Geschichte eines Medienhauses.
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Geschichte eines Medienhauses.
Michael Jungblut herausforderungen und Antworten Die Ganske Verlagsgruppe Geschichte eines Medienhauses | Hoffmann und Campe | 1. Auflage 2007 Copyright © 2007 by Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg Inhalt Erstes Kapitel Schwarzbrot mit Marmelade 9 Von Nieten und Büchern 13 Start-up zu Kaisers Zeiten 15 Es begann vor 300 Jahren 17 Altes Gewerbe neu organisiert 20 Des Hauses Steuerruder ist ein gutes Weib 22 Als die Boten immer kleiner wurden 25 Ein Karren voller Geld 28 Weniger Geld, bessere Geschäfte 30 Der Junior will groß werden 33 Die Eroberung der Hauptstadt 36 Ein Jubiläum ohne Glanz und Gloria 37 Vorwärts in den Abgrund 40 Ein solides Kartenhaus 44 Mit Hut, Weste und Goldkette 47 Aufschwung in den Abgrund 50 Nützliche Packesel des Regimes 52 Zweites Kapitel Zwei Männer, zwei Frauen und ein geheimer Plan 57 Politisch nicht zuverlässig 61 Kampf der Königinnen 66 Verboten, verbrannt, verschleiert 71 Gesucht: Papier, Farbbänder, Manuskripte 75 Eine Nacht in der Hölle 79 Mit Hammer, Besen und Schaufel 84 Der Geheimplan 90 Ein Hauch von Merian 93 Zwei Schreibmaschinen für den »Endsieg« 97 Drittes Kapitel Der Letzte gibt den Schlüssel ab 107 60 Stunden und noch mehr 111 Am Ende den Anfang bedenken 113 Die Wände stehen noch 116 Noch einmal davongekommen 118 Erst kommt das Fressen … 124 Der Tag, an dem das neue Geld kam 128 Kleine Münzen, großer Gewinn 130 In der Mappe zum Erfolg 136 Abschied vom Gründer 141 Viertes Kapitel Das goldige Bild der Welt 145 Die Stimme der Frau: Für Sie 149 Mit Merian die Welt entdecken 151 Viel Holz vor der Hütte 155 Bericht aus einem unbekannten Land 162 Das goldene Blatt der Stars 164 Missratene Tochter aus gutem Haus 174 Auf der Suche nach dem richtigen Styling 177 Etwas Zeitgeist Für Sie 179 Ausstieg vor dem Einstieg 183 Fünftes Kapitel Der Feind im Wohnzimmer 189 Wieder ein Neuanfang 194 Die dritte Front 197 Treue soll belohnt werden 199 Bücher, Platten, Spiele 202 Der Mann mit den goldenen Stiften 205 Lesen statt kochen 209 Wenn der Kassettenmann kommt 211 Wiederentdeckung eines Erfolgsmodells 213 Das Restaurant im Kühlschrank 214 Weder arm noch alt noch ungebildet 217 Sechstes Kapitel Sein längster Tag 223 Auf Bestseller abonniert 230 Sinnlich und selbstbewusst 235 Ideen rund um Haus und Garten 238 Schöner wohnen – selbstgemacht 243 Man reist nicht nur, um anzukommen 245 Besuch bei den rheinischen Katholiken 250 Der Unbekannte auf dem Flur 252 »Da muss er jetzt durch« 257 Siebentes Kapitel 100 Jahre und kein bisschen müde 265 Als die Mauer fiel 269 Zurück auf Anfang 271 Gute Kunden muss man pflegen 272 Die Firma bekommt etwas zurück 277 Achtes Kapitel Mit Tempo in neue Dimensionen 283 Zeit des Umbaus 288 Zeit des Ausbaus 293 Viel Zeitgeist, wenig Zeitgefühl 297 Von Fehlern leben 298 Mit preiswerten Büchern Akzente setzen 304 Kein wirklich schönes Wochenende 309 Durststrecke inklusive 312 Neuntes Kapitel Die Türen öffnen sich 317 Gemeinsam sind wir stärker 323 Die geheimen Millionäre 331 Spielwiese für Kreative 339 Gut, wenn man von Marketing keine Ahnung hat 343 Bücher für Genießer 346 Hausverbot für den Frevler 349 Erfolg an der langen Leine 355 Ungleiche Schwestern 359 Die Hamburger Prinzen-Garde 360 Lifestyle kombiniert mit Nutzwert 363 Ein Wort zum Schluss 367 Nachbemerkung 371 Personenregister 372 Erstes Kapitel Schwarzbrot mit Marmelade W er eine Erzählung von Siegfried Lenz liest, den Katalog von Mail:Order:Kaiser nach günstigen Buchangeboten durchstöbert, auf der Suche nach den besten Restaurants mit dem Feinschmecker-Guide in der Hand durch München oder Frankfurt streift oder im Prinz nachsieht, wo in Köln, Berlin und anderen deutschen Metropolen »der Bär tobt«, sieht vermutlich keinerlei Zusammenhang zwischen diesen höchst unterschiedlichen Medienangeboten. Wer beim Arzt oder Friseur in einer der dort ausliegenden Lesemappen petra oder Vital durchblättert, kommt wohl kaum auf den Gedanken, dass es außer den Heftklammern noch eine andere Verbindung zwischen den Magazinen und ihrem blauen Umschlag geben könnte. Und was sollte das Hotel Hohenhaus bei Herleshausen mit dem BMW Magazin oder dem Verlag Gräfe und Unzer zu tun haben? Auch zwischen iPublish, einem Münchner Unternehmen, das sich der Entwicklung innovativer Navigationssysteme verschrieben hat, dem renommierten Hamburger Verlag Hoffmann und Campe und dem Leserkreis Daheim wird kaum jemand eine Verbindung vermuten. Und in die moderne Medienwelt scheint erst recht kein Werftarbeiter aus Kiel zu passen, der zu Beginn des vorigen Jahrhunderts mit dem Niethammer in der Hand das Brot für Frau und Kinder verdiente. Es ist noch gar nicht so lange her, dass selbst innerhalb der Unternehmensgruppe nur wenige Mitarbeiter wussten, dass der bundesweit vertretene Leserkreis Daheim, der Hamburger Jahreszeiten Verlag, das Szeneblatt Prinz, der Münchner Rat 11 geberverlag Gräfe und Unzer, der Spezialbuchversand Frölich & Kaufmann in Berlin oder der Rhenania BuchVersand unter einem gemeinsamen Dach zu Hause sind. Denn als Mitglieder der Ganske Verlagsgruppe treten diese und eine Reihe anderer Unternehmen erst seit Juni 2001 gemeinsam auf. Wann, wie und wo der Grundstein für das komplexe Unternehmensgebäude gelegt wurde, in dem heute zwei attraktive Töchter leben, die deutlich älter sind als die Mutter, war daher lange Zeit nur wenigen Insidern bekannt. Und selbst die wussten kaum etwas über die Ursprünge der Mediengruppe, deren Zentrale – von außen kaum als solche erkennbar – in einer mit Türmchen und Erkern verzierten Gründerzeit villa an der Ham burger Außenalster residiert. Die Anfänge des 1907 gegründeten Unternehmens lagen bisher weitgehend im Dunkeln – auch als Folge der deutschen Geschichte. Zeitzeugen leben nicht mehr. Die Geschäftsunterlagen aus den ersten Jahrzehnten sind im Krieg verlorengegangen, nur wenige Bilder, Briefe und andere Dokumente sind erhalten geblieben. Auch durch Hörensagen ist über die Gründerjahre kaum etwas bekannt. Die Enkelkinder haben Richard Ganske, den Gründer, zwar noch als gütigen alten Herrn und »Bilder buch-Großvater« kennen- und lieben gelernt. Thomas Ganske, der heutige Chef der Gruppe, glaubt sogar zu wissen, dass sein Großvater Richard »im Herzen ein echter Sozialdemokrat« war. Er meint auch, dass sein Großvater allein wohl nicht auf den Gedanken gekommen wäre, sein Unternehmen über die Grenzen von Kiel auszudehnen. Aber die Enkel waren noch zu jung, um den alten Herrn über die Existenzgründung, seine Geschäftsideen, seine Erfolge und Niederlagen ausfragen zu können. Selbst aus den fünfziger und sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts existiert in den Unternehmensarchiven nur noch wenig Schriftliches. Was nicht im Krieg den Flammen zum Opfer fiel, wurde später als Folge eines Rohrbruchs durch Wasser zerstört. 12 Dass heute so wenig über die Frühgeschichte des Unternehmens bekannt ist, liegt aber auch an der Unzuverlässigkeit eines Herrn Dr. Carlsson, der sich im November 1942, als alle Dokumente und Zeitzeugen noch greifbar waren, vertraglich verpflichtet hatte, eine Geschichte der Branche und des Unternehmens zu Papier zu bringen. Doch abgesehen von der Unterschrift unter den Autorenvertrag floss bis Kriegsende keine einzige Zeile aus seiner Feder. Auch bei der Einhaltung von Besprechungsterminen, der Vermittlung von Kontakten und selbst bei der korrekten Übermittlung wichtiger Adressen erwies sich Carlsson als äußerst unzuverlässig. So war niemand wirklich erstaunt, als zu dem für Anfang Januar 1944 vereinbar ten Abgabetermin noch keine einzige Seite vorlag. Der Ärger darüber dürfte sich allerdings schon wenig später in Erleichterung verwandelt haben; denn 1945 wurde in einer Aktennotiz festgehalten, dass »Dr. Carlsson als Pg. [Parteigenosse] und Angestellter der Reichspressekammer für die Herausgabe […] nicht mehr tragbar ist«. Neben dem Buch musste allerdings auch der für die damalige Zeit recht ansehnliche Vorschuss von 3000 Reichsmark als verloren abgeschrieben werden. Verloren für die Nachwelt sind dadurch jedoch auch viele Daten, Fakten und persönliche Erinnerungen aus den Gründerjahren, die dem saumseligen Autor damals noch reichlich zur Verfügung gestanden hätten. Von Nieten und Büchern Aber immerhin, so viel lässt sich nachweisen: Der am 16. Dezember 1876 als Sohn eines Schmiedes in Nienburg an der Saale geborene Richard Ganske zog im Januar 1903 gleich nach der Hochzeit mit seiner Frau Anna auf der Suche nach Arbeit von Thüringen an die Ostseeküste. Das junge Paar ließ sich zunächst in Pries nieder, einem späteren Vorort von Kiel. Dort gab es für jemand, der mit Eisen und Stahl umzuge13 hen verstand, reichlich Arbeit. Kaiser Wilhelm hatte Kiel zum »Reichskriegshafen« ernannt und ließ an der Ostseeküste einen großen Teil der Kreuzer und Schlachtschiffe bauen, mit deren Hilfe er seinem Reich die heißersehnte »Weltgeltung« und einen »Platz an der Sonne« zu verschaffen hoffte. Doch Richard konnte nicht nur mit dem Niethammer umgehen. Er nahm zum Erstaunen seiner Kollegen auch Bücher in die Hand. Er begeisterte sich für Mathematik und war gern bereit, sein Wissen über Algebra an interessierte Kollegen weiterzugeben. Die Schulbildung von Arbeiterkindern war damals bescheiden. Wer aber auf der Werft nicht zeitlebens als Handlanger schuften mochte, sondern weiterkommen wollte, musste mit Zahlen umgehen und mehr als nur seinen Namen schreiben können. Um beruflich voranzukommen und seinen Bildungshunger zu stillen, brauchte man Zeitschriften und Bücher. Die aber waren damals für einen gewöhnlichen Arbeiter fast unerschwinglich teuer. Kollege Richard war gern bereit, seine Bücher und Zeitschriften zu verleihen. Als immer mehr daran Interesse zeigten, erhob er eine kleine Gebühr dafür. Sie erlaubte es ihm, weiteren Lesestoff anzuschaffen. Seine Arbeitskollegen nutzten offenbar immer öfter die Gelegenheit, leihweise Unterhaltendes und Rat gebende Lektüre für sich und ihre Familien nach Hause zu bringen. So konnten sie ihre Frauen und Kinder mit begehrten Blättern wie der Gartenlaube oder Reclams Universum, dem Häuslichen Ratgeber oder Dies Blatt gehört der Hausfrau und anderen Postillen für Gesundheit, Garten und Haushalt versorgen. Sie waren froh, dass sie diese Zeitschriften bei ihrem Kollegen Richard gegen ein geringes Entgelt für eine gewisse Zeit ausleihen konnten. Den meisten machte es auch nichts aus, wenn sie ein Journal erst drei oder auch fünf Wochen nach Erscheinen bekamen. Hauptsache, es kostete nicht so viel. Aktualität spielte damals noch keine große Rolle. Die Tipps zur Gesundheits- und Kör perpflege, die Rezepte zur preiswerten und bekömmlichen 14 Ernährung der in jener Zeit meist vielköpfigen Familien oder die herzergreifenden Erzählungen einer Hedwig Courths-Mah ler waren auch ein paar Wochen nach Erscheinen noch so nützlich oder rührend wie am ersten Tag. Wer Anfang des vorigen Jahrhunderts nach Ablenkung, Information und Bildung suchte, brauchte das gedruckte Wort. Andere Medien gab es noch nicht. Offenbar war der Lese hunger bei vielen Werftarbeitern so groß, dass sich aus dem kollegialen Verleih schrittweise ein kleiner Nebenverdienst ent wickelte. Richard Ganske muss bald dahintergekommen sein, wie man sich die Bücher und Zeitschriften zu günstigen Preisen auch direkt bei den Verlagen besorgen konnte. Wer größere Stückzahlen abnahm, erhielt Rabatt. Da blieb auch für den Verleiher etwas übrig – besonders dann, wenn die Blätter anschließend mehrfach ausgeliehen wurden. Start-up zu Kaisers Zeiten Was als Liebhaberei begonnen hatte, rechnete sich nun für Richard Ganske. Das Interesse für Zahlen erleichterte es ihm, aus dem kollegialen Verleih ein florierendes Gewerbe zu entwickeln. Er führte akkurat Buch über Ausgaben und Einnahmen und wusste auf diese Weise immer, an wen er seine Zeitschriften und Bücher verliehen hatte, wann sie zurückkamen und an den nächsten Kollegen weitergegeben werden konnten. Er kalkulierte genau, wie viel er in der ersten oder fünften Woche jeweils dafür bekommen musste, damit nach Abzug aller Kosten am Ende auch für ihn noch etwas übrigblieb. Es war offenbar so viel, dass er bereits vier Jahre nach seiner Ankunft in Kiel den Niethammer aus der Hand legte und es riskierte, sich ganz auf den Handel mit Büchern und Zeitschriften zu verlegen. 1907 tat er den entscheidenden Schritt vom Verleiher im Nebenerwerb zum selbständigen Unternehmer: Er gründete eine Buchhandlung und den »Lesezirkel Daheim Richard Ganske«. 15 In den Archiven der Stadt Kiel ist darüber heute nichts mehr zu finden. Im Adressbuch der Stadt erscheint der Name Ganske erst im Jahr 1908. Aus dem gleichen Jahr stammen zwei Zeilen im »Adressbuch des Deutschen Buchhandels«: »Ganske, Rich., Kiel, Wilhelminenstr. 49, Buchh.« Sie belegen, dass die Firma zu diesem Zeitpunkt schon existierte. Aber ein Eintrag im Handelsregister der Stadt Kiel ist für die Jahre 1907 und 1908 weder unter dem Namen Richard Ganske noch unter dem Stichwort Lesezirkel oder Buchhandel enthalten. Auch in den Archiven anderer Städte konnte die Wirtschaftshistorikerin Kristina Vogt bei ihren Recherchen nur wenige Spuren finden, die auf die regen Aktivitäten Richard Ganskes und später seines Sohnes Kurt in den ersten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts hindeuten. Und obwohl der Sitz des bis dahin schon stark gewachsenen Unternehmens 1926 nach Hannover verlegt wurde, lässt sich auch dort erst unter dem 10. November 1930 ein Eintrag im Handelsregister finden. Doch was auch immer der Grund für die verspätete amtliche Wahrnehmung sein mag – um ein Geisterunternehmen handelte es sich gewiss nicht. Denn der »Lesezirkel Daheim Richard Ganske« begann tatsächlich am 1. April 1907 damit, gewerbsmäßig fortzuführen, was der Werftarbeiter zuvor schon als Nebenerwerb betrieben hatte: Lesestoff an einen festen Bezieherkreis gegen eine weit unter dem Einzelverkaufspreis liegende Gebühr im Wochen-Rhythmus zu verleihen. Der 1. April 1907 gilt daher auch als das offizielle Gründungsdatum der heutigen Ganske Verlagsgruppe, die 100 Jahre später in der dritten Generation von Thomas Ganske, einem der Enkel des zum Unternehmer avancierten Arbeiters, geführt wird. Es ist nicht überliefert, ob Richard Ganske nach der Unternehmensgründung noch für einige Zeit seinem Arbeitsplatz auf der Werft treu blieb, ehe er sich ganz auf den Buchhandel und den Zeitschriftenverleih konzentrierte. Denn obwohl der Kundenstamm rasch wuchs, war es anfänglich sicher nicht ein16 fach, mit dem Ertrag des Verleihgeschäfts eine Familie zu ernähren. 1904 war Käthe, die erste Tochter, zur Welt gekommen und ein Jahr später, am 14. Januar 1905, sein Sohn Kurt. Als schließlich 1912 mit Hilde noch ein drittes Kind folgte, stand der Betrieb schon auf festerem Fundament. Wie hart aber die ersten Jahre gewesen sein müssen, lässt eine Bemerkung ahnen, die Richard Ganske Ende der fünfziger Jahre gegenüber Werner Hess, dem damaligen Assistenten seines Soh nes, machte: »Meine Frau und ich haben uns damals vor allem von Schwarzbrot mit der billigsten Marmelade ernährt, die im Konsum-Laden zu finden war.« Ehe Geld für private Zwecke ausgegeben werden konnte, musste erst einmal die Miete für den Laden bezahlt und der Kauf von Büchern und Zeitschrif ten finanziert werden. Dass der Lesezirkel zunächst aus einer Buchhandlung he raus das Verleihgeschäft aufnahm, war keineswegs ungewöhnlich. Angesichts der niedrigen Einkommen und hohen Buchpreise verkauften die meisten Buchhandlungen damals nicht nur Periodika und Bücher, sondern betrieben zusätzlich noch einen Verleih. Bücher erschienen meist in kleinen Auflagen und wurden handwerklich gefertigt. Ihre Distribution kostete viel Geld, und die Lagerhaltung band Kapital. Entsprechend hoch waren die Preise. Nur Gutbetuchte konnten es sich leisten, Bücher zu kaufen und dann als Zeichen ihres Wohlstands ins Regal zu stellen. In den ärmeren Schichten der Bevölkerung gingen die Bücher und Zeitschriften hingegen von Hand zu Hand. Es begann vor 300 Jahren Die Idee, für die Verbreitung von Zeitungen und Zeitschriften Lesegesellschaften oder Lesezirkel zu gründen, war im damaligen Deutschen Kaiserreich nicht neu. Im Gegenteil. Das gemeinschaftliche Lesen hatte bereits eine lange Tradition. Der 17 erste urkundlich erwähnte Leserkreis existierte um 1610 im bayerischen Kitzingen. Bei Recherchen des Hoffmann und Campe Verlags Anfang der vierziger Jahre wurden Urkunden entdeckt, die aus den Jahren 1611 und 1618 stammen und sich auf Lesezirkel in Würzburg und Leipzig beziehen. Doch schon vorher hatten sich vermutlich an manchen Orten Angehörige der gebildeten Stände zusammengetan, um den Bezug von Zeitungen gemeinschaftlich zu organisieren und zu finanzieren. Zunächst waren es handschriftliche Mitteilungsblätter, die gemeinsam bezogen wurden. Der Beitritt zu einer Lesegemeinschaft war ursprünglich ein Luxus, den sich nur des Lesens mächtige Besserverdiener erlauben konnten. In Kitzingen hatte die Lesegemeinschaft 17 Mitglieder, darunter sechs Ratsherren, drei Geistliche, zwei Advokaten, den Klosterverwalter und den Stadtschreiber. Sie bezogen gemeinsam handgeschriebene Zeitungen aus Nürnberg, Frankfurt und Wien, um sich darüber zu informieren, was in der damals bekannten Welt geschah. Von einem wohl wenig später entstandenen Journal-Lesezirkel in Süddeutschland weiß man, dass jedes Mitglied die neu eingetroffenen Zeitungen höchstens eine Stunde behalten durfte, damit sie möglichst vielen Interessenten zugänglich gemacht werden konnten. Bis ins 18. Jahrhundert breiteten sich die Zeitungs-Lesezirkel immer weiter aus. Auch die Organisation machte Fortschritte. Die Blätter wurden nicht mehr von Mitglied zu Mitglied weitergereicht, sondern von Boten gebracht und wieder abgeholt. Es gab festgelegte Lesezeiten, die nicht überschritten werden durften und meist recht kurz bemessen waren. Anders als dies später der Fall war, wurde das Blatt aber nicht mit jeder weiteren Ausleihung billiger. Alle Mitglieder zahlten den gleichen Preis; die Belieferung erfolgte in der Reihenfolge des Beitritts zur Lesergemeinschaft. Ähnlich wie bei den Getreidemühlen galt das Prinzip: »Wer zuerst kommt, mahlt zuerst.« Auch der Buchhändler August Campe hatte im Jahr 1802 ein Lesekabi18 nett eröffnet, dessen Angebot an periodischen Schriften nach zeitgenössischen Berichten alle anderen Einrichtungen dieser Art in der Hansestadt bei weitem übertraf. Dass der »Lesezirkel Daheim Richard Ganske« und der Verlag Hoffmann und Campe fast 140 Jahre danach zusammentreffen würden, stand damals noch in den Sternen. Zwischen 1800 und 1850 verdreifachte sich die Zahl der Leih- und Leseinstitute, wie einschlägige Untersuchungen aus jener Zeit belegen. Ob durch Boten zugestellt, in Buchhandlungen zur Abholung bereitgelegt oder in Bibliotheken zur Lektüre ausliegend, waren die Blätter immer einer Vielzahl von Lesern zugänglich. Sie wanderten oft monatelang von Hand zu Hand. Angesichts der hohen Preise für Zeitungen und Zeitschriften spielten Einzelkäufer gegenüber dem Gemeinschaftsbezug und der Ausleihe lange Zeit kaum eine Rolle. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts schossen im damaligen Kaiserreich Lesezirkel und ähnliche Einrichtungen wie Pilze aus dem Boden. Untersuchungen kamen zu dem Ergebnis, dass es um die Jahrhundertwende in Deutschland etwa 1200 Lesezirkel gab. In vielen Fällen handelte es sich dabei um Buchhändler, die Lesemappen anboten. Meistens wurden sie nach den persönlichen Wünschen der Kunden zusammengestellt. An diese Tradition knüpften auch die eigenständigen Lesezirkel an, die neben dem Buchhandel entstanden. Sie legten ihren Kunden eine Liste von Zeitschriften vor, aus denen die Abonnenten die Titel auswählen konnten, die sie wöchentlich beziehen wollten. Die so zusammengestellten Mappen enthiel ten zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Regel sieben bis zwölf Zeitschriften und wurden zu Preisen ab 20 Pfennig verliehen, wie aus einer 1969 erschienenen Untersuchung des Verbandes Deutscher Lesezirkel hervorgeht. Als Richard Ganske 1907 sein Unternehmen gründete, war er in seiner Region keineswegs konkurrenzlos. Es gab um diese Zeit allein in Hamburg 25 Lesezirkel. Auch in Kiel und dessen 19 Umland traf Ganske auf Wettbewerber. So hatte Detlev Krumbeck, dessen Nachfolger den Familienbetrieb bis heute führen, schon 1901 in Altona einen Lesezirkel gegründet und sein Liefergebiet schrittweise auf Schleswig-Holstein ausgedehnt. Die weit überwiegende Zahl dieser Lesezirkel bestand allerdings aus Nebenerwerbsbetrieben oder Anhängseln von Buchhandlungen. Auch bei den Krumbecks reichte der Ertrag anfänglich nicht aus, um damit die Familie zu ernähren. Deshalb wurden neben Zeitschriften auch noch Eier und anderes an der Haustür verkauft. Altes Gewerbe neu organisiert War auch die Geschäftsidee nicht neu, so unterschied sich doch die Art und Weise, in der Richard Ganske sein Gewerbe organisierte, von Anfang an wesentlich von den Methoden der meisten Wettbewerber. Er betrieb das Geschäft nicht nebenher, sondern nutzte sein mathematisch geschultes Denken, um eine akkurat geführte Kundenkartei aufzubauen, das Lager zu organisieren und die Wege zu den Kunden zu planen. Er teilte die Stadt in Zustellbezirke ein und bemühte sich, optimale Stre cken für die Boten festzulegen. Sie sollten auf dem kürzesten Weg zu ihren jeweiligen Kunden gelangen – sei es zu Fuß, mit dem Handkarren oder hoch im Sattel der sogenannten Bäckerfahrräder, mit denen damals nicht nur frische Brötchen durch die Stadt gefahren wurden. Es handelte sich dabei um dreirädrige Vehikel, an denen vor dem Lenker ein großer Blechkasten mit Deckel montiert war, in dem die Waren verstaut und so auch vor Regen oder Schnee geschützt wurden. Entscheidend für den Erfolg aber war, was in den Blechkisten zu den Kunden gebracht wurde. In einer Mitteilung zum 50-jährigen Jubiläum wurde 1957 an die Devise des Gründers erinnert: »Die Lesemappe muss alle Kreise der Bevölkerung ansprechen – den Akademiker genauso wie den Arbeiter.« 20 Richard Ganske machte sich immer wieder Gedanken darüber, wie er dieses selbstgesteckte Ziel am besten würde erreichen können. Was war für die Wahlmappe geeignet und beschaffbar? Welche Zeitschriften sollte die feste Mappe enthalten, um für möglichst viele Abonnenten attraktiv zu sein? Aus betriebswirtschaftlicher Sicht musste er versuchen, mög lichst viele Kunden von den Vorteilen einer festen Mappe zu überzeugen. Das ersparte nicht nur ein ständiges Umsortieren der Blätter und vereinfachte die Führung der Kundenkartei. Es ermöglichte auch den Bezug größerer Stückzahlen bei den Verlagen und brachte dadurch höhere Rabatte. Es kam also darauf an, eine Auswahl an Journalen zusammenzustellen, die möglichst vielen Lesern zusagte – den ehemaligen Kollegen auf der Werft und ihren Frauen ebenso wie dem Bäcker und dem Schuster, dem Lehrer und dem Schreiber in einer Amtsstube. Dass er dabei erfolgreich war und die feste Mappe zur tragenden Säule seines Lesezirkels machte, unterschied Richard Ganske nicht nur von der Mehrzahl der anderen Anbieter. Es bedeutete auch, dass er auf diese Art viel wirtschaftlicher arbeiten konnte. Um auch anspruchsvolle Leser oder bestimmte Interessentengruppen zu erreichen, mussten neben der Standardmappe zusätzlich Wahlmappen angeboten werden. Statt dafür wie die meisten seiner Konkurrenten eine feste Liste vorzugeben, ging Ganske hier ebenfalls einen etwas anderen Weg. Er versprach, »sämtliche in- und ausländischen Zeitschriften, Geschenkwer ke, Kunstblätter, Fachzeitschriften und Modejournale« zu liefern, wie es im Briefkopf seiner Firma zu lesen war. Das kostete zwar mehr als die feste Mappe, war aber damals wie heute für die Kunden deutlich günstiger als ein Kauf der Titel beim Buchhändler oder am Kiosk. An vielen Orten wetteiferten mehrere Lesezirkel um die Gunst der Kunden. In Hamburg gab es zum Beispiel 1908 nicht weniger als 25 Lesezirkel, die pro Woche immerhin 21 48 000 Zeitschriften von den Verlagen bezogen, um sie anschließend kaskadenartig an ihre Kundschaft zu verteilen. 1911 wurden in Leipzig 15 Lesezirkel gezählt. Der Wettbewerb spielte sich dabei auf mehreren Ebenen ab. Neben der Auswahl der Titel unterschieden sich die Zirkel durch den Preis für den Erstbezug und die Ermäßigung, die bei jeder weiteren Woche nach Erscheinen gewährt wurde, sowie durch die Anzahl der Blätter, die jeweils bezogen werden konnten oder mussten. Vor allem über die Mindestgebühren, die die einzelnen Anbieter für ihre Mappen verlangten, kam es zwischen konkurrierenden Betrieben häufig zu heftigen Streitereien, die auch dann nicht endeten, als 1908 ein »Verband der Besitzer Deutscher Lesezirkel« gegründet wurde. Obwohl es immer wieder Versuche gab, den Wettbewerb »in geregelte Bahnen zu lenken« und neben den Bezugspreisen auch die Löhne der Boten und die Provisionen für Werber zu vereinheitlichen oder die Zahl der lieferbaren Hefte zu begrenzen, scheiterten selbst regionale Kartellabsprachen meist schon nach kurzer Zeit wieder. 1912 klagte der Verbandsvorstand, dass »das gegenseitige Abjagen von Kunden« an der Tagesordnung sei. Dabei würden »die unlautersten Mittel angewandt: Mehrlieferung von Heften, Rabattgewährung, zu niedrige Leihgebühren und dgl.«. Des Hauses Steuerruder ist ein gutes Weib Das änderte sich erst Ende der dreißiger Jahre. In der staatlich gelenkten Wirtschaft des »Dritten Reiches« war »Wildwuchs« unerwünscht. 1937 wurde von der Reichspressekammer exakt vorgeschrieben, wie viele Zeitschriften pro Woche in Wahlund Festmappen mindestens und höchstens enthalten sein mussten beziehungsweise durften und welche Rabattstaffeln einzuhalten waren. So mussten die Bezieher fester Mappen, die ihre Blätter direkt nach Erscheinen bekamen, mindestens 45 Prozent des regulären Heftpreises bezahlen, bei Wahlmap22 pen durften 75 Prozent des Ladenpreises nicht unterschritten werden. Nach einer Woche sank der Mindestsatz auf 36 und 50 Prozent; ab der 13. Woche durften nicht weniger als 8 beziehungsweise 15 Prozent des Einzelverkaufspreises in Rechnung gestellt werden. Die Auswahl der Titel, die Richard Ganske in seine aus Hartpappe angefertigten Mappen legen ließ, war auch damals nicht einfach. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wuchs die Zahl der Titel von Jahr zu Jahr. 1907, im Gründungsjahr des Lesezirkels, buhlten allein im Bereich Mode, Hauswirtschaft und Gesundheit schon mehr als 160 Blätter um die Gunst ihrer meist weiblichen Leserschaft, und jedes Jahr kamen neue Titel hinzu. Ratgeber in Sachen Hauswirtschaft spielten eine große Rolle, da die Zeit der fertig verpackten Nahrungsmittel und eines ganzjährig reichhaltigen Angebots an Obst und Gemüse noch lange nicht angebrochen war. Wer für den Winter vorsorgen wollte, musste Gemüse einwecken, Kartoffeln einlagern, Obst trocknen oder zu Konfitüre verarbeiten. Die gewöhnliche Hausfrau nähte einen großen Teil der Bekleidung oder der Bettwäsche damals noch selbst zu Hause, sie strickte Strümpfe und Pullover für die ganze Familie, wusch alles per Hand, stärkte die Hemden des Mannes, stopfte und flickte die Socken und Hosen der Kinder. Schließlich mussten Kleider, Mäntel, Matrosenanzüge oder Schuhe später auch von den kleineren Geschwistern noch getragen werden. Da war guter Rat in Sachen Kochen und Backen, Nähen und Stricken, Putzen und Flicken gefragt. Das galt auch für die Gartenarbeit, die Kleintierhaltung oder die häusliche Krankenpflege. Die Leserinnen wollten nicht nur wissen, was bei Husten und Heiserkeit hilft, sie waren auch an Mittelchen gegen Fußschweiß oder Asthma interessiert, wie nicht nur die Artikel, sondern auch die heute skurril anmutenden Anzeigen in den damaligen Blättern belegen. Dass sich Nutzwertjournalismus damals mindestens so gut wie heute verkaufen ließ, geht 23 schon aus den Titeln oder Untertiteln der zeitgenössischen Postillen hervor: Der Hausfreund und Häuslicher Ratgeber hießen sie oder verkündeten Dies Blatt gehört der Hausfrau. Zum Kreis der Familienzeitschriften zählten aber auch Welt und Haus, Die Deutsche Romanzeitung oder Das Deutsche Familienblatt. Andere versuchten den Leserinnen mit Untertiteln wie »Des Hauses Steuerruder ist ein gutes Weib« zu schmeicheln. Aber auch Humor und Satire waren durchaus gefragt, wie die Titel Simplicissimus und Kladderadatsch oder Lustige Blätter zeigen. Periodika wie Filmwelt, Die Dame oder Elegante Welt lassen leicht erkennen, welche Zielgruppe ihre Verleger im Auge hatten. Ein beschaulicher Titel wie Die Gartenlaube signalisierte, dass dieses Blatt seine geneigten Leser vor allem mit Berichten aus der heilen Welt beglücken wollte. Es pflegte den Patriotismus, unterhielt mit Novellen und besinnlichen Gedichten und erteilte gern Ratschläge für den guten Ton in allen Lebenslagen. Die Mappen enthielten im Durchschnitt sieben bis zehn dieser Blätter und wurden zu Preisen ab 20 Pfennig verliehen. Allerdings waren sie dann schon einige Wochen alt. Wenn es sich um Auswahlmappen handelte, deren Zusammenstellung die Bezieher selbst bestimmen konnten, kostete ein Blatt wie die Berliner Illustrirte Zeitung 15 Pfennig, wenn es direkt nach Erscheinen geliefert wurde, und 3 Pfennig, wenn es erst zehn Wochen danach ins Haus kam. Der Simplicissimus war zu Preisen zwischen 24 und 5 Pfennig zu haben. Mit den Titeln, die Richard Ganske aus dem breiten Angebot auswählte, traf er offenbar den Geschmack und die Bedürfnisse seiner Zeitgenossen recht genau, wie die rasch wachsende Kundenzahl zeigte. In den ersten fünf Jahren nach der Unternehmensgründung überzeugten er und seine Werber gut 2000 Kunden von den Vorteilen der Zeitschriftenleihe. Das ist eine Zahl, die man erst dann richtig würdigen kann, wenn man weiß, dass die große Mehrzahl seiner Konkurrenten mit wesentlich weniger Abonnenten immer noch ganz gut über 24 die Runden kam. 1913 wagte sich Ganske sogar an die Eröffnung einer Filiale in Hannover, von der aus er schon bald 600 Kunden belieferte. Warum er die fast 300 Kilometer entfernte niedersächsische Metropole wählte, lässt sich nur vermuten. Wahrscheinlich war es die zentrale Lage der Stadt im Deutschen Reich. Sollten schon seinerzeit Pläne bestanden haben, aus dem regional tätigen ein national agierendes Unternehmen zu machen, war das angesichts der damaligen Kommunikationsmöglichkeiten und Verkehrsverbindungen von Kiel aus nur schwer möglich. Von Hannover aus konnte man dagegen wie die Spinne im Netz agieren. Als die Boten immer kleiner wurden Doch statt Aufbau stand erst einmal Zerstörung auf dem Spielplan der Weltgeschichte. Anfang August 1914, wenige Wochen nach Beginn des Ersten Weltkrieges, wurde Richard Ganske, 37 Jahre alt, eingezogen und musste die folgenden vier Jahre dem Kaiser als Soldat dienen. Anna Ganske war wie so viele andere Frauen von Unternehmern, Handwerkern oder Ein zelhändlern von heute auf morgen auf sich allein gestellt. Sie musste nun die Firma führen – so gut es eben ging. Überall in den Betrieben mussten sich Frauen an die Arbeitsplätze stellen, die von den Männern verlassen worden waren, um auf das »Feld der Ehre« zu ziehen. Auch die Kleinen mussten helfen, wenn die Großen den Krieg nicht nur spielten. Anstelle der Boten fuhren nun deren Kinder die Mappen aus. Nur Hilde, der jüngsten Tochter der Ganskes, blieb dies erspart – sie hatte gerade erst laufen gelernt. Aber Kurt und Käthe, die zu Beginn des Krieges neun und zehn Jahre alt waren, taten, was in ihren bescheidenen Kräften stand. Sie klebten Zettel mit den Werbeaufdrucken örtlicher Firmen auf die Mappen und tauschten nach der Schule bei den Kunden alte gegen neue Zeitschriften aus. 25 Ännchen, wie die Unternehmerin wider Willen im Familien kreis genannt wurde, schaffte es, den Betrieb aufrechtzuerhalten. Die Buchhandlung blieb den ganzen Krieg über geöffnet. Auch wenn die Hefte im Laufe der Jahre dünner und unansehnlicher wurden, versorgte sie die inzwischen 3000 Abonnenten in Kiel weiterhin regelmäßig mit Lektüre – jedenfalls solange es noch Zeitschriften gab. Die Filiale in Hannover dagegen musste aufgegeben werden. Sie ebenfalls weiterzuführen hätte die Kräfte von Ännchen überfordert. Sie war ohnehin durch die Ereignisse vor eine Aufgabe gestellt worden, für die sie eigentlich nicht geschaffen war. Ihr Enkel Michael Ganske hat sie als eine sehr mütterliche, sehr abergläubische und vor allem stille Frau in Erinnerung, die noch ganz im Geist einer Zeit erzogen war, in der es die wichtigste Aufgabe der Frau war, den Mann und die Kinder zu umsorgen. Selbst Entscheidungen zu treffen hatte sie nicht gelernt. In den Kriegsjahren musste sie es. Wie es damals wohl auch im Hause Ganske aussah, lässt sich ahnen, wenn man liest, wie der Verband der Lesezirkelbesitzer in den zwanziger Jahren die Nöte in der Zeit des »unseligen Krieges« im Rückblick schilderte: »Immer kleiner wurden die Boten, die uns zur Verfügung standen, immer geringer die Qualität derselben. Wir mussten zu immer jüngeren Mädchen als Boten greifen – fast noch Kinder. Mehr und mehr schwand Ehrlichkeit und Moral unter dem Einfluss des Hungers, immer größer wurde die Zahl der Zirkel im Reiche, welche den Betrieb einstellen mussten … Herzlich gedankt sei unseren Frau en, die überall tatkräftig einsprangen, wo es nötig war, die sogar zur Karre gegriffen haben, um liegengebliebene Touren zu fahren.« Das tat auch Sohn Kurt, wenn er von der Schule zurückkam. Dabei trug er manchmal nicht nur Zeitschriften zu den Kunden. »Der andere Bote bringt immer den Kohleneimer mit nach oben«, maulte zum Beispiel einmal ein Abonnent, der im 26 vierten Stockwerk wohnte. Kurt ließ sich das nicht zweimal sagen. Er machte auf dem Absatz kehrt, holte den Eimer aus dem Keller und brachte ihn danach immer gleich mit. Weniger gern erinnerte er sich später daran, dass ihm einmal ein Mädchen die Tür öffnete, für das er damals schwärmte. »Ach, du trägst Mappen aus?«, rümpfte das Blondchen die Nase. Am Ende gab es aber immer weniger auszutragen. In einer Mitteilung, die der Reclam Verlag per Postkarte am 17. Februar 1918 abschickte, hieß es: »Infolge Kohlemangels und anderer Kriegsschwierigkeiten muss der ganze Betrieb der unterzeichneten Verlagsbuchhandlung zeitweise geschlossen bleiben. Alle seit dem 8. Februar eingegangenen Bestellungen … können erst nach Behebung der derzeitigen Schwierigkeiten Erledigung finden.« Dennoch schaffte es Ännchen, ihrem Mann einen immer noch existierenden Betrieb zu übergeben. Als Richard Ganske vom Schlachtfeld heimkehrte, zumindest körperlich unversehrt, musste er wenigstens nicht fast bei null anfangen wie später sein Sohn Kurt nach dem Zweiten Weltkrieg. Es war zwar nicht mehr der florierende Betrieb, den er hinterlassen hatte, als er in den Krieg gezogen war. Aber er existierte noch. Überdies florierte außer dem Schwarzhandel zu dieser Zeit kaum noch etwas in Deutschland. Aber immerhin: Der Lesezirkel hatte nicht nur den Krieg und die zunehmenden Versorgungsengpässe überstanden, sondern auch die Revolution, den totalen Zusammenbruch der staatlichen Ordnung, die schweren Tage und Wochen, die dem Aufstand der Matrosen und Ar beiter in Kiel gefolgt waren, die ausgerechnet im »Reichskriegshafen« des Kaisers den Aufstand gegen ihre verblendete, starrsinnige Führung gewagt und den Kampf gewonnen hatten. Nicht nur Anna Ganske, sondern auch die ältere Tochter und der einzige Sohn hatten in diesen schweren Jahren, als die Familien und Betriebe ohne die Generation der Väter auskommen mussten, »ihren Mann gestanden«. Kurt schaffte es trotz 27 der Mithilfe im väterlichen Betrieb und der vielen Stunden, die er statt mit Schulaufgaben mit dem Sortieren der Zeitschriften, dem Zustellen von Mappen und dem Kassieren von Abo-Gebühren verbracht hatte, die Schule mit der mittleren Reife abzuschließen. Um ihn auf seine zukünftige Aufgabe im Unternehmen vorzubereiten, schickte ihn der Vater anschließend nach Hamburg. Eine kaufmännische Lehre im Im- und Export sollte ihm das notwendige Rüstzeug verschaffen und ihn im Umgang mit Zahlen schulen. Kurt Ganske lernte zugleich, wie man in schwie rigen Zeiten wirtschaftlich überlebt. Denn im Anschluss an seine Lehre wurde er als Buchhalter weiterbeschäftigt und sah so aus nächster Nähe, wie sich eine »galoppierende In flation« in den Büchern eines Unternehmens niederschlägt – vor allem in Nullen. Der schweren Wirtschaftskrise, die durch die hohen Reparationszahlungen ausgelöst wurde, zu denen Deutschland nach dem verlorenen Krieg von den Siegermächten gezwungen worden war, und der monatelangen Arbeits niederlegung, mit der die Arbeiter auf die Besetzung des Ruhrgebiets durch französische Truppen antworteten, folgte schließlich eine Inflation, wie sie die Welt bis dahin noch nicht gesehen hatte. Ein Karren voller Geld Um seinen Zahlungsverpflichtungen im Krieg und in der Nachkriegszeit nachkommen zu können, ließ der Staat immer mehr Geld drucken. Bei Kriegsausbruch 1914 war im Deutschen Reich Bargeld im Wert von 2,4 Milliarden Mark im Umlauf gewesen. Ende Mai 1921 waren es schon 72 Milliarden. Danach ging die unkontrollierte Geldvermehrung geradezu explosions artig weiter. Im Sommer 1923 ließ die Reichsbank in 50 Großdruckereien in Tag- und Nachtschichten Banknoten drucken, deren »Wert« zudem immer weiter heraufgesetzt wurde. Zum 28 Schluss wurden Geldscheine mit dem unvorstellbar hohen Nennwert von 100 Billionen Mark in Umlauf gebracht. Ihr tatsächlicher Wert war dagegen mehr als bescheiden. Denn etwa zur gleichen Zeit musste für einen Dollar ein Wechselkurs von 4,2 Billionen Reichsmark bezahlt werden. Entsprechend wahnwitzig entwickelten sich auch die Löhne und vor allem die Preise, die der Einkommensentwicklung stets vorauseilten. Das machte sich natürlich auch beim Lesezirkel bemerkbar. So kostete beispielsweise das Blatt für die Hausfrau, das bei Kriegsende noch für 30 Pfennig am Kiosk zu haben war, im Juli 1923 schon 1100 Mark. Einen Monat später waren es bereits 20 000 Mark, und im September des gleichen Jahres mussten gar 135 000 Mark dafür hingeblättert werden. Wenn Richard Ganske seine Zeitschriften beim Grossisten abholte, musste er schließlich mit einem Lieferwagen voll Geld vorfahren, um sofort für die Hefte zahlen zu können. Niemand schrieb damals noch Rechnungen. Selbst wenn sie schon wenige Tage später beglichen wurden, hatte das Geld nur noch einen Bruchteil seines ursprünglichen Wertes. Ähnliche Probleme gab es beim Inkasso. Zwar war es bei Lesezirkeln üblich, dass bei Lieferung sofort an der Haustür bezahlt wurde. Doch wenn die Boten am Nachmittag ihre Tages einnahmen ablieferten, hatte das Geld bereits weiter an Kauf kraft eingebüßt und musste möglichst schnell wieder zum Bezug neuer Ware genutzt werden, damit in der Zwischenzeit die Preise nicht davonliefen. Aus dem gleichen Grund wurde allen Mitarbeitern der Lohn täglich ausgezahlt. Sie mussten damit noch am selben Abend Brot, Milch, Eier und andere dringend benötigte Waren für die Familie einkaufen. Schon am nächs ten Morgen reichte es oft nicht mehr. Auf dem Höhepunkt der Inflation kamen die Mitarbeiter mit Waschkörben in den Betrieb, um ihren Lohn, der schließlich aus einem großen Berg fast wertlosen Papiers bestand, nach Hause schaffen zu können. 29 In dieser hektischen Zeit mussten auch die Preise für die Mappen täglich neu kalkuliert werden. 1922 kostete eine Lesemappe, deren Preis in den Jahren zuvor noch in Pfennigen berechnet worden war, je nach Neuheit zwischen 50 und 280 Mark. Im Juli 1923 verlangten die Boten vom Erstbezieher schon 3500 Reichsmark. Wenn die gelieferten Blätter bereits fünf Wochen lang im Umlauf waren, kosteten sie immer noch 1600 RM. Im August kassierten die Boten 70 000 RM für die aktuelle Mappe und 32 000 RM für eine Mappe mit Zeitschriften der Klasse 5. Im September lagen die entsprechenden AboGebühren bei 350 000 und 160 000 RM. Neben dem Berg an Mappen, den die Boten in ihren Karren von Tür zu Tür schoben, mussten sie jetzt auch noch Platz für einen großen Geldsack finden, in den sie die Scheine stopfen konnten. Im Buchhandel mussten Richard Ganske und seine Kollegen ebenfalls jeden Morgen neu kalkulieren. Die Zeitungen veröffentlichtentäglich neben anderen Kennzahlen auch einen »Buchhändlerschlüssel«, mit dem die ursprünglichen Preise mul tipliziert werden mussten, um den aktuellen Tagespreis eines Buches zu errechnen. Wer von seinem Tageslohn einen Roman oder ein Fachbuch erwerben wollte, tat also gut daran, noch am gleichen Abend in den Laden zu gehen. Schon am nächs ten Tag war das begehrte Werk um einige Tausend Mark teurer. Weniger Geld, bessere Geschäfte Im November 1923 bereitete eine radikale Währungsreform dem Wahnsinn endlich ein Ende. Die Buchhandlung der Gans kes und ihr Lesezirkel in Kiel hatten die Inflation ebenso wie den Weltkrieg und die nachfolgende Wirtschaftskrise überlebt. Zwar waren während der politischen und wirtschaftlichen Wirren Kunden verlorengegangen und mussten nun mühsam von Haustür zu Haustür zurückgewonnen werden. Doch mit der 30 zunehmenden Qualität der Zeitschriften, die langsam wieder an Umfang und Inhalt gewannen, wuchs auch die Leselust aufs Neue. Kurt Ganske glaubte wohl, in seinen Hamburger Lehrjahren genug gesehen und gelernt zu haben. Im Alter von 19 Jahren kehrte er 1924 ins väterliche Unternehmen zurück. Was er dort sah, muss seinen inzwischen im Lesen von Bilanzen geschulten Augen gefallen haben. Ein auch nur halbwegs gut geführter Lesezirkel konnte sich in jenen Jahren zu einer wahren Goldgrube entwickeln, obwohl es oft nicht leicht war, bei den Verhandlungen mit den Verlagen günstige Einkaufspreise herauszuschlagen. Die Zeitschriftenverleger lebten damals vor allem vom Verkaufserlös ihrer Hefte. Ein zusätzlicher Absatz über die Lesezirkel erhöhte zwar die Auflage, aber jeder weitere Prozentpunkt beim Rabatt schmälerte den Gewinn. An der heute für die Werbeeinnahmen so wichtigen Reichweite bei der Leserschaft waren die Verlage damals noch nicht sonderlich interessiert. Angesichts des vergleichsweise geringen Anteils, den das Anzeigengeschäft zum Gesamtergebnis beitrug, spielte es für sie noch keine große Rolle, wie viele Mitleser der Käufer einer Zeitschrift hatte. Sie befanden sich in einer ähnlichen Lage wie heute noch die Buchverleger: Nur der direkte Absatzerfolg war wichtig. Ob ein Buch oder eine Zeitschrift danach weitergegeben wurde, war wirtschaftlich uninteressant. Eine Marktforschung oder Leseranalyse im heutigen Sinne gab es nicht einmal ansatzweise. Daher hätte auch kein Lesezirkel mit akkuraten Zahlen belegen können, wie stark sich die Reichweite eines Blattes durch die Verbreitung über die Mappen erhöhte. Tatsächlich waren die Zahlen gigantisch und würden heute jedem Marketingfachmann die Tränen in die Augen treiben. Da die Mappen zehnmal und öfter ausge liehen wurden, hatten sie eine enorme Multiplikatorwirkung für die darin gelieferten Blätter. Zudem wurden die Zeitschrif ten von der ganzen Familie intensiv genutzt, weil es zum ge31 druckten Wort in der damaligen Medienwelt fast keine Alternative gab. Auch wenn sich viele Verlagsherren beim Gespräch über Rabattstaffeln recht zugeknöpft gaben und es außerdem vom Verhandlungsgeschick des jeweiligen Einkäufers abhing, welche Zugeständnisse er ihnen abhandelte, war der Zeitschriftenverleih ein einträgliches Geschäft. Da die Mappen bei jeder weiteren Ausleihe unmittelbar Einnahmen generierten, musste ein etablierter Lesezirkel schon vieles falsch machen, damit am Ende nicht doch noch eine recht auskömmliche Rendite übrigblieb. Daher erholte sich die Branche recht schnell wieder von den Schäden, die Krieg und Inflation hinterlassen hatten. Ehe mit dem Zweiten Weltkrieg erneut eine Katastrophe über das Land hereinbrach, gab es in Deutschland 297 Lesezirkel, die 53 363 Erstmappen zusammenstellten und insgesamt 533 372 feste Kunden belieferten. Das bedeutete, dass jede Mappe im Durchschnitt zehnmal – wenn auch jedes Mal zu einem etwas niedrigeren Preis – verkauft wurde. Und es lässt sich leicht nachrechnen, dass ein Lesezirkel im Durchschnitt nur 180 Erstmappen bestücken musste, um damit innerhalb von zweieinhalb Monaten knapp 1800 feste Kunden der Reihe nach versorgen zu können. Tatsächlich hatten die meisten Lesezirkel sogar deutlich weniger Kunden. Hinter den Durchschnittszahlen, die der 1908 gegründete Verband veröffentlichte, verbargen sich nämlich Unternehmen höchst unterschiedlicher Größe. 70 Prozent der Lesezirkel verteilten 1938 weniger als 100 Erstmappen, ließen sie dafür aber oft monatelang zirkulieren. Den »Rekord« hielt damals das Unternehmen Grotjahn in Bremen, das zwar nur 48 Abonnenten für die aktuelle Mappe hatte, sie aber im Durchschnitt mehr als 25-mal weiterreichte und so binnen eines halben Jahres 1219 Kunden damit belieferte. Mancher Leser erhielt daher erst zu Pfingsten die Weihnachtsausgabe seiner 32 Zeitschrift. Die Reichspressekammer, der die Lesezirkel später zwangsweise angeschlossen wurden, ordnete deshalb an, dass »die in Lesezirkeln geführten Hefte nicht länger als 25 Wochen nach Erscheinen in Umlauf gesetzt werden dürfen«. Mit einem etwa 3000 Abonnenten umfassenden Kundenstamm in Kiel war Richard Ganske daher schon Anfang der zwanziger Jahre ein kleiner Riese in seiner Branche. Der Junior will groß werden Wenn man mit deutlich weniger Abonnenten schon gut über die Runden kam – um wie viel besser musste es dann einem Unternehmer gehen, der sich nicht allein mit den Kunden zufriedengab, die er in seinem örtlichen Umfeld von den Vorteilen einer Mitgliedschaft im Lesezirkel überzeugen konnte? Dem jungen Kurt Ganske, der so viel unternehmerischen Tatendrang in sich verspürte, dass er seinen Wirkungskreis nicht auf Kiel beschränkt sehen wollte, gelang es offenbar, seinen inzwischen fast 50-jährigen Vater davon zu überzeugen, noch einmal über die Grenzen von Kiel und Umgebung hinauszu gehen. Im gleichen Jahr, in dem der Sohn in die Heimatstadt zurückkehrte, machte er sich auch schon auf, ganz Deutschland zu erobern – zunächst in östlicher Richtung. Nur wenige Wochen nach der Währungsreform ging es los. 1924 wurden Filialen in Dresden und Chemnitz eröffnet. Schon im Laufe dieses Jahres wuchs die Zahl der Abonnenten von 3500 auf stolze 10 000. Im Jahr darauf fand Daheim auch in Stettin, Frankfurt, Nürnberg und Düsseldorf ein Zuhause. 1926 trat der Sohn offiziell in das väterliche Unternehmen ein, und noch im Oktober des gleichen Jahres wurde der Sitz der Firma verlegt. Wieder war es Hannover, die Stadt, in der Richard Ganske schon einmal versucht hatte, seine in Kiel gesammelten Erfahrungen für eine Expansion zu nutzen. Diesmal war es ohne Zweifel die zentrale Lage, die die Stadt an der 33 Leine gegenüber Kiel auszeichnete. Denn von hier aus waren nicht nur die bereits bestehenden Filialen besser zu erreichen. Auch für die weiteren Expansionspläne war der Standort Hannover besser geeignet als Kiel, das inzwischen nicht nur geographisch am Rande lag, sondern nach dem Ende der von Wilhelm II. beschworenen »herrlichen Zeiten« auch an wirtschaftlicher Bedeutung eingebüßt hatte. Ohne Zweifel war der Sohn die treibende Kraft. Während der Vater wohl eine gemächlichere Gangart bevorzugt hätte und mit dem zufrieden war, was er in Kiel erreicht hatte, sah der Junior die Chance, aus einem guten ein glänzendes Geschäft zu machen. Er wollte nicht nur Teilhaber eines der damals schon größten deutschen Lesezirkel sein, sondern der Chef des Branchenführers werden. Kurt Ganskes Biograph Emanuel Eckardt hat in seinem Buch »Halte Schritt« alles zusammengetragen, was heute noch durch Zeitzeugen aus den Jahren um 1926 über den Jungunternehmer in Erinnerung geblieben ist: »Er zieht seine Sache durch, planmäßig, Schritt für Schritt; fährt durchs Reich, ein Gründer, der den Radius seines Zirkels ständig erweitert, neue Kreise zieht, von Kiel und dann von Hannover aus. Er sinniert über Landkarten und Stadtplänen, rechnet Verbindungen aus, Vertriebswege, Lieferbedingungen. Er analysiert potenzielle Leserschaften: wo sie leben, wie sie leben, was sie lesen. Er wandert durch die Städte, erkundet ihre Topographie, nimmt Messtischblätter zu Hilfe und zieht historische Kupferstiche des Matthaeus Merian aus dem 17. Jahrhundert zu Rate, die er zu sammeln beginnt. Danach sucht er Lager in Bahnhofsnähe, Geschäftsräume, heuert Leute an. Bevor er eine Stadt besucht, kündigt er sein Kommen an – per Kleinanzeige im Lokalblatt; wo er zu treffen ist und wann er Sprechstunde hat. Meist wählt er dafür ein Zimmer in einem Gasthof oder Hotel. Meist stehen Schlangen vor der Tür. Er schaut sich die Leute an, fragt sie aus. Prüft sie, stellt sie ein oder nicht und erwirbt sich in diesen Gesprächen 34 eine Menschenkenntnis, die ihm später manche Enttäuschung erspart.« Dem Vater wird manchmal angst und bange, als er sieht, mit welchem Tempo Kurt, der inzwischen als Prokurist zeichnet, das Unternehmen ausbaut, das nur wenige Jahre jünger ist als der nun 21-jährige Juniorchef. Der bestellt 36 Schreibmaschinen – ein modernes technisches Gerät, das in den zwanziger Jahren noch längst nicht in allen Büros zu finden ist. Er will 200 bis 300 Autos anschaffen, um noch mehr Kunden noch schneller beliefern zu können – eine Investition, die dem Vater fast größenwahnsinnig erschienen sein mag. Ob es über diese und ähnliche Pläne zu mehr oder weniger heftigen Diskussio nen oder gelegentlich gar zum Streit zwischen Vater und Sohn kam, ist nicht bekannt. Bekannt und von Frau und Enkeln bezeugt ist aber, dass beide bis zum Tod des Firmengründers ein gutes und enges Verhältnis hatten, sich gegenseitig respektier ten und neben der Leidenschaft für das Geschäft noch eine zweite gemeinsame Passion hatten: die Jagd. Durch die weitere Entwicklung ist eindeutig belegt, dass sich der Sohn mit seinen Expansionsplänen immer wieder durch setzte. Das lässt sich an dem Tempo ablesen, mit dem sich das Unternehmen immer weiter im Reich ausdehnte. Schon von Kiel aus hatte der damals noch Minderjährige 1924 und 1925 die ersten sechs Filialen gegründet. 1926, im Jahr des Umzugs nach Hannover, verschärfte er das Tempo noch: In Gelsenkirchen, Osnabrück, Mannheim und Kassel entstanden weitere Filialen, und selbstverständlich wurden auch um den neuen Firmensitz Hannover herum eifrig Kunden geworben. 1928 wurden weitere Zweigstellen in Augsburg, Breslau, Danzig, Karlsruhe, Magdeburg und Stuttgart errichtet. 35 Die Eroberung der Hauptstadt 1929 war der Lesezirkel Daheim bereits in 17 großen deutschen Städten mit Filialen vertreten. Eine 18. kam in diesem Jahr hin zu: Berlin. Dieser Schritt war nicht nur deshalb wichtig, weil damit die Eroberung der deutschen Hauptstadt mit ihren damals über vier Millionen Einwohnern begann. In keiner anderen deutschen Stadt gab es einen auch nur annähernd so gro ßen Markt für einen Lesezirkel. Mindestens so wichtig war aber, dass in Berlin viele der großen Verlage saßen, die die Lesezirkel mit ihren Periodika versorgten. In der Hauptstadt der Republik wurden mehr als ein Viertel der über 2600 Zeitschriften und 114 Tageszeitungen redigiert und gedruckt, die damals in Deutschland erschienen. Kurt Ganske konnte nun direkt mit den führenden Vertretern großer Verlage wie Scherl, Mosse oder Ullstein verhandeln – und zwar nicht als Bittsteller, sondern als ein ernstzunehmender Partner, denn er konnte jetzt Druck ausüben, wenn es um Rabatte ging. Er sprach nicht mehr als Vertreter eines kleinen Lesezirkels aus der Provinz. Daheim war nicht mehr nur einer von insgesamt rund 300 Lesezirkeln in Deutschland, sondern das Unternehmen hatte es innerhalb von nur fünf Jahren zum unbestrittenen Branchenprimus gebracht. Die Ganskes konnten einer neuen Zeitschrift am Markt zum Durchbruch verhelfen, wenn sie sie in ihre Mappe aufnahmen – wie es zum Beispiel nach dem Krieg auch beim Spiegel der Fall war. Und sie konnten ein Blatt ausmustern, was dann einen schmerzlichen Rückgang der verbreiteten Auflage nach sich zog. Der erst 24-jährige und schon so erfolgreiche Jungunternehmer Kurt Ganske wollte in Berlin nicht nur mit einer weiteren Filiale des Lesezirkels vertreten sein, er wollte auch anderweitig in der Hauptstadt Präsenz zeigen. Deshalb erwarb er in der Kurfürstenstraße die angesehene Buchhandlung Unter den Linden. Er richtete sich zudem neben Hannover in Berlin 36 einen zweiten Wohnsitz ein. Er scheute sich auch nicht, seinen wirtschaftlichen Erfolg nach außen zu zeigen – unter anderem durch den Kauf eines Cadillac und die Beschäftigung eines Fahrers, der ihm auch persönlich zur Hand ging, kochte und Hemden bügelte. Ein Jubiläum ohne Glanz und Gloria Man war also schon wer, als am 1. April 1932 das 25-jährige Bestehen des Unternehmens gefeiert werden konnte oder – genauer gesagt – hätte gefeiert werden können. Was bis dahin schon geschaffen worden war, konnte sich sehen lassen. Schließlich hatte Daheim innerhalb eines Vierteljahrhunderts nicht nur alle Konkurrenten weit hinter sich gelassen, man verfügte auch als erster und einziger Lesezirkel über ein weitverzweigtes Filialnetz. Doch statt eines rauschenden Festes, großer Reden und einer stolzen Jubiläumsschrift gab es nur einen Brief und ein paar dürre Worte: »Am 1. April 1932 besteht unsere Firma 25 Jahre«, hieß es in dem zweiseitigen Schreiben aus Hannover, das drei Tage vor dem Gedenktag an alle Filialen verschickt wurde. »Bereits auf der Geschäftsführertagung am 3. Januar ds. Js. ist von unserer Seite darauf hingewiesen worden, dass wir diesen Tag, den schwierigen Verhältnissen Rechnung tragend, in aller Stille, auch nach außen hin, begehen wollen.« Trotzdem sollte es kein Tag wie jeder andere sein. Deshalb hieß es weiter in dem mit der Schreibmaschine verfassten Rundschrei ben: »Wir haben uns daher entschlossen, den Mitarbeitern, die am Jubiläumstage vier Jahre und länger bei uns beschäftigt sind, eine der augenblicklichen Wirtschaftslage angepasste Anerken nung zuteil werden zu lassen.« Im Anschluss daran wurde präzise angegeben, wer von dem Geldsegen profitieren sollte – und in welcher Höhe: Die Geschäftsführer von zehn Filialen, die bereits lange genug im Betrieb waren, erhielten je 100 Mark. Das Büropersonal in zwei 37 Filialen, nämlich ein Fräulein Hubert und ein Fräulein Kirchgeorg, durften sich über eine Jubiläumsprämie von je 20 Mark freuen. Unter dem Boten- und Lagerpersonal waren 52 Glückspilze, die dank ihrer mehr als vierjährigen Betriebszugehörigkeit jeweils 10 Mark einheimsen konnten. Auch die anderen gingen nicht völlig leer aus. Wer seit dem 15. Februar 1932 als Geschäftsführer, Schreibhilfe, Lagerarbeiter oder Bote bei Daheim tätig war, erhielt zumindest das Jubiläumsandenken: Die Geschäftsführung ließ jedem männlichen Mitarbeiter eine Brieftasche und allen weiblichen Angestellten eine Geldtasche überreichen. Einer von denen, die zwar kein Geld, aber eine Brieftasche bekamen, muss Gustav Eckardt aus Augsburg gewesen sein, dem seine Heimatzeitung einen kleinen Artikel widmete, als er 1973 in den Ruhestand ging. Er war schon 1929, kurz nach Gründung der Filiale Augsburg, eingestellt worden und hielt dem Unternehmen danach 44 Jahre lang die Treue. Im Dienste des Lesezirkels Daheim zog er seinen mit Zeitschriftenmappen vollgepackten Handkarren mehr als vier Jahrzehnte lang bei Wind und Wetter durch die ihm zugeteilten Stadtviertel. Auch später, als die Boten motorisiert wurden, wollte er seine zweirädrige Karre nicht abgeben. Er hatte keine Lust, den Führerschein zu machen. Rund 114 000 Kilometer hatte der getreue Eckardt so im Dienst von Daheim zurückgelegt, ehe er sich mit Bedauern in den Ruhestand verabschiedete. »Ich werde meine Kunden vermissen. Nach so langen Jahren kennt man sich doch recht gut.« Schließlich belieferten er und seine Kollegen nicht nur Friseure, Rechtsanwälte oder Ärzte, die die Zeitschriften in ihren Wartezimmern auslegten. Die Zahl der privaten Abonnenten, denen er die Mappen an die Haustür brachte, war sogar noch größer. »Da sah man die Kinder heranwachsen, heiraten und aus dem Haus gehen, und von manchem älteren Kunden musste man für immer Abschied nehmen.« Einmal fand Gustav Eckardt 38 e inen Abonnenten, mit dem er bei jedem Besuch ein wenig geplaudert hatte, tot im Hausflur. »Er hatte einen Herzschlag bekommen. Das war ein schlimmer Schock für mich.« Wie viele seiner Kollegen machte wohl auch Eckardt die Erfahrung, dass es die großzügigeren Trinkgelder meist nicht bei den »Besserverdienern« gab, die sich die Erstmappen mit den aktuellen Zeitschriften liefern ließen. Es waren oft die weniger gut betuchten Bezieher, die sich die Blätter erst in der achten oder zehnten Woche leisten konnten, die regelmäßig noch ein paar Pfennig für den Boten drauflegten, wenn er die wöchentliche Leihgebühr kassierte. Als Gustav Eckardt 1932 die Jubiläumsgabe überreicht wur de, wird er wohl die Kolleginnen und Kollegen ein wenig beneidet haben, die nicht nur eine Geldbörse als Andenken erhielten, sondern in der schlichten Ledertasche mit dem eingestanzten Firmenlogo auch noch ein paar Scheine oder Münzen fanden. Aber er wird dennoch dankbar dafür gewesen sein, und er hat sich offenbar die Sätze zu Herzen genommen, mit denen das Jubiläumsschreiben der Unternehmensleitung und in den Filialen sicher auch die kurze Ansprache zur Feier des Tages endete: »Wir wollen bei dieser Gelegenheit nicht versäumen, den Wunsch auszusprechen, dass alle Mitarbeiter auch fernerhin ihre ganze Arbeitskraft dem Geschäft widmen und wir weiter vorwärtskommen.« Das alles klingt heute ein wenig komisch. Zum Hintergrund muss man aber wissen, dass zweieinhalb Jahre zuvor, am 24. Oktober 1929, ein Börsencrash die Welt erschüttert hatte. Er beendete an der Wall Street eine beispiellose Spekulationswelle, die die Amerikaner jahrelang in ihren Bann gezogen hatte. Ihr folgte eine ebenso beispiellose Wirtschaftskrise, deren Schockwellen mit einer gewissen Verzögerung schließlich auch Europa erreichten. Ebenso wie Österreich und andere Nachbarländer geriet auch Deutschland in den Strudel der weltweiten Finanzkrise. Am 13. Juli 1931 mussten fast alle deutschen Banken ihre 39 Tore schließen, weil sie dem Ansturm der von Panik ergriffe nen Sparer nicht mehr standhalten konnten. Die Wirtschaftskrise, die dem Zusammenbruch der Geldwirtschaft folgte, riss Unternehmer und Selbständige zu Zehntausenden in den Bank rott. Zehn Jahre nach der Hyperinflation geriet das Land in den Würgegriff einer Deflation. Die Folge war eine Massenarbeitslosigkeit, der das ohnehin dünne soziale Netz nicht standhielt. Auf dem Höhepunkt der Krise, im Winter 1932/33, wurden in Deutschland schließlich 6,2 Millionen Erwerbslose gezählt, von denen viele nicht einmal mehr Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung hatten. Und wer noch in Lohn und Brot stand, verdiente immer weniger: Die durchschnittlichen Tariflöhne sanken zwischen 1930 und 1933 bei Facharbeitern von 1,03 RM auf 78,5 Pfennig pro Stunde. Bei Ungelernten fiel der Stundenlohn von 80,7 auf 62,3 Pfennig. In dieser Lage mussten 10 oder 20 Mark, die angesichts eines Jahrestages zusätzlich verteilt wurden, wie ein Geschenk des Himmels erscheinen. Zehn Jahre nach der Hyper inflation litt das Land unter einer Deflation. Vorwärts in den Abgrund Wenige Monate nach dem in aller Stille begangenen 25-jährigen Jubiläum schien der von der Geschäftsleitung geäußerte Wunsch nach besseren Zeiten in Erfüllung zu gehen. 1933 kamen die Nazis in Deutschland an die Macht und begannen damit, das Land auf ihre Art zu stabilisieren. Wirtschaftlich ge sehen ging es den meisten Menschen schon bald besser. Die Unternehmen machten wieder Gewinne, die Zahl der Arbeitsplätze nahm zu. Wer in der privaten Wirtschaft keine Beschäftigung fand, wurde von den neuen Machthabern in den Arbeitsdienst gesteckt. Erst heimlich, dann immer unverhohlener wurde die Rüstungsindustrie auf Touren gebracht. Das schuf zwar keine wirklichen Werte, sorgte aber für Beschäftigung 40 und dafür, dass Geld unter die Leute kam. Immer mehr Familien konnten sich außer dem Notwendigsten zum Leben auch wieder etwas zum Lesen leisten. Dadurch erholte sich auch der Lesezirkel Daheim nach 1933 bald wieder von den Folgen der Depression. Es ging vorwärts. Nach drei Jahren Zwangspause konnten neue Filialen in Görlitz und Waldenburg eröffnet werden. Zum schnellen Wachstum trug zudem der Kauf bereits etablierter Unternehmen bei. Mit dem Erwerb des Lesezirkels Grüne Mappe in Hamburg, der auch in Bremen und Lübeck mit Filialen vertreten war, begann 1934 eine Übernahmewelle, die bis heute anhält. Aus einem Anfang 1936 für das Firmenarchiv der Stadt Augsburg ausgefüllten Fragebogen geht hervor, dass zu diesem Zeitpunkt neben dem Firmensitz in Hannover bereits 23 Filialen in deutschen Städten bestanden. Dem Fragebogen der Stadt Augsburg folgte zwei Jahre später eine ähnliche statistische Erhebung für die Handelskammer. Den erhalten gebliebenen Dokumenten lassen sich einige betriebswirtschaftliche Daten entnehmen, die für die Lesezirkel-Filialen in einer mittelgroßen deutschen Stadt typisch gewesen sein dürften: In der Anfang Mai 1928 gegründeten Filiale wurden acht Jahre später in gemieteten Räumen 14 Arbeiter und Angestellte beschäftigt, die im Durchschnitt 48 Stunden pro Woche arbeiteten. Der Jahresumsatz lag bei rund 55 000 Mark. Die jährliche Lohnsumme wurde mit 29 867 Mark an gegeben. Die Frage »Welche Kohlenarten (zum Beispiel Saaroder Ruhrkohle) verwenden Sie in Ihrem Betrieb?« wurde mit dem beruhigenden Hinweis beantwortet, dass es sich »nur um wenige Zentner handelt, die vom Händler gekauft werden«. Eine Frage und eine Antwort, die heute etwas seltsam anmuten. Doch hinter diesem Informationsbedürfnis verbarg sich nicht nur der Weg in eine Planwirtschaft, die alle Warenströme zu kontrollieren versuchte, sondern auch die Vorbereitung auf eine Kriegswirtschaft. Schon bald wurden alle Rohstoffe be41 vorzugt den Betrieben zugeteilt, die für die Rüstungsindustrie wichtig waren. Noch war es nicht so weit. Kurt Ganske konnte seinen friedlichen Eroberungszug im gewohnten Tempo fortsetzen. 1937 erweiterte er das bestehende Netz durch Zweigniederlassungen in Leipzig, Halle, Halberstadt, Dessau, Plauen und Zwickau. Bis 1938 erhöhte sich damit die Zahl der Filialen im gesamten Reichsgebiet auf dreißig. Mit seiner Kundenzahl überflügelte der Lesezirkel Daheim so innerhalb weniger Jahre alle seine Konkurrenten. Kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wurden wöchentlich 158 274 Abonnenten mit Mappen beliefert, darunter waren 13 195 Erstmappen. Damit hatte sich Ri chard Ganskes Unternehmen nicht nur mit weitem Abstand vor der Konkurrenz zum Branchenführer aufgeschwungen, sondern war zugleich auch »Weltmeister« geworden – ein Titel, den der Leserkreis Daheim bis heute für sich beanspruchen kann. In keinem anderen Land der Welt spielen Lesezirkel eine so große Rolle wie in Deutschland. Dieser Erfolg wäre nicht möglich gewesen, wenn Kurt Ganske die von seinem Vater entwickelte Organisation nicht weiterentwickelt und perfektioniert hätte. Das galt für die Touren planung am Ort ebenso wie für die schnelle und rationelle Belieferung des sich immer weiter ausdehnenden Filialnetzes mit druckfrischen Zeitschriften. Es betraf die Organisation des Lagers, die Bestückung der Mappen mit Zeitschriften, Werbebeilagen und Reklame-Aufklebern. Das Geschäft mit der Werbung war so lukrativ, dass es vor allem von der örtlichen Presse mit größtem Misstrauen beob achtet wurde. Da die meisten Lesezirkel nur regional verbreitet waren, konkurrierten sie beim Kampf um Reklame-Aufträge von Einzelhändlern, Kinos, Friseuren oder anderen örtlichen Anbietern vor allem mit den kleinen Tageszeitungen. Das wurde ihnen 1937 kurzerhand verboten, da das Reichspropagandaministerium der für seine Zwecke wichtigen Lokalpresse ein 42 auskömmliches Geschäft sichern wollte. In der Begründung der Verfügung wurde das ganz ungeniert ausgesprochen: »Das Bedrucken der Umschläge mit Anzeigen … wuchs sich zu einer Gefahr für die Heimatpresse aus, weil deren Anzeigenpreise naturgemäß unterboten und die Auflagen überboten werden konnten …« Vorbei war es mit den Hinweisen auf die leckere Wurst von Metzgermeister Schmidt und die günstigen Angebote im Konsum-Laden. Überregionale Werbung blieb den Lesezirkeln dagegen weiter gestattet. Damit die kleinen Lesezirkel von diesem Kuchen auch etwas abbekamen und der Staat das Werbegeschäft leichter kontrollieren konnte, wurde die Vermittlung der Lesezirkelwerbung den herkömmlichen Werbeagenturen entzogen. Das Einsammeln und Verteilen von Anzeigen und Werbebeilagen durfte nur noch von wenigen, darauf spezialisierten Agenturen betrieben werden, die dafür eine staatliche Genehmigung benötigten. Eines dieser Spezialunternehmen war die 1938 in München gegründete »Agentur für Lesezirkelwerbung Dr. Hermann Oschmann«, die später in »Werbemerkur« umfirmierte. Auffällig ist, dass sie von Anfang an eine – zumindest räumlich – große Nähe zu Daheim hatte. Wo Ganskes Lesezirkel eine Niederlassung betrieb, da war auch ein Büro des Werbemerkur meist nicht fern. Nach dem Krieg schrumpfte die von Anfang an kleine Zahl der Spezialagenturen immer weiter zusammen. »Ein Spezialmittler nach dem anderen gab sein Geschäft auf, bis alle mit einer Ausnahme durch eine Firma aufgekauft waren«, wurde Mitte der achtziger Jahre in einer Festschrift zum 75-jährigen Bestehen des Lesezirkel-Verbands vermerkt. Wie in den meisten Fällen wurde auch hier die »eine Firma« nicht beim Namen genannt. Dabei wusste jeder in der Branche, dass es Kurt Ganske war, der 1964 den Werbemerkur übernommen und damit ein Verhältnis besiegelt hatte, das wohl schon vorher recht eng gewesen war. Die andere Firma ist übrigens die 43 Daheim-Werbung, die allerdings nur für das eigene Haus arbeitet. Inzwischen dient der Werbemerkur der Branche seit über sechzig Jahren als Agentur für Lesezirkelwerbung. Seit 1992 tritt er als Tochtergesellschaft des Daheim Lieferservice auf, steht aber als ehrlicher Makler bundesweit allen Lesezirkel-Or ganisationen zu Diensten, so dass Inserenten einen Ansprech partner für ihre nationale oder regionale Mediaplanung haben. Allerdings ist er nicht mehr allein auf weiter Flur. Inzwischen gibt es einschließlich Werbemerkur und Daheim-Werbung wieder neun »Spezialmittler«. Ein solides Kartenhaus Ganz besondere Aufmerksamkeit widmete der Junior, wie er von den Mitarbeitern genannt wurde, der Führung und Organisation des Karteikartensystems, an dem er ständig feilte und verbesserte. Es wurde so gestaltet, dass alle wichtigen Kundendaten von Eingeweihten sofort zu erfassen waren. Wenn ein Bote seine Tour an einen anderen übergab, brauchten nicht viele Worte gewechselt zu werden. Ähnlich wie bei einem Arzt, der rasch einen Blick auf das Krankenblatt wirft, ehe er sich dem nächsten Patienten zuwendet, fand der Kollege alle wichtigen Daten auf der Tourenkarte. Sie enthielten in Form eines ausgeklügelten Codes alle notwendigen Informationen über die Abonnenten: Name und Adresse, in welcher Woche sie beliefert wurden, ob die Bezieher beim letzten Besuch angetroffen worden waren, ob sie regelmäßig zahlten, ob die Belieferung zeitweise eingestellt werden musste. Kurt Ganske reichte bei seinen Besuchen in den Filialen meist ein Blick in die Kartei, um zu erkennen, um welche Kundentypen es sich handelte, wie es um die Zahlungsmoral bestellt war und ob ein Abo häufig unterbrochen wurde. Es war ersichtlich, wie oft Mappen »steckenblieben«, weil man Kun44 den nicht antraf. Das war immer ärgerlich, weil dadurch die Zirkulation unterbrochen wurde. Erfahrene Mitarbeiterinnen in den Filialen, deren Aufgabe es war, den Boten die für jede Tour benötigten Mappen zuzuteilen, konnten dank des ausgeklügelten Kartensystems recht genau abschätzen, wie viele Ersatzmappen jeder Zusteller zusätzlich benötigte, um steckengebliebene Mappen zu ersetzen. Das war eine knifflige Aufgabe. Es durften nicht zu wenige sein, sonst wären einige Abonnenten nicht pünktlich beliefert worden. Es durften nicht zu viele Mappen sein – nicht nur aus Kostengründen, sondern auch, um die Boten nicht in Versuchung zu führen. Denn nicht benötigte Mappen konnten heimlich »eigenen Kunden« zugesteckt werden. Dass Boten gelegentlich versuchten, sich mit »Schwarzmappen« einen kleinen Nebenverdienst zu verschaffen, war ein Problem, mit dem alle Lesezirkel zu kämpfen hatten. Wenn Vermerke auf den Karteikarten nicht schlüssig waren und der Verdacht bestand, dass jemand versuchte, in die eigene Tasche zu wirtschaften, scheuten sich die Filialleiter nicht, ihm heimlich zu folgen. Wurde ein Bote auf frischer Tat ertappt, war er seinen Job los. »Wenn mein Vater oder der Prokurist Gustav Dietzel eine Filiale besuchten, galt ihr erster Griff immer den Karteikarten«, erinnert sich Michael Ganske, der älteste Sohn, der bei Daheim seine ersten beruflichen Erfahrungen sammelte. »Mein Vater achtete sehr darauf, dass neben dem Geschäftsführer der Filiale immer eine sehr verlässliche Frau die Führung der Kartei in der Hand hatte. Andere durften sie nicht anrühren.« Die Karteikarten stellten den Kern des Firmenvermögens dar. Eine Filiale wäre bei einem Verlust so orientierungslos gewesen wie ein Kapitän, der auf hoher See seinen Kompass verliert. Deshalb gab es die Kartei immer in zweifacher Ausfertigung. Nachts mussten die Karten im Tresor eingeschlossen werden. Auch die Schreibmaschinen wurden in Schränken eingeschlossen – nicht nur, weil sie ein wertvoller Teil des In45 ventars waren, sondern auch, damit niemand heimlich etwas an den Karteikarten verändern konnte. Sie bildeten auch die Grundlage für die Entlohnung der Boten. Zu den Erfindungen Kurt Ganskes gehörte die »Sorgfaltswerbung«. Das bedeutete, dass in bestimmten Stadtteilen oder sogar in einzelnen Straßenabschnitten ganz gezielt nach Kunden für die dritte, sechste oder achte Besetzung einer Mappe gesucht wurde, denn solange der Umlauf in einem Zustellbezirk nicht lückenlos war, brachten die Mappen nicht den maximalen Ertrag. Zudem wurde die reibungslose Zustellung durch »Lücken« erschwert. Wenn es mehr Kunden für die sechste als für die fünfte Besetzung gab, mussten zusätzliche Mappen bereitgestellt werden. Vater und Sohn achteten stets darauf, dass ihre Mappen auch den neunten und zehnten Abonnenten noch in tadello sem Zustand erreichten. Magazine mit zerrissenen oder befleckten Seiten wurden auch früher schon ausgetauscht. Die heute durch Plastiktüten verdrängten Mappen wurden in einer eigenen Abteilung sorgfältig restauriert, wenn die Oberfläche verkratzt, Ecken beschädigt oder die schwarzen Bänder abgerissen waren, mit denen sie an drei Seiten zugebunden wurden. »Das waren Künstler, die da saßen und die Mappen immer wieder in einen tadellosen Zustand brachten«, erinnert sich Werner Hess, der als Assistent des Chefs in den fünfziger Jahren die Filialen oft besuchte. Welche organisatorische und logistische Leistung hinter der raschen Expansion in den Jahren 1924 bis 1938 stand, wird erst richtig deutlich, wenn die damaligen Konkurrenten zum Vergleich herangezogen werden: Von den insgesamt 297 Lesezirkeln, die es zu dieser Zeit gab, lieferten nur zehn mehr als 1000 Erstmappen aus. Der nach Daheim zweitgrößte Lesezirkel brachte es lediglich auf 2072 Erstkunden. Das war gerade mal ein Sechstel der Primärkunden, die Daheim Ende der dreißiger Jahre im Reichsgebiet versorgte. Auch beim Vergleich der 46 durchschnittlichen Besetzung, wie man im Branchenjargon die Zahl der aufeinanderfolgenden Ausleihungen beziehungsweise der Wochen nennt, in der eine Mappe von Kunde zu Kunde weitergereicht wird, lag Daheim mit einem Umlauf von zwölf Wochen an der Spitze der großen Lesezirkel. Das bedeutete, dass die Ganskes den maximalen Ertrag aus ihren Blättern herausholen konnten. Denn je öfter sie dasselbe Blatt ausliehen, desto mehr kam am Ende in die Kasse. Wenn man weiß, dass eine Zeitschrift heute in der Regel höchstens viermal die Leser wechselt, ehe sie endgültig aus dem Verkehr gezogen wird, kann man einschätzen, was ein zwölfmaliger Umlauf wirtschaftlich bedeutete. Mit Hut, Weste und Goldkette Wie einträglich das Geschäft in den dreißiger Jahren war, lässt sich auch daran erkennen, dass die Ganskes nicht nur die rasche Expansion ihres Unternehmens mühelos finanzieren konn ten. Kurt Ganske verdiente mit dem Zeitschriftenverleih so gut, dass er es sich leisten konnte, in Nordhessen ein ansehnliches Rittergut mitsamt ausgedehnten Ländereien zu erwerben. In den zum Gut Hohenhaus gehörenden Wäldern konnte Richard Ganske, der inzwischen das tägliche Geschäft weitgehend seinem umtriebigen Sohn überlassen hatte, einer Leidenschaft frö nen, der auch der Junior anhing und die später auf die Enkel und Urenkel übersprang: der Jagd. Überdies erwies sich der nicht weit von Eisenach gelegene Landsitz im Krieg als eine sichere Zuflucht für die Familie. Er diente vielen Mitarbeitern nach dem Stress der Bombennächte als Erholungsheim und wurde zum Notlager für wertvolle Manuskripte, Dokumente und Firmenunterlagen. Nach dem Krieg bot das Gutshaus Unterschlupf für ausgebombte Führungskräfte und war nach dem Zusammenbruch Nazi-Deutschlands die Zentrale, von der aus der Wiederaufbau des Lesezirkels gesteuert wurde. 47 Mit der Zahl der Filialen und Kunden war auch die Mit arbeiterzahl sprunghaft gestiegen: Ende der dreißiger Jahre schafften 1300 Frauen und Männer die Zeitschriften zu den Zentralen, füllten damit die Mappen, versahen sie mit Werbeaufklebern, brachten den neuen Lesestoff zu den Kunden, kassierten die Abo-Gebühren und sammelten die alten Mappen ein, um sie gleich anschließend wieder an die Abonnenten der nächsten Klasse weiterzugeben, ehe sie nach der elften oder zwölften Ausleihe schließlich entsorgt wurden. Angesichts der Nähe zum Kunden, die die Boten durch ihre wöchentlichen Hausbesuche hatten, bot es sich an, den Zeitschriftenverleih auch mit anderen typischen Haustürgeschäften zu verbinden. Ein naheliegender Gedanke war, das Vertrauensverhältnis, das die Austräger im Laufe der Zeit zu ihren Kunden aufbauten, für den Vertrieb von Versicherungsleistungen zu nutzen. Bei den Boten, die immer gleichzeitig auch Kassierer waren, wurde auf ordentliche Kleidung, Höflichkeit und seriöses Auftreten größter Wert gelegt. Noch in den fünfziger Jahren forderte ein Geschäftsführer wie Gustav Dietzel beim Besuch einer Filiale die Boten auf, sich in einer Reihe aufzustellen und ihm ihre Hände vorzuzeigen. Er prüfte höchstpersönlich, ob seine Austräger saubere und ordentlich geschnittene Fingernägel hatten. »Stalin kommt«, hieß es deshalb, wenn er sich wieder einmal angekündigt hatte. Wie groß das Vertrauen vieler Abonnenten zu den Boten war, zeigt sich auch daran, dass sie zu vielen Wohnungen einen Schlüssel besaßen oder wussten, wo er versteckt war. Sie tauschten dann die Mappen aus, nahmen den fälligen Betrag aus der Schatulle oder vom Küchenbord und legten das Wechselgeld zurück – vielleicht abzüglich eines kleinen Trinkgeldes, wenn der Bezieher ihnen dies gestattet hatte. Erst recht waren die zahlreichen Vertreter, die von Haus zu Haus gingen, um Zeitschriftenleser von den Vorzügen des gemeinschaftlichen Bezugs im Rahmen eines Lesezirkels zu 48 überzeugen, dafür geeignet, auch andere erklärungsbedürfti ge Dienstleistungen zu verkaufen. Es waren keine »Drücker«, die den Fuß in die Tür klemmten und mit unlauteren Methoden und falschen Versprechungen die Leute in Geschäfte hineinquasselten, die sie oft schon bereuten, ehe die Tinte unter den Verträgen trocken war. Es waren Herren mit Hut und Anzug, die eine goldene Uhrkette über der Weste und weiße Manschetten trugen. Jeder Werber musste sich schriftlich verpflichten, »in höflicher, taktvoller Form dem zu werbenden Bezieher die Leistungen und Vorzüge der angebotenen Druckschriften darzulegen«. Es war untersagt, Wettbewerber herabzusetzen oder in irgendeiner Hinsicht »einen Zwang oder Druck auszuüben«. Falls der Angesprochene nicht zur Unterschrift zu bewegen war, durften ihm keine »Nachteile zum Beispiel persönlicher, wirtschaftlicher, beruflicher oder sonstiger Art« angedroht werden. Tatsächlich gelang es den seriösen Herren, neben dem Zeitschriften-Abo auch verschiedene Versicherungsdienstleistungen mit Erfolg zu verkaufen. Bezieher des »Lesezirkels Daheim Richard Ganske« konnten bei ihrem Zeitschriftenlieferanten eine Sterbegeldversicherung abschließen, wenn sie bei Beginn des Abonnements das 55. Lebensjahr noch nicht überschritten hatten. Im Angebot waren weiterhin eine Abonnenten-Unfallversicherung sowie Lebensversicherungs-Policen, die in Zusam menarbeit mit der Albingia oder der Hamburg-Mannheimer Versicherung vertrieben wurden. Allerdings waren das Aktivitäten, die in einer Branche, in der schon immer laut über die »Auswüchse« des Wettbewerbs geklagt wurde, nicht gern ge sehen waren. So heißt es in einer Verbandsgeschichte: »Die Hauptversammlungen 1926 in Hamburg und 1927 in Berlin beschäftigten sich u. a. mit der inzwischen mehr und mehr aufkommenden Abonnentenversicherung in Verbindung mit der Lesemappe und zeigten ihr gegenüber im Allgemeinen eine oppositionelle Haltung.