modest petrowitsch mussorgsky
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modest petrowitsch mussorgsky
MODEST PETROWITSCH MUSSORGSKY (1839 – 1881) Jede Studie über das Genialische im Musiker müsste Mussorgsky als Kronzeugen heranziehen. Aber auch wer die Tragik des unverstandenen Schöpferdaseins beschreiben wollte, könnte kaum ein erschütternderes Beispiel finden als dieses Leben, das ein Dostojewsky nicht grausamer hätte erfinden können. Für den Psychologen, für den Arzt bietet der "Fall" Mussorgsky fesselndes Studienmaterial. Die Qual des zum Schaffen geborenen, ja gezwungenen Menschen, den die Macht seiner Visionen zu erdrücken droht, die Ohnmacht des kaum durchschnittlich geschulten Musikers gegenüber den unerhörten neuen, bahnbrechenden Ideen, die seine Phantasie ihm eingibt, die Einsamkeit, die eine unüberwindliche Schranke zwischen ihm und allen "normalen" Gefährten aufrichtet, die Flucht in den Alkohol, der Trost vorspiegelt, liebliche Bilder, die das Leben nicht zu bieten vermag, vor die lechzende Seele gaukelt - das zu schildern, müsste ein Leidensgenosse aufstehen, dem darüber hinaus die ganze Macht des Wortes zu Gebote stünde. Mussorgsky wurde am 21. März (nach gregorianischem Kalender 16. März) 1839 in Karewo, Gouvernement Pskow, im weiten zaristischen Russland geboren. Sein Vater bestimmte ihn, wie dies unter dem kleinen Adel üblich war, zur militärischen Laufbahn. Der junge Offizier spielte in den eleganten Salons von St. Petersburg Klavier, wenn seine Kameraden und hübsche Damen ihn darum baten. Niemand konnte die spätere Tragödie dieses lebenslustigen jungen Mannes voraussehen. Eines Tages suchte und fand er Kontakt mit Mili Balakirew, um den sich die nach neuem Ausdruck suchenden revolutionären russischen Musiker scharten. Mit diesem sowie mit Cui, Borodin und Rimsky-Korssakow bildete er die "Gruppe der Fünf", das "Mächtige Häuflein", wie sie sich selbst ironisch nannten. Ihr Ziel war die Schaffung einer wahrhaft russischen Musik, einer Kunstmusik, die aus den Kräften der Erde, aus den Gesängen der Bauern hervorwüchse. Mussorgsky legte in diese Idee aber noch eine besondere Bedeutung. Schmerzlich fühlte er, wie einer kleinen, reichen Oberschicht, in deren glänzendem Dasein jedes soziale, aber auch jedes nationale Gefühl völlig fehlte, die dumpfe Masse des Volkes gegenüberstand, die "Erniedrigten und Beleidigten", die Ausgebeuteten, die Geknechteten, die Vergessenen. Es zog ihn zum Volke. Er nahm seinen Abschied, nicht nur vom Heer, sondern von allem, was bis dahin sein Kreis gewesen war. In echt russischer Geste musste er alles von sich werfen, um zu seinem wahren, eigenen Ich zu kommen. Nun wuchsen seine musikalischen Visionen riesengross an. In einer armseligen Behausung (die er zeitweise mit Rimsky-Korssakow teilte), erlebte er das Elend, die Hoffnungslosigkeit, die Gläubigkeit des Vokes, versuchte er, unter schweren Seelenqualen, seinen Gedanken musikalische Form zu geben. Doch was er gelernt hatte, reichte nicht dafür aus, grosse Opern, sinfonische Dichtungen, Liederzyklen zu Papier zu bringen. Der Wohnungsgenosse musste helfend eingreifen, ausfeilen, instrumentieren. Mussorgsky verfiel, in wachsender Verzweiflung, dem Alkohol. In lichteren Augenblicken schuf er Meisterwerke wie Boris Godunow, Chowantschina, den Jahrmarkt von Sorotschinsk (oder Sorotschintzi), drei Opern höchster Ansprüche, das sinfonische Gedicht Die Nacht auf dem kahlen Berge, den Klavierzyklus Bilder einer Ausstellung, herrliche Liederreihen. Bei nahezu allen seinen Werken haben fremde Hände die letzte Feile anlegen müssen. Mussorgsky starb an seinem 42. Geburtstag, dem 28. März 1881, im Armenspital zu St. Petersburg. Auszug aus dem Buch "Oper der Welt" von Prof.Dr. Kurt Pahlen. ACS-Reisen AG