Die Reise nach Reims - Staatstheater Nürnberg

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Die Reise nach Reims - Staatstheater Nürnberg
Die Reise nach Reims
von Gioacchino Rossini
MATERIALMAPPE
Staatstheater Nürnberg – Materialien „Die Reise nach Reims“
Liebe Lehrerinnen und Lehrer, liebes Publikum,
wie aktuell Oper sein kann, zeigt die Regisseurin Laura Scozzi mit ihrer neuesten Inszenierung
am Staatstheater Nürnberg. Rossinis „Reise nach Reims“ wird ins heutige Brüssel, ins Europäische
Parlament, versetzt und bringt die Politiker dort mächtig auf Trab.
Die vorliegende Materialmappe möchte Ihnen nun sowohl Informationen zur Handlung und zur
Entstehungsgeschichte als auch zur Konzeption der Oper, die 1825 in Paris uraufgeführt wurde,
geben.
In einem Interview stellt die Regisseurin, die in Italien geboren wurde und nun in Frankreich
lebt, ihre Gedanken zum Thema Europa und zur aktuellen Situation dar.
Einen Einblick in den Inhalt und in die Entstehungsgeschichte gibt Ihnen der nächste Artikel, der von
Judith Debbeler, produktionsbetreuende Dramaturgin der Inszenierung , verfasst wurde.
Die Theaterpädagogik des Staatstheaters bietet zur Inszenierung von „Die Reise nach Reims“
sowohl vorstellungsvorbereitende als auch vorstellungsnachbereitende Workshops und Gespräche für
Schülerinnen und Schüler an.
Wenn Sie Fragen haben oder weitere Informationen sowie szenisch-musikalische
Arbeitsmaterialien zur Unterrichtsgestaltung benötigen, können Sie s ich gerne an mich wenden.
Mit herzlichen Grüßen,
Gudrun Bär
Theaterpädagogin
Kontakt:
Staatstheater Nürnberg
u18plus: junges publikum
Theaterpädagogin Gudrun Bär
Telefon: 0911-231-6866
Email: theaterpaedagogik@staatstheater.nuernberg.de
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Staatstheater Nürnberg – Materialien „Die Reise nach Reims“
„ICH BIN KEINE MUSEUMSWÄCHTERIN“
REGISSEURIN LAURA SCOZZI IM GESPRÄCH MIT JUDITH DEBBELER
Laura, du bist als Italienerin, die in Frankreich lebt und arbeitet und in Deutschland Opern
inszeniert, eigentlich das Idealbild einer kosmopoliten Europäerin, wie es sich die Befürworter der
europäischen Einheit wünschen. Würdest du selbst dich in Sachen Europa eher als Optimistin oder als
Pessimistin bezeichnen?
Laura Scozzi: Ganz eindeutig als Hyper-Optimistin! Ich bin nicht unbedingt für die Globalisierung
im gängigen Sinn des Wortes, aber ich bin absolut für die Öffnung der Welt nach allen Richtungen –
dafür, dass alle eine Sprache sprechen. Es gibt zwar viele Probleme zu bewältigen und es müssen
noch etliche Verbindungen hergestellt werden, damit das Zusammenleben auf globaler Ebene
funktioniert. Aber das bedeutet für mich nicht, pessimistisch zu sein. Ich finde es wichtig, damit
anzufangen und die Voraussetzung für die folgenden Generationen zu s chaffen. Es braucht viele
Leute, die sich opfern und diese Arbeit angehen, damit die Welt schließlich verbessert werden kann.
Deutschland ist da mit der Vereinigung von West und Ost schon mal als gutes Beispiel
vorangegangen. Da hat man es trotz vieler Probleme schließlich geschafft, beide Staaten in sämtlichen
Bereichen wieder zusammenzuführen.
Rossinis Oper gilt als Spiegel der Gesellschaft zur Zeit der Restauration. Ein Spiegel, der auch
auf das heutige Europa zutrifft?
Laura Scozzi: Nur ganz allgemein. Es gibt natürlich einige Dinge, die immer noch aktuell sind und
immer aktuell bleiben. Aber die jetzige Situation in Europa ist eine ganz andere als zur Zeit Rossinis,
wo Europa sich unter völlig unterschiedlichen historischen Umständen befand.
Trotzdem spielt deine Inszenierung im heutigen Europa.