« Kurt Ganske scheint das Gemecker in 49 der Branche allerdings nicht sonderlich gestört zu haben, denn auch in der Zeit danach verkauften seine Vertreter neben den Mappen gern auch mal die eine oder andere Police, wie sich an erhalten gebliebenen Versicherungsausweisen aus den dreißiger Jahren erkennen lässt. Aufschwung in den Abgrund Wie die meisten anderen Unternehmen profitierte auch der Lesezirkel Daheim von der wirtschaftlichen Stabilisierung, von der ökonomischen Scheinblüte, die das Hitler-Regime dem von der Weltwirtschaftskrise bis in die Grundfesten erschütter ten Land für einige Jahre bescherte. Der Ideologie der Natio nalsozialisten standen die Ganskes allerdings fern. »Unser Vater war nie ein Nazi«, sind seine Söhne Michael und Thomas zutiefst überzeugt. Obwohl es damals opportun war und den Geschäften nützte, hielt ihr Vater ebenso wie Großvater Richard Distanz zu den braunen Genossen. Ein Parteibuch hat Kurt Ganske nie besessen. Briefe wurden nur dann mit »Heil Hitler« unterzeichnet, wenn es sich gar nicht vermeiden ließ – bei Schreiben an Behörden, bei Geschäftspartnern, die man persönlich nicht gut genug kannte, wenn es um Rechtsstreitigkeiten mit Lieferanten ging oder die Mitarbeiter durch Anschläge am Schwarzen Brett über betriebliche Dinge oder staatliche Anordnungen unterrichtet werden mussten. Auch später, nachdem sich Kurt Ganske an dem traditionsreichen Hoffmann und Campe Verlag beteiligt hatte, bei dem braunes Gedankengut stets verpönt blieb, konnte der Nazi-Gruß nicht immer umgangen werden. Wenn Bewerbern oder Autoren Absagen erteilt wurden, durfte man ihnen keine Ansatzpunkte für eventuelle Racheakte liefern. Kurt Ganske scheute sich nicht, Mitarbeiter einzustellen und ihnen Verantwortung zu übertragen, die wegen ihrer politischen Einstellung aus dem Staatsdienst entlassen worden wa50 ren. Er hatte auch keine Bedenken, mit einem Ausländer mitten im Krieg gemeinsam ein Unternehmen zu betreiben, wie er mit seiner Beteiligung am Hoffmann und Campe Verlag bewies. Dennoch hinterließ die »Machtergreifung« der Nazis auch im Unternehmen der Ganskes bald ihre Spuren. Der Eilmarsch der Deutschen in die Diktatur wirkte sich bei Verlagen, Buchhandlungen, Lesezirkeln und anderen Medienunternehmen noch schneller und tiefgreifender aus als bei der großen Mehrzahl der deutschen Unternehmen. Denn dafür, wie ein Bettenproduzent seine Matratzen oder ein Fleischer seine Würste füllte, spielte die herrschende Ideologie keine Rolle. Die Inhalte der Zeitungen und Zeitschriften, das Sortiment der Buchhandlungen und die Füllung der Zeitschriftenmappen dagegen waren für die braunen Herren von größter Bedeutung. Das zeigte sich schon innerhalb weniger Monate nach der »Machtergreifung«. Die Werke missliebiger Autoren wie Joachim Ringelnatz, Egon Friedell, Kurt Tucholsky, Erich Kästner oder Heinrich Heine mussten auf Grund amtlicher Anweisungen aus den Regalen entfernt werden. Hetzschriften wie »Mein Kampf« oder »Der Mythus des 20. Jahrhunderts« und andere Machwerke aus dem ideologischen Waffenarsenal der Nazis wurden dafür in den Bücherstuben an bevorzugter Stelle ausgelegt. Noch schnel ler wandelten sich die Inhalte, mit denen die Lesemappen gefüllt wurden. Die Titel der Zeitschriften änderten sich zwar nicht, aber ihre Ausrichtung. Sie wurden – wie die gesamte Presse – gleichgeschaltet. Die Zeitschriften färbten sich mehr und mehr braun ein oder verschwanden vom Markt. Was gedruckt werden durfte, bestimmten Joseph Goebbels und sein Reichspropagandaministerium. Verleger und Journalisten, die sich widersetzten, wurden in den Ruin getrieben, entlassen und in vielen Fällen verhaftet. Verlage, die in jüdischem Besitz waren, wurden rücksichtslos »arisiert«. 51 Für die Betreiber von Lesezirkeln wirkte sich die Herrschaft der braunen Banditen in anderer Form aus. Ihre Betriebe w urden ihnen – sofern sie keine Juden waren – zwar nicht streitig gemacht. Aber ebenso wie alle anderen Unternehmer hatten sie einen »Ariernachweis« zu erbringen. Das galt selbst verständlich auch für die Familie Ganske. Die Industrie- und Handelskammer Hannover schrieb ihnen unter dem Datum vom 13. August 1936: »Wir haben uns zu der Frage zu äußern, ob Ihr Unternehmen als rein deutsch/arisch anzusehen ist, und bitten Sie, uns bejahendenfalls eidesstattlich versichern zu wollen, dass der oder die sämtlichen Inhaber Ihres Unternehmens Reichsbürger im Sinne der Nürnberger Gesetzgebung sind.« Schon zwei Tage später wurde die gewünschte Erklärung zur Post gegeben und bestätigt, dass die Inhaber in Gestalt von Richard Ganske und seiner Kinder Kurt, Käthe und Hilde Deutsche im Sinne der Rassegesetze seien. Wenig später wurde der Verband der Lesezirkelbesitzer zwangsweise – aber auch widerstandslos – in die Reichskulturkammer eingegliedert. Alle Lesezirkel mussten dieser zur Kontrolle und Lenkung des gesamten Kulturbetriebes geschaffenen Institution 1934 beitreten. Nützliche Packesel des Regimes Den Lesezirkelbesitzern blieb nur die Wahl, sich zu fügen oder ihren Betrieb und damit die Existenzgrundlage ihrer Familien und der Mitarbeiter aufzugeben. Auf den Inhalt der Zeitschrif ten hatten sie damals wie heute keinen Einfluss. Das verbot zuvor die Pressefreiheit und später das Propagandaministerium. Aber immerhin konnten sie vor 1933 den Inhalt ihrer Mappen dadurch beeinflussen, dass sie bestimmte Blätter in ihr An gebot aufnahmen oder aus der Liste strichen. Nun mussten sie ihr Sortiment an Frauenzeitschriften durch Titel wie die NS-Frauenwarte ergänzen und ihren Abonnenten die Brennessel 52 und andere braune Blätter zumindest zum Bezug anbieten. Der Illustrierte Beobachter war Pflichtblatt und musste jeder Lesemappe beigelegt werden. Während jeder Inhaber vor 1933 selbst entscheiden konnte, wie er seinen Betrieb organisierte und unter welchen Konditionen er den Kunden seine Leistungen anbot, wurden seine unternehmerischen Freiheiten nach der »Machtergreifung« mehr und mehr eingeschränkt. Wie schnell sich der braune Ungeist bis in die letzten Winkel ausbreitete, lässt sich an der DaheimBetriebsordnung aus dem Jahr 1934 ablesen. In ihrer gleichgeschalteten Sprache entsprach sie dem Jargon der Zeit. Bereits die markige Überschrift ließ erkennen, woher der Wind wehte: »In meiner Eigenschaft als Führer des Betriebes Lesezirkel Daheim Richard Ganske erlasse ich für die gesamte Gefolgschaft des Betriebes folgende Betriebsanordnung.« Im ersten Abschnitt ist nicht etwa davon die Rede, dass Unternehmer und Mitarbeiter die Firma gemeinsam aufgebaut hätten und weiter erfolgreich betreiben wollten. Stattdessen hieß es schwüls tig: »Der Betrieb ist ein uns vom deutschen Volke anvertrautes Gut. Führer und Gefolgschaft haben das gemeinsame Ziel, den Betrieb gesund und leistungsfähig zu erhalten.« Im Anschluss werden Rechte und vor allem Pflichten der Gefolgschaft detailliert niedergelegt und festgestellt, dass im Betrieb ebenso wie im Reich den Anordnungen des Führers gewissenhaft Folge zu leisten sei. Größere Verstöße gegen die Betriebsordnung konnten vom Führer mit fristloser Entlassung oder einer Geldbuße in Höhe eines Tagesverdienstes geahndet werden. Bei kleineren Vergehen waren Geldstrafen bis zu einem halben Tageslohn möglich. In beiden Fällen waren die einbehaltenen Beträge in voller Höhe »zum Besten der NS-Volkswohlfahrt zu verwenden«. Was dem Wohl des Volkes diente oder den »Volkskörper« krank machte, bestimmte allein die Partei. Lesezirkel zählten für sie zu den Einrichtungen, die zur Pflege eines gesunden Geistes geeignet waren. Solange sie die gewünschten Inhalte 53 verbreiteten, waren sie sogar ein höchst nützliches Instrument, um die Propaganda des Regimes auf Rohstoffe sparende Weise unter möglichst vielen Lesern zu verbreiten. Bei Kriegsausbruch versorgten die 297 beim Reichspresseamt registrierten Lesezirkel mit ihren 53 363 Erstmappen einen fast zehnmal so großen Kundenkreis, der insgesamt über eine halbe Million Abonnenten umfasste. Einschließlich der mitlesenden Familien angehörigen und der vielen Leser, die bei Ärzten und Anwäl ten, in Frisiersalons, Cafés oder Restaurants die Zeitschriften zur Hand nahmen, garantierten die Lesezirkel der Propaganda einen noch weit höheren Wirkungsgrad. Je knapper im Laufe des Krieges die Papiervorräte wurden, je mehr Engpässe bei der Belieferung mit Druckerschwärze, Ersatzteilen, Strom und Kohle auftraten, je mehr Druckereien durch Bomben zerstört wurden, desto wichtiger wurde für das Regime die intensive Nutzung der Blätter, wie sie die Lesezirkel durch ihr Verteilersystem garantierten. Die Reichspressekammer bedankte sich 1937 auf ihre Art für die nützlichen Dienste, die die Lesezirkel – ob freiwillig oder notgedrungen – für das Propagandaministerium leis teten. Sie brachte erstmals »Ordnung« in die Branche. Das entsprach nicht nur der Ideologie einer staatlich gelenkten Wirtschaft, es gefiel auch vielen Betreibern kleiner Lesezirkel. Durch die »Berufsschutzanordnung« wurde ihnen so mancher langgehegte Herzenswunsch erfüllt. Von Stund an war es vorbei mit dem bei Verbandstagen früher gebetsmühlenartig beklagten »Wildwuchs«. In den »Geschäftsgrundsätzen für Lesezirkel« wurde penibel geregelt, wie viele Zeitschriften eine Mappe zu enthalten habe, welche Mindestpreise von den Abonnenten verlangt werden mussten und wie Unterbietungen – man könnte es auch Preiswettbewerb nennen – zu verhindern seien. Besonders erfreut waren sicherlich viele Lesezirkelbetreiber darüber, dass Konkurrenten jeder Abwerbeversuch bei Hotels, Gaststätten oder Friseuren ausdrücklich verboten wur 54 de. Das hinderte leistungsfähige Betriebe wie Daheim daran, einem weniger gut geführten Lesezirkel diese lukrativen Kunden mit günstigeren Angeboten wegzuschnappen. Zu den vielen Reglementierungen gehörte auch, dass die Lesezirkel verpflichtet wurden, nach höchstens 25 Wochen die Zeitschriften endgültig aus dem Verkehr zu ziehen und die Blätter zum Einstampfen abzuliefern. Das sicherte ihre Wiederverwertung als Altpapier – und war eines der vielen kleinen Indizien dafür, dass für die Rohstoffknappheit, die bei einem künftigen Krieg zu erwarten war, Vorsorge getroffen wurde, schon lange bevor das Unglück mit dem Überfall auf Polen seinen Lauf nahm. Ihre Rolle als nützliche Esel des Regimes bewahrte die Lesezirkel davor, frühzeitig als »kriegsunwichtig« geschlossen zu werden. Sie gehörten im Gegenteil zu den Letzten, die dem »Endsieg« geopfert wurden. Bei anderen »kriegsunwichtigen Betrieben« waren die verbliebenen Mitarbeiter schon längst ab gezogen worden, um entweder Kanonen zu produzieren oder als Kanonenfutter zu dienen. 1901 deutsche Verlage, 6155 Buchhandlungen und 910 Leihbüchereien erhielten ihre Schlie ßungsverfügung am 26. August 1944. Das vorläufige Ende für die Lesezirkel kam vier Wochen später. Da gab es ohnehin kaum noch etwas zu verleihen, weil keine neuen Zeitschriften mehr produziert wurden. Um auch noch die letzten verfügbaren Kräf te für die Rüstungsindustrie zu mobilisieren, erhielten die Zeitschriftenverleiher ihre Stilllegungsverfügung per 30. September 1944, knapp acht Monate vor der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht am 8. Mai 1945. Viele der vom Schließungsbefehl erfassten Betriebe lagen zu diesem Zeitpunkt bereits in Schutt und Asche. Das galt auch für die Zentrale und die meis ten der 30 Filialen des Lesezirkels Daheim. Doch bis der vom Hitler-Regime entfesselte Krieg mit einer totalen Niederlage endete, waren schwierige Jahre zu überwinden, die den noch immer jungen Unternehmer Kurt Ganske und seinen Vater vor manch schwere Entscheidung stellten. 55 Zweites Kapitel ¨ Zwei MAnner, zwei Frauen und ein geheimer Plan S iebzehn Jahre lang hatte Kurt Ganske mit wachsendem Erfolg Bücher und vor allem Zeitschriften verkauft und ver liehen, die andere konzipiert, geschrieben, redigiert und gedruckt hatten. Mit 36 Jahren wurde er selbst Verleger. Warum? Wollte er endlich ein eigenes Verlagsprogramm gestalten, Themen aufgreifen oder setzen, Autoren entdecken und fördern? Das vermutlich auch. Aber es gab noch einenheimlichen Hintergedanken. Ganske hatte sicher lange nach dem richtigen Objekt gesucht, sich die Programme verschiedener Verlage angesehen, vielleicht mit dem einen oder anderen Inhaber gesprochen. Gut möglich, dass er sich dabei Absagen eingehandelt hatte. Wer einen renommierten, wirtschaftlich gesunden Verlag besitzt, hat meist kein Interesse daran, ihn zu verkaufen oder sich die »Alleinherrschaft« mit einem Partner zu teilen. Wer ganz aus dem Geschäft aussteigen will, hat dafür oft Gründe, die einen Investor abschrecken können. Es gibt auch gute Gründe für den Verkaufswunsch oder die Suche nach einem Partner – etwa wenn kein geeigneter Nachfolger vorhanden ist oder ein weiteres Wachstum nicht aus eigener Kraft finanziert werden kann. Nach 1933 gab es in Deutschland aber auch schlechte Gründe für einen Verkauf, nämlich Druck, Schikanen und Gewalt von Seiten des Nazi-Staates, wenn ein Verlag in jüdischem Besitz war. Mit wem Kurt Ganske vielleicht schon gesprochen hatte, ehe er seine Entscheidung traf, ist nicht bekannt. Es lässt sich heute auch nicht mehr mit Sicherheit sagen, warum er sich schließ59 lich für den traditionsreichen Hamburger Verlag Hoffmann und Campe entschied. Warum dieser und kein anderer? Es gibt keine Aktennotizen, Tagebucheinträge oder andere Aufzeichnungen, die darüber Auskunft geben. Fest steht nur, dass er Anfang 1941 eine Beteiligung von zunächst 50 Prozent erwarb. Auffällig daran ist, dass er sich mitten im Krieg für ein Unternehmen entschied, das von einem Ausländer geführt wurde. Alleineigentümer war seit 1933 der Däne Martinus Christensen. Bemerkenswert ist zweitens die Geradlinigkeit, die der Verlag bis dahin bewiesen hatte. Hoffmann und Campe war seit über 100 Jahren der Verlag Heinrich Heines und anderer von der Obrigkeit wenig geschätzter Autoren. Seit 1826 erschienen die Bücher des rebellischen Dichters und anderer kritischer Geister bei »HoCa«. Bis Ende der zwanziger Jahre, als die Buchproduktion wegen der Inflation für einige Zeit eingestellt werden musste, waren Heines Werke dort immer wieder neu aufgelegt worden. Fünf Jahre später landeten sie auf dem Scheiterhaufen. Für die Nazis zählte Heine zu den »geistigen Volksschädlingen«. In den mehr als 200 Jahren Verlagsgeschichte haben außer Heinrich Heine auch zahlreiche andere, zu ihrer Zeit von der Staatsmacht mit Misstrauen beobachtete Autoren ihre Schriften bei Hoffmann und Campe publiziert. Dem seit 1781 existierenden Verlag des »Jungen Deutschland« hatte das mehrfach Schließungsandrohungen, einmal ein Verbot aller seiner Bücher und dem damaligen Inhaber Julius Campe 1855 sogar eine Gefängnisstrafe eingebracht. Seiner freigeistigen Tradition war der Verlag auch treu geblieben, als nach 1933 erneut die Zensur das literarische Leben zu ersticken drohte. Als der damalige Verlagsleiter Arnold Fuß vor den Nazis die Flucht ergreifen musste, rückte der Verlag trotzdem nicht verängstigt von seiner programmatischen Position ab. Statt Blut-und-Boden-Literatur druckte er weiter Klassiker und publizierte in- und ausländische Autoren, deren Werke nicht vom braunen Zeitgeist durchweht wurden. Land60 serliteratur hat es nie gegeben. Wenn Frontausgaben produziert wurden, dann waren es Titel wie »Herrlich ist die Welt«, die ein Gegenbild zum grausamen Alltag an der Front boten. Statt auf die völkische Linie einzuschwenken, wurde 1937 mit der Herausgabe einer »Europa-Bibliothek« begonnen und 1939 die broschierte Taschenbuchreihe »Geistiges Europa« begründet. Herausgeber war Albert Erich Brinckmann, ehemals Ordinarius für Kunstgeschichte in Berlin, dem seine Professur zwei Jahre nach der Machtergreifung aberkannt worden war. An dieser Linie hatte sich nichts geändert, als Kurt Ganske in das Unternehmen eintrat. Auch danach gab es nur hin und wieder minimale Konzessionen. Ein dritter bemerkenswerter Punkt ist die Person, die er zur Wahrnehmung seiner Interessen in den Verlag einbrachte. Es war Harriet Wegener, das Fräulein Doktor, wie Kurt Ganske sie meist nannte. Das Fräulein war allerdings »eine wunderbare Frau«, wie sich seine Söhne Thomas und Michael unisono er innern, obwohl beide noch recht jung waren, als sie sie kennenlernten. Werner Hess, der ihr Mitte der fünfziger Jahre als Assistent des Verlegers oft begegnete, beschreibt sie »als eine ganz großartige Persönlichkeit«. Siegfried Lenz, der sie als junger Autor kennengelernt hat, erlebte sie als »eine sehr liebenswürdige alte Dame«. Alle erinnern sich allerdings auch an den bläulichen Nebel, der die Kettenraucherin ständig umwehte. »Man schaute gebannt zu, wie die Asche an der Spitze ihrer Zigarette immer länger wurde, und erwartete, dass sie auf ihr Kleid fallen würde«, schmunzelt Lenz. »Aber es passierte nie.« Politisch nicht zuverlässig Alles andere als nebulös war ihre politische Haltung. »Schwein bleibt Schwein, auch wenn es Perlen frisst«, pflegte sie über Hitler zu sagen, wenn keine mutmaßlichen Denunzianten in 61 der Nähe waren. Kurz nach Kriegsende schrieb sie in einem Brief an Gerda Ganske, die Frau des Verlegers: »Ich habe Hitler und seine Leute ja immer für Verbrecher gehalten, aber dass sie Deutschland so bis in Grund und Boden ruinieren und dann selbst ein so unrühmliches Ende nehmen würden, hätte ich doch nicht gedacht. Sie haben Heldenmut wirklich immer nur von den anderen verlangt. Aber da man das alles nicht ungeschehen machen kann, muss man so bald wie möglich an den Wiederaufbau gehen. Gott gebe, dass Ihr Mann uns dabei helfen wird.« Das war zu einem Zeitpunkt, als niemand wusste, ob und wann Kurt Ganske aus Krieg und Gefangenschaft zurückkehren würde. Die 1890 in Oberhessen geborene Harriet Wegener hatte in einer Zeit Geschichte und Nationalökonomie studiert und mit dem Thema »Frauenarbeit im Kriege« zum Dr. rer. pol. promoviert, als dies für junge Frauen noch keineswegs selbstverständlich war. Sie beherrschte Englisch, Französisch und Italienisch. Ihr Versuch, sich später zusätzlich die russische Sprache anzueignen, scheiterte, weil ihr Lehrer 1934 fluchtartig das Land verlassen musste. Sie selbst musste zwar nicht um Leib und Leben fürchten, verlor aber im gleichen Jahr aus politischen Gründen ihren Arbeitsplatz als Bibliothekarin des Instituts für auswärtige Politik. Gleichzeitig wurden ihr alle Pensionsansprüche gestrichen. Ihr Verbrechen bestand darin, dass sie vor 1933 Mitglied der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) gewesen war und sie eine enge Freundschaft mit Hamburgs Ers tem Bürgermeister Carl Wilhelm Petersen verband, der ebenfalls kurz nach der »Machtergreifung« aus dem Amt gejagt worden war. Doch sie hatte auch danach »stets enge Fühlung mit meinen jüdischen und linksgerichteten Freunden gehalten«, wie sie später in einem Brief schrieb, als man so etwas wieder ohne Gefahr zu Papier bringen konnte. Wegener war Mitglied des Hamburger Zonta-Clubs, eines weiblichen Gegenmodells zu den damals nur den Herren der 62 Schöpfung vorbehaltenen Rotariern oder Lions. Doch die selbstbewussten Damen mussten sich bereits 1933, nur ein Jahr nach Gründung ihres Clubs, wieder aus dem Vereinsregister streichen lassen. Danach konnten sie sich nur noch heimlich in privater Umgebung treffen – nicht zuletzt deshalb, weil sie sich nicht von ihren jüdischen Mitgliedern trennen wollten. »Ich finde Emanzipation normal«, steht als Zitat unter Harriet Wegeners Bild in einer Vereinsgeschichte des nach dem Krieg neu gegründeten Hamburger Zonta-Clubs. Nach dem Verlust ihres scheinbar sicheren Arbeitsplatzes war es für jemanden, der als »politisch unzuverlässig« abgestempelt wurde, sehr schwer, den Lebensunterhalt mit einer angemessenen Tätigkeit zu verdienen. Harriet Wegener fand aber sowohl bei der Essener Verlagsanstalt als auch bei Hoffmann und Campe Menschen, die bereit waren, sie als freie Mitarbeiterin zu beschäftigen. So verdiente sie ihr Geld mit Aufsätzen, Gutachten zu eingereichten Manuskripten, Probe übersetzungen französischer oder italienischer Autoren und – wenn deren Bücher daraufhin in das Verlagsprogramm aufgenommen wurden – später mit der kompletten Übersetzung dieser Werke. Daneben war sie auch als »Themen-Scout« für die Verlage tätig und machte auf ins Programm passende Neuerscheinungen im Ausland aufmerksam oder gab Hinweise weiter, die sie von englischen Freunden erhalten hatte. Aus dem regen Briefwechsel, den Harriet Wegener mit Ilse Tönnies, der in Berlin residierenden Cheflektorin von Hoffmann und Campe, in den Jahren nach dem Rauswurf führte, geht hervor, dass das so erzielte Einkommen trotz allen Eifers wohl in die Kategorie »zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel« gehörte. Denn für einen Tipp aus Berlin bedankt sie sich mit den Worten: »Ich habe mich sofort für die Lektorenarbeit gemeldet und danke Ihnen für den Hinweis. Es wäre mir sehr lieb, solche Nebenarbeit zu bekommen.« Dass die Aufträge oft spärlich flossen, lässt auch eine Bemerkung von Tönnies vom 63 Februar 1940 ahnen, in der sie ihre Freude darüber zum Ausdruck bringt, »dass Sie nun doch wieder eine Übersetzungs arbeit haben«. Und sie erkundigt sich besorgt: »Hoffentlich sitzen Sie noch warm?« Harriet Wegener wird deshalb mehr als erfreut gewesen sein, als Kurt Ganske ihr 1942 anbot, in seine Dienste zu treten. Da er selbst abwechselnd auf seinem Gut in Hohenhaus und in Hannover wohnte, wo sich die Zentrale des Lesezirkels befand, und zudem regelmäßig zwischen seinen 30 DaheimFilialen pendelte, brauchte er in Hamburg eine Person seines Vertrauens, die ihm über die Entwicklung im Verlag, die Programmplanung und die Verhandlungen mit den Autoren berichtete. Als er sich nach einer dafür geeigneten Person umsah, müssen ihn Ilse Tönnies oder Martinus Christensen auf die freie Mitarbeiterin hingewiesen haben, die damals schon seit mehr als sieben Jahren alle Aufträge pünktlich und gewissenhaft erledigt und dabei ihre Urteilskraft unter Beweis gestellt hatte. Ganske fand an dem damals 52-jährigen »Fräulein Doktor« offenbar sofort Gefallen. Dennoch stellte er sie nicht als Verlags mitarbeiterin ein. Er setzte sie vielmehr auf die Lohnliste seines Lesezirkels. Über die Gründe rätselten selbst sein Partner Christensen und Ilse Tönnies. Es ärgerte sie sogar, wie erhalten gebliebene Briefe verraten, denn auf diese Art durfte eine Betriebsfremde in Verlagsangelegenheiten mitreden. Dass beide mit einer direkten Anstellung beim Verlag gerechnet hatten, geht aus einem Brief von Ilse Tönnies hervor, den sie am 11. November 1942 zur Post gab. Die Absage eines Auftrages verbindet sie nämlich mit dem geheimnisvollen Hinweis, dass »die Herren des Verlags, soviel ich hörte, eine ganz andere Aufgabe für Sie haben, die ich außerordentlich reizvoll finde und die Ihnen zweifellos große Freude machen wird. Ich will aber noch nichts gesagt haben. Sie werden es im Verlag ja dann selbst hören … Herr Christensen lässt Sie für die nächste Wo64 che um Ihren Besuch bitten.« Es folgt dann noch ein diskreter Hinweis, wie sie bei den Verhandlungen mit Christensen über die Abgeltung der bis dahin geleisteten Arbeit taktieren solle. Dazu »möchte ich Ihnen privat und andeutungsweise die Summe von 100 Mark nennen«. Auch wenn er sich selbst gegenüber seinem Partner darüber nicht äußerte, wird Kurt Ganske mindestens zwei gute Gründe dafür gehabt haben, dass die »außerordentlich reizvolle Aufgabe« erst viele Jahre später zu einer Anstellung bei Hoffmann und Campe führte. Zum einen war auf diese Weise ganz klar, wem Harriet Wegeners Loyalität in erster Linie galt. Zum anderen war es weniger auffällig, wenn eine Frau, die politisch als vorbelastet galt, bei der Grünen Mappe, der Hamburger Tochter des Lesezirkels, angestellt wurde. Dort konnte sie zwischen vielen anderen »Gefolgsleuten« in der Personalliste verschwinden. Außenstehenden blieb verborgen, ob sie mit dem Führen von Karteikarten oder dem Sortieren von Zeitschriften beschäftigt wurde. Ganz anders wäre es gewesen, wenn die »politisch Unzuverlässige« plötzlich bei einem dem Regime nicht gerade nahestehenden Verlag aufgetaucht wäre, der weniger als zehn fest angestellte Mitarbeiter hatte – noch dazu als Vertraute des Verlegers. Selbst diese konspirative Lösung war nicht ganz unproblematisch. In einer Aktennotiz vom 5. Mai 1942 über eine »Besprechung zwischen Herrn Ganske, Frl. Wegener und Herrn Nicodemus«, dem Leiter der Hamburger Filiale, wurde festgehalten: »Dr. Wegener wird offiziell von der Hamburger Filiale Grüne Mappe eingestellt werden, aber für die Zentrale in Hannover und für den Verlag Hoffmann und Campe arbeiten … Fräulein Wegener ist mit jeder formellen Regelung einverstanden, die Sicherheit dafür gibt, dass der Grünen Mappe dadurch keine neuen Personalschwierigkeiten erwachsen.« Filialleiter Nicodemus erklärte sich bereit, Harriet Wegener den Betrieb zu zeigen und sie darin einzuweihen, wie ein Lesezir65 kel funktioniert. Das sollte aber möglichst an einem Sonntag geschehen. Auch im backsteinroten Chilehaus in der Hamburger Innenstadt, in dem die Grüne Mappe damals ihren Sitz hatte, sollten sich die dort tätigen Mitarbeiter möglichst keine Gedanken darüber machen, wer die neue Kollegin wohl sei und welche Aufgaben sie habe. Diese Lösung hatte allerdings einen Nachteil: Es kostete Harriet Wegener in der ersten Zeit einige Mühe und viel Nerven, das aufkeimende Misstrauen von Martinus Christensen zu überwinden. Er hielt zu ihrem Ärger mit Informationen hinter dem Berg und nahm es ihr übel, wenn sie Fragen stellte. Er zog daraus den Schluss, dass sie sich ein Recht auf Information anmaßte. Er war der Meinung, dass es sich um einen Gnadenakt des Verlegers handele, wenn er sein Herrschaftswissen mit Angestellten teilte. Harriet Wegener beklagte sich deshalb in ihren Briefen an Kurt Ganske immer wieder bitter darüber, dass Christensen sie oft nicht ins Vertrauen ziehe, ihr Briefe vorenthalte oder sie von Besprechungen mit Autoren ausschließe. »Wahrscheinlich fürchtet er, dass Sie mich eines Tages als ihren Vertreter einsetzen.« Umgekehrt beobachtete Christensen mit Argwohn, dass sie regelmäßig nach Hohenhaus berichtete, wie sich die Dinge in Hamburg entwickelten. Bei einer dieser Auseinandersetzungen verstieg er sich zu dem Vorwurf, es sei »einmalig in der Wirtschaftsgeschichte«, dass sie Ganske über Verlagsangelegenheiten informiere. Kampf der Königinnen Als der Partner sich wieder einmal in Hamburg sehen ließ, kam es zur Aussprache. Es wurde vereinbart, dass die für Ganske bestimmten Berichte nummeriert und Christensen jeweils als Durchschlag auf den Schreibtisch gelegt werden sollten. So geschah es auch. Was der Däne nicht wusste: Es gab daneben »inoffizielle« Briefe, deren laufende Nummer Harriet Wegener 66 auf Vorschlag ihres Chefs mit einem »A« ergänzte. Sie ent hielten zusätzliche Informationen, von denen Fräulein Doktor der Meinung war, dass sie – da sie sich oft auch auf Geschehnisse bei der Grünen Mappe bezogen – weder Christensen noch Tönnies etwas angingen. Auch ihre »Klagelieder Jeremiae«, die sie später gelegentlich noch anstimmte, wenn es um das schwierige Dreiecksverhältnis Christensen, Tönnies und Wegener ging, blieben den A-Briefen vorbehalten. Umgekehrt »vergaß« aber auch Ilse Tönnies sehr oft, der Hamburger Kollegin – wie vereinbart – Durchschläge ihrer Briefe an Christensen zu schicken. »Meist liest mir Herr Chr. Teile daraus vor«, berichtete Harriet Wegener nach Hohenhaus. Aber was er weg ließ, dürfte sie noch mehr interessiert haben. Dennoch versicherte Harriet Wegener im vertraulichen Teil ihrer Berichte immer wieder, dass sie sich alle Mühe gebe, ein Vertrauensverhältnis zu dem dickschädeligen Dänen aufzubauen. Das gelang ihr zwar im Laufe der Zeit recht gut, es gab aber immer wieder Rückschläge. Christensen erinnerte sie dann gern daran, dass Ganske laut Vertrag nur einen »Herrn mit langjähriger Verlagserfahrung« zu seinem Vertreter im Verlag ernennen dürfe. Wegener bemühte sich, »ihm möglichst die Vorstellung zu nehmen, dass ich deshalb, weil ich für Sie arbeite, gegen ihn sein muss«, und erklärte die ständigen Quengeleien Christensens mit der Feststellung: »Irgendwo ist er ja so etwas wie ein misstrauischer Bauer.« Vertrauensbildende Maßnahmen wurden daher zu einem wichtigen Teil ihrer Tätigkeit. Um für ihre Chefs nicht nur in Fragen der Literatur, sondern auch in anderen Verlagsangelegenheiten eine gleich wertige Gesprächspartnerin zu sein, war die 53-Jährige sogar bereit, neben ihren vielfältigen Aufgaben auch noch eine Buchhändler- oder Verlagslehre zu absolvieren und wie jeder andere »Stift« eine Prüfung vor der Industrie- und Handelskammer abzulegen. Doch das führte zu neuen Problemen. 67 »Eine Schwierigkeit für meine Anmeldung als Lehrling ist, dass kein Lehrlingsvertrag vorliegt und ich überhaupt nicht bei H.u.C. angestellt bin«, berichtete Harriet Wegener über neue Probleme nach Hohenhaus. »Wenn ich daher in der Richtung etwas unternehme, wird Herr Christensen es zum Vorwand nehmen, auf Anstellung beim Verlag zu drängen; und was soll ich dann sagen?« Irgendwie muss darauf eine Antwort gefunden worden sein, denn selbst in den letzten Wochen vor Kriegs ende ließ sich die Akademikerin noch regelmäßig von einer Buchhändlerin auf die Lehrlingsprüfung vorbereiten, die im März 1945 stattfinden sollte. Doch in den letzten Kriegsmonaten war daran nicht mehr zu denken. Und später war es nicht mehr erforderlich. Auch das Verhältnis zu der in Berlin residierenden Cheflektorin Ilse Tönnies blieb nicht spannungsfrei. Solange Harriet Wegener fleißig Gutachten geschrieben und Übersetzungen abgeliefert hatte, war der Ton der Briefe immer herzlich und über die beruflichen Anliegen hinaus von persönlicher Anteilnahme geprägt. Wenn die zwölf Jahre jüngere Ilse Tönnies in Hamburg war, besuchte sie die geschätzte Mitarbeiterin gern in ihrem Haus im Hamburger Vorort Flottbek und bewunderte ihren mit großer Liebe gepflegten Garten. Man tauschte sich über das Verlagsprogramm aus und sinnierte darüber, welche Bücher die Menschen wohl lesen wollten, wenn endlich wieder Frieden sei. Beide erkundigten sich regelmäßig nach dem Wohlergehen der Familienangehörigen. Der literarische Gedankenaustausch wurde gelegentlich durch den Austausch von Kochrezepten ergänzt, mit deren Hilfe man auch in Kriegszeiten schmackhafte Gerichte auf den Tisch zaubern konnte. Regelmäßig erkundigten sich die beiden Damen, die sich gegenseitig auch nach vielen Jahren der Zusammenarbeit immer noch mit Fräulein Doktor anredeten, mitfühlend, wie es um die Gesundheit bestellt sei, ob es ausreichend Kartoffeln gebe oder ob die andere noch Kohlen im Keller habe. 68 Nachdem Harriet Wegener mit ihrer Arbeit im Verlag begonnen hatte, wurde der Ton spitzer. Ilse Tönnies konnte es nur schwer ertragen, dass ihre ehemalige Mitarbeiterin nun überall mitreden wollte, sich einmischte, wenn es um Verlags angelegenheiten ging. Es störte sie, dass die Kollegin nicht nur das Ohr des neuen Verlegers besaß, sondern nun auch den Standortvorteil hatte, dass ihr Schreibtisch in der Nähe des alten Verlegers stand. Harriet Wegener bemühte sich immer wieder um Deeskalation: »Ich bedauere, Ihren Zorn so sehr erregt zu haben, bedauere es umso mehr, als Sie im Augenblick ja schon Ärger und Mühe genug haben … Es liegt mir vollkommen fern, in Ihre Kompetenzen hinsichtlich der ›Europa-Biblio thek‹ eingreifen zu wollen«, schrieb sie Ilse Tönnies. In ihren Briefen an Kurt Ganske aber klagte sie: »In der neuen Reihe macht Dr. Tönnies so ziemlich, was sie will. Herrn Christensens gelegentliche Einwände schiebt sie beiseite, manchmal in einer Form, die mich an seiner Stelle ärgern w ürde.« Was sie selbst maßlos ärgerte, weil sie dagegen nur schwer mit Argumenten ankam, war die Raffinesse, mit der die Kollegin ihren strategischen Vorteil in Berlin nutzte, um Wegener und manchmal auch Christensen auszutricksen. »Sie lässt alle Künste spielen, um mir die Arbeit unmöglich zu machen, wobei sie den Trumpf, der alles sticht, nämlich die angeblichen Geheiminformationen aus dem Promi [Propagandaministerium] über die Papierbewilligungen in der Hand hat. Immer hat sie irgendwelche geheimen Quellen, aus denen sie weiß, dass für die Dinge, die sie gerade plant, Papier da ist etc. Und für anderes nicht.« Kurt Ganske hat das offenbar alles nicht so tragisch genommen. Sein Sohn Thomas erinnert sich, dass er später immer vom »Kampf der Königinnen« sprach, wenn er diese Auseinandersetzungen erwähnte. Im Laufe der Zeit entspannte sich das Verhältnis zwischen den beiden Damen auch wieder. Ilse Tönnies freute sich auf ein Wiedersehen und bedankte sich artig 69 für das Angebot, ihr ein weiteres Päckchen Grieß zu besorgen. Harriet Wegener ihrerseits bedauert, dass die Kollegin nicht mit eigenen Augen erleben kann, wie herrlich gerade ihr Garten blüht. Die wachsenden Sorgen und gemeinsamen Nöte drängten die persönlichen Querelen in den Hintergrund. Wenn das gegenseitige Vertrauen nicht stärker gewesen wäre als die Eifersüchteleien, hätte Harriet Wegener in ihren Briefen sicher nicht so riskante Sätze wie diese zu Papier gebracht: »Es ist die allerhöchste Zeit, dass sich Europa nach einer dauernden Betonung des die einzelnen Länder Trennenden auf die gemeinsamen geistigen Wurzeln und das gemeinsame geistige Werden besinnt«, schrieb sie im August 1942 nach Berlin. »Es ist außerdem anzunehmen, dass die seit der Französischen Revolution andauernde Zuspitzung des Nationalen ins Nationalistische ihren Höhepunkt erreicht hat und bereits jetzt eine Besinnung auf das gemeinsam-europäische umzuschlagen beginnt«, fuhr sie fast prophetisch fort. Wie schwierig solche Ideen umzusetzen waren, geht wiederum aus einem Brief hervor, der von Berlin nach Hamburg ging. Unter Bezug auf die »Europa-Bibliothek« und ähnliche Projekte schrieb Tönnies ihrer Kollegin im April 1943: »Ich glaube, dass auch jedes Thema, das mit der Antike zusammenhängt, einen großen Reiz für den immer mehr wachsenden Kreis von Menschen haben wird, die auf die Grundlagen unserer Kultur zurückgehen wollen. Es ist nur fraglich, ob wir das jetzt durchbringen können, denn der humanistische Gedanke ist nach wie vor ein sehr heißes Eisen, und ich muss da sehr vorsichtig sein.« Auch wenn es immer wieder mal zu heftigen Kontroversen kam, ging es in der schriftlichen und telefonischen Kommunikation zwischen den beiden Frauen und in den Berichten, die sie an ihre Verleger schickten, vorwiegend um das Verlagsprogramm, um die Schwierigkeiten mit der Zensur, um Ärger mit Autoren oder die Sorge um deren Schicksal. 70 Obwohl Martinus Christensen sich in Hamburg um die täglichen Geschäfte kümmerte, nahm Kurt Ganske regen Anteil an den Überlegungen zum Programm. Er ließ sich von Harriet Wegener die von ihr erarbeiteten Analysen und Gutachten schicken, entschied von Hannover oder Hohenhaus und später sogar noch aus der Kaserne heraus mit darüber, welche Manuskripte angenommen oder abgelehnt wurden. Er machte sich in seinen Antworten Gedanken über den möglichen Käuferkreis eines Italien-Buches, gab Rat beim Erwerb von Rechten. Er bewertete eine Rilke-Biographie als »angenehm zu lesen und ganz interessant geschrieben«, zeigte sich aber gleichzeitig überzeugt, dass »es früher oder später eine bessere Biographie über Rilke geben wird«. Er war sich überdies mit Wegener einig, dass Rilke »sicher weder Antisemit noch Anti-Slave gewesen ist. Evtl. könnte man den Autor veranlassen, den Ausführungen hierüber die Schärfe zu nehmen.« Das allerdings war zu dieser Zeit ein heikles Unterfangen. Verboten, verbrannt, verschleiert Trotz sorgfältiger Vorbereitung und geschickter Begründung scheiterte manche Idee an den staatlichen Zensoren. So berichtete Ilse Tönnies im Mai 1943 aus Berlin, dass zwar das »Europa-Archiv« bewilligt worden sei, »Europa im Wandel« habe man dagegen strikt verboten, und zwar »so kategorisch«, dass nichts zu machen gewesen sei. Tönnies schlug vor, die Pläne dennoch nicht aufzugeben, sondern der Publikation »einen anderen, unverfänglicheren Titel zu geben« und eine andere Form dafür zu suchen. Manches ließ sich so mit Geschick und guten Beziehungen doch durchsetzen. Biographien über Rudolf Virchow, Justus von Liebig und Alexander von Humboldt zum Beispiel winkten die Prüfer im Propagandaministerium nach einigem Hin und Her schließlich durch, wie Harriet Wegener dem in einem Sa71 natorium bei Wien weilenden Martinus Christensen hocherfreut mitteilte. »Sünder und Heiliger« fanden ebenfalls Gnade vor den Augen der Zensoren. Für die zehn Bände »Geistiges Europa« wurde das Papier selbst im November 1943 noch genehmigt. Sogar Werke des Franzosen Paul Hazard wie »Krise des europäischen Geistes« konnten erscheinen, übersetzt von Harriet Wegener. Allerdings nur auf Papier der Klasse 3, wie Wegener bedauerte. Das bedeutete stark holzhaltig, schnell vergilbend, hart, unansehnlich. Besonders kurios: Für eine 1941 abgelehnte Moltke-Biographie von Hanns Martin Elster gab es zwei Jahre später plötzlich doch Papier – vielleicht weil Harriet Wegener oder Ilse Tönnies wieder einmal einen Trick angewendet hatten, der während des Krieges mehrfach funktionierte: Ein von der »Prüfstelle zum Schutz der NS-Literatur« oder einer anderen Kontrollstelle abgelehntes Werk wurde mit neuem Titel und einer anderer Begründung erneut zur Prüfung vorgelegt – und möglichst auf den Schreibtisch eines anderen Zensors bugsiert. Im Fall der Moltke-Biographie war die Freude über das gelungene Manöver allerdings nur kurz. Denn als das Buch endlich gesetzt und gedruckt war, verbrannte der gesamte Bestand, weil das Lager von Bomben getroffen worden war. Wieder musste mühsam Papier beschafft und eine noch unzerstörte Druckerei gefunden werden. Dort kam die Biographie des politisch denkenden Strategen in eine Warteschlange, denn verschärfte Druckvorschriften führten dazu, dass der Moltke nur die Dringlichkeitsstufe III bekam. Es dauerte Monate, bis das Buch endlich aus der Maschine lief. Und dann wiederholte sich das Trauerspiel: 1944 fielen die 5000 frisch gedruckten Exemplare erneut den Flammen zum Opfer. Ein Schicksal, das im Laufe des Krieges viele Werke ereilte. Solange sie nicht beim Leser waren, wusste man nie, ob der Kampf mit der Zensur, die Mühen der Papierbeschaffung und die schwierige Suche nach einer noch funktionierenden Druckerei nicht letzt72 lich vergebliche Mühen gewesen waren. Noch beim Spediteur konnte sich alles in Rauch und Asche auflösen. Einmal sollte bei Hoffmann und Campe doch Frontliteratur erscheinen. Es ging um die Gedichte eines Offiziers. Es waren ernste und schwermütige Gedanken, die Günther von Stünzner zu Papier gebracht hatte. Eines trug den Titel »Mutter des Gefallenen spricht«. Ilse Tönnies hoffte trotzdem, dass man es im Propagandaministerium durchsetzen könne. »Es stimmt ja durchaus nicht, dass man an der Front nur ablenkende und leichte Dinge lesen will, ganz im Gegenteil sogar. Und in letzter Zeit trägt man von oben her diesem Verlangen auch Rechnung. Es kann durchaus von Tod und Ernst die Rede sein.« Überdies könne man im Papierantrag darauf hinweisen, dass der Dichter Frontkämpfer sei. Sie mahnte bei Christensen eine rasche Entscheidung an, da sie zusammen mit dem dich tenden Soldaten noch einige »Schleifungen« an seinen Versen vornehmen wollte, Günther von Stünzner aber bald wieder in den Osten gehe, wo sein einziger Bruder bereits gefallen sei. »Wir schaden unserem Ansehen mit diesen Sachen auf keinen Fall«, schrieb sie nach Hamburg und fügte als weiteres Argument hinzu, auch Hoffmann und Campe müsse »einmal einen Beitrag zur Kriegsliteratur bringen«. Doch aus dem Beitrag wurde nichts – trotz der trickreichen Begründung. In einer Aktennotiz vom 11. Mai 1944 wurde festgehalten: »Stünzner-Gedichte sollen für Truppen auf Schallplatte aufgenommen werden. Bewilligt Stünzner zuliebe, obgleich uns Papier abgeschlagen. Wirkung der Platten abwarten, dann ev. Antrag erneuern.« Manchmal allerdings waren die staatlichen Stellen auch entgegenkommender, als es dem Verlag lieb war. So berichtete Ilse Tönnies während einer Besprechung mit Wegener und Christensen, zu der sie 1944 aus Berlin angereist war, dass das Amt zur Betreuung ausländischer Truppen mehrere Werke des Verlags in deren Sprachen beziehen wolle. Man war sich aber 73 einig, dass »Vorsicht geboten« sei. Allenfalls eine begrenzte Zahl von Werken sei dafür geeignet. Dazu zählten Titel wie »Erasmus von Rotterdam« oder »Auguste Rodins Vermächtnis«. Man wollte sich nämlich eine spätere fremdsprachige Ausgabe nicht »dadurch unmöglich machen, dass wir jetzt Übersetzungen mit stark propagandistischem Zweck vorwegnehmen«. In der Regel erschien Ilse Tönnies aber nicht als Neinsagerin, sondern als Bittstellerin im Propagandaministerium. Neben ideologisch begründeten Ablehnungen, die sie sich dort immer wieder einhandelte, war es vor allem der zunehmende Papiermangel, der dem Verlag in den Kriegsjahren zu schaffen machte. Selbst eine amtliche Bewilligung war nicht viel wert, wenn einfach kein Papier aufzutreiben war. Anfänglich halfen die guten Beziehungen ein wenig, die Martinus Christensen zu den skandinavischen Ländern hatte. Im Mai 1941 berichtete er seinem Kompagnon, er habe bei einem Besuch in Kopenhagen je einen Buchdrucker, Buchbinder und Papierlieferanten gesichert, »die vorzugsweise uns beliefern werden«. Ob das auch tatsächlich gelinge, hänge allerdings noch von Verhandlungen zwischen den zuständigen staatlichen Stellen beider Länder ab. »Die Papierfrage hier in Deutschland bleibt nach wie vor katastrophal, indem einfach alles abgelehnt wird.« Es sollte noch viel schlimmer kommen. Im Herbst 1941 ließ Propagandaminister Goebbels ein Schema für die Zuteilung von Druckpapier entwerfen, bei dem die »Kriegswichtigkeit« der verschiedenen Produktionen das entscheidende Kriterium für die Versorgung der Verlage und Druckereien war. Wer Bücher in größerer Zahl verkaufen woll te, musste Mittel und Wege finden, um über die immer spärlichere Zuteilung hinaus an die benötigten Papiermengen zu kommen. Dafür brauchte man die sogenannten Papierschecks. Nur über diese Zuteilungsscheine konnte ein Verlag nach der Genehmigung durch die »Wirtschaftsstelle Buch« in einem komplizierten bürokratischen Verfahren eine Papierzuteilung 74 erhalten. Dazu musste von mehreren staatlichen und militärischen Stellen die »Kriegswichtigkeit« eines Projekts bestätigt werden. Es konnte mehrere Monate dauern, bis ein Verlag legal an die gewünschte Lieferung kam oder die jeweils genehmigte Menge seinen eigenen Vorräten entnehmen durfte. Wie bei jedem planwirtschaftlichen System verlockte daher auch die von Bürokraten gelenkte Kriegs- und Mangelwirtschaft dazu, die komplizierten Zuteilungsverfahren zu umgehen und die Behörden auszutricksen. Von den geringen Mengen, die für die Buchproduktion zur Verfügung standen, ging auch noch vieles in Flammen auf. Über die Folgen eines schweren Angriffs auf Leipzig berichtete Tönnies im Dezember 1943 nach Hamburg, dass außer dem ebenfalls schwer getroffenen Reclam Verlag alle anderen Verlage total ausgebombt seien, ebenso die Kommissionäre, bei denen die Bücher lagerten. Vernichtet seien auch sämtliche Papierlager. Die Katastrophe von Leipzig ändere daher vollkommen die Versorgungslage, da »nur noch ganz wenige Firmen in Deutschland überhaupt Papier zugeteilt bekommen«. Gesucht: Papier, Farbbänder, Manuskripte Das wog umso schwerer, als vier Monate vorher Hoffmann und Campe in Hamburg selbst schwere Verluste erlitten hatte. Die beiden Spediteure, bei denen Papier gelagert worden war, und der Buchbinder, bei dem unter anderem »Die Krise« sowie »Europa und die Welt« auf ihre Fertigstellung warteten, waren völlig ausgebrannt. Da half es wenig, dass man im Propagandaministerium eine Genehmigung und die notwendigen Papierschecks erhalten hatte – wenn das Papier nicht aufzutreiben war, wenn es in bedrucktem oder unbedrucktem Zustand verbrannte, waren alle Anstrengungen vergeblich gewesen. »Diese Dampfwalze, die allmählich über alles hinweggeht, ist wirklich schrecklich«, schreibt Wegener an Ganske. »Es wird Zeit 75 für Ihr Wunder, finde ich. Es muss bald kommen, sonst nützt es nichts mehr. Aber wie immer nützt das Klagen nichts. Man muss neue gute Bücher machen und alte gute nachdrucken, sobald man irgend kann.« Neben dem großen Problem Papiermangel gab es eine wach sende Zahl kleiner Versorgungsengpässe, die Daheim und den Verlag ebenso plagten wie alle anderen deutschen Betriebe. Sie machten die Arbeit nicht unmöglich, aber immer unerfreulicher. Man behalf sich und half sich gegenseitig, so gut es eben ging. Ilse Tönnies fragte bei ihrem Verleger an, ob er ihr wohl »etwas Durchschlagpapier« senden könne, weil die Kopien des hundertfach verwendeten Kohlepapiers kaum noch zu entziffern waren – insbesondere wenn in der Not mit lila Durchschlagpapier auf rosa Seidenpapier geschrieben wurde. Ein anderes Mal entschuldigte sie sich dafür, dass ihr Brief stellenweise kaum lesbar sei, »aber mein Farbband ist schon recht schlecht, und ich darf noch kein neues abholen. Vielleicht könnte ich eins aus Hamburg erhalten?« Diese Bitte zog sie später wieder zurück, da sie »inzwischen mit Hilfe eines uniformierten Bekannten eines aufgetrieben« hatte. Weiterhin teilte sie stolz mit, dass es ihr gelungen sei, bei der Firma Stolzenberg eine Bestellung über Kartothekkarten, zwei Kästen und Hefter vormerken zu lassen« – was noch lange nicht heißt, dass sie das Büromaterial jemals bekommen hat. Ähnliche Bitten tauchten auch in Wegeners Briefen an den Chef immer wieder auf. Einmal bat sie ihn um die Beschaffung eines Füllfeder halters. In einem anderen Brief hoffte sie, dass er ihr vielleicht ein paar Ablagemappen zukommen lassen könne, da sie ihre Briefe, Konzepte, Notizen und die Berichte an ihn gern etwas ordnen wolle. Das Problem wurde offenbar gelöst, wie die runenartigen Zeichen erkennen lassen, mit denen Kurt Ganske die eingehende Post zu verzieren pflegte. Eine Art Z, mit dickem Grünstift über eine Seite oder einzelne Absätze gemalt, bedeutete 76 »noch zu erledigen« oder »als Termin eintragen«. War die Sache erledigt, kam ein zweiter Schrägstrich dazu, so dass aus dem Z so etwas wie ein X wurde. Über der Bitte um Mappen zum Beispiel prangt ein solches X. Doch damit war nur eines der kleineren Probleme gelöst. Gegen den zunehmenden Mangel an Brennholz und Kohle, der nicht nur das Leben zu Hause in den kalten Monaten immer ungemütlicher machte, sondern auch die Arbeit im Büro erschwerte, konnte man im Laufe der Kriegsjahre immer weniger ausrichten. Mit klammen Fingern und Wollhandschuhen ließ sich nicht gut schreiben und redigieren. Auch im privaten Bereich half man sich gegenseitig aus. Harriet Wegener, die selbst eine starke Raucherin war, schickte ihrem Chef immer mal wieder ein paar Zigaretten. Seine Frau versorgte sie dafür mit Milchkarten, die auf dem Land nicht so dringend gebraucht wurden wie in der Großstadt. Wurstpakete aus Hohenhaus füllten die leere Speisekammer gelegentlich ein wenig auf und waren angesichts der immer knapperen Nahrungsmittelzuteilungen stets hochwillkommen. Selbst der wichtigste Rohstoff eines Verlags, die Manuskripte, wurde zur Mangelware. Irgendwie lösbar war da noch der Fall eines Autors, der zwar sein handschriftliches Manuskript fertig gestellt hatte, es aber nicht abschreiben lassen konnte, weil er kein Schreibmaschinenpapier besaß. Ernster zu nehmen war die Klage von Ilse Tönnies, sie könne kaum noch Mitarbeiter für wissenschaftliche Veröffentlichungen finden. Neben den jüngeren Dozenten würden nun auch ältere Professoren eingezogen oder stünden kurz davor. Da hätten sie keine Lust, noch Aufträge anzunehmen oder auch nur zu besprechen, klagt sie. Im Dezember 1943 berichtet sie, dass es für sie immer schwerer werde, ihrer Arbeit als Lektorin nachzugehen, weil sich »jeder weigert, Manuskripte in luftgefährdete Gebiete zu senden«. Das galt nicht nur für Berlin, sondern auch für Hamburg. Angesichts der ständigen Bombenangriffe musste ein Autor 77 fürchten, dass die Arbeit von Jahren in einer Nacht vernichtet werden könnte. Viele besaßen nur ein handschriftliches Exem plar. Fotokopien oder andere Speichertechniken waren damals noch nicht verfügbar. Selbst wenn ein Manuskript mit der Schreibmaschine geschrieben worden war, gab es bestenfalls eine oder zwei schlecht lesbare Kopien auf dünnem Papier. Die konnte man bei Alarm mit in den Luftschutzkeller nehmen. Aber selbst da waren sie gefährdet. Dass die Furcht vor einem Verlust nicht unbegründet war, geht aus einem Bericht von Harriet Wegener hervor, der aus dem gleichen Monat wie der Hilferuf Ilse Tönnies’ stammt. Das Manuskript zu »Herrlich ist die Erde« sei verbrannt, notiert sie. Möglicherweise habe Tönnies in Berlin ein Duplikat gehabt, sie könne es aber nicht finden. Ihre einzige Hoffnung bestehe darin, dass es zusammen mit anderen wichtigen Papieren, Archivmaterial und Manuskripten nach Hohenhaus ausgelagert worden sei. Dorthin wurde aus Hamburg und Hannover während des Krieges kistenweise unersetzliches Material evakuiert – immer in der Hoffnung, dass es nicht unterwegs im Postlager oder Zug verbrannte. Im Keller des Gutshauses war die Chance größer, Manuskripte, Fotos oder deren Negative über den Krieg zu retten als in den vom Bombenkrieg heimgesuchten Großstädten. Doch es war schwierig, in den hastig zusammengepackten Kartons einzelne Dokumente bei Bedarf wiederzufinden. Tönnies selbst hatte Glück im Unglück. Einer Freundin in Leipzig hatte sie nicht nur Silber und wertvolles Porzellan zur sicheren Aufbewahrung anvertraut, sondern auch ein noch unveröffentlichtes Manuskript, an dem sie lange gearbeitet hatte. Sie hoffte, dass es in Leipzig sicherer aufgehoben sei als in Berlin. Doch das Haus wurde bei einem Angriff schwer getroffen. Die Freundin und ihre Mutter kamen nur knapp mit dem Leben davon. Silber und Porzellan waren verloren. Das Manuskript dagegen blieb unbeschädigt. Die Freundin hatte 78 es am Tag vor dem bis dahin schwersten Angriff auf die sächsische Stadt zu Verwandten aufs Land gebracht. Wie schwierig es geworden war, unter den herrschenden Ver hältnissen weiterzuarbeiten, macht auch ein Vorschlag deutlich, den Harriet Wegener ihren Verlegern ein Jahr vor Kriegs ende unterbreitete. Sie fragte, »ob wir nicht gewisse Bücher auch ohne Papierbewilligung setzen und notfalls matern lassen wollen, trotz der Mehrkosten, als Kapitalanlage. Es müssen natürlich Bücher sein, von denen man annimmt, dass sie auch nach dem Krieg gut gehen.« Allerdings fielen geeignete Manu skripte oder bereits gematerte Texte immer wieder Bombenangriffen zum Opfer. Es verschwanden oder verbrannten nicht nur Manuskripte, sondern es wurden auch immer weniger Texte zu Papier gebracht. Von Jahr zu Jahr gestaltete sich die Suche nach geeigneten Autoren schwieriger. »Niemand hat mehr die Ruhe und die Konzentration, und von den Jüngeren werden immer mehr eingezogen«, klagte Tönnies 1943. Viele der bewährten Autoren kamen auf den Schlachtfeldern um. Andere wurden Opfer des Bombenkrieges. So machte sich Harriet Wegener wenige Monate vor Kriegsende große Sorgen um ihren Autor Walter Erben. Er hatte einen schweren Bombenangriff überlebt, aber der Staub der zertrümmerten Häuser hatte seine Lungen so sehr geschädigt, dass er in einem Lazarett an der niederländischen Grenze behandelt und mit Morphium versorgt werden musste. Seit es dort zu Gefechten gekommen war, hatte man in Hamburg kein Lebenszeichen mehr von ihm erhalten. Eine Nacht in der Hölle Um dennoch neue Autoren zu finden, resignierende zu ermutigen, sich nach dem Stand der Arbeit zu erkundigen und neue Pläne zu besprechen, machte Ilse Tönnies auch während des Krieges regelmäßig Rundreisen zu den von ihr betreuten Mit79 arbeitern des Verlags. Selbst im vierten Kriegsjahr verzichtete sie nicht auf diese Autorenbesuche, obwohl »auf Reisen keine Dispositionen mehr möglich sind und man von tausend Zufällen und widrigen Umständen abhängig ist«. Es war ein besonders widriger Zufall, dass Tönnies bei einer ihrer Motivationstouren im Juli 1943 ausgerechnet in der Nacht in Köln war, als die Stadt einen Angriff erlebte, der alle vorherigen Bombardements als kleine Vorübungen erscheinen ließ. Sie hatte in der Domstadt übernachten müssen, weil sie in Bonn, wo sie einen ihrer Schützlinge hatte treffen wollen, keine Unterkunft gefunden hatte. Statt in Köln hätte sie allerdings auch gleich in der Hölle nächtigen können. Über Harriet Wegener erfuhr Kurt Ganske, wie Ilse Tönnies jene Nacht erlebte und überlebte: »Sie konnte sich aus dem Keller des brennenden Hotels ›Zur ewigen Lampe‹ eben noch auf den Platz davor retten, wo sie sich von zwei Uhr nachts bis morgens um sieben Uhr aufhalten musste, weil die Seitenstraßen lichterloh brannten. Ihr ganzes Gepäck ist verbrannt. Sie fuhr ohne Hut und Gepäck auf dem Dampfer nach Bonn, da die Eisenbahn ausfiel, und brachte sich bei Prof. Rothacker halbwegs in Ordnung. Jetzt liegt sie in Berlin im Bett. Ihre Augen waren angegriffen von den Phosphordämpfen.« Tönnies blieb nicht lange im Bett, obwohl ihr das Maschineschreiben noch schwerfiel. »Die Schrecknisse dieser schauri gen Kölner Nacht können ja nicht spurlos verwischen. Wenn Ihnen in Hamburg und uns in Berlin noch bevorsteht, was ich in der Nacht durchgemacht habe, dann wird wohl nicht viel Brauchbares von uns übrigbleiben«, schrieb sie an Christensen. Nach dieser hellsichtigen Bemerkung ging sie zum Geschäftlichen über und berichtete dabei auch über die letzte Station ihrer Reise. Die Fahrt nach Bonn habe sie ihren »erschöpften Kräften noch abgerungen, denn es hätte mich zu sehr gekränkt, wenn nicht das Wesentlichste meiner Reise erledigt worden wäre«. 80 Obwohl trotz solcher Erlebnisse in Hamburg und Berlin so gut es ging nach dem Prinzip business as usual verfahren wurde, litt die Verlagsarbeit immer stärker unter den Folgen des Krieges. Schon im Mai 1941 hatte Wegener nach Berlin berichtet, dass es einige Nächte lang sehr ungemütlich gewesen sei. »In der letzten Alarmnacht hat es uns die Haustür herausgerissen und einige Fenster zertrümmert.« Das war sehr zurück haltend ausgedrückt. Da das Haus im Papenkamp nicht unterkellert war und Harriet Wegener und ihre alte Mutter sich nur mit ihren Bettdecken schützen konnten, wenn es in der Nähe krachte, müssen den beiden die Splitter um die Ohren geflogen sein, als die Scheiben platzten. Wegen Blindgängern im Garten war der Zugang zum Haus tagelang gesperrt, was das Leben ebenso erschwerte wie der Mangel an Handwerkern, die die Schäden am Haus hätten beheben können. Deshalb entschuldigte sich Harriet Wegener dafür, dass sie mit der letzten Überarbeitung einer deutsch-italienischen Übersetzung nicht so schnell vorankam, wie sie gehofft hatte. Nachdem es in den ersten Kriegsjahren noch relativ ruhig geblieben war, traf der Bombenkrieg 1943 auch die Hansestadt mit voller Wucht. Wenige Tage nach dem Kölner Horror ging am 24. Juli über Hamburg ein Feuersturm hinweg, wie ihn kaum jemand in der Stadt für möglich gehalten hatte. Doch schon zwei Tage später schaffte es Harriet Wegener, ihrem Chef einen ersten Bericht über das Ausmaß der Zerstörungen zu schicken – ungewiss, ob ihn die Nachricht überhaupt erreichen werde: »Wir haben Glück gehabt, wir und das Haus sind heil, aber Herr Christensen ist völlig ausgebrannt.« Das galt auch für zwei Mitarbeiter, über deren Schicksal sie schon etwas in Erfahrung bringen konnte. Um festzustellen, ob der Verlag und die Grüne Mappe noch standen, war Wegener mit dem Rad in die Innenstadt gefahren, zweimal von erneutem Bombenalarm unterbrochen. Als sie das Büro erreichte, das damals die Adresse Alsterufer 16 hatte, war schon 81 wieder Alarm, die meisten Leute im Keller und die Tür zu den Büroräumen verschlossen. Aber immerhin existierte das Haus noch. Sie wollte an diesem Tag eigentlich auch noch zur Grünen Mappe radeln, was aber bei dem andauernden Tagesalarm, vereinzelten Bombenabwürfen und fortwährendem Flakfeuer zu viel Zeit gekostet hätte. Wie sich später herausstellte, hielten sich wie durch ein Wunder auch beim Lesezirkel die Schäden in Grenzen. Sie bat Ganske um Verständnis, dass sie während der nächsten zwei Tage »das Experiment einer Fahrt in die Innenstadt« nicht wiederholen wollte. Der etwa zehn Kilometer lange Weg führte nämlich »mitten durch die übelste Gegend. Bahrenfeld und Altona. Es gibt da eigentlich nur Trümmer.« Dennoch war Harriet Wegener schon am nächsten Tag erneut im Verlag. Am 27. Juli schrieb sie ihrem Verleger, von dem sie nicht wusste, ob, wann und wo er ihre Briefe erhalten würde: »Ich nehme an, dass Sie schon Verschiedenes über den furchtbaren Angriff auf Hamburg in der Sonnabendnacht gelesen haben, ein Angriff, der auch in dieser Stunde noch nicht aufgehört hat. Die Verwüstungen sind beispiellos; ein Drittel von Hamburg-Altona ist ein Trümmerhaufen, und das Bild der Innenstadt ist trostlos. Man muss dort dauernd in einer dicken Staubwolke gehen.« Gas, Wasser und Elektrizität gab es nur in Ausnahmefällen. Die meisten Telefonverbindungen waren gekappt, die öffentlichen Verkehrsmittel funktionierten nicht mehr. Es war kaum möglich, mit Verwandten, Bekannten oder Kollegen aus der Firma Verbindung aufzunehmen, um zu erfahren, ob sie den Feuersturm überlebt hatten. Deshalb machte sich Harriet Wegener auch am nächsten und übernächsten Tag wieder per Fahrrad auf den Weg, um festzustellen, ob vom Verlag und Lesezirkel nach weiteren schweren Angriffen etwas übriggeblieben war. Bis sie ihr Ziel erreicht hatte, musste sie sich jedes Mal durch dicke Staubwolken und beißenden Qualm kämpfen. Sie musste ihr Rad über Trümmerberge schieben und Bombenkratern 82 ausweichen. Dabei kam sie einmal nur knapp mit dem Leben davon. Passanten bewahrten sie im letzten Moment durch laute Warnrufe davor, auf ein am Boden liegendes Starkstromkabel zu treten. Aber sie schaffte es, bis in die Innenstadt zu kommen, und begann zwei Tage nach dem Inferno zusammen mit einer Sekretärin und einem Boten, die ebenfalls schon wieder zum Dienst erschienen waren, mit den Aufräumarbeiten. »Ich versuche, einige Stunden so gut wie möglich die evtl. vorkommenden wichtigen Aufgaben zu erledigen. So lange die Angriffe andauern – Tag und Nacht gehen die Sirenen –, ist natürlich an einen normalen Geschäftsgang nicht zu denken.« Sie bat zugleich um Verständnis, wenn sie nicht immer den ganzen Tag im Büro verbringe, sondern stattdessen »ein wenig Arbeit« mit nach Hause nehme. Auch dafür, dass sie »einige der früher besprochenen Dinge zurzeit etwas willkürlich und langsam in Angriff nehme«, bat sie Ganske um Nachsicht. Vier Tage später versuchte sie erneut, den Chef über die Lage in Hamburg zu informieren: »Ich weiß zwar weder, ob Sie leben, noch ob Sie dieser Brief erreicht, da ja auch in Hannover ein schwerer Angriff war.« Doch sie hatte immerhin ein paar gute Nachrichten. Nach der dritten großen Angriffswelle hatte sie es endlich geschafft, bis zur Grünen Mappe vorzudrin gen. Obwohl es ringsherum immer noch brannte, ragte das Chilehaus weitgehend unversehrt aus den Trümmerbergen heraus. Nur die Scheiben waren infolge des enormen Luftdrucks zerborsten. Es dauerte oft lange, bis diese Briefe den Adressaten erreich ten. Daher wussten Kurt Ganske und Ilse Tönnies, die sich Anfang August in Berlin zu einer Besprechung trafen, zu diesem Zeitpunkt immer noch nicht, ob ihre Kollegen und der Partner das Inferno überlebt hatten. »Nach unserer traurigen Unter redung … sind nun wieder Tage vergangen und noch immer keine Spur von Herrn Christensen, noch von den anderen Mitarbeitern des Verlags«, schrieb Tönnies verzweifelt an Ganske. 83 Auch von Frl. Dr. Wegener habe sie keine Nachricht. »Wenn Sie nicht inzwischen etwas von Ihrem Mitarbeiter hörten, der nach Hamburg ging, entschwindet mir bald die letzte Hoffnung.« Doch dieser Mitarbeiter konnte ihr in einem Brief vom 6. August immer noch nichts Konkretes über das Schicksal des Verlags und seiner Mitarbeiter berichten. Im Gegensatz zu Harriet Wegener hatte er es nicht geschafft, sich bis zum Alsterufer durchzukämpfen. Am 9. August versuchte es Harriet Wegener mit einem Telegramm: »Christensen ausgebombt … wahrscheinlich in Dänemark.« Doch auch diese Nachricht kam nie in Berlin an. Martinus Christensen hatte sich ebenfalls sofort bemüht, seinem Partner ein Lebenszeichen zu geben. Da er weder telefonisch durchkam noch ein Telegramm abschicken konnte, versuchte auch er es mit einem Brief – der aber erst Wochen später ankam. Noch während des Angriffs, »der zu dieser Stunde noch nicht aufgehört hat«, teilte er darin mit, »dass das Alsterufer 16 noch intakt ist«. Er selbst habe seine Wohnung mit allem, was darin war, verloren. Auch die Mitarbeiter Ketelsen und Fusz seien total bombengeschädigt. Vier Tage später folgte ein zweiter Brief an Ganske. »Da Hamburg eine Ruinenstadt ist und mit weiteren Großangriffen gerechnet wird, um noch den Rest der Stadt zu zerstören, verlasse ich heute Hamburg. Ich will versuchen, mit meiner Frau zu meinen Verwandten in Nordschleswig zu kommen. Sobald sich die Lage in Ham burg beruhigt hat – ich rechne mit 8 bis 14 Tagen –, werde ich sofort wieder hier sein.« Mit Hammer, Besen und Schaufel Die Hoffnung, dass sich die Lage wieder bessern werde, erfüllte sich nicht. Das Gegenteil war der Fall, wie ein Lagebericht zeigt, den Harriet Wegener Ende August ihrer immer noch von Angst und Ungewissheit geplagten Kollegin nach 84 Berlin schickte. Da man mit den überfüllten öffentlichen Verkehrsmitteln ein paar Stunden brauche, fahre sie nach wie vor mit dem Fahrrad in den Verlag, was aber sehr anstrengend sei, schreibt sie. »Besonders die ersten Male (ich war nach jedem Angriff dort) war es eine ziemliche Tortur, denn vom Stadt gürtel an verschwand die Sonne in Staub und Rauchwolken, so dass man manchmal absteigen musste, weil man seinen Weg nicht sah. Die Häuser brannten zum Teil noch, die Straße lag so voll Glas, dass man das Rad häufig tragen musste.« Die fast unersetzlichen Reifen und Schläuche durften nicht zerschnitten werden. Ständige Tagesalarme zwangen Wegener dazu, in »irgendwelche grässlichen Keller zu gehen«, und hinderten sie daran, all das zu erledigen, was sie sich für den Tag vorgenommen hatte. Ihr Weg in die Innenstadt führte sie durch die besonders schlimm getroffenen Stadtteile Bahrenfeld und Altona. »Durch diesen Gürtel des Grauens musste man sich jedes Mal durcharbeiten.« Der Anblick erinnerte sie an die Bilder von Stalingrad in der Wochenschau. »Es gibt da eigentlich nur Trümmer.« Beim Verlag hatte sie zunächst vor verschlossenen Türen gestanden, da weder Christensen noch sonst jemand anwesend war. Sie radelte dann weiter zur Grünen Mappe, um auch dort nach dem Rechten zu schauen. Erst als Wegener nach der dritten großen Angriffswelle abermals in die Stadt fuhr, um nachzusehen, ob der Verlag immer noch existierte, fand sie eine durch den Luftdruck aufgesprengte Tür und konnte sich in den Räumen umschauen. In Christensens Büro waren alle Scheiben zerborsten. Aus den meisten anderen Fenstern war das Glas ebenfalls herausgeflogen. Und »es war kein Stück Pappe, kein Hammer, kein Nagel, kein Besen zu finden. Dass außer Frau Wille niemand mehr da war, wusste ich nicht … Ich rückte die Schreibtische weg, rollte den Teppich auf, nahm die weißen Gardinen herunter und ließ das Verdunklungsrollo herunter, um den Regen abzuhalten. Mehr konnte ich im Au85 genblick nicht tun. Bei einem meiner nächsten Besuche gelang es mir aber, Verbindung mit Frau Wille zu bekommen. Wir verabredeten uns, haben Ordnung geschafft und alles reingemacht. Vorher hatte ich erreicht, dass von der Grünen Mappe Leute herüberkamen, welche die Fenster abgedichtet haben. Außerdem haben wir Bücher, Akten, das Archiv und überhaupt so viel wie möglich in die Schränke gestopft gegen den infernalischen Staub und Dreck. In Hamburg läuft ja immer noch kein Wasser, so dass man nach solchen Arbeiten dreckig, wie man ist, nach Flottbek radeln muss. Außerdem musste man Schaufel, Besen, Staubtuch und Hammer mitbringen … Frau Wille hat nach Aufforderung ganz nett geholfen. Im Allgemeinen litt sie aber an der allgemeinen Krankheit, der Stimmung: Es hat ja doch keinen Zweck, beim nächsten Angriff geht doch alles entzwei. Es ist eine Stimmung, gegen die ich überall angekämpft habe. Warum das wenige Gerettete auch noch verkommen lassen?« Der Verlag war ähnlich wie die Grüne Mappe wieder einmal davongekommen – allerdings bot sich ringsherum ein grauenhaftes Bild. Um ihrer Kollegin Tönnies eine Vorstellung von der Lage in Hamburg zu geben, nannte Harriet Wegener ihr Zahlen, die offiziell nicht veröffentlicht werden durften. »Von dem Maß der Zerstörung machen Sie sich schwerlich einen Begriff. Obdachlose haben wir zwischen 800 000 und einer Million, Tote zwischen 65 000 und 100 000. Beides sind Schätzungen aus sehr guter Quelle.« Die Briefkästen seien zwar weiterhin entleert, die Post aber fast vier Wochen lang nicht zugestellt worden, schreibt sie. Es gäbe daher keine andere Möglichkeit, als nach jedem Angriff mit dem Rad durch die Stadt zu fahren, um persönlich nachzusehen, ob Freunde, Bekannte oder Kollegen noch lebten. »Ich weiß noch heute von vielen Menschen nicht, wo sie sind. Unzählige suchen ihre Angehörigen.« Heute wissen wir, dass die Schätzungen »aus guter Quelle« unter dem Eindruck des Grauens zu hoch gegriffen waren. 86 Aber wir wissen auch, dass allein zwischen dem 24. Juli und dem 3. August 1943 im Rahmen der Operation Gomorrha sieben schwere Bombenangriffe stattfanden, bei denen über 32 000 Menschen umkamen und 263 000 Wohnungen zerstört wurden. Es gab jedoch auch Positives zu vermelden: »Die Verpflegung war sehr gut. Milch und Gemüse oder Obst gab es reichlich.« Wer die Zeit hatte, in der Stadt herumzufahren, konnte sogar »phantastisch einkaufen. Aber ich gehörte nicht zu den Glücklichen. Nur den relativen Obst- und Gemüsereichtum habe ich dazu benutzt, noch etwas einzumachen, da ich ja im Winter für vier bis fünf Personen statt für zwei bis drei sorgen muss.« Das bezog sich auf die Ausgebombten, die in ihr bis dahin nur wenig beschädigtes Haus eingewiesen wurden. Zur allgemeinen Stimmung merkte sie an, sie sei »erstaunlich ruhig. Die Ausgebombten, auch die, denen Frau und Kinder in den Armen gestorben sind, gehen ruhig an ihre Arbeit.« Viele seien geflohen, daneben erlebe man aber immer wieder Beispiele »von außergewöhnlichem Pflichtgefühl«. Die Sekretärinnen des Verlags zeigten ebenfalls Nerven und Pflichtgefühl – und was Menschen zu ertragen in der Lage sind: »Fräulein Fusz und Frau Wille sind noch in dem Zustand, dass sie jede Nacht bis drei Uhr im Bunker auf Holzbänken sitzen. Sie kommen aber trotzdem regelmäßig morgens brav zur Arbeit.« Zu Christensens Adresse konnte sie der Kollegin nur mitteilen, wo er in Dänemark unterkommen wollte. Sie konnte vor seinem Weggang nicht mehr mit ihm sprechen, und er hatte ihr auf seinem Schreibtisch auch keine Anweisungen oder Nachrichten hinterlassen. Dieser Brief erreichte Ilse Tönnies offenbar ebenso wenig wie das Telegramm. Deshalb verstand Harriet Wegener zunächst auch nicht, warum drei Wochen nach den Bombardements erneut ein völlig verzweifeltes Schreiben aus Berlin eintraf. »Wir sind doch alle hier seit mehr als einer Woche wieder 87 in Arbeit«, antwortete sie, als hätte es sich nur um einen kleinen Zimmerbrand gehandelt. Zwar habe sie sich in den ersten Tagen vor allem um die Ausgebombten kümmern müssen und sei dann herumgefahren, um festzustellen, »was an Druckereien und Spediteuren noch heil war«. Aber jetzt lese sie schon wieder Manuskripte. Tönnies war endlich beruhigt. Sie hatte schon versucht, sich ein Auto zu beschaffen, um selbst in Hamburg nachzusehen, was aus dem Verlag und den Menschen geworden war, »weil ich mir schon die schlimmsten Bilder vorstellte und kaum noch schlief«. Kurt Ganske dagegen schaffte es schließlich, nach Hamburg zu kommen. Er ließ sich von Harriet Wegener und Filialleiter Nicodemus, dem Chef der Grünen Mappe, über die noch bestehenden Arbeitsmöglichkeiten im Verlag und in der Zentrale des Lesezirkels informieren und besuchte die Außenstellen. Mit einem noch brauchbaren Lieferfahrzeug fuhr er am 13. August durch die Ruinenlandschaft, die von der Hansestadt übriggeblieben war. Er wollte einen Eindruck vom Ausmaß der Zerstörung gewinnen und prüfen, wie eine Zustellung der Mappen an die noch bestehenden Adressen organisiert werden könnte. Harriet Wegener versuchte, ihm Mut zu machen. Das Bild, das er gewonnen habe, sei wohl schlimmer als die Realität. »Es werden doch viele, die ausgebombt sind, Leser bleiben.« Ilse Tönnies wird es nicht schwergefallen sein, sich eine Vorstellung von der Hölle zu machen, durch die die Hamburger während der tagelangen Angriffe gegangen waren. Sie hatte nach Köln auch in Berlin schon manchen Angriff erlebt. Erst war ihre gesamte Hauswäsche in der Waschanstalt verbrannt, dann das in Leipzig untergestellte Porzellan und Familiensilber vernichtet worden. Ihre Wohnung in Wilmersdorf wurde zweimal getroffen, ehe sie völlig ausgebombt wurde. Vier Wochen nach den Angriffen auf die Hansestadt musste sie selbst eine »Bombennacht im Stile Hamburgs« durchstehen. Anders als dort durfte sie sich aber nicht wenigstens kurzfristig über 88 eine »phantastische Versorgung« freuen, sondern lebte mit ihrer Familie tagelang von rohen Haferflocken. Doch fast noch mehr als um ihre Angehörigen sorgte sie sich um den Fortbestand des Verlags. Sie lebte in der ständigen Angst, dass mit den Büroräumen auch sein geistiges Vermögen in Flammen aufgehen könnte. Es trieb sie die Sorge um, dass Manuskripte und Adressen, die sorgsam aufgebaute Kartothek, wertvolle Fo tos und deren Negative, in Kriegszeiten kaum wiederbeschaffbare Bücher und Nachschlagewerke ein Raub der Flammen werden könnten. Immer wieder beschwor sie Christensen und Ganske, das Berliner Lektorat ebenso wie den Verlag in Hamburg zu evakuieren. Sie bettelte geradezu darum, Mitarbeiter und Archive in kleineren und – wie sie meinte – sichereren Orten unterzubringen. Doch Christensen hatte ihre Vorschläge immer wieder abgelehnt. »Ich würdige selbstverständlich Ihre Bedenken«, schrieb er ihr schließlich im September 1943 nach Berlin. »Aber trotz allem ist an meinem Entschluss, hierzubleiben, nicht mehr zu rütteln.« Er war zu diesem Zeitpunkt überzeugt, dass es »keine Gegend in Deutschland gibt, die sicher ist«. Er verwies auf die vielen Evakuierten, die die Stadt panikartig verlassen hätten, es aber inzwischen bitter bereuten, da sie es draußen auf dem Land nicht lange aushielten, schlecht versorgt würden und keine Bleibe finden könnten. Bei einer Flucht müsse man damit rechnen, dass es in den nächsten fünf bis zehn Jahren keine Chance für eine Rückkehr geben werde. »Ich will ehrlich bekennen, dass ich nicht die geringste Lust verspüre, diese Jahre meines Lebens in irgendeinem kleinen, langweiligen Ort zuzubringen.« Der Ausgebombte, der nach wenigen Wochen aus dem sicheren Dänemark zurückgekehrt war, harrte lieber inmitten der Trümmer Hamburgs aus. Tönnies musste sich fügen – und tat es dennoch nicht. »Es lässt mir keine Ruhe, dass das gesamte Material des Verlags, das Hamburger und das Berliner, auf Messers Schneide steht, 89 das eine in einer Stadt, die schwerstgeschädigt und noch nicht aus der Gefahr ist, das andere in einer, die unter der unmittelbarsten und schwersten Bedrohung steht«, schrieb sie schließlich Christensen. »Nach dem totalen Schweigen aus Hamburg, das Herrn Ganske und mir die größten Sorgen machte, habe ich das Berliner Material in einem Tempo, bei dem es kaum Atem und Schlaf gab, zusammengepackt und geordnet.« Einen Teil hatte sie im Zentrum untergestellt, einen anderen in ihrem neuen Domizil in Berlin-Nikolassee in den Keller geschafft. »Ich arbeite mit dem nötigsten Material aus einem Koffer, den ich jeden Tag sprungbereit halte.« Das hatte sich inzwischen auch Harriet Wegener angewöhnt, die ebenfalls »jeden Abend einen größeren Koffer packt«. Ilse Tönnies war froh, eine Möglichkeit gefunden zu haben, ihren Arbeitsplatz aus der besonders gefährdeten Innenstadt in einen Vorort zu verlegen, der dem Bombenhagel nicht so heftig ausgesetzt war. Ein anderer Verlag war dem an alle Einwohner gerichteten Aufruf der Behörden gefolgt, die Stadt so schnell wie möglich zu verlassen. Der Verlagsleiter hatte ihr angeboten, seine Villa in Nikolassee während der Zeit der schwersten Bedrohung zu beziehen. Das war eine Chance, die Tönnies sofort ergriff – ohne vorher in Hamburg nachzufragen und ohne zu ahnen, welche Folgen das später für sie haben sollte. Der Geheimplan Trotz der mit Pappe vernagelten Fenster und der ständigen Angst vor neuen Bombardements wurde in Berlin und Hamburg nicht nur darüber nachgedacht, wie man neue Buchprojekte durch die Zensur bringen, verbrannte Bücher nachdrucken und dafür Papier beschaffen könne oder welche Literatur wohl für die Zeit nach dem Krieg geeignet sei. Harriet Wegener hatte daneben auch noch einen »Geheimauftrag«. Auch Ilse 90 Tönnies arbeitete daran mit, allerdings ohne genau zu wissen, worum es dabei wirklich ging. Kurt Ganske hegte nämlich die Absicht, aus dem Buchverlag Hoffmann und Campe auch einen Zeitschriftenverlag zu machen. Vielleicht war dies von Anfang an ein Motiv für den Erwerb der Beteiligung an HoCa gewesen. Möglicherweise war es sogar das wichtigste Ziel. Denkbar, dass ihm der Gedanke auch erst später gekommen ist. Seinen Kompagnon Martinus Christensen jedenfalls weihte er bis Ende des Krieges nicht in diese Pläne ein. Dafür, dass er sich bei seiner Beteiligung an Hoffmann und Campe von vorneherein mehr vorgenommen hatte, als nur Bücher zu produzieren, spricht aber eine Klausel im Vertrag. Danach war keiner der beiden Partner verpflichtet, sich an neuen Projekten zu beteiligen, wenn er dazu aus finanziellen oder anderen Gründen nicht bereit oder in der Lage war. Der Kauf eines Zeitschriftenverlags war ein solcher Fall. Er hätte die Möglichkeiten von Martinus Christensen bei weitem überschritten. Harriet Wegener dagegen wurde schon früh in die Pläne ihres Chefs eingeweiht und dafür eingespannt. Ihr gab er den Auftrag, sich diskret nach geeigneten Objekten – wie etwa dem Türmer – umzusehen. Was er ihr mündlich schon gesagt hatte, schärfte er ihr Anfang September 1943 noch einmal schriftlich ein: »In der Türmer-Angelegenheit bzw. überhaupt in der Zeitschriftenfrage liegt mir vor allen Dingen daran, dass Lesezirkel- und Zeitschriftenverlegerkreise, die mit Lesezirkeln zu tun haben, nichts über meine Absichten erfahren. Ich bin mir darüber klar, dass auf die Dauer keine Sicherheit gegeben ist, mein Vorhaben zu verheimlichen. Ich bin aber bemüht, mich so zu verhalten und die eingeweihten Personen zu einem gleichen Verhalten zu veranlassen, dass die interessierten Kreise nicht informiert werden. Wenn nun also von Ihnen mit Persönlichkeiten über Zeitschriftenvorhaben des Hoffmann und Campe Verlags gesprochen wird, ohne dass ein Zusammen91 hang mit dem Lesezirkel bzw. mit mir besonders erwähnt wird, so sehe ich eigentlich keine Bedenken, es sei denn, es handelt sich bei den Persönlichkeiten um Fachleute, die das Gebiet und die Zusammenhänge übersehen.« Im Klartext: Kurt Ganske suchte nach eigenen Zeitschriften für seine Lesemappe. Er wollte nicht auf Dauer vom Wohlwollen anderer Verleger abhängig sein. Die Sorge, dass sie ihn irgendwann nicht mehr beliefern oder ihre Preise so erhöhen könnten, dass das Geschäftsmodell des Lesezirkels nicht mehr funktionieren konnte, trieb ihn zeitlebens um. Er wollte natürlich nicht, dass ein verkaufswilliger Zeitschriftenverleger dieses Motiv von vorneherein durchschaute. Das wäre preistreibend gewesen. Noch weniger wollte er, dass seine Pläne vorzeitig in der Branche bekannt wurden. Das hätte sie schnell zunichte machen können. Denn dass sich bei den Konkurrenten sofort Widerstand formieren würde, war so sicher wie das Amen in der Kirche. Sie hätten nicht tatenlos zugesehen, wie die ohnehin überragende Stellung von Daheim weiter ausgebaute wurde. Eine Intervention bei der dem freien Wettbewerb ohnehin abholden Reichsschrifttumskammer hätte Kurt Ganskes Bemühungen um mehr Unabhängigkeit und Diversifikation sicherlich schon im Keim erstickt. Trotz aller Geheimhaltung ließ es sich nicht vermeiden, Ilse Tönnies in die Suche nach geeigneten Objekten einzuschalten. Berlin war nicht nur die Hauptstadt des Reiches, sondern auch Mittelpunkt der Zeitschriftenproduktion. Dort war am ehesten ein geeignetes Objekt zu finden. Da Tönnies aber nicht wirklich eingeweiht wurde und das eigentliche Ziel nicht kannte, war sie nur halbherzig bei der Sache. Sie suchte eher nach Zeitschriften, die zur literarischen Tradition des Verlags passten als in die Mappe eines Lesezirkels und entwickelte zum Missfallen von Ganske und Wegener eigene Pläne, mit denen deshalb wenig anzufangen war. Aus diesem Grund wurde Harriet Wegener Anfang Oktober 1943 etwas deutlicher. Sie erklärte 92 der Berliner Kollegin, dass man bei der Zeitschriftenfrage unbedingt weiterkommen müsse, zum einen, »weil Herr Ganske sie mir als Dringlichstes ans Herz gelegt hat«, zum anderen, »weil mir eine durch den Lesezirkelabsatz gesicherte Zeitschrift tatsächlich für den Verlag in den schweren Zeiten, denen wir entgegengehen, etwas sehr Positives zu sein scheint«. Doch es half nichts. Ilse Tönnies muss aus Berlin melden, dass ihre Bemühungen auf diesem Gebiet bisher fruchtlos geblieben waren. Niemand wolle verkaufen. Nach der Katastrophe von Leipzig glaubte sie außerdem, dass es nur noch Papier »für Zeitschrif ten mit staatlicher Initiative« geben werde, also für Propagandablätter. Ein Hauch von Merian Harriet Wegener selbst war auch unschlüssig, welche Blätter überhaupt in Frage kommen könnten. Eine Zeitschrift wie Der Goldene Born fand sie für den Geschmack des damaligen Publikums »zu brav, gesinnungstüchtig und innerlich«. Man müsse es zu einem Mittelding zwischen ihm und der Deutschen Rundschau machen, sinnierte sie. Am Türmer hatte ihr ein Beitrag über Heine missfallen, »der an unsachlichem Antisemitismus nichts zu wünschen übrig ließ«. Der Gedanke einer Romanzeitschrift, die aber nicht Schnulzen drucken, sondern zu einem Blatt wie der Europäischen Literatur ausgebaut würde, in der Besprechungen erscheinen sollten und die auf junge Au toren aufmerksam machen würde, gefiel ihr dagegen sehr. Doch das war sicher auch nicht das, was Kurt Ganske für seine Lesezirkelmappen suchte. Obwohl der Bombenkrieg kein Ende nahm und bis zur Kapitulation kaum ein Tag verging, an dem die Arbeit oder der Schlaf nicht mehrfach durch Luftalarm unterbrochen wurde, schmiedeten Kurt Ganske und Harriet Wegener weiter an Zukunftsplänen. Dabei deutete sich schon an, welche Richtung 93 der Verleger einschlagen wollte – und es nach dem Krieg mit seinem Jahreszeiten Verlag auch tatsächlich tat. Bei Konferenzen in Hohenhaus, in Telefonaten und Briefen wurden bereits Titel genannt, wenn es um die Zeitschriftenpläne ging. In einer Zeit, in der Millionen Familien Heim und Heimat verloren hatten und täglich weitere Wohnungen in Schutt und Asche fielen, diskutierten Ganske und Wegener unverdrossen über einen Titel wie Die Frau und ihr Heim und darüber, wie ein solches Blatt ein ganz eigenes Gesicht bekommen könnte. Sie machten sich Gedanken, wie man sich vom genormten Bildmaterial der Agenturen durch die Beschäftigung eigener Fotografen unabhängig machen könne, die zeitnah und in direk tem Zusammenhang mit den geplanten Themen nach Motiven suchen sollten – und zwar »unter dem Gesichtspunkt dessen, was wir wollen«. Mit einer Fotografin, der sie das zutraute, und auch mit einer geeigneten Redakteurin war Harriet Wegener bereits im Gespräch. Die Aspirantin war ehemals Direktorin der staatlichen Schule für Frauenberufe gewesen und hatte ebenso wie Wegener 1934 ihren Arbeitsplatz verloren, weil sie »nach Gesinnung und Konnexionen nicht genehm war«. Wegener wusste natürlich auch, dass sich konkrete Pläne für die Ausgestaltung der Zeitschrift zu diesem Zeitpunkt noch nicht machen ließen, »weil man nicht so recht weiß, wie die Wirklichkeit aussieht, in die sie passen soll«. Im August 1944 war sogar von einer Reisezeitschrift die Rede. Für deren Redaktion interessierte sich ein kurz zuvor eingezogener 50-jähriger Leutnant der Reserve. Er hatte ein erfolgreiches Mittelmeerbuch als Referenz vorzuweisen und ging davon aus, dass er sich nach dem Krieg ohnehin für einen neuen Beruf entscheiden müsse. Ein Hauch von Merian wehte bereits durch die Zeilen, als Wegener mögliche Inhalte des Magazins skizzierte: Neben Landschaft, Architektur, bildender Kunst und Volkssitten sollte auch die Literatur der betreffen den Länder nicht vergessen werden, empfahl sie. Nach so viel 94 Elend sollten die Menschen wieder lernen, des Lebens schöne Seiten zu entdecken. Gegen Kriegsende gingen Briefe mit derartigen Überlegun gen meist nicht mehr nach Hannover oder Hohenhaus. Harriet Wegener und die Filialleiter mussten ihre Berichte an eine Feldpostnummer oder an die Daheim-Filiale in der Nähe einer Kaserne adressieren. Denn die Hoffnung, dass Kurt Ganske wie so viele andere Unternehmer vom Dienst an der Waffe verschont bleiben würde, weil er im Betrieb unentbehrlich war, hatte sich nicht erfüllt. Im September 1943 wurde er zur Wehrmacht eingezogen. Die Anträge auf Freistellung waren ebenso fruchtlos geblieben wie zuvor schon bei vielen seiner Führungskräfte, obgleich dabei die höchste Karte ausgespielt worden war, die man damals in der Hand hatte: »Von Seiten der Reichs pressekammer ist wiederholt auf die Anordnung des Führers hingewiesen worden, dass die gesamten Tageszeitungen gesichert bleiben sollen. Darüber hinaus wird auch immer wieder auf die Wichtigkeit der Presse in der gegenwärtigen Zeit hingewiesen«, versuchte man den obersten Götzen des Reiches für sich einzuspannen, um dann die Kurve zum eigenen Betrieb zu bekommen: »Hieraus ergibt sich, dass auch dem Vertrieb von Zeitungen und Zeitschriften eine besondere Bedeutung beizumessen ist.