenüber Firmen oder Banken einzureichen. Voraussetzung ist eine Geschäftsverbindung mit den USA, ein Umstand, der angesichts der zunehmenden Globalisierung immer mehr gegeben ist und den Opfern eine Möglichkeit eröffnet, zu ihrem Recht zu kommen. Internationale Konferenzen wie die Londoner „Raubgoldkonferenz“ (1997) und die Washingtoner Konferenz über „Vermögenswerte aus der Ära des Holocaust“ (1988) sowie die Einrichtung von Kommissionen wie der Bergier-Kommission in der Schweiz zeigten Wege auf, sich dem Erbe der eigenen Geschichte zu stellen. Im September 1998 kam es auch in Österreich zum Beschluss, eine Historikerkommission einzurichten, die den Vermögensentzug und Vermögensvorenthalt auf dem Gebiet der Republik Österreich zwischen 1938 und 1945 und die Rückstellungs- und Entschädigungspraxis der Zweiten Republik untersuchen soll. Intention des vorliegenden Sonderbandes ist es nun, mit den ausgewählten Texten, mit Interviews mit Mitgliedern der Historikerkommission und Hintergrundinformationen eine Möglichkeit zu bieten, sich über die aktuellen Debatten hinaus eingehend mit den zur Diskussion gestellten Fragen auseinandersetzen, nachlesen und informieren zu können. Vor allem aber auch, um zu vermitteln, warum diese Debatte und warum konkrete Schritte notwendig und wichtig sind. Notwendig nicht nur, weil die Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung mehr als fünfzig Jahre lang in ihrem Bemühen um Entschädigung und Rehabilitation überwiegend als BittstellerInnen behandelt oder überhaupt ignoriert wurden. So erhielten trotz zahlreicher Novellierungen des Opferfürsorgegesetzes sowie der Rückstellungsgesetze seit 1945 viele Opfergruppen bis zur Einrichtung des Nationalfonds der Republik Österreich im Jahr 1995 keine oder nur eine unzureichende materielle Entschädigung, manche sind bis heute von der Opferfürsorge nicht anerkannt. Diese Debatte ist aber auch wichtig für das gesellschaftliche Bewusstsein Österreichs, weil die verzögerte Rückstellungspraxis und die lückenhafte Opfer- 4 Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 fürsorgegesetzgebung nach 1945 ein eindrückliches Beispiel sind für den Umgang Österreichs mit seiner Vergangenheit während des Nationalsozialismus. Viele Bereiche der NSHerrschaft, die gegenwärtig diskutiert und die auch in diesem Band thematisiert werden, wurden zudem jahrzehntelang verdrängt. Unser Themenschwerpunkt – Enteignung und Zwangsarbeit, rassistische, politische, religiöse Verfolgung während des Nationalsozialismus und die (nicht)erfolgte Rückstellung entzogenen Vermögens und Entschädigung der Opfer in Österreich nach 1945 – hat daher das Anliegen, nicht nur das Ausmaß der nationalsozialistischen Beraubung und Verfolgung, sondern auch Kontinuitäten von Denkmustern im Umgang mit den Opfern in der Zweiten Republik aufzuzeigen. So untersuchen einige der ausgewählten wissenschaftlichen Texte, Interviews und ZeitzeugInnenberichte die nationalsozialistische Praxis und die verschiedenen Aspekte von Zwangsenteignungen, die unterschiedlichen Dimensionen von Zwangsarbeit sowie die Erfahrungen der bislang „vergessenen Opfergruppen“, andere thematisieren die Haltung der Republik Österreich gegenüber den Betroffenen im Bereich der Opferfürsorge sowie in der Rückstellungspraxis. Ergänzt werden diese Texte durch Interviews mit ExpertInnen, die im Bereich der Wissenschaft bzw. in ihrer Berufspraxis mit diesen Fragestellungen konfrontiert sind. Zentrale Aspekte der gegenwärtigen Diskussion und des Forschungsstandes werden in Interviews mit Mitgliedern der Historikerkommission thematisiert. Dadurch soll der Hintergrund über das Wie und Warum der aktuellen Entwicklungen in Österreich, wie etwa die Einsetzung und die Arbeitsweise der von der Regierung beauftragten Historikerkommission nachvollziehbar werden. Ein Anhang in Form eines umfangreichen Glossars, einer Zeittafel, weiterführender Literaturhinweise und Internetadressen sollen den Charakter des Bandes als Nachschlagewerk unterstreichen. Wir haben uns für eine Zusammenstellung bereits publizierter Texte unter anderem deshalb entschieden, weil damit auch der bisherige Forschungsstand zu diesen Themen reflektiert werden soll; neue Forschungserkenntnisse sind allerdings in den nächsten Monaten und Jahren zu erwarten (siehe auch die Literaturhinweise auf demnächst erscheinende Publikationen im Anhang). Eine solche Zusammenstellung bringt allerdings auch editorische Probleme mit sich. Die ausgewählten Texte wurden vielfach durch Einleitungen oder Informationskästen bzw. Kommentare ergänzt, teilweise auch aktualisiert; so ist zum Beispiel der Beitrag von Wolfgang Neugebauer zum Opferfürsorgegesetz und den Sterilisationsopfern in Österreich fast zur Gänze neu geschrieben worden. Notwendige Erläuterungen und Anmerkungen wurden im Glossar dargestellt, daher ist in den Texten, wenn der jeweilige Begriff zum ersten Mal verwendet wird ein entsprechendes Verweiszeichen ➤ angebracht. Die alte Rechtschreibung wurde in den wieder abgedruckten Beiträgen beibehalten, ansonsten verwenden wir die neue Schreibweise; dies entspricht somit der gegenwärtigen Übergangsphase, in der sowohl die alte als auch die neue Rechtschreibung nebeneinander verwendet werden. Die Berücksichtigung der weiblichen und der männlichen Schreibweise konnte ebenfalls nicht bei allen Textstellen und in einer einheitlichen Form umgesetzt werden. Für die Unterstützung bei der Auswahl der Texte danken wir Mag. Elisabeth Morawek, Leiterin der Gruppe Politische Bildung des Bundesministeriums für Unterricht, und Mag. Sigrid Steininger, Gruppe Politische Bildung des Bundesministeriums für Unterricht. Besonderer Dank gilt weiters unseren InterviewpartnerInnen Dr. Florian Freund, Dr. Georg Graf, Mag. Hannah Lessing, Dr. Clemens Jabloner, Dr. Bertrand Perz und Dr. Karl Stuhlpfarrer für ihre Gesprächsbereitschaft, für Information und Beratung. Ferner danken wir für wertvolle Unterstützung und Informationen Mag. Gerlinde Affenzeller, Dr. Brigitte Bailer-Galanda vom Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes, Mag. Eva Blimlinger, Forschungskoordinatorin der Historikerkommission, Staatsanwalt Mag. Peter Hadler vom Bundesministerium für Justiz, Stefan A. Lütgenau, DDr. Oliver Rathkolb und Theo Venus von der Stiftung Bruno Kreisky Archiv sowie Mag. Peter Schwarz von der Grünen Bildungswerkstatt. Gertraud Diendorfer, Heidrun Schulze, Gudrun Wolfgruber August 1999 Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 5 „Arisierungen“ Delogierungen Flucht und Vertreibung Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 Enteignung Bereits in den ersten Tagen nationalsozialistischer Herrschaft in Österreich wurde mit umfangreichen Plünderungen, sog. „wilden ➤ Arisierungen“ von Besitz und Vermögen der jüdischen Bevölkerung durch selbsternannte ➤ „Ariseure“ begonnen. Mit der Schaffung der ➤ „Vermögensverkehrsstelle“ als Kontroll- und Verwaltungsinstanz sollten die bereits durchgeführten Enteignungen im Nachhinein legalisiert sowie auch für weitere Vermögensentziehungen eine gesetzlich geregelte Basis geschaffen werden. Der einheitliche Gebrauch des nationalsozialistischen (deshalb wird er in dem vorliegenden Band unter Anführungszeichen gesetzt) Terminus „Arisierung“ für den gesamten Komplex der Zwangsenteignungen von jüdischem Eigentum und Vermögen suggeriert, es habe sich um eine einheitliche wirtschaftliche und gesetzlich geregelte Praxis gehandelt. Die vorliegenden Texte verweisen jedoch auf sehr unterschiedliche Praktiken, Intentionen, Interessen und Konsequenzen dieser systematischen Übernahme von jüdischem Eigentum. Dienten vor allem die „wilden Arisierungen“ der Bereicherung von Privatpersonen, so ist insgesamt das österreichische Modell nationalsozialistischer Enteignungspolitik als Verbindung von Antisemitismus und Wirtschaftspolitik zu begreifen. Neben der Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen von Großindustrie, Banken, Gewerbetreibenden und NS-Wirtschaftsplanern verfolgte die nationalsozialistische Enteignungspolitik auch die systematische Verdrängung der jüdischen Bevölkerung aus allen Bereichen des öffentlichen Lebens und in letzter Konsequenz aus Österreich überhaupt. Der Erinnerungsbericht Georg Scheuers gibt ein drastisches Beispiel dafür, welche Folgen etwa die „Arisierung“ von Wohnungen durch die Außerkraftsetzung des Mieterschutzes für die jüdische Bevölkerung darstellte. Auf Wohnungskündigung folgte Zwangsumsiedlung, Delogierung und schließlich Flucht oder Deportation. Dass die Praxis der materiellen Bereicherung auch Hand in Hand ging mit Auswanderung und Deportation wird am Beispiel der „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ deutlich. Diese sollte die lückenlose Erfassung des gesamten jüdischen Vermögens sicherstellen. Über die Verschaffung von Einreisemöglichkeiten in überseeische Staaten unter totalem Vermögensentzug wohlhabender Juden und Jüdinnen wurde zu Beginn des NS-Regimes in Österreich die „erwünschte“ Auswanderung mittelloser Juden und Jüdinnen ermöglicht. Über das entzogene Vermögen wurden auch spätere Deportationen in Konzentrationslager und damit die „Endlösung der Judenfrage“ mitfinanziert. Wieviel Vermögen tatsächlich geraubt und entzogen wurde, lässt sich vor allem aufgrund der in den ersten Monaten nach dem Anschluss in großem Ausmass durchgeführten „wilden Arisierungen“ nachträglich nur in Ansätzen erfassen und ist daher bislang kaum erforscht. Auch über den Umfang der Rückstellungen geraubten jüdischen Vermögens oder des Vermögens anderer während des Nationalsozialismus verfolgter Gruppen liegen noch keine genauen Zahlen vor. Die Erforschung des gesamten Komplexes des Vermögensentzugs in Österreich zwischen 1938 bis 1945 durch die eigens dafür eingesetzte Historikerkommission (s. Kapitel „Historikerkommission“) wird jedoch in den nächsten Jahren zu neuen Ergebnissen führen. Die folgenden Texte konzentrieren sich überwiegend auf die Darstellung von Zwangsenteignungen in Wien. Dies erklärt sich einerseits aus der Tatsache, dass der Großteil der österreichischen Juden und Jüdinnen in Wien wohnhaft war, und zum anderen aus dem Modellcharakter, den die rasche Durchführung von „Arisierungen“ in Wien insgesamt erlangte. Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 7 „ A R I S I E R U N G E N ” I N W I E N . A S P E K T E N AT I O N A L S O Z I A L I S T I S C H E R E N T E I G N U N G S P O L I T I K 1 9 3 8 - 4 0 HANS WITEK „Seit dem ‚Anschluß‘ herrscht offener Straßenterror. Rufe: ‚Juda verrecke!‘ und ‚Juden heraus!‘ hallten vom ersten Tage an durch die Straßen. Bald begannen die Demolierungen und ‚Requirierungen‘, d.h. Plünderungen jüdischer Geschäfte, die Erpressungen bei jüdischen Geschäfts- und Privatleuten. In den Läden erschienen vierzehn- bis fünfzehnjährige Burschen, von etwa 20- bis 25jährigen SS-Männern angeführt, und ‚requirierten‘ Lebensmittel, Schuhe, Anzüge, Stoffe usw. Häufig wurde die Beute mit Lastkraftwagen abtransportiert. Auf diese Weise wurden z.B. fast sämtliche jüdischen Geschäfte der Innenstadt (Kärntner Straße, Rotenturmstraße, Mariahilfer Straße, Am Graben usw.) heimgesucht. ‚Requiriert‘ wurden u.a. bis auf geringfügige Reste die großen Lager der Firmen Krupnik, Kleiderhaus Gerstel, Teppichhaus Schein, Juwelengeschäft Scherr, Herrenkleidergeschäft Katz. Die Ausräumung des Warenhauses Schiffmann in der Taborstraße dauerte drei Tage. Arbeiter mit Hakenkreuzbinden leerten die Lager, Männer im Braunhemd hielten die neugierige Menge fern. Vor den jüdischen Läden, die trotz dieser Vorfälle offenzuhalten versuchten, brachte man Plakate an, schmierte Inschriften auf das Pflaster, überpinselte die Schaufensterscheiben mit gröbsten Beschimpfungen. Die Polizei versagte jeden Schutz.“ 1 Mit diesen Worten beschreibt ein zeitgenössischer Bericht – „Der Terror gegen die Juden. Das Schreckensregiment in Österreich“ – die Wiener Judenverfolgungen in den ersten Monaten nationalsozialistischer Herrschaft 1938. Neben den Hinweisen, daß sich „kommissarische Verwalter“ Geschäfte und Betriebe jüdischer Eigentümer angeeignet hatten und eine staatliche ➤ „Arisierungszentrale“ errichtet wurde, heißt es im Bericht weiter: „Unter diesen Umständen zogen es natürlich viele jüdische Kaufleute vor, ihre Geschäfte so rasch als möglich und unter großen Verlusten zu verschleudern. Die ‚Arisierung‘ macht rasche Fortschritte. Von den in den ersten Wochen arisierten Unternehmen seien genannt: Wiens größtes Warenhaus ‚Gerngroß‘, Kaufhaus Herzmansky, die Strumpfwarenfirma Bernhard Schön, die 80 Läden in Wien unterhält, die Anker-Brotfabrik, die Glühbirnenfabriken Johann Kremenetzky und Albert Pregan. Seither sind Hunderte von jüdischen Geschäften ‚in arische Hände‘ übergegangen.“ 2 Diese Schilderungen verdeutlichen die politische und sozialökonomische Dynamik, den lokalen Kontext der wirtschaftlichen Enteignung des jüdischen Klein- und Großbürgertums in der Wiener Privatwirtschaft,3 welche unmittelbar mit dem „Anschluß“ im März 1938 begann und innerhalb eines Jahres von den zuständigen lokalen Staats-, Partei- und Wirtschaftsstellen organisiert und durchgeführt wurde. Alle Einzelfirmen, Personen- und Kapitalgesellschaften der gewerblichen Wirtschaft, deren Eigentümer oder Anteilseigner Juden waren, wurden „zwangsarisiert“ oder liquidiert. Den betroffenen Industriellen, Unternehmern, Kaufleuten und Handwerkern raubten diese Zwangsverkäufe und -liquidierungen ihre Unternehmen. Die damit verbundene finanzielle Ausplünderung entzog ihnen die wirtschaftliche und soziale Basis und zwang viele – meist unter totalem Vermögensverlust – zur Auswanderung. Der Prozeß der „Entjudung der Wirtschaft“ umfaßte die Enteignung von gewerblichen Unternehmen, land- und forstwirtschaftlichen Betrieben, Privatbanken, Haus- und Grundbesitz.4 Die antisemitische Personalpolitik im öffentlichen Dienst und in der Privatwirtschaft führte zur Entlassung von Beamten, Angestellten und Arbeitern; die rassistische Säuberung des industriellen Managementbereiches erzwang das berufliche Ende für Direktoren, Prokuristen, Aufsichts- und Verwaltungsratsmitglieder in den Industrieunternehmen. „Auch aus den freien Berufen der Sparten Presse, Literatur, Theater, Film, Musik, bildende Künste, ebenso aus den Berufsorganisationen der Ärzte, Apotheker, Rechtsanwälte und Notare wurden alle Juden und ‚Mischlinge‘ bis Ende November 1938 restlos ausgeschieden und verloren damit ihre Approbationen zur Berufsausübung an ihre arischen Konkurrenten.“ 5 In Wien lebte der größte Teil der österreichischen Juden – 170.000 Personen,6 was 1938 einem Anteil von zehn Prozent an der städtischen Gesamtbevölkerung entsprach; die jüdische Gemeinde Wiens war die größte des „Großdeutschen Reiches“. Früher als im 8 Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 Hans Witek sogenannten „Altreich“, bereits Anfang 1939, war die ökonomische Entrechtung und Enteignung der Wiener Juden praktisch beendet. Wiener „Spezialisten“ konnten weniger erfahrenen „reichsdeutschen Kollegen“ Hinweise für die praktische Durchführung dieses Raubzuges geben, Wien hatte in dieser Hinsicht Modellcharakter. Es stellt sich die Frage, wer die „Arisierungen“ in Wien durchführte, welche unterschiedlichen Interessen dabei im Spiel waren. Grundsätzlich können vier Interessensgruppen differenziert werden: Zum einen die „kleinen Ariseure“, die sofort persönliche Vorteile realisieren wollten; zweitens mittelständische Interessen, die auf Ausschaltung von Konkurrenten und Übernahme der besten Geschäfte und Betriebe zielten. Industrie und Banken, als dritte Interessensgruppe, verfolgten Besitzerweiterungsstrategien. Diese waren verbunden mit der von NS- und Wirtschaftsplanern angestrebten sozial- und wirtschaftspolitischen Strukturveränderung. Zwischen diesen Interessensgruppen bestand zwar der Minimalkonsens, daß die Juden aus dem Wirtschaftsleben ausgeschlossen werden müssen, über die Frage der Durchführung der Enteignung kam es zu Konflikten. Gerhard Botz hat in seinen Forschungen zur NS-Sozialpolitik und Judenverfolgung in Wien 1938 7 unter anderem darauf hingewiesen, daß der Wiener Antisemitismus neben einer rassenideologischen auch eine ausgeprägte soziale und ökonomische Komponente hatte und die antijüdischen Verfolgungsmaßnahmen konkret mit materiellen Interessen der Täter verknüpft waren. „Die Aggressivität gegen ‚den‘ Juden bedurfte hier keiner besonderen ‚theoretischen‘ Überhöhung, versprach sie doch eine Erfüllung ganz konkreter Interessen: die Beseitigung des jüdischen Konkurrenten als Händler oder Warenhausbesitzer, als Rechtsanwalt oder Arzt, die Erlangung einer Wohnung oder eines wertvollen Möbelstückes etc. Diese Art von Antisemitismus verstand jeder, der sich von der ‚Judenhatz‘ einen materiellen Vorteil erhoffte.“ 8 In Wien konnte das nationalsozialistische Regime an die politische Tradition des „Volksantisemitismus“ anknüpfen, jenes virulenten, ökonomisch, kulturell und religiös begründeten Antisemitismus der Monarchie, der Ersten Republik und der austrofaschistischen Diktatur.9 Die in Wien für breite Teile der Bevölkerung vorhandenen sozialen und ökonomischen Probleme (Wohnungsnot, Arbeitslosigkeit, unrentable Handels- und Gewerbebetriebe etc.) versuchte das nationalsozialistische Regime durch ein Konzept der Enteignung und Vertreibung einer stigmatisierten Gruppe zu lösen. Aus der Strategie der Ausgrenzung folgten, nachdem die Auswanderung ab Herbst 1939 kaum mehr möglich war, Konzentration, Deportation und als letzter Schritt der industriell betriebene Massenmord an den Juden. Neben den unmittelbaren Interessen der „Ariseure“ läßt sich aus den überlieferten Akten auch die von NS- und Wirtschaftsplanern angestrebte sozial- und wirtschaftspolitische Strukturveränderung rekonstruieren. Staatliche Institutionen strebten an, daß „jüdisches Vermögen nicht einfach geraubt und übereignet“ wird, sondern daß „die Arisierung mit einem Modernisierungs- und Konzentrationsschub der rückständigen ‚ostmärkischen‘ Wirtschaft verknüpft“ 10 würde. Es gibt bis heute keine wissenschaftliche Gesamtdarstellung über die Zerstörung der wirtschaftlichen Existenz der Wiener Juden in den Jahren 1938 bis 1940 und deren vielfältige Hintergründe. Bisher wurde diese Thematik nur partiell zum Gegenstand der Forschung gemacht.11 Firmengeschichtliche Darstellungen oder Branchenmonographien zur „Arisierungspolitik“ liegen nur vereinzelt vor.12 Ausgehend von diesem Forschungsstand können im vorliegenden Beitrag nur die wichtigsten Aspekte der Interdependenz von Nationalsozialismus, Ökonomie und Judenverfolgung am Beispiel der antijüdischen Enteignungspolitik in der Wiener Privatwirtschaft 1938/39 skizziert werden. Ziel dieses Beitrages ist es, die staatliche Organisierung der NS-Enteignungspolitik und ihre spezifisch österreichische Entwicklung zu zeigen (I); einen kurzen Überblick über die Methoden der Betriebsverwaltung und die Soziographie des „Kommissarsystems“ zu geben (II); typische Merkmale parteipolitischer „NS-Wiedergutmachung“ und protektionistischer Mittelstandspolitik herauszustellen (III); die Expansionsstrategien von Banken und Industrieunternehmen und deren Realisierungen im Prozeß der Enteignung der Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 9 „Lösung“ ökonomischer und sozialer Probleme durch Enteignung und Vertreibung „Arisierungen“ in Wien Juden zu skizzieren (IV); strukturpolitische Folgen, Zweck und Praxis der Betriebsliquidierungen zu beschreiben (V). Die folgende deskriptiv-analytische Darstellung ist eine Vorarbeit zu einer größeren Studie zur nationalsozialistischen „Arisierungspolitik“ in Wien 1938 bis 1945. I. Modell Wien: Organisierung der NS-Enteignungspolitik Die nationalsozialistische Politik der „Arisierung“ im Bereich der Privatwirtschaft bedeutete die Umstrukturierung der Eigentumsverhältnisse nach „rassischen“ Prinzipien. Industrie-, Handels- und Gewerbebetriebe, deren Eigentümer Juden waren oder an denen diese als Gesellschafter oder Aktionäre kapitalsmäßig beteiligt waren, wurden zwangsweise an „arische“ Einzelpersonen, Firmen, Banken etc. übertragen. Die Verträge über Eigentumsübertragungen erfolgten häufig unter Druck bzw. unter Umständen, „die nur als direkte Nötigung bezeichnet werden können“. Eine freiwillige Übereinstimmung der Vertragspartner war unter diesen Voraussetzungen nicht gegeben. „Die Eigentumsübertragungen waren nichts anderes als ein Mittel der Enteignung zugunsten des Reiches oder der neuen Besitzer.“13 Bei Industrie- und Großhandelsfirmen, größeren Gewerbe- und Einzelhandelsbetrieben wurden deren „Sach-“ und „Verkehrswert“ durch Wirtschaftsprüfungen, bei Kleinbetrieben durch Schätzgutachten festgestellt. Dem ursprünglichen Eigentümer wurde ein Kaufpreis zugestanden, „der erheblich unter dem Verkehrswert lag und zudem mit einer hohen Ausgleichsabgabe an den Staat verbunden war, so daß in der Regel weniger als die Hälfte des Betriebsvermögens vergütet wurde, der Staat aber von der Ausgleichsabgabe und der Käufer von der erheblichen Differenz zwischen Verkehrswert und Kaufpreis profitierten.“ 14 Jedoch wurde der Kaufpreis nicht an die ehemaligen Besitzer ausbezahlt, sondern auf ➤ Sperrkonten überwiesen. Aus diesen Sperrguthaben entnahm die Finanzverwaltung Abgaben für die ➤ „Reichsfluchtsteuer“, ➤ „Judenvermögensabgabe“ etc. „Für eine bescheidene Lebensführung und für die Ausreise“ 15 wurden den Enteigneten Beträge freigegeben. Zahlreiche staatliche Gesetze, Verordnungen und Erlässe – von der Ministerialbürokratie des Reichswirtschafts- und -innenministeriums und der ➤ Vierjahresplanbehörde konzipiert und erlassen – gaben der antijüdischen Enteignungspolitik ihre spezifische NS-Legalität und stellten eine Verletzung des bürgerlichen Eigentumsbegriffs dar.16 Von der im April 1938 verordneten Vermögensanmeldung17 für Juden über die am 12. November 1938 erlassene ➤ „Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben“ 18 bis zur ➤ „Verordnung über den Einsatz des jüdischen Vermögens“ vom 3. Dezember 1938 19 regelte die NS-Bürokratie die Enteignungspolitik. Dieses NS-Gesetzeswerk auf dem Gebiet des Wirtschafts- und Vermögensrechtes war letztlich nichts anderes als eine Politik staatlich legalisierter Beraubung.20 Neben der Privatwirtschaft und der NSDAP war es der NS-Staat, der aus der Enteignung der Klein- und Großunternehmen finanziellen Gewinn zog.21 Das „ostmärkische Modell“ der Enteignungspolitik war dieser reichsgesetzlichen Regelung 1938 in vielen Bereichen vorausgeeilt und wurde zum Vorbild für „reichsdeutsche“ Stellen. Die Zentralisierung der Enteignung und ihre verwaltungstechnische Organisation, die „kommissarische Verwaltung“ der Unternehmen, die finanzpolitische Durchführung der „Arisierung“, die Zwangsliquidierung der Geschäfte waren in der „Ostmark“ bereits die übliche Praxis der Enteignungspolitik, die erst Anfang Dezember 1938 für das gesamte Deutsche Reich vereinheitlicht wurde.22 „In dieser Entwicklung eines halben Jahres ist vieles komprimiert, was sich in Deutschland auf Jahre verteilte. Man verfuhr in Österreich 1938 so ‚großzügig‘, wie man es vielleicht in Deutschland 1933 getan hätte, wenn nicht die Rücksichtnahme auf das Ausland und das nationale Bürgertum nötig gewesen und andere Probleme vordringlicher erschienen wären. Insofern zeigt das österreichische Beispiel die Methoden nationalsozialistischer Machtergreifung – mindestens für den wirtschaftlichen Bereich – in ‚reinerer‘ Form als das deutsche. Im Verlauf weniger Monate hatte Österreich das Altreich in der praktischen Verdrängung 10 Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 Hans Witek der Juden aus der Wirtschaft mindestens eingeholt und in der Vorbereitung einer Zwangsarisierung überholt, was sich nach der ‚Kristallnacht‘ bestätigen sollte.“ 23 Als staatliche Zentralinstanz der Enteignungspolitik wurde am 18. Mai 1938 im österreichischen Ministerium für Wirtschaft und Arbeit (ehemals Ministerium für Handel und Verkehr) die ➤ Vermögensverkehrsstelle (VVST) mit Hauptabteilungen für Wirtschaftssektoren, Finanzen und Planung gegründet.24 Ihr oblag die Kontrolle und Gesamtorganisation der „Entjudung der Wirtschaft“. Sie bestellte die „Kommissare“, „Treuhänder“ und „Abwickler“ für die Unternehmen, koordinierte die gesamtwirtschaftliche Planungsarbeit der Enteignungen im Rahmen der strukturpolitischen Vorgaben, genehmigte die „Kaufverträge“, setzte die Kaufpreise für die zu „arisierenden“ Unternehmen nach Wirtschaftsprüfungs- und Schätzungsgutachten fest oder verordnete die Betriebsauflösung. Als Leiter wurde der „Staatskommissar in der Privatwirtschaft“, ➤ Dipl. Ing. Walter Rafelsberger, Gauwirtschaftsberater der Wiener NSDAP, bestellt. Auf dem Gebiet der Planung kooperierte die VVST mit der Abteilung III „Staat und Wirtschaft“ des Reichskommissars ➤ Bürckel und den Abteilungen und Referaten des Ministeriums für Wirtschaft und Arbeit unter Leitung von ➤ Dr. Hans Fischböck. Von seiten der Organisationen der gewerblichen Wirtschaft waren die zahlreichen „Arisierungskommissionen“ der Fachverbände und -gruppen, Innungen, Zünfte und Gilden als Planungs-, Vorschlags- und Durchführungsstellen involviert; auf Parteiebene waren es die Gau- und Kreiswirtschaftsämter, die neben der politischen Beurteilung der „Ariseure“ auch lokale Aufsichts- und Organisationsarbeit leisteten. Koordinations- und Genehmigungsstelle war ausschließlich die VVST, die ab November 1939 als „Abwicklungsstelle“ und später als „Referat III Entjudung“ bei der Reichsstatthalterei Wien bis zum Kriegsende 1945 weiterbestand.25 Zahlreiche Beamte, Funktionäre der Partei und Wirtschaft, Vertreter der Innungen etc. bildeten jenen institutionellen Apparat, der sich im Zuge der Enteignungspolitik als Normen und Verfahrensweisen setzende Instanz in der Enteignung von Juden 1938/39 herauskristallisiert und gefestigt hatte. Innerhalb dieses Apparates war man sich zwar in der Zielvorstellung der totalen „Entjudung der Wiener Wirtschaft“ einig; über Ausmaß, Tempo und Methoden der Umverteilung kam es zwischen Staat, Partei und Privatwirtschaft zu Konflikten. Der Streit der Interessensgruppen hatte nicht nur einen machtpolitischen Charakter, sondern war auch untrennbar mit dem Kampf um den „Anteil an der Beute“ verbunden: Einem an strukturellen und volkswirtschaftlichen Kriterien orientierten Konzept der Bürckel-Behörde standen die von den lokalen NSFührern vertretenen Versorgungsinteressen der ➤ „Alten Kämpfer“ und anderer NS-Anhänger gegenüber. Den hegemonialen Anspruch in der Enteignung hatten sich lokale Parteiorganisationen und Privatpersonen schon unmittelbar nach dem „Anschluß“ gesichert: Der exzessive Drang nach individueller Bereicherung bei der Vertreibung der Juden aus der Wirtschaft zwang Staatsstellen, durch nachträgliche Legalisierung die Dynamik zu kanalisieren. Die „Verstaatlichung“ der Enteignung und jenes spezifische „ostmärkische“ Gesetzes- und Verordnungswerk für die Legitimierung der antijüdischen Wirtschaftspolitik war wesentlich durch diese „einheimische Anfangsoffensive“ determiniert. II. Methoden der Betriebsverwaltung und Soziographie der „Kommissare“ „Jedenfalls, als ich meine Aufgabe hier übernahm, waren die Kommissare eingesetzt bzw. hatten sich zum großen Teil eingesetzt. Ich stand von vornherein dieser ganzen Situation mit einigem Mißtrauen gegenüber. (...) Es geht nicht an, daß hier eine neue Berufsgruppe entsteht, für die es in einem geordneten Wirtschaftsleben auf die Dauer keine Beschäftigung geben kann. Der eine oder andere dieser Kommissare hat bereits ‚Mein‘ und ‚Dein‘ verwechselt. Dem Teil der Kommissare, der selbstlos und gewissenhaft seine Pflicht tat, spreche ich den Dank aus. (...) Wer versagte, hat seine Prüfung für Partei und Staat (...) nicht Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 11 Die Vermögensverkehrsstelle – „Verstaatlichung“ der Enteignung „Arisierungen“ in Wien „Wilde Arisierungen“ bestanden, und es wird jeden einzelnen dann die Maßnahme treffen, die es ihm verständlich macht, daß man Revolution in einem anständigen Staat nicht mit Rucksackspartakisten durchführt.“ 26 Mit diesen Drohungen versuchte der „Reichskommissar für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich“, Joseph Bürckel, Anfang Juli 1938 die unkontrollierte, individuelle Bereicherung am Eigentum von Juden zu beenden. Die Politik der Enteignung hatte in Wien mit der spontanen Aneignung von Geschäften und gewerblichen Betrieben durch sogenannte „wilde Kommissare“, deren Gesamtzahl anfänglich laut Fischböck rund 25.000 betragen haben soll,27 begonnen. Angehörige lokaler Parteistellen, SA-Leute, Mitglieder der nationalsozialistischen Betriebsorganisationszellen, Kaufleute und Gewerbetreibende, die der NS-Handels- und Gewerbeorganisation angehörten, Angestellte und „Konjunkturritter“ hatten die Unternehmen besetzt, die Besitzer vertrieben oder deren geschäftlichen Einfluß beschränkt, ihre eigene politische und wirtschaftliche Macht gesichert und ihre materiellen Interessen befriedigt. Die jüdischen Eigentümer hatten somit keine Verfügungsgewalt über ihre Firmen. Im laufenden Prozeß der „Arisierung und Liquidierung“ war auch ihr geschäftlicher Verhandlungsspielraum eingeschränkt worden oder überhaupt nicht vorhanden. Staatlicherseits war man gezwungen, nachträglich dieses System der „kommissarischen Verwalter“ zu legalisieren. Durch Gesetze, Verordnungen und Erlässe versuchte man seit Ende März 1938 die „Kommissarswirtschaft“ zu kontrollieren.28 Der ordnungsstaatlichen Politik mit gesamtwirtschaftlicher Ausrichtung gelang es nur langsam, der Selbstherrlichkeit der „Kommissare“ Grenzen zu ziehen, ein legales Bestellungsverfahren durchzusetzen, Kontrollinstanzen zu errichten und die Zahl der „wilden Kommissare“ durch Entlassung oder offizielle Weiterbestellung durch die VVST zu verringern. Aber auch die von der VVST bestellten „Betriebs- und Geschäftsführer“ waren in den ihnen anvertrauten Unternehmen kaum zu kontrollieren. Die gesetzlichen Richtlinien definierten zwar ihre Tätigkeit – Vorbereitung der „Arisierung“ oder Durchführung der Firmenauflösung –, aber ihre Sonderstellung ermöglichte nur zu oft eine Verknüpfung ihres Auftrages mit eigenen materiellen und sozialen Interessen. Viele der „kommissarischen Verwalter“ betrachteten ihre Stellung als reinen Versorgungsposten, als Möglichkeit, ihre ökonomische Situation rasch zu verbessern. Als „Alte Kämpfer“ und „Illegale“ wurden sie von den diversen Parteistellen protegiert und für „kommissarische Verwaltungen“ bestimmt, wobei ihre fachliche Qualifikation nebensächlich war. Der Sozialtypus des „Kommissars“ in Wien läßt sich annäherungsweise folgendermaßen charakterisieren: Seine politische Zuverlässigkeit war durch die langjährige Zugehörigkeit zur Partei oder einer ihrer Organisationen unter Beweis gestellt; seiner sozialen Herkunft nach war er meist Angestellter oder kleiner Selbständiger, manchmal arbeitslos; fachlich war er größtenteils unqualifiziert und branchenfremd. Vorwiegend wurde er als „Kommissar“ in Klein- und Mittelbetrieben, in Einzelhandelsgeschäften, seltener in Großunternehmen der Industrie und des Handels tätig.29 Eine kleinere Gruppe von „Kommissaren“ rekrutierte sich aus Wirtschaftsfachmännern: Rechtsanwälte, Bankangestellte, Gewerbetreibende oder Kaufleute. Bei dieser Gruppe war die notwendige Qualifikation gegeben, politische Zuverlässigkeit verlangt, die Parteizugehörigkeit jedoch nicht unbedingt erforderlich. Vor allem ab Herbst 1938 versuchte die VVST das Kriterium der fachlichen Qualifikation bei der Kommissarsbestellung verstärkt zu berücksichtigen, nachdem den Organisationen der gewerblichen Wirtschaft (vor allem den Zünften und Innungen) ein Vorschlags- und Beurteilungsrecht bei der Bestellung durch die VVST eingeräumt wurde. Trotzdem blieb der kaufmännisch unfähige „Kommissar“ weiterhin der dominierende Verwalter. Das Spektrum seiner „Geschäftspraktiken“ reichte von Bestechlichkeit, Veruntreuung bis zur maßlosen persönlichen Bereicherung. Die nur gegen eine verschwindend kleine Gruppe dieser „neuen Wirtschaftsführer“ 1938/39 durchgeführten Verhaftungen und Gerichtsverfahren beweisen, daß die Kritik an korrupten „Kommissaren“ vor allem deklamatorischen Charakter hatte.30 12 Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 Hans Witek Die hohe Fluktuation der „Kommissare“ – oft hatten Geschäfte und Betriebe innerhalb weniger Monate mehrere verschiedene Verwalter – verweist auch auf Versuche staatlicher Stellen, unfähige und korrupte „Kommissare“ auszutauschen. Für die betroffenen Unternehmen bedeutete die Abfolge verschiedener „Kommissare“ meist einen beschleunigten Verbrauch der betrieblichen Ressourcen. In vielen Branchen verwaltete eine Person mehrere Betriebe. Dadurch war eine „ordentliche“ Geschäftsführung eher zufällig und führte tendenziell zu Geschäfts- und Betriebsauflösungen. Manche „Kommissare“ konnten sich, unterstützt von örtlichen Parteistellen, durch gleichzeitige Verwaltung mehrerer Betriebe zeitweise eine gewisse Branchen- und Lokalhegemonie sichern.31 Im Februar 1939 begann die VVST für die noch bestehenden industriellen Unternehmen und Großhandelsfirmen sogenannte „Treuhänder“ zu bestellen, welche deren „Arisierung“ oder Auflösung vorbereiteten oder durchführten. Sowohl fachliche Qualifikation als auch politische Zuverlässigkeit versuchten die staatlichen Stellen dadurch zu erreichen, daß man die beruflichen Erfahrungen stärker als bei den „Kommissaren“ berücksichtigte. So wurden vor allem Rechtsanwälte, Bücherrevisoren, Wirtschaftsprüfer, Prokuristen und leitende Angestellte aus der Wirtschaft als „Treuhänder“ bestellt. Nur eine geringe Anzahl ehemaliger „kommissarischer Verwalter“ befand sich unter den ausgewählten „Treuhändern“. Für die Masse der zu bewältigenden Stillegungen im Handels- und Gewerbebereich berief man „Abwickler“ mit ähnlichem beruflichen Hintergrund. Die Kontinuität der „Mißwirtschaft“ zeigte sich aber auch bei den „Abwicklern“. Gerade die Tätigkeit der Betriebsliquidierung bot ausreichend Möglichkeiten, eigene Interessen zu verfolgen. Die Eigenmächtigkeiten der „Abwickler“ widersprachen der vorgesehenen staatlichen Konzeption der „bestmöglichen“ Verwertung der Warenlager und Betriebseinrichtungen. III. „Alte Kämpfer“ und „alter Mittelstand“ Die Arisierungspraxis der VVST der ersten Monate war weniger gesamtwirtschaftlichen Intentionen verpflichtet als vielmehr parteipolitischem Protektionismus: Mittelständischen NSDAP-Mitgliedern, „besonders verdienten Parteigenossen“, „Alten Kämpfern“, meistens ohne finanzielle Mittel und fachliche Kompetenz, wurden im Sinne einer „Wiedergutmachung“ (für „während der Systemzeit im Dienste der Bewegung erlittene Schäden“) Kleinbetriebe und Handelsgeschäfte zugewiesen. „Die alten Parteigenossen haben selbstverständlich meist kein Geld. Der Kaufpreis wird demnach kreditiert. Die Abtragung der Kaufschuld oder des in ihrer Höhe gewährten Kredits sowie etwaiger Zinsen geschieht in Raten aus den Betriebsmitteln (...) Weil nur schwer die künftige Entwicklung eines Unternehmens vorauszusehen ist, wird der Kaufpreis wohl regelmäßig möglichst niedrig bemessen. Der Unterschied gegenüber dem wirklichen Verkehrswert ist Schenkung, aber auch der Kaufpreis selbst trägt mehr oder minder den Charakter der Schenkung.“ 32 Weiters finanzierten Kreditaktionen kapitalschwachen Gewerbe- und Handelstreibenden, vermögenslosen „Alten Kämpfern“ der NSDAP die „Arisierungen“. Im Zuge der Reichswirtschaftshilfe wurden „Arisierungskredite“ 33 gewährt; bis Ende 1938 wurden aus dem ➤ „Arisierungsfonds“ der VVST, 1939 aus jenem der Kontrollbank finanzielle Zuschüsse für minderbemittelte Parteigenossen geleistet,34 quasi nach dem Prinzip, „wonach also der Enteignete den Enteigner finanzieren half“.35 Eine weitere Möglichkeit, „Kaufpreis“ und ➤ „Auflage“ zu bezahlen, waren die von den Banken gewährten Privatkredite. Im folgenden sollen am Beispiel der „Arisierungen“ von Wiener Kinos einige politische und soziale Implikationen der NS-Enteignungspolitik, deren organisatorische und ökonomische Durchführung beschrieben werden. „Die Arisierungskommission im Kinotheaterfach“, die von der VVST, Bürckel-Behörde, NSBetreuungsstelle und Reichsfilmkammer, Außenstelle Wien, gebildet wurde, vertrat „die Ansicht, daß das Abwandern jüdischer Kinotheaterbesitzer benützt werden muß, um einer Vielzahl von schwerstens geschädigten Parteigenossen eine Lebensmöglichkeit zu bieten“, Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 13 „Wiedergutmachung“ für „Alte Kämpfer“ „Arisierungen“ in Wien Mittelständische Interessen und faßte daher „die Arisierung als eine Sozialaktion auf“, wie es in einem Kommunique Anfang Sommer 1938 hieß.36 Mit dieser an die Wiener Staats- und Parteistellen abgegebenen Erklärung wurde gegen die Absichten des „Reichstreuhänders für das Filmwesen“ Stellung genommen. Er wollte mit der neu gegründeten „Ostmärkischen Filmtheater GmbH, Wien“ (vormals „KIBA GmbH“) ursprünglich sämtliche Kinobetriebe, die Juden gehört hatten, übernehmen; das wurde aber von der VVST verhindert.37 Bis Ende 1938 wurden von der „Arisierungskommission“ Eigentumsübertragungen bei ca. 90 Kinobetrieben mehrheitlich an Wiener NSDAP-Mitglieder bewilligt, von denen viele bereits als „kommissarische Verwalter“ der Filmtheater von der Reichsfilmkammer-Außenstelle Wien seit März 1938 eingesetzt worden waren. Die neuen Kinobesitzer waren in der Mehrzahl „Alte Kämpfer“, viele davon Teilnehmer am NS-Putsch 1934, „32 Anwärter auf den ➤ Blutorden und 17 Ehrenzeichenträger“,38 denen im Rahmen der „NS-Wiedergutmachung“ 1938 materielle Existenzsicherung und sozialer Aufstieg gesichert wurde. Ihre Biographien waren geprägt von ökonomischen Krisen, Arbeitslosigkeit und sozialer Deklassierung, unter anderem auch als Folge ihrer NS-Parteiaktivitäten und deren gerichtlicher Verfolgung vor 1938. Ihre politische Laufbahn fand „Abschluß und Erfüllung in der durch Einfluß und Protektion der Partei erworbenen individuellen Reproduktionsbasis“.39 Jenen NS-Parteigenossen, „die über wenig oder gar kein Kapital und keinerlei fachliche Vorkenntnis“40 verfügten, wurden die Kaufpreise nach Schätzwerten des Betriebsinventars berechnet, die „Arisierungsauflage“ erlassen, den meisten „Juliputschisten“ wurde durch eine Kreditaktion aus dem „Arisierungsfonds“ der Kontrollbank die Übernahme und Weiterführung der Kinos ermöglicht.41 Ähnliche „Sozialprogramme“ im Sinne „nationalsozialistischer Wiedergutmachung“ verwirklichten die lokalen Staats- und Parteistellen bei der „Arisierung“ der Trafiken und Lottokollekturen. Diese wurden an „Veteranen des Krieges der Arbeit und der Partei“42 vergeben. Die Praxis der „Arisierung“ unter dem Vorzeichen der „Wiedergutmachung“ brachte den Nepotismus am deutlichsten zum Vorschein, „denn die Arisierung war ihrer Natur nach eine Quelle der Korruption“.43 Bei der übergroßen Anzahl der NSDAP-Mitglieder und „Alten Kämpfer“, die ein gewerbliches Unternehmen „erwerben“ wollten, brauchte der einzelne Protektion und Bestechung zur Ausschaltung der „arischen“ Mitkonkurrenten. Das „Prinzip der politischen Klientel und Cliquen“44 war bei diesen „Arisierungstransaktionen“ dominierend. Nicht nur kleine Parteigenossen, sondern auch höchste Funktionäre bedienten sich dieses Prinzips. „Was sich jedoch ansonsten auf diesem Gebiet durch kleinere und größere Schiebungen und die bekannte ‚Wiener Freunderl- oder Vetternwirtschaft‘ getan hat, wird derzeit kaum durch SS-gerichtliche Untersuchung feststellbar sein“, befürchteten hohe Parteistellen.45 Auch in Berlin wußte man über die „Wiener Zustände“ Bescheid. Himmler schrieb im Herbst 1939 an ➤ Heydrich: „Außerdem müßten in Wien – am besten durch eine Kommission unter Führung eines höheren SS-Führers – die ganzen Arisierungsgeschäfte überholt und durchgesehen werden. Wir müssen nach Kriegsschluß – wenn der Krieg nicht zu lange dauert – ganz energisch durchgreifen.“46 Eine äußerst effizient praktizierte Enteignungsmethode mit mittelständischer Konzeption war die Ausschaltung der Juden aus der Wiener Uhren- und Juwelenbranche. Planung und Durchführung der „Arisierung“, der Auflösung und der „kommissarischen Verwaltung“ der Gewerbebetriebe und Handelsgeschäfte dieses Wirtschaftszweiges wurden in engster Zusammenarbeit zwischen den zuständigen Fachorganisationen und der VVST organisiert. Schon unmittelbar nach dem „Anschluß“ war es durch Initiative der Innung zur Einsetzung von „wilden Kommissaren“ in vielen Geschäften gekommen.47 Zentrale Instanz der Enteignungspolitik war die „Arisierungsstelle der Wiener Zunft der Juweliere und Uhrmacher und der Gilde des Uhren- und Juwelenfaches“. Die VVST genehmigte als zuständige staatliche Behörde weitgehend die wirtschaftspolitischen Entscheidungen dieses Gremiums nachträglich. Von den ca. 700 bestehenden Einzelhandelsgeschäften und 14 Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 Hans Witek Handwerksbetrieben wurde der Großteil aufgelöst. Zwecks Steuerung der Verwertung ihrer Liquidationsmassen wurde im Sommer 1938 die „Einkaufs- und Treuhandgenossenschaft für die Uhren- und Juwelenbranche“ gegründet, eine „im ganzen Deutschen Reich einzigartige Institution“.48 Dem Vorstand und Aufsichtsrat dieser Genossenschaft gehörten mit Ausnahme eines Vertreters der VVST nur leitende Zunft- und Innungsfunktionäre an. „Die Genossenschaft setzt sich zusammen aus den Mitgliedern der Fachgruppen Juweliere und Uhrenhändler, von denen nur diejenigen aufgenommen werden, die politisch und charakterlich zuverlässig sind. An diese kann nach den Satzungen der Genossenschaft nur der Verkauf von Juwelen und Uhren aus jüdischem Besitz erfolgen.“ 49 Im Frühjahr 1939 betrug der Mitgliederstand der Genossenschaft ca. 350 Juweliere und Uhrmacher, die sich durch Bezahlung einer Genossenschaftseinlage von 50 RM am Abverkauf der sichergestellten Warenlager etc. beteiligen konnten.50 Bei der „Arisierung“ der größten Unternehmen wurde eine Methode angewandt, die sich von der üblichen Praxis der VVST unterschied. Bei Geschäftsübernahme wurde „der Schätzwert des Unternehmens am Übernahmstag“ 51 als Kaufpreis festgesetzt. Als Schätzwert galt der Wert des Warenlagers und der Betriebseinrichtungen. So stellte der „Generalabwickler“ für die Uhren- und Juwelenbranche im nachhinein folgendes fest: „Die Schätzungen der Waren wurden zum Liquidationswerte vorgenommen. Diese lagen mitunter sogar unter dem Materialwerte, was gerade in dieser Branche mit Hinblick auf die im Altreich bestehenden Preise als unrichtig bezeichnet werden muß.“ 52 War in anderen Branchen in der Regel zumindest der „Sachwert“ als „Kaufpreis“ vorgeschrieben, so zeigt diese Vorgangsweise, zu welchen Rahmenbedingungen in dieser Wirtschaftssparte „Geschäftsübernahmen“ vorgenommen wurden. IV. Industrie und Banken Die ersten nach dem „Anschluß“ eingeleiteten „Arisierungen“ im großindustriellen Bereich wurden vom „Keppler-Büro“ getätigt. ➤ Göring bestellte Wilhelm Keppler am 19.3.1938 zum „Reichsbeauftragten für Österreich“. Die Arisierungspolitik des „Keppler-Büros“ zwischen März und Juni 1938, das sich im Rahmen des ➤ Vierjahresplanes „nur mit der Arisierung von Großunternehmen“53 beschäftigte, diente der Befriedigung der Expansionsinteressen reichsdeutscher Industrieunternehmen. Die bedeutendsten Transaktionen dieses Büros waren die „Arisierung“ der „Hirtenberger Patronen- und Waffenfabrik“ durch Eingliederung in den Konzern der „Wilhelm Gustloff-Stiftung“ und die Ausgliederung der „Lenzinger Zellstoff und Papierfabrik AG“ aus dem „Bunzl und Biach-Konzern“ und deren „Arisierung“ durch die „Thüringische Zellwolle AG“.54 Auch die Creditanstalt-Wiener Bankverein, um nur ein Beispiel aus dem Bereich der Großbanken zu nennen, führte „Arisierungen“ von Industrieunternehmen durch. So stellt ein Amtsvermerk der VVST fest: „Von den Aktien (der Schuhfabrik, d. V.) Del-Ka besitzen 24,6 % Creditanstalt-Wr.Bankverein, 66,7 % hat Creditanstalt-Wr.Bankverein aus dem Besitz der jüdischen Familie Klausner treuhändig erworben.“ 55 Die „Arisierungstätigkeit“ von Großbanken bestand aus Erwerbungen auf eigene Rechnung, der treuhändigen Verwaltung von Aktien, der Finanzierung von Käufen durch Gewährleistung von Krediten für ihre Kunden, der Bewertung von „Arisierungsobjekten“ sowie der Suche und Vermittlung von Partnern, die an Käufen interessiert waren. Auch private österreichische Firmen und Industrielle versuchten, am „Arisierungsmarkt“ ihre Geschäftsinteressen zu verwirklichen. Beispielhaft sei die „Arisierung“ der „Kuffnerschen Brauerei, Preßhefe- und Spiritusfabrik“ im April 1938 durch die „Harmersche Gutsinhabung und Spiritusfabrik-KG“ erwähnt, welche der Firma den auch heute noch bekannten Namen „Ottakringer Brauerei“ gab.56 Eine wichtige Rolle bei den „Arisierungen“ von Industriebetrieben nahm die seit 1941 bestehende „Österreichische Kontrollbank für Industrie und Handel“ ein. Im Oktober 1938 wurde per Erlaß Fischböcks eine eigene „Arisierungsabteilung“ eingerichtet.57 ➤ Walther Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 15 „Arisierungen“ in Wien Kastner, österreichischer Beamter der Reichsstatthalterei, Beauftragter Fischböcks in der Kontrollbank und Leiter der „Arisierungsabteilung“, beschrieb rückblickend den Zweck dieser Maßnahmen: „Das Ziel war eindeutig: Der rein parteipolitisch ausgerichteten Arisierung durch die Vermögensverkehrsstelle, die Parteimitgliedern Unternehmungen zum Liquidationswert günstig zuschanzen wollte, sollte die Veräußerung von Großunternehmen entzogen werden. Für die Arisierung im Wege der Kontrollbank wurde der Grundsatz aufgestellt, daß zwar die jüdischen Veräußerer nur den Liquidationswert erhalten dürfen, da ihnen ja der weitere Betrieb ihres Unternehmens untersagt sei, die Erwerber jedoch den Verkehrswert zu zahlen haben. Die Differenz zwischen diesen Werten nach Abzug der Bankaufwendungen war an das Reich abzuführen.“ 58 Bis Ende 1942 wurden 102 industrielle Großunternehmen und Großhandelsfirmen, die von der Abteilung treuhändig übernommen worden waren, an Einzelunternehmer, Firmen und Banken weiterverkauft,59 darunter so bekannte Unternehmen wie die „Bunzl & Biach AG“ und die „Montana AG für Bergbau, Industrie und Handel“. Als das „Arisierungsgeschäft“ beendet war, wurde die Kontrollbank Anfang 1943 von ihren Gesellschaftern (CA, Länderbank, E.v. Nicolai & Co.) aufgelöst. „Ich hatte Zweifel“, schreibt Kastner, „ob der Nationalsozialismus den Weltkrieg gewinnen werde, für den Fall seines schlechten Ausganges schien es aber zweckmäßig, die Kontrollbank nicht mehr als die für Arisierungen verantwortliche Rechtsperson aufrechtzuerhalten; ehemalige Gesellschafter konnten hierfür nicht in Anspruch genommen werden. (...) Die Abwicklung ergab einen Erlös, der das Grundkapital überstieg. Der Arisierungsauftrag hatte sich als Regieträger günstig ausgewirkt.“60 Eine ähnliche „Sonderaufgabe“ hatte der „Wiener Giro- und Cassenverein“ 1938 von Bürckel, Fischböck und der VVST übertragen bekommen: die kollektive „kommissarische Verwaltung“ und die Auflösung von 77 kleinen und mittleren Privatbanken von insgesamt 85 Firmen jüdischer Eigentümer.61 Die „Flurbereinigung bei den Privatbankhäusern“,62 wie Fischböck die Liquidierung von 77 Firmen und die damit verbundene Konzentration in diesem Sektor nannte, war Ende 1938 abgeschlossen. „Arisiert“ wurden die finanz- und industriepolitisch wichtigsten Privatbankhäuser, darunter das „Bankhaus S.M. Rothschild“, das die Münchner Bank „Merck, Finck & Co.“ kommissarisch verwaltet und 1940 an die Firma „E.v.Nicolai & Co.“ weitergegeben hatte,63 weiters das Wiener Privatbankhaus „Ephrussi & Co.“, das vom langjährigen Mitgesellschafter und Prokuristen der Firma, C.A. Steinhäusser, „arisiert“ wurde.64 V. Modernisierung durch Firmenauflösungen „Legalisierung“ der Arisierungen Bürckels ökonomischen und politischen Richtlinien in der Enteignungspolitik lagen verschiedene Motive zugrunde. In bürokratischer Hinsicht sollte die Ausschaltung der Juden aus der Privatwirtschaft nach staatlich verordneten Prinzipien erfolgen und die parteipolitischen und privaten „Einzelaktionen“ verboten, in volkswirtschaftlicher Hinsicht eine Modernisierung der Wiener Wirtschaftsstruktur im Zuge der Enteignung erreicht werden. Deswegen bestand die Planung, nur die „wertvollen“ Betriebe zu einem „angemessenen Kaufpreis“ in „arische“ Hände überzuleiten; zudem sollten die staatlichen Finanzbedürfnisse im Zuge der „Entjudung“ befriedigt und private „Arisierungsgewinne“ durch Auflagenzahlungen gemindert werden. Weiters sollte eine genaue Auswahl der Käufer nach fachlicher und politischer Qualifikation und nach Kreditbedürfnissen vorgenommen werden.65 Ein Ergebnis dieses Konzeptes resümierte Rafelsberger Anfang Februar 1939: „Die Strukturwandlungen in der gewerblichen Wirtschaft durch die Entjudung bedeuten einen Umschichtungsprozeß von ungeheurem Ausmaße … Der große Liquidationssatz und die Umlagerungen (Standortverlegungen im Zuge der Arisierung) beseitigen in vielen Sparten die Übersetzung restlos und schaffen in den übrigen bessere Bedingungen. Eine restlose Berufsbereinigung konnte nicht durchgeführt werden, da diese Planung den arischen Sektor in der Wirtschaft nicht erfassen konnte. 16 Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 Hans Witek Für die Zukunft wurden durch die Planung zur Entjudung der gewerblichen Wirtschaft in der Ostmark Voraussetzungen geschaffen, die nach Überwindung der durch diese ungeheuere Umschichtung aufgetretenen Hemmnisse sicherlich auch wesentlich zur Stärkung der ostmärkischen Wirtschaft beitragen und somit der wirtschaftlichen Eingliederung der Ostmark in den großdeutschen Raum förderlich sind.“66 Der Hinweis Rafelsbergers, daß eine restlose „Berufsbereinigung“ nicht durchgeführt werden konnte, da der „arische“ Sektor der Wirtschaft 1938/39 nicht miteinbezogen wurde, weist auf das übergeordnete Konzept der Modernisierung der Wiener Wirtschaftstruktur hin. Die Wiener Juden konnten aufgrund ihrer Stigmatisierung und Entrechtung am leichtesten aus dem Wirtschaftsleben ausgeschaltet werden. Das war jedoch nur der erste Schritt.67 Die nationalsozialistische Enteignungspolitik war daher im wesentlichen durch den Primat der Betriebsauflösung bestimmt. Die Stillegung der Klein- und Kleinstbetriebe in Handwerk und Einzelhandel 1938/39 konnte „einen Konzentrationsschub und eine Strukturverbesserung in der ohnehin gegenüber dem ‚Altreich‘ nachhinkenden Wirtschaft Wiens bewirken.“68 Das Orientierungsmuster der staatlichen Enteignungsplanung war der mittlere, der „gesunde“, lebensfähige und „arisierungswürdige“ Betrieb, eine Vorstellung, die den Kleinbetrieb weitgehend ausschloß. Bis zu einem gewissen Grad entsprach diese Konzeption einer allgemeinen Mittelstandspolitik, welcher der Gedanke der Branchenbereinigung inhärent war.69 Die an der Gesamtplanung der Enteignung beteiligten Fachverbände und Organisationen der gewerblichen Wirtschaft drängten auf Ausschaltung der „jüdischen Konkurrenz“: „Das Bestreben der Innungen, Zünfte usw., aus Gründen der Beseitigung lästiger Konkurrenz die Auflösung jüdischer Geschäfte herbeizuführen, ist unverkennbar. Hier fehlt es BETRIEBSAUFLÖSUNGEN IN WIEN Gesamtstand Betriebe 1938 davon Betriebe von Juden aufgelöst arisiert Handwerk in Wien Glaser Schlosser Tischler Tapezierer Kleidermacher Schuhmacher Modewaren Bäcker Fotografen Baugewerbe Gast- und Schankgewerbe Mieder- und Wäscheerzeuger 549 1.787 3.963 1.063 13.434 5.112 3.413 806 822 1.647 7.970 4.769 58 98 102 259 1.797 391 1.093 30 182 160 1.119 1.571 51 85 87 251 1.681 368 938 14 143 149 852 1.449 7 13 15 8 116 23 155 16 39 11 267 122 Einzelhandel in Wien Nahrungs- und Genußmittel Textil Möbel Eisenwaren Drogeriewaren Maschinen Papier- und Galanteriewaren 15.163 3.642 313 863 1.849 187 1.494 2.609 2.630 159 304 713 68 458 2.419 2.163 107 251 557 54 419 190 467 52 53 156 14 39 Die folgende Statistik wurde zusammengestellt aus: AVA, Handelsministerium, Präs. Auskünfte 1938, Karton 710; und: Der Staatskommissar in der Privatwirtschaft, Bericht über die Entjudung der Ostmark, Wien 1.2.1939, s. 48f. (Die Statistik stellt eine Auswahl verschiedener Handwerks- und Einzelhandelsbranchen dar.) Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 17 Oberstes Zíel: Betriebsauflösungen „Arisierungen“ in Wien „ENTJUDUNG“ DER OSTMARK Handwerk Handel Industrie Privatbanken Betriebe jüdischer Eigentümer und Anteilseigner: 13.046 10.992 966 85 „arisiert“ liquidiert 1.689 11.357 1.870 9.112 719 247 8 77 Zusammengestellt nach: Der Staatskommissar in der Privatwirtschaft, Bericht über die Entjudung der Ostmark, Wien 1. 2. 1939, S. 10. Verbesserung der Wettbewerbschancen des „arischen“ Kaufmanns an der Sachlichkeit des Urteils. Selbstverständlich sind manche Gewerbezweige weit überbesetzt, so daß Liquidierungen erheblichen Umfangs zwingend notwendig sind. Dieser Zustand darf aber nicht zur wahllosen Geschäftsauflösung führen.“ 70 So schrieb Wagner, Generalreferent Bürckels bei der VVST, in einem Rechenschaftsbericht im Herbst 1938. „Jedenfalls treibt der Konkurrenzneid üble Blüten.“ 71 Die Liquidierungspolitik der VVST kam den spezifischen mittelständischen Interessen entgegen. Die forcierte Verdrängung der Konkurrenten sollte die Wettbewerbschancen des „arischen“ Kaufmanns und Gewerbetreibenden, dessen eigene ökonomische Basis durch die Krise der dreißiger Jahre relativ instabil war, verbessern. Wenn ein Großteil der Gewerbetreibenden infolge Kapitalmangels selbst nicht mehr imstande war, seine wirtschaftliche Situation zu verbessern, so wollte man wenigstens die Konkurrenz beseitigt wissen. Der zeitliche und organisatorische Ablauf der Betriebsauflösungen variierte in seinem Umfang und seiner Intensität. Bedingt durch die Geschäftsplünderungen und „wilde Kommissarswirtschaft“ fand die erste große Schließungsaktion im Frühjahr 1938 statt, von der ca. 7000 Geschäfte betroffen waren.72 Durch behördlichen Konzessionsentzug wurden im Spätsommer 1938 zahlreiche weitere Betriebe geschlossen. Die Anzahl der durch „kommissarische Verwalter“ durchgeführten Firmenliquidierungen bis zum November 1938 war relativ gering, ungefähr ein Fünftel von ca. 26.000 Betrieben.73 Die Geschäftsplünderungen während des ➤ Novemberpogroms 1938, des „Tages und der Nacht der langen Finger“,74 waren der Auftakt zur massenweisen Schließung von Betrieben. Bis Kriegsausbruch im September 1939 war der Prozeß der Firmenstillegungen mehr oder weniger beendet. In Wien wurden über 80 % der Betriebe und Geschäfte, die Juden gehört hatten, liquidiert; den geringsten Teil an Auflösungen gab es im Bereich der Industrie (26 %), während der Handels- und der Handwerkssektor mit 83 % bzw. 87 % extrem hohe Schließungsraten aufwiesen. Im Privatbankbereich wurden 91 % der Firmen aufgelöst.75 Differenziert man nach Branchen im Handwerk und Einzelhandel, so wird nach offiziellen NS-Statistiken das Ausmaß der Betriebsauflösungen deutlich sichtbar. An der Verwertung der Warenlager, Betriebseinrichtungen und freiwerdenden Geschäftsräume meldete die Privatwirtschaft nachdrückliches Interesse an. In der Regel wurden vom „Abwickler“ die Warenlager und sonstigen Vermögenswerte nach erfolgter Schätzung den einzelnen Fachgruppen der gewerblichen Wirtschaft angeboten, welche sie zu niedrigen Preisen an ihre Mitglieder weiterverkauften.76 Eine andere Verwertungsart ermöglichte Kaufleuten und Unternehmen, bei günstigster Preislage direkt aus den Liquiditätsmassen Einkäufe für ihre Geschäfte und Betriebe zu tätigen.77 Schlußbemerkung Anläßlich einer Ausstellung der VVST im Sommer 1939 über die „Entjudung der ostmärkischen Wirtschaft“ präsentierte Rafelsberger die Ergebnisse des brutalen Vorgehens gegen die österreichischen Juden. Von ca. 26.000 Unternehmen waren rund 5000 „arisiert“, über 21.000 zwangsweise aufgelöst worden. Die Interessensgruppen, die von 18 Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 Hans Witek den „Arisierungen“ und Stillegungen der Unternehmen profitierten, hatten ihre jeweiligen Ziele zumindest zum Teil erreicht: Die „kleinen Ariseure“ hatten sich bereichert, die mittelständischen Betriebe waren lästige Konkurrenz losgeworden und konnten ihre Warenlager billig aufstocken, Banken und Industrie ihre Expansionsbedürfnisse befriedigen und die NSund Wirtschaftsplaner ihr Konzept der Modernisierung durchführen. Aus: Emmerich Tálos u.a. (Hrsg.): NS-Herrschaft in Österreich, 1938-1945. Verlag für Gesellschaftskritik, Wien 1988, S. 199-216. 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 Deutschland-Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SOPADE), 5. Jg. 1938, Nr. 7 (Juli 1938), Reprintausgabe, Salzhausen-Frankfurt/M. 1980, S. 732 ff.; eine ähnliche Beschreibung der Plünderung der Textilfirma „Gebrüder Schiffmann“ findet sich bei G.E.R. Gedye, Die Bastionen fielen, Wien 1947, S. 291 f.; auch die anderen im Zitat erwähnten Geschäftsplünderungen lassen sich durch Akten belegen, vgl. Allgemeines Verwaltungsarchiv, Wien (in Hinkunft: AVA), Bestand Vermögensverkehrsstelle (in Hinkunft: VVST). Ebenda, S. 738. Zur Sozial- und Berufsstruktur der Wiener Juden gibt es bis heute keine Untersuchungen. Von insgesamt 56.000 Liegenschaften in Wien sollen ca. 8000 Juden gehört haben; wertmäßig sollen es 30 % gewesen sein. Vgl. Karl Schubert, Die Entjudung der ostmärkischen Wirtschaft und die Bemessung des Kaufpreises im Entjudungsverfahren, Welth. Diss., Wien 1940, S. 72 ff. Gerhard Botz, Stufen der Ausgliederung aus der Gesellschaft. Die österreichischen Juden vom „Anschluß“ zum „Holocaust“. In: Zeitgeschichte, 14, H.9/10 (Juni/Juli 1987), S. 363. Vgl. Gerhard Botz, Stufen der Ausgliederung, a.a.O., S. 360 Vgl. Gerhard Botz, Wohnungspolitik und Judendeportation in Wien 1938-1945: Zur Funktion des Antisemitismus als Ersatz nationalsozialistischer Sozialpolitik, Wien 1975; G. Botz, Wien vom „Anschluß“ zum Krieg: Nationalsozialistische Machtübernahme und politisch-soziale Umgestaltung am Beispiel der Stadt Wien 1938/39, 2. Aufl., Wien 1980; vgl. Anm. 5. Gerhard Botz, Wohnungspolitik und Judendeportation, S. 124. Zur Tradition und Kontinuität des Wiener Antisemitismus vgl. Peter G. Pulzer, Die Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland und Österreich 1867-1914, Gütersloh 1966; Karl Stuhlpfarrer, Antisemitismus, Rassenpolitik und Judenverfolgung in Österreich nach dem Ersten Weltkrieg. In: Das österreichische Judentum: Voraussetzungen und Geschichte, Wien 1974, S. 141164; Sylvia Maderegger, Die Juden im österreichischen Ständestaat 1934-1938, Wien 1973. Susanne Heim, Götz Aly, Die Ökonomie der „Endlösung“. In: Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik, Bd. 5, Berlin 1987, S. 21. Zum Forschungsstand: Vgl. Gerhard Botz, „Arisierungen“ und nationalsozialistische Mittelstandspolitik in Wien 1938-1940. In: Wiener Geschichtsblätter, 29, 1 (1974), S. 122-136; G. Botz, Wien vom „Anschluß“ zum Krieg, a.a.O., S. 328-342; Georg Weis, Arisierungen in Wien. In: Wien 1938. Forschungen und Beiträge zur Wiener Stadtgeschichte, Wien 1978, Bd. 2, S. 183-190; Herbert Rosenkranz, Verfolgung und Selbstbehauptung. Die Juden in Österreich 1938-1945, Wien 1978, S. 60-71, und S. 126 ff., S. 165 ff.; Lieselotte Wittek-Saltzberg, Die wirtschaftspolitischen Auswirkungen der Okkupation Österreichs, phil. Diss. Wien 1970, S. 205-229; Helmut Genschel, Die Verdrängung der Juden aus der Wirtschaft im Dritten Reich, Göttingen 1966, S. 160-166; zeitgenössische antisemitische Darstellung: Karl Schubert, Die Entjudung der ostmärkischen Wirtschaft und die Bemessung des Kaufpreises im Entjudungsverfahren, Welth. Diss. Wien 1940. Zur Liquidierung der Fa. „Grande Distillerie Damase Hobe & 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 Cie.A.G.“, Wien; vgl. die Fallstudie: Michael Margules, Aufstieg und Fall eines jüdischen Unternehmers in Wien, Diplomarbeit WU Wien 1984; zur „Arisierung“ im Verlagswesen und im Buchhandel vgl. Murray G. Hall, Österreichische Verlagsgeschichte 1918-1938, Bd. 1: Geschichte des österreichischen Verlagswesens, Wien 1985, S. 353-428. OMGUS. Ermittlungen gegen die Deutsche Bank 1946/47, übersetzt u. bearbeitet von der Dokumentationsstelle zur NS-Politik Hamburg, Nördlingen 1985, S. 165. Karl Stuhlpfarrer, Antisemitismus, Rassenpolitik und Judenverfolgung in Österreich nach dem Ersten Weltkrieg. In: Das österreichische Judentum, Hrsg. Anna Drabek u. a., Wien-München 1974, S. 155. VVST, Karton 907, Rechtsakt 2231, Schreiben des Rechtsamts der VVST an die Kreisleitung der NSDAP Baden, 2.9.1938. Eine andere Position vertritt Jörg Friedrich: „Das Verbrechen des Raubes wird in einer Form abgewickelt, die den Eigentumsbegriff nicht beschädigt. Beschädigt werden sollen ja nur die jüdischen Eigentümer.“ Jörg Friedrich, Normierung und Legalisierung staatlicher Kriminalität. Zu den Aufgaben der Justiz im Dritten Reich. In: Licht in den Schatten der Vergangenheit. Zur Enttabuisierung der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse, hrsg. v. Jörg Friedrich, Jörg Wollenberg, Frankfurt/M., Berlin 1987, S. 58. „Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden“ vom 26. 4. 1938, RGBL. I, 1938, S. 414 f.; jeder Jude mußte sein gesamtes Vermögen über 5000 RM anmelden und bewerten; weiters war jede Veräußerung und Verpachtung eines gewerblichen, land- und forstwirtschaftlichen Betriebes genehmigungspflichtig, wenn ein Jude als Vertragsschließender beteiligt war. In Österreich war die VVST die Anmelde- und Genehmigungsbehörde. „Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem Deutschen Wirtschaftsleben“ vom 12.11.1938, RGBL I, 1938, S. 1580. „Verordnung über den Einsatz des jüdischen Vermögens“ vom 3. 12. 1938, RGBL. I, 1938, S. 1709. Vgl. A.J. van der Leeuw, Der Griff des Reiches nach dem Judenvermögen. In: Studies over Nederland in oorlogstijd, I, Gravenhage 1972, S. 211-237. Vgl. Raul Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden. Die Gesamtgeschichte des Holocaust, Berlin 1980, S. 97. Vgl. Verordnung v. 3.12.1938. Helmut Genschel, Die Verdrängung der Juden, S. 166. Vgl. Gesetzblatt f.d. Land Österreich, 1938, S. 406; Kundmachung des Reichsstatthalters über die Errichtung einer Vermögensverkehrsstelle, 18. 5. 1938; AVA, Reichskommissar für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich (in Hinkunft: Rk), Karton 73, Ordner 144, (2160/00, Bd. 2), Geschäftsverteilungsplan der VVST 1938. Vgl. AVA, VVST, Karton 1379, Ministerium f. Wirtschaft und Arbeit, Zl. I- 15.545-1939, Internes Schreiben vom 14.11.1939, Übertragung der Zuständigkeiten im Entjudungsverfahren; VVST, Karton 1423, Schreiben von Dr. Kramer, Reichsstatthalterei Wien, an Reichswirtschaftsminister vom 19.6.1940. Wiener Zeitung, 3.6.1938, Nr. 181, S. 2. Vgl. Institut für Zeitgeschichte München, Dok. PS 1449, Protokoll einer Besprechung unter Görings Leitung im Reichsluftfahrtministerium, 14.10.1938. Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 19 „Arisierungen“ in Wien 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 Vgl. Jonny Moser, Das Unwesen der kommissarischen Leiter. Ein Teilaspekt der Arisierungsgeschichte in Wien und im Burgenland. In: Arbeiterbewegung, Faschismus, Nationalsozialismus, hrsg. v. Helmut Konrad u.a., Wien 1983, S. 90. Die zusammenfassende Charakterisierung des Sozialtypus der „Kommissare“ geht aus einer Unzahl von Akten der VVST hervor. Zu den wenigen Verhaftungen vgl. z.B. Bundesarchiv Koblenz, R 58/1080, Tagesrapporte Gestapo Wien, Oktober 1938-Jänner 1939. Vgl. AVA, VVST, Karton 813, Bericht über die Tätigkeit des kommissarischen Verwalters L. Krabath, 6.2.1939; er verwaltete vier Textilfirmen in Wien I., Rudolfsplatz und Umgebung. AVA, VVST, Kt. 1408, Korrespondenz S-V, Aug. 1938-Juni 1940; Bericht über die Tätigkeit in der Ostmark von Reg. Rat. Wagner, 7. 9. 1938, S. 7 f. Zur Reichswirtschaftshilfe vgl. Hans Kehrl, Krisenmanager im Dritten Reich, Düsseldorf 1973, S. 125 f. Vgl. AVA, Rk, Karton 74, Ordner 145, (2160/00/1) Beschlußprotokolle über die Beiratsitzungen der VVST vom 28.9.1938 und vom 26.1.1939. Herbert Rosenkranz, Verfolgung und Selbstbehauptung, a.a.O., S. 130. AVA, Rk, Kt. 74, Ordner 146, (2160/14/2), Kommunique der Arisierungskommission, 7. Juli 1938. Vgl. allgemein zu diesen Eigentumsveränderungen in der österreichischen Filmwirtschaft: Bundesarchiv Koblenz, R 55/785, „Ostmärkische Filmtheater-Betriebsges.m.b.H.“: Übernahme von jüdischen Filmtheatern in der Ostmark. AVA, Rk, Kt. 74, Ordner 146, (2160/14/2), Schreiben der Reichsfilmkammer, Außenstelle Wien an Bürckel, 23.1.1939. Christoph Schmidt, Zu den Motiven „Alter Kämpfer“ in der NSDAP. In: Die Reihen fast geschlossen. Beiträge zur Geschichte des Alltags unterm Nationalsozialismus, hrsg. von Detlev Peukert, Jürgen Reulecke, Wuppertal 1981, S. 42. Bundesarchiv Koblenz, R 55/785 fol. 23, Schreiben von Winkler an das Reichsministerium f. Volksaufklärung und Propaganda, 23.8.1938. Vgl. AVA, VVST, Karton 1374, Zl. D 6, Schreiben der VVST (Abwicklungsstelle) an Reichsstatthalterei Wien, 1. 10. 1940: „Im Laufe des Jahres 1939 wurden von der Österreichischen Kontrollbank 17 verdienten Parteigenossen (Angehörige der SS-Standarte 89) zum Zweck der Erwerbung von Lichtspieltheatern Kredite gewährt.“ AVA, Rk, Karton 85, Ordner 167, (2205/15), Schreiben von Bürckel an Göring, 7.12.1938. Helmut Genschel, Die Verdrängung der Juden, a.a.O., S. 248. Hans Mommsen, Ausnahmezustand als Herrschaftstechnik des NSRegimes. In: Hitler, Deutschland und die Mächte. Materialien zur Außenpolitik des Dritten Reiches, hrsg. v. Manfred Funke, Düsseldorf 1977, S. 37. Berlin Document Center, Personalakt Josef Fitzthum; Schreiben von SS-Oberführer Kammerhofer an das SS-Gericht, 20.4.1940; Bericht von Tondock über die „Untersuchung sämtlicher in Wien von SS-Angehörigen durchgeführten Arisierungen“, 8.3.1940; etc.; zit. nach Radomir Luza, Österreich und die großdeutsche Idee in der NS-Zeit, Wien, Köln, Graz 1977, S. 143 (Anm. 16.). Bundesarchiv Koblenz, NS 19/807, Schreiben Himmlers an Heydrich, 20.9.1939. Vgl. AVA, VVST, Karton 774, Zl. 3614-Abw/40, Aktenvermerk vom Beauftragten der VVST (Abwicklungsstelle), Arbeitsgruppe Abwicklung, 24.6.1940. AVA, VVST, Karton 918, RA 8973, Geschäftsbericht der Einkaufsund Treuhandgenossenschaft für die Uhren- und Juwelenbranche, Wien I, über das Geschäftsjahr 1938, o. D. AVA, Rk, Karton 105, Ordner 207 (2237/13), Aktenvermerk Ass. Ernst vom 23.3.1939, betr. Tätigkeit der Einkaufs- und Treuhandgenossenschaft für die Uhren- und Juwelenbranche. AVA, VVST, Karton 918, RA 8973, Geschäftsbericht der Einkaufsund Treuhandgenossenschaft für die Uhren- und Juwelenbranche, Wien I, über das Geschäftsjahr 1938, o. D. AVA, VVST, Karton 918, RA 8973, Anweisung betreffend die Rege- 20 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76 77 lung von Kaufpreis und Auflage der Betriebe der Juweliere und Uhrmacher, von Rafelsberger, 15.3.1939. AVA, VVST, Karton 771, Zl. 52-Abw./1939, Bericht des Abwicklers für die jüdischen Einzelhandelsfirmen des Uhren- und Juwelenfaches an die VVST, 18.11.1939. AVA, VVST, Karton 768, WS 1182, Schreiben von Staatsrat Eberhardt (Mitarbeiter Kepplers) an W. Schwarz, 6.4.1938. Zur „Arisierung“ der Lenzinger Zellstoff- und Papierfabrik AG, vgl. Der Kampf um Lenzing. Arisierung – Konkurs – Sanierung, hrsg. von der Österreichischen Länderbank AG, Wien 1953, S. 3 f.; zur „Arisierung“ der Hirtenberger Patronen- und Waffenfabrik vgl. Franz Mathis, Big Business in Österreich. Österreichische Großunternehmungen in Kurzdarstellungen, Wien 1987, S. 148; Georg W. F. Hallgarten, Joachim Radkau, Deutsche Industrie und Politik von Bismarck bis in die Gegenwart, Frankfurt/M. 1986, S. 360. AVA, VVST, Karton 1365/ Mappe Entjudungsfälle A-Z, Amtsvermerk vom 27.11.1939. Vgl. AVA, VVST, Karton 648, St. 5092/ Band 2, Bericht der Deutschen Revisions- und Treuhand-Aktiengesellschaft, Zweigniederlassung Wien über die bei der Aktiengesellschaft Ignaz Kuffner & Jakob Kuffner für Brauerei, Spiritus- und Preßhefe-Fabrikation Ottakring-Döbling, Wien XVI, vorgenommene Sonderprüfung, 28.11.1938. Vgl. AVA, Rk, Karton 75, Ordner 148, (2165/2/9), Erlaß des Min.f.Wirt.u.Arb. an die Österreichische Kontrollbank für Industrie und Handel, 30.9.1938. Walther Kastner, Mein Leben kein Traum, Wien 1982, S. 108. Ebenda, S. 109. Ebenda, S. 116 f. Vgl. AVA, Rk, Karton 75, Ordner 148, (2165/2/5), Schreiben von Bürckel an Reichswirtschaftsminister Funk, 8.7.1939. Hans Fischböck, Das Bankwesen der Ostmark. In: Die Deutsche Volkswirtschaft, Jg. 1940, Nr. 12, S. 384. Neue Bankfirma übernimmt Rothschild Wien. In: Die Bank, 33. Jg., 3.4.1940, Heft 14, S. 223. Vgl. AVA, VVST, Karton 300, H. 5034, Schreiben Dr. Philippovich an Finanzamt Innere Stadt West, 12.2.1942. Vgl. Gerhard Botz, Wien vom „Anschluß“ zum Krieg, S. 331 ff. Der Staatskommissar in der Privatwirtschaft, Bericht über die Entjudung der Ostmark, Wien 1. 2. 1939, S. 21. Vgl. Heim/Aly, Die Ökonomie der „Endlösung“, a.a.O., S. 28 ff. Der Zugriff auf „arische“ Klein- und Mittelbetriebe war erst im Rahmen des kriegswirtschaftlichen Konzentrationsprozesses gegeben, als zahlreiche Betriebe geschlossen wurden, um Arbeitskräfte für Großunternehmen freizumachen. Gerhard Botz, Stufen der Ausgliederung der Juden, a.a.O., S. 365. Vgl. Ludolf Herbst, Der totale Krieg und die Ordnung der Wirtschaft. Die Kriegswirtschaft im Spannungsfeld von Politik, Ideologie und Propaganda 1939-1945, Stuttgart 1982, S. 157. AVA, VVST, Karton 1408, Korrespondenz S-V (August 1938-Juni 1940), Bericht über die Tätigkeit in der Ostmark ab 4. Juli 1938 von Reg. Rat. Wagner, 7.9.1938, S. 13. Ebenda, S. 13. Vgl. AVA, VVST, Karton 1370, Mappe Mörixbauer, Anlage zu Schreiben des Stellvertretenden Gauleiters Scharizer an den Regierungspräsidenten Dr. Dellbrügge vom 25.4.1941. Vgl. AVA, Handelsministerium, Nachlaß Fischböck, Karton 734, Statistischer Bericht über die Tätigkeit der Vermögensverkehrsstelle vom 19.11.1938. Institut für Zeitgeschichte München, Nürnberger Dokument PS 2237, Schreiben Bürckel an Göring vom 18.11.1938. Vgl. Der Staatskommissar in der Privatwirtschaft, Bericht über die Entjudung der Ostmark, Wien 1. 2. 1939, S. 10. Vgl. AVA, VVST, Karton 771, Abw./79/1939, Schreiben der Wirtschaftskammer Wien, Unterabteilung Einzelhandel an die Vermögensverkehrsstelle vom 17.5.1939; vgl. auch Beschwerde der Wirtschaftsgruppe Einzelhandel über die Tätigkeit der Abwickler vom 9.5.1939. Vgl. AVA, VVST, Karton 911, R.A. 3319, Sammelakt. Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 D I E Z E N T R A L S T E L L E F Ü R J Ü D I S C H E A U S WA N D E R U N G I N W I E N JONNY MOSER Die ➤ Zentralstelle für jüdische Auswanderung in Wien wurde im August 1938 errichtet,1 sie sollte eine rationellere Enteignung der auswanderungswilligen Juden erbringen und deren Ausreiseabfertigung verkürzen. Die Zentralstelle besorgte und verschaffte keine Einreisegenehmigungen in andere Länder, wie sie auch keine Schiffskarten verkaufte; sie war realiter ein Paßamt, das sich mittels Abgaben von Juden selbst finanzierte. Die Zentralstelle für jüdische Auswanderung war im Rothschild-Palais, Wien IV, Prinz Eugen-Straße 22, heute Sitz der Arbeiterkammer für Wien, untergebracht. Der Gedanke zur Gründung eines solchen Amtes war ➤ Eichmann, dem Gründer und ersten Leiter der Zentralstelle, sogleich nach dem „Anschluß“ gekommen. Er war ein sehr ambitiöser SS-Führer und aufmerksamer Beobachter, der rasch erkannte, wie man mit brutaler Gewalt die Juden einschüchtern und andererseits durch schöne Versprechungen leicht erpressen konnte. Daneben hatte er die großen Möglichkeiten für eine schnellere Arisierung wahrgenommen, die sich aus der Finanzierungsmethode der ➤ Gildemeester-Auswanderungs-Hilfsaktion ergaben. Und Eichmann bemerkte die administrativen Schwierigkeiten bei der Paßbeschaffung der Juden, die sich einerseits für die Wiener Polizei ergaben, weil man den Juden ein separates Paßamt in Wien V, Wehrgasse, geschaffen hatte, das mit zu wenig Beamten bestückt war. Manche auswanderungswilligen Juden waren tage-, ja wochenlang angestellt, ehe sie ihre Ausreisepapiere erhielten. Alle diese Vorgänge unter ein Dach zu bringen, schien mit der Gründung der Zentralstelle für jüdische Auswanderung zu lösen zu sein. Dabei war Eichmann vom SD-Hauptamt lediglich nach Wien entsandt worden, um bei den jüdischen Organisationen Archive, Bibliotheken und anderes einschlägige Material über das Judentum und den Zionismus sicherzustellen. Eichmann war seit 1934 Referent in der Abteilung „Judenangelegenheiten“ – Kurzbezeichnung II 112 – im SD-Hauptamt in Berlin, im Range eines SS-Führers. Diese Abteilung befaßte sich zu dieser Zeit rein theoretisch mit dem Judentum und mit einer Lösung der „Judenfrage“ in Form der Auswanderung, die nach dem „Anschluß“ die Formen einer Vertreibung annahm. Als SD-Führer hatte Eichmann zur Zeit des „Anschlusses“ noch keine Exekutivgewalt bei der Vertreibung der Juden, diese lag bei den Leitern des Judenreferates der ➤ Gestapo. Allerdings fand Eichmann hier in Österreich freiere Betätigungsmöglichkeiten, zumal hier in Wien noch keine Kompetenzgrenzen fixiert worden waren und er zudem weder vom SD-Hauptamt noch vom Leiter des SD-Oberabschnitts Österreich, Franz Stahlecker, in irgendeiner Form behindert worden war. Eichmann kontaktierte fleißig seine früheren Kampfgefährten aus der illegalen Zeit, traf mit ihnen offiziell und gesellig zusammen und erhielt derart verhältnismäßig viele Informationen. Er stand in gutem Einvernehmen mit dem Judenreferat der Gestapo Wien und nahm an den Aktionen gegen die jüdischen Organisationen aktiv teil. Seine Informationen über das Judentum in Österreich, die er dem SD-Hauptamt übermittelte, erregten dort große Aufmerksamkeit, und die von ihm en masse nach Berlin gesandten Archivmaterialien gaben der Abteilung für Judenangelegenheiten nunmehr einen besseren Einblick in das Judentum und in den Zionismus.2 Bei der Hausdurchsuchung im ➤ Palästinaamt,3 das die Agenden der ➤ Jewish Agency (politische Vertretung der Juden in Palästina) in Österreich wahrnahm und auch die Landeszentrale der zionistischen Verbände Österreichs beherbergte, ließ sich Eichmann die Vertreter der Zionisten Österreichs vorführen, um unter ihnen jenen auszuwählen, den er später mit der Leitung dieses Amtes betrauen wollte. Und am 18. März 1938 nahm Eichmann bei der Durchsuchung der Amtsräume der ➤ Israelitischen Kultusgemeinde in Wien teil. Bei dieser Aktion wurden auch zwei Zahlungsbelege über eine Wahlfondsspende in der Höhe von öS 800.000.- an die ➤ Vaterländische Front gefunden. Sie waren der formale Anlaß, das Präsidium der Israelitischen Kultusgemeinde Wien festzunehmen, die Amtsräume zu Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 21 Raschere „Arisierung“ durch die GildemeesterAuswanderungsHilfsaktion Terror und Schikanen, um Juden zur schnelleren Auswanderung zu zwingen Die Zentralstelle für jüdische Auswanderung in Wien schließen und jede Amtstätigkeit vorläufig zu untersagen. Der wahre Grund für diese Maßnahmen war jedoch einzig und allein, die führungs- und vertretungslos gewordenen Juden Wiens zu schikanieren und zu terrorisieren, um sie für eine schnellere Auswanderung gefügig zu machen. Aber Eichmann benützte das Auffinden der beiden Spendenbelege für die Durchführung der Schuschniggschen Volksbefragung am 13. März 1938 auch, um den Juden Wiens dieselbe Summe Geldes nochmals abzuverlangen: dieses Mal für die Volksabstimmung am 10. April 1938. Diese Vorgangsweise brachte Eichmann viel Ansehen beim Reichskommissar für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich, ➤ Joseph Bürckel, ein, sie wurde in den Wiener NS-Führungskreisen wie auch im SD-Hauptamt respektvoll registriert. Diese Wahlfondsspende der Israelitischen Kultusgemeinde Wien war für Schuschniggs beabsichtigte Volksbefragung aus tiefster österreichischer Überzeugung zur Verfügung gestellt worden. Der Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, Staatsrat Dr. Desider Friedmann, wurde am 10. März 1938 von ➤ Schuschnigg persönlich von seinem verzweifelten Entschluß, das Volk von Österreich am 13. März entscheiden zu lassen, unterrichtet. Als Vorsitzender des Verbandes der Israelitischen Kultusgemeinden Österreichs war sich Friedmann seiner Verantwortung für das Geschick der jüdischen Gemeinschaft in Österreich vollauf bewußt, zumal die angesetzte Volksbefragung den letzten Rettungsversuch für den Weiterbestand eines unabhängigen und freien Österreich darstellte. Welcher aufrechte Österreicher konnte zu diesem Zeitpunkt seine Hilfe versagen, wo zudem noch klar war, daß der Weiterbestand oder Fall Österreichs mit der Lebensfrage der Österreicher jüdischer Konfession engstens verbunden war. Der Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, Dr. Desider Friedmann, und die Vizepräsidenten, Oberbaurat Ing. Robert Stricker wie der Rat der Stadt Wien, Dr. Jakob Ehrlich, wurden mit dem ersten Österreichertransport am 1. April 1938 in das Konzentrationslager Dachau verschickt.4 Der Amtsdirektor der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, Dr. Josef Löwenherz, wurde von Eichmann zurückgehalten, er sollte nach Eichmanns Plan, wenn die Juden Wiens die strafweise verfügte Kontribution von 550.000 Reichsmark aufgebracht hatten, wieder in seine alte Position als Leiter der Kultusgemeinde eingesetzt werden. Am 8. April 1938 richteten Amtsvorstand Emil Engel und Oberrabbiner Dr. Israel Taglicht ein Schreiben an alle Kultussteuerträger der Gemeinde, worin sie auf die derzeitige prekäre finanzielle Lage der Kultusgemeinde hinwiesen und aufriefen, einen freiwilligen Zuschlag in der Höhe von mindestens 50 % der bisherigen Kultussteuer zu bezahlen, zumal die Kultusgemeinde den Betrag von RM 550.000,- aufzubringen habe, ehe die Kultusgemeinde ihre Amtstätigkeit wieder aufnehmen könne. Es sind „überaus ernste und unausweichliche Gründe“, die den Vorstand zu dieser Aufforderung an die Steuerträger zwängen, zumal „von deren Erfüllung das künftige Geschick der Gemeinde und ihrer Angehörigen entscheidend beeinflußt werden wird“.5 Am Freitag, dem 15. April 1938, wurde von den Kanzeln aller Wiener Synagogen ein Aufruf des Oberrabbiners Dr. Taglicht verlesen, in dem er an die Gemeindemitglieder appellierte und „die Zahlung des geforderten Geldes als eine unabdingbare Notwendigkeit“, ja als eine „religiöse Pflicht“ bezeichnete.6 Das westliche Ausland wußte ganz genau, daß diese Zahlung der Israelitischen Kultusgemeinde Wien an den Wahlfonds der Nationalsozialisten zu leisten war.7 Und in einem Brief am 23. April 1938 schreibt Eichmann an seinen Freund und Vorgesetzten Herbert Hagen: „Löwenherz ist enthaftet. Er und Dr. Rottenberg vom Palästinaamt bekamen von mir den Auftrag, bis zum 27. April ein genaues Aktionsprogramm betr. Kultusgemeinde und Zionistischen Landesverband für Österreich auszuarbeiten.“ Nebenbei bemerkte Eichmann: „RM 200.000,zahlten sie bereits. Engel muß weitere Eintreibungen vornehmen. ... Ende nächster Woche wird die Kultusgemeinde und darauf der zionistische Landesverband aufgemacht.“ 8 Damit hatte Eichmann seiner Dienststelle vorgeführt, wie man mit Druck und Terror die „Judenfrage“ lösen sollte. Er hatte in Österreich auch allen Unterabschnitten des Sicherheitsdienstes wie auch den Referenten der Abteilung Juden einen Überblick über diese Materie 22 Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 Jonny Moser gegeben.9 Am 8. Mai 1938 meldet er seinem Freund Herbert Hagen nach Berlin: „Sämtliche jüdischen Organisationen in Österreich sind zur achttägigen Berichterstattung angehalten worden. Dieselben werden dem jeweiligen Sachbearbeiter II 112 übergeben. Am Freitag der nächsten Woche erscheint die erste Nummer der zionistischen Rundschau (…) und bin gerade bei der langweiligen Arbeit der Zensur. Die Zeitung geht Euch selbstverständlich auch zu. Es wird gewissermaßen ‚meine‘ Zeitung werden. Jedenfalls habe ich die Herrschaften auf Trab gebracht, was Du mir glauben kannst. Sie arbeiten derzeit auch schon sehr fleißig. Ich habe von der Kultusgemeinde (…) eine Auswanderungszahl von 20.000 mittellosen Juden für die Zeit vom 1. April 1938 bis 1. Mai 1938 verlangt (…) Morgen kontrolliere ich wieder den Laden der Kultusgemeinde (…) Ich habe sie hier vollständig in der Hand, sie trauen sich keinen Schritt ohne vorherige Rückfrage bei mir zu machen.“ 10 Über die Lage der Lösung der „Judenfrage“ in Österreich berichtete er Hagen: „Die Lage der Dinge ist jetzt folgende: Arisierung. Juden in der Wirtschaft usw. behandeln, laut Erlaß Gauleiter Bürckels. Das weitaus schwierigere Kapitel, die Juden zur Auswanderung zu bringen, ist Aufgabe des SD. Auf diese (…)“ ist alles ausgerichtet. Über seine persönliche Situation war er im unklaren. Er meinte „als Abteilungsleiter auf einen Unterabschnitt“ zu kommen, zumal die „Sache in Wien läuft“. Diese Arbeit hier zu verlassen, „täte mir ehrlich leid, zumal ich sie gerne machte“, schrieb er Hagen, „aber Du wirst ja verstehen, daß ich mit meinen 32 Jahren nicht gerne ‚zurückgehe‘.“ Und er hatte hier in Wien unter den NSund SD-Führern Fürsprecher: Er blieb also in Wien.11 In diesen Apriltagen 1938, als die Amtstätigkeit der Israelitischen Kultusgemeinde Wien stillgelegt war und Eichmann seine Position im SD-Hauptamt festigte, bemühten sich verschiedene Personen jüdischer Abkunft, mit österreichischen Nationalsozialisten in Kontakt zu kommen, um ihnen einen für sie faszinierenden Plan zur Lösung der „Judenfrage“ in Österreich vorzutragen. Der Gedanke war der, die jüdische Auswanderung zu forcieren, indem man sich gleichzeitig des Vermögens der auswandernden Juden bemächtigen könne. Vermögenden Juden sollten Einreisemöglichkeiten in überseeische Staaten verschafft werden, worauf diese auf ihr gesamtes Vermögen zugunsten des Reichs verzichteten. Von diesem Vermögen sollten fünf bis zehn Prozent einem Fonds, dem Auswanderungsfonds zufließen, aus dem die Auswanderung mittelloser Juden bestritten würde. Eine Hilfsstelle unter der Leitung einer geeigneten Person sollte geschaffen werden. Und dieser Mann fand sich in der Person des Holländers Frank van Gheel Gildemeester, der sich immer schon humanitären Aufgaben gewidmet und während der Zeit des ➤ Ständestaates inhaftierte Nationalsozialisten betreut hatte. Über Mittelsmänner wurde dieser Plan dem Minister für Arbeit und Wirtschaft, ➤ Dr. Hans Fischböck, vorgelegt und von ihm gutgeheißen. Gildemeester nahm unter der Bezeichnung Gildemeester-Auswanderungs-Hilfsaktion im April 1938 seine Arbeit auf. Zum Fondsführer des Auswanderungsfonds in der ➤ Vermögensverkehrsstelle des Ministeriums für Arbeit und Wirtschaft wurde SS-Obersturmführer Dkfm. Fritz Kraus bestellt. Als juristischer Berater fungierte Dr. Erich Rajakowitsch.12 Wie diese Ausreisebeschaffung und Enteignung vor sich ging, soll am Beispiel der Familie Kuffner aufgezeigt werden. Die Besitzer der Ottakringer Brauerei, Moritz und Stefan von Kuffner, waren unter dem Vorwand staatsfeindlicher Betätigung von der Gestapo festgenommen worden. Zur „Einstellung ihres Verfahrens“ kam es erst, als sie „das Einverständnis“ schriftlich abgaben, 35 % ihres Vermögens, das nach den Feststellungen des „staatlichen Treuhänders“ 9 Millionen Reichsmark betrug, dem Reich zu übergeben. Ihre Bankguthaben, Anteilscheine, Gemäldegalerie und Sternwarte waren nach dem „Anschluß“ beschlagnahmt worden. Es wurde daher an Zahlungsstatt der „ganze immobile Kuffnersche Liegenschaftsbesitz“ im Werte von 2,5 Millionen Reichsmark übernommen. Als Empfänger dieses Liegenschaftsbesitzes wurde von der Gestapo der Auswanderungsfonds Wien nominiert. Nach der Bezahlung der ➤ Reichsfluchtsteuer und aller anderen Abgaben verblieb den Familienmitgliedern Kuffner lediglich ein namhafter Betrag auf einem ➤ Sperrkonto, über den sie jedoch nie verfügen konnten. Für eine Ausreisegenehmigung hatten sie auf all ihr Vermögen zu verzichten.13 Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 23 Ausreise unter Vermögensverzicht Die Zentralstelle für jüdische Auswanderung in Wien Die Grenzen werden geschlossen Eichmanns Idee einer Zentralstelle für jüdische Auswanderung Bis zum Sommer 1938 war Eichmanns Stellung in Österreich endgültig gefestigt. Er hatte die Finanzierung der Gildemeester-Hilfsaktion genau verfolgt und stand mit Dr. Rajakowitsch und Dkfm. Kraus in engem Kontakt. Er hatte die ungeheuren Anstrengungen der Israelitischen Kultusgemeinde gesehen, Einreisegenehmigungen von den amerikanischen Hilfsorganisationen zu erhalten, und erkannte die begrenzten Möglichkeiten einer Palästinaauswanderung aufgrund des englischen ➤ Weißbuches. Die Konferenz von Evian zur Lösung der Auswanderungsprobleme der jüdischen Flüchtlinge aus Österreich und Deutschland war gescheitert. So mancher lateinamerikanische Staat schloß erst jetzt seine Grenzen für Juden aus Österreich, und selbst die USA waren nicht geneigt, die deutsche Einwanderungsquote zu erhöhen. Die Schweiz schloß nun völlig ihre Grenzen gegenüber österreichischen Juden. Ja, mehr noch, sie nahm Kontakt mit ➤ Himmler auf, um sich vor weiteren jüdischen Einreisenden besser schützen zu können, und verlangte eine Kennzeichnung der Reisepässe der Juden mit einem „J“. Und in Wien ergaben sich infolge der einsetzenden antijüdischen Gesetzesflut, des Kennkartenzwangs und der Annahme des Zusatzvornamens „Israel“ oder „Sara“ für die Polizeiämter viele zusätzliche Belastungen. Zur Finanzierung der erhöhten Ansprüche an die Israelitische Kultusgemeinde Wien führte Eichmann auch ein Gespräch mit verantwortlichen Leuten der Reichsbank. Von den Geldern, die die ausländischen Hilfsorganisationen der Israelitischen Kultusgemeinde Wien zur Verfügung stellten, sollten Auswanderern die benötigten Devisen abgegeben werden, sie hatten jedoch dafür den doppelten Kurswert zu bezahlen. Dieses Agio kam der Kultusgemeinde zur Erfüllung ihrer vielfachen sozialen Aufgaben zugute. Die Idee einer zentralen Stelle, von der die jüdischen Auswanderer schneller abgefertigt werden könnten, beschäftigte Eichmann immer mehr. Die Finanzierung dieser Zentralstelle sollte in Form einer Auswanderungsabgabe erfolgen. Jeder auswandernde Jude hatte vor der Paßeinreichung seine Bemessungsgrundlage berechnen zu lassen, die zwischen einem und zehn Prozent des Vermögens betrug. Vermögenslose Juden hatten mindestens fünf Reichsmark zu bezahlen. Derart gelangte die Zentralstelle zu so vielen Geldern, daß sie später die Israelitische Kultusgemeinde damit subventionierte und die Kosten des Abtransportes der Juden in die Vernichtungslager bestritt. Allein 1939 gewährte die Zentralstelle für jüdische Auswanderung der Israelitischen Kultusgemeinde Wien eine Subvention von RM 977.000,-.14 Den Gedanken der Schaffung einer Zentralstelle für jüdische Auswanderung trug Eichmann schließlich seinem unmittelbaren Vorgesetzten, dem Chef des SD-Oberabschnittes Österreich, Dr. Franz Stahlecker, vor und fand dessen Zustimmung. Auch ➤ Heydrich war dafür, wie auch die Stadt Wien und der Reichskommissar für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich diesem Plan zustimmten. Anfang August 1938 nahm die Zentralstelle für jüdische Auswanderung in Wien, die offiziell dem SD-Oberabschnitt Österreich unterstellt war, ihre Arbeit auf.15 Mit der Leitung der Zentralstelle für jüdische Auswanderung wurde Adolf Eichmann betraut, der sofort seine Männer hierher holte. Es waren dies Theodor Dannekker, Rolf und Hans Günther, Franz Novak, im Herbst 1938 wurde Alois Brunner eingestellt, ein Jahr später folgte ihm Anton Brunner. Mit der Arbeitsaufnahme der Zentralstelle für jüdische Auswanderung wurde mittels Druck und Einschüchterung die erzwungene Auswanderung von Juden wesentlich erhöht. Waren vom „Anschluß“ bis zum Juli 1938 rund 18.000 Juden vertrieben worden, so betrug diese Zahl für die Zeit August bis Oktober 1938 32.000, und bis zum Juli 1939 flüchteten weitere 54.000 Juden aus Österreich. Ende November 1939 hatten insgesamt 126.445 Juden inklusive der im Oktober 1939 nach Nisko Deportierten Österreich verlassen. In diesen eineinhalb Jahren haben amerikanische jüdische Hilfsorganisationen 1,6 Millionen Dollar für Auswanderungszwecke der Israelitischen Kultusgemeinde zur Verfügung gestellt.16 In einem Artikel „Die Judenfrage – ein brennendes Problem“ berichtete der „Völkische Beobachter“ (Wiener Ausgabe) am 13. Mai 1939, daß „nach zehnmonatiger Tätigkeit“ die Zentralstelle für jüdische Auswanderung stolz darauf sein könne, „insgesamt 99.672 Juden mosaischer Konfession“ zur Auswanderung gebracht zu haben. 24 Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 Jonny Moser Die Zentralstelle für jüdische Auswanderung erregte schon sehr bald nach ihrer Gründung Aufmerksamkeit im Dritten Reich und genoß in NS-Kreisen größtes Ansehen. Bei der Sitzung im Reichsluftfahrtministerium am 12. November 1938, zwei Tage nach dem ➤ Novemberpogrom, berichte Heydrich, daß die Zentralstelle für jüdische Auswanderung aus „Österreich immerhin 50.000 Juden herausgebracht“ habe, „während im Altreich in der gleichen Zeit nur 19.000 Juden“ ausgewandert seien. Dazu meinte ➤ Göring hämisch: „Vor allen Dingen habt ihr mit den örtlichen Führern der grünen Grenze zusammengearbeitet. Das ist die Hauptsache.“17 Und Ministerialrat Bernhard Lösener vom Reichsministerium des Inneren sprach anerkennende Worte über die Zentralstelle für jüdische Auswanderung. „Unter seiner (Eichmanns) Führung durchwanderte ich sämtliche Auswanderungseinrichtungen, die er in Wien geschaffen hatte. (…) Die Korridore vor den unterschiedlichen Büros (…) waren gedrängt voll von jüdischen Menschen (…) Frauen rissen ihre Kinder erschreckt beiseite, sobald sie Eichmann sahen, der unbekümmert wie auf leerer Straße dahinging und alles beiseite stieß, was da an menschlichem Unglück harrte (…) Im Büro der Synagogengemeinde (Kultusgemeinde) sprangen alle sofort hoch, als wir eintraten (…) Eichmann rief sie beim Namen auf, (…) gab ihre Aufgaben an,und sofort surrten sie wie dressierte Tiere ihre Angaben herunter. Der Ausdruck berechtigter Todesangst war auf jedem Gesicht zu lesen.“18 Göring schien trotz seiner skeptischen Worte an Heydrich von der Leistung der Zentralstelle für jüdische Auswanderung in Wien überrascht und beeindruckt gewesen zu sein, denn am 24. Jänner 1939 erteilte er Heydrich den Auftrag, in Berlin eine „Reichszentrale für jüdische Auswanderung“ zu errichten.19 Sie wurde erst im Herbst 1939 gegründet und im ➤ Reichssicherheitshauptamt eingebaut. Auch hier wurde Eichmann mit der Leitung betraut. Vorerst jedoch wurde am 26. Juli 1939 in Prag eine Zentralstelle für jüdische Auswanderung errichtet, die von Eichmann persönlich geleitet wurde. Und später, 1940, wurde nach der Besetzung der Niederlande selbst in Amsterdam eine Zentralstelle eingerichtet. Unstimmigkeiten bei der Erfassung von arbeitsfähigen Männern zwischen der Israelitischen Kultusgemeinde und der Gildemeester-Auswanderungs-Hilfsaktion führten im September 1939 zu einer Registrierung aller in Österreich lebenden Juden im Sinne der ➤ Nürnberger Gesetze. Die erfaßten Personen mußten karteimäßig der Zentralstelle für jüdische Auswanderung übergeben werden und ständig à jour gehalten werden. Daneben wurde eine neuerliche Erfassung des jüdischen Vermögens bei den hier noch befindlichen Juden durchgeführt.20 Damit war ein Weg aufgezeigt, den Eichmann und jede ihm unterstellte Stelle bei der Endlösung der „Judenfrage“ vorerst beschritt. Die Juden, einmal zahlen-, namens- und adressenmäßig erfaßt, ihre Vermögenswerte bekanntgegeben, waren leicht in Vernichtungslager abzutransportieren. In Österreich und in Mährisch-Ostrau versuchten Eichmann und Stahlecker auch die ersten Deportierungen, um Erfahrungen beim Abtransport größerer Menschenmengen zu bekommen. Während der Kämpfe in Polen, im September 1939, kamen sie auf den glorreichen Gedanken, selbst da ein Judenreservat einzurichten. Juden aus Wien und MährischOstrau wurden in je zwei Transporten dahin verschickt. Dafür wurde sogar in MährischOstrau kurzfristig eine Zentralstelle für jüdische Umsiedlung eingerichtet. Diese Art einer territorialen Lösung der „Judenfrage“ scheiterte an Hitlers Einspruch. Für ihn gab es nur eine Entfernung der Juden aus dem Dritten Reich oder deren Vernichtung. Mit der Ausweitung des Krieges verlor die Auswanderung der Juden immer mehr ihre Bedeutung. Nach dem Kommissarerlaß Hitlers im Juni 194121 erteilte Göring am 31. Juli 194122 den Auftrag, die Endlösung der „Judenfrage“ in Angriff zu nehmen. Die Vernichtung der im Reich verbliebenen und der in den besetzten Gebieten befindlichen Juden war nun beschlossene Sache, die bei der berüchtigten ➤ „Wannsee-Konferenz“ 23 lediglich nur mehr die staatliche Administration in diesen Prozeß einbezog. Die Zentralstellen für jüdische Auswanderung waren ausersehen, die Deportationen in die ➤ Vernichtungslager durchzuführen. Aus den bei diesen Stellen aufliegenden Namenskarteien wurden die Deportationslisten zusammengestellt, und aus den bis 1941 eingehobenen, aber für jeden Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 25 Die Wiener Zentralstelle als Vorbild Die Zentralstelle für jüdische Auswanderung in Wien zur Deportation bestimmten Juden zu bezahlenden Auswanderungs- bzw. Abwanderungsabgaben wurden die Kosten für den Abtransport bestritten. Am Beispiel Wiens ersieht man, daß nach den großen Deportationsaktionen im Herbst 1942 die Aufgaben der Zentralstelle erfüllt waren. Die Zentralstelle übersiedelte aus dem Rothschild-Palais in die jüdische Schule in Wien II, Castellezgasse 35, und wurde im März 1943 aufgelöst. Die Agenden für die hier verbliebenen restlichen Juden wurden der Gestapo übergeben. Der letzte Leiter der Wiener Zentralstelle, Alois Brunner, wurde nach Saloniki abkommandiert, um die Deportierung der griechischen Juden zu organisieren. Die Abteilung Eichmanns im Reichssicherheitshauptamt und Eichmanns Handlanger wurden die Exekutoren des Genozids an den Juden Europas. Aus: Kurt Schmidt/Robert Streibel (Hrsg.): Der Pogrom 1938. Judenverfolgung in Österreich und Deutschland, Picus Verlag, Wien 1990, S. 96–100 1 2 3 4 5 6 7 8 9 Gerhard Botz: Wien vom „Anschluß“ zum Reich, Wien-München 1978, S. 252f. Eichmann-Prozeß Jerusalem, Beweisdokument Nr. 1512; Herbert Rosenkranz: Verfolgung und Selbstbehauptung. Die Juden in Österreich 1938-1945, Wien - München 1978, S. 71. Jewish Telegraphic Agency: Bulletin 186 v. 14.3.1938 ; Rosenkranz (Anm. 2), S. 51. Rosenkranz (Anm. 2), S. 49. Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes: DÖW 1972 Siehe auch: J. Moser: Das Schicksal der Wiener Juden in den März- und Apriltagen 1938, in: März 1938, Forschungen und Beiträge zur Wiener Stadtgeschichte II, Wien 1978, S. 175. Widerstand und Verfolgung in Wien 1934-1945. Hrsg. Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes, Bd. III, Wien 1975, S. 229. J. Moser (Anm. 5), S. 176. Jewish Telegraphic Agency: Bd. IV, Nr. 16, 19.4.1938. Eichmann-Prozeß Jerusalem, Beweisdokument Nr. 1515. 26 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 ebenda, Beweisdokument Nr. 1169 und Nr. 1513. ebenda, Beweisdokument Nr. 1515. ebenda. Widerstand (Anm. 6), S. 235, Anm. 1. ebenda, S. 235f Allg.Verwaltungsarchiv, Rk 209 (2240/4). Report of the Vienna Jewish Community. Hrsg. Benjamin Murmelstein, Wien 1940, S. 140. Botz (Anm. 1), S. 252f. ebenda, S. 253f. Nürnberger Dokument PS 1816. Vierteljahreszeitschrift für Zeitgeschichte, Juli 1961, S. 292. Nürnberger Dokument PS 710. Jüdisches Nachrichtenblatt (Wien), 8. und 15.9.1939. H. Jacobsen, Kommissarerlaß und Massenexekution sowjetischer Kriegsgefangener, in: Anatomie des SS-Staates, dtv-Taschenbuchverlag, Nr. 463, München 1967, Bd. II, S. 143ff. Robert M. W. Kempner: Eichmann und Komplizen, Zürich – Stuttgart – Wien 1961, S. 126ff. Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 D E L O G I E R T, D E P O R T I E R T, E R M O R D E T GEORG SCHEUER Meine Eltern Heinrich und Alice Scheuer wurden am 1. August 1938 wegen „nichtarischer“ Herkunft aus ihrer Wohnung im Gemeindehaus Wien 3., Neulinggasse 39, delogiert, dann „umgesiedelt“ und schließlich 1942 deportiert und ermordet. Sie waren als junge Menschen zu Beginn des Jahrhunderts nach Wien gekommen, meine Mutter aus Temesvar und mein Vater aus Schaffa bei Znaim (Südmähren). Vor dem Ersten Weltkrieg hatten sie sich kennengelernt und geheiratet und wohnten bis 1925 im 3. Bezirk, in einer „Zinskaserne“, Matthäusgasse 12 (Zimmer, Küche, Kabinett, Klo und Bassena am Gang mit anderen Wohnparteien). Hier wohnte schon meine Großmutter Rosa Scheuer mit ihren Kindern, hier kam ich 1915 zur Welt und verbrachte meine ersten zehn Lebensjahre. Mein Vater war seit 1908 Redakteur des „K. k. Telegrafenbüros“ – nach dem „Umsturz“ „Amtliche Nachrichtenstelle“ – und somit Staatsangestellter. Ab 1918 waren meine Eltern Mitglieder der SDAPÖ. 1925 übersiedelten wir in den 7. Bezirk, Neustiftgasse 54. Die Wohnung war etwas größer, jedoch im obersten Stockwerk ohne Lift. 1931 bekamen wir nach längerer Wartezeit die Gemeindewohnung in der Neulinggasse, aus der wir dann 1938 delogiert wurden. Zugleich wurde mein Vater nach dreißigjähriger Tätigkeit für den österreichischen Staat entschädigungslos „beurlaubt“. In der Neulinggasse wohnten wir zu viert, meine Eltern, meine Schwester und ich, sieben Jahre lang seit der Errichtung des Hauses. Es war 1930/31 unter dem Bürgermeister Karl Seitz gebaut worden. Amtsführender Stadtrat war damals ➤ Hugo Breitner für Finanzen und ➤ Anton Weber für Wohnungswesen. Die Wohnung bestand aus einem Wohnzimmer, einem Schlafzimmer, zwei Kabinetten und einer kleinen Küche, in der wir eine Duschnische eingebaut hatten, da ein Badezimmer nicht vorgesehen war. Vom Wohnzimmer ging ein kleiner Balkon auf den Innenhof. Ich sah meine Eltern 1938 zum letztenmal. Meinen Vater am 11. März, wenige Stunden vor dem Einmarsch der Hitlertruppen („Anschluß“). Er war damals 53 Jahre alt, ich 22. Ich war einige Wochen vorher, nach der von Bundeskanzler ➤ Schuschnigg verfügten politischen Generalamnestie, aus dem Zuchthaus Stein entlassen worden und in unsere Wohnung in die Neulinggasse 39 zurückgekehrt, wo ich im November 1936 wegen „roter“ Agitation und Propaganda verhaftet worden war. Ich war zu fünf Jahren Kerker verurteilt und am 19. Februar amnestiert und freigelassen worden. Mein Vater, der sich von mir politisch distanziert hatte, verhalf mir an jenem 11. März 1938 zu einer rechtzeitigen Ausreise, Emigration. Meine Mutter, sie war 49 Jahre alt, begleitete mich mit einem letzten Autobus nach Znaim, wo uns die Nachricht vom soeben begonnenen Überfall der Hitlertruppen auf Österreich überrumpelte. Trotz dieses Ereignisses kehrte meine Mutter nach Wien in die Neulinggasse zurück. Beide Eltern waren überzeugt, daß ihnen als loyalen Staatsbürgern, meinem Vater insbesondere als loyalem Staatsbeamten unter drei Regimen (Monarchie, Republik, Ständestaat), „nichts passieren“ könne. Im Juni 1938 erhielt mein Vater von einem Ferdinand Holzer, Obermagistratsrat des nun von den Nazis verwalteten Wiener Magistrats, eine „Aufkündigung“, laut welcher unsere Wohnung bis spätestens 1. August 1938, 12 Uhr mittags, „geräumt zu übergeben“ war. Verzweifelt und vergeblich wehrten sich Heinrich und Alice Scheuer gegen das Unrecht. Mein Vater erhob am 29. Juni 1938 Einspruch gegen die Kündigung in einem Schreiben an die Nazibehörden (siehe Kasten S. 28). Er erhielt daraufhin am 7. Juli 1938 von der ➤ Magistratsabteilung 21 eine „Ladung“ zu einer „Verhandlung“ am 11. Juli 1938 im Zimmer 74, Verhandlungssaal VIII, 3. Stock, und am folgenden Tag einen schriftlichen Bescheid: „Kündigung ist nunmehr rechtskräftig.“ Die Wohnung wurde nun einem Michael Gilhofer neu vermietet. Die „arischen“ Nachbarn verhielten sich, nach Aussage meiner Schwester, die noch bis September 1938 in Wien weilte, zu diesen Vorgängen passiv, zum Teil jedoch Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 27 Delogierung aufgrund „nichtarischer“ Herkunft Vom Staat entschädigungslos „beurlaubt“ Vergebliche Einsprüche gegen die „Kündigung“ Passives Verhalten „arischer“ Nachbarn Delogiert, deportiert, ermordet EINSPRUCH GEGEN DIE KÜNDIGUNG VOM 29.6.1938 AN DIE NAZIBEHÖRDE „Ich habe heute die gerichtliche Verständigung erhalten, daß ich meine Wohnung, 3., Neulinggasse 39, mit Ende Juli d. Js. zu räumen habe. Ich bitte um gütige Rücknahme der Kündigung u.zw. mit folgender Begründung. Seit meiner Kindheit wohne ich in Wien bzw. sind meine Eltern, Großeltern und Urgroßeltern nachweisbar in Österreich angesiedelt. Mit meinem 18. Lebensjahr trat ich in den Staatsdienst, Amtliche Nachrichtenstelle. Während des Krieges, den ich wegen meines gelähmten Beines nicht mitmachen konnte, war ich in der Redaktion der Amtlichen Nachrichtenstelle so wie andere Kollegen bei der damals besonders verantwortungsvollen Kriegsberichterstattung mittätig. Nach dem Kriege wurde ich Lokalberichterstatter und als solcher fast zwanzig Jahre Kommunalreferent der Gemeinde Wien für die Amtliche Nachrichtenstelle, also sowohl für den Staat als auch für die Stadt amtlich tätig, meine Pflichten stets korrekt und ordentlich erledigend.“ In einem zweiten Absatz fügte Heinrich Scheuer hinzu: „Wenn es erlaubt ist, meine Bitte um Zurücknahme der Wohnungskündigung auch mit privaten Gründen zu unterstützen, so wäre es u.a. der Umstand, daß ich szt. 1931, als ich hier einzog, eine Mieterschutzwohnung, VII, Neustiftgasse 54, die sehr billig war, dem Wohnungsamt zur Verfügung stellte, daß ich gegenwärtig noch immer als aktiver, allerdings beurlaubter Staatsbeamter der in Liquidation befindlichen Amtlichen Nachrichtenstelle figuriere, da mein Personalakt zur Behandlung im Bureau des Herrn Staatssekretärs Dr. Wächter erliegt, daß ich also gar nicht weiß, wie sich mein künftiges Schicksal gestalten werde, welche Höhe die Pension haben wird, also auch nicht weiß, welche Wohnung ich mir werde nehmen können, wobei ja auch nur eine Mittelwohnung wie bisher und im 1. Stockwerke wegen meines Leidens in Betracht kommen kann, und ich ja noch für zwei unversorgte Kinder sorgen muß. Ich brauche wohl nicht besonders zu betonen, daß ich mich niemals politisch betätigt habe und daß ich mit meinen Berufskollegen aus allen Zeitungen ebenso gut ausgekommen bin wie hier im Hause mit allen Parteien, worüber ich jederzeit in der Lage wäre, dies bestätigen zu lassen. Aus all diesen Gründen wiederhole ich die Bitte, mein Ansuchen um Rücknahme der Wohnungsaufkündigung einer geneigten Befürwortung den in Betracht kommenden Stellen zu unterbreiten.“ 28 Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 Georg Scheuer bestürzt oder jedenfalls „korrekt“. Erwähnenswert ist eine Episode mit unserem damaligen Nachbarn H. Bujak. Er war bis 1934 Redakteur der „Arbeiter-Zeitung“ gewesen, stand dann den Revolutionären Sozialisten nahe, hatte aber auch Verbindung zu illegalen Nationalsozialisten. Er empfand den Sturz der ➤ Schuschnigg-Diktatur, die ihn brotlos gemacht hatte, als Befreiung, wurde vom Jubelrausch des „Anschlusses“ mitgerissen und versicherte seinem Journalistenkollegen Heinrich Scheuer, dem unter dem Schuschnigg-Regime der Titel eines „Regierungsrates“ verliehen worden war und der ihm, Bujak, in diesen vier Jahren Austrofaschismus gelegentlich Hilfe und Gelegenheitsarbeiten verschafft hatte, er, Heinrich Scheuer, habe nach dem neuen Regimewechsel 1938 nichts zu befürchten: Er, Bujak, habe Beziehungen zur illegalen NSDAP, und man könne auf seine Solidarität als Wohnnachbar und Journalistenkollege rechnen. Dies war meines Erachtens ehrlich gemeint und entsprach seinem Charakter, wie ich ihn in den vorhergehenden Jahren seit 1934 kennengelernt hatte. Bujak war mutig, riskierte einiges im illegalen Untergrund gegen die Schuschnigg-Diktatur, und es zeugte auch von Mut, in den Tagen nach dem nazideutschen Einmarsch demonstrativ zum „Juden“ Scheuer rüberzukommen und diesem die Hand zu schütteln. Heinrich Scheuer war von dieser Demonstration offensichtlich einigermaßen überrascht und reagierte mit betonter Zurückhaltung. Er hatte das Ausmaß der nun hereinbrechenden Barbarei nicht vorhergesehen und war überfordert. Dies erklärt auch die Lähmung in den folgenden Monaten, in welchen nichts Wirksames unternommen wurde, um eine Ausreise zu bewerkstelligen. Meine Eltern mußten nun in eine winzige Wohnung im 5. Bezirk, Siebenbrunnengasse 65, übersiedeln. Hier konnten sie nur 20 Monate bleiben, bis zum 2. Jänner 1940. Sie zogen dann in eine noch kleinere Wohnung im 3. Bezirk, Gärtnergasse 8. Hier war die Bleibe 18 Monate bis zum 30. Juni 1941. Schließlich wurden sie am 1. Juli 1941 in das Ghetto im 2. Bezirk, Czerningasse 12, gepfercht und nach zehn Monaten, am 20. Mai 1942, nach Minsk deportiert und in der Nähe dieser Stadt, in Mali-Trostinetz ermordet. Ihre letzte Botschaft erreichte meine Schwester Rose Scheuer in London über das Internationale Rote Kreuz, datiert vom 24. Februar 1942, abgestempelt am 12. März. Von sechzig Mietparteien des Hauses wurden zwölf von den Nazibehörden als „nichtarisch“ befunden. Alle mußten in den Monaten nach dem „Anschluß“ ihre Wohnung räumen. Als erster verließ Franz Beer (Stiege 4/Tür 15) im Mai 1938 seine Wohnung; sie wurde am 3. Juni einem Leopold Bauer neu vermietet. Der Buchsachverständige Jakob Antschel (Stg. 4/12) verwies in einem Beschwerdebrief auf seine alte, kranke Mutter und auf seinen Bruder Dr. Maximilian Antschel: „Er war Offizier, Frontkämpfer, kriegsverwundet und ausgezeichnet (Kriegsdekorationen) und ist an den Folgen des Krieges im Jahr 1931 gestorben.“ Es nützte ihm nichts. Seine Wohnung wurde am 1.10.1938 einem Kurt Marschelke übergeben. Dr. Eduard Eisler (Stg. 4/14) war Bundesbeamter, von ihm liegt kein Beschwerdebrief vor. Seine Wohnung bekam im August ein Rudolf Kosnar. Eduard Engel (Stg. 3/3) war Gewerkschaftssekretär. Er begnügte sich mit zwei Zeilen Einspruch. Seine Wohnung bekam im August ein Hubert Lusun. Dr. Hermann Gaschke (Stg. 1/6) war Rechtanwalt. Auch von ihm liegt kein Einspruch vor. Seine Wohnung bekam am 29. Juli ein Rudolf Wessely. Max Gewürz (Stg. 3/10) war Kaufmann. Er begnügte sich mit zwei Zeilen „Einwendungen“. Seine Wohnung bekam im November 1938 ein Dr. Karl Hofbauer. Olga Kleebinder (Stg. 1/3) war anscheinend ohne Beruf. Es liegt nichts Näheres vor, wer die Wohnung im Dezember bekam. Professor Oskar Kreisky (Stg. 1/7), ein Onkel des späteren Bundeskanzlers, bemühte den Rechtsanwalt Dr. Ignaz Berl und machte Einwendungen. Er mußte trotzdem im August ausziehen. Seine Wohnung bekam ein Johann Ableidinger. Der Bankbeamte Dr. Otto Mandl (Stg. 4/6) bat um „Erstreckung des Kündigungstermines auf Ende September“ und verwies auf seine beiden kleinen Kinder, vier Jahre und fünf Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 29 Zwangsübersiedlung Delogiert, deportiert, ermordet Wochen alt. Er hoffte, bis Ende September eine Ausreisemöglichkeit zu haben, und schrieb am 1. Juli 1938: „Mit den kleinen Kindern wäre ein Umzug für die Frist unseres hiesigen Aufenthaltes sehr schwierig und bitte ich daher um Verlängerung des Kündigungstermines.“ Dennoch wurde die Kündigung am 30. Juli für den 1. August bestätigt. Die Wohnung bekam ein Hubert Lusun. Dr. Than (Stg. 4/5), ein Bankbeamter, bat, ihm die Wohnung wenigstens bis zum 30. September mit seinen Kindern zu belassen. Seine Frau, Anna Nicoletta Than, präsentiert sich als „Arierin“ und unterzeichnet „ergebenst“ mit „Heil Hitler!“ „Ich bewohne mit meiner Familie die Wohnung Nr. 5 des städtischen Hauses 3. Bezirk, Neulinggasse 39, Stiege IV. Ich selbst bin Arierin, römisch-katholisch, meine Kinder, ein dreizehnjähriger Bub und ein siebenjähriges Mädchen, sind Mischlinge. Mit unserem Pensionseinkommen von Reichsmark 182,- monatlich ist es sehr schwer, bei Aufrechterhalten der Kündigung in der Zeit bis zum 31.7.38 eine andere Wohnung zu finden, und meine Lage ist dadurch noch besonders erschwert, daß ich einen Nervenzusammenbruch erlitten habe und infolge meines leidenden Zustandes (häufige Ohnmachtsanfälle) den Aufregungen einer Wohnungssuche und Übersiedlung nicht gewachsen bin.“ Sie wurde dennoch am 25. August gekündigt, die Wohnung bekam eine Katharina Schredt. Schließlich ersuchte auch Dr. Kolmann, Vertrauensarzt der Krankenkasse, vergeblich um „Aufschub“. Seine Wohnung bekam ein Alfred Lugner. Mit meinen Eltern Heinrich und Alice wurden damals ausnahmslos alle meine in Mitteleuropa verbliebenen Familienangehörigen von den Nazibehörden verhaftet, deportiert und ermordet. So Heinrichs Schwester Lina und deren Mann Hermann Hahn in Stockerau, seine Schwester Therese und deren Mann Moritz Kubin in Wien 7., Seidengasse, Heinrichs Bruder Julius Scheuer und Neffe Felix Hauser in Wien 3., Krieglergasse, Siegfried und Ernst Scheuer in Mähren. Sie alle wurden mit Millionen Schicksalsgenossen im „Holocaust“ der vierziger Jahre grausam vernichtet. Und nun die immer wiederkehrende bohrende Frage: Mußte das so ablaufen? Meine Mutter war nach dem „Anschluß“ im März 1938 mit mir bereits in der Tschechoslowakei. Sie mußte keineswegs in das Nazireich zurückkehren. Sie hätte ihren Mann nachkommen lassen können, wie ich es ihr in Znaim eindringlich riet, und mit ihm wie die beiden „Kinder“ Georg und Rose den Nazischergen entrinnen können. Immer wieder hatte ich meinen Eltern damals und schon in den Jahren davor das Wesen des Faschismus und insbesondere des Nazifaschismus zu erklären versucht und ihnen prophezeit: „Sie werden euch ausrotten.“ Hitler war ja schon seit 1933 in Deutschland an der Macht und hatte seit 1924 in „Mein Kampf“ alles angekündigt. Tausendfach hatten wir die Sprechchöre gehört: „Juda verrecke!“ Meine Eltern hatten das nicht ernstgenommen. Meine Mahnungen und Warnungen wurden in den Wind geschlagen, als dummes Gerede eines 23jährigen „Weltfremden“ abgetan. Ich wurde als „Spinner“ ausgegrenzt. Meine Eltern, insbesondere mein Vater, vertrauten fest auf ihre „Bürgerrechte“, auf „Mieterschutz“, auf „Ersparnisse“ und auf „Pensionsansprüche“. Sie nahmen die offen und zynisch angekündigten Vernichtungspläne der Hitlerdiktatur nicht zur Kenntnis. Bis zur fristlosen Entlassung, Delogierung, Enteignung, Beraubung und Deportation. Es ist grausam, diesen Tatbestand auch 50 Jahre später festzuhalten. Aber es ist doch notwendig für die Nachgeborenen, einige Lehren daraus zu ziehen. Aus: Herbert Exenberger u.a.: Kündigungsgrund „Nichtarier“. Die Vertreibung jüdischer Mieter aus den Gemeindebauten in den Jahren 1938-1939. Picus Verlag, Wien 1996, S. 194 – 200. 30 Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 ANSUCHEN UM EINE GESCHÄFTSÜBERNAHME Hoch geehrter Herr Minister! Gestatten Sie, dass ich in nachfolgender Angelegenheit an Sie herantrete und um Ihre Unterstützung bitte. Ich bewerbe mich im Arisierungsweg um die Firma Adolf Huppert, I., Opernring 13 und lauft mein Gesuch (…) seit Wochen. Es hat noch ein zweiter Bewerber eingereicht. Dieses Geschäft soll die Basis für die Lebensexistenz meines Sohnes Hartmann Decker sein (ill. Pg.). [d. h. illegaler Parteigenosse] Sie, verehrter Herr Minister, kennen meine Lauterkeit, meine selbstlose Tätigkeit durch 25 Jahre für das österreichische Bekleidungsgewerbe und würden einige Wort von Ihrer Seite meinen Bestrebungen förderlich sein. Mein betont nationaler Standpunkt während meiner Handelskammertätigkeit (deutsch-österr. Ausschuss für Anschluss, resp. Zollunion) hat es mit sich gebracht, dass ich durch Schuschnigg und besonders Bürgermeister Schmitz zurückgestellt wurde und ich jede Mitarbeit einstellte. Bin Parteimitglied seit Mai 1938. Da in wenigen Tagen die Entscheidung in dieser Arisierungssache fallen muss, wollte ich sie bitten, mich gütigst zu empfangen. Heil Hitler! Ihr ergebener Carl Decker 1 1 AVA, Handelsministerium, Präs., Auskünfte 1938, Karton 707, Zl. 2417 – 1938, Schreiben Kommerzialrat Carl Decker, 19.12.1938 Aus: Hans Safrian, Hans Witek: Und keiner war dabei. Dokumente des alltäglichen Antisemitismus in Wien 1938. Picus Verlag, Wien 1988, S. 109f. Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 31 Zwangsarbeit im „Dritten Reich“ Ein Überblick Dimensionen der Zwangsarbeit in Österreich Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 Zwangsarbeit Zwangsarbeit wurde während des Nationalsozialismus in fast allen Bereichen der deutschen und der österreichischen Wirtschaft, sowohl in den großen Betrieben der Rüstungsindustrie wie auch im Baugewerbe, in der Landwirtschaft, in kleineren Gewerbebetrieben, im Fremdenverkehr und in Haushalten geleistet. Obwohl die Bedeutung der Zwangsarbeit für die nationalsozialistische Wirtschafts- und Rüstungspolitik schon unmittelbar nach dem Krieg bekannt war, ist „Zwangsarbeit“ in der Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit in Österreich erst in jüngster Zeit zum Thema geworden. Im gesamten Deutschen Reich waren es schätzungsweise mehr als 12 Millionen Menschen (siehe der Beitrag von Ulrich Herbert im vorliegenden Band), die – hauptsächlich zwischen 1939 und 1945 – zwangsweise zur Arbeit eingesetzt wurden. Zwangsarbeit wurde sowohl von Kriegsgefangenen, von zivilen ausländischen Arbeitskräften, von KZHäftlingen, von Roma und Sinti, ungarischen Juden und Jüdinnen und anderen diskriminierten und verfolgten Gruppen geleistet, von Männern ebenso wie von Frauen. Die Arbeits- und Lebensbedingungen der ZwangsarbeiterInnen waren sehr unterschiedlich, sowohl hinsichtlich ihres Status und ihres Einsatzbereiches als auch hinsichtlich ihrer nationalen Herkunft. Die zivilen ausländischen ZwangsarbeiterInnen etwa kamen aus mehr als zwanzig Ländern, darunter aus Polen, der damaligen Sowjetunion, Frankreich, Italien, Holland, Belgien, Griechenland. Die sogenannten „Westarbeiter“ und „Westarbeiterinnen“ standen in der rassistischen Hierarchie der Nationalsozialisten an oberster Stelle, Polen und Polinnen, sogenannte „Ostarbeiter“ und „Ostarbeiterinnen“, Roma und Sinti, Juden und Jüdinnen am Ende dieser Hierarchie. Ulrich Herbert schildert in seinem Beitrag den Verlauf des Zwangsarbeitseinsatzes im Deutschen Reich im Zusammenhang mit den kriegswirtschaftlichen Überlegungen der Nationalsozialisten und geht dabei auch auf die unterschiedlichen Arbeits- und Lebensbedingungen von ZwangsarbeiterInnen ein. Bis auf wenige Ausnahmen in Gestalt deutscher Firmen ist in Deutschland und Österreich bis heute keine Entschädigung für Zwangsarbeit geleistet worden, entsprechende Anträge ehemaliger ZwangsarbeiterInnen wurden auch von den Gerichten immer wieder abgelehnt. Erst in der jüngsten Vergangenheit hat das Thema eine größere Öffentlichkeit gefunden. Mehr als ein halbes Jahrhundert nach Kriegsende zeichnet sich in beiden Ländern nun möglicherweise eine Lösung der Entschädigungsfrage ab. Diskutiert werden allerdings noch Höhe und Form der Auszahlungen und ob sich außer betroffenen Firmen auch der deutsche bzw. der österreichische Staat an der Einrichtung von Fonds beteiligt. Der Zeithistoriker Florian Freund skizziert im Interview die Dimension der Zwangsarbeit für Österreich daher sowohl in historischer Perspektive als auch hinsichtlich der aktuellen Debatte über Entschädigung für Zwangsarbeit. Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 33 Z WA N G S A R B E I T E R I M „ D R I T T E N R E I C H “ – E I N Ü B E R B L I C K ULRICH HERBERT Die Heranziehung von Millionen von Arbeitskräften zur Zwangsarbeit während des Zweiten Weltkrieges war eines der wesentlichen Kennzeichen nationalsozialistischer Arbeitspolitik – in Deutschland selbst wie im ganzen von den Deutschen besetzten Europa. Allerdings umfaßt der Begriff „Zwangsarbeiter“ eine Vielzahl von Personengruppen mit zum Teil sehr verschiedenen Arbeitsverhältnissen. Ihnen allen war gemeinsam, daß es ihnen verwehrt wurde, Arbeitsstelle und Arbeitgeber nach eigenem Willen auszusuchen oder zu verlassen und daß sie besonderen gesetzlichen oder sonstigen behördlichen Bestimmungen unterlagen, welche sie in der Regel besonders schlechten sozialen Bedingungen unterwarfen und ihnen rechtliche Einspruchsmöglichkeiten versagten.1 Dabei ist der Begriff „Zwangsarbeit“ vernünftigerweise deutlich abzusetzen von solchen Arbeitsverhältnissen, die zwar deutschen Reichsbürgern vorübergehend oder auf Dauer zugeordnet werden konnten, aber aufgrund der Gesamtwürdigung der Lebensumstände eher als Dienstverpflichtung denn als Zwangsarbeit zu bewerten sind – der Reichsarbeitsdienst etwa, die Dienstverpflichtung zum Bau der Autobahnen oder auch das „Landjahr“ für Mädchen. Es hat sich hierbei bewährt, drei große, in bezug auf Status, Art und Weise der Rekrutierung, soziale Lage, Rechtsgrundlage der Beschäftigung, Dauer und Umstände des Arbeitsverhältnisses sehr unterschiedliche große Gruppen voneinander zu unterscheiden: 1. die ausländischen Zivilarbeiter und Kriegsgefangenen, die zwischen 1939 und 1945 zum Arbeitseinsatz nach Deutschland gebracht und im Volksmund „Fremdarbeiter“ genannt wurden; 2 2. die Häftlinge der Konzentrationslager im Reichsgebiet sowie – in geringerem Umfang – in den besetzten Gebieten vor allem Osteuropas; 3 3. die europäischen Juden, die in ihren Heimatländern, vor allem aber nach ihrer Deportation für kürzere oder längere Zeit Zwangsarbeiten verrichten mußten – in Gettos, Zwangsarbeitslagern oder KZ-Außenlagern.4 Nicht behandelt wird hier, abgesehen von den jüdischen Zwangsarbeitern, die Heranziehung von Bewohnern der von der Wehrmacht besetzten Länder zur Zwangsarbeit in diesen Ländern außerhalb der Konzentrationslager. Hierüber ist nicht nur der Forschungsstand ausgesprochen disparat, es werden in den verschiedenen Ländern auch ganz unterschiedliche Definitionen von „Zwangsarbeit“ verwendet, die von der zwangsweisen Arbeitsleistung in KZ-ähnlichen Lagern bis zur Dienstverpflichtung von Unterstützungsempfängern durch die einheimische Arbeitsverwaltung reichen. I. Rüstungswirtschaftliche Vorbereitungen auf den Krieg – Mangel an Arbeitskräften Der nationalsozialistische „Ausländereinsatz“ zwischen 1939 und 1945 stellt den größten Fall der massenhaften, zwangsweisen Verwendung von ausländischen Arbeitskräften in der Geschichte seit dem Ende der Sklaverei im 19. Jahrhundert dar. Im Spätsommer 1944 waren auf dem Gebiet des „Großdeutschen Reichs“ 7,6 Mio. ausländische Zivilarbeiter und Kriegsgefangene offiziell als beschäftigt gemeldet, die man größtenteils zwangsweise zum Arbeitseinsatz ins Reich gebracht hatte. Sie stellten damit zu diesem Zeitpunkt etwa ein Viertel aller in der gesamten Wirtschaft des Deutschen Reiches registrierten Arbeitskräfte. Gleichwohl war der „Ausländer-Einsatz“ von der nationalsozialistischen Führung vor Kriegsbeginn weder geplant noch vorbereitet worden. Bei den rüstungswirtschaftlichen Vorbereitungen Deutschlands auf den Krieg gab es drei große Engpässe – Devisen, bestimmte Rohstoffe und Arbeitskräfte. Für Devisen und Rohstoffe gab es eine Lösung: Nach dem Konzept der „Blitzkriege“ sollten die Ressourcen des Reiches sukzessive durch die Vorräte der zu erobernden Länder erweitert werden. Dieses 34 Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 Ulrich Herbert Konzept hatte sich in den Fällen Österreich und Tschechoslowakei bereits bewährt und sollte sich in den Jahren 1939 bis 1945 erneut bestätigen. Die Frage der Beschaffung von Arbeitskräften war schwieriger zu bewältigen, denn hier spielten außer wirtschaftlichen auch sicherheitspolizeiliche und vor allem weltanschauliche Faktoren eine Rolle. Etwa 1,2 Mio. Arbeitskräfte fehlten im „Großdeutschen Reich“, ein weiterer Anstieg dieses Bedarfs nach Beginn des Krieges war zu erwarten. Zwei Möglichkeiten standen zur Debatte: Entweder man beschäftigte – wie im Ersten Weltkrieg – deutsche Frauen in großem Umfang in der Wirtschaft, oder man importierte aus den zu erobernden Ländern Arbeitskräfte in großer Zahl. Beides aber stieß in der Regimeführung auf Ablehnung. Die Dienstverpflichtung deutscher Frauen während des Ersten Weltkriegs hatte zu erheblicher innenpolitischer Destabilisierung und Unzufriedenheit geführt; zudem hätte sie einen eklatanten Verstoß gegen das frauen- und sozialpolitische Konzept der Nationalsozialisten dargestellt.5 Millionen von ausländischen Arbeitern, insbesondere von Polen, ins Reich zur Arbeit zu bringen, kollidierte vehement mit den völkischen Prinzipien des Nationalsozialismus, wonach auch eine massenhafte Beschäftigung von „Fremdvölkischen“ im Reich die „Blutreinheit“ des deutschen Volkes bedroht hätte. Die Entscheidung fiel erst nach Kriegsbeginn; im Vergleich zweier Übel schien der Ausländereinsatz gegenüber der Dienstverpflichtung deutscher Frauen das geringere zu sein, weil man hier die erwarteten Gefahren leichter repressiv eindämmen zu können glaubte. Die etwa 300.000 in deutsche Hand gefallenen polnischen Kriegsgefangenen wurden nun sehr schnell vorwiegend in landwirtschaftliche Betriebe zu Arbeit gebracht. Gleichzeitig begann eine Kampagne zur Anwerbung polnischer Arbeiter, die zunächst an die langen Traditionen der Beschäftigung polnischer Landarbeiter in Deutschland anknüpfte, aber nach kurzer Zeit zu immer schärferen Rekrutierungsmaßnahmen überging und seit dem Frühjahr 1940 in eine regelrechte Menschenjagd im sogenannten ➤ „Generalgouvernement“ mündete, wo mit jahrgangsweisen Dienstverpflichtungen, kollektiven Repressionen, Razzien, Umstellungen von Kinos, Schulen oder Kirchen Arbeitskräfte eingefangen wurden. Bis zum Mai 1940 war auf diese Weise mehr als eine Million polnischer Arbeiter ins Reich gebracht worden. Gleichwohl empfand man den „Poleneinsatz“ in der Regimeführung nach wie vor als Verstoß gegen die „rassischen“ Prinzipien des Nationalsozialismus; den daraus erwachsenden „volkspolitischen Gefahren“, so ➤ Himmler im Februar 1940, sei mit entsprechend scharfen Maßnahmen entgegenzuwirken. Daraufhin wurde gegenüber den Polen ein umfangreiches System von repressiven Bestimmungen entwickelt: Sie mußten in Barackenanlagen wohnen, was sich allerdings auf dem Lande in der Praxis bald als undurchführbar erwies; sie erhielten geringere Löhne, durften öffentliche Einrichtungen (vom Schnellzug bis zur Badeanstalt) nicht benutzen, den deutschen Gottesdienst nicht besuchen; sie mußten länger arbeiten als Deutsche und waren verpflichtet, an der Kleidung ein Abzeichen – das „Polen-P“ – befestigt zu tragen. Kontakt zu Deutschen außerhalb der Arbeit war verboten, geschlechtlicher Umgang mit deutschen Frauen wurde mit öffentlicher Hinrichtung des beteiligten Polen geahndet. Um „das deutsche Blut zu schützen“, war zudem bestimmt worden, daß mindestens die Hälfte der zu rekrutierenden polnischen Zivilarbeiter Frauen zu sein hatten.6 Für die deutschen Behörden war der Modellversuch „Poleneinsatz“ insgesamt ein Erfolg: Es gelang sowohl, binnen kurzer Zeit eine große Zahl von polnischen Arbeitern gegen ihren Willen nach Deutschland zu bringen, als auch im Deutschen Reich eine nach „rassischen“ Kriterien hierarchisierte Zweiklassengesellschaft zu installieren. Bereits im Mai 1940 aber war unübersehbar, daß auch die Rekrutierung der Polen den Arbeitskräftebedarf der deutschen Wirtschaft nicht zu befriedigen vermochte. So wurden denn schon während und alsbald nach dem „Frankreichfeldzug“ etwas mehr als 1 Mio. französischer Kriegsgefangener als Arbeitskräfte ins Reich verbracht. Darüber hinaus begann in den verbündeten Ländern und besetzten Gebieten des Westens und Nordens eine verstärkte Arbeiter-Werbung. Auch für diese Gruppen wurden jeweils besondere, allerdings im Vergleich zu den Polen deutlich günstigere Vorschriften für Behandlung, Lohn, Unterkunft Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 35 Der „Poleneinsatz“ als Modellfall Zwangsarbeiter im „Dritten Reich“ – ein Überblick Vom „Blitzkrieg“ zum Abnutzungskrieg Zwangsarbeitseinsatz zwischen rassistischer Ideologie und kriegswirtschaftlichen Zielen etc. erlassen, so daß ein vielfach gestaffeltes System der nationalen Hierarchisierung entstand, eine Stufenleiter, auf der die damals bereits so genannten „Gastarbeitnehmer“ aus dem verbündeten Italien zusammen mit den Arbeitern aus Nord- und Westeuropa oben und die Polen unten plaziert wurden.7 Der weit überwiegende Teil der ausländischen Zivilarbeiter und Kriegsgefangenen der „Blitzkriegphase“ bis Sommer 1941 wurde in der Landwirtschaft beschäftigt. Bei den Industrieunternehmen spielten Ausländer zu dieser Zeit keine bedeutende Rolle; die Industrie setzte vielmehr darauf, bald nach Abschluß der „Blitzkriege“ ihre deutschen Arbeiter vom Militär zurückzuerhalten. Zugleich waren die ideologischen Vorbehalte gegen eine Ausweitung des Ausländereinsatzes bei Partei und Behörden so groß, daß festgelegt wurde, die Zahl der Ausländer auf dem Stand vom Frühjahr 1941 – knapp 3 Mio. – einzufrieren. Dieses Konzept ging so lange auf, wie die Strategie kurzer, umfassender Feldzüge eine Umstellung auf einen langen Abnutzungskrieg nicht erforderte. Seit dem Herbst 1941 aber entstand hier eine ganz neue Situation. Die deutschen Armeen hatten vor Moskau ihren ersten Rückschlag erlebt, von einem „Blitzkrieg“ konnte nicht mehr die Rede sein. Vielmehr mußte sich nun die deutsche Rüstungswirtschaft auf einen länger andauernden Abnutzungskrieg einstellen und ihre Kapazitäten erheblich vergrößern. Auch mit heimkehrenden Soldaten war nicht mehr zu rechnen – im Gegenteil: Eine massive Einberufungswelle erfaßte jetzt die Belegschaften der bis dahin geschützten Rüstungsbetriebe. Durch die nun einsetzenden intensiven Bemühungen um Arbeitskräfte aus den westeuropäischen Ländern allein waren aber diese Lücken nicht mehr zu schließen. Nur der Einsatz von Arbeitskräften aus der Sowjetunion konnte eine weitere, wirksame Entlastung bringen. Der Arbeitseinsatz sowjetischer Kriegsgefangener oder Zivilarbeiter im Reich aber war vor Beginn des Krieges explizit ausgeschlossen worden. Dabei hatten sich nicht nur Parteiführung, ➤ Reichssicherheitshauptamt und ➤ SS aus „rassischen“ und sicherheitspolitischen Gründen gegen jede Beschäftigung von Russen in Deutschland ausgesprochen. Vielmehr war die Siegesgewißheit im überwiegenden Teil der an der Vorbereitung des Krieges beteiligten Stellen der Regimeführung und der Wirtschaft so groß, daß ein solcher Einsatz von vornherein als nicht notwendig angesehen wurde, so daß anders als bei der Beschäftigung von Polen diesmal die ideologischen Prinzipien des Regimes durchschlugen. Darüber hinaus gab es auch in der deutschen Bevölkerung starke, durch die ersten Wochenschaubilder vom Krieg in der Sowjetunion noch verschärfte Vorbehalte gegen einen „Russeneinsatz“.8 Da also keine kriegswirtschaftliche Notwendigkeit ihrer Beschäftigung im Reich zu bestehen schien, wurden die Millionen sowjetischer Kriegsgefangener in den Massenlagern im Hinterland der deutschen Ostfront ihrem Schicksal überlassen. Mehr als die Hälfte der 3,3 Millionen bis Ende des Jahres 1941 in deutsche Hand geratenen sowjetischen Kriegsgefangenen verhungerte, erfror, starb vor Erschöpfung oder wurde umgebracht. Insgesamt kamen bis Kriegsende von den etwa 5,7 Mio. sowjetischen Kriegsgefangenen 3,5 Millionen in deutschem Gewahrsam ums Leben.9 Als sich aber seit dem Spätsommer 1941 und verstärkt dann im Winter dieses Jahres die militärische und damit auch die kriegswirtschaftliche Lage Deutschlands rapide wandelte, entstand erneut ein ökonomischer Druck zur Beschäftigung auch der sowjetischen Gefangenen, der sich im November in entsprechenden Befehlen äußerte. Die Initiative dazu ging diesmal von der Industrie, insbesondere vom Bergbau, aus, wo der Arbeitermangel bereits bedrohliche Formen angenommen hatte. Die überwiegende Mehrzahl der sowjetischen Gefangenen aber stand für einen Arbeitseinsatz gar nicht mehr zur Verfügung. Von den bis dahin mehr als 3 Mio. Gefangenen kamen bis März 1942 nur 160.000 zum Arbeitseinsatz ins Reich. Daher mußte nun auch hier in großem Stile auf die Rekrutierung sowjetischer Zivilarbeiter umgeschaltet werden. Die Beschaffung von so vielen Arbeitskräften in so kurzer Zeit wie möglich wurde zur vordringlichen Frage und zur Hauptaufgabe des im März neu eingesetzten „Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz“, ➤ Sauckel, der seine Aufgabe mit ebensoviel Effizienz wie schrankenloser Brutalität erfüllte. In knapp zweieinhalb Jahren wurden von den 36 Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 Ulrich Herbert Einsatzstäben der Wehrmacht und der deutschen Arbeitsämter 2,5 Mio. Zivilisten aus der Sowjetunion als Zwangsarbeiter ins Reich deportiert – 20.000 Menschen pro Woche. Parallel zu der Entwicklung bei Beginn des „Poleneinsatzes“ wurde auch dieser kriegswirtschaftlich motivierte Verstoß gegen die ideologischen Prinzipien des Nationalsozialismus durch ein System umfassender Repression und Diskriminierung der sowjetischen Zivilarbeiter kompensiert, das die Bestimmungen gegenüber den Polen an Radikalität allerdings noch weit übertraf. Innerhalb des Reiches hatte sich mittlerweile ein regelrechter Lagerkosmos herausgebildet; an jeder Ecke in den großen Städten wie auf dem Lande fanden sich Ausländerlager. Allein in einer Stadt wie Berlin gab es etwa 500, insgesamt mögen es im Reich mehr als 20.000 gewesen sein, und etwa 500.000 Deutsche waren in verschiedenen Funktionen, vom Lagerleiter bis zum „Ausländerbeauftragten“ einer Fabrik, direkt in die Organisation des „Ausländereinsatzes“ einbezogen. Die Lebensbedingungen der einzelnen Ausländergruppen wurden durch eine strikte, bis in Kleinigkeiten reglementierte nationale Hierarchie differenziert.10 Während die Arbeiter aus den besetzten Westgebieten und den sog. befreundeten Ländern zwar überwiegend in Lagern leben mußten, aber etwa dieselben Löhne und Lebensmittelrationen wie die Deutschen in vergleichbaren Stellungen erhielten und auch denselben Arbeitsbedingungen unterlagen, waren die Arbeiter aus dem Osten, vor allem die Russen, ganz erheblich schlechter gestellt. Die Rationen für die offiziell „Ostarbeiter“ genannten sowjetischen Zivilarbeiter fielen so gering aus, daß sie oft schon wenige Wochen nach ihrer Ankunft völlig unterernährt und arbeitsunfähig waren. Schon im Frühsommer 1942 berichteten zahlreiche Unternehmen, daß der „Russeneinsatz“ ganz unwirtschaftlich sei, weil eine effektive Beschäftigung nicht nur eine bessere Verpflegung und ausreichende Ruhepausen, sondern auch dem Arbeitsvorgang entsprechende Anlernmaßnahmen für die Zwangsarbeiter voraussetze. Solche Maßnahmen hatten bei den französischen Kriegsgefangenen dazu geführt, daß die Arbeitsleistungen nach relativ kurzer Zeit beinahe das Niveau der deutschen Arbeiter erreichten. Die Lage vor allem der sowjetischen Zwangsarbeiter war allerdings von Betrieb zu Betrieb, von Lager zu Lager sehr unterschiedlich; in der Landwirtschaft ging es ihnen in der Regel erheblich besser als in der Industrie, und auch dort waren die Unterschiede in der Behandlung und der Ernährung eklatant, vor allem seit Ende 1942. Das aber verweist darauf, wie groß der Handlungs- und Ermessensspielraum des einzelnen Unternehmens war. Es kann überhaupt keine Rede davon sein, daß die schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiter aus dem Osten allein auf die bindenden Vorschriften der Behörden zurückzuführen gewesen seien. Zu wirksamen Verbesserungen der Lebensverhältnisse der „Ostarbeiter“ in breitem Maße kam es allerdings erst nach der Niederlage in Stalingrad Anfang 1943; eine umfassende Leistungssteigerungskampagne setzte ein, verbunden mit einer Bindung der Höhe der Lebensmittelration an die Arbeitsleistung, zugleich begannen umfangreiche Qualifizierungsmaßnahmen. Dadurch gelang es tatsächlich, die Arbeitsleistungen beträchtlich zu erhöhen. Eine qualifizierte Beschäftigung mußte aber auch zwangsläufig Auswirkungen auf das Verhältnis der deutschen zu den ausländischen Arbeitern haben. So war denn schon in den entsprechenden Vorschriften der Behörden alles getan worden, um die bevorzugte Stellung der deutschen Arbeiter gegenüber den Ausländern, insbesondere aber den Russen, in allen Bereichen durchzusetzen. Gegenüber den „Ostarbeitern“ hatten die Deutschen prinzipiell eine Vorgesetztenstellung, in manchen Betrieben erhielten die deutschen Arbeiter, die die „Ostarbeiter“ anlernen sollten, sogar die Funktion von Hilfspolizisten. Was nun die Löhne betrifft, so gab es hierbei grob gesprochen ein vierfach gestaffeltes System. Die zivilen Arbeitskräfte aus allen Ländern außer den ehemals polnischen und sowjetischen Gebieten erhielten die gleichen Löhne wie die deutschen Arbeiter bzw. Arbeiterinnen in vergleichbaren Funktionen – zumindest nominell. Es gibt vielfache Berichte darüber, daß dies in der Praxis nicht immer so gehandhabt wurde, wie von den Behörden vorgeschrieben. Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 37 Arbeits- und Lebensbedingungen der ZwangsarbeiterInnen Zwangsarbeiter im „Dritten Reich“ – ein Überblick Das aber soll hier unberücksichtigt bleiben. Nominell die gleichen Löhne sollten auch polnische Arbeiter erhalten, allerdings mußten sie eine besondere 15prozentige Steuer, die „Polen-Abgabe“, zahlen – übrigens von den deutschen Arbeitsbehörden mit der bemerkenswerten Begründung eingeführt, dies diene zum Ausgleich dafür, daß die Polen ja nicht wie die Deutschen zum Wehrdienst eingezogen würden. Die sowjetischen Arbeiter hingegen erhielten besonders festgelegte Löhne, die erheblich niedriger lagen als die der deutschen und anderen ausländischen Arbeiter – nominell etwa um 40 %, tatsächlich in den meisten Fällen wohl noch tiefer. Von vielen Betrieben ist zudem bekannt, daß sie gar keine Löhne an die sowjetischen Zivilarbeiter auszahlten und diese für „Zivilgefangene“ hielten. Der Ausländereinsatz gehörte in Deutschland mittlerweile wie selbstverständlich zum Kriegsalltag, und angesichts der eigenen Sorgen war für die meisten Deutschen das Schicksal der ausländischen Arbeiter von durchaus geringem Interesse. Im Sommer 1944 befanden sich 7,6 Mio. ausländische Arbeitskräfte auf Arbeitsstellen im Reich: 5,7 Mio. Zivilarbeiter und knapp 2 Mio. Kriegsgefangene. 2,8 Mio. von ihnen stammten aus der Sowjetunion, 1,7 Mio. aus Polen, 1,3 Mio. aus Frankreich; insgesamt wurden zu dieser Zeit Menschen aus fast 20 europäischen Ländern im Reich zur Arbeit eingesetzt. Mehr als die Hälfte der polnischen und sowjetischen Zivilarbeiter waren Frauen, im Durchschnitt unter 20 Jahre alt – der durchschnittliche Zwangsarbeiter in Deutschland 1943 war eine 18jährige Schülerin aus Kiew. 26,5 % aller Beschäftigten im Reich waren damit Ausländer: in der Landwirtschaft 46 %, in der Industrie knapp 40 %, in der engeren Rüstungsindustrie etwa 50 %, in einzelnen Betrieben mit hohem Anteil an Ungelernten bis zu 80 und 90 %.11 A U S L Ä N D I S C H E A R B E I T S K R Ä F T E I N D E R D E U T S C H E N K R I E G S W I R T S C H A F T 1 9 3 9 B I S 1 9 4 4 12 Landwirtschaft Alle nichtlandwirtschaftlichen Bereiche Gesamtwirtschaft 1939 1940 1941 1942 1943 1944 Deutsche Zivile Ausländer Kriegsgefangene Ausländer insg. Ausl. in % aller Beschäftigten 10.732.000 118.000 — 118.000 9.684.000 412.000 249.000 661.000 8.939.000 769.000 642.000 1.411.000 8.969.000 1.170.000 759.000 1.929.000 8.743.000 1.561.000 609.000 2.230.000 8.460.000 1.767.000 635.000 2.402.000 1,1 6,4 13,6 17,7 20,3 22,1 Deutsche Zivile Ausländer Kriegsgefangene Ausländer insg. Ausl. in % aller Beschäftigten 28.382.000 183.000 — 183.000 25.207.000 391.000 99.000 490.000 24.273.000 984.000 674.000 1.659.000 22.568.000 1.475.000 730.000 2.205.000 21.324.000 3.276.000 954.000 4.230.000 20.144.000 3.528.000 1.196.000 4.724.000 0,6 1,9 6,4 8,9 16,5 18,9 Deutsche Zivile Ausländer Kriegsgefangene Ausländer insg. Ausl. in % aller Beschäftigten 39.114.000 301.000 — 301.000 34.891.000 803.000 348.000 1.151.000 33.212.000 1.753.000 1.316.000 3.069.000 31.537.000 2.645.000 1.489.000 4.134.000 30.067.000 4.837.000 1.623.000 6.460.000 28.604.000 5.295.000 1.831.000 7.126.000 0,8 3,2 8,5 11.6 17,7 19,9 Nach: Der Arbeitseinsatz im (Groß-) Deutschen Reich, Jgg. 1939–1944, Stichtag jew. 1.5. d.J. 38 Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 Ulrich Herbert Die Beschäftigung von ausländischen Zwangsarbeitern beschränkte sich durchaus nicht allein auf Großbetriebe, sondern erstreckte sich, von der Verwaltung abgesehen, auf die gesamte Wirtschaft – vom Kleinbauernhof über die Schlosserei mit sechs Arbeitern bis zur Reichsbahn, den Kommunen und den großen Rüstungsbetrieben, aber auch vielen privaten Haushalten, die eines der mehr als 200.000 überaus begehrten, weil billigen russischen Dienstmädchen im Haushalt einsetzten. II. Seit Anfang 1944 aber zeigte sich, daß selbst solche in der Tat erheblichen Zahlen für den Arbeiterbedarf insbesondere der großen Rüstungsprojekte des Reiches nicht mehr ausreichend waren, zumal infolge der militärischen Entwicklung die Arbeiterrekrutierung vor allem in der Sowjetunion zurückging und so die durch weitere Einberufungen immer größer werdenden Arbeitskräftelücken nicht mehr ausgefüllt werden konnten. Daraufhin wandte sich das Interesse zunehmend der einzigen Organisation zu, die noch über ein erhebliches Potential an Arbeitskräften verfügte: der SS und den ihr unterstellten Konzentrationslagern.13 In den ersten Kriegsjahren hatte der Arbeitseinsatz von KZ-Häftlingen eine kriegswirtschaftliche Bedeutung nicht besessen. Zwar gab es bereits seit 1938 SS-eigene Wirtschaftsunternehmen – vor allem Steinbrüche, Ziegeleien und Ausbesserungswerkstätten –, und nahezu alle Häftlinge wurden in irgendeiner Form zur Zwangsarbeit herangezogen. Der Charakter der Arbeit als Strafe, „Erziehung“ oder „Rache“ blieb aber auch hier erhalten und nahm gegenüber den in der politischen und rassischen Hierarchie der Nazis besonders tief stehenden Gruppen bereits vor 1939 und verstärkt danach die Form der Vernichtung an. Durch die Gründung von SS-eigenen Betrieben wie den „Deutschen Ausrüstungswerken“ und den „Deutschen Erd- und Steinwerken“ wurde zwar das Bestreben der SS sichtbar, die Konzentrationslager zunehmend auch als ökonomischen Faktor zu nutzen, in der Praxis aber blieb die wirtschaftliche Funktion der Zwangsarbeit der Häftlinge bis weit in die Kriegsjahre hinein den politischen Zielsetzungen der Lagerhaft untergeordnet.14 Nach dem militärischen Rückschlag an der Ostfront im Herbst 1941 und der damit verbundenen Umorganisation der deutschen Rüstungsindustrie auf die Notwendigkeiten eines langen Abnutzungskrieges wurden nun auch beim Reichsführer SS organisatorische Umstellungen vorgenommen, um die Produktion für die Rüstung – und nicht nur wie bisher in der Bauwirtschaft, der Baustoffgewinnung und der Militärausrüstung – in den Konzentrationslagern zur vorrangigen Aufgabe zu machen. Tatsächlich waren jedoch weder die Konzentrationslager auf eine solche rapide Umstellung eingerichtet noch reichte der wirtschaftliche Sachverstand in dem als neue Organisationszentrale der Konzentrationslager eingerichteten ➤ „Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt“ der SS (WVHA) aus, um eine Rüstungsfertigung in großem Stile aus dem Boden zu stampfen. Zudem waren die KZ-Wachmannschaften selbst aufgrund der jahrelang geübten Praxis, daß ein Menschenleben im KZ nichts galt, nur schwer auf den Vorrang des Arbeitseinsatzes umzustellen. Das Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt der SS machte im April 1942 allen KZ-Kommandanten den Arbeitseinsatz der KZ-Häftlinge zur Hauptaufgabe: Tatsächlich aber starben von den 95.000 registrierten KZ-Häftlingen des 2. Halbjahres 1942 57.503, also mehr als 60 %. Der Wert der KZ-Rüstungsproduktion im Jahre 1942 lag durchschnittlich bei etwa 0,002 % der Gesamtfertigung; für die gleiche Produktionsmenge bei der Karabinerfertigung benötigte ein Privatunternehmer nur 17 % der Arbeitskräfte wie der KZ-Betrieb Buchenwald.15 Erst im Frühjahr 1942 begann die SS damit, KZ-Häftlinge in umfangreicherem Maße für Rüstungszwecke einzusetzen, insbesondere beim Aufbau des IG-Farben-Werkes bei Auschwitz.16 Allerdings waren die Häftlinge hier zunächst nur bei den Bauarbeiten beschäftigt worden, während der Einsatz bei der Rüstungsfertigung erst ein Jahr später begann. Bei den Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Interessengruppen innerhalb der SS setzte sich der Gedanke der Strafe und Vernichtung gegenüber dem von Arbeit und Produktivität weiterhin durch – vor allem deshalb, weil durch die Massendeportation Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 39 „Vernichtung durch Arbeit“ – Zwangsarbeit von KZ-Häftlingen Zwangsarbeiter im „Dritten Reich“ – ein Überblick Die SS „verleiht“ KZ-Häftlinge an die Industrie sowjetischer Arbeitskräfte nach Deutschland, die zu dieser Zeit einsetzte, ein kriegswirtschaftlicher Druck zur Beschäftigung von Konzentrationslager-Häftlingen nicht entstand. Erst am 22. September 1942 entschied Hitler auf Vorschlag des Rüstungsministers Speer, daß die SS ihre KZ-Häftlinge fortan der Industrie leihweise zur Verfügung stellen und die Industrie ihrerseits die Häftlinge in den bestehenden Produktionsprozeß integrieren solle. Dadurch wurde hier das Prinzip der Ausleihe von KZ-Häftlingen an die Privatindustrie festgeschrieben, das von nun an den Arbeitseinsatz der KZ-Häftlinge bestimmen sollte. Seit dieser „Führerentscheidung“ wurde der Arbeitseinsatz von KZ-Häftlingen innerhalb bestehender Industriebetriebe verstärkt; dazu meldeten die Privatunternehmen ihren Arbeitskräftebedarf beim WVHA, von wo aus Unterkünfte und Sicherheitsbedingungen überprüft und die Genehmigungen erteilt wurden. Dabei konnten in der Regel Firmenbeauftragte in den Lagern selbst die geeignet erscheinenden Häftlinge aussuchen. Anschließend wurden die Häftlinge in ein „Außenlager“ des Konzentrationslagers übergeführt, das meistens in unmittelbarer Nähe der Arbeitsstelle errichtet wurde.17 Die Gebühren für die Überlassung der Häftlinge, die die Firmen an die SS zu zahlen hatten, betrugen pro Tag 6,- RM für Facharbeiter und 4,- RM für Hilfsarbeiter und Frauen. Gleichzeitig begannen auch die SSeigenen Wirtschaftsbetriebe im Reich verstärkt auf Rüstungsproduktion umzustellen; die Deutschen Ausrüstungswerke (DAW) produzierten seit Ende 1942 bereits zum überwiegenden Teil für rüstungs- und kriegswichtige Zwecke, vor allem Instandsetzungsarbeiten. Um den Rüstungseinsatz zu verstärken, lag das vorrangige Interesse des WVHA nur darin, die Zahl der Häftlinge in möglichst kurzer Zeit rigoros zu vergrößern. Die Belegstärke aller Konzentrationslager stieg von 110.000 (September 1942) in sieben Monaten auf 203.000 (April 1943). Im August 1944 war die Häftlingszahl bereits auf 524.268 angewachsen, Anfang 1945 auf über 700.000. Die Todesraten der Häftlinge waren nach wie vor außerordentlich hoch und begannen erst seit dem Frühjahr 1943 zu sinken – von 10 % im Dezember 1942 auf 2,8 % im April 1943. Da aber die Häftlingszahlen so stark gestiegen waren, sanken die absoluten Zahlen von Toten in weit geringerem Maße, als es die Prozentzahlen suggerieren. Von Januar bis August 1943 starben wiederum über 60.000 Häftlinge in den Konzentrationslagern, die relative Sterblichkeit aber nahm ab. Dies zeigt, daß den erhöhten Anforderungen von seiten der privaten und der SS-Industrie stark erhöhte Einweisungszahlen entsprachen, nicht aber grundlegend veränderte Arbeitsund Lebensbedingungen der Häftlinge in den Lagern.18 Entsprechend lag die durchschnittliche Arbeitsfähigkeit – und damit die Lebensdauer – des einzelnen Häftlings 1943/44 zwischen einem und zwei Jahren; allerdings mit großen Unterschieden je nach Einsatzort und Gruppenzugehörigkeit der Häftlinge. Zur wirklichen Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der KZ-Häftlinge kam es aber nur dann, wenn durch berufsqualifizierten Einsatz oder nach Anlernzeiten auf qualifizierten Arbeitsplätzen die Arbeitskraft des einzelnen nicht oder nur schwer ersetzbar wurde. Im Sommer 1943 waren von den 160.000 registrierten Gefangenen der WVHA-Lager etwa 15 % bei der Lagerinstandhaltung beschäftigt und 22 % als arbeitsunfähig gemeldet. Die restlichen 63 %, also etwa 100.000, verteilten sich auf die Bauvorhaben der SS, die Wirtschaftsunternehmen der SS sowie die privaten Unternehmen. Noch für das Frühjahr 1944 ging das Rüstungsministerium lediglich von 32.000 tatsächlich eingesetzten KZ-Häftlingen in der privaten Rüstungsindustrie im engeren Sinne aus. Am Ende des Jahres 1942 gab es innerhalb des Reichsgebiets 82 Außenlager der KZ, ein Jahr später 186. Im Sommer 1944 stieg diese Zahl auf 341, bis Januar 1945 auf 662. Da die Zahlenangaben der SS und des SpeerMinisteriums zum Teil stark voneinander abweichen, sind exakte Bestimmungen schwierig. III. Gegenüber den deutschen Juden ist der Übergang zur systematischen Zwangsarbeit mit dem Beginn des Jahres 1939 feststellbar. Juden, die Arbeitslosenunterstützung beantragten, wurden nach entsprechendem Erlaß der deutschen Arbeitsverwaltung seither im 40 Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 Ulrich Herbert „geschlossenen Arbeitseinsatz“ als Hilfsarbeiter eingesetzt; bis zum Sommer 1939 wuchs die Zahl dieser – vorwiegend männlichen – jüdischen Zwangsarbeiter auf etwa 20.000 an, die insbesondere bei Straßenbauarbeiten, bei Meliorations-, Kanal- und Talsperrenprojekten sowie auf Müllplätzen, nach Kriegsbeginn auch bei kurzfristigen Schneeräumungsoder Ernteaktionen eingesetzt wurden. Im Laufe des Jahres 1940 wurde die Verpflichtung zur Zwangsarbeit auf alle arbeitsfähigen deutschen Juden – Frauen wie Männer – ausgedehnt, unabhängig vom Empfang der Arbeitslosenunterstützung. Von nun an erfolgte der Einsatz vorwiegend in der Industrie.19 Spätestens seit dem Frühjahr 1941 aber konkurrierten die Bestrebungen zur Zwangsarbeit der deutschen Juden in Rüstungsunternehmen im Reichsgebiet mit dem Ziel der deutschen Führung, die Juden aus Deutschland zu deportieren. Auch für die – im Sommer 1941 etwa 50.000 – in Rüstungsbetrieben eingesetzten jüdischen Zwangsarbeiter boten die Arbeitsplätze, von denen viele als „rüstungswichtig“ eingestuft waren, keinen sicheren Schutz vor der Deportation, sondern lediglich eine nach der rüstungswirtschaftlichen Bedeutung ihrer Tätigkeit gestaffelte Verzögerung. Bemerkenswert war in diesem Zusammenhang, daß die Deportationen auch von in kriegswichtigen Betrieben beschäftigten Juden mit Hinweisen begründet wurden, es stünden schließlich genug Polen bzw. Ukrainer als Ersatz zur Verfügung – und dies war der letztlich ausschlaggebende Faktor bei der Entscheidung, die vorerst verschonten Berliner „Rüstungsjuden“ schließlich doch zu deportieren. Am 27. Februar 1943 wurden die Berliner jüdischen Rüstungsarbeiter an ihren Arbeitsplätzen ergriffen und zu den Deportationszügen gebracht. Ihre Arbeitsplätze in den Betrieben wurden durch ausländische Zivilarbeiter ersetzt. Am 5., 7. und 30. März wurden die ersten Transporte mit den Berliner „Rüstungsjuden“ in Auschwitz registriert. Von den 2757 deportierten Juden aus diesen Transporten wurden 1689 sofort umgebracht. Im Sommer 1943 gab es innerhalb Deutschlands – von wenigen Einzelfällen abgesehen – keine Juden und also auch keine jüdischen Zwangsarbeiter mehr. Ähnlich, wenngleich in zum Teil anderer zeitlicher Staffelung, entwickelte sich der Zwangsarbeitseinsatz in den von Deutschland besetzten Ländern insbesondere Osteuropas. Dies kann im einzelnen vor allem anhand des besetzten Polen nachvollzogen werden. Im sogenannten „Generalgouvernement“ wurde der jüdische Arbeitszwang bereits im Oktober 1939 verhängt. Danach mußten alle männlichen Juden zwischen 14 und 60 Jahren Zwangsarbeit in dafür einzurichtenden Zwangsarbeitslagern leisten. Es war Aufgabe der „Judenräte“, diese Arbeitskräfte entsprechend zu erfassen und einzuteilen. Einige Wochen später wurde der Arbeitszwang auch auf alle jüdischen Frauen im Alter zwischen 14 und 60 Jahren ausgedehnt.20 Ursprünglich hatte allerdings die SS vorgesehen, alle Juden im „Generalgouvernement“ in großen Zwangsarbeitslagern zur Arbeit einzusetzen. Allerdings waren so viele Juden de facto in freien Arbeitsverhältnissen tätig, daß eine schlagartige Umstellung auf Lagerhaft schon organisatorisch kaum möglich erschien. Jedoch sollte der jüdische „Arbeitseinsatz“ zunehmend in Gettos konzentriert werden, deren Errichtung zu dieser Zeit noch nicht sehr weit vorangeschritten war. Etwas anders verlief die Entwicklung in denjenigen Teilen Polens, die ins Reichsgebiet eingegliedert worden waren. Hier gab es wegen der reichsrechtlichen Vorschriften keine generelle Regelung für die jüdische Zwangsarbeit. Die deutschen Maßnahmen zielten zunächst auf die „Verschiebung“ von Polen, Juden und Zigeunern ins „Generalgouvernement“ zugunsten jener Volksdeutschen, die aus der Sowjetunion, Rumänien und anderen Regionen kommend im „Reich“ angesiedelt werden sollten. De facto aber wurde der im „Generalgouvernement“ geltende Arbeitszwang für Juden durch ortsgebundene Verfügungen auch in den annektierten Gebieten eingerichtet. Die Arbeitsverwaltung im „Generalgouvernement“ legte bereits im Sommer 1940 fest, daß jüdische Arbeitskräfte im freien Einsatz höchstens 80 % der üblichen Löhne erhalten sollten, die Polen für eine entsprechende Tätigkeit erhielten. Viele deutsche Unternehmen oder Institutionen entließen daraufhin ihre jüdischen Arbeitskräfte, denen sie zuvor oft Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 41 Der „geschlossene Arbeitseinsatz“ jüdischer ZwangsarbeiterInnen Zwangsarbeit in den besetzten Gebieten Polens und der Sowjetunion Zwangsarbeiter im „Dritten Reich“ – ein Überblick März 1942: Auflösung der Gettos und Deportation in Vernichtungslager Die letzte Phase des Krieges: Zwangsarbeit in unterirdischen Rüstungsbetrieben geringere oder gar keine Löhne bezahlt hatten. Das änderte sich aber mit dem Beginn der systematischen „Endlösung“. Die Flucht in die „Shops“ genannten Arbeitsstellen in den Gettos und die schreckliche Lage der jüdischen Arbeiter, die fürchten mußten, bei nicht genügenden Arbeitsleistungen deportiert und ermordet zu werden, machte sie als Arbeitskräfte zunehmend attraktiver. Die Einteilung in rüstungswichtige und weniger wichtige Fertigungsstätten wurde für die jüdischen Zwangsarbeiter immer mehr zur Entscheidung über Leben und Tod.21 Mit der Umstellung auf den Primat des Arbeitseinsatzes seit Anfang 1942 verschärften sich die Widersprüche: Im „Generalgouvernement“ begannen seit März 1942 die Auflösung der Gettos und die Deportationen der polnischen Juden in die ➤ Vernichtungslager. Ein Teil von ihnen jedoch wurde in besondere, den SS- und Polizeiführern unterstehende Arbeitslager gebracht, wo sie bei Bauvorhaben und in der Rüstungsproduktion eingesetzt wurden.22 Dazu errichtete die SS in diesen Lagern eigene Wirtschaftsbetriebe, zum Teil aus den verlagerten Betriebsanlagen ehemals jüdischer Betriebe. Durch diese Maßnahmen kam es zu erheblichen Konflikten vor allem mit der an der Erhaltung „ihrer“ jüdischen Arbeitskräfte in den Gettowerkstätten interessierten Wehrmacht. Die SS war jedoch lediglich bereit, den Rüstungsbetrieben die jüdischen Arbeitskräfte vorerst zu belassen, wenn die Juden als KZ-Häftlinge unter der Regie der SS den Betrieben zum Arbeitseinsatz überlassen würden. Am 19. Juli 1942 ordnete Himmler an, alle polnischen Juden bis zum Ende des Jahres 1942 zu ermorden. Nur solche Juden, die rüstungswichtige Zwangsarbeit verrichteten, sollten vorerst am Leben gelassen werden. Allerdings sollten solche Produktionsstätten sukzessive in SS-Regie übergehen und in Zwangsarbeitslagern zusammengefaßt werden. Daraufhin wurden von nun an Getto um Getto geräumt und die aufgebauten Produktionsstätten mit Zehntausenden von jüdischen Arbeitskräften stillgelegt, die Zwangsarbeiter in die Vernichtungslager deportiert und ermordet. Selbst die von der SS noch im März 1943 aufgebaute „Ost-Industrie“, eine Dachgesellschaft, die die verschiedenen einzelnen Arbeitslager mit Rüstungsproduktion zusammenfaßte, wurde geschlossen, als diese Betriebe im Herbst 1943 gerade ihre Produktion aufgenommen hatten. Sämtliche hier beschäftigten 17.000 Juden wurden aus den Fabriken herausgeholt und noch in den folgenden Tagen in der Nähe von Lublin erschossen.23 In den besetzten Gebieten der Sowjetunion war die Lage nicht anders. Nach der ersten Phase der Massenerschießungen in Sommer 1941 waren auch hier Juden in Arbeitskolonnen und Werkstätten beschäftigt worden. Aber auch in der Folgezeit und nach der kriegswirtschaftlichen Umstellung seit Anfang 1942 wurde die Praxis der Liquidationen ohne Rücksicht auf wirtschaftliche Belange fortgesetzt.24 Erst seit Anfang 1944, als gegenüber den Juden das politische Hauptziel des Nationalsozialismus erreicht war, kam es aufgrund des sich dramatisch verschärfenden Arbeitskräftemangels in der letzten Kriegsphase zu einer Änderung, und jüdische Häftlinge wurden auch im Reichsgebiet als Arbeitskräfte in SS-eigenen Betrieben, bei unterirdischen Betriebsverlagerungen und in Privatunternehmen, vor allem in der Großindustrie, eingesetzt. Bereits im August 1943 war in der Führungsspitze des Regimes die Entscheidung gefallen, die Herstellung der Raketenwaffe A 4, eine der sog. V-Waffen, mit Hilfe von KZ-Häftlingen in unterirdischer Produktion durchführen zu lassen. Seit dem Jahreswechsel 1943/44 wurde nun überall in Deutschland damit begonnen, rüstungswichtige Fertigungen in Untertagefabriken – meist Höhlen oder Bergstollen – zu verlagern, wo sie vor Bombenangriffen geschützt waren. Diese unter enormem Zeitdruck vorangetriebenen Projekte hatten schreckliche Auswirkungen für die hierbei eingesetzten KZ-Häftlinge.25 Gerade in der Aufbauphase im Herbst und Winter 1943/44 waren die Todeszahlen immens. Leichte Ersetzbarkeit der Häftlinge bei technisch überwiegend einfachen, aber körperlich schweren Arbeiten, hoher Zeitdruck, mangelnde Ernährung und denkbar schlechte Lebensbedingungen waren die Ursachen für die hohen Todesraten, die erst zu sinken begannen, als das Wohnlager fertiggestellt und die Produktion aufgenommen worden war. Bis dahin jedoch waren die Häftlinge 42 Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 Ulrich Herbert schon wenige Wochen nach ihrem Eintreffen „abgearbeitet“. Projekte dieser Art, zu denen Zehntausende, ja Hunderttausende von Arbeitskräften in drei Tagesschichten gebraucht wurden, waren nur noch mit KZ-Häftlingen durchführbar, denn allein die SS besaß noch Arbeitskraftreserven in solchen Größenordnungen. Aber auch die reichten zur Erfüllung der gestellten Aufgaben bald nicht mehr aus, so daß im Frühjahr 1944 der Arbeitseinsatz auch von Juden diskutiert wurde. Bis dahin war die Beschäftigung von Juden innerhalb des Reiches explizit verboten, schließlich galt es als Erfolg des Reichssicherheitshauptamtes der SS, das Reich „judenfrei“ gemacht zu haben. Nun aber änderte sich dies: Offenbar ausgehend von einer Anfrage der besonders im militärischen Bauwesen eingesetzten Organisation Todt bestimmte Hitler im April 1944, für Rüstungsverlagerung und Großbunkerbau seien „aus Ungarn die erforderlichen etwa 100.000 Mann durch Bereitstellung entsprechender Judenkontingente aufzubringen“.26 Den Deutschen waren durch die Besetzung Ungarns im März 1944 etwa 765.000 Juden in die Hände gefallen; am 15. April begann ihre Deportation, in deren Verlauf bis zum Juli etwa 458.000 ungarische Juden nach Auschwitz gebracht wurden. Von diesen wurden etwa 350.000 Menschen sofort vergast und 108.000 besonders arbeitsfähig wirkende für den Arbeitseinsatz im „Reich“ aussortiert. Nachdem der Zufluß von „Fremdarbeitern“ mittlerweile beinahe ganz zum Versiegen gekommen war, hatten immer mehr Firmen im Reich bei den Arbeitsämtern, zum Teil auch direkt bei den Konzentrationslagern Häftlinge angefordert und waren nun auch einverstanden, jüdische Zwangsarbeiter aus der „Ungarnaktion“ zu beschäftigen. Die aus Auschwitz kommenden Häftlinge, darunter sehr viele Frauen, wurden nun formal den Konzentrationslagern im „Reich“ unterstellt und auf die Firmen, die KZ-Arbeiter angefordert hatten, verteilt. Die Zahl der Arbeitskommandos der KZ-Stammlager wuchs seit dem Frühjahr 1944 rapide an, am Ende des Krieges existierten auf Reichsgebiet etwa 660 Außenlager; die Liste der deutschen Unternehmen, die solche KZ-Außenlager einrichteten und KZ-Häftlinge einsetzten, wurde immer länger und umfaßte Hunderte von renommierten Firmen.27 Die Arbeits- und Lebensbedingungen der Häftlinge waren dabei in den verschiedenen Firmen sehr unterschiedlich. Insgesamt kann man – mit aller Vorsicht – jedoch davon ausgehen, daß diejenigen, die in der Produktion der Rüstungsbetriebe selbst beschäftigt wurden, erheblich größere Überlebenschancen besaßen als diejenigen Häftlinge, die in den großen Bauvorhaben und insbesondere beim Ausbau unterirdischer Produktionsstätten sowie bei der Fertigung in den Höhlen und Stollen nach der Betriebsverlagerung eingesetzt wurden. Insgesamt wird angesichts dieses knappen Überblicks deutlich, daß die deutsche Wirtschaft spätestens seit der Kriegswende im Winter 1941/42 alternativlos auf Zwangsarbeiter angewiesen war. Angesichts der erheblichen Fluktuation ist es vermutlich realistisch, von insgesamt etwa 9,5 bis 10 Millionen ausländischen Zivilarbeitern und Kriegsgefangenen auszugehen, die für längere oder kürzere Zeit in Deutschland als Zwangsarbeiter eingesetzt wurden. Die höchste Zahl der gleichzeitig eingesetzten „Fremdarbeiter“ wurde im Sommer 1944 mit etwa 7,6 Millionen erreicht. Die Zahl der KZ-Häftlinge, die in Konzentrations-Stammlagern oder Außenlagern insgesamt zur Zwangsarbeit eingesetzt worden waren, ist seriös kaum schätzbar. Insgesamt sind zwischen 1939 und 1945 etwa 2,5 Millionen Häftlinge in Konzentrationslager des späteren Wirtschafts- und Verwaltungshauptamts der SS eingeliefert worden; darunter etwa 15 % Deutsche und 85 % Ausländer; eine seriöse Schätzung der Zahl der in diesen Jahren in den Lagern Gestorbenen geht von 836.000 bis 995.000 Toten aus. Hierin sind die Lager Majdanek und Auschwitz nicht enthalten; in beiden Lagern zusammen ist die Zahl der Toten auf etwa 1,1 Millionen berechnet worden, von denen die weit überwiegende Mehrheit Juden waren. Unter den etwa 900.000 in den Konzentrationslagern im Reichsgebiet Gestorbenen dürfte die Zahl der Juden bei etwa 300.000 bis 350.000 liegen; diejenige der Russen zwischen 200.000 und 250.000, die der Polen unter 100.000 – wobei es sich um grobe Schätzungen handelt.28 Es ist davon auszugehen, daß nahezu jeder KZ-Häftling während seiner Haftzeit für kurze oder lange Zeit zur Zwangsarbeit eingesetzt worden ist, allerdings in sehr unterschiedlicher und sich Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 43 Ungarische Juden und Jüdinnen zwischen Zwangsarbeit und Vernichtung Der Zwangsarbeitseinsatz in Zahlen Zwangsarbeiter im „Dritten Reich“ – ein Überblick wandelnder Weise. Von den etwa 200.000 Häftlingen im April 1943 dürfte noch weniger als die Hälfte im Rüstungsbereich eingesetzt gewesen sein. Am Ende des Jahres 1944 lag die Gesamtzahl der KZ-Häftlinge bei etwa 600.000, von denen 480.000 tatsächlich als „arbeitsfähig“ gemeldet waren. Nach Schätzungen des Wirtschafts- und Verwaltungshauptamts der SS wurden davon etwa 240.000 bei den unterirdischen Verlagerungen sowie bei den Bauvorhaben der Organisation Todt eingesetzt und ca. 230.000 in der Privatindustrie.29 Die Zahl derjenigen Juden, die vor oder nach ihrer Deportation zur Zwangsarbeit herangezogen wurden, ist nicht mit hinreichender Genauigkeit zu schätzen; zumal dies in den einzelnen europäischen Ländern sehr unterschiedlich war. Im Sommer 1942 lag die Zahl der in den Gettos und Zwangsarbeitslagern eingepferchten polnischen Juden bei etwa 1,5 Millionen; es ist gewiß nicht zu hoch gegriffen, wenn man davon ausgeht, daß von diesen mindestens die Hälfte für einige Zeit zur Zwangsarbeit eingesetzt worden ist. Erheblich geringer war der Anteil derjenigen, die aus den verschiedenen europäischen Ländern in die Lager des Ostens verschickt wurden und dort als „arbeitsfähig“ aussortiert worden waren; ebensowenig gibt es für die Gebiete der Sowjetunion Zahlen, die uns auch nur einen Annäherungswert ermöglichten. Aus: Klaus Barwig, Günter Saathoff, Nicole Weyde (Hrsg.): Entschädigung für NS-Zwangsarbeit. Rechtliche, historische und politische Aspekte, Nomos Verlagsgesellschaft, Baden. Baden 1998, S. 17-32. 1 2 3 Im folgenden wird auf Einzelnachweise verzichtet, für detaillierte Belege verweise ich auf die Spezialliteratur. Zur ersten Information vgl. den Artikel „Zwangsarbeit“ in Yisrael Gutman u.a. (Hrsg.), Enzyklopädie des Holocaust. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden, 4 Bde., dt. Ausgabe Berlin 1993, Sp. 160-1644. Dazu ausführlich Ulrich Herbert, Fremdarbeiter. Politik und Praxis des „Ausländereinsatzes“ in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches, Berlin, Bonn 1985; ders. (Hrsg.), Europa und der „Reichseinsatz“. Ausländische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge in Deutschland 1938-1945, Essen 1991; Walter Naasner, Neue Machtzentren in der deutschen Kriegswirtschaft 19421945. Die Wirtschaftsorganisation der SS, das Amt des Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz und das Reichsministerium für Bewaffnung und Munition/Reichsministerium für Rüstung und Kriegsproduktion im nationalsozialistischen Herrschaftssystem, Boppard 1994; Edward L. Homze, Foreign Labor in Nazi Germany, Princeton 1967; Literaturübersicht bei Hans-Ulrich Ludewig, Zwangsarbeit im Zweiten Weltkrieg: Forschungsstand und Ergebnisse regionaler und lokaler Fallstudien, in: AfS 31(1991), S. 558-577. Dazu jetzt grundlegend: Karin Orth, Das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Hamburg 1999; sowie Ulrich Herbert/ Karin Orth/Christoph Dieckmann (Hrsg.), Die nationalsozialistischen Konzentrationslager. Entwicklung und Struktur, Göttingen 1998; Yisrael Gutman/Avital Saf (Hrsg.), The Nazi Concentration Camps. Structure and Aims, The Image of the Prisoner, The Jews in the Camp, Proceedings of the fourth Yad Vashem International Historical Conference, Jerusalem 1980; Falk Pingel, Häftlinge unter SS-Herrschaft. Widerstand, Selbstbehauptung und Vernichtung im Konzentrationslager, Hamburg 1978; Wolfgang Sofsky, Die Ordnung des Terrors. Das Konzentrationslager, Frankfurt 1993; Johannes Tuchel, „Arbeit“ in den Konzentrationslagern im Deutschen Reich 1933-1939, in: Rudolf G. Ardelt/Hans Hautmann (Hrsg.), Arbeiterschaft und Nationalsozialismus, Wien, Zürich 1990, S. 455-467; sowie die Beiträge in der Se- 44 4 5 6 7 rie „Dachauer Hefte“, Studien und Dokumente zur Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, hg. v. Wolfgang Benz/Barbara Distel, München 1986 ff.; nach wie vor grundlegend, in vielem mittlerweile aber überholt ist Martin Broszat, Nationalsozialistische Konzentrationslager 1933-1945, in: Hans Buchheim u.a. (Hrsg.), Anatomie des SS-Staats, Gutachten des Instituts für Zeitgeschichte, Bd. 2, Olten u.a. 1965, S. 11-133. Ulrich Herbert, Arbeit und Vernichtung. Ökonomisches Interesse und Primat der „Weltanschauung“ im Nationalsozialismus, in: ders. (Hrsg.), Europa, S. 384-426; Götz Aly, „Endlösung“. Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden, Frankfurt 1995; Thomas Sandkühler, „Endlösung“ in Galizien. Der Judenmord in Ostpolen und die Rettungsinitiativen von Berthold Beitz 1941-1944, Bonn 1996; Dieter Pohl, Nationalsozialistische Judenverfolgung in Ostgalizien 1941-1944. Organisation und Durchführung eines staatlichen Massenverbrechens, München 1996; ders., Von der „Judenpolitik“ zum Judenmord. Der Distrikt Lublin des Generalgouvernements 1939-1944, Frankfurt u.a. 1993; Uwe Dietrich Adam, Judenpolitik im Dritten Reich, Düsseldorf 1972. Vgl. Rüdiger Hachtmann, Industriearbeiterinnen in der deutschen Kriegswirtschaft 1936-1944/45, in: Geschichte und Gesellschaft 19 (1993) S. 332-366. Herbert, Fremdarbeiter, S. 67-95. Vgl. Herbert, Fremdarbeiter, S. 96-131; zu den Italienern: Cesare Bermani/Sergio Bologna/Brunello Mantelli, Proletarier der „Achse“. Sozialgeschichte der italienischen Fremdarbeiter in NSDeutschland 1937-1943; zu den Franzosen: Ulrich Herbert, Französische Kriegsgefangene und Zivilarbeiter im deutschen Arbeitseinsatz 1940-1942, in: La France et l´Allemagne en guerre. Sous la direction de Claude Carlier (et. al.), Paris 1990, S. 509-531; Bernd Zielinski, Staatskollaboration. Arbeitseinsatzpolitik in Frankreich unter deutscher Besatzung 1940-1944, Münster 1996; Yves Durand, Vichy und der Reichseinsatz, in: Herbert, Europa, S. 184-199; Yves Durand, La vie quotidienne des prisonniers de guerre dans les Stalags, les Oflags et les Kommandos 1939-1945, Paris 1987. Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 Ulrich Herbert 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 Herbert, Fremdarbeiter, S. 132-189; ders., Zwangsarbeit in Deutschland: Sowjetische Zivilarbeiter und Kriegsgefangene 1941-1945, in: Peter Jahn/Reinhard Rürup (Hrsg.), Erobern und Vernichten. Der Krieg gegen die Sowjetunion 1941-1945, Berlin 1991, S. 106-130; sowie die Darstellung bei Barbara Hopmann/ Mark Spoerer/ Birgit Weitz/Beate Brüninghaus, Zwangsarbeit bei Daimler-Benz, Stuttgart 1994; sowie Hans Mommsen/Manfred Grieger, Das Volkswagenwerk und seine Arbeiter im Dritten Reich, Düsseldorf 1996. Christian Streit, Keine Kameraden. Die Wehrmacht und die sowjetischen Kriegsgefangenen 1941-1945, Stuttgart 1978; Alfred Streim, Die Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener im „Fall Barbarossa“. Eine Dokumentation. Unter Berücksichtigung der Unterlagen deutscher Strafverfolgungsbehörden und der Materialien der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung von NS-Verbrechen. Heidelberg, Karlsruhe 1981; Karl Hüser/Reinhard Otto, Das Stammlager 326 (VI K) Senne 19411945. Sowjetische Kriegsgefangene als Opfer des nationalsozialistischen Weltanschauungskrieges, Bielefeld 1992. Zum Folgenden allg. Herbert, Fremdarbeiter, S. 190-236; Jill Stephenson, Triangle: Foreign Workers, German Civilians and the Nazi Regime. War and Society in Württemberg, 1939-1945, in: German Studies Review 15 (1992) S. 339-359; sowie v.a. die betriebsgeschichtlichen Untersuchungen Hopmann u.a., Zwangsarbeit bei Daimler-Benz; sowie Mommsen/Grieger, Volkswagenwerk; vgl. auch Klaus-Jürgen Siegfried, Das Leben der Zwangsarbeiter im Volkswagenwerk 1939-1945, Frankfurt/Main 1988; ders., Rüstungsproduktion und Zwangsarbeit im Volkswagenwerk. Eine Dokumentation, Frankfurt/Main 1986; als Beispiel für die mittlerweile sehr umfangreiche regionalgeschichtliche Literatur vgl. Andreas Heusler, Zwangsarbeit in der Münchner Kriegswirtschaft 1939-1945, München 1991. Vgl. Herbert, Fremdarbeiter, S. 269 ff. Nach: Der Arbeitseinsatz im (Groß-)Deutschen Reich, Jgg. 19391944, Stichtag jew. 1.5. d.J. Vgl. die Literaturhinweise in Fn. 2, sowie Johannes Tuchel, Die Inspektion der Konzentrationslager 1938-1945. Das System des Terrors. Eine Dokumentation, Berlin 1994; ders., Konzentrationslager. Organisationsgeschichte und Funktion der „Inspektion der Konzentrationslager“ 1934-1938, Boppard 1991; Klaus Drobisch/ Günther Wieland, System der NS-Konzentrationslager 1933-1939, Berlin 1993; Gudrun Schwarz, Die nationalsozialistischen Lager, Frankfurt 1996; Hermann Kaienburg (Hrsg.), Konzentrationslager und deutsche Wirtschaft 1939-1945, Opladen 1996; ders., „Vernichtung durch Arbeit“. Der Fall Neuengamme. Die Wirtschaftsbestrebungen der SS und ihre Auswirkungen auf die Existenzbedingungen der KZ-Gefangenen, Bonn 1990. Zum Folgenden v.a. Orth, System; Herbert/Orth/Dieckmann, Konzentrationslager, Kap. „Arbeit“. Vgl. Orth, System; Herbert, Arbeit und Vernichtung; darauf aufbauend, in der Interpretation aber einseitig Daniel Jonah Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, dt. Ausgabe Berlin 1996, Kap. 10-12, S. 335384. Vgl. Peter Hayes, Industry and Ideology. IG Farben in the Nazi Era, Cambridge/New York 1987; ders., Die IG Farben und die Zwangsarbeit von KZ-Häftlingen im Werk Auschwitz, in: Kaienburg, Konzentrationslager, S. 129-148; Robert Jan van Pelt/Debórah Dwork, Auschwitz, 1270 to the present, New Haven 1996. Vgl. unter den zahlreichen Untersuchungen einzelner Konzentrationslager und Außenlager vor allem Florian Freund/Bertrand Perz, Das KZ in der Serbenhalle. Zur Kriegsindustrie in Wiener Neustadt, Wien 1987; Florian Freund, „Arbeitslager Zement“. Das Konzentrationslager Ebensee und die Raketenrüstung, Wien 1989; Rainer Fröbe/Claus Füllberg-Stolberg u.a., Konzentrationslager in Hannover. KZ-Arbeit und Rüstungsindustrie in der Spätphase des Zweiten Weltkriegs, 2 Bde., Hildesheim 1986; Bertrand Perz, Projekt Quarz: Steyr-Daimler-Puch und das Konzentrationslager Melk, Wien 1991; Isabell Sprenger, Groß-Rosen. Ein Konzentrationslager in Schlesien, Köln u.a. 1996; Herwart Vor- 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 länder (Hrsg.), Nationalsozialistische Konzentrationslager im Dienst der totalen Kriegsführung. Sieben württembergische Außenkommandos des Konzentrationslagers Natzweiler/Elsaß, Stuttgart 1978; Gerd Wysocki, Arbeit für den Krieg. Herrschaftsmechanismen in der Rüstungsindustrie des „Dritten Reiches“. Arbeitseinsatz, Sozialpolitik und staatspolizeiliche Repression bei den Reichswerken „Hermann Göring“ im Salzgitter-Gebiet 1937/38 bis 1945, Braunschweig 1992; sowie Hopmann u.a., Zwangsarbeit bei Daimler-Benz, und Mommsen/Grieger, Volkswagenwerk. Einzelnachweise bei Orth, System; Herbert, Arbeit und Vernichtung. Dazu grundlegend Wolf Gruner, Der geschlossene Arbeitseinsatz deutscher Juden: Zur Zwangsarbeit als Element der Verfolgung 1938-1943, Berlin 1997. Vgl. Herbert, Arbeit und Vernichtung; Sandkühler, „Endlösung“; Pohl, Judenverfolgung in Ostgalizien; ders., Von der „Judenpolitik“ zum Judenmord. Vgl. Florian Freund/ Bertrand Perz/Karl Stuhlpfarrer, Das Getto in Litzmannstadt (Lódz), in: „Unser einziger Weg ist Arbeit“: Das Getto in Lódz, 1940-1944. Ausstellungskatalog des Jüdischen Museums Frankfurt, Wien 1990, S. 17-31; Alfred Konieczny, Die Zwangsarbeit der Juden in Schlesien im Rahmen der „Organisation Schmelt“, in: Sozialpolitik und Judenvernichtung. Gibt es eine Ökonomie der Endlösung? (Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik, 5), Berlin 1987, S. 91-110. Überblick über die neuere Holocaustforschung bei Ulrich Herbert (Hrsg.), Nationalsozialistische Vernichtungspolitik 1939-1945. Neuere Forschungen und Kontroversen, Frankfurt 1998. Vgl. Sandkühler, Das Zwangsarbeitslager Lemberg-Janowska, 1941-1944, in: Herbert/Orth/Dieckmann (Hrsg.), Konzentrationslager. Helge Grabitz/Wolfgang Scheffler, Letzte Spuren. Ghetto Warschau, SS-Arbeitslager Trawniki, Aktion Erntefest. Fotos und Dokumente über Opfer des Endlösungswahns im Spiegel der historischen Ereignisse, Berlin 1988. Vgl. Christoph Dieckmann, Der Krieg und die Ermordung der litauischen Juden, in: Herbert (Hrsg.), Vernichtungspolitik, S. 292329; Artikel „Zwangsarbeit“ in: Enzyklopädie des Holocaust, Sp. 160-1644. Florian Freund, Die Entscheidung zum Einsatz von KZ-Häftlingen in der Raketenrüstung, in: Kaienburg, Konzentrationslager, S. 61-76; ders., Arbeitslager Zement; Freund/Perz, Das KZ in der „Serbenhalle“; Rainer Fröbe, Der Arbeitseinsatz von KZ-Häftlingen und die Perspektive der Industrie 1943-1945, in: Herbert (Hrsg.), Europa, S. 351-383; ders., „Wie bei den alten Ägyptern“. Die Verlegung des Daimler-Benz-Flugmotorenwerks Genshagen nach Obrigheim am Neckar 1944/45, in: Angelika Ebbinghaus (Hrsg.), Das Daimler-Benz-Buch. Ein Rüstungskonzern im „Tausendjährigen Reich“, Nördlingen 1987, S. 392-417; Rainer Eisfeld, Die unmenschliche Fabrik. V2-Produktion und KZ „MittelbauDora“, Erfurt 1993; ders., Mondsüchtig. Wernher von Braun und die Geburt der Raumfahrt aus dem Geist der Barbarei, Reinbek 1996; Jens-Christian Wagner, Das Außenlagersystem des KZ Mittelbau-Dora, in: Herbert/Orth/Dieckmann (Hrsg.), Konzentrationslager; Edith Raim, Die Dachauer KZ-Außenkommandos Kaufering und Mühldorf. Rüstungsbauten und Zwangsarbeit im letzten Kriegsjahr 1944/45, Landsberg am Lech 1992. Hitler am 6.7.1944, BA R 3/1509 (Besprechung mit Dorsch, Organisation Todt); vgl. Herbert, Arbeit und Vernichtung, S. 413. Vgl. die (unvollständigen) Übersichten bei Schwarz, Die nationalsozialistischen Lager; und Martin Weinmann (Hrsg.), Das nationalsozialistische Lagersystem (Catalogue of Camps and Prisons in Germany and German-Occupied Territories 1939-1945), Frankfurt am Main 1990. Orth, System, Kap. VII: „Bilanz der Opfer“; Wolfgang Benz (Hrsg.), Dimensionen des Völkermords. Die Zahl der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus, München 1991. Aussage Pohl, 25. 8. 1947, Trials of War Criminals, Bd. 5, Washington 1950, S. 445. Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 45 „Die Kriegswirtschaft wäre ohne ZwangsarbeiterInnen zusammengebrochen“ Interview mit Florian Freund Wie viele ZwangsarbeiterInnen waren in Österreich während des Nationalsozialismus beschäftigt? Freund: Man muss hier zwischen verschiedenen Gruppen von ZwangsarbeiterInnen, die in Österreich beschäftigt waren, unterscheiden: Es gab österreichische Juden und Jüdinnen in Zwangsarbeitslagern von Ende 1938 bis 1941 und zum Teil auch bis 1945. Von dieser Art der Zwangsarbeit waren ca. 20.000 Personen betroffen, die zumeist in kleineren Lagern gearbeitet haben. Der größte Teil dieser Menschen wurde vermutlich in den Vernichtungslagern ermordet. Eine weitere Gruppe, die zur Zwangsarbeit herangezogen wurde, waren die österreichischen Roma und Sinti. Bisher habe ich 15 Lager von Roma und Sinti identifizieren können, in denen sie Zwangsarbeit, vor allem für Baufirmen, geleistet haben. Es wird aber noch einiger Forschungsanstrengungen bedürfen, um mehr herauszufinden. Darüber hinaus waren In- und AusländerInnen in sogenannten Arbeitserziehungslagern – auch dazu gibt es bis heute keine systematische Untersuchung. Die größte Gruppe von ZwangsarbeiterInnen waren zivile AusländerInnen, im Herbst 1944 waren es nach den offiziellen NS-Statistiken 580.000 Menschen. Zu den ZwangsarbeiterInnen zählten selbstverständlich auch KZ-Häftlinge, Ende 1944 waren es ca. 70.000 Menschen. Auch Justizhäftlinge, vor allem jene, die aus politischen Gründen inhaftiert waren, wurden zu Zwangsarbeit herangezogen. Hinzu kommen noch die Kriegsgefangenen verschiedener Nationalitäten, insbesondere aber die polnischen, sowjetischen und italienischen Kriegsgefangenen. Auch darüber liegt bisher keine Forschungsarbeit vor. Im Herbst 1944 waren es vermutlich einige 10.000 Kriegsgefangene, die als Zwangsarbeiter in Österreich eingesetzt wurden. Und schließlich sind hier die ca. 50.000 ungarischen Juden und Jüdinnen zu nennen, die vor allem beim Bau des sogenannten Südostwalls, aber auch in landwirtschaftlichen und gewerblichen Betrieben gearbeitet haben. Allein im damaligen Gau Niederdonau waren sie in 75 Lagern untergebracht und haben bei 250 verschiedenen Arbeitgebern Zwangsarbeit verrichtet, in Wien waren sie auf 67 verschiedene Lager aufgeteilt und haben in 105 Betrieben gearbeitet. Die Verhältnisse bei den ungarischen Juden und Jüdinnen waren zum Teil ganz katastrophal. Ein Beispiel ist das Lager Felixdorf, das Ende Dezember/Anfang Jänner 1945 eingerichtet wurde, dort verstarben 1865 von 2087 Gefangenen, die Todesursachen waren Unterernährung, Seuchen und Misshandlungen. Das ist eine Todesrate, die bei weitem über der eines „normalen“ Konzentrationslagers liegt, abgesehen natürlich von den Vernichtungslagern, in denen fast 100 Prozent der Häftlinge ermordet wurden. Ein großer Teil der zu Kriegsende noch lebenden ungarischen Juden und Jüdinnen wurde vor der Befreiung in Todesmärschen Richtung Mauthausen und von dort weiter nach Gunskirchen getrieben. In Gunskirchen wurden ca. 15.000 bis 18.000 ungarische Juden und Jüdinnen von den Amerikanern befreit, die über die dort herrschenden Zustände völlig schockiert waren. Insgesamt muss man für den Herbst 1944 von einer Zahl von 700.000 Menschen ausgehen, die Zwangsarbeit geleistet haben. Das ist allerdings nur eine Gesamtzahl zu einem 46 Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 Interview mit Florian Freund bestimmten Zeitpunkt. Dabei ist noch nicht die Fluktuation berücksichtigt, die es bei allen Gruppen von ZwangsarbeiterInnen gegeben hat. Will man die Gesamtzahl der in Österreich beschäftigten ZwangsarbeiterInnen errechnen, so muß man zu den 700.000 im Herbst 1944 jene dazuzählen, die noch bis 1945 nach Österreich kamen, außerdem die Verstorbenen, Geflohenen oder auch jene, die in ihre Heimatländer zurückgeschickt wurden, weil sie krank wurden. Es wird noch eine wichtige Aufgabe der historischen Forschung sein, die Gesamtzahl zu ermitteln. Aus welchen Ländern stammten die zivilen ausländischen ZwangsarbeiterInnen? Die größte Gruppe, ungefähr 178.000 Menschen, waren sicherlich die sogenannten „Ostarbeiter“ und „Ostarbeiterinnen“. Die Nationalsozialisten haben immer darauf geachtet, dass auch ein relativ hoher Anteil von Frauen mitdeportiert wird. Damit wollten sie erreichen, dass die Zwangsarbeiter unter sich bleiben und möglichst keine Kontakte der ausländischen Männer zu „deutschen“ Frauen entstehen. Aus diesem Grund hat man immer versucht, zwischen 30 und 50 Prozent Frauen zu deportieren. Diese Menschen stammten vor allem aus der Ukraine, aus Russland, zum Teil auch aus Polen und aus Weißrussland. Die genaue Herkunft lässt sich jedoch nach den NS-Statistiken nicht rekonstruieren, weil sie die Nationalität der sogenannten „OstarbeiterInnen“ nicht erfassten. Aus dem ➤ Generalgouvernement, also dem Teil Polens, der nicht in das Deutsche Reich eingegliedert wurde und der durch den Generalgouverneur Frank verwaltet war, und aus dem Bezirk Bialystok kamen am Stichtag 30. September 1944 106.000 Menschen, aus dem Protektorat Böhmen und Mähren, dem heutigen Tschechien, 61.000, außerdem waren zu diesem Zeitpunkt 57.000 Franzosen und Französinnen, 49.000 ItalienerInnen, 33.000 JugoslawInnen und andere kleinere Nationalitätengruppen in Österreich. Aufschlußreich ist der Anteil ausländischer Arbeitskräfte an der Gesamtzahl der Arbeitskräfte, der während des Krieges stetig angestiegen ist. Berücksichtigt man nur die Zahl der zivilen AusländerInnen, waren es im Durchschnitt 25 Prozent aller Beschäftigten. Berücksichtigt man alle Gruppen von ZwangsarbeiterInnen, kommt man auf ca. 30 bis 33 Prozent aller Beschäftigten, die am 30. September 1944 zwangsweise zu Arbeit eingesetzt wurden. Die entsprechenden Zahlen für die in den einzelnen „Gauen“ eingesetzten zivilen ausländischen ZwangsarbeiterInnen sind für Niederdonau rund 32,3 Prozent, an zweiter Stelle lag die Steiermark mit 29,3 Prozent, danach Oberdonau mit 29,3 Prozent, Kärnten mit 28,7 Prozent, Salzburg mit 22,8 Prozent, Tirol-Vorarlberg mit 22,2 Prozent und Wien mit 16,7 Prozent. In diesen Zahlen sind Kriegsgefangene, KZ-Häftlinge, ungarische Juden und Jüdinnen, Roma und Sinti und die anderen Gruppen von Zwangsarbeitskräften noch nicht enthalten. Die Verteilung der zivilen ausländischen Zwangsarbeitskräfte in den einzelnen „Gauen“ macht deutlich, wo die Schwerpunkte der Rüstungswirtschaft lagen und wo der größte Arbeitskräftemangel bestand. Daher muß man davon ausgehen, dass dort, wo es schon einen hohen Anteil von zivilen ausländischen Arbeitskräften gab, auch der Anteil von Kriegsgefangenen, KZ-Häftlingen usw. entsprechend höher war. In welchen Bereichen der österreichischen Wirtschaft wurden zivile und andere ZwangsarbeiterInnen eingesetzt? Von den zivilen AusländerInnen war der größte Teil, nämlich ca. 35 Prozent aller zivilen ausländischen Zwangsarbeitskräfte nach einer NS-Statistik vom 15. November 1943 in der Landwirtschaft eingesetzt, weiters in allen kriegs- bzw. rüstungsrelevanten Bereichen, das heißt im Maschinen-, Kessel-, Apparate- und Fahrzeugbau; darunter fallen Autofirmen ebenso wie die Luftfahrtindustrie, die Eisenbahnindustrie, das heißt die Lokomotivproduktion und ähnliches, mit einem Anteil von 13,5 Prozent aller zivilen AusländerInnen im November 1943. Bau- und Nebengewerbe waren besonders wichtig, weil in der NS-Zeit sehr viele neue Fabriken, neue Kraftwerke usw. gebaut wurden. Dort gab es einen ganz besonders hohen Anteil von zivilen AusländerInnen und auch KZ-Häftlingen, für zivile ausländische Zwangsarbeitskräfte liegt die Zahl bei ca. 12,8 Prozent. In der Eisen-, Stahl- und Metallwa- Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 47 Zwangsarbeit in Österreich Z WA N G S A R B E I T E R U N D Z WA N G S A R B E I T E R I N N E N I N D E R „ O S T M A R K “ . E I N E Ü B E R S I C H T 1 Anzahl und Nationalität der zivilen AusländerInnen in der „Ostmark“ Polen Italiener Jugoslawen Franzosen Ungarn Sowjets Protektorat 25.4.1941 40.928 10.7.1942 62.568 15.11.1943 97.382 30.9.1944 106.023 15.298 32.802 17.800 49.078 20.594 35.345 35.131 33.916 589 2.592 62.303 57.628 8.258 12.335 12.018 10.759 538 45.803 153.310 178.596 n.erfaßt 37.677 66.553 61.738 25.4.1941 10.7.1942 15.11.1943 30.9.1944 25.4.1941 10.7.1942 15.11.1943 30.9.1944 Slowaken Dänen Niederländer Belgier Griechen Rumänen Bulgaren 22.180 23.799 n.erfaßt 13.213 575 444 n.erfaßt 415 895 2.096 3.411 3.651 926 2.467 4.237 17.949 n.erfaßt n.erfaßt n.erfaßt 10.481 n.erfaßt n.erfaßt n.erfaßt 2.978 3.414 n erfaßt n.erfaßt 6.221 Schweizer Sonstige AusländerInnen in der „Ostmark“ gesamt 684 n.erfaßt n.erfaßt 861 13.851 44.536 75.445 27.133 12.8730 30.2464 52.7590 58.0640 Beschäftigte AusländerInnen in der Ostmark am 15.11.1943 2 (incl. „OstarbeiterInnen“, ohne Kriegsgefangene, auf Grund der Arbeitsbuchstatistik) InländerInnen AusländerInnen In- und AusländerInnen AusländerInnen in Prozent aller Beschäftigten Wien Niederdonau Oberdonau Tirol/Vlbg Salzburg Kärnten Steiermark 600.710 345.298 245.827 113.702 62.049 97.932 242.448 114.730 147.500 88.483 28.118 16.819 30.837 86.431 715.440 492.798 334.310 141.820 78.868 128.769 328.879 16,04% 29,93% 26,47% 19,83% 21,33% 23,95% 26,28% Deutsches Reich Gesamt: 1,707.966 512.918 2,220.884 23,10% 19,70% Beschäftigte AusländerInnen in der Ostmark am 30.9.1944 3 (incl. „OstarbeiterInnen“, ohne Kriegsgefangene, auf Grund der Arbeitsbuchstatistik) InländerInnen AusländerInnen In- und AusländerInnen AusländerInnen in Prozent aller Beschäftigten Wien Niederdonau Oberdonau Tirol/Vlbg Salzburg Kärnten Steiermark 579.824 336.184 242.249 110.386 63.633 95.123 244.504 116.226 160.116 100.373 31.577 18.841 38.378 101.485 696.050 496.300 342.622 141.963 82.474 133.501 345.989 16,70% 32,26% 29,30% 22,24% 22,84% 28,75% 29,33% Deutsches Reich Gesamt: 1,671.903 566.996 2,238.899 25,32% 20,5% 1 Statistik zusammengestellt nach: Der Arbeitseinsatz in der Ostmark (einschließlich der angegliederten sudetendeutschen Gebiete). Mitteilungen des Reichsarbeitsministeriums, Zweigstelle Österreich für Arbeitseinsatz und Arbeitslosenhilfe, Jg. 1939; Der Arbeit- 48 2 3 seinsatz im Großdeutschen Reich, Jg. 1940–1944. Der Arbeitseinsatz im Großdeutschen Reich, Nr. 1, 31.1.1944, S. 5 ff Der Arbeitseinsatz im Großdeutschen Reich, Nr. 9, 30.9.1944, S. 8 ff. Quelle: Florian Freund Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 Interview mit Florian Freund renherstellung, also Kanonen-, Panzerfabrikation und ähnliches, waren 6 Prozent der zivilen AusländerInnen beschäftigt. In der Eisen- und Metallgewinnung – darunter fallen zum Beispiel die „Hermann Göring Werke“, aus denen nach 1945 die VOEST hervorgegangen ist, Böhler u.a. – waren es 3 Prozent, und bei der Reichsbahn, den heutigen ÖBB, waren zu diesem Zeitpunkt 15.355 zivile AusländerInnen beschäftigt, also fast 3 Prozent aller zivilen AusländerInnen. Zu diesem Zeitpunkt hat es etwa auch 8900 Dienstmädchen in Österreich gegeben, die Zwangsarbeiterinnen waren, was auch eine ganz beachtliche Zahl ist. Auch die Fremdenverkehrswirtschaft hat 7522 ZwangsarbeiterInnen beschäftigt, in erster Linie in den Gauen Tirol-Vorarlberg und Salzburg. Wieviele österreichische Firmen waren in die Zwangsarbeit involviert, welche ökonomische Bedeutung hatte die Zwangsarbeit für den Staat und für die einzelnen Firmen? Es haben praktisch alle für die Rüstungswirtschaft relevanten Firmen in der einen oder anderen Form ZwangsarbeiterInnen beschäftigt. So wäre zum Beispiel die gesamte Raketenrüstung, der Bau der sogenannten „Wunderwaffe“, ohne Zwangsarbeit, insbesondere KZ-Zwangsarbeit unmöglich gewesen. Führend bei der Beschäftigung von ZwangsarbeiterInnen war ganz sicher Steyr-Daimler-Puch. Wie mein Kollege Bertrand Perz erforscht hat, beschäftigte Steyr-Daimler-Puch im Herbst 1944 ca. 50.000 Personen, von denen der größte Teil zivile AusländerInnen waren. Zu diesen 50.000 sind zu diesem Zeitpunkt mindestens noch 20.000 bis 30.000 KZ-Häftlinge dazuzuzählen, die in den Statistiken üblicherweise nicht aufscheinen. Sie machten aber einen ganz erheblichen Anteil der Beschäftigten aus, die direkt oder indirekt für die Steyr-Daimler-Puch gearbeitet haben. Bei den Baufirmen ist es ganz ähnlich. Die Universale Bau AG zum Beispiel hat auch in großem Ausmaß KZ-Häftlinge beschäftigt, andere Baufirmen wiederum beschäftigten nur zivile AusländerInnen. Das war von Firma zu Firma immer wieder unterschiedlich, vor allem auf Grund der Bauprojekte, in die die Firmen involviert waren. Die Firmen selbst haben während der gesamten NSZeit sozusagen um Arbeitskräfte gerauft. Den meisten Privatfirmen war es vermutlich lieber, wenn es InländerInnen waren, weil sie sich dadurch die Probleme und Kosten ersparen konnten, die z.B. die Überwachung, Separierung, Ernährung der ZwangsarbeiterInnen und der Einfluß der SS bei der Beschäftigung von KZ-Häftlingen aus ihrer Sicht mit sich brachten. Aber inländische Arbeitskräfte hat es einfach nicht gegeben, weil ein großer Teil der Männer zur Wehrmacht eingezogen war und das NS-Regime die Erwerbsarbeit von Frauen nicht unbedingt forcieren wollte. Letztlich waren die ZwangsarbeiterInnen die einzige Möglichkeit, zusätzliche Arbeitskräfte zu bekommen, durch sie konnten die Firmen expandieren. Mehr Umsatz bedeutete mehr Gewinn, und ohne diese Arbeitskräfte hätten sie weder Umsatz noch Gewinn machen können. Zwangsarbeit hatte also eine ganz große Bedeutung für die einzelnen Firmen. Die gesamte Kriegswirtschaft wäre ohne den Einsatz von ZwangsarbeiterInnen spätestens Ende 1941 zusammengebrochen. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich die ganzen ökonomischen Rahmenbedingungen auf Grund der Tatsache verändert, dass man die Wirtschaft auf einen lange dauernden Krieg umstellen musste. Insofern waren diese Menschen im wahrsten Sinne des Wortes gezwungen, zur Verlängerung des Krieges beizutragen. Wie viele dieser ehemaligen ZwangsarbeiterInnen leben heute noch? Wenn man eine Gesamtschätzung derer versucht, die heute noch leben, muss man sich an den Zahlen orientieren, die die „Vereinigung der durch das Dritte Reich geschädigten Polen“ durch sehr intensive Umfragen erhoben hat. Sie geht davon aus, dass heute noch ca. 25.000 Polen und Polinnen leben, die als KZ-Häftlinge, Kriegsgefangene, zivile AusländerInnen oder einer der anderen Gruppen zugehörig in irgendeiner Weise Zwangsarbeit in Österreich geleistet haben. Nimmt man an, dass bei anderen Nationalitäten die Überlebensrate ähnlich ist, dann kann man davon ausgehen, dass heute noch insgesamt ca. 100.000 ehemalige ZwangsarbeiterInnen leben. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass die Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 49 Zwangsarbeit in Österreich Lebenserwartung in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion ganz unterschiedlich ist zur Lebenserwartung in Polen, und diese ist wiederum völlig unterschiedlich zur Lebenserwartung in den westlichen Industrieländern. Diese Zahl ist also nur eine grobe Schätzung. Wir wissen es noch nicht genau, und für die Frage der Entschädigungszahlungen ist es auch nicht das Hauptproblem, außer, dass man die Gesamtkosten noch nicht genau abschätzen kann. Aber wir wissen, unter welchen Bedingungen und unter welchem Grad von Zwang die einzelnen Gruppen von Betroffenen in Österreich Zwangsarbeit geleistet haben, das ist absolut eindeutig. Bei den zivilen AusländerInnen muss man differenzieren. Es sind nicht alle Nationalitäten gleich behandelt worden. Angehörige mit dem Deutschen Reich verbündeter Nationen wurden besser behandelt, zum Beispiel KroatInnen, oder, solange Italien mit dem Deutschen Reich verbündet war, auch die ItalienerInnen. Ab Herbst 1943, mit dem Abschluss eines Waffenstillstands zwischen Italien und den Alliierten, änderte sich das radikal, und die ItalienerInnen wurden danach ganz besonders diskriminiert. Die sogenannten „WestarbeiterInnen“, sprich HolländerInnen, Franzosen und Französinnen, ItalienerInnen, DänInnen wurden grundsätzlich wesentlich besser behandelt als die sogenannten „OstarbeiterInnen“ oder Polen und Polinnen. Den Nationalsozialisten ist es gelungen, eine rassistisch hierarchisierte Gesellschaft aufzubauen, die im Sinne der Machthaber „sehr gut“ funktioniert hat. Sie hat unter aktiver Beteiligung eines Teils der Bevölkerung funktioniert, zumindest aber unter Billigung einer Mehrheit, ohne dass es notwendig war, sich selbst daran zu aktiv zu beteiligen. Haben ehemalige ZwangsarbeiterInnen in Österreich bisher Entschädigung erhalten? Meines Wissens nicht. Es haben nur jene eine Entschädigung erhalten, die österreichische StaatsbürgerInnen waren. Sie haben ihre Haftzeiten entschädigt bekommen, nicht aber die Arbeitsleistung, die sie damals erbracht haben. Die zivilen AusländerInnen und auch alle anderen Gruppen wurden von österreichischer Seite weder für die Haftzeiten noch für die Arbeit entschädigt, die sie geleistet haben. Einige österreichische Firmen haben allerdings nun die Bereitschaft bekundet, den ehemals bei ihnen beschäftigten ZwangsarbeiterInnen eine Entschädigung zu zahlen. Warum und auf Grund welcher Rechtslage wurden sie bisher nicht entschädigt? Österreich hat sich erstens nie als Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches gesehen, was formal auch dem Völkerrecht entspricht. Allerdings hat man auch keine moralische Verpflichtung gesehen, die wird erst jetzt, zumindest verbal, übernommen, weil auch der internationale Druck größer geworden ist. Ansonsten haben sich die Firmen ja nie rechtfertigen müssen. Ihre Antworten auf entsprechende Anfragen von ehemaligen ZwangsarbeiterInnen waren teilweise sehr zynisch. Zum Beispiel hat eine Baufirma auf die Anfrage eines KZ-Häftlings geantwortet: „Wir haben ohnehin für Ihre Arbeitskraft an die SS bezahlt, daher sehen wir uns außerstande, Ihnen etwas zu zahlen.“ So in dieser Art lauteten die Antworten von Firmen. Es hat im Grunde überhaupt kein Unrechtsbewusstsein gegeben, weder bei den Firmen noch in der Öffentlichkeit. Und ich befürchte, auch bei der jetzigen Debatte wurde bisher viel zu wenig vermittelt, welches Unrecht diesen Menschen angetan wurde. Warum wird gerade jetzt die Frage nach der Verantwortung österreichischer Unternehmen und der Entschädigung von Zwangsarbeit gestellt? Ich glaube, dass hier mehrere Faktoren ganz wesentlich sind: Erstens einmal die völlig veränderte politische Situation in Europa durch das Ende des Kalten Krieges, durch die Ostöffnung, was ganz andere politische Kontakte möglich gemacht hat. Bis dahin lautete die Begründung ja immer: „Bis zu einem Friedensvertrag wird mit diesen Ländern über diese Fragen nicht verhandelt.“ Der zweite und meiner Meinung nach wichtigste Grund ist die Möglichkeit, die das amerikanische Recht geboten hat, mit sogenannten class actions, also ➤ Sammelklagen, gegen die Firmen vorzugehen. Das ist im Zusammenhang mit der 50 Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 Interview mit Florian Freund internationalen Entwicklung der Globalisierung zu sehen. Es gibt kaum eine größere österreichische Firma, die nicht irgendetwas mit den USA zu tun hat. Sobald es eine Geschäftsverbindung gibt, kann eine solche Klage in den USA eingebracht werden. Das sind meiner Meinung nach die zentralen Gründe, warum die Entschädigungsfrage heute debattiert wird. Der letzte Grund ist auch im Zusammenhang mit dem Generationswechsel zu sehen. Die Kriegsgeneration ist heute in einem sehr hohen Alter, gleichzeitig ist aber eine jüngere Generation nachgekommen, die einfach sagt: „Das ist Unrecht, darüber muss man reden, und es muss – auch im Nachhinein und auch, wenn es nur symbolisch ist – entschädigt werden.