Laura Scozzi: Genau. Ich habe kein Interesse, Europa als historisches Museum darzustellen. Ich
bin keine Museumswächterin, sondern Regisseurin und sehe es als meine Aufgabe, die zeitlosen
Fragen zum Thema Europa, die heutige Situation aufzuzeigen. Es macht Spaß, auf die Suche zu
gehen und mir Gedanken zu machen, wie die damaligen Künstler die Geschichte Europas heute
erzählt hätten. Dazu gibt es eine kleine Anekdote: Vor einigen Jahren habe ich in Avignon eine
Inszenierung von „Die Reise nach Reims“ gesehen, die im Stil einer Feydeau -Komödie gehalten war.
Mein eigener Ansatz von Komik ist aber ein ganz anderer und ich konnte darüber gar nicht lachen. Und
während ich so dasaß und mich etwas langweilte, dachte ich darüber nach, wo das Ganze spielt und
was die Geschichte eigentlich erzählt. Da fiel mir auf, dass es doch eigentlich genau um die Situation
des heutigen Europas geht. Und einige Monate später kam aus Nürnberg das Angebot, „Die Reise
nach Reims“ zu inszenieren.
Deine Inszenierung spielt im Europäischen Parlament. Da geht es, gelinde gesagt ziemlich
chaotisch zu...
Laura Scozzi: Ja, weil dort, wie überall, Menschen sind, die ihre Grenzen haben. Ich will zeigen,
wie schwierig es ist, Gruppen zu bewegen, Veränderungen hervorzurufen, die Menschen wachzurufen.
Es braucht viel Arbeit, um kleine Schritte zu gehen und kleine Ergebnisse hervorzubringen. Sobald
man mehr als einer ist, gibt es mehrere Positionen, und die Situation wird mit jedem, der dazukommt,
komplizierter. Aber wir entwickeln uns trotzdem weiter. Darum geht es doch in dem Stück. Seit 1825
haben ja enorme Veränderungen stattgefunden, deshalb sollten wir uns nicht zu sehr beklagen.
Welche davon würdest du besonders hervorheben?
Laura Scozzi: Als eine, die viel unterwegs ist, ist der Euro eine wunderbare Sache. Auch die
Aufhebung der Grenzkontrollen und Zollbeschränkungen ist ganz hilfreich. Aber das ist noch nicht
einmal das Wichtigste. Das Entscheidende ist, kein Angst davor haben zu müssen, was auf der
anderen Seite der Grenze passiert. Ich kann zum Beispiel nicht verstehen, dass man von Frankreich
nach Italien reist und die Koffer kontrolliert werden. Dass reiche Länder Protektionismus betreiben und
sich damit gegen andere Länder abschotten. Außerdem hasse ich Nationalismus; ich finde
Nationalhymnen eigentlich unerträglich.
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Staatstheater Nürnberg – Materialien „Die Reise nach Reims“
... Und nimmst sie im Finale von „Die Reise nach Reims“ kräftig auf die Schippe.
Laura Scozzi: Klar! Balochis Hymnentexte haben zum Teil sehr kriegerische Texte mit
martialischen Bildern, wie man sie heute nicht mehr verwenden würde. Was ist der Sinn? Warum sollte
ich eher darauf stolz sein, Italienerin zu sein anstatt Deutsche oder Französin? Leider gibt es immer
noch viele Leute, die nationalistisch denken. Es scheint ein menschliches Phänomen zu sein, immer in
Schubladen oder in Grenzen zu denken.
À propos menschliche Phänomene: Was haben Balochis kauzige Bonvivants mit europäischen
Entscheidungsträgern des 21. Jahrhunderts gemeinsam?
Laura Scozzi: Im Grunde sehr viel. Der Mensch bleibt sich in seinen Grundzügen ja immer gleich,
trotz aller historischen Veränderungen und technischer Fortschritte. Die menschlichen Gefühle, die
Fragen über Leben und Tod sind heute genau dieselben wie vor 150 Jahren. Obwohl die Art und
Weise, wie wir leben, sich sehr wohl verändert hat. Die Sprache des Textbuches und die Art der Komik
bei Balochi und Rossini entsprechen der Entstehungszeit der Oper und haben sich inzwischen sehr
gewandelt. Genauso wie die Art und Weise, wie wir uns mit Dingen beschäftigen.