« Es half alles nichts. Nicht nur die Filialleiter, die noch nicht deutlich über 50 Jahre alt waren, wurden an die Front geschickt. Auch der 38-jährige Kurt Ganske wurde schließlich gezwungen, eine Uniform anzuziehen und als Gefreiter zu dienen. Der Chef von über 1300 Mitarbeitern musste sich plötzlich von Unteroffizieren und Feldwebeln herumkommandieren lassen, von denen er manche nicht einmal als Boten oder Lagerarbeiter eingestellt hätte. In der ersten Zeit konnte Ganske gelegentlich aus einer Telefonzelle vor der Kaserne Rat und Anweisungen geben, sich über Planungen und – immer häufiger – über Bombenschäden 95 informieren lassen. War wieder einmal eine Filiale von Daheim völlig verwüstet worden, bekam er als Betriebsführer meist ein paar Tage Sonderurlaub, um einen Notbetrieb zu organisieren. Ansonsten aber musste er sich darauf verlassen, dass die verbliebenen Mitarbeiter in seinem Sinne handelten. Manchmal blieb ihm während eines Urlaubs die Zeit, um rasch in Hannover, Hohenhaus oder Hamburg nach dem Rechten zu sehen, an Besprechungen teilzunehmen, seine Meinung zu geplanten Veröffentlichungen zu sagen oder über seine konspirativen Zeitschriftenpläne zu diskutieren. Manchmal gelang es jedoch nicht, die Mitarbeiter rechtzeitig von einem solchen Blitzbesuch zu informieren. Als er es im September 1944 bis Hamburg-Eidelstedt schaffte, erfuhr Harriet Wegener erst Tage später durch einen Brief davon. »Wie betrüblich, dass Sie mich nicht erreichen konnten, ich hätte ja herüberradeln können. Wie vieles wäre zu besprechen gewesen!« Unter anderem, dass der Verlag inzwischen geschlossen worden war. Sie hatte Kurt Ganske auch nicht erreichen können, als die amtliche Verfügung plötzlich in Hamburg im Briefkasten lag. Sie musste ihm die traurige Nachricht an seine Feldpostnummer schicken: »Nachdem vorgestern telefonisch aus Hohenhaus die höchst erfreuliche Nachricht kam, dass Sie im Augenblick nicht so gefährdet wären, wurde heute unsere Freude wieder gedämpft durch die Nachricht von der Schließung des Verlags.« Was die Bomben nicht vermocht hatten, sollte nun ein Stück Papier bewirken: ein abruptes Ende der Verlagsarbeit, das Ende aller Pläne, den Tod sämtlicher Projekte. »Die totale Mobilisierung erfordert den Einsatz aller Kräfte für den Sieg«, lautete der erste Satz der Verfügung, mit der der Präsident der Reichsschrifttumskammer am 26. August 1944 die sofortige Schließung anordnete. Das traf allerdings nicht nur Hoffmann und Campe, sondern mehr als 80 Prozent aller deutschen Verlage. Was Wegener vier Wochen vorher noch als eine vage Möglich96 keit betrachtet hatte, war plötzlich bittere Realität geworden und anscheinend unabänderlich. »Beschwerden gegen diese Schließungsverfügung sind nicht zulässig und können daher nicht bearbeitet werden«, hieß es barsch am Ende des kurzen Schreibens. Zwei Schreibmaschinen für den »Endsieg« Martinus Christensen und Harriet Wegener waren dennoch nicht bereit, sich widerstandslos zu fügen. Sie nutzten die unklaren und zum Teil widersprüchlichen Ausführungsbestimmungen, um die Abwicklung in die Länge zu ziehen. Christensen wollte versuchen, wenigstens die Bücher fertigzustellen, die bereits in der Herstellung waren. Wegener setzte darauf, dass sich einige Bürokraten bei aller Linientreue vielleicht einen Rest an Vernunft bewahrt hatten. Denn der Nutzen, den die Rüstungsindustrie aus der Schließung eines renommierten Verlags wie Hoffmann und Campe hätte ziehen können, war mehr als bescheiden. Wegener zählte offiziell nicht zu den Angestellten. Der Verleger Kurt Ganske und der Prokurist Johannes Rohrsen standen bereits im Feld. Christensen, der zweite Verleger, sowie der zweite Prokurist John Ketelsen waren längst ausgemustert. Der Verlagsbote, die Buchhalterin und eine Sekretärin waren zu alt, Ilse Tönnies zu krank, um noch an der Front oder in der Rüstungsindustrie eingesetzt zu werden. Außer einer Sekretärin und zwei alten Schreibmaschinen konnte der Verlag daher nichts zum »Endsieg« beitragen. Selbst für den Fall, dass die Sekretärin abgezogen und der zu diesem Zeitpunkt noch nicht betroffene Lesezirkel geschlossen werden sollte, hatte Harriet Wegener zusammen mit Christensen eine Rückzugslinie besprochen. Sie wollte sich dann als Stenotypistin bei Hoffmann und Campe einstellen lassen, da sie wegen ihres Alters für die Rüstungsindustrie nicht in Frage 97 kam. »Mein Gedanke dabei war, alles irgend mögliche zu tun, um den Verlag über Wasser zu halten«, schrieb sie per Feldpost an ihren inzwischen an einem gefährlichen Frontabschnitt im Osten eingesetzten Chef. »Wie Sie wissen, sind mir Prestigefragen nicht sehr wichtig.« Ilse Tönnies dagegen, die Christensen gern als freie Mitarbeiterin in der Statistik verstecken wollte, bestand darauf, in dem Fragebogen, den jeder Verlag ausfüllen musste, als »Lektorin und Sachwalter« des Verlags aufgeführt zu werden. Obwohl es an sich nicht zulässig war, stellte Christensen zunächst den Antrag, aus Gründen der offensichtlichen Unsinnig keit den Schließungsbefehl aufzuheben. Das wurde am 1. Dezember abgelehnt, verbunden mit der Mitteilung, dass über eine Verlängerung der Abwicklungsfrist erst Mitte des Monats entschieden werden könne. Damit waren seit Eingang der Verordnung immerhin schon fast vier Monate Zeit gewonnen. Harriet Wegener nutzte sie, um die Kreisverwaltung einzuschalten. Sie wandte sich an einen offensichtlich wohlwollen den Beamten, der ihr aus besseren Zeiten bekannt war, wie der Verzicht auf das sonst obligatorische »Heil Hitler« am Ende einer solchen Petition vermuten lässt. Nach der Aufzählung der minimalen Beiträge, die HoCa im besten Fall zum letzten Aufgebot des »größten Feldherrn aller Zeiten« leisten könnte, verwies sie auf die wesentlich höheren materiellen und immateriellen Schäden, die eine Schließung nach sich ziehen wür de. In den letzten Monaten des Krieges waren immerhin noch 15 Bücher in der Herstellung und 50 Manuskripte in Arbeit. Daneben wurden 63 Autoren betreut, und für 11 aktuelle Werke waren Übersetzungsrechte ins Ausland verkauft worden. Nicht nur die damit verbundenen Aufgaben hätten bei einer Schließung nicht mehr erfüllt werden können. Harriet Wegener scheute sich auch nicht, auf einen weiteren drohen den Verlust hinzuweisen: Nach dem Krieg wolle man in einer »den Traditionen unseres Verlags entsprechenden Art dem 98 Wiederaufbau dienen: dem Hamburgs, dem Deutschlands, dem Europas«. Dem um Hilfe gebetenen Dr. Lindemann gelang es tatsächlich, eine Verlängerung der Abwicklungsfrist bis zum 31. März 1945 zu erreichen. Wegener freute sich, dass das Gaupropagandaamt sogar bereit war, sich danach für eine weitere Verlängerung einzusetzen. Doch das erübrigte sich: Am 3. Mai wurde Hamburg von den Briten besetzt. Am 4. Mai meldete sich Radio Hamburg mit der britischen Nationalhymne und den Worten: »This is Radio Hamburg, a station of the Allied Military Government.« Jetzt waren andere für Genehmigungen zuständig. Selbst für diesen Fall hatte sich Harriet Wegener schon Monate vorher Gedanken gemacht. Obwohl sie bei einer Besetzung mit chaotischen Zuständen rechnete, wollte sie die Stadt nicht verlassen, hatte sie Kurt Ganske schon acht Monate vor der Kapitulation erklärt. Denn dann sei jede unbewohnte Wohnung vogelfrei. Auch wenn man wegen seiner irdischen Habe nicht das Leben riskieren dürfe, müsse man nicht nur wissen, wovor man fliehe, sondern auch, wohin. Da niemand vor seinem Schicksal davonlaufen könne, wolle sie »den Gefahren schon lieber auf der Schwelle meines Hauses begegnen. Jede Form von Weglaufen ist eine Beschäftigung, die mir ausgesprochen zuwider ist.« Sie nahm daher in den letzten Monaten des Krieges auch die wiederholten Einladungen von Gerda Ganske nicht an, wenigstens für einige Wochen zu ihr aufs Land zu kommen. »Ich kann mich nicht recht entschließen, hier wegzugehen«, schrieb sie der Frau ihres Verlegers. »Es wird stark auch mit einer Landung hier gerechnet, und dann muss jemand da sein, der die Entscheidungen trifft.« Kurt Ganske war dazu nicht in der Lage. Keine der beiden Frauen hatte zu diesem Zeitpunkt Kontakt zu ihm. Sie wussten nicht einmal, wo er eingesetzt war, ob er noch lebte oder in Gefangenschaft geraten war. Wegener nannte noch einen zweiten triftigen Grund 99 dafür, in Hamburg auszuharren: Es kamen zweimal Bohnen, die einmal eingeweckt und einmal eingesalzen werden mussten. Das hatte Gewicht in diesen Tagen. Als die Briten kamen, ging es zur großen Erleichterung der Bevölkerung doch nicht so chaotisch zu, wie Wegener ursprüng lich befürchtet hatte. Im Augenblick der Besetzung habe es zwar »einige Plünderungen gegeben, vor allem auch seitens der Fremdarbeiter, mit Ausnahme der Franzosen, die sich tadel los benommen haben«, berichtete sie. Aber alles in allem hiel ten sich die Übergriffe in Grenzen. So wie vorher das Leben trotz vieler Bombenangriffe und dem Heulen der Alarmsirenen weitergegangen war, normalisierte es sich auch nach der Besetzung schnell wieder – so weit dies in einer Stadt möglich war, in der ganze Wohnviertel als unbewohnbar abgesperrt worden waren. Im Verlag ging die Arbeit an ausgewählten Auszügen aus der Bibel ebenso weiter wie an Goethe- und HebelAnthologien. Die Korrekturen zu dem nunmehr dritten Versuch, die Moltke-Biographie auf den Markt zu bringen, wurden fertiggestellt, und die Arbeit an den Hamburger Lebensbildern wurde fortgesetzt. Allerdings hatten sich die äußerlichen Umstände nicht gerade verbessert. Die Verlagsräume, die bis dahin auf fast wundersame Weise trotz der Zerstörungen ringsum weitgehend intakt geblieben waren, hatten bei einem der letzten großen Angriffe sehr gelitten. In Christensens Büro war die Innenwand herausgebrochen. Bei Wegener war der Stuck heruntergekommen. Es bestand die Gefahr, dass die Decke ganz einstürzen könnte. Die Fenster waren entweder mit Pappe vernagelt oder mit Rollglas, das sie aus ihrem eigenen Haus mitgebracht hatte, notdürftig gegen Wind und Regen geschützt. Dass das Gebäude trotz dieses vergleichsweise immer noch guten Zustands nicht wie die meisten anderen Häuser in der Straße beschlagnahmt worden war, verdankte der Verlag wohl nur dem Umstand, dass sich im Erdgeschoss das Schweizer Konsulat befand. 100 Dennoch drohte neues Ungemach. Denn nun brauchte jeder Verlag, der nach dem Ende des braunen Albtraums weiterarbeiten oder neu starten wollte, eine Lizenz der britischen Besatzungsmacht: Die wurde nicht allein vom Verhalten während des kurzlebigen »Tausendjährigen Reiches« abhängig gemacht. Eine Zulassung hing auch davon ab, wie viele Verlage angesichts der anhaltenden Papierknappheit überhaupt Bücher pro duzieren konnten. Wieder mussten Fragebogen ausgefüllt und eine Liste der früheren Veröffentlichungen eingereicht werden. Entnazifizierungsverfahren wurden eingeleitet, das geplante Verlagsprogramm geprüft. In dieser Lage war Harriet Wegener, die jahrelang im Hintergrund gehalten werden musste, eine große Hilfe. Sie galt jetzt nicht mehr als politisch vorbelastet, sondern im Gegenteil als völlig unbelastet. Sie sprach nicht nur fließend Englisch und konnte daher problemlos mit Vertretern der Besatzungsbehörden verhandeln, sie hatte jetzt auch wieder gute Verbindungen zu den Spitzen der deutschen Behörden. Mit vielen der einst Verjagten und Verfemten, die von den Briten wieder in ihre alten Ämter eingesetzt worden waren, war sie aus besseren Zeiten gut bekannt oder befreundet. Sie selbst wurde Anfang Februar 1944 von der britischen Militärregierung in den »Ernannten Vertreterrat« berufen, der so lange als vorläufiges Parlament fungierte, bis wieder eine demokratisch gewählte Hamburger Bürgerschaft ihre Arbeit aufnehmen konnte. Obwohl die Mühlen der Bürokratie nur sehr langsam mahlten, hegten Martinus Christensen und Harriet Wegener trotz gewisser Ängste, wie der Verlag über die ersten Monate kommen sollte, hinsichtlich der weiteren Entwicklung zunächst keine allzu großen Bedenken. Große Sorgen bereitete ihnen hingegen das Schicksal Kurt Ganskes. Deshalb war die Erleichterung groß, als er nach einer abenteuerlichen Flucht aus der Gefangenschaft am 2. Juni 1945 wieder in Hohenhaus eintraf, halb verhungert und völlig erschöpft, aber gesund. Das erfuh 101 ren die Hamburger allerdings erst vier Wochen später, als er sich mit einem ersten Brief in Hamburg meldete. »Der Weg von Brünn/Budweis nicht ganz einfach in drei Wochen«, berichtete er im Telegrammstil und in maßloser Untertreibung. »Vorher längere Zeit Front mit sehr viel Glück gesund überstanden.« Nach einigen Sätzen über das Schicksal seiner Familie übernahm er sogleich das unternehmerische Kommando: Er erwar tete wieder Berichte mit breitem Rand für seine Anmerkungen. Er ordnete an, womit sich die Filialen beschäftigen sollten, solange es noch keine Zeitschriften gab, die man Abonnenten zustellen konnte. Er bat Wegener um Vermittlung einer Sekretärin, die in Hohenhaus arbeiten sollte. Kurt Ganske erkundigte sich aber auch, ob es in Hamburg Zigaretten gäbe, und kündigte an, dass sein Schreiben von einem »beherzten Mann« über Hannover nach Hamburg gebracht werden würde. Er veranlasste ebenso, dass eine Reise nach Hamburg für ihn vorbereitet wurde. Neben einer Unterkunft in den Verlagsräumen (»Christensen vorläufig nicht informieren!«) oder bei Harriet Wegener (»nicht erschrecken!«) brauchte er Papiere: »Nach Möglichkeit ist eine ausgesprochen amtliche Bescheinigung über die Dringlichkeit einer längeren Anwesenheit in Hamburg bzw. Hannover für mich zu beschaffen.« Es dauerte zwei Wochen, bis der beherzte Mann den Brief in Hamburg zustellen konnte. In den Wochen danach fand Ganske aber entweder nicht die Zeit oder sah keine Möglichkeit, seine Reisepläne zu realisieren. Vielleicht blieb auch die gewünschte behördliche Bescheinigung aus. Das führte zu wachsender Unsicherheit und Sorge in Hamburg, wo man ihn dringend erwartete und die Gründe für sein Fernbleiben nicht kannte. Wenn nicht alle Bemühungen vergeblich gewesen sein sollten, den Verlag über die finsteren Zeiten zu retten, musste bald etwas unternommen werden. Dabei ging es nicht nur um den Entscheidungsstau bei Hoffmann und Campe oder der Grünen Mappe. Um 102 den Betrieb weiterführen zu können, mussten vor allem so rasch wie möglich Anträge gestellt und schier endlose Fragebo gen ausgefüllt werden. Die Erteilung einer Verlagslizenz hing davon ab, dass auch der zweite Verleger Kurt Ganske die Flut der Formulare unterschrieb, mit denen die Militärregierung jeden überhäufte, der wieder Bücher oder Zeitungen publizieren wollte. Solange dies nicht erledigt wurde, war eine Lizenz nicht zu bekommen. Die Verhältnisse im Verlag gestalteten sich daher von Woche zu Woche kritischer, die wirtschaftliche Situation zunehmend schwieriger. Deshalb wurde in den Briefen und schließlich Telegrammen aus Hamburg immer dringlicher um einen baldigen Besuch gebeten. Kein Bericht von Harriet Wegener, in dem sie nicht – zum Schluss fast flehentlich – um sein Kommen bittet. »Es liegen Zigaretten für Sie bereit«, lockte sie schließlich sogar. Auch Martinus Christensen schickte Briefe nach Hohenhaus und Hannover. »Es ist jetzt dringend notwendig geworden, dass Sie nach Hamburg kommen, da es für mich allmählich unmöglich ist, wichtige Dispositionen zu treffen, bevor ich nicht mit Ihnen als meinem Kompagnon eingehende mündliche Besprechungen gepflogen habe«, schrieb Christensen Ende September nach Hohenhaus. »Es handelt sich in erster Linie um die Übernahme und Herausgabe mehrerer Zeitschriften, die uns angeboten bzw. von uns geplant sind.« Doch selbst das wirkte nicht. Ende Oktober 1945 musste Harriet Wegener ihrem Chef mitteilen, dass die erhofften Lizenzen noch immer nicht da seien und schon darüber nachgedacht werde, mit den Angestellten über drastische Gehaltskürzungen zu verhandeln. Sie begründete die Kürze ihres Grußes mit der »schauderhaften Kälte. Die Gedanken frieren einem ein, denn der Strom ist uns so beschränkt, dass wir nicht einmal elektrisch heizen können.« Im letzten Satz ihren Briefes wiederholt sie die schon so oft gestellte Frage: »Wann kommen Sie?« 103 Große Ungewissheit bestand lange auch über das Schicksal von Ilse Tönnies. Seit der Schlacht um Berlin hatte man in Hamburg nichts mehr von ihr gehört. Auch der Bruder, der sich über Pommern und Dänemark nach Hamburg durchgeschlagen hatte, wusste nicht, ob sie den Granatenhagel und den grausamen Straßenkampf Haus um Haus überlebt hatte. Doch dann meldete sie sich zur allgemeinen Erleichterung wieder. Es sah so aus, als ob die gemeinsame Arbeit an der »Eu ropa-Bibliothek«, an Werken über Matthias Claudius und die abendländische Metaphysik sowie den anderen, schon für kommende Friedenszeiten konzipierten Werken da fortgesetzt werden könnte, wo sie in den letzten Kriegstagen brutal unterbrochen worden war. Doch das blieb ein Traum. Ilse Tönnies war an ihrem Zufluchtsort Berlin-Nikolassee zwar den Bomben entkommen. Jetzt aber saß sie in einer Mausefalle, die schon bald zuschnappen sollte. Der Teil Berlins, in den es sie verschlagen hatte, gehörte zur sowjetisch besetzten Zone. Sie wagte es daher nicht, ihre in Hohenhaus eingelagerten Materialien und Manuskripte zurückzuholen. Es war nicht sicher, was davon auf der nun rot statt braun eingefärbten Liste verbotener Schriften stand. An eine Fahrt nach Hamburg war anfänglich nicht zu denken. Später traute sie sich nicht, weil sie fürchtete, »dass eine Reise hierher oder umgekehrt … vorerst oder evtl. für immer nicht mehr möglich ist«. Schließlich wollte sie nicht mehr in den Westen reisen, weil sie unter dem Eindruck der kommunistischen Propaganda glaubte, der nächste Krieg stehe unmittelbar vor der Tür. Am Ende wurde ihr jede Möglichkeit zu einem Gespräch mit den Kollegen genommen. Der Eiserne Vorhang senkte sich und wurde bald so undurchlässig, dass ein Austausch von Gedanken und Manu skripten nicht mehr möglich war. Ilse Tönnies besaß kein Konto mehr. Der Verlag konnte ihr kein Gehalt überweisen. Sie hatte kein Geld, um ihre Mitarbeiter zu bezahlen oder Au104 toren zu honorieren, die auf ihrer Seite der Grenze lebten. Kurt Ganske ließ Ilse Tönnies 1948 über einen im Westen Berlins ansässigen Treuhänder heimlich 4000 Mark in bar zukommen – ein Betrag, der nach ihrer Rechnung ausreichte, um die weitere Arbeit ein Jahr lang zu finanzieren. Doch das blieb ein Wunsch. Bald danach verliert sich die Spur von Ilse Tönnies in der Verlagsgeschichte. Drittes Kapitel Der Letzte gibt ¨ den SchlUssel ab W as in über drei Jahrzehnten in zäher Kleinarbeit und mit vielen neuen Ideen aufgebaut worden war, wurde in kurzer Zeit fast komplett wieder zerstört. Zwar konnte der Lese zirkel Daheim in den ersten Kriegsjahren noch weitgehend normal arbeiten, aber wie schon im Ersten Weltkrieg mussten immer häufiger Frauen die Arbeit der Männer übernehmen. Je jünger die männlichen Mitglieder der »Gefolgschaft« waren, desto früher mussten sie an die Front. Je länger der Krieg dauerte und je höher der Blutzoll wurde, umso strenger wurden die Maßstäbe dafür, ob jemand an der »Heimatfront« wirklich unentbehrlich war. Die Reichspressekammer schickte immer wieder Fragebo gen, um zu ermitteln, welche Arbeitskräfte noch abgezogen werden könnten, um entweder an die Front oder in die Rüs tungsindustrie abkommandiert zu werden. Das traf nach den Männern schließlich auch die jüngeren Frauen. Statt Mappen mit Lesestoff sollten sie Granaten mit Sprengstoff füllen. Mit Hilfe eines »roten Fragebogens«, den die Reichspressekammer neun Monate vor dem Zusammenbruch verschickte, musste noch einmal genau erfasst werden, welche Aufgaben die noch verbliebenen Gefolgschaftsmitglieder im Betrieb hatten. Die Kammer interessierte sich für Alter, Geschlecht und Gesundheitszustand. Sie wollte über geistige und körperliche Gebrechen informiert werden. Vom Betrieb unbedingt benötigte Kräfte mussten durch ein X gekennzeichnet werden. Boten, de ren Einsatz in der Rüstungsindustrie möglich war, durften ein solches X keinesfalls bekommen. Verschont von der allgemei109 nen Mobilmachung blieben nur Mitarbeiter, die das 65. (Männer) oder das 50. Lebensjahr (Frauen) bereits überschritten hatten. Jüngere gab es zu diesem Zeitpunkt ohnehin kaum noch im Betrieb. Viele der anderen Verleihfirmen hatten daher schon längst aufgeben oder den Betrieb einschränken müssen. So hatte »Buck’s Lesezirkel – Braune Mappe«, bis dahin ein Konkurrent von Daheim, seinen Kunden schon im Mai 1941 per Rundschreiben mitgeteilt: »Die Abgabe von Arbeitskräften im Inte resse staatswichtiger Aufgaben zwingt auch auf unserem Gebiet zu Liefereinschränkungen bzw. zu Umstellungen. Wir sind daher leider nicht in der Lage, unsere Kunden in dem von Ihnen bewohnten Gebiet weiter zu beliefern. Um Ihnen aber die Lesemappe trotzdem zustellen zu können, haben wir uns entschlossen, das mit Ihnen laufende Abonnement dem Lesezirkel Daheim Richard Ganske … zu übertragen.« Das taten auch andere kleine Lesezirkel, die es nicht schafften, ihre Organisation den veränderten Verhältnissen anzupassen und immer wieder Notlösungen zu finden, um trotz Personalmangel, zerstörter Räume, ausgebrannter Fahrzeuge und Treibstoffmangel die Belieferung der Abonnenten dennoch irgendwie zu sichern. Das gelang Kurt Ganske dagegen auch dann noch, als sich das Durchschnittsalter der verbliebenen Mitarbeiter immer mehr dem Rentenalter näherte, eine Filiale nach der anderen von Bomben getroffen wurde und schließlich am 9. Oktober 1944 in Hannover auch die Zentrale in der Seelhorststraße in Flammen aufging. Die Zweigniederlassung in der Celler Straße arbeitete weiter, aber der Firmensitz wurde für die Dauer des Krieges nach Hameln an der Weser verlegt, weil es gelungen war, dort geeignete Räume zu finden. Das allerdings waren Entscheidungen, die die wenigen erfahrenen Führungskräfte, die aus Altersgründen auf ihren Pos ten verblieben waren, oft allein treffen mussten. Kurt Ganske 110 war ebenso wie schon im Ersten Weltkrieg sein Vater zur Armee eingezogen worden. Er erhielt Berichte aus der Zentrale oder von seinen Filialleitern oft mit großer Verzögerung und konnte nur mit ihnen sprechen, wenn er außerhalb der Kaserne eine intakte Telefonzelle fand. Seine Frau Gerda schickte nach jedem größeren Bombenangriff ein Telegramm an seine Feldpostnummer, wenn sich in der betroffenen Stadt eine Daheim-Filiale befand. Noch im Jahr 2006 nennt sie die Nummer, ohne eine Sekunde zu zögern: 36116 C. Anfänglich bekam Ganske auch jedes Mal, wenn wieder eine Filiale ausgebrannt war, Sonderurlaub, um einen Notbetrieb zu organisieren. Aber am Ende des Krieges reichte dies als Argument nicht mehr aus, um den Gefreiten von der Front zurückzuholen. 60 Stunden und noch mehr Besonders schwer war es, die Belieferung aufrechtzuerhalten, wenn ein Teil der Zeitschriften oder der schon bestückten Mappen in den Filialen verbrannt war. Ausfälle gab es aber auch, wenn die Betriebsräume nach einem Angriff noch intakt waren. Denn bei Kunden, deren Häuser und Wohnungen zerstört worden waren, konnten keine Mappen mehr eingesammelt werden. Sie waren unwiederbringlich »steckengeblieben«. Das brachte den Umlauf durcheinander, weil für die nachfolgen den Bezieher nicht mehr genügend Mappen zur Verfügung standen. Ersatz für verlorene Zeitschriften war nur schwer zu bekommen. Nur durch ständiges Improvisieren ließ sich unter diesen Umständen eine einigermaßen pünktliche und regelmäßige Belieferung der Leser aufrechterhalten. Das war auch deshalb schwer, weil viele der erfahrenen Filialleiter eingezogen worden waren und an ihrer Stelle ältere Sachbearbeiter, die selbst aus der Sicht der Reichspressekammer nichts mehr zum »Endsieg« beitragen konnten, die Organisation des Notbetriebs 111 übernehmen mussten. Dazu gehörte auch, dass sie Ersatz für die eingezogenen oder bei Angriffen umgekommenen Boten suchen mussten. Je länger der Krieg dauerte, desto älter wurden die Menschen, die die Wagen durch die Straßen schoben – und umso länger ihr Arbeitstag. Die reguläre wöchentliche Arbeitszeit wurde Mitte August 1944 von Amts wegen auf 60 Stunden festgesetzt. Dies sollte einen Ausgleich dafür schaffen, dass die Belegschaften immer weiter ausgedünnt wurden, reichte aber oft nicht aus, um die Arbeit zu bewältigen. Das erinnert an die Sorgen und Nöte, mit denen die Lesezirkel schon im Ersten Weltkrieg zu kämpfen hatten. Doch diesmal kam hinzu, dass alle diese Mühen vergeblich waren, wenn die Boten unter den angegebenen Adressen niemanden mehr antrafen, weil die Kunden geflohen oder evakuiert worden waren, oder wenn sie nur noch Ruinen fanden, wo eine Woche zuvor Häuser gestanden hatten. Da die Buch- und Zeitschriftenverlage ihre Schließungsverfügung bereits Ende August erhalten hatten und ab 1. Oktober 1944 kein Blatt mehr ausliefern durften, gab es von dem Tag an auch nichts mehr, um die Erstmappen zu füllen. Die Filialleiter konnten sich an ihren zehn Fingern ausrechnen, wann Daheim die letzten der noch umlaufenden Mappen abholen würde – nämlich wenn der zehnte Kunde in der Lieferkette bedient worden war. Daher war es eigentlich nur noch ein Akt der Bürokratie, als Daheim – ebenso wie die anderen Betriebe der Branche, die bis dahin noch überlebt hatten – per 30. September seine Schließungsverfügung erhielt. Es gab ohnehin nichts mehr zu tun. Unter der Überschrift »Maßnahmen zur totalen Mobilisierung – Betriebsschließung« musste die Geschäftsleitung den Filialen daher mitteilen: »Trotz endloser Bemühungen, die den ganzen August über dauerten, ist uns der Erfolg, die Branche und damit auch unseren Betrieb zu erhalten, versagt geblieben.« Nun heiße es vor allem »Ruhe bewahren« und die 112 notwendigen Schritte einleiten – aber nicht, um den Betrieb zu Grabe zu tragen. Bei ihren Richtlinien für die Stilllegung hatte die Zentrale vielmehr schon die Zeit nach Hitler fest im Blick. Am Anfang einer langen Liste noch zu erledigender Aufgaben hieß es daher: »Für unseren Wiederaufbau ist es unbedingt notwendig, dass wir das gesamte Adressen-Material der zurzeit tätigen und einberufenen sowie der früher tätig gewesenen, ausgeschiedenen Gefolgschaftsmitglieder besitzen. Daher müssen die hierfür erforderlichen Unterlagen umgehend sorgfältig angefertigt werden.« Am Ende den Anfang bedenken Damit nach Kriegsende das Geschäft so schnell wie möglich wieder aufgebaut werden konnte, sollten noch brauchbare Räume auf keinen Fall gekündigt, sondern allenfalls untervermietet werden – aber mit der Klausel, dass sie sofort nach Kriegsende wieder geräumt werden müssten. Kraftwagen (»wo solche noch vorhanden sind«) und Transportfahrzeuge sollten unbedingt sichergestellt werden: »Kein Fahrzeug darf in einem offenen Schuppen stehen bleiben.« Es war leicht vorherzusehen, dass es da nicht lange bleiben würde. Ganz besonderen Wert legte die Geschäftsleitung natürlich auf die wertvollen Karteikarten, die Liefer-, Boten- und Kündigungskartei. Sie sollte an drei verschiedenen Orten in Sicherheit gebracht werden: in Hohenhaus, in der Zentrale in Hannover und in der jeweiligen Filiale. Die Geschäftsleitung dachte aber nicht nur an Fahrzeuge, Geschäftsräume und deren Inventar, an die Lagerung der Mappen und die Rettung der Karteikarten. Sie vergaß auch die Mitarbeiter nicht. Da den Boten, die Akkord- oder Stücklohn bekamen, wegen der in den letzten Arbeitswochen immer kleiner werdenden Touren starke Einkommenseinbußen drohten, wurde angeordnet, ihnen einen Garantielohn zu zahlen. Die Höhe richtete sich nach dem 113 Verdienst, den sie früher normalerweise gehabt hatten. Geschäftsführer, deren Einkommen vom Umsatz und Gewinn abhängig war, erhielten ein Gehalt, das sich nach dem Durchschnittseinkommen der vergangenen sechs Monate richtete. Sosehr man sich in der Zentrale auch bemühte, an alles zu denken, brauchte man angesichts der chaotischen Verhältnisse und der schwierigen Kommunikation in den letzten Kriegs monaten mehr denn je Führungskräfte, die nicht erst auf Anweisungen warteten, ehe sie handelten: »Wir müssen uns in den kommenden Wochen auf die Selbständigkeit unserer Geschäftsführer voll verlassen können«, hieß es daher im Anschreiben zu den Stilllegungsrichtlinien. Das galt insbesondere für den Umgang mit den Mitarbeitern. Die Verantwort lichen in den Filialen sollten alles daransetzen, die Beschäftigten zusammenzuhalten. Die von der Reichspressekammer den Arbeitsämtern als verfügbar gemeldeten Mitarbeiter sollten nicht wahllos an irgendwelche Rüstungsbetriebe überstellt werden. »Diese Aktion muss … möglichst abgestoppt werden«, mahnte Alfred Hartz, der in der Geschäftsleitung als Prokurist für Organisation und Personal zuständig war. Bei Verhandlungen mit dem Arbeitsamt sollte besonders betont werden, dass der größte Teil der Mitarbeiter »infolge körperlicher und geistiger Fehler nicht für die Wehrmacht und für die Rüstung zu verwenden ist«. Sie hätten sich zwar bei Daheim durch Erziehung und Geduld durchweg gut eingearbeitet. Es sei von ihnen aber keine gute Leistung zu erwarten, wenn sie nun überallhin verstreut würden. »Sie verlieren ihren bisherigen Halt und fallen in ihre alten Fehler zurück«, setzte Hartz seine Argumentations hilfe fort. Die eigenen Leute sollten nicht nur zusammenbleiben, sondern möglichst auch in den Räumen von Daheim beschäftigt werden – beispielsweise mit »Heimarbeit« für Rüstungsbetriebe. Als Beispiel nannte Hartz das Verpacken von Arzneimitteln. Falls das Arbeitsamt keine Betriebe benennen könne, die sol114 che Arbeiten zu vergeben hätten, sollten die Filialleiter selbst danach suchen, mahnte er. Dem Arbeitsamt könnte auch der Vorschlag gemacht werden, die Boten für ein Speditionsunternehmen arbeiten zu lassen, »wofür wir unsere Transportmittel (Karren und Räder) zur Verfügung stellen. So könnten beispielsweise Zubringerdienste vom Groß- zum Kleinhandel (Lebensmittel, Druckereien usw.) durchgeführt werden.« Tatsächlich gelang es in einigen Fällen, Mitarbeitergruppen geschlossen an andere Betriebe zu überstellen – wie etwa in die Trockenfruchtindustrie, wo einige der Boten per Verpflichtungsbescheid ab Anfang Dezember 1944 als Hilfsarbeiter ein gesetzt wurden. In Berlin und Hamburg mutierten die Lese zirkel wie erhofft zu Transportunternehmen. Ob es auch in Bremen und an anderen Orten gelingen würde, per Fahrrad oder Handkarren Kartoffeln, Ersatzteile oder Frischmilch kreuz und quer durch die Stadt zu fahren, war Ende 1944 noch ungewiss. Die Hoffnung, in den eigenen Räumen »Rüstungsaufträge« ausführen zu können, erfüllte sich nirgends. Deshalb erging am 8. November an die Filialen, die nicht ohnehin schon in Trümmern lagen, eine letzte Stilllegungsrichtlinie. Die Anordnung, die Mieten für die Räume noch bis Ende März 1945 weiterzuzahlen, lässt vermuten, dass man sich in der Daheim-Zentrale seine eigenen Gedanken darüber gemacht hatte, wie lange der Krieg wohl noch dauern könnte. Tatsächlich verschätzte man sich dabei nur um rund fünf Wochen. Neben der Anweisung, bei allen gummibereiften Fahrzeugen die Bereifung abzunehmen und sie an geeigneter Stelle hängend aufzubewahren, noch vorhandene Schreibmaschinen nach Ho henhaus zu schicken, Altpapier und verderbliche Waren (wie Verdünnungsmaterial, Lack) zu verkaufen oder Fernsprechanschlüsse zu kündigen, wurde auch der Hinweis nicht vergessen, wo der Schlüssel abzugeben sei. Empfohlen wurde eine zuverlässige Person am Ort, vorzugsweise der Geschäftsführer oder dessen Frau. Andernfalls komme auch die 1. Kontoristin in Be115 tracht, aber »möglichst kein Mann, weil dieser abberufen werden kann«. Der Versand der wertvollen Kartei nach Hannover und Hohenhaus sollte im Abstand von drei Tagen erfolgen, »um die Gefahr der gemeinsamen Vernichtung auf dem Transport möglichst auszuschließen«. Es blieb nun nichts mehr anderes übrig, als den letzten verbliebenen Arbeitskräften zum 30. November zu kündigen – mit Bedauern und nur auf Anweisung der Reichspressekammer als vorgesetzter Dienststelle, wie in dem Schreiben betont wurde. »Wir brauchen Ihnen wohl nicht zu versichern, dass wir … dieser Maßnahme unseren bewährten Mitarbeitern gegenüber nur schweren Herzens nachkommen«, hieß es in dem Schreiben. »Wir sind aber der Überzeugung, dass durch den Wiederaufbau unseres Betriebes zu dem frühestmöglichen Zeitpunkt die heutige Kündigung lediglich formellen Charakter trägt.« Die Wände stehen noch Zu den drei Filialen, bei denen sechs Monate später noch eine Tür vorhanden war, die mit einem der sorgsam verwahrten Schlüssel geöffnet werden konnte, gehörte neben Kiel und Hannover die Grüne Mappe in Hamburg. Während die Daheim-Filiale in Leipzig Ende 1943 den Bomben zum Opfer fiel, die Räumlichkeiten des Lesezirkels in Düsseldorf gleich zweimal völlig zerstört wurden, die Filiale in Kassel vom Erdboden verschwand, die Stuttgarter Filiale ebenso wie die Geschäftsräume in München, Frankfurt und in vielen anderen Städten total ausgebombt wurden und in Hannover neben der Zentrale auch die Wohnung der Familie Ganske in Flammen aufging, war das Chilehaus in Hamburg weitgehend verschont geblieben. Ebenso wie die Verlagsräume von Hoffmann und Campe überstand das Kontorhaus, mit dessen Bau 1922 begonnen worden war, alle Bombenangriffe. Seit 1983 ist es denkmalgeschützt, und seit 1995 steht es auf der Warteliste der 116 Unesco als Weltkulturerbe. Obgleich ringsherum alles in Trüm mer fiel, zerbarsten in dem hoch aufragenden, dunkelroten Backsteingebäude auch während der schwersten Angriffe auf Hamburg nur die Scheiben. In einem ihrer regelmäßigen Berichte an Kurt Ganske schil derte Harriet Wegener, wie es dort nach dem tagelangen Bombardement der Operation Gomorrha aussah, dem Hamburg im Juli 1943 ausgesetzt war: »Ich war heute nach dem dritten Angriff in der Grünen Mappe. Das Chilehaus steht, und im Büro sind nur die Scheiben kaputt. Die ganze Gegend brannte noch ziemlich. Zunächst habe ich die eine Scheibe so gut wie möglich mit einer sowieso herausgefallenen Tür verbarrikadiert, die Schreibmaschinen in Nicos [gemeint: Filialleiter Nicodemus] Zimmer getragen, die Lampen auch so verstaut, dass sie nicht gerade zum Mitnehmen von der Straße einluden. Dann kamen die Boten, die Lohn haben wollten, und da Nico nicht erschien, bin ich in der Stadt herumgesaust, um Geld zu bekommen (ich hatte nur 120 M da). Aber alle befreundeten Firmen und auch der Verlag waren geschlossen oder ausgebrannt, und auf dem Rathaus verwies man mich an die Katastrophendienststellen. Als ich unverrichteter Sache zurückkam, kam Nico bald an. (Er hatte die ganze Nacht gelöscht und gerettet.) Er war auch ausgebombt, wohnte in Lauenburg und wollte so bald wie möglich mit seiner Familie nach Darmstadt. Er hatte nur den Schlüssel zum Geldschrank, aber nicht zur Geldkassette. Wir haben diese aufgebrochen und das, was da war, an Boten gegen Quittung ausgezahlt (runde VorschussSummen, meist 50 Mark). Da an Austragen der Mappen nicht zu denken ist im Augenblick, haben wir den Leuten gesagt, sie sollten frühestens in vierzehn Tagen wieder vorfragen. Dann wollte Nico zurück sein. Vorläufig habe ich 5000 M hierher und Nico 2000 Mark mitgenommen. In die Kassette haben wir Quittungen gelegt. Ich habe noch das Portobuch mitgenommen. Für wie viel Briefmarken da sind, habe ich noch nicht 117 ezählt. Etwas Kleingeld ist noch in der Kassette. Eigentlich g wollte ich es auch mitnehmen, aber Nico war ein bisschen reichlich in der Stimmung: In den nächsten Tagen wird ja doch das Chilehaus und alles andere kaputt gemacht, und dann ist schon alles gleich. Er war daher auch nicht für meine Wünsche zu haben, die Fenster zu verbarrikadieren und die Sachen in Hinterzimmern zu verstauen, und da er nun mal der Leiter ist, hatte ich nicht recht die Energie, es durchzusetzen, zumal ich von 9 bis 5 unterwegs war und eigentlich schon um 2 zu Hause sein wollte … Ich werde morgen versuchen, den Blankeneser Lagerleiter zu finden und eventuell mit ihm in die Stadt fahren, Hammer und Nägel mitnehmen und sehen, was sich tun lässt.« Sie schrieb dies nieder, nachdem sie vom Stadtzentrum kilometerweit mit dem Fahrrad durch eine brennende Trümmerlandschaft zurück nach Flottbek gefahren war und ohne zu wissen, wo der Brief den in Hannover zur gleichen Zeit ausgebombten Kurt Ganske erreichen würde, falls er überhaupt noch am Leben war. »Harriet war mehr wert als zwei Männer«, sagte der Verleger seinen Söhnen später, wenn das Gespräch auf diese Zeit kam, und seine Frau spricht noch ein halbes Jahrhundert danach von der »Mutter des Verlags«. Noch einmal davongekommen Einige Monate später, kurz nach Kriegsende, konnte Harriet Wegener dem nach seiner Flucht aus russischer Gefangenschaft gerade in Hohenhaus eingetroffenen Kurt Ganske schon wieder einen wesentlich erfreulicheren Lagebericht senden: »Der Lesezirkel Grüne Mappe arbeitet mit vollen Touren als Kleintransport-Unternehmen. Wir haben etwa 36 Boten, darunter einige Handwerker, die Transporte fahren, nur nicht mehr für die Rüstung, sondern meist für Privatpersonen (Möbeltransporte, wobei die Tischler gut zu brauchen sind) und für das 118 Nahrungsmittelgewerbe. Daneben laufen für uns zwei Pferdewagen, der eine in der Stadt und alle 14 Tage nach Blankenese, der andere in der Stadt und Richtung Halstenbek, wo er beheimatet ist. Außerdem nimmt das Auto, das zweimal in der Woche Butter aus Schleswig bringt, Rückfrachten für Neumünster, Rendsburg, Schleswig mit … Zurzeit verhandeln wir um einen Gewerbeschein für Transport und Lagerung. Bisher beruht noch alles auf unserer alten Zulassung für die Rüstungsindustrie … Herr Storr ist inzwischen nach Bremen gefahren und hat festgestellt, dass das Lokal steht, die Karren geklaut sind und Schläuche und Decken der Fahrräder auch. Sonst könnte er da längst Transporte fahren … Lübeck möchte Transporte fahren, hat aber keine Räder und Karren. Die Fi liale Hannover fährt Transporte … Das Lokal der Grünen Mappe hat bei einem der letzten Angriffe stark gelitten, ist aber brauchbar. Teile haben wir abgeben müssen, aber das uns Verbleibende ist nicht von den Engländern beschlagnahmt.« Hohenhaus dagegen war von US-Truppen requiriert worden. Als Kurt Ganske nach wochenlangen Nachtmärschen dort eintraf, stellte er fest, dass 200 GIs im Gutshaus einquartiert worden waren. Er verbrachte deshalb die erste Nacht im Gewächshaus, ehe er am nächsten Tag ins Haus schlich und sich im Schlafzimmer versteckte. Wenn er ins Bad wollte, trug seine Frau ein Bügelbrett über den Flur, hinter dem er sich verbergen konnte. Nicht einmal die Kinder durften erfahren, dass es dem Vater gelungen war, sich einer Gefangennahme durch die Russen zu entziehen. Die Gefahr, dass sie sich verplappern könnten, war zu groß. Da die Situation auf die Dauer unhaltbar war, stellte sich der Rückkehrer nach zwei Tagen den Amerikanern. Schon am Mittag des gleichen Tages war er zurück. Da er weder Parteigenosse war noch etwas mit der SS zu tun gehabt hatte, sahen die Amerikaner keinen Grund, ihn festzuhalten. Der Wiederaufbau des Unternehmens und seiner Filialen konnte beginnen. Kurt Ganske dirigierte ihn zunächst von Ho119 henhaus aus. Tatkräftig unterstützt wurde er dabei von seinen Prokuristen Alfred Hartz und Gustav Dietzel. Beide waren schon seit Anfang der dreißiger Jahre bei Daheim angestellt. Dietzel war nach dem Krieg vor allem für den Außendienst zuständig, die »rechte Hand« ihres Mannes, wie Gerda Ganske sich erinnert. Hartz, mit dem Kurt Ganske seit den gemeinsamen Lehrlingstagen in Hamburg befreundet war, kümmerte sich um die innere Organisation. Auch andere Führungskräfte, die den Krieg überlebt hatten, sammelten sich nach und nach in Hohenhaus. »Fünf bis sechs Mitarbeiter waren es, die damals mit Frau und Kindern bei uns im Haus lebten«, berichtet Gerda Ganske. Auch mit 96 Jahren kann sich die hellwache alte Dame noch gut an die Einzelheiten erinnern. Die meisten waren ebenso wie ihr Chef ausgebombt. Gemeinsam mit der Familie Ganske fanden sie nun Unterschlupf im Gutshaus. In der Küche wurde ein zweiter Herd aufgestellt, damit alle Frauen eine Möglichkeit fanden, für ihre Familien die Mahlzeiten zuzubereiten. Milch kam von den Kühen im Stall, Obst von den Bäumen rings um den Gutshof. Obwohl Michael Ganske, der älteste Sohn, 1945 erst sechs Jahre alt war, erinnert er sich bis heute an viele Details aus den ersten Nachkriegsjahren. Sein Vater suchte in dem Strom der Flüchtlinge gezielt nach guten Handwerkern und verschaffte ihnen auf dem Gelände des Gutshofs ebenfalls eine Bleibe. Jeder bekam eine Parzelle, auf der er für sich und seine Angehörigen Kartoffeln, Bohnen, Tomaten und anderes Gemüse anbauen und ein paar Hühner halten konnte. Und alle spielten eine wichtige Rolle beim Wiederaufbau der Filialen. In den zum Rittergut gehörenden Wäldern gab es reichlich Holz. Kurt Ganske ließ es in der ehemaligen Remise zu Balken und Brettern verarbeiten. Mit einem klapprigen alten Lastwagen wurde das Baumaterial zu den Filialen gefahren. Die auf dem Gut angesiedelten Handwerker fuhren gleich mit und unterstützten die Ortskräfte mit ihren Fachkenntnissen beim 120 Wiederaufbau von Werkstätten, Lager- und Büroräumen, der Reparatur von Maschinen und Fahrzeugen. Es mussten Decken abgestützt, Türen eingesetzt und Fenster abgedichtet werden, meist erst einmal mit »Rollglas«, wie die mit einem lichtdurchlässigen Kunststoff überzogenen Drahtnetze genannt wurden, die in die leeren Fensterrahmen genagelt wurden. Wo am alten Standort nichts mehr zu reparieren war, wurde versucht, neue Räume anzumieten und so herzurichten, dass darin wieder notdürftig gearbeitet werden konnte. Es fehlten zunächst fast alle Utensilien, ohne die ein Lesezirkel nicht auskommt. Ein großer Teil der Mappen war verbrannt. Fahrräder, Karren und motorisierte Fahrzeuge waren größtenteils vernichtet, gestohlen oder wegen Ersatzteilmangel nicht einsatzfähig. In den zerstörten Filialen gab es keine brauchbaren Heftmaschinen mehr. Es mangelte sogar an Draht, Kleister und Klammern. Papierscheren waren ebenso schwer aufzutreiben wie Schreibmaschinen oder Karteikarten. Im ersten Nachkriegswinter gab es in vielen Arbeitsräumen nicht einmal einen einfachen Kohle- oder Holzofen. Aber auch der hätte nichts genützt, weil nirgendwo Kohle oder Brennholz aufzutreiben war. Wie stark die Arbeit durch den alltäglichen Mangel behindert wurde, illustriert die Einladung des Lesezirkelverbandes in Hamburg zu einer Sitzung im Dezember 1946. Um auch weiterhin Eingaben bei Behörden machen, Mitteilungen verschicken und Bescheinigungen ausstellen zu können, bittet der Vorsitzende am Ende des Schreibens um eine kleine Spende in Form von Briefpapier: »Bisher habe ich meinen Privatbestand dazu hergegeben. Der ist jetzt verbraucht. Wenn jeder zur Versammlung eine Handvoll Schreibmaschinenpapier (unbedruckt), einen Copierbogen und einige Umschläge mitbringt, raucht der Schornstein wieder ein Weilchen.« Um überhaupt mit der Arbeit beginnen zu können, mussten sich die Filialen bei der Militärregierung registrieren lassen 121 und eine Betriebsgenehmigung beantragen. Die war zwar leichter zu bekommen als eine Verlagslizenz. Aber auch mit Genehmigung konnten die Lesezirkel ihre eigentliche Aufgabe, Lesestoff unter die Leute zu bringen, nur schwer erfüllen. Es gab kaum Zeitschriften, die man sortieren, ausliefern und wieder einsammeln konnte. Deshalb behalf man sich in vielen Filialen zunächst mit Kleintransporten und anderen »artfremden« Tätigkeiten. Doch damit konnten nur wenige Mitarbeiter beschäftigt werden. Je mehr von den ehemaligen Boten, Vertretern, den Lager- und Büromitarbeiterinnen vom Land, aus den ehemaligen Rüstungsbetrieben oder aus der Gefangenschaft zurückkamen, desto schwieriger wurde es, ihnen Arbeit zu geben. Irgendjemand kam Ende 1945 auf die Idee, die noch vorhandenen Mappen erst einmal mit Büchern statt mit Magazinen zu füllen. Das taten auch andere Lesezirkel. Aber wieder einmal war Kurt Ganske seinen Konkurrenten um eine Nasenlänge voraus. Bei Hoffmann und Campe waren nicht die gesamten Lagerbestände verbrannt. Außerdem wurden nach Erteilung der Verlagslizenz bereits 1946 schon wieder neue Bücher aufgelegt. Im Herbstprogramm konnten immerhin 13 Titel angeboten werden – nicht zuletzt dank der Vorarbeit von Harriet Wegener, die in den letzten Kriegsmonaten auch ohne Genehmigung des Propagandaministeriums und ohne Papierbewilligung geeignete Manuskripte setzen und matern ließ. Zeitschriften hatte Hoffmann und Campe zu dieser Zeit noch nicht zu bieten, konnte aber immerhin Pakete mit 50 bis 100 Büchern für die Daheim-Filialen liefern. Darunter waren »Madame de Staël« und »Schiller« von Albert Erich Brinckmann, das »Buch der Lieder« von Heinrich Heine oder eine »Maritime Weltgeschichte«. Das waren gewiss keine Titel, die man in normalen Zeiten einem breiten Publikum angeboten hätte. Aber »in der Not frisst der Teufel Fliegen«. Harriet Wegener hatte sich außerdem während des Krieges im Auftrag 122 von Kurt Ganske darum bemüht, eine Daheim-Werksbibliothek aufzubauen. Sie hatte zwar nur einen Teil der gewünschten Werke auftreiben können, aber jetzt war auch das eine kleine Hilfe. Selbst bei Kunden wurden Bücher eingesammelt, wenn sie bereit waren, ein paar Schmöker für den Verleih zur Verfügung zu stellen. Auch die Übernahme des Wegweiser Verlags, der aus dem Volksverband der Bücherfreunde hervorgegangen war, diente wohl vor allem dem Zweck, der dort noch vorhandenen Bücher bestände habhaft zu werden. Sie wanderten 1946 zum Teil in die Mappen von Daheim, gaben aber auch HoCa die Möglichkeit, dem Buchhandel etwas zukommen zu lassen. Angereichert wurden die Mappen mit ein paar älteren Zeitschriften, die erhalten geblieben waren. Dazu kamen sporadisch erscheinende Blätter, die wegen des Papiermangels aber immer nur sehr kleine Auflagen hatten. Die Mitglieder des Lesezirkelverbandes verpflichteten sich daher, diese Zeitschriften nach einem bestimmten Schlüssel untereinander aufzuteilen. Alle Betriebe sollten so eine Chance zum Überleben erhalten. »Mein Vater hat erzählt, dass sogar Halbhefte in die Mappen gelegt wurden, damit die Bezieher nicht gleich das ganze Blatt in einer Woche lasen«, erinnert sich sein Sohn Thomas. Gelegentlich konnten auch aktuelle Zeitschriften aus Österreich beigelegt werden. Dort erschienen schon 1945 wieder regelmäßig mehrere Titel. Deren Export nach Deutschland war zwar verboten. Es gelang aber schon 1946, eine Waggonladung davon über die Grenze zu schmuggeln. Wie das geschah, »wird wohl immer Geheimnis der Beteiligten, insbesondere auch des Verfassers dieses Aufsatzes, bleiben müssen«, berichtete ein Verbandsfunktionär später etwas wichtigtuerisch. Das war nicht der Lesestoff, den Daheim seinen Kunden früher geboten hatte. Die Mappen konnten zunächst auch nicht mit der gleichen Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit geliefert werden. Aber es war ein Anfang. 123 Erst kommt das Fressen … Fast von vorn anfangen musste man auch wieder mit dem Aufbau des Kundenstamms. Einige der Karteien und damit auch die Kundenadressen waren vernichtet oder entwendet worden. Die meisten waren jedoch erhalten geblieben. Die Anschriften stimmten aber in vielen Fällen nicht mehr. Die Häuser waren zerstört, die Bewohner umgekommen, geflohen oder in anderen Stadtteilen in die noch erhaltenen Wohnungen eingewiesen worden. Viele kamen überhaupt nicht mehr in die frühere Heimat zurück. Sie blieben da, wohin sie durch Evakuierung, Flucht oder Vertreibung verschlagen worden waren. Dennoch gelang, was zunächst schier unmöglich erschien: Bis Ende 1946 konnte etwa die Hälfte der früheren Kunden wieder beliefert werden. Um allerdings an die Abo-Zahlen heranzukommen, die vor dem Krieg erreicht worden waren, musste die andere Hälfte neu geworben werden. Während des Krieges hatte man sich damit zurückgehalten. Harriet Wegener hatte sich zunächst darüber geärgert, dass bei der Grünen Mappe ihre Hinweise auf potenzielle Kunden scheinbar auf wenig Interesse stießen. Erst auf Nachfrage erfuhr sie, dass Kurt Ganske dies so angeordnet hatte. Er wollte nicht, dass ausgebombten Konkurrenten das Wasser abgegraben wurde. Als alle wieder die gleiche Chance für einen Neubeginn hatten, war es mit der Zurückhaltung allerdings vorbei. Schon 1946 konnten in den drei westlichen Besatzungszonen 15 Filialen wieder in Betrieb genommen werden. Im folgenden Jahr waren es weitere acht, davon sechs in der sowjetischen Besatzungszone. 1948 kamen zwei weitere Zweigstellen hinzu – und mit ihnen alte und neue Kunden. Schon 1947, als das 40-jährige Jubiläum der Firma gefeiert wurde – der schweren Zeiten wegen auch diesmal wieder ohne Pauken und Trompeten –, kamen erste Erfolgsmeldungen. Noch im Stil der verflossenen Jahre schickten die Mitarbeiter aus der Daheim-Geburtsstadt 124 ihre Glückwünsche: »Die zur Feier des Geschäftsjubiläums versammelte Gefolgschaft der Filiale Kiel grüßt die Geschäftsleitung und meldet als ersten Erfolg der steten Einsatzbereitschaft die Erreichung des letzten Kriegskundenstammes.« Ähnlich erfolgreich und engagiert arbeiteten offenbar auch die Mitarbeiter in den anderen Filialen, denn der Vorkriegsstand wurde innerhalb der ersten drei Nachkriegsjahre nicht nur erreicht, sondern sogar deutlich übertroffen. Bis zur Währungsreform stieg die Zahl der alten, der wiedergewonnenen und der neuen Abonnenten in den drei Westzonen auf insgesamt 170 000, darunter 9000 Bezieher von Erstmappen. In der sowjetisch besetzten Zone war, gemessen an der Bevölkerungszahl, das Ergebnis noch besser. Dort teilten sich 39 000 Bezieher 2600 Erstmappen. Das bedeutete, dass die alte Rekordzahl um mehr als ein Viertel übertroffen worden war und die Bücher und Zeitschriften, mit denen die Mappen gefüllt wurden, in diesen Jahren bis zu 18-mal den Nutzer wechselten. Auch das war ein Rekord – und ein Indiz dafür, wie groß der Lesehunger war. Um die Mitarbeiter im Allgemeinen und die Außendienstvertreter im Besonderen anzuspornen, gab es außer Geld auch gute Worte, der besseren Wirkung wegen gern auch mal in Form von Liedern und Versen. Um die Mitarbeiter zu motivieren, erinnerten sich einige Filialleiter gelegentlich daran, dass sie zum Volk der Dichter und Denker gehörten. Davon zeugten in den dreißiger Jahren das »Daheim-Firmen-Lied« oder das »Organisatoren-Lied«. Sie wurden auf die Melodie von »Wohlauf, die Luft geht frisch und rein« beziehungsweise »Die Gigerl königin« gesungen und enthielten Verse wie diesen: »Was im Büro zu tun man hat, das wird ein jeder wissen; radieren und auch Striche ziehn tut niemals wen verdrießen.« Beim »Organisatoren-Lied« lautete der nach jeder Strophe erklingende Refrain: »Seht, seht, das ist ein Geschäft, das bringt noch was ein. Ein jeder aber kann es nicht, es muss verstanden sein.« Ge125 schmettert wurden diese Lieder unter anderem anlässlich einer Geschäftsführer- und Organisatoreninstruktion, zu der man sich im August 1935 in der Lüneburger Heide traf. Auch nach dem Krieg ging der eine oder andere Filialleiter schon mal unter die Dichter, um den Mitarbeitern die richtige Einstellung zum Beruf zu vermitteln. Eine solche Lehrtafel in Versform aus den fünfziger Jahren, die ausdrücklich als »Eigen tum der Firma Lesezirkel Daheim Richard Ganske« gekennzeichnet ist, hat alle Umzüge und Umorganisationen überstanden. Joachim Herbst, der seit April 1999 zunächst als Referent des Verlegers in der Ganske-Gruppe gearbeitet hatte und im Oktober 2001 die Geschäftsführung von Daheim übernahm, hat diesen Meilenstein in der Geschichte der Mitarbeitermotivation in einer Rumpelkammer entdeckt und gerade noch rechtzeitig vor der finalen Entsorgung bewahrt. Auf dem Schaubild wird mit jeweils neun Fotos und den dazugehörenden Versen veranschaulicht, was den guten DaheimVertreter vom »Auch-Vertreter« unterscheidet. Während der Gute sich abends zu Hause beim Schachspiel entspannt, den Geist durch Lektüre anregt und sich vor dem Schlafengehen die Zähne putzt, spielt der Taugenichts Karten, raucht, trinkt und hat am nächsten Morgen Mundgeruch. Entsprechend gut oder schlecht führen sich die beiden am nächsten Tag gegen über den Kunden auf. Dass der Musterknabe gut verdient (»Das Tagesziel ist heut erreicht, uns allen fällt der Heimweg leicht«), während der Hallodri den Tag ohne Auftrag und überdies vorzeitig beendet (»Die Arbeitslust war heut’ nicht groß! Kein Auftrag fiel ihm in den Schoß. Trotzdem den Schritt nach Haus er lenkt, fragt nicht, was die Kolonne denkt!«), versteht sich von selbst. So motiviert sammelten die Vertreter in den fünfziger Jahren Aufträge ein wie nie zuvor. Es hätten sogar noch mehr Abonnenten sein können, wenn jeder genommen worden wäre, der gern ein paar Zeitschriften lesen wollte. Aber es gab in den 126 meisten Städten und Regionen, in denen Daheim vertreten war, Sperrgebiete. Dort war es den Vertretern verboten, Aufträge zu schreiben. An Kunden, die selten oder nie zahlten, war man verständlicherweise nicht interessiert. In einem Handbuch, in dem Orte von A wie Aachen bis Z wie Zülpich verzeichnet sind, waren die Straßen, Wohngebiete und sogar Gebäude detailliert aufgelistet, die für Werber tabu waren. In Aachen umfasste die Liste 30 Straßen sowie »alle Bunker«. In Düsseldorf muss es in den ersten Nachkriegsjahren besonders viele zahlungsfaule Kunden gegeben haben, denn immerhin 84 Straßen wurden als No-Go-Zonen genannt. So wurden unter anderem keine Abo-Aufträge mit der Adresse Aachener Straße 172, dem Dietzelweg (Baracke) oder der Katharinenstraße (Ausländerlager) angenommen. Unerwünscht waren auch Kunden in der Leverkusener Straße (Stahlhelmsiedlung) oder aus Ledigenheimen. In München mussten die Vertreter zwar nur um 31 Straßen einen Bogen machen, hatten aber als generelle Anweisung zu beachten: »Des Weiteren sind alle offensichtlichen Baracken- und Kasernen-Abonnenten unerwünscht.« In Hannover war die Gemeindeholzstraße 37 (»Jünglingsheim«) ebenso off limits wie die Ludwigstraße (»Bordell«). Unter Iserlohn findet sich der Hinweis: »Allgemeine Vorsicht in der Altstadt hinterm dicken Turm.« Manchmal versteckten sich Filialleiter aber auch hinter dicken Bäumen, um unliebsame Konkurrenten zu beobachten. Selbst der Prokurist Gustav Dietzel war sich nicht zu fein dafür, gelegentlich Privatdetektiv zu spielen. Es ging dabei um ehemalige Boten, die in den Wirren der letzten Kriegstage Teile der Kundenkartei an sich gebracht hatten oder einfach ihr Gedächtnis strapazierten, um ehemalige Daheim-Kunden ausfindig zu machen, deren Belieferung sie nun selbst in die Hand nehmen wollten. »Das war eigentlich Diebstahl von Firmen eigentum«, stellt Hans Löber klar, der 1949 die Leitung der Filiale in Düsseldorf übernahm, nachdem er vor den Russen in 127 den Westen geflohen war. Er hat selbst so manchen unlauteren Konkurrenten ertappt. Er folgte ihm dann unauffällig auf seinem Weg zu den früheren Kunden. »Wir haben sie dann angesprochen und ihnen ein günstigeres Angebot gemacht. Meist hatten wir sie danach schnell zurück.« Anders war es, wenn Daheim-Vertreter bei jemandem klingelten, der bereits von einem Branchenkollegen beliefert wurde. Dann galt die strikte Regel, dass man sich mit der Be merkung, man wolle bestehende Geschäftsbeziehungen nicht stören, wieder höflich verabschiedete. Der Tag, an dem das neue Geld kam Für den Chef waren andere Hinweise wichtiger. Drei Jahre nach Kriegsende verdichteten sich die Gerüchte über eine bevorstehende Währungsreform. Ein Mitarbeiter berichtete Kurt Ganske im Juni 1948 nach Hohenhaus, dass ihm seit seiner Ankunft in Hamburg das ständige Gerede über einen bevorstehenden Geldumtausch auffalle. Er habe »beobachtet, dass es sich dabei beinahe schon um eine Psychose handelt«. Eine der Folgen sei, dass »man durch das ganze Gerede auch bei den Druckereien immer nervöser und damit immer weniger geneigt wird, etwas zu liefern«. Das galt aber nicht nur für die Druckindustrie. Jeder, der etwas zu verkaufen hatte, wartete ab. Das änderte sich schlagartig, als die Westalliierten am 18. Juni 1948 das Währungsgesetz bekanntgaben. Fast gleichzei tig und ohne Absprache mit den Alliierten verkündete Ludwig Erhard, der damalige Zonen-Wirtschaftsdirektor und spätere Bundeswirtschaftsminister, die Abschaffung der seit Kriegsbeginn geltenden Zwangsbewirtschaftung und setzte diesen radikalen Bruch mit der Vergangenheit auch tatsächlich gegen den Widerstand der Militärregierung durch. Am 20. Juni wurde die neue Währung ausgegeben. Die abgewirtschaftete Reichsmark wurde durch die Deutsche Mark 128 ersetzt. Jeder Einwohner der Trizone erhielt zunächst 40 D-Mark »Kopfgeld«. Schon am Tag danach lagen in den Schaufenstern Waren, die man seit vielen Jahren nicht mehr gesehen hatte. Es gab Orangen, Schokolade und viele andere Dinge zu kaufen, die Kinder und Jugendliche nur aus den Erzählungen ihrer Eltern kannten. Die schwarzen Märkte dagegen verschwanden buchstäblich über Nacht. Gleichzeitig erlosch das Interesse an Kultur und Unterhaltung. Die Westdeutschen stürzten in die Geschäfte und gaben das neue Geld für Essen und Trinken, später für Kleidung und Wohnung aus. Kinos, Konzertsäle, Kabaretts und Museen dagegen blieben nach der Währungsreform leer. Selbst mit radikal gesenkten Preisen ließen sich die Zuschauer nicht in die notdürftig instandgesetzten Opernhäuser und Theater locken. Zum Erstaunen der Verlagsbranche galt dies zunächst nicht für Bücher. Die verkauften sich auch dann noch, als mit harter D-Mark dafür bezahlt werden musste, wie »warme Semmeln«. Erst Mitte 1949 brach auch hier die Nachfrage schlagartig ab. Die Lesezirkel dagegen hatte der radikale Wandel der Konsumgewohnheiten sofort und mit voller Wucht getroffen. War es bis zur Währungsreform schwerer, an Zeitschriften als an neue Kunden zu kommen, so drehte sich dies nun wieder um. Während jeden Monat neue Blätter an die Kioske kamen, hagelte es bei den Lesezirkeln Abbestellungen. Viele der klei neren Betriebe, die den Krieg und die Hungerjahre mit Ach und Krach durchgestanden hatten, überlebten diesen Schock nicht. Auch Daheim traf es hart. Der Lesezirkel hatte zwar aus dem Stand heraus seine überragende Marktstellung zurück erobert, verlor aber nach dem Währungsschnitt seine Abonnenten fast ebenso schnell, wie er sie zuvor gewonnen hatte. In den drei Westzonen kehrte innerhalb kürzester Zeit fast jeder zweite Bezieher dem Lesezirkel wieder den Rücken. Die Kundenzahl sank innerhalb weniger Monate auf 95 000. Auch im Osten ging 1948 ein beträchtlicher Teil der in den zwei Jahren 129 zuvor gewonnenen Kunden wieder verloren. Im sowjetisch besetzten Teil Deutschlands lag es allerdings nicht daran, dass die Abonnenten durch volle Schaufenster vom Lesen abgelenkt wurden. Es war vielmehr die anhaltende Not, die auch im Osten zu einer Flut von Abbestellungen führte und in der SBZ die Zahl der Bezieher auf 33 000 schrumpfen ließ. Das war allerdings nicht der Grund, warum Kurt Ganske seine ostdeutschen Filialen in eine selbständige Kommanditgesellschaft umwandelte – er ahnte wohl, dass bald ganz andere Probleme auf ihn zukommen würden. Tatsächlich endete das Engagement im Osten schon 1951 mit einem Totalverlust. Der Welle der Verstaatlichungen fielen neben zahlreichen anderen Betrieben auch die Lesezirkel zum Opfer. Die mit großem Einsatz wiederaufgebauten DaheimFilialen in Leipzig, Dresden, Görlitz, Magdeburg, Chemnitz und Zwickau wurden enteignet und ihre Verwaltung der Post übertragen. Das war der Anfang vom Ende. Ebenso wie die anderen Lesezirkel verschwanden auch die Daheim-Filialen in der späteren DDR bald spurlos von der Bildfläche. Einige der Mitarbeiter, denen die Flucht gelang, stießen danach im Wes ten wieder zu ihrer alten Mannschaft. Andere wurden von Hohenhaus aus noch jahrelang mit Wurstpaketen und anderen Köstlichkeiten versorgt, die das Arbeiter- und Bauernparadies ihnen nicht bieten konnte. Es war vor allem Gerda Ganske, die den Kontakt zu vielen der früheren Mitarbeiter auch dann nicht abreißen ließ, als sie für Jahrzehnte hinter Mauer und Stacheldraht verschwanden. Kleine Münzen, großer Gewinn Die Menschen im Osten mussten noch fast ein halbes Jahrhundert warten, bis auch für sie die magere Nachkriegszeit endgültig vorbei war. Die 1949 gegründete Bundesrepublik dagegen ging einem phänomenalen Wirtschaftsaufschwung entgegen, 130 dem deutschen »Wirtschaftswunder«. Verlierer der Reform waren die kleinen Sparer, deren Guthaben bei der Umstellung stark entwertet wurden. Besitzer von Sachwerten kamen dagegen weitgehend ungeschoren davon. Betriebe, Häuser, Fahrzeuge oder Waren behielten ihren Wert und konnten als Startkapital bei dem nun beginnenden Wettlauf in den Wohlstand dienen. Kurt Ganske verschaffte sich noch einen zusätzlichen Startvorteil. Als sich die Gerüchte über eine bevorstehende Währungsreform verdichteten, gab er seinen Boten die zunächst merkwürdig erscheinende Anweisung, beim Inkasso nur noch Münzen zu akzeptieren. Und er wies die Filialleiter an, das Kleingeld nicht zur Bank zu bringen. Er sah voraus, dass es angesichts der Rohstoffknappheit und der begrenzten Kapazitä ten in den Münzanstalten am Stichtag zwar die neuen Scheine geben würde, nicht aber genügend Münzen. »Diese Erfahrung hatte er aus der Zeit der großen Inflation in den zwanziger Jahren«, weiß sein Sohn Thomas Ganske. »Das war nun eine seiner Finanzierungsideen in der Zeit des Wiederaufbaus.« Tatsächlich blieben die abgegriffenen Pfennige und Groschen auch nach Einführung der D-Mark noch längere Zeit als Wechselgeld im Umlauf. Während Banknoten und Kontobestände eins zu zehn abgewertet wurden, konnten Münzen später zum Nennwert in DM getauscht werden. Für die meisten Bundesbürger spielte das keine große Rolle. Bei ihnen klimperte nur eine Handvoll Kleingeld in der Tasche. Kurt Ganske dagegen hatte es sackweise eingesammelt und tauschte seinen Münzschatz erst ein, als er von den Banken Gutschriften dafür in der neuen, stabilen Währung bekam. Der Verlust an Kunden ließ sich nicht so leicht wettmachen. Doch die vielen neuen Blätter und die wieder zunehmende Qualität der Zeitschriften ließ zu Anfang der fünfziger Jahre auch die Leselust wieder wachsen. Angesichts der zunächst noch sehr geringen Einkommen zeigte der Hinweis der Daheim131 Werber auf den Preisvorteil des Gemeinschaftslesens wieder seine schon seit 300 Jahren gewohnte Wirkung. Eine aktuelle Mappe mit zehn Zeitschriften kostete 2,70 DM. Das war schon eine kräftige Ersparnis gegenüber den Einzelverkaufspreisen dieser Blätter. Wer sich länger gedulden wollte, bekam die gleichen Blätter noch günstiger. Ein Bestellschein aus dem Jahr 1950, den eine Daheim-Kundin nach Jahrzehnten in ihren Unterlagen fand, zeigt, dass sie damals eine Mappe der Klasse 7 (Lieferung sieben Wochen nach Erscheinen) für eine wöchentliche Leihgebühr von 60 Pfennig erhielt. Heutigen Lesern erscheint das auf den ersten Blick außerordentlich billig. Das war es auch im Vergleich zu den Einzelverkaufspreisen am Kiosk. Aber die Abo-Preise müssen auch mit den damaligen Einkommen verglichen werden. In einer Verkäuferschulung für die Außendienstmitarbeiter wurde 1951 vorgerechnet, dass ein fleißiger und gut organisierter Vertreter es durch vermehrte Anstrengungen durchaus auf zusätzliche Provisionen von monatlich 57,80 DM bringen konnte. Wenn dieser materielle Ansporn allein nicht ausreichte, hielt ein Schulungsplan, der »Oberreisenden« Anfang 1951 für ihre Außendienstler in die Hand gedrückt wurde, aufmunternde Worte bereit: »Während den einen vor allem die materiellen Vorteile reizen, wird der andere den höheren Gewinn in der Stärkung seines Selbstbewusstseins suchen und finden. Er erlebt dann den prickelnden Reiz des Sprichwortes: Der Mut kommt vom frühen Gelingen!« Auch diejenigen, die ihre Mitarbeiter auf diese Art moralisch aufrüsten sollten, mussten sich Anfang der fünfziger Jahre noch mit – aus heutiger Sicht – bescheidenen Einkünften begnügen. Einem Angestellten im Außendienst mit Kontrollund Leitungsfunktion wurde 1952 im Anstellungsvertrag ein Bruttogehalt von 275 DM zugesichert. Ein altgedienter Mit arbeiter wie Alfred von Wredenhagen, der sich »nach seiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft 1946 tatkräftig für 132 den Wiederaufbau unseres Betriebes … eingesetzt hat«, wie ihm die Geschäftsleitung bescheinigte, verdiente 1953 als Leiter der Rechtsabteilung und Sonderbeauftragter der Geschäftsleitung 1000 DM brutto. Die beiden Prokuristen, die diesen Brief unterzeichneten, Gustav Dietzel und Alfred Hartz, bezogen seit 1950 ein Grundgehalt von 1200 DM. Dazu kam allerdings eine Umsatzbeteiligung von einem halben Promille. Der Ausbau des Vertriebsnetzes im Westen und intensive Kundenwerbung sorgten dafür, dass die Folgen des schweren Rückschlags nach der Währungsreform und der Enteignung im Osten bald überwunden wurden. Im Westen näherte sich die Zahl der Filialen in großen Schritten dem Vorkriegsstand. 1949 kamen mit Wuppertal, Braunschweig, Dortmund, Duisburg, Essen und Wiesbaden sechs Standorte hinzu. 1950 folg ten Filialen in Gießen und Rendsburg. 1953 fand mit der Eröff nung von drei weiteren Zweigniederlassungen in Bremerhaven, Bochum und Oberhausen der Wiederaufbau seinen Abschluss. In den nun wieder 30 Filialen belieferten 1700 Mitarbeiter mehr Kunden als jemals zuvor. Für 1955 konnte Daheim Anzeigenkunden eine notariell beglaubigte Statistik vorlegen, wonach mit 28 825 Erstmappen insgesamt 344 123 Abonnenten beliefert wurden. In der kleineren Bundesrepublik war die im letzten Friedensjahr im Deutschen Reich registrierte Zahl von Kunden damit mehr als verdoppelt worden. Das entsprach zwar nur einem Marktanteil von gut 14 Prozent. Doch da zur gleichen Zeit rund 800 Lesezirkel um die Gunst der Kunden kämpften, war Daheim ein einsamer Riese unter vielen Zwergen. Im Durchschnitt bestückten die vom Verband registrierten Verleiher Mitte der fünfziger Jahre gerade mal 250 Erstmappen. Zugleich wirtschaftete Daheim so rentabel wie noch nie. Kurt Ganske hatte nach dem Krieg die Wahlmappen abgeschafft und lieferte seinen Kunden nur noch ein festes Sortiment. Das war aus betriebswirtschaftlichen Gründen wesent133 lich vorteilhafter, da es den Einkauf größerer Stückzahlen erlaubte. Es war logistisch einfacher, weil dadurch ein ständiges Umsortieren der Mappen entfiel. Bei Daheim lagen Mitte der fünfziger Jahre zehn Zeitschriften in jeder der über 28 000 Erstmappen, die pro Woche gefertigt wurden. Das bedeutete, dass jede Woche in den Filialen über eine Viertelmillion Hefte in die damals grau melierten Daheim-Umschläge gelegt, geheftet, mit Werbeaufklebern versehen und schließlich in die Mappen gelegt werden mussten. Alles in Handarbeit. Auch in mancher anderen Hinsicht kann man sich heute nur noch schwer vorstellen, wie der Arbeitsalltag Mitte der fünfziger Jahre aussah. Nicht nur, dass ein Geschäftsführer wie Gustav Dietzel die Fingernägel seiner Boten kontrollierte. Er achtete auch sorgfältig darauf, dass mit den Arbeitsmitteln äußerst sparsam umgegangen wurde. »In den Filialen gab es drei Stifte zum Ausfüllen der Karteikarten: Schwarz, Grün und Rot«, erinnert sich Helmut Brümmer, heute Leiter des LKD-Bezirks West in Düsseldorf, an Erzählungen seines Vorgängers Hans Löber. »Wenn Ersatz bei der Zentrale angefordert wurde, kam von dort oft die Frage: Wieso, die können doch erst zur Hälfte abgeschrieben sein?« Da bei den Abonnenten grundsätzlich bar kassiert wurde, waren jeden Abend große Mengen an Münzgeld zu sortieren. Löber zählte bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1979 höchstpersönlich die Tages einnahmen und drehte dann das Kleingeld per Hand zu Geldrollen. Auf die Anschaffung von Zählbrettern wurde aus Kos tengründen verzichtet. Etwas seltsam erscheint heute auch die Haus- und Büroordnung, die in den fünfziger Jahren den Arbeitstag regelte. Er wurde im wahrsten Sinne des Wortes eingeläutet – nämlich durch einen Klingelton. Damit wurden auch Anfang und Ende der Pausen sowie der Feierabend akustisch angekündigt. Wenn die Klingel schrillte, hatte sich jeder Betriebsangehörige bereits »an seinem Arbeitsplatz zu befinden« und durfte »diesen 134 nicht vor dem für ihn gültigen Schlusszeichen verlassen«. Und er hatte auch mit dem Einräumen seiner Stifte oder Karteikarten zu warten, bis es klingelte, denn »die Aufräumarbeiten beginnen erst mit dem Schlusszeichen«. Auch ein »Garderobenwechsel vor dem Schlusszeichen ist nicht statthaft«. Ein Blick auf die eigene Uhr reichte nicht, um sich rechtzeitig an seinen Platz zu begeben oder den Schreibtisch aufzuräumen. Damit es gar kein Vertun geben konnte, hieß es streng: »Maßgebend für die Zeitbestimmung ist die Zeitangabe der Geschäftsuhr.« Mit der Ausrede, dass die eigene Uhr vor- beziehungsweise nachgegangen oder gar stehengeblieben sei, konnte da keiner kommen. Um jedes unnötige Verlassen des Arbeitsplatzes oder gar ein Schwätzchen auf dem Flur von vorneherein zu unterbinden, wurde verfügt: »Zur Geschäftsabwicklung innerhalb des Hauses ist weitestgehend das Haustelefon zu benutzen.« Da sich manche Geschäfte allerdings beim besten Willen nicht am Schreibtisch erledigen ließen, wurde nicht nur angeordnet, dass die Toiletten sauber zu halten seien und keine Zigarettenkippen oder sonstige Gegenstände in irgendwelche Becken geworfen werden dürften. Es wurde auch darauf hingewiesen, dass lautes Reden und Türenschlagen sowohl in den Geschäftsräumen als auch in den Fluren nicht statthaft sei. Dass die Zeit des management by walking noch nicht angebrochen war, geht aus § 7 der Büroordnung hervor: »Jeder unnötige Aufenthalt in Räumen außerhalb des Arbeitsplatzes, das Herumstehen und Herumlaufen sowie Unterhaltungen haben zu unterbleiben. Auch während der Pausen ist der Aufenthalt in anderen Räumen unerwünscht.« Die Unterbringung der Garderobe (Mäntel, Hüte, Schirme) in den dafür vorgesehenen Räumen und Schränken war ebenso penibel geregelt wie das Abstellen von Fahrrädern, das in jedem Fall auf eigene Gefahr geschah. Es blieb auch nicht den Mitarbeitern überlassen, wo sie Handtaschen, Taschentücher 135 oder Brillenetuis verstauten: »Privatsachen können nur in dem unteren Fach der rechten Schreibtischseite verwahrt werden.« Selbst das Abstellen von Kaffeetassen, der Verbleib von Obst resten und Milchflaschen war exakt vorgeschrieben. Da überall »auf peinliche Ordnung« zu achten war, blieb es auch nicht dem Zufall überlassen, wo die Büroutensilien nach Arbeitsschluss zu verstauen waren: »Hefter und Ordner sind an die bestimmten Plätze in den Registraturschränken zurückzustellen, Schreibzeuge, Briefkörbe usw. in den Schreibtischen unterzubringen.« Schreibmaschinen durften auf keinen Fall bis zum nächsten Morgen auf den Tischen bleiben. Sie waren ebenso wie die Rechenmaschinen »nach Büroschluss in den Stahlschränken aufzubewahren«. Richtig modern mutet dagegen folgende Order an: »Das Rauchen ist in allen Büroräumen, in denen mehrere Personen arbeiten, sowie in den Warteräumen, der Garderobe und Toilette im Interesse aller Angestellten verboten.« Es ist übrigens die einzige Vorschrift, deren strikte Einhaltung sich Joachim Herbst, der ein halbes Jahrhundert später die Geschäftsführung übernahm, auch heute noch wünschen würde. In der Mappe zum Erfolg In den fünfziger Jahren galten derartig strikte Regeln als selbstverständlich. Damals wurde von den Kunden auch akzeptiert, dass der Lesezirkelbetreiber ihre Lektüre bestimmte. Das feste Programm gefiel offenbar den Lesern, weil die Mappen gut sortiert waren und jedem in der Familie oder in den Wartezimmern, Restaurants oder Frisierstuben etwas boten. Anders als zu Kaisers Zeiten legten inzwischen auch die meisten Verleger großen Wert darauf, dass ihre Blätter von den Lesezirkeln geführt wurden, und waren bereit, sie zu entsprechend günstigen Preisen zur Verfügung zu stellen – vor allem dann, wenn ein Lesezirkel eine so große Verbreitung garantierte wie Daheim. 136 Das war besonders für neue Zeitschriften und Magazine interessant, die noch keine Stammleser besaßen und sich ihren Platz im Blätterwald erst noch erkämpfen mussten. Deshalb klopfte eines Tages auch ein junger Mann namens Rudolf Augstein bei Kurt Ganske an. Er hatte am 4. Januar 1947 zusammen mit dem Photographen Roman Stempka und dem Kaufmann Gerhard R. Barsch als Lizenzträger die von der britischen Militärverwaltung gegründete Zeitschrift Diese Woche übernommen und in Der Spiegel umbenannt. Auflage 15 000 Exemplare. Die Redaktion saß damals ebenso wie die Daheim-Zentrale in Hannover. Da lag es nahe, beim Nachbarn mal nachzufragen, ob er das freche, junge Magazin nicht in seine Mappe aufnehmen wolle. Kurt Ganske stimmte zu und verhalf so dem noch kleinen Spiegel mit einem Schlag zu einer großen Verbreitung. Zusammen mit den kleineren Lesezirkeln, die nach und nach das neuartige Nachrichtenmagazin ebenfalls in ihr Angebot aufnahmen, kaufte Daheim Augstein anfänglich den größten Teil seiner Auflage ab. 1953 verschwanden 70 Prozent der Druckauflage des Spiegel von damals 150 000 Exemplaren in Zeitschriftenmappen. Der weitaus größte Teil davon wurde den Kunden von Daheim ins Haus gebracht. Dadurch wurde der Spiegel innerhalb kurzer Zeit einem Millionenheer von Lesern bekannt. Das Magazin ging nämlich nicht nur in den Familien, sondern auch bei der öffentlichen Auslage in Wartezimmern oder Gaststuben durch viele Hände. Zwar blätterten auch in den im Einzelverkauf abgesetzten Exemplaren 1956 durchschnittlich mehr als zehn Leser. Doch jedes Heft, das über Lesezirkel verbreitet wurde, nahmen im Laufe der Zeit 26 Personen in die Hand. Auch andere Zeitschriften verkauften in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre einen beträchtlichen Teil ihrer Druckauflage an Lesezirkel. Beim stern waren es zum Beispiel 23 Prozent, bei der Bunten Illustrierten 55 und bei Funk und Familie sogar 137 75 Prozent. Und was bei Daheim in die Mappe kam, kam auch unter die Leute. Obwohl der stern nur ein knappes Viertel seiner Auflage an die Lesezirkel lieferte, erreichte er auf diesem Weg fast zwei Drittel seiner insgesamt 9,2 Millionen Leser – und kein Heft kam je zurück. Von den Exemplaren, die die Verlage an die Kioske lieferten, blieb dagegen immer ein beträchtlicher Teil in den Regalen liegen und landete schließlich als Remittenden wieder beim Absender. Dennoch gab es Zeitschriften, die mit Lesezirkeln nichts zu tun haben wollten. Sie fürchteten, dass sie am Kiosk umso weniger verkaufen würden, je mehr sie an die Verleiher lieferten. Eines dieser Blätter war der Feuerreiter. Als die nach Lesestoff lechzenden Lesezirkel 1948 händeringend um Belieferung ba ten, wollte der Verlag nicht. Später wollten die Verleiher ihn nicht mehr – und noch etwas später verschwand der kühne Reiter von der Bildfläche. Auch einem anderen Magazin, das damals neben dem stern und der Neuen Revue um die Gunst der Illustriertenleser kämpfte, bekam der Streit mit den Verleihern nicht. Als man sich nicht über den Bezugspreis für die Quick einigen konnte, verweigerte der Verlag die weitere Belieferung. Damit verzichtete man zwar auf einen sicheren Absatzmarkt, aber das Management war sicher, dies durch einen steigenden Absatz am Kiosk mehr als ausgleichen zu können. Doch das war ein Irrtum. Die Nachfrage am Kiosk stieg nicht, sie fiel sogar kräftig. Ein Branchenkenner hat dafür eine einfache Erklärung: Die Verbreitung durch Lesezirkel erhöht den Bekanntheitsgrad. Aus Zufallslesern im Café oder Hotel werden oft Stammleser. Es gibt aber auch Spontankäufe, die durch die »öffentliche Auslage« ausgelöst werden: Wer beim Friseur einen Beitrag nicht zu Ende lesen kann oder vom Arzt aus dem Wartezimmer geholt wird, ehe er ein Magazin ganz durchgeblättert hat, geht anschließend oft zum Kiosk und kauft sich das Blatt. Das alles entfällt, wenn eine Zeitschrift nicht mehr öffentlich ausliegt. 