“ Das ist eine, wenn man so will, „zornige“ jüngere Generation, die keine großen Rücksichten auf Empfindlichkeiten nimmt, auch nicht auf Empfindlichkeiten in Österreich. Ich glaube, diese Gründe haben eigentlich erst bewirkt, dass auch in Österreich langsam eine solche Diskussion vorankommt. Ich befürchte nur, vor den Wahlen im Herbst 1999 wird in dieser Hinsicht nichts mehr passieren, und nach den Wahlen wird alles wieder offen sein. Einige österreichische Unternehmen haben nun Forschungsteams eingesetzt, die das Ausmaß von Vermögensentzug durch Zwangsarbeit erforschen sollen. Werden die Ergebnisse dieser Teams eine Grundlage für künftige Entschädigungsleistungen liefern? Genau darum geht es. Ich glaube, die klügeren Firmenmanagements haben erkannt, dass es besser ist, genau Bescheid zu wissen und nicht den Kopf in den Sand zu stecken. Es muss garantiert sein, dass all diese Forschungsteams völlig unabhängig arbeiten und dass ihre Ergebnisse ohne jeden Eingriff, ohne jede Einflussnahme von Seiten der Firmen publiziert werden. Daher sind sehr interessante Ergebnisse zu erwarten. Für die Firmen geht es darum, in irgendeiner Weise mit dieser Situation umzugehen. Für die heutigen Firmen, zumindest für die großen Firmen, stellt sich das Problem, dass in der Regel der Imageschaden, der durch die langwierigen Diskussionen über diese Fragen entsteht, viel größer ist als das, was sie tatsächlich an Entschädigungen zahlen würden. Das ist das Hauptmotiv für die Firmen. Die großen Firmen müssten eigentlich Interesse an einer einvernehmlichen Regelung dieser Fragen haben. Aber einige Firmen stecken halt den Kopf in den Sand und lassen es auf Klagen ankommen. Das halte ich allerdings für keine sehr kluge Strategie. Welcher Unterschied besteht zwischen der von der Regierung eingesetzten Historikerkommission und den von Firmen finanzierten Forschungsteams? Zwischen den von Firmen finanzierten Forschungsteams und der Historikerkommission liegt der Unterschied in der Dimension. Die Untersuchungen zu einzelnen Firmen behandeln Spezialfragen, an deren Beispiel man allerdings sehr viel an allgemeinen Vorgängen auf diesem Gebiet aufzeigen kann. Die österreichische Historikerkommission muss demgegenüber sehr viel umfassender an die Frage herangehen, weil auch Vorgänge betroffen sind, mit denen die Firmen nur zum Teil etwas zu tun hatten, und die man in einem größeren Zusammenhang sehen muss. Das betrifft jede Form von „Arisierung“, Enteignung von Grundstücken, also Immobilien, Enteignung von betrieblichem Eigentum. Es betrifft genauso Berufsverbote, es betrifft die nationalen Minderheiten und deren teilweise oder völlige Enteignung, wie zum Beispiel die Roma und Sinti. In einem allgemeineren Sinn betrifft das auch die Zwangsarbeit. Von Seiten der Historikerkommission hat man ein Interesse daran, zum Beispiel das Thema Zwangsarbeit in der Landwirtschaft aufzuarbeiten, weil klar ist, dass kein noch so großer Gutsbetrieb ein eigenes Forschungsteam finanzieren kann. Das ist natürlich eine staatliche Angelegenheit, ebenso wie die Erhebung österreichweiter Zahlen, die Analyse der damaligen Rechtsvorschriften und ihrer Umsetzung. Daher ist es meines Erachtens absolut notwendig, die Frage der Zwangsarbeit im Rahmen der Historikerkommission zu untersuchen. Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 51 Zwangsarbeit in Österreich Befinden sich die Historikerkommission und die Forschungsteams nicht in einem Konflikt zwischen komplexen Erklärungsmodellen der historischen Forschung einerseits und andererseits der Erwartung der Öffentlichkeit, dass es klare, eindeutige Fakten und Zahlen geben wird? Ich glaube, man muss beides verbinden, und es ist auch die Aufgabe der HistorikerInnen, die für die Kommission arbeiten werden, dass sie sich eben nicht nur auf das eine oder auf das andere beschränken. Es ist eine klassisch historische Arbeit gefordert, wobei natürlich ein Schwerpunkt auf der Recherche von sogenannten Fakten liegen wird: Wie hoch war der Vermögensentzug da oder dort? Wie und wieviel wurde nach 1945 rückgestellt und entschädigt? Es geht also um die berühmten „W-Fragen“ – wer, wie, wo, was, wann, warum –, dazu gehören aber auch komplexe Analysen. Dieselben Fragen muss man für die Zweite Republik untersuchen. Und da gehört wiederum beides dazu: Auf der einen Seite steht die reine Faktizität – wieviel wurde denn eigentlich zurückgegeben? Und auf der anderen Seite die Erklärung, warum wurde was zurückgegeben oder nicht zurückgegeben, warum wurde entschädigt und warum nicht. Das sind alles Fragen, die man klären muss, und insofern findet diese Teilung zwischen Faktizität und Theorie eigentlich nicht statt. Es soll eine solide historische Arbeit geleistet werden. Es ist allerdings eine sehr eingeschränkte Fragestellung, die Frage des Vermögensentzugs ist nicht eine Geschichte des Nationalsozialismus in Österreich, sondern sie ist ein Teil dieser Geschichte. Und ich befürchte, dass alle anderen Bereiche der Geschichte des Nationalsozialismus in Österreich weiterhin eben nicht erforscht werden. Ich befürchte, dass man nach dem Endbericht der Historikerkommission erst recht keine Forschungsprojekte zum Thema Nationalsozialismus mehr fördern wird. Es gibt aber noch viele offene Fragen, z.B. ist die ganze NS-Täterseite noch nicht erforscht. Es gibt hunderte ganz wichtige Fragen, die international bereits diskutiert werden und die in Österreich seit Jahrzehnten in der Forschung blockiert sind, weil es dafür keine Finanzierung gibt und weil die Widerstände in der Politik in den letzten Jahrzehnten viel zu groß waren. Die Ausrede wird dann sein: „Jetzt haben wir eh schon so viel Geld in eine Historikerkommission investiert, jetzt muss einmal etwas anderes gemacht werden.“ Gibt es in der Bundesrepublik Deutschland schon Modelle für Entschädigungen für ZwangsarbeiterInnen? Dort wird diese Frage schon wesentlich konkreter verhandelt als bei uns. In Deutschland sind zwei verschiedene Fonds in Diskussion, die man bis zum 1. September einrichten will. Ein Fonds soll von Firmen finanziert werden und ist für die Personen gedacht, die bei diesen Firmen Zwangsarbeit geleistet haben. Ein weiterer Fonds wird voraussichtlich von der deutschen Regierung eingerichtet für die ehemaligen ZwangsarbeiterInnen, für die keine Firmengelder vorhanden sind. Man verhandelt derzeit über die Höhe der Entschädigungssumme, die zwischen 5000 und 10.000 Mark liegen soll und die direkt an die ehemaligen ZwangsarbeiterInnen ausbezahlt werden wird. Es gibt allerdings noch eine Menge juridischer Probleme, weil die Firmen natürlich eine Konstruktion finden wollen, mit der sie künftigen Klagen entgehen können. Welche Möglichkeiten der finanziellen Entschädigung für Zwangsarbeiter – Individualentschädigung, Globalentschädigung, eine symbolische Summe oder die Auszahlung der Lohndifferenz – werden derzeit in Österreich diskutiert? Es kann letztendlich ja nur um symbolische Summen gehen. Wie will man etwa eine Zwangsarbeiterin entschädigen, die hier ein Kind bekommen hat, das ihr nach der Geburt weggenommen wurde, das man mit Absicht in sogenannten Kinderheimen für „Ostarbeiterinnen“ verhungern oder sonst irgendwie zu Tode kommen hat lassen? Wie will man solche Dinge entschädigen? Es kann immer nur um symbolische Summen gehen. Und ich glaube, das sollte auf jeden Fall in Form einer Individualentschädigung geschehen, die direkt an die einzelnen Betroffenen geht. Stellen Sie sich einmal vor, was es für ehemalige Zwangs- 52 Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 Interview mit Florian Freund arbeiterInnen bedeutet, die heute in der Ukraine, in Polen oder anderswo im Elend leben und fast keine Pensionen bekommen, wenn ihnen jetzt in Devisen eine bestimmte Summe ausbezahlt wird. Dann können sie wenigstens jetzt, im hohen Alter, vernünftig leben. Das sollte man auf jeden Fall machen und nicht zu lange warten, denn mit jeder Woche, die man noch wartet, sterben wieder einige. Diese Strategie, alles in die Länge zu ziehen, weil das billiger kommt – nach der alten Devise seit 1945, wie Robert Knight in seinem Buch „Ich bin dafür, die Sache in die Länge zu ziehen …“ bereits nachgewiesen hat –, empfinde ich als ziemlich schäbig. Dr. Florian Freund ist Historiker, Univ.Lektor am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien, Forschungsschwerpunkte: Kriegswirtschaft, Zwangsarbeit, Konzentrationslager, Verfolgung der österreichischen Roma und Sinti im Nationalsozialismus Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 53 Roma und Sinti Sterilisationsopfer „Euthanasie“-Opfer „Asoziale“ Leben im Verborgenen Frauen im Widerstand Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 Die vergessenen Opfer Das folgende Kapitel umfaßt Texte, die sich mit jenen Gruppen von Opfern des Nationalsozialismus auseinandersetzen, deren Erfahrungen und Leid lange Jahre in Österreich tabuisiert wurden: die sogenannten U-Boote, Roma und Sinti sowie andere ethnische Minderheiten, ZeugInnen Jehovas, Homosexuelle, Vertriebene, Opfer von Sterilisation und ➤ „Euthanasie“ sowie als „asozial“ Verfolgte. Diese Gruppen wurden sowohl aus sogenannten rassischen oder politischen, religiösen Gründen, aufgrund sexueller Orientierung oder „fehlender Anpassung“ diskriminiert und verfolgt. Als Grundlage für ihre Verfolgung, Vertreibung und Ermordung dienten die ➤ „Nürnberger Rassengesetze“ von 1935, die 1938 auch für Österreich Gültigkeit erlangten, sowie die nationalsozialistische Erbgesundheitspolitik – am 1.1. 1940 trat in Österreich etwa das ➤ „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ in Kraft. Die Biographie von Betty Voss verdeutlicht, welche entscheidende Rolle die Gesundheitsund Fürsorgeämter als verlängerter Arm der Verfolgungsbehörden einnahmen, bei der Initiierung von Entmündigungsverfahren und Zwangspsychiatrierung sowie der Einweisung in Arbeitshäuser und Konzentrationslager. Auch die Überstellung von Kindern und Jugendlichen in NS-Erziehungslager und NSErziehungsanstalten erfolgte vielfach durch Registratur und Beurteilung von Fürsorgerinnen. In welchem Ausmaß Kinder und Jugendliche in derartigen Einrichtungen zu sogenannten medizinischen Forschungszwecken herangezogen, Opfer von Zwangssterilisation und „Euthanasie“ wurden, belegen die leidvollen Erfahrungen der ehemaligen „Kinder vom Spiegelgrund“. Während einige Texte im nachfolgenden Kapitel die Verfolgung während des Nationalsozialismus untersuchen, liegt der Schwerpunkt anderer Darstellungen auf dem Umgang Österreichs mit den Opfern nach 1945. Diese Auswahl soll die Kontinuitäten von Vorurteilen und Ausgrenzung deutlich machen. Die Stigmatisierung von Roma und Sinti oder sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen als „asozial“ und „arbeitsscheu“ wie auch die Kriminalisierung von Homosexualität stellten keine nationalsozialistische Erfindung dar. Und auch die Anerkennung bzw. Nichtanerkennung als Opfer nach 1945 erfolgte nicht aufgrund tatsächlicher Verfolgung und den psychischen und physischen Folgeschäden, sondern nach den weiterhin wirksamen Grundsätzen rassen- und erbbiologischer Ideologie der NS-Zeit. Die Geschichte der ➤ Opferfürsorgegesetzgebung (siehe viertes Kapitel) verdeutlicht dies eindrücklich. Über die Errichtung des ➤ Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus 1995 wurden diese bislang in der Opferfürsorgegesetzgebung entweder unberücksichtigten oder in unzureichendem Ausmaß berücksichtigten Opfergruppen als solche anerkannt. Die folgenden Texte mögen das Ausmaß und die Konsequenzen der Verfolgung veranschaulichen sowie das vielfach fortgesetzte Leid der ehemaligen Opfer durch ihre langjährige Nichtanerkennung. Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 55 BEINAHE VERGESSENE OPFER – ROMA UND SINTI BRIGITTE BAILER-GALANDA „Arbeitsscheu und asozial“ „Lösung der Zigeunerfrage“ – Das Lager Lackenbach Die Verfolgung der Roma und Sinti durch das nationalsozialistische Regime wird bis heute von einer breiteren Öffentlichkeit kaum, von der zeitgeschichtlichen Forschung nur nach und nach zur Kenntnis genommen,1 obschon das Vorgehen der nationalsozialistischen Verfolger gegen die österreichischen „Zigeuner“ 2 in seinen Grundzügen der Verfolgung der Juden gleicht. Sofort nach dem „Anschluß“ 1938 erfolgten Schulbesuchs- und Berufsverbote, aufgrund eines Runderlasses des Reichsführers SS und Chefs der deutschen Polizei Heinrich ➤ Himmler wurden alle „Zigeuner“ durch die Polizeibehörden registriert. 1939 setzten die ersten umfangreichen Verhaftungsaktionen ein. Aufgrund einer Weisung des Reichskriminalamtes Berlin wurden Männer mit ihren Söhnen unter dem Vorwand, sie seien arbeitsscheu und daher „asozial“, in verschiedene Konzentrationslager gebracht. Diese Etikettierung als „arbeitsscheu und asozial“ bereitete den ehemaligen Häftlingen nach 1945 beträchtliche Schwierigkeiten mit den Opferfürsorgebehörden. Im Juni 1939 wurden 440 Frauen aus Wien, Niederösterreich und dem Burgenland ins neu errichtete Frauenkonzentrationslager Ravensbrück eingewiesen.3 In den Konzentrationslagern wurden an den Roma und Sinti Zwangssterilisationen und medizinische Experimente vorgenommen, an deren physischen und psychischen Folgeschäden die Überlebenden bis heute leiden,4 auch wenn die Gutachter in Opferfürsorgefällen dies nicht wahrhaben wollen.5 Mit Runderlaß des ➤ Reichssicherheitshauptamtes vom 17. Oktober 1939 wurde angeordnet, daß die Roma und Sinti ihren Aufenthaltsort ab Ende Oktober ohne polizeiliche Erlaubnis nicht mehr verlassen durften.6 Ende 1940 wurde die Ausgrenzung und Gettoisierung in eigenen Lagern vollzogen – neben zahlreichen kleineren Lagern vor allem im burgenländischen ➤ Lackenbach und im Vorort der Stadt Salzburg, Maxglan.7 Im November 1941 wurden 5007 österreichische „Zigeuner“, davon mehr als die Hälfte Kinder, ins Getto von Lodz deportiert und von dort aus wenig später in den Gaskammern von ➤ Chelmno (Kulmhof) getötet.8 Im Frühjahr 1943 wurden tausende Roma und Sinti aus den von Deutschland besetzten Ländern, auch aus Österreich, ins Konzentrationslager Auschwitz deportiert und dort in der Nacht vom 2. auf den 3. August 1944 in den Gaskammern von Birkenau ermordet.9 Zuvor, 1942, waren die im Burgenland seßhaft gewesenen Familien zum Verkauf ihrer Grundstücke und Häuser gezwungen worden, ihr Besitz wurde gleichsam ➤ „arisiert“, da – wie der Landrat in Oberwart in einem Rundschreiben feststellte – „mit einer weiteren Lösung der Zigeunerfrage zu rechnen“ sei.10 Einen besonderen Stellenwert im Kampf der Roma und Sinti um volle Anerkennung als Opfer des Nationalsozialismus nahm das burgenländische Lager Lackenbach ein. Offiziell am 23. November 1940 gegründet,11 unterstand das Lager der Kriminalpolizeileitstelle Wien. Die Lagerleitung oblag gleichfalls Beamten der Kriminalpolizei, die jedoch „aufgrund ihrer Funktion einen SS-Rang hatten“.12 Erster Kommandant war SS-Obersturmführer Kohlroß, er starb bei der 1942 in Lackenbach ausgebrochenen Flecktyphusepidemie, sein Stellvertreter war der später zur Waffen-SS einberufene Polizeibeamte Franz Langmüller, der 1948 von einem Wiener Volksgericht wegen „Quälerei und Mißhandlung der Lagerinsassen“ verurteilt wurde.13 Das Lager selbst war in einem größeren Meierhof untergebracht, die Häftlinge mußten anfänglich in Ställen und später in rasch errichteten Baracken hausen, wo keinerlei sanitäre Einrichtungen für die vielen hundert Menschen zur Verfügung standen. Die Ernährungssituation war katastrophal. Im Sommer 1941 war der Lagerbrunnen ausgeschöpft, die Inhaftierten mußten ihr Trinkwasser dem nahegelegenen Bach entnehmen. Der Flecktyphusepidemie 1942 fielen zahlreiche Lagerinsassen zum Opfer. Alle arbeitsfähigen Häftlinge, auch Kinder, wurden entweder an Bauern oder an Unternehmen als Arbeitskräfte vermietet oder mußten im Lager selbst diverse Arbeiten verrichten. Den Arbeitslohn erhielt die Lagerverwaltung, die davon den Insassen nur einen kleinen Teil als „Taschengeld“ ausbezahlte, der Rest wurde für „Verköstigung und Unterbringung“ abgezogen. Bei Verstößen gegen die Lagerordnung wurden verschiedene Strafen verhängt: Einzelhaft im „Bunker“, Prügel, strafweises Knien für die Kinder oder auch Essensentzug. Erst als 56 Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 Brigitte Bailer-Galanda SS-Untersturmführer Julius Brunner die Leitung des Lagers übernahm, wurde die Situation der Häftlinge etwas besser.14 Die Überlebenden der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie hatten nach 1945 wieder mit denselben Vorurteilen und Vorbehalten zu kämpfen wie vor und während der NS-Zeit. Sie waren und blieben die „Fremden“, deren Kultur und Lebensweise man mißtrauisch und ablehnend gegenüberstand, die zu verstehen man sich – abseits romantischer Klischees – nicht die Mühe machte, obwohl zahlreiche Familien bereits seit mehreren Generationen beispielsweise im Burgenland ansässig gewesen waren. Nur die Hälfte bis zu zwei Drittel der Verschleppten kehrte im Burgenland in ihre Heimatgemeinden zurück.15 Ihre Familien- und Gruppenstrukturen, die in der Kultur der Roma und Sinti besondere Bedeutung besitzen, hatte der Nationalsozialismus in vielen Fällen zerstört. Bei den Behörden und Ämtern waren sie nach wie vor Diskriminierungen ausgesetzt, nicht einmal die Ausdrucksweise hatte sich seit der NS-Zeit wesentlich geändert. Aus der „Zigeunerplage“ war das „Zigeunerunwesen“ geworden. So stellte die Generaldirektion für die öffentliche Sicherheit in Wien 1948 fest, „daß das Zigeunerunwesen in einigen Gegenden des Bundesgebietes wieder im Zunehmen begriffen“ sei „und sich bereits unangenehm bemerkbar“ mache. „Um auf die Bevölkerung Eindruck zu machen, sollen sich Zigeuner oftmals als KZler ausgeben. Soweit die Voraussetzungen nach der Ausländerpolizeiverordnung gegeben erscheinen und die Möglichkeit einer Außerlandschaffung besteht, wäre gegen lästige Zigeuner mit der Erlassung eines Aufenthaltsverbotes vorzugehen und ihre Außerlandschaffung durchzuführen.“ 16 Bereits Tobias Portschy, burgenländischer Landeshauptmann nach dem „Anschluß“, hatte 1938 die beste „Lösung der Zigeunerfrage“ in deren „freiwilliger Abwanderung ins Ausland“ gesehen.17 Bezeichnend für die Haltung von Gemeinden und Behörden gegenüber den zurückgekehrten Roma und Sinti ist folgender Fall: Der burgenländische Landarbeiter I. H. wurde bereits im Juli 1938 in ein Konzentrationslager gebracht. Sein bescheidenes Haus wurde niedergerissen, die Möbelstücke verschwanden, das übriggebliebene Baumaterial gleichfalls. Nach seiner Rückkehr verlangte H. von seiner Heimatgemeinde St. Margarethen im Wege der ➤ Rückstellungsgesetzgebung Ersatz für sein verlorengegangenes Eigentum. Sein Antrag wurde abgelehnt, in der Begründung des Rückstellungserkenntnisses wird ausgeführt: „Die Gemeinde St. Margarethen als Antragsgegnerin beantragt Abweisung des Rückstellungsantrages und wendet ein, daß der Antragsteller ein Haus nicht besaß, sondern nur eine primitive Unterkunft in einem Erdloch bzw. einer Bretterbude. Desgleichen hätte der Antragsteller niemals Möbel besessen. Außerdem sei die Aktion gegen die Zigeuner nicht von der Gemeinde St. Margarethen ausgegangen, sondern von einer Dienststelle der NSDAP. Schließlich hätte sich die Gemeinde aus dem Baumaterial des Antragstellers überhaupt nichts angeeignet. Außerdem sei dem Antragsteller von der Gemeinde eine Wohnung zur Verfügung gestellt worden. Richtig ist, daß Zigeuner zum Kreise der politisch verfolgten Personen zählen, und erwiesen ist, daß auch der Antragsteller aus der Zigeunersiedlung St. Margarethen von der ➤ SS in ein KZ verbracht wurde und daß bei dieser Verschleppung der Zigeuner die Siedlung in Brand aufging. (...) Durch die Auskunft des Amtes der burgenländischen Landesregierung steht fest, daß die in der Gemeinde St. Margarethen gegen Zigeuner getroffene Maßnahme keine Aktion seitens der Gemeinde darstellt, sondern auf Grund der Anordnungen übergeordneter Parteien oder staatlicher Dienststellen zurückzuführen sind. Durch die Aussage des Zeugen Paul Unger, der Bürgermeister bis zur Machtergreifung des NS in St. Margarethen gewesen ist, ist erwiesen, daß Antragsteller (sic!) nur eine Hütte hatte, die mit Holzläden bedeckt war. Durch diesen Zeugen ist aber auch erwiesen, daß das wenige Material, das nach dem Brand des Zigeunerlagers übrig blieb, von den Ortsbewohnern als Lohn für die Beseitigung des Lagers in Empfang genommen wurde. Weiters ist durch diesen Zeugen erwiesen, daß die Zigeuner eine Wohnungseinrichtung überhaupt nicht besaßen, in einem Bett schlief nur der Zigeunerprimas. Diese Aussage wird von dem Zeugen Karl Unger, der Bürgermeister während der nationalsozialistischen Aera gewesen ist, bestätigt. (...) Lediglich der Zeuge Michael Barta gibt in seiner Aussage als Zeuge an, Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 57 Von der „Zigeunerplage“ im NS zum „Zigeunerunwesen“ nach 1945 Beinahe vergessene Opfer – Roma und Sinti Mangelnde Aufklärung und Angst vor Umgang mit den Behörden daß er dem Antragsteller ein Haus in der Größe von 4 mal 4 m aufbauen half.“ 18 Die in diesem Erkenntnis zum Ausdruck kommende offensichtlich hohe Glaubwürdigkeit, die Aussagen ehemaliger NS-Funktionäre seitens der Gerichte und Behörden der Zweiten Republik zugebilligt wurde, findet sich auch in den Beweiswürdigungen der Opferfürsorgebehörden. Viele der Roma und Sinti scheuten nach Kriegsende Bemühungen um Leistungen nach dem ➤ Opferfürsorgegesetz, da sie – wie Erika Thurner wohl zu Recht vermutet – den Umgang mit Behörden fürchteten. Andererseits muß berücksichtigt werden, daß das Opferfürsorgegesetz vorwiegend nur jenen Menschen bekannt war, die sich in einem der Opferverbände organisiert hatten oder über Kontakt zu einem solchen Verband verfügten. Außerhalb der Publikationen der Verbände wurde in den Medien nur wenig über die Gesetzgebung zugunsten der Opfer berichtet. So könnten zahlreiche Anträge von Sinti und Roma auch an mangelnder Information gescheitert sein. Doch jene, die den Gang zu den Behörden auf sich nahmen, sahen sich dort wieder mit Vorurteilen konfrontiert. So schreibt der „Neue Mahnruf“, der sich ab Beginn der fünfziger Jahre der Anliegen der „Zigeuner“ annahm, 1953: „Die Zigeuner gelten als rassisch Verfolgte und haben daher den Anspruch darauf, genau so behandelt zu werden wie alle anderen Personen, die aufgrund der Opfer- und Entschädigungsgesetze irgendwelche Ansprüche stellen können. (...) Es sind uns aber Fälle bekannt, (...) wo manche Behörden glauben, mit unbegründeten Ausflüchten berechtigte Ansprüche von Zigeunern abtun zu können, oder die Unkenntnis dieser Personen dazu ausnützen, sie um Ansprüche bringen zu können.“ 19 Und als 1957 in Oberwart und Pinkafeld Informationsabende des ➤ KZ-Verbandes über die Opferfürsorgegesetzgebung stattfanden, mußte die Referentin „mit Erstaunen feststellen“, „daß die burgenländischen Kameraden, die Zigeuner sind, sehr niedrige Renten beziehen und nicht jene Leistungen gewährt werden, auf die nach dem Opferfürsorgegesetz Anspruch besteht“. 20 Auch im offiziellen Kommentar zum Opferfürsorgegesetz vom zuständigen Ministerialrat des Bundesministeriums für soziale Verwaltung, Dr. Burkhart Birti, findet sich im Stichwortverzeichnis kein Hinweis auf die „Zigeuner“, auch bei den allgemeinen Erläuterungen zum Personenkreis der „rassisch“ Verfolgten werden sie nicht erwähnt. Erst bei den Erläuterungen zur Haftentschädigung kommen auch die „Zigeuner“ vor, und es wird auf die oben erwähnten Runderlässe des Reichsführers SS und des ➤ Reichssicherheitshauptamtes verwiesen.21 Roma und Sinti, die außer in Lackenbach noch in anderen Konzentrationslagern inhaftiert gewesen waren, hatten bescheidene Chancen, einen ➤ Opferausweis oder eine ➤ Amtsbescheinigung nach Opferfürsorgegesetz zu erhalten, meist jedoch mußten sich diese Opfer der rassistischen Verfolgung mit einem für sie ziemlich nutzlosen Opferausweis begnügen – wie hätten sie einen Steuerabsetzbetrag nutzen sollen? Anträge auf Ausstellung einer Amtsbescheinigung hingegen scheiterten sehr oft daran, daß das Lager Lackenbach nicht als Haftstätte gemäß Opferfürsorgegesetz anerkannt wurde. Bereits im November 1952 verfaßten ehemalige Häftlinge des Lagers eine Niederschrift über den Charakter des Lagers. Der KZ-Verband nahm sich in der Folge der Anliegen der ehemaligen Lackenbacher an. In einem Vermerk des Verbandes wurde darauf hingewiesen, daß die Opferfürsorgekommission sich in einer ihrer nächsten Sitzungen mit dem Problem befassen werde. „Von seiten unseres Verbandes wird alles unternommen werden, um die Anerkennung des Lagers Lackenbach durchzusetzen. Es ist uns aber bekannt, und das wollen wir nicht verschweigen, daß das Finanzministerium und das Sozialministerium gegen die Anerkennung des Lagers Lackenbach sind, da in diesem Lager vor allem Zigeuner in Haft waren und nach Meinung der beiden Ministerien die Zigeuner eigentlich nicht als Opfer der Verfolgung zu betrachten sind.“ 22 Diese übertrieben klingende Behauptung erfährt ihre Bestätigung jedoch in der Wortwahl eines Bescheides des Sozialministeriums,23 mit dem der Antrag eines ehemaligen Lackenbacher Häftlings auf Ausstellung einer Amtsbescheinigung abgelehnt worden war: „Was hingegen den vom Beschwerdeführer behaupteten Haftcharakter seiner Anhaltung im Lager Lackenbach betreffe, habe das belangte Bundesministerium durch Einsicht in die betreffenden Akten des Bundesministeriums für Inneres (Generaldirektion für die öffentliche Sicherheit) festgestellt, daß es sich im Falle des Beschwerdeführers keinesfalls um eine Haft 58 Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 Brigitte Bailer-Galanda im Sinne des Opferfürsorgegesetzes gehandelt haben könne. Insbesondere entspreche die Behauptung des Beschwerdeführers, daß das Lager Lackenbach der ➤ Gestapo unterstellt gewesen sei, nicht den Tatsachen. In Wahrheit habe es vielmehr der Kriminalpolizeileitstelle unterstanden. In diesem Lager seien hauptsächlich arbeitslos herumziehende Zigeuner, die eine Gefahr für das Eigentum dritter Personen darstellten, zusammengefaßt worden, um sie einer geregelten Arbeit zuführen zu können. Sie seien demnach nicht nach Art von Häftlingen festgehalten, sondern im Einverständnis mit dem Arbeitsamt den Landwirten zur Arbeitsleistung zugewiesen worden, wo man sie untertags verpflegt und im Stundenlohn entlohnt habe. (...) Die Ordnung im Lager sei durch Stammesgenossen (‚Zigeunerkönige‘) ausgeübt worden, welche die Lagerleitung (zwei Kriminalbeamte der Kripoleitstelle Wien) zu unterstützen hatten. (...) Lackenbach sei somit kein Konzentrationslager, sondern ein Arbeitslager gewesen.“ 24 Die hier vom Gerichtshof referierte Ausdrucksweise des Sozialministeriums ist insoferne mehr als bemerkenswert, als sie sich wörtlich mit der Denkschrift des burgenländischen Gauleiters Dr. Tobias Portschy über die Zigeunerfrage deckt. Portschy war darin nämlich zu dem Schluß gekommen: „In der großen Anzahl von fast 8000 Zigeunern als Nichtstuer, Arbeitsscheue, Lungerer und Verbrecher liegt die große Gefahr für die Sicherheit des Eigentums und für den wirtschaftlichen Bestand unserer Landgemeinden.“ 25 Im Jahr 1958 kam die Frage nach dem Charakter des Lagers Lackenbach neuerlich vor den Verwaltungsgerichtshof, als ein ehemaliger Insasse des Lagers Lackenbach einen Bescheid des Amtes der burgenländischen Landesregierung anfocht. Der Beschwerdeführer hatte 1952 die Ausstellung einer Amtsbescheinigung beantragt, da er sich infolge der Haftbedingungen ein Herzleiden zugezogen hatte, „durch welches seine Arbeitsfähigkeit weitgehend herabgesetzt worden sei“.26 Dieser Antrag war abgelehnt worden, da „die Voraussetzungen nach § 1 Abs. 1 lit. e OFG im Hinblick auf das Ausmaß der vorliegenden Gesundheitsschädigung nicht gegeben seien und die Anhaltung im ‚Arbeitslager Lackenbach‘ allein noch nicht anspruchsbegründend sei.“ 27 Aufgrund der Berufung des Beschwerdeführers wurde ein ausführliches Ermittlungsverfahren durchgeführt. Neben ehemaligen Insassen des Lagers wurden vor allem Lagerverantwortliche aus der NS-Zeit als Zeugen einvernommen: die Lagerbewachungsorgane Josef Leberl und Nikolaus Reinprecht, Josef Zenz, der für die Abrechnung der Arbeitsleistungen der Lagerinsassen verantwortlich gewesen war, Roman Neugebauer und Josef Hajek, die in der Lagerverwaltung tätig gewesen waren, Ignaz Schumeritsch, der für die „Durchführung eines Zigeunertransportes nach Lackenbach“ verantwortlich gewesen war, sowie der Lackenbacher Bürgermeister der NS-Zeit, Matthias Hlavin, und der damalige Landrat in Oberpullendorf, Dr. Friedrich Scheuerle. Außerdem berücksichtigte die Behörde das Strafverfahren gegen den ehemaligen stellvertretenden Lagerführer Langmüller und erhalten gebliebene Dokumente aus der NS-Zeit über das Lager. Letztendlich billigte die Behörde den Aussagen der Funktionäre der NS-Zeit höhere Glaubwürdigkeit zu als den ehemaligen Lagerinsassen. Insbesondere tauchte in den Aussagen der ehemaligen Lagerfunktionäre stets wieder die Behauptung auf, die Häftlinge hätten Urlaub beanspruchen können und sonntags zu Spaziergängen frei gehabt. Die ehemaligen Insassen des Lagers beschrieben diese Spaziergänge zwar als organisierte Märsche in den Wald zur Sammlung von Brennholz, 28 doch das Argument des „Urlaubs“ wog in den Augen der Behörde schwer. Die Behörde kam zu dem Schluß: „Die belangte Behörde nahm aufgrund der Angaben der Zeugen Leberl, Neugebauer, Hajek und Hlavin als erwiesen an, daß die Lagerinsassen gelegentlich Urlaub und insbesondere an Sonntagen und nach der Arbeitszeit auch Ausgang erhielten, wobei sie Kinos und Bekannte besuchen konnten. Wohl seien die Angaben der ehemaligen Lagerinsassen über die Ausgangsmöglichkeiten vielfach widersprechend gewesen, auch habe der Zeuge R. (ehemals Bewachungsorgan) angegeben, daß es grundsätzlich keinen Ausgang oder Urlaub gegeben habe. Dem stünde aber die Aussage des Zeugen Neugebauer als ehemaligem Wirtschaftsführer im Lager gegenüber, der mit den Lagerverhältnissen aus eigener Wahrnehmung vertraut sei, weshalb im Hinblick auf die gleichlautenden Angaben der Zeugen Leberl, Hajek und Hlavin den Angaben des Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 59 Lackenbach „nur“ ein Arbeitslager? Die „Glaubwürdigkeit“ ehemaliger NS-Funktionäre Beinahe vergessene Opfer – Roma und Sinti Eingeschränkte Entschädigung für Sinti und Roma Zeugen Reinprecht keine entscheidende Bedeutung beigemessen werde. Die Glaubwürdigkeit der Aussagen der ehemaligen Lagerinsassen sei durch das persönliche Interesse an der Sache, welches auch Widersprüche mit den sonstigen Beweisergebnissen gezeitigt habe, gekennzeichnet, während gegen die Aussagen des Zeugen Neugebauer – derzeit im Ökonomiereferat der Polizeidirektion Wien tätig – keine solchen Bedenken bestünden.“ 29 Daß die ehemals für die Lagerverhältnisse Mitverantwortlichen gleichfalls schon aus Gründen der Schuldabwehr geneigt sein mußten, die Zustände in Lackenbach in möglichst positivem Licht erscheinen zu lassen, bedachte die Behörde offensichtlich nicht, während die Aussagen der ehemals betroffenen Roma und Sinti vorneweg als unglaubwürdig abgetan wurden.30 Mit diesem Erkenntnis legte der Verwaltungsgerichtshof jedenfalls fest, daß es sich bei der „Anhaltung“ in Lackenbach keinesfalls um eine Haft gehandelt habe.31 Daher konnten einerseits aufgrund von Anhaltungen in Lackenbach auftretende Gesundheitsschäden von den ehemals Inhaftierten nicht geltend gemacht werden – es war ihnen also auf diese Weise der Weg zu einer Amtsbescheinigung und damit zu Rentenfürsorge verschlossen –, andererseits konnten sie auch keine Haftentschädigung für die in Lackenbach zugebrachten Zeiten erhalten. Sie blieben von materiellen Leistungen des Opferfürsorgegesetzes bis auf weiteres ausgeschlossen. Erst die ➤ 12. Novelle 1961 sah Entschädigungen – die aber nur die Hälfte der Haftentschädigung ausmachten – für Freiheitsbeschränkungen vor. Unter diesem Begriff wurde dann auch das Lager Lackenbach subsumiert. Aufgrund der Nicht-Anerkennung des Lagers als Haftstätte kam es zu seltsamen Kapriolen der Behördenentscheidungen. Franz S. aus Klagenfurt hatte sich von November 1939 bis Mai 1945 als „Zigeuner“ in Haft befunden. In einem ersten Bescheid stellten die Kärntner Behörden fest, „daß die Anhaltung des Beschwerdeführers wegen mehrmaliger Übertretung des Verbotes des Umziehens nach Zigeunerart und nicht aus politischen bzw. rassischen Gründen erfolgt sei“.32 Aufgrund seiner Berufung wurde Franz S. schließlich eine Entschädigung für die Zeit bis 30. September 1941 zuerkannt, für die Zeiten, die er in sogenannten „Zigeunerlagern“, darunter auch Lackenbach, zubringen hatte müssen, jedoch nicht – eine Entscheidung, die auch der Verwaltungsgerichtshof bestätigte. Folgt man dieser Logik, wäre Franz S. ab Oktober 1941 quasi frei gewesen, denn die Haft endete mit September 1941! Aufgrund langjähriger Bemühungen der Opferverbände und engagierter Historiker/innen wurde das Opferfürsorgegesetz 1988 dahingehend geändert, daß nunmehr die ehemaligen Insassen von Lackenbach auch eine Amtsbescheinigung, und damit Rentenfürsorge erhalten können: „Opfern der politischen Verfolgung (…), die eine Freiheitsbeschränkung in der Dauer von mindestens einem halben Jahr erlitten haben, ist an Stelle eines Opferausweises eine Amtsbescheinigung auszustellen.“ 33 Die Möglichkeit zur Erlangung eines Opferausweises infolge erlittener Freiheitsbeschränkungen war gleichfalls sehr spät in das Opferfürsorgegesetz aufgenommen worden, und zwar mit der 23. Novelle aus 1975.34 Doch nicht nur in der Bewertung des Charakters von Lackenbach wurden weiterwirkende Vorurteile der Beamten gegen Roma und Sinti deutlich. In manchen Fällen wurde sogar ihre Verfolgung aus Gründen der Abstammung und damit die Anerkennung als Opfer im Sinne des Opferfürsorgegesetzes verneint, wobei den „Zigeunern“ ihre auch vor 1938 an die herrschenden gesellschaftlichen Normen und bürgerlichen Vorstellungen nicht angepaßte Lebensweise zum Problem wurde. Zahlreiche Roma und Sinti waren wegen ihres nomadisierenden Lebens wegen Vagabondage, manche auch wegen geringfügigerer Eigentumsdelikte vorbestraft. Aus diesen Gründen waren Sinti und Roma in der nationalsozialistischen Zeit vielfach als sogenannte „Asoziale“ inhaftiert gewesen, und die Opferfürsorgebehörden schlossen sich in solchen Fällen dem von den Nationalsozialisten angeführten Haftgrund an oder interpretierten diesen in die Verfolgung der Roma und Sinti zurück. Als „Asoziale“ verfolgt gewesene Menschen haben jedoch bis heute (Stand: 1993) in Österreich keinen Anspruch auf Leistungen nach dem Opferfürsorgegesetz.35 J. P. war von 1941 bis 1945 in Lackenbach inhaftiert gewesen und hatte sich dort ein Herzleiden, Rheumatismus und Erfrierungen zugezogen. Seine Anerkennung als Opfer nach dem Opferfürsorgegesetz wurde von der Bezirkshauptmannschaft Oberwart jedoch 60 Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 Brigitte Bailer-Galanda abgelehnt, „da der Beschwerdeführer bereits vor der Verschickung in ein Konzentrationslager (sic!) wegen Eigentumsdelikten und Vagabundage vorbestraft gewesen sei, weshalb angenommen werden müsse, daß die Inhaftierung nicht auf Grund der Abstammung allein erfolgte“.36 J. P. betrieb nach dieser Ablehnung die Tilgung seiner Vorstrafen und stellte danach einen neuerlichen Antrag auf Ausstellung eines Opferausweises, der jedoch abermals zurückgewiesen wurde, da seine seinerzeitige Ablehnung nicht wegen der damals noch ungetilgten Vorstrafen erfolgt sei: „Es sei im Bescheid lediglich davon gesprochen worden, daß die Anhaltung des Berufungswerbers in Lackenbach im Hinblick auf seine Vorstrafen wegen Asozialität und nicht aus Abstammungsgründen erfolgt sein dürfte.“ 37 Der Verwaltungsgerichtshof schloß sich dieser Auffassung an und wiederholte die Argumentation der burgenländischen Behörden: „Auf diese Vorstrafen ist nur bei der Frage bedacht genommen worden, ob der Beschwerdeführer in der nationalsozialistischen Zeit aus rassischen Gründen oder aus Gründen seiner ‚asozialen Einstellung‘ in das Lager Lackenbach gebracht wurde. In Bezug auf diese Frage spielt die Tilgung der Strafen naturgemäß keine Rolle, weil es diesfalls auf die Verhältnisse in der nationalsozialistischen Zeit ankommt.“ 38 In einem anderen Fall hob der Verwaltungsgerichtshof einen Bescheid des Landeshauptmanns von Wien auf, worin die Wiener Behörden festgestellt hatten, auf Grund des Erlasses des Reichsführers SS aus dem Jahre 1939 seien nur asoziale Zigeuner verhaftet und deportiert worden. Die allgemeine Deportation von Zigeunern habe erst 1942 begonnen, so daß vorher keine zwingenden Gründe für ein Leben im Verborgenen gegeben gewesen seien und der Antrag (U-Boot Juni 1939 bis Juni 1942) habe abgewiesen werden müssen.39 Versuche einzelner Sinti und Roma, über die Geltendmachung einer Einkommensminderung einen Opferausweis zu erhalten, scheiterten an deren schlechten Einkommensverhältnissen vor der Verfolgung beziehungsweise an deren Ausnützung als billige, nicht der Sozialversicherung gemeldete Aushilfsarbeitskräfte. Frau A. H. aus Oberpullendorf beispielsweise war 1934 bis 1938 als Hilfskraft in einer Gastwirtschaft beschäftigt, verlor diesen Arbeitsplatz wegen „ihrer Zugehörigkeit zur Zigeunerrasse“.40 In der Folge wurde sie zu keinem geregelten Arbeitsverhältnis mehr zugelassen „und habe daher durch mehr als sechs Jahre aus Gründen der Abstammung einen völligen Einkommensverlust erlitten.“ 41 Trotz anderslautender Aussagen anderer Angestellter der Gastwirtschaft schenkten die Behörden den Angaben des Gastwirtes und dessen Gattin Glauben, die angaben, A. H. sei bei ihnen nur fallweise beschäftigt gewesen und das erst ab 1936, weshalb er sie nicht zur Sozialversicherung angemeldet haben. Die Möglichkeit, daß der ehemalige Arbeitgeber der A. H. sich mit diesen Angaben mögliche nachträgliche Schwierigkeiten mit der Sozialversicherung habe ersparen wollen, zogen weder die Behörde noch der Verwaltungsgerichtshof in Erwägung. Die Aussage angesehener Bürger wog vor dem Gericht einfach schwerer als die kleiner Angestellter oder gar einer „Zigeunerin“. Hier kam vermutlich zusätzlich der auch heute bekannte Umstand zum Tragen, daß Menschen aus niedrigen sozialen Schichten schwerer zu ihrem Recht kommen können als wohlhabende oder gebildete – ein Problem, das wohl sehr viele der Roma und Sinti bis heute betrifft. Auch zwangssterilisierte Roma und Sinti fanden keine Anerkennung ihres erlittenen Gesundheitsschadens. So stellte ein Wiener Amtsarzt fest: „Der somatische Schaden, der durch die Zwangssterilisation hervorgerufen wurde, ist geringfügig. Nach den Kriegsversehrtenstufen bedingt ja sogar der Verlust beider Hoden erst die Einstufung in die Versehrtenstufe II. Immerhin ist der soziale bzw. moralische Schaden für jemanden, der Wert darauf legt, eine Familie zu gründen, ein derartiger, daß er für die Zwecke der Erlangung des Opferausweises wohl der Versehrtenstufe III gleichgehalten werden könne. Doch muß von vornherein der Bewerber darauf aufmerksam gemacht werden, daß Opferrentenansprüche daraus sich bei der derzeitigen Gesetzeslage schwer ableiten ließen.“ 42 Der Betroffene J. H. erhielt einen Opferausweis, sein Antrag auf Ausstellung einer Amtsbescheinigung wurde jedoch vom Bundesministerium für soziale Verwaltung abgelehnt.43 Die aus einer zwangsweisen Unfruchtbarmachung für Roma und Sinti resultierenden schwerwiegenden sozialen und psychischen Probleme berücksichtigten die amtsärztlichen Gutachten nicht. Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 61 Die noch ausstehende Entschädigung Beinahe vergessene Opfer – Roma und Sinti Insgesamt konnte nur ein Bruchteil der rund 11.000 verfolgten Roma und Sinti Anerkennung als Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung finden. Laut Burggasser betrug die Zahl der anerkannten Roma in Österreich nicht einmal ganz 1000 Personen! 44 Angst und Scheu der Betroffenen vor der Konfrontation mit den Behörden haben dazu ebenso beigetragen wie Kontinuität von Vorurteilen und die daraus resultierende, ablehnende Haltung der Behördenvertreter selbst. Aus: Brigitte Bailer-Galanda: Wiedergutmachung kein Thema. Löcker Verlag, Wien 1993, S. 177-184. 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 In diesem Zusammenhang muß auf die verdienstvolle Pionierarbeit durch Dr. Selma Steinmetz verwiesen werden, die wohl als erste in Österreich auf das Schicksal der Roma und Sinti in eigenen Arbeiten aufmerksam machte: Selma Steinmetz, Österreichs Zigeuner im NS-Staat, Wien 1966; dies., Die Zigeuner, in: Widerstand und Verfolgung im Burgenland 1934-1945, hsg. v. Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, Wien 1979, S 244ff. Seit Beginn der achtziger Jahre widmet sich vor allem Erika Thurner dieser Thematik: Erika Thurner, Nationalsozialismus und Zigeuner in Österreich, Salzburg 1983; dies., Kurzgeschichte des nationalsozialistischen Zigeunerlagers in Lackenbach (1940-1945), Eisenstadt 1984. Weiters erschienen einige Diplom- und Hausarbeiten zu diesem Thema: Claudia Mayerhofer, Die Zigeuner im Burgenland, Hausarbeit, Universität Wien 1977; Herbert Michael Burggasser, Österreichs Zigeuner – Schwerpunkt 1938 bis 1980. Ein Minderheitenproblem, Hausarbeit Universität Wien 1980/81. Der Begriff „Zigeuner“ wurde den Roma und Sinti von außen zugeschrieben und wird vielfach in negativer Konnotierung verwendet. Das Wort „Roma“ heißt einfach „Mensch“. In Österreich leben hauptsächlich die Stämme der Roma und Sinti. Steinmetz, Die Zigeuner, a. a. O., S. 249f. Thurner, Nationalsozialismus und Zigeuner in Österreich, a. a. O., S. 215ff. Die Situation ist in der BRD keineswegs besser: Christiane Pross, Wiedergutmachung. Der Kleinkrieg gegen die Opfer, Frankfurt/Main 1988, S 273f.; Helga und Hermann Fischer-Hübner (Hrsg.), Die Kehrseite der „Wiedergutmachung“, Gerlingen 1990, S 163. Erika Thurner, Nationalsozialismus und Zigeuner in Österreich, a. a. O., S. 20. Zur Geschichte des Lagers Maxglan siehe: Erika Thurner, Die Verfolgung der Zigeuner, in: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hsg.), Salzburg 1991, Bd. 2, S 474-521, bes. 498ff.; Barbara Rieger, „Zigeunerleben“ in Salzburg 1930-1943. Die regionale Zigeunerverfolgung als Vorstufe zur planmäßigen Vernichtung in Auschwitz, unveröffentlichte Diplomarbeit an der geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien, Wien 1990. Vgl. „Unser einziger Weg ist Arbeit“. Das Ghetto in Lodz 19401944, eine Ausstellung des Jüdischen Museums Frankfurt am Main, Wien 1990, S 186f. Vgl. Auschwitz, Geschichte und Wirklichkeit des Vernichtungslagers, o. Hsg., Reinbek 1980, S 133. DÖW Akt Nr. 11. 293. Die ersten Eintragungen ins „Lagertagebuch“ erfolgten erst im Jänner 1941. Steinmetz, Die Zigeuner, a. a.a O., S. 247. a. a. O. Vgl. dazu DÖW Akt Nr. 9626. Steinmetz, a. a. O., S 248. Thurner, Nationalsozialismus, a. a. O., S. 220. Rundschreiben des Bundesministeriums für Inneres, Generaldirektion für die öffentliche Sicherheit. Schreiben betreffend Zigeunerunwesen an alle Sicherheitsdirektionen und alle Bundespolizeibehörden, Zl. 84.426-4/48. Zitiert nach Thurner, a. a. O., Anhang XXVIII. Denkschrift von Dr. Tobias Portschy betreffend die Zigeunerfrage, August 1938, zitiert nach: Widerstand und Verfolgung im Burgenland, a. a. O., S. 257. Abschrift des Erkenntnisses der Rückstellungskommission beim 62 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien vom 16. 6. 195, Zl. 63 Rk 1269/49. DÖW Akt Nr. 82. Der neue Mahnruf, Nr. 4, April 1953. Der neue Mahnruf. Nr. 7/8, Juli/August 1957. Das Opferfürsorgegesetz in seiner derzeitigen Fassung und sonstige Vorschriften des Fürsorgerechts für die Opfer des Kampfes für ein freies, demokratisches Österreich und die Opfer der politischen Verfolgung unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, erläutert von Dr. Burkhart Birkti, Sektionsrat im Bundesministerium für soziale Verwaltung, Wien 1958, S. 14, S. 215f. Niederschrift ehemaliger Häftlinge des Lagers Lackenbach vom 30. 11. 1952, undatierter Vermerk des KZ-Verbandes „Lager Lackenbach“. DÖW Akt Nr. 82. Referiert im Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 28. 1. 1954, Zl. 3001/52-6. Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes, a. a. O. Der Bescheid des BM für soziale Verwaltung wurde wohl gegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben, da die Behörde keine Erhebungen über die tatsächlichen Zustände im Lager gepflogen hatte. Zitiert nach: Widerstand und Verfolgung im Burgenland, a. a. O., S. 256. Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofs vom 27. 1. 1958, Zl. 2060/55-3. a. a. O. Vgl. DÖW Akt Nr. 82. a. a. O. Ähnliche Probleme gab es auch bei der Anerkennung des Lagers Maxglan. Im Zuge eines Entschädigungsverfahrens in der Bundesrepublik Deutschland wurden die Antragsteller – ehemalige Insassen des Lagers Maxglan – infolge beschönigender österreichischer Darstellungen sogar wegen Meineids angeklagt. Im Zuge des Meineidsverfahrens stellte sich jedoch die Richtigkeit der Angaben der ehemaligen Häftlinge heraus. Vgl. dazu Rieger, a. a. O., S. 97-99. Vgl. dazu auch das spätere Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofs vom 9. 6. 1964 zu zehn Beschwerden ehemaliger Insassen von Lackenbach, Zl. 2340 bis 2349/63. Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofs vom 17. 4. 1958, Zl. 1273/57-4. BGBl. Nr. 197/1988, in Kraft ab 1. 5. 1988. BGBl. Nr. 93/1975 vom 23. 1. 1975. Siehe dazu das Kapitel III. 5. c) in: Brigitte Bailer, Man nannte sie „asozial“, Wiedergutmachung kein Thema, Wien 1993, S. S 193197. Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofs vom 25. 3. 1954, Zl. 825/53-2. a. a. O. a. a. O. Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofs vom 18.5.1966, Zl. 39/65-4. Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofs vom 20.9.1966, Zl. 1703/64-6. a. a. O. DÖW Akt Nr. 20 000/h 568. Zur Problematik der Sterilisierungen siehe das Kapitel „Die Opfer der nationalsozialistischen Erbgesundheitspolitik“. Herbert Michael Burggasser, Österreichs Zigeuner – Schwerpunkt 1938 bis 1980. Hausarbeit, Universität Wien 1980/81, S. 85. Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 VERTRIEBEN UND NICHT ZURÜCKGEKEHRT 1 BRIGITTE BAILER-GALANDA Auch die Gruppe der jüdischen Vertriebenen zählt zu den „vergessenen Opfern“. Weder bemühte sich die Republik, die Vertriebenen nach Österreich zurückzuholen und sie willkommen zu heißen noch wurden sie in der ➤ Opferfürsorgegesetzgebung angemessen berücksichtigt. Den Wenigen, die nach 1945 nach Österreich zurückkehrten, wurde vielmehr vorgeworfen, während des Krieges im Ausland „gut gelebt“ zu haben. Die (Nicht-) Berücksichtigung dieser Gruppe im Opferfürsorgegesetz wird in mehreren Texten des vorliegenden Bandes behandelt. An dieser Stelle soll geschildert werden, welche Folgen Vertreibung und Exil tatsächlich für die Betroffenen hatten. Für eine ausführlichere Darstellung verweisen wir auf die Bücher „Wiedergutmachung kein Thema“ von Brigitte Bailer-Galanda sowie „Neubeginn ohne Illusionen. Juden in Österreich nach 1945“ von Helga Embacher (Wien 1995). Die Mehrheit der 1938/39 aus Österreich geflüchteten bzw. vertriebenen Menschen kehrte auch nach Kriegsende nicht mehr in die Heimat zurück, andere wieder konnten Verfolgung und Konzentrationslager überleben – oft als einzige ihrer Familie –, verließen jedoch nach der Befreiung Österreich oder kehrten gar nicht mehr hierher zurück. Den im Ausland lebenden Opfern wurden und werden in Österreich besonders massive Vorurteile entgegengebracht. Einerseits ließ man sie fühlen, daß ihre Rückkehr nicht eben erwünscht wäre, andererseits machte man ihnen im selben Atemzuge zum Vorwurf, daß sie eben nicht zurückgekehrt seien, ihre Heimat quasi im Stich gelassen hätten. Diese Argumentationslinie trat besonders deutlich in den fünfziger Jahren hervor, als das ➤ „Committee for Jewish Claims on Austria“ seine Verhandlungen um „Wiedergutmachung“ für diesen Personenkreis aufnahm und sich erste positive Verhandlungsergebnisse abzeichneten. Die in Österreich lebenden Opfer, die zu diesem Zeitpunkt gleichfalls noch keine Entschädigung2 erhalten hatten, beobachteten den Fortgang der Kontakte der Bundesregierung mit dem „Claims Committee“ mit Mißtrauen. So schrieb das Organ der „ÖVP-Kameradschaft“ 1955: „Allerdings können wir uns des Eindrucks nicht erwehren, daß hier mancher gar nicht mehr die Absicht hatte, österreichischen Boden zu betreten, seine Volksverbundenheit (!) also sehr problematisch war, und trotzdem fordert er heute von Österreich Wiedergutmachung. Wir können und wollen nun an der Tatsache der Wiedergutmachung für die Ausländer nichts geändert haben. Wir wollen aber und verlangen kategorisch, daß die in Österreich Befindlichen und durch die Wiedergutmachungsgesetzgebung noch nicht Erfaßten, nunmehr endlich auch zu einer Abfertigung bzw. Versorgung kommen.“ 3 Diese Vorurteile gehen gänzlich an der subjektiven, aber auch objektiven Situation der Nicht-Rückkehrer vorbei. Viele von ihnen sind auf sehr irrationale Weise nach wie vor an Österreich gebunden, können jedoch nicht verwinden, was ihnen und ihrer Familie hier nach dem März 1938 angetan wurde: Sie fürchten den in Österreich nach wie vor vorhandenen Antisemitismus, sie ertragen die mit Österreich verbundenen Erinnerungen nur schwer. Trotzdem bleibt bei vielen dieser Menschen ein Gefühl der Entwurzelung, das eine ehemalige Österreicherin, die seit Jahrzehnten in den USA lebt, so beschrieb: „Ich bin heute eine Frau ohne Heimat.“ 4 Andere wieder treibt eine unbestimmte Sehnsucht regelmäßig nach Wien zurück, das sie jedoch wenige Wochen später ernüchtert wieder verlassen – bis zum nächsten Mal.5 Eine als Jugendliche in das damalige Palästina geflüchtete Wienerin, die heute mit ihrem Gatten nach wie vor in Israel lebt, erklärte der Verfasserin weinend: Es sei schrecklich, in Wien sei alles vertraut, hier sei sie daheim, trotzdem könne sie hier nicht mehr leben. Diese Einzelschicksale werden auch von den mit Verfolgten befaßten Psychiatern und Psychotherapeuten bestätigt. So wie viele der Überlebenden des Holocaust leiden auch so manche der Nicht-Zurückgekehrten an „Überlebensschuld“, also unklaren Schuldgefühlen, vielleicht doch nicht alles versucht zu haben, Familienmitgliedern oder Freunden zur Flucht ins rettende Ausland zu helfen, oft auch ausgedrückt in der peinigenden Frage „Wieso Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 63 Vertrieben und nicht zurückgekehrt habe ich überlebt und die anderen nicht?“ Besonders „entwurzelte Verfolgte leiden unter ihrer unbefriedigenden Anpassung an die neue Umgebung, an ihrem niedrigen Sozialstatus und Lebensstandard, der an sich sogar höher sein kann als im Ursprungsland. Sie ziehen sich von ihrer Umgebung zurück, sind schlaflos, träumen von der Verfolgung und den getöteten Angehörigen, entwickeln eine Menge von psychosomatischen Beschwerden. (...) In einigen Fällen ist die reaktive Depression besonders gefärbt durch Schuldgefühle, die sich zwanghaft an bestimmte Erinnerungen aus der Verfolgungszeit knüpfen, z. B. an den Gedanken, für den Tod von Angehörigen verantwortlich zu sein.“ 6 Der deutsche Privatdozent Ulrich Venzlaff stellt fest: „Für die meisten bedeutete das Erlebnis jahrelanger Ächtung und Verfolgung oder der Entwurzelung durch Emigration eine einschneidende Kontinuitätsunterbrechung der Lebenslinie, einen nachhaltigen Bruch des seelischen Ordnungsgefüges.“ 7 Der bekannte US-Psychiater William G. Niederland berichtet über die Situation der Vertriebenen: „Wem trotz haarsträubender Schwierigkeiten die Beschaffung der erforderlichen Dokumente und die Flucht ins Ausland gelang, dem wurde die Beziehungslosigkeit zur sprach-, kultur- und wesensfremden Umgebung zu einer neuen seelischen Belastung. Langwährende Entwurzelungsdepressionen stellten sich ein, in deren Gefolge nicht wenige Selbstmord begingen. Viele andere kämpften Jahre hindurch mit Umstellungsdepressionen, die ihr Fußfassen in der fremden Umwelt weiter erschwerten und nicht selten die Gründung einer neuen Lebensexistenz unmöglich machten. Der soziale Abstieg, die Trennung von den Angehörigen, die Zerreißung enger Familienbande, das Gefühl der Heimatlosigkeit, die enormen Anpassungsschwierigkeiten innerer und äußerer Art, die keineswegs seltene Notwendigkeit, erstmals im Leben Wohlfahrtseinrichtungen in Anspruch zu nehmen und Almosenempfänger zu werden, schließlich das zunehmende Durchsickern von Nachrichten über Nazigreuel und den Verfolgungstod zurückgelassener naher Verwandter und Freunde – all dies verstärkte die Depressionen und Ängste in so erheblichem Maße, daß sich bei vielen der Ausgewanderten ernste Krankheitszustände seelischer und psychosomatischer (d. h. leibseelischer) Natur und Herkunft zu entwickeln begannen.“ 8 Die oft erst im Pensionsalter auftretenden seelischen Leiden der Überlebenden und Vertriebenen führten in Israel zur Gründung einer eigenen Institution „AMCHA“, die sich um therapeutische Hilfe für diese Menschen bemüht. 9 Der durch die erzwungene Flucht oder „Auswanderung“ bedingte „Knick in der Lebenslinie“ 10 zieht die Folgen bis in die Gegenwart nach sich. Aus: Brigitte Bailer-Galanda: Wiedergutmachung kein Thema, Löcker Verlag, Wien 1993, S. 157ff 1 2 3 4 5 Zu den sozialversicherungsrechtlichen Problemen der Vertriebenen siehe das Kapitel „Sozialversicherungsrechtliche Probleme“, in: Brigitte Bailer-Galanda, Wiedergutmachung kein Thema, Wien 1993, S. 239-245. Mit Ausnahme der Haftentschädigung 1952. Der Freiheitskämpfer, Nr. 121, November 1952. Interview mit Frau M. S. DÖW-Projekt „Erzählte Geschichte“, Interviewabschrift Nr. 323. In diesem, aber auch in einer Reihe anderer Interviews kommt dieser Konflikt der Nicht-Rückkehrer zwischen emotionaler Bindung an die Heimat und Ängsten angesichts erlittene Traumata deutlich zum Ausdruck. Vgl. dazu: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hrsg.), Jüdische Schicksale, a. a. O., Kapitel „Leben nach dem Holocaust“. Kapitel „Leben nach dem Holocaust“, a. a. O. 64 6 7 8 9 10 Vgl. Walter Ritter von Baeyer, Heinz Zäfner, Karl Peter Kisker, Psychiatrie der Verfolgten. Psychopathologische und gutachtliche Erfahrungen an Opfern der nationalsozialistischen Verfolgung und vergleichbaren Extrembelastungen, Berlin-Göttingen-Heidelberg 1964, S. 88. Zitiert nach:; William G. Niederland, Folgen der Verfolgung: Das Überlebenden-Syndrom Seelenmord, Frankfurt/M. 1980, S. 203. Niederland, a. a. O., S. 16. Vgl. die von Trautl Brandstaller gestaltete Dokumentation „Es vergißt sich nicht.“ Überlebende des Holocaust berichten, ORF 1990. AMCHA hat auch ein Komitee in Österreich, 1080 Wien, Lange Gasse 64/2/15. Helga und Hermann Fischer-Hübner (Hrsg.), Die Kehrseite der „Wiedergutmachung“. Das Leiden von NS-Verfolgten in den Entschädigungsverfahren, Gerlingen 1990. Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 ZUM UMGANG MIT DEN OPFERN DER NS-RASSENHYGIENE NACH 1945 1 WOLFGANG NEUGEBAUER Rassenhygiene – Zwangssterilisierung – Euthanasie Nach den Rassenlehren der Nationalsozialisten waren nicht nur Juden, Roma und Sinti („Zigeuner“) sowie andere „rassisch“ oder ethnisch bestimmte Minderheiten „minderwertig“ und letztlich „lebensunwert“; im Interesse der Höherentwicklung der eigenen „Rasse“ sollten auch die „Minderwertigen“ des eigenen Volkes „ausgemerzt“ werden. Die Theorien des Naturwissenschaftlers Charles Darwin vom Kampf ums Dasein und von der natürlichen Auslese, vom Durchsetzen des Stärkeren (Anpassungsfähigeren) gegen den Schwächeren wurden von Rassentheoretikern vom Tierreich auf die menschliche Gesellschaft übertragen. Dieser „Sozialdarwinismus“ wurde zu einem Hauptinhalt der nationalsozialistischen Weltanschauung und nach der Machtergreifung 1933 mit barbarischer Konsequenz in die Wirklichkeit umgesetzt. Für „unnütze Esser“ oder „Ballastexistenzen“ wie geistig oder körperlich Behinderte war im nationalsozialistischen Deutschland, das auch das menschliche Leben einer erbarmungslosen Kosten-Nutzen-Rechnung unterwarf, kein Platz. Die „Minderwertigen“ sollten entweder durch Verhinderung der Fortpflanzung oder durch physische Vernichtung ausgeschaltet werden. Die erste systematisch geplante und durchgeführte Massenmordaktion des NS-Regimes richtete sich gegen die geistig und körperlich behinderten Menschen.2 Schon zu Beginn ihrer Herrschaft hatten die Nationalsozialisten mit dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. 7. 1933 als erste „rassenhygienische“ Maßnahme die Zwangssterilisierung der „Erbkranken“ (Schwachsinn, Schizophrenie, manischdepressives Irresein, Fallsucht, Veitstanz, Blindheit, Taubheit, schwere körperliche Mißbildungen, schwerer Alkoholismus) eingeführt, und nach Pseudoverfahren vor „Erbgesundheitsgerichten“ wurden an die 400.000 Menschen zwangsweise unfruchtbar gemacht. Mehr als 1 % der Betroffenen, mindestens 5000, davon 90 % Frauen, starben an den Folgen der Operation, die von den NS-Gesundheitsbehörden als harmloser Eingriff hingestellt wurde.3 In Österreich, wo das Gesetz am 1. 1. 1940 in Kraft trat, wurden etwa 5000 Menschen zwangssterilisiert.4 Daß der Übergang von der „rassenbiologisch“ langfristig wirksam werdenden Zwangssterilisierung zur Ermordung im Jahr des Kriegsausbruchs 1939 erfolgte, war kein Zufall. Mit der Eliminierung der geistig und körperlich Behinderten sollte der in den Augen der Nazis vor sich gehenden „negativen Auslese“ durch den Krieg – Tod oder Verstümmelung der Gesunden, Überleben der Kranken – entgegengewirkt werden. Unmittelbarer Anlaß für die Massenmordaktion war die Notwendigkeit, Lazarettraum zu schaffen, Spitalspersonal freizustellen, Nahrungsmittel, Medikamente u. dgl. einzusparen, also die sozialen Kosten zugunsten der Kriegswirtschaft zu reduzieren.5 So wurde etwa die der Stadt Wien gehörende Anstalt in Ybbs an der Donau nach dem Abtransport von über 2000 Patienten zur Vernichtung in ein militärisches Reservelazarett umgewandelt.6 Die Nationalsozialisten begannen die zu Unrecht ➤ „Euthanasie“ (griechisch: schöner Tod) oder „Gnadentod“ genannte Vernichtung des „lebensunwerten Lebens“ mit geistig und körperlich behinderten Kindern. Aufgrund eines Geheimerlasses des Reichsinnenministeriums vom 18. August 1939 mußten alle Hebammen und Ärzte solche Kinder bis zu drei (später: 17) Jahren den Gesundheitsämtern melden; nach einer (Pseudo-) „Begutachtung“ erfolgte – vielfach unter Täuschung der Eltern oder mit Zwang – die Einlieferung der ausgesuchten Kinder in eine „Kinderfachabteilung“. In der in der Anstalt ➤ „Am Steinhof“ untergebrachten Kinderklinik ➤ „Am Spiegelgrund“ wurden einige hundert Kinder mittels Gift, Injektion oder Aushungern von Ärzten und Pflegepersonal umgebracht. Einzelne „Kinderfachabteilungen“ hatten Forschungsabteilungen, wo klinische Versuche, diagnostische Experimente und anatomische Forschungen durchgeführt wurden. Solche Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 65 Realisierung sozialdarwinistischer Ideen Von der Zwangssterilisierung zur „Euthanasie” Die Kinderfachabteilung „Am Spiegelgrund” Zum Umgang mit den Opfern der NS-Rassenhygiene nach 1945 Die Ermordung Geisteskranker Die „Liquidierung“ sogenannter „Asozialer” der ärztlichen Ethik zutiefst widersprechenden Aktivitäten dürften auch am „Spiegelgrund“ stattgefunden haben. Kurze Zeit nach der Einführung der „Kindereuthanasie“ begann das NS-Regime aufgrund einer auf den 1. September 1939 rückdatierten „Ermächtigung“ des Führers Adolf Hitler, die keinerlei Gesetzeskraft oder Legalität hatte, mit der „Euthanasie“ der erwachsenen geistig und körperlich Behinderten. Im Rahmen dieser von der „Kanzlei des Führers“ organisierten Tötungsaktion (nach der Adresse Berlin, Tiergartenstraße 4 ➤ „T4“ genannt) wurde ein Großteil der Patienten der psychiatrischen Anstalten im Deutschen Reich in „Euthanasieanstalten“, u. a. nach Hartheim bei Eferding, abtransportiert und dort mit Giftgas getötet. Die Angehörigen der Opfer wurden mit verfälschten Briefen und Totenscheinen zu täuschen versucht. Vorher waren die Patienten von bezahlten „Gutachtern“, etwa 40-50, davon zwei aus Wien (Dr. Erwin Jekelius und Dr. Hans Bertha), im Wege einer Fragebogenauswertung für die „Euthanasie“ ausgewählt worden. Im Zuge der Aktion „T4“ wurden ca. 18.000 Insassen österreichischer Anstalten nach ➤ Hartheim abtransportiert. Darunter waren auch Pfleglinge kleinerer Anstalten und – über den Kreis der psychisch Kranken weit hinaus – Insassen von Pflegeheimen und Altersheimen einbezogen. Mit Hitlers Befehl zum Abbruch der Aktion „T4“ vom 24. August 1941 kam die NSEuthanasie jedoch keineswegs vollständig zum Erliegen. Die Kindereuthanasie wurde weitergeführt, und in den Euthanasie-Anstalten wurden Häftlinge aus den Konzentrationslagern vergast (Aktion 14f13). Als einzige Euthanasie-Anstalt blieb Hartheim, bis Dezember 1944, weiter in Betrieb, unter anderem wurden dort geisteskranke „Ostarbeiter“ vergast, die keine Leistung mehr erbringen konnten. In den einzelnen Anstalten wurde die Ermordung von Geisteskranken durch Verhungern, Vergiften u. ä. fortgesetzt; vielfach entsprang diese der Initiative von Gauleitungen, Anstaltsleitungen oder einzelnen Ärzten. Ob eine zentrale Anweisung für diese ungeregelten Mordaktionen vorlag, ist nicht klar. Viktor Brack, einer der Hauptverantwortlichen für die „Euthanasie“-Aktion in der „Kanzlei des Führers“, prägte dafür die Bezeichnung „wilde Euthanasie“. Aus wissenschaftlichen Untersuchungen geht hervor, daß seitens des Pflegepersonals zeitweise sogar mehr Patienten getötet wurden, als von oben angeordnet worden war. Der Gesichtspunkt der „Pflegeaufwendigkeit“ war dabei von entscheidender Bedeutung: Je mehr ein Patient die Pfleger in Anspruch nahm, desto größer war seine Aussicht auf Todesbeschleunigung. Verlegungstransporte zwischen einzelnen Anstalten dienten zur Verschleierung des raschen Sterbenlassens bzw. dessen Beschleunigung. Besonders gut dokumentiert ist das Schicksal der im August 1943 aus Hamburg nach „Steinhof“ gebrachten 228 Frauen und Mädchen, von denen 201 – meist nach beträchtlichen Gewichtsverlusten durch Hungern – umkamen. Zu den in Hartheim ermordeten 15.000 bis 18.000 ÖsterreicherInnen kommen also einige weitere tausend Patienten hinzu, die in den Anstalten selbst ums Leben gebracht wurden. Das heißt, daß die Größenordnung der österreichischen Euthanasieopfer bei mindestens 25.000 liegt. Die Absichten und Planungen der für die Gesundheits- und Sozialpolitik verantwortlichen NS-Funktionäre in Staat, Partei und SS gingen weit über „Erbkranke“, Geisteskranke und Behinderte hinaus; von den verbrecherischen Maßnahmen waren alle den Normen des NS-Regimes nicht entsprechenden Menschen bedroht, insbesondere alle jene, die keine Leistung für die „Volksgemeinschaft“ erbrachten oder erbringen konnten, die vom ökonomischen Standpunkt als „unnütze Esser“ angesehen wurden.7 Vor allem dem Chef des ➤ SD und der Sipo Reinhard ➤ Heydrich, neben ➤ Himmler Hauptorganisator des NS-Terrors, ging es um die „Ausmerzung“ aller den NS-Normen nicht entsprechenden sozialen Randgruppen und Minderheiten im deutschen Herrschaftsbereich. In seinem Auftrag wurde ein „Gemeinschaftsfremdengesetz“ ausgearbeitet, in dem Zwangssterilisierung und Schutzhaft für alle in den Augen der Nazis als „asozial“ Eingestufte vorgesehen waren. Die Liquidierung der „Gemeinschaftsfremden“, dazu wurden u. a. „Arbeitsscheue“ und „gewohnheits- 66 Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 Wolfgang Neugebauer mäßige Schmarotzer“, „Landesverräter“, „Rassenschänder“, „sexuell Hemmungslose“, Süchtige, Trinker, Prostituierte, Abtreiberinnen, Straffällige gezählt, nach damaligen statistischen Berechnungen etwa 2 % der Bevölkerung (1,6 Millionen Menschen), wurde hinsichtlich der Jüngeren im Wege der „Kindereuthanasie“, die bis zum 17. Lebensjahr erstreckt wurde, betrieben, zum größeren Teil erfolgte sie durch den ➤ SS- und Polizeiapparat, d. h. durch Inhaftierung in Konzentrationslagern und „Vernichtung durch Arbeit“.8 Allein im Reichsgau Groß-Wien wurden im Zuge der 1939 begonnenen „Erbbiologischen Bestandsaufnahme“ 700.000 Personen als „asozial“ in Karteien erfaßt. Daß diese Menschen als zukünftige Opfer nationalsozialistischer Rassenpolitik ins Auge gefaßt waren, liegt in der Logik des NS-Systems. Manche Forscher (G. Aly, K. H. Roth, K. Dörner, D. Peukert) nehmen an, daß eine Art „Endlösung der sozialen Frage“, also eine Ausrottung der gesamten, als „minderwertig“ angesehenen Unterschichten der Gesellschaft, geplant war. Den mörderischen Ausmerzungstendenzen wurde vor allem mit der Hinaufsetzung der Altersgrenze bei der „Kindereuthanasie“ von drei auf 17 Jahre Rechnung getragen, wodurch auch die Einbeziehung von verwahrlosten und schwer erziehbaren Kindern ermöglicht wurde. „In der Tötungspraxis des ‚Reichsausschusses‘ spielten die Kriterien ‚soziales Verhalten‘ und ‚allgemeine Lebensbewährung‘ von Anfang an eine entscheidende Rolle“, resümiert G. Aly. 9 Aus Schilderungen von Personen, die als Kinder oder Halbwüchsige den Aufenthalt in der Jugendfürsorgeanstalt „Am Spiegelgrund“ (Pavillons 17 und 18) überlebten,10 wissen wir, daß die Todesdrohung – ausgesprochen oder unausgesprochen – ständig im Raum stand. Zum einen gab es eine permanente Unterversorgung mit Nahrungsmitteln, die zu einer hohen Mortalitätsrate führte,11 zum anderen hing über jedem Patienten das Damoklesschwert der „Euthanasierung“ durch Vergiften oder Abspritzen, die offenbar auch als schärfste Strafe im Falle von Widersetzlichkeiten zur Anwendung kam. Die Ausgrenzung der Opfer Der Umgang mit der NS-Euthanasie und das Schicksal der Täter und Opfer nach 1945 sind eingebettet in die allgemeine gesellschaftliche und politische Entwicklung Nachkriegsösterreichs. In einer – freilich nur kurz währenden – antifaschistischen Periode 1945/46 wurden NS-Täter, darunter auch einige Verantwortliche der NS-Euthanasie, konsequent zur Verantwortung gezogen. Der antifaschistische Geist von 1945 flaute bald ab. In der Weltpolitik beendete der Kalte Krieg zwischen Ost und West die Anti-Hitler-Koalition, Antikommunismus trat anstelle des Antifaschismus. Die Nationalsozialisten, die sich ja immer schon als die Vorkämpfer gegen den Bolschewismus aufgespielt hatten, wurden wieder aufgewertet. Die Maßnahmen zur Entnazifizierung und Strafverfolgung waren nicht mehr politisch opportun. In Österreich setzte ein Wettlauf aller Parteien um die ehemaligen Nationalsozialisten ein, die als Wähler und Parteimitglieder gebraucht wurden. Bald standen diesen die Führungspositionen wieder offen. Mehr als 690 000 Österreicher gehörten der NSDAP an; 1,2 Millionen Österreicher dienten in der deutschen Wehrmacht. Diese sogenannte Kriegsgeneration war zahlenmäßig weitaus stärker als die Widerstandskämpfer und die überlebenden oder aus dem Exil zurückgekehrten NS-Opfer und dominierte daher Politik und Gesellschaft in Nachkriegsösterreich. Das offizielle Österreich wies im Sinne der „Opfertheorie“ von Anfang an und bis zu Beginn der neunziger Jahre jede Schuld oder Mitverantwortung für die NS-Verbrechen von sich und sah daher auch keine Verpflichtung zur „Wiedergutmachung“.12 Freiwillig habe es aber Österreich übernommen, für die Opfer des Kampfes für ein freies und demokratisches Österreich und der NS-Verfolgung (bzw. deren Angehörige oder Hinterbliebene) zu sorgen.13 Diesem Geist entsprang 1947 das ➤ „Opferfürsorgegesetz“ (OFG), wobei der Kreis der anspruchsberechtigten Befürsorgten sehr eng gezogen und erst nach langwierigen Bemühungen erweitert wurde. Dabei wurde (und wird) zwischen „Opfern des Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 67 „Wiedergutmachung“? Zum Umgang mit den Opfern der NS-Rassenhygiene nach 1945 Aussichtslose Anträge auf Opferfürsorge Kampfes um ein freies, demokratisches Österreich“ (§ 1, Abs.1), also Widerstandskämpfern, und „Opfern der politischen Verfolgung“ (§ 1, Abs. 2), das waren politisch, religiös, national oder rassisch Verfolgte, unterschieden, wobei letztere eindeutig schlechter gestellt wurden.14 Während für die Opfer der politischen und rassistischen Verfolgung sowohl in der Bundesrepublik Deutschland als auch in Österreich eine „Wiedergutmachung“ im Sinne einer bescheidenen finanziellen Abgeltung für Haftzeiten, wirtschaftliche Schäden, Gesundheitsschädigungen u. dgl. sowie einer Anerkennung von Rentenansprüchen u. a. erfolgte und damit auch eine gewisse politisch-moralische Anerkennung verbunden war, geschah für die Opfer der nazistischen Zwangssterilisierung und Euthanasie bis 1995 überhaupt nichts. Vom Gesetz war – zumindest nach Auffassung und in der Auslegung der zuständigen Behörden und Gerichte – nichts vorgesehen, und dennoch geltend gemachte Ansprüche wurden abgewiesen. Anerkennung und Entschädigung der Opfer der NS-Rassenhygiene standen nie zur Diskussion, da die Betroffenen bzw. deren Hinterbliebene keine Verbände wie die politisch und „rassisch“ Verfolgten hatten, die ihre Interessen dem Gesetzgeber und der Regierung gegenüber vertreten hätten. Gleiches gilt im übrigen auch für vom NS-Regime verfolgte Homosexuelle, sogenannte „Asoziale“ und Kriminelle, die in einer unserer Rechtsauffassung widersprechenden Weise hart bestraft wurden. Lediglich einzelne Opfer der NS-Zwangssterilisierung und -Euthanasie versuchten, trotz der nahezu aussichtslosen gesetzlichen Lage, Ansprüche bei den zuständigen Behörden vorzubringen. Das ➤ DÖW hat für das Bundesland Wien den Bestand der Opferfürsorgeakten in der ➤ Magistratsabteilung 12, in der Größenordnung von über 100.000 Akten, systematisch durchgearbeitet und darin etwa ein Dutzend Anträge von Sterilisierungs- und Euthanasieopfern (bzw. von deren Hinterbliebenen) gefunden. Diese Anträge wurden von den zuständigen Behörden, in erster Instanz der Landeshauptmann von Wien (MA 12), in zweiter Instanz das Sozialministerium, abgelehnt.15 So heißt es in einem Bescheid des Sozialministeriums vom 26. Mai 1961, in der die Berufung der zwangssterilisierten Ludmilla D. gegen den ablehnenden Bescheid des Landeshauptmannes von Wien zurückgewiesen wurde: „Eine als Folge der im Jahre 1943 durchgeführten Sterilisierung eingetretene Gesundheitsschädigung hätte nur dann einen Anspruch nach dem Opferfürsorgegesetz begründet, wenn im konkreten Fall für die Anordnung dieser Operation nicht medizinische, sondern politische Gründe maßgebend gewesen wären. Für eine solche Ausnahme konnten im vorliegenden Fall keine Anhaltspunkte gefunden werden, /…/. Auf Grund der Krankengeschichte der Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien ‚Am Steinhof’ ist vielmehr anzunehmen, daß die Unfruchtbarmachung ausschließlich wegen der unheilbaren Krankheit der Berufungswerberin erfolgte.“ 16 Im Lichte dieses Bescheides erscheint die nazistische Zwangssterilisierung nicht als eine konsequente Verwirklichung nationalsozialistischer rassenpolitischer und erbbiologischer Auffassungen, sondern als eine durchaus legale medizinische Maßnahme des damaligen Staates. Ein solches Verständnis steht freilich in eklatantem Widerspruch zu der im Zuge der Aufhebung nationalsozialistischer Vorschriften und Gesetze erfolgten Außerkrafttretung des ➤ „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ im Jahre 1945. In einem anderen Ablehnungsbescheid des Sozialministeriums vom 22. Dezember 1958 wurde ausgeführt: „Es ist unbestritten, daß die Berufungswerberin vor ihrer Sterilisation weder politisch tätig war noch ihrer Religion, Abstammung oder Nationalität wegen von den nationalsozialistischen Behörden verfolgt worden ist. Sie wurde vielmehr anläßlich einer Einlieferung in eine Heil- und Pflegeanstalt auf Grund der damals geltenden Bestimmungen zur Verhütung erbkranken Nachwuchses sterilisiert. Es handelt sich um keine Verfolgungsmaßnahme im Sinn der angeführten Gesetzesstelle, weshalb spruchgemäß zu entscheiden war.“ 17 Nach diesen Grundsätzen wurde in allen ähnlich gearteten Fällen negativ für die Sterilisierungsopfer entschieden. Schließlich wurde zumindest in einem Fall das Verfahren vor 68 Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 Wolfgang Neugebauer den Verwaltungsgerichtshof gebracht. In einem Erkenntnis vom 21. Jänner 1964 wurde die Beschwerde des zwangssterilisierten Johann W. gegen einen ablehnenden Bescheid des Sozialministeriums als unbegründet abgewiesen und der schon dargelegten Rechtsauffassung des Sozialministeriums Recht gegeben. Auch jüdische Euthanasieopfer wurden nicht als Opfer nationalsozialistischer Verfolgung anerkannt. So heißt es in einem Berufungsbescheid des Sozialministeriums vom 20. November 1958 im Falle eines angeblich 1940 ins ➤ „Generalgouvernement“ verlegten Patienten der Anstalt „Am Steinhof“: „Bei der Schwere der Erkrankung und der festgestellten Diagnose ‚Progressive Paralyse und cavernöse Phthise’ kann ungeachtet des Fehlens einer Krankengeschichte und damit von Aufzeichnungen über das Fortschreiten der Krankheit nicht von einem Beweis in der Richtung gesprochen werden, daß der Tod des Opfers aus einer anderen Ursache als in dem schicksalsmäßigen Ablauf der festgestellten Leiden erfolgte.“ 18 In diesem Fall wurden die Lügengespinste des nazistischen Euthanasieapparates, der eine Verlegung in das „Generalgouvernement“ vorgaukelte, für bare Münze genommen. Zu diesem Zeitpunkt gab es – wie ein Blick in die Fachliteratur gezeigt hätte – keine Judendeportationen, wohl aber Abtransporte von Geisteskranken. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit war der Betreffende in der Euthanasieanstalt Hartheim vergast worden. Aus diesen behördlichen und gerichtlichen Verfahren spricht ein völliges Unverständnis für eine ganze Gruppe von Opfern des Nationalsozialismus. Bei einer strengen Auslegung des damaligen Opferfürsorgegesetzes mag die Nichtberücksichtigung der Euthanasie- und Sterilisierungsopfer vielleicht juristisch richtig gewesen sein. Man hätte jedoch bei einigem guten Willen auch juristische Interpretationen finden können, die eine Einbeziehung dieser Opfer ermöglicht hätten. Späte Anerkennung Mit dem wachsenden Abstand von 1945 verlor die Kriegsgeneration aus biologischen Gründen an Bedeutung; für die nachwachsenden Generationen war die NS-Zeit kein Tabu mehr, sie wurden seit den siebziger Jahren in Schulen und Universitäten im Rahmen der Zeitgeschichte und Politischen Bildung mit NS-Verbrechen, mit NS-Opfern und -Gegnern konfrontiert. Nicht zuletzt hat auch die internationale Kontroverse um die Kriegsvergangenheit von Kurt Waldheim in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre in Österreich tiefgreifende Diskussionen und letztlich Veränderungen des historisch-politischen Bewußtseins herbeigeführt. Die Opfertheorie konnte nicht mehr aufrechterhalten werden; immer mehr setzte sich die Erkenntnis der Mitverantwortung der Österreicher für den Nationalsozialismus und dessen Verbrechen durch. Der offizielle Durchbruch erfolgte durch die von Bundeskanzler Vranitzky namens der Bundesregierung im Juni 1991 im Nationalrat abgegebene Erklärung. Diese Veränderungen im politisch-gesellschaftlichen Klima kamen letztlich auch den NSOpfern zugute. Als ich im Zuge eines Referates für ein Symposium der Österreichischen Gesellschaft für Sozialanthropologie über Zwangssterilisierungen 1986 feststellen mußte, daß die Zwangssterilisierten und Euthanasieopfer nicht als NS-Opfer anerkannt werden,19 habe ich mich in der Folge mehrmals und vergeblich an das Sozialministerium, an den Bundeskanzler und an die Parlamentsklubs mit dem Ersuchen um Änderung dieses unhaltbaren Standpunktes gewandt und 1992 auch einen Vorschlag für eine Novellierung des Opferfürsorgegesetzes vorgelegt. Das Sozialministerium und leider auch die Verbände der NS-Opfer lehnten eine gesetzliche Änderung ab und verwiesen auf den Gnadenweg.20 Nach der Vranitzky-Erklärung von 1991 über die Mittäterschaft der Österreicher mußten im Bereich der NS-Opfer auch Taten folgen: 1995 wurde einstimmig im Nationalrat das Verfassungsgesetz über den ➤ Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus beschlossen, das erstmals auch die Opfer der rassenhygienischen Maßnahmen des NS-Regimes anerkannte. Nahezu zeitgleich wurde im Zuge einer Novellierung des Opferfürsorgegesetzes Behinderung als Verfolgungsgrund in das Gesetz auf- Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 69 Ein Wandel im historischpolitischen Bewußtsein? Nationalfonds/ Erweiterung des Opferfürsorgegesetzes 1995 Zum Umgang mit den Opfern der NS-Rassenhygiene nach 1945 genommen.21 Doch auch danach wurden noch immer nicht alle Opfer des Nationalsozialismus als solche akzeptiert. Alois Kaufmann, der wie viele andere in der NS-Zeit als Kind am „Spiegelgrund“ unter menschenunwürdigen Verhältnissen interniert war und dessen Stigmatisierung als „Asozialer“ auch nach 1945 noch weiterwirkte, wurde zwar vom Nationalfonds als NS-Opfer anerkannt, von der Opferfürsorge blieb er weiter ausgeschlossen. Erst infolge der internationalen Diskussion über die NS-Medizin in Österreich und den Fall Gross ,22 die eine Bereinigung der österreichischen „Altlasten“ der Vergangenheitsbewältigung nötig machte, kamen die Kinder vom „Spiegelgrund“ zu ihrem Recht: Alois Kaufmann und andere wurden von der Opferfürsorgebehörde als NS-Opfer anerkannt.23 Bei den Homosexuellen konnte sich die Republik Österreich bis heute nicht zu diesem Schritt durchringen. 1 2 3 4 5 6 7 8 9 Für Informationen und Beratung bin ich meiner Kollegin Mag. Dr. Brigitte Bailer dankbar; siehe zur Thematik grundlegend: Brigitte BAILER, Wiedergutmachung kein Thema. Österreich und die Opfer des Nationalsozialismus, Wien 1993; weiters: dies., Die Opfergruppen und deren Entschädigung. Referat bei der Enquete des Grünen Klubs im Parlament, 13. 6. 1997 (siehe nächstes Kapitel); Claudia Andrea SPRING, Verdrängte Überlebende. NS-Zwangssterilisationen und die legistische, medizinische und gesellschaftliche Ausgrenzung von zwangssterilisierten Menschen in der Zweiten Republik, Dipl. Arb. Universität Wien, 1999; nicht mehr auf dem aktuellen Stand: Wolfgang NEUGEBAUER, Das Opferfürsorgegesetz und die Sterilisationsopfer in Österreich, in: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hg.), Jahrbuch 1989, S. 144-150. Vgl. dazu u. a.: Hans-Walter SCHMUHL, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Von der Verhütung zur Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ 1890-1945, Göttingen 1987 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 75). Vgl. Gisela BOCK, Zwangssterilisation im Nationalsozialismus. Studien zur Rassenpolitik und Frauenpolitik, Opladen 1986 (Schriften des Zentralinstituts für sozialwissenschaftliche Forschung der Freien Universität Berlin, Bd. 48). Horst SEIDLER, The Viennese Reichserbgesundheitsgericht, Wien o. J., 7; Wolfgang NEUGEBAUER, Zwangssterilisierung und „Euthanasie“ in Österreich 1940-1945, in: Zeitgeschichte, 1/2 (1992), 17 ff. Vgl. dazu u. a.: Gerhard BAADER, Die „Euthanasie“ im Dritten Reich, in: Gerhard BAADER/Ulrich SCHULZ (Hg.), Medizin und Nationalsozialismus. Tabuisierte Vergangenheit – Ungebrochene Tradition? , 3. Aufl., Frankfurt (Main) 1987. Wolfgang NEUGEBAUER, Von der Rassenhygiene zum Massenmord, in: Wien 1938, Wien 1988, 279. Siehe dazu u. a.: Wolfgang AYASS, „Asoziale“ im Nationalsozialismus, Stuttgart 1995; Hans-Uwe OTTO/Heinz SÜNKER (Hg.), Soziale Arbeit und Faschismus, Frankfurt am Main 1989; Klaus SCHERER, „Asozial“ im Dritten Reich. Die vergessenen Verfolgten, Münster 1990. Siehe dazu ausführlich: Karl-Heinz ROTH (Hg.), Erfassung zur Vernichtung. Von der Sozialhygiene zum „Gesetz über Sterbehilfe“, Berlin 1984. Götz ALY, Medizin gegen Unbrauchbare, in: Aussonderung und 70 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 Tod. Die klinische Hinrichtung der Unbrauchbaren, Berlin 1985, 37. Siehe dazu: Alois KAUFMANN, Spiegelgrund Pavillon 18. Ein Kind im NS-Erziehungsheim, Wien 1993; DÖW E 17 792, Aktenvermerk von Rechtsanwalt Dr. Johannes Patzak über sein Gespräch mit Friedrich Zawrel in der Strafvollzugsanstalt Stein, 24. 4. 1979. Ausführlich dokumentiert bei: Michael WUNDER/Ingrid GENKEL/ Harald JENNER, Auf dieser schiefen Ebene gibt es kein Halten mehr: Die Alsterdorfer Anstalten im Nationalsozialismus, Hamburg 1987, 225 ff. Zur Problematik des Begriffs „Wiedergutmachung“ siehe: BAILER, Wiedergutmachung, 12 f. Maßnahmen der Republik Österreich zugunsten bestimmter politisch, religiös oder abstammungsmäßig Verfolgter seit 1945, hgg. vom Bundespressedienst, Wien 1988, 5 f. Siehe dazu allgemein: BAILER, Wiedergutmachung. NEUGEBAUER, a. a. O. a. a. O., 148. a. a. O. a. a. O., 149. a. a. O. Siehe die diesbezüglichen Korrespondenzen und Unterlagen im Besitz des Verfassers. Novelle des Opferfürsorgegesetzes, BGBl. 433/1995; Bundesgesetz über den Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus, BGBl. 432/95. Beide Gesetze wurden am 1. 6. 1995 vom Nationalrat beschlossen. Die internationale Kritik an der Weiterverwendung des PernkopfAnatomieatlasses führte 1997/98 zu einer Untersuchung an der Wiener Universität; siehe dazu: Senatsprojekt der Universität Wien, Untersuchungen zur Anatomischen Wissenschaft in Wien 1938-1945, Wien 1998. Gegen den in die Kindereuthanasie involvierten Arzt Dr. Heinrich Gross wurde aufgrund von 1995 und 1997 erstatteten Anzeigen 1999 von der Staatsanwaltschaft Wien Anklage wegen Mordes erhoben. Anläßlich einer internationalen wissenschaftlichen Tagung zur NS-Euthanasie im Psychiatrischen Krankenhaus der Stadt Wien im Jänner 1998 wurden Gespräche mit dem zuständigen Wiener Stadtrat Dr. Sepp Rieder geführt, der eine humane Lösung der Rechtsproblematik ermöglichte. Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 KINDER UND JUGENDLICHE ALS OPFER DER NS-VERFOLGUNG JANA MÜLLER Im NS-Staat wurden Kinder und Jugendliche systematisch im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie erzogen, gedrillt, mit Sport „ertüchtigt“, in der Hitler-Jugend und im ➤ Bund Deutscher Mädel zusammengefaßt; die jüngeren waren ➤ „Jungmädel“ und „Pimpfe“. Es genügte nicht, deutsch und arisch zu sein. Sie wurden ständig beobachtet und auf ihren „Nutzen für die Volksgemeinschaft“ geprüft. Die arische Jugend hatte erbgesund und leistungsfähig, gehorsam und angepaßt zu sein. Rassenhygiene, Erbgesundheitspflege, eugenische Ausmerzung; der erbuntüchtige, minderwertige Mensch, ebenso der unangepaßte und gemeinschaftsfremde – das waren Schlagwörter und NS-Begriffe, die das Schicksal auch der Jungen und Jüngsten mitbestimmten. Kindereuthanasie Unabhängig von der ➤ Euthanasieaktion ➤ „T4“,1 der Tötung von körperlich und geistig Behinderten durch Gas in sechs großen Tötungsanstalten (darunter ➤ Hartheim bei Linz), wurden im Rahmen der sogenannten Kindereuthanasie2 mindestens 37 3 „Kinderfachabteilungen“ eingerichtet. Sie unterstanden einem zuständigen „Reichsausschuß“; an diesen wurde von den Anstaltsärzten Meldung über von ihnen als „lebensunwert“ eingeschätzte Kinder („Reichsausschußkinder“) gemacht. Aus Berlin kam dann die Rückmeldung als Ermächtigung bzw. Weisung zur Tötung. Die „Todesbeschleunigungen“ erfolgten meist mit Medikamenten und durch Nahrungsentzug. In der „Ostmark“ gab es drei solche Kinderfachabteilungen: in Wien ➤ „Am Spiegelgrund“, in Graz-Feldhof und in Klagenfurt.4 NS-Erziehungsheime Kinder und Jugendliche mußten auch in ihrem Verhalten, ihrer Handlungsweise den Ansprüchen der NS-Ideologie entsprechen. Die geringsten Abweichungen wurden registriert. Wenn sie sich auflehnten, den Gehorsam verweigerten, wenn ein nicht entsprechender Lebenswandel vorlag, wurden sie als schwererziehbar, „asozial“ respektive „gemeinschaftsfremd“ eingestuft und in NS-Erziehungsheime eingewiesen, ebenso Kinder von „Volksschädlingen“, von Regimegegnern, aus „desolaten“ Familien usw. Ein ganzes Netz von Kinder- und Jugendheimen, von Fürsorge- und Erziehungsanstalten überzog das Deutsche Reich. Schon bestehende Heime wurden übernommen, NS-Erziehung, Drill und harte Strafen eingeführt. Es kam auch zur Gründung neuer Anstalten wie z.B. des Erziehungsheimes am Wiener „Spiegelgrund“. Weitere, recht unterschiedliche Heime in Wien waren beispielsweise die „Juchgasse“ in Wien 3 oder die „Hohe Warte“; das Zentralkinderheim und die ➤ Kinderübernahmestelle (KÜST) in der Lustkandlgasse scheinen in den meisten Akten für den Raum Wien und darüber hinaus auf. Besonders die KÜST war „Schalt- und Verteilerstelle“. Für die Bundesländer sollen hier zwei Schicksale angeführt werden: In Kärnten wurde die elfjährige Hermine Obweger 5 ihren Eltern, die Zeugen Jehovas („Bibelforscher“ 6) waren, weggenommen und in das NS-Umerziehungsheim Feldkirchen-Waiern eingewiesen. Nachdem es den Eltern immer wieder gelungen war, mit ihrer Tochter in Kontakt zu treten, wurde Hermine in ein weit entferntes Heim in München verlegt. In Oberösterreich waren für Evelin Dietrich 7 und ihre Geschwister das Waisenhaus Steyr, das Fürsorgeheim Gleink, das Heim Baumgartenberg (und Ende Februar 1945 sogar das inzwischen geleerte Schloß Hartheim, nachdem alle Spuren entfernt worden waren) Stationen ihres Leidensweges. Die Mutter war 1941 in das Frauen-KZ Ravensbrück gebracht worden, wegen abfälliger Bemerkungen über Hitler. An alle Aufenthalte hat Evelin traumatische Erinnerungen. (…) Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 71 Kinder und Jugendliche als Opfer der NS-Verfolgung Dr. Gross Dr. Heinrich Gross, einer der Euthanasieärzte in der Kinderklinik am Wiener „Spiegelgrund“, machte nach 1945 wissenschaftliche Karriere; die Gehirne der ermordeten Kinder waren für ihn Forschungsmaterial. Anfang der fünfziger Jahre war ein Gerichtsurteil gegen ihn aufgehoben und das Verfahren eingestellt worden. Jetzt beschäftigt Dr. Gross erneut die österreichische Justiz. Jahrzehntelang war er bei den Gerichten als vielbeschäftigter Gerichtsgutachter ein- und ausgegangen. Besonders in den letzten Monaten wurde über ihn und die Vorgänge am „Spiegelgrund“ auch in internationalen Medien berichtet. In einem ZDF-Bericht vom November 1998, der in Deutschland Aufsehen erregte, kam auch Waltraud Häupl zu Wort. Sie hat ihre Schwester am „Spiegelgrund“ verloren. Erst 1997 erfuhr sie von den tatsächlichen Hintergründen des Todes der vierjährigen Annemarie im Jahre 1942. Sie begann zu recherchieren und erhielt einen überraschend gut erhaltenen Akt. Es steht fest, daß das Kind zu jenen Opfern gehört, deren Gehirne als Präparate in der Pathologie des Psychiatrischen Krankenhauses noch heute gelagert sind. Der Akt ist von besonderer Dichte und Aussagekraft. Er enthält mehrfach Unterschriften von Dr. Gross und Dr. Illing sowie handschriftliche Vermerke von Dr. Gross. Sogar die Verabreichung von Luminal scheint einmal auf. Nach einem Krankenhausaufenthalt war vom Amtsarzt ein Gutachten erstellt worden. Aus diesem geht hervor: „ … kräftiges, aber kleines Kind – keine Mißbildungen – Rachitis in Heilung – aufmerksam – das untersuchte Kind eignet sich nicht zur Aufnahme in eine Anstalt für schwachsinnige Kinder – entwicklungsund erziehungsfähig – pflegebedürftig …“ Die vorgedruckte Frage „Schwachsinn?“ ist mit nein beantwortet. Das Kind wird am 6. 6. 1941 auf den „Spiegelgrund“ überstellt; nach der Aufnahme in der „Kinderfachabteilung“ wird es von Dr. Gross erneut untersucht und photographiert; in die Rubrik Diagnose wird Idiotie eingesetzt, Datum 6. 6. 1941. In der Kartei findet sich immerhin die Bestätigung, daß das Mädchen „gut entwickelt und gut genährt“ ist. Da sogar die Gewichtstabellen erhalten sind, ist systematische Unterernährung in der weiteren Folge nachweisbar. Tagesberichte schildern den späteren Zustand: „… das Kind schreit, näßt, spricht nicht, kann nicht gehen.“ Eine Eintragung fällt ganz aus diesem Rahmen, bringt Schimmer von Menschlichkeit, geschrieben von einer Schwester: „Nur sehr schwer ist dem Kinde ein Lächeln zu entlocken, umso mehr war ich erstaunt, als ich bei dem Spiel ‚Patsch Handerl z’samm‘ ein herzliches Lachen erreichen konnte und merkte, daß es Freude am Spiel findet.“ Am 26. 9. 1942 ist Annemarie tot. Eine Meldung war an den Reichsausschuß gegangen; die Rückmeldung aus Berlin war fast immer das Todesurteil. Die geschwächten Kinder wurden mit Luminal betäubt und der Kälte ausgesetzt, die Folge war der vermeintlich natürliche Tod durch Lungenentzündung. So auch bei Annemarie. Zum Minensuchen noch gebraucht Im Mai vergangenen Jahres erhielt Johann Gross eine Vorladung in das Landesgericht für Strafsachen Wien. In Anwesenheit eines Arztes wurde er ausführlich über Vorgänge befragt, die mehr als 50 Jahre zurückliegen. Es ging um die Voruntersuchung gegen Dr. Heinrich Gross. Johann G. besitzt ein außerordentlich gutes Erinnerungsvermögen. Auf Grund der Causa Dr. Gross, der vermehrten Berichterstattung in den Medien und durch Veranstaltungen und TV-Berichte über Themen wie „NS-Medizin“ oder „Vergessene NS-Opfer“ hat er sich mittlerweile seinen Erinnerungen gestellt und begonnen, sie niederzuschreiben. Johann G. ist 1930 in Wien geboren, sein Vater war Teilinvalide, die Mutter verließ die Familie. Er kam auf mehrere Pflegeplätze. Als er bei einer Pflegefamilie geborgen und glücklich ist, wird er vom Vater zurückgeholt, offenbar wegen des Kindergeldes. Der Vater 72 Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 Jana Müller ist Trinker und schlägt den Buben. In Pimpfuniform des ➤ Deutschen Jungvolks nimmt dieser von einer Sammelaktion Reißaus und fährt spontan mit der Sammelbüchse (er braucht Geld für Fahrt und Essen) zur geliebten Hedi-Tant‘ von der letzten Pflegestelle. Amtlich liest sich das so: „Ist mit der Sammelbüchse der NSV, die er erbrochen hat, nach St. Pölten durchgegangen und wurde von der Kripo interniert.“ Er ist nun nicht mehr würdig, das „Ehrenkleid der Jugend“ zu tragen, wird dem Zehnjährigen gesagt. Von da an ist sein Weg durch die NS-Erziehungsheime vorgezeichnet. Im Waisenhaus Mödling sind sadistische Erzieher am Werk, „Kleiderappelle“, „Nachtspiele“, Froschhüpfen, Robben, Drill und Schläge sind Alltag. Nach dem zweiten Fluchtversuch kommt es zu einem regelrechten Strafritual im leeren Schlafsaal, der Bub allein, die Erzieher zu viert. Im Juli 1941 wird er schließlich in das Erziehungsheim am „Spiegelgrund“ überstellt. Im Anschluß an die Aufnahme lernt er Dr. Gross kennen, der u.a. seinen Kopf vermißt. Er sollte ihm in Zukunft noch oft begegnen. Schon durch die Namensgleichheit blieb „Dr. Gross“ für immer im Gedächtnis haften. Am „Spiegelgrund“ ist vieles anders. Nur Schwestern statt Erzieher, die Fenster sind vergittert und versperrt, auch jede Tür ist versperrt und muß immer erst geöffnet werden. Vieles geht fast lautlos und für ihn unheimlich vor sich. Besonders unwürdig ist das Klosett, mit einer Halbtür und somit einsehbar; jedes Mal mußte gemeldet werden, ob „klein“ oder „groß“ zu erwarten war … Es kommt laut Akt zur ersten Flucht vom „Spiegelgrund“ am 16. 8. 1941. Er wird im Prater aufgegriffen und bereits nach zwei Tagen wieder zurückgebracht. Nach Schlägen von Dr. Krenek, dem Leiter des Erziehungsheimes, kommt er in eine Einzelzelle in seinem Pavillon (Nr.7). Die erste „Speiinjektion“ durch Dr. Gross folgt. Er glaubt tatsächlich, daß er stirbt, so schlimm ist es. Im Pavillon 13 gehen die Kinder zur Schule. Im Februar 1942 hatte Johann G. ein grausiges Erlebnis. Kurz vor dem Pavillon 13 (d.h. direkt neben dem „Todespavillon“ 15 – Anmerkung der Verf.) zog ein Hausarbeiter einen zweirädrigen Karren an den Schulkindern vorbei; darin lagen tote Kleinkinder, nackt und eigenartig verfärbt. Die Begleitschwester nahm kaltblütig das Entsetzen der Kinder zur Kenntnis. Offenbar bemühte man sich nicht um Geheimhaltung vor den Kindern, der Wagen war nicht einmal abgedeckt. Nach einer weiteren Flucht wird er in den sogenannten Strafpavillon 11 verlegt. Einmal wird er von vier Schwestern gleichzeitig verprügelt. In der Isolation des Kellers lernt er Jugendliche kennen, älter als er, die offenbar einiges hinter sich haben, darunter einer, der „lange Karl“, von dem er erfährt, daß es auch so etwas wie Auflehnung gegen Hitler gibt. Bald darauf ist der „lange Karl“ nicht mehr da. Immer wieder war Johann G. wochenlang im Keller, hinaus ging es nur zur Schule und zum Schlafen im ersten Stock. Von Nr. 11 konnte er den gegenüberliegenden Pavillon, der im ansteigenden Gelände höher gelegen war, sehr gut einsehen: Pavillon 17 der Euthanasieklinik. Oft sah er, wie die Bettchen mit den Kleinkindern über Nacht auf den Balkon gestellt wurden, der Kälte ausgesetzt, und hörte ihr Weinen und Wimmern. Er begriff nun, was sich hier abspielte. Den Leichenkarren sah er mindestens noch einmal. Einmal gelingt ihm sogar die Flucht aus der Einzelzelle. Es zieht ihn auf den Wiener Naschmarkt und mehrmals nach Hasenleiten (im 11. Bezirk) in eine Barackensiedlung mit „Randexistenzen“, für ihn sind es aber Lebenskünstler. Mit ihrer Hilfe verbringt er dort in der Umgebung sogar einige Wochen, seine längste Zeit in Freiheit (Frühjahr/Sommer 1942). Nach Rückkehr auf den „Spiegelgrund“ bekam er weiterhin Injektionen in die Hand, Schwefelinjektionen in den Oberschenkel; diese brannten fürchterlich, lähmten teilweise und machten eine Fortbewegung unmöglich. Einmal bekam er kurz hintereinander beide, da war man zu viert gekommen, davon zwei Ärzte, davon einer wiederum Dr. Gross. Als nach der Injektion die Bewegungsstörung bereits einsetzte, meinte Dr. Gross zu ihm, er könne jedenfalls zum Minensuchen noch gebraucht werden. Johann G. dürfte zu den am häufigsten „entwichenen“ (Akt) Heiminsassen gehört haben. Das verschaffte ihm bei den anderen einen gewissen Bekanntheitsgrad und eine Art Respekt. Er galt auch als guter Schüler. Mit Dr. Gross verband ihn immer enger das gewis- Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 73 Kinder und Jugendliche als Opfer der NS-Verfolgung Bestrafungsritual sermaßen gemeinsame Bestrafungsritual der Injektionen. Dr. Gross ist ihm unvergeßlich geblieben, und es könnte vermutet werden, daß auch umgekehrt dieser Heimbub dem NSArzt im Gedächtnis haften geblieben ist. Die (mit Mödling) insgesamt elf Fluchten waren nicht vorrangig Ausdruck eines „Wandertriebes“; es war vor allem eine Kampfansage, sein Krieg, wie er selbst es nennt, gegen das System, gegen die Demütigungen, von denen alle betroffen waren. Er verabscheute die kriecherische Haltung, die sich viele aneigneten, um durchzukommen. Es war der eiserne Wille, sich nicht brechen zu lassen. Zuletzt will Heimleiter Krenek ihn nicht mehr „haben“. Im Frühsommer 1943 kommt er zurück nach Mödling. Alfred Grasel, Johann Gross, Waltraud Häupl, Anna Maierhofer und Franz Pulkert konnten von der Verfasserin persönlich befragt werden. Das Gespräch mit Emil Blaschek führte Anna Maierhofer. Alle Zeitzeugen leben in Wien. Aus: Betrifft Widerstand 43/2 1999, S. 4–13. 1 2 Tarnbezeichnung für die beschriebene Euthanasieaktion nach der Zentrale in Berlin, Tiergartenstraße 4 (Kanzlei des Führers). Zielgruppe dieser speziellen Kindermordaktion waren Kinder, die sich nicht in Anstaltspflege befanden – denn diese wurden ohnehin im Zuge der Aktion „T4“ (...) erfaßt –, insbesondere Neugeborene. Durch einen geheimen Runderlaß des Reichsministeriums des Inneren vom 18. 8. 