Fortbewegungsmitttel, königliche Insignien, Technik und so fort – das hat sich alles gewandelt. Aber
was die menschlichen Gefühle betrifft, hat sich überhaupt nichts verändert. Grundsätzlich ist die
Situation in Europa dieselbe wie zu Zeiten Rossinis – und zwar, weil die Menschen gleich geblieben
sind.
Diese Menschen sind in deiner Inszenierung Politiker, die sich wechselseitig streiten, umeinander
buhlen oder ihre eitlen Fantasien ausleben.
Laura Scozzi: So ist es. Die Liebesduette erscheinen mir wie Annäherungsversuche zwischen
den Staatsoberhäuptern, die versuchen, sich gegenseitig zu verführen, um ihre Ziele zu erreichen. Die
Folge von Arien, Duetten und Ensemblenummern in dieser Oper kommt mir überhaupt wie ein einziges
Politikspektakel vor.
„Die Reise nach Reims“ ist voller parodistischer Bezüge zu zeitgenössischen Ereignissen und
Personen des öffentlichen Lebens. Gibt es die bei dir auch?
Laura Scozzi: Oh ja. Bei Balochi macht die Parodie den Kern der Geschichte aus, und das gibt es
natürlich auch in meiner Inszenierung. Nur dass es bei mir heutige Personen des öffentlichen Lebens.
Mir ist zum Beispiel sofort die Parallele zwischen Corinna und Carla Bruni aufgefallen. Ich finde auch,
dass es eine gewisse Ähnlichkeit zwischen Nicolas Sarkozy und dem – ziemlich absolutistisch
veranlagten – König Karl X. von Frankreich gibt. Ich finde, Sarkozy hat mehr von einem König als von
einem Präsidenten und ich hätte mich nicht gewundert, wenn er gesagt hätte, dass er in Reims gewählt
werden will. Dieser Bezug würde nicht mit jedem anderen Präsidenten funktionieren, aber auf Sarkozy
trifft es meines Erachtens zu. Die Krönung ist bei mir nichts anderes als die Wahl zum französischen
Staatspräsidenten. Davon abgesehen ist der König, auch wenn sich oberflä chlich alles um ihn dreht,
für mich keine zentrale Figur in der Oper. Die EU setzt sich schließlich aus allen Menschen Europas
zusammen und nicht allein aus Staatslenkern.
(aus dem Programmheft zu „Die Reise nach Reims“)
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Staatstheater Nürnberg – Materialien „Die Reise nach Reims“
EUROPA ZU GAST IN FRANKREICH UND ZWEI
ITALIENER IN NÜRNBERG
LAURA SCOZZI INSZENIERT ROSSINIS „DIE REISE NACH REIMS“
„Die Einigung Europas mit den bisherigen Methoden gleicht dem Versuch, ein Omelett zu backen,
ohne die Eier zu zerschlagen.“ Dieses schonungslose Urteil stammt nicht etwa von einem entnervten
Mitglied der 2009 gegründeten europakritischen Fraktion im Europäischen Parlament, sondern ist ein
bissiger Kommentar des französischen Autors und Journalisten Paul Lacroix (1806-1884) über die
ersten vereinten europäischen Gehversuche im 19. Jahrhundert. Die Regisseurin Laura Scozzi weiß es
noch rigoroser auszudrücken: „Europe is a mess!“ Und sie weiß, wovon sie spricht, denn als Italienerin,
die in Frankreich lebt und in Deutschland Opern auf die Bühne bringt, ist sie nicht n ur eine kosmopolite
Europäerin, sondern findet in der verrückten Geschichte von „Die Reise nach Reims“ auch eine
Steilvorlage für eine neue hintergründig-humorvolle Inszenierung. Rossinis letzte Oper in italienischer
Sprache, die anlässlich der Krönung Karls X. 1825 am Pariser Théâtre Italien zur Uraufführung kam, ist
mit ihrem augenzwinkernden Witz, ihren schrulligen Charakteren und ihrer spritzigen Musik wie
geschaffen für Scozzis Regieteam. Das verspricht nach „Benvenuto Cellini“ und „Die Zauberflöte“
wieder eine turbulente Inszenierung, die diesmal den Schwerpunkt auf das wohlwollende – doch nicht
immer reibungslos verlaufende – Miteinander der großen „familiären“ Gemeinschaft Europas legt.