138 Dass die Lesemappe von der ganzen Familie gelesen wird und bei der öffentlichen Auslage nicht genau kontrolliert werden kann, wer die Mappe zur Hand nimmt, brachte den Lesezirkeln in den fünfziger Jahren allerdings zeitweise gehörigen Ärger ein. Immer mehr Zeitschriften entdeckten, dass sich mit etwas nackter Haut gute Geschäfte machen ließen. Dabei hatten sie ihre Rechnung allerdings ohne die Sittenwächter gemacht, bei denen die Schwelle zwischen leicht bekleideter Schönheit und Pornographie schnell überschritten war. Überdies war bei manchen Zeitgenossen die Diskrepanz zwischen dem, was man heimlich las, und dem, worüber man sich öffentlich entrüstete, recht groß. Die Lesezirkel, die für den Inhalt der Zeitschriften gar nicht verantwortlich waren, gerieten gleich von drei Seiten unter Beschuss: Kunden beschwerten sich, weil sie sich in ihrem sittlichen Empfinden verletzt fühlten oder um das Wohl ihrer Kinder fürchteten; der Staat drohte mit strafrechtlichen Konsequenzen; die Kirchen und Jugendverbände riefen zum Boykott von Lesezirkeln auf, die Schmutz und Schund verbreiteten. Als 1953 gar ein Gesetz zur Bekämpfung jugendgefährden der Schriften beschlossen wurde, saßen Daheim und die kleine ren Lesezirkel erst recht in der Patsche. Wenn eine Zeitschrift zu viel Busen zeigte und deshalb indiziert wurde, war das für die Verlage zu verkraften. Bis die Gerichte entschieden hatten, waren die Blätter längst ausgeliefert und zum größten Teil verkauft. In den Mappen eines Lesezirkels dagegen kursierte die Zeitschrift noch wochenlang. Der Staatsanwalt verlangte von den Betrieben, dass sie die inkriminierten Magazine aus den Mappen entfernten oder von den Kunden zurückholten. Gelegentlich rückte die Polizei an, um die Bestände in den Betrieben zu beschlagnahmen. Zu den Kuriositäten des Gesetzes gehörte nämlich, dass nicht der Täter – also in diesem Fall der Verleger – bestraft wurde, sondern der Überbringer der schlimmen Texte oder Bilder. Der Verleger musste nur befürchten, 139 dass sein Blatt beschlagnahmt wurde. Kittchen drohte ihm nicht. Vom Verleiher der Zeitschrift dagegen wurde verlangt, dass er die Blätter erst prüfte, ehe er sie verteilte. Das war schon aus zeitlichen Gründen nicht möglich und wäre zudem einer Vorzensur gleichgekommen. Und woher sollten die Lesezirkelbetreiber wissen, woran später Staatsanwälte und Gerichte Anstoß nehmen würden – oder auch nicht? Denn Texte und Bilder wurden von den verschiedenen Staatsanwälten und Gerichten höchst unterschiedlich bewertet. Auch mit den Kunden hatten es Daheim und die anderen in dieser Zeit nicht immer leicht. Typisch der Brief einer Abonnentin: »Hiermit bestelle ich die Lesemappe zum nächstmöglichen Termin ab … Ich bin jeden Donnerstag – nach Eintreffen der neuen Lesemappe – damit beschäftigt, alle Illustrierten, in denen fast ausschließlich nur mehr von Liebe, Sex, Geburtenregelung etc. die Rede ist, wegzuräumen, damit sie nicht in die Hände meiner Enkelkinder kommen. Außerdem widern mich diese Artikel derart an, dass ich die Lesemappe nicht mehr in meinem Haus sehen will.« Um die Sexwelle zu kanalisieren, versuchten es die Verleger und ihre Vertriebspartner zeitweise mit einer Selbstkontrolle. Als Vertreter von Daheim saß Geschäftsführer Erwin Schmitz in dem Gremium, das versuchen sollte, den Zeitgeist wieder einzufangen. Doch sie konnten ihn ebenso wenig wieder zurück in die Flasche sperren wie Pfarrer Stammler, der mit der von den Lesezirkeln unabhängigen Nachfolgekommission tapfer weiter in den Kampf gegen »Schmutz und Schund« zog. Übrigens ebenso erfolglos. Um es möglichst allen recht zu machen, boten die Lesezirkel deshalb auch Mappen mit »familiengerechten« Inhalten an. Sie hatten damit aber herzlich wenig Erfolg. Denn dieselben Kunden, die sich zuvor bitterlich über sex and crime beschwert hatten, wollten schon nach kurzer Zeit wieder die Blätter mit den etwas prickelnderen Inhalten. Die Schriften, die von kirch140 licher Seite empfohlen wurden, waren ihnen schon bald zu fade. Der damalige Vorsitzende des Lesezirkelverbandes, der mit gutem Beispiel vorangehen wollte, klagte darüber, dass er von seiner gereinigten Erstmappe nach sechs Wochen eifrigen Werbens gerade mal zehn Stück verkauft hatte. Hin und wieder zog die Nachfrage kurzfristig an – zum Beispiel wenn die Ärztekammer unter dem Druck kirchlicher Kreise zu einer Aktion »sauberes Wartezimmer« aufrief. Doch Ärzte oder Friseure, die daraufhin moralisch unbedenkliche Blätter orderten, reute das meist schon nach zwei bis drei Wochen wieder. Sie wollten die Nackedeis zurück. Für ihre Kunden und Patienten. Oder für sich. Anfang der siebziger Jahre schlief der Kampf gegen Schmutz und Schund endgültig ein. Die Moralapostel starben aus oder gaben sich geschlagen. Abschied vom Gründer Richard Ganske hatte seinen längst vom Junior zum Chef avancierten Sohn Kurt in den Kriegsjahren zwar gelegentlich vertreten, wenn dieser an der Front, in der Gefangenschaft oder während der Flucht für seine Mitarbeiter unerreichbar war. Den erneuten Wiederaufbau des von ihm gegründeten Unternehmens überließ er aber ganz dem Sohn, für den sich bei den Mitarbeitern immer mehr das Kürzel KG einbürgerte. Er meldete sich nur gelegentlich mit Rat oder Widerspruch zu Wort. Er beobachtete von seinem Alterssitz in Hohenhaus aus, wie der Sohn das immer noch als »Lesezirkel Daheim Richard Ganske« firmierende Unternehmen im zweiten Anlauf erneut zum unbestrittenen Branchenprimus machte. Er erlebte damit zugleich den Höhepunkt des Lesezirkelgeschäfts in Deutschland und das all-time high von Daheim: 1700 Beschäftigte in den 30 westdeutschen Filialen belieferten 330 000 Abonnenten mit ausgewählten Zeitschriften. Es war ihm aber nicht vergönnt, 141 das 50-jährige Jubiläum seines Lebenswerks noch zu erleben. Richard Ganske starb am 20. Februar 1956 im Alter von 80 Jahren in Hohenhaus. Deshalb wurde 1957 zum dritten Mal ein wichtiger Jahrestag in aller Stille begangen. Ein Jahr nach dem Tod des Gründers schienen trotz aller Erfolge laute Feiern unangebracht. »Wir wollen davon Abstand nehmen, diesen Tag durch Veranstaltungen zu feiern … sondern in stetem Andenken an den verstorbenen Gründer den weiteren Auf- und Ausbau fördern«, hieß es in einer Mitteilung an alle Mitarbeiter zum 50-jährigen Jubiläum. Eine Sonderzuwendung gab es aber auch diesmal wieder. Und eine kleine Festschrift erschien ebenfalls. Viertes Kapitel Das goldige Bild der Welt D en Spiegel legte Kurt Ganske in seine Mappe. Eine andere Zeitschrift steckte er sich in die Tasche. Was während des Krieges nicht gelungen war, konnte er kurz danach verwirklichen: die Übernahme eines Zeitschriftenverlags. In Hannover hatten zwei Frauen und ein Mann von den britischen Militärbehörden 1947 die Lizenz Nr. 199 zur Gründung des Verlags »Die Stimme der Frau« erhalten. Am 1. Juni 1948 erschien die erste Ausgabe der gleichnamigen Zeitschrift, auf dem Titel vor einer Wolke die Statue eines unbekleideten Paares, das gemeinsam den Blick in die Zukunft richtet. 1,50 DM sollten die Leserinnen für das mit 28 Seiten zumindest äußerlich recht dünne Blättchen zahlen. Ob ihnen dessen Inhalt gefiel, wissen wir nicht; sein Preis war ihnen jedoch offensichtlich zu hoch. Er musste schon bei der zweiten Ausgabe auf eine Mark und kurze Zeit später auf 80 Pfennig gesenkt werden. Das Gründer-Trio plagten wohl schon bald arge Zweifel, ob die Zeitschrift noch lange ihre Stimme im Blätterwald würde ertönen lassen können. Sie erklärten sich deshalb schon drei Monate nach dem Start bereit, ihre Anteile an Kurt Ganske zu übertragen. Besprochen wurde der Deal bei einem Abendessen, zu dem Kurt Ganske und die damalige Herausgeberin, die niedersächsische Politikerin Theanolte Bähnisch, wohl nicht ganz zufäl lig gemeinsam eingeladen worden waren. Vollzogen wurde der Schritt im März 1949. Wie bei Adoptionen üblich, war das für die neue Tochter mit einer Namensänderung und einem Wohnsitzwechsel verbunden. Aus dem Verlag »Stimme 147 der Frau« wurde der Jahreszeiten Verlag. Statt Hannover lautete die neue Adresse nun Hamburg. Auch den Verleger zog es nach Hamburg. Er folgte der Tochter noch im gleichen Jahr in die Hansestadt. »Meinem Vater war klar, dass Hannover nicht die Stadt war, wo sich ein großer Zeitschriftenverlag entwickeln konnte«, weiß Thomas Ganske aus späteren Gesprächen mit ihm. »Es gab damals eigentlich nur die Wahl zwischen Hamburg und München, und die Nähe zu Hoffmann und Campe hat dann für ihn den Ausschlag gegeben.« Die bessere Wohnung war es sicher nicht, die ihn an die Elbe lockte. Der Senat hatte Ganske zwar am Harvestehuder Weg eine hübsche Gründerzeitvilla in Traumlage zugewiesen, und der Blick über die Außenalster war damals so schön wie heute. Aber das Haus war Ende des 19. Jahrhunderts für die Familie eines Reeders gebaut worden. Als kombiniertes Wohnund Bürogebäude war die Villa nicht gedacht. Und als Zentrale eines rasch wachsenden Verlagsunternehmens war sie viel zu klein. Denn nun mussten nicht nur Schreibtische für Kurt Ganske und seine wichtigsten Mitarbeiter aufgestellt werden. Auch der Jahreszeiten Verlag und Hoffmann und Campe einschließlich der Redaktion von Merian mussten darin unterkommen. Für die Familie blieb da nicht viel Platz, wie sich die Söhne erinnern. Hinter dem Arbeitszimmer des Vaters war ein kleiner Raum, in dem die Eltern schliefen. Dahinter befand sich ein noch kleinerer Raum, der als Küche und Bad zugleich diente. »Ich habe da nachts auf einem Brett geschlafen, das über die Badewanne gelegt wurde«, berichtet der damals zehnjährige Michael Ganske und hat noch das Bild vor Augen, wie die Mutter im gleichen Raum auf einem winzigen Herd die Mahlzeiten für die Familie zubereitete. 148 Die Stimme der Frau: Für Sie Der Vater arbeitete unterdessen daran, die Basis für einen vielseitigen Zeitschriftenverlag zu schaffen. Der Adoptivtochter aus Hannover war zwar kein langes Leben beschieden. Knapp zehn Jahre nachdem sie zum ersten Mal ertönt war, wurde die Stimme der Frau 1957 mit dem ebenfalls nur mäßig erfolgreichen Blatt Frau und Heim zusammengelegt und dem Doppelblatt bei dieser Gelegenheit gleich noch ein neuer Titel verpasst. Für Sie lautete von nun das Angebot an die Leserinnen – und die nahmen es an. Deshalb verschwand ein Jahr später Stimme der Frau auch als Untertitel. Was zu Kaisers Zeiten vielleicht angekommen wäre, passte nicht mehr zum Stil der neuen Zeit. Für Sie aber blieb und wirbt bis heute erfolgreich um Leserinnen. Der Traum, eigene Zeitschriften zu produzieren und seine Daheim-Mappen nicht nur mit den Produkten fremder Verlage füllen zu müssen, wäre für Kurt Ganske allerdings auch dann in Erfüllung gegangen, wenn er die Stimme der Frau nicht hätte übernehmen können. Denn noch ehe er mit den Gründern in Hannover handelseinig wurde, waren die Vorbereitungen für zwei eigene Kreationen längst abgeschlossen. Begonnen hatten die Überlegungen schon während des Krieges. Die Konzepte wurden in den Jahren danach entwickelt. Doch erst als nach der Währungsreform das neue Geld da war, kamen beide Blätter im Abstand von nur wenigen Monaten auf den Markt. Als erste eigene Entwicklung erschien Merian. Er trug zwar das Erscheinungsdatum 1. Juli 1948. Begonnen wurde mit der Auslieferung aber bereits am Tag der Währungsumstellung. Schon vier Monate später folgte der zweite Streich: Im November 1948 lag Film und Frau erstmals am Kiosk. Den Lizenzantrag für Merian hatten Kurt Ganske und Martinus Christensen gemeinsam gestellt – und dabei die Städteund Landschaftsbilder als »Buchreihe« deklariert, weil Hoff149 mann und Campe zunächst nur als Buchverlag zugelassen worden war. Vater der Idee war aber allein KG, wie der Verleger intern und selbst in der Familie inzwischen genannt wurde. Er hatte schon lange Zeit vorher seine Liebe zu dem Zeichner und Kupferstecher Matthaeus Merian (1593–1650) entdeckt und da mit begonnen, dessen im 17. Jahrhundert geschaffene Städte ansichten zu sammeln. Seiner Frau hatte er es zu verdanken, dass er die wertvollen, in weißes Schweinsleder gebundenen Folianten nach seiner Rückkehr aus dem Krieg noch vorfand. Denn nachdem die Amerikaner, die im Mai 1945 im Gutshaus einquartiert worden waren, bereits ihren Hochzeitsfilm zerschnippelt hatten, weil sie ihn für Propagandamaterial hielten, wollte Gerda Ganske es nicht riskieren, dass den GIs auch die 300 Jahre alten Bücher in die Hände fielen. Es war nicht auszuschließen, dass sie die Kupferstiche für besonders raffinierte Machwerke von Joseph Goebbels gehalten und kurzerhand verbrannt hätten. Deshalb lud sie die großformatigen Werke auf eine Schubkarre und schaffte sie zusammen mit dem sechsjährigen Michael hinunter ins Dorf. Schon während des Krieges, als ringsum die Städte in Trümmer fielen, hatte Kurt Ganske Harriet Wegener anvertraut, dass er später gern etwas Ähnliches schaffen wolle wie Merian nach dem Dreißigjährigen Krieg. Er träumte von einer Bestandsaufnahme dessen, was in Deutschland und Europa der Orgie der Zerstörungen zum Opfer gefallen war und was von den steinernen Zeugnissen einer jahrtausendealten Kultur noch erhalten geblieben war. »Ich möchte es in Form einer Zeitschrift tun. Dann könnten über die Bestandsaufnahme hinaus später auch neue Entwicklungen mit einbezogen werden«, überlegte er. Als endlich die Waffen schwiegen, griff er die Idee wieder auf. Wegener fand in Professor Heinrich Leippe einen geeigneten Mann, mit dem die Idee umgesetzt werden konnte. Sie arrangierte ein Treffen mit Kurt Ganske. Zu dritt saßen sie in 150 ihrer Wohnung dicht um den kleinen Kohleofen herum, den Harriet Wegener kurz nach Kriegsbeginn in weiser Voraussicht gekauft hatte und der nun dank schwarz beschaffter Kohle ein wenig Wärme spendete, und stritten über das Konzept. Leippe schwebte eine Kulturzeitschrift mit stark literarischem Bezug vor, da er meinte, dass andernfalls nach der Bestandsaufnahme bald der Stoff für die Zeitschrift ausgehen werde. Ganske bemühte sich, ihm seine Idee plausibel zu machen. Die Gefahr, dass der Redaktion früher oder später die Themen ausgehen könnten, sah er nicht, da die Begleitung der Restaurierung, Erneuerung und Weiterentwicklung der Städte und Landschaften Teil seines Konzepts war. Bei einem zweiten Treffen kam man sich näher – aber nun war der Titel ein Problem. »Heimat«, der erste Vorschlag, erschien dem kleinen Kreativteam als zu sentimental und zu eng. Als Leippe fragte: »Warum nicht Merian?«, zuckte Kurt Ganske zurück: »Diesen Namen würde ich so gern akzeptieren, dass ich mich für befangen erklären muss. Da rüber sollen meine Mitarbeiter entscheiden.« Sie fanden ihn offenbar gut. Gut fand Heinrich Leippe schließlich auch die Ideen Kurt Ganskes. Er konzipierte auf dieser Basis nicht nur die erste Ausgabe von Merian, sondern wurde Herausgeber und Gestalter der ersten fünf Jahrgänge, die »für Geist und Struktur der Hefte wegweisend wurden«, wie anlässlich des 25-jährigen Jubi läums der Zeitschrift später vermerkt wurde. Es waren die Jahre, in denen sich die Zeitschrift einem eher klassisch-konservativen Kulturbegriff verpflichtet fühlte. Mit Merian die Welt entdecken Die erste Ausgabe von Merian war dem fast völlig zerstörten Würzburg gewidmet, zeigte aber auf dem Titel, wie glanzvoll sich die Barockstadt früher einmal dem Betrachter dargeboten hatte – gesehen mit den Augen und gestochen von der 151 Hand des Matthaeus Merian. Da das Heft nicht nur monothematisch der Stadt gewidmet war, sondern auch in Würzburg gedruckt wurde, trug es den Vermerk »Unter Verwaltung der amerikanischen Militärregierung«. Für die Autoren und Redakteure, die an den Druckort reisen mussten, um ihre Manu skripte abzuliefern, das Heft zu gestalten und Korrektur zu lesen, war der Ausflug alles andere als eine Vergnügungsreise. »Wir sammelten Lebensmittelmarken im Verlag«, berichtete Harriet Wegener später, »damit sie sich dort etwas Essbares beschaffen konnten.« Es war nicht das einzige Problem, mit dem man sich herumschlagen musste, ehe die erste Ausgabe vorlag. Es reichte nicht, wenn der Verlag den Druckereien Manuskripte schickte. Wer etwas drucken lassen wollte, musste auch die dazu erforderliche Menge an Papier »organisieren«. Die Besatzungsbehörden machten Genehmigungen für Bücher und Zeitschriften nicht nur vom geplanten Inhalt abhängig, sie verlangten auch, dass ein ausreichender Papiervorrat nachgewiesen wurde. Mit Geld allein war Papier jedoch nicht zu beschaffen. Man bekam es nur, wenn man dem Lieferanten außer der fast wertlosen Reichsmark noch etwas anderes anbieten konnte – zum Beispiel Altpapier, Pappe oder Holz. Für zehn Raummeter Holz bekam man im September 1948 mit etwas Glück und guten Beziehungen 2500 Kilo Papier. Wie schon so oft in den zurückliegenden Jahren erwies sich der Erwerb des Rittergutes Hohenhaus auch in dieser Situation als Glücksgriff. Dank der reichen Waldbestände gelang es den Einkäufern des Verlags deshalb immer wieder, Papier für Bücher und Zeitschriften zu beschaffen. Dem ging allerdings meist ein zähes Gefeilsche um das Austauschverhältnis voraus, und nicht immer bekamen sie am Ende die benötigten Mengen. Denn selbst wenn den Papierherstellern das erforderliche Holz bis vor das Werktor gefahren wurde, konnten sie oft nicht so viel produzieren, wie die Kunden wünschten. Ein großer Teil der Anlagen war zerstört wor152 den und konnte mangels Ersatzteilen nur langsam wieder in Betrieb genommen werden. Selbst wenn das Papier endlich bereitstand, hieß das nicht, dass der Drucker zufrieden war und sofort mit der Arbeit begann, wie sich aus einer Mitteilung an den Verlag vom 17. Juni 1947 ersehen lässt. Damit der Druckauftrag für das zweite Merian-Heft, das der Hansestadt Lübeck gewidmet war, auch tatsächlich ausgeführt werde, müsse »außer der Papierzuteilung noch ein Buchgeschenk an den dortigen Betriebsleiter zusammengestellt werden«, hieß es in dem Brief. Der Mann wusste offenbar ganz genau, was seine Kooperation wert war. Der Verlagsmitarbeiter bat daher darum, aus den für solche Zwecke »blockierten Beständen« zehn Titel freizugeben, die der Betriebsleiter genau benannt hatte. Der Absatz der ersten Merian-Auflage von 23 000 Exemplaren war dadurch gesichert, dass Kurt Ganske die Hefte in seine Daheim-Mappen legen ließ. Darauf war man aber bald nicht mehr angewiesen. Auch andere Lesezirkel und die Buchhändler bestellten die neuartige Zeitschrift, so dass eher die Zuteilung als der Verkauf das Problem war. Um den Vorrat etwas zu strecken, schlug Christensen deshalb vor, den DaheimMappen nur noch Halb-Hefte beizulegen. So geschah es auch, wie einige zweigeteilte Hefte beweisen, die im Archiv erhalten geblieben sind. Erleichtert wurde diese Rationierung dadurch, dass der Verlag ab Januar 1949 nicht mehr so tun musste, als handele es sich bei den Heften um Bücher. Denn von da an erschien Merian unter der Zeitschriftenlizenz Nr. 91 des Senats der Freien und Hansestadt Hamburg. Obwohl es sich nun auch offiziell nicht mehr um ein »Buch« handelte, kam Merian im Buchhandel gut an und konnte seinen festen Platz in den Regalen der Sortimenter bis heute behaupten. Anders als sonst bei Zeitschriften üblich, blieben die älteren Ausgaben von Merian von Anfang an in den Läden, wenn die neue Ausgabe ausgeliefert wurde, weil sie – damit dann doch einem Buch 153 ähnlich – von vielen Kunden erst dann gekauft wurden, wenn sie in die jeweilige Stadt oder Region reisten. Besonders erfreulich war, dass sich eine schnell wachsende Zahl von Lesern und Sammlern entschloss, Merian zu abonnieren, damit ihnen keine Ausgabe entging. In den fünfziger Jahren war »virtuelles Reisen« für die große Mehrzahl der Bundesbürger die einzige Möglichkeit, ihr Fernweh zu lindern. Als zum ersten Mal 50 000 Hefte gedruckt wurden, hielt die Redaktion das für einen Grund zu feiern. Nicht so Kurt Ganske. »Nicht auf den Lorbeeren ausruhen«, mahnte er. »Die Auflage muss auf 75 000 steigen.« Ob er ein Freudenfest für angebracht hielt, als die Zahl der Bezieher im Oktober 1956 die Hunderttausend erreichte und später unter der verlegerischen Verantwortung seines Sohnes Thomas die Zweihunderttausend überschritt, ist nicht überliefert. Einen Grund zum Feiern gab es aber jedenfalls, als im August 1981 Heft Nr. 400 erschien. Es war Hamburg gewidmet, dem »Heimathafen« des Blattes, das inzwischen in der ganzen Welt zu Hause war. Über 64 Millionen Exemplare waren bis zu diesem Zeitpunkt gedruckt und verkauft worden, so dass theoretisch jeder Bundesbürger eines davon besaß. Über die Bestandsaufnahme und die melancholische Erinnerung an untergegangene Schätze war man zu diesem Zeitpunkt allerdings schon weit hinaus. Merian, die Kulturzeitschrift, hatte längst den Status einer Kultzeitschrift, war für ihre Lesergemeinde Hausgenosse und Reisebegleiter zugleich geworden. Vor allem in seiner Funktion als Reisebegleiter hat Merian unabhängig von den geschalteten Anzeigen für die beschriebenen Städte, Regionen und Länder auch einen wirtschaftlichen Wert. Denn abgesehen davon, dass die Leser ihr kulturelles, wirtschaftliches und politisches Wissen über ihr Reiseziel erweitern, geben sie dort auch Geld aus. In einer Untersuchung des Baseler Prognos-Instituts wurde 1979 versucht, diese 154 Effekte am Beispiel eines Finnland-Heftes zu bewerten. Dabei ergab sich, dass im Zielland neben dem Verkehrsgewerbe, Hotels und Restaurants vor allem besichtigenswerte Gebäude (wie Schlösser, Kirchen) und Museen von der Berichterstattung profitierten. Aber auch zusätzliche Ausflüge in Regionen, die vorher nicht auf dem Reiseplan standen, waren die Folge der Lektüre. Selbst wenn die Käufer Leser waren, die gar keine Reise planten, waren positive Effekte für Hersteller von Konsum- und anderen Gütern aus Finnland festzustellen. Entweder waren deren Produkte und Dienstleistungen den Lesern durch die Berichterstattung erst bekannt geworden, oder sie wurden mit neuem Interesse betrachtet. Sehr deutlich profitierten aber auch Anbieter im Inland von der Beschäftigung der rund 850 000 Leser mit Land und Leuten im hohen Norden. Das galt insbesondere für Reiseveranstalter, aber auch für den Einzelhandel und für Institutionen, die Finnland in der Bundesrepublik repräsentieren. Viel Holz vor der Hütte Martinus Christensen nahm an dieser Entwicklung nicht mehr teil. Nachdem ihm Kurt Ganske bereits kurz nach dem Krieg weitere 40 Prozent der Verlagsanteile abgekauft hatte, überließ er dem Kompagnon 1950 auch die restlichen 10 Prozent und schied im Alter von 66 Jahren aus dem Verlag aus. Er besaß nicht die Nerven und die finanziellen Mittel, um bei dem forschen Expansionstempo mitzuhalten. Das Geld hätte sein Partner vielleicht auch nicht gehabt – aber er hatte etwas in der damaligen Zeit viel Wertvolleres: »Nach dem Krieg hat Herr Ganske mit dem Holz aus seinen Wäldern den Wiederaufbau der Lesezirkelfilialen finanziert. Und der Lesezirkel hat zunächst auch den Wiederaufbau von Hoffmann und Campe finanziert«, erklärte Harriet Wegener einem Gesprächspartner 1978 die Hintergründe. Anders wäre es Kurt Ganske auch nicht 155 möglich gewesen, schon am Tag der Währungsreform den Start einer Zeitschrift wie Merian zu riskieren. Merian war und blieb immer eines seiner Lieblingskinder. »Da war er mittendrin, bei der Konzeption ebenso wie später bei der Weiterentwicklung. Mein Vater hätte spielend Chefredakteur von Merian sein können«, urteilt Michael Ganske auch noch aus der Distanz von Jahrzehnten. Doch KG beschränkte sich darauf, Chefredakteure zu ernennen. Als sich der Germanist Heinrich Leippe im April 1953 als Blattmacher verabschiedete, berief er Albrecht Bürkle, der zuvor schon vier Jahren lang als Stellvertreter Erfahrung gesammelt hatte, zum Leiter der Redaktion. Er gehörte neben Harriet Wegener und Alfred Hartz zu den wenigen Führungskräften, mit denen Kurt Ganske persönlich befreundet war, die er nach Hause einlud und von denen er sich privat einladen ließ. Bürkle demonstrierte bereits mit dem ersten Heft, für das er verantwortlich zeichnete, wohin er das Blatt führen wollte. Hatte sich Merian bis dahin ausschließlich deutschen Städten und Landschaften gewidmet, so öffnete er nun den Lesern das Tor zur Welt – lange ehe sie es sich selbst leisten konnten, Reisen in die Ferne zu unternehmen. Das erste internationale Heft war Paris gewidmet und glänzte nicht nur mit brillanten Bildern. Es waren auch namhafte Autoren, die er für diese Ausgabe gewonnen hatte. Einer davon war Theodor Heuss, Journalist und Honorar-Professor für politische Wissenschaften, der drei Monate später zum zweiten Mal zum Bundespräsidenten gewählt wurde. Andere waren Schriftsteller wie Jean Cocteau, Ernst Jünger oder Stefan Andres. Im Inhaltsverzeichnis standen zudem Colette, Françoise Giroud und Henry de Montherlant. Aber auch ohne ins Heft zu blicken, war sofort zu erkennen, dass sich bei Merian etwas verändert hatte: Der Umschlag bestand erstmals aus Hochglanzkarton, den Rücken zierte ein Leinenfälzel – eine kleine Aufmerksamkeit für Leser, die sich Merian ins Bücherregal stellten. 156 Die 100. Merian-Ausgabe, die drei Jahre später im Oktober 1956 erschien, war der Kunst- und Kulturstadt Florenz gewidmet und enthielt ein klares Bekenntnis zur »Dokumentation Gesamteuropas«. Bis allerdings auch Osteuropa in die Gesamtschau der europäischen Kulturlandschaften einbezogen werden konnte, mussten noch fünf weitere Jahre vergehen. Mit dem im Dezember 1961 erschienenen Prag-Heft konnte zwar endlich der Eiserne Vorhang überwunden werden, es war aber auch in anderer Sicht ein Zeitdokument. Es ging als das »Wanzen-Heft« in die Verlagsgeschichte ein – in Erinnerung an die ständigen Beschattungen und Abhöraktionen während der einjährigen Recherchen. Glücklicherweise waren diese Überwachungsversuche meist so plump, dass es sich leicht vermeiden ließ, Gesprächspartner durch unbedachte Äußerungen in Schwierigkeiten zu bringen. Premieren hatten auch vorher schon gelegentlich zu kleinen Überraschungen geführt. Als im Juni 1958 zum ersten Mal keine europäische Landschaft und kein historisches Bauwerk auf dem Titelbild zu sehen war, sondern ein hübscher Fischerjunge, wollte die Redaktion den Lesern damit nur Lust auf das schöne Italien und seine freundlichen Menschen machen. Doch dann klärte einer dieser Leser die Redaktion darüber auf, wer für das Foto Modell gestanden hatte. Es war der bekannteste Strichjunge Neapels. Merian eilte seinen Lesern bei der Eroberung der Welt immer ein wenig voraus. Erst in Europa, dann in Afrika und Nahost. Die außereuropäischen Streifzüge begannen im September 1963 mit Marokko, 1965 folgte der Libanon, ein Jahr später Äthiopien. Danach war bald kein Ziel mehr zu weit: Mit Südafrika, Ceylon und Mexiko, Tokio und der Karibik wurde Merian in den siebziger Jahren zum globalen Reise- und Kulturmagazin und schürte so bei seinen Lesern nicht nur durch den Untertitel »die Lust am Reisen«. Als Kurt Ganske seinem jüngeren Sohn Thomas 1974 die verlegerische Verantwortung für 157 Merian anvertraute, war man schon bei den Antipoden angelangt. Weiter ging’s nimmer: Australien und damit gleich ein ganzer Erdteil war das Thema im Mai 1974. Im Laufe dieser Jahre wurde es für die Redaktion immer schwieriger und schließlich unmöglich, noch irgendwo vor den Lesern anzukommen. Die Deutschen waren zum Reiseweltmeis ter avanciert. Aber wer nicht nur reist, um aus dem Alltag herauszukommen und braun zu werden, sondern auch etwas über Land und Leute, über Kultur und Küche erfahren will, nimmt Merian mit auf die Reise – und ist höchst verwundert, wenn er einmal zu seinem Reiseziel kein passendes Heft finden kann. Seit Erscheinen des ersten Würzburg-Heftes haben sich nicht nur die Welt und die Reisegewohnheiten geändert. Auch das Magazin selbst hat sich gewandelt. Das Leinenfälzel kam und ging wieder, ebenso wie die legendären, von Künstlerhand gezeichneten Merian-Karten. Es kam immer mehr Farbe und Glanz ins Heft. Aus den bescheidenen vier Kunstdruckblättern der frühen Jahre und den holzhaltigen Textseiten, der Mischung aus Kunst- und Buchdruck, wurde schließlich ein Magazin, das durchgängig in Farbe auf gestrichenem Papier gedruckt wird. Auch Layout, Bildgestaltung und Typographie wurden immer wieder den sich wandelnden Sehgewohnheiten angepasst. Merian bot großen Fotografen wie Max Scheeler, Reinhard Wolf oder Dennis Stock eine Bühne und schaffte es immer wieder, Autoren von Weltruf zu gewinnen, die neben den Bildern für die »Grauwerte« sorgten, wie Art Directoren die Texte gelegentlich respektlos zu bezeichnen pflegen. Namen großer Schriftsteller zieren wie ein »Who’s Who« des interna tionalen Feuilletons die historischen Merian-Ausgaben: Thomas Mann, Norman Mailer, Siegfried Lenz oder Henry Miller, um nur einige zu nennen. Einen großen Fang machte Merian mit Willy Fleckhaus, der Anfang der achtziger Jahre ein modernes, durchgängiges Layout für Merian entwickelte. Er gestaltete den Schriftzug des 158 Titels neu und verschaffte den Bildern mehr Raum im Heft. Er sorgte dafür, dass Überschriften einheitlich und nicht mehr in den unterschiedlichsten Schriften gesetzt wurden und dass die Bildzeilen nicht mal über, mal unter, mal neben und manchmal mitten im Bild standen. Gewonnen für diese Aufgabe hatte ihn Ferdinand Ranft, der designierte Chefredakteur. Ein Jahr vor der Verabschiedung des langjährigen, hochverdienten Blattmachers Will Keller in den Ruhestand hatte Thomas Ganske den Nachfolger bereits ins Haus geholt. Keller hatte die Zeitschrift von 1960 bis 1979 geführt und damit länger als jeder andere vor oder nach ihm. Nun war es aber Zeit für einen Neubeginn – und Thomas Ganske, damals Verlagsleiter von Hoffmann und Campe, gab Ranft die erforderliche Zeit, sich vorzubereiten. »Das war wunderbar, denn dadurch hatte ich die Möglichkeit, in aller Ruhe über neue Konzepte, Themen und die notwendigen optischen Veränderungen nachzudenken – eine Chance, die man so nur selten bekommt.« Thomas Ganske gefiel die neue Optik so gut, dass er Fleckhaus beauftragte, für die ganze Gruppe eine Corporate Identity zu entwickeln, ein einheitliches optisches Erscheinungsbild, mit dem sie sich seither der Öffentlichkeit präsentiert. Inhaltlich setzte Ranft ebenfalls neue Akzente und sorgte für mehr Nutzwert. Denn seit die Leser den Reportern nicht mehr nur in Gedanken in fremde Länder folgten, sondern selbst dorthin fuhren oder flogen, wollten sie nicht mehr nur über Land und Leute, Geschichte und Kultur informiert werden. Sie wollten auch etwas über die Ein- und Ausreisebestimmungen erfahren und wissen, welche Kleidung zweckmäßig und welche Einkäufe günstig waren. Es interessierte sie, wo man gut essen und preiswert schlafen konnte. Deshalb wurde auf den hinteren Seiten ein Informationsteil eingerichtet, der sie über Wetter und optimale Reisezeiten, Festivals, Messen oder Volksfeste informierte, ein Service, der heute selbstverständlich ist. 159 Das ging allerdings nicht immer ohne heftige Auseinandersetzungen mit einer Redaktion, die es bis dahin für unter ihrer Würde gehalten hatte, sich mit so profanen Dingen wie Schlafen, Essen und Trinken zu beschäftigen. Auch das neue Erscheinungsbild rief erst einmal Vertreter der Gruppe »Das haben wir noch nie so gemacht« auf den Plan. Die für die Herstellung zuständige Kollegin verstieg sich sogar zu der Behauptung, der Betrieb in Würzburg, wo Merian damals immer noch gesetzt und gedruckt wurde, sei gar nicht in der Lage, die Bildunterschriften so zu setzen, wie Fleckhaus das wollte. Aus seinen Jahren bei der Zeit kannte Ranft aber noch ein paar altgediente Setzer und erkundigte sich bei ihnen, ob das technisch tatsächlich nicht möglich sei. Als die nur lachten, bot er seiner Herstellerin an, dort mal anzurufen. Danach wurde nie mehr über Probleme dieser Art diskutiert. »Wir haben uns schnell zusammengerauft, es waren ja alles kluge Leute«, resümiert Ranft. Er entdeckte sogar eine Region der Welt, die bis dahin sowohl für Merian als auch für seine Leser noch terra incognita war: China. Das Reich der Mitte hatte sich jahrzehntelang gegenüber der Welt abgeschottet. Es war nicht interessiert an reisenden Journalisten und an Touristen, die ihren Spuren folgten. Doch als das Land sich langsam wieder von den Schreckensjahren der »Kulturrevolution« erholte, sah Ferdi nand Ranft die Chance, es mit den Augen von Merian neu zu entdecken. Es fügte sich glücklich, dass Hildegard Hamm-Brücher, die er seit gemeinsamen Zeiten im Sandkasten kannte, zwischen 1976 und 1982 Staatssekretärin im Bonner Auswärtigen Amt war. Über sie kam ein Kontakt zur chinesischen Botschaft zustande – und Ranft kam erneut ein glücklicher Zufall zu Hilfe. Denn als er dem zuständigen Attaché erklären wollte, um welches Blatt es sich handelte, das auf den Spuren Marco Polos wandeln und wie einst der venezianische Entdecker das geheimnisvolle Land den Europäern wieder näherbringen 160 wollte, deutete der nur mit dem Daumen hinter sich. Im Regal stand eine komplette Sammlung von Merian-Heften. Es folgte eine lange Reise kreuz und quer durch China – natürlich immer in Begleitung eines Dolmetschers und mit einem Tross von Aufpassern im Schlepptau, die zu Lasten des Redaktionsetats mitreisen mussten. Aber da das damals in China noch mit einer Pauschale von 100 Mark täglich abgegolten werden konnte, nahm selbst in der stets auf Sparsamkeit bedachten Hamburger Zentrale niemand ernsthaft daran Anstoß. Als das Heft erschien, enthielt es neben Reportagen und Bildern, die das neue China und die Reste des alten zeigten, die die Kulturrevolution überdauert hatten, den Aufsatz einer chinesischen Autorin. Sie schilderte den Lesern ebenso anschaulich wie authentisch das mühselige Leben einer chinesischen Durchschnittsfamilie. Das war seinerzeit eine kleine Sensation. Es gab auch weniger erfreuliche Erlebnisse. Zu den dun kelsten Stunden von Merian gehört der gewaltsame Tod eines Redakteurs, der während einer Recherchereise Opfer eines Raubmordes wurde. »Ein sehr tüchtiger, erfahrener Journalist«, beschreibt ihn Ranft. Er sollte ein Karibik-Heft vorbereiten. Als die Redaktion erfuhr, dass dem Kollegen in seinem Hotelzimmer die Kehle durchgeschnitten worden war, standen alle so unter Schock, dass der Chefredakteur sie erst einmal nach Hause schicken musste. Am nächsten Tag setzte man sich zusammen, um zu über legen, wie das Heft noch »aus dem Feuer gerissen werden konnte«. Das war nicht einfach, weil das Prinzip galt, dass jedes Heft von einem verantwortlichen Redakteur betreut wurde, der in die Region reiste, dort nach Themen, Autoren und Fotografen suchte und die notwendigen Vereinbarungen traf. Da die Vorbereitungen sich meistens über einen Zeitraum von mehr als einem Jahr hinzogen, war es schwer, Ersatz zu finden, wenn der zuständige Kollege plötzlich ausfiel. »Die Manu skripte lagen noch längst nicht alle vor, und wir wussten nicht, 161 welche Absprachen er mit Autoren und Fotografen getroffen hatte. Das ganze Know-how war mit einem Schlag verloren«, erinnert sich Ranft an diese trüben Tage. Aber das KaribikHeft erschien schließlich doch noch pünktlich. Merian gehört neben stern und Spiegel zu den wenigen Zeitschriften aus den Gründerjahren der Bundesrepublik, die alle Veränderungen in der Medienlandschaft überstanden haben. Ein Jahr nach der Wiedervereinigung ließen sich 130 000 Abon nenten diese spezielle Form der Weltanschauung regelmäßig ins Haus bringen, weitere 100 000 kauften Merian im Buchhandel, ehe sie sich ins Auto oder Flugzeug setzten. Viele nutzen die Zeitschrift aber nach wie vor auch für virtuelle Reisen, zur preiswerten und risikofreien Begegnung mit Menschen und Ländern, die sie persönlich nie besuchen können oder wollen. Eines der großen Ereignisse der deutschen Geschichte geriet zugleich zu einem Höhepunkt in der Geschichte von Merian. Als Nachfolger von Ferdinand Ranft hatte Verleger Thomas Ganske 1998 Manfred Bissinger ins Haus geholt, der sich zuvor in den Chefredaktionen von stern, konkret und Natur einen Namen gemacht hatte. Nun sollte er Merian erneut grundlegend renovieren und modernisieren. Das war wegen der wachsenden Konkurrenz am Markt der Reisezeitschriften dringend notwendig geworden. Zudem hatte Gruner + Jahr das monothematische Prinzip von Merian für die Line Extension GEOSpezial kopiert, eine Ableger-Reihe seiner sehr erfolgreichen Magazin-Neugründung GEO. Bericht aus einem unbekannten Land Ein erstes Kräftemessen ging allerdings klar zugunsten von Merian aus. Als der Wind der Veränderung durch den damaligen Ostblock wehte und deutlich wurde, dass auch die DDR sich Perestroika und Glasnost nicht verschließen konnte, hatte Bissinger außerhalb der Reihe ein Extra-Heft zur DDR konzi162 piert, das 1990 anlässlich der Maueröffnung »exklusive Geschichten und aufregende Bilder aus einem unbekannten Land« versprach. Das Heft wurde ein sensationeller Erfolg. Mit über 500 000 verkauften Exemplaren hält es bis heute den Auflagenrekord. Es hätten sogar noch mehr Hefte sein können, wäre Merian-Extra DDR wegen Nachdruckproblemen nicht zwischenzeitlich vergriffen gewesen. Der Erfolg ließ den Verleger und die Merian-Redaktion nicht ruhen. Bissinger und zwei Dokumentare konzipierten über ein langes Wochenende in Generalstabsarbeit fünf weitere Hefte, die die neuen Bundesländer im Osten den Deutschen im Westen näherbringen sollten. Als Autoren gewann er unter anderen Günter Grass, Erich Loest, Günter de Bruyn, Wolf Jobst Siedler und Guntram Vesper. Die fünf Hefte kamen gemeinsam auf den Markt, verpackt in einen Schuber, der überdies noch eine große Extra-Karte der DDR sowie ein Re gister enthielt. Auf insgesamt 750 Seiten wurden die Länder Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Meck lenburg-Vorpommern in ihrer kulturellen, geschichtlichen, wirtschaftlichen und touristischen Vielfalt vorgestellt. Die Bestandsaufnahme des deutschen Ostens wurde im Buchhandel zu einem Schlager des Weihnachtsgeschäftes 1990. Schon nach sechs Wochen waren 250 000 Kassetten verkauft. Große Unternehmen wie Daimler-Benz oder Coca-Cola verschenkten sie als Jahresgabe an ihre Kunden. Die infolge der Wiedervereinigung stark ausgelasteten Druckereien hatten erneut Probleme, rasch für ausreichenden Nachschub zu sorgen. Die Kassette kam aber nicht nur bei den Lesern gut an, sie fand auch ihren Weg ins Deutsche Historische Museum und alle großen deutschen Bibliotheken. Noch heute wird sie dort als Dokument der Zeitgeschichte nachgefragt, wenn sich jemand über den Zustand und die Befindlichkeit der damals neu hinzugekommenen Bundesländer informieren will. 163 Das Merian-Extra DDR und die Fünf-Länder-Kassette wurden publizistisch wie wirtschaftlich zum größten Erfolg der Merian-Geschichte. Gekrönt wurde er später noch mit einer Extra-Ausgabe zur neuen »Hauptstadt Berlin«. Von über hundert Hausfrauen aus dem Ruhrgebiet in Heimarbeit eingeklebt, feierte das Berliner Schloss erstmals für eine Zeitschrift zumindest als Pop-up eine Wiederauferstehung. Damit wurde zugleich der Beginn einer Debatte um die neue Mitte Berlins und einen Wiederaufbau des von Walter Ulbricht gesprengten Stadtschlosses eingeläutet. Das goldene Blatt der Stars Am Tag, als die D-Mark kam, war auch Merian geboren worden. Als Film und Frau, das zweite eigene Kind des Verlags, das Licht der Welt erblickte, war die D-Mark erst fünf Monate alt. Das Blatt, das schon vor beinahe sechs Jahrzehnten den Pfad be trat, auf dem heute Gala, Bunte und andere Society-Postillen wandeln, lag am 11. November 1948 erstmals zum Preis von 60 Pfennig am Kiosk. Das war nur möglich, weil auch in diesem Fall die Vorbereitungen schon lange vorher begonnen hatten. Die beiden HoCa-Verleger Christensen und Ganske hatten bereits 1946 bei der Militärbehörde um die Genehmigung gebeten, unter dem Titel Kassette eine illustrierte Zeitschrift auf den Markt bringen zu dürfen. Doch erst im Oktober 1948 kam unter der Nr. 36 endlich die ersehnte Lizenz. Sie ging auch nicht an Hoffmann und Campe in Hamburg, sondern nach Hannover an der Verlag »Stimme der Frau«. Sie war außerdem mit der Auflage verbunden, dass der Erscheinungstermin nicht vor dem 11. November liegen dürfe. Zumindest daran hielt man sich. Aber als Titel wählte man Film und Frau, und der Erscheinungsort wurde zusammen mit dem gesamten Verlag schon vier Monate später nach Hamburg verlegt. Bereits im ersten Jahr verdreifachte sich die ursprüngliche Auflage 164 auf 150 000 Exemplare. Das war auch deshalb bemerkenswert, weil sich in der gleichen Zeit die Zahl der Blätter, die um die Gunst der Leserinnen buhlten, sprunghaft erhöht hatte. Denn bis Ende 1949 vergaben die Militärbehörden 20 Lizenzen allein für Frauenzeitschriften. Dass Film und Frau bei diesem Wettlauf ganz weit vorn lag, war vor allem das Verdienst eines Chefredakteur-Paares, wie es vorher und nachher nie wieder im deutschen Blätterwald gesichtet wurde. Es waren Curt und Helga Waldenburger, die in der Redaktion sowie in Filmstudios, Modeateliers und unter Starfotografen schon bald als »Thomas« und »Puttchen« zum Begriff wurden. Auf das erste Titelblatt des Glamourblattes setzten sie Greta Garbo, die Göttliche. Fünf Jahre später lächelte ein in Deutschland damals noch weithin unbekanntes Mädchen die Käuferinnen mit Unschuldsblick an. Es war Brigitte Bardot, die bald danach auch in Deutschland mit ihrem Schmollmund die Männer zum Träumen brachte und die Frauen eifersüchtig machte. Im Allgemeinen zierten jedoch Leinwandgrößen das Titelblatt, deren Gesichter den Leserin nen sofort etwas sagten, denn für die Umschlagseiten des Blattes gab es ein ganz einfaches Rezept: Die erste Seite zierte immer eine schöne und dem Publikum aus dem Kino meist längst bekannte Frau. Auf dem Rücktitel erfreute ein ebenfalls gutaussehender Mann das Auge der Betrachterinnen. Beide Bilder waren ebenso wie die Fotos im Innern der Hefte in sanften chamoisen Tönen gehalten. Die beiden Schönen auf der Vorder- und Rückseite kamen nicht nur gut bei den Käuferinnen an, sie waren auch schön billig. Die Filmgesellschaften stellten die Fotos ihrer Stars für diesen Zweck gern und kostenlos zur Verfügung. Das war bei einem Redaktionsetat, der in den ersten Jahren bei 5000 Mark je Heft lag, höchst willkommen. Nicht gespart wurde allerdings bei der Titelgestaltung. Der Schriftzug Film und Frau erschien ab 1950 auf goldenem Hin165 tergrund in einem als Wappen gestalteten Rahmen. Das Signet hätte ebenso gut als Etikett auf einer Champagnerflasche prangen können. Gold spielte auch im Innern der Hefte bei der Seitengestaltung eine wichtige Rolle. »Der Golddruck war ebenso eine Idee meines Vaters wie der Braunton für die Bilder«, stellt Michael Ganske die Urheberschaft klar. »Er hat lange mit Ri chard Gruner, dem Drucker, experimentiert, um ein geeigne tes Verfahren zu finden, bei dem sich das Gold nicht wieder vom Papier löst.« Die Zeitschrift erhielt so ihr unverwechselbares Erscheinungsbild. Für den Inhalt waren die Waldenburgers zuständig. Das kinderlose Ehepaar adoptierte Film und Frau sozusagen und schenkte dem Blatt von Beginn an seine ganze Zeit und Liebe. Das Rezept für das erste und lange Zeit einzige Glamourblatt der jungen Bundesrepublik wurde 1948 in einer zweckentfrem deten Küche in der Hamburger Warburgstraße entwickelt und von einem anfänglich fünf Köpfe zählenden Team zu einer leicht bekömmlichen Kost verfeinert. Die Zutaten hießen Mode, Kino, Kosmetik, Lebensstil, dezent gewürzt mit Klatsch und Tratsch und ein wenig Fernweh. Das entsprach dem Lebensgefühl der fünfziger Jahre, als die Deutschen nach der Orgie des Völkischen und Nationalen und dem totalen Krieg langsam wieder die große weite Welt und die süßen Seiten des Lebens entdeckten. Und ob über Wintermode, Cocktailkleider, Abendgarderobe, Badeanzüge oder modische Kopfbedeckung berichtet wurde, für Film und Frau waren weibliche Wesen in jeder Lebenslage stets Damen. In einer Zeit, in der Millionen Menschen noch immer zwischen den Trümmern hausten, die von den zwölf Jahren NaziHerrschaft übriggeblieben waren, bot ihnen Film und Frau bereits des Lebens schöne Seiten – zunächst nur auf dem Papier. Die Umstände, unter denen das Glamourblatt konzipiert und produziert wurde, entsprachen allerdings zunächst in keiner Weise der Traumwelt, die Film und Frau ihrer fast aus166 schließlich weiblichen Leserschaft alle vierzehn Tage lieferte. Denn wer die Redaktionsräume im Hamburger Stadtteil Rotherbaum besuchen wollte, um dort Texte oder Fotos abzuliefern, musste sich erst einmal im Flur an den wartenden Patien ten eines Kassenarztes vorbeidrängen. Im ersten Stock stand man dann zunächst vor den Räumen eines dort residierenden Jagdverbandes. Erst am Ende des Flurs ließ ein Briefkasten mit der Aufschrift Film und Frau erkennen, dass man es bis an die Schwelle der Redaktion geschafft hatte. Allerdings konnten die Zeilen darunter Schüchterne abhalten, an die Tür zu klopfen oder sie gar forsch zu öffnen: »Sprechzeiten für die Redaktion nur dienstags und freitags von 13 bis 15 Uhr.« Wer sich davon nicht abschrecken ließ – und das taten die Journalisten, Fotografen, Models und Schauspielerinnen, die Vertreter von Bildagenturen oder Modehäusern, Wäscheherstellern oder Par fümfabrikanten wohl nur selten –, fand hinter der Tür den Raum der Redaktion: Neben einem qualmenden Holzofen und einem Stapel Brennholz standen Schreibtische und Regale. Ein weiterer Raum, etwas größer zwar als die Redaktions stube, aber eigentlich nur ein umfunktioniertes Wohn- oder Schlafzimmer, beherbergte das Fotoatelier. Doch das störte die prominenten Besucherinnen offenbar wenig. Das galt erst recht nach dem Umzug in eine Villa mit Alsterblick am Harvestehuder Weg. Die größeren Räume waren auch dort nicht der Redaktion, sondern dem Fotostudio und dem Schneideratelier vorbehalten, in dem die Kleider genäht wurden, die die Stars im Heft vorführten und die jede Leserin mit Hilfe der beiliegenden Schnittmusterbögen nachschneidern konnte. Zu denen, die für Modefotos posierten, gehörten fast alle Kinogrößen jener Jahre. Es war eine Zeit, in der das Fernsehen noch keine Rolle spielte, die Deutschen scharenweise in die Lichtspielhäuser pilgerten und Filme aus deutscher Produktion Kassenschlager waren. Es waren Publikumslieblinge wie Irene von Meyendorff, Henny Porten, Bar167 bara Rüttgers, Marianne Koch oder Marion Michael, die als »Liane, das Mädchen aus dem Urwald« zu Filmruhm kam. Michael Ganske erinnert sich, dass die Familie in den fünfziger Jahren oft in einem Hamburger Hotel zu Abend aß, in dem viele der damaligen Stars gern nächtigten. »Wenn mein Vater dann jemand wie Liselotte Pulver oder Johanna von Koczian an einem der Tische sah, sagte er: Geh doch mal rüber und frag sie, ob sie auf das Titelblatt von Film und Frau will. Er wollte sehen, wie sie auf den Vorschlag seines Stöpsels reagierten.« Meistens lächelten die Schönen – erst über den forschen Knirps und am nächsten Tag am Harvestehuder Weg in die Kamera. Auch die Verhandlungen über das Honorar waren in den fünfziger Jahren kurz und einfach. Die Damen durften das Kleid, in dem sie posierten und das ihnen von den fleißigen Näherinnen der Redaktion auf den Leib geschneidert wurde, mit nach Hause nehmen. Das galt auch für Stars wie Ruth Leuwerik oder Romy Schneider. Im Gespräch mit Emanuel Eckardt, der auf der Suche nach Material für seine KurtGanske-Biographie war, fiel Franz Christian Gundlach ein Erlebnis mit Fiona Campbell ein. Als das schottische Fotomodell vor seiner Kamera posierte, erzählte Campbell beiläufig, dass sie anschließend noch zu einem Empfang eingeladen sei und noch nicht wisse, wie sie sich passend anziehen solle. Sie durfte sich für den Abend ein geeignetes Kleid aussuchen und sogar den traumhaften Pelz, in dem sie posiert hatte, mitnehmen – allerdings nur leihweise, da der Kürschner das teure Stück lediglich für die Aufnahmen zur Verfügung gestellt hatte. Danach war sie nicht mehr darauf angewiesen, sich ihre Garderobe auszuleihen, denn an jenem Abend lernte sie ihren späteren Mann kennen, Hans-Heinrich Baron von Thyssen-Bornemisza. »Heini« verfügte schließlich über das notwendige Kleingeld. Geschichten wie diese erlebte Franz Christian Gundlach immer wieder. Der Kriegsheimkehrer war auf der Suche nach einem Lebensunterhalt 1947 eher zufällig Fotograf geworden. 168 1953 kam der damals 27-Jährige mit den Chefredakteuren Curt und Helga Waldenburger in Kontakt. In diesen Jahren entwickelte Gundlach einen ganz eigenen Stil der Modefotografie, der ihn berühmt machte und Film und Frau prägte. Eine der Ersten, die er vor die Linse bekam, war Ruth Leuwerik. Mit ihr arbeitete er drei Tage lang – im Atelier, im Treppenhaus des Redaktionsgebäudes, in einem Park an der Elbe. Dabei entdeckten der Fotograf und sein Modell bald eine Gemeinsamkeit: Sie hatten beide nicht die geringste Ahnung von Mode fotografie. Aber vielleicht entstanden gerade deshalb Bilder, die den Leserinnen ans Herz gingen. Es dauerte nicht lange, bis der Autodidakt unter dem Namen F. C. Gundlach zu einem der prominentesten Modefotografen der jungen Bundesrepublik wurde. Die Waldenburgers boten ihm in ihrem Blatt viel Auslauf, wenn er Bilder lieferte, die er am liebsten außerhalb des Studios vor ungewöhnlichen Kulissen aufnahm. Er fotografierte seine Stars in verschneiten Parks, auf der Berliner Avus, dem Deck von Kreuzfahrtschiffen, dem Dach des Verlagsgebäudes oder vor der imposanten Kulisse von Abu Simbel. Damals gab es den Staudamm noch nicht, und der Tempel stand noch da, wo ihn der ägyptische König Ramses II. mehr als 3000 Jahre zuvor hatte errichten lassen. Bei den zweimal jährlich erscheinenden Mode-Sonderheften stellten ihm Thomas und Puttchen »Strecken« von bis zu vierzig Seiten zur Verfügung, wie er sich dankbar erinnert. Angesichts des schöpferischen Chaos, in dem Puttchen und Thomas ihre Zeitschrift produzierten, blieb es für Insider immer ein Rätsel, dass das Blatt trotzdem regelmäßig erschien. Selbst als die Redaktion in dem 1956 errichteten Verlagsgebäude am Poßmoorweg endlich über genügend Platz verfügte, behielten sie ihren Arbeitsstil bei. »Die hatten das schönste Zimmer, im obersten Stock des Hochhauses«, erzählt Michael Ganske, der später selbst für einige Zeit Chefredakteur von Film und Frau war. »Aber wenn man ihr Zimmer betrat, dann 169 hatte man stets den Eindruck eines völligen Durcheinanders. Das gesamte Layout der Zeitschrift war auf dem Fußboden ausgebreitet – und wehe, man rührte daran.« Nicht immer kamen Bilder und Texte pünktlich zur Setzerei. Gelegentlich mussten lästige, aber unverzichtbare Elemente wie das Impressum in letzter Minute »nachgeschoben« werden, weil die beiden sie schlicht vergessen hatten. Der älteste Sohn des Verlegers ist sich sicher, dass das Chefredakteurs-Duo nicht nur eine perfekte Traumwelt für ihre Leserinnen produzierte. Sie lebten nach seiner Beobachtung selbst in einer solchen Traumwelt. »Die dachten immer, dass sie ihr Blatt für die Dame von Welt machten und dass es überall in den eleganten Salons ausliege«, meint Michael Ganske. »Wenn man den Waldenburgers gesagt hätte, dass ihr Blatt vor allem von Arbeiterfrauen in der Wohnküche gelesen wurde und dort neben den Kartoffelschalen auf dem Tisch lag, wären die aus allen Wolken gefallen. Sie hätten ihren Job gar nicht weitermachen können.« Da die Leseranalysen noch nicht so ausgefeilt waren wie heute, blieb es ihnen aber erspart, schwarz auf weiß in der Statistik lesen zu müssen, dass die Mehrzahl ihrer Leserinnen von der schönen Welt, die sie ihnen vorführ ten, nur träumen konnte. Mitte der fünfziger Jahre glänzte Film und Frau nämlich nicht nur mit Golddruck und hoher Auflage, sondern auch mit einem ganz eigenen Schreibstil. Zu einem Titelbild, das eine junge Frau mit Blumenhut zeigte, dichtete der Chefredakteur: »Solange Frauen einen Hut wie ein ästhetisches Wunderwerk der Phantasie durch den Abend tragen – goldschimmernd, seidedurchwirkt, fließend im Umriss und transparent wie duftender Rauch –, so lange brauchen Männer keine Angst vor der Gleichberechtigung zu haben. Für wen umwölken die Schönen so kostspielig Augen und Stirn? Für wen verbergen sie ihre Tagestüchtigkeit so bereitwillig hinter einer Aufmachung, die zarteste Rücksicht, Schutz und Bewunderung heischt?« 170 Solche Zeitschriften-Poesie kam Mitte der fünfziger Jahre selbst in der Wohnküche an, und das galt auch für das Blatt, in dem diese und ähnliche Texte standen. Solange Kinobesitzer selbst in Dörfern und Kleinstädten gut über die Runden kamen, die Lichtspielhäuser jeden Abend gut besucht waren, die Fernreisen von ein paar Wohlhabenden allenfalls bis Sizilien führten, die Berliner Mode den Frauen noch völlig ausreichte und in den Wohnzimmern das Mobiliar aus der Vorkriegszeit noch nicht ersetzt worden war, stiegen Verbreitung und Umfang. Film und Frau ließ in den fünfziger Jahren alle anderen Frauenblätter hinter sich und erreichte schon 1956 eine Auflage von 400 000 Exemplaren. Doch dann kam »der schlimmste Feind der USA«, wie der stern damals schrieb, nach Deutschland und eroberte auch hier in Windeseile die Wohnzimmer. Nach einigen kleineren Versuchen begann in der Bundesrepublik am 25. Dezember 1952 die Ausstrahlung eines täglichen Fernsehprogramms. Gesendet wurde aus Hamburg. Zu Beginn hätten die Sprecher eigentlich jeden Zuschauer noch einzeln begrüßen können. Im Jahr eins der deutschen TV-Geschichte erwarben gerade mal 4000 Bundesbürger ein Fernsehgerät. Doch knapp zwei Jahre später, am 1. November 1954, begannen die westdeutschen Lan desrundfunkanstalten unter dem Dach der ARD mit ihrem Gemeinschaftsprogramm. Es dauerte danach nicht mehr lange, bis die Zuschauer nicht mehr nach Tausenden, sondern nach Millionen gezählt wurden. In den sechziger Jahren setzte unter dem Druck des neuen Konkurrenten das Kinosterben ein. Es beschleunigte sich, nachdem Philips und Grundig 1971 die ersten Videokassettenrecorder vorgestellt hatten. Die neuartigen Speichermöglichkeiten gaben den Zuschauern die Möglichkeit, sich durch die Aufzeichnung ihrer Lieblingssendungen von den festen Zeitvorgaben der Fernsehanstalten unabhängig zu machen oder bespielte Kassetten mit Filmen eigener Wahl einzulegen. 171 Was für den Lesezirkel zu einer ernsten Bedrohung geworden war, ging auch an Film und Frau nicht spurlos vorüber. Das bisherige Konzept hatte sich überlebt. Seit 1956 stagnierte die Auflage, ab Anfang der sechziger Jahre ging sie stetig zurück. Zudem waren Thomas und Puttchen ins Pensionsalter gekommen. 1963 wurde Curt Waldenburger nach 15 Jahren als Chefredakteur abgelöst. Er kümmerte sich mit seiner Frau Helga zwar noch fünf weitere Jahre um die bereits seit 1952 beziehungsweise 1957 erscheinenden Sonderhefte Mode und Archi tektur, aber ihr angeschlagenes Glamourblatt versuchten nun andere wieder im alten Glanz erstrahlen zu lassen. Den Nachfolgern gelang es jedoch nicht, die vergoldete Illustrierte dem gesellschaftlichen Wandel und der sich rasch verändernden Medienwelt mit einer ähnlichen Sensibilität für die Zeitströme anzupassen, wie es einst die Waldenburgs so meisterhaft verstanden hatten. Man ließ die bisherigen Schwerpunkte »Stars« und »große weite Welt« fallen und setzte stattdessen auf Verbraucherberatung und Lebenshilfe. Doch es half nichts. Die neuen Kapitäne schafften es nicht, das schlingernde Schiff wieder auf Erfolgskurs zu bringen. Die Generation der Jeansträgerinnen, die sich immer mehr Freiheiten nahm, den Männern durchaus Angst vor der Gleichberechtigung einjagen wollte und auch nicht mehr daran dachte, »ihre Tagestüchtigkeit bereitwillig hinter einer Aufmachung, die zarteste Rücksicht, Schutz und Bewunderung heischt«, zu verbergen, wusste mit Film und Frau nichts mehr anzufangen. Drei Jahre nach dem Abschied von Puttchen und Thomas erschien das Blatt im September 1966 zum letzten Mal unter dem in die Jahre gekommenen Titel. Damit wurde zugleich ein Stück Pressegeschichte beerdigt. Doch Tote leben länger: Film und Frau wurde wie keine andere Frauenzeitschrift der Nachkriegszeit zum Mythos. Das Blatt mit dem goldenen Wappen ist – im Gegensatz zu den meisten Konkurrenzprodukten und auch der Nachfolgerin – bis heute unvergessen. 172 Fortgeführt wurde allerdings ein Ableger des Blattes. Aus den Sonderheften Architektur wurde Architektur und kultiviertes Wohnen. Das erste Heft, das im September 1968 erschien, wurde noch von den Waldenburgers gemacht und hatte den stolzen Umfang von 208 Seiten, wovon 61 mit Anzeigen belegt waren. Vom dritten Heft an übernahm Christa von Hantelmann die Leitung und entwickelte die zunächst zweimal im Jahr er scheinende Zeitschrift ab 1969 zeitgemäß weiter. Mit dem Erfolg stieg auch die Zahl der jährlichen Ausgaben, so dass schließlich ab 1985 alle zwei Monate ein neues Heft erscheinen konnte. Der Versuch, das »Mutterschiff« zu retten und die Leserin nen durch ein neues Konzept und die Umbenennung in Moderne Frau davon zu überzeugen, dass man jetzt das richtige Angebot für sie habe, scheiterte dagegen. Michael Ganske, der als Manager der Verlagsgruppe und 1967 zeitweise auch als Chefredakteur maßgeblich für die Neuorientierung zuständig war, betrachtet heute die Beerdigung von Film und Frau als einen großen Fehler. Es wurden die falschen Leute entlassen und nicht die richtigen Leute eingestellt. Es gab keinen führenden Kopf mehr, dafür aber viele Köpfe, die sich in den Sitzungen gegenseitig die Verantwortung für Fehlschläge zuschoben. »Die Veränderungen wurden von der falschen Seite angegangen. Statt vom Konzept, von den Inhalten und von der personellen Besetzung her schrittweise Korrekturen vorzunehmen, haben wir an den Äußerlichkeiten herumgebastelt. Wir haben das Signet geändert und den Titel in ein Quadrat gesetzt: Das galt damals als modern. Man glaubte, man könne die Leserinnen durch eine Titeländerung manipulieren.« Das stellte sich schnell als Irrtum heraus. 173 Missratene Tochter aus gutem Haus Um zu retten, was noch zu retten war, wurde die Moderne Frau mit petra fusioniert und nahm nach der Hochzeit den Doppelnamen petra moderne Frau an. Das bedeutete zunächst allerdings nur, dass zwei Kranke zusammen ins Bett gingen, denn auch petra war ein Sanierungsfall. Anders als Film und Frau hatte sie bis dahin aber noch keine glänzende Karriere hinter sich. Sie war vielmehr schon kurz nach der Geburt von der Schwindsucht befallen worden. Das Blatt war eine Kreation von Hans Huffsky, dem ersten Chefredakteur der Constanze und späteren Redaktionsdirektor von Brigitte, zwei ebenfalls sehr erfolgreichen Frauenzeitschrif ten aus Hamburg. Nachdem er sich 1959 mit seinem Verleger John Jahr überworfen hatte, entwickelte er in seiner Berliner Wohnung das Konzept für eine moderne Zeitschrift, der er ohne übertriebene Bescheidenheit den Titel petra. Die Frauenzeitschrift ohnegleichen verpasste. Ebenso bombastisch wie der Titel war die Werbekampagne, die das Erscheinen des Monatsmagazins im September 1964 begleitete. Vorausgegangen war ihr zudem eine ungewöhnlich aufwendige Marktforschung, die die Blattmacher in ihrer Überzeugung bestärkt hatte, sie wüssten nun ganz genau, was Frauen wirklich wünschen. Der Anfangserfolg schien ihnen recht zu geben. Die mit 600 000 Exemplaren für damalige Verhältnisse sehr mutige Startauflage war innerhalb weniger Tage restlos ausverkauft. Die Werbekampagne hatte neugierig gemacht und hohe Erwartungen geweckt. Sie wurden jedoch nicht erfüllt. Die Marktforscher waren wohl doch nicht so richtig dahintergekommen, was Frauen eigentlich wollen. Der sensationelle Anfangserfolg ließ sich nicht halten. Entsprechend zurückhaltend reagierten die Anzeigenkunden. Obwohl der Verlag gegenzusteuern versuchte und mehr Mode und Kosmetik ins Blatt packte, fiel die verkaufte Auflage mit jeder neuen Ausgabe weiter. Gruner+Jahr 174 hatte schon bald keinen Spaß mehr an der missratenen Tochter und gab sie im Herbst 1969 schließlich zur Adoption frei. Es war Michael Ganske, der davon hörte und auch davon, dass Gruner + Jahr an einem Druckvertrag mit dem Jahreszeiten Verlag interessiert sei. Man war sich bald einig. Ganske kündig te den Druckvertrag mit Burda. Das verärgerte zwar den Familienpatriarchen Franz Burda, genannt der Senator, und seinen Sohn Frieder. Aber Gruner druckte nicht nur billiger, G + J überließ dem Jahreszeiten Verlag obendrein auch noch die petra. »Wir haben sie eigentlich umsonst bekommen«, freut sich Michael Ganske noch heute. Beim Jalag, wie die Zeitschriftengruppe intern genannt wird, fusionierte man die petra im September 1969 sofort mit der ebenfalls schwächelnden Modernen Frau – und siehe da: Aus zwei schwindsüchtigen Töchtern wurde ein quicklebendiges, bald wieder an Umfang und Auflage gewinnendes Blatt. 1977 fand die 424 Seiten starke Monatszeitschrift über eine halbe Million Käuferinnen und hatte damit fast wieder den »Sensationserfolg« der ersten petra erreicht. Diese Auflage ließ sich angesichts der zunehmenden Konkurrenz auf dem Markt der Frauenzeitschriften zwar nicht immer auf dieser Höhe halten. Aber mehr als zwei Jahrzehnte nach dem Relaunch konnte der Verlag Ende 1991 erneut vermelden: »petra ist in Deutschland Marktführerin im Segment der gehobenen Frauenzeitschriften. Mit rund 420 000 verkauften Exemplaren pro Ausgabe liegt sie weit vor Cosmopolitan, Elle, Marie-Claire, Vogue und Harper’s Bazaar.« Gelungen war petra in den zwei Jahrzehnten auch, was ihre beiden Vorgängerinnen nicht geschafft hatten, nämlich die Annäherung an das, was vor allem junge Frauen wollen. »petra … hat eine deutliche Vorstellung von ihren Kernleserinnen: junge, gebildete und kaufkräftige Großstadtfrauen zwischen 20 und 39, wobei der Schwerpunkt bei den jüngeren liegt. Diese Opinion-Leaderin unter den deutschen Frauen wird mit 175 großer Konsequenz angesprochen – auf jeder Seite, mit jedem Text und jedem Foto«, versicherte die Redaktion. Um nicht wie einst Film und Frau den Anschluss an die Kerngruppe zu verlieren, wurde in diesen beiden Jahrzehnten und auch später das Erscheinungsbild und Konzept immer wieder an die sich wandelnden Bedürfnisse und Interessen der Leserinnen angepasst. So wurden nach 1970 die emanzipatorischen Themen verstärkt und in den achtziger Jahren das Format zweimal geändert und dabei handlicher gemacht. Ende der achtziger Jahre, als die Frauen wieder weiblicher werden wollten, spiegelte sich das bei petra unter anderem darin, dass eine Nonstop-Strecke von mindestens 50 Seiten zu den Themen Mode und Kosmetik geschaffen wurde. 1995 gab es erneut einen Relaunch und – sehr zum Erstaunen und Ärger der Konkurrenz – erstmals eine Mode-Videokassette zum Heft. 1996 wurden Wohnthemen und »Geschichten über Menschen« verstärkt ins Blatt genommen. 1997 wurde petra durch den trendigen, in modischem »Denglisch« gehaltenen Untertitel Mode, Beauty & Lifestyle ergänzt, der allerdings später wieder verschwand. Heute ist petra einfach wieder petra. Obwohl sie mit 43 Jahren inzwischen älter ist als die Hälfte ihrer Leserinnen, hielten es die verschiedenen Chefredakteure immer mit dem Motto: »Man ist so jung, wie man sich fühlt.« Sich selbst beschreibt die Zeitschrift so: »petra ist schön, denn sie steht für Mode und Trends. Im klassischen, großzügigen Zeitschriftenformat entführt das Magazin seine Leserinnen jeden Monat auf eine elegant-hedonistische Entdeckungsreise durch das Neueste aus Mode, Beauty und Lifestyle. Stars und Stil, Produkte und Premieren sind das journalistische Kernangebot, das smart und charmant verpackt Lust aufs Erleben macht.« Aber petra ist auch frech, denn »ihre Leserinnen sind kritisch, aber lebensfroh. Die Themen daher witzig und provokativ: Mode und Männer, Kunst und Konsum werden mit augenzwinkernder Ironie be- und durchleuchtet.« petra sieht sich auch als intelli176 gent, denn »ihre Leserin ist jung im Kopf, urban und trend bewusst, und entscheidet selbst über Kerle, Käufe und Karriere. Sie will intelligent unterhalten und fundiert informiert werden, denn sie interessiert sich für die schönen Dinge des Lebens und gestaltet lässig emanzipiert ihr Leben.« Auf der Suche nach dem richtigen Styling Ein deutlicher Unterschied zum Selbstverständnis von Film und Frau und zugleich ein Hinweis auf den Wandel in den Köpfen der einstigen und heutigen Leserinnen des Blattes – von dem übrigens 2006 jeden Monat rund 233 000 Exemplare verkauft wurden. Insgesamt 1,31 Millionen Frauen nehmen jede Ausgabe in die Hand – nicht zuletzt deshalb, weil auch die Verbreitung über den Leserkreis Daheim für zusätzliche Reichweite sorgt. Der Für Sie, die Ende der fünfziger Jahre ebenfalls aus der Fusion zweier nur mäßig erfolgreicher Zeitschriften hervor ging, bekam diese Operation sogar noch besser als ihrer jüngeren Schwester petra. Das galt auch für eine weitere Allianz. Nach der Vereinigung mit der Familienzeitschrift Hausschatz – lies mit, deren altbackener Titel das ehrwürdige Alter des Blattes von 83 Jahren ahnen ließ, verdoppelte sich 1959 die Auflage der Für Sie. Einen wesentlichen Anteil an der Karriere der Zeitschrift hatte Heinz Scheibenpflug, im Jahreszeiten Verlag und der Medienwelt besser bekannt als Professor Scheibenpflug. Der Ehrentitel, der ihm von seinem Heimatland Österreich verliehen worden war, hatte nämlich schon bald den Vornamen verdrängt. Scheibenpflug war von 1961 bis 1970 Chefredakteur der Für Sie und danach noch bis 1988 ihr Herausgeber. Ebenso wie es zuvor die Waldenburgs bei ihrem Star-Magazin getan hatten, prägte er für viele Jahre das Blatt, das auch in der Alpenrepublik zu einer der meistgelesenen Frauenzeitschriften 177 wurde. Ab 1971 erschien es daher sogar mit einem eigenen Österreichteil. Unter Scheibenpflugs Regie überschritt das »Flaggschiff« des Verlags als erste deutsche Frauenzeitschrift die Auflage von einer Million – nicht nur gedruckter, sondern tatsächlich verkaufter Exemplare, versteht sich. Zu diesem Erfolg hat auch ein großer Unbekannter beigetragen, ein Mann, der wie kaum ein anderer in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die visuelle Kommunikation beeinflusst hat. Sein Ruhm durchweht zwar bis heute die Fachwelt, aber in den von seiner Hand gestalteten Zeitschriften trat er als Person nie in Erscheinung. Er mied die Öffentlichkeit und ist nur auf wenigen Fotos und auf keinem Film zu sehen. Es war der 1983 verstorbene Willy Fleckhaus, der auch als der »teuerste Bleistift Deutschlands« bezeichnet wurde und als der erste deutsche Art Director gilt. Beruflich war der geniale Gestalter nicht leicht einzuordnen, denn er war nacheinander und gleichzeitig als Journalist, Buchgestalter, Zeitschriftendesigner und Professor für visuelle Kommunikation tätig. Fleckhaus setzte auf große, möglichst doppelseitige, plakative Bilder und strebte in Wort, Bild und Typographie nach Ordnung und nachvollziehbaren Strukturen. Er entwickelte das charakteristische »Q« der Quick, prägte das Lifestyle-Magazin twen und das Wirtschaftsmagazin Capital. Er gestaltete das Signet der Bild-Aktion »Ein Herz für Kinder« und das Magazin der FAZ. Eine Buchreihe des Suhrkamp Verlags erscheint noch heute in den von ihm konzipierten Umschlägen in den Farben des Regenbogens. Zu den Zeitschriften, denen er seinen Stempel aufdrückte und für deren Erfolg und Image er mit verantwortlich war, gehörten aber auch Für Sie und später Merian. »Fleckhaus und mein Vater trafen sich erstmals in Hohenhaus, und die beiden mochten sich gleich«, beobachtete Michael Ganske. Während Professor Scheibenpflug sich als Chefredakteur um die Inhalte kümmerte, sorgte Willy Fleckhaus dafür, dass sie bei den Leserinnen optisch ankamen. Eine verkaufte Auflage 178 von 1 120 000 Exemplaren war der Lohn der gemeinsamen Bemühungen und zugleich der Gipfel der Auflagenentwicklung. In seiner Zeit als Herausgeber musste Scheibenpflug nämlich auch erleben, wie schnell ein Blatt auf die schiefe Bahn geraten kann, wenn es an seiner Leserschaft vorbeiproduziert wird. Dabei hätte John Jahrs Constanze ein warnendes Beispiel sein können. Das biedere, aber höchst erfolgreiche Hausfrau enblatt hatte versucht, mit Wettbewerbern gleichzuziehen, die mit geblähten Segeln auf der Aufklärungswelle schwammen und den Sex-Apostel Oswalt Kolle zu ihren Starautoren zählten. Der zum Zweck der Modernisierung aus Wien importierte Chefredakteur erwarb sich zwar rasch den Titel »Titten-Struve«. Mit seinen Nackedeis verschreckte er aber die eher sittenstrengen Leserinnen der einst so harmlosen Constanze derart, dass Anzeigen und Auflage schon nach kurzer Zeit zum Sturzflug ansetzten. Bei dem Versuch, zu retten, was noch zu retten war, kam es zu hektischen Kurswechseln – mal in Richtung Strickmode, mal in Richtung Softporno. Bei jeder dieser Halsen ging eine größere Zahl von Käuferinnen über Bord. Einmal wurden diejenigen enttäuscht, die viel nackte Haut erwarteten, beim nächsten Mal die anderen, die mehr an geeigneter Kleidung zur Bedeckung derselben interessiert waren. Wohl noch nie in der deutschen Verlagsgeschichte ist eine erfolgreiche Zeitschrift in so kurzer Zeit auf Grund gesetzt worden. Etwas Zeitgeist Für Sie Auch die Redaktion der Für Sie wollte den Zeitgeist der sieb ziger Jahre – oder das, was sie dafür hielt – nicht aus ihren Stuben aussperren. »Wir haben alles falsch gemacht, was man nur falsch machen konnte«, räumte Peter Gimm, damals stellvertretender Chefredakteur, später freimütig ein. Statt aktuelle Mode zu präsentieren, wurde das Heft mit sozialkritischen Reportagen vollgepumpt. Statt elegante Damen in gepflegter Um 179 gebung zu zeigen, waren Fotos mit angeknabberten Brötchen auf abgegrasten Frühstückstischen zu sehen. Statt ausführlich über Kosmetik, Schlankmacher und italienische Schuhmode zu berichten, kam viel Bewegung ins Blatt: Anti-KernkraftBewegung, Umweltbewegung, Frauenbewegung. Den Verleger und seinen damals für den Zeitschriftenbereich zuständigen Sohn Michael beschäftigte eine weitere Bewegung, nämlich ein stetiger Rückgang der Auflage. Fünf Chefredakteure innerhalb nur eines Jahrzehnts sind ein deutliches Indiz dafür, wie bewegt die siebziger Jahre für das Blatt auch intern waren. Irgendwann besann man sich aber wieder darauf, dass eine Zeitschrift nicht dazu da ist, jeder politischen Strömung zu folgen, sondern die Wünsche der großen Mehrzahl ihrer Käuferinnen zu erfüllen. »Nach den kämpferischen Jahren der Emanzipation bekennen sich die Frauen wieder zunehmend zu ihren typisch weiblichen Kompetenzen. Genug gekämpft, jetzt leben wir, heißt die Devise«, glaubte die Redaktion Anfang der neunziger Jahre beobachtet zu haben. »Sie haben heute die Wahl zwischen Hausfrau und Mutter oder Karriere im Beruf oder beidem zugleich. Aus der Pflicht ist die Kür geworden. Kleider, Kinder, Küche spielen zwar immer noch eine zentrale Rolle, doch sie haben sich zu Terrains der Selbstverwirklichung gewandelt«, beschrieb der Verlag die Welt, in der die 2,32 Millionen Leserinnen des Blattes zur Zeit der deutschen Wiedervereinigung lebten. An die Stelle der alten drei K – Kinder, Küche, Kirche – seien die neuen drei F getreten: Familie, Freunde, Freizeit. »Moderne Frauen dienen nicht mehr, sie gestalten, und dies freiwillig.« Ganz falsch kann diese Einschätzung nicht gewesen sein, denn mit dieser neuen Sicht auf die Welt der Frauen brachte es das Blatt wieder auf eine verkaufte Auflage von rund 810 000 Exemplaren und auf den zweiten Platz unter den klassischen Frauenzeitschriften im geeinten Deutschland. Dass Für Sie den Zeitgeist auch dann spiegelte, wenn sie sich nicht von aktuellen 180 »Bewegungen« mitziehen ließ, sondern sich den schönen Seiten des Lebens widmete und an den tatsächlichen Bedürfnissen ihrer Leserinnen orientierte, lässt sich an den Angeboten der Redaktion ablesen, die bei ihrem Stammpublikum im Laufe der Jahre besonders gut ankamen. Das war zum Beispiel der Fall, als 1953 erstmals eine »Kochschule« angeboten wurde. Zu den großen Erfolgen rund um Küche und Kochen gehörte in den sechziger Jahren das »Für Sie Farbkochbuch« zum Herausnehmen und Sammeln. Es schlug so gut ein, dass in der Branche von einem »Bombenerfolg« gesprochen wurde und es zu einem Boom von Nachahmerprodukten kam. 1970 wurde die Rezeptsammlung »Leibgerichte« zu einem Schlager. 1974 versprach man »Backen mit Vergnügen« oder »Kochen mit Geist«. 1997 lag die »junge Küche« voll im Trend. 2005 schließlich zeigten »Die 100 besten Rezepte der Welt«, dass die Globalisierung selbst vor den Kochtöpfen nicht haltmachte. Ein eigenes Kochstudio sorgte schon seit vielen Jahren dafür, dass die Rezepte und Tipps in der Für Sie zum Backen, Kochen oder Grillen immer praxisgerecht und für jede Leserin nachvollziehbar blieben. »Für Sie hat sich auf dem Gebiet des Kochens eine Kompetenz erworben, die einmalig ist«, zieht Hermann Schmidt, seit 2002 für den Vertrieb zuständiger Geschäftsführer des Jahreszeiten Verlags, die Bilanz aus den vielen Jahrzehnten Lebenshilfe am Herd. »Viele Frauen sind vor allem deswegen treue Abonnentinnen, weil sie die Erfahrung gemacht haben, dass Für Sie-Rezepte immer gelingen.« Blamage ausgeschlossen, wenn man Gäste hat. Ein anderes »K-Thema«, nämlich Kleidung, ist ein ähnlich guter Indikator für den Wandel der Bedürfnisse wie das Essen. Während die »Schneiderschule für Sie« den Leserinnen 1957 noch Tipps für selbstgenähte Kleider versprach, schrieb die Redaktion 1966 einen internationalen Modepreis aus. 1969 wurde angesichts des Trends zum guten Essen »Chic für Vollschlanke« zum Thema, und im neuen Jahrtausend ist »young 181 style« angesagt – weil nun alle forever young bleiben wollen und ihnen dies natürlich auch auf Englisch gesagt werden muss. Im großen Erfolg der »Ideen-Bücher« und der Sammelordner zum Thema schlug sich ab 1989 der Trend zum SingleHaushalt nieder. Immer mehr Frauen können oder müssen sich heute ein Leben ohne festen männlichen Partner vorstellen. Da bleibt ihnen folglich nichts anderes übrig, als manches selbst zu erledigen, was früher Aufgabe des Mannes im Haus war. Das Ideen-Buch, das »nützliche Heft im Heft« mit 24 Seiten zum Herausnehmen und Sammeln, wurde deshalb für längere Zeit zum festen Bestandteil des Blattes. Neben den traditio nellen Tipps für Kochen und Schönheit, die natürlich nie feh len dürfen, geht es dabei um das Haus, den Urlaub und »Gewusst wie«. 1996 wurde es Zeit für ein »Ideenbuch Fitness«. Wie sehr sich die Einstellung der Frauen im Laufe der Jahre gewandelt hat, zeigt sich auch daran, dass in einer Frauenzeitschrift im Jahr 2000 Automagazine mit großem Erfolg erscheinen konnten. Selbstverständlich tummelt sich Für Sie im neuen Jahrtausend im Internet und bietet dort unter anderem eine Dating-Plattform an – getreu ihrem Motto »Service und Lebensfreude für die Frau von heute«. Sehr zeitgeistig auch die für das neue Jahrtausend definierte strategische Linie des Blattes »Simplify your life«. Das entspricht dem Wunsch der berufstätigen Frauen. Gut möglich allerdings, dass die Devise von einigen Leserinnen gründlich missverstanden wird – wie wohl auch so mancher flotte angelsächsische Werbespruch im Blatt, der in den Köpfen der Angesprochenen oft zu Assoziationen führt, die sich die Werbetreibenden eigentlich nicht wünschen können. Die Selbstdarstellung der Frauenzeitschrift im Internet beschreibt zugleich das Erfolgsrezept des Blattes seit 1947: »Für Sie geht es wie vielen Frauen – irgendwann möchte man das Styling verändern, man möchte frischer und jünger aussehen, frecher und mutiger werden. Die eigene ›Typberatung‹ ergab: 182 Ein modernes Layout, eine lebendige Bildsprache, frische Farben und klare Linien, ohne cool zu wirken … Gesamteindruck: Lebensfreude, Spaß, Genuss, Überraschung, Neugierde.