1939 (...) wurden alle Hebammen und Ärzte verpflichtet, in den Kliniken alle Neugeborenen mit schweren angeborenen Leiden (...) sowie alle Kinder bis zu drei Jahren mit diesen Leiden den zuständigen Gesundheitsämtern mittels eines Formblattes zu melden. In: Wolfgang Neugebauer, Die Klinik „Am Spiegelgrund“ 1940-1945 – Eine „Kinderfachabteilung“ im Rahmen der NS-“Euthanasie“, in: Jahrbuch 74 3 4 5 6 7 des Vereins für Geschichte der Stadt Wien, Band 52/53, Wien 1996/97, S. 293. Matthias Dahl, Endstation Spiegelgrund. Die Tötung behinderter Kinder während des Nationalsozialismus am Beispiel einer Kinderfachabteilung in Wien 1940-1945, Erasmus, Wien 1998, S. 32. Ebda., u.a. S. 29, 35, 41. Geschichte der Familie Obweger aus: Geschichtsarchiv der Zeugen Jehovas, Wien. Die Zeugen Jehovas, die 1931 diesen Namen annahmen, wurden in der NS-Zeit nach ihrer früheren Bezeichnung Erste oder Internationale Bibelforscher genannt. Walter Kohl, Die Pyramiden von Hartheim, Edition Geschichte der Heimat, Grünbach 1997, S. 390ff. Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 FÜRSORGE – ARBEITSHAUS – KZ: DAS LEBEN DER BETTY VOSS MARTINA SCHEITENBERGER /MARTINA JUNG „Asozial“ 1 Der Nationalsozialismus verfolgte jede Lebensäußerung, die nicht dem sogenannten „gesunden deutschen Volksempfinden“ entsprach.2 Soziale bzw. kulturelle Verhaltensweisen, die von der Norm des nationalsozialistischen Gesellschaftsmodells abwichen, wurden von der Bevölkerung bereitwillig denunziert und von den dafür zuständigen Behörden kontrolliert und im Zweifelsfall korrigiert. Dazu griff das nationalsozialistische Regime auf die bestehenden Einrichtungen wie Gesundheits- und Sozialämter (Fürsorgeämter) zurück, die als verlängerter Arm der Verfolgungsbehörden weiter ausgebaut wurden. Diese Einrichtungen registrierten, erfaßten, beurteilten und gaben ihre Informationen an Polizei und Gerichte weiter. Die Beurteilungen von Fürsorgerinnen konnten zu Entmündigungen, Zwangssterilisation, Einweisungen in Arbeitshäuser und zu Konzentrationslagerhaft auf unbestimmte Zeit führen. Begriffe wie „asozial“ und „arbeitsscheu“ brandmarkten die Betroffenen, auch lange nach 1945. In der Mehrzahl waren die Menschen, die als asozial eingestuft wurden, arm und abhängig von staatlicher Unterstützung, viele von ihnen hatten keinen festen Wohnsitz. Zu ihnen zählten Bettler, Fürsorgeempfänger, Wohnungslose, Landstreicher, Alkoholiker, Straftäter, Homosexuelle, unterhaltssäumige Väter, Prostituierte und „Zigeuner“.3 Sinti und Roma wurden auf Grund ihrer „zigeunerischen“ Lebensweise als „asozial“ eingestuft.4 In den Konzentrationslagern wurden diesen Gruppen drei verschiedene Winkel zugeordnet, zum Teil willkürlich. Der schwarze Winkel mit einem A galt „Asozialen“, ein grüner Winkel „Kriminellen“, „männlichen Homosexuellen“5 wurde ein rosa Winkel zugewiesen. Die Definition des Begriffes „asozial“ war derart dehnbar, daß ein Heilbronner Obermedizinalrat als Frühsymptome eines „asozialen“ Verhaltens bei Jugendlichen beispielsweise Rauchen, Faulheit, Eigensinn, Trotz, Zerstörungslust, Schulschwänzen u.a. ansah.6 „Schließlich schien vielen gerade eine diffuse Kategorie geeignet, um im Namen des ‚Volksempfindens‘ alles darin zu sammeln, das sie störte.“7 In einem Handbuch über Erbkrankheiten aus dem Jahre 1937 verstieg sich ein Verfasser zu der Idee, die Definition von „asozial“ dem „Volksempfinden“ überlassen zu wollen.8 Ein Gesetz, das die Verfolgung und Inhaftierung von „Asozialen“ geregelt hätte, existierte nicht, jedoch wurden zahlreiche Erlässe und Verordnungen geschaffen, die der Verfolgung einen legalen Anstrich verliehen.9 Diese Politik führte im Nationalsozialismus nach Peukert „zur Ausblendung jeglicher Rechtsgarantie für Menschen mit abweichendem Verhalten“. Die Deklarierung als „asozial“ funktionierte als Vorstufe zu „ihrer Auslieferung an polizeiliche Allmacht, ja zur systematischen Ausrottung, und als Legitimation für die Mißhandlungen, Morde und die allgemein hohe Sterblichkeit in den Konzentrationslagern10 “. Die Entwicklung dahin vollzog sich allmählich und begann nicht erst mit der Machtergreifung 1933. Schon zuvor wurden, verstärkt durch die ökonomische Krise in den zwanziger Jahren, vermehrt Stimmen laut, die in der Gruppe der „Unangepaßten“ eine Bedrohung sahen.11 Die Argumentation, daß die Menschen nach ihrem Nutzen für die Gesellschaft beurteilt werden müßten, wurde im Laufe der dreißiger Jahre immer häufiger formuliert. Daraus wurde abgeleitet, daß Infektionskrankheiten wie Tuberkulose, die als Armenkrankheit galt, nicht als persönliches Leid für den Kranken, sondern als „volksschädigend“ anzusehen seien.12 So konnte es einem Tuberkulosekranken passieren, daß er in eine Bewahranstalt zur Zwangsarbeit eingewiesen wurde.13 Durch die tatkräftige Mithilfe zahlreicher Wissenschaftler erhielten „Reaktionen der sozialen Mehrheit auf abweichendes Verhalten (...) ihre biologische Legitimation“, indem diese durch fragwürdige Untersuchungen nachzuweisen versuchten, daß das, „was Juden zu Juden mache“, „Geisteskranke zu Geisteskranken“, „Zigeuner zu Zigeunern“ und „Asoziale zu Asozialen“, in den Genen angelegt, erblich und somit unwiderruflich sei.14 Jegliche Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 75 Gesundheits- und Fürsorgeämter als verlängerter Arm der Verfolgungsbehörden Fürsorge – Arbeitshaus – KZ: Das Leben der Betty Voss „Rassenhygiene“ als Legitimation für Verfolgung und Vernichtung Die „totale Erfassung“ durch Polizei, Gesundheits- und Sozialbehörden sozialen Aspekte wurden rigoros ausgeblendet oder verschleiert. Wissenschaftler machten sich daran, ganze Familien nach ihren Erbanlagen, etwa nach „asozialen Anlagen“ wie „Schwachsinnigkeit“, zu untersuchen. Rassenhygieniker, die auf eine lange Tradition zurückblicken konnten, lieferten im Nationalsozialismus die Argumente zu Verfolgung und Vernichtung von gesellschaftlichen Randgruppen. Ökonomische Ursachen für soziale Verelendung, die Tatsache, daß viele Menschen in der Zeit der Weltwirtschaftskrise Ende der zwanziger Jahre arbeitslos geworden waren, wurden ausgeblendet. Vor allem nachdem die Nationalsozialisten das Problem der Arbeitslosigkeit nach der Machtergreifung mit Beschäftigungsprogrammen scheinbar gelöst hatten, wurden Fürsorgeempfänger für ihre Lage verantwortlich gemacht und ihnen persönliche Unfähigkeit nachgesagt. Argumentiert wurde in die Richtung, daß die sogenannten „Asozialen“ nicht imstande seien, ihr Leben eigenverantwortlich zu gestalten, und es entsprechend ihrer Veranlagung auch nie können würden.15 Das ➤ „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“, das 1934 in Kraft getreten war, bildete die logische Konsequenz aus dieser geistigen Haltung. Von dieser Zeit bis 1945 sind auf Grund dieses Gesetzes etwa 400.000 Zwangssterilisationen durchgeführt worden.16 Der angeblich nachgewiesene erblich veranlagte „Schwachsinn“ eines Menschen hatte eine Zwangssterilisation zur Folge. Diese „Diagnose“ führte zu den meisten Zwangssterilisationen.17 Während „wertvolle Frauen“ aus „erbgesunden Familien“ eine Geburtenförderung erfahren sollten, setzte man bei den „minderwertigen Frauen“ ein Gebärverbot durch. Zudem verbot das „Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ von 1935 Ehe und Geschlechtsverkehr zwischen Deutschen und Juden. 1942 wurde das Gesetz noch um den Begriff „Zigeuner“ erweitert.18 Bereits 1933 wurden „sexuell Unangepaßte“, Prostituierte und Frauen, denen häufig wechselnder Geschlechtsverkehr nachgesagt wurde, registriert, verfolgt und später als „Asoziale“ in Konzentrationslager verschleppt.19 „Daß es dem Staat allein um Ordnung ging und nicht etwa um Moral, bewies sein zynisches Bestreben, Offiziere, Soldaten und sogar Zwangsarbeiter in den Konzentrationslagern kontrolliert mit Prostituierten zu ‚versorgen’. Faustregel eines KZ-Planers: zehn Frauen pro 3000 Arbeiter.“ 20 Frauen konnten bereits in die Mühlen der Ermittlungsbehörden geraten, wenn ein Verdacht bestand, daß sie „eigene Wege gingen“ oder sich „auf Rummelplätzen herumtrieben“.21 In Ermangelung von Beweisen wurde im Sinne des „Volksganzen“ entschieden und nicht im Sinne der jeweiligen Person.22 Eine „ordentliche Frau“ sollte einen „krisenanfälligen Gelegenheitsverbrecher“ durch ihren Einfluß wieder auf die rechte Bahn rücken können. War aber eine „liederliche Frau“ mit einem „willensschwachen Mann“ verheiratet, so konnte dieser Umstand nach dem Erbforscher Stumpfl „verheerende Auswirkungen auf den Lebensweg“ des Mannes haben.23 Angestrebt wurde eine totale Erfassung zur konsequenten Repression allen abweichenden Verhaltens in den Bereichen Arbeit, Wohnen und Sexualität. Dazu dienten Gesetze, Erlasse und Verordnungen. Polizei, Gesundheits- und Sozialbehörden führten die „Maßgaben“ aus, sie arbeiteten Hand in Hand und übertrafen zuweilen die verordneten Anforderungen.24 Ein weiteres Zwangsmittel zur Erfassung waren Entmündigungsverfahren durch die Erbgesundheitsgerichte, die bei angeblich nachgewiesenem „Schwachsinn“ Eheverbot und Zwangssterilisation anordnen konnten. Die Sterilisationsverfahren galten vor allem Frauen, insbesondere unverheirateten Müttern mit mehr als einem Kind.25 Der Sterilisation ging vielfach ein Entmündigungsverfahren voraus: „Das Verfahren war aus Sicht der Opfer nahezu aussichtslos: Fürsorgerinnen und Pflegeämter beantragten die Entmündigung bei den Amtsgerichten mit der Begründung, der Betroffene sei ‚nicht fähig’, den ‚Sinn der Unfruchtbarmachung‘ zu erfassen.“ Daraufhin wurden amtliche Pfleger eingesetzt, die die Sterilisation ihrer Mündel beantragten.26 Zur „Diagnose“ wurden „Intelligenzprüfbögen“ herangezogen, die Fragen wie „Was ist der Unterschied zwischen einer Leiter und einer Treppe?“, „Was ist Elektrizität?“ oder „Welche Schlacht hat Hindenburg geschlagen?“ enthielten.27 76 Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 Martina Scheitenberger/Martina Jung Die Situation für angeblich „Asoziale“ verschärfte sich im Laufe der dreißiger Jahre bis hin zur Einweisung in ein Konzentrationslager auf unbestimmte Zeit. 1933 wurden große Bettlerrazzien organisiert, die noch kurzfristige Haftzeiten für die Festgenommenen zur Folge hatten. Es konnte zusätzlich zur Haftzeit eine Zwangseinweisung in ein Arbeitshaus erfolgen. Dort mußten die Inhaftierten in der Regel ein Jahr verbringen, wurden danach aber wieder auf freien Fuß gesetzt. Ab 1934 konnte die Arbeitshaushaft unbefristet verlängert werden, die Unterbringung war nun „tendenziell lebenslänglich“.28 Frauen wurden vermehrt ab 1936 in Arbeitshäuser eingewiesen. Die Begründung war zumeist „sittlicher Verfall“, auf Grund dessen sie dem Staat finanziell zur Last fallen würden. Dabei konnte es sich lediglich um Krankenhauskosten zur Behandlung von Geschlechtskrankheiten handeln.29 Im Zuge des Arbeitskräftemangels um 1937/38 strebte insbesondere die ➤ SS an, alle, die auffällig geworden waren, wenn nötig mit Gewalt zur Arbeit zu zwingen. Ein Erlaß über „die vorbeugende Verbrechensbekämpfung durch die Polizei“ ebnete der SS den Weg, „Asoziale“ systematisch in Konzentrationslager zu verschleppen. Ab diesem Zeitpunkt hatten Polizei und ➤ Gestapo einen Zugriff auf angeblich „Arbeitsscheue“. Darauf folgten Verhaftungswellen durch die Gestapo, die besonders diejenigen zu fürchten hatten, die bereits in einem Arbeitshaus gewesen waren. Ihnen drohte eine Einweisung in ein KZ als „Vorbeugehaft“.30 Wie sich so eine Verkettung von Ereignissen abspielen konnte, verdeutlicht die Biographie von Betty Voss, die die Auswirkungen der verschärften Verfolgung von Armen und „Unangepaßten“ am eigenen Leibe zu spüren bekam. „Zwischenstation“ Arbeitshaus Das Konzentrationslager als „Vorbeugehaft“ Betty Voss 31 In einem kleinen Dorf bei Magdeburg wurde Betty Voss am 25.11.1911 geboren. Sie war die älteste von drei Geschwistern und wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf, ihre Mutter war Landarbeiterin. „Meine allererste Erinnerung an die Kindheit, da war ich fünf Jahre. Da war meine Mutter schwerkrank, und mein Vater hat im Steinbruch gearbeitet.“ Betty Voss berichtet in einem Interview, daß ihr Vater im Streit seine kranke Frau stieß, daß diese fiel und an den Verletzungen starb. Das Gericht glaubte Betty Voss nicht, da sie noch ein Kind war, ihr Vater wurde freigesprochen. Er heiratete bald wieder. Unter der Stiefmutter, die die Kinder schlug, litt Betty Voss sehr. „(...) und in der Schule, da durften wir uns nicht ausziehen, wenn der Schularzt kam, da mußten wir sagen, wir sind gefallen!“ Die Mißhandlungen ließen sich bei einer Reihenuntersuchung in der Schule nicht verheimlichen. Wegen Kindesmißhandlung bekam die Stiefmutter eine Haftstrafe von zwei Jahren. Nach deren Entlassung wurde die Situation für Betty Voss immer unerträglicher. Sie ging 1925, nachdem sie die Schule absolviert hatte, für drei Jahre zu einem Verwandten nach Brandenburg, bei dem sie eine Ausbildung als Gärtnerin machte. Nach Abschluß der Ausbildung mußte sie zurück zu ihren Eltern. Das Verhältnis zwischen der Stiefmutter und Betty Voss war unverändert schlecht. Sie fühlte sich von ihrer Stiefmutter vollkommen ausgenutzt, weil sie beispielsweise ihren gesamten Lohn als Taglöhnerin zu Hause abzugeben hatte. Deshalb verließ sie heimlich ihr Elternhaus, obwohl sie noch nicht volljährig war, und begab sich auf Wanderschaft. „Ja, wir waren, ich war auf Tippelei, und im Frühjahr, im Sommer, habe ich mir beim Bauern Arbeit gesucht, da hab’ ich den ganzen Sommer gearbeitet, das Geld habe ich mir gespart, hab’ mir Zeug gekauft, und wenn es Herbst war, war nichts mehr zu machen, bin ich weiter getippelt.“ In dieser Zeit freundete sie sich mit einem Landarbeiter an. Sie wurde schwanger. Noch vor der Geburt ihres Kindes ertrank ihr Freund in einem See. Auf Grund der Schwangerschaft konnte sie bald nicht mehr arbeiten, sie wanderte weiter in Richtung Norden und übernachtete in Obdachlosenheimen. Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 77 Obdachlosenasyl – erste Kontakte mit der Fürsorge Fürsorge – Arbeitshaus – KZ: Das Leben der Betty Voss Von der Zwangspsychiatrie ins Arbeitshaus „Ich bin ja immer in ein Obdachlosenasyl gegangen, ich bin nie in eine Herberge, wo Männer waren. Es gab da Herbergen, da konnten Männer und Frauen, ich bin immer in ein Obdachlosenasyl, da war ich am sichersten.“ Das Kind bekam Betty Voss in einer Gefängniszelle in Berlin am Alexanderplatz. Da sie erst 20 Jahre alt war, schickte die Polizei sie zurück zu ihren Eltern, die sie als vermißt gemeldet hatten. Nach einem Jahr hielt es Betty Voss zu Hause nicht mehr aus und ging abermals auf Wanderschaft, diesmal nach Kiel. „Erstens mal hab’ ich gefragt, wo hier ’ne Unterkunft ist für Frauen, da hat man mir gesagt, in der Gartenstraße bei Schwester Therese, und da bin ich hin, anstandshalber, um nicht auf der Straße zu liegen und rumzutreiben (...) und gleich, oh die Therese, hat gleich telephoniert, nach dem Gesundheitsamt: ‚Hier ist jetzt wieder eine Neue gekommen, wo die herkommt, wissen wir nicht richtig (…).‘“ Daraufhin mußte sich Betty Voss auf Veranlassung des Gesundheitsamtes untersuchen lassen. In dem Heim lernte sie ihren ersten Mann kennen, den sie 1933 heiratete. Sie bekam zwei weitere Kinder, eine Tochter und einen Sohn. Die Familie lebte von der Unterstützung durch das Fürsorgeamt. Die Arbeitslosigkeit des Mannes, seine Alkoholprobleme und die permanenten Geldsorgen führten schnell zu Spannungen in der Ehe. Häufig mußte die Familie wegen ihrer Mietzahlungsrückstände die Wohnung wechseln. Betty Voss wusch für Frauen aus der Nachbarschaft Wäsche und ging zeitweilig betteln, obwohl das verboten war, um ihre Kinder zu ernähren. „Da war ich gezwungen von Haus zu Haus, von Treppe zu Treppe, mit einem Kind an der Hand und einem im Bauch betteln [zu] gehen.“ Zweimal in der Woche kam ein Mann vom Fürsorgeamt und kontrollierte die häuslichen Verhältnisse. Bei einem dieser Besuche kam es zu einem Streit zwischen Betty Voss und ihrem Mann, der sie tätlich angriff. Der Fürsorger forderte sie danach auf, sich scheiden zu lassen. Sie weigerte sich. Kurze Zeit später bekam sie ihr drittes Kind. Als Betty Voss keine Möglichkeit mehr sah, ihre Kinder zu ernähren, gab sie die beiden größeren Kinder in ein katholisches Kinderheim. Obwohl sie regelmäßig Besuche im Heim machte, wurden die Kinder ohne Benachrichtigung der Mutter in ein anderes Heim überwiesen. Die Behörden leiteten ein Entmündigungsverfahren gegen Betty Voss ein. 1936 wurde sie entmündigt. Voraus gingen eine medizinische Untersuchung und ein „Intelligenztest“. „Professor Hallermann war in der Nervenklinik hier in Kiel der Höchste. Da hat er gesagt: ‚Frau Diederich, was ist denn der Unterschied zwischen Treppe und Leiter?‘ Und ich sag: ‚Aber Herr Doktor, auf der Leiter gehen Sie auf Sprossen und auf der Treppe auf Stufen.‘“ Nach der medizinischen Untersuchung: „ (...) dann sag ich: ‚Na, Herr Professor, wie ist denn der Befund nach zwei Tage?‘ ‚Ach’, sagt der Kleine: ‚Da verstehst du nichts von, ist o.B.‘ ‚Ach ja’, sag ich, ‚ohne Befund, nich’!‘“ Es folgte die Einweisung in eine Nervenklinik nach Schleswig, wo sie drei Jahre zwangsweise bleiben mußte. „Und der Oberarzt Dr. Krei ( in Schleswig, d.V.), der hat zu mir gesagt: ‚Laß dich scheiden von dem Mann!‘ (...) Wir haben menschlich gesprochen, wir beiden, und er wußte, mir fehlt nichts. Er hat gesagt, ihm sind die Hände gebunden, wenn’s nach ihm ginge, würde er mich rauslassen. Aber ich ginge gleich wieder nach Kiel, und dann würd‘ er sein Amt los, nich. So hat er mir das dann erzählt, und ich sag: ‚Und scheiden laß ich mir nicht!’“ „Ach, und da hab ich dann gesessen bis 1939, fing dann der Krieg an. Da hab ich denn gesagt: ‚Nun wird es Zeit, (...) Herr Oberarzt, ich laß mich scheiden, dann bin ich frei!‘“ 1939 ließ sich Betty Voss von ihrem Mann, der inzwischen in Hannover wohnte, scheiden. Sie blieb weiter entmündigt und bekam deshalb nicht das Sorgerecht für ihre Kinder, die sie auf Veranlassung der Familie ihres Mannes nicht sehen durfte. Sie sollte gleich nach der Scheidung zurück in das Dorf fahren, aus dem sie stammte. „Ich fahr nicht nach Hause, ich fahr wieder nach Kiel, bin ich wieder in Kiel, sehen sie (vermutlich das Fürsorge- oder Gesundheitsamt, d.V.) mich wieder, ein Jahr Arbeitshaus, Glückstadt.“ 78 Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 Martina Scheitenberger/Martina Jung Nach ihrer Ankunft in Kiel geriet Betty Voss erneut in die Erfassungsmühlen der städtischen Behörden, die sie zu einem Jahr Arbeitshaus verurteilten. Nach ihrer Entlassung aus dem Arbeitshaus in Glückstadt arbeitete sie für längere Zeit bei einem Flugzeugersatzteilehersteller in der Rüstungsindustrie. Dort freundete sie sich mit einem holländischen Zwangsarbeiter an. Die Beziehung war sehr gefährlich, da jeglicher Kontakt zwischen Deutschen und Zwangsarbeitern streng untersagt war. Auf Grund der Meldung des Personalchefs der Fabrik, der insgesamt sieben Holländer und sieben Fabrikarbeiterinnen wegen unerlaubter Kontakte denunzierte, wurde Betty Voss gemeinsam mit den anderen verhaftet. Nach ein paar Tagen in einem Gefängnis brachte man sie mit den anderen sechs Frauen am 3. Februar in das Konzentrationslager Ravensbrück. Die Begründung für ihre Einweisung lautete „Herumtreiberei“. Ihr holländischer Freund wurde in das KZ Neuengamme verschleppt und dort getötet. An die Ankunft in Ravensbrück erinnert sich Betty Voss: „Da war’n Raum, da saß’n SS-Mann, so breitbeinig, ‚Wat bist du für eine?‘ ‚Deutsche.‘ Klatsch, klatsch bumm, ha, ha, gleich rechts und links eine weg. (...) Da war so’n großer Baderaum und hinten da in dem anderen Raum, da schrien sie alle. Da hab’ ich mal um die Ecke geschielt, oh, da wurden die Haare abgeschnitten, alle, alle! Die haben mich dort entehrt, die haben mich entmündigt, die haben mir die Haare abgeschnitten, die haben mir doch entehrt da, die ganzen Jahr’ in Ravensbrück, und jetzt soll ich nichts dafür haben!“ Im KZ wies man ihr die Häftlingskategorie „Asozial“ zu. Sie bekam einen schwarzen Winkel aus Stoff mit einem „A“ darauf und die Häftlingsnummer 16747. Die Lebensbedingungen waren katastrophal, täglich von Hunger begleitet. „Ich hab mal Weißkohl geklaut. Wir haben alle Hunger gehabt. Wir haben die ganze Woche nur Steckrüben in Wasser gekocht, kein Fleisch, wir haben keine Wurst, nichts, wir haben immer nur trockenes Brot, so’n Stück, das mußte reichen, den ganzen Tag. Und da kam denn ein Wagen mit Weißkohl. Und ich und noch eine mehr, ich sag: ‚Komm man Friedel, wir ducken uns, sind ja klein, da können sie nicht so sehen, wenn es ein bißchen schummrig ist!‘ Wir denn ruff auf den Auto. (...) Wir liefen da mit die Weißkohlköpfe los in unseren Block. Erst war ich in Block 19 und denn in Block 23. Und wie wir denn da reinkamen, oh, ach, die haben uns ja überfallen, der Weißkohl, der war im Nu weg, so roh. Und dann haben sie uns erwischt! Eine hat uns gesehen, und die hat uns verpfiffen. (...) Strafrapport, dann mußten wir vorne nach n’ Revier. (...) Dann kam’n wir unten nach dem Keller. Da war ein Holzblock, so ein schönes Ding, wissen Sie, haha! Und dann kriegten wir ’ne weiße Leinenhose, ’ne nasse an! Und dann: ‚Leg dich mal auf den Bock.‘ Mit Gummiknüppel! ‚Zähle, zählst du die Schläge nicht, kriegst du einen mehr!‘“ Mit ihr wurden medizinische Versuche durchgeführt, am Oberarm operierte man ihr einen Muskel heraus. Sie berichtet, daß ihr in Ravensbrück auch Mittel gespritzt wurden, die epileptische Anfälle hervorriefen. Betty Voss arbeitete in den verschiedenen Arbeitskommandos des KZ: „Und denn jedes Vierteljahr wurden 500 ausgesucht aus die Blocks. Ich habe mir ja gleich zur Arbeit, das hieß ja Arbeitsvermehrung, um sieben Uhr, (...) gemeldet. Ich hab’ Straßenbau mitgemacht, ich hab’ die Küche rein mitgemacht, in de Schusterei mitgemacht, ich hab’ Bäume mitgefällt, ich hab’ Sand mitgeschaufelt, ich hab’ Leichen mit verbrannt, in unser eignes Krematorium.“ Betty Voss war bis zur Befreiung des KZ durch die Russen in Ravensbrück. Mit einigen anderen Frauen aus ihrer Häftlingsbaracke verließ sie zu Fuß das KZ in Richtung Mecklenburg. „Ehe wir losgewandert sind, sind wir nach Oranienburg gegangen und haben uns einen Zettel geben lassen, daß wir gesessen haben da drin, von dann bis dann, nich, in Ravensbrück.“ Im Berliner Rathaus gab sie den Schein ab, um Wiedergutmachungsansprüche geltend zu machen. Dort ging die Bescheinigung verloren. 1946 heiratete Betty Voss ein zweites Mal. Die Ehe hielt jedoch nur kurz, da ihr Mann erkrankte und in eine Nervenklinik nach Schleswig eingeliefert wurde. Sie ließ sich bald Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 79 „Unerlaubte Kontakte“ führen ins Konzentrationslager Ravensbrück Fürsorge – Arbeitshaus – KZ: Das Leben der Betty Voss darauf scheiden. Drei Jahre später lernte sie Herrn Voss kennen. Gemeinsam mit ihm setzte sie die Aufhebung ihrer Entmündigung von 1936 beim Vormundschaftsgericht durch. „Und dann hab ich gesagt: ‚Ich möchte‘ jetzt endlich wieder frei sein, ich bin so lange entehrt gewesen, von 1936 bis 1951, das ist ja wohl lange genug!‘ ‚Ja, woll’n wir mal gucken!‘ Ich sag: ‚Oder muß ich noch mal erzählen, was der Unterschied zwischen Treppe und Leiter (...)?’ Das dauerte 14 Tage, da kriegte ich meinen Bescheid, die Entmündigung ist aufgehoben. Ich hab noch das Schreiben! Und 1951 haben wir geheiratet.“ Ihre Kinder sah Betty Voss erst, als diese schon 18 und 19 Jahre alt waren. Das Verhältnis zu ihnen beurteilte Betty Voss als sehr gespannt. Sowohl Tochter als auch Sohn werfen der Mutter vor, daß sie in ein Heim mußten, und glauben nicht daran, daß ihre Mutter keine andere Möglichkeit sah. Am Stadtrand von Kiel lebte Betty Voss mit ihrem Mann in einer kleinen Laube. 1991 starb sie mit 80 Jahren. „Ich hab’ keine Worte mehr für die Menschen, ein Tier tut mir nichts, ein Tier belügt mir nicht, aber können Sie noch einem Menschen trauen? Vorne lachen sie und hinten kratzen sie, ja ist wahr, man muß ja Angst kriegen! – Nu ja – denkt von mir, was ihr wollt – ich weiß es nicht, was ihr denkt.“ Aus: Claus Füllberg-Stolberg (Hrsg.): Frauen im Konzentrationslager, Bergen-Belsen, Ravensbrück, Edition Temmen, Bremen 1994, S. 299-305 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 Die Verfolgtengruppe, die die Nationalsozialisten als „asozial“ einstuften, wird in der Literatur zu den Konzentrationslagern häufig vernachlässigt oder nur am Rande erwähnt. Deshalb war es uns besonders wichtig, die Biographie einer Frau aufzunehmen, die als „Asoziale“ im KZ Ravensbrück inhaftiert war. Die der Biographie vorangestellte knappe Einführung soll hier lediglich einen Überblick über diese Gruppe geben. Vgl. Klaus Scherer: „Asozial“ im Dritten Reich. Die vergessenen Verfolgten. Münster 1990, S. 9. Vgl. Wolfgang Ayaß, Das Arbeitshaus Breitenau. Bettler, Landstreicher, Prostituierte, Zuhälter und Fürsorgeempfänger in der Korrektions- und Landarmenanstalt Breitenau (1874-1949). Kassel 1992, S. 287. Siehe auch Scherer (1990), S. 50, 70. Vgl. Scherer (1990), S. 50. Männliche Homosexuelle wurden auf der Grundlage des § 175 StGB verfolgt und im Konzentrationslager als eine spezifische Gruppe mit einem rosa Winkel „markiert“. Weibliche Homosexuelle fielen nicht unter dieses Gesetz. Trotzdem wurden auch sie verfolgt und in KZ verschleppt, „eine qualvolle Erfahrung, die der Mehrzahl lesbischer Frauen glücklicherweise erspart blieb“. Claudia Schoppmann: Nationalsozialistische Sexualpolitik und weibliche Homosexualität. Pfaffenweiler 1991, S. 223. Vgl. ebd., S. 5, 214-226. Vgl. Scherer (1990), S. 55. Ebd., S. 52. Ebd., S. 50. Vgl. Ayaß (1992), S. 266-282. Siehe auch Scherer (1990), S. 29-35. Detlef Peukert: Arbeitslager und Jugend-KZ: Die „Behandlung Gemeinschaftsfremder“ im Dritten Reich. In: Ders./Jürgen Reulecke (Hrsg.): Die Reihen fast geschlossen. Wuppertal 1981, S. 413. Vgl. Uwe Lohalm: Die Wohlfahrtskrise 1930-1933. Vom ökonomischen Notprogramm zur rassenhygienischen Neubestimmung. In: Frank Bojahr/Walter Johe/Uwe Lohalm (Hrsg.): Zivilisation und 80 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 Barbarei. Die widersprüchlichen Potentiale der Moderne. Hamburg 1991, S 193-225. Vgl. Scherer (1990), S. 20f. Vgl. ebd., S. 77. Ebd., S. 21. Vgl. ebd., S. 42, 63. Vgl. Schoppmann (1991), S.67. Vgl. auch Scherer (1990), S. 10, 27. Ebd., S. 68. Ebd., S. 29. Vgl. Gaby Zürn, A. ist ein Prostituiertentyp. Zur Ausgrenzung und Vernichtung von Prostituierten und moralisch nicht-angepaßten Frauen im nationalsozialistischen Hamburg. In: Verachtet – Verfolgt – Vernichtet. Zu den „vergessenen“ Opfern des NS-Regimes. Hg. v. der Projektgruppe für die „vergessenen“ Opfer des NS-Regimes. Hamburg 1988, S 128-151; S. 129. Siehe auch Scherer (1990), S. 81. Scherer (1990), S. 80. Vgl. auch den Beitrag von Schulz über Lagerbordelle: Christa Schulz, Weibliche Häftlinge aus Ravensbrück in Bordellen der Männerkonzentrationslager, S 135-146, in: Claus Füllberg-Stolberg u. a. (Hg.), Frauen in Konzentrationslagern: Bergen-Belsen, Ravensbrück, Bremen 1994. Scherer (1990), S. 85. Ebd. Ebd., S. 45. Vgl. Ayaß (1992), S. 291. Vgl. Scherer (1990), S. 47. Ebd., S. 95. Vgl. ebd., S. 97. Vgl. Ayaß (1992), S. 309. Vgl. ebd., S. 264-287. Vgl. ebd., S. 287-292. Die folgenden Angaben und Zitate sind dem Filmprotokoll „Schicksal bleibt stumm. Das Leben der Betty V.“ von Barbara von Poschinger entnommen. Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 DIE SOGENANNTEN „U-BOOTE“ – ÜBERLEBT IM VERBORGENEN BRIGITTE BAILER-GALANDA Das Schicksal des jüdischen Mädchens Anne Frank, das mit seinen Eltern und Freunden der Familie in einem Hinterhaus in Amsterdam versteckt lebte, bis die Untergetauchten im August 1944 verraten und verhaftet wurden, hat unzählige Leser in der ganzen Welt gerührt. Doch auch in Wien konnten zahlreiche von der Deportation bedrohte Menschen den Krieg als Untergetauchte, sogenannte „U-Boote“ überleben; ihre genaue Zahl konnte bisher nicht zuverlässig eruiert werden.1 Sie organisierten sich nach 1945 kurzfristig im sogenannten „U-Boot-Verband“ mit Sitz in Wien IX, Universitätsstraße 8/3.2 Sehr viele dieser Menschen hatten Jahre der Angst, oft eingeschlossen in winzigen Verstecken und zur allermöglichsten Geräuschlosigkeit, oft infolgedessen auch beinahe Bewegungslosigkeit verurteilt, hinter sich.3 Nach der Befreiung 1945 gelang es ihnen nur mit Mühe, sich wieder an das normale Leben zu gewöhnen, Kontakt mit Menschen aufzunehmen. Sie trugen als Folge der ungeheuren Anspannung psychische Schäden davon, von denen sich manche auch später nicht mehr erholten. Herr N., der gemeinsam mit seinen beiden Geschwistern und seinen Eltern als Kleinkind in einem Wiener Keller überleben konnte, beschreibt rückblickend seinen Vater bis 1938 als lebenstüchtigen Mann, dessen Tatkraft und Organisationstalent auch das Hauptverdienst für das Überleben der Familie in der NS-Zeit zukam. Nach der Befreiung 1945 war der Vater jedoch ein gebrochener Mann, der mit dem Leben nicht mehr fertig wurde und dann seinerseits nur mit Hilfe der halbwüchsigen Kinder und seiner schwerkranken Frau überleben konnte.4 Die Mehrheit dieser „U-Boote“ waren wohl jüdisch Verfolgte. Ab 1942/43 entzogen sich auch österreichische Wehrmachtsangehörige, oft aus politischen Gründen, dem weiteren Kriegsdienst und tauchten unter. Sie erlebten das Kriegsende – soferne sie nicht verraten wurden – in ihren Verstecken, andere wiederum schlossen sich Partisanenverbänden an.5 Das Opferfürsorgegesetz berücksichtigte das Leben im Verborgenen vor der ➤ 12. Novelle vom 22. März 1961 überhaupt nicht als eigenen anspruchsbegründenden Verfolgungstatbestand, obschon über die Tatsache des Lebens als „U-Boot“ bereits 1945 einiges bekannt war. So schrieb das „Neue Österreich“ im Mai 1945: „Doch nicht jedem lag es, sich wehrlos wie ein Stück Vieh zur Schlachtbank treiben zu lassen. Und nicht jeder wollte untätig zusehen, wie Freunde und Verwandte in den qualvollen Tod gehetzt wurden. Einige der Gezeichneten rafften ihren letzten Mut zusammen, besprachen sich mit hilfsbereiten Freunden und beschlossen, sich zu verstecken. Das waren dann die geheimnisvollen ‚Unterseeboote‘. Viele Hunderte gab es davon in Wien – natürlich nicht nur Juden, sondern auch aus politischen Gründen Verfolgte und Gefährdete.“ 6 Die Diktion des Artikels muß als bemerkenswert gesehen werden – wenn schon einmal jüdische Opfer vorkamen, schwächte man sofort ab. Bis zur 12. Novelle standen ehemaligen „U-Booten“ keine Ansprüche aufgrund des Opferfürsorgegesetzes offen, es sei denn, sie konnten eine Einkommensschädigung um mehr als die Hälfte für mindestens dreieinhalb Jahre nachweisen, was – wie oben gezeigt – nicht leicht war. In diesem Falle konnten sie zumindest einen ➤ Opferausweis erhalten, nicht jedoch die ➤ Amtsbescheinigung. Die 12. Novelle nahm das Leben im Verborgenen dann als entschädigungswürdigen Tatbestand in das Gesetz auf, wobei jedoch einfaches Untertauchen nicht ausreichend war – es mußte unter „menschenunwürdigen Bedingungen“ erfolgt sein, als ob ein Leben in der Illegalität nicht an sich schon menschenunwürdig genug wäre. In den Anweisungen des Bundesministeriums für soziale Verwaltung an die Ämter der Landesregierungen für die Durchführung der 12. Novelle heißt es dazu: „Der Begriff des Lebens im Verborgenen unter menschenunwürdigen Bedingungen ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, der sich in Form einer generellen Weisung nicht genau umschreiben läßt, so daß die entscheidende Behörde innerhalb des ihr gesetzlich zugestandenen Rahmens eine entsprechende Entscheidungsfreiheit hat. Es wird Sache der Behörde sein, in jedem einzelnen Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 81 Kein Anspruch auf Opferfürsorge Was sind „menschenunwürdige Bedingungen“? Die sogenannten „U-Boote“ Falle nach Feststellung des für die Entscheidung maßgebenden Sachverhaltes in freier Beweiswürdigung zu beurteilen, ob die beiden Tatbestandsmerkmale des § 14 Abs. 2 lit. c OFG erfüllt sind. Der Begriff ‚Leben im Verborgenen‘ wird dahin auszulegen sein, daß darunter nicht nur ein Leben unter falschen Namen und Verstecken, sondern überhaupt ein Leben außerhalb der bürgerlichen Rechtsordnung zu verstehen sein wird. Das gleiche wird auch für die Tarnung oder Verheimlichung anderer für die Verfolgungsvorgänge wichtiger persönlicher Umstände wie z.B. Konfession und rassische Abstammung gelten. Das Tatbestandsmerkmal ‚unter menschenunwürdigen Bedingungen’ wird vorliegen, wenn nach dem Verfolgten intensiv gefahndet wurde und er sich deshalb nur in wirklichen Verstecken aufhalten konnte und oft die Flucht ergreifen mußte. Ebenso wird als menschenunwürdig anzusehen sein, wenn z.B. ein Verfolgter durch erzwungene Tarnung seinen Beruf aufgeben und einen anderen Beruf unter erniedrigenden und vielleicht ungesunden Bedingungen ausüben mußte. Bei einem Leben in einem Versteck oder auf der Flucht (ständiges Wechseln des Aufenthaltes, ohne an einem Ort aus verfolgungsbedingten Gründen länger verweilen zu können) würden die Voraussetzungen des § 14 Abs. 2 lit. c OFG jedenfalls bejaht werden können.“ 7 1965 sah sich das Bundesministerium für soziale Verwaltung genötigt, in einem Erlaß darauf hinzuweisen, daß „der Begriff ‚menschenunwürdige Bedingungen‘ vielfach zu eng ausgelegt wird“, und gesonderte neuerliche Erklärungen dazu zu liefern: „Der Verwaltungsgerichtshof hat dargelegt, daß unter ‚menschenunwürdig‘ nur etwas verstanden werden kann, was über die Verhältnisse eines im Verborgenen lebenden Menschen hinausgeht, und auch die Ansicht vertreten, daß es sich bei den menschenunwürdigen Bedingungen nicht um jene Schwierigkeiten handeln kann, die das Leben im Verborgenen zwangsläufig mit sich bringt; es müssen vielmehr noch besondere äußere Umstände hinzukommen, die das Leben im Verborgenen wesentlich erschweren, wie zum Beispiel das Leben in besonders unzulänglichen Unterkünften oder unter besonders ungünstigen Versorgungsverhältnissen.“8 Im Klartext hieß dies, daß die über Jahre dauernde Angst vor Entdeckung, die Sorge um die Verwandten oder Freunde, die enormen psychischen Belastungen infolge vielleicht beengten Lebens auf kleinem Raum allein nicht „menschenunwürdig“ genug waren, um einen Anspruch auf Entschädigung nach dem Opferfürsorgegesetz zu begründen, die öS 350,- pro Monat des Lebens im Verborgenen ausmachte.9 Die Behörden, aber auch der Verwaltungsgerichtshof beurteilten die Anträge der Opfer entsprechend den Durchführungsbestimmungen sehr engherzig. Der Wiener F. G. war im Juni 1942 in Wien festgenommen und in das Sammellager Kleine Sperlgasse 2a gebracht worden, von wo ihm jedoch die Flucht gelungen war. Bis Kriegsende hatte er unangemeldet in der Wohnung seiner späteren, nichtjüdischen Gattin gelebt. Nur zweimal hatte er es wegen eines Arztbesuches gewagt, die Wohnung zu verlassen. Das Amt der Wiener Landesregierung lehnte seinen Antrag auf Entschädigung mit der Begründung ab, daß er „sich während des gesamten Zeitraumes in der Wohnung seiner nichtjüdischen Frau aufgehalten und nur ganz selten in deren Begleitung das Haus verlassen habe“.10 Das Bundesministerium für soziale Verwaltung korrigierte in diesem Fall im Berufungsverfahren die Wiener Opferfürsorgebehörden.11 In einem anderen Fall lehnte sogar der Verwaltungsgerichtshof die Beschwerde eines Mannes ab, der nach der Deportation seiner Mutter und seiner Schwester untergetaucht war, jedoch teilweise seinen Lebensunterhalt mit Schwarzarbeiten in der Wiener Markthalle hatte verdienen können: „Wie er (der Berufungswerber, Anm. der Verf.) bei seiner Einvernahme am 15. Juli 1959 selbst angeführt habe, habe er während seines Lebens im Verborgenen durch Schwarzarbeit bei Fleischhauern seinen Lebensunterhalt verdient. Aus den Angaben der Zeugen W. und D. gehe hervor, daß der Berufungswerber während der angeführten Zeit bei diesen Personen und bei anderen Bekannten in der Wohnung gewohnt hat. Aus seiner Beschäftigung müsse geschlossen werden, daß es ihm möglich war, ohne jeweilige Behinderung seine Unterkunft zu verlassen und sich zu seiner Arbeitsstätte zu begeben. Besondere äußere Umstände, die das Leben im Verborgenen 82 Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 Brigitte Bailer-Galanda wesentlich erschweren, wie z.B. das Leben in besonders unzulänglichen Unterkünften oder unter besonders ungünstigen Versorgungsverhältnissen, seien vom Berufungswerber nicht nachgewiesen worden. Daß er durch den Nichtbezug von Lebensmittelkarten Hunger gelitten und deswegen unter menschenunwürdigen Bedingungen gelebt habe, könne gleichfalls aufgrund seiner Angaben und der Angaben der Zeugen, daß die ihn verköstigt hätten, nicht als erwiesen angenommen werden.12 Gleichfalls abgelehnt wurde die Beschwerde einer Wienerin, der es gelungen war, unter falscher Identität die NS-Herrschaft zu überleben.13 Die Bedeutung dieser Nicht-Anerkennung als Opfer beschreibt Herr N., bezugnehmend auf die verzweifelte Situation seines Vaters nach der Befreiung: „… aber richtig auf die Beine hat man niemandem geholfen. (…) Und was mein Vater eigentlich gebraucht hat, das war keine Wiedergutmachung, keine finanzielle Abgeltung. Er hat wieder respektiert werden wollen als Mensch, er hat dort weiter machen wollen, wo er im 38er Jahr aufgehört hat, aber das hat es natürlich nicht gegeben. (…) Aber man hätte ihm wenigstens das anerkennen sollen, daß er sieben Jahre seines Lebens praktisch in einem Kellerloch versteckt war, diskriminiert war, sein Leben bedroht war, und das hat man eigentlich bis zum Schluß nicht getan. (…) Wir haben dann nach Jahren, viele Jahre später, da war mein Vater schon tot, einen Opferausweis bekommen.“ 14 Erst mit der 21. Novelle (!) zum Opferfürsorgegesetz vom 11. November 1970 wurde die Situation verbessert: Die Novelle sah die Zuerkennung eines Opferausweises für das Leben im Verborgenen vor, falls dieses Leben mindestens sechs Monate gedauert hatte und auf dem Gebiet der Republik Österreich stattfand. Bezüglich der finanziellen Entschädigung blieb jedoch alles beim Alten, hier blieb die Zusatzbedingung „unter menschenunwürdigen Bedingungen“ aufrecht. Der Abgeordnete Otto Skritek (SPÖ) verwies 1970 bei seiner Rede im Nationalrat zu dieser Novelle darauf, „daß uns beim ‚Leben im Verborgenen‘ immer Anne Frank einfallen muss“. Der ➤ KZ-Verband setzte in seiner Pressekorrespondenz dazu: „Hohes Haus! Nach dem österreichischen Opferfürsorgegesetz würde man für dieses Leben einer Anne Frank in Amsterdam höchstens einen Opferausweis, aber für diesen Tatbestand keinerlei Entschädigung erhalten. Auch nicht nach dieser Novelle!“ 15 In der am 26. April 1972 beschlossenen 22. Novelle wurde dann auch dieser Mißstand behoben. Einerseits wurde die Klausel „auf dem Gebiet der Republik Österreich“ aus der Anspruchsvoraussetzung für den Opferausweis gestrichen, ebenso die „menschenunwürdigen Bedingungen“ als Voraussetzung für die finanzielle Entschädigung. Skritek sagte dazu im Nationalrat: „Ich möchte dem Herrn Minister besonders auch dafür danken, daß er ein jahrelanges Anliegen betreffend die Bestimmungen bezüglich des Lebens im Verborgenen wesentlich verbessert hat; das ist bei Gewährung des Opferausweises die Streichung der Worte ‚Gebiet der Republik Österreich‘. Damit sind auch die besetzten Gebiete eingeschlossen, das heißt, daß Menschen, die damals aus Österreich flüchten mußten und in einem besetzten Gebiet im Verborgenen lebten, einen Opferausweis erhalten. Die zweite entscheidende Verbesserung betrifft die Streichung des Passus ‚menschenunwürdige Bedingungen‘ gleichfalls für den Personenkreis, der im Verborgenen lebte, als Bedingung für die Entschädigung. Es handelt sich hier um ein Anliegen, das immer wieder vorgebracht wurde. Diese Frage wurde im Gesetz einschränkend behandelt, weil man fürchtete, daß eine Überprüfung schwer sei. Es ist klar, daß die Tatbestände heute natürlich auch nicht leicht feststellbar sind. Aber es ist doch sicherlich nicht möglich, daß man diesen Menschen nur deshalb etwas vorenthält, weil Österreich fast 25 Jahre gebraucht hat, ihnen einen gesetzlichen Anspruch zu geben, und dann natürlich die Prüfung etwas schwieriger ist.“16 Nie geklärt werden kann wohl, wieviele der ehemaligen „U-Boote“ diese Gesetzesänderung überhaupt noch erlebten. Diese Geste des Gesetzgebers kam zu einem Zeitpunkt, wo mit wesentlichen Mehrkosten im Bereich der Opferfürsorge nicht mehr gerechnet zu werden brauchte. Vor allem hatten die 350 Schilling im Vergleich zu 1961 bereits beträchtlich infolge der jährlichen Inflationsrate an Geldwert eingebüßt. Die Behandlung die- Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 83 Finanzielle Entschädigung oder moralische Rehabilitierung der Opfer ? Langes Warten auf einen gesetzlichen Anspruch Die sogenannten „U-Boote“ ser Opfer, die zu einem großen Teil bereits seit 1945 in Österreich lebten, bedürftig waren und an schweren Folgen zu tragen hatten, mag als ein Beispiel für die Kleinlichkeit der Opferfürsorgegesetzgebung, aber auch der mit der Vollziehung befaßten Behörden gegenüber den Opfern stehen. Aus: Brigitte Bailer-Galanda: Wiedergutmachung kein Thema. Löcker Verlag, Wien 1993, S. 145–149. 1 2 3 4 5 Die Israelitische Kultusgemeinde Wien gab 1950 die Zahl der „UBoote“, die die NS-Zeit in Wien hatten überleben können, mit 378 Personen an, wobei hierbei wahrscheinlich nur Mitglieder der Kultusgemeinde berücksichtigt sind. Israelitische Kultusgemeinde, Statistik der insgesamt nach Wien zurückgekehrten Juden, von 1945 bis 1950, Wien 1950, Institut für Zeitgeschichte, Wien, Nachlaß Albert Loewy; Gwyn Moser gibt die Zahl mit 619 an; dies., Jewish U-Boote in Austria 1938-1945, in: Simon Wiesenthal Center Annual, Volume 2, New York 1985, S. 55. Siehe auch: Brigitte Ungar-Klein, Bei Freunden untergetaucht – U-Boote in Wien, in: Kurt Schmid, Robert Streibel (Hrsg.), Der Pogrom 1938. Judenverfolgung in Österreich und Deutschland, Wien 1990, S. 87-92. Schreiben des „U-Boot-Verbandes“ an Ministerialrat Dr. Sobek, Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, Bestand KZ-Verband, Mappe Schriftwechsel. Die Mitgliederkartei des U-Boot-Verbandes befindet sich im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes. Vgl. beispielsweise die Schilderungen in: Peter Kunze, Dorothea Neff, Mut zum Leben, Wien 1983. DÖW-Projekt „Erzählte Geschichte“, Interviewabschrift Nr. 647. Zu den in Südkärnten operierenden slowenischen Partisanen siehe unter anderem: Mirko Messner, Widerstand der Kärntner Slowenen, in: Spurensuche. Erzählte Geschichte der Kärntner Slowenen, hrsg. v. Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes 84 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 et. al., Wien 1990 (Erzählte Geschichte. Berichte von Widerstandskämpfern und Verfolgten. Band 4: Kärntner Slowenen); Hanns Haas, Karl Stuhlpfarrer, Österreich und seine Slowenen, Wien 1977. Neues Österreich, 5. 5. 1945. Schreiben des Bundesministeriums für soziale Verwaltung an alle Ämter der Landesregierungen (OF-Referate) vom 18. 12. 1962, Zl. IV-105.047-20a/1962. DÖW Bibl. Nr. 1195. Der neue Mahnruf, Nr. 11, November 1965. Zum Vergleich: Das monatliche Durchschnittseinkommen eines Arbeiters betrug 1962 S 2420,-, das eines Angestellten oder Beamten S 3740,-, Wirtschaftsstatistisches Handbuch 1964, hrsg. v. der Kammer für Arbeiter und Angestellte Wien, Wien 1965, S. 217. Zitiert nach Bescheid des Bundesministeriums für soziale Verwaltung, Zl. IV-64.098-22/63. Privatbesitz Mag. Ungar-Klein. a. a. O. Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofs vom 28. 6. 1967, Zl. 254/67-3. Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofs vom 29. 5. 1968, Zl. 365/68-3. Die Entschädigung nach der 12. Novelle hat Familie N. erhalten. DÖW-Projekt „Erzählte Geschichte“, Interviewabschrift Nr. 647. Pressekorrespondenz des Bundesverbandes österreichischer Widerstandskämpfer und Opfer des Faschismus (KZ-Verband), Nr. 6, 12. 11. 1970. Zitiert nach: Der sozialistische Kämpfer, Nr. 5-6, Mai – Juni 1972. Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 F R A U E N I M W I D E R S TA N D Während des Zweiten Weltkrieges entfaltete sich eine militärische und politische Kampfform in einem bis dahin in der Geschichte unbekannten Ausmaß: der Partisanenkrieg. Durch ihn gelang es, die Operationen der Deutschen Wehrmacht zu behindern, deren Truppenverbände im Hinterland zu binden sowie Kriegsmaterial und Stützpunkte der Nazis zu vernichten. (…) Zwei Partisanenverbände mit mehreren Bataillons formierten sich in Kärnten, während in der Steiermark bewaffnete Widerstandsgruppen im Industriegebiet um Leoben/Donawitz sowie – unabhängig davon – im Gebiet der Koralpe operierten. Darüber hinaus gab es Partisanengruppen in Österreich nur noch im Tiroler Ötztal und im Salzkammergut/Ausseerland. In Kärnten hatte sich vor allem die slowenische Bevölkerung der partisanischen Befreiungsbewegung angeschlossen. Unter der NS-Herrschaft wurde die bereits vor 1938 ausgeprägt antislowenische Politik verschärft, die in der „Bereinigung der volkspolitischen Frage“ (➤ Himmler), d.h. in der physischen Vertreibung und Vernichtung der Kärntner Slowenen gipfeln sollte) (…) Mit der Einführung von Deutsch als Amtssprache, dem deutschsprachigen Unterricht an Kindergärten und Schulen, dem Berufsverbot für slowenische Beamte, Lehrer, Ärzte, für Teile der Priesterschaft leiteten die NS-Behörden die Germanisierung ein. Hatte bis dahin ein Großteil der Slowenen defensiv reagiert, so änderte sich diese Haltung, als im April 1942 einer Anordnung von Himmler zufolge (25.8.1941) die zwangsweise Massenaussiedelung der Slowenen begann. Nach einem festgeleten Plan wurde die ➤ Gestapo beauftragt, die Betriebe und Bauernhöfe von Kärntner Slowenen zu beschlagnahmen, einen „freiwilligen“ Verzicht auf ihr Eigentum zu verlangen oder sie mit ihrer Verschleppung ins KZ zu bestrafen. Als Tausende von ihnen in Lagern des „Altreichs“ verschwanden, sah sich die zurückgebliebene slowenische Bevölkerung veranlaßt, Widerstand zu leisten. Im April 1941 hatte sich in Slowenien/Jugoslawien als überparteiliche Organisation die Befreiungsfront OF (Osvobodilna Fronta) gebildet. Neben der Entfachung des Widerstandskampfes gehörte zu deren Aufgaben die politische Aufklärungsarbeit, Agitation und Propaganda sowie das Einfädeln von Verbindungen zur Bevölkerung. Immer mehr Kärntner Slowenen sympathisierten mit dieser Befreiungsbewegung, unterstützten sie tatkräftig oder gingen selbst zu den Partisanenverbänden über. (…) Die Taktik der Partisanen, zumeist Einheimische, mit den lokalen Gegebenheiten bestens vertraut, bestand darin, den zahlenmäßigen und militärisch überlegenen Feind im Schutz waldreicher und gebirgiger Gegenden durch blitzartige, oft zur gleichen Zeit mit kleineren Trupps durchgeführte Gefechte zu verwirren. Dadurch wurde der Gegner gezwungen, größere Einheiten von der Front abzuziehen oder neue Formationen in diesen Regionen aufzustellen. Die Ausbreitung der Partisanen, die im Frühjar 1944 die Drau überquert hatten und bis in die Nähe von Klagenfurt/Celovec vorgestoßen waren, gab Anlaß, das SS-Polizei-Regiment 13 nach Kärnten zu verlegen. Um die Partisanen von der Bevölkerung zu isolieren, hießen sie im NS-Sprachgebrauch „Banditen”. Bestimmte Regionen wurden zum „Bandenkampfgebiet“ erklärt. Im Leobner Raum brachte die Gestapo Steckbriefe der Widerstandskämpfer mit einem Kopfgeld von 10.000 RM an. Trotz dieser Maßnahmen halfen zunehmend mehr Menschen den Partisanen. In der Gegend von Eisenkappel/Železna Kapla war diese Unterstützung besonders hoch – nach Gendarmerieberichten 90 Prozent der ansässigen Bevölkerung. Ohne die Mithilfe von Frauen, welche die Basisarbeit leisteten, indem sie Nachrichten beschafften und die Versorgung sicherstellten, wäre jede Guerillabewegung von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen. Im Leobner Gebiet waren etliche Frauen in den Ämtern tätig und konnten aufgrund ihrer Informationen die Partisanen vor den Razzien der Gestapo und der ➤ SS rechtzeitig warnen. Mit der Gründung der antifaschistischen Frauenfront AFZˇ im März 1943 auf österreichischem Boden gelang es, weitere Aktivistinnen für den Widerstandskampf zu gewinnen und in die politische Arbeit einzubinden. (…) Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 Aus: Karin Berger, Elisabeth Holzinger u.a. (Hrsg.): Der Himmel ist blau. Kann sein. Frauen im Widerstand Österreich 1938-1945, Edition Spuren promedia Verlag, Wien 1985, S. 162-163 85 ZeugInnen Jehovas D I E V E R F O L G U N G D E R Z E U G E N U N D Z E U G I N N E N J E H O VA S Die Vereinigung der „Bibelforscher“ bzw. der „Zeugen Jehovas“, wie sie sich ab 1931 nannten, wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den USA gegründet. Mitte der Zwanziger Jahre gab es in Deutschland bereits über 20.000, in Österreich über 500 bekennende BibelforscherInnen. Die Bibelforscher-Vereinigung wurde zunächst vor allem von der Kirche, dann auch von völkischer und von nationalsozialistischer Seite vehement bekämpft. Kritisiert wurden vor allem folgende Grundzüge der Lehre: die Predigt vom nahenden „Untergang der alten Welt und der sie tragenden Mächte Politik, Kapital und Kirche“, die heftige Kritik an Papst und Kirche, die Lehre von der Gleichheit der Rassen, das Bekenntnis zur zionistischen Bewegung und die Feststellung, dass ChristInnen allein der göttlichen Obrigkeit und nicht den staatlichen Regierungsgewalten Gehorsam schuldeten. In einigen deutschen Bundesländern und auch in Österreich ging man bereits vor der NS-Machtübernahme vor. So wurden während des Austrofaschismus unter Dollfuß ihre Zeitschriften, u.a. „Der Wachtturm“, zensuriert, ➤ Schuschnigg ließ die ZeugInnen Jehovas am 17. Juni 1935 verbieten. Die Verfolgung der ZeugInnen Jehovas im Nationalsozialismus Bereits wenige Wochen nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland wurden die ZeugInnen Jehovas in allen Bundesländern als erste Glaubensgemeinschaft verboten. Viele ZeugInnen führten jedoch ihre Versammlungen und „Haus-zu-Haus“-Missionen fort und widersetzten sich den nationalsozialistischen Vorschriften und Verhaltensregeln: So verweigerten sie den Hitlergruß, nahmen nicht an nationalsozialistischen „Wahlen“ und „Volksabstimmungen“ teil und verweigerten die Mitgliedschaft in NS-Zwangskörperschaften, etwa in der ➤ Deutschen Arbeitsfront (DAF), was für viele ZeugInnen zum Verlust ihres Arbeitsplatzes, ihrer Geschäfte und Wohnungen, zur Vernichtung ihrer gesamten wirtschaftlichen Existenz führte. Die im Staatsdienst beschäftigten ZeugInnen Jehovas wurden nach dem ➤ „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933 entlassen. Wenn ZeugInnen nicht bereit waren, ihre Kinder in die „Hitlerjugend“ zu geben, konnte das sogar zu Sorgerechtsentziehung und Abnahme der Kinder führen. Bei der Gestapo wurde 1937 ein „Sonderreferat“ für das Vorgehen gegen die ZeugInnen eingerichtet, NS-Sondergerichte verurteilten in den sogenannten „Bibelforscherverfahren“ Tausende von ihnen zu mehrmonatigen Gefängnisstrafen. Trotz der verschärften Repressionen setzten weit mehr als 10.000 ZeugInnen Jehovas ihre Arbeit fort, indem sie ihre Strukturen den Bedingungen der Illegalität anpassten. Nach den im August und September 1936 stattfindenden Massenverhaftungen übernahmen verstärkt die weiblichen Mitglieder die Untergrundarbeit. Eine zweite 86 große Verhaftungswelle im Herbst 1937 führte schließlich zur Zerschlagung der Untergrundorganisation im „Altreich“. Die österreichischen ZeugInnen konnten ihre Missionsarbeit trotz mehrerer Verhaftungswellen noch bis Juni 1940 fortsetzen. Die Verhafteten wurden wegen „Zersetzung der Wehrkraft“ oder „Teilnahme an einer wehrfeindlichen Verbindung“ zu mehreren Jahren Gefängnis bzw. Zuchthaus verurteilt und kamen anschließend in ein Konzentrationslager. Zahlreiche ZeugInnen wurden aber auch ohne Gerichtsverfahren unmittelbar in ein KZ eingewiesen. ZeugInnen Jehovas in den Konzentrationslagern Die ZeugInnen Jehovas bildeten in den Konzentrationslagern eine geschlossene Gemeinschaft, die sich durch ihren Gruppenkodex und starken Zusammenhalt von anderen Häftlingsgruppen unterschied. Bis zu Kriegsbeginn stellten sie oftmals eine der größten Häftlingsgruppen dar. Sie waren v.a. anfangs Schikanen und Mißhandlungen durch das ➤ SS-Wachpersonal ausgesetzt. Im KZ Mauthausen starben im Winter 1939/40 mehr als 50 der damals inhaftierten 143 Zeugen Jehovas. Nach Kriegsbeginn und der Einweisung anderer Gruppen in die Konzentrationslager verbesserte sich ihre Situation. Da sie aus Glaubensgründen eine Flucht aus dem Lager prinzipiell ablehnten und die Arbeiten, die sich mit ihrem Glauben vereinbaren ließen, gewissenhaft verrichteten, wurden sie von der SS auch vermehrt in sogenannten „Vertrauensstellungen“ eingesetzt. Von den 25.000 deutschen und österreichischen ZeugInnen Jehovas zu Beginn des Dritten Reiches wurden ungefähr 10.000 inhaftiert, davon über 2000 in Konzentrationslagern. Die Zahl der Todesopfer liegt bei 1200. Damit wurden die ZeugInnen Jehovas von allen religiösweltanschaulichen Gruppen – nach den Angehörigen des jüdischen Glaubens – am härtesten verfolgt. Dennoch zählen sie zu den „vergessenen Opfern“, sie sind lange Zeit weder im bundesdeutschen noch im österreichischen Entschädigungsrecht als Verfolgte des Nationalsozialismus anerkannt worden. In Österreich haben sie durch den 1995, also 50 Jahre nach Kriegsende, geschaffenen ➤ „Nationalfonds für die Opfer des Nationalsozialismus“ einen Anspruch auf eine einmalige Entschädigung er halten. Heidrun Schulze Diese Zusammenfassung beruht wesentlich auf folgenden Artikeln: Detlef Garbe: Widerstand aus dem Glauben. Die Verfolgung der Zeugen Jehovas in Deutschland und Österreich unter nationalsozialistischer Herrschaft. Vortrag gehalten auf der Tagung „Zeugen Jehovas: Vergessene Opfer des Nationalsozialismus?“, Wien am 29.1.1998; Detlef Garbe: Kompromißlose Bekennerinnen. Selbstbehauptung und Verweigerung von Bibelforscherinnen, in: Christl Wickert (Hrsg.): Frauen gegen die Diktatur – Widerstand und Verfolgung im nationalsozialistischen Deutschland, Edition Hentrich, Berlin 1995, S. 52-73. Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 Homosexuelle D I E V E R F O L G U N G H O M O S E X U E L L E R W Ä H R E N D D E S N AT I O N A L S O Z I A L I S M U S Verfolgung, Ausgrenzung und Kriminalisierung von Männern und Frauen aufgrund sexueller gleichgeschlechtlicher Orientierung stellen keine Erfindung des Nationalsozialismus dar. Vielmehr lassen sich Kontinuitäten strafrechtlicher Verfolgung sowohl für die Zeit vor dem NS-Regime sowie lange Jahre danach, in Österreich bis 1994, auffinden. Während in Österreich nach dem Gesetz von 1852 für „Unzucht wider die Natur“ (§129) Personen beiderlei Geschlechts zu Strafen von ein bis fünf Jahren Kerker verurteilt wurden, so stand nach dem preußischen Strafgesetzbuch von 1851 explizit nur noch die widernatürliche Unzucht zwischen Männern unter Strafe (§143). In Deutschland ging der §143 bei Gründung des Deutschen Reiches 1851 unverändert als § 175 in das neue Strafgesetzbuch ein und war auch nach der nationalsozialistischen Machtübernahme 1933 weiterhin wirksam. In Österreich wurde auch nach dem Anschluss 1938 und trotz einer weitgehenden Vereinheitlichung von Strafrecht und Rechtsbestimmungen weiterhin sowohl männliche als auch weibliche Homosexualität unter Strafe gestellt. Obwohl die Strafverfolgung von Frauen (§129) in Österreich weiterhin wirksam war, waren Männer in weitaus stärkerem Maß einer Strafverfolgung ausgesetzt. Nach 1938 nahm die Zahl der in Wien aufgrund ihrer Homosexualität verurteilten Männer um 40% zu, die der Frauen verdoppelte sich, blieb aber weit unter der Zahl der verurteilten Mörder. Die unterschiedliche Strafverfolgung erklärt sich aus den gültigen Interpretationen der Geschlechtscharaktere. Während bei homosexuellen Männern vor allem die Zeugungskraft vergeudet würde, so würden durch die weibliche Homosexualität eine Steigerung erwünschter Geburten und damit die bevölkerungspolitischen Intentionen nicht ernsthaft gefährdet. Hinzukommt, dass nach Auffassung der Juristen die männliche Sexualität (Penetration) als Norm gesetzt wurde. Als Instrument der Bekämpfung erwiesen sich neben den Justizbehörden vor allem SS und Polizei. Es blieb aber vielmehr im Ermessensspielraum der Gestapo, ob die Betreffenden dem Gericht übergeben, in „Schutzhaft“ genommen oder in ein Konzentrationslager eingewiesen wurden. Grundsätzlich fiel die Bekämpfung des „nichtpolitischen Verbrechertums“ der Kriminalpolizei zu, allerdings wurde in Berlin 1934 von der Gestapo ein eigenes Sonderdezernat „Homosexualität“ eingerichtet und 1936 eine „Reichszentrale für Bekämpfung der Homosexualität und Abtreibung“. Nach diesem Vorbild wurde auch bei der Wiener Gestapo ein Referat „Homosexualität und Abtreibung“ eingerichtet. Die Aufgabe dieser Referate bestand vor allem in der Registrierung verdächtiger Personen. Trotz verschärfter Verfolgung war die Haltung der Nationalsozialisten zur Homosexualität von Widersprüchen geprägt, nicht zuletzt von taktischen Überlegungen bestimmt, und wurde in gewissen NS-Kreisen sogar toleriert oder ignoriert, wie etwa bei Ernst Röhm, SA-Stabschef und Vertrauter Hitlers. In der männerbündischen Welt der paramilitärischen Organisationen war latente oder offene Homosexualität durchaus nicht unbekannt. Unter der NS-Herrschaft wurden etwa 50.000 Männer wegen Vergehen gegen den §175 gerichtlich verurteilt. Die Zahl der aufgrund von Homosexualität in Konzentrationslagern internierten Personen ist nicht genau feststellbar, Schätzungen liegen bei etwa 5000 bis 15.000 Männern. In den Konzentrationslagern wurden männliche Homosexuelle als eigene Häftlingskategorie durch einen rosa Winkel gekennzeichnet. Für homosexuelle Frauen gab es keine derartige Kennzeichnung, vielfach wurden sie der Gruppe der sogenannten „Asozialen“ zugeordnet. Aus diesem Grund liegen keine Zahlen über aufgrund von Homosexualität in Konzentrationslagern inhaftierte Frauen vor, wie auch insgesamt weibliche Homosexualität wesentlich stärker im Verborgenen gelebt wurde als männliche. Viele der in den Lagern internierten Homosexuellen wurden ermordet. Jedoch kurz vor Kriegsende wurde ein Teil der männlichen Homosexuellen freigelassen und zum Frontdienst in der Wehrmacht eingezogen. Die Verfolgung von Homosexuellen blieb allerdings auf das Reich und die eingegliederten Gebiete beschränkt. Für ein Vorgehen gegen Homosexuelle in den besetzten Ländern gibt es keine Beweise, wie auch nicht von einer systematischen Ermordung dieser Bevölkerungsgruppe während des Nationalsozialismus gesprochen werden kann. Nach 1945 blieb die NS-Ideologie weiterhin wirksam, so dass auch in der Nachkriegszeit die Strafverfolgung noch intensiver war als in den Jahren der Ersten Republik. Die Kontinuität in der gesellschaftlichen Einstellung zu Homosexualität zeigt sich auch an der Entschädigungspraxis nach 1945. Sowohl in Österreich als auch in Deutschland wurde die Rechtmäßigkeit der strafrechtlichen Verfolgung Homosexueller nicht in Frage gestellt. Für die homosexuellen Opfer gab es bis in die neunziger Jahre weder eine ideelle noch eine finanzielle Entschädigung. Die Opferfürsorge schließt bis heute die Anerkennung Homosexueller aus. Seit 1995 besteht allerdings auch für diese so lange „vergessene“ Opfergruppe die Möglichkeit, über den Nationalfonds der Republik Österreich für die Opfer des Nationalsozialismus eine finanzielle Entschädigung zu erhalten. Gudrun Wolfgruber Diese Zusammenfassung beruht wesentlich auf folgenden Publikationen: Claudia Schoppmann: Verbotene Verhältnisse. Frauenliebe 1938-1945. Querverlag, Berlin 1999; Albert Müller/Christian Fleck: „Unzucht wider die Natur“. Gerichtliche Verfolgung der „Unzucht mit Personen gleichen Geschlechts“ in Österreich von den 1930er bis zu den 1950er Jahren. In: ÖZG 9, 1998, 3, S. 400-422; Eberhard Jäckel/Peter Longerich/Julius Schoeps (Hrsg.): Enzyklopädie des Holocaust. Die Verfolgung der europäischen Juden. 3 Bde., Piper, München/ Zürich 1995, Bd. II, Homosexualität, S. 622-623. Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 87 Opferfürsorgegesetzgebung Die Israelitische Kultusgemeinde Rückstellungsgesetzgebung Vergleich Österreich-Deutschland Der Nationalfonds Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 Rückstellung und Entschädigung In welchem Ausmaß den Opfern des Nationalsozialismus ihr zwischen 1938 und 1945 entzogenes und geraubtes Vermögen nach 1945 rückgestellt wurde, welche Gruppen für ihre Verfolgung und Vertreibung entschädigt wurden und welche nicht, lässt sich heute noch nicht eindeutig beantworten. Dieser Themenkomplex ist jedoch Untersuchungsgegenstand der österreichischen Historikerkommission, so dass in den nächsten Jahren mit neuen Erkenntnissen zu rechnen ist. Beide Gesetzeskomplexe, sowohl die ➤ Rückstellungsgesetzgebung als auch das ➤ Opferfürsorgegesetz (OFG), das Entschädigungen für NS-Opfer primär nach dem Fürsorgeprinzip regelte, zeichnen sich durch eine unübersichtliche Vielzahl von Gesetzen und Gesetzesnovellen aus. Wichtig für die Einschätzung des tatsächlichen Ausmaßes der Rückstellungen und Entschädigungen ist aber auch die bis heute kaum beleuchtete Rechtsprechung in Fragen der Rückstellungen und der Entschädigungen, in der sich die Mängel und Lücken der Gesetzgebung oftmals nachteilig für die Interessen der AntragstellerInnen, also der Enteigneten und Verfolgten, auswirken. Das folgende Kapitel soll einen ersten Überblick über die Geschichte der Entschädigung und Rückstellung im innen- und außenpolitischen Kontext der Zweiten Republik bieten und die wichtigsten Aspekte der Gesetzgebung näher beleuchten. Brigitte Bailer-Galanda skizziert in zwei Beiträgen die Grundzüge einerseits des Opferfürsorgegesetzes, andererseits der Rückstellungsgesetzgebung und ihre jeweilige Praxis in der Zweiten Republik. Die Entstehungsgeschichte beider Gesetzeskomplexe, die zwar getrennt voneinander zu sehen sind, sich aber in bestimmten Bereichen überschneiden, illustriert vor dem Hintergrund der innenpolitischen Situation der ersten Nachkriegsjahrzehnte auch den Umgang Österreichs mit seiner Vergangenheit. Die Einrichtung des „Nationalfonds der Republik Österreich für die Opfer des Nationalsozialismus“ im Jahr 1995 führte zu einer wesentlichen Erweiterung des Kreises anspruchsberechtigter Personen in der Entschädigungsfrage. Die wichtigsten Veränderungen gegenüber dem OFG – etwa die Berücksichtigung der bislang „vergessenen Opfer“ (siehe dazu das vorhergehende Kapitel) –, die Ziele und Tätigkeitsfelder des Fonds, das Ausmaß der bisher erfolgten Entschädigungszahlungen u.a. werden in einem Gespräch mit Hannah Lessing, der Generalsekretärin des Nationalfonds, thematisiert. Georg Graf erläutert in einem Interview einige konkrete Probleme der komplexen Rückstellungsgesetzgebung und -praxis aus juristischer Perspektive.Welche Rolle die Aktivitäten der „Opferverbände“ und der ➤ Israelitischen Kultusgemeinde bezüglich Rückstellungen und Entschädigungen in den Nachkriegsjahrzehnten spielten, schildert Helga Embacher in ihrem Beitrag. Dabei wird deutlich, dass eine „Hierarchie der Opfergruppen“, wie sie letztlich im Opferfürsorgegesetz festgeschrieben wurde, auch von den einzelnen Opfervertretungen aufgegriffen wurde und zu erheblichen Konflikten zwischen ihnen führte. Der Aufsatz von Frank Stern widmet sich vor allem den außenpolitischen Faktoren bzw. der Rolle der internationalen Öffentlichkeit in der Frage der „Wiedergutmachung“ für NSOpfer und zeichnet die Unterschiede und Gemeinsamkeiten des österreichischen und des bundesdeutschen Weges der „Wiedergutmachung“ nach. Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 89 DIE OPFERGRUPPEN UND DEREN ENTSCHÄDIGUNG BRIGITTE BAILER-GALANDA Die nur sehr zögerlich und vorwiegend unter alliiertem bzw. internationalem Druck zu Stande gekommenen Maßnahmen der Republik Österreich zu Gunsten der Opfer des Nationalsozialismus waren und sind auf eine ganze Reihe gesetzlicher Bestimmungen aufgesplittert, wodurch es den Betroffenen sehr erschwert wurde, zu ihrem Recht zu gelangen. Gleichzeitig entschied sich der Gesetzgeber bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit gegen eine Gleichbehandlung aller NS-Opfer, wodurch es zu grundlegenden Ungleichbehandlungen und Diskriminierungen einer Gruppe von Verfolgten kam.1 Tatsächliche Entschädigung wurde nur in geringem Ausmaß geleistet; mit Ausnahme der ➤ Rückstellungsgesetzgebung sahen alle anderen Maßnahmen der Republik nur Pauschalentschädigungen bis zu einer bestimmten Schadenshöhe und in Abhängigkeit vom Einkommen des Antragstellers vor. D.h. wer das Glück hatte, sich nach 1945 neuerlich eine gute Existenz aufzubauen zu können, wurde für seine Verluste in geringerem Ausmaß entschädigt als jemand, dem dies nicht gelungen war. Damit finden wir bei der Frage der materiellen Entschädigung (mit Ausnahme der Rückstellungsgesetzgebung) denselben prinzipiellen Fürsorgegedanken wie im ➤ Opferfürsorgegesetz, das Versorgungsrenten für in ihrer Erwerbsfähigkeit geschädigte Opfer vorsah. Dieser Grundzug der NS-Opfer-Gesetzgebung geht zurück auf die Position Österreichs, das Land – sich selbst pauschaliter als Opfer des NSRegimes sehend – habe keine Verantwortung für die Verfolgung zu tragen und daher auch keinerlei Verpflichtung zur Entschädigung oder „Wiedergutmachung“. Nur Motive der humanitären Hilfe und soziale Überlegungen bewegten die Verantwortlichen, in Not geratenen Verfolgten Hilfestellung zu gewähren. So die offizielle Leseart.2 Probleme im Opferfürsorgegesetz Österreichische Staatsbürgerschaft als Voraussetzung Insbesondere das Opferfürsorgegesetz – neben den Rückstellungsgesetzen der zweite Eckpfeiler der so genannten „Wiedergutmachung“ 3 – sah eine Reihe von Trennlinien vor, nach denen die NS-Opfer geteilt wurden. Die wesentliche Linie verlief zwischen Noch- oder Wieder-Österreichern auf der einen und ehemaligen Österreichern auf der anderen Seite. Die Republik sah sich primär nur dazu veranlasst, für jene NS-Opfer zu sorgen, die nach wie vor die österreichische Staatsbürgerschaft besaßen und damit im Falle ihrer Mittellosigkeit oder Erwerbsunfähigkeit dem Staat ohnehin in der einen oder anderen Form zur Last fallen könnten. So können fortlaufende Rentenleistungen aus dem Opferfürsorgegesetz nur von Österreichern mit aufrechter österreichischer Staatsbürgerschaft bezogen werden.4 Menschen, die 1938 und danach aus Österreich flüchten mussten und anschließend eine andere Staatsbürgerschaft angenommen haben, bleiben bis heute von den wesentlichen Leistungen des Opferfürsorgegesetzes ausgeschlossen. Nur einzelne Entschädigungsleistungen (für Haft- bzw. Internierungszeiten, Leben im Verborgenen, Tragen des diskriminierenden Judensterns 5) können auch von ehemaligen Österreichern beansprucht werden. Die Höhe der Entschädigung ist seit Anfang der sechziger Jahre gleich geblieben: S 860,- pro Monat der Haft (entsprach damals der durchschnittlichen Invaliditätspension eines Arbeiters, lag aber deutlich unter der Alterspension, die sich für Arbeiter knapp über S 1.000,bewegte 6), S 350,- pro Monat der „Freiheitsbeschränkung“ oder des Lebens im Verborgenen, S 6.000,- für mindestens 6 Monate Tragens des Judensterns. Weiters konnten sie aus den drei Hilfsfonds 7 Pauschalzahlungen im Falle von Berufs- und Einkommensschäden sowie einmalige Unterstützungszahlungen – abhängig von Alter und Gesundheitszustand – erhalten.8 Wie weit diese Menschen in der Lage waren, ihre Existenz aus eigenem Erwerb zu sichern, interessierte Österreich nicht mehr. Diese Sicherung wurde und wird nur Menschen mit aufrechter österreichischer Staatsbürgerschaft zugestanden. Es dauerte darüber hinaus bis in die fünfziger Jahre, bis Pensionen – die auf Grund von vor 1938 erworbenen Versicherungszeiten angefallen waren – auch ins Ausland überwiesen wurden.9 90 Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 Brigitte Bailer-Galanda Wieweit diese restriktive Haltung gegenüber den Vertriebenen – meist mit abwertendem Unterton „Emigranten“ genannt – den beträchtlichen, dieser Verfolgtengruppe entgegengebrachten Vorurteilen oder schlicht Sparsamkeitserwägungen entsprach, ist auf Grund des derzeitigen Forschungsstandes nicht abzuschätzen. Jedenfalls war damit die zahlenmäßig größte Gruppe von Verfolgten weitgehend von Hilfe und Entschädigung ausgeschlossen, ebenso jene Überlebenden, die nach 1945 Österreich verlassen hatten, weil sie das Leben hier nicht mehr ertrugen. Die letzte Novelle zum Staatsbürgerschaftsgesetz ermöglicht es ihnen nunmehr wohl, die österreichische Staatsbürgerschaft zusätzlich zu ihrer bisherigen wieder zu erwerben und auf diese Weise antragsberechtigt zu werden,10 doch diese Maßnahme kommt äußerst spät. Die Republik musste nur mehr mit geringen daraus resultierenden Kosten rechnen. Eine weitere wesentliche Trennlinie verläuft zwischen den Opfern des politischen Widerstandes und jenen der nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen. In der unmittelbaren Nachkriegszeit war Unterstützung durch das Opferfürsorgegesetz ausschließlich Opfern des politischen Widerstandes vorbehalten, die Opfer der rassistischen Verfolgung blieben zur Gänze unberücksichtigt, außer es bestätigte ihnen jemand, sie seien vor 1938 politisch aktiv gewesen.11 Mit dem 1947 verabschiedeten, in seinen Grundzügen bis heute geltenden neuen Opferfürsorgegesetz änderte sich diese Situation nur geringfügig. Eine Amtsbescheinigung – die alleine zum fortlaufenden Rentenbezug ermächtigt – war jenen vorbehalten, die für ein unabhängiges Österreich „mit der Waffe in der Hand gekämpft oder sich rückhaltlos in Wort oder Tat eingesetzt“ 12 hatten, d.h. de facto allen jenen, die aus „politischen“ Gründen inhaftiert worden oder sonst wie zu Schaden gekommen waren. Für die Verfolgungsopfer war nur ein ➤ Opferausweis vorgesehen, der abgesehen von einem geringfügigen Steuerfreibetrag kaum Vorteile für die Betroffenen brachte. Erst nach und nach, beginnend mit 1949, wurden auch die Verfolgungsopfer in den Kreis der Rentenanspruchsberechtigten aufgenommen, mussten jedoch bis in die sechziger Jahre hinauf schwereren Schaden als Widerstandskämpfer erlitten haben.13 Die diskriminierende Unterscheidung ➤ Amtsbescheinigung und Opferausweis besteht allerdings bis heute. So wurde zwar 1969 die erzwungene Flucht aus Österreich als Verfolgungstatbestand anerkannt, berechtigt allerdings ebenso wie das Überleben im Verborgenen nur zum Bezug eines Opferausweises.14 Aber auch der Widerstand gegen den Nationalsozialismus wird in sich weiter kategorisiert. Für die Opferfürsorge zählt nur ausdrücklich politische Aktivität gegen den Nationalsozialismus als Widerstand. Vorgeblich unpolitische oppositionelle Handlungen, obgleich auch diese zu Inhaftierungen, KZ-Haft oder sogar Hinrichtung führen konnten, finden nur in engen Grenzen Berücksichtigung. Aus Mitmenschlichkeit gesetzte Hilfsmaßnahmen für Verfolgte etwa zählten nur dann als Widerstand, wenn zu den Verfolgten keine verwandtschaftlichen oder freundschaftlichen Bindungen bestanden, wie die aus solchen Gründen ins KZ Auschwitz verbrachte Ella Lingens erfahren musste.15 Wurde jemand wegen abfälliger Äußerungen über das NS-Regime oder Abhörens ausländischer Sender verurteilt, musste er nach 1945 gegenüber der Behörde seine dahinter stehenden politischen Motive glaubhaft machen, wobei politisch meist im Sinne von parteipolitischer Orientierung begriffen wurde. Frauen, die wegen verbotenen Umgangs mit „Fremdarbeitern“ oder Kriegsgefangenen verurteilt wurden, gelten nicht als Widerstandskämpferinnen.16 Und auch ein Franz Jägerstätter wurde nicht als Opfer politischen Widerstandes anerkannt.17 Wie insgesamt militärische Delikte – wie Fahnenflucht beispielsweise – nur selten im Sinne des OFG anerkannt wurden, da – so die Begründung der Behörden – Desertion in allen Armeen der Welt strafbar sei. Unberücksichtigt bleiben daher die historischen Gegebenheiten, wie die besondere Härte der nationalsozialistischen Militärgerichtsbarkeit, der Charakter des deutschen Angriffskrieges, etc.18 Ebenso erkannten Gesetzgeber und Behörden nicht alle vom NS-Staat Verfolgten als anspruchsberechtigt an. Die von den Nationalsozialisten gesetzten Stigmatisierungen wirkten Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 91 Amtsbescheinigung versus Opferausweis Kontinuität von Stigmatisierungen Die Opfergruppen und deren Entschädigung Benachteiligung unterer Einkommensschichten in der Rechtsdurchsetzungsfähigkeit nach 1945 in Entschädigungsfragen weiter. Trotzdem der rassistische Charakter der Verfolgung und Ermordung von Roma und Sinti 19 klar auf der Hand lag, wurden die Opfer der ersten Verhaftungswellen 1939 im Sinne des damals angegebenen Haftgrundes als angeblich wegen ihrer „kriminellen“ Neigungen Inhaftierte oftmals von den OF-Behörden abgelehnt. Insgesamt waren Roma und Sinti als Antragsteller mit einer starken Vorurteilskontinuität konfrontiert, wodurch eine Durchsetzung ihrer Ansprüche deutlich erschwert und oftmals verunmöglicht wurde. Diese jahrzehntelangen schlechten Erfahrungen führen dazu, dass überlebende Opfer aus diesem Kreis sich scheuen, neuerliche Anträge, z.B. an den ➤ Nationalfonds, zu stellen und damit mögliche Entschädigungszahlungen versäumen. Auf diese Weise wirkt die Diskriminierung der letzten Jahrzehnte verhängnisvoll weiter. Bis 1995 waren drei Gruppen von Verfolgten gänzlich von jeder Entschädigungs- oder Hilfeleistung ausgeschlossen:20 die Opfer der nationalsozialistischen „Erbgesundheitsgesetze“, d.h. der Zwangssterilisierungen und der so genannten ➤ „Euthanasie“, die als sogenannte „Asoziale“ Verfolgten, d.h. mehrheitlich soziale Außenseiter bzw. Angehörige von Randgruppen, unangepasste Jugendliche etc., wegen ihrer sexuellen Neigung verfolgte Homosexuelle. Deren Anerkennung als NS-Opfer standen weiterwirkende gesellschaftliche Vorurteile entgegen, die auch vor den Vertretern der übrigen Opfer nicht Halt machten. So wehrten sich die drei politischen Opferverbände stets gegen die Aufnahme dieses Personenkreises in das Opferfürsorgegesetz. Erst der Nationalfonds schuf hier eine Abhilfe. Nur leben heute nur mehr ganz wenige dieser ehemaligen Verfolgten oder aber haben nach Jahrzehnten der Ablehnung nicht den Mut oder die Energie, um eine Zahlung aus dem Fonds anzusuchen. Grundsätzlich anerkannten die OF-Behörden nach 1945 nicht den unterschiedlichen Charakter einer republikanischen Strafbestimmung und nationalsozialistischer Unrechtspflege. So wurde Homosexuellen unter Hinweis auf die bis in die siebziger Jahre geltende Strafbarkeit gleichgeschlechtlicher Beziehungen jede Entschädigung und auch die Anrechnung der Haftzeiten für die Pension verweigert.21 Die als angeblich „asozial“ verfolgten Menschen sahen sich mit dem mehr oder weniger ausgesprochenen Vorwurf konfrontiert, ihre Inhaftierung wäre wohl zu Recht erfolgt; Sterilisierung wurde als nicht typisch nationalsozialistische, sondern medizinische Maßnahme klassifiziert. Doch auch für die anerkannten Gruppen saß der Teufel im Detail: Was hilft es jemandem, einen Steuerfreibetrag zu erhalten, der so wenig verdient, dass er beinahe keine Lohnsteuer zu zahlen braucht? Wie soll jemand einen Einkommensschaden, d.h. Minderung des Einkommens um mehr als die Hälfte, geltend machen, der vor seiner Verfolgung mehrheitlich unangemeldet gearbeitet hat? Wie soll ein burgenländischer Roma Ersatz für untergegangenen Hausrat erhalten, wenn die Behörde meint, die „Zigeuner“ hätten sowieso keine Möbel gehabt? Hier lag eine ganze Reihe von Fallstricken vor allem für Antragsteller aus den unteren Einkommensschichten bereit. Diese Gruppen waren und sind aber auch aus sozialen Gründen in ihrer Rechtsdurchsetzungsfähigkeit benachteiligt, da ihnen Informationen ebenso fehlen wie die Möglichkeit, rechtskundlichen Beistand zu finden. Dies ist aber wohl kein spezifisches Problem der Entschädigung, in diesem Fall jedoch besonders schmerzhaft für die Betroffenen. Die materielle Entschädigung Nur tatsächlich noch vorhandenes Gut kann rückgestellt werden Etwas anders, aber deshalb nicht weniger problematisch, war die Situation im Bereich der Entschädigung für entzogenes, d.h. geraubtes Eigentum. Hier herrschte der Grundsatz, dass dem Staat Österreich aus dieser Rückgängigmachung der Beraubungen 1938 und danach möglichst keine Kosten erwachsen dürften.22 Damit war aber die Grenze der Rückstellung bereits abgesteckt. Rückgestellt werden konnte nur jener Besitz, der tatsächlich noch vorhanden war. Nun war jedoch nach dem „Anschluss“ die überwältigende Mehrheit der 92 Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 Brigitte Bailer-Galanda „arisierten“ Betriebe zuerst ausgeraubt und anschließend im Sinne einer „Strukturbereinigung der Wirtschaft“ liquidiert worden,23 so dass für zahlreiche Geschädigte, vor allem ehemalige Kleingewerbetreibende oder Handwerker, eine Wiederherstellung ihrer Existenz im Wege der Rückstellung gar nicht in Frage kam. Erst 1958 konnten sie im Wege des ➤ „Kriegs- und Verfolgungssachschädengesetzes“ Pauschalentschädigungen für verloren gegangenen Hausrat und Geschäftseinrichtungen erhalten. Diese Entschädigung wurde jedoch nur bis zu einer bestimmten Höhe (Hausrat öS 15.000,-, Geschäftseinrichtungen öS 20.000,-, in besonderen Härtefällen bis öS 50.000,-) und in Abhängigkeit vom Einkommen zum Zeitpunkt der Antragstellung (ab einem Jahreseinkommen von öS 72.000,- entfiel die Entschädigung, das durchschnittliche Monatseinkommen eines Beamten betrug damals rund öS 3.000,-) ausbezahlt ,24 sodass auch in diesem Bereich Entschädigung in Abhängigkeit von sozialer Bedürftigkeit geleistet wurde. Drei Jahre später wurde der ➤ Abgeltungsfonds errichtet, der die Abgeltung verfolgungsbedingter Verluste von Bankkonti, Wertpapieren und Bargeld sowie Verluste infolge diskriminierender Abgaben vorsah (Judenvermögensabgabe, ➤ Reichsfluchtsteuer). Kleinere Verluste wurden zur Gänze, größere mit 48,5 %, jedoch mindestens mit öS 47.250,- entschädigt.25 Zu diesem Fonds sowie zur 12. Novelle des Opferfürsorgegesetzes hatte die BRD auf Grund des Abkommens von Bad ➤ Kreuznach insgesamt 95 Millionen DM zugezahlt.26 Doch auch die Rückstellung noch vorhandenen Eigentums gestaltete sich problematisch, insbesondere im Rahmen der unmittelbaren Auseinandersetzung zwischen dem geschädigten Eigentümer und dem Inhaber des Eigentums nach 1945, wie sie im 3. Rückstellungsgesetz 27 vorgesehen war. Der Beraubte befand sich von Anfang an in der ungünstigeren Position. Er war entweder mittellos oder krank aus dem Konzentrationslager zurückgekehrt, sah sich – im selteneren Fall – nach seiner Heimkehr aus dem Zufluchtsland vor der Notwendigkeit einer neuerlichen Existenzgründung oder musste seine Ansprüche vom Ausland aus durchzusetzen versuchen. Der gegenwärtige Inhaber, entweder der ➤ „Ariseur“ selbst oder dessen Nachfolger, konnte demgegenüber auf ein Netz von Kontakten und meist auch ausreichend finanzielle Mittel zurückgreifen. Zurückgestellt musste nur werden, wenn das geraubte Eigentum nicht eine grundlegende Umgestaltung erfahren hatte, d.h. z.B. die Fabrik erneuert oder auf eine andere Produktion eingestellt worden war. Im Übrigen hatte in vielen Fällen der geschädigte Eigentümer den Kaufpreis von 1938 zurückzuzahlen, von dem er allerdings nur in den seltensten Fällen tatsächlich etwas in die Hand bekommen hatte. Das Geld hatte auf ➤ Sperrkonten gelegt werden müssen, davon wurden ➤ Judenvermögensabgabe und ➤ Reichsfluchtsteuer abgezogen, Beträge, die in der Judikatur der Rückstellungskommissionen allerdings als im Sinne der Beraubten verwendet gewertet wurden.28 Wollte nun der Rückstellungswerber seinen Betrieb oder sein Haus zurückhaben, musste er nicht selten sogar einen Kredit aufnehmen, um sein Eigentum quasi zurückkaufen zu können.29 Es verwundert daher nicht, dass zahlreiche der Verfahren mit Vergleichen endeten, in denen die geschädigten Eigentümer mit Abschlagszahlungen abgefunden wurden. Als ein Beispiel kann das Bärental des FPÖ-Obmannes gelten. Dessen Besitzerin, eine nach 1945 in Israel lebende Frau aus Italien, war mit einigen Jahreserträgen abgefunden worden.30 Außerdem dauerten die Verfahren unverhältnismäßig lange. Im Oktober 1954 waren von insgesamt 34.539 angestrengten Rückstellungsverfahren noch 5181 Verfahren anhängig.31 Während in den vierziger Jahren auch Rückstellungsgesetze für Patente, Firmennamen, Ansprüche aus Dienstverhältnissen in der Privatwirtschaft und für entzogenes Eigentum von juristischen Personen verabschiedet wurden, 32 gelangte das bereits im Dritten Rückstellungsgesetz vom Gesetzgeber versprochene Gesetz der Rückstellung von Miet- und Bestandsrechten, also angemieteten Geschäftslokalen und Wohnungen, nicht über das Planungsstadium hinaus. D.h. Heimkehrer mussten in Not- und Massenquartieren unterkommen (1953 noch 800 Mitglieder der ➤ IKG 33), während in ihren ehemaligen Wohnungen nach wie vor die „Ariseure“ oder deren Familien saßen. Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 93 Beraubter contra „Ariseur“ Unzureichende und unterlassene Entschädigung Die Opfergruppen und deren Entschädigung Das 1952 verabschiedete Beamtenentschädigungsgesetz sah Abgeltungszahlungen von entgangenen Gehältern öffentlich Bediensteter vor, das 1953 auch ehemalige ÖsterreicherInnen einbezog. Die Entschädigungszahlungen stellten jedoch nur einen Bruchteil des tatsächlich entgangenen Gehaltes dar.34 Nie entschädigt wurde die Arbeitsleistung der Zwangsarbeiter verschiedener Nationalitäten in der Privatwirtschaft und beim Aufbau der verstaatlichten Industrie. Vor allem die Linzer Betriebe VOEST und OMV (früher Chemie Linz) entstanden als „Hermann GöringWerke“ vorwiegend durch die Arbeit von Zwangsarbeitern und KZ-Häftlingen.35 Während österreichische Häftlinge zumindest Anspruch nach OFG hatten, gingen die übrigen Sklavenarbeiter bislang leer aus. Überblick über die Entschädigungsleistungen Österreichs Volle Entschädigung war die Ausnahme Die volle Entschädigung für erlittene Verluste stellte im Rahmen der österreichischen Gesetzgebung die absolute Ausnahme dar. Die meisten Leistungen waren mit einer Obergrenze limitiert und zusätzlich von der sozialen Situation der Betroffenen zum Zeitpunkt der Antragstellung, wie beispielsweise bei der Entschädigung für verlorenen Hausrat und Geschäftseinrichtungen. Ebenso wurden verlorene Bankkonti u.ä. im Falle größerer Verluste nicht einmal zur Hälfte ersetzt. Wohnungen wurden überhaupt nicht zurückgegeben, sonstiges Eigentum nur mit allen oben angeführten Einschränkungen der Rückstellungsgesetzgebung. Interessant in diesem Zusammenhang sind weiters die Leistungen für entgangenes Einkommen. Öffentlich Bediensteten wurden zwar die Verfolgungszeiten für die Vorrückung angerechnet, die Entschädigungsbeträge beliefen sich jedoch nur auf einen Bruchteil der tatsächlichen finanziellen Einbußen. Nach dem Opferfürsorgegesetz erhielten die NS-Opfer 1961 im Falle einer Minderung des Einkommens um mindestens die Hälfte durch mindestens 3,5 Jahre eine einmalige Zahlung von öS 10.000,-.36 Vergleicht man das mit der Einkommenssituation von 1961, so waren das deutlich weniger als sieben Monate durchschnittlicher Pensionszahlung. Die durchschnittliche Alterspension eines Angestellten betrug damals öS 1.500,-.37 Auf diese Entschädigung wurden aber noch alle anderen aus diesem Titel erhaltenen Zahlungen aus dem Beamtenentschädigungsgesetz und dem 7. Rückstellungsgesetz (Abfertigungen, Kündigungsentschädigungen oder Betriebspensionen aus der Privatwirtschaft) angerechnet, so dass man von einer Gesamtentschädigung für Einkommensverluste von maximal öS 10.000,- ausgehen kann. Für eine erzwungene Unterbrechung der Berufsausbildung wurden 1961 gleichfalls nur öS 6.000,- Pauschalentschädigung (also vier Monate durchschnittlicher Angestelltenpension) geleistet.38 Die ➤ Hilfsfonds, die sozusagen die Opferfürsorgeleistungen für ehemalige ÖsterreicherInnen kompensieren sollten, sahen gleichfalls nur vergleichsweise geringe Entschädigungsbeträge vor. Aus dem ersten Hilfsfonds 1956 39 betrug die höchste Zahlung – d.h. für einen ehemaligen Verfolgten mit 70 % Minderung der Erwerbstätigkeit – öS 30.000,-, das waren zu jener Zeit 16 durchschnittliche Monatsgehälter eines Arbeiters.40 Der zweite Hilfsfonds zahlte in den sechziger Jahren rund öS 14.000,- pro Person für Berufs- und Ausbildungsschäden aus.41 Von einer tatsächlichen Entschädigung für das verlorene Einkommen kann also keinesfalls die Rede sein. Eine interessante Rechnung erstellte 1972 die Arbeitsgemeinschaft der Opferverbände, zu der sich Sozialdemokratische Freiheitskämpfer, ÖVP-Kameradschaft und ➤ KZ-Verband in den sechziger Jahren zusammengefunden haben. Die Arbeitsgemeinschaft forderte – ergebnislos – von der Bundesregierung eine Abgeltung für die verfolgungsbedingte Minderung der Lebensverdienstsumme. Ausgehend vom Ausgleichszulagenrichtsatz, also der Mindestpension, der damals öS 1.600,- pro Monat betrug, verlangten sie eine Entschädigung in der Höhe der Hälfte der Mindestpension pro Monat der Verfolgung. Für eine siebenjährige Verfolgung (1938–1945) wären dies 1972 öS 68.000,- gewesen.42 Rechnet man dies auf heutige Werte um, so gelangt man zu folgendem Ergebnis: 1997 beträgt die 94 Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 Brigitte Bailer-Galanda Mindestpension laut Auskunft der Pensionsversicherungsanstalt öS 7.887,- für eine Einzelperson. Unter Zugrundelegung der – allerdings bescheidenen – Forderung der Opferverbände beliefe sich heute eine Entschädigung für die Verluste in der Lebensverdienstsumme daher auf öS 331.254,-. Diese Summe relativiert wiederum die Auszahlungen nach dem Nationalfonds, wobei jedoch der Wert des Fonds, der erstmals beinahe alle Gruppen von Verfolgten umfasst, nicht geschmälert werden soll. Insgesamt hat die Republik Österreich nach offiziellen Angaben des Bundespressedienstes von 1945 bis 1988 rund 8 Milliarden Schilling,43 unter Berücksichtigung des Nationalfonds und der weiteren Ausgaben der Opferfürsorge bis 1995 rund 11 Milliarden Schilling für Leistungen an die NS-Opfer aufgewendet. Diese Zahl inkludiert alle Zahlungen nach dem Opferfürsorgegesetz, die Hilfsfonds, das ➤ Kriegs- und Verfolgungssachschädengesetz und den Abgeltungsfonds. Abzuziehen sind davon die von der Bundesrepublik Deutschland eingebrachten 95 Millionen DM, also rund 600 Millionen Schilling nach damaligem Kurs. Nicht berücksichtigt in dieser Zahl sind außerordentliche Versorgungsgenüsse für Beamte (1988 rund 11 Millionen Schilling pro Jahr) sowie zusätzliche Leistungen für Verfolgte in der Pensionsversicherung, worüber jedoch – entgegen anders lautender Politikerbehauptungen – laut Auskunft des Hauptverbandes der Sozialversicherungsträger keine gesonderte Statistik verfügbar ist. Zusammenfassung Es kann also festgestellt werden, dass die Leistungen für die NS-Opfer weit hinter den tatsächlichen Verlusten zurückbleiben. Darüber hinaus bestehen bis heute Mängel in der Gesetzgebung, wie der erforderliche Nachweis der verfolgungsbedingten Kausalität eines Gesundheitsschadens, der den wenigen heute noch lebenden Opfern nach wie vor beträchtliche Hürden in den Weg legt. Außerdem gibt es nach wie vor eine Reihe von Verfolgten, deren Leiden in der NS-Zeit nicht als Verfolgung anerkannt werden bzw. die keinen Anspruch auf Entschädigung haben, wie beispielsweise die Deserteure aus der deutschen Wehrmacht oder die nichtösterreichischen Zwangsarbeiter. Doch nicht einmal Leistungen, die keine Kosten verursachen, wurden erbracht. Österreich hat die Opfer des Nationalsozialismus gnadenhalber wieder aufgenommen, nie jedoch tatsächliches Verständnis für die Situation der Überlebenden aufgebracht. Sie blieben außerhalb der Solidarität der Kriegsgeneration, deren Angehörige als Mitläufer, Sympathisanten, Angepasste das NS-Regime erlebten. Hier bliebe abseits aller materiellen Leistungen noch viel zu tun. Mängel in der Gesetzgebung bestehen bis heute Der vorliegende Text wurde von Brigitte Bailer-Galanda im Rahmen einer Enquete der GRÜNEN zum Thema „Die wirtschaftlichen Schäden der NS-Opfer“ am 17. Juni 1997 im Parlament vorgetragen. Der Text dieses Referates wurde der Abteilung Politische Bildung des BMUK für die Dokumentation der Tagung der ZeitzeugInnen 1998 „1938–1998. Flucht – Migration – Asyl gestern und heute“ von Dr. Bailer-Galanda und dem Grünen Parlamentsklub zur Verfügung gestellt. Die bei der Enquete „Die wirtschaftlichen Schäden der NS-Opfer“ gehaltenen Referate werden von den GRÜNEN und der GRÜNEN BILDUNGSWERKSTATT MINDERHEITEN publiziert und können auch über diese bezogen werden. 1 2 Siehe dazu ausführlich: Brigitte Bailer, Wiedergutmachung kein Thema. Österreich und die Opfer des Nationalsozialismus, Wien 1993. Diese Grundposition findet sich kontinuierlich seit 1945. Noch 1988 wurde sie in einer offiziellen Darstellung vertreten: Bundespressedienst (Hrsg.), Maßnahmen der Republik Österreich zu Gunsten bestimmter politisch, religiös oder abstammungsmäßig Verfolgter seit 1945, Wien 1988 (Österreich Dokumentation). 3 Der Begriff der Wiedergutmachung im Sinne von „wieder gut machen“ wurde auch von deutschen Wissenschaftern in Frage gestellt: Siehe z. B. Rolf Theis, Wiedergutmachung zwischen Moral und Interesse. Eine kritische Bestandsaufnahme der deutsch-israelischen Regierungsverhandlungen, Frankfurt/M. 1989, S. 32; Ludolf Herbst, Einleitung, in ders., Constantin Goschler (Hrsg.), Wiedergutmachung in der Bundesrepublik Deutschland, München 1989 (Sondernummer Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte), S. 8 ff. Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 95 Die Opfergruppen und deren Entschädigung 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 Bundesgesetz über die Fürsorge für die Opfer des Kampfes um ein freies, demokratisches Österreich und die Opfer politischer Verfolgungen (Opferfürsorgegesetz), BGBl. Nr. 183 vom 4.7.1947, § 1 Abs. 4. §§ 13 c, 14 a, Opferfürsorgegesetz. Kammer für Arbeiter und Angestellte für Wien (Hrsg.), Wirtschaftsstatistisches Handbuch 1961, Wien 1962, S. 87. BGBl. Nr. 25 vom 18.1.1956; BGBl. Nr. 178 vom 13.6.1962; BGBl. Nr. 714 vom 13.12.1976. Siehe dazu ausführlicher: Bailer, a. a. O., S. 157-163. BGBl. Nr. 97/1954, siehe dazu auch: Dietmar Walch, Die jüdischen Bemühungen um die materielle Wiedergutmachung durch die Republik Österreich, Wien 1971, S. 43 ff.; Bailer, a. a. O., S. 240 f. Diese Möglichkeit wurde im Herbst 1993 geschaffen: Die Furche, 15.9.1994. 1. Durchführungserlass Zl. IV-8840/16/46 zum Gesetz vom 17.7.1945, StGBl. Nr. 90 und zur Verordnung des Staatsamtes für soziale Verwaltung im Einvernehmen mit dem Staatsamt für Finanzen vom 31.10.1945, BGBl. Nr. 34/1946 (Opferfürsorgeverordnung), Sonderabdruck aus Heft 1/2 der „Amtlichen Nachrichten des Bundesministeriums für soziale Verwaltung“, S.4. Ausführlich: Bailer, a. a. O., S. 25 f. § 1 Abs. 1 Opferfürsorgegesetz. Bailer, a. a. O., S. 141-145. BGBl. Nr. 205 vom 22.5.1969. Bailer, a. a. O., S. 53 f. Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofs vom 22.2.1965, Zl. 687/64. DÖW Akt Nr. 13.454; Erna Putz, Franz Jägerstätter. „... besser die Hände als der Wille gefesselt ...“, Linz-Passau 1987 (2. Aufl.), S. 278. Bailer, a. a. O., S. 168. Siehe dazu ausführlich: Barbara Rieger, „Zigeunerleben“ in Salzburg 1930-1943. Die regionale Zigeunerverfolgung als Vorstufe zur planmäßigen Vernichtung in Auschwitz, Diplomarbeit an der geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien, Wien 1990; Erika Thurner, Nationalsozialismus und Zigeuner in Österreich, Salzburg 1983; Bailer, a. a. O., S. 176-184. Bailer, a. a. O., S. 185-197. Zur Situation der Opfer der nationalsozialistischen Rassenhygiene siehe auch Wolfgang Neugebauer, Das Opferfürsorgegesetz und die Sterilisationsopfer in Österreich, in: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hrsg.), Jahrbuch 1989, Wien 1989, S. 144-150. Beantwortung der Anfrage der Abgeordneten Srb und Freunde an den Bundesminister für Arbeit und Soziales betreffend die homosexuellen Opfer des Nationalsozialismus (Nr. 2474/J) vom 12.9.1988, Zl. 10.009/168-4/88. Erläuternde Bemerkungen zu dem Gesetz über die Nichtigkeit von Vermögensentziehung (3. Rückstellungsgesetz), 45. Sitzung des Ministerrates, 12.11.1946. Archiv der Republik, BM für Unterricht, Ministerratsprotokolle, Karton 4. Gertraud Fuchs, Die Vermögensverkehrsstelle als Arisierungsbehörde jüdischer Betriebe, Diplomarbeit am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Wirtschaftsuniversität Wien, 96 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 Wien 1989, S. 166. Von den im Mai 1938 zum Zeitpunkt der Schaffung der Vermögensverkehrsstelle noch existierenden 26.000 jüdischen Betrieben waren nur 4353 zur Weiterführung vorgesehen. BGBl. Nr. 127 vom 25.6.1958. Fonds zur Abgeltung von Vermögensverlusten politisch Verfolgter, BGBl. Nr. 100 vom 22.3.1961. Das Kreuznacher Abkommen umfaßte zwei Teile. Der erste beinhaltete Zahlungen der BRD für die Eingliederung der so genannten „Volksdeutschen“ in Österreich, der zweite sah Zahlungen der BRD für die Maßnahmen zu Gunsten der NS-Opfer vor. Siehe dazu: Bailer, a.a. O., S. 96 ff. Der Text des Abkommens in BGBl. Nr. 283 vom 28.9.1962. BGBl. Nr. 54/1947. Juristisch fundierte Kritik an dieser Praxis siehe: Georg Graf, Arisierung und keine Wiedergutmachung. Kritische Anmerkungen zur jüngeren österreichischen Rechtsgeschichte, in: P. Feyerabend, C. Wegeler (Hrsg.), Philosophie – Psychoanalyse – Emigration, Wien 1992, S. 73 ff. Vgl. Die Gemeinde, Nr. 2, März 1948. Profil, 9.6., 9.12.1986. Statistik über den Stand der Rückstellungsverfahren von Ende Oktober 1954. Institut für Zeitgeschichte, Nachlaß Albert Löwy, Karton Rückstellung Statistiken. BGBl. 143/1947, 164/1949, 199/1949, 207/1949. Vereinigter Exekutivausschuss für jüdische Forderungen an Österreich, Memorandum über Ansprüche aus dem Titel entzogener Wohnungen, 1.7.1953. Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien, Nachlaß Albert Löwy. ÖVP-Kameradschaft der politisch Verfolgten (Hrsg.), Die Wiedergutmachung. Werden und Ergebnis der Entschädigungsgesetze für politisch Verfolgte und gemaßregelte Beamte, Wien o.J. (1952). Florian Freund, Bertrand Perz, Fremdarbeiter und KZ-Häftlinge in der „Ostmark“, in: Ulrich Herbert (Hrsg.), Europa und der „Reichseinsatz“. Ausländische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge in Deutschland 1938-1945, Essen 1991, S. 317-350. § 14 b Opferfürsorgegesetz. Die Höhe der Entschädigung blieb seither gleich, wurde also nicht valorisiert. Kammer für Arbeiter und Angestellte für Wien (Hrsg.), Wirtschaftsstatistisches Handbuch 1961, Wien 1962, S. 87. § 14 a Opferfürsorgegesetz. Siehe auch Anmerkung 36. BGBl. Nr. 25 vom 18.1.1956. Kammer für Arbeiter und Angestellte für Wien (Hrsg.), Wirtschaftsstatistisches Handbuch 1964, Wien 1964, S. 217. BGBl. Nr. 178 vom 13.6.1962. PKZ, Pressekorrespondenz des Bundesverbandes österreichischer Widerstandskämpfer und Opfer des Faschismus (KZ-Verband), Nr. 3, 1.9.1972. Der Text wurde gleich lautend im Sozialistischen Kämpfer (Bund Sozialistischer Freiheitskämpfer und Opfer des Faschismus) sowie im Freiheitskämpfer (ÖVP-Kameradschaft der politisch Verfolgten) veröffentlicht. Errechnet anhand der Angaben in: Bundespressedienst, a.a.O. Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 E R S T E A N L A U F S T E L L E N / M A S S N A H M E N F Ü R O P F E R D E S N AT I O N A L S O Z I A L I S M U S N A C H 1 9 4 5 Die Zuständigkeit der im Folgenden aufgelisteten behördlichen Stellen als erste Anlaufstellen für Opfer des Nationalsozialismus richtet sich nach der Anerkennung der einzelnen Opfergruppen in der ➤ Opferfürsorgegesetzgebung (vgl. Bailer-Galanda in diesem Band, S. 90). Unmittelbar nach dem Kriegsende 1945 erfolgte von staatlicher Seite ausschließlich eine Anerkennung und Unterstützung der im Nationalsozialismus aus politischen Gründen verfolgten Opfer und WiderstandskämpferInnen. Den für Wien zuständigen Stellen und Ämtern des Magistrats der Stadt Wien entsprechen in den Bundesländern die jeweiligen Bezirkshauptmannschaften und Sozialreferate der Bezirksämter der Länder. Als Soforthilfe wurden im Juli 1945 von der Magistratsabteilung MA X/1 der Stadt Wien (1946 nach Umstrukturierung des Wiener Magistrats ➤ MA 12, Amt für Erwachsenen- und Familienfürsorge) für RückkehrerInnen aus Konzentrationslagern an den Wiener Bahnhöfen eigene Fürsorgestellen errichtet. In Zusammenarbeit mit den unmittelbar nach dem Krieg eingerichteten Fürsorgekommissionen, in denen hauptsächlich ehrenamtliche FürsorgerInnen tätig waren, erfolgte durch Unterstützung ausländischer Hilfsorganisationen die medizinische Erstversorgung, die Vergabe von Lebensmitteln und Bekleidung. Die Unterbringung obdachloser Rückwanderer und Flüchtlinge erfolgte in Zusammenarbeit mit dem Anstaltenamt der Stadt Wien (MA 17), zumeist in Obdachlosenasylen sowie Krankenhäusern. Im Juli 1945 wurde von der MA 12 eine eigene Betreuungsstelle für die HeimkehrerInnen aus Konzentrationslagern errichtet; im Oktober 1945 wurden in den Fürsorgeämtern der einzelnen Gemeindebezirke weitere Betreuungsstellen eröffnet. Gemäß des 1. Opferfürsorgegesetzes vom 17. Juli 1945 war eine Unterstützung nur „Opfern des Kampfes um ein freies und demokratisches Österreich“ vorbehalten. Die Unterstützung erfolgte in Form von einmaligen Geld- und Sachleistungen, in der Gewährung von Fürsorgedarlehen als einmalige Aufwendung zur Wiederherstellung wirtschaftlicher Selbständigkeit, vor allem für Angehörige der freien Berufe, wie Ärzte, Dentisten etc. Auch die Möglichkeit für den Erhalt einer Wohnung war an die Anerkennung nach dem Opferfürsorgegesetz geknüpft. Wohnungszuweisungen an obdachlose Opfer erfolgten über das Wohnungsamt ➤ MA 52 der Stadt Wien. Die Richtlinien über Wohnungsanmeldung und Wohnungsvergabe vom 25.4.1995 sahen eine Vergabe freier Wohnungen allerdings nur für Bombengeschädigte vor. Das Wohnungsanforderungsgesetz vom 1.9.1945 erweiterte die Gruppe der anspruchsberechtigten WohnungswerberInnen, allerdings nur auf die Gruppe der aus politischen Gründen im Nationalsozialismus Verfolgten. Nach dem 2. Opferfürsorgegesetz vom 2.9.1947 wurden entsprechend der Ausdehnung des Kreises fürsorgeanspruchsberechtigter Personen auch die Leistungen der MA 12 auf die Einrichtung von Rentenkommissionen, die Ausdehnung der Rentenfürsorge und die Erstellung von ➤ Amtsbescheinungen und ➤ Opferausweisen erweitert. Im Wiener Wohnungsamt wurde am 20.8.1947 ein eigenes Wiedergutmachungsreferat eröffnet, das die Zuteilung von Wohnungen für nach dem OFG anerkannte Opfer vorsah. Sowohl Erhalt einer Wohnung als auch der Erhalt eines Opferausweises oder einer Amtsbescheinigung (mit folgendem Anspruch auf eine Opferfürsorgerente) war von einem ärztlichen Gutachten durch das Wiener Gesundheitsamt (1945: MA II/2, 1946: ➤ MA 15) oder der Konstatierung sozialer Bedürftigkeit durch die MA 12 abhängig. Das Wiedergutmachungsreferat der ➤ Israelitischen Kultusgemeinde Wegen der Einschränkung der öffentlichen Opferfürsorge auf primär aus politischen Gründen Verfolgte, wandten sich nach dem Krieg die auf Grund ihrer Abstammung verfolgten Juden und Jüdinnen an die Israelitische Kultusgemeinde (IKG), die ein eigenes Wiedergutmachungsreferat zur Betreuung der jüdischen Opfer errichtet hatte und vor allem über ausländische Hilfsaktionen arbeitete (wie z.B. ➤ JOINT, ZWO-JA). In der IKG erfolgte die Registrierung der Gemeindemitglieder sowie die Ausgabe von Jointpaketen, die medizinische Versorgung, die Ausstellung von Deportationsbescheinigungen und Todeserklärungen für während des Nationalsozialismus umgekommene Gemeindemitglieder, die Ausstellung sonstiger Bestätigungen, die für Behörden und Ämter benötigt wurden. Weitere Aufgaben waren die Rückführung jüdischer EmigrantInnen aus den Emigrationsländern nach Österreich, die Beschaffung von Unterkünften und die Beratung für RückkehrerInnen, Hilfe und Beratung bei Wohnungs- und Arbeitssuche sowie die Unterbringung in den eigenen Rückkehrerheimen der IKG: Wien II, Tempelgasse 3, und Wien II, Untere Augartenstraße 35. Ein internationaler Suchdienst forschte nach vermissten Personen im In- und Ausland. Das Wiedergutmachungsreferat der IKG war aber auch zuständig für Beratungen in allgemeinen Fragen der Wiedergutmachung, für die Erfassung des ehemals entzogenen jüdischen Vermögens in Österreich, für welches sich keine anspruchsberechtigten Personen gemeldet hatten, für die Rückerlangung des der IKG entzogenen Vermögens sowie jenes jüdischer Vereine und Stiftungen. Für Rückstellungsansprüche privater RückstellungswerberInnen war das Referat zwar nicht zuständig, allerdings wurden über das Rechtsreferat der IKG eigene Juristen zu Verfügung gestellt. Neben diesen Hilfsmaßnahmen lag eine weitere zentrale Aufgabe des Wiedergutmachungsreferates in der Planung und Forcierung der Opferfürsorgegesetzgebung sowie in der Zusammenarbeit mit den Stellen der öffentlichen Fürsorge. Heute sind folgende Stellen zuständig (eine Auswahl): • Opferfürsorgereferat des Sozialamtes der Stadt Wien – Magistratsabteilung MA 12: 1010 Wien, Schottenring 24 • Opferfürsorgestellen in den Sozialämtern der Bezirkshauptmannschaften, Bezirksämter in den einzelnen Bundesländern • ➤ Nationalfonds der Republik Österreich für die Opfer des Nationalsozialismus: 1010 Wien, Doblhoffgasse 3 • Israelitische Kultusgemeinde: 1010 Wien, Seitenstettengasse 4 Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 97 DER KAMPF UM DIE RECHTLICHE ANERKENNUNG JÜDISCHER ÜBERLEBENDER HELGA EMBACHER Gründung des KZ-Verbandes Hierarchie der Opfergruppen Ende Mai 1945 wurde in Wien die ➤ „Volkssolidarität“ gegründet, eine von den drei Parteien (SPÖ, ÖVP, KPÖ) beschickte Fürsorgeinstitution zur Betreuung der ehemals politisch verfolgten Heimkehrer. „Nur“-Juden waren aber bis Anfang 1946 von dieser Betreuung ausgeschlossen. Daneben entstanden in ganz Österreich zahlreiche kleinere Hilfskomitees für politisch Verfolgte. In Wien rief Ministerialrat Dr. Franz Sobek den ➤ KZ-Verband, später ➤ „Bund der politisch Verfolgten“, ins Leben. Sobek wurde noch vor Kriegsende aus dem KZ entlassen und gehörte der Widerstandsgruppe 05 an. Offiziell wurde der KZ-Verband im März 1946 gegründet und wie die „Volkssolidarität“ von den drei Parteien paritätisch beschickt. Der KZ-Verband verstand sich nicht mehr als karitative Hilfsorganisation, sondern als politisches Instrument, als Wächter über die Demokratie, wozu von den Widerstandskämpfern entsprechende Positionen im Staat angestrebt und besetzt werden sollten.1 Manche stellten sich sogar eine Art „Kammer“, eine selbständige Macht im Staat vor.2 Da der KZ-Verband eine politisch-moralische Instanz beim Wiederaufbau eines „Neuen Österreich“ sein wollte, stand nur ehemaligen „politischen“ Häftlingen3 die Mitgliedschaft offen. Ausgeschlossen waren somit Zigeuner, Homosexuelle, Kriminelle, die Gruppe der sogenannten „Asozialen“ und jene Juden, die „nur“ aufgrund ihrer Abstammung verfolgt worden waren. Damit reproduzierte der KZ-Verband das Vorurteil von den „kriminellen KZlern“ und setzte auch die im KZ bestehende Hierarchie innerhalb der Häftlinge fort. Dies brachte ihm den Vorwurf ein, auch nach 1945 am ➤ „Arierparagraphen“ festzuhalten.4 Beim „Jüdischen Komitee“ in Linz beschwerten sich 1947 auch jüdische Überlebende über diskriminierende Behandlungen beim Wiener „KZ-Verband“ in der Lothringerstraße. „Im KZ-Verband wollten wir Auskunft haben, ob man uns Hilfe oder Rat erteilen kann. Der dortige Leiter erklärte uns – es war im letzten Zimmer der Kanzlei –, daß man mit Geld alles erreichen könne. Er sagte uns außerdem, daß ein politischer Häftling, der für die Freiheit Österreichs gekämpft hat, ihm tausendmal lieber sei als ein jüdischer Häftling, der alles verloren hat.“5 Am 10. Februar 1946 konstituierte sich das „Aktionskomitee der jüdischen KZler“, später „Verband der wegen ihrer Abstammung Verfolgten“, das bereits bei seiner Gründung 1670 Mitglieder zählte.6 Um die Anerkennung der jüdischen KZler als gleichberechtigte Opfer durchzusetzen, versuchte es unter der Leitung des Kommunisten Akim Lewit,7 in den „Bundesverband“ aufgenommen zu werden. Die Aufnahme erfolgte bereits am 14. Februar 1946 mit folgender Begründung: Da Juden wegen ihrer Abstammung verfolgt worden waren, hätten sie als politisch unzuverlässig gegolten und wären auch deshalb ins KZ gekommen.8 Um Österreichs Rolle als erstes Opfer Nazi-Deutschlands nicht zu gefährden, mußten „rassisch Verfolgte“ offensichtlich zu aktiven Gegnern des Nationalsozialismus umdefiniert werden. Dadurch konnten sie als Beweis eines österreichischen Widerstandes herangezogen werden, während gleichzeitig von der aktiven Rolle der ÖsterreicherInnen bei der Judenverfolgung abgelenkt wurde.9 Als nächstes strebte die ➤ Israelitische Kultusgemeinde eine Reform des ➤ Opferfürsorgegesetzes an, da in der bis dahin gültigen Version in Punkt 21 des Abschnittes 1 ausdrücklich erklärt wurde, daß „rassisch Verfolgte“, die den Nachweis eines aktiven Einsatzes für ein unabhängiges, demokratisches Österreich nicht aufbringen konnten, ebenso wie alle anderen passiv zu Schaden gekommenen Österreicher nicht berücksichtigt werden sollten und warten müßten, bis eine neue Regelung erfolgen würde.10 Das im Juli 1947 beschlossene und am 2. September 1947 in Kraft getretene neue Opferfürsorgegesetz erweiterte zwar den Kreis der Anspruchsberechtigten – auch die aufgrund von „Abstammung, Religion und Nationalität“ erfolgte Verfolgung fand Berücksichtigung –, doch wies es noch immer gravierende Mängel auf. So konnten Juden nur mittels einer Gefälligkeitsbestätigung des KZ-Verbandes eine Amtsbescheinigung erhalten, die wiederum als Voraussetzung zum Rentenbezug benötigt wurde.11 Das „Jüdische Aktionskomitee“ 98 Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 Helga Embacher empfand es auch als eine besondere Demütigung, „daß ‚politische‘ Häftlinge von der Art des Auslandsradiohörers und unvorsichtigen Meckerers oder Bekämpfers der Arbeiterschaft im und nach dem Februar 1934 und schließlich ‚Erduldens‘ einer sechsmonatigen ‚schweren‘ Haft in ➤ Wöllersdorf“12 als Opfer bzw. Widerstandskämpfer anerkannt wurden, während beispielsweise Sternenträgern* die Aufnahme in den „Bundesverband“ versagt blieb. (Anm. d. Red.: *Ab 1941 wurden Juden gezwungen, den gelben Stern zu tragen, was die Einhaltung der antijüdischen Gesetze, wie z. B. das Benützen öffentlicher Verkehrsmittel, das Betreten von Parkanlagen oder das Verlassen von Ghettos, garantierte. Erst 1961 erhielten „Sternenträger“ eine geringe Abgeltung für ihre Verfolgung.) „Warum wird von den Abstammungsverfolgten überhaupt politischer Einsatz verlangt? Wozu braucht ein abstammungsverfolgter KZler noch seine antifaschistische Gesinnung zu beweisen?“13 Diese Frage stellte 1947 ein Referent bei einer Tagung des KZ-Verbandes in Graz. Weiters interpretierte er das bestehende Opferfürsorgegesetz als Fortsetzung der KZ-Hierarchie. Seiner Meinung nach wollte die ➤ SS durch das Lagersystem „… bei allen nichtjüdischen Lagerinsassen den Eindruck einprägen, daß alle Juden (...) untereinander gleich sind und eine Differenzierung nicht am Platz ist. Und die ➤ Gestapo hat dieses Ziel erreicht: bei apolitischen nichtjüdischen KZlern deswegen, weil dies den letzten gepaßt hat, bei den politisch bewußten aber auch aus dem Grunde, weil auch sie dem ehernen Naturgesetz unterlegen waren, wonach das Milieu den Menschen formt. Die Folge davon war, daß die sogenannten arischen Kameraden sich des Gefühls einer gewissen Überwertigkeit nicht entledigen konnten, dies auf Kosten der jüdischen, auch der sogenannten politischen KZler, die andauernd mit Minderwertigkeitskomplexen behaftet sein mußten. (...) Eine unsichtbare Mauer hat sich zwischen beiden künstlich aufgezogenen Welten aufgerichtet, eine Scheidemauer, die von Buchenwald, Dachau, Flossenbürg, Sachsenhausen usw. bis nach Wien ging. Und hinter dieser Mauer haben sich der KZ-Verband und die ‚Volkssolidarität‘ etabliert, die jedem sogenannten ‚rassisch‘ Verfolgten Einlaß verwehrten, hingegen aber um so beflissener beim Spendensammeln im In- und Ausland auf den Solidaritätsgedanken aller Naziopfer pochten.“14 Konflikte zwischen „WiderstandskämpferInnen“ und „rassisch Verfolgten“ Die Auflösung des KZ-Verbandes Im September 1946 vereinigten sich der KZ-Verband und zahlreiche, auch in den Bundesländern bereits vorhandene Komitees zur Betreuung der KZ-Überlebenden zum „Bund der politisch Verfolgten – Österreichischer Bundesverband“, weiterhin kurz „KZ-Verband“ genannt. Der Verband war ebenfalls überparteilich organisiert, und neben den Vertretern von SPÖ, ÖVP und KPÖ schienen auch Vertreter der sogenannten „Abstammungsverfolgten“ auf. Aufgrund des vom Nationalrat beschlossenen Privilegierungsgesetzes galt der KZ-Verband als offizielle Interessenvertretung aller Opfer des Faschismus. Wie die Historikerin Brigitte Bailer aufzeigte, beabsichtigte Innenminister ➤ Oskar Helmer damit die Kontrolle der KZ-Verbände und letztendlich die Ausschaltung der Kommunisten. Doch auch dem „Bundesverband“ war kein langes Leben beschieden. Am 8. März 1948 löste Helmer mit Zustimmung der Regierungsparteien aus innenpolitischen Motiven den „Bund der politisch Verfolgten“ auf.15 Da, gemessen an ihrer zahlenmäßigen Stärke, Kommunisten im Widerstand überrepräsentiert waren, übten sie auch im KZ-Verband dominierende Funktionen aus. Im November 1947 war mit ➤ Dr. Altmann aber der letzte Kommunist aus der Regierung ausgeschieden, und es mußte auf die KPÖ keine Rücksicht mehr genommen werden. Ein geeinter Verband von KZ-Überlebenden, der noch dazu für sich in Anspruch nehmen wollte, über die demokratische Entwicklung in Österreich zu wachen, hätte auch die Koalitionspolitik, in der es bereits um die Integration der ehemaligen Nationalsozialisten ging, in Frage gestellt. Offiziell wurde die Auflösung des KZ-Verbandes mit Unstimmigkeiten im Wiener KZ-Verband gerechtfertigt, doch für „einfache“ Mitglieder und auch für Funktionäre erfolgte die Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 99 Parteipolitische Vereinnahmung des KZ-Verbandes Der Kampf der Israelitischen Kultusgemeinde Ausgrenzung der jüdischen Opfer Auflösung vielfach unerwartet. ➤ Karl Mark, sozialistischer Abgeordneter und Generalsekretär des „Bundesverbandes“, berichtete über dessen unerwartetes Ende: „Im Februar 1948 kam ich zu dem Haus, in dem unser Büro untergebracht war. Einige Angestellte warteten schon davor. Ich hatte zwar meine Schlüssel, aber ich konnte nicht hinein. Mein Büro war versiegelt. Das war auf Anweisung von Oskar Helmer geschehen. Unter Mißachtung der gesetzlich fundierten Stellung des Bundes waren die Sekretariatsräume geschlossen worden und gleichzeitig jede weitere Tätigkeit unterbunden mit dem fadenscheinigen Hinweis auf einen möglichen kommunistischen Mißbrauch, natürlich aber wegen der von Helmers Linie abweichenden Haltung des Bundes. Diese Handlung setzte meiner Tätigkeit im Bund politisch Verfolgter ein unerwartetes Ende.“16 Josef Ausweger,17 ÖVP-Mitglied und Präsident des Salzburger KZ-Verbandes, betonte noch Ende März 1948 bei einer Versammlung, „daß gerade die Kommunisten sich im Lager vorbildlich verhalten haben“ und er weiterhin für einen überparteilichen Verband eintreten werde.18 Noch am 13. März schrieb das „Demokratische Volksblatt“, das Organ der SPÖ Salzburg, „daß in Salzburg im Vergleich zu Wien in den Beschlüssen Einigkeit bestehe und keine politischen Differenzen vorhanden wären“.19 Doch am 20. März riet das Blatt SPÖ-Mitgliedern dann vom Besuch der Veranstaltungen des KZ-Verbandes ab, denn „die Sozialisten würden die säuberliche Trennung von den Kommunisten, aber auch von jenen begrüßen, die seinerzeit wegen ihrer austrofaschistischen Tätigkeit verfolgt wurden“.20 Im Klima des Kalten Krieges vermochten sich die Überlebenden mit ihrem Wunsch nach einem überparteilichen Verband gegen den zentralistisch, ihrer Meinung nach sehr undemokratisch gefaßten Regierungsbeschluß nicht durchzusetzen. Letztendlich gründete jede Partei ihren eigenen KZ-Verband: die SPÖ den „Verband der sozialistischen Freiheitskämpfer“, die ÖVP die „Kameradschaft“, und der KPÖ blieb der KZ-Verband. Nur in Tirol wehrten sich die Überlebenden erfolgreich gegen eine Aufsplitterung.21 Jüdische Überlebende, sofern sie keiner der drei Parteien beitreten wollten, blieben weiterhin unter sich. Der ➤ „Neue Weg“ kritisierte nicht nur die Politik der Regierung, sondern auch die Politik des „Bundesverbandes“, in den Juden große Hoffnungen gesetzt hatten.22 Daß ehemalige KZHäftlinge sich den Interessen der Parteien unterwarfen und den KZ-Verband zu einem „Veteranenverein“ herabsinken ließen, löste beim Jüdischen Aktionskomitee „eine schwere Erbitterung“ aus und das Gefühl, „als Juden als Paria“ behandelt worden zu sein.23 Für den „Neuen Weg“ entstand der Eindruck, daß den politischen Funktionären des KZ-Verbandes nur an der Erfüllung ihrer Bedürfnisse gelegen war und sie in der Unterstützung der jüdischen Opfer versagt haben. „Die zurückkehrenden ‚politischen‘ KZler haben ihre verlorenen Stellen in Amt und Arbeit meist wiederbekommen, ja, dank ihrer Verbindung mit den politischen Parteien, bedeutend verbessert. Was sie sonst noch zu verlangen haben, war die Entschädigung für Haftzeit und sonstige Einbußen, war die Unterstützung der Hinterbliebenen von KZ-Kameraden und schließlich die Pflege der Kameradschaft, der Erinnerung an das gemeinsame Erlebnis im KZ. Diese bescheidenen Ziele entsprachen ganz dem Gedankengang und den Absichten der politischen Parteien. Nach ihrer Auffassung war die Hitler-Invasion ein bedauerliches, aber unvermeidliches Ereignis, die am Leben gebliebenen Opfer haben Anspruch auf Almosen in moderner Form, auf eine gewisse, nicht weitgehende wirtschaftliche Hilfe (früher einmal auf eine Werkelmannlizenz). Sonst sollten sie bei Heurigem und Wienermusik kameradschaftliche Geselligkeit pflegen, beim Begräbnis eines Kameraden mit der eigenen Fahne ausrücken usw. Das bedingte natürlich eine strenge Absonderung der NaziOpfer von den anderen Opfern.“24 Bei vielen Überlebenden wirkte primär die Zugehörigkeit zu einer politischen Partei und weniger die gemeinsame Lagererfahrung identitätsstiftend. Österreichische WiderstandskämpferInnen, unter ihnen auch viele jüdischer Herkunft, träumten im KZ vom Aufbau eines neuen Österreich, wozu sie sich nach ihrer Rückkehr auch tatkräftig zur Verfügung stellten. Auch sie akzeptierten die von den Alliierten und österreichischen Politikern entworfene 100 Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 Helga Embacher These von Österreich als erstem Opfer Hitler-Deutschlands. Trotz zahlreicher Widersprüche übertrugen sie das eigene Leiden auf das der Nation. Als beispielsweise der Internationale KZ-Verband ankündigte, bei einer Tagung im Mai 1946 auch eine Resolution über die schleppend vor sich gehende Entnazifizierung und die Beteiligung von Österreichern am Nationalsozialismus zu fassen, zog der „Verband der politisch Verfolgten für Oberösterreich“ seine angekündigte Teilnahme an der im Mai 1946 stattfindenden Tagung zurück. Auch das Innenministerium wollte die Tagung verbieten, die letztendlich mit Hilfe des oberösterreichischen Landeshauptmannes Gleißner doch noch durchgeführt werden konnte. Ministerialrat Franz Sobek empfand vor allem die Kritik an Österreichs Mitverantwortung am Nationalsozialismus und eine befürchtete Resolution an die UNO, in der vom Abzug der Besatzungssoldaten abgeraten werden sollte, als Provokation. Er bat daher den „Oberösterreichischen KZ-Verband um Bericht und um Vorschläge zu entsprechenden Maßnahmen gegen diese Leute, welche wahrscheinlich zum Großteil Kriminelle sind und in unserem Lande als Partisanen leben und unser Land im Ausland schwer diskriminieren“.25 Als Reaktion darauf warf Simon Wiesenthal, damals Funktionär des Internationalen KZVerbandes, dem österreichischen KZ-Verband vor, daß „der Ausländerhaß, welcher ein Bestandteil der Nazipropaganda war, in den Reihen des österreichischen KZ-Verbandes noch nicht ausgerottet zu sein scheint“.26 Alleingelassen im Kampf um die „Wiedergutmachung“, mußte die Israelitische Kultusgemeinde 1949 auch den Ausschluß aus der Opferfürsorgekommission erleben. Bisher setzte sich diese Kommission aus Vertretern der drei Parteien und aus Vertretern der Israelitischen Kultusgemeinde oder „Abstammungsverfolgten“ zusammen, während bei der 1949 erfolgten Neubesetzung Sozialminister ➤ Karl Maisel, sozialistischer Abgeordneter und Buchenwald-Überlebender, anstelle der „Abstammungsverfolgten“ Vertreter der SPÖ nominierte. Wie der „Neue Weg“ kritisierte, wären diese „weder von den Abstammungsverfolgten auf demokratische Weise gewählt noch hierzu berufen worden und würden keinesfalls das Vertrauen der Gruppe genießen“.27 Im Kalten Krieg konnte die österreichische Regierung als anerkannter Partner der Westalliierten immer selbstbewußter agieren. Letzte Reste, die noch an Österreichs Mittäterrolle erinnerten, mußten entfernt werden. 1947 ➤ „arisierte“ das ➤ „Schwarze Kreuz“ in St. Florian in Oberösterreich den jüdischen Friedhof, indem es das jüdische Denkmal zerschlagen ließ.28 Bereits 1946 machte Heinrich Sobek einen Vorschlag zur christlichen Vereinnahmung des ➤ Vernichtungslagers Mauthausen. Ein „überdimensionales, in der Nacht leuchtendes Kreuz“ sollte am höchsten Punkt des ehemaligen Lagers errichtet werden.29 Auch als 1952 an der KZ-Gedenkstätte Mauthausen eine Gedenktafel enthüllt wurde, gedachte niemand der jüdischen Opfer, der größten Gruppe unter den Ermordeten.30 1954 sollten laut einer Empfehlung des Innenministeriums die KZ-Friedhöfe in „Kriegerfriedhöfe“ umgewandelt und damit alle Opfer des Zweiten Weltkrieges auf dieselbe Stufe gestellt werden.31 Im selben Jahr wurden in ➤ Ebensee jüdische Gräber exhumiert, und das dortige jüdische Denkmal mit der Aufschrift „Dem deutschen Volk zur ewigen Schande“ wurde in die Luft gesprengt, um den Fremdenverkehr nicht zu stören.32 In Linz fühlten sich jüdische Überlebende verletzt, als der KZ-Verband 1955 bei einer von ihm organisierten Trauerfeier in Ebensee die Israelitische Kultusgemeinde Linz nicht eingeladen hatte, obwohl die Häftlinge im Konzentrationslager Ebensee großteils Juden waren.33 Der Konflikt zwischen der Israelitischen Kultusgemeinde und den Lagergemeinschaften ist bis heute ungelöst. Noch im Februar 1995 mußte die „Gemeinde“ an einer Aussendung der „Österreichischen Lagergemeinschaft Auschwitz“ anläßlich des 50. Gedenktages der Befreiung kritisieren, daß von ermordeten Österreichern, unter anderem Politikern, Künstlern, Journalisten oder Heimwehrfunktionären, gesprochen wurde, das Wort Jude oder jüdisch aber peinlich vermieden wurde.34 Aus: Helga Embacher: Neubeginn ohne Illusionen. Juden in Österreich nach 1945, Picus Verlag, Wien 1995, S. 104-111. Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 101 Der Kampf der Israelitischen Kultusgemeinde 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 Vgl. Salzburger Tagblatt. 18.1. 1946, S.6. Interview mit Josef Nischelwitzer. Klagenfurt 1987. Politisch Verfolgte trugen einen roten, Kriminelle einen grünen, sogenannte Asoziale einen schwarzen, Homosexuelle einen rosa und Bibelforscher einen lila Winkel. Juden mußten unter ihrem Winkel zudem ein gelbes Dreieck, das mit dem anderen Winkel einen Davidstern ergeben hat, tragen. Gruppen mit gleichartigen Winkeln bildeten aber keine homogene Gruppe. So wurden z. B. als politische Häftlinge nicht nur aktive Gegner des Nationalsozialismus eingeliefert – das Erzählen eines Witzes oder die Freundschaft mit einem „Fremdarbeiter“ konnten bereits KZ-Haft mit einem roten Winkel bedeuten. Langbein betonte auch, daß nicht alle „Roten“ ihre Funktionen im Geiste der Kameradschaft ausgeübt und nicht alle „Grünen“ als Werkzeuge der SS gedient haben, vgl. Hermann Langbein, Menschen in Auschwitz, Berlin/Wien 1980, S. 29. Siehe Brief vom 8. Juni 1946 von Dipl.-Ing. Simon Wiesenthal an Dr. Sobek, S. W-C., M -9/10, Yad Vashem/Jerusalem. Beschwerdeprotokoll Linz am 1. 4. 1947, unterschrieben von Rosa Murlakow. S. W-C, M-9, 79a, Yad Vashem/Jerusalem. Vgl. Der neue Weg. Jüdisches Organ mit amtlichen Mitteilungen der Israelitischen Kultusgemeinde Wien (DNW), 5/6, 15. Februar 1946. Akim Lewit überlebte als jüdischer Häftling Buchenwald und wurde auf der 1. Freien Versammlung der Österreicher ins Präsidium der Organisation der österreichischen Überlebenden gewählt. Vgl. Erich Fein/Karl Flanner, Rot-Weiß-Rot in Buchenwald, Wien 1987, S 246. DNW, 1,2/1946, S. 13. Siehe auch das „Rot-Weiß-Rot-Buch“. Gerechtigkeit für Österreich! Darstellungen. Dokumente und Nachweis zur Vorgeschichte und Geschichte der Okkupation Österreichs (nach amtlichen Quellen). 1. Teil, Wien 1946. Das Buch stellt Österreich als Opfer des nationalsozialistischen Aggressors dar, während die Judenverfolgung verschwiegen wurde. Vgl. DNW, 6/Anfang April 1947, S. 6 und 21/Anfang November 1948, S.3. Brigitte Bailer, Wiedergutmachung kein Thema. Österreich und die Opfer des Nationalsozialismus, Wien 1993, S. 143. 102 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 DNW, 21/Anfang November 1948, S.3. DNW, 6/Anfang April 1947, S. 6. Ebd., 6/1947, S. 6ff. Vgl. Bailer, S. 45 ff. Karl Mark, 75 Jahre Roter Hund. Lebenserinnerungen, Wien/Köln 1990, S. 169. Innerhalb der ÖVP war Ausweger u. a. auch wegen einer gegen ihn laufenden Pressekampagne, in der ihm Spendenleistungen an die KPÖ vorgeworfen worden waren, sehr umstritten. 1949 schien er als ÖVP-Mandatar im Landtag nicht mehr auf. Vgl. Dirninger Christian, Die Arbeitgebervertretung im Bundesland Salzburg. Festschrift für Rudolf Friese, Salzburg Dokumentation Nr. 84, Schriftenreihe des Landespressebüros, Salzburg 1984, S 83 Salzburger Tagblatt, 24. März 1948, S.2. Demokratisches Volksblatt, 13. März 1948, S. 2. Ebd., 20. März 1948, S. 3. Interview mit Heinz Mayer, Präsident des Bundes der Opfer des politischen Freiheitskampfes in Tirol. Vgl. DNW, 5/Anfang März 1948, S. 12. Ebd., 21/Anfang November 1948, S. 3. Ebd. Brief vom 23. Mai 1946. Ministerialrat Dr. Franz Sobek an den Verband der politisch Verfolgten für Oberösterreich. S.W.C., M-9/10, Yad Vashem/Jerusalem. Brief vom 8. Juni 1946 von Dipl.-Ing. Simon Wiesenthal an Dr. Sobek. S.W.C., M-9/10. DNW, 18/Anfang Oktober 1949, S. 3. Vgl. Bekanntgabe des jüdischen KZ-Verbandes. S.W.C., M-9/83 b/66 b sowie DNW, 22/Anfang Dezember 1947, S. 4. Wiener Zeitung, 21. Juni 1946. Vgl. Brief der Israelitischen Kultusgemeinde vom 9. Mai 1952, Archiv der IKG Wien. Vgl. Iskult, 35/1955, S. 12. Vgl. ebd., 23/1955, S. 19. Vgl. ebd., 35/1955. Die Gemeinde, 3. Februar 1995 – 3. Adar 5755, sowie 5. April 1995 – 5. Nissan 5755. Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 „ O H N E D E N S TA AT W E I T E R D A M I T Z U B E L A S T E N . . . “ 1 BRIGITTE BAILER-GALANDA Bemerkungen zur österreichischen Rückstellungsgesetzgebung Vorbemerkung Die sogenannte „Wiedergutmachung“ nationalsozialistischen Unrechts, im eigentlichen Wortsinn des „Wieder-gut-Machens“ unmöglich,2 zerfällt in Österreich ebenso wie in der BRD in zwei große Bereiche: die in erster Linie der Sicherung einer Mindestexistenz der Opfer dienende Gesetzesmaterie (in Österreich ➤ Opferfürsorgegesetz, in der BRD ➤ Bundesentschädigungsgesetz) einerseits, und ➤ Gesetze zur Rückstellung entzogenen Eigentums und Vermögens andererseits. Zu beiden Bereichen liegt bereits eine Reihe deutscher Publikationen vor, während die österreichische Forschung erst am Anfang steht.3 Der britische Historiker Robert Knight legte in seiner ausführlich kommentierten Edition von Auszügen der Kabinetts- und Ministerratsprotokolle der Nachkriegszeit eine erste, vor allem außenpolitische Faktoren berücksichtigende Übersicht zur Genese der Rückstellungsgesetze vor.4 Der vorliegende Aufsatz versucht die innenpolitischen Gegebenheiten, die Desiderata der Rückstellungsgesetzgebung und die Auswirkung dieser Gesetze auf die Opfer in einem ersten Ansatz zu erhellen. Darüber hinaus wären weiterführende Forschungen zu diesem Themenkreis sehr wünschenswert. Die Rückstellungsgesetzgebung stellte – obschon eine ganze Reihe anderer Gruppen, nicht zuletzt auch die Kirchen von dieser Gesetzgebung betroffen waren – für die öffentliche Meinung ein vorwiegend jüdisches Problem dar, wodurch auch der vorliegende Aufsatz in erster Linie die Schwierigkeiten jüdischer Opfer, ihr Eigentum zurückzuerhalten, beleuchtet. Der nationalsozialistische Raubzug Plünderungen, Enteignungen und die durch nationalsozialistische Verordnungen geregelten Eigentumsentziehungen betrafen in erster Linie die aufgrund der ➤ Nürnberger Rassengesetze verfolgte Bevölkerung.5 Zum Umfang dieser Beraubungen liegen einige von Vertretern der Opfer Anfang der fünfziger Jahre erstellte Statistiken vor, die den Wert des geraubten Eigentums und Vermögens mit rund 312 Millionen Dollar (780 Millionen Reichsmark) angaben, unter Einrechnung der Einkommensverluste ergab sich sogar ein Verlust von rund 1,2 Milliarden Dollar.6 Statistiken der ➤ Vermögensverkehrsstelle weisen ein aufgrund der Verordnung zur Anmeldung jüdischen Vermögens angemeldetes Vermögen von 2.041,828.000 RM auf, jüdisches Betriebsvermögen umfaßte ca. 321 Millionen RM.7 Die zur Eindämmung der unkontrollierten ➤ „Arisierungen“ und damit zur Sicherung der daraus resultierenden Gewinne für den NS-Staat im Mai 1938 geschaffene Vermögensverkehrsstelle übernahm in der Folge die Abwicklung der „ordnungsgemäßen“ „Arisierungen“.8 Der überwiegende Teil der zu dieser Zeit noch bestehenden rund 26.000 jüdischen Betriebe wurde liquidiert, nur 4353 sollten weitergeführt werden.9 Die in den Folgejahren verabschiedete Vielzahl antijüdischer Gesetze und Verordnungen beraubte die noch nicht geflüchteten Juden ihres gesamten Eigentums; selbst Radioapparate, Schiausrüstungen, Wollsachen, Elektrogeräte und anderes unterlagen nach und nach der Ablieferungspflicht.10 Unmittelbar nach dem „Anschluß“ erfolgte die Vertreibung der Juden aus ihren Wohnungen und deren zwangsweise Umsiedlung in Sammelwohnungen. Insgesamt wurden in Wien schon bis Ende 1938 rund 44.000 der 70.000 Wohnungen mit jüdischen Mietern auf diese Weise für „arische Volksgenossen“ frei gemacht. Gerhard Botz bezeichnet dies zu Recht als „Ersatz nationalsozialistischer Sozialpolitik“.11 Im Laufe der NS-Herrschaft wurden noch weitere Bevölkerungsgruppen bzw. Institutionen ihres Eigentums beraubt: politisch Verfolgte, Kärntner Slowenen, kirchliche Institutionen, Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 103 Umfang der Beraubung „Ohne den Staat weiter damit zu belasten ...“ aufgelöste Vereine, österreichische Unternehmen, aber auch der österreichische Staat infolge seines Untergangs 1938. Trotzdem geht es wohl an der historischen Realität vorbei, wenn der Abgeordnete Kolb im Nationalrat meinte, „erster Anspruchsberechtigter“ der Rückstellungsgesetzgebung sei „die Republik Österreich selber“.12 Die Anfänge der Rückstellungsgesetzgebung Gesetz über die „Erfassung arisierter Vermögen“ Erstes Rückstellungsgesetz Zweites Rückstellungsgesetz Alliierte Planungen hatten sich bereits während des Krieges mit der Frage des durch den nationalsozialistischen Staat entzogenen bzw. geraubten Eigentums befaßt. Die am 5. Jänner 1943 verabschiedete ➤ „Londoner Deklaration“ erklärte alle unter nationalsozialistischer Besetzung erfolgten Enteignungen und scheinlegalen Vermögensübertragungen für ungültig.13 Obschon bereits Anfang Mai 1945 die Provisorische Staatsregierung ein ➤ „Gesetz über die Erfassung arisierter und anderer im Zusammenhang mit der nationalsozialistischen Machtübernahme entzogener Vermögenschaften“14 verabschiedet hatte, war die Frage der individuellen Rückstellung entzogenen Eigentums innerhalb der politisch Verantwortlichen nicht unbestritten. Die Sozialdemokraten verknüpften die Frage der Rückstellungen sofort mit der Frage nach der Rückgabe des 1934 geraubten Vermögens ihrer Partei und der ihr angeschlossenen Organisationen und hatten gleichzeitig, wie übrigens auch die KPÖ, offensichtliche Reserven gegen die Restaurierung „kapitalistischer“ Vermögen.15 Die Staatsregierung sah sich jedoch einerseits unter dem Druck des „Auslandes“, d. h. der Alliierten, die von Österreich entschiedenes Vorgehen gegen die ehemaligen Nationalsozialisten und zugunsten deren Opfer verlangten, andererseits aber stand sie auf dem Standpunkt, Österreich sei an den NS-Verbrechen unschuldig, habe daher keine Wiedergutmachung zu leisten – „Österreich hat aber nichts gut zu machen, weil es nichts verbrochen hat.“16 „Wiedergutmachung“ durfte aus der Sicht der österreichischen Politiker möglichst keine Kosten verursachen. Dementsprechend entschloß man sich vorerst jene Fälle in Angriff zu nehmen, in denen Naturalrestitution möglich schien.17 Im Mai 1946 verabschiedete der Nationalrat das ➤ „Bundesgesetz über die Nichtigerklärung von Vermögensübertragungen, die während der deutschen Besetzung Österreichs erfolgt sind“ 18, und erkannte damit die in der „Londoner Deklaration“ normierten Prinzipien an. Doch erst im Herbst 1946 folgte die Vermögensentziehungsanmeldeverordnung, die die tatsächliche Anmeldung entzogenen Vermögens bis November desselben Jahres vorsah; die Anmeldepflicht lag dabei beim derzeitigen Inhaber dieses Eigentums, also in vielen Fällen beim ➤ „Ariseur“.19 Relativ einfach zu erledigen waren jene Fälle, in denen Eigentum aufgrund nationalsozialistischer Gesetze, insbesondere der ➤ 11. und ➤ 13. Verordnung zum Reichsbürgergesetz, und durch ➤ Gestapo-Maßnahmen entzogen worden war und sich nun in der Verwaltung der Republik befand. Diese Fälle regelte das am 26. Juli 1946 verabschiedete Erste ➤ Rückstellungsgesetz.20 Damit hatte aber auch schon die für die österreichischen Maßnahmen zugunsten der NS-Opfer in der Folge typische Aufsplitterung in eine Reihe von Einzelgesetzen ihren Anfang genommen.21 Dies erschwerte den Opfern selbst die Übersicht und damit die Durchsetzung ihrer berechtigten Forderungen deutlich. Es dauerte nochmals mehrere Monate, bis am 6. Februar 1947 der Nationalrat das Zweite Rückstellungsgesetz, betreffend die im Eigentum der Republik befindlichen entzogenen Vermögen,22 und das in der Folge wichtigste – und am heftigsten umstrittene – Dritte Rückstellungsgesetz, betreffend Rückstellung von in privater Hand befindlichen entzogenen Vermögen,23 verabschiedete. Wichtiger, wenn auch nicht unmittelbarer Pate für diese und die folgenden Gesetze war „das Ausland“; wie das für die Erfassung entzogener Vermögen geschaffene ➤ Bundesministerium für Vermögenssicherung und Wirtschaftsplanung im Vortrag für den Ministerrat zum Ersten Rückstellungsgesetz begründete, sollte dieses Gesetz verabschiedet werden, „um aber doch der Welt zu zeigen, daß seitens der Republik Österreich das, was möglich ist, getan wird.“24 104 Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 Brigitte Bailer-Galanda Das Dritte Rückstellungsgesetz Dem Dritten Rückstellungsgesetz waren langwierige Diskussionen mit Vertretern der Opfer vorangegangen. Im Frühjahr 1946 wurde ein von der Rechtsanwaltskammer erstellter Entwurf veröffentlicht, der wegen deutlicher Bevorzugung der „Ariseure“ und Benachteiligung der Verfolgten auf die vehemente Kritik der ➤ Israelitischen Kultusgemeinde und des ➤ „Österreichischen Bundesverbandes ehemals politisch verfolgter Antifaschisten“ stieß.25 Der im Herbst 1946 dem Ministerrat vorgelegte Gesetzesentwurf für das Dritte Rückstellungsgesetz wies gleichfalls beträchtliche Mängel auf, indem nach wie vor der „Ariseur“ (im Gesetz „Erwerber“ genannt) gegenüber den Opfern (im Gesetz „geschädigter Eigentümer“) bessergestellt war. Im Ministerrat drängte Bundesminister Heinl auf eine baldige Beschlußfassung: „Wir können die Unterstützung des Auslandes nur finden, wenn dieses Gesetz in Kraft tritt.“26 Die Israelitische Kultusgemeinde und der „Österreichische Bundesverband ehemals politisch verfolgter Antifaschisten“ erarbeiteten ausführliche Stellungnahmen zum Entwurf,27 die bereits auf Probleme hinwiesen, die später bei der Handhabung des Gesetzes auftraten, wie beispielsweise die Verpflichtung des Opfers, dem „Erwerber“ den ➤ Kaufpreis wieder zurückzuzahlen. In der Realität der Jahre 1938/1939 hatte kaum ein geschädigter Eigentümer je den Kaufpreis tatsächlich erhalten, geschweige denn diesen auf seiner Flucht ins Ausland mitnehmen können. Diese Bestimmung wurde in der endgültigen Fassung wohl eingeschränkt,28 die grundlegende Bestimmung über Gegenleistungen an den Erwerber blieb jedoch erhalten. Weiters erhoben die Betroffenen Forderungen zur Lösung des drängenden Problems der enteigneten Wohnungen. Diesbezüglich vertröstete der Gesetzestext auf weitere, noch zu erlassende Regelungen. Einen wichtigen Punkt sahen die Opfer in der Schaffung eines „Wiedergutmachungsfonds“ aus dem erblos gebliebenen Vermögen – rund 65.000 Juden aus Österreich waren dem Holocaust zum Opfer gefallen. Das dann verabschiedete Gesetz stellte die Errichtung eines Fonds auf der Grundlage einer noch zu erarbeitenden gesetzlichen Bestimmung in Aussicht. Letzte Diskussionen über den Entwurf fanden im Rahmen einer Sachverständigenenquete am 23. Jänner 1947 im Nationalrat statt.29 Anläßlich der Beschlußfassung betonte der sozialistische Abgeordnete ➤ Dr. Tschadek (1949-1952 selbst Justizminister), daß Österreich keinerlei Verpflichtung für untergegangenes oder an das Deutsche Reich gefallenes Vermögen übernehmen könne. Im übrigen seien die meisten „Ariseure“ ohnehin „reichsdeutsche Geschäftsleute, reichsdeutsche Krämer“ gewesen, die 1938 nach Wien gekommen seien, „um hier die jüdischen Geschäfte um einen Pappenstiel zu übernehmen“. 30 Weiters wiederholte Tschadek nochmals jene Argumente zugunsten der „Erwerber“, die bereits im Vortrag an den Ministerrat im Oktober 194631 vorgebracht worden waren: Viele hätten ja nur auf Bitten der Verfolgten deren Eigentum übernommen, um ihnen den Weg ins rettende Ausland zu ermöglichen – eine Argumentation, die in den ab 1948 einsetzenden Angriffen der „Erwerber“ gegen das Dritte Rückstellungsgesetz in steter Regelmäßigkeit vorgebracht wurde. Insgesamt zeigten sich die Betroffenen mit dem Gesetzestext zufrieden,32 die Legal Division bei den US-Besatzungsbehörden empfahl, dem Gesetz trotz nach wie vor bestehender Mängel nicht die Zustimmung zu verweigern.33 Bis 1949 wurden noch vier weitere, in der öffentlichen Diskussion nur wenig beachtete Rückstellungsgesetze verabschiedet: Viertes Rückstellungsgesetz zur Wiederherstellung gelöschter oder geänderter Firmen,34 Fünftes Rückstellungsgesetz zur Rückstellung entzogenen Vermögens juristischer Personen (Aktiengesellschaften, Genossenschaften u. a.),35 Sechstes Rückstellungsgesetz zur Rückstellung von Patenten, Marken und Musterrechten,36 Siebentes Rückstellungsgesetz zur Geltendmachung entzogener oder nicht erfüllter Ansprüche aus Dienstverhältnissen in der Privatwirtschaft.37 Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 105 Mängel im Dritten Rückstellungsgesetz Das Problem der enteigneten Wohnungen „Ohne den Staat weiter damit zu belasten ...“ Das Dritte Rückstellungsgesetz in der Praxis38 Benachteiligung der Geschädigten in der Rückstellungspraxis Die Erleichterung der Verfolgtenverbände über die Verabschiedung des Dritten Rückstellungsgesetzes wich angesichts der Praxis der Rückstellungskommissionen, denen einzelne Bestimmungen beträchtlichen Ermessensspielraum einräumten,39 bald der Enttäuschung und Ernüchterung: „Was wir bisher in legislativer Hinsicht erreicht haben, ist zweifellos als Erfolg zu buchen. Zu bemängeln ist aber die Art der Handhabung der an sich guten Gesetze, wogegen wir dauernd und mit unverminderter Kraft ankämpfen.“ 40 Es häuften sich Klagen, daß die Rückstellungskommissionen im Zweifel zugunsten des Erwerbers, also in vielen Fällen des „Ariseurs“, und damit zu Lasten des Verfolgten entschieden.41 Noch vor der Beschlußfassung im Nationalrat hatten Vertreter des ➤ World Jewish Congress in einem Bericht an die US-Besatzungsmacht davor gewarnt, daß das Gesetz dazu neige, „to favor the interests of the present possessor over those of the legal owners“.42 Besonders die Praxis des mit der „Erfassung, Sicherung, Verwaltung und Verwertung von („arisierten“, Anm. d. Verf.) Vermögenschaften und Vermögensrechten“43 betrauten Bundesministeriums für Vermögenssicherung und Wirtschaftsplanung bot häufig Anlaß zu Kritik. Es mutet wie Zynismus an, daß gerade in diesem Ministerium überproportional viele Nationalsozialisten mit Sonderverträgen oder als Konsulenten eine Anstellung gefunden hatten.44 Vielleicht deshalb entschied das Ministerium bei der Bestellung öffentlicher Verwalter für „arisiertes“ Eigentum oftmals zugunsten des „Ariseurs“, der damit bis zur Entscheidung der Rückstellungskommission die Verfügungsgewalt über das Eigentum des Verfolgten behielt.45 In diesem Zusammenhang ist den Beschwerden über die unverhältnismäßig lange Dauer der Rückstellungsverfahren,46 die nur zu oft in unnotwendigen Behördenwegen und -schikanen begründet lagen,47 besonderes Gewicht zuzumessen. Die geschädigten Eigentümer, oftmals selbst aufgrund der Verfolgung weitgehend mittellos, mußten infolgedessen unverhältnismäßig lange auf die Möglichkeit der Wiederaufrichtung ihrer Existenz warten und waren mit dem Risiko der Verschleppung oder Verschlechterung ihres Eigentums konfrontiert.48 Bis Ende Oktober 1954 waren von 34.539 bis dahin eingelangten Anträgen nach dem Dritten Rückstellungsgesetz nach wie vor 5181 anhängig.49 Eines der größten Probleme stellte jedoch eine Bestimmung des Dritten Rückstellungsgesetzes dar, die vorsah, daß der Verfolgte „als Gegenleistung das rückzustellen“ habe, „was er zu seiner freien Verfügung erhalten hat“. In jenen Fällen, in denen „bei einer Vermögensentziehung im übrigen die Regeln des redlichen Verkehrs eingehalten“ worden waren, konnte „die Rückstellungskommission nach billigem Ermessen (...) bestimmen, ob und welcher Teil des vom Erwerber bezahlten, vom Eigentümer aber nicht zur freien Verfügung erhaltenen Kaufpreises dem Erwerber vom geschädigten Eigentümer zu ersetzen ist.“ 50 Diese Bestimmung bedeutete in den meisten Fällen, daß der ehemals Verfolgte („geschädigte Eigentümer“) sein ihm zustehendes Eigentum de facto zurückkaufen mußte. Auch die Einschränkung der „freien Verfügung“, im Gesetz nicht näher definiert, wurde von den Rückstellungskommissionen unterschiedlich ausgelegt. In Einzelfällen wurde sogar angenommen, daß die vom Kaufpreis erlegte ➤ Reichsfluchtsteuer und Judenvermögensabgabe dem Verfolgten zugute gekommen und daher an den „Erwerber“ zurückzuzahlen sei!51 In den allermeisten Fällen war der Kaufpreis auf einem ➤ Sperrkonto deponiert worden, von dem der Verfolgte monatlich nur einen geringen Betrag hatte beheben können. Bei der Ausreise waren nur 10 oder 20 Reichsmark als Bargeld mitzunehmen gestattet. Die auf den Konten liegenden Beträge fielen spätestens mit der ➤ 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz aus 1941 an das Deutsche Reich.52 Der österreichische Staat, der jede Verantwortung für die Verbrechen des NS-Regimes von sich wies, verweigerte über etliche Jahre die Entschädigung für diese diskriminierenden Abgaben. Den ehemaligen Verfolgten blieb also, wollten sie ihr Eigentum zurückerhalten, nur der Weg der Kreditaufnahme.53 Konnte der Geschädigte den Kaufpreis nicht aufbringen, so forderte der „Erwerber“ den Verkauf des Eigentums, um den Kaufpreis zurückzuerhalten. Im Wege der öffentlichen Versteigerung erhielt auf 106 Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 Brigitte Bailer-Galanda diesem Weg der „Ariseur“ in vielen Fällen – entgegen der Absicht des Rückstellungsgesetzes – das „arisierte“ Eigentum wieder zurück.54 Eine weitere wesentliche Problematik ergab sich daraus, daß das Dritte Rückstellungsgesetz den aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch abgeleiteten Begriff des „redlichen Erwerbers“ einführte, der die aus dem „arisierten“ Vermögen erwirtschafteten Gewinne einbehalten durfte. Da aber der erste „Erwerber“ zumeist wußte, daß er von einem unter Zwang handelnden Verfolgten kaufte, definierte das Gesetz den „redlichen“ Erwerb dahingehend, daß dafür zumindest die „Regeln des redlichen Verkehrs“ eingehalten worden waren. Graf meint dazu in seiner juristischen Kritik des Gesetzes, diese Bestimmung habe „ein paradoxes Flair, genauso als ob bei einem Banküberfall dann die Regeln des redlichen Verkehrs eingehalten wären, wenn der Bankräuber den Bankkassier nicht mit ‚Du‘, sondern höflich mit ‚Sie‘ anspricht.“ 55 In jedem Fall führte diese Bestimmung dazu, daß häufig der „Erwerber“ die Gewinne der letzten Jahre für sich behalten konnte. Eine Reihe von Ungerechtigkeiten bei der Durchführung des Rückstellungsgesetzes wären vermeidbar gewesen, hätte Österreich zumindest in jenen Fällen Zahlungen an die ehemals Verfolgten geleistet, in denen tatsächlich unschuldige „Erwerber“ (beispielsweise bei Weiterverkauf an Dritte oder in den Fällen der für die Anlage des Truppenübungsplatzes Allentsteig enteigneten Döllersheimer Bauern) vorhanden waren oder der Geschädigte aus anderen Gründen keine Rückstellung seines Eigentums erlangen konnte. Solche Zahlungen lehnte die Republik jedoch entschieden ab. Der Widerstand gegen das Dritte Rückstellungsgesetz und Novellierungsversuche 56 Seitens der „Erwerber“, zumeist also der „Ariseure“ selbst, regte sich bereite 1948 heftiger Widerstand gegen das Gesetz. Sie konstituierten Ende 1948 einen ➤ „Verband der Rückstellungsbetroffenen“, der in einer eigenen Zeitschrift, „Unser Recht“, gegen die angeblichen Ungerechtigkeiten des Dritten Rückstellungsgesetzes mobilisierte. Aus Sicht der „Ariseure“ waren sie alle „redliche Erwerber“ gewesen, denen das Dritte Rückstellungsgesetz nicht den Schutz, der ihnen zukomme, gewähre.57 Gleichzeitig begannen zu dieser Zeit bereits die Parlamentsparteien um die Stimmen der bei der Nationalratswahl 1949 wieder wahlberechtigten Nationalsozialisten zu konkurrieren, so daß die „Rückstellungsbetroffenen“ auf politische Unterstützung rechnen durften, die sich nach dem überraschenden Wahlerfolg des ➤ Verbandes der Unabhängigen (VdU) 1949 noch deutlich verstärkte, verstand sich doch der VdU als Vertretung der „Ehemaligen“ im Nationalrat.58 Schützenhilfe erhielten „Rückstellungsbetroffene“ und VdU seit Ende 1948 seitens der ÖVP, die sich bekanntlich unmittelbar um die Stimmen der „Ehemaligen“ bemühte, während die SPÖ die Gründung des VdU als Sammelbecken für dieses Lager präferierte und letztlich auch durchsetzte. Im November 1948 berichtete die US-Legal Division von Bemühungen des Bundesministers für Vermögenssicherung und Wirtschaftsplanung, ➤ Peter Krauland, 59 um eine Novellierung des Dritten Rückstellungsgesetzes, deren Absicht es sei, „to render that law largely inoperative and to legalize possession by the aryanizers of the property“.60 Der Bericht führte zwei wesentliche Punkte der beabsichtigten Änderung an: Der erste zielte auf die Möglichkeit einer neuerlichen Verhandlung bereits erledigter Fälle zugunsten der „Ariseure“. Der zweite wollte all jenen, die Österreich nach dem „Anschluß“ verlassen hatten und nicht zurückgekehrt waren, die Rückstellung ihres Eigentums verweigern. Damit wäre die überwältigende Mehrheit aller Vertriebenen vom Dritten Rückstellungsgesetz ausgeschlossen worden.61 Diese Bemühungen Kraulands dürften ebenso wie die im folgenden genannten Novellierungsversuche am Widerstand der US-Besatzungsmacht und wohl auch der Briten gescheitert sein.62 Vor und unmittelbar nach den Nationalratswahlen 1949 brachten Abgeordnete der ÖVP Anträge auf Novellierung des Dritten Rückstellungsgesetzes zugunsten der „Erwerber“ ein,63 deren Inhalt von den „Rückstellungsbetroffenen“ enthusiastisch begrüßt wurde.64 Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 107 Der „redliche Erwerber“ „Ohne den Staat weiter damit zu belasten ...“ Bundesgesetz über den „Härteausgleich“ in Rückstellungsverfahren Bauern aus Döllersheim blieben entschädigungslos US-Hochkommissär Keyes wies in einem Brief an Bundeskanzler ➤ Figl im März 1950 nachdrücklich darauf hin, daß die beabsichtigte Novellierung gegen den Artikel 44 des Entwurfes zum ➤ Staatsvertrag – Artikel 26 im Staatsvertrag 1955 – verstoße.65 Außerdem verweigerte die SPÖ-Fraktion die Zustimmung zu dieser Novelle und schlug stattdessen die Schaffung eines „Härteausgleichs“ vor, der der „Bekämpfung und Beseitigung aller Härten, die auf Hitler und die Nazi zurückzuführen sind“, dienen sollte.66 Noch in der letzten Sitzung des Nationalrates vor der Sommerpause brachten Abgeordnete der Regierungsparteien einen Antrag „betreffend ein Bundesgesetz über den Härteausgleich in Rückstellungsfällen und die Errichtung eines Härteausgleichsfonds“ ein.67 Dieser Antrag vermischte die Interessen verschiedener Opfergruppen mit jenen der „Ariseure“. Während gegenüber dem Dritten Rückstellungsgesetz in Teil I und II des Entwurfs deutliche Verschlechterungen für die ehemals Verfolgten vorgesehen waren,68 wurde in Teil III ein „Härteausgleich“ u. a. für die „Erwerber“ vorgesehen, der unter anderem „gespeist werden soll aus dem erblosen Eigentum, einer Abgabe vom Erlös rückgestellten Eigentums, dessen Verkauf innerhalb eines fünfjährigen Zeitraumes nach der Rückstellung erfolgt“.69 Aus diesem Fonds sollten neben Geschädigten, die ihre Ansprüche aufgrund des Dritten und Siebenten Rückstellungsgesetzes nicht geltend machen konnten, auch „bestimmte besonders berücksichtigungswürdige Gruppen rückstellungspflichtiger redlicher Erwerber“ entschädigt werden. Das hieß mit anderen Worten, daß sogenannte „redliche Erwerber“ „arisierten“ Eigentums aus dem Eigentum der von den Nationalsozialisten ermordeten Juden entschädigt hätten werden sollen! Weiters sah der Entwurf die Auszahlung von Entschädigungen für erlittene Haftzeiten vor und stellte damit die Erfüllung einer langjährigen Forderung der Opferverbände in Aussicht.70 Die ➤ Israelitische Kultusgemeinde war nicht bereit, diesen neuerlichen Angriff auf die Rechte ihrer geschädigten Mitglieder hinzunehmen, und führte im Konzerthaus eine Protestversammlung durch; US-Hochkommissär Keyes machte Bundeskanzler Figl in einem Schreiben vom 1. September 1950 nachdrücklich darauf aufmerksam, daß dieser Entwurf sowohl der Londoner Deklaration als auch dem Entwurf des Staatsvertrages widersprach.71 Der Ministerrat beschloß am 5. September, den Antrag zurückzustellen. 72 Doch die Frage einer Novellierung des Dritten Rückstellungsgesetzes blieb weiter auf der politischen Tagesordnung. 1952 unternahm die Bundesregierung einen neuerlichen Versuch. Am 17. Juli dieses Jahres beschloß der Nationalrat ein Bundesgesetz „über den Ausgleich von Härten in Rückstellungsfällen (Wiedererwerbsgesetz)“.73 Der Text dieses Gesetzes war nach langwierigen Diskussionen aus dem Gesetzesentwurf 1950 hervorgegangen und sah unter bestimmten Bedingungen die Möglichkeit des Wiedererwerbs bereits rückgestellten „arisierten“ Eigentums durch den „Ariseur“ vor. Heftige Kritik rief die Bestimmung hervor, wonach bei Überschuldung des Eigentümers vor dem März 1938 keine Rückstellung zu erfolgen gehabt hätte und der „Ariseur“ daher bereits rückgestelltes Eigentum wiedererwerben hätte dürfen.74 Angesichts der katastrophalen wirtschaftlichen Situation Österreichs im Jahr 1938 und der infolge der antijüdischen Maßnahmen und Plünderungen noch vor dem Verkauf ruinierten Geschäfte stellte diese Bestimmung eine dramatische Verschlechterung der Rückstellungsgesetzgebung dar. Das Exekutivkomitee des ➤ Alliierten Rates beeinspruchte dieses Gesetz in seiner Sitzung am 22. 8. 1952 einstimmig, so daß es keine Rechtskraft erlangte.75 Damit war der letzte Versuch, die Bestimmungen des Dritten Rückstellungsgesetzes zu Lasten der ehemals Verfolgten zu unterlaufen, zu Fall gebracht worden. Entschädigungslos blieben damit aber auch jene Bauern aus Döllersheim, dem heutigen Truppenübungsplatz Allentsteig, die von NS-Behörden enteignet worden waren und die dafür „arisierten“ Grundbesitz erhalten hatten. Sie waren rückstellungspflichtig und zählten damit tatsächlich zu Verlierern der Gesetzgebung. Diese Notlage auf Kosten der ehemals Verfolgten lösen zu wollen, konnte allerdings nicht angehen. Hier wäre dem österreichischen Staat die Verpflichtung zugekommen, aus staatlichen Mitteln solche Härten zu beseitigen. 108 Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 Brigitte Bailer-Galanda Die nicht erfolgte Rückstellung der Wohnungen 76 Nach dem „Anschluß“ 1938 wurden allein in Wien rund 60.000 Mietwohnungen ihren jüdischen Besitzern entzogen,77 zum Teil ohne formale Kündigung des Mietvertrages. Als nach Kriegsende Verfolgte aus Konzentrationslagern oder dem Ausland zurückkehrten, verfügten sie über keinen Rechtsanspruch, ihre Wohnungen wieder zurückzuerhalten. Im Wege des Wohnungsanforderungsgesetzes78 in Verbindung mit dem Verbotsgesetz konnten Wohnungen von Nationalsozialisten beschlagnahmt und über das Wohnungsamt wieder vergeben werden. Angesichts des nahenden Kriegsendes waren zahlreiche Nationalsozialisten in den Westen geflüchtet, ihre leerstehenden Wohnungen wurden neuerlich vermietet. Doch diese in den ersten Nachkriegsmonaten erfolgten Einweisungen führten bald zu Konflikten mit den nationalsozialistischen Vormietern, da diese nur wenig später mit Hilfe der Gerichte, die die vorläufigen Einweisungen aus dem Jahr 1945 nicht anerkannten, die Delogierung des eingewiesenen Verfolgten erzielen konnten. In anderen Fällen wiederum konnte die Ehefrau des nationalsozialistischen Mieters nachweisen, nie Mitglied der NSDAP gewesen zu sein, und auf diese Weise die Kündigung des Opfers erreichen.79 Anfang 1950 sah sich Justizminister Tschadek jedenfalls veranlaßt, die Gerichte aufzufordern, die Delogierung von Opfern nicht länger zuzulassen.80 Bereits das Dritte Rückstellungsgesetz hatte eine Regelung für die Rückstellung entzogener Miet- und Bestandsrechte, wovon neben Wohnungen auch Geschäftslokale betroffen gewesen wären, in Aussicht gestellt.81 Ein erster Entwurf kam 1947 über Ausschußberatungen nicht hinaus und wurde angesichts der nahenden Wahlen 1949 wieder fallengelassen.82 Obschon Bundeskanzler Figl von US-Hochkommissär Keyes mehrmals aufgefordert wurde, endlich ein Gesetz zur Wohnungsrückstellung zu verabschieden,83 zeigte sich die Bundesregierung in dieser Frage unnachgiebig. Bundesminister Tschadek bezeichnete 1950 ein solches Gesetz als „eine absolute Gefahr“, da dadurch „eine unbedingte Beunruhigung unter der Bevölkerung entstehen“ würde.84 Ein trotzdem in diesem Jahr dem Nationalrat zugegangener Entwurf wies zahlreiche Mängel und Einschränkungen auf, die von der Israelitischen Kultusgemeinde kritisiert wurden.85 In der folgenden Gesetzgebungsperiode wurde ein neuerlicher, dem vorhergehenden ähnlicher und wiederum ungenügender Entwurf vorgelegt,86 der abermals nicht bis zur Behandlung im Nationalrat gedieh. Aufgrund dieses Zögerns der Bundesregierung, hier in der unmittelbaren Konkurrenzsituation zwischen Opfern und Tätern zugunsten der Opfer zu entscheiden, mußten zahlreiche mittellose Rückkehrer, so sie nicht anderwärts Wohnraum erhalten konnten, über Jahre hinweg in Massenquartieren und anderen unzureichenden Unterkünften leben, während die „Ariseure“ ihre ehemaligen Wohnungen nach wie vor innehatten. Ein Memorandum des ➤ „Claims Committee“ wies 1953 darauf hin, daß nach wie vor 800 Mitglieder der Israelitischen Kultusgemeinde in „unerträglichen Untermieten oder in Rückkehrerlagern oder sogar in Obdachlosenherbergen“ leben mußten.87 Der bereits erwähnte Jurist ➤ Dr. Walther Kastner, der nach eigenen Angaben selbst in einer vormals einem Juden gehörenden Wohnung lebte,88 stellt als Begründung für die Nicht-Verabschiedung dieses Gesetzes fest: „Diese Regelung hätte der Interessenslage tatsächlich nicht entsprochen. Es ist zu bedenken, daß in Wien 1938 fast 200.000 Juden gewohnt hatten, aber gegenwärtig nur etwa 7000 Juden wieder in Wien ansässig sind.“89 Wieviele aus Österreich vertriebene Menschen nicht zurückkehrten, weil sie keine Möglichkeit sahen, hier wieder Wohnung und Existenz zu finden, wird sich wohl nie feststellen lassen. Weitere Maßnahmen In der zweiten Hälfte der fünfziger und zu Anfang der sechziger Jahre wurde noch eine Reihe von Gesetzen zur Erfüllung offener Entschädigungsforderungen vom Nationalrat verabschiedet. Anlaß dazu waren unter anderem die seit 1953 laufenden Verhandlungen des „Committee for Jewish Claims on Austria“ mit der österreichischen Bundesregierung sowie Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 109 Massenquartiere und unzureichende Unterkünfte „Ohne den Staat weiter damit zu belasten ...“ „Kriegs- und Verfolgungssachschädengesetz“ Erfassung des „erblosen“ Vermögens die Bestimmungen des Artikels 26 des Staatsvertrages, die die Republik zur Rückstellung entzogenen Eigentums verpflichteten.90 Das Kriegs- und Verfolgungssachschädengesetz 91 1958 sah teilweisen Ersatz für Hausrat und Wohnungseinrichtungen vor, die infolge von Kriegseinwirkungen oder politischer Verfolgung verloren gegangen waren. Entschädigung wurde aber nur bis zu einer gewissen Höhe und abhängig vom Jahreseinkommen des Geschädigten geleistet. Auf diese Weise war wiederum – so wie auch in der Opferfürsorgegesetzgebung und teilweise aufgrund der „Billigkeitserwägungen“ im Dritten Rückstellungsgesetz – eine Verschränkung von Entschädigung und sozialer Bedürftigkeit vorgenommen worden. Gleichfalls 1958 verabschiedete der Nationalrat das Gesetz zur Entschädigung für vom Deutschen Reich eingezogene Lebensversicherungen, dessen Anmeldefrist aber nur auf ein Jahr bemessen war,92 so daß nicht in Österreich lebende Verfolgte oft erst zu spät davon erfuhren.93 Nachdem seit 1945 auf die Erfassung des erblos gebliebenen jüdischen Eigentums gedrängt worden war, die auch das Dritte Rückstellungsgesetz bereits in Aussicht gestellt hatte, wurde im Auffangorganisationsgesetz 94 die Gründung von ➤ Sammelstellen zur Erfassung des erblosen Vermögens ermordeter Juden und politisch Verfolgter bestimmt.95 Erst am 22. März 1961 verabschiedete der Nationalrat das Gesetz über den „Fonds zur Abgeltung von Vermögensverlusten politisch Verfolgter“.96 Mit Hilfe dieses Fonds sollten infolge nationalsozialistischer Verfolgung erlittene Verluste an Wertpapieren, Bankkonti und Bargeld sowie Verluste infolge erzwungener Entrichtung diskriminierender Abgaben und Steuern (Judenvermögensabgabe, Reichsfluchtsteuer) entschädigt werden. Kleinere Verluste wurden zu 100 %, größere mit 48,5 %, jedoch mindestens mit öS 47.250,- entschädigt.97 Zusammenfassung Da die Republik Österreich aus außenpolitischen Opportunitätserwägungen bis zur Regierungserklärung aus dem Juli 199198 jede Verantwortung für die Verbrechen des NS-Regimes dem Deutschen Reich anlastete und für sich und seine Staatsbürger leugnete, wiesen die verantwortlichen Politiker seit Kriegsende jede Verpflichtung zu Entschädigungsleistungen und „Wiedergutmachung“ strikt von sich. Daher wurde auch die Rückstellungsgesetzgebung auf jene Schäden beschränkt, in denen eine Naturalrestitution möglich war. Vor allem im Dritten Rückstellungsgesetz war aber der Rückzug des Staates aus der Verantwortung in mehrfacher Hinsicht problematisch. Die Delegation an den unmittelbaren Konflikt zwischen dem „Erwerber“ und dem ehemals Verfolgten bedingte in vielen Fällen per se bereits ein Ungleichgewicht: Der zurückgekehrte „geschädigte Eigentümer“ war in vielen Fällen mittellos, benötigte die Rückstellung zur Wiederaufrichtung seiner Existenz, verfügte jedoch gleichzeitig nicht über jenes Beziehungsnetz, das dem „Erwerber“ zur Verfügung stand, den Anwaltskosten und langwierige Verfahren lange nicht im selben Ausmaß belasteten. Darüber hinaus erzeugte die staatliche Absenz tatsächliche Ungerechtigkeiten für beide Seiten. Nicht mehr auffindbares entzogenes Eigentum wurde nicht ersetzt – oder erst in den späten fünfziger Jahren – , Käufer, die wirklich nicht über die Vorgeschichte ihres Besitzes informiert waren und diesen später rückstellen mußten, gingen manches Mal dann entschädigungslos aus, wie eben einige der aus dem Gebiet von Döllersheim abgesiedelten Bauern. Aus: Zeitgeschichte, Nr.11/12, 1993, Studien Verlag, S. 367-381. 1 2 Erläuternde Bemerkungen zu dem Gesetz über die Nichtigkeit von Vermögensentziehung (3. Rückstellungsgesetz), 45. Sitzung des Ministerrates, 12. 11. 1946. Archiv der Republik, BM für Unterricht, Ministerratsprotokolle, Karton 4. Zur Diskussion des Begriffes der „Wiedergutmachung“ siehe: Brigitte Bailer, Wiedergutmachung kein Thema. Österreich und die 110 3 4 Opfer des Nationalsozialismus, Wien 1993, S. 12 ff. Siehe dazu auch die Literaturdiskussion in Bailer, a. a. O., 14 ff. sowie Literaturverzeichnis. Robert Knight, „Ich bin dafür, die Sache in die Länge zu ziehen“. Die Wortprotokolle der österreichischen Bundesregierung von 1945 bis 1952 über die Entschädigung der Juden, Frankfurt/M. 1988. Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 Brigitte Bailer-Galanda 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 Die „Nürnberger Gesetze“ betrafen neben den Mitgliedern der Kultusgemeinden auch zahlreiche Menschen, die selbst keine jüdische Identität mehr hatten, sowie sogenannte „Mischlinge“, mit Juden verheiratete Personen usw. Dr. F. R. Bienenfeld, Dr. C. Kapralik, Draft Memorandum on Losses of Austrian Jewry, 19. 5. 1953, Nachlaß Albert Loewy, Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien. Dieselbe Summe nennt Gustav Jellinek, Die Geschichte der österreichischen Wiedergutmachung, in: Josef Fraenkel, The Jews of Austria. Essays on their Life, History and Destruction, London 1967, S. 396. Gertraud Fuchs, Die Vermögensverkehrsstelle als Arisierungsbehörde jüdischer Betriebe, Diplomarbeit am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Wirtschaftsuniversität Wien, Wien 1989, S.18 ff., S. 166. Zur Geschichte der Vermögensverkehrsstelle und Durchführung der „Arisierungen“ siehe Gertraud Fuchs, a. a. O. a. a. O., S. 166. Siehe dazu unter anderen: Jonny Moser, Die Verfolgung der Juden, in: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hrsg.), Widerstand und Verfolgung in Wien 1934-1945, Wien 1975, Band 3, S. 195 ff.; Elisabeth Klamper, Die Situation der jüdischen Bevölkerung in Wien vom Ausbruch bis zum Ende des Krieges, in: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hrsg.), Jüdische Schicksale, Berichte von Verfolgten , Wien 1992, S. 164 ff. Gerhard Botz, Wohnungspolitik und Judendeportationen in Wien 1938-1945. Zur Funktion des Antisemitismus als Ersatz nationalsozialistischer Sozialpolitik, Wien 1975, bes. S. 28; zur Vorgangsweise der Gemeinde Wien: Herbert Exenberger; Johann Koss, Brigitte Ungar-Klein, „Kündigungsgrund Nichtarier“. Aus- und Umsiedlungen jüdischer Mieter aus Wiener kommunalen Wohnbauten in den Jahren 1938/39, Projekt P 7835-HiS, Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung. Wien 1992. Stenographisches Protokoll der 14. Sitzung des Nationalrates der Republik Österreich, V. Gesetzgebungsperiode, 15. 5. 1946. Knight, a. a. O., S. 263. StGBI. Nr. 10, 10. 5. 1945. Siehe beispielsweise Karl Renner in der 5. Kabinettsratssitzung vom 10. 5. 1945, zitiert in: Knight, a. a. O., S. 83; Dr. Alfred Migsch, Zur Versorgung der Opfer des Naziterrors. Es darf keine persönliche Bereicherung geben! Informationsdienst der Sozialistischen Partei Österreichs, Sondernummer vom 5. Juni 1945; Kommunistische Partei Österreichs (Hrsg.), Rothschild greift nach Österreich, o. J. Der Abgeordnete Kolb als Berichterstatter zum Nichtigerklärungsgesetz, stenographisches Protokoll der 14. Sitzung des Nationalrates der Republik Österreich, V. Gesetzgebungsperiode, 15. 5. 1946. Vgl. dazu das Memorandum der Staatskanzlei, Auswärtige Angelegenheiten: „Die außenpolitische und die völkerrechtliche Seite der Ersatzansprüche der jüdischen Naziopfer“, abgedruckt in Knight, a. a. O., insbes. S. 107. BGBI. 106/1946. Siehe dazu auch Gottfried Klein, 1938-1968. Dreißig Jahre: Vermögensentziehung und Rückstellung, in: Österreichische Juristenzeitung, 24. Jahrgang, 11. Februar 1969. Zur Entwicklung aus der Sicht der Opfer siehe: Akim Lewit, Wiedergutmachung, in: Mahnruf für Freiheit und Menschenrecht. Organ des österreichischen Bundesverbandes ehemals politisch verfolgter Antifaschisten, Nr. 1, 15. 11. 1946. BGBI. 156/1946; siehe zu dieser Entwicklung auch Der neue Weg, Nr. 41/42, 15. 11. 1946. In Deutschland waren sowohl Entschädigung als auch Rückstellung – dort „Rückerstattung“ – kompakter zusammengefaßt. Bundesgesetz über die Rückstellung entzogener Vermögen, die sich im Eigentum der Republik Österreich befinden, BGBI. 53/1947. Bundesgesetz über die Nichtigkeit von Vermögensentziehungen, BGBI. 54/1947. BM für Vermögenssicherung und Wirtschaftsplanung, Vortrag an den Ministerrat über die Rückstellung entzogener Vermögen, die sich in Verwaltung des Bundes oder eines Bundeslandes befinden (1. Rückstellungsgesetz), ZI. 11.447-1/1946. Vorgelegt bei der 26. 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 Sitzung des Ministerrates am 18. 6. 1946. Archiv der Republik, BM für Unterricht, Ministerratsprotokolle, Karton 3. Der neue Weg, Nr. 13/14, 15. 4. 1946; Bericht des Präsidiums der Israelitischen Kultusgemeinde Wien über die Tätigkeit in den Jahren 1945-1948, Wien 1948, S. 21 f.; Mahnruf für Freiheit und Menschenrecht, Nr. 2, 31. 1. 1947. Zur Geschichte des damals überparteilichen Bundesverbandes siehe Bailer, a. a. O., S. 45-52. Knight, a. a. O., S. 153. Vgl. Der neue Weg, Nr. 41/42, 15. 11. 1946; Nr. 45/46, 15. 12. 1946, Nr. 2, Anfang Februar 1947; Schreiben Ministerialrat Dr. Franz Sobek namens der Rechtskommission des Bundesverbandes vom 5. 12. 1946, Archiv der SPÖ, Korrespondenz des Bundes Sozialistischer Freiheitskämpfer und Opfer des Faschismus, Mappe I. Paragraph 6 Abs. 1. Bericht des Präsidiums der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, a. a. O., S. 22. Stenographisches Protokoll der 44. Sitzung des Nationalrates der Republik Österreich, V. Gesetzgebungsperiode, 6. 2. 1947. Vortrag für den Ministerrat zu dem Entwurf eines Bundesgesetzes über die Nichtigkeit von Vermögensentziehungen (Drittes Rückstellungsgesetz), vorgelegt bei der 45. Sitzung des Ministerrates am 12. 11. 1946. Archiv der Republik, BM für Unterricht, Ministerratsprotokolle, Karton 4. Der neue Weg, Nr. 13, Mitte Juli 1948; Bericht des Präsidiums der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, a. a. O., S. 21 f. Draft reply to Cable Ref. No. 93346, 6 March 1947. Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien, Nachlaß Albert Loewy, Karton Rückstellung 1947. BGBI. 143/1947. BGBI. 164/1949. BGBI. 199/1949. BGBI. 207/1949. Kurze, wenn auch mit Rücksicht auf die Biographie des Verfassers zu lesende Anmerkungen zu diesen und anderen Gesetzen finden sich in: Walther Kastner, Entziehung und Rückstellung, in: Nationalsozialismus und Recht. Rechtssetzung und Rechtswissenschaft in Österreich unter der Herrschaft des Nationalsozialismus, Wien 1990, S. 191-225. Zur Person Kastners siehe Fußnote 44. Eine ausführliche Dokumentation der Problematik muß einem größeren Forschungsprojekt vorbehalten bleiben. Beispielsweise bei der Entscheidung, welche Erträge aus dem „arisierten“ Eigentum an die Verfolgten zurückzustellen seien und in welchen Fällen der Verfolgte den Kaufpreis an den Erwerber zurückzuzahlen habe. Bericht des Präsidiums der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, a. a. O., S. 21. Vgl. Dr. Rudolf Braun, Die Rückstellung in Gesetzgebung und Praxis, in: Die Gemeinde, Nr. 2, März 1949. Bericht von Abraham S. Hyman an The Commanding General, United States Forces, Austria, vom 4. 2. 1947. Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien, Nachlaß Albert Loewy, Karton Rückstellung 1947. Bundesgesetz vom 1. Februar 1946 über die Errichtung eines Bundesministeriums für Vermögenssicherung und Wirtschaftsplanung, BGBI. 56/1946. Stenographisches Protokoll der 97. Sitzung des Nationalrates der Republik Österreich, V. Gesetzgebungsperiode, 14. 12. 1948. Der kommunistische Abgeordnete Honner führte einige markante Fälle namentlich an. Auch Walther Kastner, als Prokurist der Kontrollbank für die „Arisierung“ von Großbetrieben zuständig gewesen, war nach dem Krieg als Fachmann für Rückstellungen ins Krauland-Ministerium geholt worden. Siehe dazu ausführlicher: Bailer, a. a. O., S. 259. Vgl. beispielsweise Der neue Weg, Nr. 15, Mitte August 1947; Nr. 20, November 1947; Nr. 22, Anfang Dezember 1947; Weltenwende zu Vernunft und Menschlichkeit. Unabhängige demokratische Zeitschrift, Oktober 1948. Vgl. beispielsweise Der neue Weg, Nr. 23, Mitte Dezember 1947; Die Gemeinde, Nr. 2, März 1948; Der sozialistische Kämpfer, Nr. 4/6, Juni 1950. Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 111 „Ohne den Staat weiter damit zu belasten ...“ 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71 72 Vgl. beispielsweise stenographisches Protokoll der 38. Sitzung des Nationalrates der Republik Österreich, VI. Gesetzgebungsperiode, 8. 12. 1950. Der Abgeordnete Dr. Scheff (ÖVP) kritisierte die umständlichen Vorbedingungen für die Erlangung eines Auszuges aus dem Grundbuch, die die Dauer der Rückstellungsverfahren unnötig verlängerten. Dies kommt auch in Interviews mit Verfolgten oftmals zum Ausdruck. Vgl. das Interview mit „Otto Vogel“ in: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hrsg.), Jüdische Schicksale. Berichte von Verfolgten, S. 684 f. Statistik über den Stand der Rückstellungsverfahren von Ende Oktober 1954. Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien, Nachlaß Albert Loewy, Karton Rückstellung Statistiken. Paragraph 6 Abs. 1 in Verbindung mit Paragraph 5 Abs. 2 des 3. Rückstellungsgesetzes. Juristisch fundierte Kritik an dieser Praxis siehe: Georg Graf, Arisierung und keine Wiedergutmachung. Kritische Anmerkungen zur jüngeren österreichischen Rechtsgeschichte, in: P. Muhr, P. Feyerabend, C. Wegeler (Hrsg.), Philosophie – Psychoanalyse – Emigration, Wien 1992, S. 73 ff. Vgl. Fuchs, a. a. O., S. 201 ff. Vgl. Die Gemeinde, Nr. 2, März 1948. Bericht Dr. F. R. Bienenfeld vom Committee for Jewish Claims on Austria, o. D. (1953), 9. Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien, Nachlaß Albert Loewy, ungeordneter Bestand. Graf, a. a. O., S. 72. Zu dieser Problematik siehe auch die Arbeit von Robert Knight, a. a. O. Vgl. beispielsweise „Wir klagen nicht an, sondern fordern Gerechtigkeit“, in: Unser Recht. Organ zur Wahrung der Interessen der Rückstellungs-Betroffenen, Nr. 4, 1. Jg., Dezember 1948. Vgl. dazu Bailer, a. a. O., S. 256 ff. Ab Sommer 1950 verdichteten sich die Gerüchte um Mißbrauch der Amtsgewalt und Parteienfinanzierung rund um Kraulands Tätigkeit, die zu seiner Verhaftung und mehreren Prozessen führten, wobei Krauland selbst freigesprochen, seine Mitarbeiter jedoch verurteilt wurden. Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, Österreichische Gesellschaft für Quellenkunde (Hrsg.), Christlich-ständisch-autoritär. Mandatare im Ständestaat 1934-1938, Wien 1991, S. 133. Vertraulicher Bericht der Legal Division, A. Loewy, H. L. Sultan, vom 17. 11. 1948. Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien, Nachlaß Albert Loewy, Karton Rückstellung 1949. a. a. O. Die Verifizierung dieser Vermutung bedingt noch weitergehende Archivrecherchen. Stenographisches Protokoll der 114. Sitzung des Nationalrates der Republik Österreich, V. Gesetzgebungsperiode, 22. 6. 1949; der 3. Sitzung des Nationalrates der Republik Österreich, VI. Gesetzgebungsperiode, 23. 11. 1949. Der Entwurf sah beispielsweise vor, daß es nicht als Vermögensentziehung zu gelten habe, wenn der in jüdischem Besitz befindliche Betrieb bereits vor dem März 1938 wirtschaftliche Schwierigkeiten gehabt hätte! Unser Recht, Folge 16, September 1949. Knight, a. a. O., S. 221 f. Der sozialistische Kämpfer, Nr. 7/8, Juli/August 1950. Stenographisches Protokoll der 30. Sitzung des Nationalrates der Republik Österreich, VI. Gesetzgebungsperiode, 14. 7. 1950. Zu den Details der Vorgangsweise siehe Knight, a. a. O., S. 227 f. Knight nennt irrtümlich den 13. 7. als Einbringungstag. Möglichkeit der Revision bereits erledigter Fälle, das Vorsehen einer Enteignungsmöglichkeit nach erfolgter Rückstellung u. a. Knight, a. a. O.; Der sozialistische Kämpfer, Folge 7/8 Juli/August 1950. Der sozialistische Kämpfer, ebda. Zur Auseinandersetzung um die Haftentschädigung siehe Bailer, a. a. O., S. 62-77. Knight, a. a. O., S. 229 ff. Knight, a. a. O., S. 232 ff. 112 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83 84 85 86 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 Stenographisches Protokoll der 96. Sitzung des Nationalrates der Republik Österreich, VI. Gesetzgebungsperiode, 17. 7. 1952. Details finden sich: Stenographisches Protokoll der 96. Sitzung des Nationalrates, a. a. O., sowie Bericht (vermutlich der Legal Division) über Restitution Legislation in Austria, o. D., Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien, Nachlaß Albert Loewy, ungeordneter Bestand. Vertraulicher Bericht The Problem of Internal Restitution, o. D., Institut für Zeitgeschichte, a. a. O. Bei dieser Frage muß auch der Wert der Wohnungen mitberücksichtigt werden, den diese nach heutigen Maßstäben darstellen, sowie die Kosten, die den Verfolgten durch die neuerliche Notwendigkeit der Wohnraumbeschaffung nach 1945 erwuchsen. Siehe Fußnote 11. StGBI, 138/1945, vom 22. 8. 1945. Siehe dazu unter anderen: Der sozialistische Kämpfer, Nr. 7/8, Juli/August 1950. Neues Österreich, 19. 1. 1950. Paragraph 30 des 3. Rückstellungsgesetzes. Bericht der Legal Division „Present status of Restitution Legislation in Austria“ vom 27. 10. 1948. Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien, Nachlaß Albert Loewy, ungeordneter Bestand. Knight, a. a. O., S. 215 ff., S. 221 f., S. 236 f. Knight, a. a. O., S. 233. Dr. Rudolf Braun, Das 8. Rückstellungsgesetz. Bemerkungen zur Regierungsvorlage. Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien, Nachlaß Albert Loewy, ungeordneter Bestand. Das Rückstellungsgesetz für Miet- und Bestandsrechte wurde vorerst als 5. Rückstellungsgesetz angekündigt, aufgrund des Aufschubs wäre es das 8. Rückstellungsgesetz gewesen. Schreiben des Rechtsbüros der Israelitischen Kultusgemeinde Wien an das Bundesministerium für soziale Verwaltung, 13. 10. 1953. Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien, Nachlaß Albert Loewy, ungeordneter Bestand. Vereinigter Exekutivausschuß für jüdische Forderungen an Österreich, Memorandum über Ansprüche aus dem Titel entzogener Wohnungen, 1. 7. 1953. Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien, Nachlaß Albert Loewy. Gespräch der Autorin mit Dr. Walther Kastner, Tonbandprotokoll im Privatbesitz von Dr. Gabriele Anderl. Walther Kastner, Entziehung und Rückstellung, in: U. Davy et al. (Hrsg.), Nationalsozialismus und Recht. Rechtssetzung und Rechtswissenschaft in Österreich unter der Herrschaft des Nationalsozialismus, Wien 1990, S. 196. Siehe dazu Dietmar Walch, Die jüdischen Bemühungen um die materielle Wiedergutmachung durch die Republik Österreich, Wien 1971; Bailer, a. a. O., S. 77-93. BGBI, 127/1958 vom 25. 6. 1958. Zur Vorgeschichte siehe Bailer, a. a. O., S. 83 ff. BGBI, 130/1958 vom 26. 6. 1958. Die Anmeldefrist endete mit 30. 6. 1959. Vgl. Albert Sternfeld, Betrifft: Österreich. Von Österreich betroffen, Wien 1990, S. 206 ff. BGBI, Nr. 73/1957 vom 13. 3. 1957. Zur Tätigkeit der Sammelstellen siehe den Bericht von Dr. Georg Weis, Sammelstelle A, B. Schlußbericht (1957-1969); Walch, a. a. O., S. 111-138. BGBI, Nr. 100/1961 vom 22. 3. 1961. Maßnahmen der Republik Österreich zugunsten bestimmter politisch, religiös und abstammungsmäßig Verfolgter seit 1945, hrsg. v. Bundespressedienst, Wien 1986 (Österreich-Dokumentationen, 9). Zur Vorgeschichte des Fonds siehe Bailer, a. a. O. Zum Vergleich des Geldwertes: die durchschnittliche Alterspension eines Angestellten betrug 1961 S 1500.-. Bundeskanzler Dr. Vranitzky erklärte vor dem Nationalrat, Österreich müsse sich „zur Mitverantwortung für das Leid, das zwar nicht Österreich als Staat, wohl aber Bürger dieses Landes über andere Menschen und Völker gebracht haben“, bekennen. Zitiert nach: Salzburger Nachrichten, 9. 7. 1991. Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 R E H A B I L I T I E R U N G D E R J U D E N O D E R M AT E R I E L L E W I E D E R G U T M A C H U N G – E I N V E R G L E I C H FRANK STERN Sechs Millionen Morde kann man nicht wiedergutmachen, Milliarden geraubten Vermögens nicht wirklich rückerstatten. Den Überlebenden ist nichts anzudienen, was ihrem Leben ohne Hitler, ohne den Nationalsozialismus, ohne das deutsche Gas entsprechen könnte. Insofern läuft der jahrzehntelange Disput über die sogenannte Wiedergutmachung im Widerspruch zu zahlreichen Veröffentlichungen auf eine einfache Tatsache hinaus: Es kann keine Wiedergutmachung für die Verbrechen des Dritten Reiches geben, genausowenig wie die Vertreibung der Juden aus Spanien vor fünfhundert Jahren, die das Schicksal der europäischen Judenheit für lange Jahrhunderte prägte, irgendwie durch nachträgliche Maßnahmen gelindert oder rückgängig gemacht werden könnte. Die Einzigartigkeit der Verbrechen Nazi-Deutschlands an den Juden Europas entzieht sich den vereinfachenden Kategorien juristischen Denkens. Ich möchte daher nicht den in der Bundesrepublik üblichen Aufzählungen, wieviel D-Mark denn nun schon seit 1952 an die Juden und den Staat Israel gezahlt worden seien, folgen oder den in Österreich üblichen Zahlenreihen, wieviel Rückstellungsanträgen denn nun entsprochen worden sei. Rückerstattung, Rückstellung und Entschädigungen sind nach 1945 in der Bundesrepublik Deutschland und in Österreich nur zum Teil und nur gegen große Widerstände erfolgt. Angesichts der historischen Dimensionen der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik kann es hier bis heute nur materielle Annäherungen geben, und die Peinlichkeit von Argumentationsweisen, die Verfolgung, Raub und Massenmord mit Geldsummen aufrechnen, möchte ich dahingestellt sein lassen. Worum es mir geht, ist die Frage, warum es weder in der politischen Kultur Deutschlands noch der Österreichs nach 1945 etwas gegeben hat, was man über materielle Leistungen hinaus als umfassende Rehabilitierung der Juden bezeichnen kann. Betrachten wir zunächst Überlegungen, wie sie im Hinblick auf diesen Problemkomplex von jüdischer Seite seit Beginn der antijüdischen Politik des Dritten Reiches angestellt wurden. Daran anschließend möchte ich dann in zwei weiteren Punkten die konkrete Politik der Rückstellung/-erstattung und der Wiedergutmachung nach 1945 sowie die „Kehrseite der Wiedergutmachung“, die negativen individuellen Folgen für viele der Betroffenen, skizzieren. Dabei soll das Schwergewicht nicht auf den an Zahl zunehmenden Veröffentlichungen liegen, die mitunter minutiös den politischen, rechtlichen und diplomatischen Entscheidungsprozeß darstellen, der in der Bundesrepublik Deutschland im Unterschied zu Österreich bereits seit 1952 zu den sogenannten Wiedergutmachungsleistungen führte. Es ist oftmals ein Problem solcher entscheidungsorientierter Studien, daß sie weder die Konzeption der Wiedergutmachung in Frage stellen noch die politisch-kulturellen Bedingungen des Umgangs der Nachkriegsdeutschen und Nachkriegsösterreicher mit jüdischer Vergangenheit und Gegenwart berücksichtigen.1 Umfassende Rehabilitierung oder materielle Leistungen Fragen der Reparationen, der Rückstellung/-erstattung, der Wiedergutmachung waren von jüdischer Seite bereits vor 1939 Gegenstand von Überlegungen und wurden auf Treffen jüdischer Repräsentanten in den Kriegsjahren zunehmend thematisiert. 1943 publizierte Siegfried Moses, der 1949 der erste Staatskontrolleur (Ombudsmann) Israels wurde, eine Schrift unter dem Titel „Die Wiedergutmachungsforderungen der Juden“, in der er die politische Arbeit zur Einflußnahme auf die Gestaltung der Entschädigungsregelung als vordringlich bezeichnete.2 Im Unterschied zu allen bekannten Formen von Wiedergutmachung handle es sich, so Siegfried Moses, um eine grundlegend neue Frage, die aus dem Charakter des Nationalsozialismus und daraus resultiere, daß es „ein Krieg der Demokratie gegen den Faschismus“ sei.3 Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 113 Wiedergutmachung – Ein Vergleich Das „Londoner Abkommen“ 1943 „Wiedergutmachung“ als Prüfstein für die Demokratisierung Die Alliierten und auch zahlreiche Exilregierungen beschäftigten sich mit der Frage des organisierten deutschen Raubzuges durch Europa. Rückerstattungen, Reparationen und Entschädigungen wurden in einem internationalen Abkommen Anfang 1943 in London zum Gegenstand gemacht und begleiteten die Zerschlagung des Nationalsozialismus und die Gestaltung der europäischen Nachkriegsordnung. Führende jüdische Persönlichkeiten brachten im internationalen Rahmen das jüdische Interesse an Rückstellung/-erstattung und Reparationen zum Ausdruck. In öffentlichen Aktivitäten und Kontakten zu alliierten und deutschen Organen der sich herausbildenden jüdischen Gemeinden und Organisationen war diese Frage ab 1945 ein ständiges, mit Vehemenz und Selbstverständlichkeit vorgetragenes Thema innerhalb der besetzten Reste des Dritten Reiches. Die deutschen und österreichischen Verwaltungsstellen sowie die Militärregierungen waren somit von Anfang an mit diesen Forderungen konfrontiert. Unterschiedliche Verordnungen und Gesetze wurden in den einzelnen Besatzungszonen erlassen, am weitestgehenden 1949 in der amerikanischen Zone in Deutschland, insgesamt aber ohne den berechtigten Forderungen der Juden in ausreichender Weise zu entsprechen.4 Typischerweise wurden diese Gesetze, auch auf Bundesebene, in den folgenden Jahrzehnten ständig verändert, tausende Verfolgte fielen immer wieder durch die Maschen dieser gesetzlichen Regelungen. In Österreich gab es noch zusätzliche Widerstände, da „gerade die zahlreichen Rückstellungen von österreichischen ➤ ‚Ariseuren‘ an ehemalige österreichische Juden die These der Opferrolle auf geradezu frappierende Weise widerlegen“ mußten.5 In den Nationalratsdebatten zum Rückstellungsgesetz war denn auch eher zu vernehmen, daß Österreich nichts gutzumachen habe, ja daß im Gegenteil an Österreich viel gutzumachen sei. Argumentationen, die in Deutschland vornehmlich aus dem nationalistisch-rechtsextremen Lager kamen, schienen in Österreich öffentlich konsensfähig.6 Im Oktober 1946 erschien in der Süddeutschen Zeitung ein Artikel mit dem Titel „Wo bleibt die Wiedergutmachung?“, in dem es unter anderem hieß: „Man sollte annehmen, daß die Wiedergutmachung an den von den Nazis seit 1933 verfolgten Juden als eine der vordringlichsten inneren Pflichten jedes einzelnen Deutschen betrachtet wird. Leider aber ist es noch nicht zur Selbstverständlichkeit geworden, daß die Opfer des politischen und gleichzeitig auch wirtschaftlichen Terrors der Jahre 1933-1945 entschädigt werden. (...) Für dieses Leid kann es eigentlich keine Wiedergutmachung geben. Aber selbst das Erreichbare, das Menschenmögliche – es wird unterlassen (...). Was aber niemals durch Beschlüsse der Staatsautorität allein erbracht werden kann, auch nicht durch ein Wiedergutmachungsgesetz, ist die psychologische Bereitwilligkeit des deutschen Durchschnittsmenschen zur Wiedergutmachung, in seinem Rahmen. Aber das Gefühl für die Pflicht zur Wiedergutmachung ist noch nicht geboren. (...) Hier mangelt es am sittlichen Gefühl, an dem aus dem Inneren kommenden Rechtsbewußtsein, zu sehr ist das Recht in den Jahren der Hitlerdiktatur gebeugt worden. Die Frage der Wiedergutmachung an den Juden wird zu einem tieferen deutschen Problem, nämlich, ob Deutschland wieder zu einem Rechtsstaat wird. (...) Deutschland bemüht sich, das Vertrauen der Welt wiederzugewinnen. Seine Bestrebungen zum wirtschaftlichen Neuaufbau nach einem totalen Zusammenbruch finden die Achtung der Umwelt. Wenn dieses zurückkehrende Vertrauen und die allmählich wiedergewonnene Achtung nicht beeinträchtigt, sondern zur Sympathie erhoben werden sollen, dann muß auch der Frage der Wiedergutmachung an den Juden viel größeres Augenmerk zugewendet werden als bisher. Nicht mit Unrecht darf man dieses Problem als den Prüfstein der deutschen Demokratie bezeichnen.“ 7 Gegenüber allem späteren Verständnis von materieller Entschädigung und Wiedergutmachung ist die hier formulierte Position umfassender und grundsätzlicher. Der Inhalt dessen, was bis heute als Wiedergutmachung verstanden wird, ist nicht mit dem ursprünglich damit verbundenen Inhalt auf jüdischer Seite identisch. Wiedergutmachung war eine ethische, moralische, rechtliche, politische und materielle Forderung, die primär die umfassende Rehabilitierung der Juden in Deutschland zum Inhalt hatte. Die Wiedergutmachung, so verstanden, war von einer notwendigen grundlegenden Entnazifizierung und 114 Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 Frank Stern Demokratisierung nicht zu trennen. Der ökonomische „Zeitgeist“, der bereits 1946 spürbar war, reduzierte diesen Kontext in den Jahren nach der Gründung der Bundesrepublik auf die materielle Seite zur moralischen Absicherung nicht etwa einer Rehabilitierung der Juden, sondern ganz im Gegenteil zur außenpolitischen Rehabilitierung der Deutschen, was ja ebenfalls in dem zitierten Artikel angeklungen war. Der Begriff Wiedergutmachung bezog sich in der deutschen Diskussion schnell auf eine außenpolitische Dimension, indem er materielle Leistungen an den Staat Israel einbezog und diese materielle Leistung mit einem Deutschland zu erteilenden moralischen Kredit verband. Dies war in Österreich so nicht der Fall. Im Nachkriegs-Österreich ging es um die „unmittelbare Abgeltung vermögenswerter Schäden aus der NS-Zeit, wie Rückgabe arisierten Eigentums, Abgeltung von Verdienst und ähnlichem“.8 Daß hierbei außerordentlich restriktiv verfahren wurde, ja die Rückstellung faktisch immer weiter zurückgedrängt wurde, lag nicht zuletzt daran, daß die ersten ➤ Opferfürsorgegesetze von 1945 und 1947 Opfer des vornationalsozialistischen ➤ Ständestaates und des Nationalsozialismus gleichsetzten, die besondere Rolle der antijüdischen Maßnahmen verkannten und eine besondere Verpflichtung gegenüber den Juden negierten. Im Herbst 1945 beklagten sich Wiener Juden, „daß sie als ➤ Displaced Persons in Wien leben mußten, während ihre eigenen Häuser und Wohnungen immer noch von Nazis bewohnt würden“.9 Die österreichische Gesetzgebung bewegte sich insgesamt bis 1961 auf der Ebene der Entschädigungsgesetze der Bundesrepublik Deutschland.10 Eine Mitschuld des österreichischen Volkes, aus der sich eine Pflicht zur Wiedergutmachung ergeben hätte, wurde definitiv abgelehnt.11 Robert Knight faßt dies pointiert zusammen, wenn er betont: „Eine Bereitschaft, Wiedergutmachung zu zahlen, hätte die ‚Opferthese‘ des österreichischen Staates unterminiert.“12 Antisemitische Kontinuitäten, überwiegende Ablehnung der Rückerstattung jüdischen Eigentums und jüdischer Forderungen bei gleichzeitiger Verstaatlichung – wie es hieß – „herrenlosen Vermögens“ sowie die sich verändernden internationalen Konstellationen paarten sich mit innenpolitischem Druck. Bei den verschiedenen Gesetzen wurden nur allzuoft die Ariseure bevorzugt, wurde in den Debatten nicht selten die „relative Anständigkeit“ der österreichischen Nutznießer jüdischen Eigentums betont.13 Von einer weiterzufassenden Wiedergutmachungs-Konzeption war hier überhaupt nicht die Rede. Diesen Bedeutungsunterschied gilt es, zunächst zu beachten. Rehabilitierung von Deutschland/Österreich und die Verschleppung kollektiver und individueller Entschädigung Der außenpolitische Berater und Vertraute Adenauers, Herbert Blankenhorn, berichtet, daß im Oktober/November 1949 Gespräche mit dem Kanzler stattgefunden hätten, „in welcher Weise es möglich sein würde, das Verhältnis des deutschen Volkes zum jüdischen Volk und zum Staat Israel auf eine neue Grundlage zu stellen“.14 Blankenhorn betont, „daß der neue deutsche Staat in der Welt Vertrauen, Ansehen und Glaubwürdigkeit nur wiedergewinnen werde, wenn die Bundesregierung und das Bundesparlament (...) sich von der Vergangenheit distanziert und durch eine eindrucksvolle materielle Wiedergutmachungsleistung dazu beiträgt, das unglaubliche Ausmaß an erlittener materieller Not zu erleichtern. (...) Ein solcher Akt echter Wiedergutmachung sollte zur Überwindung der unvorstellbaren Bitternis dienen, die das nationalsozialistische Verbrechen bei den Juden in aller Welt und auch bei allen Gutgesinnten hervorgerufen hat. Er sollte ferner auch den Sinn haben, dem deutschen Volk die Furchtbarkeit der Vergangenheit und die Notwendigkeit einer radikalen Umkehr bewußt zu machen.“ 15 Das Motiv materiellen Abgeltens der Verbrechen des Dritten Reiches ist mehr als deutlich. Zugleich konnte der Beraterstab des Bundeskanzlers hier bewußt an die Nöte des jungen israelischen Staates anknüpfen, der vor schwierigen ökonomischen und sicherheitspolitischen Problemen stand und an schnellen materiellen Hilfeleistungen interessiert war. Allerdings dauerte es zwei Jahre, bis zum September 1951, bis der Kanzler der Bundesrepublik Deutschland diesen Willensakt vollzog. Nun könnte man sagen, daß es für die junge Republik Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 115 Wiedergutmachung – Ein Vergleich Erste Verhandlungen zwischen der BRD und Israel 1951 – „Globalentschädigung“ zwischen November 1949 und September 1951 Wichtigeres gab als die Wiedergutmachung, daß der ökonomische und politische Aufstieg seine ersten Früchte bringen mußte, daß kein relevanter Druck in dieser Frage gegeben oder daß in der Bevölkerung keine ausreichende Basis für umfangreiche Wiedergutmachungsleistungen vorhanden war. Doch eine derartige Basis war auch 1951, während der Wiedergutmachungs-Verhandlungen, oder zum Zeitpunkt der Ratifizierung des ➤ Luxemburg-Abkommens 1952 nicht vorhanden. Wie ist also die zeitliche Verzögerung zwischen Adenauers allgemeiner Bereitschaftserklärung und der politischen Umsetzung zu erklären, will man nicht einzig und allein das Zögern der israelischen Regierung, in Verhandlungen mit der deutschen Regierung zu treten, als Grund anführen. Der erste Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, Hendrik van Dam, übermittelte im Sommer 1950 der israelischen Regierung ein Gutachten zum „Problem der Reparationen und Wiedergutmachung für Israel“, das zwar in der Folgezeit keine wichtige Rolle spielte, aber zentrale Aspekte der deutschen Situation und der zeitlichen Verzögerung charakterisierte: „Die ‚Wiedergutmachung‘ – bevor sie zu einem schwierigen Problem des Rechtes wird – ist ein Problem der Moral und der Politik. Das gilt für beide Teile, das deutsche Volk und das jüdische Volk. (...) Die Erkenntnis der moralischen Pflicht, die besonders in den ersten Jahren nach der Kapitulation empfunden wurde, besteht auch heute noch bei einer Anzahl maßgebender Deutscher. Jedoch wird die Neigung, hieraus Konsequenzen zu ziehen – vor allem durch die Schaffung der notwendigen Gesetzgebung –, schwächer und schwächer. Die Zeit arbeitet gegen die Wiedergutmachung, wie gegen die Verfolgung der Menschlichkeitsverbrecher und der Denazifizierung. Das in politische Handlung umzusetzende Gefühl der moralischen Verpflichtung erlahmt, wie auch die Besorgnis vor einer Kritik der Besatzungsmächte. Es bleiben im wesentlichen die realistischen Gedankengänge politischer und wirtschaftlicher Zweckmäßigkeit. (...) Der von politischen und wirtschaftlichen Motiven diktierte Wunsch, zu einer Bereinigung des Wiedergutmachungskomplexes zu kommen, die unliebsame NaziErbschaft abzuschütteln, wird noch für eine beschränkte Zeitdauer eine Rolle spielen.“16 Van Dam hob hervor, daß im Rahmen der politischen Entwicklung das Werben um die Deutschen, die zunehmende Übertragung von Funktionen an die Bundesrepublik und die Ablehnung jeglicher Einmischung von außen durch die Deutschen die Verhandlungsposition von Verfolgtenorganisationen schwächten. Die Ost-West-Konfrontation wurde in allen Fragen der Politik spürbar, in der Haltung gegenüber Deutschland vollzog sich ein Bedeutungswandel. Dennoch bestand die amerikanische Seite auf den moralischen Implikationen. Van Dam betonte: „Bei aller Würdigung der Konsequenzen der Politik der Westmächte gegenüber Deutschland (...) besteht dennoch ein Interesse der Vereinigten Staaten an der Durchführung der Wiedergutmachung, wie das auch vom ➤ Hohen Kommissar John McCloy wiederholt erwähnt wurde. Ferner ist ein gewisses Alibi der amerikanischen Politik für das Aufgeben der Denazifizierung und die Kollaborierung erwünscht. Ein derartiges Gegengewicht könnte die Wiedergutmachung, insbesondere aber die Reparationsleistung für Israel sein.“17 Van Dam bezog sich auf wiederholte Äußerungen von McCloy, der 1950 die Wiedergutmachung als Prüfstein der Demokratie bezeichnet hatte. Ohne den amerikanischen Druck auf die deutsche Bundesregierung würde es wahrscheinlich eine im materiellen Sinne letztendlich positive Entscheidung nicht gegeben haben. Einen derartig relevanten Druck hat es von seiten der US-Behörden auf die österreichische Regierung nicht gegeben, obwohl der US-Hochkommissar in Österreich, Geoffrey Keyes, mehrfach in Briefen an Bundeskanzler ➤ Leopold Figl das Problem der Rückerstattung und materiellen Absicherung der überlebenden Juden angesprochen hatte. In Zusammenhang mit dem Versuch der österreichischen Regierung, ein sogenanntes „Härteausgleichsgesetz“ zugunsten der Ariseure zu verabschieden, schrieb Keyes am 1. September 1950 u. a., daß die geplante Maßnahme „begründete Zweifel aufwirft, ob Ihre [die österreichische] Regierung sich der internationalen Reaktion bewußt ist, die durch solche Handlungen geschaffen wird. Sollten Sie sich dessen bewußt sein, so muß angenommen werden, daß Ihre Regierung an der Berichtigung der nationalsozialistischen Ungerechtigkeiten nicht mehr interessiert ist und nunmehr beabsichtigt, 116 Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 Frank Stern einiges von der guten Arbeit, die sie seit 1945 geschaffen hat, rückgängig zu machen.