Und turbulent geht es durchaus zu im Hotel „Zur Goldenen Lilie“ in Plombières, einem kleinen
Kurort im Osten Frankreichs: Die Gäste – eine Gruppe schrulliger Adeliger, Offiziere und Künstler aus
verschiedenen europäischen Ländern – stecken inmitten der Vorbereitungen zu ihrer Abreise nach
Reims, um dort der unmittelbar bevorstehenden Krönung des neuen französischen Königs
beizuwohnen. Doch immer wieder treten Unwegsamkeiten verschiedenster Art auf: Da wird gebuhlt,
gestritten und sich die Zeit mit allerlei Luxusproblemen vertrieben. Da löst die Nachricht, dass die
gesamte Reisegarderobe der französischen Gräfin Folleville bei einem Unfall zerstört wurde, bei
derselbigen beinahe einen Herzstillstand aus. Da kommt es fast zum Duell zwischen dem ungestümen
russischen General Libenskof und dem stolzen spanischen Admiral Alvaro, die beide in die Marquise
Melibea verliebt sind. Dieses kann in letzter Sekunde durch eine Ode auf den Frieden und die
brüderliche Liebe der römischen Improvisationskünstlerin Corinna verhindert werden – die nicht ahnt,
dass der englische Lord Sydney Liebesqualen aussteht, weil er sich nicht traut, Corinna seine
Zuneigung zu gestehen. Don Profondo, ein besessener österreichischer Antiquitätensammler, versorgt
indessen die arme griechische Waise Delia mit tröstenden Neuigkeiten über die Griechenland -Krise,
während der deutsche Baron und Musikliebhaber Trombonok abwechselnd von Bach, Haydn, Mozart
und Beethoven schwärmt.
Doch dann, nach mühsamen Verhandlungen und peniblen Katalogisierungen des Reisegepäcks,
kommt die niederschmetternde Nachricht, dass in der ganzen Stadt keine Pferde verfügbar sind – die
Reise nach Reims kann nicht stattfinden! Was tun?! Diesmal ist man sich schnell einig: Die Reisekasse
wird für ein festliches Bankett geschlachtet und der Rest für wohltätige Zwecke verwendet. Und die
Krönung? Nun ja, man hat von weiteren Feierlichkeiten in Paris gehört, wohin man sich mit alternativen
Verkehrsmitteln begeben will ...
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Staatstheater Nürnberg – Materialien „Die Reise nach Reims“
SIND WIR NICHT ALLE MITGLIEDER DER „REISEGRUPPE EUROPA“?
Eine große, liebenswerte – und nicht immer ganz friedliche – europäische Familie beschreiben
Luigi Balochi und Gioacchino Rossini in „Die Reise nach Reims“, die keine gewöhnliche Krönungsoper
ist, sondern eine im wahrsten Sinne des Wortes verrückte Spiegelung und Schachtelung von fiktiver
Geschichte und historischem Anlass sowie ein parodistisches Bild der europäischen Gesellschaft zur
Zeit der Restauration, das bis heute nichts von seinem gesellschaftskritischen Scharfsinn verloren hat.
Denn sind wir nicht alle Mitglieder der „Reisegruppe Europa“? Und geht es im Euro pa des 21.
Jahrhunderts nicht auch manchmal zu wie in der „Goldenen Lilie“? Das grenzüberschreitende Denken
und Handeln bestimmt für uns europäische Bürger heute unseren Alltag noch mehr als zu Zeiten des
Kosmopoliten Rossini. Die fränkische Stadt Nürnberg begreift sich mit ihren umliegenden Städten als
europäische Metropolregion, empfängt täglich Besucher aus aller Welt und ist alljährlich mit einer
Delegation des Christkindles in Brüssel vertreten. In vielen Nürnberger Betrieben – und natürlich auch
am Staatstheater – arbeiten Mitarbeiter aus allen Regionen Europas und der Welt zusammen. In der
Oper kommen regelmäßig Koproduktionen mit anderen europäischen Opernhäusern aus Frankreich,
Italien, der Schweiz und Irland, auf die Bühne.