« Das Ergebnis dieser Philosophie in Zahlen: Nach einer Delle in der Auflagenstatistik brachte es Für Sie 2006 wieder mit über 485 000 verkauften Exemplaren auf den zweiten Platz unter den klassi schen Frauenzeitschriften und erreichte damit 2,54 Millionen Leserinnen. Im März 2007 konnte Chefredakteurin Ute Kröger daher mit ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern fröhlich den 50. Geburtstag ihres Blattes feiern – einen Monat vor dem »Mutterhaus«, das dafür allerdings bereits auf die ersten hundert Jahre zurückblicken konnte. Ausstieg vor dem Einstieg Mit den nach dem Krieg entwickelten oder übernommenen Zeitschriften hatte Kurt Ganske trotz mancher Rückschläge ein glückliches Händchen. Merian, petra oder Für Sie überstanden ebenso wie Architektur & Wohnen letztlich alle Veränderungen in der Medienlandschaft. Das ging nicht immer ohne Schwierigkeiten ab, fand oft unter starkem Anpassungsdruck statt, war aber am Ende immer erfolgreich. Dennoch gingen für Kurt Ganske nicht alle unternehmerischen Träume, die er in den fünfziger Jahren hegte, in Erfüllung. Dazu gehörte beispielsweise der Versuch, in das boomende Geschäft mit Buch gemeinschaften einzusteigen. Ganske beobachtete, welche Erfolge die Holtzbrinck-Gruppe und vor allem Bertelsmann auf diesem Gebiet hatten. Ihre nach Hunderttausenden und schließ lich nach Millionen zählenden Mitglieder bescherten ihnen rasch steigende Umsätze und hohe Erträge, die zur Finanzierung des Wachstums in anderen Sektoren genutzt werden konn ten. Der Lesezirkel Daheim hatte für Ganske zwar eine ähnli che Funktion als Geldquelle, aus der er viele Jahre lang die 183 Mittel zur Finanzierung des Unternehmenswachstums schöpfen konnte. Aber er dachte immer wieder darüber nach, ob ihm nicht auch der Einstieg in den lukrativen Markt der Buchclubs mit seinen garantierten Massenumsätzen gelingen könnte. Bei der Übernahme des Wegweiser Verlags, der aus einem Buchclub hervorgegangen war, mit dessen Hilfe sich schon zu Kaisers Zeiten Angehörige des Proletariats nach Ansicht Wohlmeinender »emporlesen« sollten, hatte er möglicherweise bereits daran gedacht, daraus wieder einmal eine Lesergemeinschaft zu machen, deren Mitglieder sich verpflichten, jeden Monat mindestens ein Buch zu Sonderkonditionen zu kaufen. Was auch die Gründe dafür gewesen sein mögen, geworden ist daraus jedenfalls nichts. Ganz von vorn zu beginnen wäre zwar möglich gewesen, denn Kapital war vorhanden und ein Mann, der angeblich etwas vom Buchclubgeschäft verstand, war in Hans E. Höynck auch schon gefunden worden. Angesichts der starken Konkurrenz, die vor allem der 1950 gestartete und sehr erfolgreiche Bertelsmann-Club darstellte, wäre das aber höchst riskant gewesen. Kurt Ganske suchte daher nach einem bereits vorhandenen, tragfähigen Sockel – eine Idee, die er nächtelang mit seinem damaligen Assistenten Werner Hess diskutierte. Der hatte dabei vor allem die Rolle eines Zuhörers, der seinem Chef die Möglichkeit bot, laut über die verschiedenen Wege zu seinem Ziel nachzudenken. Geeignete Übernahmekandidaten waren Mitte der fünfziger Jahre nicht mehr leicht zu finden. Doch dann schien sich 1955 eine Chance zu bieten. Der Berliner Verleger Weiss und Clara Ossenbach, die Tochter des Gründers Hans Ossenbach, der den Volksverband 1919 ins Leben gerufen hatte, boten zum Kauf an: die Namensrechte am »Volksverband der Bücher freunde« einschließlich einer Million Mitgliederadressen. Hin zu kamen einige Tonnen Bücher, die noch auf Lager waren. Die Forderung von 30 000 DM für das ganze Paket deutete auf ein Schnäppchen hin. Es folgten monatelange Verhandlungen, 184 die zum Teil auch auf Hohenhaus stattfanden. Dabei stellte sich immer deutlicher heraus, dass außer den Rechten an dem etwas antiquierten Namen das ganze Angebot nicht einmal den bescheidenen Preis wert war. Denn die Mitglieder, um deren Adressen es vor allem ging, wohnten zum größten Teil in der DDR. Die von den Verhandlungspartnern ins Spiel gebrachte Hoffnung auf eine rasche Wiedervereinigung erwies sich schon bald als völlig illusorisch. Mit dem Bücherstapel war ebenfalls kaum etwas anzufangen. Abgesehen von den meist wenig attraktiven Titeln waren die Bücher von miserabler Qualität, da noch während des Krieges auf stark holzhaltigem, inzwischen bereits vergilbtem Papier gedruckt. Nachdem man lange verhandelt hatte, drängten die Berliner Verleger schließlich auf einen Abschluss. Kurt Ganske erklärte sich bereit, zu einem letzten Gespräch nach Berlin zu kommen. Zusammen mit seinem Assistenten Werner Hess, dem Wirtschaftsprüfer Willy Markert und Hans Höynck, dem designierten Geschäftsführer des Buchclubs, flog er in die »Frontstadt«. Schon das Treffen am Vorabend im Restaurant des Hotels ist für Werner Hess unvergesslich geblieben. Am Nebentisch saß Hans Albers. Man kam ins Gespräch. »Na, du kleiner Dicker, womit verdienst du denn dein Geld?«, wollte der stark geschminkte Schauspieler wissen. Markert wies ihn darauf hin, dass er es mit einem bedeutenden Verleger zu tun habe. Albers: »Was verlegst du denn? Ich verlege immer nur meine Brille.« Als der Mime erfuhr, dass sein Tischnachbar außer Büchern auch Zeitschriften wie Film und Frau herausbrachte, erklärte Albers: »Die hat meine Frau abonniert. Die kommt aber immer so unregelmäßig. Kannst du das nicht in Ordnung bringen?« Es wurde schließlich aber doch noch ein ganz netter Abend. Der folgende Morgen verlief nicht weniger skurril. Kurt Ganske nahm in einem Konferenzraum des Hotels an der schmalen Seite des hufeisenförmigen Tisches Platz. Rechts von 185 ihm saß seine Mannschaft. Auf der linken Seite ließen sich neben den beiden Verlegern deren Wirtschaftsprüfer und ein Rechtsanwalt nieder. Ganske eröffnete die Sitzung und erteilte zunächst Willy Markert das Wort. Danach referierte der Wirtschaftsprüfer der anderen Seite über den letzten Stand der Dinge. Alles sah so aus, als ob nach spätestens einer Stunde der Vertrag unterschrieben werden könnte. Hess wusste jedoch, dass aus dem Geschäft keinesfalls etwas werden konnte. Er rätselte nur, wie Kurt Ganske es schaffen wollte, nach den monatelangen, freundschaftlichen Gesprächen aus der Sache herauszukommen, ohne seine Gesprächspartner vor den Kopf zu stoßen und selbst das Gesicht zu wahren. Das ging so: »In der Ecke stand ein Kellner mit Getränken. KG hatte ihn mehrfach zum Nachschenken von Rotwein aufgefordert. Plötzlich sank KGs Kopf auf den Tisch. Alle Anwesenden taten, als ob sie nichts bemerkt hätten. Der Referent sprach weiter, als sei nichts geschehen. Nach einer Weile richtete sich KG auf und befahl: ›Ruhe.‹ Erneutes Sinken des Kopfes. Einige Minuten später war ein flehentliches ›lieb sein‹ zu hören. Danach herrsch te eine Weile Schweigen.« Markert schlug vor, sich zu vertagen. Ein neuer Gesprächstermin wurde zunächst nicht vereinbart. Die beiden Delegatio nen verließen den Raum. Das Buchgemeinschaftsprojekt wurde erst einmal begraben. Es sollte Jahre dauern, bis es in veränderter Form eine Wiederauferstehung erlebte. Fünftes Kapitel Der Feind im Wohnzimmer E s klang wie das berühmte »Pfeifen im Walde«, mit dem sich der Wandersmann selbst Mut macht. Zur Jahrestagung des Verbands deutscher Lesezirkel 1957 bemühte sich ein Branchenkenner, den tiefbesorgten Teilnehmern Trost zu spenden. Die zunehmende Zahl der Kündigungen von ehemals treuen Abonnenten, die nun lieber auf den neuen Bildschirm als in ihre traditionelle Zeitschriftenmappe blickten, versuchte er mit den folgenden Überlegungen zu relativieren: »Es muss berücksichtigt werden, dass ein Teil der Abtrünnigen bei entsprechend geschickt durchgeführter Werbung zumindest dann zurückkehrt, wenn die Ratenzahlungen für den Fernsehempfänger abgestottert sind. Sicher werden das nicht alle schaffen; aber die Fernsehzuschauer, denen die Lieferfirma das Gerät aus der Wohnung holt, weil bei Nichteinhaltung der Raten der Eigentumsvorbehalt wirksam wird, werden umso eher zum Lesestoff zurückkehren«, schrieb er wacker gegen den Trend an. Die Zahl derjenigen, die ihre Raten nicht zahlen konnten, war aber geringer als erhofft. Angesichts der raschen Einkommenssteigerungen in den fünfziger und sechziger Jahren und der sinkenden Preise für TV-Geräte konnten sich immer mehr Familien eine »Glotze« leisten. Das machte nicht nur vielen der kleinen Lesezirkel das Leben schwer und manchen das Überleben unmöglich, das bekam auch der Branchenführer zu spüren. Hinzu kam, dass es sich eine stetig wachsende Zahl von Bundesbürgern leisten konnten, erst ein-, später sogar zweimal im Jahr Urlaub zu machen – und diesen nicht mehr nur auf »Balkonien« zu verbringen, sondern immer weiter in die Ferne 191 zu schweifen. Sie ließen dann für diese Zeit ihr Abonnement ruhen und wurden in der Kartei als »Aussetzer« vermerkt. Das hatte es auch früher schon gegeben. Doch nun wurden aus Aus setzern immer häufiger Abspringer, die sich wegen des zunehmenden Fernsehkonsums kaum noch Zeit zum Lesen nahmen. Nachdem der Fernseher abbezahlt war, musste überdies bald danach schon das nächste Wohlstandssymbol finanziert werden, das eigene Auto. Das kostete nicht nur Geld, das dann für die Bezahlung des Lesezirkel-Abos fehlte. Die zunehmende Motorisierung hatte noch eine weitere Folge: Die Boten blieben immer häufiger im Stau stecken. Die Tourenplanung und die pünktliche Zustellung wurden schwieriger. Auch beim Lesezirkel Daheim stellte man in dieser Zeit von Handkarren und Fahrrädern fast vollständig auf Kraftfahrzeuge um. Je nach Bedarf waren es VW-Busse und Käfer, mit oder ohne Anhänger. Dabei konnte der Lesezirkel auf eine kleine Sparbüchse zurückgreifen. Denn ebenso wie viele priva te Kunden, die jahrelang Anzahlungen nach Wolfsburg überwiesen hatten, um einmal einen der vom »Führer« versprochenen Volkswagen zu ergattern, hatte auch Kurt Ganske vor und während des Krieges Fahrzeuge für seine Firma bestellt und bezahlt. Doch statt preiswerte Autos für das Volk zu produ zieren, liefen in Wolfsburg nach dem Motto »Alle Räder rollen für den Sieg« bald nur noch Fahrzeuge für die Wehrmacht vom Band. Die meisten privaten Auto-Sparer sahen ihr Geld nie wieder. Kurt Ganske war aber nicht bereit, das investierte Geld einfach abzuschreiben. Fast 20 Jahre nach Kriegsende erklärte sich VW 1964 schließlich bereit, Daheim bei Neukäufen für bis zu 1000 Fahrzeuge jeweils 600 DM anzurechnen. In dieser Zeit wurde auch ein System boteneigener Fahrzeuge erprobt: Das Fahrzeug, das die Zusteller den ganzen Tag fuhren, sollte allmählich in ihren Besitz übergehen. Die Zahl der gefahrenen Touren und Kilometer sowie der besuchten Kunden sollte ihnen auf den späteren Kaufpreis angerechnet 192 werden. »Das war an sich eine geniale Idee meines Alten Herrn«, meint Michael Ganske. »Er war der Ansicht, dass sie die Autos viel sorgsamer behandeln und pflegen würden, wenn sie im Laufe der Zeit zu günstigen Bedingungen in ihr Eigentum übergingen.« Doch nur wenige Boten waren an dem Geschäft interessiert. Kurt Ganske hatte nämlich eine Kleinigkeit übersehen: »Beim Autokauf reden die Frauen immer ein gewichtiges Wort mit, und die hatten keine Lust, am Wochenende mit dem Boten-Käfer herumzufahren, während die Nachbarin im neuen Opel saß.« Es war die Zeit des Wirtschaftswunders, und das eigene Auto wurde zum Statussymbol. Ein Spiegel der Wohlstandsentwicklung waren auch die Prei se, die für Boten ausgelobt wurden, die bei der Werbung neuer Kunden besonders erfolgreich waren. 1976 wurden Zusteller, die 30 neue Abonnenten im Jahr warben, mit einem Mofa (Wert 900 DM) belohnt. Zwei Jahre später winkten als Preise unter anderem ein tragbarer Schwarzweißfernseher oder 40 Quadrat meter Teppichboden. Mitte der achtziger Jahre musste mit hoch wertigeren Preisen gelockt werden: Für 15 Aufträge gab es eine Spiegelreflexkamera; für 50 Adressen durfte ein Farbfernseher oder ein Heim-Computer mit nach Hause genommen werden; wer 60 neue Abonnenten überzeugt hatte, durfte zwischen ei nem Videorecorder, einer Strickmaschine, einer Videokamera oder einer Reise für zwei Personen in die Sonne wählen. Der wachsende Wohlstand veränderte die Lebens- und Konsumgewohnheiten. Das Wirtschaftswunder hatte deshalb für manches Unternehmen seine Schattenseiten. Das spürten nicht nur Fahrradproduzenten oder Kohlenhändler. Auch für die Zeitschriftenverleiher brachen schwere Zeiten an. Die Zahl der Lesezirkel, die bis Mitte der fünfziger Jahre auf über 800 gestiegen war, ging schon gegen Ende des Jahrzehnts wieder rapide zurück. »Ein Lesezirkel nach dem anderen gab auf oder wurde verkauft«, beschrieb der Verband 1983 diese Zeit in einem Rückblick. 193 Wieder ein Neuanfang Der Strukturwandel ging auch am Lesezirkel Daheim nicht spurlos vorüber. In einer Selbstdarstellung anlässlich des 75-jäh rigen Betriebsjubiläums wurde neben der Aufzählung der gro ßen Erfolge auch nicht verschwiegen, wie es nach dem Spitzenjahr 1957 in den folgenden zehn Jahren weiterging: »Es gibt immer mehr Zeitungen und Zeitschriften, Kino und Fern sehen sind auf dem Vormarsch, das Auto wird zum Lieblingskind der Bundesbürger. Durch diese Konkurrenz und die anderweitig ausgefüllte Freizeit verliert Daheim viele Kunden. Der Anteil der öffentlich ausgelegten Lesemappen bei Ärzten, Friseuren usw. erhöht sich allerdings beträchtlich. So kommt es, dass die Firma Anfang der sechziger Jahre wieder einmal vor einem Neuanfang steht.« Wie stark die Fluktuation unter den Kunden war, zeigt eine Analyse aus dem Jahr 1966. Von den rund 140 000 Abonnenten kündigten im Laufe des Jahres etwas mehr als 54 000. Das konn te zwar durch intensive Werbung fast ausgeglichen werden, denn den fleißigen Außendienstlern gelang es, beinahe die gleiche Zahl von Neukunden von den Vorteilen des Gemeinschaftslesens zu überzeugen. Unter dem Strich waren es daher schließlich nur 225 Kunden weniger. Aber diese Stabilisierung der Gesamtzahl musste mit einem erheblichen Aufwand für Werbung und Provisionen erkauft werden. Besonders schmerzlich war, dass ein Drittel der »Abtrünnigen« zu den Stammkunden zählte, die schon zwei oder gar fünf Jahre und länger beliefert wurden und daher besonders rentabel waren. Denn die Kosten, die mit der Gewinnung neuer Abonnenten verbunden sind, waren bei ihnen längst wieder eingespielt worden. Da alle Lesezirkel unter der wachsenden Zahl von Abbestellungen litten, wurde versucht, durch Umfragen die wichtigsten Gründe für das Kundenverhalten zu ermitteln. Das Ergebnis war eindeutig: Fast 31 Prozent der Aussteiger nannten im Jahr 194 1967 an erster Stelle das Fernsehen. Rund 25 Prozent gaben schlicht Zeitmangel als Grund dafür an, dass sie weniger lasen. Immerhin 20 Prozent nahmen Anstoß an der Sexwelle – die zu diesem Zeitpunkt allerdings schon seit mehr als zehn Jahren die Gemüter in der einen oder anderen Form erregte. Urlaubsreisen als Grund für eine Abbestellung spielten dagegen mit 12 Prozent in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre noch eine vergleichsweise geringe Rolle und lagen noch hinter so zwingenden Gründen wie Alter und Tod, die bei über 16 Prozent als Anlass der Kündigungen ermittelt wurden. Der Verlust von Kunden zog oft weitere Kündigungen nach sich. Denn wenn in einem Gebiet eine größere Zahl von Haushalten nicht mehr beliefert wurde, an anderer Stelle aber neue Abnehmer hinzukamen, mussten die Touren der Boten neu ge plant werden. Das hatte oft zur Folge, dass die alten Abonnenten nicht mehr an den gleichen Tagen wie bisher oder nicht mehr von dem seit Jahren vertrauten Zusteller beliefert werden konnten. Das ärgerte manche Kunden so sehr, dass sie kündigten. Daheim versuchte, der Herausforderung auf drei verschiedenen Wegen zu begegnen: Erstens bemühte man sich, die vielen Kündigungen dadurch zu kompensieren, dass viele Betriebe aus dem großen Kreis der kleineren Wettbewerber übernommen wurden. Es waren Lesezirkel, denen finanziell der Atem ausgegangen war oder deren Inhaber sich aus Altersgründen aus dem Geschäft zurückziehen wollten und keinen Nachfolger hatten. Das geschieht bis heute, wenn der Betrieb zur Struktur von Daheim passt. »Das Geschäft habe ich jahrzehntelang betrieben«, sagt Albert Buschinski, der viele Jahre lang Leiter der Revision war. Auch als Pensionär kümmert er sich weiterhin um die Ein gliederung übernommener Lesezirkel, weil Geschäftsführer Joachim Herbst seine langjährige Erfahrung nutzen möchte. »Wir haben deren Kunden aber nie heimlich übernommen«, stellt Buschinski klar. »Der frühere Inhaber verabschiedet und 195 bedankt sich; wir stellen uns bei ihnen mit unserem Leistungs angebot vor. Es gibt daher bei einer Übernahme kaum Kündigungen.« Ein Geschäft, von dem beide Seiten profitieren. Für Lese zirkelbetreiber, die aus Altersgründen verkaufen, hat der Erlös eine ähnliche Funktion wie die Auszahlung einer Lebensversicherung. Für Daheim war die Übernahme kleinerer Betriebe eine der Möglichkeiten, die Kundenzahl nach den Einbrüchen in den sechziger Jahren zu stabilisieren. Die zweite Möglichkeit, dem Schrumpfungsprozess zu begegnen, bestand darin, die innere Organisation und die Struktur des Unternehmens zu modernisieren und den neuen logistischen und technischen Entwicklungen anzupassen. Dazu wurden 1967 vier Niederlassungen gegründet. Dorthin wurden zum einen viele Aufgaben der Zentrale in Hamburg ausgelagert; zum anderen nahmen die Niederlassungen den Filialen einen großen Teil der Verwaltungsarbeiten ab, damit sie sich auf die Betreuung des Abonnentenstamms konzentrieren konn ten. Zu den Versuchen, die Organisation und Logistik zu modernisieren, gehörte auch die Entwicklung einer fast 300 Meter langen Straße für die automatische Mappenfertigung, die Daheim Mitte 1965 in Essen in Betrieb nahm. Darauf wurden wöchentlich 6000 komplette Mappen mit mehr als 50 000 Heften gefertigt, knapp ein Viertel des Bedarfs. Insgesamt lieferte Daheim im Bundesgebiet zu dieser Zeit 27 000 Erstmappen aus. Das war ein Novum nicht nur für den eigenen Betrieb, sondern für die gesamte Branche. Entsprechend stolz hieß es in einem Werbetext neben einem Bild der Anlage: »Dies hier ist die erste Straße, die wir je für die Mappe gebaut haben.« Es war auch die letzte. »Das war meine Idee«, berichtet Michael Ganske. »Dieser umständliche Prozess der Zusammenstel lung der Mappen in jeder Filiale – erst den Umschlag nehmen, mit den Anzeigen bekleben, die Zeitschrift heften, dann in den Karton legen –, das war alles sehr arbeitsaufwendig. Die 196 Überlegung war, das zu zentralisieren und maschinell zu fertigen. Aber es hat nie wirklich funktioniert. Die Maschinenbauindustrie hat sich nicht sehr für unsere Probleme interessiert. Dazu war das zu erwartende Auftragsvolumen zu klein. Wir schraubten eigenhändig an der Maschine herum und versuchten selbst, die Saugköpfe zu justieren. Aber unsere Fertigungsstraße war nie perfekt.« Sie war und blieb aber nicht der einzige Versuch, neue Verfahren und Ideen zu erproben. Das sollte allerdings möglichst in einem kleinen Betrieb geschehen. 1966 erklärte Kurt Ganske bei einer Besprechung, dass es notwendig sei, eine Musterfiliale einzurichten, in »der alle Überlegungen, Versuche und neue Richtlinien zunächst überprüft und erprobt werden sollten«. Erst wenn dort ein positives Ergebnis zu verzeichnen sei, sollten Neuerungen auch in anderen Filialen und Niederlassungen eingeführt werden. Die dritte Front Zusätzliche Angebote für die Abonnenten waren – neben der Übernahme kleinerer Lesezirkel und organisatorischen Verbesserungen – der dritte Ansatzpunkt im Kampf gegen den Kundenschwund. Dadurch sollte die Mitgliedschaft im Lesezirkel Daheim attraktiver werden und sich vom Angebot der Konkurrenten unterscheiden. Der erste Versuch, durch ein erweitertes Angebot die Treue der alten Abonnenten zu festigen und neue Bezieher zu gewinnen, wurde bereits 1964 gestartet. Unter der Überschrift »Eine neue Idee, die Kunden besser hält und gewinnt« wurde den Filialleitern und leitenden Mitarbeitern im Außendienst eine Marketing-Offensive vorgestellt, mit deren Hilfe sich Daheim deutlicher als bisher von der Konkurrenz abheben sollte. Dazu wurde ihnen erst einmal vor Augen geführt, worin die Schwäche des bisherigen Produkts lag. Neben einem Bild, das eine Auswahl unterschiedlicher Zeitschriftenmappen zeigte, wurde das Problem angesprochen: »Eine 197 davon ist unsere Mappe. Sie ist nicht dicker als die anderen. Sie ist nicht aktueller. Sie ist nicht billiger. Nichts macht sie attraktiver als all die anderen. Warum soll der Kunde diese Mappe abonnieren? Warum soll er bei dieser Mappe bleiben? Das ist unser gemeinsames Problem. Wir haben darüber nachgedacht, und wir haben einen Weg gefunden, der uns neue Erfolge sichern wird.« In der Tat unterschieden sich die Mappen der verschiedenen Lesezirkel damals nur durch die Farbe des Umschlags und die (von fast allen Anbietern fest vorgegebene) Auswahl der Zeitschriften, die wöchentlich ins Haus gebracht wurden. Da die Spannweite von Merian über Spiegel und stern bis hin zu den sogenannten Soraya-Blättern reichte, bot die Auswahl zwar jedem etwas, aber einigen auch zu viel. Denn manchen war Merian zu elitär, anderen die Yellow Press zu seicht, der Spiegel zu ätzend und der stern zu sexy. Probleme mit der Einheitsmappe, die nach dem Krieg die früher auch mögliche Wahlmappe für lange Zeit völlig verdrängt hatte, gab es gelegentlich auch aus ganz anderen Gründen. So empfahl Filialleiter Frohns in München 1965 auf Grund »unguter Erfahrungen«, bestimmte Abonnenten im Bereich der öffentlichen Auslage von der Belieferung mit Film und Frau auszuschließen. Dazu gehörten »insbesondere Bars und Bierkneipen … außerdem dürfte die Auslage auch bei reinen Herren-Friseuren fehl am Platze sein«. Doch diese Probleme bereiteten Kurt Ganske weniger Kopfzerbrechen als die zunehmenden Kundenverluste. Ein doppelt unterstrichenes »Nein« ziert daher diesen Absatz der Aktennotiz. Die Herausnahme von Film und Frau aus einem Teil der öffentlichen Auslage hätte deren Verbreitung stark eingeschränkt. Mitte der sechziger Jahre gingen bereits 40 Prozent aller Mietzeitschriften in die öffentliche Auslage. Die Friseure allein bezogen 13 Prozent der Mappen. 198 Treue soll belohnt werden Um den Exodus der Kunden zu stoppen und sich gegenüber der Konkurrenz die notwendigen Alleinstellungsmerkmale zu verschaffen, wurde ab 1964 das Leistungsspektrum von Daheim verbreitert. Welchem Angebot dabei die größte Bedeutung beigemessen wurde, geht schon daraus hervor, dass dafür sogar eine Umfirmierung vorgenommen wurde. Aus dem »Lesezirkel Daheim Richard Ganske« wurde der »Leserkreis Daheim Volksverband der Bücherfreunde«. Kurt Ganske hatte den Firmenmantel des Volksverbandes der Bücherfreunde (VdB) sechs Jahre nach den zunächst geplatzten Verhandlun gen 1961 schließlich doch noch erworben. Am vorletzten Tag des Jahres übernahm er alle Anteile an der Berliner GmbH. Er war aber nur an deren Klassiker-Bibliothek interessiert. Den noch vorhandenen Mitgliederbestand der ehemals größten Buchgemeinschaft der Weimarer Republik übergab er zur weiteren Betreuung an Bertelsmann. Er wollte nämlich mit einem etwas anderen Buchclub ver suchen, doch noch in das Geschäft mit einer geschlossenen Abnehmergruppe einzusteigen. Dass es Ganske etwas anders machen wollte als die Holtzbrincks und vor allem die im Clubgeschäft zu dieser Zeit so überaus erfolgreichen Bertelsmänner, zeigte sich daran, dass nur Daheim-Abonnenten berechtigt waren, Bücher aus dem vorhandenen Angebot zu beziehen, denn »Grundlage jeder zusätzlichen Leistung ist der Bezug unserer Mappe«, hieß es in der Ankündigung. Der Vorteil für den Kunden sollte umso höher sein, je länger er an seinem Abo festhielt. Nach 26 Wochen braven Zeitschriftenlesens erhielt er das Recht, Bücher des VdB in beliebiger Menge zum Vorzugspreis zu beziehen – allerdings zunächst nur in der Klasse B. Nach einem weiteren halben Jahr rückten treue Kunden in die Preisklasse A auf. Das bedeutete, dass sie die Bücher zu einem »nochmals ermäßigten Vorzugspreis« kaufen durf199 ten. Danach gab es alle sechs Monate eine Treue-Gutschrift, die beim Bücherkauf angerechnet wurde. Wer zwei Jahre lang die Lesemappe bezogen hatte, durfte sich als Treueprämie einen Band aus der Klassiker-Bibliothek auswählen – kostenlos natürlich. Die zunächst 18 Bücher im Angebot waren sehr hochwertig ausgestattet, nämlich auf Dünndruckpapier, mit einem flexib len Halbledereinband und mit Ballonleinen-Überzug. Damit Schmutzfinger der Pracht nichts anhaben konnten, war das Buch zudem noch in einen durchsichtigen Zellophanumschlag gehüllt. Besondere Raffinesse: Bei Werken der deutschen Literatur war der Lederrücken blau, Werke französischer Dichter leuchteten rot aus dem Regal, russische Dichter kamen dunkelgrün daher. Ebenso edel wie der Einband war der Inhalt. Es handelte sich ausschließlich um Werke der Weltliteratur, um Klassiker wie Homers »Ilias« und die »Odyssee«, um Dichterfürsten wie Goethe und Schiller, Cervantes und Dickens, Shakespeare und Tolstoi. Neben Märchen aus »Tausendund einer Nacht« standen bald die »Buddenbrooks« von Thomas Mann und andere Edelfedern. Denn den 18 Einstiegsbänden folgten in rascher Folge weitere Werke der Weltliteratur. Alles war sehr sorgfältig ausgedacht. Nur eines hatte man nicht genügend bedacht – nämlich ob den Kunden, von denen viele bereits meckerten, weil sie eine »hochgestochene« Zeitschrift wie Merian einmal im Monat in ihrer Mappe fanden, wirklich sehr viel am verbilligten Bezug der »Ilias« oder der gesammelten Werke von Shakespeare gelegen war. Schließlich waren die Hungerjahre, in denen gegessen wurde, was auf den Tisch kam, und in denen alles gelesen wurde, was in der Mappe lag, schon lange vorbei. Um ihr Kundenbindungsprogramm attraktiv zu machen, hatte die Geschäftsführung von Daheim sich aber noch mehr einfallen lassen. Um den eigenen Mappen-Kunden »entscheidend mehr« anzubieten als die Konkurrenz, hatte man eine 200 Vorkriegsidee wieder zum Leben erweckt: den Verkauf von Versicherungsdienstleistungen. Doch diesmal ging es zunächst nicht um Lebensversicherungen und andere Dutzendware, wie sie auch jeder Versicherungsvertreter routinemäßig anbietet. Es war eine »Urlaubs-Unfall-Versicherung für Aussetzerzeiten«. Filialleiter und Boten wussten natürlich sofort, was dieses Wortungetüm zu bedeuten hatte. Außenstehenden musste man es nicht erklären, weil das Strategiepapier damals natürlich streng vertraulich war. Doch heute kann es verraten werden: Aussetzer waren alle, die dem Boten mitteilten, dass er in den nächsten Wochen nicht zu kommen brauche, da sie entweder kein Geld hätten, weil sie die Raten für das neue Fernsehgerät abstottern müssten, oder weil sie einfach keine Zeit zum Lesen fanden. Der häufigste Grund dafür wiederum war eine Urlaubs reise. Solange die »Aussetzer« danach wieder brav zum Leserkreis zurückkamen, war das nicht weiter tragisch. Doch in den sechziger Jahren wurde es immer schwerer, sie nach den Ferien wieder einzufangen. Die Leser mutierten zu Schaulustigen. Dagegen hoffte die Geschäftsleitung nun ein Patentrezept gefunden zu haben. Sie versprach den erfolgsverwöhnten Filial leitern, die das veränderte Verhalten der Kunden sehr nervös gemacht hatte: »So bleiben Ihnen auch Aussetzer treu. Ihr Kun de kann sich, zum Beispiel für seinen Urlaub, über den Leser kreis Daheim zu einem ungewöhnlichen Tarif versichern. Eine so günstige Versicherung kann ihm niemand anders bieten! Die Prämie deckt sich mit seinen üblichen Lesegebühren.« Das war nun wirklich eine pfiffige Idee. Denn auch wenn daran nicht viel zu verdienen war, blieb der Kontakt zum Kunden erhalten. Der kam auf diese Art gar nicht erst aus seinem üblichen Zahlungsrhythmus heraus – und damit auch nicht auf die Idee, dass er sein Geld auch auf andere Art ausgeben könnte. 201 Bücher, Platten, Spiele Die Idee erwies sich aber als allzu pfiffig. Denn so einleuchtend der Gedanke war, den »Aussetzern« eine Reise-Krankenoder Unfallversicherung zu verkaufen, bei den Urlaubern verfing er nicht so recht. Dass ihnen in der »schönsten Zeit des Jahres« etwas Unschönes passieren könnte, mochten sie sich erst gar nicht vorstellen. Sie waren eher bereit, eine Lebensoder eine Sterbegeldversicherung abzuschließen. Deshalb beschäftigte sich die Versicherungsabteilung von Daheim schließlich nur noch mit dieser Variante, die schon in den dreißiger Jahren mit Erfolg verkauft worden war. Angeboten wurden die Versicherungen in Zusammenarbeit mit der Nürnberger Lebensversicherung und dem Württembergischen Versicherungs verein. »Für uns war der Einsatz dabei gering«, macht der heutige Marketingleiter Heinz-Dieter Lechte die Dimensionen klar. »Damals war es eine Person. Heute würde dank PC-Un terstützung eine Halbtagskraft die Arbeit bewältigen.« Man kochte auf kleiner Flamme und hoffte, einen Teil der Abonnenten auf diese Art fester an den Leserkreis zu binden. Das gelang aber nur in geringem Umfang. Deshalb wurde die Zusammenarbeit mit der Versicherung 1981 beendet. Die edlen Klassiker-Ausgaben, von denen insgesamt 38 Bände erschienen, entwickelten sich auch nicht gerade zu einem Renner. Bei einem Teil der Kunden kamen die Luxusausgaben zwar gut an: »Wir bekamen damals viele Briefe, in denen sich die Kunden für die wunderschönen Bücher bedankten«, erinnert sich Fred-Ruthard Stahnke, der sein Berufsleben 1967 in der Buchversandabteilung begann. Insgesamt war die Bilanz aber ernüchternd. »Eine Analyse des Absatzergebnisses der Klassiker im LK Daheim zeigt, dass auch künftig mit überwäl tigenden Resultaten nicht gerechnet werden kann. Im Vordergrund steht die Kundenerhaltung; der Buchverkauf kann sicher im Laufe der Zeit gesteigert werden, bleibt aber ein an202 genehmes Nebenresultat«, musste schon im Januar 1965 bei einer Bestandsaufnahme festgehalten werden. »Die Leute bekamen alle halbe Jahre eine Treue-Gutschrift von einer Mark, die sie beim Kauf einlösen konnten. Das Geld wollten sie nicht verfallen lassen«, berichtet Stahnke. Das Buchgeschäft zog immer dann an, wenn im Fernsehen ein Film wie »Anna Karenina« gelaufen war. Danach ließ sich Tolstois Roman gleich stapelweise verkaufen. Das galt auch für andere Bücher, die man rasch einkaufte, wenn im Fernsehen eine Ver filmung lief. Dabei stellte sich bald heraus, dass sich mit Un terhaltungsliteratur bessere Geschäfte machen ließen als mit Literaten von Weltruf, deren Werke oft nur wegen ihres gediegenen Aussehens ins Regal gestellt wurden. Bücher von Vicki Baum und Heinz G. Konsalik brachten höhere Umsätze als Goethe und Schiller. Ein besonderer Renner war »Der Arzt von Stalingrad«. Mit diesem Roman gelang dem »Trivialautor« Konsalik der große Durchbruch. Er erschien bis heute in einer Auflage von mehr als 3,5 Millionen Exemplaren und gilt als das meistgelesene Buch der Nachkriegszeit in Deutschland. Besonders seit der Verfilmung mit O. E. Hasse 1958 lief auch die Sonderausgabe bei Daheim »wie geschmiert«. Erfolg hatte der Spezialversand für LKD-Abonnenten in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre aber nicht nur mit populären Einzelbänden, sondern auch mit Buchpaketen, die mit drei bis vier populären Schmökern gefüllt wurden. Sie wurden zu Sonderkonditionen bei Verlagen wie Kindler oder Heyne beschafft und konnten dadurch sehr günstig angeboten und durch die Einlösung der Treue-Gutschriften weiter verbilligt werden. »Fünf- bis sechstausend Pakete je Aktion gingen da jedes Mal weg«, erinnert sich Stahnke. Im Rahmen des Versandgeschäfts für Kunden verkaufte Daheim zeitweise auch Schallplatten und Abspielgeräte. Bei den Platten handelte es sich meist um Titel, die besonders von den älteren Semestern geschätzt wurden. Neben lauschiger Tanzmusik waren es schon 203 etwas reifere Künstlerinnen wie Zarah Leander und Tenöre wie Fritz Wunderlich, Enrico Caruso oder Richard Tauber, die bei der älteren Generation die Erinnerung an schöne Stunden wachriefen. 1967 wollte man ganz genau wissen, wer der Kunde, das unbekannte Wesen, eigentlich war und was er über die verschiedenen Angebote dachte. Dabei stellte sich heraus, dass es sich bei 55 Prozent um Abonnentinnen handelte, dass fast 58 Prozent aller Mappen-Bezieher älter als 50 Jahre alt waren und ein Viertel sogar um die 70 Jahre zählte. Die Hälfte verfügte damals über ein Haushalts-Nettoeinkommen von höchstens 800 DM. Da verwundert es nicht, dass über 13 Prozent am Bezug verbilligter Bücher und Schallplatten interessiert waren. Aber 23 Prozent der Befragten nannten die Möglichkeit, an Preisrätseln teilzunehmen, bei denen bis zu 50 000 DM zu gewinnen waren, als ihren größten Herzenswunsch. In den siebziger Jahren ließ das Interesse an solchen Angeboten nach. Billige Bücher gab es auch woanders. Schallplatten wurden durch neue Speichermedien wie die Musikkassette und später die CD verdrängt. Preisrätsel veranstalteten viele. Man musste sich wieder etwas Neues einfallen lassen, um gegen die Abwanderung von Kunden anzukämpfen. Dazu gehörte zum Beispiel der Spieleverleih, den Daheim am Ende des Jahrzehnts eine Weile im Angebot hatte. »Leihen Sie sich von uns Spiele Ihrer Wahl zu einem Bruchteil des Ladenpreises«, ermunterte man die Kunden. »Wir verleihen oder verkaufen Spiele, die Spannung, Spaß und Freude in Ihr Haus bringen … denn gute Spiele sind nicht gerade preiswert. Auf jeden Fall zu teuer, um nach einiger Zeit ungenutzt in der Ecke zu stehen.« Das galt auch für manche der Spielzeuge, die sich seinerzeit zwar jeder Junge wünschte, mit denen viele aber schon nach kurzer Zeit nicht mehr spielten, wie Fischer-Technik und Elektronik-Baukästen. Bestellen konnte man beim Zusteller oder per Anruf in der Filiale. Die Miete betrug 10 Pro204 zent des Ladenpreises und wurde angerechnet, wenn der Kunde das Spiel behalten wollte. Das lief am Anfang ganz gut, doch auch diesem Zusatzgeschäft war kein anhaltender Erfolg beschieden. Wieder war es das Fernsehen, das die Lebensgewohnheiten veränderte. Statt gemeinsam zu spielen, hockten immer mehr Familien erst noch miteinander und später sogar jeder für sich vor den Mattscheiben. Die Generation der CoachPotatoes wuchs heran. Der Mann mit den goldenen Stiften Besonders viel Phantasie entwickelte der Geschäftsführer Erwin Schmitz, dem Kurt Ganske Mitte der sechziger Jahre die Leitung von Daheim übertragen hatte. Zu dieser Zeit war der früher immer sehr rentable Leserkreis tief in die roten Zahlen geraten. Der Mantel war für das schrumpfende Geschäft zu groß geworden. Die früher so erfolgreiche Mannschaft und die auf Wachstum getrimmte Organisation passten nicht mehr in eine Zeit, in der die ganze Branche unter den Folgen des Strukturwandels litt. »Wie tief Daheim in die Verlustzone ge raten war, lässt sich wie so manches andere aus den noch vorhandenen Unterlagen nicht mehr ermitteln«, bedauert Thomas Ganske. »Heute dokumentieren wir alles haarklein und heben vielleicht zu viel auf. Früher wurde dagegen zu wenig archiviert. Deshalb lassen sich viele Entwicklungen nicht mehr lückenlos nachvollziehen. Aber sicherlich ist der Rückgang der Abonnentenzahl nicht immer von entsprechenden Maßnahmen zur Kostensenkung begleitet worden. Das hat Schmitz dann bereinigt und überkommene Strukturen so verändert, dass der Leserkreis wieder wirtschaftlich zu führen war.« Erwin Schmitz, der sich zuvor um die Einführung der Datenverarbeitung und andere organisatorische Fragen in den verschiedenen Ganske-Unternehmen gekümmert hatte, wehrte sich zunächst »mit Händen und Füßen« gegen diese Aufgabe. 205 »Die hatten beim LKD immer noch sehr viele Kunden, waren aber so schlecht organisiert, dass sie trotzdem viel Geld verloren.« Deshalb hatten die Geschäftsführer in immer schnellerer Folge gewechselt – ohne dass es zu dem erforderlichen Kurswechsel kam. Das übernahm dann Schmitz. Er halbierte die Mitarbeiterzahl und änderte das Entlohnungssystem für die nun auf den tatsächlichen Bedarf reduzierte Botenzahl. Statt des Stundenlohns wurde ein Abrechnungssystem eingeführt, bei dem für jeden Kundenbesuch und jeden gefahrenen Kilometer eine bestimmte Punktzahl gutgeschrieben wurde. Statt wie bisher die Zeitschriften in den Filialen einzeln mit den auch als Werbeträger dienenden grünen Schutzumschlägen zu versehen, gelang es Schmitz, die Verlage dazu zu bewegen, ihre Blätter gleich im Daheim-Gewand zu liefern. Der charakteristische graue, grüne und heute blaumelierte Umschlag wird seit 1971 am Ende der Druckstraße um die Zeitschriften geheftet und nicht erst einzeln bei Daheim. Schon vorher hatte Schmitz dafür gesorgt, dass die Mappen für die Kunden nicht mehr zentral angefertigt wurden, sondern dieser Produktionsschritt 1969 wieder zurück in die Filialen verlegt wurde. Weil die Filialen sich wieder ganz dem Vertrieb widmen sollten, wurden ihre inzwischen viel zu großen Büros auf das notwendige Minimum reduziert, und der größte Teil der Verwaltungsarbeiten wurde wieder in Hamburg konzentriert. Rech nungen, Mahnungen, Lieferscheine wurden nur noch in der Zentrale geschrieben. Das alles war nur möglich, weil der technisch und handwerklich versierte Geschäftsführer zusammen mit einem Mitarbeiter Anfang der siebziger Jahre eigenhändig ein EDV-Programm entwickelte, das bereits Entscheidungsprozesse unterstützte und die Geschäftsabläufe bei Daheim so gut abbildete, dass es über 35 Jahre lang im Einsatz blieb. Erst ab 2007 sollte das 1972 installierte System schrittweise durch das lange erwartete »Daheim Informationssystem« (DAISY) abgelöst werden. Die alte Software hätte auch noch länger funktio206 niert. Doch inzwischen hatte sie nicht nur ihren längst pensionierten Vater, sondern auch fast alle Mitarbeiter überdauert, die die Programmsprache noch beherrschten und bei Problemen eingreifen konnten. »Eigentlich hatten wir nur noch eine Mitarbeiterin, die das System verstand. Ich darf gar nicht daran denken, was alles hätte passieren können, wenn sie für längere Zeit erkrankt wäre«, schildert Geschäftsführer Joachim Herbst das Risiko. Außerdem konnte so Platz auf den Schreibtischen geschaffen werden, denn da das Methusalem-Programm auf einem veralteten Betriebssystem basierte, mussten für alle anderen Büroarbeiten zusätzliche PCs bereitgestellt werden, die unter Windows arbeiteten. Seine Kenntnisse in der Datenverarbeitung hatte sich Erwin Schmitz in einer amerikanischen Dienststelle in Marokko erworben, die über einen Computer verfügte, der mit 30 000 Röh ren bestückt war und einen ganzen Raum ausfüllte. Nur das Militär konnte sich damals solche Ungetüme leisten. Es war die letzte Station auf einer Reise, die er als junger Mann mit 25 DM in der Tasche begonnen hatte und die ihn innerhalb einiger Monate rund um das Mittelmeer führen sollte. Sie dauerte schließlich zehn Jahre und brachte ihm unter anderem Erfahrungen als Ingenieur, Lehrer, Feuerwehrmann und Elektroniker ein. Als er sich 1961 eher zufällig beim Jahreszeiten Verlag bewarb, traf er zunächst auf Michael Ganske. Der stellte ihn seinem Vater vor – und der ihn als Assistent für Organisationsfragen ein. »Der ist entweder genial oder verrückt – mal sehen, was davon zutrifft«, erklärte Kurt Ganske seinem Sohn diese Personalentscheidung. Als Schmitz sich an seinem ersten Arbeitstag meldete, war Michael Ganske gerade auf Hochzeitsreise, und niemand konnte ihm sagen, was er denn nun eigentlich organisieren sollte. Deshalb erstellte er erst einmal einen Übersichtsplan, in den er alle Unternehmen einzeichnete, die Kurt Ganske gehörten. Da der Verleger sie alle als Einzelunternehmen 207 führte und die meisten Mitarbeiter bei Daheim, Hoffmann und Campe oder dem Jahreszeiten Verlag gar nicht wussten, welche anderen Firmen Kurt Ganske sonst noch besaß, war vorher niemand auf eine solche Idee gekommen. Über das Organigramm einer so damals noch gar nicht existierenden Organisation setzte Schmitz erstmals die Überschrift »GanskeGruppe«. Da sich aber nach wie vor niemand dafür interessierte, nahm er sich der Organisation der Datenverarbeitung an. Es ging darum, für den Jahreszeiten Verlag eine Abonnenten verwaltung aufzubauen. Daran hatte sich bereits die Zuse AG versucht, das Unternehmen des deutschen Vaters der elektro nischen Datenverarbeitung, Konrad Zuse. Viel Brauchbares war dabei jedoch nicht herausgekommen. »Können Sie nicht mal gucken, ob Sie das hinbekommen?«, lautete der Auftrag. Schmitz besann sich auf seine bei den Amerikanern erworbenen Kenntnisse. »Die Maschine wurde auf Steckkarten programmiert, das waren Tafeln mit vergoldeten Löchern und Steckern. Jedes Byte musste von Hand gesteckt werden, jeder einzelne Befehl in kleinsten Schritten dargestellt werden.« Schmitz und sein Helfer bekamen zwar eine Abo-Verwaltung und auch eine einfache Gehaltsabrechnung hin, aber »es war eigentlich alles Mist«. Es stellte sich bald heraus, dass es mit der Zuse-Maschine einfach nicht ging. Erst nachdem eine Univac bestellt worden war, bekam man die Sache in den Griff. Noch als Pensionär zeigt Schmitz voller Stolz umfangreiche Aktenordner, vollgestopft mit den von ihm gezeichneten Plänen zur Architektur des Programms. Diese Leistung beeindruckte Kurt Ganske offenbar so sehr, dass er es dem begabten Bastler zutraute, auch den auf eine abschüssige Bahn geratenen Lesezirkel neu zu programmieren – obwohl Schmitz beim Einstellungsgespräch die erste Frage, »Haben Sie schon einmal bedient?«, mit »Nein« beantwortet hatte. Die Belieferung von Lesezirkel-Abonnenten zählte nicht 208 zu den vielen Jobs, die er während seiner Lehr- und Wanderjahre rund um das Mittelmeer ausgeübt hatte. Aber Kurt Ganske hatte auf den richtigen Mann gesetzt. Ein Jahr nach Beginn der Schmitz-Kur wurde bei Daheim bereits eine Null geschrieben. Nach weiteren zwölf Monaten konnte Schmitz seinem Arbeitgeber eine Bilanz vorlegen, in der wieder ein Gewinn ausgewiesen wurde. Lesen statt kochen Nicht ganz so erfolgreich war Erwin Schmitz, wenn es um neue Marketing-Ideen ging – auch wenn er immer wieder originelle Einfälle hatte. So kam er auf den Gedanken, dem Lesezirkel einen TV-Reparaturservice anzugliedern. Eine noch weiter gehende Idee bestand 1984 darin, einen mobilen HausmeisterService zu etablieren. Ausgebildete Klempner und Elektromeis ter mit einem gutausgestatteten Werkstattwagen sollten einmal pro Woche bei den Abonnenten vorbeifahren und sich erkundigen, ob alles in Ordnung sei. Wer außer Haus war, sollte einen Zettel in den Briefkasten legen und darauf vermerken, ob der Wasserhahn tropfte, eine Glühbirne ausgewechselt werden musste oder die Türklingel streikte. Kleine Instandhaltungs arbeiten waren im Abo-Preis enthalten. Wurde der Service gerufen, weil ein Wasserrohr geplatzt, die Heizung kalt oder der Kühlschrank kaputt war, sollte eine Extra-Rechnung geschrieben werden. »Als Kurt Ganske hörte, dass ich bereits einen Musterwagen ausgerüstet hatte, ließ er ihn kommen. Der Fahrer sollte den ganzen Kabelsalat der Fernsehgeräte ordnen und ordentlich verlegen und auch sonst alles reparieren, was in der Wohnung irgendwie defekt war. KG war anschließend sehr zufrieden.« Doch das war es dann auch. »Im Management hat sich sonst keiner dafür interessiert. Allein gegen alle konnte ich das nicht durchziehen«, ärgerte sich Schmitz noch drei Jahrzehnte später. 209 Dass Schmitz immer wieder solche Ideen entwickelte, hing damit zusammen, dass er selber zeitlebens ein begeisterter Tüftler und Bastler war. Zu seinen Glanzleistungen gehörte der Bau eines Wohnmobils auf Basis eines Mercedes-Lkw. Nach der Ankunft auf dem Campingplatz konnte die rollende Luxusherberge hydraulisch auf fast die doppelte Länge ausgefahren werden. Mit dem Unikat, das noch mit vielen anderen technischen Raffinessen ausgestattet war, gewann Schmitz bei einschlägigen Wettbewerben mehrfach den ersten Preis. Er beeindruckte mit seinem Gefährt aber nicht nur andere Camper, sondern auch den Chef. »Als ich einmal spät am Abend in der Garage an dem Ding bastelte, kam KG vorbei und sah sich alles an. Als Unternehmer hat er sofort überlegt, ob man solche Fahrzeuge nicht auch bei Daheim einsetzen könnte – zum Beispiel als Wohnmobil für Vertreter oder als mobilen Messestand.« Aus der eigenen Freizeitbeschäftigung heraus entstand auch der Vorschlag, parallel zum Gemeinschaftslesen eine Gemeinschaftsnutzung von Heimwerkergeräten zu organisieren. Das war an sich ein naheliegender Gedanke. Do-it-yourself lag im Trend. Gute Maschinen waren damals noch sehr kostspielig. Da die meisten Hobby-Schreiner, -Tapezierer, -Fliesenleger oder -Gärtner sie nur ein- oder zweimal im Jahr wirklich brauchten, wäre es sinnvoll gewesen, sie günstig zu leihen statt teuer zu kaufen. Dennoch wurde nichts aus der Idee »Werkzeug für Daheim«. Ein solcher Service hätte ebenso wie der Hausmeisterdienst per Abo nicht so recht zu einer Mediengruppe gepasst. Vielleicht war es ein Trost für Erwin Schmitz, dass auch manche Idee von Kurt Ganske aus dem gleichen Grund schließlich wieder begraben wurde. So überlegte er 1966, den DaheimKunden Eigenheime zu verkaufen. »KG beabsichtigt, DaheimFertighäuser für unsere Kunden in das Programm aufzunehmen. Es ist geplant evtl. Beteiligung an einer guten, soliden mittleren 210 Herstellerfirma, die diese Häuser liefern soll. Darüber hinaus soll eine Bausparkasse gekauft werden«, wurde Mitte 1966 in einem Besprechungsprotokoll vermerkt. Dort ist auch nachzu lesen, dass nach der Devise »If you can’t beat them, join them« der Verleih von Fernsehgeräten geprüft und über das Angebot einer TV-Reparaturversicherung nachgedacht werden solle. Offenbar war das Ergebnis der Denkprozesse aber negativ. Auch die Fertighaus-Pläne verschwanden bald wieder in der Schublade. Wenn der Kassettenmann kommt Ein letzter Versuch, die böse Konkurrenz Fernsehen mit den eigenen Waffen zu schlagen, wurde im Herbst 1981 unternommen. Mit dem Slogan »Sie brauchen nur noch die Cassette einzulegen« wurde für den neu ins Programm genommenen Hauszustell-Service »Video Daheim« geworben. Ohne Aufnahmegebühr, Clubbeitrag oder Kaution konnten die Kunden sich aus einem immer wieder aktualisierten Katalog Videobänder ihrer Wahl in einem der drei damals miteinander konkurrierenden Formate VHS, Betamax oder Video-2000 ins Haus bringen lassen. Hier legt Schmitz allerdings Wert auf die Feststellung, dass die Idee nicht von ihm stammte. »Das kam aus dem Verband heraus. Die hielten das für eine tolle Idee, waren aber überzeugt, dass es nur funktionieren könne, wenn auch der Branchenprimus mitmachte – sonst sei das Ding von Anfang an tot.« Überlegungen, ins Video-Geschäft einzusteigen, hatte es schon seit vielen Jahren gegeben. Das riss die Süddeutsche Zeitung 1970 sogar zu einer Zukunftsvision hin: »Ein Bild aus den späten siebziger Jahren: Jede Woche oder vielleicht alle 14 Tage kommt dann der Kassettenmann. Was früher der Lesezirkel seinen Kunden frei Haus lieferte – Bilder und Storys aus aller Welt –, das verleiht er nun als Fernsehfilm … Das Angebot des 211 Kassettenmannes ist bunt wie der Schaukasten eines Zeitungskiosks. Es reicht vom Bildungsprogramm, der Schulfernsehsendung und den gesammelten Lektionen des Telekollegs über aktuelle politische Informationen, Spielfilme und Shows bis zur pornographischen Bilderserie.« Klar, dass die Lesezirkel angesichts so rosiger Zukunftsaussichten dabei sein wollten. Doch die technische Umsetzung gestaltete sich viel schwieriger und langwieriger, als der Lesezirkelverband, der Springer Verlag und Ullstein AV, die alle schon das große Geschäft mit bespielten Platten und Bändern witterten, gedacht hatten. Erst zehn Jahre später, im Herbst 1981, konnten 60 Lesezirkel, die sich zu diesem Zweck der Media-rent GmbH angeschlossen hatten, damit beginnen, bespielte Kassetten unter die Leute zu bringen. Das Mitmachen fiel Schmitz trotz aller Skepsis leicht, weil Daheim die Videobänder zunächst kostenlos zur Verfügung gestellt wurden. Die Rechnung musste erst beglichen werden, wenn sie auch tatsächlich ausgeliehen wurden. Das geschah allerdings zunächst nur in bescheidenem Umfang, da eine Mietvorauszahlung von 50 DM, wie sie Media-rent festgesetzt hatte, reichlich hochgegriffen war. Deshalb setzte schon bald »ein Preisverfall« ein, wie der Verband bedauernd feststellte. Der allerdings half dem Umsatz auf die Beine. Alle teilnehmenden Lesezirkel zusammen konnten 1982 fast 135 000 Vermietungen melden. Bei einem Gesamtumsatz von 2,2 Millionen DM entsprach das einer durchschnittlichen Mietgebühr von rund 16 DM. Doch dieser Anfangserfolg war vor allem dem NeugierEffekt zu verdanken. Auf die Dauer waren solche Preise nicht marktgerecht. Nach einem zunächst vielversprechenden Jahr klagten die Verleiher daher 1983 erneut über eine sehr stark schwankende Nachfrage und einen weiteren Preisverfall. Das Einzige, was wirklich gut lief, waren Sex-Videos wie »Emmanuelle« oder »Liebesgrüße aus der Lederhose«. Doch wer so etwas verlieh, bekam damals rasch Ärger mit dem Staats212 anwalt. Irgendein Tugendwächter fand sich immer, der sofort Anzeige erstattete, sobald er Sittenverfall und Unrat witterte. Erwin Schmitz hatte das geahnt. Deshalb ließ er alles, was nach »Schmutz und Schund« roch, in einen versiegelten Behälter legen. »Da konnte niemand behaupten, wir machten Jugendlichen Sex-Filme zugänglich.« Es dauerte auch nicht lange, bis jemand den Leserkreis anschwärzte. Schmitz erhielt eine Vorladung. Doch nachdem er dem Staatsanwalt seine Kindersicherung vorgeführt hatte, durfte er bald wieder gehen: »Alles in Ordnung.« Wiederentdeckung eines Erfolgsmodells Weniger ordentlich lief hingegen das Geschäft. Denn überall im Lande schossen Video-Shops wie Pilze aus dem Boden. Bei den Spezialanbietern konnte jeder Interessent in Ruhe aus einem großen Angebot auswählen und die Bänder schon am nächsten Tag gegen einen anderen Film austauschen. Wer »Schweinkram« sehen wollte, musste das nicht seinem Lesezirkel-Boten sagen, und auch die Kinder bekamen die Päckchen mit der heißen Ware nicht so leicht in die Finger. Außerdem boten die Videotheken ihre Filme deutlich billiger an. Die meis ten Lesezirkel stiegen deshalb schon bald wieder aus dem Videogeschäft aus oder eröffneten selbst einen Videoladen. Als Daheim den Kassettenverleih wieder einstellte, war es für Erwin Schmitz ein Abschied ohne Tränen. »Große Kosten hatten wir nicht und daher auch keine Verluste. Mir ist von vorneherein klar gewesen, dass die Kunden bald andere und bessere Möglichkeiten haben würden, an Filme zu kommen. Ich wollte nur nicht als der große Spielverderber dastehen. Hätten wir nicht mitgemacht, hätten die anderen Verbandsmitglieder uns die Schuld dafür gegeben, dass die Sache in die Hose gegangen ist.« Außerdem hatte der kurze Ausflug in die Welt der flimmernden Bilder einen sehr erfreulichen Neben 213 effekt. »So viel Publizität wie damals hatten wir noch nie«, freut sich Anzeigenleiter Wolfgang Declair noch heute. »Alle großen Zeitungen und auch das Fernsehen haben über die Videothek berichtet. Allein in der Drehscheibe des ZDF hatten wir zwanzig Minuten Sendezeit – und das zum Nulltarif.« Ein großer und dauerhafter Erfolg war dagegen die Wiederentdeckung der variablen Mappe. Erwin Schmitz sah, dass die Zeit vorbei war, in der man den Kunden eine Zeitschriften auswahl nach der Methode »Vogel, friss oder stirb« anbieten konnte. Seit 1984 gibt Daheim den Kunden wieder die Möglichkeit, aus einem bunten Strauß von Blättern auszuwählen. Die Leser bestellen, was sie wirklich interessiert – so wie einst in den Gründerjahren. »Wir haben die Standardmappe zwar heute noch, und sie bietet auch einen gewissen Preisvorteil. Aber sie macht nur noch rund zehn Prozent des Absatzes aus«, beschreibt Joachim Herbst, der seit 2001 die Geschäfte des Leserkreises führt, die Entwicklung. Wer sich bei einer der Fi lialen oder im Internet unter leserkreis.de über das Angebot informiert, kann heute seine Mietzeitschriften aus über hundert Titeln auswählen. Sie werden zu einem Preis ins Haus gebracht, der schon in der Woche des Erscheinens um rund ein Drittel unter dem Kioskpreis liegt. Nach einer Woche liegt der Rabatt bei über 40 Prozent. Wer noch eine Woche länger warten will, zahlt wenig mehr als die Hälfte des aufgedruckten Preises. Öfter als drei- oder viermal verleihen heute nur noch wenige Lesezirkel ein Blatt. Das Restaurant im Kühlschrank Nicht überlebt hat dagegen eine andere Geschäftsidee, für die Erwin Schmitz ebenfalls die Vaterschaftsrechte beansprucht. Es war ein weiterer Versuch, die Kernkompetenz »Zustell-Service« über den Zeitschriftenbereich hinaus auf andere Gebiete auszudehnen. Diesmal war es ein Service, der der Hausfrau 214 oder auch männlichen und weiblichen Singles das Leben erleichtern sollte. Unter dem Namen »Menü Daheim« wurden seit Anfang 1981 tiefgekühlte Fertigmahlzeiten auf Wunsch ins Haus geliefert – zunächst in Hamburg. »Das Kochen können wir vergessen. Daheim bringt tiefgekühltes Essen«, wurde in Reimform für das neue Angebot geworben. »Anruf genügt« – jedenfalls von Montag bis Freitag von 8 bis 16 Uhr. Dass es einmal Pizza-, Sushi- und andere Zustelldienste geben könnte, die bis tief in die Nacht oder gar rund um die Uhr liefern, konnte man sich Anfang der achtziger Jahre noch nicht vor stellen. Wer damals keine Lust hatte zu kochen, musste das lange im Voraus wissen und sich auch rechtzeitig überlegen, auf was er im Laufe der Woche Appetit haben würde. Der Fahrer kam nämlich nach einem festen Tourenplan, auf den die Kunden keinen Einfluss hatten. Außerdem mussten sie über ein Tiefkühlfach verfügen, um die bestellten Menüs lagern zu können. Zu Preisen zwischen 5,80 und 6,80 DM je Menü konnten sich Kochmüde zwischen vier verschiedenen Vorschlägen für den Wochenspeiseplan entscheiden, der entweder von Hähnchenschnitzel mit Butterreis bis zu Grünen Bohnen mit Rauch speck oder von geschnetzeltem Rindfleisch in Sahnetunke bis zu Hirschbraten mit Wacholdersauce reichte. Man konnte sich aber auch für eine ganze Woche mit Schonkost versorgen lassen. Wer für noch längere Zeit den Kochlöffel ruhen lassen wollte, konnte sich sogar für vier Wochen im Voraus eindecken. »Eine begeisternde Idee hat sich durchgesetzt und kommt jetzt auch zu Ihnen«, verkündete der Menü-Service und meinte damit vier Wochenkartons mit je sieben verschiedenen Menüs. Das waren 28 Mahlzeiten »im praktischen Kochbeutel«. Die Kun dinnen brauchten sie nur in heißes Wasser zu legen und konnten dann weiter in ihren Illustrierten blättern. »Gut essen ohne zu kochen« kostete zwischen 38 und 43 DM pro Person und Woche. Linientreue konnten genau nachrechnen, wie viele Ka215 lorien sie bei jeder Mahlzeit zu sich nahmen, denn deren genaue Zahl wurde bei jedem Gericht gleich mitgeliefert. Wie viel man sich davon versprach, den Daheim-Kunden nicht mehr nur geistige Nahrung ins Haus zu bringen, sondern ihnen das »eigene Restaurant im Tiefkühlfach« einzurichten und regelmäßig zu füllen, lässt sich daran erkennen, dass zum zweiten Mal in der Geschichte des inzwischen fast 75-jährigen Unternehmens die Firmenbezeichnung geändert wurde. Aus »Leserkreis Daheim Volksverband der Bücherfreun de« wurde der bis heute bestehende »Daheim Liefer-Service GmbH«. Das schloss auch die Möglichkeit ein, nicht mehr nur Zeitschriften und Bücher, sondern auch Fertigmenüs und später vielleicht weitere Waren bis an die Haustür zu bringen. Die »begeisternde Idee« zündete aber nicht so wie erhofft. Das Geschäft lief zwar auch diesmal zunächst ganz gut an, und Erwin Schmitz schmiedete schon Pläne, den Menüservice für Privathaushalte und Firmenkantinen um spezielle Angebote für Diabetiker zu ergänzen. Noch als Pensionär war er stolz darauf, bereits Adressen von über 6000 Interessenten gesammelt zu haben, und er hatte sogar eine eigene Zeitschrift für diesen Kundenkreis entwickelt. Doch dann beschloss Thomas Ganske, der inzwischen die Leitung der Unternehmensgruppe übernommen hatte, den Menü-Dienst aus Daheim auszugliedern und einem in dieser Branche erfahrenen Geschäftsführer anzuvertrauen. Da er von Unilever (Iglo, Langnese) kam, durfte man von ihm annehmen, dass er etwas vom Lebensmittel- und Tiefkühlgeschäft verstand. Doch auch mit diesem Sachverstand war das Geschäftsmodell nicht zum Erfolg zu führen. Es gab nicht genügend Familien, die das Restaurant im Kühlschrank regelmäßig aufsuchen wollten. Das Versprechen »die tägliche warme Mahlzeit … taufrisch, gesund und köstlich aus Ihrem Tiefkühlfach« konnte nach Ansicht der Konsumenten wohl doch nicht so ganz erfüllt werden. Thomas Ganske schmeckte das Geschäft mit der Tiefkühlkost ebenfalls nach 216 einiger Zeit nicht mehr. »Das passt nicht zu einem Verlagshaus. Außerdem braucht man dafür eine eigene Fahrzeugflotte, damit die Kühlkette nicht unterbrochen wird. Die Transportmittel der Boten, die die Zeitschriften zustellen und abholen, sind dafür völlig ungeeignet.« Die erhofften Synergie-Effekte ließen sich daher nicht erzielen. Dass die Idee an sich trotzdem richtig war, zeigen die Umsätze, die ein Vierteljahrhundert später mit Fertiggerichten erzielt werden. Allein »Joey’s Pizza-Service« liefert in ganz Deutschland täglich rund 17 000 Gerichte aus und erzielte damit 2005 einen Umsatz von 42 Millionen Euro. »Hallo Pizza«, der Größte der Branche, verkaufte sogar für 45 Millionen Euro warme Gerichte an der Haustür. Insgesamt kämpfen in Deutschland heute 2700 Heimlieferdienste um die Gunst der Kunden und kassierten bei ihnen 2006 über eine halbe Milliarde Euro. Als Erwin Schmitz »Menü Daheim« auf den Weg zu bringen versuchte, war der Markt dafür aber noch nicht reif, die Vorbestellungszeiten waren zu lang und das Essen meist nicht heiß genug. Heute heißt es: Anruf genügt. Kurze Zeit spä ter steht der Bote mit den dampfenden Gerichten vor der Tür. Einige Lieferanten bereiten das Fast-Food-Gericht sogar direkt vor dem Haus des Kunden in ihren rollenden Küchen zu. Weder arm noch alt noch ungebildet Für eine andere Leistung dagegen ist man Erwin Schmitz nicht nur bei Daheim, sondern in der ganzen Branche noch bis heute dankbar. Die Lesezirkel ärgerten sich seit langem darüber, dass sie bei der für das Anzeigengeschäft so wichtigen MedienAnalyse zu schlecht wegkamen. Der Grund dafür war eine für sie ungünstige Fragestellung. Dadurch wurde der Beitrag, den sie zur Verbreitung der von ihnen verliehenen Zeitschriften leisteten, ebenso systematisch unterbewertet wie die Reichweite der Werbeaufkleber und die Beilagen ihrer Mappen. Die 217 Arbeitsgemeinschaft Media-Analyse (AG.MA) dazu zu bewegen, ihre Ermittlungsmethoden zu ändern, erschien aber kaum mög lich. »Alle Sachverständigen, die wir dazu befragten, waren der Auffassung, dies sei unerreichbar«, klagte der Verband in seinem Geschäftsbericht. »Auf Anregung von Herrn Schmitz, Daheim, unternahmen wir aber trotzdem … einen Versuch.« Tatsächlich hatte ihn Erwin Schmitz jedoch nicht nur angeregt, sondern auch selbst unternommen – »obwohl die mich für verrückt erklärt haben«. Er sah eine Chance, weil er den Verantwortlichen bei der AG.MA gut kannte. Sie hatten früher den gleichen Heimweg von der Arbeit gehabt, sich daher oft getroffen und geplaudert. Deshalb war es nicht schwer, nun auch geschäftlich ins Gespräch zu kommen. Schmitz überzeugte ihn, dass die bisherigen Untersuchungsmethoden unzureichend waren. Das »Unerreichbare« wurde Wirklichkeit. Zunächst wurden die Lesezirkel als eigenständige Werbeträger in die Media-Analyse aufgenommen. Danach wurde noch einige Zeit herumexperimentiert, um die richtige Fragestellung zu finden. 1977 war es endlich so weit: Die in die repräsentativen Umfragen einbezogenen Leser wurden nicht mehr nur gefragt, welche Blätter sie gelesen hatten, sondern auch, ob sie die Zeitschriften in einer Lesezirkelmappe gefunden hatten – zu Hause oder in einer der zahlreichen öffentlichen Auslagen. Dabei stellte sich heraus, dass weit mehr Leser die Mappen und damit die vom Lesezirkel verbreiteten Zeitschriften zur Hand nahmen, als bisher unterstellt worden war. Mindestens so schön für die Branche war, dass gleichzeitig das uralte Vorurteil widerlegt wurde, ihre Kunden seien alt, arm und ungebildet. Das war bis dahin die gängige Meinung in der Medienbranche. Nun stellte sich auf Grund exakter Zahlen das genaue Gegenteil heraus. Diejenigen, die die Mappen nutz ten, waren im Vergleich zur Gesamtbevölkerung »jung, wohlhabend und gebildet«, wie der Verband deutscher Lesezirkel triumphierend meldete. Daran hat sich bis heute nichts geän218 dert. Die Mappen, die privat bezogen oder in der »öffentlichen Auslage« bei Ärzten, Friseuren, in Coffee-Shops oder FitnessStudios gelesen werden, erreichen Woche für Woche über elf Millionen Leser. Das sind 17 Prozent der Gesamtbevölkerung. Da sie in diesen »Wartesituationen« von vielen Personen genutzt werden, erhöhen die Mappen die Reichweite der eingelegten Zeitschriften beträchtlich. Über diesen Erfolg freute sich Erwin Schmitz auch 20 Jahre später noch – ebenso wie über die unternehmerischen Ge staltungsmöglichkeiten, die er als Geschäftsführer hatte. »Ich habe Daheim wie mein eigenes Unternehmen betrachtet. Kurt Ganske hat mir sehr viel Freiheit gelassen, da er den Leserkreis seit Anfang der siebziger Jahre an sehr langer Leine führte.« Gelegentlich fällte KG aber auch einsame Entscheidungen – zum Beispiel, als er Mitte der siebziger Jahre gegen den Rat seines Geschäftsführers eine Preiserhöhung beschloss. Da es eine schwierige Zeit war, in der man um jeden Abonnenten kämpfen musste, herrschte große Unruhe im Betrieb: »Jetzt hagelt es Abbestellungen, das gibt uns den Rest«, war die allgemeine Meinung. Heinz-Dieter Lechte, damals Vorsitzender des Gesamtbetriebsrates, trug Erwin Schmitz die Sorgen der Mitarbeiter vor. Wie so oft waren Geschäftsführer und Betriebsrat auch diesmal einer Meinung. »Dann versuchen Sie doch Ihr Glück bei ihm«, forderte Schmitz ihn auf. »Ich habe mich vergeblich bemüht, KG das auszureden.« Lechte, der den Verleger noch nie von nahem gesehen hatte, schrieb ihm einen Brief, in dem er seine Sorgen begründete. »Erst mal passierte lange gar nichts. Dann klingelte an einem Sonntag – es war außerdem mein Geburtstag – bei mir zu Hause das Telefon.« Kurt Ganske wollte mit ihm reden. Lechte machte sich auf den Weg in die »Villa«. Die Geburtstagsfeier musste warten. »Ganske hörte sich an, was ich zu sagen hatte. Seine etwas überraschende Antwort: ›Mein Friseur hat auch gerade seine Preise erhöht. Trotzdem gehe ich bald 219 wieder hin. Und bei dem bekomme ich nicht einmal etwas, sondern lasse sogar meine Haare da!« Damit war für ihn die Sache erledigt. Lechte machte sich etwas deprimiert auf den Heimweg. Im Betrieb wurden bereits Wetten abgeschlossen, wie viele Abonnenten sich nach der Preiserhöhung dankend vom Lesezirkel verabschieden würden. »Aber nichts passierte. Keine andere Preiserhöhung ging so glatt durch wie diese.« Sechstes Kapitel ¨ Sein lAngster Tag N ach Meinung seiner Frau Lilo handelte es sich bei dem, was der junge Autor in ein leeres Kontobuch mit extra weitem Zeilenabstand hineingeschrieben hatte, »um künstlerisch organisierten persischen Fliegendreck«. Gemeint war da mit allerdings nur die Handschrift und nicht der Inhalt, den sie mit Hilfe einer aus Wehrmachtsbeständen geretteten Schreib maschine in eine auch für Dritte lesbare Form gebracht hatte. Zu denen, die den Text lasen, gehörte Willy Haas, zu dieser Zeit kultureller Chefberater der Welt, deren Herausgeberin 1950 noch die britische Besatzungsmacht war. Da Captain Haas der Meinung war, dass sich der Text hervorragend als Fortsetzungsroman für das Blatt eignete, bekam der Feuilleton-Redakteur Siegfried Lenz, der das, was ihn bewegte, in seinen freien Stunden zu Papier gebracht hatte, ohne sich vorher zu fragen, wer seinen Roman denn drucken werde und ob er dafür einen Vorschuss bekommen könne, ein Honorar von 3000 Mark – eine Summe, die für ihn »unbegreiflich hoch« war. Für die Hälfte des Betrags buchte er zusammen mit seiner Frau auf einem Bananendampfer eine Passage nach Afrika; vom Rest des Geldes leisteten sie sich eine Bettcouch und ersetzten die Munitions kiste, die ihnen bis dahin als zentraler Einrichtungsgegenstand gedient hatte, durch richtige Möbel. Bedeutsamer war eine Beziehungskiste, die Lenz von da an immer begleitete. Nachdem die ersten Folgen seines Romans in der Welt erschienen waren, erkundigten sich Kollegen, welcher Verlag das Buch denn drucken werde. Darüber hatte sich Siegfried Lenz bis dahin noch gar keine Gedanken gemacht. 225 Die machten sich nun Kollegen, die Kontakte in die Verlagswelt hatten. Der erste Verlag, der sich bei dem jungen Redakteur meldete, war Hoffmann und Campe. Siegfried Lenz zauderte nicht lange und unterschrieb am 17. Oktober 1950 den angebotenen Vertrag. Schließlich erhält ein bis dahin unbekannter 25-jähriger Schriftsteller nicht jeden Tag die Chance, sein erstes Buch gleich bei einem so renommierten Haus zu veröffentlichen. Da wartet man nicht lange, ob sich vielleicht noch andere Interessenten melden. Diese Frage stellte sich der Autor auch später nicht mehr, denn es war der Beginn einer wunderbaren Beziehung, die auch nach mehr als einem halben Jahrhundert von beiden Seiten noch als glücklich empfunden wurde. Was unter dem Arbeitstitel »Große und kleine Vögel« im Vertrag stand, kam schon im Februar 1951 unter dem Titel »Es waren Habichte in der Luft« in den Buchhandel, und aus dem unbekannten Autor wurde einer der bedeutendsten und erfolgreichsten deutschen Schriftsteller von der Nachkriegszeit bis in die Gegenwart. Die Startauflage von 3000 Exemplaren, von der nach einem halben Jahr erst knapp die Hälfte verkauft war, ließ das allerdings noch nicht erahnen. Eher schon die Besprechungen, die in den Feuilletons einflussreicher Zeitungen erschienen. Der Kritiker der Zeit fand »Sätze von wunderbarer Schönheit«. Die Frankfurter Allgemeine vermutete, dass man dem »jungen Autor Siegfried Lenz einen Platz unter den Hoffnungen unserer jungen erzählenden Literatur einräumen muss«. Schon mit dem 1955 erschienenen Erzählungsband »So zärtlich war Suleyken« zeig-te sich, dass der Kritiker damit ins Schwarze getroffen hatte. Die Erzählungen wurden zu einem großen Erfolg. Bereits mit seinem zweiten großen Werk schaffte der immer noch junge Autor den Sprung in die Bestsellerlisten. Die masuri schen Geschichten fanden bis heute über 200 000-mal als Hardcover und eine Million Mal als Taschenbuch den Weg zum Leser. 226 Hoffmann und Campe hatte in Lenz einen Autor gewonnen, der das Profil des Verlags inzwischen seit mehr als einem halben Jahrhundert mitprägt. Denn fortan erschienen alle seine Bücher bei HoCa, und die Frage war nur noch, ob die einzelnen Werke ein großer oder ein sehr großer Erfolg werden würden. Nach einer Reihe weiterer Romane und Erzählungen gelang Siegfried Lenz 1968 mit »Die Deutschstunde« sein größter Erfolg. Fast 2,3 Millionen Exemplare wurden verkauft, 450 000 davon als Hardcover. Dazu kamen Übersetzun gen in mehr als 20 Sprachen. Über 90 Romane, Erzählbände, Essays, Hörspiele oder Hörbücher aus der Feder des 1926 im ostpreußischen Lyck geboren Autors sind seit 1951 bei Hoffmann und Campe erschienen. Anlässlich seines 80. Geburtstages erschienen 2006 seine sämtlichen Erzählungen noch einmal in einem Band, dazu die autobiographische Essaysammlung »Selbstversetzung« – natürlich bei seinem angestammten Hamburger Verlag. Lenz hat nie ernsthaft darüber nachgedacht, ob er zu einem anderen Verlag wechseln sollte, nicht einmal, als sein enger Freund Albrecht Knaus 1977 als Programmleiter ausschied – und schon gar nicht, weil ein anderer Verlag mit mehr Geld lockte. »Das stand für mich nie zur Debatte. Ich fühlte mich bei Hoffmann und Campe immer so gut aufgehoben – auch durch Herrn Ganske –, wie man sich das als Autor nur wünschen kann.« Das gegenseitige Treueverhältnis gründet nicht zuletzt auf der engen Beziehung, die sich zwischen Siegfried Lenz und seinen Verlegern Kurt und später Thomas Ganske entwickelte. Denn obwohl KG in der zweiten Lebenshälfte immer menschen scheuer wurde, öffentliche Auftritte mied, für Interviews nie zur Verfügung stand und für die große Mehrzahl der Mitarbeiter in seinen Unternehmen zum geheimnisvollen Unbekannten wurde, pflegte er die persönlichen Beziehungen zu den wichtigen Autoren seines Buchverlags. Sie waren oft – und häufig 227 über längere Zeit – Gast auf Hohenhaus, er jagte und angelte mit denen, die diese Art von Freizeitgestaltung zu schätzen wussten. Bei einem guten Rotwein diskutierte er mit seinen Gästen oft bis tief in die Nacht über Gott und die Welt. Siegfried Lenz hatte er nach der Rückkehr aus Afrika in den Verlag eingeladen, um ihm persönlich die inzwischen erschienenen Kritiken zu seinem Erstlingswerk zu überreichen. Darunter waren zum Erstaunen des Autors nicht nur Besprechungen aus der Zeit, der FAZ, der Süddeutschen Zeitung und anderen Blättern mit einem großen Feuilleton. Auch in einem Ärzteblatt, einer Gazette der Hamburger Gaswerke und einem Fleischereifachblatt sowie anderen, den schönen Künsten und der Literatur sonst eher verschlossenen Periodika, hatte man sich mit seinem Roman auseinandergesetzt – was ihn noch Jahrzehnte später amüsierte und wunderte. Nach diesem ersten Gespräch bei »dünnem Tee und Keksen« sind sich Autor und Verleger immer wieder begegnet, in Hamburg und in Hohenhaus, bei Kaffee und bei Wein. »Wir haben uns nicht sehr häufig gesehen. Aber wenn wir uns sahen, haben wir uns immer sehr gründlich ausgetauscht. Er war eine Gründernatur. Aber ihm war auch immer sehr daran gelegen, dass seine Autoren sich gut betreut fühlten.« Lenz hat es zwar stets abgelehnt, Vorschüsse für seine Bücher zu verlangen, weil er »nicht in eine Schuldenfalle geraten wollte«. Aber er wusste auch, dass ihn sein Verleger nicht im Stich lassen würde, wenn einmal Not am Mann sein sollte. Er ließ ihn auf dezente Weise wissen, dass der Verlag immer helfen werde, wenn es notwendig sei. »So war er eben, der alte Herr«, erinnert sich Lenz dankbar, weil ihm das Freiheit gab und Zeitdruck von ihm nahm. »Wir haben diese Hilfe glücklicherweise nie gebraucht«, fügt Lenz hinzu. Und dann fällt ihm ein, dass er sie einmal doch gern annahm, nämlich als er ein Haus suchte, in dem neben seiner Frau Lilo und ihm auch die vielen Tausend Bücher einen Platz finden konnten. »Da hat er uns den Kauf durch ei228 nen Vorschuss ermöglicht – aber der war gedeckt durch bald zu erwartende Einnahmen, so dass wir nicht in den Schuldenturm gerieten.« Fast ebenso wichtig wie solche Erinnerungen ist dem passi onierten Angler Siegfried Lenz, dass er auf Hohenhaus den zweitgrößten Fisch seines Lebens an Land zog, einen zwölf Pfund schweren Karpfen. Ehe sie ihn in den Kochtopf legte, löste Gerda Ganske zum Andenken eine Schuppe. Lenz trägt sie nach mehr als drei Jahrzehnten immer noch im Portemonnaie bei sich. Ein Angler-Talisman. Es gab keinen Berufeneren als Siegfried Lenz, um 1979 am Grab des Verlegers an die Persönlichkeit und das Lebenswerk Kurt Ganskes zu erinnern. Mit seinem Sohn Thomas, den er noch als kleinen Jungen erlebt hat, verbindet den Autor eine enge persönliche Freundschaft, die auch das Du einschließt. Der Vater dagegen blieb immer »Herr Ganske«. Selbst heute empfindet Lenz das Kürzel KG als unangemessen, wenn er über ihn spricht. »Thomas ist für mich ein Glücksfall. Wir telefonieren sehr oft zusammen. Als ich ihn einmal amerikanischen Journalisten als my friend and publisher vorstellte, waren die fassungslos. Ein Verleger als Freund – für sie fast unvorstellbar.« Viele Leser dagegen können sich nicht vorstellen, dass Verleger manchmal auch sehr praktische Hilfe leisten, damit ein Buch entstehen kann. Als Siegfried Lenz die Idee zu seinem 2003 erschienenen Roman »Fundbüro« hatte, »fuhr mich Thomas nach Hannover, weil er den Chef des dortigen Fundbüros kannte«. Lenz konnte ihm Fragen stellen und beobachten, wie so ein Büro organisiert ist. Auch die Phantasie eines Schriftstellers braucht ein solides Fundament. 229 Auf Bestseller abonniert Ein glücklicher Fund für den Verlag war eine Autorin, die in den fünfziger Jahren ebenfalls zunächst durch Beiträge in einer Tageszeitung aufgefallen war. Es war Harriet Wegener, die ihre Artikel im Hamburger Echo (aus dem später das Boulevardblatt Hamburger Morgenpost wurde) über das Leben im Fernen Osten gelesen und dabei schriftstellerisches Talent entdeckt hatte. Sie überredete Alice Eckert-Rotholz, die dreizehn Jahre ihres Lebens in Bangkok verbracht hatte, sich an einem Roman zu versuchen. Als er 1954 unter dem Titel »Reis aus Silberschalen« erschien, durfte sich Hoffmann und Campe über seinen ersten Bestseller nach dem Krieg freuen. Ähnliche Erfolge erzielten der Verlag und seine Autorin auch mit den nachfolgen Romanen. Insgesamt erschienen 17 Bücher aus ihrer Feder bei HoCa, das letzte im Jahr 2000 anlässlich ihres 100. Geburtstags. »Im feurigen Licht« enthält Gedichte, an denen die 1995 verstorbene Autorin noch bis in ihr 93. Lebensjahr hinein gearbeitet hatte – in dieser Hinsicht ihrer Entdeckerin nicht unähnlich. Denn als Harriet Wegener am 8. November 1970 ihren 80. Geburtstag feierte, wurde ihr nicht nur das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse verliehen. Sie konnte sich auch als Deutschlands dienstälteste noch tätige Lektorin bezeichnen. Zu den erfolgreichen Autoren dieser Jahre zählten auch Rudolf Hagelstange, Dinah Nelken, Percy Ernst Schramm oder Max Tau. Unter Leitung von Albrecht Bürkle, der den Verlag von 1958 bis 1963 führte, besetzte HoCa jedoch nicht nur in der Belletristik, sondern auch im Sachbuchbereich immer wieder Spitzenplätze. Zu den Erfolgsbüchern dieser Kategorie zählten so unterschiedliche Werke wie Peter von Zahns Berichte aus der Neuen Welt, die Rezepte des Fernsehkochs Clemens Willmenrod sowie »Der Weg zur natürlichen Geburt« von Grantly Dick-Read oder Paul Herrmanns »Sieben vorbei und acht verweht – Das Abenteuer der frühen Entdeckungen«. 230 Eine besonders erfolgreiche Zeit ist bei Hoffmann und Campe mit dem Namen Albrecht Knaus verbunden, der von 1967 bis 1977 Programmgeschäftsführer war und die vorderen Plätze auf den Bestsellerlisten abonniert zu haben schien. Er nutzte die unternehmerische Freiheit, die Kurt Ganske seinen Geschäftsführern ließ, um Werke zu verlegen, zu denen vielen anderen der Mut oder das Gespür für die Wünsche des Marktes fehlten. Sein erster und sehr persönlicher Erfolg, an den sich Knaus auch im neunten Lebensjahrzehnt noch gern erinnerte, war das jüdische Heldenepos »Masada – Der letzte Kampf um die Festung des Herodes« von Yigael Yadin. Der Rowohlt Verlag hatte das Manuskript abgelehnt. Auch bei HoCa kam erst einmal der Einwand: »So etwas haben wir doch noch nie gemacht.« Doch Knaus setzte sich durch und hatte prompt seinen ersten Bestseller. Zum Glück des Tüchtigen gehörte es, dass die Saga von den jüdischen Rebellen, die sich lieber von ihrem Burg felsen in den Tod stürzten, als sich den römischen Belagerern zu ergeben, kurz nach dem Sechs-Tage-Krieg erschien, der in der Bundesrepublik mit großer emotionaler Anteilnahme verfolgt worden war. Das Buch kam im Frühjahr 1967 in den Buchhandel und verkaufte sich im Sommer immer noch glänzend. Umso mehr ärgerte es Knaus, der sich mit seinem für den kaufmännischen Bereich zuständigen Kollegen Rüdiger Hildebrandt nicht nur bei dieser Gelegenheit herzlich gestritten hatte, dass das Buch rasch vergriffen war, als die Nachfrage im Weihnachtsgeschäft noch einmal kräftig anzog. Der Kaufmann, der mit Blick auf die Bilanz nicht mit hohen Lagerbeständen ins nächste Jahr gehen wollte, hatte zu knapp kalkuliert. Ein schneller Nachdruck war wegen der vielen farbigen Abbildungen damals noch nicht möglich. Seine Vorsicht musste der Verlag mit verlorenen Umsätzen teuer bezahlen. Ein Jahr später wäre mit der »Deutschstunde« beinahe das gleiche Malheur passiert. Knaus drängte darauf, dass Papier 231 für mindestens 70 000 Exemplare bestellt werde. Hildebrandt hielt das für weit überzogen. Er wurde dabei von Kurt Ganske unterstützt, der sich ebenfalls nicht vorstellen konnte, dass von einem so anspruchsvollen Buch so viele Exemplare bis Jahresende verkauft werden könnten. Knaus konnte immerhin erreichen, dass Papier für den Druck von 60 000 Büchern geordert wurde. Als er Anfang Dezember bei einer Autorenlesung in Stuttgart erlebte, mit welcher Begeisterung der Roman von den Zuhörern aufgenommen wurde, rief er noch in der gleichen Nacht Hildebrandt an und beschwor ihn, sofort Papier nachzubestellen und eine Druckerei ausfindig zu machen, die noch vor Weihnachten liefern könne. Die Skepsis seines Kollegen überwand er mit dem Satz: »Wenn Sie das hier erlebt hätten …« Diesmal gab Hildebrandt nach. Der Hersteller des Verlags machte eine Druckerei in Lengerich ausfindig, die zusicherte, die gewünschten Bücher kurz fristig zu liefern. Danach banges Warten. Es dauerte länger als versprochen. Schließlich wurden die Bücher doch noch kurz vor Weihnachten ausgeliefert. Bis Jahresende war das hundertste Tausend erreicht. »Das haben wir noch nie gemacht« – diese Hürde mussten auch die Texte des Liedermachers Franz Josef Degenhardt (»Spiel nicht mit den Schmuddelkindern«) oder von Wolfgang Neuss überwinden. Knaus verlegte mit »Der Paralleldenker« von Heinz von Cramer den ersten Pop-Roman und scheute sich nicht, populäre und teure Autorinnen wie Utta Danella an den Verlag zu binden. 1971 wagte er es, die bittersüße »Love Story« des amerikanischen Literatur-Professors Erich Segal zu veröffentlichen. Der amerikanische Verlag des Autors hatte bis dahin nur dessen wissenschaftliche Schriften publiziert und damit Geld verloren. Von Segals Vorhaben, selbst einen Roman zu veröffentlichen, hielt man bei McGraw-Hill so wenig, dass der Professor weder einen Vorschuss erhielt noch Geld für Werbung ausgegeben wurde. Die Verlage in den deutschsprachigen 232 Ländern, denen das Manuskript angeboten wurde, schätzten die Erfolgsaussichten sogar noch schlechter ein. Keiner wollte das Buch haben. Auch Knaus war zunächst unschlüssig. Er bat deshalb die große alte Dame des Verlags um ihre Meinung. Harriet Wegener las die »Love Story« übers Wochenende und hielt sie »für machbar« – falls die Rechte günstig zu haben seien. Sie waren es, da niemand sonst daran Interesse zeigte. Doch kaum war die Tinte unter dem Vertrag trocken, stand das Buch, für das keine Anzeigen geschaltet worden waren und über das bis dahin keine Rezensionen erschienen waren, in den USA auf den Bestsellerlisten – wochenlang. Das Rührstück, für das die meisten Kritiker nur Hohn und Spott übrig hatten, erlebte in Deutschland allein im ersten Jahr elf Auflagen; weltweit wurden davon 20 Millionen Exemplare verkauft. Über solchen Erfolgen vergaß Albrecht Knaus die Pflege der Klassiker nicht und bereicherte den Verlag zudem um neue Segmente wie das politische Sachbuch und die Biographien prominenter Politiker. Beispiele dafür sind »Die amerikanische Herausforderung« von Jean-Jacques Servan-Schreiber, Topographien des Wohlstands wie »Die Reichen und die Superreichen« in den USA und in Deutschland sowie die Reihe der politischen Memoiren, die 1971 mit Willy Brandt begann und mit den 2006 erschienenen »Entscheidungen« von Gerhard Schröder sicher nicht beendet ist. Auch mit erzählenden Sachbüchern wie Hoimar von Dithfurts »Am Anfang war der Wasserstoff« oder in Buchform verpackter Lebenshilfe schaffte Knaus es in die Bestsellerlisten. Trotz der Jagd nach Bestsellern wurde die Pflege der großen literarischen Tradition des Verlags jedoch nicht vernachlässigt und 1972 zudem mit dem systematischen Aufbau eines Wissenschaftsprogramms begonnen. Autoren wie Karl Popper und Ossip K. Flechtheim leisteten dazu ihre Beiträge. Mit einer his torisch-kritischen Gesamtausgabe der Werke Heinrich Heines knüpfte HoCa 1973 an seine große Vergangenheit an. Durch 233 die Übernahme des Heinrich-Heine-Verlags waren vier Jahre zuvor nicht nur sämtliche Rechte am Gesamtwerk des Dichters Hans Henny Jahnn erworben worden, sondern es war auch das Recht damit verbunden, den Verlag mit dem Namen Heines zu schmücken. Das kann heute jeder Besucher des Verlags sehen: Thomas Ganske ließ vor der Villa am Harvestehuder Weg eine Stele errichten, die eine große Plakette mit dem Kopf des Dichters trägt. Die von Caesar Heinemann geschaffene Bronze war 1898 bereits einmal am damaligen Domizil des Verlags an der Schauenburger Straße enthüllt worden, musste aber 1939 vor den Nazis versteckt und bis Kriegsende vor den Bomben gerettet werden. Der Hoffmann und Campe Verlag, der im Laufe seiner bis ins Jahr 1781 zurückreichenden Geschichte 17-mal die Adresse wechseln musste und zwischen 1911 und 1922 seinen Hauptsitz sogar nach Berlin verlegt hatte, kann nun schon seit über einem halben Jahrhundert einen festen Standort an der Hamburger Außenalster vorweisen. Seit den fünfziger Jahren residierte er in einer rot verklinkerten Villa im klassischen Bauhaus-Stil zwar »standesgemäß«, aber in drangvoller Enge. 1991 bezog HoCa direkt dahinter einen Neubau, der sich so geschickt in das parkähnliche Gelände schmiegt, dass er trotz seiner Größe nicht dominiert, sondern zu einer Fortsetzung der historischen Villenarchitektur mit modernen Ausdrucksformen geriet. Gelöst hat die schwierige Aufgabe der Frankfurter Architekt Jochem Jourdan, der zuvor schon in Hohenhaus die ehemalige Remise des Gutshauses mit viel Einfühlungsvermögen in ein exklusives Hotel verwandelt hatte. Nun versuchte er im Auftrag von Thomas Ganske, ein Verlagsgebäude zu errichten, das sich nicht nur in das historische Ensemble einfügte und den Mitarbeitern eine menschenfreund liche Umgebung bot, sondern zugleich auch ein Spiegel der Unternehmenskultur sein sollte, ein baulicher Ausdruck für ein weltoffenes Kommunikationsunternehmen, das auf seine 234 Geschichte stolz und für die Zukunft offen ist. »Wir haben uns dafür viel Zeit genommen, viel mehr, als das heute bei Immobilien üblich ist«, schildert Karl Udo Wrede, der im Vorstand der Gruppe für die Bereiche Handel und Treasury zuständig ist, den Ablauf. »Thomas Ganske wird oft nachgesagt, dass er sehr zögerlich sei. Ich sehe es anders. Bei ihm muss es eine ausgereifte Lösung sein. Wenn sie einmal gefunden ist, dann wird sehr zügig gehandelt und investiert.