“ 18 Daraufhin wurde der Gesetzesentwurf fallengelassen, eine umfassende Regelung kam dennoch nicht zustande. Erst mit dem ➤ Staatsvertrag 1955 wurde teilweise den individuellen Ansprüchen der Überlebenden und ihrer Kinder entsprochen. Man mag es als eine Spätwirkung des Anschlusses bezeichnen, daß nach einem völlig unzureichenden Beginn in Form eines Hilfsfonds umfassendere Zahlungen an einzelne Personen erst erfolgten, nachdem die Bundesrepublik Deutschland auf der Grundlage des Abkommens von Bad ➤ Kreuznach von 1961 größere Summen in einen österreichischen „Wiedergutmachungstopf“ zu zahlen begann. Eine globale Regelung, die den Staat Israel miteingeschlossen hätte, gab es auch dann nicht. Der außenpolitische Druck, insbesondere von amerikanischer Seite, entsprach nicht dem auf die Bundesrepublik Deutschland, die sich der Wiedergutmachung als eines Instruments der Westintegration zu bedienen wußte. Abgesehen davon war Österreich auch nicht im selben Ausmaß wie die junge Bundesrepublik Deutschland in der Konfrontation mit dem Kommunismus als wichtiger europäischer Junior-Partner vorgesehen. Die USA und auch England und Frankreich machten sich für eine österreichische Wiedergutmachungsleistung unter anderem deshalb nicht stark, weil sie ein stabiles Österreich wollten, und die Sowjetunion ihrerseits war mehr an einem neutralen Österreich interessiert.19 Im Juni 1950 war der Korea-Krieg ausgebrochen, die Konfrontation zwischen Ost und West hatte sich verschärft. Adenauer, einen möglichen deutschen Militärbeitrag vor Augen, drängte in einem Aide-Mémoire an die Hohen Kommissare auf eine „Revision des Besatzungsstatuts“.20 Letztendlich ging es der Bundesregierung um die Überwindung des Potsdamer Abkommens und zunehmend um die Rehabilitierung für die durch die Entnazifizierung betroffenen Deutschen. Souveränität durch Westintegration und Wiederbewaffnung, was die Rehabilitierung der Wehrmacht einschloß, waren Kernpunkte sowohl des sich entwickelnden Nationalbewußtseins als auch der offiziellen Regierungspolitik. Zum Hintergrund des Problems der Wiedergutmachung gehört neben der außenpolitischen Dimension ebenso die innenpolitische Dynamik der Jahre 1948 bis 1952. Soziale Unsicherheit und über 1,5 Millionen Arbeitslose beschäftigten die Öffentlichkeit. ➤ MarshallPlan und Umerziehung zur Demokratie bildeten eine merkwürdige Synthese im öffentlichen Bewußtsein. Weder in Deutschland noch in Österreich gehörte eine „jüdische Frage“ zu den zentralen Themen der Tagespolitik. In der Österreich-Politik der westlichen Alliierten herrschte spätestens seit 1946 die „Fiktion, daß alle Österreicher unschuldig waren“.21 Und was konnte mithin von einem „Opfer Hitlers“ als Wiedergutmachung erwartet werden? Antisemitische Kontinuitäten und weit verbreitete Aversionen gegen die jüdischen Displaced Persons bestimmten die privaten und halb-öffentlichen Diskurse mehr als das von manchen Politikern – wobei dies in Deutschland eher der Fall war – zur Schau getragene schlechte Gewissen. Die materiellen Nöte waren bestimmend, nicht die Notwendigkeit, die ➤ Arisierung im Rahmen eines Programms umfassender Demokratisierung rückgängig zu machen oder gar globale Wiedergutmachung zu leisten. Ralf Dahrendorf sprach im Rückblick von der damit zusammenhängenden „Ökonomisierung der verhaltensleitenden Wertvorstellungen durch die ganze deutsche Gesellschaft“.22 McCloy bemerkte für die Monate nach der Gründung der Bundesrepublik 1949, daß die Bemühungen um eine Neuorientierung der Bevölkerung auf einige Schwierigkeiten, ja sogar Widerstand stießen. In Westdeutschland, so McCloy, wären Nationalismus und nationalistische Gruppen aktiver geworden als zur Zeit der Kontrolle durch die Militärregierung. In einer Rede in Washington, Januar 1950, summierte McCloy unter den wichtigsten Aufgaben amerikanischer Politik in Deutschland, darauf zu bestehen, „daß die Opfer Hitlers oder deren Erben gerecht und vorurteilslos behandelt werden“. Im Februar kam er in einer Rede in Stuttgart ausführlich auf diesen Punkt zu sprechen und betonte, daß das Unrecht an den Verfolgten „mit aller Gerechtigkeit anerkannt und vorbehaltlos in Ordnung gebracht werden“ müsse.23 Dem entsprach auch die Haltung des US-Hochkommissars in Österreich. Zugleich ergaben Umfragen durch die amerikanische Hochkommission (HICOG) einige neue Fakten hinsichtlich vorhandener Vorurteile und nationalistischer Tendenzen. Betrachtet Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 117 Ost-West-Konflikt Demokratisierung oder „Normalisierung“? Wiedergutmachung – Ein Vergleich „Wiedergutmachung“ an den ehemaligen Nationalsozialisten Ende des Besatzungsstatuts man einige der Umfrageergebnisse, so präsentiert sich folgendes Bild der öffentlichen Meinung in hiermit zusammenhängenden Fragen im Übergang zu den fünfziger Jahren: 44 Prozent hielten einige Rassen für mehr geeignet zum Regieren als andere. 34 Prozent hielten einige Rassen für minderwertiger als andere. 28 Prozent meinten, daß ein Jude, dessen Eltern und Großeltern in Deutschland geboren und aufgewachsen waren, kein richtiger Deutscher sei. Die meisten Befragten, die eine deutsche Nationalität für Juden der dritten Generation ablehnten, waren unter dreißig, Flüchtlinge und Vertriebene, unregelmäßige Kirchgänger der katholischen und der protestantischen Konfession und hatten niedriges Bildungsniveau sowie geringen sozialen Status.24 Derartige Umfrageergebnisse stellten mithin eine eindrucksvolle Bestätigung der nach 1949 zunächst vorhandenen Vermeidungsstrategie Adenauers und der österreichischen Regierung dar, nämlich das Thema Juden nicht zu einem innenpolitischen Topos zu machen, die Diskussion darüber eben eher „in die Länge zu ziehen“. Im Dezember 1950 erließ der Bundestag Richtlinien zum Abschluß der Entnazifizierung, in denen es hieß: „Die Beendigung der Entnazifizierung soll die Periode der schematischen Bewertung ganzer Personengruppen wegen ihrer Zugehörigkeit zu Organisationen oder Einrichtungen der nationalsozialistischen Herrschaft abschließen.“25 Am 11. Mai 1951 beschloß der Bundestag das 131er Gesetz. Ca. 150.000 Beamte und Angestellte, ehemalige Wehrmachts- und Arbeitsdienstangehörige erhielten ihre vollen Versorgungsansprüche zurück und konnten erneut in den Staatsdienst eintreten. Bereits vorher war eine Lastenausgleichsregelung für die ca. 13 Millionen Vertriebenen beschlossen worden. Im Juni berichtete Die Welt von einem „Wettrennen um die Beendigung der Entnazifizierung“,26 in dem es um die Wiedereinsetzung von Beamten ging. Entnazifizierungsakten wurden symbolisch verbrannt, das große Aufatmen begann. In Österreich wiederum hatte man sich schon längst nonchalant von den alliierten Entnazifizierungsbestrebungen verabschiedet. Bereits 1948 waren die „minderbelasteten“ Nazis amnestiert worden. 27 Lediglich die sowjetischen Besatzungsbehörden zeigten sich hier anfänglich hartnäckiger. Aber wie in Deutschland konnte man ja schlicht die Zone wechseln. Bei den Wahlen 1948/49 in Westdeutschland und in Österreich ging es allen Parteien um die Stimmen der Ehemaligen. Die Entnazifizierung war definitiv gescheitert, die Integration der vormaligen Nazis in die beiden politischen Kulturen in vollem Gange. Kritik daran wurde zwar geäußert, blieb letztlich aber wirkungslos. Derartige Entwicklungen beschäftigten die internationale Presse, beeinflußten Publikationen und Diskussionen zur Frage der Wiedergutmachung, bestimmend war jedoch längst die Ost-West-Konfrontation geworden. Die ➤ Containment-Politik entpuppte sich letztlich auch als eine Politik des Containment der Entnazifizierung und in Österreich ebenfalls der Wiedergutmachung. Im März 1951 hatte die israelische Regierung in einer Note an die vier Siegermächte Wiedergutmachungs-Forderungen formuliert. Nach langem Zaudern erfolgte dann endlich die vielzitierte Erklärung des deutschen Bundeskanzlers vom 27. September 1951, in der er Verhandlungen mit Israel anbot. Zuvor hatten die Außenminister der drei Westmächte in Washington beschlossen, daß das Besatzungsstatut durch einen Generalvertrag abgelöst werden sollte, der parallel mit einem Vertrag über einen deutschen Verteidigungsbeitrag in Kraft treten sollte. Wenige Tage nach der Erklärung über die Bereitschaft zur Wiedergutmachung begannen die Verhandlungen zwischen Bundeskanzler und Hohen Kommissaren über das Ende des Besatzungsstatuts. Werfen wir einen Blick auf die Erklärung des deutschen Bundeskanzlers vom September 1951. Sie liest sich in all ihrer Kühle und Nichtbetroffenheit wie eine Pflichtübung, eine Reaktion auf die außenpolitischen Erfordernisse, da – so Adenauer – in der „Weltöffentlichkeit“ „Zweifel laut geworden“ seien, ob die Bundesrepublik „das Verhältnis der Juden zum deutschen Volke auf eine neue und gesunde Grundlage stellen“ wolle. Nicht etwa ein Schuldoder Verantwortungsbewußtsein, antisemitische Vorkommnisse und nationalistische Tendenzen bildeten den Auftakt der Erklärung, sondern außenpolitische Erwägungen. Adenauer zitierte als positiven Beleg für die „Einstellung der Bundesrepublik zu ihren jüdischen Staats- 118 Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 Frank Stern bürgern“ den Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes, nach dem jeder, „insbesondere jeder Staatsbeamte“, „jede Form rassischer Diskriminierung von sich zu weisen“ habe. Daß gerade zahlreiche ehemalige DPs staatenlos, mithin nicht Staatsbürger waren, blieb in allen späteren Würdigungen dieser Rede unbeachtet. Adenauer erklärte für die Bundesregierung die Bereitschaft, mit „Vertretern des Judentums und des Staates Israel (...) eine Lösung des materiellen Wiedergutmachungsproblems herbeizuführen“.28 Die Aussagen dieser Erklärung blieben relativ allgemein, dienten mehr der Exkulpierung der überwiegenden Mehrheit des deutschen Volkes als dem konkreten Bekenntnis einer Schuld oder Verantwortung. Vom Völkermord und seinen Folgen kein Wort, die begangenen Verbrechen haben kein Subjekt, sind allenfalls im Namen des deutschen Volkes begangen worden. Fehlende individuell Berechtigte auf der einen Seite, Kriegsopfer, Flüchtlinge, Vertriebene auf der anderen Seite. Derartige Redeformen wird man in der gesamten Geschichte der Bundesrepublik finden. Liest man dagegen in den Bundestagsdebatten dieser Monate die außerordentlich konkreten Benennungen, wer welche Deutschen wo vertrieben hatte, wie es Flüchtlingen ging, vor allem aber welch grausames Schicksal die deutschen Kriegsgefangenen erlitten, so wird der distanzierte Charakter dieser Erklärung noch deutlicher. Diese Haltung deckte sich letztlich auch mit der politischen und emotionalen Distanz in den Aussagen österreichischer Politiker. So wie in der Phase unmittelbar nach dem Mai 1945 unter der Oberhoheit der Besatzungsmacht das Verhältnis von Deutschen und Juden und der Kampf gegen den Antisemitismus der Eingriffe von ➤ OMGUS bedurfte, existierte jetzt zwei Jahre nach der Gründung der Bundesrepublik und sechs Monate nach der Note der Regierung des Staates Israel über die Wiedergutmachung eine Art Moratorium zwischen Wiedergutmachungsfrage und Souveränität durch Westintegration. Eine analoge Entwicklung für Österreich ist nicht zu verzeichnen. Die Konzeption von Österreich als „erstes Opfer Hitlers“, der Konsens über Österreichs Neutralität und die Verhandlungen über den Staatsvertrag verschoben einen wie auch immer formulierten Anspruch der überlebenden Juden auf Rehabilitierung oder des Staates Israel auf Rückstellung/-erstattung und Wiedergutmachung in den Bereich der Bedeutungslosigkeit. Das österreichische schlechte Gewissen bedurfte keiner materiellen Tilgung, es war schlicht nicht vorhanden, da es politisch nicht erforderlich war. Als Antwort auf Forderungen internationaler jüdischer Organisationen nach dem Abkommen mit der Bundesrepublik Deutschland an Österreich antwortete die österreichische Regierung, Österreich sei als von Deutschen besetztes Land staatsrechtlich nicht zu Leistungen verpflichtet und trage auch keine moralische Verantwortung, da die Verbrechen an den Juden von den Deutschen ausgegangen seien.29 Erst nach einigem Druck von seiten des State Department in Washington und des Foreign Office in London war die österreichische Regierung überhaupt zu Verhandlungen bereit.30 Ein ➤ Committee for Jewish Claims on Austria wurde gegründet, aber Israel entzog sich 1952 diesen Verhandlungen mit der voreiligen Erklärung, es habe keine Forderungen gegenüber Österreich, und folgte damit der Politik der westlichen Alliierten.31 Die Erwägungen in Washington hinsichtlich der perspektivischen Stellung Österreichs in der damit verbundenen Stabilität des Staates hatten sich durchgesetzt. Die These von „Österreich als erstem Opfer“ war international in diesem Fall bestimmender als der berechtigte Anspruch, den die Regierung des Staates Israel hätte geltend machen können. Zudem wollte die israelische Regierung offensichtlich nicht Probleme mit dem ökonomisch viel potenteren Vertragspartner Bundesrepublik schaffen, der ja mit dem Abkommen gerade eine generelle Verantwortung übernommen hatte. Dies alles schwächte die Position des Claims Committee. Nahum Goldmann berichtet, daß Bundeskanzler ➤ Julius Raab beim ersten Treffen mit Vertretern des Claims Committee schlicht feststellte, daß „sich die Juden und Österreich in der gleichen Lage befänden, beide seien Opfer des Nazismus“.32 Die Verhandlungen zogen sich zäh in die Länge, die Vorstellungen der österreichischen Regierung widersprachen den Forderungen des Claims Committee, 1956 wurde endlich ein Hilfsfonds zur Hilfeleistung für politisch Verfolgte, die im Ausland ihren Wohnsitz hatten, eingerichtet. Im Juni 1959 kündigte Österreich in einem Schreiben an England, Frankreich Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 119 Die österreichische Opferthese und die Verhandlungen mit dem Claims Committee Wiedergutmachung – Ein Vergleich „Wiedergutmachung“ und Westintegration und die USA die Einrichtung eines Fonds für Opfer des Nazi-Regimes an, die aus religiösen oder rassischen Gründen verfolgt worden waren. Allerdings verabschiedete der Nationalrat kein entsprechendes Budget.33 Erst 1961, als die Bundesrepublik Deutschland finanziell zu Hilfe eilte, erfolgte dies. Zahlungen an Israel hat es jedoch nicht gegeben. Die DDR als zweiter Nachfolgestaat des Dritten Reiches wiederum entzog sich nach anfänglichen, aber unzureichenden Angeboten jeglicher Verpflichtung einer Wiedergutmachung und beschränkte sich auf höhere Pensionen und individuelle Sonderleistungen für die Opfer des Faschismus. Auf die Forderungen Israels von 1951 hat die DDR nie reagiert.34 Vormals arisiertes Vermögen wurde im Rahmen der sozialistischen Gesellschaftspolitik verstaatlicht und bildet heute einen Kernpunkt der seit der Herstellung der Einheit Deutschlands neu aufbrechenden Wiedergutmachungsproblematik. Dabei geht es um das sogenannte dritte Drittel an Wiedergutmachung, das 1952 offen gelassen wurde. Am 10. September 1952 war das Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland einerseits sowie dem Staat Israel und der ➤ Conference on Jewish Material Claims against Germany andererseits in Luxemburg unterzeichnet worden.35 Die politische Funktion der „Vereinbarung mit dem Weltjudentum“ für Adenauer kommentiert dessen Biograph HansPeter Schwarz ironisch mit der Bemerkung: „Mit dem Heiligenschein des Wiedergutmachungsabkommens versehen, kann er sich im Frühjahr 1953 auf die ‚United States‘ begeben, um die erste Reise nach Amerika anzutreten.“ 36 Nach dem Selbstgefühl der Regierenden und auch der sozialdemokratischen Opposition hatte die Bundesrepublik die von USHochkommissar McCloy geforderte Feuerprobe bestanden. Die Wiedergutmachung und der Kalte Krieg ermöglichten die Westintegration. Für die Bundesrepublik Deutschland der fünfziger Jahre kann mithin als Motto der spätere ironische Titel eines Theaterstückes von Rolf Schneider gelten: „Wiedergutmachung oder Wie man einen verlorenen Krieg gewinnt.“ Nachsatz: Da Österreich ja keinen Krieg verloren zu haben scheint, benötigte es auch keine Wiedergutmachung zur Herstellung des internationalen moralischen Kredits. Das hier treffende Motto wurde vor einigen Jahren in einer ORF-Talkshow gegeben, als eine Beteiligte ausrief: „Wir sind alle unschuldige Täter.“ 37 Spricht man im Rückblick über Wiedergutmachung und den Kontext materieller Leistungen gegenüber den Juden, so stellt sich natürlich die Frage, inwieweit die Wiedergutmachung in der Tat eine Abkehr von antisemitischen Traditionen und ein neues Verhältnis zu den Juden bedeutete, das auf einer unmißverständlichen Anerkennung der kollektiven Schuld und Verantwortung basierte. Anders gesagt, hatte sie im öffentlichen Bewußtsein der frühen fünfziger Jahre den Stellenwert, den sie Jahrzehnte später einzunehmen scheint? 1951 führte HICOG eine Umfrage durch, mit der „German Opinions on Jewish Restitution and Some Associated Issues“ ermittelt wurden: „(...) a majority of the West German people disclaimed not only any general guilt for the misdeeds of the Third Reich, but also any general responsibility of the German citizenry for rectifying the wrongs that were committed in their name. (...) A large proportion of those who voiced support for Jewish aid (...) were revealed on attitude-test queries to possess distinctly unfavorable orientations toward the Jews. Taking the findings all together, the indication is inescapable that despite the two out of three who professed approval of Jewish restitution, the majority of West Germans appear to have the kind of adverse attitudes toward the Jews which either make them outright opponents of restitution, or if verbally approving, highly doubtful supporters of any measures that might be taken to actually implement such aid.“ 38 Die Wiedergutmachungsdebatte war hinsichtlich der inneren Einstellung der Bevölkerung völlig konsequenzlos, bestätigte eher noch antisemitische Meinungen. Das wird durch die Antworten auf die auf S. 125 dargestellte Frage der HICOG-Umfrage aufschlußreich bestätigt. Weitere Umfrageergebnisse zeigten, daß die Zustimmung zur Unterstützung für Juden keine Garantie für fehlenden Antisemitismus war. Immer wieder stößt man bei der Auswertung solcher Umfragen, bei der Analyse von Reaktionen auf Juden betreffende Geschehnisse auf diesen Zusammenhang. Die pro-jüdischen und philosemitischen Erklärungen und Verhaltensweisen, soweit sie öffentlich sind, erfolgen oftmals über einer tieferen Schicht 120 Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 Frank Stern MEINUNGSUMFRAGE DES FEDERAL GOVERNMENT 39 „As you know, the Federal Government is trying to provide for those who suffered damage through the war or the Third Reich. Which of these groups should, in your opinion, receive such help and which should not?“ Should receive help Should not No opinion War-widows and orphans 96% 1% 3% People who suffered damage through bombing 93% 3% 4% Refugees and Expellees 90% 6% 4% Relatives of people executed because of participation in attempt on Hitler’s life on July 20th, 1944 73% 13% 14% Jews who suffered through Third Reich and war 68% 21% 11% Quelle: HICIG, Report No. 113, 5.12.1951; vgl. Anna J. and Richard L. Merritt, Public Opinion in Semisovereign Germany. The HICOG Surveys, 1949–1955, Urbana 1980, S 146f. von Meinungen und Einstellungen, die ein Konglomerat von traditionellen und neuen antijüdischen oder antisemitischen Elementen darstellen. Das erklärt sowohl das Zögern der Bundesregierung zu Beginn ihrer ersten Legislaturperiode in dieser Grundfrage des westdeutschen Selbstverständnisses als auch die dann folgende Vehemenz, mit der von der Tribüne des Parlaments und für die internationale Öffentlichkeit, unter der oft Washington und das Judentum verstanden wurden, ein philosemitisches Bekenntnis abgelegt wurde. Im engeren Kreise sah das dann schon anders aus. In einer der Sitzungen auf höchster Regierungsebene in Bonn, die in der Regel von Adenauer geleitet wurden, bemerkte Bundesfinanzminister Fritz Schäffer (CSU): „Wenn die Juden Geld wollen, sollen es die Juden selbst aufbringen, indem sie eine ausländische Anleihe zeichnen.“40 Das „erste Opfer Hitlers“, die Republik Österreich, blickte hingegen eher nach Bonn, von wo die Millionen kommen sollten; vor der Frage jüdischen Eigentums stand die Frage deutschen Eigentums und der von den Deutschen ins Altreich heimgeführten österreichischen Werte. In völliger Verdrehung historischer Tatsachen wurde österreichisches Eigentum, das – der Opferthese folgend – deutsch geworden war, jetzt dem arisierten Eigentum gleichgesetzt.41 Damit erschien Österreich auch materiell als Opfer Hitlers. Wenn überhaupt, so dachte man in der Bevölkerung, war Wiedergutmachung an den Österreichern zu leisten. In Westdeutschland zeigte die Tatsache, daß allenfalls elf Prozent der Bundesbürger das Wiedergutmachungsabkommen befürworteten, ja 44 Prozent es rundheraus als überflüssig bezeichneten, daß hier nicht die Glaubwürdigkeit des neuen Deutschland, sondern einzig die der politischen Entscheidungsträger in einer zweifellos entscheidenden außenpolitischen Situation demonstriert worden war.42 Diese außenpolitische Demonstration hatte jedoch ein innenpolitisch relativierendes Nachspiel. Als das Vertragswerk im Bundestag am 18. März 1953 ratifiziert wurde, stimmten von 358 Abgeordneten 238 mit Ja, 34 mit Nein und 86 enthielten sich der Stimme. Die wesentliche Unterstützung erhielt die Gesetzesvorlage von der sozialdemokratischen Opposition, die geschlossen dafür stimmte, zahlreiche Abgeordnete der Regierungsparteien enthielten sich. Die Bindung der gesamten Wiedergutmachungsthematik an die sich aus dem Kalten Krieg ergebenden Bemühungen um eine Westintegration der Bundesrepublik fehlte in Österreich. Hier hatten, wie die von Robert Knight herausgegebenen Protokolle der Sitzungen des österreichischen Bundeskabinetts so eindrucksvoll zeigen, fehlende Sensibilität und antisemitische Kontinuität jegliche grundsätzliche Wiedergutmachungsregelung von vornherein verhindert. Die Betonung der Opferrolle Österreichs diente den Legitimationsbestrebungen des nachnationalsozialistischen Staates und mündete in den Versuch, „das Opfer der österreichischen Bevölkerung auf eine Ebene mit dem der Juden“ zu stellen.43 Ein Schuldbekenntnis im Namen des österreichischen Volkes erfolgte erst zu Beginn der neunziger Jahre, nachdem Waldheim-Affäre und öffentliche – auch internationale – Entrüstung über den immer spürbarer werdenden Antisemitismus eine regierungsamtliche Reaktion erforderlich machten. Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 121 Wiedergutmachung – Ein Vergleich Die „Kehrseite der Wiedergutmachung“ Die Praxis der „Wiedergutmachung“ Die geforderte Wiedergutmachung auf der Ebene der Rückerstattung und Entschädigung wurde in den zurückliegenden Jahrzehnten zu einem komplizierten bürokratischen Zahlungsvorgang von seiten des Staates. Materielle Leistungen in diesem Rahmen halfen bei der Überwindung sozialer Nöte, auch die teilweise Rückgabe oder Entschädigung arisierten Besitzes ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Die Art und Weise der bürokratischen Abwicklung hatte aber auch – was hier nur angedeutet werden kann – ihre neuen jüdischen Opfer, die staatliche Bürokratie erneut ihre „Judenfrage“. Anträge wurden verschleppt, administrative Schikanen eingebaut, die den Antragstellern sowohl in Deutschland als auch in Österreich die Last der Anspruchsbegründung und der konkreten Nachweise von Schäden auferlegten. Gesundheitsschäden, Minderung der Erwerbstätigkeit mußten mit Gutachten bewiesen werden, der bloße Aufenthalt in Konzentrations- und Arbeitslagern galt nicht als ausreichend. Die Kausalität hatten und haben die Betroffenen nachzuweisen.44 Und darüber kann auch die nahezu unüberschaubare Fülle von Gesetzen und Gesetzesänderungen nicht hinwegtäuschen. Die zwei wichtigen Studien von Christian Pross und Helga und Hermann Fischer-Hübner beschreiben denn auch detailliert die „Kehrseite der Wiedergutmachung“ in der Bundesrepublik Deutschland, eben den „Kleinkrieg gegen die Opfer“. „Nach oft jahrelangem Spießrutenlauf zwischen Paragraphen, Vorschriften, Gutachten und Sachbearbeitern war mancher Verfolgte so eingeschüchtert, daß er sich mit jeder noch so dürftigen Abfindung zufriedengab.“45 Zu oft stand den „staatlichen Unrechtshandlungen und ihren unübersehbaren Folgen (...) eine die Höhe des Schadenausgleichs begrenzende gesetzliche Regelung gegenüber. Niemand konnte mit einem nahezu vollen Ausgleich des ihm angetanen staatlichen Unrechts rechnen, am wenigsten die, die persönliche Verluste und gesundheitliche Schäden erlitten hatten.“ Nicht wenige Antragsteller empfanden diese erneute „Behandlung“ durch die Nachfolgebehörden des Dritten Reiches als „Wiederholung des Verfolgungserlebnisses“.46 Nicht selten waren die Beamten, Juristen, Ärzte und Gutachter „die gleichen, die vor 1945 auch in öffentlichen Behörden, Ämtern und Kliniken tätig waren. Die mit der Begutachtung beauftragten, teils beamteten Ärzte waren oft nicht unbeteiligt an ➤ Euthanasiemaßnahmen und Zwangssterilisationen.“ Die Antragsteller waren entwürdigenden Prozeduren ausgesetzt, minutiöse Nachweise und Zeugen wurden verlangt, nicht wenige Überlebende resignierten oder durchlebten psychisch die Hölle der Lager erneut. Der Psychiater Kurt Eissler faßte dies 1963 in der Frage zusammen: „Die Ermordung von wievielen seiner Kinder muß ein Mensch symptomfrei ertragen können, um eine normale Konstitution zu haben?“ 47 Die Diskriminierung der Opfer wurde so mit anderen Mitteln fortgesetzt. Die Psychiaterin Barbara Vogt-Heyder beschreibt die bundesdeutsche Wiedergutmachungspraxis folgendermaßen: „Es kommt zu einer Neuauflage der Verfolgung. Opfer werden zu Bittstellern degradiert, und ihr schweres Verfolgungsschicksal wird nicht verstanden und daher auch nicht entsprechend gewichtet und gewürdigt.“ 48 Ist die sogenannte Wiedergutmachung nun ein beendigtes Kapitel deutscher und österreichischer Zeitgeschichte? Die Antwort muß verneint werden. Es hat Jahre gedauert, bis schließlich überdeutlich geworden ist, daß eine Entschädigung für die Opfer des Nationalsozialismus noch lange nicht abzuschließen ist. Es sei nur an die Zehntausende zählenden Zwangsarbeiter des Dritten Reiches im Altreich oder in Österreich oder an die Sinti und Roma, die Homosexuellen und Zwangssterilisierten erinnert (...).49 Die materiellen Schäden, die das Dritte Reich verursacht hat, sind nicht wiedergutzumachen, von den physischen und psychischen Schäden an den direkten Opfern und den Nachfolgeschäden auch an den Kindern der Überlebenden ganz zu schweigen.“ 50 Eine umfassende moralische, gesellschaftliche und kulturelle Rehabilitierung der Juden hat es nach 1945 in keinem der drei Nachfolgestaaten des Dritten Reiches gegeben. Auch dies ein später Erfolg Hitlers? 122 Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 Frank Stern 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 Vgl. u. a. Ludolf Herbst/Constantin Goschler (Hrsg.), Wiedergutmachung in der Bundesrepublik Deutschland, München 1989, darin insbesondere Walter Schwarz, Die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts durch die Bundesrepublik Deutschland. Ein Überblick, S. 33-54, sowie den eher den Charakter eine Debatte über Quellenauslegung tragenden Artikel: Kai von Jena, Versöhnung mit Israel? Die deutsch-israelischen Verhandlungen bis zum Wiedergutmachungsabkommen von 1952, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 34 (1986), Heft 4, S. 457 f.; Constantin Goschler, Wiedergutmachung. Westdeutschland und die Verfolgten des Nationalsozialismus 1945-1954, München 1992; Michael Wolffsohn, Die Wiedergutmachung und der Westen – Tatsachen und Legenden, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zu Das Parlament, B 16-17/87, 18. 4. 1987, S. 19 f.; ders., Das deutsch-israelische Wiedergutmachungsabkommen von 1952 im internationalen Zusammenhang, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 36 (1988), S. 691 f. Eine in aller Kürze ausgezeichnete Darstellung der amerikanischen Position findet sich bei Thomas Alan Schwartz, America’s Germany. John McCloy and the Federal Republic of Germany, Cambridge 1991, S. 175 f. Für Österreich vgl. Gustav Jelinek, Die Geschichte der österreichischen Wiedergutmachung, in: Josef Fraenkel (Hrsg.), The Jews of Austria: Essays on their Life, History, and Destruction, London 1967; Dietmar Walch, Die jüdischen Bemühungen um die materiellen Wiedergutmachungen durch die Republik Österreich (Veröffentlichungen des Historischen Instituts der Universität Salzburg 1), Wien 1971; Robert Knight, Restitution and Legitimacy in Post-War Austria 1945-1953, in: Leo Baeck Institute Yearbook XXXVI (1992), S. 413 f. Vgl. Rolf Vogel (Hrsg.), Der deutsch-israelische Dialog. Dokumentation eines erregenden Kapitels deutscher Außenpolitik. Teil 1, Politik, Bd. 1, München 1987, S. 3 f. Ebd., S. 12. Vgl. Walter Schwarz, Die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts, in: Herbst/Goschler, Wiedergutmachung in der Bundesrepublik Deutschland, S. 33 f. sowie Hans-Dieter Kreikamp, Zur Entstehung des Entschädigungsgesetzes der amerikanischen Besatzungszone, in: ebd., S. 61 f. Robert Knight (Hrsg.), „Ich bin dafür, die Sache in die Länge zu ziehen“ – Wortprotokolle der österreichischen Bundesregierung 194552 über die Entschädigung der Juden, Frankfurt/M. 1988, S. 43; vgl. auch Rudolf Bienenfeld, Restitution and Compensation in Austria, Association of Jewish Refugees in Great Britain, Bulletin VI, Dezember 1952, S. 1 f. Vgl. Knight, „Ich bin dafür ...“, S. 44. Süddeutsche Zeitung, 11.10.1946. Vgl. den Beitrag von Brigitte Bailer-Galanda: Die Maßnahmen der Republik Österreich für die Widerstandskämpfer und Opfer des Faschismus-Wiedergutmachung. In: Sebastian Meissl u.a. (Hrsg.), verdrängte Schuld, verfehlte Sühne. Entnazifizierung in Österreich 1945-1955, Wien 1986, S. 138. Zur Diskussion um den Begriff vgl. Yeshayahu A. Jelinek, Israel und die Anfänge der Shilumim, in: Herbst/Goschler, Wiedergutmachung in der Bundesrepublik Deutschland, S. 119 f. Thomas Albrich, Exodus durch Österreich. Die jüdischen Flüchtlinge 1945-1948, Innsbruck 1987, S. 94. Vgl. hierzu Brigitte Bailer, Gleiches Recht für alle? Die Behandlung von Opfern und Tätern des Nationalsozialismus durch die Republik Österreich, in: Rolf Steininger (Hrsg.), Der Umgang mit dem Holocaust. Europa – USA – Israel. Wien/Köln/Weimar 1994, S. 183-197. Vgl. hierzu Agnes Blänsdorf, Zur Konfrontation mit der NS-Vergangenheit in der Bundesrepublik, der DDR und Österreich, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zu Das Parlament, B 16-17/87, 18.4.1987, S. 15 f. Robert Knight, Restitution and Legitimacy in Post-War Austria 1945-1953, in: Leo Baeck Institute Year Book XXXVI (1992), S. 416. Ebd., S. 426. Zit. n. Vogel, Der deutsch-israelische Dialog, S. 18 f. Herbert Blankenhorn, Verständnis und Verständigung. Blätter eines politischen Tagebuchs 1949-1979, Frankfurt/M. 1980, S. 138. Hendrik van Dam, zit. n. Vogel, Der deutsch-israelische Dialog, S.19f. 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 Ebd., S. 25. Zit. n. Knight, „Ich bin dafür ...“, S. 230. Vgl. Bruce F. Pauley, The USA and the Jewish Question in Austria, in: Leo Baeck Institute Year Book XXXVI (1992), S. 492. Hans-Peter Schwarz, Adenauer. Der Aufstieg 1876-1952, Stuttgart 1986, Seite 840. Der US-Diplomat Martin Herz, zit. n. Knight, „Ich bin dafür …“ S. 34. Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München 1965, S. 470 f. John McCloy, Ansprachen des amerikanischen Hochkommissars für Deutschland, Washington, D. C., 23. 1. 1950, Stuttgart, 6. 2. 1950. Vgl. HICOG, Information Services Division, Opinion Survey Report No. 1, 30. 12. 1949; vgl. Anna J. and Richard L. Merritt, Public Opinion in Semisovereign Germany. The HICOG Surveys, 19491955, Urbana 1980, S. 53 f. Zit. n. Klaus-Jörg Ruhl (Hrsg.), „Mein Gott, was soll aus Deutschland werden?“ Die Adenauer-Ära 1949-1963, München 1985, S. 334. Die Welt, 14. 6. 1951. Vgl. Knight, „Ich bin dafür ...“, S. 50. Verhandlungen des Deutschen Bundestages. Stenografische Berichte. 1. Wahlperiode 1949-1953, Bonn 1949 f., S. 6697 f. Vgl. Blänsdorf, S. 15, hier zit. n. Jelinek, S. 395 f. Vgl. Pauley, S. 492. Vgl. Nana Sagi, German Reparations. A History of the Negotiations, Jerusalem 1980, S. 205. Nahum Goldmann, Mein Leben als deutscher Jude, Frankfurt/M. 1980, S. 449. Vgl. Sagi, S. 211. Vgl. hierzu Angelika Timm, Der Streit um Restitution und Wiedergutmachung in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands, in: Babylon. Beiträge zur jüdischen Gegenwart (1992), Heft 10/11; Blänsdorf, S. 16 f. Vgl. Ron Zweig, German Reparations and the Jewish World: A History of the Claims Conference, London 1987. Hans-Peter Schwarz, S. 905. Vgl. Ruth Wodak/Peter Nowak/Johanna Pelikan/Helmut Gruber/ Rudolf de Cillia/Richard Mitten, „Wir sind alle unschuldige Täter“ – Diskurshistorische Studien zum Nachkriegsantisemitismus, Frankfurt/M. 1990, S. 266. HICOG, Report No. 113, 5. 12. 1951; Vgl. Merritt, S. 146f. Quelle: HICOG, Information Services Division, Opinion Survey Report No. 113, 5. 12. 1951, NA.Rg. 260. Zit. n. Jena, S. 472. Vgl. Knight, „Post-War ...“, S. 424. Vgl. Norbert Frei, Die deutsche Wiedergutmachungspolitik gegenüber Israel im Urteil der öffentlichen Meinung der USA, in: Herbst/Goschler, Wiedergutmachung in der Bundesrepublik Deutschland, S. 215-230; Wolffsohn, Globalentschädigung für Israel und die Juden? Adenauer und die Opposition in der Bundesregierung, in: ebd., S. 161-190. Vgl. Knight, „Ich bin dafür ...“, S. 58. Vgl. Brigitte Bailer-Galanda, Maßnahmen S. 144 Christian Pross, Wiedergutmachung. Der Kleinkrieg gegen die Opfer, Frankfurt/M. 1988, S. 294. Helga und Hermann Fischer-Hübner (Hrsg.), Die Kehrseite der „Wiedergutmachung“. Das Leiden von NS-Verfolgten in den Entschädigungsverfahren, Gerlingen 1990, S. 31. So der Titel seines Aufsatzes in: Psyche 17 (1963), S. 241 f., Nachdruck in: Hans M. Lohmann (Hrsg.), Psychoanalyse und Nationalsozialismus. Beiträge zur Bearbeitung eines unbewältigten Traumas, Frankfurt/M. 1984. Barbara Vogt-Heyder, Einige Gedanken zur deutschen Wiedergutmachung, in: Dierk Jülich (Hrsg.), Geschichte als Trauma. Festschrift für Hans Keilson zu seinem 80. Geburtstag, Frankfurt/M. 1990, S. 65. Vgl. hierzu Wiedergutmachung und Entschädigung für nationalsozialistisches Unrecht. Öffentliche Anhörung des Innenausschusses des deutschen Bundestages am 24. Juni 1987, Bonn 1987. Vgl. William G. Niederland, Folgen der Verfolgung: Das Überlebenden-Syndrom, Frankfurt/M. 1980. Aus: Frank Stern, Rehabilitierung der Juden oder materielle Wiedergutmachung – ein Vergleich, in: Rolf Steininger (Hrsg.), Der Umgang mit dem Holocaust. Europa – Israel – USA, Böhlau Verlag, Wien 1994, S. 167-182. Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 123 „Lücken in der Gesetzgebung“ Interview mit Georg Graf In welchem Ausmaß wurden bisher Fragen zu Enteignung und Rückstellung in Österreich erforscht? Graf: Die Fragen sind in sehr unterschiedlichem Ausmaß erforscht worden. Es hat in den letzten Jahren sehr viel an historischer Forschung zu diesem Thema stattgefunden, die juristische Aufarbeitung der Gerichtsverfahren, die nach 1945 stattgefunden haben, steht aber zu einem Großteil noch aus. Aus welchen Gründen haben sich RechtshistorikerInnen bisher so wenig mit dem Thema Enteignung – Rückstellung befaßt? Das ist eine sehr schwierige Frage, die ich nicht konkret beantworten kann. Sicherlich war es so, dass in der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg viele Leute teilweise selbst von dieser Thematik betroffen waren und daher kein sonderliches Interesse daran hatten sich damit zu befassen. Irgendwie war man froh, dass die Sache „vorbei“ ist, und hat daher auch kaum wissenschaftlichen Ehrgeiz entwickelt. Bestand im Fall von allgemeinen Kriegsschäden, also von Bombenopfern, von Plünderungen, Vertreibungen ein Anspruch auf Entschädigung? Ja, es gab eigene Gesetze, wie zum Beispiel das ➤ „Kriegs- und Verfolgungs-Sachschädengesetz“ (KVSG) vom 25. Juni 1958 über die Gewährung von Entschädigungen für durch Kriegseinwirkung oder durch politische Verfolgung erlittene Schäden an Hausrat und an zur Berufsausübung erforderlichen Gegenständen. Dieses Gesetz behandelte NS-Opfer und Kriegsopfer grundsätzlich gleich. Allerdings waren Personen, die über ein Jahreseinkommen von mehr als öS 72.000 verfügten, von Ansprüchen nach dem KSVG ausgeschlossen. Insofern galt hier ebenso wie im ➤ Opferfürsorgegesetz (OFG) das Fürsorge- und nicht das Entschädigungsprinzip. Lässt sich auch etwas über die Praxis sagen? Wurde das Gesetz auch in Anspruch genommen, wurden Ansprüche gestellt? Es wurden Ansprüche gestellt, aber wie die konkrete Praxis ausgesehen hat, das wird einer der Punkte sein, zu denen die Historikerkommission nähere Aufschlüsse oder nähere Erkenntnisse erarbeiten wird. Angesichts der Geschichte der Rückstellungen in der Zweiten Republik lässt sich eindeutig ein Widerspruch zwischen der Aktivität des Gesetzgebers, d.h. der Verabschiedung einer Vielzahl einschlägiger Gesetze, und den darauf basierenden Behördenentscheidungen, die eher auf eine Unterbindung und Erschwernis tatsächlicher Rückstellungen hinweisen, feststellen. Woraus erklärt sich diese Diskrepanz zwischen Gesetz und Praxis, worin liegt diese begründet? Dafür sind sehr viele Faktoren maßgebend. Zu differenzieren ist zwischen dem Bereich der 124 Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 Interview mit Georg Graf genuinen Rückstellung, das heißt Fällen, in denen sich zwei Privatpersonen gegenübergestanden haben, und dem Bereich, den man eher mit dem Begriff der Entschädigung bezeichnen könnte, zum Beispiel im Bereich des Sozialversicherungsrechts. Bei Letztgenannten war es so, dass interessanter Weise die befassten Behörden oftmals die Einstellung vertreten haben, möglichst wenig bezahlen zu wollen. Da ist ein Sparsamkeitsgrundsatz in ganz absurdem Kontext verwendet worden. Was die Rückstellungen betrifft, muss man sagen, dass bereits die Gesetze selber Anlaß für Probleme gegeben haben. Es sind doch einige Fragen offengeblieben, die sich der Gesetzgeber hätte überlegen müssen. Einige Fragen sind im Gesetz nicht gelöst gewesen und in der Folge haben dann die Richter oftmals Entscheidungen getroffen, die für den Rückstellungspflichtigen günstiger als für den Rückstellungswerber waren.1 Betrachtet man die Praxis, lässt sich dann tatsächlich von Rückstellungen sprechen ? Ja, sicherlich. Wenn man sich die veröffentlichte Judikatur anschaut, wenn man mit Anwälten spricht, die damals involviert waren, haben natürlich Rückstellungen stattgefunden. Die Frage ist nur, ob in dem Ausmaß, in dem Vermögensentziehungen stattgefunden haben, wirklich auch Rückstellungen erfolgt sind oder ob es da Diskrepanzen gibt. Worin liegt der Unterschied zwischen den ersten beiden Rückstellungsgesetzen vom 26.7.1946 und 6.2.1947 und dem 3. Rückstellungsgesetz vom Herbst 1947, das das wichtigste, aber gleichzeitig auch das umstrittenste war? Das ist eigentlich ein technischer Unterschied gewesen. Das 1. Rückstellungsgesetz regelte jene Fälle, in denen Eigentum durch das Deutsche Reich aufgrund typischer nationalsozialistischer Gesetze, wie zum Beispiel der ➤ 11. und ➤ 13. Verordnung zum Reichsbürgergesetz, entzogen worden war und sich nun in der Verwaltung der Republik Österreich befand. Das 2. Rückstellungsgesetz regelte Fälle entzogenen Eigentums, das sich nunmehr aufgrund Verfalls im Eigentum der Republik befand. Im 3. Rückstellungsgesetz, das war quasi das Generalrückstellungsgesetz, sind auch jene Sachen erfasst worden, die jetzt Privatpersonen innegehabt haben, das betraf etwa die ganzen entzogenen Unternehmen, und deswegen war es das Gesetz, zu dem es dann die meisten Verfahren gegeben hat. Noch ein Unterschied ist vielleicht für Nichtjuristen interessant: Beim 1. und 2. Rückstellungsgesetz hat die Rückstellung in Verwaltungsverfahren stattgefunden, das heißt, man hat sich an die Verwaltungsbehörde gewandt. Daher waren die Verfahren problemloser als die nach dem 3. Rückstellungsgesetz, weil jene vor Gericht abgewickelt wurden. Man hat wirklich gegen denjenigen, der „arisiert“, also Vermögen entzogen hat oder das entzogene Vermögen in seinem Besitz gehabt hat, prozessieren müssen. Denn nach der Vermögensentziehungsanmeldeverordnung vom Herbst 1946 war jemand auch zur Vermögensanmeldung verpflichtet, der nicht direkt Vermögen entzogen, sondern von jemandem käuflich erworben hat, der seinerseits das Vermögen entzogen hat. Ein Grundsatz des 3. Rückstellungsgesetzes lautete, dass die Rückstellung zwischen zwei Privaten nicht zu Lasten des Staates gehen dürfe. Hat dieser Rückzug des Staates, etwa mit der Begründung, nicht Rechtsnachfolger des NS-Staates zu sein, die Möglichkeit der Rückstellung in der Praxis erschwert? Ja, weil dadurch bestimmte Probleme, die durch die Mitwirkung des Staates leichter lösbar gewesen wären, nur sehr schwer lösbar geworden sind, vor allem in den häufigsten Fällen von Vermögensentzug, in denen der Käufer nicht über direkte Gewaltanwendung den Besitz erzwungen hat, sondern bei denen ein Vertrag abgeschlossen wurde und der Käufer viel zu wenig bezahlt hat. Der Verkäufer hat meistens einen Großteil des Geldes gar nicht gesehen, weil dieser vom Deutschen Reich unter den verschiedensten Titeln, wie z.B. ➤ Reichsfluchtsteuer und Sühneabgabe eingezogen wurde; das war Geld, das an den Staat geflossen ist. Und jetzt hat sich bei der Rückabwicklung natürlich die Frage gestellt, wer den Schaden dieses verlorenen Geldes trägt. Der Staat hat sich dafür nicht verantwortlich erklärt, und so blieb nichts anderes übrig, als entweder dem Rückstellungswerber die Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 125 Lücken in der Gesetzgebung Kosten aufzuerlegen oder dem Rückstellungspflichtigen. Eigentlich ungerecht, weil der ➤ „Ariseur“ hat ja bezahlt, aber der Rückstellungswerber hat das Geld nie gesehen; in diesen Fällen wäre sicher die Lösung leichter gewesen, wenn der Staat etwas bezahlt hätte. Wie hat das dann in der Praxis ausgesehen, zu welchen Lasten ist es in der Regel gegangen? Das ist relativ uneinheitlich gehandhabt worden. Ich habe mir die veröffentlichte Judikatur einmal angesehen, da haben sich eigentlich Entscheidungen in beide Richtungen gefunden. Es hat welche gegeben, die eher den Rückstellungspflichtigen belastet haben, aber natürlich auch eine Reihe von Entscheidungen, die zu Lasten der Rückstellungswerber gegangen sind. Zum Zweck der Rückstellungen wurden eigene Kommissionen eingesetzt. Wann und von wem wurden diese Kommissionen eingesetzt? Welche Kommissionen gab es, und wie haben sie gearbeitet? Bezüglich des 3. Rückstellungsgesetzes war das Verfahren dreistufig aufgebaut, das heißt, es hat eine erste, zweite und dritte Instanz gegeben. Die dritte Instanz war die oberste Rückstellungskommission beim Obersten Gerichtshof, und dadurch waren die Rückstellungsverfahren dem normalen Ablauf eines Zivilverfahrens wirklich sehr angenähert, weil es dort auch dieses dreistufige Verfahren gibt. Im Gesetz selber hat es Regeln gegeben, die eine bestimmte Anzahl von Richtern, aber auch Laienrichter vorgesehen haben. Man hat sich also um eine halbwegs ausgewogene Besetzung bemüht, doch es hat dann auch immer wieder Streitigkeiten darüber gegeben. Das wird auch einer der Punkte sein, den die Historikerkommission näher untersuchen wird. Auf welcher Rechtsgrundlage sind diese Kommissionen verfahren? Die Rechtsgrundlage waren teilweise die Rückstellungsgesetze und sonst subsidiär die allgemeinen Bestimmungen des österreichischen Außerstreitrechts. Gab es personelle, strukturelle und organisatorische Kontinuitäten zwischen einerseits den einst zuständigen Behörden für die Enteignung und den mit der Rückstellung betrauten Stellen nach 1945, wenn man etwa an die ➤ Vermögensverkehrsstelle denkt, diverse Magistratsabteilungen oder das ➤ Krauland-Ministerium? Das ist eine Frage, für deren Beantwortung sicher primär Historiker zuständig sind. Es gibt aber einen sehr prominenten Fall, der diese Kontinuitäten recht gut verdeutlicht: Walther ➤ Kastner, der nach 1938 für die ➤ „Arisierungen“ in der Kontrollbank zuständig war und nach 1945 in Form eines Konsulentenvertrages für das Krauland-Ministerium gearbeitet hat. Die Pikanterie, die dann noch dazukommt, liegt allerdings darin, dass im Rahmen einer großen Veranstaltung der Universität Wien Ende der achtziger Jahre, zu „Recht im Nationalsozialismus“ Walther Kastner eingeladen wurde, einen Beitrag über Rückstellung und Arisierung zu verfassen. Er hat dann natürlich ein sehr positives Bild gezeichnet. Das ist ein Einzelfall, und man darf von Einzelfällen nicht generalisieren, aber wie ich von Kollegen gehört habe, hat es mehrere solche Fälle gegeben. Betrachtet man die Details der Rückstellungspraxis: Wie wurde zum Beispiel bei Firmen, die in ehemals jüdischem Besitz standen, verfahren? Die einen wurden „arisiert“, ein Großteil wurde liquidiert oder durch stillen Boykott lahmgelegt, aufgelöst. Gab es in solchen Fällen Entschädigungszahlungen? Nein, das war ja eines der Probleme. Der Grundsatz der Rückstellungsverfahren war, daß eben das, was heute noch vorhanden ist, zurückgegeben werden muss. Aber bei jüdischen Unternehmen, bei denen die „Ariseure“ eine Stillegung oder Auflösung oftmals sinnvoller fanden, etwa zur Ausschaltung der Konkurrenz, war nichts da, was zurückgegeben hätte werden können. Da hat keine Rückstellung stattgefunden. 126 Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 Interview mit Georg Graf Gab es in solchen Fällen Anträge von ehemaligen BesitzerInnen, die dann abschlägig beurteilt wurden? Nach der Logik der Gesetze konnten eigentlich gar keine Anträge mehr gestellt werden. Man musste erst jemanden finden, der die Sache, die einem entzogen worden war, innegehabt hat, und den konnte man dann klagen. Der Inhalt der Klage war, das zurückzugeben, was entzogen worden war. Das hat in den Fällen nicht gegriffen, in denen Unternehmen nicht mehr da waren. Daher gab es gar niemanden mehr, an den sich ein jetzt möglicherweise aus dem Exil Zurückgekehrter hätte wenden können. Da hätte es nur über staatliche Entschädigungszahlungen Abhilfe gegeben, aber die hat es in diesen Fällen nicht gegeben. Wie wurde mit Gewinnen aus „arisierten“ und weitergeführten Betrieben verfahren? An und für sich waren diese Gewinne herauszugeben, aber die Rechtsprechung hat schon aufgrund gesetzlicher Vorgaben zwischen sogenannten „redlichen“ und „unredlichen Ariseuren“ differenziert. Zur Erklärung, was diese Unterscheidung bedeutet: Der „redliche Ariseur“ war nach der Rechtsprechung der, der ein Vermögen in einer Weise entzogen hat, das ihn rückstellungspflichtig machte, der aber sonst die Regeln des „redlichen Verkehrs“, wie es im Gesetz formuliert wurde, eingehalten hat. Die Gerichte haben darunter verstanden, dass der ehemalige Käufer ungefähr einen damals marktüblichen Preis bezahlt hat, wobei der marktübliche Preis natürlich auch keine objektive Größe darstellte. Oder ob der Käufer vielleicht vom Verkäufer frei ausgesucht und ihm nicht aufgezwungen wurde. Das waren die Zugänge, mit denen man hier operiert hat, und wenn jemand in diesem Sinn „redlich“ war, dann durfte er die Gewinne behalten. Und wie sah das in der Praxis der Rückstellungen aus, gab es den Verfahren zufolge überwiegend „redliche“ Erwerber, oder war das nur ein geringer Teil? Darüber werden sich erst Aussagen treffen lassen, wenn wir die Akten wirklich untersucht haben. Denn bisher lässt sich nur die veröffentlichte Judikatur beurteilen, aber die wird oder wurde ja deswegen veröffentlicht, weil es da um Fälle gegangen ist, die schwierige Rechtsfragen behandelt haben. Das ist aber nicht repräsentativ für die Frage, wie viele waren „redliche“, wie viele waren „unredliche“ Erwerber. Man wird sich wirklich die Verfahren ansehen müssen, soweit sie noch dokumentiert sind. Wie wurde in Bezug auf die Rückstellung von Wohnungen und die Aberkennung des Mietrechtes verfahren? Es hat ja sehr lange Zeit keine entsprechende Regelung für Wohnungsrückstellungen gegeben. Worin liegen die Gründe dafür? Da hat es nie eine Regelung gegeben. Es war so, dass die Regierung zwar einen Gesetzesentwurf erstellt hat, der das Problem dieser entzogenen Mietrechte regeln sollte, nur hat man sich dann nicht getraut oder ganz bewusst nicht dazu entschlossen, dieses Gesetz auch durchzubringen. Denn das Problem lag darin, dass in den Wohnungen jetzt natürlich wieder Leute wohnten, die man hätte hinauswerfen müssen. Das war ganz einfach ein zu heißes Eisen, und daher ist hier keinerlei Wiedergutmachung oder Rückstellung erfolgt. Das betrifft das Problem der Mietrechte. Wenn jemand natürlich eine Eigentumswohnung besessen hat oder ein Haus, das konnte er schon zurückbekommen. Aber wenn die Mietrechte entzogen waren, dafür hat es keine gesetzliche Regelung gegeben. Das ist besonders tragisch oder sagen wir besonders schwierig, weil in Österreich die Position des Mieters eine sehr starke ist. Nach dem Mietrechtsgesetz ist man in Österreich fast unkündbar und hat einen starken Schutz, was die Höhe des Mietzinses betrifft. Der Verlust solcher Mietrechte ist daher für die betroffenen Leute schon schwerwiegend gewesen. Sachwerte, Wohnungseinrichtungen, Schmuck – wurde das zurückgestellt? Für die Praxis der Rückstellung stellte es ein enormes Problem dar, dass die Sachen nicht mehr vorhanden oder nicht mehr auffindbar waren. Das heißt, da war auch wieder niemand zu finden, der sie innegehabt hat, und aus diesem Grund ist dann oftmals keine Rückstellung erfolgt. Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 127 Lücken in der Gesetzgebung Wie wurde in Fällen von Vermögensentzug aufgrund sogenannter „wilder Arisierungen“ verfahren? Die „wilden Arisierungen“ sind an und für sich auch wie andere Vermögensentziehungen behandelt worden, nur bestand das Problem natürlich darin, dass hier oftmals die Beweislage eine schlechtere war. Noch einmal eine Frage zur Rückstellung von Betrieben: Wurde der Betrieb in der Regel zurückgestellt, oder haben sich ehemaliger „Verkäufer“ und „Käufer“ auf eine finanzielle Summe geeinigt? Ist eine Entschädigung in Form von Geldzahlungen geleistet worden, oder ging es tatsächlich um die Rückstellungen an den ursprünglichen Besitzer? Dazu muss man etwas weiter ausholen. Das 3. Rückstellungsgesetz hat die Möglichkeit vorgesehen, dass dann, wenn das Unternehmen sehr verändert wurde, der Anspruch des Rückstellungswerbers nur ein Geldanspruch sein konnte. Das heißt, dass er Anspruch auf eine Entschädigung, aber nicht auf das Unternehmen selbst hatte. Jetzt war es natürlich eine große Frage, und dazu gibt es auch einiges an Judikatur, wann das Unternehmen so verändert worden ist, dass es nicht mehr in natura zurückgestellt werden musste. Davon zu unterscheiden ist ein anderer Punkt: In vielen Fällen war es für den Rückstellungswerber natürlich vernünftiger, zum Beispiel wenn er nicht nach Österreich zurückkehren wollte, einen Vergleich zu schließen und quasi eine Zahlung entgegenzunehmen. Doch inwieweit oder in welchem Umfang Verfahren auf diese Weise durch Vergleich abgeschlossen wurden, wird auch ein Punkt sein, der in der Historikerkommission genauer untersucht werden wird. Der Terminus „redlicher Erwerb“ wurde bereits erwähnt, aber auch der Terminus der „freien Verfügung“ kommt in Rückstellungsprozessen immer wieder vor. Was ist darunter zu verstehen? Vor allem ist es um das Problem gegangen, das wir schon angesprochen haben, nämlich um die Frage der Gelder, die dem NS-Staat zugeflossen sind, wie beispielsweise Sühneabgabe oder Reichsfluchtsteuer. Nach der Regelung zum Beispiel des 3. Rückstellungsgesetzes musste der Rückstellungswerber nur jene Gelder zurückstellen, die ihm zur „freien Verfügung“ überlassen wurden. Der Begriff der „freien Verfügung“ bezieht sich rein formal darauf, ob der Erwerber den Kaufpreis zu irgendeinem Zeitpunkt bar auf die Hand erhalten hat; ob der danach faktisch frei darüber verfügen konnte, wurde als irrelevant angesehen. Jetzt hätte man das natürlich so deuten können, dass wenn sich der NS-Staat das Geld geholt hat, der heutige Rückstellungswerber es nicht zur freien Verfügung bekommen hat. Da haben die Gerichte eine gewisse Tendenz entwickelt, den Begriff „freie Verfügung“ sehr liberal auszulegen, und es gibt Entscheidungen, denen zufolge Gelder, die sich der NS-Staat sofort als Reichsfluchtsteuer geholt hat, insofern zur freien Verfügung standen, als damit eine sichere Flucht ins Ausland ermöglicht wurde. Das waren teilweise sehr zynische Argumentationen, aber man wird sich anschauen müssen, inwieweit das repräsentative Entscheidungen sind. Und was passiert in eindeutig nachgewiesenen Fällen von Enteignungen, wenn aber der enteignete Besitzer zum Beispiel nicht mehr lebt, an wen ging dann das geraubte Vermögen? Konnten die neuen Besitzer oder die Enteigner dann das Vermögen legal behalten oder illegal durch Unterlassen von Selbstanzeige? Naja, es ist so, dass auch die Erben rückstellungsberechtigt, also rückforderungsberechtigt waren, allerdings nicht alle Erben. Die Menge der Personen, die nach österreichischem ABGB erbberechtigt wären, ist größer als die, die nach dem 3. Rückstellungsgesetz anspruchsberechtigt waren. Um ein Beispiel zu geben: Ein Onkel des Erblassers ist nach ABGB berechtigt, nach dem 3. Rückstellungsgesetz konnte er jedoch nur unter der Voraussetzung Ansprüche geltend machen, wenn er in der Hausgemeinschaft des Erblassers lebte. Aber es war doch ein recht weiter Kreis Anspruchsberechtigter, so dass mit dem Tod desjenigen, dem Vermögen entzogen wurde, die Frage der Rückstellung nicht beendet war. Das Problem 128 Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 Interview mit Georg Graf war natürlich, dass die Erben oftmals nicht auffindbar waren bzw. nicht gewusst haben, dass hier wirklich Ansprüche zu stellen wären. Bezüglich solcher Vermögenschaften hat es an und für sich gesetzliche Regelungen gegeben. Es ist vorgesehen gewesen, dass entzogenes Vermögen, das nicht zurückbegehrt wurde, in einen Fonds, zu den sogenannten ➤ Sammelstellen kommt. Diese Sammelstellen sind in den fünfziger Jahren eingerichtet worden, um das gesamte Sammelstellenvermögen, das nicht beansprucht wurde, auf bedürftige Opfer des Nationalsozialismus aufzuteilen. Das Problem oder die große Frage ist, inwieweit tatsächlich alles entzogene und nicht zurückreklamierte Vermögen dort gelandet ist. Und was passierte dann mit sogenanntem „erblosen“ Vermögen? Idealerweise ist es zu den Sammelstellen gekommen und dann verteilt worden, das heißt, das Vermögen wurde verwertet, und die Gelder sind dann ausbezahlt worden. Da hat es ganz genaue Regelungen gegeben, wie etwa das ➤ 4. Rückstellungsgesetz vom Mai 1961 über die Erhebung von Ansprüchen der Auffangorganisationen auf Rückstellung von Vermögen nach der Rückstellungsgesetzgebung. In diesem Gesetz wurden den Sammelstellen die Berechtigung gegeben, Ansprüche nach der Rückstellungsgesetzgebung, die von den Betroffenen bisher nicht erhoben worden waren, geltend zu machen. Besonders wichtig ist das Auffangorganisationsgesetz, weil aufgrund dieses Gesetzes die Sammelstellen gegründet wurden, die wiederum auf eine Verpflichtung im ➤ Staatsvertrag zurückgeführt wurden. Weiters gab es das Gesetz über die Aufteilung der Mittel der Sammelstellen von 1962 und schließlich das Sammelstellenabgeltungsgesetz aus 1966. Der Gesetzgeber war da nicht unaktiv. Wie umfangreich ist die Rückstellungsgesetzgebung, wie viele Gesetze sind es circa, und in welchem Zeitraum sind sie verabschiedet worden? Rückstellungsgesetze im engen Sinn gab es sieben Stück, aber wenn man alle Gesetze, die in diesem Umfeld angesiedelt sind, zusammenzählt, wird man auf – ich würde sagen – 40 bis 50 Gesetze kommen. Im Arbeitsprogramm der Historikerkommission haben wir versucht, das möglichst umfassend darzustellen. Die Gesetzgebung reicht größtenteils bis in die sechziger Jahre zurück. Es gibt aber auch noch entsprechende Gesetze aus den neunziger Jahren, zum Beispiel das ➤ Bundesgesetz vom 4.12.1998 über die Rückgabe von Kunstgegenständen aus den österreichischen Bundesmuseen. Bestimmte Probleme wurden eigentlich erst jetzt geregelt. Angaben über das Ausmaß der Vermögensentziehung während des Nationalsozialismus sind meistens sehr vage oder differieren sehr stark. Lassen sich zum heutigen Zeitpunkt eindeutige Aussagen treffen, oder sind erst die Ergebnisse der Historikerkommission abzuwarten? Die Historiker operieren mit Zahlen, die aber wirklich nur ganz grobe Schätzungen darstellen und furchtbar weit auseinander liegen. Eines der Ziele der Historikerkommission ist es, hier zu genaueren Zahlen zu kommen. Ob das möglich sein wird, wird man sehen, weil sich sehr schwierige Bewertungsfragen stellen. Ich muss sagen, ich glaube, dass man eher skeptisch sein muss, dass man wirklich zu absoluten Zahlen wird kommen können. Welche anderen gesellschaftlichen Gruppen, außer der jüdischen, wurden in der NS-Zeit noch systematisch enteignet? Wurden sie in der Rückstellungsgesetzgebung berücksichtigt? Ja, es hat andere Gruppen gegeben, beispielsweise politisch Verfolgte. Die Rückstellungsgesetze haben für alle gegolten. Das heißt für alle, denen Vermögen entzogen wurde, insoweit hat es hier eine Gleichbehandlung gegeben. Es wird interessant sein, einmal näher zu untersuchen, ob vielleicht bestimmte Gruppen ihre Sachen schneller zurückbekommen haben als andere. Beispielsweise hat die katholische Kirche, der ja auch sehr viel entzogen wurde, ihre Sachen sehr schnell zurückbekommen. Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 129 Lücken in der Gesetzgebung Lässt sich aufgrund der heutigen Aktenlage ein einigermaßen vollständiges Bild der Enteignungen und Rückstellungen von der Historikerkommission erforschen? Wir sind optimistisch, dass das mit Hilfe moderner Forschungsmethoden möglich sein wird, obwohl Akten, zum Beispiel Rückstellungsakten, in gewissem Umfang vernichtet wurden. Es hat vielfach das Bewusstsein gefehlt, dass es sich um sehr wichtige Akten handelt, man hat diese aufgrund von Platzmangel vernichtet, skartiert. Die Aktenlage konzentriert sich auf Wien, oder wird man in anderen Bundesländern auch suchen müssen? Man wird überall suchen. Es gibt auch in den anderen Bundesländern Akten, aber der Großteil des Vermögensentzugs hat sich in Wien abgespielt. Das dürften ungefähr 90 % gewesen sein. Lässt sich ungefähr sagen, welcher Prozentsatz von Akten skartiert wurde? Das lässt sich noch nicht abschätzen. Das wird ein Aufgabengebiet der Historikerkommission sein. Univ.-Prof. Dr. Georg Graf, Jurist, ist Professor am Institut für österreichisches und europäisches Privatrecht an der Universität Salzburg und ständiger Experte der Historikerkommission. 1 130 Vgl. Erika Weinzierl, Oliver Rathkolb/Siegfried Mattl/Rudolf E. Ardelt: Richter und Gesellschaftspolitik. Symposion, Justiz und Zeitgeschichte am 12./13. Oktober 1995 in Wien. Studienverlag, Innsbruck 1997 (= Veröffentlichungen des Ludwig Boltzmann Instituts für Geschichte und Gesellschaft Band 28). Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 DER NS-KUNSTRAUB Der Mauerbachfonds Die Geschichte enteigneter Kunstgegenstände Während des Nationalsozialismus wurden rund 8000 Objekte, vorwiegend Kunstgegenstände, Bilder, Plastiken, Möbel, Teppiche und Geschirr aus jüdischem Privatbesitz geraubt, deren frühere BesitzerInnen bzw. ihre Nachkommen nach dem Krieg nicht mehr eruiert werden konnten. 1956 hatten die Alliierten in Österreich sichergestellte Kulturgüter der österreichischen Regierung mit der Auflage übergeben, deren EigentümerInnen oder ErbInnen ausfindig zu machen. Seither wurden rund 10.000 Objekte zurückerstattet. Die restlichen 8000 Objekte wurden in der Kartause Mauerbach untergebracht. Die Kartause, die nach 1945 als Obdachlosenasyl diente, wurde 1961 nach der Auflösung des unter Kaiser Joseph II. gegründeten Religionsfonds der Republik Österreich übereignet. Ab 1979 übernahm die Bundesgebäudeverwaltung die bauliche Umgestaltung und Verwaltung. Seit 1994 ist das Bundesdenkmalamt einziger Gebäudenutzer. Aufgrund des von 1995 novellierten 2. Kunst- und Kulturbereinigungsgesetzes wurde die ➤ Israelitische Kultusgemeinde Österreich Eigentümerin des „Mauerbach-Schatzes“. Dieser wurde am 29. und 30. Oktober 1996 im Museum für angewandte Kunst in Wien durch das Auktionshaus Christie’s versteigert. Rund 155 Millionen Schilling wurden bei dieser Auktion ersteigert. Dieser Erlös wird nun vom Bundesverband der Israelitischen Kultusgemeinden Österreichs, der Arbeitsgemeinschaft der Opfer- und ➤ KZ-Verbände und Widerstandskämpfer Österreichs an bedürftige Opfer des Nationalsozialismus und deren Hinterbliebene verteilt. Davon wurden 12% zur Verteilung an nicht-jüdische Opfer des NS-Regimes übernommen, unter der Voraussetzung, dass diese Personen bisher keine Leistungen aus dem Nationalfonds der Republik Österreich erhalten haben. Die verbleibenden 88% wurden dem Zweck der Unterstützung bedürftiger jüdischer Überlebender im Inund Ausland gewidmet. Für diese Personen stellen bereits von der Republik Österreich erhaltene Leistungen keinen Ausschließungsgrund für eine Berücksichtigung dar, ebensowenig die Zuerkennung einer Leistung durch den Nationalfonds. Unter dem Namen „Mauerbach-Fonds“ wird der für bedürftige jüdische Überlebende und ihre Nachkommen bestimmte Erlös von einem Steering Committee verwaltet, dem Vertreter des Central Committee of Jews from Austria in Israel, des ➤ Committee for Jewish Claims on Austria, der ➤ World Jewish Restitution Organisation und des ➤ World Jewish Congress angehören. Die Beschlagnahme zweier Bilder von Egon Schiele während einer Ausstellung der Sammlung Leopold Anfang Jänner 1998 in New York mit dem Verdacht auf „Raubgut“ löste in Österreich eine heftige Debatte über den Verbleib von Kunstwerken, die zwischen 1938 und 1945 enteignet worden waren, in österreichischen Museen aus. Es wurde rasch deutlich, dass sich trotz der in der unmittelbaren Nachkriegszeit erlassenen Rückstellungsgesetze und auch teilweise erfolgter Rückstellungen heute noch immer viele während der NS-Zeit enteignete Kunstgegenstände im Besitz österreichischer Bundesmuseen befinden. Um zu klären, auf welchem Weg diese Kunstschätze in den Besitz des Bundes gelangten und wer die rechtmäßigen BesitzerInnen dieser Objekte sind, wurde von der Bundesministerin für Unterricht und kulturelle Angelegenheiten Elisabeth Gehrer im Februar 1998 eine Kommission für Provenienzforschung im Bundesdenkmalamt und in den Bundesmuseen eingerichtet. Diese Kommission begann in den folgenden Monaten mit der Feststellung der Herkunft mehrerer tausend Kunstgegenstände in den österreichischen Bundesmuseen. Ein im Dezember 1998 erlassenes Bundesgesetz sollte die Rückgabe von Kunstgegenständen aus den österreichischen Bundesmuseen und Sammlungen regeln, die entweder „im Zuge von Verfahren nach dem Ausfuhrverbotsgesetz zurückbehalten wurden und als ‚Schenkungen‘ oder ‚Widmungen‘ in den Besitz der österreichischen Museen und Sammlungen eingegangen sind“, oder die „zwar rechtmäßig in das Eigentum des Bundes gelangt sind, jedoch zuvor Gegenstand eines Rechtsgeschäftes gewesen sind, das nach den Bestimmungen des so genannten Nichtigkeitsgesetzes aus dem Jahre 1946 nichtig ist“, bzw. „die trotz Durchführung von Rückstellungen nicht an die ursprünglichen Eigentümer oder deren Rechtsnachfolger von Todes wegen zurückgegeben werden konnten und als herrenloses Gut in das Eigentum des Bundes übergegangen sind“. Im Dezember 1998 wurde außerdem ein RückgabeBeirat eingesetzt, der den Wirtschaftsminister, den Verteidigungsminister und die Kulturministerin in der Frage der Rückstellung von Kunstobjekten an rechtmäßige BesitzerInnen bzw. deren ErbInnen zu beraten hat. Im Februar 1999 legte der Beirat einen ersten Bericht vor über im Bundesbesitz befindliche Kunstschätze der Rothschild-Sammlung, die in der Folge zurückgestellt wurden. Weitere Rückstellungen enteigneter Kunstobjekte sollen noch im Laufe des Jahres 1999 erfolgen. Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 131 „Bei uns werden alle berücksichtigt“ Interview mit Hannah Lessing Wie ist die Gründung des ➤ Nationalfonds zustande gekommen, auf wessen Initiative und Betreiben hin? Lessing: Geredet hat man schon lange darüber, aber plötzlich ist alles sehr rasch ins Laufen gekommen. In einem Club 2, 1988, hat ➤ Albert Sternfeld gemeint, dass wir in zehn Jahren immer noch kein Resultat haben werden. Man hat schon damals dauernd danach gefragt, wann jetzt endlich etwas passiert. 1991 hat Franz Vranitzky in einer Rede von geplanten Aktivitäten gesprochen, die Grünen haben 1992, 1993 ebenfalls Forderungen in dieser Richtung gestellt. Sicher ist Sternfeld ein Faktor und ebenfalls die Friedensinitiative von ➤ Döllersheim, als man überlegt hat, wie es zu bewerkstelligen ist, dass man einfach allen Opfern irgendwie hilft. Warum es dann plötzlich wirklich zu der Fünf-Parteien-Einigung gekommen ist, ist relativ unklar. Aber es waren dann im Parlament alle so weit, dass sie gesagt haben, jetzt machen wir das. Es haben sich nur die Grünen wegen der gesetzlich festgesetzten Höhe der Summe, die ausbezahlt werden soll, nicht einverstanden erklärt. Hinzu kam noch, dass die Präambel zum Gesetz, in der die Mitschuld der Österreicher an NSVerbrechen anerkannt wurde, abgelehnt worden ist, hauptsächlich von der ÖVP. Worin liegen die Zielsetzungen und zentralen Aufgaben des Fonds? Durch die Errichtung des Nationalfonds soll die moralische Mitverantwortung und das Leid, das den Menschen in Österreich durch den Nationalsozialismus zugefügt wurde, anerkannt werden und den Opfern in besonderer Weise Hilfe zukommen, wobei wir natürlich wissen, dass das zugefügte Leid nicht wieder gut gemacht werden kann. Das ist wirklich eine der Hauptzielsetzungen des Fonds. Aus der Sicht der Mitarbeiter des Fonds war neben der materiellen Geste, die uns vom Gesetz vorgegeben ist, entscheidend, dass dieser Versöhnungsversuch wesentlich stärker im Vordergrund steht. Darum der Parteienverkehr, die Möglichkeit, bei uns zu reden, zu weinen, zu brüllen, zu schreien, die Möglichkeit, uns immer anzutreffen, telefonisch, per Fax, persönlich. Ich habe auf meinen Dienstreisen Kontakt mit den Menschen gesucht, bei Veranstaltungen mit mehr als 700 Leuten, das ist wirklich wichtig für uns. Ich sag’s auch immer wieder in Vorträgen, dass ich meine, dass der Fonds von unserer Seite, von den Mitarbeitern und auch nach der Auffassung von Nationalratspräsident Fischer, ein Versuch der Versöhnung ist. Und wir sind wirklich jeden Tag erstaunt, wie gut unsere Arbeit ankommt, wie die Leute reagieren, dass sie froh sind, dass man überhaupt mit ihnen spricht! Es ist beschämend, aber so ist es. Und auf dieser Basis arbeiten wir heute weiter. Für welche Opfergruppen ist der Fonds zuständig und für welche nicht? Einerseits gibt es das Gesetz, das 70.000 Schilling pro Person für alle Opfer des Nationalsozialismus vorsieht, und andererseits, was aus diesem Gesetz gemacht worden ist auf der menschlichen Ebene: der Versuch der Versöhnung, Brücken zu schlagen, den Leuten wirklich zeigen, dass wir da sind, dass wir ihre Anliegen ernst nehmen. Im Gegensatz zur ➤ MA 12 1 sind bei uns alle Opfergruppen berücksichtigt, d.h. auch die Homosexuellen, die Zeu- 132 Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 Interview mit Hannah Lessing gen Jehovas und die sogenannten „Asozialen“. Das sind die großen Gruppen, die bei der MA 12 nicht berücksichtigt sind. Bei den „Asozialen“ haben wir z.B. einen sehr schönen Erfolg gehabt: Wir haben im Nationalfonds die ehemaligen „Kinder vom ➤ Spiegelgrund” 2 anerkannt. Sie sind dann in der Folge auch von der MA 12 anerkannt worden. Diese Kinder bekommen heute eine Opferrente. Das einzige Problem, das ich noch sehe, ist, dass die Opfer vielleicht noch nicht wirklich realisiert haben, ist, dass sie in der Opferfürsorge weiterhin nicht unter dem anerkannt sind, als was sie damals verfolgt wurden, nämlich als sogenannte „Asoziale“. Sie wurden jetzt unter die Gruppe der Behinderten gefaßt, was wirklich absurd ist. Sie sind vielleicht behindert aus diesen „Heimen“ herausgekommen, nachdem sie z.B. mit Schwefel gespritzt worden sind, aber sie sind damals als „Asoziale“ verfolgt und interniert worden. Ich weiß, dass es immer wieder an verschiedenen Opfervertretungen scheitert; besonders die Freiheitskämpfer sagen, „Asoziale sind eben Verbrecher“. Es ist ein Faktum, dass zwischen den Opfergruppen immer wieder solche Streitigkeiten bestehen, und ich versuche mich so wenig wie möglich einzumischen. Aber in puncto Recht muß hier einfach etwas geschehen. Hier geht es um wirkliche Opfer, die in Kinder-KZs waren. Denen muss man helfen, und jetzt haben die meisten eben eine Opferrente. Das sind Opferrenten für Invalidität etc. Sie haben nicht nur die ➤ Amtsbescheinigung 3 für Emigration oder für Verfolgung, sondern es wurde anerkannt, dass der Spiegelgrund einem KZ gleichzustellen ist. Das ist zwar wenig, trotzdem haben sie jetzt teilweise wirklich eine wesentliche Verbesserung ihrer Lebensqualität. Viele dieser Menschen haben es nie geschafft, ein wirkliches Leben aufzubauen, viele von ihnen waren später HilfsarbeiterInnen, sind heute fast alle MindestrentnerInnen. Ein weiterer Unterschied ist, dass die MA 12 die Witwen von Opfern immer schon anerkannt hat. Wir haben das erst vor zwei Jahren gemacht, weil es bei uns immer es hieß: nur direkt Betroffene. Ich habe das immer ein bißchen seltsam gefunden, denn ich möchte nicht wissen, wie das ist, in einem kleinen Dorf zu leben, wenn der Mann damals etwa als Widerstandskämpfer hingerichtet wurde und keine Lebensmittelkarten da waren. Aber im Allgemeinen ist es eher so, dass bei uns mehr anerkannt ist als bei der MA 12. Das sind ganz zwei verschiedene Einrichtungen. In der MA 12 bekommen erstens nur österreichische Staatsbürger einen ➤ Opferausweis oder eine Amtsbescheinigung, und nur Amtsbescheinigungsbesitzer bekommen eine Opferrente. Die Opferfürsorge hat mehr als 40 Novellen erlebt, z.B. waren ➤ Shanghai und Mauritius lange Zeit nicht als ➤ Getto anerkannt usw. Das Opferfürsorgegesetz ist ja immer stückerlweise erweitert worden. Wer leistet die Arbeit des Fonds? Wie sieht die personelle Zusammensetzung aus? Repräsentiert wird der Fonds von einem Kuratorium, das sind 21 Mitglieder, dem u.a. die drei Nationalratspräsidenten, der Bundeskanzler, der Vizekanzler, der Außenminister, VertreterInnen der einzelnen Parlamentsfraktionen und anerkannte Persönlichkeiten des öffentlichen, kulturellen und wissenschaftlichen Lebens Österreichs angehören, sowie VertreterInnen der betroffenen Opfer (u.a. Erika Weinzierl, Paul Grosz, ehemaliger Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde, Superintendentin Gertraud Knoll und Weihbischof Helmut Krätzl). Das Personal besteht aus einer Generalsekretärin, zwei Referentinnen, einer Juristin, einer Büroleiterin, die das Sekretariat mit drei Sekretärinnen leitet, und sechs WerkstudentInnen. Ihre Aufgabe liegt im Parteienverkehr sowie in der Bearbeitung und Prüfung der Fragebögen, die ich dann nur mehr überblicksmäßig kontrollieren muss. Wie macht sich der Fonds seiner Zielgruppe bekannt, im In- und Ausland? Wir haben keine Inserate geschaltet, sondern zum Glück in den Medien sehr gute Verbündete gefunden, es ist ja auch unter Anführungszeichen eine „schöne Geschichte, weil wir sind sehr stolz auf das, was wir tun“ – spät, aber doch. Ich war viel im Fernsehen, und es stand auch viel in den Zeitungen. Immer wieder zu bestimmten Anlässen, z.B. am 5. Mai, aus Anlass des „Gedenktages gegen Gewalt und Rassismus im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus“. Immer wieder haben sich dann doch ehemalige Opfer gemeldet. Einerseits, weil sie vorher von uns nicht gewusst haben, oder andererseits, weil sie bisher Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 133 Bei uns werden alle berücksichtigt N AT I O N A L F O N D S D E R R E P U B L I K Ö S T E R R E I C H F Ü R O P F E R D E S N AT I O N A L S O Z I A L I S M U S Am 1. Juni 1995 wurde im Nationalrat das Bundesgesetz über den Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus verabschiedet. Repräsentiert wird der Nationalfonds von einem 21köpfigen Kuratorium, dem u.a. die drei Nationalratspräsidenten, der Bundeskanzler, der Vizekanzler, der Außenminister, Vertreter der einzelnen Parlamentsfraktionen und anerkannte Persönlichkeiten aus dem öffentlichen, kulturellen und wissenschaftlichen Leben sowie VertreterInnen der Betroffenen angehören. Zur Generalsekretärin des Fonds wurde Frau Mag. Hannah Lessing ernannt, die in Zusammenarbeit mit weiteren acht MitarbeiterInnen und mehreren WerkstudentInnen die Aufgaben des Fonds, wie Bearbeitung der Anträge, Öffentlichkeitsarbeit, Personenverkehr, Recherche etc., durchführt. Das Ziel des Fonds liegt darin, die moralische Mitverantwortung Österreichs an den nationalsozialistischen Verbrechen anzuerkennen und die besondere Verantwortung gegenüber den Opfern zum Ausdruck zu bringen. Somit sind die Leistungen des Fonds vor allem auch als moralische Geste zu verstehen. Die Leistungen des Fonds – primär einmalige Geldleistungen zwischen 70.000 und 210.000 Schilling – werden insbesondere an Personen im In- und Ausland vergeben, die bisher keine oder nur eine völlig unzureichende Leistung durch die Opferfürsorge erhalten, die in besonderer Weise der Hilfe bedürfen oder bei denen eine Unterstützung aufgrund ihrer Lebenssituation, z.B. bei Krankheit, gerechtfertigt erscheint. Dazu gehören Personen, die aus politischen Gründen, aus Gründen der Abstammung, Religion, Nationalität, der sexuellen Orientierung, aufgrund einer körperlichen oder geistigen Behinderung oder aufgrund des Vorwurfes der sogenannten „Asozialität“ verfolgt wurden, die auf andere Weise Opfer typisch nationalsozialistischen Unrechts geworden sind oder das Land verlassen haben, um einer solchen Verfolgung durch das nationalsozialistische Regime zu entgehen. Bis 31. Dezember 1998 erfolgten rund 25.000 Auszahlungen an Opfer des Nationalsozialismus oder deren Hinterbliebene. Weiters kann der Fonds auch Projekte unterstützen, die den Opfern des Nationalsozialismus zugute kommen oder der wissenschaftlichen Erforschung des Nationalsozialismus und des Schicksals seiner Opfer dienen, an das nationalsozialistische Unrecht erinnern oder das Andenken der Opfer wahren. nicht wollten oder kein Interesse hatten, doch dann haben sie sich trotzdem dafür entschieden. Im Ausland haben wir uns durch meine Reisen bekannt gemacht. Ich war bis jetzt in Australien, Amerika, Israel, Frankreich und England. Da habe ich auch sehr viele Pressekonferenzen und Fernsehinterviews gegeben. In Israel war es ein Vorteil, dass ich Hebräisch spreche und daher auch die Menschen überzeugen konnte, dass man uns „vertrauen“ kann. Die Vertrauensbasis ist für uns sehr wichtig. Gibt es eine Zusammenarbeit mit anderen in- und ausländischen Organisationen und Verbänden? Ja, einerseits natürlich mit den Vertretungsbehörden, Botschaften und Konsulate helfen uns sehr. Zu manchen Ländern ist der Kontakt besonders intensiv, zum Beispiel zu England und zu Israel. Dort gibt es auch eine gute Sozialabteilung, und die kümmern sich um Staatsbürgerschaften und Pensionen und sind wirklich sehr bemüht, Amerika auch, also zu den drei großen Ländern, wo heute noch viele betroffene Menschen leben. Im Inland arbeiten wir mit allen Opfervertretungen zusammen, eben mit den verschiedenen Roma-Organisationen, mit den ➤ KZ-Verbänden und Freiheitskämpfer-Verbänden, mit der ➤ Kultusgemeinde, mit den ZeugInnen Jehovas usw. Wir sind natürlich sehr intensiv mit den verschiedenen Ämtern in Kontakt, mit der ➤ MA 61,4 ➤ MA 85 und MA 12, die die Vorakten haben. Die Opfer sind aber auch untereinander anscheinend sehr in Kontakt. Gerade in Südamerika haben wir eigentlich kaum recherchieren müssen, wir haben gleich am Anfang enorm viele Anfragen bekommen. Die Frage ist jetzt, ob wir glauben, dass noch irgendwo jemand sitzt, den wir nicht gefunden haben. Wir haben aber etwa in Argentinien z.B. 400 Antragsteller, sie sind sowohl über die Botschaften als auch über die jüdischen Kultusgemeinden organisiert, es sind ja hauptsächlich jüdische Opfer im Ausland. Dort wüssten die Konsulate und die Botschaften vermutlich, wenn sie jemanden noch nicht gefunden hätten. Ein Land, das problematisch ist, ist höchstwahrscheinlich England, weil dort zum Teil viele sehr kleine Kinder mit Kindertransporten hinübergekommen sind, die ihre Eltern im KZ verloren haben und von englischen Familien aufgenommen wurden. Sie haben ihre österreichischen und ihre jüdischen Wurzeln 134 Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 Interview mit Hannah Lessing verloren. Sie werden sich in keiner jüdischen Zeitung angesprochen fühlen und erkennen, dass es jetzt einen Fonds gibt, der für sie zuständig ist. Es kommt darauf an, in welchem Bewusstsein diese Kinder aufgewachsen sind und ob sie von ihren Pflegeeltern darüber informiert wurden, dass sie jüdische Kinder sind, die geflohen und eigentlich Österreicher sind. Wie man sie erreichen könnte, weiß ich bis heute nicht. Wir werden sicher jetzt einmal versuchen, mit der Pensionsversicherung Listen zu vergleichen. Wir haben jetzt noch AntragstellerInnen dazu bekommen, weil sich manche aufgrund des ➤ Mauerbach-Fonds an die Kultusgemeinde gewendet haben, die bisher bei uns nicht erfasst waren. Wir haben sie dann angeschrieben und gefragt, ob wir ihnen irgendwelche Unterlagen zukommen lassen können usw. Da versuchen wir wirklich auch weiterhin aktiv zu bleiben. Wie viele Anträge sind pro Jahr vom zur Verfügung stehenden Personal zu bearbeiten? Im ersten Jahr, im Oktober 95, da haben wir 200 Anträge bearbeitet, aber im nächsten Jahr waren es über 8000, je nach Budget eben. Im 96er Jahr haben wir 600 Millionen voll ausgeschöpft mit über 8000 Anträgen, im 97er Jahr ebenfalls, 1998 haben wir 500 Millionen voll ausgeschöpft. Das waren 7000 Anträge. Wie sieht der Kontakt zwischen den AntragstellerInnen und dem Fonds aus? In den ersten Monaten haben wir zwei volle Postsäcke pro Tag erhalten – zehn Kilo schwer. Wir haben an die 200 bis 300 Anträge pro Tag hereinbekommen. Daher haben wir im ersten Monat auch überhaupt niemandem bestätigen können, dass sein Antrag da ist. Wir haben von acht Uhr früh bis zwei Uhr nachts durchgearbeitet, weil wir auch nicht bereit waren, jede Woche nur 100 Fragebögen auszuschicken. Wir hatten am Anfang 10.000 Adressen, und an die haben wir innerhalb von einer Woche alle Fragebögen geschickt. Und so sind sie dann auch zurückgekommen. Im ersten Jahr ein geringer Teil, 1996 und 1997 waren dann die intensivsten Jahre. Das Geld ist aber trotzdem auch so bemessen worden, dass man überlegt hat: Wie viele MitarbeiterInnen gibt es, wie viele Anträge könnt ihr bewältigen bei dieser MitarbeiterInnenzahl? Wissend, dass wir nicht zwei Milliarden innerhalb eines Jahres bekommen werden, hat man es einfach vernünftig aufgeteilt. 600 Millionen pro Jahr ist nicht wenig. 1998 waren es 500 Millionen, und jetzt sind es 150 Millionen, weil natürlich weniger Anträge eintreffen. Nochmals zurück zum Kontakt mit den AntragstellerInnen: Wie gesagt, je nachdem, wo sie leben oder ob sie gerade in Wien auf Urlaub sind, können sie hierher kommen, viermal in der Woche von 9 bis 12, Montag bis Donnerstag. Meistens erzählen sie einfach ihre Geschichte, der Fragebogen ist ja relativ schnell ausgefüllt, aber wir haben die Erfahrung gemacht, dass die meisten Leute dann doch sehr gern eine halbe Stunde bis Stunde einfach reden. Sie wollen reden, und sie kommen auch immer wieder, der Kontakt ist rege. Diese Menschen brauchen einfach eine Anlaufstelle für ihre Sorgen, und wir waren eben die erste Anlaufstelle, und wir sind bereit, diese Menschen mit all ihren Sorgen und Krankheiten einfach so zu nehmen, wie sie sind, und wirklich da zu sein für sie. Denn dieser Kontakt macht den Unterschied. Wir wollen jetzt z.B. eine Aktion starten, dass wir in jedem Fragebogen die letzte Wohnadresse raussuchen, den Betroffenen dieses Haus fotografieren und das Foto schicken. Ich weiss, dass viele Leute immer noch von ihrem alten Haus träumen. Es sind einfach so kleine Sachen, die kosten nicht viel, sind kein großer, nur ein bißchen Mehraufwand und wieder eine Kontaktaufnahme. Wir sehen oft, dass Menschen, denen wir geschrieben haben, sehr positiv reagieren und sich freuen, dass es nicht nur mit den 70.000 Schilling endet, sondern, dass wir sie weiter informieren. Das ist der Kontakt, der meiner Meinung nach sehr wichtig ist. Wir sind natürlich auch öfter damit konfrontiert, dass wir etwas ausgelöst haben, das wir nicht kontrollieren und schon gar nicht heilen können. In solchen Fällen versuchen wir irgendwie, die Leute dazu zu überreden, sich im ➤ ESRA6 oder im PSD 7 zu organisieren. Denn manchmal gibt es wirklich Zusammenbrüche. ESRA ist für uns eine sehr wichtige Institution. Dort besteht die Möglichkeit zu Einzel- oder Gruppentherapie auf Krankenschein, und es gibt mittlerweile eine eigene Gruppe für die „Kinder vom Spiegelgrund“; wir machen dort auch unsere Supervision. Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 135 Bei uns werden alle berücksichtigt Wie erfolgen Antragstellung auf etwaige Entschädigungszahlungen (Betreuung, Fristen, Verfahrensdauer) und deren Bearbeitung? Der Fragebogen ist relativ einfach auszufüllen. Die Betreuung erfolgt wie gesagt im Parteienverkehr oder telefonisch oder andernfalls durch die Botschaften oder Konsulate, die auch beim Ausfüllen helfen. Einreichfristen gibt es keine. Die Verfahrensdauer hängt vom Alter und vom Krankheitszustand der Antragsteller ab. Wir haben bis jetzt nach Altersgruppen ausbezahlt, d.h. wenn zum Beispiel jetzt, wo wir den Geburtsjahrgang 1942 auszahlen, ein/e 1917 Geborene/r einreicht, wird sein/ihr Antrag natürlich sofort bearbeitet. Wenn wir alle Unterlagen haben, wird er/sie in der nächsten Komiteesitzung bearbeitet. Komiteesitzungen gibt’s im Prinzip alle sechs Wochen, und dann dauert es meistens aufgrund der langwierigen Bankwege noch einmal acht Wochen, bis der/die Antragsteller/in sein/ihr Geld erhält. Prinzipiell kann die Frist jedoch sehr kurz sein. Aber es kann auch sein, dass ein/e 1944 Geborene/r im Dezember 1995 bei uns eingereicht hat, der/die gesund ist und kein Sozialfall und daher nicht vorzuziehen ist. Er/sie kommt eben erst jetzt an die Reihe. Die Verfahrensdauer kann also datumabhängig sein oder auch nicht, je nachdem, ob wir die entsprechenden Dokumente finden. Wir haben teilweise Fälle, die seit einem Jahr in der Recherche sind. Das betrifft Menschen, die überhaupt keine Dokumente mehr haben, die aus Dörfern stammen, wo alle Archive zerstört worden sind, wo wir einfach nach Anhaltspunkten suchen, um diese Geschichte plausibel zu rekonstruieren. Einen Fall, der nicht durchgehend dokumentierbar ist, versuchen wir über intensive Recherchen zumindest plausibel zu machen. Falls kein Amt mehr Unterlagen zur Verfügung hat, geben wir nicht auf, sondern wir machen die absurdesten Recherchen und suchen mit den Antragstellern zusammen nach Anhaltspunkten, wo wir weitersuchen könnten. Ein Beispiel für ausgefallene Recherchen: Wir konnten anhand der Jahrbücher des Wiener Eislaufvereins nachweisen, dass eine Dame damals dort aktives Mitglied war, also auch ihren Wohnsitz in Wien hatte. Wir akzeptieren aber auch Straßenbahnkarten, die manche aufgehoben haben. Es sind hauptsächlich WerkstudentInnen, die diese Recherchen machen. Worin liegen die speziellen Probleme in der Praxis der Bearbeitung von Anträgen? Wenn ein/e Antragsteller/in auch nach mehrmaligen Rückfragen nicht bereit ist, uns mit Anhaltspunkten irgendwie entgegenzukommen, dann lehnen wir das nach einem Jahr oder zwei Jahren ab. Manchmal kann eine Recherche schon ein, zwei Jahre laufen. Aber irgendwann einmal muss der Akt fertig gemacht werden, weil es auch keinen Sinn hat, wenn wir einfach keine Anhaltspunkte finden. Wir brauchen zum Beispiel den Namen der Eltern oder den genauen Geburtsort, damit wir uns an die entsprechenden Archive wenden können. Wenn man uns keine Geburtsdaten und Namen gibt, können wir nichts machen. Und das ist nicht böswillig, wir können es einfach nicht. Schwierig ist es auch, wenn die Leute zu alt oder zu krank sind oder sich nicht mehr erinnern können. Ihre Kinder sind aber meistens sehr kooperativ. Häufig genügen auch zwei Zeugenaussagen, um eine Darstellung plausibel zu machen. Es ist aber manchmal wirklich schwierig, denn wenn jemand 95 Jahre alt ist, ist auch die Anzahl an ZeugInnen schon sehr gering. Aber es ist nicht so, dass wir in solchen Fällen prinzipiell ablehnen oder abgelehnt haben. Von insgesamt 28.000 eingereichten Anträgen wurden bis jetzt 1600 abgelehnt. Wobei sehr viele dieser Ablehnungen daraus resultieren, dass die Antragsteller gar nicht anspruchsberechtigt sind, wie jemand, der/die 1965 geboren ist und mit Spätfolgen argumentiert, oder ein Wehrmachtssoldat, der meint, er sei ein Opfer gewesen, oder jemand, dem man 1942 sein Motorrad geklaut hat. Wird bei Zahlungen zwischen einzelnen Opfergruppen unterschieden? Bei uns gibt es keine Unterscheidung zwischen den Opfergruppen. Bei mir gibt es kein rotes J, keinen schwarzen oder roten Winkel. 70.000 Schilling für jeden, und wer Sozialfall ist, kann bis zum Dreifachen bekommen. Der Sinn des Nationalfonds war, dass man dieses Mal gesagt hat, es soll eine Direkthilfe sein, und daher ist das Geld nicht für Organisationen bestimmt. Es wird zwar durch Projekte, die wir unterstützen, auch etwas an Organisationen gezahlt, aber prinzipiell galt immer die Maxime der Individualzahlungen. Und ich glaube, auch 136 Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 Interview mit Hannah Lessing deswegen ist der Fonds so gut angekommen, weil das die erste Organisation ist, die wirklich Individualzahlungen macht, wo das Geld wirklich zum Opfer direkt aufs Konto kommt. Österreich hat zwar viele Projekte unterstützt, in Israel Altersheime ausgebaut usw., aber das kam nicht den einzelnen Opfern zugute. Wir haben aber von Anfang an wirklich immer betont, dass es eine symbolische Geste für alle Opfer sein soll. Wir bewerten kein Leid, das ist auch nicht möglich, etwa jenes derer, die im KZ waren, derer, die jetzt wieder die österreichische Staatsbürgerschaft erhalten haben, die durch die Amtsbestätigung ihr Leid bescheinigt bekommen haben. Also ich finde es fürchterlich, und ich glaube auch nicht, dass man etwas machen kann. Es ist nämlich aufgrund der Erfahrung, die wir hier gemacht haben, öfter zu sehen gewesen, dass jemand, der das KZ zum Beispiel überlebt hat, recht gut damit umgehen kann und eigentlich dadurch sehr stark geworden ist, dass aber andere Menschen an der Emigration zerbrochen sind. Man kann einfach nicht beurteilen, wer mehr gelitten hat. Wie sieht das Verhältnis zwischen den Antragstellungen und den tatsächlichen Zahlungen aus? Insgesamt sind ca. 28.000 Fragebögen eingelangt, Zahlungen sind bis 25. April ca. 25.881 erfolgt. Ja, wir haben 30.000 Adressen im Computer. Es passiert auch, dass sich einige Leute gemeldet haben, die keinen Anspruch haben, das wird sich erst herausstellen. Wir sammeln einfach Adressen und bekommen immer wieder neue Namen. Wie viele Opfer konnten bisher erfasst werden, wie viele Opfer sind Ihrer Einschätzung nach noch nicht vom Fonds erfasst? In welchem Ausmaß sind die Anträge in den Jahren seit der Gründung des Nationalfonds 1995 zurückgegangen? Erstens besteht die Frage, wen definieren wir jetzt als Opfer, welche Gruppen sind bisher noch nicht berücksichtigt, welche sind noch nicht vom Gesetz gedeckt? Zum Beispiel gibt es eine benachteiligte Gruppe, die wir vielleicht jetzt aufnehmen werden: alle aus Deutschland Geflohenen, die 1933 nach Österreich gekommen sind. Sie waren deutsche Staatsbürger, sind in ein deutschsprachiges Land geflohen und 1938 weiter vertrieben worden. Diese Gruppe ist weder bei uns erfasst noch in der deutschen Opferfürsorge. Aber es ist fast unmöglich einzuschätzen, wieviele dieser Menschen noch nicht erfasst sind. Einerseits jene, die noch nicht vom Nationalfonds wissen, das, glaube ich, sind aber eher wenige, jene, die nicht wollen, das sind sicher noch ein paar, aber auch nicht viele, weil wir sehr viel Überzeugungsarbeit geleistet haben. Wir haben uns nicht einfach damit zufriedengegeben – „wer sich nicht meldet, will nicht“ –, sondern wir haben wirklich Aufrufe gemacht. Auch im Fernsehen über „Hallo Austria, hallo Vienna“, dreimal bis jetzt. Wie viele nach dem Gesetz Anspruchsberechtigte gar nicht eingereicht haben, ist relativ unklar, aber wir schätzen, dass es so um die 1000 sind. Wir haben am Anfang Hunderte von Anträgen pro Tag erhalten, jetzt sind es ca. 20 in der Woche, das ist aber nicht wenig. Auch in Österreich haben sich jetzt noch sehr viele Hinterbliebene gemeldet. Wie sind die Zahlungen des Fonds zu verstehen, als Entschädigungsleistung, als Wiedergutmachung, als fürsorgerische Maßnahme, als „moralische Geste“, als „Tropfen auf dem heißen Stein“? In unseren Papieren, Vorträgen usw. wird nie von Wiedergutmachung oder Entschädigung gesprochen. Es ist eine symbolische, moralische Geste der Republik. Wir waren immer ehrlich und haben gesagt, es ist nicht als Entschädigung oder als Wiedergutmachung zu sehen, weil auch nichts wieder gut gemacht werden kann und weil auch eine Million mir meine Großmutter nicht aus Auschwitz zurückbringt. Es war das, was zu der Zeit an Budgetmitteln möglich war, um so viele Menschen wie möglich zu erreichen und ihnen doch ein wenig zu helfen. Es gibt wirklich genügend Menschen, für die 70.000 Schilling wahnsinnig viel Geld ist. Und wenn jemand wirklich sozial bedürftig ist – wie zum Beispiel ein Mann, der viele Jahre querschnittgelähmt ist, in einem Haus wohnt, in dem es keinen Aufzug gibt, und jetzt sind in Israel die Betreuungsstunden zurückgeschnitten worden und er Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 137 Bei uns werden alle berücksichtigt wird nicht mehr betreut, er sitzt jetzt einfach nur mehr in seiner Wohnung und kann sich mit dem, was er hat, keine Hilfe leisten –, jetzt unterstützen wir ihn als Sozialfall, um irgendwie den Bau eines Aufzuges zu ermöglichen. Wenn ein Aufzug dort ist, dann ist seine Lebensqualität um 1000 Prozent gestiegen. Das sind eben die Sachen, die wir versuchen. Das ist dann schon mehr als eine moralische Geste, aber es ist auf keinen Fall Wiedergutmachung oder Entschädigung. Und natürlich ist es ein Tropfen auf dem heißen Stein, wenn man bedenkt, zu welchen Ergebnissen höchstwahrscheinlich die Historikerkommission kommen wird, bezüglich dessen, was alles geraubt worden ist. Wird der Nationalfonds in Zukunft mögliche Zahlungen an ehemalige ZwangsarbeiterInnen übernehmen? Alles ist startbereit. Ich habe hier bereits Adressen von fast allen Überlebenden in Russland, mit Angaben der Bauern, wo sie gearbeitet haben, von wann bis wann etc. Natürlich bin ich mit der Organisation in der Russischen Föderation in Kontakt, ebenso mit der Ukraine. Es ist uns jetzt mit Hilfe der Grünen und der Liberalen gelungen, das Gesetz zu ändern, so dass wir von jedem Rechtsträger Geld annehmen dürfen, ohne vertraglich verpflichtet zu sein, nur an die jeweiligen Opfergruppen, die er mir definiert, auszuzahlen. Allerdings wird das unter Umständen Einzel- oder ➤ Sammelklagen gegen diese Firmen nicht verhindern können. Das ist meiner Meinung nach der größte Problempunkt. Ein weiterer entscheidender Grund für die Verzögerung liegt auch darin, dass jetzt Wahlzeit (Herbst 1999) ist. Es ist nicht sehr populär, in Zeiten von Sparpaketen Milliarden von Schillingen an frühere Zwangsarbeiter zu zahlen. Meiner Meinung nach wird die Regierung trotzdem einen Großteil dessen zahlen müssen. Die Firmen werden nicht bis zu fünf Milliarden aufbringen können. Ich rechne mit über 100.000 Überlebenden. Wenn jeder 35.000 Schilling bekommt, dann haben wir 3,5 Milliarden, mit administrativen Kosten usw. kommen wir auf 4 Milliarden. Ich glaube nicht, dass die großen Firmen das allein aufbringen können. Die kleinen Firmen schon gar nicht, es darf nicht existenzbedrohend sein für eine Firma, das Ganze hat keinen Sinn, wenn dann Arbeitsplätze auf dem Spiel stehen. Ein Großteil der ZwangsarbeiterInnen war in der Landwirtschaft tätig, wer zahlt für diesen Bereich? Zwar laufen die Klagen über die Landwirtschaftskammer, aber trotzdem wird der Staat zahlen müssen. Und ich glaube, das ist sozusagen der Bremsfaktor. Ich versuche das jetzt in der Öffentlichkeit so darzustellen, dass es kein Wahlkampfthema sein müsste, wenn man den Fonds mit dieser Gesetzesänderung den Firmen als Instrument der Verteilung anbietet. Dann wäre schon einmal ein Anfang gemacht. Ich kann die Schuld einer Firma nicht bemessem und ich werde das auch nicht tun. Ich werde jedes Geld annehmen, und da bin ich mir nicht zu schade und sage einfach: „Danke schön, ich werde es verteilen.“ Weil jeder Groschen, den wir erhalten, kommt den Opfern zugute. Ob das jetzt die Schuld der Firma wett macht, ist für mich nicht so wichtig. Der Fonds ist ein reines Verteilungsinstrument und eine Anlaufstelle für die Opfer. Und je mehr Geld ich habe, desto mehr kann ich den Opfern helfen. Mag. Hannah Lessing ist Generalsekretärin des „Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus“ 1 2 3 Magistratsabteilung 12: Sozialamt der Stadt Wien, inkl. Opferfürsorgereferat; in den Bundesländern liegt die Zuständigkeit bei den Sozialreferaten der einzelnen Bezirkshauptmannschaften bzw. der Bezirksämtern; die Tätigkeit sowohl der MA 12 als auch der Sozialreferate der Länder basiert auf dem Opferfürsorgegesetz. „Am Spiegelgrund”: Auf dem Gelände der Heil- und Pflegeanstalt „Am Steinhof“ waren während der NS-Zeit drei Einrichtungen zur Internierung von Kindern und Jugendlichen untergebracht; siehe dazu den Artikel von Jana Müller, „Kinder und Jugendliche als Opfer der NS-Verfolgung“, in diesem Band. Vgl. den Text von Brigitte Bailer-Galanda, „Die Maßnahmen der Re- 138 4 5 6 7 publik Österreich für die Widerstandskämpfer und Opfer des Faschismus – Wiedergutmachung“, in diesem Band. Magistratsabteilung 61: Staatsbürgerschafts- und Personenstandsangelegenheiten. Magistratsabteilung 8: Wiener Stadt- und Landesarchiv. ESRA: Initiative zur psychosozialen, sozialtherapeutischen und soziokulturellen Integration; ein Beratungs- und Behandlungszentrum für psychosoziale Probleme und Krankheitsbilder, die durch das Holocaustbzw. Entwurzelungs-Syndrom bedingt sind. Ambulanz/Beratung: 1020 Wien, Tempelgasse 5 A; Tageszentrum: 1020 Wien, Haidgasse 1. PSD: Psychosozialer Dienst der Stadt Wien. Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 Aus den Ministerratsprotokollen 1945–1952 „ICH BIN DAFÜR, DIE SACHE IN DIE LÄNGE ZU ZIEHEN“ ROBERT KNIGHT Auszug aus dem Protokoll der 132. Ministerratssitzung vom 9. November 1948 (unter Verschluß gehalten): Fonds aus erblosem Vermögen Punkt 12 der TO, lit. a): Fonds für Judenvermögen. BM Dr. Zimmermann berichtet anhand der Beilage C über das Begehren amerikanischer Kreise nach Schaffung eines Fonds für verarmte jüdische Rückwanderer. BK: „Wer will das Wort?” BM Kraus: „Im Vortrag steht, daß ungeachtet der nach der Verfassung geltenden Gleichberechtigung diese Maßnahmen gelten sollen. Ich weiß aber nicht, wie gerade jetzt eine Rasse besondere Privilegien bekommen soll. Andere, die nicht weggingen, bekommen keine Unterstützung, die Juden aber sollen eine solche erhalten. Ich weiß, daß die Landwirtschaft bereits im Jahre 46 ein großes Aufbaugesetz sich geschaffen hat. Da aber die Juden Mittel und Fonds bekommen sollen, die wir selbst nicht bekommen, ist die Verwirklichung dieser Gesetze bis jetzt noch nicht möglich gewesen.1 Wichtige Aufgaben wie Instandsetzungen von Schulen und Spitälern usw. können wir nicht aufgeben. Ich stimme diesem beabsichtigten Projekt nicht zu.” BM Übeleis: „Die Bundesbahnen haben 82 Mill. unbezahlte Rechnungen liegen.” 2 BM Dr. Krauland: „In Wien leben derzeit 9000 Juden. Ihre Lage ist ärmlich. Die Angelegenheit ist außerdem auch als staatspolitische zu werten. Daß ihnen geholfen werden soll, soll nicht bestritten bleiben, wenn es notwendig ist. Man muß aber auch auf den Eindruck im In- und Ausland rechnen. Man muß auch mit dem Einfluß der Juden in Amerika rechnen, und dieser Einfluß oder Eindruck muß erwogen werden. Ich will mit meinen Ausführungen nur das Bild ergänzen.” BM Dr. Kolb: „Von dem Reichtum hat Österreich nichts und das Unrecht, das den Juden zugefügt wurde, hat Österreich nicht zugefügt. Österreich und das Großdeutsche Reich, das ist ein Unterschied.” 