In vielen Lebensbereichen ist Europa kein frommer Wunsch mehr, sondern längst zur alltäglichen
Realität geworden. Mit allen Chancen, aber auch allen Turbulenzen, die das Mit - und Nebeneinander
verschiedener Nationalitäten und Traditionen mit sich bringt. Die meisten Menschen em pfinden dies als
Bereicherung und freunden sich zunehmend mit einer Vertretung der gesamteuropäischen
Bevölkerung im Europäischen Parlament an. Das Denken der Entscheidungsträger im „Haus Europa“
ist heute wie im 19. Jahrhundert von hohen Idealen und dem W unsch nach Frieden, Eintracht und
Wohlstand bestimmt. Doch allzu häufig kommen – abgesehen von rituellen Selbstbeweihräucherungen,
Eifersüchteleien und den üblichen Machtrangeleien – nur wenig handfeste Lösungen zustande.
Stattdessen, so empfinden es viele europäische Bürger, wird zu viel Geld in die Selbstverwaltung und
zu viel Zeit in „Luxusprobleme“ gesteckt. Und am Ende, wenn man es mal wieder versäumt hat, sich
„auf den Weg“ zu machen, belässt man es notfalls bei der Verlautbarung von Idealen, Hymnen,
geschwungenen Reden und guten Wünschen.
Europa – das war für Balochi ein internationaler Haufen kauziger Bonvivants und für Rossini eine
ideale Vorlage für einige virtuose Belcantopartien, die er den Mitgliedern des renommierten Ensembles
des Théâtre Italien auf Leib und Kehle komponierte. „Europa – das ist ein einziges Chaos“, so sieht es
die Regisseurin und Choreographin Laura Scozzi angesichts der verschrobenen Charaktere und der
verrückten Geschichte von Balochis und Rossinis Krönungsoper, die sie, um ihrer Deutung Nachdruck
und Aktualität zu verleihen, kurzerhand in das Europaparlament nach Brüssel verlegt.
Das Innere des Parlaments – ein riesiges Durcheinander von Akten, Möbeln und aus den Angeln
geratenen Kulissen, die das Leben angenehm machen sollen – wird zum Schauplatz des Geschehens.
Hier betreut Don Prudenzio als „Personal Coach“ die gestressten und profilneurotischen Staatsleute,
da stöhnt die gestresste Büroleiterin Madama Cortese, die nicht nur für ihre Untergebenen, sondern
auch für ihre Vorgesetzten, die „Staatsleute“, mitdenken und -arbeiten muss, während die Hauptfiguren
als wechselseitig sich streitende, umeinander buhlende oder ihre eitlen Fantasien auslebende Politiker
in Erscheinung treten. Für Scozzi entspringt ihre Deutung direkt der Musik Rossinis: „Die Liebesduette
erscheinen mir wie Annäherungsversuche zwischen den Staatsoberhäuptern, die versuchen, sich
gegenseitig zu verführen, um ihre Ziele zu erreichen. Die Folge von Arien, Duetten und
Ensemblenummern in dieser Oper kommt mir überhaupt wie ein einziges Politikspektakel vor.“
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Staatstheater Nürnberg – Materialien „Die Reise nach Reims“
ÄHNLICHKEITEN MIT LEBENDEN PERSONEN SIND BEABSICHTIGT
Auffällige Ähnlichkeiten und freie Assoziationen mit tatsächlich lebenden Personen des
politischen Lebens sind durchaus beabsichtigt – ganz entsprechend Balochis Libretto, in dem
Staatsleute verschiedener Nationen ebenso parodiert wurden wie literarische Figuren aus Madame de
Staëls literarischem Werk „Corinne, ou l’Italie“ (1807): So entsprang der gesanglich -dichterische Stil
der römischen Dichterin Corinna unmittelbar der Kunst des Improvisierens, wie de Staël ihn in ihrem
Prosawerk beschrieb. Der französische Schwerenöter Belfiore galt 1825 als Anspielung auf Talleyrand,
der während des Wiener Kongresses geschickt die Verhandlungen für Frankreich fü hrte. Der
harmoniebesessene Baron Trombonok parodierte den für die vehemente Verfechtung des
„Equilibriums“ bekannten österreichischen Außenminister Klemens von Metternich, aber auch den
Rossini-Biographen „Baron de Stendhal“ Henri Beyle, der 1817 in Rom, Neapel und Florenz weilte und
sich, wie Trombonok, als deutscher Musikliebhaber und Offizier der Kavallerie ausgab. Rossinis an
kompositorischen Finessen und Stilzitaten überreiche Partitur enthält zudem etliche musikalische
Parodien, von Joseph Haydns „Gott erhalte Franz den Kaiser“ und „God Save The King“ über Zitate
aus Haydns Trompetenkonzert in Es-Dur bis hin zu J. S. Bachs Toccata in d-Moll.