« Vielleicht sei in diesem Fall anfänglich sogar zu stark investiert worden, räumt Wrede ein. »Aber dafür ist eine Qualität entstanden, die für Jahrzehnte trägt.« Das passt zu der Philosophie, die Ganske auch im Zeitschriftengeschäft vertritt: »Wir machen Tiefwurzler, keine Flachwurzler.« Für die Zeitschriftengruppe dagegen musste schon Anfang der fünfziger Jahre nach einer anderen Lösung gesucht werden. Für die rasch wachsende Zahl ihrer Mitarbeiter war in dem Villenviertel am Harvestehuder Weg kein Platz zu finden. Sinnlich und selbstbewusst Als Ende November 2005 das neue Verlagsgebäude des Jahreszeiten Verlags eingeweiht wurde, wussten selbst die Festredner nicht, warum dies am Hamburger Poßmoorweg gefeiert wurde – außer dass der moderne Glaspalast neben dem roten Backstein bau hochgezogen worden war, den Kurt Ganske dort Mitte der fünfziger Jahre hatte errichten lassen. Als er damals seine Mitarbeiter auf die Suche nach einem geeigneten Standort geschickt hatte, gab er ihnen dafür vor allem eine Vorgabe mit auf den Weg: Das Grundstück sollte weder rechts noch links der Alster, sondern nahe ihrer nördlichen Spitze liegen. Der Grund war simpel: Die Boten des Lesezirkels, die den östlichen oder westlichen Teil von Hamburg bedienten, sollten nicht ständig um das große Hamburger Gewässer herumfahren müssen. 235 Derartige Gesichtspunkte spielen heute keine Rolle mehr. Daher sitzt nur noch die Daheim-Zentrale am Poßmoorweg. Die Filiale, die die Abonnenten in Hamburg und im Umland versorgt, ist in den Stadtteil Hammerbrook umgezogen. Der Jahreszeiten Verlag dagegen residiert weiterhin am alten Platz, allerdings wesentlich komfortabler als in vielen Jahren zuvor. Im alten Gemäuer war es im Laufe der Jahre immer enger geworden. Die Zeiten, in denen Film und Frau von einer so kleinen Mannschaft konzipiert und redigiert wurde, dass alle zusammen in einer umfunktionierten Wohnung Platz finden konnten, waren schon lange vorbei. Aus dem in Gold-Chamois gehaltenen Glamourblatt war zudem 1969 die petra geworden, deren Redaktion mit ihren Aufgaben wuchs. Architektur und kultiviertes Wohnen, zunächst ein kleiner Ableger von Film und Frau, hatte sich als Architektur & Wohnen zu einer eigenständi gen Zeitschrift entwickelt. Die Stimme der Frau machte seit 1957 unter dem neuen Titel Für Sie Karriere. 1967 war die Zeitschrif tenfamilie des Jahreszeiten Verlags nach einigen Jahren Pause zudem um zu hause erweitert worden. Zwei Jahre später kam Vital hinzu, und in den siebziger Jahren bereicherte Kurt Ganske sein Portefeuille um den Feinschmecker und selber machen. Ehe die Redaktionen des Jahreszeiten Verlags in ihr heutiges Domizil umziehen konnten, hatte Thomas Ganske die Zeitschriftengruppe überdies noch um Country und den Wein Gourmet erweitert. Zeitweise musste auch für die Redaktionen von Tempo und der Woche ein Platz gefunden werden. Und weil Zeitschriften nicht nur von Redaktionen gemacht werden, sondern auch Anzeigenabteilungen, Marketing, eine Personalverwaltung, eine Rechtsabteilung und nicht zuletzt eine kaufmännische Führung brauchen, herrschte schließlich am Poßmoorweg eine drangvolle Enge. Das änderte sich erst mit dem Umzug 2005. Vital, die erste Zeitschrift, die nach dem Gründungsboom in den fünfziger Jahren die bisherige Palette des Jahreszeiten Verlags erweiterte, ist eine gebürtige Schweizerin. Sie war 1966 236 vom Hallwag-Verlag in Basel gestartet worden, konnte auf dem kleinen Schweizer Markt aber nicht in die erhofften Auflagendimensionen wachsen. In Kurt Ganske fand sie aber immerhin einen Adoptivvater. Ihm gefiel die publizistische Idee, die hinter Vital steckte. Deshalb übernahm er 1969 die Monatszeitschrift, positionierte sie neu und brachte sie in der zweiten Jahreshälfte als erste deutsche Zeitschrift mit dem redaktionellen Schwerpunkt »Gesundheit« auf den Markt. Ob es daran lag, dass der Jahreszeiten Verlag über so viel geballte Kompetenz im Bereich der Frauenzeitschriften verfügte, oder ob das Interesse an Gesundheit, Vitalität und Lebensfreude bei Frauen deutlicher ausgeprägt ist als bei Männern, sei dahingestellt. Tatsache aber ist, dass Vital seit Anbeginn vor allem von Frauen gekauft und gelesen wurde. Seit Ende der achtziger Jahre setzte die Redaktion daher ganz gezielt auf Themen und Konzepte für weibliche Leser und entwickelte Vital zu einer Frauenzeitschrift der speziellen Art. Heute erreicht sie mit einer Auflage von 250 000 Exemplaren monatlich rund 640 000 Leserinnen mit Themen aus den Bereichen Gesundheit, Fitness, Anti-Aging, Ernährung und Schönheit. Und ein Schuss Erotik gehört auch dazu. Vital war zwar die erste Zeitschrift, die sich ausschließlich Themen rund um Gesundheit und körperliches Wohlbefinden widmete, blieb aber nicht auf Dauer das einzige Magazin auf einem Markt, auf dem heute ebenso wie auf allen anderen Special-Interest-Gebieten ein bunter Strauß konkurrierender Gazetten angeboten wird. Vital konnte seine führende Stellung daher nur behaupten, weil es auf dem Weg zum heutigen Konzept den sich wandelnden Bedürfnissen und Wünschen seiner Leserinnen aufmerksam folgte. Während in den siebziger Jahren noch brav die Gesundheit dominierte, drehte sich seit Ende der achtziger Jahre alles um Fitness. Der damalige Chefredakteur Peter Ploog brachte es auf die Formel: »Wir richten uns an Frauen von heute. An Frauen, die bewusst leben, die be237 wusst genießen. Frauen, die wissen, dass man etwas für seine Gesundheit, seinen Körper tun muss. Und die auch tatsächlich etwas dafür tun. Die aber darüber die schönen Dinge des Lebens nicht zu kurz kommen lassen.« Zu Beginn der neunziger Jahre wurde Fitness durch Wellness abgelöst, einen Trend, der für Frauen wie für Anbieter den Vorteil hat, dass er keine Altersgrenzen kennt. Wellness wurde zum publizistischen Leitgedanken von Vital. Die – wieder einmal – aus den USA herübergeschwappte Bewegung versteht Wellness als Harmonie zwischen Körper, Geist und Seele. In Analogie dazu wurden Titel und Inhalt des Magazins für Körperbewusste zeitgemäß überarbeitet. Da zum Zeitgeist auch der Umweltgedanke gehört, den Vital seit Beginn der achtziger Jahre hochhält und dem bereits 1985 ein Preis gewidmet wurde, veranstaltete die Redaktion 1990 einen Design-Wettbewerb für den schönsten Wertstoff-Container. Bedauerlicherweise hat er zwar bei den Leserinnen, nicht aber bei der deutschen Müllwirtschaft Anklang gefunden, wie die hässlichen Container zeigen, die Deutschlands Städte und Dörfer verunzieren. Ideen rund um Haus und Garten Um den Leserinnen nicht nur journalistische Leckerbissen, sondern auch wissenschaftlich fundierten Rat servieren zu können, wurde das Beraterteam, das die Redaktion unterstützt, im Jahr 2000 zum »Wissenschaftlichen Beirat« aufgewertet und auf 14 und 2004 sogar auf 20 Köpfe mit Sachverstand auf Gebieten wie Fitness, Medizin, Kosmetik, Psychologie und Ernährung erweitert. »Das Erfolgsrezept von Vital ist der gelungene Mix aus wohltuend entspannter Unterhaltung und fundiert recherchierter Berichterstattung«, verrät Jörg Hausendorf, der nach verschiedenen anderen Führungsaufgaben seit 2003 als Geschäftsführer für den Bereich Frauenmagazine im Jahreszeiten Verlag tätig ist. »Vital hat alles, was Frauen brauchen, 238 um sich rundum wohl zu fühlen«, verkündet Chefredakteurin Joy Jensen im Internet und erklärt zugleich, welche Leserinnen sie dabei vor Augen hat: »Wir machen unser Heft für moderne, sinnliche, selbstbewusste und vor allem für kluge Frauen.« Und weil man meint, dass die es am liebsten auf Englisch hören, werden sie mit dem Satz »Wellcome to Welness« begrüßt. Vital kann heute die unangefochtene Marktführerschaft im Segment Wellness für sich reklamieren. Das erkennt auch die Konkurrenz indirekt an: Als Gruner+Jahr 2005 ebenfalls vom Gesundheitstrend profitieren wollte und mit dem englischen Titel healthy living auf den deutschen Markt drängte, erschien die erste Ausgabe mit einer Titelseite, mit der auch Vital schon in sehr ähnlicher Form um Käuferinnen gebuhlt hatte – allerdings sechs Jahre früher. Leser, die nicht nur für sich selbst, sondern auch für ihr Wohnumfeld etwas tun wollen, versorgt der Jahreszeiten Verlag ebenfalls seit Jahrzehnten regelmäßig mit Ideen und Informationen – zunächst mit der Zeitschrift Architektur, später zusätzlich mit zu hause. Nachdem Kurt Ganske bereits während des Krieges mit Harriet Wegener bewiesen hatte, dass er Frauen viel zutraute, berief er 1969 Christa von Hantelmann zur Chefredakteurin der damals zweimal jährlich erscheinenden Zeitschrift. Sie war in erster Ehe mit Albrecht Bürkle verheiratet, der Merian für die große weite Welt geöffnet hatte, ehe er 1958 Verlagsleiter von Hoffmann und Campe wurde. Als ihr Mann 1963 im Alter von 47 Jahren einem Herzinfarkt erlag und seine damals 35-jährige Frau mit zwei Kindern zurückblieb, bot ihr Kurt Ganske am Grabe ihres Mannes spontan an, im Verlag eine Aufgabe ihrer Wahl zu übernehmen. »Hinter diesem knurrigen Kerl verbarg sich eine sehr teilnehmende Seele«, sagt die gelernte Innenarchitektin, deren erster Mann zu den wenigen persönlichen Freunden gehörte, die Kurt Ganske unter seinen führenden Mitarbeitern hatte. »Er war ja ein etwas scheuer Mensch, der öffentliche Auftritte mied und sich auch 239 von irgendwelchen Feierlichkeiten schnell zurückzog. Er war mit Menschen lieber im kleinen Kreis zusammen.« Trotz des großzügigen Angebots fiel ihr die Wahl einer passenden beruflichen Aufgabe zunächst schwer. Christa Bürkle, wie sie damals noch hieß, hatte Kurt Ganske und seine Familie vor dem Tod ihres Mannes nur auf privater Ebene kennengelernt. Alles, was sie über den Verlag wusste, stammte aus den abendlichen Gesprächen mit ihrem Mann. Ganske gab ihr daher zunächst den etwas nebulösen Auftrag, dem Verlagssitz an der Außenalster ein »geistiges Gesicht« zu geben. Während sie noch darüber nachdachte, wie das in der Praxis aussehen könnte, lud sie der damalige Chefredakteur der Für Sie ein, in seine Redaktion zu kommen. »Das gab es damals noch, dass man jemandem einfach sagte: Gucken Sie doch mal, ob Sie das können.«Von Heinz Scheibenpflug lernte die Innenarchitektin, wie man eine Zeitschrift baut. Das gab ihr den Mut, laut »Hier« zu rufen, als Curt und Helga Waldenburger pensioniert wurden und auch für Architektur ein neuer Kopf gesucht wurde. Weil die Zeitschrift seit 1957 zweimal jährlich als Sonderheft von Film und Frau herausgekommen war, durfte das Chefredakteurs-Duo Waldenburger 1968 nach dem Abschied vom Mutterblatt noch zwei Ausgaben produzieren. Danach sollte daraus ein eigenständiges Magazin werden. Im Herbst 1968 übernahm Christa von Hantelmann diese Aufgabe und blieb ihr ein Vierteljahrhundert lang treu. Auch nach ihrer Pensionierung fand an der Spitze von Architektur & Wohnen, wie das Magazin seit 1969 hieß, kein »Bäumchen-wechsel-dich« statt. Nach einem kurzen Zwischenspiel wurde die Zeitschrift gute fünf Jahre lang von Wolfgang Nagel geführt; seit Anfang 1999 zeichnet Barbara Friedrich für A& W verantwortlich. Es gibt nicht viele Zeitschriften in Deutschland, die bei ihrem 50-jähri gen Jubiläum nur vier Chefredakteure lobend erwähnen müssen – plus der Doppelspitze beim Start. Christa von Hantelmann, die 1992 in den Ruhestand verabschiedet wurde, nimmt 240 übrigens immer noch regelmäßig an Redaktionskonferenzen teil, allerdings ohne ihrer Nachfolgerin ins Handwerk zu pfuschen: »Ich rede nur, wenn ich gefragt werde.« Das zeigt, dass die Konzepte, die im Laufe der Jahre an der Redaktionsspitze entwickelt wurden, jeweils über eine längere Strecke stimmig waren. Deshalb konnte die Zeitschrift in der Ära Christa von Hantelmann auch schrittweise von zwei- auf zunächst drei- und dann viermaliges Erscheinen im Jahr umgestellt werden. Seit 1985 kommt das Magazin alle zwei Monate auf den Markt. Im Selbstverständnis der Redaktion soll Architektur & Wohnen Qualitäts- und Meinungsführer im Segment der gehobenen Wohn- und Lifestyle-Magazine sein, Spiegelbild der ästhetischen Tendenzen unserer Zeit. Zugleich soll es auch selbst stilbildend wirken. A& W ist heute in die Bereiche Wohnen, Garten, Architektur und Style gegliedert. Der Bereich Style umfasst Inhalte wie Dekoration, Design, Antiquitäten und Kunst. Mit diesem Konzept findet das Blatt alle zwei Monate rund 87 000 Käufer, die – wie könnte es bei diesem Anspruch anders sein – den bildungsnahen Schichten angehören und überdurchschnittlich hohe Einkommen beziehen. Nicht ganz so geradlinig verlief die Entwicklung eines Sprösslings, der 1988 aus A& W hervorging. Weil sie beobachtet hatte, dass »die Lust, auf dem Land zu leben« bei den zivilisationsmüden Großstädtern und den sogenannten Besserverdienern zunahm, koppelte von Hantelmann dieses Thema als eigenständige Zeitschrift aus A& W aus. Nach dem ersten CountryHeft im November 1988 erschienen im folgenden Jahr drei und 1990 vier Ausgaben. 1991 wurde sogar alle zwei Monate ein Heft auf den Markt gebracht, kam aber bei der Zielgruppe doch nicht so gut an wie erhofft. Denn ein Jahr später ver schwand Country erst einmal still und leise vom Markt. Die Themen, die sich mit den Freuden des modernen Landlebens beschäftigten, wurden wieder bei A& W untergebracht. Erst sechs Jahre später unternahm man einen neuen Anlauf, zu241 nächst mit zwei Ausgaben. Ab 2003 erschien das Magazin für »ländliche Lebensart« auf Grund der nun »exzellenten Vertriebsentwicklung«, wie es in einer internen Mitteilung hieß, schon wieder alle zwei Monate. Und diesmal wurde der Geschmack des »neuen Landadels« offenbar getroffen. Mit Steigerungsraten von 11 und 14 Prozent gegenüber den Vorjahren wurde 2003 eine verkaufte Auflage von rund 95 000 Exemplaren erreicht. Im Jahr darauf waren es schon deutlich über hunderttausend. Dieser Erfolg ermutigte zu einem weiteren Ableger, auf Neudeutsch Line-Extension genannt: Country-Garden. Gleich 150 000 Exemplare wurden davon gedruckt. Die Zeitschrift für den modernen Bauerngarten konnte sich als eigenständige Auskopplung aber nicht dauerhaft durchsetzen. Dafür, dass es beim zweiten Anlauf klappte, hat Verleger Thomas Ganske eine recht einfache Erklärung: »Als wir den ersten Versuch starteten, war es offensichtlich zu früh für eine solche Zeitschrift. Als wir sie 2003 mit einem nahezu identischen Konzept erneut auf den Markt brachten, wurde sie zu einem Erfolg. Beim ersten Mal stimmte die Idee, aber das Timing nicht.« Heute bietet Barbara Friedrich, die ebenso wie Christa von Hantelmann für Country wie für A& W in Personalunion verantwortlich zeichnet, den meist wohlsituierten Lesern, die entweder schon über einen Zweitwohnsitz im In- oder Ausland verfügen oder noch davon träumen, mehr, als nur einen Blick auf und in die schönsten Landhäuser zu werfen. Country gibt auch Rat für deren Kauf und Einrichtung. Den glücklichen Besitzern steht das Blatt zudem mit Tipps für rustikale Gastlichkeit zur Seite. Da Zivilisationsflüchtlinge auf Zeit nicht nur im Garten graben, sondern das Landleben in vollen Zügen genießen wollen, vermittelt ihnen die Redaktion selbstverständlich auch Wissenswertes über Angeln, Golfen, Reiten und nennt die besten Adressen für ein gehobenes Landleben. Hinzu kommen praktische Gartentipps, ausgesuchte Reportagen über altes Hand242 werk, über Menschen und Tiere, dazu Hinweise auf Märkte und Messen, Feste und Turniere. Ein Wohlfühl-Konzept für Leute, die sich etwas leisten können. Heute sind es alle zwei Monate über 72 000 Käufer und noch mehr Leser, die sich regelmäßig über die Freuden des Landlebens und – wie man diese noch steigern kann – informieren wollen. Kein Wunder, dass 29 Prozent der Leser zum Typus »luxusorientierter Kon sument« gehören und fast ebenso viele über ein monatliches Netto-Einkommen von 3500 Euro und mehr verfügen. Schöner wohnen – selbstgemacht Ein wenig bescheidener geht es bei den Lesern von zuhause wohnen zu, einer Zeitschrift, die im Jubiläumsjahr des Leserkreises Daheim ebenfalls Grund hat zu feiern. Die Fachzeitschrift rund ums schöne Heim konnte 2007 immerhin schon auf ein 40-jähriges Bestehen zurückblicken. Die Zeitschrift für »individuelle Leser, die ihre Umgebung mit Emotion und Verstand wahrnehmen und sich entspannt einrichten wollen«, erschien erstmals 1967. Heute wird sie mehrheitlich von Leuten gekauft, deren Haushaltseinkommen netto unter 2000 Euro liegt. Der Kreis ist daher deutlich größer als die Gruppe, die sich exklusive Landhäuser leisten kann. Allerdings gehören 16 Prozent zu denen, die mehr als 3500 Euro im Monat zur Verfügung haben und sich deshalb zumindest schon den Traum von einem Traumhaus gönnen wollen. Eines allerdings haben die Aufsteiger und die bereits Etablierten gemeinsam: Es sind nach Marktuntersuchungen Menschen, die »viel leisten und im Ausgleich dafür eine ganz besondere Lebens- und Wohnqualität suchen«. Die Redaktion will sie dabei mit Tipps und Beispielen unterstützen. Ihre Vorschläge richten sich an Leute, die auf eine stilsichere Einrichtung Wert legen und bereit sind, dafür Zeit und auch Geld zu investieren. Reportagen, die Menschen und ihre Wohnungen 243 zeigen, und Anregungen von renommierten Innenarchitekten sollen ihnen dafür die notwendigen Anregungen liefern – zum Beispiel mit exklusiven Deko-Ideen von Silvia Lafer. Die Frau des bekannten Fernseh- und Sternekochs bietet ihre schönsten Blumen-Dekorationen den Lesern zur Nachahmung an. Jette Joop gibt Tipps rund um Schmuck, Wohnen und Mode. Über ihren persönlichen Wohnstil schreibt sie im Wechsel mit der Gestaltungsexpertin Brigitte von Boch, die ihre Erfahrungen als Buchautorin, Hotelbesitzerin, Hausfrau und Mutter preis gibt. Die Redaktion will Sinnlichkeit und Ästhetik mit Service, Kreativität und Kompetenz verbinden. Fast 200 000 Abonnen ten und Käufer finden das gut und greifen auch gern zu den regelmäßig erscheinenden Extras, die ihnen die Redaktion beschert, ohne dafür extra etwas zu verlangen: Balkon & Garten oder Anbau – Umbau lauten die Titel der Schwerpunkthefte. An dere versprechen Bad & Ideen, geben Tipps rund um Küche & Gäste oder bieten einen Großen Ratgeber Licht. Die Extras werden zusammen mit dem Mutterblatt geliefert, entweder eng verbunden durch eine Banderole oder gemeinsam eingeschweißt in eine Plastikhülle. Dass Chefredakteurin Regine Kuhlei in den 40 Jahren, in denen zuhause wohnen dem geneigten Publikum Ideen rund um das gepflegte Heim ins Haus liefert, nur vier Vorgänger hatte, ist ein deutliches Indiz dafür, dass der Verlag mit deren Konzepten und publizistischen Erfolgen zufrieden war. Ein Themenbereich rund um das eigene Heim kam sogar so gut an, dass daraus ein eigenes Blatt entstand. Ab 1975 kam zunächst alle zwei Monate das Sonderheft zuhause mach’s selbst in die Kioske. Seit 1978 erscheint das Ratgeberblatt unter dem Titel selber machen monatlich als eigene Zeitschrift. Die BastlerBibel ist heute das auflagenstärkste Do-it-yourself-Magazin, nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa. Allein in der Bundesrepublik finden jeden Monat 130 000 Exemplare 244 ihren Käufer und fast siebenmal so viele Nutzer. Die 870 000 vorwiegend männlichen Leser nutzen die Ideen und Bauan leitungen rund um Haus, Wohnung und Garten oder erweitern ihr Basiswissen. Nicht einmal vor »Autos für Selbermacher« schreckt die Bastlergemeinde zurück, wie ein 100 Seiten starkes Extra vom November 2005 beweist. Weil die kleinen und großen Arbeiten in Haus und Garten, die Reparaturen am Auto oder Computer keine Grenzen kennen und Heimwerker überall in Europa für die gleichen Probleme und Aufgaben nach Lösungen suchen, werden die Inhal te von selber machen seit 1990 europaweit vermarktet – zunächst in Ungarn unter dem Titel fifika plusz, später auch in Polen, Griechenland, Italien, Spanien oder Tschechien. Inzwischen erscheint das Ideenblatt für Tüftler in 17 Ländern, darunter auch außereuropäischen wie China und Israel. Wer als Tourist den Titel in der jeweiligen Sprache nicht wiedererkennt, kann am markanten DIY-Logo, das alle Ausgaben ziert, die Verbindung zum deutschen Vorbild erkennen. Man reist nicht nur, um anzukommen Zu den letzten Zeitschriften, die Kurt Ganske auf den Weg brachte, gehört Der Feinschmecker. Den Titel hatte er von dem bekannten Kochbuchautor Arne Krüger übernommen, der mit seinen Vorschlägen für eine abwechslungsreiche Küche mehr Erfolg hatte als mit dem Rezept für eine eigene Zeitschrift. Das 1960 gegründete Blatt hatte es nie auf mehr als 6000 Leser gebracht – zu mager für eine Zeitschrift rund ums gute Essen. Kurt Ganske wollte daraus ein Magazin machen, das seine Leser über den Rand des Kochtopfs hinausblicken ließ. Jochen Karsten, der als Assistent bei Ganske begonnen und danach unter anderem als Redakteur von Merian im Hause gearbeitet hatte, erhielt 1975 den Auftrag, dafür ein Konzept zu entwickeln. Zusammen mit seinem Kollegen Jürgen Arnold, 245 der 30 Jahre später das Gourmet-Blatt immer noch als Chef vom Dienst betreute, löste Karsten diese Aufgabe an einem Wochenende. Etwas länger dauerte es, bis aus der Idee eine erfolgreiche Zeitschrift wurde. Wie viele gute Journalisten, die eine publizistische Vision umsetzen wollen, hatte er sich zunächst über die »Zielgruppe« und die Wünsche potenzieller Anzeigenkunden wenig Gedanken gemacht, sondern stattdessen ein Blatt konzipiert, das seinen Vorstellungen von einem anspruchsvollen Magazin für Essen, Trinken und genussvolles Reisen entsprach. »Unterhaltend und kritisch sollte es sein, mit einer genießerischen Balance aus kulinarischen Reisethemen, Hotelund Restauranttests, Porträts von Meisterköchen und ihren geheimen Rezepten. Er dachte an Reportagen über Weingüter und Weinregionen, plante Vergleichstests der besten Weine als Blindverkostung ohne Ansehen von Herkunft und Preis. Produkte rund um das Thema sollten vorgestellt werden, Ideen für Küche und Lebensart.« So beschrieb er Emanuel Eckardt seine damaligen Ideen. Den Bedenkenträgern im Verlag schmeckte dieses Menü aber überhaupt nicht. Den Verlauf der Debatte hat Jochen Karsten, der 2005 kurz vor seinem 80. Geburtstag starb, Eckardt für dessen Kurt-Ganske-Biographie noch schildern können: Auf der entscheidenden Sitzung machte eine ganze Riege von Verlagsmanagern Front gegen die Idee, ein Magazin für die feine Lebensart auf den Markt zu bringen. Einer nach dem anderen erklärte, warum das Konzept nichts tauge, warum eine Zeitschrift für Gourmets in Deutschland keine Chance habe oder das Risiko eines teuren Fehlschlags zu hoch sei. Nur Michael Ganske war auf Karstens Seite. Kurt Ganske, der mit zunehmendem Alter immer schweigsamer und für seine Mitarbei ter schwer durchschaubar geworden war, sagte zu allem kein Wort. Karsten musste deprimiert zuhören, wie seine Ideen sys tematisch in die Tonne getreten wurden. Als sich KG schließ246 lich doch noch äußerte, beschränkte er sich auf drei Worte: »Mir gefällt es.« Damit war die Sitzung beendet. »Das Konzept ist gut«, sagte er im Hinausgehen zu Karsten, der immer noch nicht glauben konnte, dass seine Wochenendarbeit nicht vergeblich gewesen war. »Jetzt müssen Sie nur noch einen Chefredakteur suchen.« Die Antwort von Jochen Karsten fiel ebenfalls sehr kurz aus: »Der steht vor Ihnen.« Kurt Ganske überlegte nicht lange: »Dann machen Sie es.« Da der Verleger es dennoch nicht riskieren wollte, viel Geld zum Fenster hinauszuwerfen, zog sich die Testphase in die Länge. Nachdem der Feinschmecker im Herbst 1975 erstmals mit einer Start auflage von 100 000 Exemplaren erschienen war, wurden die deutschen Gourmets und der Etat erst einmal auf Schonkost gesetzt. In den ersten zwei Jahren kam nur alle vier Monate ein Heft auf den Markt, ab 1986 erschien er alle zwei Monate, und erst seit Anfang 1989 liegt jeden Monat ein neuer Feinschmecker auf den Tisch. Etwas frugal war zunächst auch die Präsentation. »Wenn man sich die ersten Ausgaben ansieht, wirkt das Blatt schon recht bescheiden, ohne die aufwendigen Fotos, die wir heute haben, auf einfacherem Papier gedruckt und ohne die Fülle von Informationen, die wir inzwischen den Lesern bieten«, urteilt Madeleine Jakits, die seit 1997 die Redaktion leitet. Doch schon in den 14 Jahren, in denen Jochen Karsten als Blattmacher die Richtung vorgab, hatte sich ein ständiger Wandel vollzogen, und mit dem wachsenden Erfolg des GenießerMagazins konnte er seine Ideen immer perfekter umsetzen. Schon im Herbst 1976 erschien eine Liste der besten Restaurants in Deutschland. Nach Einschätzung der Redaktion verdienten damals genau 27 Etablissements diesen Titel. Erst zehn Jahre später wagte man sich an eine Punktbewertung heran, die die Gourmet-Tempel zusätzlich in eine Rangfolge rückte. Im August 1994 wurde Qualität zum globalen Thema: Der Feinschmecker präsentierte eine aktuelle Liste der »100 bes 247 ten Weine der Welt«. Wer argwöhnte, dass sich die Redaktion mit solchen Veranstaltungen eine Kompetenz zumesse, die sie nicht besitze, musste dieses Urteil spätestens 1997 revidieren, denn da wurde das Magazin im australischen Adelaide bei der Vergabe der »World Food Media Awards« als beste Foodzeitschrift ausgezeichnet. Dass Madeleine Jakits der Wein ein besonderes Anliegen ist, zeigt sie nicht nur im Gespräch und an dem Stellenwert, der den edlen Gewächsen im Feinschmecker eingeräumt wird. Es wird auch daran deutlich, dass sie mit ihrer Redaktion viermal im Jahr den Wein Gourmet mit Themen rund um Wein und Lebensart kredenzt und damit den Geschmack von über 40 000 Freunden eines guten Tropfens trifft. Wer sich vom Urteil der Kenner überzeugen lässt, erfährt nicht nur, wo und wie sich die gewünschte Zahl von Flaschen bestellen lässt. Detaillierte Karten und Wegbeschreibungen weisen ihm in beiden Magazinen den Weg direkt zu den Winzern. Denn so wie schon Goethe nicht bloß reisen wollte, um anzukommen, so sollten Genießer nach Meinung von Jakits nicht nur in die Weinregionen fahren, um günstig einzukaufen. Die Reise selbst sollte für den Weinkenner und Feinschmecker ein Erlebnis sein. Deshalb unterscheidet sich der Feinschmecker von anderen Zeitschriften, die sich der Suche nach irdischen Genüssen verschrieben haben, nicht zuletzt dadurch, dass er sich auch als Reisezeitschrift der besonderen Art versteht, als Ratgeber für Menschen, die individuell reisen, nicht für touristische Hammelherden. Die über 800 000 Leser, die den Feinschmecker Monat für Monat goutieren, leben daher zu 90 Prozent in Haushalten, die monat lich 3000 Euro und mehr springen lassen können. Bemerkenswert: Die Genießer sind mehrheitlich Genießerinnen. Frauen sind innerhalb der Leserschaft leicht in der Überzahl. Madeleine Jakits selbst ist ein lebender Beweis dafür, dass Wein nicht mehr nur Männersache ist. Als Nachweis dafür, dass in der Ganske-Gruppe auch Frauen als Blattmacher eine 248 Chance haben, muss sie allerdings nicht herhalten. Denn anders als zur Zeit von Harriet Wegener, Ilse Tönnies oder Chris ta von Hantelmann sind Chefredakteurinnen längst nicht mehr Ausnahmeerscheinungen in einer Männerwelt. Eher müs sen die Männer sich fragen, wie groß ihre Chancen sind, es im Jahreszeiten Verlag bis an die Spitze einer Redaktion zu schaffen. »Wir sind inzwischen im Verlag in der Mehrheit«, stellt Jakits fest. »Ich weiß nicht, warum Thomas Ganske so stark auf Frauen setzt. Aber es ist eine Tatsache.« Es könnte natürlich einfach an der Qualifikation der Kandidatinnen liegen. Auch der geistige Vater des Feinschmecker hatte nichts da gegen, nach Dieter Ebert und Wolf Thieme eine Frau auf seinem Stuhl zu sehen. Für Madeleine Jakits war Jochen Karsten ein »väterlicher Freund«, der seinen Rat gab, wenn sie ihn wünschte – und sie fragte ihn gern, weil sie spürte, dass er immer helfen, sich aber nie ungebeten einmischen wollte. Ähnlich wie Christa von Hantelmann und viele andere ehemalige Mitarbeiter blieb er seinem Blatt und dem Verlag auch im Ruhe stand eng verbunden – wenn der Begriff »Ruhe« in diesem Fall angemessen ist. Denn bis kurz vor seinem Tod erschien der Pensionär noch regelmäßig in der Redaktion und nahm den Kollegen zeitraubende Arbeiten ab – wie zum Beispiel die ausführliche Beantwortung von Leserbriefen. Er sagte auf Wunsch seine Meinung und freute sich, dass die Redaktion neue Wege zum Leser und in die Öffentlichkeit erschloss, indem sie eine eigene »Event-Kultur« entwickelte. Was damit gemeint ist, erläutert Madeleine Jakits nicht ohne Stolz. »Unsere Werbemittel sind begrenzt. Da mussten wir uns etwas anderes einfallen lassen, um auf uns aufmerksam zu machen.« Das geschieht nicht nur durch öffentlichkeitswirksam verliehene Auszeichnungen für die besten Hotels und Restaurants. Dazu gehören auch glanzvolle Veranstaltungen wie die Verleihung der »Wein-Awards« auf Schloss Bensberg. Die Re249 daktion ermittelt mit Hilfe ihrer Leser auch gerne mal die 500 besten Fleischer Deutschlands. Ein bundesweiter Wettbewerb von Hobby-Köchen, der mit einem spannenden Finale der Bes ten in einem First-Class-Hotel endet, sorgt regional für Aufmerksamkeit. Ein Event wie die seit 2001 jährlich zelebrierte Olivenöl-Messe »Olio« findet bundesweit Beachtung. Auf der zunächst in Köln und jetzt in München organisierten Schau stellen rund 100 Produzenten aus aller Welt und vor allem aus den Anbaugebieten rund um das Mittelmeer ihre Spitzenerzeugnisse vor. Einkäufer und private Kunden können die verschiedenen Öle des jeweiligen Jahrgangs wie bei einer Weinverkostung vergleichen und dabei erleben, dass die Vielfalt der Qualitäten und Geschmacksrichtungen bei diesem alten Kulturprodukt kaum geringer ist als bei Wein oder Käse. Besuch bei den rheinischen Katholiken Während Kurt Ganskes Traum in Erfüllung ging, neben und auch für seinen Lesezirkel einen Zeitschriftenverlag aufzubauen, mit dessen Hilfe er seine Mappen selbst dann hätte füllen können, wenn andere Verleger ihm einmal die Belieferung verweigert hätten, hatte er mit einem Ausflug in die Welt der politischen Zeitungen weniger Glück. Auf der Suche nach einer Druckerei, an der er sich als Zeitschriftenverleger beteiligen oder die er ganz übernehmen könnte, war er Mitte der fünfziger Jahre auf die erst 1946 gegründete Rhenania Druckund Verlags GmbH in Koblenz gestoßen. Sie brauchte dringend einen Geldgeber. Rund um die Rhenania war neben der Druckerei ein kleiner Blätterwald entstanden. Dazu gehörte Der kleine und unterhaltende hinkende Bote, der Rheinische Hausfreund oder der Hauskalender für Frauen, deren Titel bereits signalisierten, dass es sich nicht gerade um Blätter von Welt handelte. Das Glanzstück in der Sammlung wiederum besaß nur eine begrenzte 250 Weltsicht. Es war der Rheinische Merkur, ein erzkonservatives Blatt mit einer streng katholischen Redaktion und Leserschaft, zu der allerdings so bedeutende Köpfe wie der damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer zählten. Wie eng die Verbindung der schreibenden Christen zu ihren Glaubensbrüdern in der Politik war, zeigte sich daran, dass Paul Wilhelm Wenger, einer der Mitbegründer und journalistisch führenden Köpfe des Rheinischen Merkur, sich nicht nur in seinem Blatt für die Kanzlerschaft Konrad Adenauers eingesetzt hatte, sondern für ihn zugleich als Ghostwriter und Berater tätig war. Durch seinen Einstieg bei Rhenania beteiligte sich Kurt Ganske nicht allein an einem sehr heterogenen Unternehmen. Er wurde auch Mitglied eines konfliktfreudigen Gesellschafterkreises. Denn auch wenn Journalisten und Eigentümer der Rhenania GmbH die Fahne des Glaubens stets hochhielten, war im Umgang miteinander von christlicher Nächstenliebe oft wenig zu spüren. Die beiden Gründer Franz Albert Kramer und Josef Stein hatten sich wegen einer Rundfunksendung Steins bereits nach einem Jahr so gründlich verkracht, dass Stein Ende 1947 aus der Geschäftsführung herausflog. Im folgenden Jahr entzog ihm die französische Militärregierung aus politischen Gründen die Verlegerlizenz, und ein deutsches Gericht verurteilte ihn wegen falscher Anschuldigung und übler Nachrede, später noch einmal wegen öffentlicher Beleidigung und vorsätzlicher Körperverletzung. Nicht so handgreiflich, aber offenbar nicht weniger hitzig ging es in den nachfolgenden Jahren im Gesellschafterkreis zu. Darauf deutet nicht nur der häufige Wechsel der handelnden Personen, sondern auch der rege Austausch von Gesellschafteranteilen hin. Dabei gab es aber immer zwei Konstanten: die weltanschauliche und politische Haltung des Blattes und die prekäre finanzielle Lage der Unternehmensgruppe. Zehn Jahre nach ihrer Gründung brauchte die Rhenania wieder dringend eine Finanzspritze. Kurt Ganske, der 1956 251 erstmalig persönlich an den Verhandlungen der Gesellschafter teilnahm, erwarb über einen Treuhänder am 1. Mai dieses Jahres die Mehrheit der Geschäftsanteile der Rhenania Druckund Verlagsgesellschaft. Ihn interessierte zwar vor allem die Druckerei, aber sie war nur im Paket zu haben. Es gab nämlich noch einen weiteren Interessenten, Adenauers »graue Eminenz« Hans Globke, Staatssekretär im Bundeskanzleramt, der aus der schwarzen Wochenzeitung Rheinischer Merkur gern eine regierungsfromme Tageszeitung gemacht hätte. Doch das miss lang ebenso wie später der Versuch, einen regierungsnahen privaten TV-Sender zu etablieren. Das Zeitungsprojekt scheiterte am Einstieg von Kurt Ganske, das »Adenauer-Fernsehen« am Bundesverfassungsgericht. So wurde der norddeutsche Protestant zum Verleger einer defizitären katholischen Wochenzeitung. Die Auflage des from men Blattes lag damals bei 63 000 Exemplaren. Das war Mitte der fünfziger Jahre durchaus respektabel, und der Rheinische Merkur übertraf damit noch den wichtigsten Konkurrenten, die Hamburger Zeit. Aber es reichte bei weitem nicht aus, um dauerhaft über die Schwelle der Rentabilität zu kommen. Der Unbekannte auf dem Flur Die Druckerei sollte vor allem der Herstellung einer eigenen Rundfunkzeitschrift dienen, die Ganske seinen Lesezirkelmap pen gratis beilegte. Als es um die Konditionen für den Druckvertrag ging, schickte er seinen damaligen Assistenten Erich Marx nach Koblenz. Der tat auch sein Bestes, um möglichst günstige Konditionen herauszuschlagen – bis ihn sein etwas besser informierter Gesprächspartner darauf aufmerksam machte, dass durch seine hartnäckigen Bemühungen nur Geld von der einen in die andere Tasche umgefüllt werde. Schließlich gehöre die Druckerei seinem Verleger. Das war für Marx neu und zugleich bezeichnend dafür, wie Kurt Ganske seine 252 Unternehmen führte, nämlich nach dem Prinzip »getrennt marschieren«. Von vereint schlagen war dagegen nicht die Rede. Der Begriff »Synergie« gehörte noch nicht zum Sprachschatz deutscher Manager und Unternehmer und ist KG sicher nie über die Lippen gekommen. Der erste Versuch, wenigstens eine Art »Organisationsplan« der Gruppe aufzustellen, wurde erst sechs Jahre später von einem jungen Mann namens Erwin Schmitz unternommen. Erich Marx bekam schon bald operative Verantwortung. 1958 wurde er auf Verlangen von Kurt Ganske in Koblenz dem seit zehn Jahren selbstherrlich, aber glücklos amtierenden Geschäftsführer Hans Kaufmann zur Seite gestellt, ehe der wenige Monate später das Feld ganz räumen musste. Was Marx beim Rhenania Verlag vorfand, machte ihm wenig Freude. Der Rheinische Merkur entpuppte sich als Millionengrab. Durch sein anspruchsvolles Niveau einerseits und die stramm katholische Haltung andererseits war sein Leserpotenzial eng begrenzt. Die Idee von Erich Marx, die schwarze Postille mit den ebenfalls notleidenden protestantischen Blättern Christ und Welt und Sonntagsblatt zu vereinen und so eine (über)lebensfähige Wochenzeitung mit christlicher Grundhaltung zu schaffen, scheiterte am Widerstand von Otto B. Roegele, dem erzkatholischen Chefredakteur des Merkur. An ihm scheiterte auch so manche andere Anregung des Geschäftsführers, das Blatt etwas lebendiger und weltoffener zu gestalten. »Alles, was ich erreich te, war ein kardinalsroter Balken auf der Titelseite«, gestand er ein halbes Jahrhundert später Emanuel Eckardt. Die wirtschaft lichen Folgen lassen sich unter anderem daran ablesen, dass das Stammkapital des Merkur immer wieder aufgestockt werden musste und es im Gesellschafterkreis wie in einem Taubenschlag zuging. Dass im Dezember 1962 bei der Muttergesellschaft Rhenania das Stammkapital durch eine Einlage Kurt Ganskes erst auf 1,25 Millionen Mark erhöht und vier Minuten später wieder auf eine Million herabgesetzt wurde, ist nur eines 253 der Beispiele dafür, wie prekär die finanzielle Situation der Rhenania-Gruppe oft war. Obwohl Ganske immer wieder Geld nach Koblenz überweisen musste, hatte er keine Möglichkeit, auf das redaktionelle Konzept des Rheinischen Merkur Einfluss zu nehmen. In die Tagesgeschäfte der Redaktion mischte er sich ebenso wie bei seinen Blättern nie ein, befürwortete aber eine grundsätzliche Kursänderung, um aus der klerikalen Ecke herauszukommen. »Mein Vater wollte die streng katholische Ausrichtung korrigie ren, mit der Ökumene als Ziel«, beschreibt sein Sohn Thomas die Intentionen. Tatsächlich hatte Ganske aber außer guten Worten keine Möglichkeit, auf das redaktionelle Konzept des Rheinischen Merkur Einfluss zu nehmen, da er sich beim Kauf schriftlich verpflichtet hatte, die inhaltliche Linie beizube halten. Deshalb war es für ihn ein großes Ärgernis, dass die katholischen Bischöfe, für deren Anliegen der Merkur unter der Leitung seines Chefredakteurs Otto B. Roegele immer wacker focht, 1968 viel Geld in die Hand nahmen, um eine konkurrierende Wochenzeitung zu gründen. Publik gewann zwar rasch an Ansehen, aber ebenfalls nie genügend Leser und Anzeigenkunden. Nach nur drei Jahren wurde den Oberhirten die Sache zu teuer. Der Fehlbetrag, den die Bischöfe aus dem Klingelbeutel begleichen mussten, war zwischenzeitlich von sechs auf neun Millionen Mark gestiegen. Publik drohte zu einem Fass ohne Boden zu werden. Diese Gefahr sah Kurt Ganske auch beim Merkur. Vor allem aber sah der Protestant von der Waterkant nicht ein, warum er ein rheinisches Katholikenblatt dauerhaft subventionieren sollte, dessen Redaktion sich beharrlich weigerte, aus ihrer Nische herauszukommen. Umgekehrt sahen die Oberhirten die Gefahr, dass auch noch das letzte schwarze Schaf von der Medienweide verschwinden könnte. Man wurde sich deshalb handelseinig: Im Juni 1976 verkaufte Ganske die Wochenzei254 tung nach zehn mühseligen und verlustreichen Jahren an das Erzbistum Köln, das sie seither im Verein mit sieben weiteren Bistümern am Leben erhält. Ironie der Geschichte: Der Not gehorchend fanden der katholische Merkur und die protestantische Sonntagszeitung Christ und Welt schließlich doch noch zueinander – und wandelten von Stund an gemeinsam auf einem ökumenischen Pfad. Das Sonntagsblatt hingegen blieb Single und kümmerte einsam vor sich hin. Seit 2000 existiert es nur noch in Gestalt von Chrismon, einer kostenlosen monatlichen Beilage zu liberalen Zeitungen wie Süddeutsche und Zeit. Die Koblenzer Firmengruppe löste sich so in den siebziger Jahren langsam in ihre Bestandteile auf. Die Rhenania-Druckerei war bereits 1971 an die Rhein-Zeitung verkauft worden. Kurt Ganske war inzwischen zu der Ansicht gekommen, dass es für ihn wenig Sinn hatte, sich mit der Investition in eine eigene Druckerei zu belasten. »Damit laden wir uns nur Probleme auf«, erklärte er seinem ältesten Sohn, der sich als Geschäftsführer des Jahreszeiten Verlags in den siebziger Jahren um die Druckverträge kümmerte. »Es ist besser, die Probleme von anderen zu nutzen, um günstige Konditionen zu bekommen, als sich selbst welche aufzuladen«, erinnert sich Michael Ganske an einen der Lehrsätze seines Vaters. »Er hat uns außerdem eingeschärft, dass man bei unternehmerischen Entscheidun gen immer eine Alternative haben muss.« Die fehlt, wenn es um die Auslastung der eigenen Druckerei geht. Übriggeblieben vom Ausflug an den Rhein sind der Rhenania Fachverlag und die Rhenania Buchhandlung, die sich in den siebziger Jahren zu quicklebendigen Unternehmen entwickelten. Der Buchverlag verdiente sein Geld vor allem mit Fachzeitschriften für Küche, Restaurant und Hotel und brachte Blätter wie Rund um den Pelz unter das interessierte Fachpublikum. Gemeinsam mit dem Arne Verlag hatte man sich ab 1972 dem Einsatz der »neuen Medien« gewidmet und sich an der Herstellung audiovisueller Lernprogramme für Hotel- und Res 255 taurantmanager versucht. Der potenzielle Kundenkreis bevorzugte allerdings weiterhin die gedruckte Form, wie sich am Absatz von Fachblättern wie Brot und Backwaren, Die Küche oder Der Hotelfachmann zeigte. Zukunftspotenzial steckte auch in der Rhenania Buchhandlung. Sie hatte bereits 1962 damit begonnen, unter dem Werbe slogan »Das billige Buch« einen auf preiswerte Angebote spe zialisierten Versandbuchhandel aufzubauen. Zusammen mit Akzente, Frölich & Kaufmann und Mail:Order:Kaiser (siehe Ka pitel 8) spielt der seit 1999 in Lahnstein am Rhein residierende Rhenania BuchVersand bis heute eine eigene Rolle innerhalb der Ganske-Gruppe – die es allerdings zu Lebzeiten von KG nach außen gar nicht gab. Das von Ganske geschaffene Firmen gebäude blieb für Außenstehende jahrzehntelang fast unsichtbar. Selbst die Mehrzahl der Mitarbeiter wusste wenig bis gar nichts darüber. Diese Form des Managements führte nicht nur bei Verhandlungen über Druckverträge gelegentlich zu skurrilen Situationen. So lag die Daheim-Zentrale in Hamburg zwar direkt neben dem Jahreszeiten Verlag, und es gab sogar einen Verbindungsgang, aber die Tür war stets verschlossen. Die meisten Mitar beiter wussten gar nicht, dass sie unter dem gleichen Unter nehmensdach arbeiteten. »Wir hatten untereinander keinerlei Kontakt«, erinnert sich Albert Buschinski, der schon seit den sechziger Jahren für Daheim arbeitet. Deshalb wusste auch sein Kollege Wolfgang Declair nicht, wer der rundliche kleine Mann war, dem er einmal sehr spät abends auf dem Gang begegnete. Der brummelte nur etwas Unverständliches, als er ihn fragte, was er dort zu suchen habe. Doch da der kleine Unbekannte einen Schlüssel zu der Tür besaß, die Daheim vom Jahreszeiten Verlag trennte, schloss Declair messerscharf, dass es sich wohl doch nicht um einen Einbrecher handeln könne. Am nächsten Tag klärte ihn sein Geschäftsführer auf, dass er das seltene Glück gehabt habe, Kurt Ganske zu begegnen. 256 Helmut Brümmer, der schon als Student bei Daheim in Düsseldorf jobbte, handelte sich einmal einen gehörigen Anpfiff ein, weil er einer Abonnentin, die nicht sofort öffnete, die Zeitschriftenmappe einfach vor die Haustür geworfen hatte. Aus einem Vermerk auf der Lieferkarte ging hervor, dass sie nie zahlte. Deshalb sah er keinen Grund, sich mit einer so schlechten Kundin viel Mühe zu geben. Sein Filialleiter Hans Löber klärte ihn auf, dass es sich um die Schwester des Chefs gehandelt habe. Der Student war doppelt erstaunt. »Von einem Herrn Ganske hatte ich noch nie gehört. Bis dahin glaubte ich, dass der ganze Laden Löber gehören würde.« Heute ist Brümmer selbst Filialleiter in Düsseldorf. Erst Thomas Ganske machte mit dem Führungsprinzip »Getrennt marschieren« Schluss – nicht nur, um bis dahin brachliegende Synergien nutzen zu können, sondern auch, weil es einfach nicht mehr zeitgemäß war. Anders als der Militärstratege Carl von Clausewitz gelehrt hatte, erlaubte es dieser alt backene Führungsstil nämlich nicht, am Ende »vereint zu schlagen«. Aber neue Marschbefehle konnte er erst geben, nachdem er selbst Chef geworden war. »Da muss er jetzt durch« Über seine Nachfolge hat Kurt Ganske schon früh nachgedacht. Eine Beteiligung von Frau und Kindern am Jahreszeiten Verlag, der ihm zuvor zu 100 Prozent gehört hatte, war ein ers ter Schritt, sein Haus zu bestellen. Die Söhne hielten wie er selbst ab März 1972 jeweils 24 Prozent der Anteile. Frau und Tochter traten mit je 14 Prozent in den Gesellschafterkreis ein. Danach änderten sich die Anteile und die Höhe des Stammkapitals noch mehrfach. »Aber der erste Schritt war der schwerste. Es ist meinem Vater sicher nicht leichtgefallen, sein Unternehmen mit anderen zu teilen – selbst wenn es dabei um die eigene Familie ging«, meint sein Sohn Thomas. »Er war nicht 257 mehr Alleinunternehmer, sondern hatte plötzlich Gesellschafter mit eigenen Rechten.« Ein Erbverzicht der Kinder gab KG jedoch die Möglichkeit, die Eigentumsverhältnisse und Verantwortlichkeiten im Unternehmen so zu regeln, wie es ihm am zweckmäßigsten erschien. Seinen ältesten Sohn Michael hatte Kurt Ganske schon kurz nach dem Schulabschluss ins Unternehmen geholt. Die drei Jahre jüngere Schwester Mareile, die nach einer Gartenbaulehre ihr agrarwirtschaftliches Studium als Diplom-Ingenieur abgeschlossen hatte, sollte die Bewirtschaftung von Hohenhaus übernehmen, verzichtete aber später aus persönlichen Gründen darauf. Auch ihre Anteile am Verlag gab sie 1995 ab. Thomas, der 1947 geborene jüngere Sohn, studierte in Göttingen und München und erhielt dadurch eine gute Vorbereitung auf seine künftige Aufgabe, wie er meint: »Kunstgeschichte, Geschichte, Zeitungswissenschaft – alles, was eine ästhetische, kulturelle Urteilskraft verschafft, ist ein solides Fundament für den Beruf, den ich jetzt ausübe.« Die Wahl der Fächer war aber auch ein Ausdruck der Rebellion gegen den dominierenden Vater. Ein betriebswirtschaftliches Studium hält er allerdings auch heute nicht für zwingend. Das notwendige Rüstzeug zur Führung eines Unternehmens eignete er sich später selbst durch die praktische Arbeit im Unternehmen und mit Hilfe seines Vaters an. »Er war ein perfekter Lehrmeister, der sein Unternehmen bis ins letzte Detail kannte.« Michael Ganske, der 1939 als erstes Kind von Gerda und Kurt Ganske in Hohenhaus zur Welt gekommen war, hatte nach der Schule zunächst eine Druckerausbildung bei Richard Gruner in Itzehoe absolviert. Danach begannen seine Lehrund Wanderjahre in den väterlichen Unternehmen, da, wo auch für seinen Großvater das Unternehmerdasein begonnen hatte, bei Daheim. Um das Lesezirkelgeschäft von der Pike auf zu lernen, »bediente« er ebenso wie einst sein Vater, der schon als Schüler die Mappen und gelegentlich auch den Kohleeimer 258 zu den Abonnenten geschleppt hatte. Um Erfahrungen zu sam meln, jobbte er zudem bei befreundeten Lesezirkeln. 1967 war der 28-Jährige für einige Monate Chefredakteur des von Film und Frau zur Modernen Frau mutierten Blattes. Er wurde einer der Geschäftsführer des Jahreszeiten Verlags, und 1977 war er das zeitweise auch bei Daheim. Da er die »schwarze Kunst« erlernt hatte, interessierte er sich für Druckverträge und Papierbeschaffung. Er verhandelte geschickt mit Lieferanten in Deutschland und Finnland und holte zusammen mit einem günstigen Druckvertrag die petra als Dreingabe ins Haus. Doch es gab nicht nur Erfolge zu feiern. Es waren schwierige Jahre, in denen bei den Zeitschriften nicht immer alles rund lief. Der Druck auf den jungen Mann, der als Sohn des Chefs von den Mitarbeitern, den Führungskräften und nicht zuletzt vom Vater aufmerksam beobachtet wurde, war enorm. Michael Ganske war überdies schon damals ein Mensch, der sich lieber in der Natur als im Büro aufhielt. Mitarbeiter erinnern sich, dass er Konferenzen und Besprechungen gern ins Freie verlegte oder mit ihnen um die Alster lief – seine spezielle Art des management by walking. Er schätzte kreative Arbeiten, teilte aber nie die Liebe seines Vaters zu Zahlen und Bilanzen. Er konnte es nur schwer verwinden, wenn eine neue Zeitschriften-Idee wie Schöner Reisen, die er bis zur Nullnummer entwickelt hatte, am Renditedenken der Kaufleute scheiterte. Das »Rechenhafte« stieß ihn ab. Im dritten Lebensjahrzehnt dachte er deshalb immer häufiger darüber nach, ob er darin seine Zukunft sehen könne. Irgendwann, als er sich »im Kopf ganz leer« fühlte, begegnete ihm zudem die Versuchung in Gestalt eines Chefredakteurs, der ihm ein Glas Whisky in die Hand drückte. Es blieb nicht bei dem einen »Absacker«. Es kam zum Streit mit dem Vater. »Es war eigentlich ein ganz nichtiger Anlass«, erinnert sich Michael Ganske. »Aber nun entlud sich plötzlich alles, was sich während einer langen Zeit zwischen uns aufgestaut hatte.« Es war zugleich der Anlass, 259 seinem Lebensweg eine andere Richtung zu geben. Er beschloss, seinen Traum in Kanada zu verwirklichen. Ohne das Land zuvor schon einmal gesehen zu haben, wanderte er 1978 mit seiner Familie dorthin aus. Die Ehe überstand die Belastungen nicht. Michael Ganske suchte die Einsamkeit und Weite des Landes. Er jagte und fischte, lebte zeitweise mit Indianern zusammen. Er hat viel von ihnen gelernt, über das Leben, die Natur – und auch über den Umgang mit seiner Krankheit, die er schließlich besiegte. Seine Verbindungen zu den Indianern pflegt er noch heute. Sie war zeitweise so eng, dass er bei ihnen seine zweite Frau fand. Aber es zeigte sich, dass die kulturellen Unterschiede doch zu groß waren. Um dennoch die Nähe zur Natur zu bewahren, baute er sich ein Haus in der Einsamkeit von Yukon, einer Provinz im hohen Norden, wo sich nicht nur die Füchse, sondern auch die Wölfe gute Nacht sagen. Das Haus in der Wildnis besitzt er immer noch. Aber inzwischen verbringt Michael Ganske den größten Teil des Jahres auf einer kleinen Farm in British Columbia, in einem idyllischen Tal direkt an der Grenze zu den USA. Seine dritte Frau, mit der er seit Mitte der neunziger Jahre zusammenlebt, stammt aus China, das sie nach den Schrecken der Kulturrevolution verlassen hat. Die beiden teilen nicht nur die Leidenschaft für die Jagd und den Fischfang in den reißenden Bächen und Strömen des riesigen Landes, sondern auch für den Gartenbau. Zusammen mit Ling und ihrem über 80 Jahre alten Vater baut Michael Ganske dort rings um sein Bilderbuch-Farmhaus eine Baumschule der besonderen Art auf. Der Schwiegervater, ein schweigsamer Mann und begnadeter Botaniker, veredelt und züchtet Ziersträucher, wie sie sonst niemand im Lande anbieten kann – und für die sich im nahe gelegenen Vancouver nach Michael Ganskes Meinung ein riesiger Markt finden lässt. Die boo mende Metropole am Pazifik ist von Villenvororten umgeben, in denen es überall grünt und blüht und wo die Nachbarn um die schönsten Gärten und die seltensten Sträucher wetteifern. 260 Michael Ganske bereut seinen Entschluss nicht, das enge Büro gegen die freie Natur getauscht zu haben. »Ich glaube, dass auch unser Vater zufrieden ist, wenn er von oben herunterschaut und sieht, wie sich die Dinge entwickelt haben. Nach unserer Versöhnung hat er mir einmal gesagt, dass er selbst gern nach Amerika auswandern würde, wenn er noch jünger wäre. Unsere Schwester lebt das Leben, das sie sich gewünscht hat. Und damit, wie Thomas sein Unternehmen führt und weiterentwickelt hat, ist er sicher ebenfalls einverstanden.« Eine Alternative, nach der der Unternehmer Kurt Ganske bei allen seinen Plänen immer suchte, hatte ihm auch bei der Lösung der Nachfolgefrage zur Verfügung gestanden. Als sich abzeichnete, dass der ältere Sohn seine Zukunft nicht innerhalb des Familienunternehmens sah, holte er den acht Jahre jüngeren Bruder von der Universität und aus München zurück an die Alster. Als Assistent seines Vaters erhielt er zunächst Einblick in alle Bereiche des komplexen Gebildes, das dieser im Verlauf der Jahrzehnte geschaffen hatte. Nachdem er schon 1972 zusammen mit seinen Geschwistern in den Gesellschafterkreis des Jahreszeiten Verlags aufgenommen worden war, wurde er 1973 auch Gesellschafter von Hoffmann und Campe. Ein Jahr später setzte er dort sein »Lernen durch Tun« fort, zunächst als Assistent des kaufmännischen Geschäftsführers Rüdiger Hildebrandt und als Verlagsleiter von Merian. Dort arbeitete er sich in die verschiedenen betriebswirtschaftlichen Bereiche und Funktionen wie Anzeigen, Vertrieb oder Controlling ein. Als Albrecht Knaus, der viele Jahre lang das Buchprogramm mit großem Erfolg gestaltet hatte, 1977 das Haus nach heftigen Auseinandersetzungen mit seinen Kollegen in der Geschäftsführung verließ, um seinen eigenen Verlag zu gründen, rückte der Sohn des Verlegers in die Verlagsleitung ein – und sah sich dort plötzlich allein gelassen. Ein knappes Jahr nach Knaus kamen die beiden anderen Mitglieder des Triumvirats, Rüdiger Hildebrandt und Hans 261 Helmut Röhring, in Thomas Ganskes Büro, weil sie unabhängig voneinander, aber zur selben Zeit Angebote anderer Verlage erhalten und bereits angenommen hatten, wie sie zum gegenseitigen Erstaunen feststellten. Röhring kehrte zwar nach wenigen Monaten reumütig von Gruner+Jahr zu HoCa zurück, aber da hatte Ganske die durch den gleichzeitigen Exodus der Spitzenmanager ausgelöste Krise schon hinter sich. Die härteste Bewährungsprobe musste er bereits zwei Tage nach der überraschenden Kündigung bestehen. Die für den Verlag so wichtige Vertreterkonferenz stand bevor. Die Herolde des Buchs, die beim Handel die aktuellen Produkte des Verlags anpreisen und möglichst viele davon verkaufen sollen, waren bereits durch den Abschied von Knaus, der sie mit einer langen Reihe von Bestsellern verwöhnt hatte, äußerst beunruhigt. Als sie die Nachricht von einem weiteren Abschied im Doppelpack erreichte, probten sie den Aufstand. Sie trauten es dem erst 30-jährigen Thomas Ganske, dem gerade fast 100 Jahre Berufs erfahrung abhanden gekommen waren, nicht zu, den Verlag aus dieser Krise herauszuführen. Nach zwölf fetten Knaus-Jahren sahen sie magere Zeiten auf sich zukommen. Sie verlangten eine Garantie-Provision. »Dass auf einen Schlag die ganze Führungscrew von Bord ging, musste nach außen den Eindruck erwecken, dass ich an diesem Aderlass Schuld war und der Verlag in einer tiefen Krise steckte. Das traf nicht zu. Dass ich noch keine großen Erfahrungen vorzuweisen hatte, war hingegen nicht zu bestreiten«, räumt Thomas Ganske ein. Dennoch wusste er, dass er einer solchen Forderung auf keinen Fall nachgeben durfte. »Es war eine sehr schwierige Situation, und mein Vater hätte allen Anlass gehabt, da hineinzugrätschen.« Aber er tat es nicht. Während der Sohn die halbe Nacht mit den rebellierenden Vertretern rang, weil die Erfüllung ihrer Forderung für den Verlag eine tödliche Gefahr heraufbeschworen hätte, besuchte der Vater seine Schwiegertochter Veronika. »Das ist eine sehr 262 schwierige Situation für Thomas. Aber da muss er jetzt durch. Das muss er alleine schaffen.« Dann sprach er über andere Dinge. Als der Sohn am frühen Morgen endlich nach Hause kam, berichtete ihm seine Frau von dem Gespräch, aber auch davon, dass »KG voll hinter dir steht«. Da wusste er, dass er sich auf seinen Vater verlassen konnte – und auch, dass der bereit war, ihm viel Freiheit zu gewähren. Auch die Freiheit, Fehler zu machen. Deshalb fühlte er sich »richtig glücklich«, als er nach seinem bis dahin längsten und schwersten Arbeitstag endlich zu Bett gehen konnte. Siebentes Kapitel 1OO Jahre und kein bisschen müde A ls Daheim 1982 zum vierten Mal ein »rundes« Firmenjubiläum feierte, rückte das mit Zahlenangaben sonst nicht gerade großzügige Unternehmen mit einigen beeindrucken den Kalkulationen heraus: Pro Jahr wurden 1,5 Millionen Erstmappen zusammengestellt. Zusammen wogen sie 5000 Tonnen. Das ließ sich in das Gewicht von 850 ausgewachsenen Elefanten umrechnen. Alle Zeitschriften dieser Mappen hintereinandergelegt ergaben eine Strecke von 4500 Kilometern. Das entsprach der Entfernung von Hamburg bis Spitzbergen. Hätte man sie stattdessen aufeinandergestapelt, wäre daraus ein Turm von 88 Kilometer Höhe geworden. Da sie aber in Wirklichkeit von den Boten breit im Land verteilt wurden, war eine andere Rechnung realistischer: Auf dem Weg zum Kunden legten alle Zusteller dabei pro Jahr 4,3 Millionen Kilometer zurück – und fuhren so zusammen mehr als hundertmal um die Erde. Das war alles recht eindrucksvoll, sagte aber wenig über das Unternehmen aus. Wer dagegen die 1,5 Millionen Erstmappen durch 52 Wochen teilt, kommt auf eine Zahl, die weit mehr über die Leistung in den vergangenen Jahren aussagt. Denn dann zeigt sich, dass die Daheim Lieferservice GmbH im Jubiläumsjahr wöchentlich fast 29 000 aktuelle Mappen auslieferte. Das bedeutete, dass der Stand von 1955 wieder erreicht worden war – trotz aller Turbulenzen, durch die die Branche in den Jahren zuvor gegangen war. Man hatte also allen Grund, 1982 endlich einmal einen »runden Geburtstag« angemessen zu feiern. So geschah es auch. Wie es sich für ein hanseatisches 267 Unternehmen gehört, fand die Feier des Leserkreises Daheim auf der »Wappen von Hamburg« statt. Geladen waren Kollegen aus der Branche, Repräsentanten der Verlage, mit denen man seit Jahrzehnten zusammenarbeitete, ausgewählte Kunden, Mitarbeiter und 20 Pensionäre, die ihrem Unternehmen 25 Jahre und länger die Treue gehalten hatten. Gastgeber war aber nicht Kurt Ganske, sondern sein Sohn Thomas. Dem Unternehmer, der den von seinem Vater gegründeten Betrieb groß gemacht und später um die Keimzelle herum eine vielgestaltige Verlagsgruppe aufgebaut hatte, war es nicht vergönnt, den 75. Geburtstag seines Unternehmens zu erleben. Der schwer zuckerkranke Verleger, der sich um die Ratschläge seiner Ärzte nie sonderlich gekümmert hatte, war drei Jahre vor dem Jubiläum, am 20. März 1979, in Hohenhaus in den Armen seiner Frau Gerda gestorben. Nun erinnerte sein Sohn an seine unternehmerische Leistung und insbesondere auch an die Bedeutung, die Kurt Ganske dem Prinzip der »Kontinuität« beigemessen hatte. »Dieser Grundsatz verlangt allerdings den engagierten Unternehmer. Er steht in krassem Gegensatz zu einer von Kapitalanlage-Interessen bestimmten Geschäftspolitik, die zu Finanzholdings und Konglomeraten führt«, betonte Thomas Ganske. Er konnte damals noch nicht ahnen, dass dieses Thema ein Vierteljahrhundert später, beim 100. Geburtstag der Unternehmensgruppe, eine noch viel größere Rolle spielen würde. Denn von neokapitalistischen »Heuschrecken« wusste man damals noch nichts. Wer genau zuhörte, bekam aber schon einen Hinweis, wie sich der neue Chef die kontinuierliche Weiterentwicklung der Unternehmensgruppe vorstellte. »Bei aller Selbständigkeit der einzelnen Unternehmen unserer Gruppe sind sie doch durch gemeinsame Interessen verbunden und dadurch stark. Auf die ser Linie müssen wir uns weiterentwickeln und jede Chance nutzen.« Es sollte noch einige Jahre dauern, bis jeder verstand, was er damit angedeutet hatte. 268 Als die Mauer fiel In den 75 Jahren seit seiner Gründung am 1. April 1907 in Kiel hatte der Leserkreis zwei Weltkriege, eine Hyperinflation und eine Weltwirtschaftskrise überstanden. Er hatte schließlich auch den tiefgreifenden Strukturwandel in der Medienbranche bewältigt, den die elektronischen Medien ausgelöst hatten und den sie bis heute beeinflussen. Der bereits in den zwanziger Jah ren erkämpfte Titel des Branchenprimus und weltweit größten Lesezirkels war aber auch in den schwierigsten Zeiten nie gefährdet gewesen. Daran hat sich auch in dem Vierteljahrhun dert danach nichts geändert. Auch zu seinem 100-jährigen Jubiläum am 1. April 2007 konnte sich der Leserkreis Daheim weiterhin als »Weltmeister« präsentieren. Der in Deutschland nach wie vor gehaltene Marktanteil von 25 Prozent zeigt seine tatsächliche Bedeutung allerdings erst, wenn der Hintergrund mit betrachtet wird. Denn der Abstand zu den Wettbewerbern ist groß: Unter den etwa 120 Konkurrenten, die es derzeit noch in Deutschland gibt, erreichen selbst die größten unter den vielen Kleinen nur Marktanteile von 6 bis 7 Prozent. Diese starke Stellung war aber nicht im Abonnement zu haben. Sie musste auch in den Jahren nach 1982 immer wieder neu erobert werden. Die Taktiken und Marketing-Instrumente wechselten dabei noch häufiger als die Geschäftsführer. Als Erwin Schmitz 1986 in den Ruhestand ging, folgte ihm Dieter Pieroth. Geprägt durch das eigene Familienunternehmen, das nach dem Krieg zu einem der führenden Weinhandelshäuser der Welt aufstieg und in den sechziger und siebziger Jahren auch hinsichtlich Mitarbeiterführung und Mitarbeiterbeteiligung Pionierleistungen vollbracht hatte, setzte Pieroth sehr stark auf Mitarbeiterschulung und Service. »Qualitätssiche rung, Schulung, 100-Prozent-Service waren damals die Kernpunkte«, erinnert sich Heinz-Dieter Lechte. Während Mitarbei terversammlungen zur Zeit seines Vorgängers immer noch an 269 den Frontalunterricht in der Schule erinnerten und die Mit arbeiter mehr oder weniger stumm und ergriffen den Aus führungen des Chefs lauschten, waren unter Pieroths Ägide Arbeitsgruppen, Diskussionen und Teamarbeit angesagt. Die Mitarbeiter sollten selbst den Weg zum »100-Prozent-Service« entdecken, denn: »Die übliche Lösung ist die Einschaltung ei nes Unternehmensberaters, der uns eine fertige Lösung auf den Tisch legt, die wir realisieren sollen«, hieß es in einem Aufruf an alle Beschäftigten. »Das kostet nicht nur sehr viel Geld, sondern funktioniert auch in den meisten Fällen überhaupt nicht. Denn mit einer solchen Lösung identifizieren sich die Mitarbeiter oft nicht.« Gegenüber den Kunden betonte Pieroth nicht nur den günstigen Preis und den bequemen Bezug, sondern auch die ökologischen Vorteile von Mietzeitschriften: Je mehr Leser das gleiche Blatt nutzen, desto weniger Bäume müs sen für die Papierherstellung ihr Leben lassen. Außerdem garantieren die Lesezirkel eine ordnungsgemäße Entsorgung und Wiederverwertung des Altpapiers, führte er ihnen vor Augen. Bevor sich das alles in betriebswirtschaftlichen Ergebnissen niederschlagen konnte, griff die Polizei ein. Es hätte nicht viel gefehlt, und sie hätte den Geschäftsführer in Handschellen aus der Zentrale abgeführt, die damals noch am Hamburger Heidberg 7 beheimatet war. Hintergrund war ein Skandal um gepanschte Weine. Mitte 1985 kam heraus, dass österreichische Winzer ihre Gewächse in großem Stil mit Glykol versetzt hatten. Einiges von der Brühe war auch in die Keller der Pfälzer Winzer- und Weinhändlerfamilie Pieroth geflossen. Deren alteingesessener Betrieb war von dem späteren Bundestagsabgeordneten und Berliner Wirtschaftssenator Elmar Pieroth während seiner Zeit als junger Unternehmer zu einem der größten Weinhandelshäuser der Welt ausgebaut worden. Mitte der achtziger Jahre wurde das erfolgsverwöhnte Unternehmen in seinen Grundfesten erschüttert, als sich herausstellte, dass einige der von ihm angebotenen Weine mit glykolhaltiger Ware aus 270 Österreich vermischt worden waren. LKD-Geschäftsführer Die ter Pieroth hatte damit zwar nichts zu tun, doch bis auch der Staatsanwalt davon überzeugt war, dauerte es eine Weile. Erst 1996 wurde der Fall mit der Verurteilung von sechs Managern der Gruppe abgeschlossen. Zu diesem Zeitpunkt hatten längst andere die Geschäftsleitung von Daheim übernommen. Zurück auf Anfang Ehe er das Haus auf so unsanfte Art verlassen musste, hatten Pieroth und seine Mitarbeiter noch eine schwere Enttäuschung zu verkraften. Als die Mauer fiel, hatte man den »lieben Besuchern aus der DDR« schon im November 1989 kostenlose Leseproben in die Hand gedrückt. In dem beiliegenden Begrüßungsbrief stellte sich der Leserkreis als ein alter Bekannter vor: »Bis 1950 hatten wir noch neun Filialen in der DDR.« Diejenigen, die keine Erinnerung an die fünfziger Jahre mehr hatten, wurden darüber aufgeklärt, dass der »Lesezirkel die preiswerteste und ökologisch sinnvollste Weise ist, sich das Neueste aus aller Welt ins Haus bringen zu lassen«. Verknüpft wurde das mit einer kleinen Bitte. »Wenn Ihnen unser Willkommensgeschenk gefällt, geben Sie die Hefte auch Ihren Freunden und Bekannten.« Kaum war die Mauer auch für Besucher aus dem Westen kein Hindernis mehr, da rollten auch schon die ersten VWBusse mit Mitarbeitern des Leserkreises über die Grenze, vollbeladen mit Zeitschriften und Prospekten. »Mit offenen Armen empfangen«, jubelte die Mitarbeiterzeitschrift im Juli 1990 auf der ersten Seite und schilderte im Inneren des Blattes unter der Überschrift »Filialeröffnung Chemnitz – was für ein Tag!«, wie groß nicht nur dort der Andrang von Interessenten war. Überall, wo die Abgesandten des LKD erschienen, wurden ihnen die Mappen geradezu aus der Hand gerissen. Auch bei den Mitarbeitern selbst war die Begeisterung groß – so 271 groß, dass Dieter Pieroth sie sogar mahnen musste, über dem Neukundengeschäft in der (noch existierenden) DDR nicht die alten Abonnenten im Westen zu vernachlässigen: »Bei aller Euphorie dürfen wir nicht vergessen, was wir an Kundenzahl drüben aufbauen, dürfen wir hier nicht verlieren.« Ein weiser Rat, wie sich bald zeigen sollte. Ein großer Teil der so schnell gewonnenen Kunden im Osten ging bald ebenso rasch wieder verloren. Was sich Ende der fünfziger Jahre in der alten Bundesrepublik abgespielt hatte, wiederholte sich nämlich in ähnlicher Weise in den neuen Bundesländern. Nach Einführung der D-Mark saß das Geld nicht mehr so locker, andere Konsumwünsche schoben sich in den Vordergrund. Der Traum, die alten Vertriebsgebiete im Osten rasch zurückzugewinnen, platzte wie eine Seifenblase. Das allerdings war eine Erfahrung, die auch viele andere machen mussten, als die Goldgräberstimmung einer realistischen Einschätzung der Lage in den neuen Bundesländern wich. »Da war einfach zu wenig Kaufkraft«, stellt Joachim Herbst im Rückblick fest. Erst seit einigen Jahren baut er von Dresden aus das Geschäft wieder auf. Gute Kunden muss man pflegen Nach dem Abschied von Pieroth übernahm 1991 der gelernte Buchhändler Hermann Schmidt, der zuvor als Schulbuchverleger und Mitglied der Geschäftsleitung der Büchergilde Gutenberg Management-Erfahrung gesammelt hatte, den Chefpos ten. Zum Lesezirkel hatte er schon von Kindesbeinen an ein Verhältnis, da seine Eltern die Mappen viele Jahre lang be zogen hatten. »Da war ja nicht nur Klatsch und Unterhaltung drin, sondern auch viele Informationen rund um Politik, Wissenschaft, Reisen und Kultur.« Er hatte aber auch die Probleme kennengelernt, mit denen sich die Verleihbranche in den sechziger und siebziger Jahren herumschlagen musste. Denn auch 272 seine Eltern hatten die Mappe abbestellt, als ein Fernseher ins Wohnzimmer kam. »Das ist ihnen allerdings nicht leichtgefallen – nicht zuletzt wegen der Zustellerin. Es war eine Kriegswitwe, die viele Jahre lang jede Woche mit den neuen Zeitschriften ins Haus gekommen war. Da gab es schon eine gewisse emotionale Bindung.« Ein Erlebnis, aus dem Schmidt viele Jahre später Konsequenzen zog. Zunächst konnte er sich aber keine Sentimentalitäten leisten. Als er die Verantwortung übernahm, war wieder einmal eine Strukturreform fällig. Unter Pieroth war der Vertrieb personell zu stark gewachsen. Zudem hatten sich Schmidts Vorgänger zwar intensiv um Qualitätsfragen und eine leistungs fähige EDV gekümmert, aber Marketing, Kundengewinnung und vor allem Kundenbindung darüber etwas vernachlässigt. Eine der wichtigsten Reformen, die Schmidt durchsetzte, war eine neue Zuordnung der Verantwortlichkeiten. Bis dahin gab es einen Niederlassungsleiter Verkauf, der sich zwar um die Gewinnung neuer Kunden kümmerte, sich aber nicht dafür zuständig fühlte, wenn sie nach einiger Zeit wieder absprangen. Der Filialleiter dagegen war für eine ordentliche und pünktliche Belieferung der Abonnenten verantwortlich, aber nicht dafür, ob deren Gesamtzahl am Jahresende gefallen oder gestiegen war. »Die schoben sich immer gegenseitig die Schuld zu, wenn die Zahl der Bezieher zurückging.« Schmidt beendete diesen Dualismus. »Wenn ein Filialleiter die Gesamtverantwortung hat, kann er sich nicht mehr herausreden.« Schmidt löste das System der Niederlassungen auf, das sich überlebt hatte, und fasste die Filialen in Bezirke zusammen, an deren Spitze seither ein Bereichs- oder Regionalleiter steht. Die Umstrukturierung war überdies auch mit einem Personalabbau und damit einer spürbaren Kostensenkung verbunden. Die Zahl der Vertreter wurde immer weiter reduziert, weil der früher so erfolgreiche Verkauf an der Haustür die hohen Kosten dieser Vertriebsform nicht mehr einspielte. Unseriöse 273 Drückerkolonnen, die Teppiche, Mitgliedschaften in Buchclubs, Kochtöpfe oder Produkte aus angeblichen Blindenwerkstätten feilboten, hatten den Direktvertrieb in Verruf gebracht. Schmidt machte den Mitarbeitern klar, dass »es sehr viel kostengünstiger ist, Abonnenten, die man bereits hat, zu halten als neue zu gewinnen«. Neue Kunden musste man über Anzeigen und Fernsehwerbung, Mailings oder andere kost spielige Maßnahmen ansprechen. Von »Abspringern« dagegen hatte man die Adressen und musste ihnen auch das Produkt »Mietzeitschrift« nicht erst lange erklären. Sie kannten es ja. Man musste nur herausfinden, warum sie abbestellt hatten, und versuchen, den Grund für die Unzufriedenheit zu beseitigen. Das konnte am Preis liegen, über den man dann verhandeln musste. Die Ursache konnte aber auch sein, dass Kunden mit dem Inhalt der Mappe unzufrieden waren. Dann konnte man sie auf die Wunschmappe hinweisen und ihnen demonstrieren, wie groß das Angebot war, aus dem sie auswählen konnten. »Die Wahlmappe war zwar schon früher eingeführt worden, aber wir haben sie viel gezielter als Verkaufsargument eingesetzt«, erklärt Schmidt. Die Erfahrungen im eigenen Elternhaus haben sicher mit dazu beigetragen, dass er die Filialleiter dazu anhielt, sich verstärkt um die Rückgewinnung von abtrünnigen Kunden zu kümmern. Jeder, der absprang, wurde telefonisch angesprochen, angeschrieben oder persönlich aufgesucht. Das galt auch für Kunden, die von kleineren Konkurrenten beim LKD abgeworben worden waren. In der Branche hatte es zwar schon immer als höchst unfein gegolten, sich gegenseitig die Abonnenten abspenstig zu machen, aber nicht jeder hielt sich an die Regeln. Der Branchenführer hatte es lange Zeit großzügig ignoriert, wenn Kleinere heimlich in seinem Teich fischten. »Die dachten wahrscheinlich, dass wir es angesichts unserer Kundenzahl gar nicht merken, wenn sie uns ein paar Kunden wegschnappen.« Damit war jetzt Schluss. Schmidt erklärte sei274 nen Mitarbeitern, dass die Zeit des Wegschauens vorbei sei. Wenn Abwerbungen beobachtet wurden, machte er den Außendienst mobil. »Wir haben die Kunden in den meisten Fällen zurückgewonnen, indem wir ihnen günstigere Angebote machten.« Abwehrmaßnahmen allein reichen allerdings nicht aus, denn mancher Kunde lässt sich auch mit den besten Argumen ten nicht zurückgewinnen: Ärzte schließen aus Altersgründen ihre Praxis, Friseure geben ihren Salon mangels Kunden auf, Saunas oder Sonnenstudios machen Pleite, Kurkliniken stellen den Betrieb ein, weil die Kassen keine Patienten mehr schicken. Private Bezieher sterben oder ziehen in einen anderen Ort. Jahr für Jahr geht ein Teil der Bezieher endgültig verloren. Deshalb müssen immer wieder neue Interessenten gefunden werden, um die Lücken zu füllen. Da hilft es, wenn neue An gebotsformen wie Fitness-Center, Schönheitsfarmen oder Wellness-Hotels boomen. Weil der traditionelle Verkauf über Vertreter keine Rolle mehr spielt, müssen heute aber andere Wege zum Kunden gefunden werden. Dazu zählen Call-Center, Mailings oder der Verkauf über das Internet (www.leserkreis.de). Als besonders erfolgreich erweist sich seit langem das Messe geschäft. Das bedeutet, dass Besucher von Verbrauchermessen wie »Du und deine Welt« in Hamburg, »Berlin, Berlin« oder der »Hafa« in Wiesbaden angesprochen und am Stand von Daheim auf die Vorteile eines Lesezirkel-Abonnements aufmerksam gemacht werden. Weniger erfolgreich war ein erneuter Versuch, die Zustellung von Zeitschriften und Büchern miteinander zu verbinden. Diesmal ging es darum, den Kunden Bücher ins Haus zu bringen, die sie nach Belieben aus der Spiegel-Bestsellerliste auswählen konnten. »Aber das haben wir nicht richtig angepackt und in den Test vor allem Anwälte und Ärzte einbezogen. Außerdem bin ich wahrscheinlich zu stark von meinen eigenen Lesegewohnheiten ausgegangen«, räumt Schmidt ein, der 1997 275 innerhalb der Gruppe als Geschäftsführer zum Jahreszeiten Verlag wechselte. »Doch das war ohnehin nur ein Nebenkriegsschauplatz.« Auch Joachim Herbst, der nach zwei weiteren Geschäftsführern im Jahr 2001 bei Daheim im Chefsessel Platz nahm, sieht die Zukunft des Leserkreises in der Konzentration auf das Kerngeschäft. »Nachdem Hermann Schmidt die ganzen alten Zöpfe im Vertrieb abgeschnitten hat, gibt es hier im zentralen Bereich in Hamburg nur noch Anzeigenwerbung, Marketing, EDV-Organisation, Controlling und Verkauf. Die Ansprechpartner für die Kunden sitzen in den 27 Filialen vor Ort. Ich hatte das Glück, in eine funktionierende Organisation zu kommen, und kann mich ganz darauf konzentrieren, den Dienstleis tungsgedanken nach außen zu tragen.« Zu den großen Erfolgen auf diesem Weg zählt neben einer Reihe von Übernahmen die Gewinnung von Vorzeigekunden wie Starbucks Coffee Houses. Sie bieten ihren Kunden, die sich bei einem Becher Kaffee vom Einkaufsstress oder dem Ärger im Büro erholen wollen, seit 2004 die Möglichkeit, die blaumelierten DaheimMappen zur Hand zu nehmen und in aller Ruhe in einer Zeitschrift ihrer Wahl zu blättern. Hundert Jahre nach seiner Gründung erreichen der Leserkreis Daheim und die vom Werbemerkur betreuten Lesezirkel pro Woche rund elf Millionen Leser. Das sind knapp 17 Prozent der Gesamtbevölkerung. 40 Prozent der Mappen gehen in die »öffentliche Auslage«. Da sie bei Friseuren und Ärzten, in Cafés oder Restaurants für alle Besucher erreichbar sind, führt dies zu überdurchschnittlich vielen Leserkontakten und erhöht dadurch die für die meisten Zeitschriften so wichtige Reichweite. Bis zu 60 Prozent der Leseprogramme werden immer noch an Privathaushalte geliefert. Sie gelten als Intensivleser, die auf breite Information und abwechslungsreiche Unterhaltung Wert legen. 54 Prozent der Lesezirkel-Nutzer gehören zu der Altersgruppe zwischen 14 und 49 Jahren und leben in 276 Haushalten mit einem Netto-Einkommen von 2000 Euro und mehr. Die Zeiten, in denen die Abonnenten und sonstigen Nutzer von Lesezirkelmappen als alt, arm und ungebildet abgestempelt werden konnten, sind schon lange vorbei. »Die sitzen inzwischen eher vor dem Bildschirm«, meint Albert Buschinski, der langjährige Chef der Revision. »Zum Lesezirkel kommen heute vorwiegend anspruchsvolle Vielleser mit gutem Einkom men, denen das TV-Programm nicht mehr viel zu sagen hat.« Natürlich werden die Standard- oder Wahlmappen heute nicht mehr in Pappkartons gesteckt, sondern von den Boten in durchsichtigen Tragetaschen geliefert, die für jeden einzelnen Kunden individuell zusammengestellt werden. Die Firma bekommt etwas zurück Eine angenehme Atmosphäre erleben nicht nur die Kunden, die in einem der breiten Sessel bei Starbucks bei einem Milchkaffee oder Espresso sitzen und in Ruhe eine der ausliegenden Zeitschriften lesen können. Wohl fühlen sich nicht nur die Leser, die in der Sauna eine Schwitzpause einlegen oder in einer Wellness-Oase entspannt zu einer Zeitschrift im blauen Umschlag greifen. Auch die Mitarbeiter von Daheim fühlen sich an ihrem Arbeitsplatz offenbar recht wohl. Denn nicht nur »alte Hasen« wie Anzeigenleiter Wolfgang Declair beschreiben das Betriebsklima gern mit den Worten: »Wir sind hier eine große Familie.« Das sagen auch jüngere Mitarbeiter auffallend oft. Ähnlich drückt sich ein Bezirksleiter wie Helmut Brümmer aus, der sehr genau weiß, wovon er redet, da er schon Ende der sechziger Jahre als Student beim Leserkreis gejobbt hat und der Firma seither treu geblieben ist. Auch viele der übrigen Mitarbeiter sind schon seit Jahrzehnten dabei. Manche stellen ihre Erfahrung dem LKD auch nach der Pensionierung gern zur Verfügung. Dazu gehört Albert Buschinski, der sich noch 277 als Siebzigjähriger um die Übernahme und Eingliederung von Betrieben kümmert, die ihre Kunden dem großen Wettbewerber zu treuen Händen übergeben. Selbst der langjährige Betriebsratsvorsitzende scheut sich nicht, dem Leserkreis zu bescheinigen, er sei für die Mitarbeiter »im besten Sinne des Wortes eine Familie«. Niemand, der seinen Job ordentlich mache, müsse sich Gedanken um die Sicherheit seines Arbeitsplatzes machen, versichert Heinz-Dieter Lechte. Und er fügt hinzu: »Die Firma bekommt dafür auch etwas zurück«, nämlich in Form von Engagement, Verantwortungsbewusstsein und Einsatzbereitschaft. »Hier guckt niemand auf die Uhr, wenn viel zu tun ist – aber auch nicht, wenn jemand aus persönlichen Gründen mal früher gehen will.« Werbung, Marketing, Übernahmen und die gewachsene Bedeutung der öffentlichen Auslage haben ihren Teil dazu beigetragen, dass Daheim seinen Platz in einer sich ständig wandelnden Medienwelt bis heute behaupten konnte. Doch wenn Joachim Herbst 100 Jahre nach der Gründung des Unternehmens feststellen kann, dass der Leserkreis seinen Kunden stamm in den vergangenen 20 Jahren trotz des Strukturwandels und der Veränderungen im wirtschaftlichen und sozialen Umfeld stabil halten konnte, dann ist dies nicht zuletzt auch dem Engagement der rund 700 Teilzeit- und Vollzeit-Mitarbeiter zu verdanken, die sich »ihrer Familie« verpflichtet fühlen. »Ich glaube, dass das Zusammengehörigkeitsgefühl und das Teamdenken in den letzten Jahren ganz stark zugenommen hat«, ist Herrmann Schmidt überzeugt. »Mit Familie wird das gut umschrieben.