3 ➤ BM Helmer: „Was den Juden weggenommen wurde, kann man nicht auf die Plattform ‚Großdeutsches Reich‘ bringen. Ein Großteil fällt schon auf einen Teil unserer lieben Mitbürger zurück. Das ist eine Feststellung, die den Tatsachen entspricht. Aber auf der anderen Seite muß ich sagen, daß das, was im Antrag steht, richtig ist. Ich sehe überall nur jüdische Ausbreitung wie bei der Ärzteschaft, beim Handel vor allem in Wien. Eine Separataktion kann man aber nicht durchführen. Die Sache ist aber auch eine politische. Auch den Nazis ist im Jahre 1945 alles weggenommen worden, und wir sehen jetzt Verhältnisse, daß sogar der nat. soz. Akademiker auf dem Oberbau arbeiten muß.” BM Dr. Krauland: „Morgen fährt ➤ Trobe nach Amerika, und da heißt es, was soll geschehen, welche Antwort erhält er?” BM Helmer: „Wir leben nicht mehr im Jahre 1945. Die Engländer bekämpfen jetzt die Juden; die Amerikaner haben auch ihre Verpflichtungen nicht eingehalten. Schon die Grausamkeiten der Juden im PalästinaKrieg haben ihr Echo gefunden. Der Trobe ist auch mit Vorsicht zu genießen. Ich wäre dafür, daß man die Sache in die Länge zieht. Bedenken Sie, so müßte man ihm sagen, wir müssen auf verschiedene Dinge Rücksicht nehmen. Es gibt schon Leute, die das verstehen. Die Juden werden das selbst verstehen, da sie im klaren darüber sind, daß viele gegen sie Stellung nehmen. Man sollte ihm ganz einfach sagen, wir werden schon schauen.” BM Dr. Krauland: „Der gleiche Antrag wurde schon vor 1/2 Jahr eingebracht.” BK: „Dem Antrag wird die Zustimmung im Ministerrat nicht gegeben. Es ist schwer, woher wir die Mittel aufbringen sollen. Im Parlament den Antrag vorzubringen, hätte nur innen- und außenpolitische Schwierigkeiten zur Folge. Außerdem würde hier ein Gegensatz, eine schwere Lage zu den Nationalsozialisten geschaffen werden. Auch ein Nein können wir uns heute nicht leisten. Wir müssen sagen, daß wir momentan in Budgetberatungen stecken. Wir erklären, lassen Sie uns Zeit, damit wir unser Budget in Ordnung bringen und sehen, wo und wie wir Ihnen helfen können. Diese Erklärung können wir Trobe geben, und dann muß man schauen, ob wir nicht in Amerika mehr Mittel aufbringen können.” Aus: Robert Knight: „Ich bin dafür, die Sache in die Länge zu ziehen.“ Die Wortprotokolle der österreichischen Bundesregierung 1945–1952 über die Entschädigung der Juden, Athenäum Verlag, Frankfurt am Main 1988, S. 195–202 1 2 3 Vgl. BGBl. Nr. 175 vom 26. Juli 1946 über Beihilfen zum Wiederaufbau kriegsbeschädigter land- und forstwirtschaftlicher Betriebe (Landwirtschaftliches Wiederaufbaugesetz). Außer dem von Trobe erwähnten Betrag von 400.000 Schilling ist dem Autor keine weitere finanzielle Unterstützung der Kultusgemeinde durch die Regierung bekannt. Der Budgetvoranschlag vom 27. Oktober sah Ausgaben von 6.089,422.100 Schilling und Einnahmen von 6.090,789.900 vor, so daß ein kleiner Überschuß von 1,347.800 Schilling aufschien. Der außerordentliche Aufwand für Wiederaufbau und Investitionen umfaßte Ausgaben von 1.422,250.300 Schilling. Aus dem ERP Counterpart Fonds wurden für die erste Jahreshälfte 1949 1,7 Milliarden Schilling bereitgestellt, u. a. für die Elektrifizierung und andere Investitionen der Bundesbahn eine Zuwendung von 218,930.000 Schilling. Vgl. Kolbs Rede im Nationalrat zum Nichtigkeitserklärungsgesetz vom 15. Mai 1946. Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 139 Interviews mit Mitgliedern der Historikerkommission Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 Historikerkommission Im Herbst 1998 wurde vom Bundeskanzler, dem Vizekanzler, den Präsidenten des Bundesrats und des Nationalrats eine Kommission eingesetzt mit dem Mandat, den Vermögensentzug auf dem Gebiet der Republik Österreich während der NS-Zeit sowie Rückstellungen bzw. Entschädigungen der Republik Österreich seit 1945 zu untersuchen. Damit reagierte die österreichische Regierung auf in- und ausländische Forderungen nach einer vollständigen Aufklärung über den tatsächlichen Umfang der Beraubung verschiedener Bevölkerungsgruppen, insbesondere aber der jüdischen Bevölkerung, durch das nationalsozialistische Regime in Österreich und über das Ausmaß und die Praxis der Rückstellungen in der Zweiten Republik. Die seit dem Herbst 1996 durch ➤ Sammelklagen aus den USA geweckte internationale Aufmerksamkeit bezüglich der Rolle zunächst der schweizerischen, dann auch der deutschen und der österreichischen Banken im Umgang mit ➤ „Raubgold“ und sogenannten „nachrichtenlosen“ Bankkonten sowie der Konflikt um die rechtmäßigen EigentümerInnen von Gemälden und anderen Kunstobjekten, die sich heute im Eigentum der Republik Österreich befinden, haben wesentlich dazu beigetragen, dass nun verschiedene staatliche Institutionen ihre Vergangenheit im Zusammenhang mit diesen Fragen erforschen lassen. So überprüft etwa die Anfang 1998 beim Bundesministerium für Unterricht und kulturelle Angelegenheiten eingerichtete ➤ Kommission für Provenienzforschung die tatsächliche Herkunft von in Bundesmuseen befindlichen Objekten; einige Objekte bzw. Teile von Sammlungen wurden bereits an ihre rechtmäßigen BesitzerInnen bzw. ErbInnen zurückgestellt. Neben der Frage des Vermögensentzugs durch die Enteignung von Firmen, Geschäften, Wohnungen, Mobiliar, durch den Einzug von Bankkonten, den Verfall von Versicherungsund Pensionsleistungen etc. wird von der Kommission auch das Ausmaß der während des Nationalsozialismus zum größten Teil von zivilen AusländerInnen geleisteten Zwangsarbeit untersucht. Auch einige österreichische Unternehmen haben zur Untersuchung ihrer Firmengeschichte zwischen 1938 und 1945 Forschungsteams beauftragt. Die österreichische Historikerkommission besteht aus sechs Mitgliedern und drei ständigen ExpertInnen: ao. Univ.-Prof. Dr. Clemens Jabloner, Mag. Dr. Brigitte Bailer-Galanda, Gen.-Dir. Hon.-Prof. Dr. Lorenz Mikoletzky, Dr. Bertrand Perz, ao. Univ.-Prof. Dr. Roman Sandgruber, Dr. Robert Knight, ao. Univ.-Prof. Dr. Georg Graf, o. Univ.-Prof. Dr. Karl Stuhlpfarrer, Prof. DDr. h.c. Alice Teichova. Rund zwanzig wissenschaftliche MitarbeiterInnen werden für die konkrete Forschungsarbeit der nächsten zwei Jahre hinzugezogen. Obwohl die Einsetzung einer Historikerkommission von vielen Seiten als notwendiger Schritt zur vollständigen Aufklärung des Vermögensentzugs begrüßt wurde, hat sie aber auch Kritik hervorgerufen, etwa hinsichtlich der Gewährleistung der Unabhängigkeit ihrer Forschung und hinsichtlich dessen, ob konkrete Rückstellungen und Entschädigungen an die Opfer von den Ergebnissen der wissenschaftlichen Erforschung abhängig gemacht – und damit wieder um ein paar Jahre verzögert – werden sollen. In Interviews mit Clemens Jabloner, dem Vorsitzenden der Historikerkommission, Bertrand Perz, einem Mitglied der Kommission, und Karl Stuhlpfarrer, einem der drei ständigen ExpertInnen der Kommission, sollen sowohl die Aufgaben und Zielsetzungen der Historikerkommission dargestellt als auch die Problematik solcher Kommissionen diskutiert werden. Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 141 „Wir liefern historische Fakten“ Interview mit Clemens Jabloner Warum werden in Österreich heute – mehr als 50 Jahre nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft – Fragen um Rückstellungen und Entschädigungsleistungen öffentlich diskutiert? Jabloner: Das hat mehrere Gründe. Zum einen gibt es eine Bewusstseinsänderung, zumindest bei den meinungsbildenden Schichten in Österreich. Man will, dass das Land möglichst unbelastet von seiner Vergangenheit in das nächste Jahrhundert gehen kann. Außerdem gibt es neu erschlossene Quellen, ein neues Interesse an zeitgeschichtlicher Forschung, und es gibt eine geänderte Einstellung auch bei den Opfergruppen. Insbesondere bei den vertriebenen und ausgeraubten Juden war es so, dass sie nach dem Krieg oft einfach froh waren, überlebt zu haben, oder mit Österreich überhaupt nichts zu tun haben wollten. Es ist jetzt erst die nächste Generation, die sich hier stärker artikulieren kann. Warum wurde die Historikerkommission eingesetzt? Das Ziel der Historikerkommission ist es, den gesamten Komplex Vermögensentzug auf dem Gebiet der Republik Österreich während der NS-Zeit sowie Rückstellungen bzw. Entschädigungen sowie wirtschaftliche und soziale Leistungen der Republik Österreich ab 1945 zu erforschen und darüber zu berichten. Im Wesentlichen sind das drei große Themenbereiche, nämlich die Formen der Beraubung, besonders die ➤ „Arisierung“ zwischen 1938 und 1945, zweitens das Rückstellungswesen, also die Frage, was die Republik Österreich nach 1945 getan hat, um die Opfer zu entschädigen oder Vermögen rückzustellen, und drittens als eigener Themenkomplex die Problematik der Zwangsarbeiter. Um welche Opfergruppen geht es, wer war davon betroffen? Die Opfergruppen sind vielfältiger, als es zunächst scheinen mag. Es sind in erster Linie die Juden und Jüdinnen, Roma und Sinti, es sind die Slowenen und Sloweninnen in Österreich, aber auch die Angehörigen bestimmter religiöser Gruppen wie die Zeugen Jehovas, Homosexuelle und weitere Gruppen, die ich jetzt vielleicht nicht vorstellig genannt habe, und die Zwangsarbeiter. Werden auch die „TäterInnen“, das heißt diejenigen, die vom Vermögensentzug profitiert oder ihn durchgeführt haben, Gegenstand der Forschung sein? Man muß klarstellen, dass die Historikerkommission kein Gericht ist. Sie untersucht nicht Einzelfälle in dem Sinn, dass am Ende ein gerichtliches Urteil steht. Sie wird sich aber sehr wohl auch mit der Frage auseinanderzusetzen haben, wer denn die Profiteure dieser Entzugsmaßnahmen waren, und wieviel von diesem Vermögen heute noch in den Händen der Profiteure oder eben ihrer Nachfolger ist. 142 Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 Interview mit Clemens Jabloner Wie sieht die Aktenlage aus, nachdem ja in den vergangenen Jahren beispielsweise bei den zuständigen Gerichten Rückstellungsakten teilweise skartiert, also vernichtet worden sind? Ja, die Archivlage ist unübersichtlich. Das heißt, der erste Schritt des Forschungsprojekts besteht darin, zunächst einmal den Zustand und die Vollständigkeit der Archive zu überprüfen. Es kann durchaus sein, dass Gerichtsakten schon skartiert sind, besonders aus dem Oberlandesgerichtssprengel Wien. Man wird erst sehen, ob es noch genug Akten gibt; man kann aber zum Beispiel auch über sekundäre Quellen, etwa über Rechtsanwaltskanzleien, an Akten herankommen. Wie ist der Archivzugang der Mitglieder und MitarbeiterInnen der Historikerkommission auf Länder- und Bundesebene geregelt? Auf Bundesebene ist der Zugang zum Staatsarchiv voll gewährleistet, und das wird auch in einem Gesetz Niederschlag finden, dem Bundesarchivgesetz.1 Wir sind davon geleitet, dass bei allen anderen öffentlichen Archiven, besonders bei den Ländern und Städten, gleiche Einsichtsmöglichkeiten bestehen werden. Ein gewisses Problem sind private Archive. Hier überlegen wir uns vor allem, diese Archive, beispielsweise Firmenarchive, Bankenarchive etc., besser unter Schutz zu stellen, damit keine Akten vernichtet werden können.2 Wir gehen aber grundsätzlich davon aus, dass man uns doch sehr entgegenkommen wird. Für uns ist es auch wichtig, dass in vielen privaten Bereichen ja komplementäre historische Forschungen schon in Gang sind. Das entbindet uns zwar nicht von der Verpflichtung zu forschen, aber wir können zunächst diese Forschungsergebnisse überprüfen, und wenn sie wissenschaftlich in Ordnung sind, kann man auf sie verweisen. Wo bestehen forschungsmäßig die größten Lücken? Das kann ich als Nichthistoriker nicht beantworten, weil es bereits Teil der wissenschaftlichen Arbeit ist, sich darüber einen Überblick zu verschaffen. Was man erst nach und nach erkennt, ist, in welcher Weise das Naziregime auch ein wirtschaftliches Unternehmen war. Diese Zusammenhänge sind nie richtig in den Blickpunkt gekommen. Der relativ kompliziert organisierte Raub, die Ausbeutung – das soll durch die Forschungsarbeit der Historikerkommission klarer werden. Worin liegt der Unterschied zwischen der Historikerkommission und den von Ministerien oder Firmen eingesetzten Forschungsteams? Die Historikerkommission hat einen sehr umfassenden Auftrag, der gewissermaßen alles überwölbt. Die ➤ Provenienzkommission im Unterrichtsministerium beschäftigt sich im Speziellen mit Bildern, das Dorotheum beschäftigt sich mit seiner eigenen Geschichte, die Postsparkasse mit ihrer usw. Wir haben vor allem auch in den Blick zu nehmen, wie die Rechtslage nach 1945 in Österreich war. Uns interessieren weniger spektakuläre Einzelfälle, so interessant und wichtig sie auch sein mögen, sondern uns interessiert der Blick auf den kleinen Mann, auf die kleine Frau, auf die vielen Namenlosen, die das wenige, was sie hatten, verloren haben und denen das dann nicht zurückgegeben wurde. Das ist eine andere Art des Zugangs als der Zugang, das Schicksal eines berühmten Gemäldes zu erforschen. Von Seiten der Politik ist mit dem Forschungsauftrag die Erwartung verbunden, dass damit konkrete Entscheidungsgrundlagen für noch ausstehende Rückstellungen und Entschädigungen geschaffen werden. Das ist eine sehr ambivalente Sache. Die Historikerkommission bewegt sich auf einem schmalen Grat. Man muss vor allem dem Vorwurf von Opferseite begegnen, ein weiteres Instrument zur Verzögerung zu sein. Viele der Betroffenen sind ja schon sehr alt. Ich kann nur bei jeder sich bietenden Gelegenheit betonen, dass man, um rechtspolitische Schritte zu setzen, nicht die Ergebnisse der Historikerkommission abwarten muss. Natürlich wird sich danach ein vollständigeres Bild ergeben, wird man manches sehen, was man jetzt Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 143 Wir liefern historische Fakten noch nicht sieht. Aber vieles weiß man auch jetzt schon, als Beispiel haben wir immer die Frage der Zwangsarbeit genannt. Es gibt aktuelle Forderungen, zum Beispiel des polnischen Zwangsarbeiterverbandes, und denen könnte man entsprechen, ohne dass man jetzt die letzten Details weiß. Zumindest steht die Historikerkommission dem nicht entgegen. Wie auch umgekehrt wir nicht von unserem Forschungsauftrag entbunden sind, wenn irgendwo eine Vereinbarung über Entschädigungszahlungen erfolgt. Hier muss eine genaue Trennlinie zwischen wissenschaftlicher Forschung und politischem Handeln gezogen werden. Konkrete Entschädigungen hängen also nicht vom Endbericht der Historikerkommission ab? Nicht in dem Sinne, dass die politische Ebene sagen könnte, wir tun jetzt bis zum Jahr 2002 nichts und warten die Ergebnisse der Kommission ab. Es gibt kein Hindernis, in einen ernsthaften Dialog mit den Opfergruppen einzutreten. Aber mit dem Endbericht der Kommission werden wir ein sicherlich klareres, vollständigeres Bild über den Vermögensentzug und das Ausmaß von Rückstellungen und Entschädigungen in Österreich erhalten. Sie haben bereits betont, dass die Rolle der Historikerkommission nicht die eines Gerichts ist. Aber werden nicht trotzdem finanzielle Entschädigungen anhand des Endberichts der Kommission diskutiert werden? Nein, das wird überhaupt nicht diskutiert, sondern wir liefern historische Fakten, die bis zu einem gewissen Grad für sich sprechen, und können damit vielleicht Entscheidungsprozesse in Gang setzen. Aber es gehört nicht zu unserer Aufgabe, irgendwelche Empfehlungen abzugeben. Wie sehen Sie die Rolle der politisch Verantwortlichen in Fragen der Rückstellung und Entschädigung? Ich glaube, dass im Augenblick ein aufgeschlossenes Klima herrscht, dass das Interesse der politischen Ebene nicht bloß ein vorgespiegeltes ist, um Zeit zu gewinnen, sondern ernst gemeint ist. Wenn ich nicht dieses Gefühl gehabt hätte, hätte ich den Vorsitz in der Historikerkommission auch nicht übernommen. Kann man trotzdem von einem Spannungsfeld von Politik, Rechtsprechung und historischer Forschung sprechen? Rechtsprechung spielt hier weniger eine Rolle, weil es die heute in diesem Bereich nicht gibt. Aber es gibt sicher ein Spannungsverhältnis zwischen politischer Entscheidung und historischer Forschung und ein gewisses Dilemma, aus dem ich auch nicht heraushelfen kann. Ich weiß, dass viele Opfer alt sind und auf die Klärung dieser Fragen warten. Wir haben aber als wissenschaftliche Kommission einen gewissen Standard einzuhalten, und gerade wenn ein so großer Themenkomplex bearbeitet werden soll, dauert das eine gewisse Zeit. Das geht nicht von heute auf morgen. Das ist ein gewisses Dilemma, mit dem man leben muss. Wann soll der Endbericht der Kommission vorliegen? Er soll im Laufe des Jahres 2002 vorliegen, das heißt die Forschungen werden im Jahr 2001 fertig sein, und das Jahr 2002 dient dann der redaktionellen Bearbeitung und der Abgabe des Endberichts. Die reine Forschungsdauer ist ca. zweieinhalb Jahre, was ohnehin nicht lang ist. Kann man dann mit Vorliegen des Endberichts davon sprechen, dass die historische Forschung zu diesem Themenkomplex abgeschlossen sein wird? Das kann man in keiner Weise sagen. Der Forschungsgegenstand ist so weit gefasst, dass auch die Historikerkommission eine wohlbegründete, aber letztlich auch pragmatische Entscheidung treffen musste und muss zugunsten gewisser Schwerpunkte. Es kann nicht alles 144 Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 Interview mit Clemens Jabloner und es kann nicht alles gleich tiefgehend erforscht werden. Auch nach der Historikerkommission wird es genug Raum geben für die historische Forschung. Außerdem ist die Kommission auf den Vermögensaspekt beschränkt, wir beschäftigen uns also zum Beispiel nicht mit der Frage der Gewaltausübung und nicht mit der Diskriminierung als solcher. Welche Folgen wird Ihrer Meinung nach die Arbeit der Historikerkommission haben – sowohl für die Opfer als auch im Umgang mit der Vergangenheit, mit der NS-Zeit? Ich denke, dass wir vor allem einen Beitrag zur Aufklärung und zur Information leisten. Ich erhoffe mir, dass daraus dann auch etwas gemacht wird, zum Beispiel für die Schulen, und dass Akzente gesetzt werden für die zukünftige historische Forschung. Das sind die zentralen Punkte. Die rechtliche Ebene ist dann eine Frage der Politik. Ich denke, die Fakten werden für sich sprechen und werden – wenn das auch entsprechend medial aufbereitet wird – eine Zugkraft haben. Univ.-Prof. Dr. Clemens Jabloner ist Präsident des Verwaltungsgerichtshofes und Vorsitzender der Historikerkommission 1 Das Interview mit ao. Univ.-Prof. Dr. Clemens Jabloner wurde im Mai 1999, noch vor der Behandlung der Gesetzes- bzw. Novellierungsvorschläge im Nationalrat geführt. Die Novellierung des Denkmalschutzgesetzes [Bundesgesetz vom 25. September 1923, BGBl. Nr. 533/1923, betreffend Beschränkungen in der Verfügung über Gegenstände von geschichtlicher, künstlerischer oder kultureller Bedeutung (Denkmalschutzgesetz – DMSG) in der Fassung der Bundesgesetze BGBl. Nr. 92/1959 (EGVG-Novelle), 167/1978, 406/1988 und 473/1900] wurde am 18. Juni 1999 mit den Stimmen der ÖVP und SPÖ in dritter Lesung angenommen und liegt derzeit im Bundesrat zur Beschlussfassung. Das Bundesarchivgesetz wurde am 13. Juli 1999 mit den Stimmen aller Parteien im Nationalrat beschlossen und liegt derzeit ebenfalls im Bundesrat zur Beschlußssfassung. Im Bundesarchivgesetz wird erstmals die Archivierung von und der Zugang zu Archivgut des Bundes per Gesetz geregelt. Der Zugang ist künftig 30 Jahre nach der letzten Bearbeitung der Akten möglich, in Ausnahmefällen nach 50 Jahren. Dies gilt grundsätzlich auch für Akten von Unternehmen mit mindestens 50%iger Bundesbeteiligung. Die Archivierung und der 2 Zugang zu Archivgut bezüglich Landes-, Gemeinde- und Privatarchiven wird durch dieses Gesetz jedoch nicht geregelt. In der Novelle zum Denkmalschutzgesetz war es für die Historikerkommission zentral, dass durch Verordnung – und nicht wie bisher nur durch Bescheid – bestimmte Archivalien vorläufig unter Denkmalschutz gestellt und daher nicht vernichtet werden können. Diese Art der Unterschutzstellung darf nur für Archivalien erfolgen, die bei Unternehmungen zu Zeiten angefallen sind, in denen diesen Unternehmungen aufgrund Anzahl und/oder Art der Beschäftigten, Umfang und/oder Art der Geschäftstätigkeit oder Beteiligung der öffentlichen Hand besondere politische oder wirtschaftliche Bedeutung zukam und das Vorliegen der für die Unterschutzstellung erforderlichen Fakten aufgrund des wissenschaftlichen Erkenntnisstandes zumindest wahrscheinlich ist. Das öffentliche Interesse an der Erhaltung dieser Archivalien gilt solange als gegeben, als das Österreichische Staatsarchiv nicht auf Antrag einer Partei oder von Amtswegen eine bescheidmäßige Entscheidung über das tatsächliche Vorliegen des öffentlichen Interesses getroffen hat. Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 145 „Wir müssen tun, was schon vor 30 Jahren hätte geschehen sollen“ Interview mit Karl Stuhlpfarrer Warum werden in Österreich heute – mehr als 50 Jahre nach Ende der nationalsozialistischen Herrschaft – wieder Diskussionen über Entschädigung und Rückstellungen für NS-Opfer geführt? Stuhlpfarrer: Erstens, weil nicht alles rückgestellt und in vielen Bereichen nicht entschädigt wurde – die Mietenfrage1 ist dafür ein klassisches Beispiel. Zweitens sind diese Fragen nicht vollständig aufgearbeitet worden, und jede Generation wirft die alten Fragen, die nicht aufgearbeitet wurden, noch einmal auf. Lassen sich die von den Regierungen bzw. Unternehmen Österreichs, der Schweiz und Deutschlands eingesetzten Kommissionen und Forschungsteams in ihrem Auftrag und in ihrer Arbeitsweise vergleichen, oder bestehen national große Unterschiede? Ein Unterschied ist, dass diese drei Staaten in unterschiedlicher Weise in den Massenmord und die Beraubung von Juden und Angehörigen anderer Völker verwickelt waren. Der zweite Unterschied ist, dass die historischen Ereignisse, die historischen Tatsachen in diesen drei Ländern, wenn wir die DDR einmal beiseite lassen, in unterschiedlicher Weise geschichtskulturell verarbeitet worden sind, am intensivsten und mit den einträglichsten Wirkungen in der Bundesrepublik Deutschland, sehr viel zögerlicher und lückenhafter in Österreich und in der Schweiz, dort wurde die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit auch durch Mythenbildung verhindert: in Österreich durch den Opfermythos, in der Schweiz durch den Neutralitätsmythos. Und das Dritte ist, dass die schweizerische und die österreichische Historikerkommission ganz unterschiedliche Aufgaben haben. Die österreichische Kommission hat eine sehr präzise und sehr eng gestellte Aufgabe. Die Schweiz hat zwar einen spezifischen Ausgangspunkt, nämlich die Frage des ➤ Raubgoldes, gewählt. Darüber hinaus hat die Schweizer Kommission aber den Auftrag, sozusagen den Gesamtkomplex der Geschichte der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs und während der Nazi-Deutschland-Periode aufzuarbeiten und dazu Stellung zu nehmen. Das halte ich für eine wichtige Sache – das ist in Österreich nicht geschehen, es bleibt hier für die Forschung also noch vieles offen. Der Auftrag an die österreichische Historikerkommission lautet, den Vermögensentzug in Österreich während der NS-Zeit und Rückstellungen und Entschädigungen nach 1945 zu untersuchen. Welche Opfergruppen waren davon betroffen? Es geht hauptsächlich um die jüdische Bevölkerung, die in Österreich gelebt hat, die als jüdische Bevölkerung durch die ➤ Nürnberger Rassengesetze kategorisiert wurde, und es geht um die Zwangsarbeiter. Das sind die beiden wichtigsten Gruppen, auch in der Anzahl der betroffenen leidtragenden Personen. Dann geht es um kleinere Gruppen, die mehr oder weniger stark betroffen sind. Eine relativ kleinere Gruppe ist zum Beispiel die slowenische in Kärnten. Eine andere Gruppe, die auch relativ klein, aber besonders stark betroffen ist, sind zum Beispiel die Roma. 146 Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 Interview mit Karl Stuhlpfarrer Warum wurden andere Gruppen von Geschädigten des Nationalsozialismus bzw. des Zweiten Weltkriegs, zum Beispiel Bombenopfer oder die als Folge des Krieges Vertriebenen, nicht in den Arbeitsauftrag der Kommission einbezogen? Die Vertriebenen und die deutsch- und anderssprachigen Minderheiten hauptsächlich aus den nord- und südosteuropäischen Nachbarstaaten Österreichs sind im Auftrag der Historikerkommission nicht enthalten, da er sich auf den Vermögensentzug in Österreich beschränkt. Er bezieht sich nicht auf den Vermögensentzug heute in Österreich lebender Personen, die außerhalb Österreichs durch Einwirkung der Nationalsozialisten Vermögensverluste erlitten haben. Deswegen ist die Frage der deutschsprachigen Minderheiten, die aus den nord- und südosteuropäischen Nachbarstaaten Österreichs geflüchtet sind oder vertrieben wurden – entweder noch von der ➤ SS oder dann nach Kriegsende von den neuen Regimes in den ostmitteleuropäischen Ländern –, eine Frage, die vor allem in diesen Ländern diskutiert werden sollte und muss. Das heißt nicht, dass das nicht Gegenstand der historischen Forschung sein soll, aber es ist nicht Gegenstand des Auftrags der österreichischen Historikerkommission. Hatten Bombenopfer und Vertriebene in Österreich Anspruch auf Entschädigung? Was die Vertriebenen betrifft, ist das Grundproblem ein staats- und völkerrechtliches. Die österreichische Bundesregierung ist jetzt bereit, Mitverantwortung von Österreichern an NS-Verbrechen anzuerkennen. Sie ist jedoch nicht bereit, die seit 1945 eingenommene Position aufzugeben, dass Österreich ab März 1938 als Staat nicht mehr existiert hat und als solcher auch nicht am Krieg beteiligt war. Deswegen ist die Frage der Entschädigung von Vertriebenen nicht Gegenstand der Überlegungen der Republik Österreich und ihrer Repräsentanten. Seit 1945 ist viel dazu gesagt worden, um diesen Standpunkt zu untermauern. Man könnte auch einiges dagegen sagen, besonders was die Bundesländer betrifft, die sich ja nicht – mit Ausnahme des Burgenlands und Vorarlbergs 2 – aufgelöst haben. Die Frage der Vermögensverluste der deutsch- und anderssprachigen Vertriebenen muß in einer anderen Weise diskutiert werden. Diese Frage kann man nicht an Österreich adressieren. Bei der Historikerkommission geht es darum – und das ist die Hauptsache –, wo die Vermögen geraubt worden sind. Das ist zum größten Teil eben hier in Österreich, das heißt auf dem Gebiet des heutigen Österreich, und hier wiederum vor allem in Wien. Das ist das Zentrum der Problematik, und das muss zuerst und in aller Intensität bearbeitet werden – ohne dass man das andere vergisst. Das zweite ist die Frage der Bombenopfer. Das ist ein schwieriges Problem, weil sich Bomben nicht um Schuldige und Unschuldige kümmern, nicht um Kollaborateure und um Widerstandskämpfer, um das breiteste Spektrum zu nennen. Bombenschäden sind eine Kriegsfolge, die nicht aus einer direkten, intentionalen Aktion des Naziregimes entstanden ist. Mittelbar natürlich schon, indem das Naziregime auf Kriege angewiesen war und durch den Krieg die Bomben evoziert hat. Es ist aber keine direkte Aktion, wie etwa die Enteignungsaktion des Naziregimes als Staat, oder auch das, was als geduldete Aktion unmittelbar nach der NS-Machtübernahme in Österreich im März 1938 geschehen ist. Das heißt nicht, dass man das nicht untersuchen soll, jedoch nicht im Rahmen dieses Auftrags der Historikerkommission. Ein drittes Problem sind die deutsch- und anderssprachigen Umsiedler im weitesten Sinn, z. B. jeden aus Südtirol. Da ist es schon schwierig festzustellen, wo der Vermögensentzug stattgefunden hat, ob im Ausland oder in Österreich. Auch das ist ein wichtiges, aber kein prioritäres Problem. Wir haben eine bestimmte Zeit, eine bestimmte Kapazität an Forschern, eine bestimmte Summe Geld. Da muss man ganz einfach eine Reihung treffen: Das Vorrangige macht man zuerst und das andere, wie ich hoffe, danach. Sie sind ständiger Experte der Historikerkommission. Was heißt das, und was ist Ihre Aufgabe in der Kommission? Ich möchte zunächst deutlich sagen, dass ich hier nicht für die Historikerkommission spreche, sondern nur für mich persönlich. Ich gehe davon aus, dass ein Widerspruch Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 147 Was schon vor 30 Jahren hätte geschehen sollen bestand zwischen der Auffassung der Auftraggeber, die Zahl der Kommissionsmitglieder auf sechs zu beschränken, und der Notwendigkeit, ein breiteres Forschungsfeld abzudecken. Deswegen war die Historikerkommission der Auffassung, dass drei Experten hinzugezogen werden sollen – und das sind ein Jurist, eine Wirtschaftshistorikerin und ich. Ich habe im Wesentlichen über drei Themen gearbeitet, die sich direkt mit den Forschungsfragen der Kommission beschäftigen. Das eine ist die Frage der Verfolgung und Entrechtung der Juden, dann über die Kärntner Slowenen und über die Umsiedlung der Südtiroler. Was sind die Ziele, was ist das Erkenntnisinteresse der Kommission? Geht es in erster Linie darum, den Umfang von Vermögensentziehung und Rückstellung zu erfassen? Geht es um die Analyse des nationalsozialistischen Systems der Bereicherung, oder geht es um die Perspektive der Opfer? Hier gibt es zwei wichtige Aspekte. Der eine ist, den Umfang des Raubs festzustellen, wer beraubt worden ist und durch wen, und schließlich auch festzustellen, ob die Rückgabe des geraubten Vermögens oder die Entschädigung für alle diese Gruppen gleichmäßig oder unterschiedlich gehandhabt wurde. Das ist, glaube ich, ein wichtiges Erkenntnisziel. Das ist auch wichtig für die Einschätzung der gesellschaftlichen Situation von Beginn an durch die ganze Zweite Republik. Und das Zweite ist meiner Meinung nach das Vermittlungsinteresse der Historikerkommission, und nicht nur der Kommission, sondern aller Historiker, die zu diesem Themenbereich arbeiten. Das ist, wenn man so will, ein aufklärerischer Impetus: Deutlich zu machen, oder um es einmal umgekehrt zu sagen, unmöglich zu machen zu leugnen, dass die nationalsozialistische Beraubung und die Verzögerungen und Ungerechtigkeiten bei der Restitution geschehen sind. Das ist ja noch immer nicht Allgemeingut, das ist in der österreichischen Geschichtskultur bislang nicht verankert. Diese Geschichtskultur oder dieses kollektive Geschichtsbewusstsein zu verändern, ist immer auch eine Aufgabe der Geschichtswissenschaft und ihrer Vermittlungsanstrengungen. Die Historikerkommission hat zunächst den Auftrag, den Themenkomplex Vermögensentzug, Zwangsarbeit, Rückstellung und Entschädigung zu erforschen. Es gibt von Seiten der Politik darüber hinaus die Erwartung, dass sie damit konkrete und endgültige Entscheidungsgrundlagen für ausstehende Rückstellungen und Entschädigungen schaffen könnte. Kann und will die Kommission das? Die Historikerkommission wird keine Einzelfälle untersuchen, und wenn, nehmen wir an, die Republik Österreich beispielsweise die Zwangsarbeiter entschädigen will, so würde ich sagen, soll sie einen Gesetzesvorschlag als Regierungsvorlage oder Initiativantrag ins Parlament einbringen, in dem steht: Jeder, der Zwangsarbeit geleistet hat, ist zu entschädigen. Dann geht es um die Definition dessen, was Zwangsarbeit heißt, um den Nachweis, dass es in Österreich geschehen ist, und um die Summe, die bezahlt werden soll. Dafür braucht man keine Historikerkommission, sondern so etwas wie eine Organisation, die das überprüft und auszahlt. Konkrete Rückstellungen und Entschädigungen werden also nicht von den HistorikerInnen bzw. von der Forschung der Historikerkommission abhängen? Nicht als Einzelfälle. Aber es ist sicher eine Aufgabe der Historikerkommission, zur Frage der Zwangsarbeiter zu differenzieren, was als Zwangsarbeit gewertet werden kann und muss. Es wird auch ihre Aufgabe sein, in den einzelnen Projekten festzustellen, wie die realen Lebens- und Arbeitsbedingungen dieser Arbeiter und Arbeiterinnen etwa in der Industrie oder in der Landwirtschaft waren, und das wird sicher einen Beitrag zur Entschädigungsfrage leisten. Aber von Seiten der Politik die grundsätzliche Bereitschaft auszudrücken: „Wir sind bereit, diesen Menschen eine Entschädigung zu zahlen“, das ist immer möglich. Und das sollte auch möglichst bald geschehen. 148 Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 Interview mit Karl Stuhlpfarrer Wie sehen Sie die Rolle der politisch Verantwortlichen im Zusammenhang mit Rückstellungen und Entschädigungszahlungen? Das hängt davon ab, wie sie agieren. Wenn sie rückstellen und entschädigen, sehe ich ihre Rolle positiv. Wenn sie es nicht vollständig tun, dann tun sie das, was die Republik seit 1945 getan hat. Wie verortet sich die Historikerkommission in dem Spannungsfeld – einerseits wissenschaftliche Forschung, andererseits ein politischer Auftrag? Entsteht daraus nicht auch für die HistorikerInnen eine problematische Situation? Als Wissenschaftler sehe ich das Problem in zwei Dingen. Das eine ist, dass die Kommission missbraucht werden kann, um etwas zu verzögern. Dagegen hat sich die Kommission aber immer explizit ausgesprochen. Das zweite ist, dass die Frage der Analyse der NSPeriode in Österreich und ihres Fortwirkens nach 1945 natürlich in diesem eng gefassten Forschungsauftrag nur teilweise dargestellt werden kann. Die Frage der Partizipation der Österreicher, des Landes, die Frage der Transformation der Gesellschaft, der Fortdauer der Ideologie wird nicht direkt durch die Kommission bearbeitet, ist aber mindestens ebenso wichtig. Das ist kein Vorwurf – weder an die Kommission noch an die Auftraggeber. Ich begreife diese Kommission wirklich als Chance, wichtige Fragen zu bearbeiten. Die Möglichkeit, dass sie von Politikern in anderer Weise instrumentalisiert werden kann, besteht wie bei allen anderen Kommissionen und Unternehmungen dieser Art auch. Das eine ist die Hinausschiebestrategie, das zweite ist, dass man sagt, es ist einseitig, weil es eben primär die Vermögensverluste von Juden nach den Nürnberger Rassengesetzen betrifft. Das dritte ist, dass es als Alibi für das Ausland benützt wird nach dem Motto: „Wir tun eh alles. Wir haben jetzt eine Historikerkommission eingesetzt, und das genügt schon.“ So wie das auch immer wieder im Laufe der Zeit nach 1945 passiert ist. Aber mit dem Risiko arbeitet man immer. Wir haben ja jahrzehntelang unter forschungsmäßig schlechten Bedingungen gearbeitet, und damals hat uns niemand zugehört. Zum Beispiel, als ich 1974 in dem Sammelband über das historische Judentum meinen ersten Artikel zu dieser Frage publiziert habe,3 da gab es eine große Pressekonferenz, ein riesiges Interesse, und das hat, glaube ich, drei Tage gedauert, und dann war Schluss. Obwohl dieses Buch als Antwort auf eine Serie in der Kronen Zeitung gedacht war, die Viktor Reimann geschrieben hat. Das war auch der Grund, warum die Pressekonferenz so groß war, darüber hinaus war das öffentliche Interesse aber praktisch gleich Null. Und dann kam die Fernsehserie „Holocaust“, und es gab wieder ein riesiges Interesse und große Emotionen, aber das dauerte nicht lange. Dann kam das Gedenkjahr 1988 mit vielen Veranstaltungen und Diskussionen – da war das öffentliche Interesse schon etwas größer und ausdauernder. Man muss es also immer wiederholen, man muss repetitiv vorgehen, wie Lernprozesse eben sind. Und manchmal wird es gehört und manchmal nicht. Jetzt gibt es eine Chance, dass viel gehört wird, und diese Chance muss man nützen. Wie unabhängig können Kommissionen sein, die von der Regierung oder auch von Firmen, von Banken und Konzernen eingesetzt werden? Können daraus nicht auch Loyalitätskonflikte für die ForscherInnen entstehen? Bei Firmen weiß ich es nicht oder noch nicht. Bei der Historikerkommission habe ich jedenfalls nicht größere Probleme mit Loyalitätskonflikten als als pragmatisierter Beamter oder Universitätsprofessor. Und die habe ich bis jetzt immer ganz gut ausgehalten. Es hat mir auch niemand etwas getan. Man kann in diesem Land kontrovers sein, ohne dass einem gleich irgendetwas Dramatisches passiert. Das Übliche, was einem passieren kann, ist, dass man nicht gehört wird. Nicht einmal ignorieren – das ist die Strategie des Landes Österreich. Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 149 Was schon vor 30 Jahren hätte geschehen sollen Welche Konsequenzen ergeben sich für die historische Forschung aus der gegenwärtigen „Konjunktur“ der Zeitgeschichte durch die Einsetzung von Kommissionen und Forschungsteams und durch den gestiegenen Einfluss auf aktuelle gesellschaftspolitische Debatten? Das sehe ich nicht nur positiv, denn das Geld, das jetzt in diese Kommission und, wie ich schon oft genug gesagt habe, mit gutem Grund hineingeht, das fehlt woanders. Es werden jetzt nicht mehr Zeitgeschichteprojekte gefördert werden als vorher. Der zweite Punkt ist, dass durch die Aufgabenstellung ein bestimmtes Paradigma der Forschung forciert wird, und alle anderen müssen sich sehr viel mehr anstrengen, um Fundraising zu betreiben und Ähnliches. Es hat schon auch eine starke Sogwirkung, die andere Bereiche, also ich möchte nicht sagen: schädigt, aber zumindest die notwendige Förderung verlangsamt. Könnte man jetzt zugespitzt fragen: Wird die historische Forschung durch diese Kommissionen monopolisiert und institutionalisiert? Nein, das glaube ich nicht. Es gibt genügend Leute, die nicht in der Kommission sind, und sogar die, die in der Kommission sind, arbeiten nicht nur an diesen Fragen weiter. Ich selbst beschränke mich in meiner Forschung und Lehre in der Zukunft nicht nur auf den Gegenstand des Auftrags der Kommission. Ich gebe zu, es wird ein gewisser Druck – also ich rede jetzt von mir als Person – auf mir liegen, die Gewichtung zugunsten dieses einen Feldes zu verlagern. Es gibt aber genügend andere Leute, die auf anderen Feldern weiter arbeiten. Was ich mir wünsche, ist, dass diese Leute gute Projekte kriegen, dass diejenigen, die im Ministerium und anderswo dafür zuständig sind, begreifen, dass Zeitgeschichte etwas kostet. Vor allem dann, wenn man die neuen Medien – ein Feld, das ich für mindestens ebenso wichtig halte – berücksichtigt. Für mich ist das Dramatische, dass wir in der Situation sind, etwas machen zu müssen, was schon vor 30 Jahren hätte geschehen sollen und hätte geschehen können, und was damals nicht geschehen ist. Wir müssen etwas nachholen, und das lastet auf uns. Deswegen können wir andere Dinge nicht tun, die wir heute tun könnten, wenn das andere schon geschehen wäre. Aber trotzdem muss es getan werden. Dieser time lag ist aber nicht nur ein Problem der Forschung, sondern der Entwicklung des gesamtgesellschaftlichen Bewusstseins. Welche Auswirkungen werden Ihrer Meinung nach die Arbeiten der Historikerkommission auf den Umgang mit der Vergangenheit, auf das kollektive Geschichtsbewusstsein und auf der anderen Seite für die Opfer des Nationalsozialismus haben? Was die Leidtragenden betrifft, hoffe ich, dass sie endlich ihre Vermögen restituiert bekommen, und dass sie entschädigt werden, auch wenn das nicht alles ist. Was die Historiker betrifft, hoffe ich, dass es nicht dabei bleibt, dass sie einen Endbericht schreiben, ihn publizieren und sich dann verabschieden, sondern dass sie dann mit der Arbeit beginnen, die ebenso wichtig ist, nämlich mit der Vermittlungsarbeit. Das läuft über die Medien und über die Institutionen der Sozialisation, also von der Schule über die Erwachsenenbildung, Lehrerfortbildung usw. Und das ist ein langer und anstrengender Prozess. Aber ich bin zuversichtlich, dass das gelingen wird, die Situation ist heute ja schon viel besser als vor zehn Jahren. Univ.-Prof. Dr. Karl Stuhlpfarrer ist Historiker am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien und ständiger Experte der Historikerkommission. 1 2 Zur Frage der noch während der NS-Zeit gekündigten jüdischen MieterInnen und der nach 1945 nicht rückgestellten Mietwohnungen siehe Kapitel 1 und 4. Im Zuge der Umstrukturierung der Verwaltung Österreichs nach dem Anschluss im März 1938 wurden in der „Ostmark“ sieben Reichsgaue errichtet, die mit wenigen Ausnahmen im Wesentlichen den Grenzen der bisherigen Bundesländer entsprachen: Das Burgenland wurde geteilt, das nördliche Burgenland wurde in den Gau „Niederdonau“, das südliche Burgenland in den Gau „Steier- 150 3 mark“ eingegliedert. Die Bundesländer Tirol und Vorarlberg wurden zum Gau „Tirol-Vorarlberg“ zusammengefasst. Der Gau „Niederdonau“ umfasste gegenüber dem Bundesland Niederösterreich zusätzlich Teile der besetzten südmährischen Gebiete, jedoch nicht Wien. Karl Stuhlpfarrer, Antisemitismus, Rassenpolitik und Judenverfolgung in Österreich nach dem Ersten Weltkrieg, in: Das österreichische Judentum. Voraussetzungen und Geschichte, red. v. Nikolaus Vielmetti, Wien/München 1974, S. 141-164. Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 „Was jetzt passiert, wäre vor 15 Jahren noch undenkbar gewesen“ Interview mit Bertrand Perz Warum werden in Österreich heute, mehr als 50 Jahre nach Ende der nationalsozialistischen Herrschaft, wieder Diskussionen um Entschädigungen und Rückstellungen geführt? Perz: Das hat viele Faktoren, innen- und außenpolitische und zeitliche, etwa die Generationenabfolge und damit verbunden die Nähe oder Distanz der Generationen zum Nationalsozialismus. Zur Vorgeschichte der Historikerkommission hat sicher sehr stark eine internationale Entwicklung außerhalb Österreichs beigetragen.Es gibt in Europa seit längerem eine Diskussion über den Umgang mit dem Nationalsozialismus. Dazu kommt, dass seit 1989 diese Diskussion nicht mehr entlang des Ost-West-Konflikts abläuft, sondern dass man jetzt offener diskutiert über Kollaboration, über den Umgang der einzelnen Staaten, seien es besetzte, neutrale oder am Nationalsozialismus beteiligte Länder, mit den jeweils involvierten gesellschaftlichen Gruppen nach 1945. Das heißt, sowohl mit den Kollaborateuren als auch mit den Leuten, die im Widerstand waren, und mit den Leuten, denen ihr Vermögen geraubt wurde. Diese europaweite Diskussion, für die die Schweiz in den letzten Jahren ein Paradebeispiel ist durch die Einsetzung von Historikerkommissionen und durch hitzige öffentliche Debatten über ihre Vergangenheit, hängt auch mit den ➤ Sammelklagen zusammen. Dieses Rechtsinstrument, das es seit den sechziger Jahren in den Vereinigten Staaten gibt und das die Möglichkeit bietet, dass mehrere Dutzend oder hunderte Personen eine gemeinsame Klage einreichen können, wird seit zwei oder drei Jahren auf den Bereich der Entschädigung für Holocaust-Opfer angewandt. Die Sammelklagen haben die generelle Tendenz, nämlich die historische Debatte auf eine Rechtsfrage und auf eine ökonomische Frage zu verschieben, enorm beschleunigt. Die ökonomische Frage bzw. der ökonomische Druck mittels Rechtsstreit hat eine Debatte über die NS-Vergangenheit in einer Weise erzwungen, wie sie vorher nie stattgefunden hat. Es gab sie zwar, aber sie war nie so tiefgehend, hat selten so weite Kreise der Gesellschaft erfasst wie jetzt. Der zweite Faktor ist ein innenpolitischer: Im Fall der Historikerkommission war es so, dass die ➤ Israelitische Kultusgemeinde eine Kommission zur Untersuchung der Enteignungen und Rückstellungen gefordert und dabei aber sehr vorsichtig agiert hat, indem sie gesagt hat, es geht nicht um Geld, sondern um Bewusstmachung. Und diese Forderung nach Aufklärung in Kombination mit der für die Regierung sich überschlagenden Entwicklung seit dem Sommer 1998, als plötzlich Sammelklagen gegen eine Reihe von österreichischen Unternehmen gerichtet wurden, hat eine enorme Dynamik bekommen. Das sind auslösende Faktoren, aber natürlich stellt sich heute überhaupt die Frage des Verhältnisses zum Nationalsozialismus. Die Generation, die jetzt klagt, sind Leute, die schon sehr alt sind, die nicht mehr beruflich aktiv oder politische Entscheidungsträger, sondern die in Pension sind. Ich denke, das ist jetzt die letzte Debatte, bevor es ein rein historisches Ereignis wird, bevor niemand mehr lebt, der den Nationalsozialismus bewusst oder aktiv erlebt hat. Und schließlich gibt es auch eine Dynamik, die aus den Reaktionen der jeweils betroffenen Länder entsteht und wie dieses Thema dort diskutiert wird, das hat natürlich einen Verstärkungseffekt. Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 151 Vor 15 Jahren noch undenkbar Warum wurde die Historikerkommission eingesetzt? Wie die Entscheidungsbildung in der Regierung und im Parlament im Detail verlaufen ist, weiß ich nicht. Mit ausschlaggebend war sicherlich auch, dass die beklagten Unternehmen zu den größten österreichischen Unternehmen gehören wie die VOEST oder die Bank Austria. Und da es bei den eingeklagten Summen nicht um Kleinigkeiten geht, waren vermutlich die Regierung und auch das Parlament, im Wesentlichen SPÖ und ÖVP, der Meinung, dass man hier etwas tun muss. Dazu kam noch die Frage der Entschädigung für Zwangsarbeiter, vor allem ein polnischer Verband ehemaliger Zwangsarbeiter ist 1998 in dieser Frage aktiv geworden. Und man hat dann einfach geschaut, wie andere Länder mit diesen Forderungen umgehen. Ich glaube, es hätte in Österreich keine Historikerkommission gegeben, wenn es nicht in der Schweiz schon vorher eine solche Kommission gegeben hätte. Da hat man gesehen, welche Möglichkeiten der Schadensbegrenzung es gibt, die Schweiz war quasi dafür das Vorbild. Im November oder Dezember 1997 fand außerdem statt, die ➤ Londoner „Raubgold-Konferenz“, auf der schon eine Reihe involvierter Staaten Bericht erstattet haben über ihre Rolle beim Handel mit Raubgold. Auch Österreich ist dort aufgetreten, hatte aber noch keinen Bericht vorzulegen. Im Dezember 1998 fand dann die ➤ Washingtoner Konferenz über geraubtes Gut bezüglich des Holocaust – „Holocaust Era Assets“ – statt, und dort legten ungefähr 40 oder 50 Staaten Berichte vor. Das hat eine enorme Dynamik bekommen, die auch mit den Sammelklagen zu tun hat und mit der Rolle der Vereinigten Staaten in diesem ganzen Prozess, die manche Staaten loben, manche tadeln, aber immer positiv verstärkend nach dem Motto „Alle sollen jetzt etwas tun, ihre Vergangenheit aufarbeiten“. Auch in anderen Ländern gibt es inzwischen die Überlegung, diese Fragen durch Kommissionen zu regeln und zu hoffen, dass die Kommissionen ein Stück weit auch die Politik entlasten im Sinne von „Man tut ja etwas, und man gibt die notwendige Expertise in Auftrag.“ Ich denke, diese internationale Dynamik hat auch für die österreichische Entscheidung bezüglich einer Historikerkommission eine große Rolle gespielt. Welche Bedeutung hat der Status einer Kommission auf ihr Mandat und auf ihre Kompetenzen im Vergleich zu herkömmlichen Forschungsprojekten? Bei herkömmlichen Forschungsprojekten muss man grundsätzlich zwischen einer Antragsund einer Auftragsforschung unterscheiden. Die Arbeit der Kommission fällt in den Bereich von Auftragsforschung, wenn man das Ganze jetzt nur auf der Forschungsebene sieht. Der Unterschied zur herkömmlichen Forschung ist natürlich groß, Forschungen im historischen Bereich sind letztlich immer an Universitäten oder ähnliche Forschungsinstitutionen angebunden und in der Regel Antragsforschungen, also selbst konzipierte und eingereichte Projekte. Der zentrale Punkt bei der Antragsforschung ist die Einreichung und die Genehmigung des Projektes, das Endergebnis ist zunächst vergleichsweise weniger wichtig, à la longue natürlich schon. Bei einer Historikerkommission ist das Ergebnis alles, eine Kommission wird zu einem bestimmten, klar definierten Ziel eingesetzt. Das ist reine Auftragsforschung. Ein zweiter, vielleicht noch wichtigerer Punkt ist das Verhältnis von Auftraggebern und Auftragnehmern. Man muss dabei zwischen verschiedenen Kommissionen unterscheiden. Es gibt, auch in anderen Ländern, Kommissionen, die von Regierungen eingesetzt sind oder von Parlamenten, es gibt aber wesentlich mehr Kommissionen, die von Firmen oder von privaten Rechtsträgern eingesetzt werden, die speziell für diese Rechtsträger forschen. Bezüglich der Frage der Abhängigkeit kann man natürlich sagen, dass jede Institution, die eine Kommission einsetzt, damit bestimmte Interessen verbindet, das ist klar. Die Frage ist nur, welche Interessen das konkret sind und was das für den Erkenntnisprozess der jeweiligen Kommission oder des Untersuchungsteams bedeutet. Da gibt es Unterschiede in Bezug auf das Naheverhältnis zwischen Auftraggebern und Auftragnehmern, auf die Frage von Abgrenzung, Freiheit, Spielräumen. Wenn wir eine Firma nehmen wie zum Beispiel die Deutsche Bank oder eine andere Bank, die Historiker beauftragt, ihre Firmengeschichte unter einem bestimmten Aspekt zu untersuchen, dann will sie damit natürlich einerseits eine 152 Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 Interview mit Bertrand Perz Art Expertise haben und wissen, was damals wirklich geschehen ist, – woher sollen die heutigen Vorstandsmitglieder einer Bank das auch wissen? Dann geht es bei Unternehmen auch sehr stark um Imagefragen, das gilt für die deutschen Unternehmen wie für die schweizerischen und auch für die österreichischen, die Forschungsteams eingesetzt haben. Ein Problem dabei ist, dass in dem Moment diejenigen, die diese Fragen erforschen, das sind in erster Linie Historiker, aber auch Ökonomen und Juristen, enorm aufgewertet werden, weil sie jetzt gefragt sind. Gleichzeitig kann es dann aber sehr schnell wieder eine Abwertung der historischen Forschung geben, wenn eine Firma sagt: „Das Wichtigste für uns ist, dass es nicht zu einem Prozess kommt, weil wir den nicht durchstehen.“ Ein Prozess dauert unter Umständen fünf Jahre, das wäre für das Image eines Unternehmens so schädlich, dass nicht der Prozess und die eventuellen Zahlungen das Problem sind, sondern der drohende Imageverlust. Daher versuchen manche Firmen jetzt, sich bereits im Vorfeld eines solchen Verfahrens zu vergleichen, ohne die historischen Ergebnisse abzuwarten. Die Rechtsabteilungen sind gezwungen zu verhandeln, während gleichzeitig noch historische Untersuchungen laufen. Auf dieser Ebene gibt es also sofort wieder die Entwertung der historischen Forschung, sie ist quasi nur auf einer Imageebene wichtig. Trotzdem ist es meiner Meinung nach gut, dass die historischen Fakten auf den Tisch kommen. Das andere Problem ist die Frage der Abhängigkeit. In dem Moment, wo eine Firma beklagt ist, ist das, was ein Team von geschichtswissenschaftlich ausgebildeten Leuten herausfindet, unmittelbar rechtsrelevant. Als der „Goldbericht“, ein Zwischenbericht der ➤ Bergier-Kommission, veröffentlicht wurde, hat sofort am nächsten Tag, ich glaube, es war Ed Fagan oder ein anderer Anwalt, die Schweizer Nationalbank geklagt. In dem Moment ist man als Historiker natürlich nicht mehr außerhalb dieses politischen Spiels, auch wenn man versucht, draußen zu bleiben. Es könnte zum Beispiel durchaus sein, dass eine Firma sagt, sie möchte, dass ein Bericht erst zu einem späteren Zeitpunkt veröffentlicht wird. Damit muss man dann als Wissenschaftler in irgendeiner Weise umgehen. Andererseits ist es auch ganz interessant zu beobachten, dass die Firmen, vor allem die deutschen Firmen in der Regel sehr renommierte Wissenschaftler für diese Projekte engagieren, vor dem Hintergrund der Imageüberlegung, dass es nämlich überhaupt nichts nützt, jemanden die Untersuchung machen zu lassen, der nur in den Verdacht kommt, er könnte von der Firma abhängig sein, denn das wäre rausgeschmissenes Geld. Es geht also vielfach gar nicht um die unmittelbare Rechtsrelevanz, sondern es geht vor allem um das Image. Und da ist es sehr wichtig zu signalisieren, dass man unabhängig forscht. Auf der Ebene von Regierungskommissionen ist das ein bisschen anders. Die Schweiz hat zum Beispiel eine Kommission, die relativ unabhängig ist. Sie hat einen großen Spielraum, weil es ein eigenes Gesetz gibt für diese Kommission und weil der Rechtsrahmen so gesteckt ist, dass sie mehr oder weniger unabhängig von den Auftraggebern agieren kann. Das heißt natürlich nicht, dass es von den Auftraggebern her nicht auch Überlegungen geben wird, wie man möglichen Schaden von der Schweiz abwälzen kann. Aber unmittelbar auf die Forschungsergebnisse der Kommission hat die Bundesversammlung keinen Einfluss. Sie sind nicht nur Mitglied der österreichischen Historikerkommission, sondern auch Mitarbeiter der Bergier-Kommission. Welche Unterschiede gibt es zwischen den von den Regierungen der Schweiz bzw. Österreichs eingesetzten Historikerkommissionen? Wenn man die Historikerkommissionen in der Schweiz und in Österreich vergleicht, dann ist sicher der auffälligste Unterschied, dass in der Schweiz die Kommission anders entstanden ist als in Österreich. Das hat viele Gründe, zum einen gab es einen enormen Schock, in der Schweiz, weil sie von ihrem Selbstverständnis her mit dem Nationalsozialismus nichts zu tun hatte und plötzlich, auch von innen her, so massiv mit diesen Fragen konfrontiert wurde. Die Schweiz wurde in einem unheimlichen Tempo von der Geschichte eingeholt, wenngleich man auch sagen muss, dass die Schweiz schon in den letzten zehn Jahren begonnen hat, intensiver über ihr Selbstbild zu diskutieren. Aber der Schock war sicher groß, und das ist auch mit als Grund anzusehen für die weitreichenden Kompetenzen, die der Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 153 Vor 15 Jahren noch undenkbar Bergier-Kommission per Gesetz eingeräumt wurden, zum Beispiel im uneingeschränkten Zugang zu allen Archiven, auch zu Privatarchiven, was ja rechtlich nicht ganz einfach ist. Außerdem gibt es in der Schweiz einen klaren Auftraggeber: die Bundesversammlung, also das Parlament. In Österreich ist der Auftraggeber demgegenüber ein kompliziertes Zwitterwesen zwischen Parlament und Regierung, bzw. Kanzler, Vizekanzler, Präsident des Nationalrates, Präsident des Bundesrates – also eine komplizierte Konstruktion, die im Parlament budgetiert wird, gleichzeitig sind die Auftraggeber aber zum Teil in der Regierung. Außerdem gibt es keine eigene gesetzliche Regelung für die Kommission, sondern quasi nur ein Mandat von Seiten der Auftraggeber. Wenn man das Procedere mit der Schweiz vergleicht, ist die Position der Kommission also etwas unklarer. Die Frage, wie abhängig eine solche Kommission von den Auftraggebern ist, ist deshalb auch sofort gestellt worden. Wenn man zum Beispiel das Schweizer Modell gewählt hätte, wäre eine derartige Diskussion vermeidbar gewesen. Wie lassen sich die beiden Kommissionen in Bezug auf den Forschungsauftrag vergleichen? Als Mitarbeiter der Bergier-Kommission darf ich laut Vertrag über die Kommission keine Auskünfte geben. Das heißt, ich darf zur Bergier-Kommission nicht öffentlich Stellung nehmen, weder zu ihrer internen Gebarung noch zu ihren Aktivitäten. Daran sieht man auch schon das Verhältnis von Kommissionen und ihren Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, dass nämlich die Kommissionen versuchen, nach außen ein einheitliches Gesamtbild zu zeigen. Im Unterschied zur „normalen“ historischen Forschung, wo man in Eigenverantwortung publiziert und an die Öffentlichkeit geht und die Ergebnisse auf Tagungen präsentiert, ist in diesem Fall der Forschungs- und Publikationsprozess sehr institutionalisiert. Das ist auch verständlich, weil die Idee bzw. das Ziel ja die Beantwortung bestimmter vorgegebener Fragen ist, und man kann diese Fragen intern nicht wirklich ausdiskutieren, wenn man dabei sofort ständig von den Medien widergespiegelt wird. Damit käme man sofort auf eine Ebene der Verbreitung von Informationen, die viel zu schnell ist für das wissenschaftliche Arbeiten. Trotzdem kann ich etwas zum Unterschied der beiden Kommissionen sagen. Der offensichtlichste Unterschied ist die historische Ausgangssituation der beiden Länder, die Schweiz war in der NS-Zeit ein neutraler Staat, aber auch eine zentrale Finanz- und Rüstungswirtschaftsdrehscheibe für das Dritte Reich und insoweit in seinen wirtschaftlichen Beziehungen für den ganzen europäischen Raum, aber auch für den Handel mit den Alliierten, für die Nachrichtenflüsse der Alliierten etc. in der NS-Zeit massgeblich. Daher ist das Forschungsfeld der Kommission in der Schweiz so angelegt, dass es letztlich um diese internationalen Beziehungen geht, mit dem Schwerpunkt auf den wirtschaftlichen Beziehungen der Schweiz zum Dritten Reich. Das ist sehr komplex, weil die Kapitalflüsse, der Goldhandel etwa, zwischen den Alliierten und den Achsenmächten verlief. Dazu gehören auch Devisengeschäfte zwischen den neutralen und den nichtneutralen Ländern, und alles, was im weiteren Sinne noch damit zusammenhängt, etwa die Flüchtlingspolitik der Schweiz, weil daran auch wieder Geldfragen hängen, z.B. Lösegelderpressungen, wenn man Juden aus dem Dritten Reich hat ausreisen lassen und dafür hohe Beträge in Devisen wollte. All diese Dinge sind großteils über die Schweiz abgewickelt worden, und insofern ist das Untersuchungsfeld der Schweizer Kommission sehr weit gefasst. Die österreichische Situation stellt sich demgegenüber ganz anders dar. Hier geht es ja nicht unmittelbar um die Frage der Involvierung Österreichs in das Dritte Reich, die ist ja offensichtlich, sondern es geht ganz stark um die Frage, wie in der Nachkriegszeit mit dem, was in der NS-Zeit passiert ist, umgegangen wurde. Die Frage des Umgangs nach 1945 verweist aber natürlich auch auf die Zeit davor. Man muss feststellen, was nach wie vor ausgeblendet wird, zuwenig bewusst ist bzw. von der Forschung bislang nicht bearbeitet worden ist. Der Hauptansatz ist die Geschichte der Zweiten Republik, und die NSZeit ist die Voraussetzung, um sie zu verstehen. Das ist einerseits eine eingeschränktere 154 Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 Interview mit Bertrand Perz Fragestellung, weil es ja „nur“ um Vermögensentzug im ganz strengen Sinne geht, gleichzeitig ist es ein enorm weites Feld, weil damit wiederum sehr vieles zusammenhängt. Das Problem dabei ist, dass die ganze Frage des Vermögensentzugs auf dem Gebiet der Republik Österreich von einem sozusagen „virtuellen Raum“ ausgeht, da Österreich als Staat damals nicht existiert hat, im Unterschied zur Schweiz, die ein klar definierter Nationalstaat mit klaren Grenzen war, die sich seitdem nicht geändert haben. Allein diese Abgrenzungsgeschichte ist sehr kompliziert. Die zentralen Fragestellungen der beiden Kommissionen sind also in diesem Sinne sehr unterschiedlich, letztlich geht es bei beiden aber ganz stark um ökonomische Perspektiven. Die Umrechnung der NS-Zeit in Geldwerte – also was ist verloren gegangen, was wurde jemandem genommen, was wurde nicht zurückgegeben – ist sicher eine neue Tendenz in der historischen Forschung und im öffentlichen Interesse an der NS-Zeit. Es ist interessant, dass das jetzt nach 50 Jahren das Hauptthema ist – forschungspolitisch muss man ja immer auch fragen, was mit dieser eingeschränkten Fragestellung eigentlich verdeckt wird und was nicht gefragt wird. Steht die österreichische Historikerkommission vor bestimmten Problemen, sei es die begrenzte zeitliche Dauer der Forschung oder auch der Archivzugang? Die begrenzte zeitliche Forschungsdauer haben wir uns selbst gewählt. Es ist sinnvoll, auch in der Erwartungshaltung der Öffentlichkeit und der Auftraggeber, so etwas nicht zu lange hinzuziehen. Es gibt ja daneben auch noch die normalen Forschungseinrichtungen, und die sollen weiterhin ihre Forschungen machen. Die Kommission kann nicht Ersatz für die Forschungseinrichtungen eines Landes werden, sondern sie kann nur auf einer bestimmten Ebene versuchen, bestimmte Fragestellungen zu beantworten. Sie kann nicht die Untersuchung aller möglichen Phänomene leisten, die sicherlich auch zu untersuchen wären, sondern sie kann einzelne Fallstudien machen und einen Überblick über bestimmte Problemkomplexe geben. Beispielsweise können wir nicht alle ➤ „Arisierungsfälle“, die es in Österreich gab, untersuchen, was ja manchmal ein bisschen die Erwartung an die Kommission ist. Ein zentrales Problem unserer Arbeit ist vielmehr die Archivsituation, weil zwar geregelt ist, dass auf der Ebene der Bundesarchive alle Materialien, die wir brauchen, einsehbar sind. Auf der Ebene der Länder wird das vermutlich auch ohne Probleme gehen, soweit der momentane Stand ist, vielleicht wird es mit dem einen oder anderen Bundesland etwas schwieriger sein, aber grundsätzlich wird es gehen. Das Problem sind vielmehr die privaten Archive, im Bereich der ➤ „Arisierung“ sind das zum Beispiel die Archive der Großbanken, die dabei eine maßgebliche Rolle gespielt haben, also CA und Länderbank, die jetzt im Besitz der Bank Austria sind. Wie weit da Bereitschaft besteht, uns Zugang zu ihren Akten zu gewähren, ist noch nicht klar. Ebenso bei den Sozialversicherungen, da geht es zum Beispiel um Sozialversicherungsdaten der Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen, usw. Da sind wir momentan vom guten Willen dieser Unternehmen abhängig, im Gegensatz zur Schweiz, wo der Zugang eben gesetzlich gewährleistet ist. Das andere Problem, das man natürlich in der Zeitgeschichtsforschung immer hat, ist, dass viele Akten weg sind, dass sich jetzt zum Beispiel herausstellt, dass ein ganz erheblicher Teil der Akten der Rückstellungskommissionen weggeworfen wurde, bis in die jüngste Zeit herauf. Das ist schon ein gravierendes Problem von der Aktenlage her. In anderen Bereichen wird es dagegen nicht so schwierig sein, etwa festzustellen, wie viele Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen hat es wo gegeben, das lässt sich alles eruieren. Bei Fallstudien kann es allerdings auch Probleme geben mit der Aktenlage in lokalen und regionalen Archiven. Wie geht man im Forschungsprozess mit der lückenhaften Quellenlage, z.B. bei Rückstellungsakten, um? Das kann ich im Detail noch nicht sagen. Die Rückstellungsfrage ist auch nicht mein Arbeitsfeld, dazu gibt es innerhalb der Kommission andere Experten und Expertinnen. Aber grundsätzlich muss man natürlich viel Phantasie aufwenden, wie man trotz des Fehlens von Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 155 Vor 15 Jahren noch undenkbar Unterlagen über Einzelfälle zu Gesamteinschätzungen kommen kann. Man muss zum Beispiel nach Ersatzdaten suchen, wenn ich die Unterlagen der Rückstellungskommissionen nicht habe, wird eine Analyse der konkreten Rückstellungspraxis in den Verfahren aber trotzdem schwierig sein. Das heißt, wir werden auch vor der Situation stehen, dass bestimmte Fragen zwar vielleicht von den Randbereichen her, etwa durch das Archiv eines beteiligten Anwalts, zu beleuchten sind, aber nicht von den zentralen Institutionen her. Das kann durchaus passieren, und das wäre ja auch ein Ergebnis. Ich halte es aber grundsätzlich für wichtig, dass jetzt eine Diskussion über das Archivgesetz in Gang gekommen ist und dass es eine Sensibilisierung gibt hinsichtlich des Umgangs mit Archivmaterial, dass z.B. private Archive ihre Akten nicht einfach wegwerfen dürfen. Über das Bundesarchivgesetz werden erstmals klare Abgaberegelungen für Akten geschaffen, die es ja bis jetzt nicht gab. Die Ministerien konnten mit ihren Akten ja mehr oder weniger nach eigenem Gutdünken verfahren. Diese Fragen werden jetzt etwas besser geregelt, was ansich dem normalen Standard eines demokratischen Rechtsstaates entspricht. Die Archivierung von Behördenvorgängen hat ja letztlich mit Fragen der Demokratie und des Rechtsstaates zu tun. Das gilt nicht nur für die NS-Zeit, sondern es geht grundsätzlich darum, dass auch Vorgänge der Nachkriegszeit und auch das, was gegenwärtig passiert, systematisch dokumentiert wird, damit später bei politischen Diskussionen über bestimmte Phasen der jüngeren Zeit anhand von Akten und anderen Quellen auch klare Urteile, Perspektiven etc. entwickelt werden können. Das halte ich für ganz wesentlich. Worin liegt das spezifische Erkenntnisinteresse der Historikerkommission? Geht es primär darum, den Umfang von Vermögensentzug und Rückstellungen zu erfassen, oder geht es auch um eine Analyse des nationalsozialistischen Systems der Bereicherung oder um die Perspektive der Opfer? Der Auftrag der Kommission ist auf der einen Seite relativ offen. Es geht um den gesamten Vermögensentzug auf dem Gebiet der Republik Österreich, das umfasst auch den Vermögensvorenthalt, d.h. Lohnvorenthalt gegenüber Zwangsarbeitern und Zwangsarbeiterinnen, und Entschädigung und Rückstellung. Es ist eine Frage der Interpretation, was das im Konkreten bedeutet. Wenn man es von der Diskussion im Vorfeld der Kommission aus betrachtet, stand auf der politischen Ebene sicher ganz stark im Vordergrund, dass man eine Expertise zur Frage der „Arisierungen“ und der Zwangsarbeit wollte. Interessant ist, dass man das nicht explizit in den Auftrag hineingeschrieben hat, vermutlich gab es da eine gewisse Scheu zu schreiben, dass man wissen will, was Juden und in Österreich weggenommen worden ist. Man hat stattdessen eine sehr neutrale Formulierung gewählt. Insoweit war es für die Kommissionsmitglieder eine sehr ungewohnte Situation, dass die Politik einen Rahmen vorgibt, der eigentlich sehr viel Interpretationsspielraum läßt. Den „gesamten Vermögensentzug“ zu untersuchen, ist natürlich enorm komplex, und daher ging es uns hauptsächlich darum, die Grenzen dieses Themenkomplexes festzulegen, diese Frage von den Grenzen her zu diskutieren. Fällt zum Beispiel auch ein Raubüberfall im Nationalsozialismus unter „Vermögensentzug“? Wie definiert man die territorialen Grenzen des „Gebietes der Republik Österreich“? Was ist zum Beispiel, wenn jemand mit einem Teil seines Geldes nach Prag flüchtete, dort von der ➤ Gestapo verhaftet und ihm das Geld dort abgenommen wurde, und er wurde vielleicht sogar wieder nach Österreich deportiert oder auch nicht. War das Vermögensentzug in Österreich oder nicht? Was ist, wenn Österreicher den Freihafen von Triest ausgeräumt und die Waren nach Österreich gebracht haben, war das Vermögensentzug in Österreich oder nicht? Man kann also viele thematische Grenzen diskutieren. Ein anderer Punkt ist, dass man viel über den Charakter des NS-Systems wissen muss, um die Komplexität der Beraubungsvorgänge überhaupt zu verstehen. Ich muss natürlich auch wissen, wie der Handlungsspielraum und der Erwartungshorizont der potentiellen Opfer gegenüber der Beraubung war. Wie haben sie sich verhalten, was wurde ihnen dann weggenommen und in welcher Weise? Zum Beispiel die Frage der Entscheidung österreichischer Juden, zu emigrieren oder nicht, bei der ➤ Vermögens- 156 Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 Interview mit Bertrand Perz verkehrsstelle oder dann später bei der ➤ Zentralstelle für jüdische Auswanderung das ganze Vermögen anzugeben oder zu sagen, „Ich gebe nicht das ganze Vermögen an, riskiere aber, dass ich nicht ausreisen darf, weil die NS-Behörden vermuten, ich habe noch irgendwo was versteckt, und das rücke ich nicht heraus. Kann auch sein, ich habe nichts mehr, aber das glauben sie mir nicht.“ Diese Überlegungen – wie verhalte ich mich, wann gehe ich, wann ist der richtige Zeitpunkt, oder schicke ich nur meine Kinder ins Ausland und bleibe selbst da? – hängen in hohem Maße von der Einschätzung des Charakters des NS-Regimes durch die Opfer selbst ab. Das heißt, die Perspektive der Opfer und ihre Erfahrungen spielen eine wesentliche Rolle zum Verständnis bestimmter Vorgänge der Beraubung. Denn die Beraubungsinstitutionen entwickelten zwar einen systematischen Plan der völligen Beraubung der jüdischen Bevölkerung, aber sie „reagierten“ natürlich auch auf das Verhalten ihrer potentiellen Opfer, die beiden Seiten sind verschränkt miteinander. Das gilt ein Stück weit auch für die Zwangsarbeit, wenn vielleicht auch nicht in dem starken Ausmaß, aber wenn man etwa die Reaktion des Regimes auf Schwangerschaften der „Ostarbeiterinnen“, nämlich die Einrichtung von „Ostarbeiterinnen-Entbindungsheimen“ betrachtet, oder die Frage von sexuellen Kontakten zwischen Deutschen und Ausländern, also die sogenannten „Rassenschande“-Geschichten, Arbeitsflucht, Verweigerung, bei all diesen Fragen müssen immer auch die Erfahrungen und Reaktionen der Betroffenen berücksichtigt werden und wie wiederum NS-Behörden auf das Verhalten der Betroffenen reagierten. Das hat aber seine Grenzen, wir schreiben nicht die NS-Geschichte im Sinne einer Systemanalyse und auch keine Erfahrungsgeschichte der Betroffenen in der NS-Zeit. Vom Auftrag der Kommission her steht im Vordergrund die Frage, was wurde den Leuten in welcher Weise weggenommen, und welche Form von Zwang wurde auf sie ausgeübt? Die Idee der Auftraggeber der Kommission ist sicherlich, ein relativ umfassendes Bild auch von den Größenordnungen des Vermögensentzugs und der Zwangsarbeit zu vermitteln. Es geht primär um „handfeste“ Daten, festzustellen, es gab so und so viele Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen, so und so viele leben wahrscheinlich noch, und was das bedeutet. Was sagen Sie zu der von manchen Kollegen und Kolleginnen geäußerten Kritik, solche Kommissionen würden nur positivistische Geschichtsschreibung 1 betreiben? Ich stimme der Ansicht zu, dass die Projekte der Kommission methodisch nicht speziell innovativ sind, das ist aber auch nicht die Idee einer Kommissionsarbeit. Das ist ähnlich wie bei Gerichtsgutachten. Wenn man Gerichtsgutachten erstellt, dann geht es nicht um methodisch innovative Verfahren, sondern da geht es darum, mit den vorhandenen methodischen und theoretischen Möglichkeiten unter bestimmten Voraussetzungen bestimmte Fragen zu beantworten. Dass das zum Teil auch dem Vorwurf entspricht, positivistisch zu sein, verstehe ich ein Stück weit. Natürlich läßt die Fragestellung nach dem Vermögensentzug für einen großen Teil der Fragen, die in der Zeitgeschichtsforschung auch gestellt werden, keinen Platz, aber es ist eben schwierig, von der Politik zu erwarten, dass die Fragen noch einmal anders gestellt werden. Das bedeutet ja nicht, dass man methodisch vollkommen naiv an die Dinge herangehen muss. Wozu werden die Ergebnisse, die im Rahmen der Historikerkommission erarbeitet werden, letztlich dienen? Werden sie eine Grundlage für Entschädigungszahlungen und Rückstellungen sein? Von den vier Auftraggebern, also Bundeskanzler, Vizekanzler, Bundes- und Nationalratspräsident, her ist es sicher stark als politische Handlungsanleitung oder als Legitimation für politisches Handeln intendiert. Man will eine Expertise haben, die politisches Handeln legitimiert, um nach außen zu vertreten, warum man dieses und jenes tut. Es geht aber auch um eine Bewusstmachung bestimmter Vorgänge, die in Österreich während des Nationalsozialismus passiert sind, und die meines Erachtens nach viel zuwenig aufgearbeitet sind. Es gibt immerhin bis heute kein Standardwerk und nicht einmal einen ordentlichen Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 157 vor 15 Jahren noch undenkbar Überblick über das Thema „Arisierung“ in Österreich. Ein Problem in diesem Zusammenhang ist aber die Frage, ob die Kommission ein Alibi ist, um politisches Handeln zu verzögern, bis der Endbericht der Kommission vorliegt. Ein Stück weit haben Kommissionen natürlich diesen Verzögerungseffekt. In dem Moment, wo ich eine Kommission beauftrage, kann man ja auf der politischen Ebene sagen: „Wir tun ja etwas. Man kann uns nicht vorwerfen, wir tun nichts, es passiert ja eh was.“ Für mich war es deshalb ganz wichtig, und das war auch in der Kommission die Meinung, explizit zu sagen, die Regierung, aber auch das Parlament können vom jetzigen Kenntnisstand her schon bestimmte Dinge machen, zum Beispiel überlegen, einen Fonds für Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen einzurichten, und sie können auch beginnen, an bestimmte Gruppen, wo die Sachlage eindeutig ist, zu zahlen. Wenn wir draufkommen, man will jetzt drei Jahre überhaupt nichts machen, und die Kommission ist nur dazu da, das drei Jahre lang hinauszuzögern, dann wird es natürlich ziemlich schwierig für uns. In dem Fall müsste man sich überlegen, ob man diese Arbeit weiter macht. Ich würde aber sagen, realistischerweise kann man solche Entscheidungen vor den Nationalratswahlen im Oktober 1999 nicht erwarten, weil diese wahrscheinlich eher von den Intervallen unmittelbar bevorstehender Wahlen abhängen als von der Frage der Finanzierbarkeit von Entschädigungen. Für die Politik sind diese Milliarden ja nicht ein Problem als Summe an sich. Welche Konsequenzen ergeben sich Ihrer Meinung nach aus der gegenwärtigen Konjunktur der Zeitgeschichte, etwa durch den steigenden Einfluss von Kommissionen, einerseits auf den Forschungsbereich und andererseits auf gesellschaftlicher Ebene? Für die Forschung unmittelbar ist es so, dass mehr Geld da ist als sonst, jetzt speziell für die Zeitgeschichte. Langfristig besteht aber das Problem und die Gefahr, dass man nach dieser Kommission sagt, jetzt haben wir so viel Geld für die NS-Forschung ausgegeben, jetzt ist Schluss. Das hängt ein bisschen mit der Verwechslung von Kommission und Gericht zusammen, dass also die öffentlichen Zuschreibungen ganz stark dahin gehen, es handle sich hier sozusagen um ein Gerichtsverfahren mit einem abschließenden Urteil. Die Geschichtswissenschaft will ja gerade nicht diesen Abschluss, sondern entwirft eine von vielen möglichen Perspektiven auf Vergangenheit. Das Gericht will demgegenüber aber den Abschluss mit einem klaren Urteil und Konsequenzen. Das Urteil soll eindeutig sein und eben keine anderen Perspektiven erlauben. Und diese Verwechslung zwischen Gericht und Geschichtswissenschaft kann auch dazu führen, dass man dann sagt: „Jetzt haben wir das eh erledigt, das ist jetzt festgeschrieben, und alle anderen Perspektiven sind sowieso nicht wichtig in Bezug auf den Nationalsozialismus, das fördern wir nicht mehr.“ Die Folgen für das kollektive Bewusstsein sind schwer einzuschätzen. Wenn man sich zum Beispiel die Entwicklung in der Schweiz anschaut, kann man pessimistisch sein und sagen, durch die Bergier-Kommission und durch die Volcker-Kommission gab es ein massives Ansteigen des Antisemitismus, zumindest der öffentlichen antisemitischen Äußerungen mit den klassischen Zuschreibungen: „Die Juden wollen unser Geld“, „die Ostküste“ oder die ganzen Klischees, die dann immer kommen. Welche langfristigen Folgen das hat, ist wirklich schwer zu sagen. Ein anderer Aspekt ist, dass diese ganze Debatte in der Schweiz in gewisser Weise auch ein Ende dieser Schweiz-Zentriertheit befördert. Die Schweiz ist nicht mehr der Sonderfall in der europäischen Landschaft, als der sie sich selbst jahrzehntelang gesehen hat. Wie das in Österreich sein wird, ist schwer zu sagen. Ich finde es zumindest erstaunlich, dass man mit der Einrichtung der Historikerkommission schon relativ weit weg ist vom langjährigen offiziellen Opfermythos Österreichs. Was jetzt passiert, dass zum Beispiel über Zahlungen öffentlich zumindest nachgedacht wird, das wäre vor 15 Jahren noch undenkbar gewesen. Ob das politisch und gesellschaftlich in Österreich langfristig mehr Bewusstsein schafft in Bezug auf die Vergangenheit, lässt sich noch nicht abschätzen. Das kann man zwar hoffen, aber wenn man manche Reaktionen sieht, die auf die Frage der finanziellen Entschädigung oder der Rückstellungen kommen, muss man da trotzdem auch skeptisch bleiben. 158 Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 Interview mit Bertrand Perz Welche Bedeutung kann Ihrer Meinung nach die Arbeit der Historikerkommission für die Opfer des Nationalsozialismus, für die Leidtragenden haben? Das ist schwer zu sagen, weil es für einzelne Opfergruppen und für einzelne Personen sicher sehr unterschiedlich ist. Es gibt einerseits die Gruppe von Personen, die nie etwas bekommen hat und die auch auf Grund ihrer jetzigen sozioökonomischen Situation froh ist, irgendwas zu bekommen und die es vielleicht wie ein unerwartetes „Geschenk“ sieht, jetzt nach so vielen Jahren doch noch so etwas wie eine Entschädigung zu bekommen. Es gibt aber auch Gruppen, für die der finanzielle Aspekt nicht wichtig ist, sondern die das als symbolische Anerkennung sehen. Andere fühlen sich aber auch verhöhnt durch diese Überlegungen – „Wieviel ist an wen zu zahlen?“ –, weil ihr Leid ja nicht wieder gut zu machen, nicht mit einer bestimmten Summe zu entschädigen ist. Und es gibt sicher auch Leute, die nicht an diese Vergangenheit erinnert werden wollen und deshalb nichts mehr damit zu tun haben wollen. Insofern kann man nicht pauschal von den Konsequenzen für die Opfer des Nationalsozialismus sprechen. Grundsätzlich geht es bei der ganzen Diskussion aber nicht um „Gnadenakte“ der Republik oder der Firmen. Einerseits geht es um Rechtsansprüche von Menschen, denen etwas weggenommen bzw. vorenthalten wurde, andererseits um eine Entschädigung für den Zwang und das ihnen zugefügte Leid. Dr. Bertrand Perz ist Univ.-Lektor am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien und Mitglied der Historikerkommission 1 Mit dieser Kritik ist eine Geschichtsschreibung gemeint, die sich in erster Linie auf das Sammeln und Beschreiben von Quellen/Daten beschränkt, ohne die Auswahl der Daten und die Daten selbst kritisch zu hinterfragen. Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 159 DIE ARCHIVE ÖFFNEN SICH Die Erforschung der Firmen- und Bankengeschichte während der NS-Zeit Neben der Historikerkommission haben mittlerweile auch einige österreichische Unternehmen mit der Erforschung ihrer Vergangenheit während der NS-Zeit begonnen. Österreichische Banken wie die P.S.K. und die Erste Bank haben Forschungsteams beauftragt, die Konten und Depots ehemaliger jüdischer KundInnen ausfindig zu machen. Unternehmen wie die VA Stahl und VA Tech als Nachfolgefirmen der verstaatlichten Industrie lassen die Geschichte der „Hermann-Göring-Werke“, aus denen die VOEST nach 1945 hervorgingen, und der bei ihnen beschäftigten ZwangsarbeiterInnen erforschen, ebenso zum Beispiel der Verbund und die Lenzing AG. Einige Unternehmen haben auf die Ankündigung von Sammelklagen hin eine baldige Entschädigungsregelung für ehemalige ZwangsarbeiterInnen in Aussicht gestellt bzw. versucht, auf dem Weg des Vergleichs eine Lösung mit den Betroffenen zu finden. Dass für die Unternehmen die wissenschaftliche Erforschung der Firmengeschichte in der NS-Zeit eng mit konkreten Zahlungen an die Opfer und deren Hinterbliebene verknüpft ist, zeigt sich am Beispiel der P.S.K., deren Forschungsprojekt schon relativ weit fortgeschritten ist: Im März 1998 wurde vom Vorstand der P.S.K. ein Historikerteam unter der Leitung von Univ.-Doz. DDr. Oliver Rathkolb eingesetzt, das eine umfassende Dokumentation erstellen sollte als mögliche Entscheidungsgrundlage für freiwillige Kompensationen für ehemalige KundInnen bzw. deren Nachkommen. Im Oktober 1998 wurde 160 ein erster Zwischenbericht im Internet veröffentlicht (➤ Internet-Adressen S. 182), in dem die Unternehmensgeschichte des „Postsparkassenamts“ zwischen 1938 und 1945 und die nationalsozialistische Praxis der Vermögensberaubung und -kontrolle dargestellt wird. Die Veröffentlichung einer Liste von rund 7000 namentlich aufgeführten Scheckkonten, Sparbüchern, Wertpapierdepots, die vom NS-Regime geplündert und kontrolliert wurden, soll zur Ausforschung von Anspruchsberechtigten führen. Bis jetzt wurden ca. 2000 Anträge von Nachkommen oder anderen Verwandten der ehemaligen jüdischen KundInnen gestellt. Diese Anträge werden ebenfalls vom Forschungsteam bearbeitet: Scheckkonten und andere Vermögenswerte beim ehemaligen „Postsparkassenamt“ werden den AntragstellerInnen zugeordnet und die Höhe der Beträge sowohl im März 1938 als auch im April 1945 recherchiert. Um die de facto Enteignung zu verschleiern, plünderten die NS-Behörden die Konten jüdischer Kunden nicht vollständig, sondern beließen kleine Restbeträge. Die P.S.K. zahlt an berechtigte AntragstellerInnen, das heißt Nachkommen oder andere Verwandte, einen Betrag in der Höhe des Kontostandes von April 1945 aus, zumindest aber öS 1200. Diese Auszahlungen sind in den Fällen, in denen die Recherche abgeschlossen ist, bereits erfolgt. Bis Ende 1999 sollen ein Endbericht und außerdem eine umfassende Datenbank über die Konten, Sparbücher, Depots und Schrankfächer und biographischen Daten der vorwiegend jüdischen Opfer der nationalsozialistischen Beraubung erstellt werden. Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 Glossar Abgeltungsfondsgesetz zwischen den Zonen und erlaubte Frauen. 1940 –1942 standen die Das am 22. März 1961 erlassene Bundie Aufnahme diplomatischer BezieKinderfachabteilung (am 24. 7.1940 desgesetz, womit Bundesmittel zur hungen zu Regierungen der Vereineröffnet) und das JugenderzieBildung eines Fonds zur Abgeltung ten Nationen. hungsheim unter dem Namen „Wievon Vermögensverlusten politisch ner städtische JugendfürsorgeanVerfolgter zur Verfügung gestellt Alte Kämpfer stalt Am Spiegelgrund“ in einer adwerden, war aufgrund der ForderunViele der sogenannten „alten ministrativen Einheit. 1942 erfolgte gen des ➤ Claims Committee und eiKämpfer“ waren Soldaten, die sich die Trennung in die „Heilpädagoginer Bestimmung des Staatsvertrages nach dem Ende des Ersten Weltsche Klinik Am Spiegelgrund/Wiener erlassen worden, konnte jedoch erst kriegs Frontkämpferverbänden und Nervenklinik für Kinder“ und das nach Abschluß des ➤ Kreuznacher später der NSDAP anschlossen. Als il„Wiener städtische Erziehungsheim Abkommens mit der BRD im Juni legale Parteigenossen nahmen viele Am Spiegelgrund“. Viele der inhaf1961 in Kraft treten, weil es an die fider „alten Kämpfer“ am nationalsotierten Kinder und Jugendlichen nanzielle Beteiligung der BRD gezialistischen Juliputsch 1934 teil. Die wurden Opfer medizinischer Versuknüpft worden war. AnspruchsbeÜbernahme nationalsozialistischer che, von Vergiftung, ➤„Euthanasie“ rechtigt waren „rassisch“ oder reliHerrschaft in Österreich stellte für und Zwangssterilisation. giös Verfolgte für erlittene Vermödie vielfach arbeitslosen und von sogensverluste an Bankkonten, Barzialer Deklassierung bedrohten, bis Am Steinhof geld, Zahlungen diskriminierender 1938 auch gerichtlich verfolgten ille1907 eröffnete „Landes- und PflegeAbgaben ( ➤ Reichsfluchtsteuer u.a.). galen Nationalsozialisten die Möganstalt für Geistes- und NervenkranKleinere Vermögensverluste (bis zu lichkeit dar, über Protektion durch ke für Wien und Niederösterreich“ 47.250 Schilling) wurden zu 100 % die Partei zu Ansehen und Vermöim 14. Wiener Gemeindebezirk. Sie entschädigt, größere mit 48,5%, aber gen zu gelangen. Sie wurden etwa war damals die größte psychiatrische mind. mit 47.250 Schilling. bei ➤ „Arisierungen“ protegiert, in Anstalt Europas und erlangte aufder Gewährung von „Arisierungsdargrund der modernen architektoniAlliierter Rat lehen“ sowie in der Zuweisung von schen Gestaltung Vorzeigecharakter. bzw. Alliierter Kontrollrat: In DeutschKleinbetrieben und HandelsgesellDie bauliche Struktur in Form einzelland und in Österreich gebildetes Orschaften. Viele der „Alten Kämpfer“ ner Pavillons bestimmte das pflegerigan der Besatzungsmächte. In Österbereicherten sich als ➤ „Ariseure“. sche Konzept. Die gesamte Anlage reich wurde der Alliierte Rat auf der umfaßte drei Anstaltsbereiche: eine Grundlage des am 4. Juli 1945 von Altmann, Karl (1904 –1960) Heilanstalt, eine Pflegeanstalt sowie den Alliierten in London beschlosKPÖ-Politiker, 1945–1947 Bundesmiein Sanatorium. Das Sanatorium senen 1. Kontrollabkommens über nister für Elektrifizierung und Enerwurde 1921 in eine Lungenheilstätte Österreich am 9. Juli 1945 eingerichgiewirtschaft, schied als letzter komumgewandelt. In der NS-Zeit wurden tet. Der Rat, bestehend aus vier ➤ munistischer Politiker aus der Regiedie PatientInnen vielfach Opfer der Hochkommissaren, übte oberste Rerung aus. ➤ Euthanasieaktion „T4“. gierungsgewalt aus. Entscheidungen mussten einstimmig getroffen wer- Am Spiegelgrund Amtsbescheinigung den, jede Besatzungsmacht hatte VeAuf dem Gelände der Heil- und PfleNach dem ➤ Opferfürsorgegesetz torecht. Der Rat legte in der Deklarageanstalt ➤ „Am Steinhof“ in Wien wurde die Amtsbescheinigung jenen tion vom 9. Juli auch die Besatzungsbefanden sich in der NS-Zeit drei Opfern des Nationalsozialismus auszonen fest. Das 2. KontrollabkomEinrichtungen, in denen Kinder und gestellt, die aufgrund von Gutachten men über Österreich vom 28. Juni Jugendliche interniert wurden: eine der zuständigen behördlichen Sozial1946 räumte der Provisorischen ReKinderfachabteilung, eine Jugendund Gesundheitsämter als fürsorgegierung größere Kompetenzen ein, erziehungsanstalt und eine Arbeitsbedürftig anerkannt wurden. Primär regelte den freizügigen Reiseverkehr anstalt für „asoziale“ Mädchen und war jedoch nach 1945 nur politischen Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 161 Glossar Opfern des Nationalsozialismus der Erhalt einer Amtsbescheinigung vorbehalten. Der Besitz einer Amtsbescheinigung ermöglichte den Bezug einer Opferrente. ➤ Opferausweis. die Enteignung von Häusern, Wohnungen, Grundstücken, Wertpapieren und Privatvermögen auch die systematische Verdrängung der jüdischen Bevölkerung aus allen Bereichen des öffentlichen Lebens forciert werden. Arierparagraph 1933 erlassene Bestimmung, die die Mitgliedschaft von „Nichtariern“, Arisierungsauflage das heißt Juden und Jüdinnen, Sinti Der ➤ „Ariseur“ hatte neben dem und Roma und anderen Gruppen, in festgesetzten ➤ Kaufpreis an den deutschen Parteien, Verbänden, VerStaat eine „Arisierungsauflage“ als einen etc. verbot. Vorläufer der ➤ Prämie für die günstigen KaufbedinNürnberger Rassengesetze. gungen zu entrichten. schweizerische Flüchtlingspolitik. Den Vorsitz der Kommission führt der Schweizer Wirtschaftshistoriker Jean-François Bergier, neben vier weiteren schweizerischen Mitgliedern sind auch die internationalen ExpertInnen Sybil Milton, Saul Friedlaender, Wladyslaw Bartoszewski und Harold James Mitglieder der Kommission. Die Kommission hat weitreichende Befugnisse, etwa uneingeschränkten Aktenzugang zu sämtlichen öffentlichen und privaten Archiven in der Schweiz. Ariseur Arisierungsfonds Blutorden Die unmittelbar nach dem Anschluss Zur Unterstützung nationalsozialistiDieser Orden, die höchste Auszeicheinsetzenden spontanen Enteignunscher Kaufwerber von zur „Arisienung im NS-Staat, wurde ab 1933 gen, die sogenannten „wilden Arisierung“ bestimmten Geschäfte und Beverliehen, zunächst nur an Teilnehrungen“ von Geschäften und getrieben wurde ein Fonds gegründet, mer des Hitler-Putsches 1923, ab werblichen Betrieben wurden durch der den KaufwerberInnen „Arisie1938 auch an andere Parteimitglievielfach selbsternannte „Kommisrungskredite“ genehmigte. Finanziert der, die für ihre Beteiligung an der sare“ begonnen. Die planmäßige wurden diese Kredite aus den GewinBewegung zumindest eine GefängDurchführung der Enteignungen nen bereits enteigneten jüdischen nisstrafe erhalten hatten. sollten die Praxis der „wilden ArisieVermögens, durch die Differenz zwirungen“ im Nachhinein legalisieren schen dem tatsächlichen ➤ Sachwert Breitner, Hugo (1873–1946) und künftig kontrollieren. Die ➤ Vereines Betriebes und dem VerkaufsFinanzstadtrat im Roten Wien. Breitmögensverkehrsstelle (VVST) bewert, der dafür bezahlt wurde. ner entwickelte eine eigene Finanzstellte neue, eigens dafür ausgeund Steuerpolitik, um ein von der sowählte „kommissarische Verwalter“. Auschwitz-Erlass zialdemokratischen Stadtverwaltung Ab Februar 1939 setzte die VVST für Befehl Heinrich Himmlers vom 16. entwickeltes umfassendes Sozialprodie noch bestehenden jüdischen Dez. 1942, alle „Zigeuner“, die sich gramm sicherzustellen. Die MaßnahUnternehmen sogenannte „Treuhännoch im „Reich“ befanden, in das men lagen in der Umwandlung von der“ ein, um deren ➤ „Arisierung“ Konzentrationslager Auschwitz-Birfixen indirekten Steuern in direkte oder Auflösung vorzubereiten. Für kenau zu deportieren und dort zu Steuern nach sozialen Gesichtspunkdie zahlreichen Stillegungen von Beermorden. Ausgenommen werden ten, einem weitgehenden Verzicht trieben im Handels- und Gewerbebesollten davon die wenigen als „reinauf staatliche Kreditnahme, einer soreich berief die VVST sog. „Abwickrassig“ („arisch“) klassifizierten „Zizial gerechten Wohnbausteuer zur ler“. Die Misswirtschaft der frühen geuner“, sozial angepasst lebende Entlastung proletarischer und klein„wilden Arisierungen“ zeigte sich „Zigeuner“ und jene, die kriegswichbürgerlicher Schichten, der Einfühauch bei den „Abwicklern“, zumal tig waren, entweder in der Wehrrung diverser Luxussteuern und dem die Betriebsliquidierungen vielfach macht oder als ZwangsarbeiterInnen Verzicht auf Profit bei städtischen die Möglichkeiten zu eigener Bereiin der Rüstungsindustrie. Sie sollten Betrieben und Unternehmungen. cherung boten. jedoch zwangssterilisiert werden. Bund der politisch Verfolgten – Arisierung Bergier-Kommission Österreichischer Bundesverband Der Terminus „Arisierung“ bezeichDie „Unabhängige ExpertenkommisIm September 1946 schlossen sich net die Enteignung der gesamten sion Schweiz – Zweiter Weltkrieg“ der ➤ KZ-Verband und zahlreiche, jüdischen Bevölkerung. Nach planwurde im Dezember 1996 von der auch in den Bundesländern tätige losen, gesetzlich nicht geregelten Bundesversammlung (dem ParlaKomitees zur Betreuung der KZ„wilden Arisierungen“ unmittelbar ment) der Schweiz eingesetzt mit Überlebenden zum „Bund der polinach der nationalsozialistischen dem Auftrag, „Umfang und Schicksal tisch Verfolgten“ zusammen. VertreMachtübernahme erfolgte die systeder vor, während und unmittelbar ten waren Mitglieder der SPÖ, der matische Enteignung von Geschäften nach dem Zweiten Weltkrieg in die ÖVP, der KPÖ und auch die sogeund Firmen über Zwangsverkauf, BeSchweiz gelangten Vermögenswernannten „Abstammungsverfolgten“. triebsstillegungen oder den Entzug te“ zu untersuchen. Das betrifft u.a. Der „Bund politisch Verfolgter“ galt von Gewerbekonzessionen durch die den Goldhandel, Verflechtungen als offizielle Interessenvertretung Nationalsozialisten. Neben dem Ziel schweizerischer Industrie- und Hanaller Opfer des Nationalsozialismus. der Verdrängung der Juden und Jüdelsunternehmen mit der nationalAm 8. März 1948 löste Innenminister dinnen aus der Wirtschaft sollte über sozialistischen Wirtschaft und die ➤ Oskar Helmer den „Bund“ mit 162 Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 Glossar Zustimmung der Regierungsparteien auf. In der Folge entstanden drei parteinahe Organisationen der politisch Verfolgten. Bund Deutscher Mädel Ab 1930 eigene Organisation der ➤ Hitlerjugend (HJ) für 14- bis 21-jährige Mädchen, wobei die 17bis 21-jährigen in der angegliederten Organisation „Glaube und Schönheit“ erfasst waren. Der BDM diente der sportlichen Ertüchtigung sowie der ideologischen Schulung der Mädchen zu künftigen Müttern einer „genetisch gesunden“ Nachkommenschaft. Bundesentschädigungsgesetz (BEG) Das BEG der Bundesrepublik Deutschland wurde 1953 zunächst als Bundesergänzungsgesetz erlassen, eine aufgrund erheblicher Mängel notwendige Novellierung führte 1956 zum eigentlichen Bundesentschädigungsgesetz. Entschädigungsberechtigt sind nach dem BEG die aus Gründen politischer Gegnerschaft, der Rasse, des Glaubens oder der Weltanschauung Verfolgten des Nationalsozialismus. Wesentliche Unterschiede zur österreichischen ➤ Opferfürsorgegesetzgebung sind der Entschädigungs- und nicht der Fürsorgegrundsatz, Entschädigung in Form von Renten, wobei auch ein Großteil der Vertriebenen Anspruch auf Renten hat, während die aus Österreich Vertriebenen nur einmalige Zahlungen aus den ➤ Hilfsfonds erhielten. Insgesamt waren im Vergleich zu Österreich mehr Opfer anspruchsberechtigt, und sie erhielten auch höhere Entschädigungen. Allerdings sind auch die Regelungen des BEG sehr kompliziert und wurden teilweise heftig kritisiert, z.B. dass sich die Höhe der Rentenbezüge nach dem früheren Einkommen der Opfer richtete. Anträge konnten zudem nur bis zum 31.12. 1969 gestellt werden, seitdem sind nur einmalige Entschädigungszahlungen aus dem 1980 geschaffenen Härtefonds möglich. Ähnlich wie im österreichischen OFG wurden einige Gruppen von Verfolgten im BEG benachteiligt, wie etwa Roma und Sinti, oder überhaupt davon ausgenommen wie Homosexuelle, Zwangssterilisierte, „Euthanasieopfer“, „Asoziale“ und Bundesministerium für Vermögenskommunistische Widerstandskämpf- sicherung und Wirtschaftsplanung erInnen, die nach 1945 in der KPD ➤ Krauland-Ministerium. aktiv waren. Keine Entschädigung haben außerdem osteuropäische Über- Bürckel, Josef lebende erhalten, sofern sie nicht bis Gauleiter von Rheinland-Pfalz (späEnde 1965 in ein nichtkommunistiter Westmark), wurde am 13. März sches Land emigrierten. Die große 1938 zum „Reichskommissar für die Gruppe der ausländischen ZwangsarWiedervereinigung Österreichs mit beiterInnen ist nach dem BEG ebendem Deutschen Reich“ ernannt (bis falls nicht anspruchsberechtigt. 