Victor Hugo äußerte 1850 den visionären Satz: „Der Tag wird kommen, an dem du, Frank reich, du, Russland, du, Italien, du, England und du, Deutschland, all ihr Völker dieses Erdteils, zu
einer höheren Einheit verschmelzen werdet, ohne eure verschiedenen Vorzüge und eure ruhmreiche
Einzigartigkeit einzubüßen, und ihr werdet eine europäische Bruderschaft bilden ... “. Heute, im Jahr
2011, gibt es trotz aller Unwegsamkeiten Grund zur Annahme, dass wir diesen Wünschen schon ein
kleines Stück näher gekommen sind – na dann: „Gute Reise, Europa!“
Judith Debbeler
(aus „Impuls“, Magazin des Staatstheaters, Ausgabe Februar)
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Staatstheater Nürnberg – Materialien „Die Reise nach Reims“
PRESSESTIMMEN
Wer Oper für eine verstaubte, elitäre Angelegenheit hält, wird von Laura Scozzi eines Besseren belehrt:
Rossinis „Reise nach Reims“ ist bestes Unterhaltungstheater. [...] Laura Scozzi und Rossini: Das scheint
eine inspirierende Liaison. Wo der unerschöpfliche Melodienerfinder vor Ideen nur so sprüht, hält die
Regisseurin mit ihrem parodistischen Eifer und temporeichem Spott dagegen. [...] Selten wurde so herzhaft
gelacht in der Oper. [...] Unbedingt anschauen. Prädikat: besonders vergnüglich.
Nürnberger Nachrichten
Laura Scozzi hat unglaublich viele Einfälle, die Bühnenmaschinerie ist ständig in Bewegung, es herrscht
gewaltige Unruhe in diesem Europa [...] Grandios spielen die Sänger und der Chor bei diesem EuropaWahnsinn mit [...] Dirigent Philipp Pointner zieht alle Register. Der bizarre Wettbewerb der Nationalhymnen
am Ende der Oper wird zu einem aberwitzigen, unglaublich komischen Hörerlebnis. Außer Rand und Band
scheint dieser Rossini-Abend, immer hart an der Grenze zum Wahnsinn [...] Diese „Reise nach Reims“
führt zwar nirgendwo hin, macht aber Lust auf Europa, und das hätte Rossini sicherlich gut gefallen.
Bayerischer Rundfunk, B5 aktuell
Musikalisch trifft Dirigent Philipp Pointner für diese Politklamauk-Farce genau den richtigen Ton.
Schwungvoll, spritzig und temporeich spielen die Nürnberger Philharmoniker auf und schaffen ein lockerflockiges Klang-Soufflee. Mit ebenso viel Spaß an der Freud und einer gehörigen Portion Selbstironie
setzen die insgesamt 16 Solisten und der Chor diesen Belcanto-Ulk gesanglich und darstellerisch um. [...]
Kaum zu glauben, dass alle Rollen mit hauseigenen Kräften besetzt sind. Eine fulminante, geschlossene
Ensembleleistung in einer temperamentvollen, witzigen Inszenierung.
BR-Kultur
Köstlich. Reizend. Und völlig zweckfrei. Es ist doch schön, welche Freude einem eine Opernaufführung
bereiten kann, man hüpft danach zum Bahnhof, es ist egal, dass der Zug weg ist und man eineinhalb
Stunden warten muss. Denn man ist heiter, summt fröhlich vor sich hin und denkt bei sich, dass sich die
Reise gelohnt hat. Die Reise nach Nürnberg ebenso wie „Die Reise nach Reims“, die im Original „Il
viaggio a Reims“ heißt und eine lustige Oper von Rossini ist. [...] Scozzi mangelt es nie an Einfällen, dem
Nürnberger Haus nicht an tollen Sängern. Hrachuhi Bassenz ist eine Mischung aus Joan Baez und Carla
Bruni, Heidi Elisabeth Meier eine schalkhafte Tiroler Gouvernante, Anna Lapkovskaja unglaublich schön
(Kriegsgrund!), Tilman Lichdi ein feiner Liebhaber, alle singen gut bis exzellent und das Orchester brilliert
(Dirigent: Philipp Pointner).
Süddeutsche Zeitung
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