« Die Wurzeln dieser Unternehmenskultur reichen tief. Wenn Thomas Ganske davon spricht, dass sein Großvater »im Herzen ein Sozialdemokrat war«, dann meint er damit auch die Einstellung, die der ehemalige Werftarbeiter Richard Ganske, der 1907 zum Unternehmer wurde, gegenüber seinen Mitarbeitern hatte. Auch sein Sohn, der aus einem großen Lesezirkel 278 bereits in den zwanziger Jahren den weltweit größten Vertreiber von Mietzeitschriften machte, war sich immer bewusst, wie wichtig die Mitarbeiter an der Basis für den Erfolg seines Un ternehmens waren. »Zu den Boten hatte er immer ein besonderes Verhältnis, die waren ihm sehr wichtig«, weiß Thomas Ganske aus vielen Gesprächen. Deshalb gerieten auch die ehemaligen Führungskräfte und langjährigen Beschäftigten nicht in Vergessenheit, die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs im Osten Deutschlands eingesperrt waren. Seine Söhne erinnern sich, dass ihr Vater sehr berührt war von den Briefen, mit denen sich die früheren Mitarbeiter für die Pakete bedankten, die seine Frau ihnen in die sowjetisch besetzte Zone schickte. »Als er sie las, stellte er sich die Frage, ob es nicht auch im Westen unter den Boten, die während oder nach dem Krieg in Pension gegangen waren, Menschen gab, die Not litten.« Der Verleger ließ die Adressen ermitteln. »Wir haben uns damals sehr gewundert, warum er plötzlich alle diese Anschrif ten haben wollte«, berichtet Erwin Schmitz. Kurt Ganske beauftragte die leitenden Mitarbeiter in den Filialen, die Rentner in ihrem Bereich aufzusuchen, ihnen die besten Grüße vom Chef auszurichten, einen Blumenstrauß zu überreichen und ein wenig mit ihnen über die alten Zeiten zu plaudern. Das bot ihnen die Gelegenheit, sich ein Bild von der Lebenssituation der Rentner zu machen. Wenn sie feststellten, dass die Ruheständler finanziell und persönlich ausreichend versorgt waren, verabschiedeten sie sich nach einer Weile wieder. War das nicht der Fall, hatten sie die Möglichkeit, mit Mitteln aus einem Fonds zu helfen, den Kurt Ganske dafür eingerichtet hatte. »Die emotionale Verbindung zu seinen langjährigen Mitarbeitern war sehr eng. Mein Vater, der früher die Filialen sehr oft besuchte, kannte viele der älteren Boten. Sie blieben dem Unternehmen ja oft jahrzehntelang verbunden«, erklärt Thomas Ganske diese Fürsorge. 279 Bitte diese Kolumne um eine Zeile erweitern. 1960 wurde die spontane Hilfe in Form des Richard Ganske Hilfswerks e.V. institutionalisiert und gleichzeitig für den Hoffmann und Campe Verlag ein Regelwerk für soziale Sonderleis tungen geschaffen. Während es dabei vor allem um Urlaubsund Weihnachtsgeld sowie um Leistungen bei Jubiläen ging, gewährte das Hilfswerk Unterstützung bei Heirat, Geburten, Todesfällen und in persönlichen Notlagen. Es war ein eingetragener Verein, der gemeinsam vom Jahreszeiten Verlag, Hoffmann und Campe und dem Leserkreis Daheim getragen wurde. Da zwei Jahrzehnte später diese Hilfseinrichtung nur noch älteren Mitarbeitern bekannt war, wurden 1983 alle Kolleginnen und Kollegen durch den Betriebsrat ausdrücklich auf den Fonds hingewiesen. Gleichzeitig wurde eine Betriebsvereinbarung über die Mitwirkung der Arbeitnehmervertretung bei seiner Verwaltung abgeschlossen. »Falls Sie also einmal in Not geraten sollten, zieren Sie sich nicht, einen Antrag an das Richard Ganske Hilfswerk einzureichen«, wurden die Mitarbeiter ermuntert. Bereits 1959 hatte Kurt Ganske eine Versorgungsordnung für Tourenboten geschaffen. Danach baute sich im Laufe der Jahre nach einem Punktesystem, das ihre Leistungen bei der Zustellung der Mappen erfasste, ein Betrag auf, der bei Er reichung der Altersgrenze oder vorher bei Invalidität und Tod an den Berechtigten oder die Hinterbliebenen ausgezahlt w urde. 1979 wurde diese zusätzliche Form der Altersvorsorge, die bei Erreichen des Rentenalters wie eine Lebensversicherung in einer Summe ausgezahlt wurde, durch eine von dem Geschäftsführer Schmitz und dem Betriebsratsvorsitzenden Lechte unterzeichnete Betriebsvereinbarung noch einmal bestätigt und an die veränderten wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse angepasst. Eine Unfallversicherung garantiert heu te den Boten oder ihren Familien bei Tod oder Invalidität zudem eine Unterstützungszahlung von rund 10 000 beziehungsweise 20 000 Euro. 280 Kurt Ganske war aber nicht nur Inhaber des Lesezirkels, sondern auch Verleger. Deshalb schuf er in den fünfziger Jahren für die leitenden Mitarbeiter seiner Zeitschriften- und Buchverlage eine Alters- und Hinterbliebenenversorgung. Die Einzelheiten hatte sein damaliger Assistent Werner Hess ausgearbeitet. Als die neue Pensionsordnung feierlich verkündet wurde, verliehen ihm die leitenden Angestellten für die Verdienste, die er sich dabei erworben hatte, eine Auszeichnung: Sie dekorierten ihn mit einem Sperrholzbrett am Band. Auf dem Brett war eine Reihe von Sicherheitsschaltern montiert. »Damit die Sache finanziell nicht aus dem Ruder laufen konnte, hatte ich eine Reihe von rechtlichen und wirtschaftlichen Sicherungen eingebaut. Davon waren nicht alle begeistert. Aber im Interesse des Unternehmens war das natürlich erforderlich.« Achtes Kapitel Mit Tempo in neue Dimensionen D er Spiegel wusste nicht nur mehr als andere. Die Rechercheure des Magazins aus der Hamburger Brandstwiete hatten auch Geräusche vernommen, die sonst niemand auf gefallen waren: »Zähneknirschend musste Sohn Thomas 1979 mit 31 Jahren das Imperium übernehmen, nachdem der Vater gestorben und sein älterer Bruder Michael nach Kanada ausge wandert war«, schrieb das Nachrichtenmagazin im April 1996. Auch von anderen, aktuelleren akustischen Signalen wusste das Nachrichtenmagazin zu berichten – von einer zitternden Stimme des Verlegers, einem hysterischen Lachen des Textchefs und von Schluchzern, die aus den Reihen der Redaktions mitglieder kamen. Geräusche dieser oder ähnlicher Art mag es durchaus gegeben haben, als Thomas Ganske im April 1996 der davon sicherlich nicht völlig überraschten Redaktion mitteilte, dass die letzte Ausgabe der Zeitgeist-Illustrierten Tempo bereits erschienen sei. Das Heft, an dem sie gerade arbeiteten, werde es nicht mehr bis zur Druckerei schaffen. Dass es dem flippigen Magazin, dessen Chefredakteure zuletzt eine immer geringere Halbwertszeit gehabt hatten, wirtschaftlich nicht gutging, war schon seit längerer Zeit offenkundig gewesen. Insofern konnte die Mitteilung des Verlegers für die Blattmacher keine große Überraschung mehr gewesen sein. Überraschend war eher, dass er das Magazin so lange alimen tiert hatte. »Eigentlich hätte Tempo schon zwei oder drei Jahre früher eingestellt werden müssen«, meint Thomas Ganske im Rückblick selbstkritisch. »Aber ich hing an dem Blatt.« Des285 halb hatte er es lange in der Intensivstation gelassen, ehe er es schließlich doch vom finanziellen Tropf nahm. Außerdem: Totgesagte leben länger. Zehn Jahre nach dem Einstellungsbeschluss gab der Jahreszeiten Verlag im November 2006 bekannt: »Tempo erhöht erneut Auflage und Umfang.« Es handelte sich allerdings um eine einmalige Sonderausgabe zum 20. Geburtstag (und 10. Todestag) der Zeitschrift, »die längst ein Mythos geworden ist«. Gar nicht mythisch, sondern sehr real war allerdings die Startauflage der Sonderausgabe von 240 000 Exemplaren und der beeindruckende Heftumfang. Er war auf Grund des überraschend starken Interesses der Anzeigenkunden mehrfach erweitert worden und lag schließlich bei 380 Seiten. »Tempo ist als Zeitschriftenmarke legendär und heute so bekannt und aktuell wie zum Zeitpunkt der Markteinführung, als das Magazin zum Identifikationsmedium einer ganzen Generation wurde«, freute sich Vertriebsleiter Michael Westerkamp über die Welle der Nostalgie, die Tempo zehn Jahre nach der Versenkung nach oben trug. Insofern behielt der Spiegel schließlich doch recht, der 1996 seinen Artikel über den Tod des Blattes mit den Worten enden ließ: »Die Leiche lächelt noch.« Davon, dass Thomas Ganske die Nachfolge seines Vaters zähneknirschend und widerwillig angetreten hätte, konnte dagegen keine Rede sein. Er hatte sich dafür schon längst warmgelaufen, und Kurt Ganske hatte ihn rechtzeitig auf die spätere Nachfolge vorbereitet. Mit einer Vollmacht in der Hand schickte ihn der Vater 1976 los, um den notariellen Vertrag über den Verkauf des Rheinischen Merkur zu unterschreiben, übungshalber. Wenn es um wichtige Diskussionen und Entscheidungen ging, ermunterte er ihn: »Wenn es dich interessiert, kannst du immer daran teilnehmen.« Das tat er auch. Schon während seiner Zeit an der Universität und erst recht später, als er zunächst als Assistent seinen Vaters und dann als Geschäftsführer von Hoffmann und Campe praktische Erfah286 rungen sammelte. Wenn Albrecht Knaus nach München kam, um mit Autoren zu verhandeln, oder wenn er andere Termine hatte, bei denen der Junior nach seiner Ansicht mehr lernen konnte als im Hörsaal, lud er ihn ein, daran teilzunehmen. So sammelte Thomas Ganske Erfahrungen, die ihm später als Geschäftsführer von Hoffmann und Campe sehr zugute kamen. Ihm war auch schon früh klar gewesen, was der Vater von seinen Kindern erwartete. »Er hatte ein Familienunternehmen geschaffen und wünschte sich, dass es innerhalb der Familie weitergegeben werden sollte. Ursprünglich sollte mein Bruder den Zeitschriftenbereich übernehmen; meine Schwester sollte das Gut bewirtschaften; ich sollte den Buchbereich führen. Es ist nicht so gekommen, wie er es geplant hatte, weil mein Bruder und meine Schwester sich für einen anderen Lebensweg entschieden haben. Dagegen hätte mich mein Berufsweg auch ohne diese Vorbestimmung mit Sicherheit in die Medienwelt geführt. Deshalb habe ich es nie als Zwang, sondern immer als Chance empfunden, dass ich die Möglichkeit hatte, diesen Wunsch im eigenen Unternehmen erfüllen zu können.« Als sich abzeichnete, dass der ältere Bruder die ihm zugedachte Aufgabe nicht übernehmen würde, bat Kurt Ganske 1974 den jüngeren Sohn, zurück nach Hamburg zu kommen, damit er ihn systematisch auf seine künftige Aufgabe vorbereiten konnte. Neben der Arbeit bei Merian nahm er an Direkto riumssitzungen und an Konferenzen des Jahreszeiten Verlags teil. Weil sich der zuckerkranke Senior, der sich um den Rat seiner Ärzte nie sonderlich geschert hatte, immer länger nach Hohenhaus zurückzog oder die Einsamkeit seines österreichischen Jagdreviers suchte, wuchs der Junior schneller als eigentlich geplant in seine Aufgaben hinein. Gesellschafterversammlungen und Geschäftsführersitzungen fanden nun häufiger an den Zufluchtsorten des Patriarchen statt. Er scheute die Reise nach Hamburg, wollte aber bei wichtigen Entscheidungen dabei sein und notfalls das letzte Wort haben. 287 »Aber aus dem täglichen Geschäft hat er sich – bewusst oder intuitiv – immer mehr zurückgezogen.« Damit gab er dem Sohn die Möglichkeit, die Übernahme von Verantwortung zu proben. »Das ging automatisch und unproblematisch.« KG ließ ihn auch Fehler machen, »ganz bewusst«, wie der Sohn heute glaubt. »Wenn du meinst, du solltest es tun, dann mach es«, hieß es oft am Ende einer längeren Diskussion. Und wenn sich später herausstellte, dass es tatsächlich ein Fehler war, sagte KG meist nur: »Siehst du, ich habe es dir ja gesagt.« Thomas Ganske ist dennoch überzeugt, dass das, was er gemacht hat, richtig war – auch wenn er manchmal damit falsch lag. »Für mich war es richtig. Es war Lehrgeld.« Als Kurt Ganske 1979 nach kurzer Krankheit an einer unstillbaren Blutung in der Speiseröhre starb, war es trotzdem nicht nur ein persönlicher Schock. »Es war ziemlich viel kaltes Wasser, in das ich da plötzlich springen musste. Wenn der Vater länger gelebt hätte, wäre der Übergang organischer gewesen.« Erleichtert wurde der Wechsel in den Chefsessel zwar dadurch, dass KG den Erbübergang gut vorbereitet und sorgfältig durchdacht hatte. Seinen Letzten Willen hatte er in einem notariellen Testament hinterlegt und zudem alles mit dem designierten Nachfolger besprochen. Er hatte auch keinen Testamentsvollstrecker eingesetzt, durch den alles zeitraubender und komplizierter geworden wäre. Es gab keinen Führungskampf innerhalb der Familie, der sich – wie es häufig in solchen Fällen geschieht – lähmend auf die Unternehmensgruppe hätten auswirken können. Zeit des Umbaus Dennoch durchlebte der Sohn eine unangenehme Zeit. Bis alle bürokratischen Hürden genommen waren, der ganze Papierkram erledigt und alle Formalien erfüllt waren, verging fast ein Jahr. »Erst als das alles erledigt war, konnte ich mich im 288 erforderlichen Umfang dem operativen Geschäft widmen, die Organisationsstruktur der Gruppe und den Führungsstil überdenken und mich wichtigen Personalfragen zuwenden.« Der Übergang war auch deshalb schwierig, weil Kurt Ganske seine Unternehmen als Einzelbetriebe geführt hatte, die unter einander kaum Kontakte hatten, deren Führungskräfte sich häufig nicht einmal kannten und die oft nur eine vage Vorstellung davon hatten, welche Unternehmen mit zur Familie gehörten. Es gab keine gemeinsamen Konferenzen, kein Brainstorming, keine systematische Ideenfindung. Da zudem viele Führungskräfte über lange Jahre in der Furcht des Herrn gelebt hatten, war bei vielen die Eigeninitiative verkümmert und die Bereitschaft unterentwickelt, Verantwortung zu übernehmen. Einwände gegen Pläne und Entscheidungen, die der Verleger – allerdings immer erst nach reiflicher Überlegung und manchmal auch langem Zögern – verkündete, hatten Seltenheitswert. »Da gab es keinen ernsthaften Widerspruch«, fasst Thomas Ganske die Erfahrungen aus vielen Besprechungen und Konferenzen zusammen, die er miterlebt hat. »Im Gegenteil, viele haben überlegt, wie sie laut sagen könnten, was er vielleicht nur denkt oder bald selbst sagen würde. Die lasen ihm von den Lippen ab.« Sein Bruder Michael drückt es so aus: »Es gab in den letzten Jahren zu viele Ja-Sager und zu wenig eigenständige Köpfe.« Das lag auch an der Überhöhung eines Chefs, der sich mit zunehmendem Alter immer mehr in sein Arbeitszimmer oder sein Refugium Hohenhaus zurückgezogen hatte und der selbst für die meisten leitenden Mitarbeiter unerreichbar fern war. Zu den wenigen, die sich von der Macht des Alleinherrschers nicht beeindrucken ließen, gehörte Georg Salinger, der in der »Villa« über viele Jahre als Finanzchef und Steuerexperte fungierte. »Der war innerlich unabhängig von meinem Vater, und wenn er nicht einverstanden war, dann leitete er seine Stellung nahme meist mit den Worten ein: Herr Ganske, da sollten wir 289 vielleicht etwas vorsichtig sein …« Auch von seinem Sohn ließ KG sich bei Diskussionen unter vier Augen Kritik gefallen und nahm ihn als Gesprächspartner ernst – allerdings erst, nachdem es einmal zwischen ihnen ziemlich laut geworden und schließlich ein Porzellanteller an der Wand zerschellt war. An den Grund des Streits kann sich Thomas Ganske nicht mehr genau erinnern, wohl aber daran, dass »wir anschließend weiter zusammen geredet haben. Keiner hat Türen geknallt. Ich bin nicht herausgerannt; er hat den Raum nicht verlassen. Stattdessen haben wir diskutiert. Von da an war es völlig anders zwischen uns. Bei mir war die Distanz, die Überhöhung weg, die ich im geschäftlichen Bereich anfänglich auch gespürt hatte, und mein Vater hat verstanden, dass sein Gesprächspartner kein Kind mehr war. Von da an war es richtig schön.« Auch wenn im Testament alles klar geregelt war, bedeutete dies nicht, dass die Mühlen der Bürokratie schneller mahlten. Als Thomas Ganske nach den quälend langen Erbschaftsprozeduren endlich die Zeit fand, sich das Unternehmensgebäude, für dessen Stabilität er nun allein verantwortlich zeichnete, in Ruhe anzusehen, erkannte er bald, dass es höchste Zeit für eine gründliche Renovierung war. Auch einige Umbauarbeiten waren überfällig. Er diagnostizierte eine totale Verkrus tung der Organisation, stellte fest, dass Kostenmanagement in den letzten Jahren vor allem in Form von Abschneiden, Einsparen und Reduzieren stattgefunden hatte und dass in vielen Bereichen des Unternehmens die Gefahr bestand, dass »alles zu Tode verwaltet wurde«. Doch damals wie heute zeigte er, seinem Vater damit nicht unähnlich, keine Neigung zu hektischer Betriebsamkeit und zu vorschnellen Entscheidungen. Es dauerte noch zwei Jahre, ehe er die Bagger anrollen ließ. Doch als er seine Umbaupläne bekannt gab, fielen selbst Spitzenmanager der Unternehmensgruppe aus allen Wolken – und manche von ihnen auch aus den oberen Stockwerken der Unternehmenshierarchie: Am Freitag, dem 9. Juli 1982, wur290 den die Geschäftsführer Ulrich Fortmann und Wilhelm Schlame, die Kurt Ganske 25 beziehungsweise 11 Jahre zuvor eingestellt hatte, von der Gesellschafterversammlung abberufen. Für sie war in der neuen Verlagsstruktur kein Platz mehr. Sie vertraten nach Meinung des jungen Chefs zudem zu stark »eigene Interessen«, verteidigten angestammte Reviere. Am Samstag wurden die nach Hohenhaus einberufenen Betriebsräte und die von der Umorganisation betroffenen Führungskräfte über die vorgesehenen Änderungen informiert. Am Montag wurde die neue Führungsstruktur etabliert. »Es war Generalstabsarbeit. Es war zeitlich alles sehr knapp kalkuliert. Aber es hat funktioniert.« Der enge Zeitplan und die neue Verlagsstruktur war ebenso wie die Personalentscheidung ein Vorschlag der Unternehmens beratung SCS, die Thomas Ganske ins Haus geholt hatte. Auch deren Honorar war sehr knapp kalkuliert. Der Verleger hatte dem Bewerber mit dem niedrigsten Angebot den Zuschlag gegeben. Mehr Aufwand hielt er nicht für erforderlich. Er hatte den organisatorischen Umbau im Grundsatz bereits durchdacht, ehe er Rat von außen einholte. »Die wussten genau, worauf es hinauslaufen sollte. Wer mit einem Fragezeichen zum Berater geht, ist verloren«, ist er überzeugt. Die Berater sollten das »ohnehin Gewollte nur im Einzelnen formulieren«. Gewollt war, die veraltete Organisationsstruktur zu verändern, das unscharfe Führungskonzept zu reformieren und die Verantwortlichkeiten klarer zu regeln. Der Jahreszeiten Verlag, der Anfang der achtziger Jahre ein noch stärkeres Gewicht innerhalb der Gruppe hatte als heute, war nach Sparten organisiert, die von Geschäftsführern geleitet wurden. Die sahen die kleineren Objekte als eher lästig an und kümmerten sich vor allem um die Belange ihrer »Flaggschiffe«. Blätter wie A& W oder Vital besaßen keinen Fürsprecher. Wenn ein AnzeigenAußendienstler bei einem Kunden saß, sprach er erst einmal über Für Sie oder petra. Wenn danach noch Zeit blieb, erwähnte 291 er auch die kleineren Blätter. »Das haben wir von einem auf den anderen Tag geändert«, stellt Thomas Ganske ein Vierteljahrhundert später fest. »Vorher Sparten-, danach Objektverantwortung bis in die Geschäftsführung hinein. Und die Bereiche Vertrieb und Anzeigen wurden in Form einer Matrix eingebunden.« Sie war so geknüpft, dass der Zuständige, der für das Ergebnis der Zeitschrift verantwortlich war, verbindliche Vorgaben hatte. Dadurch wurde das Unternehmen insgesamt unabhängiger von den Hauptblättern. »Alle hatten jetzt eine faire Chance, und es machte Sinn, das Portfolio in der Breite zu fahren.« Im Prinzip wird der Jahreszeiten Verlag auch im neuen Jahrtausend so geführt. Später wurden die Objekte aber zu Gruppen zusammengefasst, weil dies am Anzeigenmarkt zu einer größere Schlagkraft verhilft und die Möglichkeit bietet, Gesamtrabatte zu geben. Heute gibt es einen durchgehenden Additionsrabatt, durch den mehr Aufträge generiert und die Wahrnehmbarkeit am Markt gesteigert wird. Thomas Ganske ist überzeugt, dass sein Vater die Notwendigkeit eines Umbaus, der für die nächsten 20 Jahre die wichtigste innere Reform der Gruppe bleiben sollte, ebenfalls erkannt und die ergriffenen Maßnahmen gutgeheißen hätte. »Aber in seinem Alter wollte er sich das nicht mehr antun.« Eine weitere strategische Entscheidung, durch die sich die Struktur der Unternehmensgruppe wandelte, ließ sich nicht übers Wochenende umsetzen, gehörte aber zum Gesamtkonzept. Es war die bewusste und gezielte »Schwächung« der beherrschenden Position, die der Jahreszeiten Verlag bis dahin innehatte. Dies geschah allerdings nicht dadurch, dass der Zeitschriftenbereich verkleinert wurde. Stattdessen wurden die übrigen Betätigungsfelder gezielt ausgebaut. Die Devise »Abhängigkeiten verringern« galt aber auch für den Jahreszeiten Verlag selbst. Das Ziel war hier, die starke Abhängigkeit vom Wohl und Wehe der Für Sie durch Stärkung der kleineren 292 Titel und die Entwicklung neuer Objekte zu verringern – auch wenn nicht jeder Schritt in diese Richtung immer zum erwünschten Ergebnis führte. Das sollte der Risikominderung dienen und insbesondere einer geringeren Abhängigkeit von den Media-Umsätzen. Diese langfristige Strategie zahlte sich vor und nach der Jahrtausendwende aus, als im gesamten Markt die Anzeigenerlöse Jahr für Jahr um bis zu 20 Prozent einbrachen und selbst Magazine wie Spiegel, stern oder Capital, die dank ihres glänzenden Anzeigengeschäfts in den neunziger Jahren »aus allen Nähten platzten«, von Magersucht befallen wurden. Manche verloren in dieser Zeit mehr als die Hälfte ihrer Anzeigenseiten. Auch der Jahreszeiten Verlag kam dabei nicht ungeschoren davon. Aber da die Abhängigkeit der Gruppe von den Media-Umsätzen deutlich verringert worden war, litt das Unternehmen, das sich mit Reisezeitschriften wie Merian, Genießer-Publikationen wie dem Feinschmecker, dem Event-Magazin Prinz, seinen Frauenzeitschriften oder den Buchverlagen und Reiseinformationsdiensten vor allem den schönen Seiten des Lebens widmet, nicht so stark unter der Anzeigenflaute wie andere Häuser. Es ruhte inzwischen auf vielen Säulen, zu denen außer Daheim nun auch der Buchversand und Hoffmann und Campe Corporate Publishing gehörten. Zeit des Ausbaus Wenn Kurt Ganske – wie sein ältester Sohn vermutet – gelegentlich von oben herunterschaut, hat er sicherlich mit Zufriedenheit beobachtet, dass sich sein Nachfolger nach dem Umbau des Hauses in den achtziger und neunziger Jahren verstärkt seinem Ausbau widmete. Das geschah zum Teil durch Wachstum von innen, indem versucht wurde, auf dem immer dichter besetzten Markt noch Lücken zu entdecken, in denen neue Zeitschriftentitel erfolgreich platziert werden konnten. Es ge293 schah aber auch durch Firmengründungen und Übernahmen von Unternehmen, die zum Gesamtdesign der Gruppe passten. Nicht jeder dieser Versuche war von Erfolg gekrönt. Anderen war nur für eine begrenzte Zeit publizistischer oder wirtschaftlicher Glanz beschieden. Zu den Flops gehörte der 1981 gestartete Menü-Service Daheim ebenso wie die Magazine unser kind und Charme. Sie trafen nicht den Geschmack der potenziellen Kundschaft. Tempo dagegen, nach twen (1959 –1971) das erste deutsche Zeitgeistmagazin, war publizistisch zunächst ein großer Erfolg und verdiente zeitweise sogar Geld. Als die 400 000 Exemplare der Startnummer 1986 am Kiosk lagen, sorgten sie mit neuer Optik und kesser Sprache in der Medienwelt für Aufsehen. Tempo erreichte bald Kultstatus. Entwickelt hatte Thomas Ganske das respektlose Blatt zusammen mit dem Österreicher Markus Peichl, den er aus Wien und vom Wiener nach Hamburg geholt hatte. Peichl und sein ebenfalls aus der Alpenrepublik stammender Art Director Lo Breier, die bereits den Wiener zusammen gemacht hatten, mixten aus eigenen Ideen und aus Zutaten, die sie bei twen ebenso wie beim New York Magazine oder in stilbildenden Szeneblättern wie den britischen und französischen Magazinen Face und Actuel fanden, einen scharfen Cocktail. Die Zeitschrift sollte den urbanen Lebensstil der jungen Generation abbilden und gleichzeitig auch mitprägen. Der Tempo-Themenbogen spannte sich von Konsum über Rebellion, Aids und Armani bis hin zu Pop und klassischer Kultur. Autoren wie Christian Kracht, Jörg Böckem, Helge Timmerberg, Marc Fischer, Michael Althen und Claudius Seidl lieferten Texte. Das KGB, wie das KolumnistenTrio Kopf, Glaser und Biller genannt wurde, sorgte für Aufregung – auch bei den Vertretern des etablierten Journalismus. Zu dem schrägen Blatt passten aufsehenerregende Events wie eine gefälschte Ausgabe des SED-Zentralorgans Neues 294 Deutschland, die 1988 kostenlos (und natürlich illegal) in OstBerlin verteilt wurde. Die Parodie des sozialistischen Parolenblattes berichtete unter anderem vom neuen »Glasklar-Kurs« Erich Honeckers, der sich damit Gorbatschows Glasnost-Politik anpassen wolle. Zwischen den Seiten des Neuen Deutschland lag eine Tempo-Ausgabe. Das war eine Werbeaktion, die sich weniger an die verdutzten ostdeutschen als vielmehr an die westdeutschen Tempo-Leser richtete, denn ein solcher Coup sorgte jenseits der Mauer für garantierte Aufregung und damit diesseits der innerdeutschen Grenze für das gewünschte Aufsehen. Die unbekümmerte Mischung von ernsthaften Inhalten mit anarchistischen Texten, praller Optik und intellektuellem Pop war ein Gebräu, an das man sich erst gewöhnen musste. Der Vorwurf, Vorreiter der Spaßgesellschaft gewesen zu sein, haftet Tempo bis heute an. Doch aufmerksame Beobachter konnten auch feststellen, dass sich die »alten Medien« nach einer Schreck sekunde den neuen Schreib- und Sehgewohnheiten vorsichtig annäherten. Beispiele dafür waren das Zeit Magazin und das Jugendmagazin jetzt der Süddeutschen Zeitung. Nachdem der Spiegel das Blatt 1996 schadenfroh beerdigt hatte, stellte spiegel online zehn Jahre später fest: »Die Tempo-Attitüde war früher im besten Sinne postmodern: U und E, Pop und Politik, Werbung und Kritik verbanden sich zum ersten Mal auch in Deutschland zum journalistisch schlüssigen Erscheinungsbild.« Trotz seiner publizistischen Erfolge musste Tempo 1996 abrupt gestoppt werden. Einbrüche im Anzeigengeschäft, aus gelöst durch das erstarkte Privatfernsehen und Konkurrenzprodukte wie Max, Coupé und den deutschen Wiener, hatten Tempo finanziell schwer angeschlagen. Bei der Suche nach Auswegen aus der Krise nahm zuletzt vor allem das Tempo, mit dem die Chefredakteure ausgewechselt wurden, gefährlich zu. Auf Peichl folgte nach drei Jahren Lucas Koch, der schon nach knapp zwei Jahren den Stift weitergab. Nach ihm versuchten Jürgen Fischer und Michael Jürgs für jeweils ein Jahr ihr Glück. 295 Schließlich hatte Walter Mayer dann noch einmal zwei Jahre Zeit, um das Blatt auf dem Weg zum Friedhof zu begleiten. Als 2006 zum 20. Gründungsjubiläum eine einmalige Sondernummer produziert wurde, war es dennoch wieder Markus Peichl, der Erfinder und erste Chefredakteur von Tempo, der das Gedenkblatt für den Jahreszeiten Verlag zur Welt bringen sollte. Und weil das nicht nur selbst ein Ereignis war, sondern solche Marktauftritte heute sorgfältig als Event inszeniert werden müssen, sollte die Wiedergeburt in Berlin mit einer spektakulären Tempo-Nacht eingeleitet werden. Damit sich alte und neue Fans passend dazu einkleiden konnten, war rechtzeitig vorher in der Hauptstadt zudem ein Laden zum Blatt eröffnet worden. Zwei Monate lang konnten dort junge Designer und etablierte Marken ihre Produkte vorstellen. Der Tempo-Shop war als »Laden auf Zeit« konzipiert, in dem die Philosophie des Blattes zu Produkten geronnen war: In Form von Turnschuhen, Schlüsselbändern, Handtaschen, Badelatschen und Unterhosen. Aber weil coole Typen bei der Wahl ihres Outfits inzwischen Denglisch talken, handelte es sich bei den trendi gen Tempo-Products selbstverständlich um Sneakers, Keychains, Flipflop Originals und Foot- oder Underwear. Allgemeinverständlich waren aber immerhin die Aufdrucke auf den T-Shirts, historische Überschriften aus zehn Jahren Tempo: »Mut zur Wut« oder »Dicke Titten sind asozial«. Gestaltet hatte den Laden die Berliner Architektin Susanne Raupach. Als Regale dienten, die Vergänglichkeit allen journalistischen Tuns symbolisierend, riesige Heftstapel, für die mangels einer ausreichenden Zahl alter Tempo-Hefte allerdings Architektur& Wohnen herhalten musste. Die Wände zierten eine Auswahl typischer Tempo-Headlines. »Ist Köln ein Gerücht?« war da wieder zu lesen oder »Scheiße, seh ich gut aus«. Die Überschrift »Arschfisch« erinnerte an Maxim Biller, der zu den frühen Autoren des Blattes gehörte und die erste seiner »100 Zeilen Hass«-Kolumnen so betitelt hatte. 296 Viel Zeitgeist, wenig Zeitgefühl Bei der Gestaltung seiner Nostalgie-Ausgabe ließ Peichl nicht nur den Zeitgeist der achtziger Jahre noch einmal aus der Flasche. Er bewies auch das gleiche Zeitgefühl wie vor 20 Jahren: Im Juli 2006 kündigte er an, das Gedenkheft werde zur Buchmesse im Oktober erscheinen. Da Tempo bei der Produktion von Tempo noch nie sein Ding gewesen war, lag das Heft zur Buchmesse natürlich noch nicht vor. Der Verlag kündigte stattdessen als Erstverkaufstag den 24. November an. Doch auch an diesem Tag war von Tempo weit und breit nichts zu entdecken. Neuer interner Termin: 4. Dezember. Vier Tage später lag das Magazin tatsächlich am Kiosk – mit 380 Seiten noch dicker als angekündigt und über 1,2 Kilo schwer. Gestandene Tempo-Leser nahmen es gelassen. Souveräne Missachtung von Erscheinungs- und Druckterminen gehörten zum Markenzeichen. Einmal musste das alte und das neue Heft sogar als Doppelnummer erscheinen. Peichl hatte auch das zum Event gemacht: Die beiden Hefte erschienen Rücken an Rücken, das Titelbild des einen als Rückseite des anderen. Kopfstehend. Der Verleger zeigte – zumindest nachträglich – Verständnis. Wenn Peichl die Maschinen anhielt, weil ihm nach Redaktionsschluss eine noch provokantere Überschrift ein- oder ein elektrisierenderes Bild aufgefallen war, »war das immer ein Gewinn für das Heft«. In der Kasse schlug sich das allerdings eher als Verlust nieder. So auch 2006, als die Produktion schließlich auf mehrere Druckereien verteilt werden musste, damit das Heft knapp vor Ende des Jubiläumsjahres überhaupt noch auf den Markt kommen konnte – dafür allerdings als eine auch in dieser Hinsicht authentische Erinnerungsnummer. Und wer geglaubt hatte, optische Schocks seien 20 Jahre nach der ersten Ausgabe nicht mehr möglich, wurde mehr oder weniger angenehm überrascht: Die Jubiläumsausgabe bot 19 abgeschnittene Penisse auf einem Haufen. Das hatte man bis dato noch nicht 297 gesehen. Sie waren zwar aus Gummi, und ein Teil der von betrogenen Ehefrauen in den vergangenen zehn Jahren gewaltsam entfernten Exemplare war den rechtmäßigen Besitzern inzwischen wieder angenäht worden. Aber die makabre Glieder sammlung zeigte ebenso wie die in zwei Schwimmbecken von olympischen Ausmaßen gefassten 5,2 Millionen Liter Blut, die zwischen 1996 und 2006 in Kriegen vergossen worden waren, was in einer Welt ohne Tempo geschieht. Von Fehlern leben Im gleichen Jahr, in dem Thomas Ganske erstmals mit Tempo auf den Markt gegangen war, hatte er auch beim Buchversand Gas gegeben. Die Gruppe war in diesem Bereich bereits mit Rhenania vertreten, an der sich schon sein Vater 1956 maß geblich beteiligt hatte. 1986 baute Thomas Ganske den Handelsbereich seiner Gruppe durch eine Beteiligung an Frölich & Kaufmann aus, einem Spezialversender für Kunstbücher und Ausstellungskataloge. Weitere Arrondierungen fanden später durch die Übernahme von Akzente, Mail:Order:Kaiser und die Gründung des Spezialversenders Vital statt. Den Kunstbuchversand hatten zwei Studenten gegründet, die in den siebziger Jahren bei Verlagen, Galerien und Buchhandlungen gejobbt und dabei eine Marktlücke entdeckt hatten: Museen boten an ihren Kassenhäuschen zwar Kataloge für Besucher an, sie konnten aber nur dort direkt erworben werden. Im Buchhandel oder auf Bestellung waren die oft aufwendig gestalteten Bände nicht erhältlich. Wer keine Zeit hatte oder nicht über das erforderliche Geld verfügte, um nach Berlin oder München zu reisen oder gar mal eben nach Paris oder New York zu jetten, dem entging der Augenschmaus auch in seiner gedruckten Form. Das ärgerte viele Kunstfreunde, weil bei großen Ausstellungen oft Bilder aus Privatbesitz gezeigt werden, die vorher und nachher den Augen Normalsterblicher 298 verborgen bleiben und nicht einmal in Kunstbänden zu finden sind. In Ausstellungskatalogen dürfen sie dagegen ohne Verletzung des Copyrights abgebildet werden. Das brachte die beiden ehemaligen Kunststudenten Gerd Frölich und Andreas Kaufmann auf die Idee, sich größere Stückzahlen dieser oft aufwendig hergestellten und mit Texten erstklassiger Fachleute versehenen Kataloge zu beschaffen und an Interessenten zu versenden. »Dazu waren die Museen selbst nicht in der Lage.« Die Kunsthallen hatten meist auch gar kein großes Interesse daran. Sie produzierten die Kataloge nicht, um sie zu verkaufen, sondern weil es dafür einen Posten im Etat gab. Und wenn sie das Geld nicht ausgaben, wurden ihnen im nächsten Jahr die Mittel gekürzt – wie überall im öffentlichen Dienst. Ob die teuren Bildbände verkauft wurden oder nicht, spielte dagegen keine große Rolle. »Wenn die Ausstellung vorbei war, wander ten die nicht verkauften, aber mit hohen Zuschüssen hergestell ten Exemplare in den Keller und verstaubten dort«, schildert Frölich die Ausgangslage. Ihre unternehmerische Idee realisierten Kaufmann und Frölich 1978 in Berlin durch die Gründung eines Spezialversands für Kunstbücher und Kataloge. Anfänglich waren die Leiter der Museen und staatlichen Galerien erstaunt, wenn die beiden ihnen 500, 1000 oder noch mehr Kataloge ab nehmen wollten. Aber sie hatten auch nichts dagegen – im Gegenteil. Es gab Museen, die von manchen Katalogen 10 000 Stück bestellt, aber nur 500 verkauft hatten. Der Rest lag im Keller und verstopfte die Regale. »Da sind wir dann manchmal hingegangen und haben nach 15 Jahren das ganze Lager ausgeräumt.« Was bei den Kunden auf Interesse stieß, kam in den monatlich aufgelegten »Katalog der Kataloge« und wurde verkauft. Die Marktlücke, die die beiden entdeckt hatten, war sogar noch größer, als sie selbst zunächst gedacht hatten. Dabei wa299 ren – und sind – viele der Kataloge nicht gerade »bedarfsgerecht«, sondern von Fachleuten für Fachleute verfasst. Sie richten sich nicht nach den Wünschen und Bedürfnissen der Besucher, die vor allem die ausgestellten Werke groß und in guter Qualität sehen wollen. Es sind Bücher für Spezialisten, denen eine beschränkte Zahl von Abbildungen reicht. Sie kennen die Künstler und ihre Werke ohnehin genauestens. Es ist ihnen wichtiger, ihre wissenschaftlichen Aufsätze zu publizieren und sich damit in Fachkreisen zu profilieren, als das breite Publikum zu anzusprechen. Es gibt nur wenige Kataloge, die eine Ausstellung aus Besuchersicht angemessen begleiten. Die beiden jungen Unternehmer nahmen sich vor, es besser zu machen. Zu einer Ausstellung über das Heilige Römische Reich Deutscher Nation produzierten sie erstmals selbst einen Katalog – und denken noch heute ohne allzu großes Vergnügen an ihren Ausflug ins Verlagswesen. Denn auf der einen Seite hatten sie es mit Druckereien zu tun, die unter ständigem Zeitdruck standen und die Abwicklung ihrer Aufträge minuziös planten; auf der anderen Seite arbeiteten sie mit Autoren zusammen, die endlos an ihren Texten feilten, selten pünktlich lieferten und wenn sie den gesetzten Text zur Korrektur bekamen, alles noch einmal gründlich umschreiben wollten. Das blieb kein Einzelfall. Durch solche und andere Probleme wurde nicht nur die Freude der beiden Jungunternehmer am Verlegerdasein arg gedämpft, sie kamen auch finanziell in Bedrängnis. »Wir beide hatten damals von betriebswirtschaftlichen Fragen wenig Ahnung und sind voll in die Falle gelaufen«, gesteht Kaufmann. Es gab kaum Eigenkapital, zunächst aber reichlich Kredite zur Finanzierung des schnellen Wachstums. »Die Banken haben es uns vorne und hinten reingesteckt.« Doch als sich zeigte, dass die beiden sich übernommen hatten, war auch bei den Kreditgebern plötzlich Schluss mit lustig. Acht Jahre nach der Gründung stand das Start-up 1986 am Abgrund. 300 Frölich und Kaufmann waren aber nicht bereit, ihre an sich richtige und erfolgreiche Geschäftsidee so schnell verloren zu geben. »Wir haben den Hörer in die Hand genommen und in der ganzen deutschen Verlagslandschaft herumtelefoniert und gefragt, ob jemand bereit sei, sich zu beteiligen oder uns zu übernehmen«, erinnert sich Frölich. Bei Hoffmann und Campe, wo sie es eigentlich gar nicht erwartet hatten, wurden sie fündig. Glück im Unglück: Thomas Ganske, der nicht nur Bücher verlegt, sondern selbst ein leidenschaftlicher Büchersammler ist, war bereits Kunde bei ihnen. Er hatte überdies schon darüber nachgedacht, ob ein solcher Spezialversand nicht gut zu seiner Gruppe passen könnte. Da lag es nahe, dass man sich geschäftlich bald einig wurde. Hoffmann und Campe gründete zusammen mit den beiden immer noch jungen Unternehmern die Frölich & Kaufmann Verlag und Versand GmbH neu. Die Arbeit konnte fortgesetzt werden. Inzwischen hat sich Frölich & Kaufmann zu Europas größtem Spezialversender für Kunstbücher und Kataloge entwickelt. Ob Interessenten sich für Werke aus den Bereichen Malerei, Fotografie, Archäologie oder Design interessieren, bei F& K haben sie gute Chancen, fündig zu werden. Es gibt kaum einen Wunsch, den die Berliner Spezialisten nicht erfüllen können. Neben Büchern bieten sie auch Grafiken, Reprints und hochwertige Drucke oder Vorzugsausgaben an. Kunstbücher sind aber nach wie vor das Kerngeschäft. Über 25 000 Titel sind im Angebot. Dazu kommen einige Hundertschaften literarischer Hörbücher und klassischer Musik zu stark reduzierten Preisen. Kenner entdecken darunter zum Beispiel Schnäppchen wie den Faksimile-Band »Horst Janssen: Un Séour Parisien« der Galerie Berggruen in Paris vom Oktober 1989. Statt für ursprünglich 298 Euro sind die Blätter bei dem Spezialversender für 148 Euro zu haben. Das komplette Buch- und Katalog-Angebot steht unter www.froelichundkaufmann.de im Internet. 301 Bitte diese Kolumne um eine Zeile erweitern. Über ausgewählte Angebote informiert regelmäßig der per Post verschickte Katalog der Kataloge. Manchmal ist bei F& K selbst dann ein Schnäppchen zu machen, wenn ein aktueller Ausstellungskatalog zum Originalpreis verkauft wird – zum Beispiel wenn er zusammen mit einer Eintrittskarte verschickt wird, die es dem Käufer erlaubt, an einer schier endlosen Schlange von Wartenden vorbei in den Kunsttempel zu gelangen. So geschehen 2005 bei der Berliner MoMa-Ausstellung. Fast 20 000 Kunden der kunstsinnigen Kaufleute nutzten dieses Angebot, um die Prunkstücke des New Yorker Museum of Modern Art während ihres Besuchs in Berlin bewundern zu können, ohne sich schon vorher die »Beine in den Bauch zu stehen«. Auch ein Vierteljahrhundert nach dem Start sind Gerd Frölich und Andreas Kaufmann noch nicht abgehoben. Die Zentrale des Unternehmens liegt versteckt in einem Berliner Altbau, der einmal ein kleines Lazarett beherbergt hat. Die Loft-Büros erinnern noch immer an die einstige Studentenfirma, aus der mittlerweile ein europäischer Marktführer geworden ist. In den hinter hohen Bücherstapeln versteckten Computern sind inzwischen aber eine Viertelmillion Kunden registriert, die regelmäßig informiert werden, selektiert nach Interessengebieten und Kaufverhalten. Wer häufig bestellt, dem flattert alle zwei Wochen das aktuelle Angebot ins Haus, wer sich lange nicht mehr gemeldet hat, bekommt den Katalog nach einer gewissen Zeit nur alle vier Wochen oder seltener. Während die unternehmerische Kreativität immer noch in Berlin beheimatet ist, sind der Versand, die Lagerhaltung, der Telefonservice und andere logistische Funktionen längst ausgelagert worden. Wer in Berlin bestellt, wird aus Falkensee in Brandenburg beliefert. Das damit beauftragte Service-Unternehmen arbeitet auch für die in Lahnstein residierenden Buchversender Rhenania, Akzente und Vital sowie für Mail:Order: 302 Kaiser, dessen Postadresse immer noch München lautet. Sie alle gehören zum Bereich Handel der Ganske-Gruppe. Mutter der Kompanie ist die 1946 in Koblenz gegründete Rhenania, deren Buchhandlung mit dem Katalog »Das billige Buch« bereits 1962 in den Versandhandel einstieg, aber erst seit 1997 als Rhenania BuchVersand GmbH ein rechtlich selbständiges Unternehmen unter dem Dach der Ganske-Gruppe ist. Daneben gab es einen Verlag für Fachzeitschriften, zu dessen Leserservice es gehörte, die Kunden mit Fachliteratur zu versorgen, die der stationäre Handel in der Regel nicht in den Regalen liegen hat. Daraus entwickelte sich schließlich der zentrale Unternehmenszweck, der Buchversand. Denn während die Fachblätter entweder verkauft oder eingestellt wurden, wuchs die Rhenania zur zweitgrößten deutschen Versandbuchhandlung heran. Dazu musste sie allerdings »vom Kopf auf die Füße gestellt« werden. Anders als in ihren Anfängen wendet sich der Rhenania BuchVersand heute nämlich nicht mehr an einen kleinen Kreis von »Fachidioten«, sondern an Leser mit einem breiten Interessenspektrum, die Wert auf Bildung und Unterhaltung legen und dabei auf günstige Preise achten. Sie finden in den Katalogen heute ebenso etwas für den Kopf wie für den Magen, nämlich kulturhistorische Werke und hochwertige Kochbücher. Dazu kommen Reiseliteratur und Zeitgeschichte oder ehemals teure Kunstbücher zu erschwinglichen Preisen. Die Spanne reicht von den großen Religionen der Welt bis zur oft bizarren Welt der Erotik. Ganz im Sinne der Aufklärung wird dabei kein Thema ausgespart, jedenfalls nicht im religiösen Bereich. Alle Weltreligionen haben ihren Platz im Angebot. Auch Atheisten finden sich darin als Autoren oder Leser wieder. Nicht nur das Kerngeschäft, sondern auch die dahinterstehende Logistik hat sich im Laufe von über vier Jahrzehnten gründlich verändert. Neben die traditionelle und von vielen Kunden immer noch gern genutzte Bestellkarte sind ähnlich 303 wie bei Frölich & Kaufmann auch bei Rhenania heute Telefon, Fax, Internet und E-Mail getreten. Rund 15 Prozent der Bestellungen gehen inzwischen online ein. Solange Downloads bei Büchern noch keine nennenswerte Rolle spielen, findet die Zustellung dagegen immer noch so statt wie schon zu Großmutters Zeiten: Post und Paketdienste bringen die Bücher wenige Tage nach der Bestellung ins Haus. Ähnliches gilt für die übrigen Versender, die heute unter dem Dach der Rhenania arbeiten. Die Mail:Order:Kaiser GmbH erwarb die Rhenania im Juni 2001 – allerdings nicht direkt aus der Hand des Gründers Hans Jürgen Kaiser, der 1966 in München mit dem Verkauf von Restbeständen von Verlagen begonnen hatte. Verkäufer war der Axel Springer Verlag, der sich seit Ende 1998 als Buchversender versucht, aber schon nach gut zwei Jahren die Lust an diesem Geschäft wieder verloren hatte. »Eine Tochter mit 19 Millionen Umsatz war für den Konzern wohl keine Perspektive«, klagte Kaiser, der durch diesen Deal nach dem Unternehmen auch noch den Job als angestellter Geschäftsführer einbüßte. Weder er noch seine 40 Mitarbeiter wurden vom neuen Eigentümer übernommen. Der war nur am Markennamen, dem Warenbestand und der Kundenliste interessiert. Über eine ausreichende Zahl qualifizierter Mitarbeiter und Expertise im Buchversandgeschäft verfügte Rhenania bereits selbst. Vom Standort München blieb nur die Postanschrift erhalten. Mit preiswerten Büchern Akzente setzen Unverändert geblieben ist die Form der Kundenansprache. Neben großflächigen Anzeigen in Zeitungen und Magazinen sind es auch bei Kaiser die Kataloge, die registrierte Kunden regelmäßig in ihren Briefkästen finden. Sie enthalten neben den Schnäppchen immer auch eine Auswahl spezieller Bücher, CDs und Videos aus dem regulären – also noch preisgebun304 denen – Buch- und Videoangebot. Den Schwerpunkt bilden jedoch Bücher und Videos aus dem Bereich des »modernen Antiquariats«, die zu stark reduzierten Preisen abgegeben werden. Sammler und Liebhaber durchforsten die Kataloge aber auch deswegen, weil sie darin oft Text- und Bildbände finden, die im stationären Handel nicht mehr erhältlich sind. Dazu kommt der internationale Versand, durch den Kunden im Ausland über Mail:Order:Kaiser fast alle beschaffbaren Bücher und Videos beziehen können. Schwerpunkte des Sortiments sind Literatur und Film. Aber auch die Liebhaber von Erotika, die ihre Wünsche oft nur ungern einer jungen Verkäuferin im Buchladen um die Ecke anvertrauen, kommen auf ihre Kosten. Akzente wurde 1995 gegründet und kam im Dezember 2000 zur Familie. Die monatlich verschickten Akzente-Kataloge wenden sich vor allem an Kunden, die sich für Geschichte, Philosophie oder Literatur interessieren, mehrheitlich den »bildungsnahen Schichten« angehören und von denen 20 Prozent einen akademischen Titel besitzen. Es sind Vielleser, die von den meist stark reduzierten Preisen profitieren wollen. Denn bei Restauflagen, dem früher sogenannten modernen Antiquariat, gilt die Buchpreisbindung nicht mehr. Leseratten können Schnäppchen machen und Bücher entdecken, die im stationä ren Buchhandel nicht so leicht oder gar nicht mehr zu finden sind. Wer nicht so lange warten will, bis der nächste Katalog kommt, kann im Zeitalter des Internets natürlich zu jeder Tages- und Nachtzeit durch das gesamte Angebot surfen. Denn Akzente schickt ebenso wie Frölich & Kaufmann, Mail:Order: Kaiser oder Rhenania nicht nur ausgewählte Angebote per Post ins Haus, sondern stellt auch das Gesamtangebot komplett ins Netz. In den Katalogen können die Versender immer nur einen aktuellen Ausschnitt aus dem Gesamtangebot zeigen. Vital ist das jüngste Mitglied im Kreis der spezialisierten Buchversender und spricht einen ähnlichen Interessentenkreis 305 an wie die gleichnamige Zeitschrift des Jahreszeiten Verlags. Der junge Versender nutzt nicht nur das Label des älteren Magazins. Man tauscht auch Adressen und Erfahrungen aus. Ein typischer Fall von Synergie also. Im Katalog und auf der Website des Spezialversenders finden Leser(innen) von der »JoghurtLüge« über den »Homöopathie Quickfinder« und »Japanisches Heilströmen« bis hin zur »Heilkunde der Hildegard von Bingen« alles, was der Gesundheit, Fitness und dem Wohlbefinden dient. Sie werden aber auch darüber informiert, »Warum Männer mauern« und was man alles mit Hilfe von Tomaten auf den Tisch zaubern kann. So unterschiedlich die Angebote der einzelnen Versender und ihre Zielgruppen auch sind, so haben sie doch viele Gemeinsamkeiten. Dazu gehört nicht nur, dass sie zusammen den zweiten Platz in ihrer Branche erobert haben. Abgesehen von Frölich & Kaufmann in Berlin, wo auch heute noch die Gründer die Geschäfte führen, haben sie ein einheitliches Management und werden seit 1999, als das Unternehmen von Koblenz ins nahe gelegene Lahnstein umzog, auch gemeinsam von dort geführt. Einen »Wasserkopf« sucht man trotzdem vergeblich. »Wir haben hier nur die Verwaltung und den Einkauf, machen das Programm und die Kataloggestaltung«, erklärt Frederik Palm, der seit 1998 als Geschäftsführer an der Spitze der Rhenania steht, warum eine Villa aus den fünfziger Jahren aus reicht, um die Führungsmannschaft und zentrale Funktionen zu beherbergen. Outsourcing lautet ansonsten die Devise. Die Datenverarbeitung, die Personalverwaltung und andere betriebswirtschaftliche Funktionen erledigt die Zentrale der Ganske-Gruppe, die später vielleicht auch Downloads von Hörbüchern und andere Internetangebote koordiniert. Die Lagerhaltung und der Buchversand obliegen dem in Falkensee bei Berlin ansässigen Dienstleistungsunternehmen, das auch für F& K tätig ist. Die Kataloge werden nur bis zur digitalen Endform im eigenen Haus gestaltet und dann online an die Dru306 ckerei übermittelt. Von dort gehen sie an einen spezialisierten Lettershop, der aus Lahnstein die aktuellen Adressenlisten erhält, natürlich ebenfalls online. Denn nicht jeder Katalog geht an alle 1,4 Millionen Adressen, die dort von Rhenania zentral verwaltet werden. Die Empfänger werden vielmehr nach ausgeklügelten Verfahren entsprechend ihren Interessen und ihrem Bestellverhalten sorgfältig selektiert, um Streuverluste zu vermeiden. Kundenselektion zählt ebenso zur hohen Kunst des Versandhandels wie die Auswahl der jeweils 280 bis 320 Bücher, CDs und sonstigen Artikel, die aus den insgesamt etwa 13 000 am Lager befindlichen Titeln für die jeweilige Katalogausga be ausgewählt werden. »Darunter sind natürlich keine Bücher, von denen wir nur noch ein oder zwei Stück auf Lager haben«, erläutert Palm. »Dafür ist der Platz im Katalog zu teuer, und wir würden auch zu viele Kunden enttäuschen, denen wir das bestellte Buch nicht liefern können.« Über das Internet kann jeder Interessent aber auch die Bücher finden, von denen nur noch ein oder zwei Exemplare vorhanden sind. Es kommt vor, dass von einzelnen Titeln 10 000 Stück und mehr auf diesem Vertriebsweg ihre Käufer finden. »Wir machen uns die Fehlkalkulationen der Verlage zunutze«, verrät Palm. An ein Buch, das sich entgegen den ursprünglichen Erwartungen als ein Renner herausstellt, knüpfen sich häufig bei weiteren Auflagen überspannte Hoffnungen. Die Verlage bleiben auf einem großen Teil der nachgedruckten Exemplare sitzen und sind dann froh, wenn ihnen die überzähligen Exem plare abgenommen werden. Oft gehen sie zu einem Zehntel des ursprünglichen Preises an einen Großhändler, der die Bücher seinerseits mit einem gewissen Aufschlag an stationäre Händler weitergibt, die sie deutlich unter dem ursprünglichen Preis im »modernen Antiquariat« oder heute auch gern als »das gute Buch zum günstigen Preis« anbieten. Versandbuchhandlungen kaufen zwar ebenfalls bei Großhändlern ein, übernehmen aber oft die gesamte Restauflage eines Verlags. 307 Sobald die bis dahin geltende Buchpreisbindung durch eine Anzeige im Börsenblatt des Deutschen Buchhandels aufgehoben wurde, kann der Titel zu einem frei kalkulierten – und damit deutlich günstigeren – Preis verkauft werden. Bei manchen Büchern wird mit den Verlagen aber von vorneherein der Druck einer Sonderausgabe vereinbart. Daneben werden Bücher zum Originalpreis verkauft, manche davon fast ausschließlich im Versandhandel. Das gilt vor allem für Bücher der Kategorie special interest. Dazu zählen beispielsweise Bildbände für Eisenbahnfreunde, die sich für spezielle Lokomotiven begeis tern. Auch das einzige Buch über Seereisen mit Frachtschiffen wird fast nur über den Rhenania BuchVersand verkauft, seit Jahren und mit großem Erfolg. Frederik Palm erklärt, warum: »Diese Bücher hat meist kein Sortimenter vorrätig. Wenn sie bestellt werden, dauert das beim stationären Handel genauso lange wie bei uns. Während sie dort aber erst noch abgeholt werden müssen, liefern wir sie direkt ins Haus.« Auch dafür, dass sich manche Bücher, die zunächst nur wenige Käufer fanden oder die im Handel einen plötzlichen Karriereknick erlebten, bei Akzente, Rhenania oder Kaiser selbst dann einen zweiten Frühling erleben können, wenn sie nicht deutlich verbilligt abgegeben werden, hat Palm eine einfache Erklärung: »Es gibt Bücher, die werden gekauft, und andere, die werden verkauft. Das Verkaufen ist unsere Stärke.« Während im stationären Buchhandel die Bücher liegen und auf ihre Entdeckung warten, kommen die Kataloge ins Haus. Sie werden von Kunden durchgeblättert, die entweder spezielle Interessen haben oder sich durch das Angebot anregen lassen. Bei Fachbüchern ist man im Internet ohnehin besser aufgehoben als in der Buchhandlung. Denn die gewünschten Titel sind am Lager, erscheinen aufs Stichwort auf dem Bildschirm, und ein Klick reicht, um sie sich ins Haus zu holen. Anders als beim Versandbuchhandel war der Versuch, beim stationären Buchhandel an die Tradition des Unternehmens 308 anzuknüpfen, nicht von Erfolg gekrönt. Aber einen Versuch schien es Thomas Ganske wohl wert. Immerhin hatte der Großvater aus einer Buchhandlung heraus seinen Lesezirkel aufgebaut, der Vater hatte in Berlin in den dreißiger Jahren ein renommiertes Bücherhaus betrieben, und die Wiege der Verlage Hoffmann und Campe sowie Gräfe und Unzer war ebenfalls eine Buchhandlung. Deshalb erschien es wie eine Besinnung auf die eigene Vergangenheit, als HoCa 1989 die in bester Lage auf der Düsseldorfer Königsallee angesiedelte Schrobs dorff’sche übernahm. Die Buchhandlung war das älteste Geschäft an der Kö. Im Innenhof des Hauses wächst ein Ginkgobaum, unter dem einst Goethe gesessen haben soll. Deshalb hatten die Schrobsdorffs ihren Laden respektvoll um den Baum herumgebaut. Zwei Jahre später wurde 1991 in der Nürnberger Altstadt das Buchhaus Campe eröffnet. Doch es zeigte sich bald, dass entweder enorme Anstrengungen unternommen werden mussten, um es mit Hugendubel, Thalia und den anderen großen Buchhandelsketten aufnehmen zu können, oder dass der stationäre Buchhandel ein kleines und teures Anhängsel der großen Verlagsgruppe bleiben würde. Thomas Ganske hielt es für besser, die Kräfte seiner Gruppe auf die Gebiete zu konzentrieren, wo sie bereits stark und kompetent war. Im Jahr 2004 wurden deshalb nach 132 Jahren bei der Schrobs dorff’schen die Bücher endgültig geschlossen und das Buchhaus Campe in Nürnberg verkauft. Kein wirklich schönes Wochenende Teurer als der Versuch, die Möglichkeiten im stationären Buchhandel auszuloten, erwies sich das Wagnis, mit neuen Ideen in den Markt der Wochenzeitungen vorzudringen. Als sich bereits abzeichnete, dass Tempo auf die Dauer nicht zu halten war, ließ sich Thomas Ganske zusammen mit seinem Chefredakteur Manfred Bissinger auf ein neues verlegerisches und jour309 nalistisches Risiko ein. Er brachte Die Woche auf den von der Zeit dominierten Markt – allerdings mit einem deutlich anderen Konzept als das der schwerfällig gewordenen Marktführerin. Die Woche war die erste durchgehend vierfarbig gedruckte Zeitung, die überdies nicht nur dadurch von der traditionellen Optik abwich, sondern mit ihrem kleineren Format auch deutlich handlicher daherkam als die Konkurrenz. Das allein hätte als publizistische Idee nicht tragen können. Wichtiger war die Zielsetzung, mit einem solchen Blatt die gewandelten Lese- und Informationsbedürfnisse besser erfüllen zu können, als es die etablierten Publikationen taten. Der Zeitpunkt erschien günstig: Mit dem Zusammenbruch des »sozialistischen Lagers« verlor auch das Blockdenken seine Basis. Die alten politischen Schemata galten nicht mehr. Das eingeübte Feindbild ging verloren. Die wirtschaftliche und politische Globalisierung hatte das Bewusstsein der meisten Zeitgenossen Anfang der neunziger Jahre noch nicht erreicht. Erkennbar war nur, dass ein neues Weltbild erst noch gefunden werden musste. Daraus schienen sich neue Bedürfnisse nach politischer Orientierung zu ergeben. Überdies hatte das wiedervereinigte Deutschland noch keine publizistische Stimme. Es gab die westdeutschen Blätter, die sich schwertaten, eine Sprache zu finden, die im Osten ankam. Und es gab die Zeitungen der ehemaligen DDR, deren Glaubwürdigkeit sogar im eigenen Verbreitungsgebiet gegen null tendierte. Es war daher kein Zufall, dass fast zur gleichen Zeit zwei Verlage auf die Idee kamen, diese Lücke mit einer neuen Wochenzeitung zu füllen, nämlich außer der Ganske-Gruppe der ebenfalls in Hamburg beheimatete Verlag Gruner+Jahr. Während Hoffmann und Campe von der Hansestadt aus versuchen wollte, den gesamtdeutschen Markt zu erobern, startete G +J die Attacke auf die etablierte und gerade neu entstehende Konkurrenz aus dem Osten heraus. Man wollte versuchen, aus der schon seit 1953 in der ehemaligen DDR erscheinenden 310 ochenpost, von der zu Honeckers Zeiten wöchentlich 1,3 Millio W nen Exemplare gedruckt worden waren, ein Blatt zu machen, das in Ost und West auf Akzeptanz stieß – was natürlich voraussetzte, dass erst einmal der ganze sozialistische Kehricht aus den Redaktionsstuben gefegt werden musste. Doch der Versuch, aus der ehemaligen SED-Postille eine gesamtdeutsche Wochenzeitung zu machen, scheiterte so gründlich, dass sich G +J schon 20 Monate nach dem Start im März 1993 wieder von dem Blatt verabschiedete. Die Auflage von rund 100 000 verkauften Exemplaren in den neuen Bundesländern, die noch dazu durch wenig einträgliche »Sonderverkäufe« aufgepeppt worden war, reichte bei weitem nicht aus; im Westen ist das aus der Konkursmasse der DDR übernommene Blatt nie auffällig geworden, weder publizistisch, gestalterisch noch hinsichtlich seiner Verkaufszahlen. Das Ziel, im Westen Deutschlands mindestens 50 000 Leser zu gewinnen, entpuppte sich rasch als utopisch. Die Woche hatte einen wesentlich besseren Start. Auch wenn der Spiegel es sich nicht verkneifen konnte, sie als »bunte BabyZeit« zu verspotten, fand ihre neue optische und inhaltliche Konzeption Anerkennung. Der Neuling im Revier konnte schon nach kurzer Zeit den zweiten Platz unter den politischen Wochenzeitungen erobern. Auch die angepeilte Leserschaft – hohe Bildung, hohes Einkommen sowie großes politisches Interesse – wurde erreicht. Unter den Abonnenten und Käufern am Kiosk waren überdurchschnittlich viele Leser mit Abitur und Studium. Auffallend viele verdienten als Manager, Anwälte, Selbständige oder Ärzte mehr als nur ihr Brot. Allerdings war die Gesamtzahl dieser neuen, politisch interessierten Leserschicht nie ausreichend, um ein Blatt wie die Woche zu tragen. Nach dem von einer intensiven PR- und Werbekampagne begleiteten Start am 18. Februar 1993 kletterte die verkaufte Auflage zwar schnell auf 130 000. Doch damit war auch schon das Ende der Fahnenstange erreicht. Es ging trotz aller 311 Anstrengungen einfach nicht mehr weiter. »Die Leserschaft, die wir erreicht haben, war hervorragend, blieb aber zu klein«, bedauert Thomas Ganske. Für ein dauerhaftes Entkommen aus der Verlustzone und ein auskömmliches Anzeigengeschäft wäre eine Auflage zwischen 200 000 und 250 000 Exemplaren erforderlich gewesen. Das erwies sich zum damaligen Zeitpunkt als unerreichbar. Zwar wurde versucht, durch redaktionelle Anstrengungen und neue Vertriebsideen, durch organisatorische Verbesserun gen und jede nur mögliche Kosteneinsparung, durch Erwerb der Abo-Kartei der Wochenpost und schließlich durch Partnersuche bei der WAZ und dem Burda Verlag das Blatt noch zu wenden. Doch es gelang nicht. »Das Defizit der Woche bewegte sich immer innerhalb eines bestimmten Rahmens, aus dem es kein Entkommen gab«, resümiert Ganske. Er musste schließlich die Notbremse ziehen. Jeder Euro, den die Woche verschlang, fehlte für Investitionen an anderer Stelle: In der elften Kalenderwoche 2002 erschien die letzte Ausgabe des Blattes. Durststrecke inklusive Thomas Ganske hatte bei seiner Wochenzeitung ebenso wie bei anderen, nach einem längeren Anlauf schließlich erfolgrei chen Zeitschriften eine längere Durststrecke von vorneherein einkalkuliert. Er war bereit, einen Anfangsverlust von 50 bis 60 Millionen D-Mark in Kauf zu nehmen. Doch nach zehn Jahren musste er einsehen, dass er und Chefredakteur Bissinger – und mit ihnen die Marktforscher – die Bedürfnisse der potenziellen Leserschaft nach Orientierung und die Breite der nach Aufklärung lechzenden Bevölkerungsschicht überschätzt hatten. »Das große Orientierungsbedürfnis hat es offenbar in diesem Ausmaß nicht gegeben«, bedauert Ganske. »Man muss im Gegenteil feststellen, dass sich ein großer Teil der Medien immer 312 Bitte diese Kolumne um eine Zeile erweitern. stärker entpolitisiert hat. Ein Fragen und Nachfragen gab es bei der Bevölkerung nicht in dem erwarteten Umfang.« Dafür, dass sich ein Blatt wie die Woche neben den bereits existierenden Medien nicht durchsetzen konnte, gibt es aber noch eine Reihe weiterer Gründe. Hermann Schmidt, der als Vertriebsleiter mit ebenso viel Herzblut dabei war wie die Redaktion, sieht angesichts der recht guten Abonnentenzahlen eine der Ursachen für das Scheitern im Einzelverkauf. »Der Markt war durch Spiegel und Zeit besetzt. Wenn wir in die Universitätsstädte gingen, wo unsere Zielgruppen besonders stark vertreten waren, lief es zunächst immer recht gut. Aber sobald wir beim Einzelhandel und den großen Zeitungsverkaufsstellen keinen Druck mehr machten, sackte alles wieder in sich zusammen.« Auch die veränderte Arbeitsteilung innerhalb der Medienbranche hat dazu beigetragen, den potenziellen Markt der Woche zu begrenzen. Da die Tageszeitungen dem Rundfunk – insbesondere in seiner bebilderten Form – sowie dem Internet und anderen neuen Medien das aktuelle Nachrichtengeschäft weitgehend überlassen mussten, veränderten sie ihr Angebot. Sie liefern ihren Lesern mit Reportagen, Hintergrundinforma tionen, investigativen Berichten, Kommentaren, Lebenshilfe und Unterhaltung immer mehr von dem Lesestoff, den bis dahin vor allem die Wochenzeitungen geboten hatten. Wer nach »Orientierung«, verständlicher Berichterstattung oder der Erklärung von Zusammenhängen sucht, fand und findet dies nicht nur in der überregionalen Tagespresse, sondern manchmal sogar in seinem Heimatblatt. Dennoch ist die Woche nicht spurlos untergegangen. Viele der Elemente, die die Woche in die neue Medienwelt eingebracht hat, lassen sich heute in Tages-, Wochen- und Sonntagszeitungen entdecken. Deshalb ist Manfred Bissinger als ehemaliger Chefredakteur und Herausgeber überzeugt, dass die Arbeit seiner Redaktion nicht vergeblich war. »Blättern Sie in 313 Provinzblättern, aber auch der Zeit, der Süddeutschen oder der FAZ – überall finden sich Spuren der Woche. Wir haben formal Zeichen gesetzt: bei der Gestaltung von Seiten, beim Umgang mit Zusatzinfos, wie man Vorspänne schreibt, Zusammenfassungen präsentiert. Insofern haben wir bis zum heutigen Tag Einfluss. Wir haben gezeigt, dass man schon im ersten Absatz zur Sache kommen kann und nicht erst in der zweiten Spalte wie bei der Zeit.« Er sieht in der modernen Presselandschaft auch viele andere Anzeichen, die ihn in der Überzeugung bestärken, dass die Woche ihr eigenes Ende überlebt hat: »Wir waren in vielen Kategorien stilbildend. Es gibt ganz bestimmte Formen, die mit der Woche eingeführt wurden und die man heute an anderen Stellen wiederfindet.« Dazu zählt Bissinger die »von uns entwickelte Themenleiste unter dem Zeitungskopf« ebenso wie die Idee, jedem Artikel eine zweite Ebene hinzuzufügen, die den Inhalt schneller erfassbar macht. Auch das farbige Leitsystem, das durch die einzelnen »Bücher« der Zeitung führt und deutlich macht, in welcher Rubrik man sich gerade befindet, zählt er zu den Elementen, die in anderen Blättern überlebt haben. Die Woche ist nach Ansicht Bissingers mit wehender Flagge untergegangen. »Wir haben redlich gekämpft, und wir haben eine gute Zeitung gemacht, die durchaus ihr Publikum gefunden hat. Für einen dauerhaften Erfolg war es aber zu klein. Uns ist es gelungen, innerhalb kurzer Zeit eine Marke zu schaffen, das Produkt Die Woche zu etablieren. Wir hatten sehr gute Journalisten, die das Blatt machten, und unsere Leser haben sich mit der Zeitung identifiziert. Ich bekomme immer noch Briefe, in denen gefragt wird, ob nicht eine Wiedergeburt möglich wäre.« Auch Verleger Thomas Ganske unterscheidet daher zwischen dem publizistischen und dem wirtschaftlichen Ergebnis der Woche. »Eine publizistische Ambition hat immer zwei Aspekte – den journalistischen Inhalt und den ökonomischen Er314 folg. Publizistisch war die Woche, solange sie erschien, ein Gewinn; wirtschaftlich war sie kein Erfolg.« Überdies weiß er, dass Fehlschläge zum Geschäft gehören. »Wenn ein Unternehmen sich über hundert Jahre lang am Markt behauptet, kann es nicht nur eine Kette von Erfolgsstorys geben. Dazu gehören immer auch Niederlagen.« Man muss sie sich aber leisten können. Und dazu, dass am Jahresende die Zahlen unter dem Strich trotz journalistischer und verlegerischer Wagnisse wie Tempo oder Woche stimmen, sollen neben Daheim, den etablierten Magazinen des Jahreszei ten Verlags oder dem Versandbuchhandel auch jüngere Töch ter wie Gräfe und Unzer, iPublish, Travel House Media, Prinz oder Hoffmann und Campe Corporate Publishing beitragen. Neuntes Kapitel ¨ ¨ Die TUren Offnen sich D ie Kulturrevolution fand an einem Wochenende statt. Wäh rend einer Klausurtagung, zu der Thomas Ganske das Spitzenmanagement seiner Unternehmen am 9. und 10. Juni 2001 geladen hatte, verkündete er, mit der Praxis des »Getrennt marschieren« sei es nun endgültig vorbei. Vom kommenden Montag an werde sich sein Haus auch nach außen in all seiner Vielfalt als Einheit darstellen und als »Ganske Verlagsgruppe« auftreten. Ihre Führung wurde einer kurz zuvor gegründeten Holdinggesellschaft, der Ganske Verlagsgruppe GmbH, übertragen, an deren Spitze ein Vorstand mit zunächst vier Mitgliedern gestellt wurde. Intern war das neue Zeitalter schon drei Jahre früher eingeläutet worden: »Die Zeit, in der die Türen zwischen den Unternehmen verschlossen waren, ist vorbei«, hatte der Verleger im August 1998 im Editorial der ersten Ausgabe einer Mitarbeiter zeitschrift mitgeteilt, die ebenfalls ein Novum war und seither zweimal jährlich erscheint. Von Stund an sollten alle Möglichkeiten der Zusammenarbeit genutzt und bisher brachliegende Synergien systematisch ausgeschöpft werden. Glasnost statt Abschottung. Das war nichts anderes als ein totaler Bruch mit der von seinem Vater über viele Jahrzehnte gepflegten Unternehmenskultur. Kurt Ganske hatte immer wieder Unternehmen gegründet und übernommen, es aber nie für notwendig gehalten, sie untereinander zu vernetzen. Alle Fäden liefen in der Zentrale zusammen, und er allein hielt sie in der Hand. Nun sollte zusammenwachsen, was zum Teil schon seit mehr als einem halben 319 Jahrhundert zusammengehörte. Das war in der Praxis zwar schon an vielen Stellen der Fall gewesen, wie Thomas Ganske den Mitarbeitern am Beispiel der »Für-Sie-Kochbücher« illustrierte, die bei dem auf die Pflege von Gaumengenüssen spezialisierten Verlag Gräfe und Unzer erschienen. Doch dass es sich dabei um eine Kooperation innerhalb des eigenen Hauses handelte, war vielen Mitarbeitern bis zu diesem Tag verborgen geblieben. Viele staunten daher nicht schlecht, als sie in ihrer neuen Mitarbeiterzeitschaft auf einer Doppelseite erstmals ein Organigramm der Gruppe entdeckten und auf der folgenden Doppelseite eine bunt bebilderte Chronik der Geschichte ihres Unternehmens fanden. »Mit dem Blick auf das Ganze zeigt sich«, schrieb ihnen der Verleger, »wie wir von beziehungslos nebeneinander agierenden Firmen zu einer Gruppe miteinander arbeitender Unternehmen geworden sind, die ihre Leistungsfähig keit und Kompetenz effizienzsteigernd nutzen.« Schon nach dem ersten Business-Meeting, das Mitte 1998 alle leitenden Mitarbeiter zusammengeführt hatte, war die interne Vernetzung und eine systematische Kommunikation der Entscheidungsträger eingeführt und energisch vorangetrieben worden. Man hatte mit dem Aufbau von Mehrjahresplanungen begonnen, eine qualitative Zielsetzung eingeführt, die Liquiditätssteu erung verbessert sowie die Personalentwicklung und Mitarbei terförderung innerhalb der Gruppe harmonisiert. Gleichzeitig wurde ein einheitlicher Marktauftritt beschlossen: Wo Ganske drin ist, sollte von Stund an auch deutlich Ganske Verlags gruppe draufstehen. Gekrönt wurden die internen Reformen drei Jahre später mit der Umsetzung einer neuen Unternehmens- und Führungsstruktur. So wie bereits bei den ersten großen Umbaumaßnahmen im Jahr 1982 wurde auch 2001 die Kulturrevolution nach einer langen Vorbereitungsphase buchstäblich über Nacht umgesetzt. Was am Wochenende mit den Chefredakteuren und Ge320 schäftsführern noch diskutiert worden war, wurde bereits am folgenden Montag praktiziert. Am gleichen Tag wurden – ganz im Sinne der neuen Offenheit und Durchsichtigkeit – nicht nur die Mitarbeiter, sondern auch alle Geschäftspartner per Mail oder Brief über die neue Konstruktion an der Spitze des Hauses informiert: Den Vorsitz des Holding-Vorstands und zugleich die Leitung der Zeitschrif tensparte sowie die gruppenübergreifende Marketing-Verantwortung übernahm Thomas Ganske selbst. Seinem langjähri gen Bevollmächtigten Karl Udo Wrede vertraute er das Ressort Treasury und die Sparte Handel an. Peter Notz, bis dahin kaufmännischer Geschäftsführer des Buchbereichs, erhielt die Zuständigkeit für das Controlling. Frank-H. Häger tauschte seine Aufgabe als Geschäftsführer von Gräfe und Unzer in München gegen einen Sitz im Hamburger Holdingvorstand ein, um die Sparten Buch und E-Medien zu betreuen, inhaltliche und programmliche Synergien zu bündeln und die Internationalisierung der Gruppe voranzutreiben. Während die Geschäftsfreunde darüber informiert wurden, dass die Unternehmensgruppe im Jahr zuvor einen konsolidierten Umsatz von 600 Millionen DM erzielt hatte und 1600 Mitarbeiter beschäftige, erfuhren diese in dem für sie bestimmten Rundschreiben, dass beim Business-Meeting am 9. und 10. Juni das von den Führungskräften der Gruppe er arbeitete Markenhandbuch verabschiedet und den Geschäftsführern, Verlagsleitern und Chefredakteuren als verbindliche Richtschnur übergeben worden sei. »Es beschreibt Positionierung und Zielgruppen unserer Marken und wird dazu beitragen, die Qualität unserer Produkte und ihres Auftritts sicherzustellen«, informierte sie der Verleger über die Bedeutung dieses Führungsinstruments. Tatsächlich handelt es sich nicht um irgendein Handbuch, das vor allem zur Zierde des Bücherregals dienen soll, sondern um die »heilige Schrift« des Hauses. Während des Business321 Meetings war jedem Spitzenmanager sein als persönlich und vertraulich gekennzeichnetes, nummeriertes Exemplar gegen Unterschrift ausgehändigt worden. »Zweck dieses ausschließlich für den internen Gebrauch bestimmten Handbuches ist es, die vereinbarten inhaltlichen und formalen Gestaltungskriterien und -begrenzungen für die Führung der jeweiligen Marken zu dokumentieren«, wird gleich zu Beginn klargestellt. Das gemeinsam mit den für die Markenführung verantwortlichen Managern entwickelte Handbuch, das neben dem Gesamtauftritt und den Führungsprinzipien der Gruppe auch für jede einzelne Marke präzise festlegt, wie sie sich gegenüber der Öffentlichkeit zu präsentieren hat, soll dazu dienen, das Profil der Gruppe zu schärfen, das angestrebte Qualitätsniveau zu erreichen und die Kompetenz der Gruppe insgesamt ebenso deutlich zu machen wie die der einzelnen Marken. Neuen Mitarbeitern, die im Verlagsmarketing tätig sind, soll das Handbuch die Einarbeitung und den Umgang mit der jeweiligen Marke erleichtern. Es enthält deshalb zu jeder Firma und zu jedem ihrer Produkte zunächst eine Markenhistorie, gefolgt von einer Darstellung des Markenkonzepts, einer Positionsbeschreibung und einer Vision. Anschließend werden die Zielgruppen, der Key-Benefit und der Markencharakter beschrieben. Dazu gehört bei Hoffmann und Campe beispielsweise, dass man sich »als liberaler Verlag versteht, der einer aufklärerischen Tradition verpflichtet ist. Bücher und Autoren, die diesem Ideal widerstreiten, werden von ihm nicht vertreten.« Bei Gräfe und Unzer dagegen heißt es an gleicher Stelle: »GU steht nicht nur für überragende ratgeberische Autorität und Zuverlässigkeit, sondern ebenso für Spaß und Genuss an selbstmotivierten Eigenaktivitäten in Alltag und Freizeit.« Auch für den Exoten im Portefeuille einer Mediengruppe, das 1982 eröffnete Hotel Hohenhaus, wird die Latte hoch gehängt. Markenkonzept und Markenkern werden so beschrieben: »Das Relais & Chateaux Hotel Hohenhaus zählt zu den 322 zehn besten Hotels in Deutschland. Das Restaurant im Hotel Hohenhaus ist mit einem Michelin- Stern und zwei Kochmützen (16 Punkte) im Gault Millau ausgezeichnet worden. Es zählt zu den führenden Feinschmeckeradressen Deutschlands und wurde vom Feinschmecker- Führer mit FFF ausgezeichnet.« Das soll der Maßstab sein, an dem es sich auch weiterhin messen lassen muss. Auf die Darstellung des Markenkonzepts folgt jeweils eine Beschreibung des Wettbewerbsumfelds und schließlich eine präzise Festlegung des Markenlogos und des sonstigen Erscheinungsbildes bis hin zu Briefbogen, Visitenkarten oder Paketaufklebern. Das alles immer nur in wenigen Sätzen, knapp und übersichtlich. Diese Richtlinien sind zwar verbindlich, sollen aber, da weder die Verlagsgruppe noch die Welt um sie herum stillsteht, nicht auf ewig wie in Stein gemeißelt sein, sondern spätestens alle fünf Jahre kritisch durchgesehen und wo nötig überarbeitet werden. Und damit kein Zweifel aufkommt, welche Bedeutung das alles hat, ist die Redaktion des Markenbuches direkt beim Verleger angesiedelt. In der Praxis ist es allerdings vor allem Vorstandsmitglied Karl Udo Wrede, der die kontinuierli che Weiterentwicklung dieses wichtigen Führungsinstruments betreut. Gemeinsam sind wir stärker Die Änderung der Führungsstruktur, die verstärkte Transparenz im Inneren und der einheitliche Auftritt nach außen waren wichtige Voraussetzungen zur Steigerung der Effizienz und zur Förderung der Kooperation zwischen den verschiedenen Bereichen der Unternehmensgruppe. Aber das waren nicht die einzigen Gründe dafür, dass Thomas Ganske sich entschloss, seinem Medienhaus auch nach außen ein Gesicht mit klarem Profil zu geben. Anders als sein Vater, der jeden öffentlichen Auftritt scheute, nie ein Interview gab, keinen 323 Grund sah, die Öffentlichkeit über seine unternehmerischen Aktivitäten zu informieren und auch für die meisten seiner Angestellten in seinen letzten Lebensjahrzehnten immer mehr der große Unbekannte wurde, sucht sein Sohn das Gespräch mit den Mitarbeitern. Er nimmt an Betriebsfesten und öffentlichen Veranstaltungen teil. Er drängt sich zwar nicht danach, scheut sich aber auch nicht, dabei selbst das Wort zu ergreifen. Mitarbeiter wissen allerdings auch davon zu berichten, dass es nicht leicht ist, von ihm die Freigabe einer Porträtaufnahme für eine PR-Broschüre, für interne Mitteilungen oder eine Buchveröffentlichung zu erreichen. Er möchte sich nicht in den Vordergrund schieben. Er hat daher auch lange darüber nachgedacht, ob es sinnvoll oder gar notwendig sei, den Familiennamen mit dem der Unternehmensgruppe zu verbinden. Doch ein Akronym, eines der heute so beliebten, aber bewusst nichtssagenden Kunstwörter, kam für ihn nicht in Frage. Er ist überzeugt, dass ein familiengeführtes Unternehmen auch gegenüber den Mitarbeitern und der Öffentlichkeit anders auftreten muss als eine anonyme Kapitalgesellschaft. Es muss sich zu seinem Familiennamen bekennen – und auch zu den Persönlichkeiten stehen, die es gegründet, weiterentwickelt und über Jahrzehnte das unternehmerische Risiko getragen haben. Es gab allerdings auch einen sehr handfesten Grund dafür, dass sich Thomas Ganske entschloss, die Gruppe von Unternehmen, die er bis dahin ebenso wie sein Vater in seinem Privatvermögen gehalten hatte, in eine Kapitalgesellschaft, die 2001 gegründete Ganske Verlagsgruppe GmbH, einzubringen und sie mit diesem Schriftlogo auch nach außen deutlich in Erscheinung treten zu lassen. Seither tritt jeder Bereich und jedes einzelne Unternehmen deutlich erkennbar als Mitglied der Gruppe auf. »Mein Vater hat große Freude an dem gehabt, was er erreicht und geschaffen hat, eine innere Freude am Gelingen. Aber es drängte ihn überhaupt nicht, das nach außen zu zeigen und ins Licht zu stellen. Es war auch nicht erforderlich«, 324 erklärt der Sohn, warum sein Vater als der »unbekannteste Verleger Deutschlands« in die Mediengeschichte einging. »Ich habe es zunächst kaum anders gemacht – so lange nicht, bis ich erkannt habe, dass eine angemessene Innen- und Außendarstellung heute einfach notwendig ist. Irgendwann wurde deutlich, dass wir bestimmte Dinge nur erreichen können, wenn wir klar sagen, wer wir sind, wo wir herkommen und was wir können.« Eine der ersten Erfahrungen dieser Art war Anfang der neunziger Jahre eine Kooperation mit Bosch bei der Entwicklung von Navigationssystemen für Pkws. Der Hintergrund war, dass in Japan Fahrzeuge im oberen Preissegment bereits mit Navigationssystemen ausgestattet waren. Sie wurden von den Kunden angesichts der schwierigen Verkehrssituation und der Orientierungsprobleme in japanischen Städten, die selbst altge dienten Taxifahrern oft größte Schwierigkeiten bereiten, begeis tert angenommen. Außer BMW konnte damals kein deutscher Anbieter einen solchen Führer durch den Großstadtdschungel bieten – mit der Folge, dass der Absatz deutscher Nobelkarossen in Japan dramatisch einbrach. Bosch Blaupunkt erhielt daher von Daimler den Auftrag, innerhalb von nur neun Monaten ein einsatzfähiges Navigationssystem zu entwickeln. »Um uns von konkurrierenden Produkten zu unterscheiden, wollten wir aber nicht nur ein System entwickeln, dass den Fahrer zuverlässig zum eingegebenen Ziel führt, sondern das Gerät mit einem Zusatznutzen versehen, erinnert sich Gottfried H. Dutiné, der seit 2002 dem Vorstand des niederländischen Phi lips-Konzerns angehört, damals aber an führender Stelle bei der Bosch GmbH an der Entwicklung beteiligt war. Der Stuttgarter Elektrokonzern verfügte zwar über die technischen Kenntnisse, brauchte aber einen Partner, der die erforderlichen Inhalte beisteuern konnte und über Kompetenz in den Bereichen Reise, Touristik und Kultur verfügte. Interessiert an diesem zukunftsträchtigen Projekt waren mehrere Unter325 nehmen, darunter auch Bertelsmann, damals der weltweit größte Medienkonzern. Vorstandschef Mark Wössner warf sogar seine guten persönlichen Beziehungen zur Führungsspitze von Bosch in die Waagschale, um seinem Unternehmen den Zuschlag zu sichern. Dass sich die Stuttgarter dennoch für die viel kleinere Hamburger Verlagsgruppe entschieden, führt Thomas Ganske darauf zurück, dass »wir unsere Kompetenz im Bereich Reisenavigation, Events, Kochen und Genießen überzeugend darstellen konnten«. Die Nordlichter konnten zeigen, dass sie es bei einer Bündelung ihrer Kräfte in diesen Bereichen durchaus mit Bertelsmann aufnehmen konnten. »Es war das erste Mal, dass wir die Verlagsgruppe und ihre Kompetenz als Ganzes dargestellt haben«, schildert Thomas Ganske diesen Wendepunkt in der Unternehmensge schichte. Schließlich hatten die Hamburger hinsichtlich der Breite ihrer Kompetenzfelder und Vertriebsmöglichkeiten auch eini ges zu bieten – insbesondere, wenn es um die schönen Seiten des Lebens geht: den raschen Zugriff auf Reisedaten, umfassende Informationen über Hotels und Restaurants, Hinweise auf Museen, Schlösser und andere Kulturdenkmäler, Tipps für Weintouristen oder Golfspieler. Und was eine gut sortierte, ständig aktualisierte Reise- und Event-Datenbank angeht, muss man sich hinter niemand verstecken. Merian verbreitet seit 1948 touristisch und kulturell relevante Reiseinformationen; der Feinschmecker lebt davon, alles über die angesagtesten Restaurants, die einfallsreichsten Köche, die komfortabelsten Hotels und besten Weingüter der Welt zu wissen. Zudem verfügt fast jedes Magazin des Jahreszeiten Verlags über eine eigene Reiseredaktion, und Prinz sammelt so emsig Event-Daten wie kaum ein anderer. Durch Kooperationen ist auch der Zugang zu großen europäischen Datenbanken im Bereich »schöner Leben« gesichert. Diese geballte Kompetenz konnte im Wettbewerb mit anderen aber nur dann angemessen herausgestellt 326 werden, wenn die Schleier fallen gelassen wurden, mit denen die Unternehmen der Gruppe jahrzehntelang mehr oder weniger dicht verhüllt waren. Aus der Zusammenarbeit mit Bosch ging das erste Navi gationssystem mit integriertem elektronischem Reiseführer hervor. »Thomas Ganske hat zu einem sehr frühen Zeitpunkt erkannt, welche Möglichkeiten sich bieten, wenn Informationsund Navigationssysteme zu einer Einheit zusammenwachsen«, lobt Gottfried H. Dutiné und unterstreicht, dass die GanskeGruppe auf diesem Gebiet Pionierarbeit geleistet hat. Er erinnert sich aber auch an die großen technischen Probleme, die Anfang der neunziger Jahre zu lösen waren. Die vorhandenen Landkarten erwiesen sich als zu ungenau. Die erforderliche Elektronik steckte in den Kinderschuhen. Die Speicherkapazitäten der Datenträger waren gering. Lösungen für eine farbige Darstellung der Karten und Zusatzinformationen mussten erst noch gefunden werden. »Aber als das Ergebnis der gemeinsamen Arbeit vorlag, waren wir der Konkurrenz um zehn Jahre voraus. Zum ersten Mal wurde die reine Navigation mit einem echten Zusatznutzen verknüpft. Das war eine echte Innovation«, betont Dutiné. Diese exklusive Kooperation mit Bosch war zwar zeitlich begrenzt, das Interesse der Ganske-Gruppe an der Weiterentwicklung hochwertiger Navigationssysteme aber nicht. Carsten Leininger, der für dieses Geschäftsfeld zuständig ist, verweist darauf, dass die umfassenden und ständig aktualisierten Datenbestände über Touristenziele im In- und Ausland, die innerhalb der Verlagsgruppe seit Jahren systematisch gesammelt werden, eine hervorragende Basis für den Aufbau von qualitativen Reiseinformationssystemen bieten, bei denen Navigation nicht nur bedeutet, auf dem kürzesten oder schnellsten Weg von A nach B zu kommen, sondern die – frei nach Goethe – nach dem Prinzip funktionieren: »Man reist nicht nur, um anzukommen.