31. März 1940), gleichzeitig ab Mai 1939 „Reichsstatthalter der OstBundesgesetz über die Nichtigkeit von mark“ und Gauleiter von Wien. Am Rechtsgeschäften und sonstigen 2. August 1940 wurde er Leiter der Rechtshandlungen, die während der Zivilverwaltung in Lothringen. Sein deutschen Besetzung Österreichs Nachfolger wurde Baldur von Schierfolgt sind rach (ab 1931 Reichsjugendführer Das Gesetz vom 15. Mai 1946 erder HJ). kannte gemäß der ➤ Londoner Deklaration von 1943 alle Rechtsge- Chelmno (Kulmhof) schäfte und Rechtshandlungen beIn diesem Ort war das erste nationalzüglich Vermögensentzug und Entsozialistische Vernichtungslager und zug von Vermögensrechten, die wurde als Zentrum für die Ermordwährend der deutschen Besetzung ung der Juden und Jüdinnen des 70 Österreichs ohne die „innere Zustimkm entfernten Gettos von Lodz konmung“ der Leidtragenden erfolgten, zipiert. Nach heutigen Schätzungen als nichtig. Die Geltendmachung der wurden im Lager Chelmno 152.000 Ansprüche der Leidtragenden sollte bis zu 300.000 Menschen ermordet, in späteren Verordnungen geregelt darunter Juden und Jüdinnen aus werden. ➤ Rückstellungsgesetze. den Gemeinden der Umgebung, deportierte Juden und Jüdinnen aus Bundesgesetz über die Rückgabe Österreich, Deutschland, der Tschevon Kunstgegenständen aus den choslowakei sowie ab 1942 polnische österreichischen Bundesmuseen und sowjetische Kriegsgefangene. und Sammlungen Am 4. Dezember 1998 beschlossenes Claims Committee Gesetz, das die Rückgabe von Kunst„Committee for Jewish Claims on und Kulturgegenständen regelt, die Austria“, eine 1952 in New York ge„im Zuge von Verfahren nach dem gründete Dachorganisation der 23 Ausfuhrverbotsgesetz zurückbehalOrganisationen der ➤ Claims Confeten wurden und als ‚Schenkungen‘ rence und der Organisation vertrieoder ‚Widmungen‘ in den Besitz der bener österreichischer Juden und österreichischen Museen und SammJüdinnen, dem „ World Council of lungen eingegangen sind“, die zwar Jews from Austria“. Das Claims Comrechtmäßig in den Besitz der Museen mittee setzte im Mai 1953 einen Exegelangten, die aber vorher „Gegenkutivausschuss unter Vorsitz von ➤ stand eines Rechtsgeschäftes geweNahum Goldmann ein, der die Versen sind, das nach den Bestimmunhandlungen mit der österreichischen gen des so genannten NichtigkeitsRegierung führen sollte. Die zentragesetzes aus dem Jahre 1946 nichtig len Forderungen des Claims Commitist“, und „Kunst- und Kulturgegentee waren die Beseitigung der Diskristände, die trotz Durchführung von minierung der vertriebenen jüdiRückstellungen nicht an die urschen Bevölkerung, die individuelle sprünglichen Eigentümer oder deren Entschädigung für erlittene VermöRechtsnachfolger von Todes wegen gensverluste, Regelungen bezüglich zurückgegeben werden konnten und des „erblosen Vermögens“ und der als herrenloses Gut in das Eigentum spezifischen Forderungen der ➤ Isrades Bundes übergegangen sind“. elitischen Kultusgemeinde. Die VerFerner wurde die Einsetzung eines handlungen begannen Ende Juni 1953 Rückgabe-Beirats veranlasst. und zogen sich mit verschiedenen Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 163 Glossar Zwischenergebnissen bis 1960/61 hin. Ein Ergebnis der jahrelangen Verhandlungen – die Ansprüche auf Entschädigung und Vermögensrückstellung wurden bereits im Artikel 26 des ➤ Staatsvertrages festgehalten – war die Einrichtung von ➤ Sammelstellen zur Erfassung des „erblosen Vermögens“ und die Einrichtung eines ➤ Hilfsfonds. Claims Conference „Conference on Jewish Material Claims Against Germany“, am 26. Oktober 1951 in New York gegründete Dachorganisation verschiedener internationaler jüdischer Organisationen, die unter dem Vorsitz des WJC-Präsidenten ➤ Nahum Goldmann in den Jahren 1951/52 mit der bundesdeutschen Regierung Verhandlungen über Entschädigungszahlungen an Israel und an einzelne Opfer der NS-Verfolgung führte. Die Verhandlungen führten zum ➤ Luxemburger Abkommen vom 10. September 1952. Seitdem besteht die Claims Conference als Organisation zur Sicherung von Geldern für die Rehabilitation und Umsiedlung jüdischer Opfer des Naziterrors. Die Claims Conference ist Mitglied der 1992 gegründeten ➤ World Jewish Restitution Organization. Class Action ➤ Sammelklage. Containment-Politik Eindämmungspolitik, 1946/47 vom amerikanischen Diplomaten und Berater G. F. Kennan entworfene außenpolitische Strategie gegen die Ausdehnung des sowjetischen Einflussbereiches durch westliche Bündnispolitik, Militär- und Wirtschaftshilfe, z.B. durch das Europäische Wiederaufbau-Programm (ERP) und die NATO. Deutsche Arbeitsfront (DAF) Am 10. Mai 1933 nach dem Verbot der Gewerkschaften gegründete Einheitsorganisation „aller schaffenden Deutschen“. Der Zusammenschluss von ArbeiterInnen, Angestellten und UnternehmerInnen in einer einzigen Organisation sollte eine reibungslose Umsetzung nationalsozialistischer Wirtschaftspolitik 164 und eine bessere Kontrolle über den versitären Forschungseinrichtungen, gesamten Produktionsprozess geHistorikerInnen, ZeitzeugInnen, währleisten. Aufgrund ihrer hohen Schulen, Bereichen der ErwachseMitgliederzahl (ca. 23 Mio. Mitglienenbildung sowie der Veranstaltung der) und der Mitgliedsbeiträge von Tagungen, Symposien, Ausstelkonnte die DAF unter dem Reichsleilungen und der Publikation einer ter Robert Ley auch eine Reihe von eigenen Zeitschrift und SchriftenWirtschaftsunternehmen, u.a. Wohreihe hat das DÖW auch eine demonungsbau- und Siedlungsgesellschafkratiepolitische Funktion. ten, Banken, Versicherungen, Druckereien, finanzieren. Döllersheim Zum Zwecke der Landbeschaffung Deutsches Jungvolk für einen eigenen TruppenübungsDas DJ als Teilorganisation der ➤ Hitplatz wurde im Dezember 1938 mit lerjugend (HJ) erfasste die zehn- bis der Entsiedelung von Ortschaften 14-jährigen Buben. Der Eintritt in um das Gebiet von Döllersheim in den DJ erfolgte schuljahrgangsweise Niederösterreich begonnen. Im Aufam Geburtstag Hitlers. Nach der Betrag der „Deutschen Ansiedlungsendigung ihrer Dienstzeit im DJ wurgesellschaft“ sollten den ca. 7000 den die Buben (wiederum an Hitlers AussiedlerInnen als Entschädigung Geburtstag) in die eigentliche HJ neue Wirtschaftshöfe in der Umgeüberwiesen. bung, aber auch in anderen Reichsgebieten zugeteilt werden. Nach Displaced Persons (DPs) dem Krieg wurde der TruppenNach dem Zweiten Weltkrieg befanübungsplatz als deutsches Eigenden sich ca. 10 Millionen Menschen tum angesehen und besetzt. Nach auf der Flucht bzw. außerhalb ihrer dem Abzug der Alliierten aus NieHeimatländer, z.B. in den befreiten derösterreich forderten viele der Konzentrationslagern; sie wurden ehemals Ausgesiedelten entweder als Displaced Persons bezeichnet. In eine Entschädigung oder die MögÖsterreich waren es etwa eine Millilichkeit, wieder zurückzukehren. on fremdsprachige und ca. 600.000 Die Rückstellungsfrage war insofern deutschsprachige DPs, darunter die problematisch, als es unterschiedliÜberlebenden der Konzentrationslache Gruppen von ehemaligen Eiger, die ausländischen Zwangsarbeigentümern gab: Familien, die sich terInnen und die aus ihren Ländern 1938 geweigert hatten, ihren Besitz vertriebenen und geflüchteten Menzu verkaufen, die keinen Kaufverschen. Sie wurden in großen Lagern trag unterzeichneten und daher untergebracht. Für die meisten DPs, zwangsenteignet und vertrieben auch für die jüdischen Überlebenwurden. Eine andere Gruppe eheden, waren die alliierten Besatmaliger DöllersheimerInnen hatte zungsmächte und die ➤ UNRRA zu1938 unter Druck dem Verkauf zuständig, die die Versorgung und Vorgestimmt, war aber mit „arisierbereitung der Repatriierung der DPs tem“ Besitz entschädigt worden, übernahmen. Für deutschsprachige der inzwischen zurückerstattet werDPs waren österreichische Behörden den musste. Andere Döllersheimer verantwortlich. erhielten Besitz in Südböhmen und Südmähren und wurden nach Dokumentationsarchiv des österKriegsende von dort vertrieben. reichischen Widerstandes (DÖW) Nach langen Verhandlungen über Das DÖW ist ein Archiv, dessen eine landwirtschaftliche Nutzung Schwerpunkte auf Widerstand und des Truppenübungsplatzes sowie eiVerfolgung 1934–1945, Exil, NS-Verne Rückkehr der AussiedlerInnen brechen (insbesondere Holocaust) ging der Truppenübungsplatz in sowie Rechtsextremismus nach 1945 den Besitz des österreichischen Bunliegen. Weiters ist das DÖW auch eidesheeres über. ne Forschungseinrichtung für Projekte zu den genannten Schwer- Ebensee punkten. Neben der ZusammenarDas Konzentrationslager Ebensee beit mit universitären und außeruniwurde am 18. November 1943 als Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 Glossar Außenlager des KonzentrationslaBerlin gegründet. 1939 wurde EichGiftspritzen, aber auch durch Gas. gers Mauthausen in Oberösterreich mann Leiter des „UmsiedlerreferaInsgesamt wurden etwa 30 „Kindererrichtet, um KZ-Häftlinge beim Bau tes“ in der ➤ Gestapo und spielte in fachabteilungen“ geschaffen, wie von Tunnels für die geplante unterder Folgezeit eine zentrale Rolle bei etwa ➤ „Am Spiegelgrund“ in Wien, irdische Verlagerung einer Raketender Vertreibung der Juden und Jüaber auch ehemalige Heil- und Pfleversuchsanlage als Zwangsarbeitsdinnen aus Polen. Nach dem Ausgeanstalten wurden zu Euthanasiekräfte einzusetzen. Die Häftlinge wanderungsverbot für Juden und anstalten umfunktioniert, wie etwa kamen u.a. aus der Sowjetunion, Jüdinnen 1941 übernahm Eichmanns ➤ Hartheim bei Linz. aus Polen, Ungarn, Jugoslawien, Büro die Organisation der DeportaFrankreich, Belgien, Luxemburg. Die tionen in polnische Vernichtungsla- Euthanasieaktion „T4“ ersten jüdischen Häftlinge kamen ger. Nach dem Krieg floh er mit Hilfe Im Oktober 1939 befahl Hitler im Juni 1944 nach Ebensee, ihre des Vatikans nach Argentinien, wo die Ausweitung der „Euthanasie-AkZahl nahm mit mehreren Gefangeer 1960 vom israelischen Geheimtion“ auf InsassInnen von Heil- und nentransporten Anfang 1945 weiter dienst aufgegriffen wurde. Nach eiPflegeanstalten im gesamten Reichszu. Sie hatten schlechtere Lebensbenem Prozess in Jerusalem wurde gebiet. Das Programm wurde unter dingungen als andere Häftlinge und Eichmann am 1. 6.1962 gehängt. der Bezeichnung „T4“ weitergedaher auch eine höhere Todesrate. führt, benannt nach der Berliner Die Forcierung des Tunnelausbaus ESRA Adresse Tiergartenstraße 4, wo die und die damit verbundene ÜberbeInitiative zur psychosozialen, soZentrale untergebracht war. Insgelegung des Lagers führten zu einer zialtherapeutischen und soziokultusamt existierten sechs T4-Anstalten: wesentlichen Verschlechterung der rellen Integration. ESRA ist ein BeGrafenegg in Württemberg, BranBedingungen im Lager, allein im handlungs- und Beratungszentrum denburg und ➤ Hartheim bei Linz ab April 1945 starben über 3000 Häftfür Menschen mit psychosozialen Jänner 1940, Sonnenstein bei Pirna linge. Am 5. Mai verließen der LaProblemen und Krankheitsbildern, seit April 1940, Bernburg an der Saagerkommandant und die SS-Wachdie durch Erlebnisse während des le ab September 1940 und Hadamar mannschaften Ebensee, ihr Versuch, Holocaust sowie durch Entwurzebei Limburg ab Jänner 1941. Die Pazuvor die noch lebenden Häftlinge lung aufgrund von Flucht und VertientInnen dieser Anstalten wurden durch einen Sprengsatz im Tunnel treibung bedingt sind. Opfer des Nain Gaskammern mittels Kohlenmoumzubringen, schlug fehl, da sich tionalsozialismus haben die Mögnoxid ermordet. Offiziell wurde nach die Häftlinge weigerten, in den Tunlichkeit zu Einzel- und GruppentheBekanntwerden das T4-Programm nel zu gehen. Das Lager Ebensee rapien, ambulanter Beratung, mediam 3.8.1941 eingestellt. Die Ermorwurde am 6. Mai von amerikanizinischer und psychologischer Bedung durch Gas wurde nun von den schen Truppen befreit. treuung. T4-Spezialisten in den ➤ Vernichtungslagern realisiert. Die Ermordung Eichmann, Adolf (1906–1962) Euthanasie der HeiminsassInnen wurde aber Bereits zu Zeiten des Verbots der NaAuf der Basis der ➤„Nürnberger auch nach der offiziellen Beendigung tionalsozialisten in Österreich schloß Rassengesetze“ sowie des ➤ „Gesetdezentral weitergeführt bzw. wursich Eichmann 1933 der „Österreichizes zur Verhütung erbkranken Nachden viele der InsassInnen in Vernichschen Legion“, einer Einheit der ➤ wuchses“ wurde von den Nationaltungslager deportiert und ermordet. SS für emigrierte Nationalsozialisten sozialisten ein eigenes Programm in Bayern, an. Nach militärischer zur Vernichtung, wie sie es nannten, Figl, Leopold (1902–1965) Ausbildung versah er seinen Dienst „lebensunwertem Leben“ ausgearÖVP-Politiker, war von 1938–1943 im im Lager Dachau. Eichmann war im beitet. Der Begriff „lebensunwertes KZ Dachau und 1944–1945 im KZ Wesentlichen für die Vertreibung Leben“ war ein sehr breit gefächerMauthausen inhaftiert, 1945 Landesder Juden und Jüdinnen aus Europa ter: Er inkludierte geistig oder körhauptmann von Niederösterreich, zuständig. Über die Gründung der perlich behinderte Kinder und ErMitbegründer der ÖVP, Staatsse➤ „Zentralstelle für jüdische Auswachsene, politische GegnerInnen, kretär der Provisorischen Regierung wanderung“ in Wien im August 1938 sogenannte „Asoziale“ und „Arunter Karl Renner, 1945–1953 Bunwickelten Eichmann und sein Büro beitsscheue“; all jene, die dem Ideal deskanzler, 1953–1959 Bundesminidie Auswanderung der Juden und der „deutschen Herrenrasse“ nicht ster für Äußeres, Mitunterzeichner Jüdinnen aus Europa ab. Entscheidenentsprachen, wurden in eigenen Andes Staatsvertrages, 1959 –1961 de Schritte lagen in der Verschlechtestalten interniert, zwangssterilisiert Erster Präsident des Nationalrats, rung der wirtschaftlichen Lage für oder in Konzentrationslager depor1962–1965 Landeshauptmann von die jüdische Bevölkerung, zunehtiert. Ab 1939 wurde in eigenen Niederösterreich. menden Terroraktionen sowie der Euthanasieanstalten mit der Tötung Kontrolle der jüdischen Gemeinden geistig und körperlich behinderter Fischböck, Hans durch erzwungene Zusammenarbeit. Kinder begonnen. Später folgte die Nach dem „Anschluss“ im März 1938 Nach dem Wiener Vorbild wurden unter „Sterbehilfe“ getarnte Tötung Leiter des Ministeriums für Wirtweitere Auswanderungsstellen in von InsassInnen von Heil- und Pfleschaft und Arbeit (ehemals MiniBöhmen und Mähren, Prag und geanstalten mittels Injektionen, sterium für Handel und Vekehr). Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 165 Glossar Die Abteilungen und Referate des ren wurden, durch das Bundesminiihre Handlungsspielräume. Die priMinisteriums arbeiteten eng mit sterium für Vermögenssicherung und märe Aufgabe lag in der Überwader ➤ Vermögensverkehrsstelle Wirtschaftsplanung ➤ Krauland-Michung, Kontrolle und Ausforschung (VVST) zusammen und wirkten an nisterium. politischer GegnerInnen des NS-Reder Planung der Ausschaltung der gimes, demzufolge auch Kontrolle jüdischen Bevölkerung aus der Gesetz über die Erfassung „arisierter“ über die Polizei und Organisation österreichischen Wirtschaft ent- und anderer im Zusammenhang mit der Konzentrationslager sowie Orscheidend mit. der nationalsozialistischen Machtüberganisation von Terroraktionen gegen nahme entzogener Vermögenschaften Juden und Jüdinnen und andere Generalamnestie für ehemalige Das erste für Fragen der Rückstellun„Staatsfeinde“. 1939 wurde die GeNationalsozialistInnen gen wichtige Gesetz wurde bereits stapo mit der Sicherheitspolizei (SiDas vom ➤ Verband der Rückstelam 10. Mai 1945 erlassen. In § 2 po), dem ➤ Sicherheitsdienst (SD) lungsbetroffenen heftig geforderte wurde festgelegt, dass die Anmelzum ➤ Reichssicherheitshauptamt Gesetz wurde am 14. März 1957 erdung entzogenen Vermögens durch (RSHA) zusammengeschlossen, auch lassen. Damit wurden u.a. das die derzeitigen BesitzerInnen, also die Grenzpolizei wurde ihrer LeiKriegsverbrechergesetz und noch in vielen Fällen durch die ➤ „Ariseutung unterstellt. Sie übernahm entbestehende Berufsverbote für ehere“ selbst, zu erfolgen hatte. Zwar scheidende Funktionen bei der malige NationalsozialistInnen aufwar die Nichtanmeldung strafbar, „Endlösung“ der Judenfrage. Die gehoben und die Rückgabe von bedennoch war diese AnmelderegeGestapo operierte ohne gesetzliche schlagnahmten Kleingärten und lung für die enteigneten Opfer Basis und Verordnungen, sondern Möbeln möglich. NS-Opfer, die diese zweifellos problematisch. Die Verführte ihre Maßnahmen im Zuge des Kleingärten und Möbel – gegen eiordnung zur eigentlichen UmNS-Gesamtauftrags durch. ne Miete – von der Stadt Wien besetzung dieses Gesetzes wurde erst kommen hatten, mussten sie nun ein Jahr später, erlassen. Getto wieder zurückgeben oder an die Ursprünglich ein Stadtteil oder eine ehemaligen NationalsozialistInnen Gesetz zur „Verhütung erbkranken Straße, in der ausschließlich Juden eine Ablöse zahlen. Nachwuchses“ vom 14. Juli 1933 und Jüdinnen wohnten. Dieser BeDieses Gesetz, das in Österreich am reich war von anderen Teilen einer Generalgouvernement 1.1.1940 in Kraft trat, bildete die Stadt abgegrenzt. Der Ausdruck Das „Generalgouvernement für die Grundlage für die vom NS-Regime „Getto“ wurde in Venedig geprägt, besetzten polnischen Gebiete“ wurdurchgeführte Zwangssterilisierung wo 1516 die jüdische Bevölkerung de am 26. Oktober 1939 als eigenvon sogenannten „Erbkranken“ (geigezwungen war, in ein abgeschlosseständiges Verwaltungsgebiet errichstig behinderte, schizophrene, an nes Viertel, das „Getto Nuovo“, zu tet und umfasste die Teile Polens, die Epilepsie leidende, blinde und gehörziehen. Ziel war es, die Kontakte von Deutschland besetzt, aber nicht lose oder schwer körperlich behinderzwischen Juden und Christen und unmittelbar dem „Reich“ angeschloste Menschen, aber auch Alkoholiker). deren ökonomische Aktivitäten einsen worden waren. Generalgouverzuschränken. Davon zu unterscheineur war Hans Frank. Das General- Gesetz zur Wiederherstellung des den sind allerdings die nationalsoziagouvernement war in die Distrikte Berufsbeamtentums listischen Gettos in besetzten GebieKrakau, Warschau, Radom und Lublin Aufgrund des Gesetzes vom 7. April ten, die nicht als Wohngebiete konunterteilt. Im Sommer 1941, bei Be1933 konnten „nichtarische“, v.a. zipiert wurden, sondern als Überginn des Angriffs auf die Sowjetunijüdische, und „politisch unzuvergangsstadium im Verlauf der „Endlöon, kam der Distrikt Galizien hinzu. lässige“ BeamtInnen, z.B. ZeugInnen sung der Judenfrage“. Juden und Insgesamt lebten im GeneralgouverJehovas, aus dem Staatsdienst entJüdinnen wurden wie in Lagern innement zu diesem Zeitpunkt ca. 17 lassen werden. terniert, bewacht und vom NS-RegiMillionen Menschen. Polen wurde me in ihren Lebensgewohnheiten von den Nationalsozialisten als Ar- Gestapo kontrolliert und dominiert. Nach beitskräftereservoir des Reiches beVon den Nationalsozialisten errichKriegsbeginn wurden in den größten trachtet, zahlreiche Zwangsarbeitstete „Geheime Staatspolizei“, die Städten Osteuropas Gettos errichtet, lager wurden errichtet, in denen inszunächst nur in Preußen, später im als Übergang bis zur Deportation in besondere auch die jüdische Bevölganzen Reichsgebiet eingesetzt wurKonzentrationslager. Die meisten Bekerung Zwangsarbeit leisten musste. de. 1933 erfolgte die offizielle GrünwohnerInnen der Gettos wurden in dung, und ➤ Hermann Göring überVernichtungslagern ermordet, nur Gesetz über die Bestellung von nahm als Chef der politischen Polizei ein kleiner Teil kam während der öffentlichen Verwaltern und die Zuständigkeit für die StaatspoliEndphase des Krieges in KonzentraAufsichtspersonen zei. 1934 wurden innerhalb der Getions- oder Arbeitslager. Das Gesetz vom 10. Mai 1945 regelte stapo eigene Judenreferate gegründie Einsetzung von Verwaltern für det. Im Laufe der NS-Herrschaft er- Gildemeester-Auswanderungsöffentliche Unternehmen, die Gelangte die Gestapo immer stärkeren Hilfsaktion genstand von RückstellungsverfahEinfluss und erweiterte systematisch Über die Möglichkeit der Ausreisebe- 166 Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 Glossar schaffung für die wohlhabende jüdische Bevölkerung sollte gleichzeitig deren Enteignung und Verdrängung aus dem Wirtschaftsleben forciert werden. Durch die Ausreisebewilligung unter totalem Vermögensverlust wurde gleichzeitig auch die Ausreise mittelloser Juden und Jüdinnen finanziert. Im April 1938 begann der Holländer Frank van Gheel Gildemeester mit der Organisierung der Auswanderungsaktionen. Nach diesem Vorbild gründete ➤ Adolf Eichmann im August 1938 die ➤ „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“. rung“ verantwortlich. Er gründete die ➤ „Reichszentrale für jüdische Auswanderung“ 1939 in Berlin nach dem Vorbild ➤ Eichmanns in Wien sowie eine Treuhandstelle zur Verwaltung entzogenen jüdischen Vermögens. Wegen Niederlagen der Luftwaffe und zunehmenden Differenzen zu Hitler wurde Göring gegen Ende des Krieges aus allen Ämtern und aus der NSDAP ausgeschlossen. Er wurde bei Prozessen gegen Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärtribunal in Nürnberg zum Tode verurteilt. Am Tag vor der Hinrichtung, am 15.10.1946, vergiftete er sich. heitshauptamtes (RSHA). Er war eine Schlüsselfigur bei der Planung und Durchführung der antijüdischen Politik der Nationalsozialisten, ab 1934 Leiter der Gestapo in Preußen und des SD, wo er eigene „Referate für Judenangelegenheiten“ errichtete. Auf der Basis von ➤ Gestapo und ➤ RSHA wurde er zum Vollstrecker der nationalsozialistischen Judenpolitik. Der Befehl zur Konzentrierung der polnischen Juden und Jüdinnen und die Errichtung von Judenräten 1939 erfolgte durch ihn. Weiters befehligte er Massendeportationen und Pogrome. Ob die Durchführung der „Endlösung“ auch auf einen Befehl Heydrichs zurückzuführen ist, ist umstritten. 1941 wurde er stellvertretender Reichsprotektor des Protektorats Böhmen und Mähren. Er starb 1942 bei einem Anschlag tschechischer WiderstandskämpferInnen in Prag. Goldmann, Nahum (1894–1982) Geboren in Litauen, kam 1900 mit seinem Eltern nach Deutschland, wo Haager Landkriegsordnung (LKO) er Rechts-, Geschichtswissenschaften 1907 erlassenes, zum internationalen und Philosophie studierte, seit 1918 Völkergewohnheitsrecht zählendes in der zionistischen Bewegung tätig, Recht, das auch für das Deutsche ab 1929 Herausgeber der „EnzyReich bis 1939 Geltung hatte. Die klopaedia Judaica“. 1933 EmigratiLKO legt unter anderem die Behandon, 1935–1940 Vertreter der ➤ Jelung von Kriegsgefangenen im Hilfsfonds wish Agency beim Völkerbund in Kriegsfall fest und garantiert der BeDer „Fonds zur Hilfeleistung an poGenf, 1949–1978 Präsident des völkerung eines besetzten Gebietes litisch Verfolgte, die ihren Wohnsitz ➤ World Jewish Congress und in den eine Reihe von Rechten, z. B. den und ständigen Aufenthalt im Ausfünfziger Jahren Vorsitzender der Schutz des Privateigentums, Verbot land haben“ wurde am 18. Jänner ➤ Claims Conference und des der Deportation der Bevölkerung 1956 beschlossen. Seine Einrichtung ➤ Claims Committee. und Verbot der Zwangsarbeit. war im Wesentlichen ein Ergebnis der Verhandlungen des Claims ComGöring, Hermann (1893–1956) Hartheim mittee mit der österreichischen BunSchloss sich bereits 1922 der NSDAP 1889 von Fürst Camillo Heinrich Stardesregierung. Der mit 550 Mio. an und wurde noch im selben Jahr hemberg gegründetes Asyl für „arme Schilling (zahlbar in elf Jahresraten Chef der SA. Nach der Beteiligung Schwach- und Blödsinnige“. Ab Feab 1955) dotierte Fonds sollte den am missglückten Novemberputsch bruar 1940 wurde die „Kinder- und Opfern der nationalsozialistischen der Nationalsozialisten 1923 floh er Pflegeanstalt Hartheim“ in der Nähe Verfolgung zugute kommen, die nach Österreich, wo er sich bis 1927 von Linz in das ➤ Euthanasieproim bisherigen Opferfürsorgegesetz aufhielt. 1928 wurde er Abgeordnegramm „T4“ der Nationalsozialisten noch nicht berücksichtigt worden ter der NSDAP im Deutschen Reichsaufgenommen, und es wurde mit der waren, v.a. den jüdischen Vertriebetag, 1932 Reichstagspräsident, Tötung von geistig oder körperlich nen. Weitere Voraussetzung für eiReichskommissar für Luftfahrt und behinderten Kindern begonnen. ne einmalige Zuerkennung von das preußische Innenministerium. Im Aber auch als „asozial“ deklarierte 5000 bis 30.000 Schilling – je nach April 1933 stieg er zum MinisterpräPersonen sowie andere InsassInnen Schwere der Verfolgung bzw. der sidenten und Innenminister Preußens von Heil- und Pflegeanstalten, etwa gesundheitlichen Schäden – waren auf. Göring war aktiv am Aufbau der vom ➤ „Steinhof“ in Wien, und ausder Besitz der österreichischen ➤ Gestapo beteiligt sowie Oberbegesonderte Häftlinge des KZs MautStaatsbürgerschaft am 13. März fehlshaber der Luftwaffe. 1936 überhausen wurden nach Hartheim ge1938 bzw. der mindestens zehnnahm er die Verantwortung für die bracht und mittels Giftgas getötet jährige ständige Wohnsitz in Österwirtschaftliche Planung des „Reiund im Krematorium verbrannt. reich vor dem 13. März 1938 und ches“, den sog. ➤ Vierjahresplan. die Antragstellung binnen eines 1939 wurde er von Hitler zu seinem Helmer, Oskar (1887–1963) Jahres bis zum 11. Juni 1957. Der Stellvertreter ernannt und ein Jahr SPÖ-Politiker, 1945–1959 InnenminiFonds konnte seine Auszahlungen später zum Reichsmarschall des ster und stellvertretender Vorsitzenan ca. 30.000 AntragstellerInnen beGroßdeutschen Reiches erhoben. Als der der SPÖ. reits 1962 abschließen bzw. wurde Zuständiger für die Wirtschaft des nach der Ausweitung und AufLandes war er maßgeblich für die Be- Heydrich, Reinhard (1904–1942) stockung als „Neuer Hilfsfonds“ schlagnahmung jüdischen VermöChef der Sicherheitspolizei (Sipo) gemäß dem ➤ Kreuznacher Abkomgens sowie die geplante ➤ „Arisieund des SD, später des Reichssichermen bis 1964 weitergeführt. Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 167 Glossar Himmler, Heinrich (1900–1945) den die verschiedenen Organisatiound der Gestapo unterstellt. Mit der Reichsführer SS, Chef der ➤ Gestapo nen einerseits nach Geschlecht und Gründung der ➤ „Zentralstelle für und der Waffen SS, ReichsinnenminiAlter und andererseits je nach jüdische Auswanderung“ wurde die ster von 1934-45. Er trat bereits in Größe in Schar, Gefolgschaft, IKG massiv für die Zwecke der ➤ SS den frühen zwanziger Jahren in die Stamm und Bann. Durch Auflösung missbraucht. Am 1. November 1942 ➤ SS ein, wurde 1929 deren Leiter und Verbot aller anderen Jugendwurde die IKG durch den „Ältestenund 1934 stellvertretender Chef der verbände – die katholischen Jugendrat“ ersetzt. Vor 1938 hatte die IKG Gestapo. Als Reichsführer SS und organisationen waren bis 1938 zuWien 200.000 Mitglieder, nach 1945 Chef der deutschen Polizei übte er gelassen – wurde die NS-Jugendarlebten in Wien weniger als 5000 JuKontrolle über die gesamte Polizei beit 1936 monopolisiert. Disziplinieden und Jüdinnen. 1945 wurde die aus und erlangte Macht zum Ausbau rung, körperliche Ertüchtigung soIKG rekonstituiert, bis 1949 wuchs des Polizeiapparates und des Systems wie die Aufzucht einer „Menschendie Mitgliederzahl auf ca. 11.000 an. der Konzentrationslager. In seiner reserve“ nach rassenpolitischen KriDie IKG richtete verschiedene Stellen Funktion als „Reichskommissar für terien waren die Erziehungsziele für die überlebenden Opfer des die Festigung des deutschen Volksder HJ. b) Die HJ umfaßte als TeilorNationalsozialismus ein, u.a. ein tums“ 1939 war er maßgeblich an ganisation der NS-Jugendverbände Wohnungs-, ein Wanderungs-, ein Plänen für die Vernichtung der jüdidie 14- bis 18-jährigen Burschen. Gesundheits- und ein Wiedergutmaschen Bevölkerung sowie an der Mit 18 Jahren wurden diese in die chungsreferat. Neuordnung des deutschen „LebensPartei bzw. ihre Gliederungen überraumes“, etwa durch Umsiedlungswiesen oder nach einem Jahr Jewish Agency (JA) aktionen im besetzten Polen, betei„Reichsarbeitsdienst“ in die WehrSeit 1948 JA für Israel. Die JA wurde ligt. Nach der Übernahme des Pomacht übernommen. 1921 als Organisation der Zionististens des Chefs der Sicherheitspolizei schen Weltorganisation (ZWO) geund des SD nach ➤ Heydrichs Tod Hochkommissar/Hoher Kommissar gründet, 1929 durch die Aufnahme 1942 war er maßgeblicher Motor in Ab Juli 1945 stellten die vier Obervon Nichtzionisten erweitert. Die JA der Durchführung der „Endlösung“. befehlshaber der Besatzungsmächte verstand sich als InteressenvertreSeine Stellung als ReichsinnenminiUSA, UdSSR, Großbritannien und tung der in Palästina lebenden Juster 1943 und als Befehlshaber des Frankreich als Hochkommissare den den bei der britischen MandatsreErsatzheeres 1944 verweisen auf sei➤ Alliierten (Kontroll-)Rat in Östergierung und vor dem Völkerbund, nen zunehmenden Machtzuwachs. reich. Dieser trat unter wechselnab 1947 vor den Vereinten NatioDas Vertuschen des Massenmords sodem Vorsitz monatlich in Wien zunen. Waren bereits ab 1933 viele Juwie der Befehl zu seiner Einstellung sammen. den und Jüdinnen überwiegend aus im November 1944 sollte erste FrieOst-, Südost- und Mitteleuropa in densverhandlungen Himmlers mit International Refugee Organization Palästina eingewandert, so versuchden Alliierten ermöglichen. Infolge- (IRO) te die JA später über private Spendessen wurde er von Hitler aller ÄmDie internationale Flüchtlingsorganiden, Spenden von landwirtschaftliter enthoben. Nach dem Krieg versation übernahm am 1. Juli 1947 die chen Siedlungen und Institutionen suchte er unter falschem Namen zu Aufsichtsfunktion der ➤ UNRRA beRettungsmaßnahmen für verfolgte flüchten und wurde von britischen züglich der ➤Displaced Persons, vereuropäische Juden und Jüdinnen zu Soldaten gefasst. Am 23.5. beging er waltete Spenden und organisierte finanzieren. Ihre Tätigkeit reichte Selbstmord, noch bevor er als Hauptdie Versorgung der DPs und ihre Anüber die Erstellung von Einreisevisa kriegsverbrecher vor Gericht gestellt siedlung in alten und neuen Heimatfür jüdische Kinder aus besetzten werden konnte. ländern. Ländern Europas und die Finanzierung von Transporten bis zu ersten Hitlerjugend Israelitische Kultusgemeinde (Wien) finanziellen Unterstützungen für Ima) Jugendorganisation der NSDAP, Im Staatsgrundgesetz von 1867 wurmigrantInnen. Allerdings stellte die entstanden 1926 aus dem „Jungde den jüdischen BürgerInnen erstvon den Briten festgesetzte Einwansturm Adolf Hitler“, einem 1922 gemals volle Glaubens- und Gewissensderungsquote (➤ englisches Weißgründeten Ableger der SA. Die HJ freiheit gewährt. Zu den Hauptaufbuch) eine erhebliche Einschränkung war zunächst nur für Knaben, ab gaben der Kultusgemeinde zählten für die Aufnahme von Verfolgten 1928 auch für Mädchen zugelassen. religiöse und kulturelle Belange, die dar. Nach der Gründung Israels (15. Als Reichsjugendführer übernahm Errichtung und Erhaltung von SynaMai 1948) wurde die JA in ZusamBaldur von Schirach 1931 den gogen, die Versorgung Alter und menarbeit mit der ZWO zum Binreichseinheitlichen Befehl über die Kranker. Dafür erhielt sie das Recht, deglied zwischen Israel und den in Organisation der NS-Jugendvervon ihren Mitgliedern Steuern und der Diaspora lebenden Juden und bände. Die Organisationsstruktur Gebühren einzuheben. Nach dem Jüdinnen. Die ZWO-JA leistete finander HJ folgte dem militärischem Anschluss vom 12. März 1938 wurde zielle Unterstützung und förderte Muster sowie der Ausrichtung nach die Kultusgemeinde aufgelöst. Im die soziale Integration, errichtete einem hierarchischen Führer-GeMai 1938 wurde sie wiedergegrünAufnahmelager und hebräische folgschaftsprinzip. Eingeteilt wurdet, war aber unmittelbar der SS Schulen etc. Im In- und Ausland bie- 168 Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 Glossar tet die ZWO-JA zahlreiche Kultur- Kaufpreis Klärung der Rückstellungsverfahren und Bildungsprogramme für Juden Durch Prüfung der ➤ Vermögensverdie Vermögen zu verwalten und daund Jüdinnen in der Diaspora an. kehrsstelle festgesetzter Preis für nach deren Übergabe zu organisieden „Kauf“ jüdischer Geschäfte, der ren. Krauland und einigen seiner Joint Distribution Committee (JDC) dem/der ursprünglichen EigentümeMitarbeiter wurde Ende der vierziEigentlich „American Jewish Joint rIn zugestanden wurde. Dieser lag ger Jahre vorgeworfen, RückstellunDistribution Committee“, kurz allerdings erheblich unter dem Vergen zu hintertreiben bzw. sich selbst „Joint“ genannt. Die Organisation kehrswert und wurde auf Sperrkonzu bereichern, was 1954 zum sogewurde 1914 als überseeische Wohlten eingezahlt, d.h. die festgesetzte nannten „Krauland-Prozess“ führte. fahrtsorganisation gegründet und Summe stand den ehemaligen EiDas Ministerium selbst wurde im Ankonzentrierte sich ab 1933 auf die gentümerInnen nicht zu Verfügung. schluss an die Neuwahlen 1949 aufUnterstützung der jüdischen Bevölgelöst, die Agenden der noch offekerung in Deutschland und in den Kinderübernahmsstelle (KÜST) nen Rückstellungsfälle wurden dem von Deutschland besetzten GebieDie KÜST wurde 1925 im Rahmen eiBundesministerium für Finanzen ten Ost- und Westeuropas, etwa nes groß angelegten Ausbaus der übertragen. durch Spenden für Kranken- und Kinder- und Jugendfürsorge auf IniWaisenhäuser, Nahrungsmittel, für tiative Julius Tandlers gegründet. Kreuznacher Abkommen die Emigration und zum Teil auch Die KÜST war eine zentrale SchaltDer „Vertrag zwischen der Republik für den bewaffneten jüdischen Wistelle im Rahmen der Wiener JuÖsterreich und der Bundesrepublik derstand. Nach dem Krieg war das gendfürsorge. Neben der RegistrieDeutschland zur Regelung von SchäJDC die wichtigste jüdische Hilfsorrung aller der Fürsorge unterstellten den der Vertriebenen, Umsiedler und ganisation für jüdische ÜberlebenKinder und Jugendlichen diente die Verfolgten, über weitere finanzielle de. Es betreute die jüdischen ➤ DisAnstalt als Heim zur vorübergehenFragen und Fragen aus dem sozialen placed Persons (DPs) in den Lagern den Unterbringung von Kindern, die Bereich (Finanz- und Ausgleichsin Deutschland, Österreich und anaus ihren Familien entfernt wurden. vertrag)“ wurde im Juni 1961 zwideren europäischen Ländern, finanDie Unterbringung einer psycholoschen den beiden Staaten abgezierte Nahrungsmittel, Kleidung, gischen Beobachtungsstation als schlossen. Er sah u. a. vor, dass ÖsterBerufsausbildung und organisierte Außenstelle der Kinderpsychologireich die nach 1945 Vertriebenen nach der Ausrufung des Staates Israschen Forschungsstelle Universität und UmsiedlerInnen deutscher Sprael im Mai 1948 den Transport jüdiWien führte zu einer engen Zusamche den österreichischen Staatsscher AuswanderInnen. Das JDC menarbeit zwischen Fürsorge und bürgerInnen im österreichischen nahm auch an der ➤ Claims Confepsychologischer Wissenschaft. 1940 ➤ Kriegs- und Verfolgungssachrence und dem ➤ Claims Committee wurde die Beobachtungsstelle auf schädengesetz gleichstellte. Dafür teil. den ➤ „Spiegelgrund“ verlegt. leistete die Bundesrepublik Deutschland an Österreich eine Zahlung von Judenvermögensabgabe Kommission für Provenienzforschung 125 Mio. DM. In der Frage der EntNach der im April 1938 verordneten Anfang 1998 von Kulturministerin schädigung wurde die finanzielle Vermögensanmeldung für Juden Elisabeth Gehrer eingesetzte ArbeitsBeteiligung der Bundesrepublik mit und Jüdinnen betreffend Vermögruppe im Bundesdenkmalamt und 95 Mio. DM am „Fonds zur Abgelgenswerte über 5000 RM mussten in den Bundesmuseen, die die Hertung von Vermögensverlusten poli20 % des angemeldeten Vermögens kunft der in österreichischen tisch Verfolgter“ (➤ Abgeltungsals von den Nazis so genannte JuBundesmuseen befindlichen geraubfonds) und am „Hilfsfonds zur Hilfedenvermögensabgabe an den NSten Kunstgegenstände erforschen leistung an politisch Verfolgte, die Staat gezahlt werden. soll. ➤ Bundesgesetz über die Rückihren Wohnsitz und ständigen Aufgabe von Kunstgegenständen aus enthalt im Ausland haben“ (➤ HilfsJungmädel (JM) den österreichischen Bundesmuseen fonds) festgelegt. Teilorganisation in der ➤ HJ für zehnund Sammlungen. bis 14-jährige Mädchen, deren OrKriegs- und Verfolgungssachganisation der des ➤ DJ (Deutsches Krauland-Ministerium schädengesetz (KVSG) Jungvolk) parallel lief. Das „Bundesministerium für VermöBundesgesetz vom 25. Juni 1958 genssicherung und Wirtschaftsplaüber die Gewährung von EntschädiKastner, Walther (1902–1994) nung“ unter dem zuständigen Minigungen für durch Kriegseinwirkung Jurist, während der NS-Zeit u.a. in ster Dr. Peter Krauland wurde 1945 oder durch politische Verfolgung erder Österr. Kontrollbank tätig und eingerichtet und hatte u.a. die Auflittene Schäden an Hausrat und an zuständig für Fragen im Zusammengabe der Erfassung, Sicherung, Verzur Berufsausübung erforderlichen hang mit ➤ „Arisierungen“, nach waltung und Verwertung ehemaGegenständen. Dieses Gesetz behandem Krieg von Bundesminister Krauligen NS-Vermögens und „arisierten“ delte NS-Opfer und Kriegsopfer land als Berater für das ➤ MinisteriVermögens. Dazu gehörte die Bestelgrundsätzlich gleich. Allerdings waum für Vermögenssicherung und lung von öffentlichen Verwaltern, ren Personen, die über ein JahreseinWirtschaftsplanung engagiert. deren Aufgabe es war, bis zur kommen von mehr als 72.000 Schil- Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 169 Glossar ling verfügten, von Ansprüchen nach dem KVSG ausgeschlossen. Insofern galt hier ebenso wie im ➤ Opferfürsorgegesetz das Fürsorge- und nicht das Entschädigungsprinzip. KZ-Verband Der Verband wurde im März 1946 von Ministerialrat Dr. Franz Sobek in Wien gegründet und von den drei Parteien ÖVP, SPÖ und KPÖ paritätisch beschickt. Später wurde er in ➤ „Bund der politisch Verfolgten“ umbenannt. Die Mitgliedschaft stand zunächst nur den ehemaligen „politischen“ Häftlingen offen. Dem Selbstverständnis nach war er keine karitative, sondern in erster Linie eine politische Organisation, deren Ziel es war, die Demokratie in Österreich langfristig zu festigen und dazu ehemalige Widerstandskämpfer in entsprechende politische Positionen zu bringen. Der KZ-Verband stellte auch Bestätigungen aus, mit der ehemalige Verfolgte bei den entsprechenden Fürsorgestellen eine ➤ Amtsbescheinigung erhalten konnten. Lager Lackenbach Das burgenländische Lager wurde am 23.11.1940 errichtet und unterstand der Kriminalpolizeistelle Wien. Das Lager war vorwiegend zur Internierung als „asozial“ verfolgter Roma und Sinti errichtet worden. Die arbeitsfähigen Häftlinge, darunter auch Kinder, wurden an Bauern der Umgebung oder an Unternehmen als Arbeitskräfte vermietet. Die Unterbringung der Lagerhäftlinge erfolgte unter katastrophalen hygienischen Bedingungen, weshalb viele der Internierten 1942 einer Flecktyphusepidemie zum Opfer fielen. Die Wirksamkeit von Vorurteilen gegen Roma und Sinti auch nach 1945 erschwerte deren Anerkennung in der ➤ Opferfürsorgegesetzgebung, und auch das Lager Lackenbach wurde lange Zeit nicht als Konzentrationslager anerkannt, sondern als „Arbeitslager“ bezeichnet. Londoner Deklaration „Inter-allied Declaration Against Acts of Dispossession Committed in Territories Under Enemy Occupation or Control“. Die Deklaration wurde am 170 5. Jänner 1943 von 17 Regierungen des ➤ Zwei-Plus-Vier-Vertrags als Frieund dem französischen Nationalkodensvertrag wurde nicht realisiert. mitee unterzeichnet. Mit dieser Erklärung behielten sich die Alliierten Luxemburger Abkommen das Recht vor, Übertragungen von Das am 10. September 1952 zwiVermögen, Rechten und Interessen, schen der Bundesrepublik Deutschdie in Ländern unter deutscher Beland und Israel getroffene „Wiedersetzung oder in mit dem Deutschen gutmachungsabkommen“ war das Reich verbündeten Ländern vorgeErgebnis der zweijährigen Verhandnommen worden waren, für nichtig lungen der ➤ „Claims Conference“ zu erklären. Gemeint waren in erster mit der deutschen Bundesregierung. Linie die von den Nationalsozialisten Die Bundesrepublik Deutschland verdurchgeführten ➤ „Arisierungen“ pflichtete sich, 822 Mio. US-Dollar und Geschäftsliquidierungen. Entschädigung in zwölf Jahren zu zahlen, davon 715 Mio. für AufbauLondoner „Raubgoldkonferenz“ leistungen an den Staat Israel und An der Konferenz, die unter dem Pa107 Mio. für Opfer des Nationalsotronat der von den USA, Großbritanzialismus weltweit. Dieses Geld vernien und Frankreich 1946 eingesetzwaltete die „Claims Conference“. ten „Tripartite Gold Commission“ zur Rückgabe des „Nazi-Goldes“ an seine Magistratsabteilung – MA 12 rechtmäßigen BesitzerInnen stand, Ab 1946 Magistratsabteilung für nahmen Anfang Dezember 1997 VerErwachsenen- und Familienfürsorge, treterInnen von Regierungen, Staatsehemaliges „Amt für Wohlfahrtsbanken und Opfergruppen aus 41 pflege“ der Stadt Wien (MA X/1), Ländern teil. Ziel der Konferenz war heute Sozialamt der Stadt Wien, inkl. es, Herkunft und Verbleib des NaziOpferfürsorgereferat. Raubgoldes sowie die bisher erfolgten Kompensationszahlungen an die Magistratsabteilung – MA 15 Opfer zu klären und über weitere Gesundheitsamt der Stadt Wien, Entschädigungen zu diskutieren. nach 1945 für die Erstellung von medizinischen Gutachten im Rahmen Londoner Schuldenabkommen der Opferfürsorge zuständig. Das am 27. Februar 1953 unterzeichnete Abkommen über deut- Magistratsabteilung – MA 21 sche Auslandsschulden war Ergebnis 1938 Wohnungsamt der Gemeinde der Londoner Schuldenkonferenz Wien. 1952, an der neben der Bundesrepublik Deutschland u.a. Belgien, Dä- Magistratsabteilung – MA 52 nemark, Frankreich, Griechenland, Wohnungsamt der Gemeinde Wien, Italien, Jugoslawien, Schweden, die im Rahmen dessen 1947 ein eigenes Schweiz, die USA teilnahmen. Das „Wiedergutmachungsreferat“ errichSchuldenabkommen stellte die endtet wurde. Die Vergabe von Gemeingültige Regelung der Reparationsdewohnungen erfolgte über ein frage bis zum Abschluß eines FriePunktesystem, entsprechend der Bedensvertrages zurück. Dazu heißt es dürftigkeit der AntragstellerInnen. in Artikel 5, Abs. 2: „Eine Prüfung der aus dem Zweiten Weltkrieg Magistratsabteilung – MA 61 herrührenden Forderungen von Amt der Stadt Wien für StaatsbürStaaten, die sich mit Deutschland im gerschafts- und PersonenstandsangeKriegszustand befanden, oder delegenheiten. ren Gebiet von Deutschland besetzt war, und von Staatsangehörigen Magistratsabteilung – MA 8 dieser Staaten gegen das Reich und Stadt- und Landesarchiv der Stadt im Auftrag des Reichs handelnde Wien im Wiener Rathaus. Personen (...) wird bis zur endgültigen Regelung der Reparationsfrage Maisel, Karl (1890–1982) zurückgestellt.“ Ein formeller FrieÜberlebender des KZ Buchenwald, densvertrag wurde bis heute nicht SPÖ-Politiker, 1945–1956 Bundesminiabgeschlossen, die ursprüngliche Idee ster für soziale Verwaltung, 1948–59 Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 Glossar Vizepräsident des ÖGB, 1956–1964 Präsident der Arbeiterkammer Wien. Mark, Karl (1900–1991) SPÖ-Politiker, im Ständestaat und während des Nationalsozialismus verfolgt und verhaftet, 1945–1966 Nationalratsabgeordneter, Generalsekretär des „Bundesverbandes politisch Verfolgter“. Zweiten Weltkrieg wurden von der britischen Besatzungsmacht jüdische „illegale“ ImmigrantInnen aus der Tschechoslowakei, aus Danzig und Wien nach Mauritius deportiert. 212 Männer wurden zu den britischen Streitkräften eingezogen, der Rest der Flüchtlinge in einem Gefängnisgebäude und Baracken untergebracht. Die Flüchtlinge wurden durch jüdische Organisationen und die ➤ Jewish Agency (JA) unterstützt. Das Hauptziel der Flüchtlinge lag in der Rückkehr nach Palästina, wohin nach der Entlassung am 12.8.1945 ein Großteil immigrierte. len Orientierung, aufgrund einer körperlichen oder geistigen Behinderung oder des Vorwurfs sogenannter „Asozialität“ Opfer nationalsozialistischer Verfolgung wurden. Neben der einmaligen Auszahlung von Unterstützungsbeträgen liegt das Hauptanliegen des Fonds vor allem in einer symbolischen Geste. Die Leistungen des Fonds richten sich an Personen, die bisher keine oder völlig unzureichende Leistungen durch die ➤ Opferfürsorge erhalten haben, in irgendeiner Weise bedürftig sind oder bei denen aufgrund ihrer gegenwärtigen Lebenssituation eine Unterstützung gerechtfertigt erscheint. Neben der Durchführung und Verwaltung steht der Fonds in enger Zusammenarbeit mit behördlichen Stellen und diversen Opferverbänden im In- und Ausland, um möglichst viele anspruchsberechtigte Personen erreichen zu können. Marshall-Plan Das amerikanische Hilfsprogramm für Europa (ERP – European Recovery Program), benannt nach dem amerikanischen Außenminister George Marshall, wurde am 3.4.1948 vom USKongress verabschiedet und wegen Moskauer Deklaration der Ablehnung der Mitarbeit von Die Moskauer Deklaration der drei Seiten der Ostblockländer auf 18 Alliierten USA, UdSSR und Großbriwestliche europäische Länder betannien vom 1. November 1943 hielt schränkt, darunter auch die Bundesbezüglich Österreich fest, dass es republik Deutschland und Österreich. „das erste freie Land“ gewesen sei, Die Marshallplan-Hilfe wurde als das der „Angriffspolitik Hitlers zum Hilfe zur Selbsthilfe verstanden, die Opfer“ fiel, dass die Besetzung teilnehmenden Länder verpflichteten Österreichs durch Deutschland am Der neue Weg sich zur Produktionssteigerung, Sta13. März 1938 „null und nichtig“ sei Jüdische Zeitung „mit amtlichen bilisierung der Währung, Liberalisieund dass nach dem Krieg „ein freies Mitteilungen der Israelitischen Kulrung des Handels. Sie umfasste Krediunabhängiges Österreich wiederhertusgemeinde Wien“, erschien von te und Sachlieferungen, v. a. in Form gestellt“ werden solle. Gleichzeitig 1946–1949. von Geschenken von Lebensmitteln wurde Österreich in der Deklaration und Rohstoffen, die im Inland zu aber auch daran erinnert, dass es sei- Novemberpogrom Marktpreisen verkauft werden sollner Verantwortung für „die TeilnahDie „Reichskristallnacht“ vom 9./10. ten, der Erlös floss in einen eigenen me am Kriege an der Seite HitlerNovember 1938 in ganz Deutschland Fonds, aus dem wiederum günstige Deutschlands“ nicht entrinnen könund Österreich bildete einen HöheKredite für die heimische Wirtschaft ne. Von der österreichischen Nachpunkt antijüdischer Angriffe durch gewährt werden konnten. Westeurokriegspolitik wurden jedoch vor aldie gesamte NSDAP. Vielfach wird pa erhielt bis Ende 1951 von den USA lem die „Opfer- und Nichtigkeitserder Pogrom als spontaner Ausbruch insgesamt etwa 13 Mrd. Dollar. klärungen“ der Deklaration als wedes Volkszorns dargestellt, doch ersentlich betrachtet. Sie dienten als folgte er auf einen Aufruf Goebbels‘ Mauerbach-Fonds Stichworte für die Aufrechterhaltung zu Aktionen gegen Juden und JüDer Fonds wurde aufgrund des des Opfermythos und für die Verdinnen. Die Zerschlagung von Schau„2. Kunst- und Kulturbereinigungshandlungsposition Österreichs befenstern jüdischer Geschäfte, die Zergesetzes über die Herausgabe und züglich des ➤ Staatsvertrags. Die störung und Niederbrennung von SyVerwertung ehemals herrenlosen Formulierung von der Mitverantwornagogen, die Plünderung jüdischer Kunst- und Kulturgutes, das sich im tung Österreichs wurde demgegenGeschäfte waren nur der Auftakt zu Eigentum des Bundes befindet“ vom über auf Betreiben der österreichieiner weiteren Folge von Terrormaß13. Dezember 1985 errichtet. Der schen Regierung vor Unterzeichnung nahmen gegen die jüdische BevölkeFonds verwaltet den Erlös einer Aukdes Staatsvertrags aus der Präambel rung. In Österreich begannen die antion vom Herbst 1996 von in der NSgestrichen. tijüdischen Ausschreitungen erst am Zeit geraubten Kunstwerken, deren frühen Morgen des 10.11.1938. InsBesitzerInnen nicht mehr eruiert Nationalfonds der Republik Österreich gesamt wurden im Anschluss an den werden konnten. Die eingenomme- für die Opfer des Nationalsozialismus Pogrom 30.000 Juden und Jüdinnen ne Summe wird an bedürftige Opfer Der Nationalfonds wurde auf Natioin Konzentrationslager gebracht, aus des Nationalsozialismus und deren nalratsbeschluss im Juni 1995 geÖsterreich wurden 4600 Juden und Hinterbliebene verteilt. gründet. Seit Oktober 1995 widmet Jüdinnen nach Dachau deportiert. sich der Fonds der Unterstützung jeMauritius ner Menschen, die aus politischen 12. Novelle zum Opferfürsorgegesetz Inselstaat im Indischen Ozean, rund Gründen, Gründen der AbstamDie am 22. März 1961 erlassene No800 km östl. von Madagaskar. Im mung, Religion, Nationalität, sexuelvelle stellte eine wesentliche Erwei- Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 171 Glossar terung des Kreises der anspruchsbe- Opferausweis schwer, die Nachweise erlittener rechtigten Opfer dar: Erstmals wurNach dem ➤ Opferfürsorgegesetz Verfolgung zu erbringen. Zudem den auch für Aufenthalte im Getto anerkannte Opfer des Nationalsoziablieben viele Gruppen nach wie vor oder Internierungslager, für die Verlismus erhielten über ein durch die ausgeschlossen: Nicht anspruchsbepflichtung zum Tragen des JudenGesundheits- und Sozialämter erstellrechtigt waren Roma und Sinti (teilsternes und für den Verlust von Eintes Gutachten die Möglichkeit zum weise), Homosexuelle, sogenannte kommen und Unterbrechung von Erhalt eines Opferausweises. Besitze„Asoziale“, „Euthanasie“-Opfer und Berufsausbildungen – letztgenannrInnen eines solchen Ausweises sollandere Gruppen. Sie erhielten erst tes galt allerdings nur für österten bei der Wohnungs- und Arbeitsdurch den 1995 geschaffenen ➤ Nareichische StaatsbürgerInnen – Entsuche von den behördlichen Stellen tionalfonds eine Entschädigung, schädigungen gezahlt. bevorzugt behandelt werden. Durch ebenso wie die jüdischen Vertriedie Ausgabe etwa von Fahrausweibenen, die bis dahin nur teilweise Nürnberger Rassengesetze sen und steuerliche Begünstigungen und sehr gering entschädigt worden Am 15. September 1935 wurden in sollten die AusweisbesitzerInnen fiwaren. Nürnberg auf einer Sondersitzung nanziell unterstützt werden. Der Bedes Reichsparteitags zwei Verfassitz eines Opferausweises bedeutete Palästina-Amt sungsgesetze verkündet, die die Basis aber keinen Anspruch auf eine OpAuswanderungs-Organisation der ➤ für den völligen Ausschluss der jüdiferrente. ➤ Amtsbescheinigung. Jewish Agency in Deutschland, die schen Bevölkerung aus dem öffentliausschließlich die Auswanderung der chen Leben und für die nachfolgende Opferfürsorgegesetz (OFG) jüdischen Bevölkerung nach Palästiantijüdische Politik bildeten. Das Das erste Opferfürsorgegesetz wurna durchführte. Das Palästina-Amt „Gesetz zum Schutz des deutschen de am 17. Juli 1945 beschlossen, als kümmerte sich um die nötigen Visa Blutes und der deutschen Ehre“ Opfer wurden zunächst nur österund den Transport der EmigrantInverbot u.a. Eheschließungen und reichische WiderstandskämpferInnen. Nach dem Novemberpogrom außerehelichen Verkehr zwischen nen angesehen, denen bei sozialer 1938 wurde das Amt unter stärkere Juden/Jüdinnen und Deutschen. Das Bedürftigkeit und gesundheitlichen Kontrolle gestellt, konnte aber noch „Reichsbürgergesetz“ legte fest, dass Schäden bestimmte Fürsorgemaßbis Frühjahr 1941 weitgehend eigennur Deutsche oder Personen mit „artnahmen, Vergünstigungen bzw. ständig arbeiten. verwandtem Blut“ Bürger des Reichs Renten zuerkannt wurden. Opfer seien. Durch diese Gesetze verloren rassistischer Verfolgung blieben Potsdamer Abkommen die jüdische und andere „nichtdeutvom OFG ausgeschlossen, sofern sie Das von den drei alliierten Mächten sche“ Bevölkerungsgruppen, v.a. keinen Nachweis eines aktiven Einin Berlin am 2. August 1945 unterauch Roma und Sinti, ihre politischen satzes gegen das NS-Regime erbrinzeichnete Abkommen regelte u.a. Rechte. Aufgrund des „Reichsbürgergen konnten. Das zweite OFG von die militärische Besetzung Deutschgesetzes“ wurden zwischen Novem1947 sah auch Fürsorgemaßnahmen lands und Österreichs, Entmilitariber 1935 und Juli 1943 13 weitere für Opfer rassistischer Verfolgung sierung, Entnazifizierung, VerfolVerordnungen u.a. über Berufsverbovor, anspruchsberechtigt waren aber gung von Kriegsverbrechern, Repate für die jüdische Bevölkerung, allgemein nur österreichische rationszahlungen und die alliierte Kennzeichnungspflicht jüdischer GeStaatsbürgerInnen (also nicht die Kontrolle der deutschen und österschäfte, Verfall jüdischen Vermögens Vielzahl der Vertriebenen, die eine reichischen Wirtschaft. Gemäß dem an das Deutsche Reich, erlassen. Die andere Staatsbürgerschaft angeAbkommen konnte jede Besatsogenannten „Nürnberger Rassengenommen hatten), die mindestens zungsmacht ihre Reparationsansetze“ erhielten am 28. Mai 1938 sechs Monate Haft in einem KZ oder sprüche nur aus der von ihr besetzauch für Österreich Gültigkeit. Die 9. ein Jahr Haft in einem Gefängnis ten Zone befriedigen. Während die Verordnung zum „Reichsbürgergeo.ä. nachweisen konnten. ZahlreiWestmächte gegenüber Österreich setz“ vom 5. Mai 1939 führte eine che Novellen erweiterten langsam auf ihre Ansprüche mit Ausnahme Reihe weiterer antijüdischer Gesetze den Kreis der Anspruchsberechtigdes „deutschen Eigentums“ verzichin Österreich ein. Wichtig im Sinne eiten, z.B. wurde in der 7. Novelle teten, übernahm die USIA („Verwalner nachträglichen „Legalisierung“ 1952 erstmals nicht nur Fürsorge, tung des sowjetischen Vermögens und gleichzeitig der totalen Berausondern eine Haftentschädigung in Österreich“) innerhalb der von bung der jüdischen Bevölkerung pro Monat gewährt, die 8. Novelle ihr besetzten Zone fast die gesamte durch das nationalsozialistische Regi1953 machte die Haftentschädigung Erdölindustrie und die DDSG me waren die ➤ 11. und die ➤ 13. nicht mehr vom Besitz der öster(Donaudampfschiffahrtsgesellschaf), Verordnung zum Reichsbürgergesetz. reichischen Staatsbürgerschaft abca. 300 Industriebetriebe, 150.000 hängig, die ➤ 12. Novelle stellte ha Grundbesitz, Gewerbe- und HanOMGUS noch einmal eine Erweiterung des delsbetriebe. Gemäß dem StaatsverOffice of the Military Government Kreises anspruchsberechtigter Persotrag wurden diese Vermögenswerte for Germany, US-Zone of Occupation/ nen dar. Dennoch wies das OFG weispäter gegen eine Ablöse von 150 Control, Berlin; amerikanische Miterhin viele Mängel und UngerechMio. Dollar an Österreich übergelitärregierung in Deutschland tigkeiten auf, oftmals war es ben. 172 Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 Glossar Raab, Julius (1891–1964) ÖVP-Politiker, 1927–1934 Abgeordneter des Nationalrats, nö. Heimwehrführer, 1938 Handels- und Verkehrsminister, nach 1945 Mitbegründer der ÖVP und von 1952– 1960 ihr Bundesparteiobmann, 1953–1961 Bundeskanzler, Mitverhandler des Staatsvertrags, Präsident der Bundeswirtschaftskammer, Mitbegründer der Sozialpartnerschaft. Rafelsberger, Walter „Staatskommissar in der Privatwirtschaft“ und Gauwirtschaftsberater. Im Mai 1938 wurde er als Leiter der ➤ Vermögensverkehrsstelle (VVST) zur planmäßigen Durchführung und Organisierung der Zwangsenteignungen eingesetzt. Raubgold Bezeichnet das Gold, das der jüdischen Bevölkerung und anderen Gruppen, wie etwa den Sinti und Roma, während der NS-Zeit geraubt wurde, u.a. durch Enteignung von jüdischen Banken und Einziehung von deren Vermögen, und durch das den Ermordeten in den Konzentrationslagern herausgebrochene Zahngold, das in andere Goldbestände eingeschmolzen wurde und so in den internationalen Goldhandel gelangte. ➤ Bergier-Kommission; ➤ Londoner „Raubgoldkonferenz“. Reichseinheitliche Verordnung gegen die „Tarnung jüdischer Gewerbebetriebe“ vom 22. 4. 1938 und Verordnung über die Anmeldung jüdischen Vermögens vom 26. 4. 1938 Beide Verordnungen bildeten die legistische Grundlage für die Zwangsenteignung jüdischen Besitzes und Vermögens. Reichsfluchtsteuer Betrag, der von Juden und Jüdinnen für die Genehmigung der Ausreise zu zahlen war. Die Reichsfluchtsteuer wurde von der NS-Finanzverwaltung von den jüdischen ➤ Sperrkonten abgezogen. Reichssicherheits-Hauptamt (RSHA) Am 27. September 1939 wurden die zentralen Ämter der Sicherheitspolizei (die 1936 aus ➤ Gestapo und Kripo neu organisiert worden war) und des Sicherheitsdienstes der ➤ SS zum Sammelklage RSHA zusammengefaßt. Chef des Nach amerikanischem Recht können RSHA wurde der bisherige Chef des Forderungen zahlreicher Personen SD ➤ Reinhard Heydrich. Sein Nachals „Klagen im Gruppeninteresse“ folger ab Anfang 1943 war der (sogenannten „class actions“) gelÖsterreicher Ernst Kaltenbrunner. tend gemacht werden. Dieses RechtsDas RSHA war hauptverantwortlich instrument dient der Bündelung der für Verfolgungen und Massenmorde, Interessen vieler Einzelner und der die Deportation hunderttausender Vermeidung möglicherweise widerJuden und Jüdinnen in die ➤ Versprüchlicher Urteile in inhaltlich nichtungslager. gleich gelagerten Prozessen. Eine Sammelklage kann von einzelnen Rückstellungsgesetze „class representatives“ stellvertreDie wichtigsten Gesetze zur Umsettend für die anderen Mitglieder der zung des ➤ Bundesgesetzes über die Gruppe eingebracht werden, u.a. Nichtigkeit von Rechtsgeschäften wenn die Anzahl der Betroffenen sind das 1., das 2. und insbesondere genügend groß ist, ihre Ansprüche in das 3. Rückstellungsgesetz (RG). Das rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht 1. RG vom 26. Juli 1946 betraf das ähnlich gelagert sind, die von den vom Deutschen Reich entzogene und „class representatives“ erhobenen nach 1945 in der Verwaltung der ReAnsprüche für die ganze „class“ typublik Österreich oder der Bundespisch sind und sie konkrete Gründe länder befindliche Vermögen, das für eine „class action“ anführen kön2. RG vom 6. Februar 1947 behandelnen. Im Einzelfall entscheidet der te das im Eigentum der Republik beRichter über die Zulässigkeit einer findliche entzogene Vermögen und „class action“. Für „class members“ das 3. RG vom 6. Februar 1947 das in ist das rechtliche Urteil bindend, im privatem Besitz befindliche, zwiFalle eines gewonnenen Prozesses schen 1938 und 1945 entzogene Verwird die Summe nach Abzug der Anmögen, und jene Fälle, die nicht waltskosten quotenmäßig auf die durch das 1. und 2. RG geregelt wer„class members“ verteilt. den konnten. Der größte Teil der Rückstellungsverfahren fiel unter das Sammelstellen 3. RG. Weitere Rückstellungsgesetze Die Erfassung des „erblosen Vermöregelten die Rückstellung entzogegens“ und seine Verwendung für ner Rechte, z.B. Gewerberechte, Andie Opfer des Nationalsozialismus sprüche aus Dienstverhältnissen u.ä. war eine wichtige Frage in den Verhandlungen des ➤ Claims Commit4. Rückstellungsanspruchsgesetz tee und der österreichischen Bun„Bundesgesetz über die Erhebung desregierung und wurde im Artikel von Ansprüchen der Auffangorgani26, § 2 des ➤ Staatsvertrags geresationen auf Rückstellung von Vergelt. Entsprechend wurde am 13. mögen nach den ➤ RückstellungsgeMärz 1957 das sogenannte „Aufsetzen“ vom Mai 1961. In diesem Gefangorganisationsgesetz“ erlassen, setz wurde den ➤ Sammelstellen die das die Einrichtung zweier SammelBerechtigung gegeben, Ansprüche stellen für „erbloses jüdisches“ bzw. nach der Rückstellung, die von den (A) „erbloses nichtjüdisches VermöBerechtigten bisher nicht erhoben gen“ (B) vorsah. Der zwischen 1938 worden waren, geltend zu machen. und 1945 erfolgte Transfer in Österreich entzogenen Vermögens nach Sach- und Verkehrswert Deutschland wurde im ➤ KreuzIn der Arisierungspraxis wurde von nacher Abkommen mit einer von einer Treuhandstelle (bei Objekten der BRD zu zahlenden Pauschalsumüber einem Wert von 100.000 RM me von 6 Mio. DM geregelt. Das durch eine „Kontrollbank“) ein Bevon beiden Sammelstellen insgetrieb zu einem Sachwert angekauft, samt erfasste Vermögen (ca. 180 der nur einen Bruchteil des realen Mio. Schilling) wurde nach einem Wertes darstellte. Der Weiterverkauf Gesetz vom 5. April 1962 zu 80 % an „arische“ KäuferInnen erfolgte auf Sammelstelle A, zu 20 % auf zum deutlich höheren Verkaufswert. Sammelstelle B aufgeteilt und an in Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 173 Glossar Österreich lebende individuelle AntragstellerInnen und gemeinnützige Organisationen ausgezahlt. den militärischen Nachrichtendienst, die sog. „Abwehr“ zu erhalten. Im September 1939 wurden unter Oberbefehl Heydrichs Gestapo und SD mit der Gründung des ➤ Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) vereinigt. tionalsozialistischen Regimes war die SS das Hauptinstrument zur Ausübung von Terror, Massenmorden und „Germanisierung“. Die 1925 gebildete Schutzstaffel war zunächst als Hitlers Leibgarde zuständig für Schutzund Sicherheitsaufgaben. Chef der SS war ab 1929 ➤ Heinrich Himmler (ab 1936 auch Chef der deutschen Polizei). Die Waffen-SS, eine militärische Einheit der SS, führte während des Krieges an der Front Massenerschießungen und Tötungen in Gaswägen durch. Ihr unterstanden auch die Konzentrationslager. Die WaffenSS, eine militärische Einheit der SS, führte während des Krieges an der Front Massenerschießungen und Tötung in Gaswägen durch. Sauckel, Fritz (1894–1946) wurde 1923 Mitglied der NSDAP und der SA, 1927 Gauleiter von Thüringen. Im März 1942 wurde Sauckel Shanghai zum „Generalbevollmächtigten für War bereits vor dem Zweiten Weltden Arbeitseinsatz“ ernannt. Er war krieg ein chinesischer Hafen mit verantwortlich für die Deportation mehr als vier Mio. EinwohnerInnen. von Millionen Menschen für den Die internationalen Niederlassungen Zwangsarbeitseinsatz im „Deutschen in Shanghai wurden von elf Ländern, Reich“. 1946 wurde er vom Nürnberdarunter die USA, Großbritannien ger Militärgerichtshof zum Tode verund Japan, verwaltet. Nach dem urteilt und gehängt. ➤ Novemberpogrom 1938 bot Shanghai zahlreichen Emigranten ZuSchuschnigg, Kurt flucht. Shanghai war weltweit der Der christlichsoziale Politiker wurde einzige Ort, zu dem man ohne Visum nach der Ermordung von Engelbert oder offizielle Dokumente gelangen Dollfuß im Juli 1934 Bundeskanzler. konnte. Mit Hilfe zweier bereits Staatsvertrag Er versuchte die Prinzipien des bestehender jüdischer Gemeinden in Der am 15. Mai 1955 von der Sowjet➤ Ständestaates zu verwirklichen, inShanghai und des amerikanisch-jüdiunion, Großbritannien, den USA, nenpolitisch drängte er den starken schen ➤ „Joint“-Distribution ComFrankreich und Österreich unterEinfluß der Heimwehren zurück, mittee wurden zwei große Flüchtzeichnete „Staatsvertrag betreffend außenpolitisch konnte er dem Druck lingslager für 3000 Personen errichdie Wiederherstellung eines unabdes nationalsozialistischen Deutschen tet. Nach anfänglicher Integration hängigen und demokratischen Reiches wenig entgegensetzen. und auch der wirtschaftlichen EtabÖsterreich“ behandelt im Artikel 26 lierung verschlechterten sich mit dem die Ansprüche von Opfern nationalSchwarzes Kreuz, Österreichisches Krieg im Pazifik auch die Lebensbesozialistischer Verfolgung auf Ver(ÖSK) dingungen der Flüchtlinge, zumal die mögensrückstellung und Wiederher1919 gegründete Kriegsgräberfüramerikanische Regierung private Unstellung ihrer Rechte bzw. auf Entsorge. Seine Aufgaben sind die Erterstützungen und Zuschüsse durch schädigung, falls eine Rückstellung richtung und Erhaltung von Soldaden „Joint“ verbot. Im Februar 1943 nicht möglich ist. Über die Interpretengräbern der Angehörigen aller wurde von den Japanern ein Lager tation dieses Artikels gingen aber in Nationen, von Gräbern ziviler Opfer nach nationalsozialistischem Vorbild, den folgenden Jahren die Meinundes Bombenkriegs, der politischen der sogenannte „Sperrbezirk“, ergen zwischen der österreichischen Verfolgung und von Flüchtlingen. richtet. Nach dem Krieg ging die Regierung und den Organisationen Das ÖSK wird fast ausschließlich über Hälfte der in Shanghai lebenden der Überlebenden auseinander. Spenden finanziert. Flüchtlinge nach Israel. Nach Wien Außerdem wurde im Staatsvertrag kehrten am 12.4.1949 269 ehemalige festgelegt, dass das „erblose VermöSD Flüchtlinge zurück. gen“ zur Unterstützung der Opfer Sicherheitsdienst des Reichsführers der NS-Verfolgung verwendet wer➤ SS. Der SD war der Nachrichten- Sperrkonto den solle. ➤ Sammelstellen. dienst der NSDAP und eine wichtige Der Kaufpreis, den ehemalige EiInstitution bei der Durchführung der gentümerInnen „arisierter“ Betriebe Ständestaat „Endlösung“. Der SD wurde 1931 zugestanden bekamen, wurde jeBezeichnung für die ständisch autovon ➤ Heinrich Himmler errichtet, doch nicht an diese ausbezahlt. ritäre Staatsform Österreichs zwidie Leitung unterstand ➤ Reinhard Stattdessen wurde der Betrag auf schen 1934 und 1938. Nach der AusHeydrich. Seine Aufgabe lag in der ein Sperrkonto überwiesen, auf das schaltung des Parlaments durch BunÜberwachung von „Feinden der der/die ehemalige BesitzerIn keinen deskanzler Engelbert Dollfuß im Partei“. 1934 wurde der SD zum Zugriff hatte. Von diesen SperrMärz 1933 wurden die demokratieinzigen Geheimdienst der NSDAP konten entnahm die NS-Finanzverschen Einrichtungen der Verfassung erklärt. Während der ➤ Gestapo waltung Abgaben, wie etwa die ➤ schrittweise demontiert. Die Basis primär Exekutivaufgaben zukamen, Reichsfluchtsteuer und die Judenverdes Ständestaates bildete eine bekonzentrierte sich der SD auf die Formögensabgabe ( ➤ Sühneleistung). rufsständische Verfassung und ein mulierung der politischen und ideoEinparteiensystem, das weitgehend logischen Zielsetzungen der SS. Die SS von Mitgliedern der ChristlichsoziaSD-Führung versuchte auch über „Schutzstaffel“; als Polizeitruppe der len Partei und der Heimwehr getraAuslandsspionage Kontrolle über NSDAP und später Elitegarde des nagen wurde. 174 Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 Glossar Sternfeld, Albert Trobe, Harold 1925 in Wien geboren, kam er 1938 Direktor des ➤ Joint Distribution mit einem Kindertransport nach EngCommittee. 1948 untersuchte er die land, diente als junger Mann bei der finanzielle und organisatorische Sibritischen und bei der israelischen tuation der ➤ Israelitischen KultusLuftwaffe, war danach im Versichegemeinde Wien und schlug vor, dass rungswesen tätig. Sternfeld kehrte die Regierung der IKG ein Darlehen 1966 nach Österreich zurück. Seitdem von 25 Mio. Schilling zum Auf- und setzt er sich für die Entschädigung Ausbau verschiedener Fürsorgeeinund Rehabilitierung der aus Österrichtungen geben solle. reich vertriebenen jüdischen Bevölkerung ein. 1992 entwarf Sternfeld im Tschadek, Otto (1904–1969) Auftrag der ➤ Israelitischen KultusSPÖ-Politiker, 1934 verhaftet, 1949– gemeinde einen „Lösungsplan“ zum 1952 und 1956–1960 Bundesminister Thema Entschädigung, der u.a. eine für Justiz, 1960–1969 stellvertreteneinmalige individuelle Zahlung für der Landeshauptmann von Niederalle Naziopfer und die Einrichtung österreich. eines „Solidaritätsfonds für Vertriebene“ vorsah. Sternfelds Idee des UNRRA Solidaritätsfonds wurde – in eingeUnited Nations Relief and Rehabilitaschränkter Form – Grundlage für die tion Administration. Die UN-Behörde Errichtung des ➤ „Nationalfonds für für Flüchtlinge und Staatsangehörige die Opfer des Nationalsozialismus“ der Alliierten in den befreiten Länim Juni 1995. dern Europas und des Fernen Ostens wurde am 9. November von 44 StaaStiftung „Polnisch-Deutsche ten der Vereinten Nationen gegrünAussöhnung“ det. Ihre Aufgabe war Hilfe für wirtDie Stiftung wurde entsprechend eischaftlich notleidende Länder und ner Vereinbarung zwischen der poldie Betreuung und Rückführung von nischen und der bundesdeutschen ➤ Displaced Persons nach dem Krieg. Regierung am 16. Oktober 1991 in Die UNRRA unterstand dem jeweiliPolen gegründet. Ziel der Stiftung gen alliierten Militärkommando und ist es, eine von der Bundesrepublik war im Wesentlichen verantwortlich zugestandene einmalige humanitäfür die Verwaltung der Lager, die mere Zahlung von 500 Mio. DM (in drei dizinische und soziale Versorgung, Teilzahlungen) an besonders betrofdie Organisation kultureller Aktivitäfene polnische Opfer des Nationalten und beruflicher Weiterbildung. sozialismus zu verteilen. Darunter Ihr unterstanden auch andere Wohlfallen ehemalige KZ-, Gefängnis-, fahrtsorganisationen wie z.B. der ➤ Getto-Häftlinge, Häftlinge der soJoint. 1947 übernahm die ➤ IRO die genannten Polenlager, ZwangsarBetreuung und Rückführung bzw. beiterInnen, Waisenkinder, die zur Emigration der Flüchtlinge. Die Büros Zwangsarbeit gezwungen wurden, der UNRRA in den europäischen LänPersonen, die als Kinder verfolgt, in dern wurden Ende 1948 geschlossen. KZs oder im Deutschen Reich von ZwangsarbeiterInnen geboren wur- Vaterländische Front den. Der überwiegende Teil der 1933 von Engelbert Dollfuß als SamSumme wurde bereits an ca. melbewegung aller „vaterlandstreu530.000 AntragstellerInnen in Form en“ ÖsterreicherInnen gegründet. einmaliger und individueller ZahNach dem Verbot aller anderen polilungen von ca. 500-700 DM ausgetischen Parteien hatte die Vaterländizahlt. Auch in Russland, Weißrussche Front (VF) eine politische Monosland und der Ukraine wurden inpolstellung inne. Sie war in eine Zizwischen Stiftungen für „Verständivil- und eine Wehrfront gegliedert. gung und Aussöhnung“ eingerichEntgegen den Bestrebungen von tet, die in ähnlicher Weise arbeiten. Dollfuß wurde die Vaterländische Eine notwendige eigene Regelung Front jedoch keine Massenbewefür die baltischen Länder und gung und konnte die politischen Moldawien steht noch aus. GegnerInnen des ➤ Ständestaates nicht für sich gewinnen. Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 Verband der Rückstellungsbetroffenen Der Verband wurde Ende 1948 gegründet, politisch unterstützt vom VdU. Der Verband wandte sich vor allem gegen das 3. Rückstellungsgesetz und verlangte für die Verluste, die den heutigen BesitzerInnen durch die Rückstellung entstehen würden, die Schaffung eines Ausgleichsfonds. Verband der Unabhängigen (VdU) 1949 in Salzburg gegründet, Sammelbecken für ehemalige Nationalsozialisten, Heimatvertriebene, Heimkehrer, politisch Unzufriedene. Erreichte bei den Wahlen 1949 auf Anhieb knapp 12 % der WählerInnenstimmen. Der VdU ging später in der 1956 gegründeten FPÖ auf. Vermögensverkehrsstelle (VVST) Die VVST wurde am 18. Mai 1938 im österreichischen Ministerium für Arbeit und Wirtschaft gegründet. Ihr oblagen die Kontrolle und die Gesamtorganisation der Zwangsenteignungen. Sie war neben der Bestellung von Treuhändern, Kommissaren und Abwicklern für Unternehmen für die Koordination der gesamtwirtschaftlichen Planung zuständig. Sie kontrollierte Kaufverträge, setzte den Kaufpreis für zur ➤ „Arisierung“ bestimmte Unternehmen fest und verordnete die Liquidierung von Betrieben. Die VVST kooperierte mit Referaten des Ministeriums für Arbeit und Wirtschaft, mit NS-Wirtschaftsstellen der gewerblichen Wirtschaft, mit gewerblichen Fachverbänden und der NSDAP. Nachdem ein Großteil der jüdischen Unternehmen bereits „arisiert“ oder aufgelöst worden war, wurde die VVST 1939 zur „Abwicklerstelle“ für die Auflösung der restlichen Betriebe im Handels- und Gewerbebereich. Als „Referat III Entjudung“ der Reichsstatthalterei Wien bestand die VVST bis Kriegsende weiter. Vernichtungslager In den sogenannten Vernichtungslagern im besetzten Polen – Auschwitz-Birkenau (das teilweise auch ein Konzentrationslager war), Chelmno, Belzec, Sobibor, Treblinka – wurden ab Ende 1941 alle ankommenden Häftlinge im Rahmen der „Endlö- 175 Glossar sung der Judenfrage“ in den Gas- 13. Verordnung zum Reichsbürgerkammern ermordet. In Konzentrati- gesetz onslagern wurden v.a. die noch arDie 13. Verordnung vom 1. Juli 1943 beitsfähigen Häftlinge nicht sofort in bestimmte, dass „strafbare Handlundie Gaskammern geschickt, sondern gen“ von Juden und Jüdinnen von zunächst zur Arbeit in SS-Betrieben der Polizei geahndet würden und und in Industrieunternehmen herandass das gesamte Vermögen von Jugezogen bzw. in andere Lager weiden und Jüdinnen nach ihrem Tod an ter deportiert. das Reich verfiel. Die Vermögensklausel legalisierte (nachträglich) den Verordnung über den Einsatz des völligen Vermögensentzug der jüdijüdischen Vermögens schen Bevölkerung, die sich unter Die Verordnung vom 3. Dezember Umständen noch im Reich selbst be1938 legalisierte und reglementierte fand. im Nachhinein die Praxis der wilden ➤ „Arisierungen“. Sie regelte u.a. die Vierjahresplan Zwangsveräußerung bzw. ZwangsAm 9. 9. 1936 verkündete Adolf Hitliquidierung von in jüdischem Besitz ler einen Wirtschaftsplan, der auf die befindlichen Gewerbe-, land- und Intensivierung der Wirtschaftsproforstwirtschaftlichen Betrieben, die duktion für den Krieg abzielte. Die Einsetzung von Treuhändern, den deutsche Wirtschaft sollte unabhänVerlust der Verfügungsrechte des Ingig von Rohstofflieferungen des Aushabers und seine Pflicht, die Kosten landes werden. Mit dem „Anschluss“ für die treuhänderische Verwaltung im März 1938 galt die Verwirklizu tragen. chung des Vierjahresplanes auch für Österreich. Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen WirtVolcker-Kommission schaftsleben Aufgrund eines Memorandums zwiDiese Verordnung wurde am 12. Noschen der Schweizerischen Bankiervember 1938, also zwei Tage nach vereinigung, der ➤ WJRO und dem dem ➤ Novemberpogrom vom 9./10. ➤ WJC wurde im Mai 1996 ein „UnNovember, der sogenannten „Reichsabhängiges Personenkomitee“ („Inkristallnacht“ erlassen. Sie erweiterdependent Committee of Eminent te die bereits erlassenen BerufsverPersons“) unter dem Vorsitz des bote für Juden und Jüdinnen, wie amerikanischen Bankexperten Paul etwa das ➤ Gesetz zur WiederherA. Volcker eingerichtet. Ziel des stellung des Berufsbeamtentums Komitees ist die Erfassung der nachvom 7. April 1933, nun durch das richtenlosen Bankkonten und anVerbot der Führung von Gewerbederer Vermögen von Opfern des betrieben und Handelsgeschäften, Nationalsozialismus bei Schweizer der Ausübung der Funktion eines Banken. In Zusammenarbeit mit dem leitenden Angestellten oder BeVolcker-Komitee veröffentlichte die triebsführers. Bankiervereinigung die bereits bekannten nachrichtenlosen Bankkon11. Verordnung zum Reichsbürgerten in internationalen Zeitungen gesetz und im Internet mit einem Aufruf an Die 11. Verordnung vom 25. Novemdie möglichen BesitzerInnen bzw. ber 1941 besagte, dass Juden und ErbInnen der BesitzerInnen. Jüdinnen, die sich im Ausland aufhielten, ihre deutsche Staatsan- Volkssolidarität gehörigkeit verlieren und staatenlos Ende Mai/Anfang Juni 1945 in Wien werden sollten und dass ihr gesamvon ÖVP, SPÖ und KPÖ gegründete tes Vermögen an das Reich fallen überparteiliche Fürsorgeinstitution sollte. Das betraf nach einem zusätzzur Betreuung der politisch verfolglichen Runderlass auch die zukünftig ten Opfer. Die Mittel wurden v.a. in die besetzten Gebiete, in Gettos durch Spenden aufgebracht. Bis Anund Konzentrationslager deportierfang 1946 waren Juden und Jüdinnen ten Juden und Jüdinnen. von der Betreuung ausgeschlossen. Der 17. Juni 1945 wurde zum „Tag 176 der Volkssolidarität“ erklärt, Haussammlungen wurden durchgeführt, Veranstaltungen und Gedenkfeiern sollten den Widerstandskampf und die Leiden der KZ-Opfer würdigen. Wannsee-Konferenz Am 20. Jänner 1942 wurde in BerlinWannsee die Durchführung und Koordination der „Endlösung“ besprochen. Die Konferenz unter Teilnahme ➤ Adolf Eichmanns, ➤ Heinrich Himmlers (Leiter des ➤ Reichssicherheitshauptamtes RSHA) und vieler anderer prominenter NS-Politiker markierte einen Wendepunkt in der nationalsozialistischen Judenpolitik, den Übergang zu systematischem Massenmord. Washingtoner Konferenz über „Vermögenswerte aus der Ära des Holocaust“ An der Anfang Dezember 1998 stattgefundenen Konferenz über „Holocaust Era Assets“ nahmen Delegationen aus 44 Ländern teil. Während bezüglich ➤ Raubgold und entzogenen Versicherungswerten keine Einigung erzielt werden konnte, wurden zum Thema Raubkunst elf Prinzipien für die Restitution von Kunstwerken festgelegt. Weitere Schwerpunkte waren die Verständigung über die Grundsätze der „Holocaust-Erziehung“, des Umgangs mit der NS-Vergangenheit und die historische Vermittlung. Weber, Anton (1878–1950) Stadtrat für Sozialpolitik und Wohnungswesen der Gemeinde Wien in der Ersten Republik. Weißbuch, englisches White Paper of 1939 (auch bekannt unter dem Namen MacDonald Weißbuch nach dem britischen Kolonialminister Malcolm MacDonald). Das Weißbuch enthielt die Richtlinien der britischen Palästina-Politik und wurde am 17. Mai 1939 veröffentlicht. Auf Protest der Bevölkerung Palästinas gegen die zunehmende Zahl jüdischer Einwanderer seit 1933 wurde deren Zahl für einen Zeitraum von fünf Jahren auf 15.000 begrenzt. Die weitere Einwanderung sollte von der Zustimmung der Araber abhängig gemacht werden. Die Richtlinien Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 Glossar sahen auch eine Beschränkung jüdischen Landbesitzes vor. Wirtschafts-Verwaltungs-Hauptamt (WVHA SS) Die Zentralbehörde für wirtschaftliche Tätigkeiten der ➤ SS wurde am 1. Februar 1942 eingerichtet. Dem WVHA SS wurde auch die Verwaltung der Konzentrationslager übertragen, um eine effiziente Organisation des Zwangsarbeitseinsatzes und die Kontrolle über die wirtschaftliche Ausbeutung von KZ-Häftlingen v.a. in der Rüstungsindustrie zu gewährleisten. Firmen, die KZ-Häftlinge als ZwangsarbeiterInnen beschäftigen wollten, mussten beim WVHA SS einen Antrag stellen. Wohnungsanforderungsgesetz vom 1.9.1945 Entsprechend der ➤ Opferfürsorgegesetzgebung wurde eine Wohnungsvergabe an den Opferstatus gekoppelt. Die Vergabe erfolgte über ein Punktesystem. Je nach sozialer, finanzieller Bedürftigkeit und nach der Anerkennung im OFG wurden Punkte verteilt. Aus politischen Gründen verfolgte Opfer des Nationalsozialismus erhielten die höchste Punktezahl. Wöllersdorf 1933–1938 Austrofaschistisches Anhaltelager in Niederösterreich, in dem Sozialisten und Nationalsozialisten inhaftiert wurden. Kriegsverbrechern ein. Unter Gold„Reiches“ sollten vermögenden Jumann spielte der WJC eine entscheiden und Jüdinnen Einreisemöglichdende Rolle in der Vorbereitung von keiten in überseeische Staaten verReparations- und Rückstellungsverschafft werden. 5 bis 10% des enthandlungen mit der Bundesrepublik eigneten Vermögens wurden in eiDeutschland in den fünfziger Jahren. nem Auswanderungsfonds gesamIn den neunziger Jahren setzte sich melt, aus dem die Auswanderung der WJC in verschiedenen europäimittelloser Juden und Jüdinnen fischen Ländern für die Rückstellung nanziert werden sollte. Nach dem entzogenen jüdischen Vermögens am 31. Juli 1941 verhängten Ausein, inzwischen wurden mehr als 20 wanderungsverbot war die ZentralKommissionen zur Erforschung des stelle für Deportationen in ➤ VerUmgangs mit jüdischem Vermögen nichtungslager zuständig. Aus dem während der NS-Zeit von verschiedebis 1941 eingenommenen Vermönen Regierungen eingesetzt. Dem gen, das zur weiteren Finanzierung WJC gehören heute mehr als 100 der Auswanderung mittelloser Juden Vereinigungen jüdischer Gemeinden und Jüdinnen vorgesehen war, wurund Organisationen an, darunter den nun die Kosten für ihren AbWorld Zionist Organization, ➤ Jewish transport bestritten. Agency, ➤ American Jewish Joint Distribution Committee, B’nai B’rith Zwei-Plus-Vier-Vertrag und Organisationen der ÜberlebenDer am 12. Sep. 1990 in Moskau von den des Holocaust. Sitz des WJC ist den Außenministern der BundesNew York. republik Deutschland, der Deutschen Demokratischen Republik, FrankWorld Jewish Restitution Organization reichs, Großbritanniens, der Sowjet(WJRO) union und der USA unterzeichnete Die WJRO wurde 1992 als Dachorga„Vertrag über die abschließende nisation für Fragen der Restitution Regelung in bezug auf Deutschland“ von während der NS-Zeit entzogeregelt die Wiedervereinigung Deutschnem Vermögen gegründet. Ihr lands, seine Grenzen, die Größe der gehören unter anderem der ➤ World Bundeswehr, den Abzug der sowjetiJewish Congress, B’nai B’rith, die schen Streitkräfte und die Bündnis➤ Jewish Agency und verschiedene zugehörigkeit. Das ursprüngliche Ziel, Vereinigungen von Holocaust-Überdas auch im ➤ Londoner Schuldenlebenden an. Die WJRO engagiert abkommen von 1953 angekündigt sich sowohl in ost- als auch in westworden war, nämlich ein Friedenseuropäischen Staaten. Im Mai 1996 vertrag, wurde mit dem Zwei-Plusunterzeichnete die Schweizerische Vier-Vertrag nicht erreicht. Daher Bankiervereinigung ein Abkommen wurde auch die Frage der Reparamit dem WJC und der WJRO über tionszahlungen und der Entschädidie Einrichtung einer gemeinsamen gungen für Zwangsarbeit, die für die Kommission, der sogenannten deutsche Bundesregierung Teil von ➤„Volcker-Kommission“, zur ErfasReparationszahlungen wären, nicht sung der nachrichtenlosen Bankkonendgültig geregelt. ten bei schweizerischen Banken. World Jewish Congress (WJC) Der WJC wurde – nach mehreren Vorläuferkonferenzen ab 1919 – als internationale Dachorganisation jüdischer Gemeinden und Organisationen 1936 in Genf von Rabbi Dr. Stephen Wise (Präsident des WJC von 1936-1949) und ➤ Dr. Nahum Gold- Zentralstelle für jüdische Ausmann (Präsident des WJC von 1949- wanderung 1977) gegründet. Während des NaDie in Wien im August 1938 unter tionalsozialismus konzentrierte sich der Leitung ➤ Adolf Eichmanns erder WJC auf die finanzielle und orrichtete „Zentralstelle für jüdische ganisatorische Unterstützung der jüAuswanderung“ organisierte die sydischen Bevölkerung in Europa. Er stematische Vertreibung der jüdiorganisierte die Emigration europäischen Bevölkerung. Über die Forciescher Juden und Jüdinnen und Aufrung der Auswanderung sollte bauprogramme, vertrat die Interesgleichzeitig die Enteignung der aussen der jüdischen Überlebenden bei wandernden Juden und Jüdinnen Friedensverhandlungen und setzte vollzogen werden. Unter totalem sich für die Verfolgung von NSVermögensverzicht zugunsten des Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 Das Glossar wurde teilweise unter Bezugnahme auf folgende Nachschlage- und Standardwerke erstellt: Wolfgang Benz/ Hermann Graml/Hermann Weiß (Hrsg.): Enzyklopädie des Nationalsozialismus, DTV, München 1998, 2. Aufl.; Brockhaus-Enzyklopädie in 24 Bänden, Mannheim 1990, 19. völlig neubearb. Aufl.; Israel Gutman/Eberhard Jäckel/Peter Longerich/Julius H. Schoeps (Hrsg.): Enzyklopädie des Holocaust. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden, Piper Verlag, München 1998, 2. Aufl.; Raul Hilberg: Die Vernichtung der europäischen Juden, Fischer TB Verlag, Frankfurt/M. 1990; Österreich-Lexikon in 2 Bänden, hrsg. v. Richard u. Maria Bamberger/ Ernst Bruckmüller/Karl Gutkas/Christian Brandstätter Verlag, Wien 1995. 177 Zeittafel Wichtige Gesetze und Entwicklungen im Bereich der Rückstellung und Entschädigung Mai 1945 Einrichtung des Bundesministeriums für Vermögenssicherung und Wirtschaftsplanung Ab Mai 1945 Einsetzung von Fürsorgekommissionen, die die Fürsorge für Kriegs- und KZ-HeimkehrerInnen übernehmen. 8. Mai 1945 Verbotsgesetz: Verbot der NSDAP und ihrer Wehrverbände. Das Vermögen der NSDAP-Organisation fällt an Österreich 10. Mai 1945 Gesetz über die Erfassung ➤ arisierter und anderer im Zusammenhang mit der nationalsozialistischen Machtübernahme entzogener Vermögenschaften Mai 1945 Gesetz über die Bestellung von öffentlichen Verwaltern und öffentlichen Aufsichtspersonen 26. Juni 1945 Kriegsverbrechergesetz: Bestrafung von Taten wider die Menschlichkeit, das Kriegs- und Völkerrecht bei Einziehung des gesamten Vermögens im Falle einer Verurteilung 17. Juli 1945 ➤ Gesetz über die Fürsorge für die Opfer des Kampfes um ein freies, demokratisches Österreich (1. Opferfürsorgegesetz), aufgrund dieses Gesetzes Gründung eigener Betreuungs- und Unterbringungsstellen der MA X/1 (Amt für Wohlfahrtspflege, ab 178 1946: ➤ MA 12) für HeimkehrerInnen aus Konzentrationslagern 1. September 1945 Wohnungsanforderungsgesetz 15. Mai 1946 Bundesgesetz (BG) über die Nichtigkeit von Rechtsgeschäften und sonstigen Rechtshandlungen, die während der deutschen Besetzung Österreichs erfolgt sind 16. Mai 1946 Gemeinderatsbeschluss über die Neuorganisation der Fürsorgeämter: Jeder Gemeindebezirk erhält ein eigenes Fürsorgeamt 26. Juli 1946 BG über die ➤ Rückstellung entzogener Vermögen, die sich in Verwaltung des Bundes oder der Bundesländer befinden (1. Rückstellungsgesetz) 6. Februar 1947 BG über die Rückstellung entzogener Vermögen, die sich im Eigentum der Republik Österreich befinden (2. Rückstellungsgesetz) 6. Februar 1947 BG über die Nichtigkeit von Vermögensentziehungen (3. Rückstellungsgesetz) 21. Mai 1947 BG betreffend die unter nationalsozialistischem Zwang geänderten oder gelöschten Firmennamen (4. Rückstellungsgesetz) 20. August 1947 Im Wiener Wohnungsamt (➤ MA 52) wird ein Wiedergutmachungsreferat eingerichtet September 1947 2. Opferfürsorgegesetz 22. Juni 1949 BG über die Rückstellung entzogenen Vermögens juristischer Personen des Wirtschaftslebens, die ihre Rechtspersönlichkeit unter nationalsozialistischem Zwang verloren haben (5. Rückstellungsgesetz) 30. Juni 1949 BG über die Rückstellung gewerblicher Schutzrechte (6. Rückstellungsgesetz) 14. Juli 1949 BG über die Geltendmachung entzogener oder nicht erfüllter Ansprüche aus Dienstverhältnissen in der Privatwirtschaft (7. Rückstellungsgesetz) 10. September 1952 Luxemburger Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Israel Ende Juni 1953 Beginn der Verhandlungen zwischen dem ➤ Claims Committee und der österreichischen Bundesregierung über Entschädigungszahlungen 29. Juni 1956 ➤ Bundesentschädigungsgesetz der Bundesrepublik Deutschland 13. März 1957 Gesetz über die Schaffung von Auffangorganisationen (Sammelstellen) gemäß Artikel 26 § 2 des Staatsvertrages Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 Zeittafel 14. März 1957 Generalamnestie für ehemalige NationalsozialistInnen 25. Juni 1958 Bundesgesetz über die Gewährung von Entschädigungen für durch Kriegseinwirkung oder durch politische Verfolgung erlittene Schäden an Hausrat und an zur Berufsausübung erforderlichen Gegenständen (Kriegs- und Verfolgungssachschädengesetz – KVSG) 26. Juni 1958 Versicherungsentschädigungsgesetz betreffend die Regelung vom Deutschen Reiche eingezogener Ansprüche aus Lebensversicherungen 22. März 1961 Bundesgesetz, womit Bundesmittel zur Bildung eines Fonds zur Abgeltung von Vermögensverlusten politisch Verfolgter zur Verfügung gestellt werden (Abgeltungsfondsgesetz) 22. März 1961 ➤ 12. Novelle zum Opferfürsorgegesetz Juni 1961 ➤ Kreuznacher Abkommen zwischen der Republik Österreich und der Bundesrepublik Deutschland 5. April 1962 Gesetz über die Aufteilung der Mittel der ➤ „Sammelstellen“ 27. Juni 1969 1. Kunst- und Kulturbereinigungsgesetz über die Bereinigung der Eigentumsverhältnisse des im Gewahrsam des Bundesdenkmalamtes befindlichen Kunst- und Kulturgutes 13. Dezember 1985 2. Kunst- und Kulturbereinigungsgesetz über die Herausgabe und Verwertung ehemals herrenlosen Kunst- und Kulturgutes, das sich im Eigentum des Bundes befindet 1. Juni 1995 Bundesgesetz zur Einrichtung des ➤ Nationalfonds der Republik Österreich für die Opfer des Nationalsozialismus Ende Oktober 1996 Die Versteigerung der Sammlung Mauerbach bringt 122 Mio. Schil- ling Nettoerlös, der in einen Fonds zur Entschädigung von sozial bedürftigen NS-Opfern und deren Hinterbliebenen fließt 30. November – 2. Dezember 1997 ➤ Londoner „Raubgold-Konferenz“ über die Herkunft und den Verbleib des „Nazi-Raubgoldes“ und den Umfang der bisher erfolgten Rückstellung Ende Dezember 1997/ Anfang Jänner 1998 Bei einer Ausstellung der Sammlung Leopold in New York werden zwei Schiele-Bilder unter dem Verdacht auf Raubkunst beschlagnahmt Mitte Jänner 1998 Elisabeth Gehrer, Bundesministerin für Unterricht und kulturelle Angelegenheiten und zuständig für fast alle Bundesmuseen sowie das Denkmalamt, erteilt die mündliche Weisung, sämtliche Materialien über die Nazi- und Nachkriegszeit zu sichten. Beschluß der Bildung einer Kommission für Provenienzforschung 13. März 1998 Erste Sitzung der Kommission für Provenienzforschung März 1998 Die österreichische P.S.K. beauftragt ein Historikerteam, den Vermögensentzug jüdischer KundInnen im „Postsparkassenamt“ zu untersuchen August 1998 Der US-Anwalt Ed Fagan kündigt mögliche Sammelklagen gegen österreichische Banken an 29. September 1998 Beschluss der Einsetzung einer Historikerkommission, die den Vermögensentzug und Vermögensvorenthalt auf dem Gebiet der Republik Österreich zwischen 1938 und 1945 und die Rückstellungs- und Entschädigungspraxis der Zweiten Republik untersuchen soll 30. September 1998 Die „Vereinigung der durch das Dritte Reich geschädigten Polen“ fordert von Österreich eine Entschädigung für die ehemaligen polnischen ZwangsarbeiterInnen in der „Ostmark“ Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 Oktober 1998 Ed Fagan kündigt eine Sammelklage ehemaliger ZwangsarbeiterInnen gegen die VOEST Alpine Stahl und gegen Steyr-DaimlerPuch an November 1998 Die VOEST-Alpine Stahl (VA Stahl) beauftragt ein Forschungsteam mit der Untersuchung der Zwangsarbeits-Problematik und der Unternehmensgeschichte während der NS-Zeit 30. November – 2. Dezember 1998 ➤ Washingtoner Konferenz über „Vermögenswerte aus der Ära des Holocaust“ beschließt elf Prinzipien zur Rückstellung von Raubkunst 4. Dezember 1998 Bundesgesetz über die Rückgabe von Kunstgegenständen aus den österreichischen Bundesmuseen und Sammlungen 9. Dezember 1998 Einrichtung eines RückgabeBeirats für Kunstgegenstände, der nichtrückgestellte Objekte an die rechtmäßigen BesitzerInnen rückstellen soll 20. Mai 1999 Der Gemeinderat der Stadt Wien beschließt die Einrichtung einer eigenen Kommission, die über die Rückgabe von „arisierten“ und heute im Besitz der Stadt befindlichen Kunst- und Kulturgegenständen beraten soll 1. Juli 1999 Der Bundesverband der Israelitischen Kultusgemeinden Österreichs richtet eine Anlaufstelle für jüdische Opfer des Nationalsozialismus und deren Angehörige ein. Geplant ist die Erfassung geraubten und entzogenen Vermögens in einer Datenbank Juli 1999 Versteigerung der aus österreichischen Bundesmuseen rückgestellten Gegenstände der Sammlung Rothschild in London 179 Literatur zum Thema Alfred Ableitinger/Siegfried Beer/Eduard G. Staudinger (Hrsg.), Österreich unter alliierter Besatzung 1945–1955, Böhlau Verlag, Wien 1998 Katholiken, Konservative, Legitimisten, 1992, Band 3: Jüdische Schicksale. Berichte von Verfolgten, 1992 Thomas Albrich, Brichah. Fluchtwege durch Österreich, Campus Verlag, Frankfurt/M. 1997 Helga Embacher/Margit Reiter, Gratwanderungen. Die Beziehungen zwischen Österreich und Israel im Schatten der Vergangenheit, Picus Verlag, Wien 1998 Gabriele Anderl/Hubertus Czernin, Das veruntreute Erbe. Der Kunstraub der Zweiten Republik, Molden Verlag, Wien 1998 Gabriele Anderl/Walter Manoschek, Gescheiterte Flucht. Der jüdische „Kladovo-Transport” auf dem Weg nach Palästina 1939–1942, Döcker Verlag, Wien 1993 Wolfgang Ayass, „Asoziale” im Nationalsozialismus, Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 1995 Avraham Barkai, Das Wirtschaftssystem des Nationalsozialismus, Fischer TB Verlag, Frankfurt/M. 1998 Peter Böhmer, Wer konnte, griff zu. „Arisierte” Güter und NS-Vermögen im Krauland-Ministerium (1945–1949), Böhlau Verlag, Wien 1999 Hubertus Czernin, Die Auslöschung. Der Fall Thorsch, Molden Verlag, Wien 1998 Fallstudie der Enteignung des Bankhauses Thorsch Matthias Dahl, Endstation Spiegelgrund. Die Tötung behinderter Kinder während des Nationalsozialismus am Beispiel einer Kinderfachabteilung in Wien 1940 –1945, Edition Erasmus, Wien 1998 Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hrsg.), Erzählte Geschichte. Berichte von Männern und Frauen in Widerstand und Verfolgung, Österreichischer Bundesverlag, Wien, Band 1: Arbeiterbewegung, 1985, Band 2: 180 Helga und Hermann Fischer-Hübner, Die Kehrseite der „Wiedergutmachung”. Das Leiden von NSVerfolgten in den Entschädigungsverfahren, Bleicher Verlag, Gerlingen 1990 Hans Frankenthal, Verweigerte Rückkehr. Erfahrungen nach dem Judenmord, Fischer TB Verlag, Frankfurt/M. 1999 Erinnerungen eines ehemaligen jüdischen Zwangsarbeiters an Verfolgung und Nachkriegszeit in Deutschland Florian Freund, Arbeitslager Zement. Das Konzentrationslager Ebensee und die Raketenrüstung, Döcker Verlag, Wien 1991, 2. Aufl. Florian Freund/Bertrand Perz: Das KZ in der Serbenhalle. Zur Kriegsindustrie in Wiener Neustadt, Döcker Verlag, Wien 1988 Grüner Parlamentsklub (Hrsg.), Die wirtschaftlichen Schäden der jüdischen Bevölkerung während des Nationalsozialismus, erscheint voraussichtlich im Herbst 1999 Alois Kaufmann, Spiegelgrund Pavillon 18. Ein Kind im NS-Erziehungsheim, Döcker Verlag, Wien 1993 Ernst Klee, „Euthanasie” im NS-Staat. Die Vernichtung „lebensunwerten” Lebens, Fischer TB Verlag, Frankfurt/M. 1997 Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 Robert Knight (Hrsg.), „Ich bin dafür, die Sache in die Länge zu ziehen”. Wortprotokolle der österreichischen Bundesregierung von 1945-1952 über die Entschädigung der Juden, Athenäum Verlag, Frankfurt/M. 1988, vergriffen; erscheint voraussichtlich im Herbst 1999 als korrigierte Neuauflage im Böhlau Verlag, Wien Walter Kohl, Die Pyramiden von Hartheim. „Euthanasie” in Oberösterreich, Edition der Heimat, Grünbach 1997 Wolfgang Kos (Hrsg.), Inventur 45/55. Österreich im ersten Jahrzehnt der Zweiten Republik, Sonderzahl Verlag, Wien 1996 Jonny Moser, Demographie der jüdischen Bevölkerung Österreichs 1938–1945, DÖW, Wien 1999 Christine Oertel, Juden auf der Flucht durch Austria. Jüdische Displaced Persons in der US-Besatzungszone Österreichs, Eichbauer Verlag, Wien 1999 Bertrand Perz, Projekt Quarz. Steyr-Daimler-Puch und das Konzentrationslager Melk, Döcker Verlag, Wien 1991 Romani Rose (Hrsg.), „Den Rauch hatten wir täglich vor Augen”. Der nationalsozialistische Völkermord an den Sinti und Roma, Wunderhorn Verlag, Heidelberg 1998 Margarethe Ruff, Um ihre Jugend betrogen. Ukrainische Zwangsarbeiter/innen in Vorarlberg 1942-1945, Vorarlberger Autoren Gesellschaft, Bregenz 1997, 2. aktual. Aufl. Margarete Schütte-Lihotzky, Erinnerungen aus dem Widerstand. Das kämpferische Leben einer Architektin von 1938–1945, Promedia Verlag, Wien, Neuauflage 1998 Friedrich Stadler/Peter Weibel (Hrsg.), Vertreibung der Vernunft. The Cultural Exodus from Austria, Springer Verlag, Wien/New York 1995, 2. erweiterte Aufl. Ingrid Strobl, Die Angst kam erst danach. Jüdische Frauen im Widerstand 1939–1945, Fischer TB, Frankfurt/M. 1998 Ingrid Strobl, „Sag nie, du gehst den letzten Weg”. Frauen im bewaffneten Widerstand gegen Faschismus und deutsche Besatzung, Fischer TB Verlag, Frankfurt/M. 1995 Szabolcs Szita, Verschleppt, verhungert, vernichtet. Die Deportation von ungarischen Juden auf das Gebiet des annektierten Österreich 1944–1945, Eichbauer Verlag, Wien 1999 Emmerich Tálos/Wolfgang Neugebauer/Ernst Hanisch (Hrsg.), NS-Herrschaft in Österreich 1938– 1945, Verlag für Gesellschaftskritik, Wien 1988, vergriffen; eine völlig überarbeitete und erweiterte Neuauflage erscheint voraussichtlich im Frühjahr 2000 Wolfgang Wippermann, Wie die Zigeuner. Antisemitismus und Antiziganismus im Vergleich, Verlag Elefanten Press, Berlin 1997 Leon Zelman, Ein Leben nach dem Überleben, aufgezeichnet von Armin Thurnher, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1995 Claudia Schoppmann, Verbotene Verhältnisse. Frauenliebe 1938–1945, Querverlag, Berlin 1999 Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 181 Internet-Adressen www.derstandard.at Im Standard-Archiv findet man unter den Stichworten „Rückstellung“, „Raubkunst“ u. a. aktuelle Informationen und Artikelserien z.B. zum NS-Kunstraub. www.nzz.ch/online/02-dossiers Die Dossiers der Neuen Zürcher Zeitung bieten eingehende Informationen über die Einsetzung und Arbeit der Bergier-Kommission, die Schweiz im Zweiten Weltkrieg etc. www.historikerkommission.gv.at Die Homepage der Österreichischen Historikerkommission informiert über das Arbeitsprogramm der Kommission, über die Mitglieder der Kommission und den aktuellen Tätigkeitsstand. www.uek.ch Auf der Homepage der „Unabhängigen Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg“ können Informationen zum Arbeitsprogramm, den Mitgliedern und die ersten Zwischenberichte abgerufen werden. www.wiesenthal.com Die Homepage des Simon Wiesenthal Centers in Los Angeles bietet u.a. eine Online-Tour durch das Museum der Toleranz in L.A. und ein Multimedia Learning Center mit Zeitungsartikeln, Bibliographien, Glossar und einer Liste grundsätzlicher Fragen zum Holocaust (in Englisch). Außerdem steht ein umfangreiches Online-Archiv von Originaldokumenten aus der NS-Zeit zur Verfügung. www.ushmm.org Das Holocaust Memorial Museum bietet eine Lernseite zum Thema Holocaust mit Begriffserklärungen und gibt Informationen zu den aktuellen Tätigkeiten mehrerer Dutzend Länder, darunter Österreich, bezüglich der Frage geraubter Vermögen von Holocaust-Opfern. 182 www.state.gov/www/regions/eur/holocaust/ hcac.html Dokumentiert den Verlauf der Washingtoner Konferenz über die „Vermögen der Holocaust-Ära“ mit Länderberichten, Entschließungen u.a. user.berlin.de/˜berliner.geschichtswerkstatt Die Homepage eines Projekts über Zwangsarbeit in Deutschland bietet Literaturhinweise, ein Archiv von Biographien ehemaliger ZwangsarbeiterInnen, einen Pressespiegel zum Thema Entschädigung für Zwangsarbeit und Links zu zahlreichen Gedenkstätten in Deutschland. www.psk.co.at/report Auf der Homepage der P.S.K. ist der erste Zwischenbericht des Projekts zur Erfassung der Vermögenswerte jüdischer KlientInnen der österreichischen Postsparkasse abrufbar. www.hagalil.com Nachrichten aktuell – Judentum in Mitteleuropa. Bietet Hinweise auf kulturelle Veranstaltungen, Links zu aktuellen Zeitungsberichten und Berichte aus einzelnen Ländern, darunter aus Österreich. members.vienna.at/kreisky/naziartloot Auf der Homepage des Kreisky-Archivs kann man einen Artikel zum „NS-Kunstraub in Österreich“ und eine Liste von während der NS-Zeit enteigneten Kunstobjekten abrufen, die bis heute verschollen sind. www.gruene.at Unter dem Stichwort „Kunstraub“ kann man die parlamentarische Anfrage der Grünen zur Herkunft von 241 enteigneten Kunstobjekten, die sich im Besitz der Österreichischen Bundesmuseen befinden, abrufen, und deren Beantwortung durch Bundesministerin Gehrer. Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 Informationen zur Politischen Bildung Nr. 1 Osteuropa im Wandel (vergriffen) Nr. 2 Flucht und Migration Die neue Völkerwanderung (vergriffen) Nr. 3 Wir und die anderen Zur Konstruktion von Nation und Identität (vergriffen) Nr. 4 EG-Europa Fakten, Hintergründe, Zusammenhänge, 1992 Nr. 5 Mehr Europa? Zwischen Integration und Renationalisierung, 1993 Nr. 6 Veränderung im Osten Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, 1993 Nr. 7 Demokratie in der Krise? Zum politischen System Österreichs, 1994 Nr. 8 ARBEITS-LOS Veränderungen und Probleme in der Arbeitswelt,1994 Nr. 9 Jugend heute Politikverständnis, Werthaltungen, Lebensrealitäten, 1995 Nr. 10 Politische Macht und Kontrolle. 1995/96 Nr. 11 Politik und Ökonomie Wirtschaftspolitische Handlungsspielräume Österreichs, 1996 Nr. 12 Bildung – ein Wert? Österreich im internationalen Vergleich, 1997 Nr. 13 Institutionen im Wandel 1997 Sonderband Wendepunkte und Kontinuitäten Zäsuren der demokratischen Entwicklung in der österreichischen Geschichte Nr. 14 Sozialpolitik im internationalen Vergleich 1998 Nr. 15 EU wird Europa? Erweiterung – Vertiefung – Verfestigung 1998 Sonderband Justiz – Recht – Staat 1999 Sonderband Wieder gut machen? Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung und Restitution 1999 Thema des nächsten Heftes Nr. 16 Politik und neue Medien Bestelladresse ➤ StudienVerlag Amraser Straße 118, Postfach 104, A-6010 Innsbruck Tel.: 0512/39 50 45, Fax: 0512/39 50 45-15, E-Mail: Studienverlag@magnet.at ➤ Bestelladresse für LehrerInnen (mit Schulstempel): BMUK, Abteilung Politische Bildung Minoritenplatz 5 A-1014 Wien Forum Politische Bildung (Hg.): „Wieder gut machen?“ Enteignung, Zwangsarbeit, Entschädigung, Restitution. Österreich 1938–1945/1945–1999 Sonderband der Informationen zur Politischen Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 1999 WIEDER ENTEIGNUNG GUT ZWANGSARBEIT MACHEN? DIE VERGESSENEN OPFER STUDIENVerlag Innsbruck-Wien ISBN 3-7065-1404-4 forumpolitischebildung (Hg.) Sonderband der Schriftenreihe Informationen zur Politischen Bildung forumpolitischebildung (Hg.) WIEDER GUT MACHEN? RÜCKSTELLUNG UND ENTSCHÄDIGUNG HISTORIKERKOMMISSION GLOSSAR ZEITTAFEL LITERATUR ZUM THEMA INTERNET-ADRESSEN ZUM THEMA WIEDER GUT MACHEN? ENTEIGNUNG ZWANGSARBEIT ÖSTERREICH 1938-1945/1945-1999 ENTSCHÄDIGUNG RESTITUTION