« Schließlich gibt es viele Touristen, die nicht nur 327 braun werden wollen, sondern auch etwas über die Geschichte und Kultur der Landschaften erfahren möchten, durch die sie fahren oder wandern, und die bereit sind, vom geraden Pfad abzuweichen, wenn rechts oder links davon Schlösser und Burgen oder Wunder der Natur zu bestaunen sind, ein gemüt liches Hotel oder ein exzellentes Restaurant zum Verweilen einladen. Herkömmliche Navigationssysteme hatten da wenig zu bieten. Wer die schönen Seiten des Lebens genießen will, braucht einen elektronischen Reiseführer, der ihn über alles informiert, was am Wege liegt, und den der Nutzer gezielt auf seine Hobbys oder Interessengebiete einstellen kann: Gib mir ein Signal, wenn wir in die Nähe eines Sterne-Restaurants oder Schlosshotels kommen; alarmiere mich, wenn es im Umkreis von x Kilometern ein sehenswertes Jugendstilgebäude oder einen Golfplatz gibt; zeig mir den Weg zu gotischen Kathedralen oder romanischen Basiliken. Viele möchten während der Fahrt durch den Spessart etwas über das berühmte Wirtshaus hören. Andere würden sich gern durch die Stimme eines Sprechers über die Schlacht von Valmy, den Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 oder den Frontverlauf im Ersten Weltkrieg informieren lassen, wenn sie sich bei einer Fahrt über die A 5 in Frankreich Verdun nähern. Noch besser, wenn man auch noch ak tuell erfahren kann, was da, wo man übernachtet, gerade los ist – im Theater, in der Konzerthalle oder im Museum. Wo finden in der Nähe Volksfeste oder Märkte statt? Erst durch solche Zusatzleistungen kann aus einem schlichten Navigationssystem ein kultivierter Reiseführer werden. Um solche qualitativen Systeme weiterzuentwickeln und zu vertreiben, wurden die unternehmerischen Aktivitäten der Ganske Verlagsgruppe rund um das Electronic Publishing in der im Juli 2000 gegründeten Münchner iPublish GmbH zusammengeführt. Sie soll die seit Ende der neunziger Jahre von der Unternehmensgruppe betriebene redaktionelle Erstellung 328 und Vermarktung geocodierter Reiseinformationen weiter voranbringen. iPublish ist heute Marktführer für elektronische Reiseführer, die mit Autonavigationssystemen kombiniert sind. Die Daten liefert ihnen die Merian contentbase, die Informa tionen über mehrere Hunderttausend touristisch interessante Orte in 15 europäischen Ländern enthält und ständig aktualisiert und erweitert wird. »Merian scout Reiseführer« werden auf den Navigationssystemen von Blaupunkt, Harman-Becker und Siemens -VDO eingesetzt. Auf die Inhalte der Merian-Daten bank greifen auch die Telematik-Dienste von T-Mobile Traffic und BMW Assist zurück. Darüber hinaus vermarktet iPublish die Inhalte und Marken der Ganske-Zeitschriften Merian, Feinschmecker und Prinz auf digitalem Weg. Auch die umfassenden Informationen des zur Gruppe gehörenden Buchverlags Gräfe und Unzer rund um Küche, Wein, Natur und Gesundheit können für digitale Plattformen zur Verfügung gestellt werden. Der Schwerpunkt von iPublish liegt dabei in den Themenfeldern Reisen, Lifestyle und Wellness. Das war nicht immer so. Carsten Leininger, der wie so mancher andere Geschäftsführer seine Karriere innerhalb der Ganske-Gruppe als Assistent in der Hamburger Holding begonnen hat, musste erst einmal einiges restrukturieren und abschneiden, ehe er sich auf den energischen Ausbau der Reiseinformationssysteme konzentrieren konnte. Dazu gehörte nicht nur, dass alle Kräfte in der bayerischen Landeshauptstadt gebündelt wurden, statt sie auf die zwei Standorte Hamburg und München aufzuteilen. Um sich auch inhaltlich nicht zu verzetteln, wurden alle geschäftlichen Aktivitäten abseits der touristischen Pfade nach und nach eingestellt. »Dadurch hat iPublish heute ein klares Profil als elektronisches Verlagshaus im Bereich virtueller Reiseführung und Reiseberatung«, beschreibt Leininger das Ergebnis der Fokussierung. Zwar wird noch eine umfassende Datenbank betrieben, die Leiniger nicht ohne Stolz als die größte kombinierte Reise-Event329 Datenbank Europas bezeichnet. Doch das dient nicht mehr dem Ziel, als Internet-Agentur aufzutreten, die allen Interessenten Zugriff auf ihre Inhalte gewährt. Statt anderen Rohstoff zu liefern, werden eigene Produkte entwickelt. Nachdem schon 1994 aus der Kooperation mit Bosch-Blaupunkt die erste Reiseführer-Navigations-CD für das Auto entstanden war und weitere Projekte mit verschiedenen Partnern verwirklicht wurden, erschien 2000 zur Expo der erste themenbezogene Reiseführer. Eine zweite, auf das Ereignis bezogene Navigations-CD wurde 2006 anlässlich der Fußballweltmeisterschaft in Deutschland auf den Markt gebracht. Seit November 2006 ist »Merian scout« als Mercedes-Benz-Reiseführer auf CD verfügbar, der wahlweise zu Fast Food oder Spitzengastronomie, zum Shopping oder zur Schlossbesichtigung, zu Weingütern oder Spielcasinos führt und insgesamt mehr als 36 000 detailliert beschriebene Reiseziele kennt. Ein neuer Meilenstein auf dem Weg zum selbstgesteckten Ziel wurde mit »Merian scout Navigator« erreicht, eine Weltneuheit, die 2007 als Produktinnovation in den mobilen Markt eingeführt wurde. Dieser perfekte Reisebegleiter vereint Navigation, Reiseführer und Audio-Guide erstmalig in einem integrierten Gesamtsystem aus Hard- und Software. Belohnt wurde das schon bei der ersten Vorstellung auf der CeBIT in Hannover mit dem »Innovationspreis ITK 2007« der Initiative Mittelstand. Der »Merian scout Navigator« setzte sich dabei gegen insgesamt 1200 eingereichte Produkte in der Kategorie Consumer Electronics durch. Falls die Pflege der Datenbanken, die Perfektionierung der Software und die Weiterentwicklung der erforderlichen Hardware auf Dauer nicht aus eigener Kraft finanziert werden kann, wäre Thomas Ganske sogar bereit, sich das erforderliche Kapital an der Börse zu beschaffen. Denn starkes Wachstum in einem Unternehmensbereich darf nicht durch eine Schwächung auf anderen Geschäftsfeldern erkauft werden. »Man darf sich nie gegen etwas verschließen. Wenn wir im elektro330 nischen Bereich ein neues Geschäftsfeld eröffnen und dann eines Tages feststellen, dass wir das in der erforderlichen Größenordnung trotz bester Erfolgsaussichten nicht aus eigener Kraft stemmen können, würde ich einen Börsengang nicht grundsätzlich ausschließen – aber nur für diesen Bereich, niemals für die gesamte Verlagsgruppe.« Die geheimen Millionäre Wie sinnvoll und notwendig die Entschleierung der Gruppe und der Entschluss waren, nach außen als leistungsstarke Einheit aufzutreten, zeigte sich auch, als in Hamburg beschlossen wurde, ein neues Geschäftsfeld zu erschließen. »Die Idee ist eigentlich von außen an uns herangetragen worden«, erinnert sich Peter Rensmann, der inzwischen die Geschäftsführung »Special Interest Magazine« übernommen hat, damals aber Verlagsleiter von Merian, A& W und Feinschmecker war. Siemens hatte über den Designer Peter Schmidt bei Thomas Ganske anfragen lassen, ob man sich in Hamburg vorstellen könne, für den Elektrokonzern eine neuartige Zeitschrift zu konzipieren. Siemens suchte damals Profis für die Entwicklung und Betreuung eines Magazins, das nicht in erster Linie über den Konzern und seine Produkte berichten und sich auch nicht an dessen direkte Kunden wenden sollte. »New World sollte sich vor allem mit Themen auseinandersetzen, die für die Entscheidungsträger in Wirtschaft, Verwaltung und Gesellschaft relevant waren«, beschreibt Rensmann die Intentionen der Münchner. Der Verleger hatte ihm den Auftrag gegeben den »Pitch« zu koordinieren. Tatsächlich gewannen die Newcomer 1996 diesen Wettbewerb um den Etat eines Kunden, bei dem verschiedene Anbieter ihre unterschiedlichen Konzepte, ihr Leis tungsspektrum und ihr Team vorstellen: Welche inhaltliche Kompetenz kann ein Bewerber vorweisen, welche Erfahrungen hat er bereits gesammelt, wie leistungsfähig ist er im Anzeigen331 geschäft und Vertrieb? Auf welche personellen Reserven kann er zurückgreifen? Bei der inhaltlichen und optischen Gestaltung eines solchen Magazins konnte man zwar auf einen großen Erfahrungsschatz im Zeitschriftenbereich bauen. Aber anders als Merian oder petra sollte New World gleichzeitig in fünf verschiedenen Sprachen erscheinen. Neben der deutschen gab es auch eine englische, französische, spanische und eine portugiesisch-brasilianische Ausgabe. Das stellte die Macher nicht nur vor un gewohnte logistische Probleme. Sie mussten auch bei der Themenwahl darauf achten, dass die Beiträge für Leser in Brasilien oder Großbritannien ebenso relevant waren wie für Adres saten in Deutschland. Und einen Namen musste der neue Unternehmensbereich auch haben. »Wir haben den Begriff Corporate Publishing gewählt, der dann im Markt zum Gattungsbegriff wurde«, erinnert sich Peter Rensmann – und auch daran, dass die Entwicklungsgruppe über Arbeitsmangel nicht klagen konnte. »Wir wollten das Team zunächst so klein wie möglich halten. Um die Ausschreibungen zu bearbeiten, die auf den Tisch kamen, haben wir oft die Nächte durchgearbeitet und um zwei Uhr nachts noch den Pizza-Service geholt.« Nachdem sich in der Branche herumgesprochen hatte, dass Hoffmann und Campe den Siemens-Pitch gewonnen hatte, meldeten sich bald weitere Interessenten. Dazu gehörte auch BMW. 1996 hatte der Münchner Autokonzern den Auftrag für sein Kundenmagazin, das zuvor fünf Jahre lang vom deutschen Ableger des Schweizer Großverlags Ringier betreut worden war, neu ausgeschrieben. Richard Gaul, damals für die Öffentlichkeitsarbeit von BMW verantwortlich, erkundigte sich bei Manfred Bissinger, ob die Hamburger Verlagsgruppe daran interessiert sei, sich an dem Pitch zu beteiligen, Bissinger war sogar sehr interessiert. Er sah die Chance, durch die Produktion eines anspruchsvollen Kundenmagazins 332 eine zusätzliche Finanzierungsquelle für seine Woche zu erschließen. Doch als er diese Idee mit Thomas Ganske diskutierte, kamen beide schnell zu dem Ergebnis, dass das nicht der richtige Weg sein könne. »Das Blatt wäre sehr schnell in der Öffentlichkeit als BMW-infiziert denunziert worden. Man hätte uns unterstellt, dass wir nicht mehr objektiv über die Autoindustrie berichten könnten, wenn die Woche so eng mit BMW verbandelt worden wäre.« Um dieser Gefahr aus dem Weg zu gehen, wurde beschlossen, den neuen Bereich Corporate Publishing (CP) ins Rennen zu schicken. Dafür gab es auch noch andere Gründe. Das Know-how, das bei den Premium-Magazinen im Zeitschriftenbereich gesammelt worden war, konnte beim Wettbewerb um die Publikationen großer Markenartikelhersteller in die Waagschale geworfen werden, und zwar als ein Unternehmen, das – anders als eine Agentur – im Redaktionsbereich vernetzt ist, direkten Zugang zu guten Autoren hat und überdies mit dem Hoffmann und Campe Verlag, der halbjährlich sein Programm neu erfinden muss, weitere Synergien bieten kann. Überdies hatte man als Adresse einen angesehenen Namen zu bieten. Doch dann sah es so aus, als ob das Geschäft mit BMW schon wieder vorbei sei, ehe es überhaupt begonnen hatte: Der Pitch ging an einen Wettbewerber, den alten und nun auch wieder neuen Chefredakteur der BMW-Kundenzeitschrift. Doch bei BMW musste man schon nach wenigen Monaten feststellen, dass man auf das falsche Pferd gesetzt hatte. Der Gewinner der Ausschreibung hatte mehr versprochen, als er halten konnte. Deshalb fragten die Autobauer bald erneut in Hamburg an, ob HoCa noch an dem Auftrag interessiert sei. Und diesmal ging der Pitch klar an die Mannschaft von der Alster. Nun musste alles ganz schnell gehen. Die nächste Ausgabe des bereits seit vielen Jahren mit wechselnden Titeln und Konzepten erscheinenden Kundenmagazins musste pünktlich er333 scheinen. Deshalb überraschte Thomas Ganske seinen Assistenten Kai Laakmann, den er erst sieben Wochen vorher von der Universität Münster nach Hamburg geholt hatte, an einem Freitag mit der Frage, ob er es sich vorstellen könne, nach München zu gehen, um dort eine Redaktion für das BMW Magazin aufzubauen. Bedenkzeit zwei Stunden. Der Autokonzern hatte den Auftrag mit der Auflage verbunden, dass das Redaktionsbüro in räumlicher Nähe zu seiner Zentrale in München arbeiten müsse. »Am Montag danach war ich mit meinem Koffer in München.« Es ging zunächst darum, Mitarbeiter und Räume zu finden, eine Telefonanlage und Computer zu beschaffen. Räume fand Laakmann rasch beim Gräfe und Unzer Verlag, der damals schon seit sieben Jahren zur Gruppe gehörte. Die anderen Punkte auf seiner Dringlichkeitsliste ließen sich nicht so leicht abhaken. Doch das Tempo diktierte der nächste Erscheinungstermin. Das aktuelle BMW Magazin musste zur gewohnten Zeit bei den Kunden sein. Nachdem die ersten Aufträge sicher waren, begann Peter Rensmann 1997 bei Hoffmann und Campe mit dem systematischen Aufbau des Bereichs Corporate Publishing, der sich schon bald bei einer Reihe weiterer Ausschreibungen durchsetzen konnte. Dazu gehörten unter anderem: Das RWE magazin, von dem elf Regionalausgaben erscheinen und zu dem bei Bedarf aktuelle »Spin-offs« kommen. Die WestSpiel-Gruppe umwirbt mit Casino live Menschen, die Geld ausgeben können, während sich die Deutsche Bank mit results an Manager wendet, die Geld verdienen wollen. Juwelier Wempe vertraut die Produktion seines Kundenmagazins den Hamburgern ebenso an wie die RAG, die Nachfolgegesellschaft der Ruhrkohle AG. Sie lässt das RAG Magazin für ihre Geschäftspartner und Folio für ihre Beschäftigten von Corporate Publishing betreuen. Best Practice wird für die Kunden von T-Systems maßgeschneidert, und Haspa Joker wendet sich an alle, die der Hamburger Sparkasse ihr Geld anvertrauen. Der Baukonzern Hochtief 334 nutzt concepts, um Geschäftspartnern in aller Welt die Breite seines Leistungsspektrums in Wort und Bild zu demonstrieren. Und die Münchner Autobauer schließlich waren mit ihrem Kooperationspartner offenbar so zufrieden, dass sie ihm 2001 auch die Publikation von M I N I International übertrugen, das heute in mehr als 60 Ländern gelesen wird. Mit Auflagen von teilweise über drei Millionen Exemplaren, von denen keines als Remittende zurückkommt, zählen einige dieser Blätter zu den Spitzenreitern der Zeitschriftenbranche – was allerdings kaum jemand weiß. Laute Werbekampagnen oder plakative Hinweise auf Auflage und Reichweite erübrigen sich in diesem Marktsegment. Nicht die Zahl der Abonnenten und der Verkaufserfolg am Kiosk bestimmen die Höhe der Druckauflage, sondern der Herausgeber. Er entscheidet in der Regel, welchen Kunden sie überreicht oder ins Haus gebracht wird. Manche können aber auch von zahlenden Interessenten abonniert werden. Jedes Magazin ist auf den besonderen Charakter des Unternehmens zugeschnitten, an dessen Kunden oder Mitarbeiter es sich wendet. Obwohl sie für den gleichen Auftraggeber produziert werden, unterscheiden sich auch die Konzepte für das BMW Magazin und M I N I International deutlich. Während sich die eine Publikation vor allem an Leser wendet, die an Technik interessiert sind, »Freude am Fahren« haben, Kultur schätzen und ein wenig Luxus zu genießen verstehen, ist das andere mehr ein Lifestyle-Magazin als eine Autozeitschrift. M I N I Inter national spiegelt das Lebensgefühl der Fahrerinnen und Fahrer des Kultautos, die mit der Entscheidung für dieses Fortbewegungsmittel oft auch ihre Weltanschauung zum Ausdruck bringen möchten. Jedes Heft ist einer anderen Metropole und ihren jungen Talenten gewidmet. Daher wundert sich niemand, wenn in einer Ausgabe mit dem Schwerpunktthema Hongkong nicht der Mini, sondern Musik und Mode, Designer und Sportler sowie die In-Spots der Stadt im Mittelpunkt stehen. Jedem 335 Magazin liegt zudem als Add-on eine CD mit Sounds & Pictures bei, die beispielsweise im Hongkong-Heft einen Eindruck von den Werken fernöstlicher Rapper und Filmemacher vermittelt. Ebenso wie M I N I International findet man das BMW Magazin auch an ausgewählten Verkaufsstellen. Es unterscheidet sich aber von den meisten der dort ausliegenden Magazine nicht nur dadurch, dass die große Mehrzahl der über drei Millionen gedruckten Exemplare den BMW-Kunden in aller Welt vorbehalten sind. Es dürfte auch kaum eine andere deutsche Zeitschrift geben, die so international ist. Das BMW Magazin erscheint in 33 Sprachen und erreicht Leser in 117 Ländern. Dabei weisen die verschiedenen Sprachausgaben inhaltlich in der Regel nur wenige Unterschiede auf. Die chinesische Ausgabe allerdings wird aus politischen Gründen in drei Versio nen produziert: für China Mainland, Hongkong und Taiwan. Leser in den USA oder Japan finden ebenfalls Beiträge, die die jeweiligen Besonderheiten dieser Märkte berücksichtigen. Auch bei kleineren Teilausgaben werden gelegentlich Beiträge ausgetauscht – zum Beispiel, wenn ausführlich über moderne Dieselmotoren für Pkw berichtet wird. »Ein Grieche fährt einfach keinen Diesel, das ist für ihn undenkbar. Dieselmotoren sind in seinen Augen nur etwas für Lkw und Busse«, erklärt Kai Laakmann, der gemeinsam mit Manfred Bissinger und Andreas Siefke dem Bereich Corporate Publishing als Geschäftsführer vorsteht, warum in solchen Fällen eine »Extrawurst gebraten« wird. In Exemplaren, die für die arabische Welt bestimmt sind, werden alle Bilder ausgetauscht, die dort Anstoß erregen könnten. Da reicht es schon, wenn neben den Fahrzeugen weibliche Wesen zu sehen sind, deren Arme nicht bis zum Handgelenk sittsam bedeckt sind. Die von keinem anderen Kundenmagazin übertroffene Artenvielfalt des BMW Magazins wird noch dadurch erhöht, dass es neben den über 30 Sprachausgaben auch Spezial-Editionen 336 für die Fahrer von Dienstwagen und für Entscheidungsträger in Fuhrparks gibt – getrennt nach Firmen- und Be hördenfuhrparks. »Es gibt weltweit wohl kaum eine andere Kundenzeitschrift dieses Niveaus, die so breit aufgestellt ist,« vermutet Peter Rensmann. Produziert wird diese breite Palette von einer relativ kleinen Redaktion, die allerdings auf einen großen Kreis freier Mit arbeiter zurückgreifen kann. Ebenso wie bei den anderen Unternehmenspublikationen arbeiten Text- und Bildredakteure, Creative Directors oder Layouter bei HoCa in der Regel nur für ein Magazin und nicht gemeinsam in einem großen Pool, in dem man am Morgen für das eine Blatt und am Nachmittag für ein anderes tätig ist. Die Chefredakteure und Autoren haben immer einen engen fachlichen Bezug zu ihrem Thema. Diesen Luxus leistet sich nicht jeder Verlag, der im Bereich Unternehmenszeitschriften tätig ist. »Das ist zwar etwas teurer, hat aber den enormen Vorteil, dass die Blattmacher die spezifischen Bedürfnisse des Kunden kennen und diese ihre Ansprechpartner. Sie können auf Leseranfragen besser reagieren, und vor allem haben sie eine stärkere emotionale Bindung an ein Magazin, in dessen Impressum sie als verantwortliche Gestalter ausgewiesen sind«, erläutert Andreas Siefke die Verlagspolitik. Die für Deutschland und die west- und osteuropäischen Länder bestimmten Ausgaben des BMW Magazins werden in der Bundesrepublik gedruckt, die für Australien, Asien und die USA produzierten Ausgaben dagegen werden vor Ort hergestellt. Sie per Luftfracht zu verschicken, wäre zu teuer, sie mit dem Schiff zu transportieren, zu zeitraubend. In beiden Fällen würde der Kostenvorteil konterkariert, den ein Druck der Gesamtausgabe in Deutschland hätte. Zu den Gründen dafür, dass immer mehr Unternehmen die Produktion ihrer Mitarbeiter- und Kundenzeitschriften nicht mehr ihrer PR-Abteilung überlassen, sondern Agenturen oder 337 Verlage damit beauftragen, gehört nicht nur deren größere Professionalität, ihre Erfahrung mit der inhaltlichen und optischen Gestaltung von Magazinen oder ihre Kontakte zu geeigneten Autoren. Anders als Branchenfremde verfügen Verlage auch über Kompetenz im Papiereinkauf, in der Verwaltung großer Abonnentendatenbanken und dem kostengünstigen Vertrieb von Magazinen. Sie haben zudem Erfahrung im Umgang mit Druckereien und deren Terminnöten. Bei der Ganske Verlagsgruppe kommt noch hinzu, dass sie keine eigenen gra fischen Betriebe besitzt, die ausgelastet sein wollen. Sie kann daher ebenso wie beim Druck ihrer eigenen Publikumszeitschriften und Bücher den jeweils günstigsten und besten Anbieter wählen. Eines kann ein großes Verlagshaus in jedem Fall besser als seine Kunden: Anzeigen akquirieren. Denn da, wo sich dies anbietet und der Auftraggeber es wünscht, werden die Seiten der Unternehmensmagazine auch für die Werbung von Fremdfirmen geöffnet – zum Beispiel bei results, dem Firmenkundenmagazin der Deutschen Bank, oder Casino live. Auch in den beiden Magazinen des Münchner Autokonzerns oder dem Wempe Magazin können andere Anbieter Produkte präsentieren, mit denen man sich das Leben schöner machen kann. Da die Anzeigen von einer Mannschaft vermarktet werden, die auch die Premium-Magazine im Jahreszeiten Verlag verantwor tet, können potenzielle Inserenten auch auf die Kundenzeitschriften aufmerksam machen. Und das freut die Herausgeber der Magazine: Anzeigenerlöse entlasten ihren Etat. Das kann ihnen nur ein Verlag bieten, der über eine breite Palette von Publikumszeitschriften verfügt. 338 Spielwiese für Kreative Neben der Produktion von Kunden- und Mitarbeiterzeitschrif ten bietet Hoffmann und Campe CP auch die Konzeption und Gestaltung sogenannter Corporate Books an. Das Angebot umfasst Biographien von Unternehmern, die sich und ihr Werk der Öffentlichkeit präsentieren möchten, Festschriften, Jubi läumsbücher, Imagebücher und sogenannte Reader. Das sind von Sponsoren finanzierte Bücher zu aktuellen Fragen wie beispielsweise »Made in Germany ’21«, ein Manifest für techno logische, soziale und kulturelle Erneuerung, oder »Innovatio nen«, ein Buch, in dem 16 Autoren zu erklären versuchen, wie bedeutend Innovationen für die Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft sind. Eine andere Sammlung von Beiträgen informiert interessierte Leser unter dem Titel »Das neue Mit einander« über die Bedeutung und die Möglichkeiten von Public Private Partnership. Es kann aber auch eine Sammlung von Reden sein, wie sie im Oktober 2002 von prominenten Teilnehmern bei einer Gedenkveranstaltung für die Opfer des RAF-Terrors gehalten wurden. Sie erschien zusammen mit einer Chronik dieser Zeit unter dem Titel »Freiheit und Demokratie« in Zusammenarbeit mit der Dresdner Bank. Einige dieser Bücher sind nur für einen limitierten Empfängerkreis gedacht, andere sind auch über den Buchhandel erhältlich. Eine besondere Herausforderung stellen Unternehmens chroniken dar, Festschriften zum 100. oder 250. Firmenjubiläum. Denn es ist oft nicht nur äußerst schwierig, die zur Rekonstruktion der Firmengeschichte notwendigen Daten zusammenzutragen. Man gerät auch leicht in »vermintes Gebiet«, weil persönliche Eitelkeiten berührt werden, bestimmte Personen, die früher eine wichtige Rolle spielten, inzwischen verfemt sind oder man heutzutage auf bestimmte Geschäfte nicht mehr besonders stolz ist. Die Lösung solcher Probleme wird auch nicht gerade erleichtert, wenn die Verantwortlichen im 339 Unternehmen oft erst kurz vor Toresschluss auf den Gedanken kommen, ihren Mitarbeitern, den Geschäftsfreunden und Vertretern der Öffentlichkeit pünktlich zur Jubelfeier ein repräsentatives Werk über die wechselhafte Geschichte des Unternehmens, seiner Gründer und verdienten Mitarbeiter in die Hand zu drücken. Wenn es dann mehr als eine bloße Pflicht übung sein soll, ist Kreativität gefragt. Sonst verschwindet das teure Werk meist ungelesen in Bücherschränken oder – schlimmer noch – in Mülltonnen. Damit eine Chronik nicht als bloße Pflichtübung erscheint, muss sie inhaltlich und optisch so gestaltet sein, dass sie Lust am Lesen weckt. Das ist bei herkömmlichen Jubiläumsschriften eher selten der Fall. Um aus eingefahrenen Gleisen herauszukommen, wurden anlässlich der 125-Jahr-Feier der Bundesdruckerei im Jahr 2004 neben allerlei Prominenz auch zwei Meisterklassen der Berliner Universität der Künste aufgefordert, Bildbeiträge zum zentralen Thema der Jubiläumsschrift zu liefern. Dabei sollte ein Kontrapunkt zu den Produkten und Dienstleistungen des Unternehmens gesetzt werden, das auf die Herstellung fälschungssicherer Dokumente spezialisiert ist. In einer Zeit der allgemeinen Digitalisierung, der massenhaften Erfassung von Daten bis hin zu biometrischen Merkmalen und der Entschlüsselung des Gencodes sollten sich die Autoren aus Politik, Kultur und Wirtschaft Gedanken über die »Identität im digitalen Zeitalter« machen. Die Bilder der Kunststudenten erschienen nicht nur in der Festschrift. Sie konnten auch in mehreren Galerien bewundert werden. Die erste Ausstellung wurde 2004 in Berlin vom damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder eröffnet. Einen besonders gelungenen Beweis dafür, dass Publikatio nen, die anlässlich eines Jubiläums herausgegeben werden, nicht langweilig sein müssen, lieferten die Hamburger Sparkasse und Hoffmann und Campe Corporate Publishing zum 175. Geburtstag der Haspa im Jahr 2002. Sie entschlossen sich, statt einer Selbstbespiegelung des Jubilars lieber der Hanse340 stadt und ihren Bürgern ein Geschenk zu machen. In Zusammenarbeit zwischen der Redaktion, einem 14-köpfigen Fachbeirat und vor allem mit den Bürgern der Stadt entstand so »Hamburg – das Haspa-Handbuch für alle Stadtteile der Hansestadt«. Es ist nicht nur der Geschichte der Stadt und ihrer höchst unterschiedlich geprägten Stadtteile gewidmet, sondern erzählt auch Geschichten von Frauen und Männern, die darin leben. Es schildert die regionale Kultur und Wirtschaftsstruktur, berichtet über das Freizeitangebot, die Sozialstruktur und das Wohnumfeld im jeweiligen Kiez – vom einst dänischen Altona über das elegante Blankenese und den sozialen Brennpunkt Mümmelmannsberg bis hin zum geschichtsträchtigen Zollenspieker. Begleitet wurde die Arbeit an dem Buch durch »Redaktionsstammtische« in Bürgervereinen, von der Haspa gesponserte Stadtteilfeste, Ausstellungen in den Filialen sowie eine regelmäßige Berichterstattung über den Stand der Arbeiten in den regionalen Medien. Zu den Mitarbeitern gehörten Senatsmitglieder und Schülergruppen, Ortsvereine, Profes soren und renommierte Fotografen. Der Kampf einer Bürger initiative um eine Bushaltestelle schien der Redaktion ebenso einer Schilderung wert wie der Bau der gewaltigen Festungs anlagen, mit denen die Stadt ihre Einwohner einst vor den Schrecken des Dreißigjährigen Krieges (1618 –1648) bewahren konnte. Als das Ergebnis all dieser Mühen vorlag – ein opulent ausgestattetes, 1184 Seiten starkes, vierfarbig gedrucktes Werk, dessen relativ günstiger Preis von 39,90 Euro der großzügigen finanziellen Unterstützung durch den Sponsor zu verdanken war –, erntete es in den Medien ein fast überschwängliches Lob. Noch wichtiger war, dass das Handbuch bei den Hamburgern gut ankam: Von den 50 000 gedruckten Exemplaren ging der weitaus größte Teil über den Ladentisch zu den Lesern. Das war angesichts des Preises und eines Marktes, der im Wesentlichen durch die Grenzen der Hansestadt bestimmt ist, ein 341 sensationelles Ergebnis. Von einem vergleichbaren Buch über die Bundesrepublik müssten rund 2,4 Millionen Exemplare verkauft werden, um einen ähnlich großen Erfolg zu erzielen. Manchmal ist es allerdings gar nicht erwünscht, dass ein Corporate Book viele Leser findet. So wurde »Z8« 2001 exklusiv für Käufer des gleichnamigen BMW Roadsters konzipiert. Das Begleitbuch war so einzigartig wie jedes der weitgehend von Hand gefertigten Fahrzeuge. Die Special Edition für die Erwerber des Z8 war ausgestattet mit aufwendig gestalteten Fotos des Sportwagens und seiner technischen Details. Da das Buch so exklusiv sein sollte wie das dazugehörende Automobil, wurde dessen Fahrgestellnummer auf der ersten Seite eingestanzt, ein Foto des erworbenen Fahrzeugs von Hand ein gefügt und jedes »Z8«-Exemplar in das gleiche farbige Leder gebunden, das der Kunde für die Sitze seines Wagens gewählt hatte. »Als wir uns darauf eingelassen haben, wussten wir noch nicht, was es bedeutet, rund 6000 Bücher so zu individuali sieren«, stöhnte Kai Laakmann noch Jahre später. »Wir waren sehr erleichtert, als das letzte Buch fehlerfrei ausgeliefert war.« Bei den 40 000 Exemplaren, die vom »BMW 6er« gedruckt wurden, wäre so viel Handarbeit gar nicht zu leisten gewesen. Dafür erschien der Band in 14 Varianten: in sieben Sprachen und zwei Ausstattungsformen – die eine in einem wattierten Ledereinband mit Schuber für die Käufer der Luxuskarosse und die andere in einem etwas schlichteren Gewand für die platonischen Freunde des Gran-Tourismo-Automobils, die den Bildband im Buchhandel für 69,90 Euro erwerben konnten. Die Texte über die lange Tradition dieser Fahrzeuge, die detaillierte Beschreibung des aktuellen Modells sowie die opulente Ausstattung mit Fotos und die grafische Gestaltung des Buches erfreuten nicht nur Autofans. Sie überzeugte auch sechs international besetzte Jurys, die es 2004 und 2005 mit Preisen überhäuften. 342 Für das ebenfalls mit einem Design Award ausgezeichnete, im Auftrag von RWE produzierte Buch »mensch+strom« ließ man sich eine »artgerechte Aufmachung« einfallen. Um die Faszination des Themas Elektrizität sinnlich erlebbar zu machen, wurde ein fluoreszierender Umschlag entwickelt, der das Buch im Dunkeln leuchten lässt. Gleich sieben Jurys ließen sich von der ebenfalls für RWE produzierten »Agenda Edition No. 1« zum Thema Wasser begeistern. Hier diente eine wassergefüllte Tasche, eingebettet in einen Kunststoffschwamm, als Verpackung. Corporate Books – eine Spielwiese für Kreative. Auch bei den für Bulthaupt, die Georgsmarienhütte oder für Unilever produzierten Büchern konnten die Designer ihrer Phantasie freien Lauf lassen. Gut, wenn man von Marketing keine Ahnung hat Zu den Unternehmensbereichen, die wesentlich zur Schärfung des Kompetenzprofils der Verlagsgruppe beitragen, gehören zwei, die erst während der »Regierungszeit« von Thomas Gans ke zu Familienmitgliedern wurden: das Event-Magazin Prinz und der traditionsreiche Ratgeberverlag Gräfe und Unzer. »Da sind wir immer zu zweit im Auto hingefahren, mehr als tausend Kilometer, bis Königsberg«, antwortete sein Vater, als Dieter Banzhaf ihn als Branchenkenner 1964 fragte, was er ihm über Gräfe und Unzer sagen könne. »Das war die größte und beste Buchhandlung Europas.« Sie hatte vieles von dem vorweggenommen, was erst Jahrzehnte später wieder neu entdeckt wurde: Die Bücher standen nicht unzugänglich für die Kunden in Regalen, sondern lagen auf großen Tischen. Es gab Lesezimmer für Erwachsene und für Kinder, ausgestattet mit altersgerechten Möbeln und Büchern, in denen die kleinen Besucher nach Belieben blättern konnten, erinnerte sich der Vater. »Aber was daraus geworden ist, weiß ich nicht.« 343 Das Interesse Dieter Banzhafs an Gräfe und Unzer hatte eine winzige Stellenanzeige im Börsenblatt des Deutschen Buchhandels geweckt. Gesucht wurden Vertriebsmitarbeiter. Banzhaf bewarb sich und wurde zu seiner Überraschung vom damaligen Verleger Kurt Prelinger zu einem Gespräch in dessen Münchner Büro eingeladen. Dabei musste er allerdings kleinlaut gestehen, dass er von Vertrieb und Werbung eigentlich nicht die geringste Ahnung hatte – und bekam dennoch die Stelle. 1965 wurde er mit 27 Jahren Vertriebs- und Werbeleiter. Der Verlag hatte zu der Zeit allerdings so gut wie nichts mehr mit der Buchhandlung gemein, an die sich Banzhafs Vater so gern erinnerte. Keimzelle des Gräfe und Unzer Verlags, der seit 1990 zur Ganske Verlagsgruppe gehört, war eine Bücherstube, die im Jahr 1722 auf Grund eines königlichen Privilegs im damals preußischen Königsberg von Christoph Gottfried Eckard, ei nem aus Sachsen zugewanderten Buchhändler, gegründet wurde. Die Tochter ist somit 185 Jahre älter als ihre heutige, 1907 in Kiel gegründete Mutter. Nach Jahren übertrifft der heutige Ratgeberverlag selbst die Hamburger Schwester Hoffmann und Campe deutlich, als deren Geburtsjahr 1781 gilt. Damals erschien das erste, 16 Titel umfassende Verlagsprogramm des in Hamburg ansässigen Buchhändlers Gottlob Hoffmann. Sein späterer Kompagnon und Schwiegersohn machte erst seit 1800 als Buchverleger auf sich aufmerksam. Nachdem die Buchhandlung in Königsberg bereits mehrfach den Besitzer und den Namen gewechselt hatte, wurde sie 1798 von ihrem späteren Alleininhaber August Wilhelm Unzer übernommen, der sie drei Jahrzehnte später an seinen Sohn Johann und seinen Schwiegersohn, den aus Hamburg stammenden Buchhändler Heinrich Eduard Gräfe, weitergab. Beide zusammen gaben 1832 dem Unternehmen ihre Namen – und damit das Einzige, was bis heute von der Firma erhalten geblieben ist. Schon vier Jahre später stieg der Sohn aus dem 344 Gemeinschaftsunternehmen aus. Auch die Familie Gräfe trennte sich 1878 von der Buchhandlung. Als Gräfe und Unzer 1932 in Königsberg seinen 100. Na menstag und sich selbst dabei als Europas größte und modernste Buchhandlung feierte, trug das Unternehmen zwar noch den alten Namen, hatte aber schon wieder fünfmal den Besitzer gewechselt. Bernhard Koch wiederum, der 1927 die Leitung des renommierten »Hauses der Bücher« übernommen hatte, konnte nach der fast völligen Zerstörung Königsbergs bei seiner Flucht in den Westen 1945 nur noch den Firmennamen mitnehmen. Er übernahm in Marburg eine Buchhandlung und erhielt 1947 eine Verlagslizenz, die es ihm erlaubte, unter dem Namen »Gräfe und Unzer« Bücher zu publizieren. »Als ich dorthin kam, war neben dem 1955 als weiterem Gesellschafter eingetretenen Kurt Prelinger auch der Senior aus Königsberg noch im Unternehmen tätig, das damals vor allem von seinen treuen ostpreußischen Kunden lebte, die es ebenfalls in den Westen geschafft hatten«, erinnert sich Banzhaf. Man produzierte Ostpreußenkalender, Bildbände mit Fotos aus der alten Heimat und die Werke von Dichtern, die die vergangenen Zeiten besangen. Man verkaufte nostalgische Schallplatten, Wimpel und Aschenbecher mit den Wappen von Königsberg, Breslau und Danzig oder was sonst noch an die verlorene Heimat erinnerte – »das älteste vom Alten«. Der vorwiegend mit solchem Erinnerungskitsch und den neu hinzugekommenen Bavarica erzielte Umsatz lag bei bescheidenen 800 000 Mark. Allerdings hatte Prelinger den Kurswechsel bereits eingelei tet. Als Kunstliebhaber »mit einem enormen Gespür für Farben und Formen« begann er, prachtvolle Bildbände über Venedig, Rom oder Florenz und deren Kunstschätze zu produzieren. Die mit diesem Sortiment erzielten Umsätze waren jedoch zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel. Aber dann kam Prelinger das Glück des Tüchtigen zu Hilfe. Heinz Riedel, ein Ver345 treter, der für mehrere Verlage den Norden Deutschlands bereiste, nahm auch immer ein paar Bücher von Gräfe und Unzer mit, »nicht weil er viel davon verkaufte, sondern weil er Prelinger irgendwie mochte«, erinnert sich Banzhaf. Eines schönen Tages berichtete Riedel, er habe einen Koch kennengelernt, der wirklich gut und auf dem Weg sei, ins Fernsehen zu kommen. Mit dem solle man doch mal ein Gespräch führen, ehe andere auf die Idee kämen. Der Koch war Arne Krüger. Das Gespräch kam zustande. Als Ergebnis des gemeinsamen Brainstormings entstand ein Buch, das 1964 unter dem Titel »Spezia litäten aus aller Welt« erschien. Bücher für Genießer Der Zeitpunkt hätte besser nicht sein können. Die Bundesbürger durften und wollten endlich in die große weite Welt. Sie entdeckten jenseits der Grenzen ganz neue Gaumenfreuden und wollten sie nach ihrer Rückkehr auch zu Hause genießen. Da kam so ein Buch gerade recht. »Es hatte eine tolle Aufmachung und war von Arne Krüger wunderschön gemacht«, lobt Banzhaf. Es war allerdings mit 49 Mark auch recht teuer. »Das war damals ein Wahnsinnspreis.« Es verkaufte sich dennoch erstaunlich gut und wurde so zur ersten Stufe einer Erfolgsleiter, auf der Gräfe und Unzer bis heute nach oben klettert. Kurt Prelinger, der eine Spürnase für Produkte, Trends und neue Optiken hatte, machte noch ein Kochbuch und noch eins. »Aber wir waren nur einer der kleinen unter damals wahrscheinlich mehr als dreißig Verlagen, die Kochbücher produzierten – und unter denen waren einige der ganz Großen in der Verlagsbranche«, skizziert Dieter Banzhaf die Ausgangslage. Doch die Gewichte in der Verlagsarbeit verschoben sich schrittweise. Die Ostpreußen-Nostalgica traten mehr und mehr hinter den immer zahlreicheren, farbigeren und phantasievolleren Kochbüchern zurück und wurden schließlich ganz 346 ausgemustert. Prelinger hatte zudem die Idee, ein neues Format zu entwickeln: quadratisch, praktisch, gut. Die Küchen-Rat geber, die 1975 erstmals auf den Markt kamen, wurden bald für preiswerte Paperbacks zum Standard. Sie waren handlich, erlaubten eine optimale Nutzung des Druckpapiers, und klei nere Bilder standen auf diesem Format gut, ohne mickrig zu wirken. Die Bindetechnik erlaubte es zudem, sie aufgeklappt auf den Küchentisch zu legen, ohne die Seiten mit irgendwelchen Gegenständen beschweren zu müssen. Man konnte beim Kochen jederzeit einen Blick in das ausgewählte Rezept werfen. Perfektioniert wurde dies durch die 1967 erstmals auf den Markt gebrachten, abwaschbaren Kochkarten von Arne Krüger, zu denen Christian Teubner die Fotos beisteuerte. Es war eine Innovation: Statt auf dem Küchentisch zwischen Kartoffelschalen und fettigen Töpfen nach einem Platz für ihr Kochbuch suchen zu müssen, wo es vor Spritzern aus der Pfanne und Wasserflecken geschützt war, konnte die Hausfrau nun einfach eine Karte ziehen und so ins Regal stellen, dass sie mühelos einen Blick ins Rezept werfen konnte. Abgeschaut hatte Prelinger dies bei den Japanern, die schon lange à la carte kochten. Den begabten Fotografen hatte er beim stern entdeckt. Der gezielte Einsatz der Farbfotografie und profes sionell gestaltete Aufnahmen, die die Lust am Essen und den Spaß am Kochen wecken sollten, waren Prelingers ureigener Beitrag zur Weiterentwicklung der Kochliteratur. Statt der bis dahin üblichen Routinebilder zur Illustration von Rezepten läu tete er damit die Zeit der professionellen Food-Fotografie ein. Was die Hausfrauen und die Hobbyköche begeisterte, stieß bei den Buchhändlern zunächst auf Ablehnung: Pappkarten statt sauber gebundener Bücher? So etwas zu verkaufen war unter ihrer Würde. Deshalb stand der Verlag vor einem Problem. Angesichts der geringen finanziellen Reserven konnte man es sich nicht leisten, lange auf großen Stapeln der aufwendig produzierten Karten sitzenzubleiben. Doch da Banzhaf 347 »keine Ahnung von Vertrieb und Werbung« hatte, brauchte er auch erst gar nicht aus ausgefahrenen Gleisen herauszukommen, um neue Wege zu beschreiten. Weil die Karten im traditionellen Buchhandel nur mit spitzen Fingern angefasst wurden, sah er sich nach anderen Vertriebskanälen um. Eines schönen Tages ging er mit einem Satz Karten zum nächstgelegenen Rosenthal-Studio und erkundigte sich beim Geschäftsführer, ob er sich vorstellen könnte, so etwas zu verkaufen. Der konnte sich das nicht nur vorstellen; er war begeistert. Endlich konnte er seinen Kunden neben kostbarem Porzellan auch dazu passende Ideen verkaufen, ihnen zeigen, was sie auf die Teller zaubern könnten. Bald lagen die Kochkarten in allen Rosenthal-Studios. Wenig später kamen die WMF-Filialen und der Hausrat-Fachhandel hinzu. Andere Verlage gingen ähnliche Wege. Heute ist es selbstverständlich geworden, Ratgeberbücher überall da anzubieten, wo guter Rat gefragt ist, und so auch Kunden anzusprechen, die sich scheuen, ihren Fuß über die Schwelle des Kulturtempels Buchhandlung zu setzen. Damals galt es als Sakrileg. Ein solcher Verstoß gegen die guten Sitten im Buchhandel trieb zwar die Traditionalisten der Branche auf alle verfügba ren Palmen. Doch als sich herausstellte, dass die Karten-Sets reißenden Absatz fanden, verdrängte schließlich der gesunde Geschäftssinn den säuerlichen Kulturpessimismus. Die nach Themenbereichen zusammengestellten Sets mit jeweils 16 Karten erschienen schon bald mit Erstauflagen von 50 000 Stück. Insgesamt wurden im Laufe der Jahre sieben Millionen Päckchen verkauft. Zeitweise erzielte GU 70 Prozent seines Umsatzes mit den handlichen Rezeptträgern. Nachdem sich der zweite Vertriebsweg etabliert hatte, entwickelte sich bald eine Faustformel: Von den GU-Kochbüchern gingen 60 Prozent an den Buchhandel, 40 Prozent wurden über andere Vertriebs kanäle abgesetzt. Um sich nicht auf Dauer dem Zorn der Sor timenter auszusetzen, wurde 1968 für den Vertrieb von Kü348 chenratgebern, Feinschmeckerbibeln und Weinbüchern im »nichtbuchhändlerischen Fachhandel« der Banzhaf Verlag gegründet, mit dem der Namensgeber 1968 zugleich als Mitgesellschafter in den Gräfe und Unzer Verlag eintrat. Hausverbot für den Frevler Dass sich auch die Traditionskompanie des Buchhandels schließ lich mit dem damals heftig umstrittenen Tandem-System im Vertrieb abfand, lag nicht zuletzt daran, dass Gräfe und Unzer ihnen immer wieder Best- und vor allem Dauerseller bescherte. Zu den Büchern, die selten oder nie auf Hitlisten erscheinen, sich aber über viele Jahre gut verkaufen, gehörte Ulrich Klevers »Kalorien-Kompass«, mit dem der Verlag schon Mitte der siebziger Jahre auf das zunehmende Körper- und Gesundheitsbewusstsein reagierte. Über zwei Millionen Exemplare wurden im Laufe der Jahre verkauft. Als »GU Nährwert Kalorien Tabelle« ist das Thema bis heute im Programm. Zwischen 1996 und 2006 gingen mehr als 800 000 davon über den Ladentisch. 1973 ließ sich der Verlag dann abermals auf ein Geschäft ein, das für ihn äußerst lukrativ, in den Augen der Sortimenter hingegen ein unerhörter Frevel war und dazu führte, dass allein die Nennung des Namens Banzhaf bei manchem Buchhändler cholerische Anfälle auslöste. Dabei hatte alles ganz harmlos damit begonnen, dass der Vertriebschef eines schönen Tages einen Zettel mit der handschriftlichen Notiz auf seinem Schreibtisch fand, er möge doch einen Herrn Seekamp in Hamburg anrufen. Der wolle 800 Bücher kaufen. Was ihn ein paar Jahre früher dazu veranlasst hätte, sofort erfreut zum Hörer zu greifen, war Mitte der siebziger Jahre kein Anlass mehr, alles andere stehen und liegen zu lassen. Banzhaf reagierte daher recht gelassen, als das Telefon erneut klingelte und besagter Herr Seekamp sich etwas hek349 tisch bei ihm erkundigte, ob er bereits einen Flug nach Hamburg gebucht habe und wann er mit ihm rechnen könne. Da eine Flugreise damals noch nicht alltäglich war und die Kosten eines Flugscheins überdies in keinem Verhältnis zu dem zu erwartenden Geschäft standen, fragte Banzhaf, ob so viel Aufwand für den Verkauf von 800 Büchern nicht etwas übertrieben sei? »Was heißt hier achthundert?«, kam die bis heute ins Gedächtnis von Banzhaf eingebrannte Gegenfrage. »Es geht um achthunderttausend!« Wie sich herausstellte, arbeitete Herr Seekamp beim Kaffeeröster Tchibo und erwartete umgehend ein Angebot. Objekt seiner Begierde war der erfolgreiche Küchenratgeber »Kochen heute« des Autorenteams Arne Krüger und Annette Wolter, der 1972 auf den Markt gekommen war. Tchibo plante, den Band, der neue Maßstäbe für moderne Kochbücher setzte, in den Wochen vor Weihnachten im Rahmen einer für die damalige Zeit unerhörten Aktion im Paket mit zwei Päckchen »Gold Mocca« für 15,95 Mark zu verkaufen. Der Ladenpreis des Kaffees allein belief sich schon auf 7,90 Mark, so dass die Tchibo-Kunden für die Sonderausgabe gerade einmal 8,05 Mark berappen mussten. Auch addiert war das weniger als ein Drittel des Preises von 55 Mark, der für das Standardwerk im Buchhandel gezahlt werden musste – und Kaffee brauchten die Leute ja ohnehin. Allerdings mussten die Tchibo-Kunden nach einiger Zeit feststellen, dass die Qualität der in den Niederlanden gedruckten und gebundenen Sonderausgabe zu wünschen übrig ließ: Unter dem Einfluss der Küchendämpfe löste sich die Klebebindung, und die Buchseiten verwandelten sich in fliegende Blätter. Kochkarten der anderen Art. Die Kaffeeröster hatten sich schon mit einer Reihe ähnli cher Aktionen in der gesamten Einzelhandelsbranche unbeliebt gemacht. Aber in der vorgesehenen Größenordnung war das Koppelgeschäft Buch plus Bohne selbst für Tchibo ein dicker Brocken und ein neuer, schwerer Schlag der Hamburger 350 Störenfriede gegen etablierte Handelsstrukturen. Und erstmals wurde der Buchhandel mit voller Wucht getroffen. Auch auf Prelinger und Banzhaf wirkte das Angebot wie ein Donnerschlag. Der Jahresumsatz des Verlags lag damals bei knapp vier Millionen Mark. Durch eine Zusammenarbeit mit den Hamburgern würde er sich mit einem Schlag verdoppeln. Prelinger sah die Chance, mit Hilfe des zu erwartenden Gewinns die hohen Kredite rasch tilgen zu können, die er auf genommen hatte, um die Familie seines 1970 bei einem Autounfall ums Leben gekommenen Partners Bernhard Koch auszuzahlen. Aber er und Banzhaf wussten auch, dass die Produktion einer so hohen Auflage in kurzer Zeit alles andere als ein Kinderspiel war. Vor allem aber ahnten sie, dass ihre ohnehin brüchige Freundschaft zu den Buchhändlern vor einer neuen, schweren Belastungsprobe stand. Kochkarten statt Bücher? Das hatte man ihnen schließlich verziehen. Bücher in Porzellangeschäften, Tierhandlungen und Apotheken oder neben Anglerbedarf? Damit konnten sich viele Buchhändler immer noch nicht abfinden. Und nun einer ihrer Bestseller als billiger Köder in einem Kaffeeladen! Dennoch gingen die beiden nach kurzem Zögern auf das Angebot ein. Das Geschäft war zu gut, um es kurzsichtigem Zunftdenken zu opfern. Obwohl sie ahnten, was auf sie zu kommen könnte, wurden sie gleich mehrfach überrascht: Das Kombiangebot Buch und Kaffee zum Jubelpreis löste einen solchen Ansturm auf die Tchibo-Filialen aus, dass die Sonder ausgabe nach sechs Wochen ausverkauft war. Rasch für Nachschub zu sorgen, wie Tchibo es gewünscht hätte, war mit der damaligen Druck- und Verpackungstechnik nicht möglich. Aus zwei so unterschiedlichen Produkten und einem speziell dafür gefertigten Karton ein »Bundle« zu machen, darin hatte man seinerzeit keine Routine. Dennoch war das Geschäft damit noch lange nicht beendet. Trotz des Sensationserfolgs brach der Verkauf der regulären Ausgabe von »Kochen heute« 351 im Buchhandel nämlich keineswegs zusammen. Das Gegenteil war der Fall: Interessenten, die keines der billigen Exemplare mehr ergattert hatten, fragten im Buchhandel nach dem Titel. »Weil das Buch bei Tchibo so schnell ausverkauft war, haben wir es für den Buchhandel nachgedruckt. Im Anschluss an die Aktion wurden noch Hunderttausende verkauft.« Es dauerte allerdings einige Zeit, bis auch die Buchhändler das erkannten, und selbst da beruhigten sie sich nicht so schnell wieder. Viele reagierten derart aggressiv, wie es selbst die inzwischen sturmerprobte Münchner Mannschaft noch nicht erlebt hatte. Statt bloß zu murren, tobten sie diesmal. Konkurrenzverlage gossen mit Freude Öl ins Feuer. Auch ein Teil der Presse zog über die Frevler her, die des schnöden Mammons wegen Kultur zur Aktionsware degradiert und an den Pöbel verramscht hätten. Die Zeit sah schon den »Tchibuchhandel« kommen, in dem Büchern passend zum Inhalt Schinken oder Quark beigepackt werde. Der Sturm war so gewaltig, dass Prelinger sogar im Umgang mit der deutschen Sprache un sicher wurde und »auf den Knien seines Herzens« schwor, Der artiges nie wieder zu tun. Einige Buchhändler kündigten dennoch »fristlos jeden weiteren Geschäftsverkehr« mit den Münchner Tempelschändern, die »dem Buchhandel unabsehbaren Schaden zugefügt« hätten. Andere erteilten Banzhaf ein lebenslanges Hausverbot. Manche haben es bis heute nicht aufgehoben – allerdings ohne sich noch daran zu erinnern, wie der Geächtete vermutet. Doch als Banzhaf auf dem Höhepunkt der Tchibo-Affäre zu einer Goodwill-Tour durch die Bundesrepublik aufbrach, flog er tatsächlich aus mancher Bücherstube postwendend wieder hinaus, sobald er seinen Namen genannt hatte. Einige Sortimenter nahmen den Tchibuchhandel zwar mit Humor und verkauften ihrerseits Kaffee zu Schleuderpreisen, doch für die große Mehrzahl blieb GU ein rotes Tuch. Bodo Harenberg, Herausgeber des Buchreport und viele Jahre lang selbst ein En352 fant terrible der Branche, der um ausgefallene PR-Aktionen nie verlegen war, riet Kurt Prelinger angesichts des Sturms im Wasserglas: »Schließen Sie Ihren Verlag. Verkaufen können Sie ihn nicht mehr« – eine Vermutung, die Jahre später durch den Übergang an Thomas Ganske eindeutig widerlegt wurde. Auch sonst wurde nichts so heiß gegessen, wie es in der Aufregung gekocht worden war. Die heute kaum noch verständliche Erregung legte sich schließlich wieder. Der Buchhandel verstand, dass ein erfolgreicher Verlag mit einem ideenreichen Programm auch ihm das Geschäft erleichterte. »Das Sortiment konnte in den Ratgeberbereichen Kochen, Natur und Gesundheit ohne uns fast nicht mehr auskommen«, stellte Prelinger später selbstbewusst fest. Der Tchibo-Deal hatte dem Verlag so viel Kapital ins Haus gebracht, dass er sein Programm auf diesen Feldern forciert ausbauen konnte. Das klar gesteckte Ziel dabei: »Gräfe und Unzer will Wissen in Nutzen verwandeln.« Im Rückblick sprachen Experten später vom »Urknall des Kochbuchmarktes«, wenn sie sich an die Tchibo-Affäre erinnerten. »In Wirklichkeit wirkte das ›Tchibo-Kochbuch‹ wie eine Initialzündung, die den größten Kochbuch-Boom auslöste, den man sich vorstellen konnte«, schrieb Hans-Jürgen Schmidt, damals beim Kaufhof für den Zentraleinkauf Bücher zuständig, 1989 im BuchMarkt und fragte: »Welcher Sortimenter ist heute so ehrlich und dankt Gräfe und Unzer für seine mutige Tat?« Der Verlag trug aber nicht nur zu einem Umdenken in der Branche bei. Er strukturierte auch das eigene Programm immer wieder neu und überdachte die innere Verfassung des Hauses. Die bereits seit 1933 bestehende Erfolgsbeteiligung aller Mitarbeiter war 1966 wieder aufgenommen worden und gilt – mit zeitgemäßen Variationen – bis heute. Kurt Prelingers humanistischer Einstellung entsprach es zudem, jedem Menschen die Entfaltung seiner Fähigkeiten zu ermöglichen. Das wirkte sich nicht nur auf das Programm aus, sondern prägte auch das Verhältnis zwischen der Verlagsleitung und den Mit353 arbeitern, führte zu entsprechenden Möglichkeiten der Ausund Weiterbildung und zu einer flexiblen Arbeitszeitgestaltung, die den Beschäftigten große Möglichkeiten gibt, private und berufliche Verpflichtungen unter einen Hut zu bringen. Um der gemeinsamen Arbeit klare Ziele zu geben, unterzog Prelinger sich und den gesamten Verlag 1987 zudem einer radikalen Selbstanalyse, bei der »kein Stein auf dem anderen blieb«. Es wurden Leitsätze formuliert, auf deren Grundlage bis heute die persönlichen Zielsetzungen mit den Führungskräften des Verlags erarbeitet werden. Zu den inhaltlichen Konsequenzen gehörte, dass sich Gräfe und Unzer klar als Ratgeberverlag definierte, der seine Publikationen ausschließlich auf der Basis eigener Konzeptionen erarbeitet und gestaltet. Das bedeutet unter anderem, dass der Verlag zwar Lizenzen ins Ausland oder an Buchgemeinschaften und andere Zweit- und Drittverwerter verkauft, selbst aber nur in seltenen Ausnahmefällen Lizenzen erwirbt. Dahinter steht die 1987 beschlossene und bei einer weiteren »selbsttherapeutischen Aktion« 1993 bestätigte Strategie, die GU-Ratgeber als Markenartikel zu positionieren, authentisch und unverwechselbar. Das ist nicht möglich, wenn man nachdruckt, was andere entwickelt haben. Die starke Identifizierung der Mitarbeiter mit »ihrem Verlag« und ihre hohe Motivation, die jeder spürt, der sich bei Gräfe und Unzer in München umsieht, hat in dieser über viele Jahre gewachsenen Unternehmenskultur ihre Wurzeln. »Gräfe und Unzer kann nur dann gut sein, wenn die Mitarbeiter aus eigener Motivation heraus ihre Leistung erbringen«, fasst Urban Meister, seit Anfang 2003 einer der drei Geschäftsführer des Verlags, zusammen. Deshalb war es für die Mitarbeiter ein Schock, als sie 1990 erfuhren, dass ein Besitzerwechsel bevorstand. Weil Kurt Prelinger dem Grundsatz huldigte, man solle »aufhören, wenn es am schönsten ist« und es seiner Lebensplanung entsprach, das hektische Managerdasein nicht bis zum Pensionsalter zu füh354 ren, hatte er sich frühzeitig nach einem möglichen Nachfolger umgesehen. Deshalb entschloss sich Prelinger, den Verlag, der damals bereits einen Jahresumsatz von 35 Millionen Mark erzielte, als Ganzes zu verkaufen – nicht an eine große Buchfa brik, sondern an ein eigentümergeführtes Unternehmen. Nach Gesprächen mit vielen in- und ausländischen Interessenten kam Prelinger zu der Ansicht, dass Thomas Ganske und seine Verlagsgruppe seinen Vorstellungen am besten entsprachen. Auch Dieter Banzhaf verkaufte die ihm gehörenden Anteile 1990 an die Hamburger Gruppe. Erfolg an der langen Leine Viele in München fürchteten, dass ein radikaler Wechsel der Geschäftspolitik bevorstünde; andere vermuteten, dass der Verlag nach Hamburg umgesiedelt und zu einer Abteilung von Hoffmann und Campe degradiert werden würde. Solche und ähnliche Gerüchte machten damals die Runde – und keines davon stimmte die Mitarbeiter besonders glücklich. »Die waren geschockt«, weiß Frank-H. Häger, der seine Karriere 1991 bei der Ganske Verlagsgruppe als Geschäftsführer und Programmchef von Gräfe und Unzer begann. »Da gab es anfangs heftige Ressentiments gegen Hamburg. Das waren Männer in dunklen Anzügen und mit schwarzen Aktenköfferchen, die möglichst viel Profit machen wollten. In München war man stolz auf die eigene Unternehmenskultur und hatte Angst, dass sie einer anderen weichen müsste.« Das hat auch Peter Notz in ganz ähnlicher Form erlebt, der 1992 als Geschäftsführer, zuständig für den kaufmännischen Bereich, zu dem Münchner Ratgeberverlag kam. »Thomas Ganske ist es aber sehr gut gelungen, ihnen diese Ängste zu nehmen und die Kultur, die sich dort entwickelt und auch zu wirtschaftlichem Erfolg geführt hat, zu bewahren und nicht durch andere – vielleicht nur vermeintliche – Erfolgsrezepte zu ersetzen.« 355 Die vielleicht wichtigste vertrauensbildende Maßnahme bestand darin, dass Dieter Banzhaf nach der Übernahme weiter Geschäftsführer blieb, zusammen mit Frank-H. Häger und Peter Notz, aber als Sprecher der Geschäftsleitung ein Primus inter pares. Obwohl Banzhaf, ähnlich wie zuvor Prelinger, 1997 auf eigenen Wunsch ausschied, weil er nach mehr als 30 Managerjahren nicht mehr länger »ein Leben führen wollte, dessen Rhythmus vom Terminkalender diktiert wird«, hielt Thomas Ganske auch danach am Prinzip der langen Leine fest. Zu dieser Zeit erwirtschafteten 112 Mitarbeiter einen Umsatz von gut 90 Millionen Mark. Die lange Leine galt allerdings nicht für den betriebswirtschaftlichen Bereich. Hier wurden überall in der Gruppe einheitliche Standards gesetzt: Bei der Datenverarbeitung, im Controlling und im Rechnungswesen. Neu war auch, dass der Verlag nun Anzeigen in Publikumszeitschriften schalten konn te. »Wir haben vom Jahreszeiten Verlag sehr günstige Kondi tionen bekommen«, erinnert sich Notz. »Das war so eine Art Investition in den neu erworbenen Ratgeberverlag und hat zum Erfolg vieler Bücher beigetragen.« Trotz dieses sanften Einstiegs hat sich seit der Eingliederung von Gräfe und Unzer in die Verlagsgruppe auch die Programmphilosophie verändert, denn der Tradition der »Häutungen«, denen sich der Verlag immer wieder unterzogen hatte, blieb er auch nach dem Eigentümerwechsel treu. Der Vertrieb über Apotheken, den Zoofachhandel, Haushaltswarengeschäf te oder Supermärkte spielt mit einem Anteil von 25 Prozent zwar immer noch eine bedeutende Rolle. Doch die strategische Ausrichtung an Zielgruppen wurde immer wichtiger. »Wir haben den vertriebsorientierten Geschäftsfeldmix in den Dienst des Gedankens gestellt, Leser und Käufer mit ihren Zielgruppenbedürfnissen in den Mittelpunkt der Verlagsausrichtung zu stellen und nicht Vertriebskanalbedürfnisse«, erklärt Georg Kessler, der als Sprecher der Geschäftsleitung gleichzeitig für 356 das Programm zuständig ist. »Aus den Stammkompetenzen der Vergangenheit entwickeln wir in engem Kontakt mit den Zielgruppen und ihren Bedürfnissen die Programmstrategie. Wir wollen das Erbe in Ehren halten, es aber in einen Jungbrunnen stecken.« Das gilt sowohl für die Firmenmarke GU als auch für die beiden Produktmarken Teubner und Hallwag. Aus den drei großen Kompetenzbereichen Essen und Trinken, Haus und Garten, Natur und Heimtier wurden seither Kochen & Verwöhnen, Haus & Garten, Körper & Seele sowie Partnerschaft & Familie. Ergänzt wurden diese klassischen Betätigungsfelder durch Leben & Lernen. Das Angebot im Er lebnisfeld Leben & Lernen reicht von A wie »Anti-BlamierKnigge« über D wie »Dating« und R wie »Rhetorik« bis Z wie »Zeitmanagement« und bietet im Gesamtverzeichnis 2006/07 50 Titel für Menschen, die durch eigenständiges Lernen im privaten oder beruflichen Leben weiterkommen wollen. Im familiären Erlebnisfeld spannt sich der Themenbogen von »ADS – So fördern Sie Ihr Kind« über Bach-Blüten, Homöopathie, Kinderkrankheiten, Kinderwunsch und dem »Papa-Handbuch« bis hin zu Yoga für Kinder und spart auch die erotische Partnermassage und allerlei andere Wege zur sexuellen Erfüllung nicht aus. Im sogenannten Sinusmodell der Marketing-Experten, das die verschiedenen gesellschaftlichen Milieus zu beschreiben versucht, konzentriert sich Gräfe und Unzer heute auf die »bürgerliche Mitte« als Kernzielgruppe mit den »modernen Performern« und den »Postmateriellen« als Leitzielgruppen. Die Verlage Teubner und Hallwag dagegen bewegen sich mit ihrem Angebot vor allem im Establishment, in eher konservativen und mit überdurchschnittlicher Kaufkraft ausgestatteten Kreisen. Dabei soll »Teubner« für höchste Kompetenz in den Bereichen Warenkunde, Küchenpraxis und Rezepte stehen und mit den aufwendig gestalteten Bänden ambitionierte Hobbyköche ebenso ansprechen wie den Maître de Cuisine. Titel wie »Food. 357 Die ganze Welt der Lebensmittel« oder »Die große Teubner Küchenpraxis« illustrieren, wie sich das im Programm spiegelt. Dass es sich dabei nicht nur im Wort, sondern auch im Bild um »kulinarische Meisterwerke« handeln soll, versteht sich eigentlich von selbst. Schließlich verdankt der Verlag seinen Namen dem Fotografen Christian Teubner, der in der Bildgestaltung rund um Speis und Trank Maßstäbe gesetzt und schließlich 1979 seinen eigenen Verlag gegründet hatte. Von Anfang an gab es aber eine große Nähe, und seit 2001 sitzt Teubner ganz unter dem breiten Münchner Dach. Bei Weinfreunden gilt die Marke »Hallwag«, die ebenfalls seit 2001 komplett zu Gräfe und Unzer gehört, heute als die Nummer eins. Das sehen auch Marktforscher so, die sich selbst bei Weinbüchern nicht an deren Inhalt und Ästhetik berauschen, sondern allein von nüchternen Daten beeindrucken lassen: Mit einem Marktanteil von über 50 Prozent erreicht Hallwag die absolute Mehrheit der lesenden Weinfreunde. Das deutet darauf hin, dass der Verlag im Urteil der Kunden seinem selbstgesteckten Ziel recht nahe ist: für jedes Weinthema das weltweit beste Buch zu publizieren. Dabei kommen Weinkenner im Programm ebenso auf ihre Kosten wie Novizen, die sich ihr Know-how erst noch anlesen und antrinken wollen. Während für die einen »Der große Johnson« zur Pflichtlektüre gehört, greifen die anderen vielleicht erst einmal zur »Hallwag Weinschule«. Für große Weinfreunde mit kleinem Geldbeutel gibt es seit 1998 alle Jahre wieder »Die besten Weine unter 10 Euro«. Wer Geld in einen gutsortierten Weinkeller investieren kann, findet Anregungen in »Michael Broadbents Große Weine« oder in »Parker Bordeaux«. 358 Ungleiche Schwestern Die beiden großen Buchverlage unter dem Dach der GanskeGruppe unterscheiden sich heute nicht nur dadurch, dass Hoffmann und Campe ein starkes belletristisches Programm bietet und der Münchner Schwesterverlag sich überwiegend auf Ratgeber konzentriert. Hoffmann und Campe ist ein »Frontlist-Verlag«, bei dem sich die Frage, ob die angebotenen Titel erfolgreich sind oder nicht, oft innerhalb weniger Wochen oder Monate entscheidet, weil nach einem halben Jahr schon wieder die nächsten Bücher ganz vorn in den Auslagen präsentiert werden. Gräfe und Unzer dagegen ist vor allem ein »Backlist-Verlag«, der mit über 800 lieferbaren Titeln dienen kann. Bei GU müssen fast alle Bücher mindestens fünf Jahre im Verkauf sein, um als ein Erfolg zu gelten. Manche bleiben auch 20 Jahre im Programm, mit leichten Variationen vielleicht, aber schließlich mit Millionen-Auflagen. So ging »Die echte italienische Küche« zwischen 1996 und 2006 mehr als 750 000-mal über den Ladentisch, und »Die magische Kohlsuppe« verzauberte im gleichen Zeitraum über 710 000 Kunden – Sonderausgaben nicht mitgerechnet. Ein Buch über die »Wildküche« musste zwar immer wieder an die sich ändernden Bedingungen im Naturschutz und Jagdrecht angepasst werden, erscheint aber im Kern unverändert seit Jahrzehnten. Eine Anleitung zur Zubereitung traditioneller Pasteten, die erstmals 1978 erschien, wird bis heute unverändert angeboten. »Das heißt natürlich nicht, dass wir etwas gegen Bestseller haben. Aber sie stehen bei der Produktmarke GU nicht so stark im Vordergrund, da das wirtschaftliche Kraftzentrum die Backlist ist«, stellt Programmgeschäftsführer Georg Kessler klar. Und er macht noch auf einen weiteren Unterschied aufmerksam: »Anders als in der Belletristik wirken viele unserer Ratgeber unmittelbar in die Lebenswirklichkeit unserer Kunden – zum Beispiel ein Ernährungsratgeber.« Eine spürbare 359 Verbesserung ihrer Lebenswirklichkeit erhoffen sich wohl auch alle, die sich »69 heiße Sex-Tipps« unters Kopfkissen legen. Eine wichtige Weichenstellung bedeutete der 2006 gefasste Beschluss, neben den exakt positionierten Marken GU, Teubner und Hallwag auch wieder Bücher unter dem Label Gräfe & Unzer erscheinen zu lassen, um interessante Themen und Autoren unabhängig von den Zwängen publizieren zu können, die man sich durch die Markenbildung in den anderen Bereichen selbst auferlegt hat. »Dadurch können wir eine Heimat für Autoren und Themen werden, die nicht zur Ratgeberphilosophie der Marke GU passen«, erläutert Kessler und sagt deutlich, dass man sich damit die Möglichkeit schaffen wolle, »Bestseller zu generieren«. Was konkret damit gemeint ist, machten schon die ersten Titel deutlich: »Die Kunst, mit dem Tier im Menschen umzugehen«, beschreibt der Stardompteur und Zirkusdirektor Gerd Simoneit-Barum. Die Schauspielerin Ursula Karven, eine ausgebildete Yoga-Lehrerin, informiert Neugierige über typische Lebenssituationen, in denen Yoga auch Men schen helfen kann, die keine »spirituellen Antennen« haben und dennoch von der fernöstlichen Entspannungstechnik profitieren wollen. In »10 Diät-Mythen und die ganze Wahrheit« klärt die Molligen-Selbsthilfegruppe Weight Watchers Leser mit Gewichtsproblemen über angebliche Wundermittel und unhaltbare Versprechen von Ernährungsaposteln auf. Wer könnte das besser? Die Hamburger Prinzen-Garde In einer ganz anderen Form trägt Prinz zur Kompetenz und zum Profil der Ganske Verlagsgruppe bei, ein Event-Magazin und damit alles andere als ein Backlister, denn die von ihm verbreiteten Tipps und Infos haben im Allgemeinen eine sehr geringe »Halbwertszeit«. Niemand sonst weiß besser, wo der Bär tobt, die Post abgeht oder die Luft brennt. Mit 13 Regionalaus360 gaben informiert das Lifestyle-Magazin seine Leser, wie und wo sie ihre knappe Freizeit am besten investieren können, was gerade in oder schon wieder out ist. Zu Prinz als Scout durch den Dschungel der Großstadt greifen männliche und weibliche Leser gleichermaßen. Sie sind im Durchschnitt zwischen 20 und 40 Jahre alt, dazu aktiv, kaufkräftig, konsumfreudig und genussorientiert. Das Blatt gibt ihnen die passenden Tipps, News und Informationen: Wo geht man hin, welcher Style und welche Marken liegen im Trend, über welche Stars spricht man? Für seine junge, urbane Zielgruppe recherchiert und bewertet Prinz jeden Monat bundesweit mehr als 40 000 Veranstaltungstermine, berichtet über die angesagten Discos, Bars und Clubs, aktuelle Modetrends, die Filme des Monats, die Newcomer der Musikszene, neue DVDs und die Highlights auf dem Kunstmarkt. Das Event-Magazin gibt Tipps zu Downloads und sagt auch, wo man mal so richtig abhängen kann. Seine Leser erfahren, wie sich ein Traumflitzer wie der Audi TT Roadster unter dem Hintern anfühlt oder was in den besten oder flippigsten Restaurants auf den Tisch kommt. Prinz nennt die Adressen der trashigsten Kneipen und elegantesten Bars. Aber auch wer einfach nur mal wieder gut italienisch essen möchte, kann nachlesen, wie es den Testern des Magazins bei Mario oder Silvio geschmeckt hat, ob sie gut bedient wurden und die Rechnung angemessen war. Lesben und Schwule können sich ebenso darüber informieren, was gerade auf der Szene angesagt ist, wie die Freunde klassischer Musik oder erotischer Mangas. Wer das alles in geballter Form haben will, besorgt sich den seit 2000 einmal im Jahr erscheinenden Top Guide, das »Premium-Metropolen-Magazin für konsum- und genussorientierte Großstädter« mit aktuellen Informationen, Tipps, Adressen und journalistischen Bewertungen rund um die Themen Gastronomie, Shopping, Nightlife, Sport und Wellness – »unver 361 zichtbar für alle, die up to date bleiben wollen«, wie Rainer Thide, Chefredakteur und Geschäftsführer, ohne übertriebene Bescheidenheit meint. Vor allem für Touristen, die nicht so recht wissen, wohin in der großen Stadt, ist das eine Fundgrube. Und wer nicht von vorgestern ist, dem hilft Prinz natürlich auch im Internet, den Überblick über die Versuchungen der Großstadt zu behalten. Angefangen hat das alles 1978 in Bochum mit einem kleinen Guckloch, durch das einige einfallsreiche junge Leute spähten, um anderen berichten zu können, was in ihrer Stadt los war. Der alternative Veranstaltungskalender, auf 24 DIN-A5Seiten gedruckt und kostenlos verteilt, wurde 1985 in Prinz umbenannt und mauserte sich zu einem professionell gemachten Stadtmagazin. Irgendwann lief der damals immer noch recht kleine Prinz einem Verleger aus Hamburg über den Weg – und der sah die Chance, ihn groß und stark zu machen, und beteiligte sich über den Jahreszeiten Verlag Ende 1988 mit 75 Prozent als Mehrheitsgesellschafter am Guckloch-Verlag. Schon im Februar des nächsten Jahres hielt der Prinz in Düsseldorf, kurz danach in Hamburg, München und Frankfurt seinen Einzug. Im Dezember des gleichen Jahres machte er auch den Kölnern seine Aufwartung. 1990 wurde der Marsch in die großen deutschen Städte fortgesetzt mit Regionalausgaben für Bremen, Stuttgart und Hannover. Prinz erschien erstmals mit einheitlicher Titelgestaltung für alle Stadtausgaben. Aus dem Lokalmagazin entwickelte sich ein nationaler Markenartikel. Es gab aber auch Rückschläge. Nicht überall war die wirtschaftliche Basis breit genug, um eine eigene Regionalausgabe zu tragen. Das galt beispielsweise für den Versuch, die 14. Ausgabe in Mannheim/Ludwigshafen zu etablieren. In Mannheim scheiterte nach elf Jahren auch der 1990 gestartete Versuch, mit dem Prinz-Medienhaus auf 5000 Quadratmetern Verkaufsfläche, ausgestattet mit Café, Leseecken 362 und Hörbars, ein ganz eigenes Konzept durchzusetzen, das dem Kunden »den Zugang zu allen geistigen Bereichen – sei es Literatur, Wissenschaft, Kunst oder Musik – für seine individuellen Ansprüche und Bedürfnisse vollständig und kompetent« bieten sollte. Daran, dass dies letztlich nicht gelang, konnte auch die Verleihung des »Echo«, des wichtigsten deutschen Musikpreises, nichts ändern, mit dem 1996 das vorbildliche Erscheinungsbild, die Sortimentspflege, die Werbung und die fachliche Qualität des Personals sowie die Warenpräsentation ausgezeichnet wurden. Im Rückblick wurde daraus ein Trostpreis, denn Mitte 2001 musste das innovative Medienhaus wieder geschlossen werden. Der Rückzug sorgte für Ärger mit den Beschäftigten, den Stadtoberen und den Gewerkschaften, hatte aber keine Auswirkungen auf das Magazin, das ohnehin nur Namenspatron war. Lifestyle kombiniert mit Nutzwert 1995 hatte Thomas Ganske die Prinz-Kommunikation GmbH komplett übernommen und den Sitz des Unternehmens und die Zentralredaktion nach Hamburg verlegt. Seither hat sich Prinz in allen Metropolregionen fest etabliert. Die »Programmzeitschrift für die Stadt«, wie sich das Monatsmagazin zeitweise im Untertitel definierte, konnte sich fast jedes Jahr über neue Auflagenrekorde freuen. Die bisherige Spitze erreichte 2004 die »Jubiläumsausgabe«, von der über 300 000 Exemplare verkauft wurden. Prinz eroberte in Städten wie München und Hamburg gegen die alten Platzhirsche die klare Marktführerschaft und steht bundesweit ohnehin an der Spitze der Großstadtillustrierten. Die inhaltliche Qualität, ein Mix aus internationalem Lifestyle und regionalem Nutzwert, wurde ebenso kontinuierlich verbessert wie das optische Erscheinungsbild oder die Papierund Druckqualität. Prinz kommt seit 2006 ebenso wie die anderen Magazine des Jahreszeiten Verlags in Hochglanz auf den 363 Markt. Aus dem in Bochum geborenen Kellerkind ist im Laufe der Zeit ein Edelmann geworden, aus dem Blick durchs Guckloch ein umfassender Überblick über die Szene. Ähnlich wie zu Kaisers Zeiten gibt es heute aber nicht nur einen, sondern viele Prinzen in Deutschland, von denen jeder sein eigenes Hoheitsgebiet besitzt. »Bei aller Konsequenz in der Markenführung ist ein Prinz in Leipzig anders als in Nürnberg oder dem Ruhrgebiet«, weist Jörg Hausendorf, der Geschäftsführer der Prinz Kommunikation GmbH, auf einen Charakterzug hin, der das Magazin deutlich von anderen Zeitschriften unterscheidet. Anders als bei Spiegel, Gala, Focus und anderen deutschen Magazinen, bei denen es keine Rolle spielt, ob ein Reisender sie in München oder Flensburg erwirbt, erhält der Prinz-Käufer in Hamburg ein etwas anderes Produkt als in Berlin oder Frankfurt. Denn obwohl sich das Magazin als nationale Marke durchgesetzt hat, dient es seinen Lesern weiterhin als lokaler Scout. »Es war ein langer Weg bis zur Verwirklichung unserer Vision«, bekennt Chefredakteur Rainer Thide. »Aber jetzt haben wir es geschafft: Wir bieten nach wie vor umfassende regionale Informationen, haben aber dennoch überregional ein einheitliches Erscheinungsbild. Wir sind wiedererkennbar und können für alle Teilausgaben ein qualitativ verlässliches Angebot garantieren.« Wer in München regelmäßig mit seinem Prinz ausgeht, freut sich, wenn er ihm bei einem Wochenendbesuch in Berlin begegnet und ihn auch dort beim Bummel durch die Stadt unter den Arm nehmen kann. Seinen Platz als Lifestyle-Magazin musste das Blatt allerdings nicht nur im Bewusstsein seiner Leser finden, sondern auch im Handel erkämpfen. »Am Anfang hat man Prinz als Stadtmagazin wahrgenommen und in die gleiche Ecke gestellt wie die regionalen Veranstaltungskalender«, beschreibt Vorstandsmitglied Karl Udo Wrede die Ausgangssituation. »Das ist vorbei. Prinz wird inzwischen als überregionale Zeitschrift mit unterschiedlichen regionalen Schwerpunkten gesehen.« 364 Zwar wird nur ein Viertel der Themen von der Zentral redaktion vorgegeben, sie bilden aber die identitätsstiftende Klammer für die Mehrzahl der Seiten, auf denen die Leser regionale Inhalte finden – und auch wiederfinden, wenn sie unterwegs eine der anderen Prinz-Ausgaben zur Hand nehmen, denn Optik und Struktur der regionalen Seiten sind einheitlich gestaltet. Auch die überregionalen Themen, die in allen Ausgaben platziert werden, nehmen auf regionale Besonderheiten Rücksicht. »Wenn wir zum Beispiel über Probleme bei der Wohnungssuche in Großstädten berichten, erscheint dieses Thema in allen Ausgaben, und das Heft wird damit bundesweit beworben. Aber die Lage auf dem Wohnungsmarkt in München ist natürlich ganz anders als in Berlin oder Stuttgart. Das muss sich in den jeweiligen regionalen Ausgaben angemessen widerspiegeln«, erläutert Chefredakteur Thide. Dagegen erscheint ein Artikel über junge Deutsche, die auf dem Modemarkt, in Kunst und Musik international Trends setzen, unverändert in allen Regionalausgaben. Das gilt auch für einen Überblick über die »Film- und Musik-Highlights«, die in den nächsten Monaten in Deutschland zu erwarten sind. Umgekehrt ist ein Report über die heißesten Bars der Stadt, über die Theaterszene oder die aktuell von Prinz getesteten Restaurants nur für »Eingeborene« oder Touristen interessant, die wissen wollen, wo man sich in Nürnberg, Düsseldorf oder Bremen die Nacht am besten um die Ohren hauen kann. Ortsbezogen und daher in jeder Teilausgabe unterschiedlich, sind die Veranstaltungskalender, die für jeden Tag des Monats die Events nennen, bei denen man dabei sein muss, wenn man dazugehören will. Diese Spaß-Fundgruben müssen für die jeweilige Region maßgeschneidert sein. Das gilt auch für einen Teil der Anzeigenseiten, denn Werbung kann national oder regional geschaltet werden. Auch dadurch verändert sich die Struktur der einzelnen Ausgaben. Das Redaktions system erlaubt es aber dem Chefredakteur oder Art Director, 365 am Bildschirm in Hamburg zu kontrollieren, ob die Seiten, die in Berlin oder Leipzig gestaltet werden, trotz aller inhaltlichen Unterschiede dem Markenprofil entsprechen. Damit ein so komplexes Magazin Monat für Monat pünktlich und ohne »Seitensalat« erscheinen kann, muss eine ausgeklügelte Organisation dahinterstehen. Das gilt nicht zuletzt für den Druck der Hefte, der für alle Ausgaben in Kassel stattfindet. Dabei werden nicht nur die zentral gestalteten Seiten mit den regionalen Teilen von 13 verschiedenen Ausgaben zusammengeführt. Unterschiedlich sind auch die Anzeigenbeilagen der einzelnen Hefte, denn nicht alle sind für die Gesamtausgabe bestimmt. »Wir bieten selbstverständlich auch hier eine Teilbelegung an«, erklärt Hausendorf. »Das ist eine anspruchsvolle logistische Aufgabe, da inzwischen alle Teilausgaben am gleichen Tag erscheinen.« Die Logistik wird auch dadurch nicht gerade erleichtert, dass alle Prinz-Ausgaben mit einheitlichem Titelbild erscheinen, aber mit unterschiedlichen Schlagzeilen um die Käufer werben. Schließlich müssen die jeweiligen Interessen in den Verbreitungsgebieten gezielt angesprochen werden. Es war ein langer Weg, der vom 1978 geschaffenen Guckloch zum feschen Prinz, von zweistelligen Millionenverlusten in die schwarzen Zahlen führte. »Andere hätten da längst dichtgemacht«, ist Rainer Thide überzeugt. Doch obwohl Prinz zeitweise zum zweitgrößten Verlustbringer der Gruppe avancierte, nur noch übertroffen von der Woche, hielt Thomas Ganske durch, so wie er es auch beim Feinschmecker und anderen unternehmerischen Projekten getan hatte, die nur dann zum Erfolg geführt werden können, wenn man einen »langen Atem« hat. Wer Tiefwurzler züchten will, braucht außer Visionen eben auch Zeit und Geduld. Die Wende bei Prinz brachte 1999 ein Relaunch. Sein Ergebnis konnten die Leser der Septemberausgabe erstmals betrachten – was ihnen dadurch erleichtert wurde, dass gleichzeitig der Preis des Heftes deutlich gesenkt 366 wurde. Statt allein auf Lifestyle zu setzen, liegt der Schwerpunkt nun klar auf Service. Prinz wurde am Kiosk als »Programmzeitschrift für die Stadt« neu positioniert und kommt seither mit einheitlicher Optik und Struktur daher. Für den Verlag war die Durststrecke damit aber noch nicht beendet: Es dauerte noch fünf weitere Jahre, bis das bunte Event-Magazin endlich schwarze Zahlen produzierte. Ein Wort zum Schluss »Wir machen Tiefwurzler, keine Flachwurzler«, lautet das Motto der Verlagsgruppe, das Thomas Ganske den Mitarbeitern immer wieder einprägt. Solche Bäume wachsen meist nicht so schnell wie andere, weichere Hölzer. Aber 100 Jahre nachdem der Setzling am 7. April 1907 in Kiel gepflanzt wurde, ist daraus ein weitverzweigter Baum geworden, dessen bunte Blätter heute vor allem den sonnigen Seiten des Lebens zugewandt sind. Zunächst brachten die Boten des Leserkreises Daheim Ri chard Ganske den Kunden Lesestoff ins Haus, den andere bereitgestellt hatten – Unterhaltung, Lebenshilfe, Information für die ganze Familie. Im Unterschied zu allen seinen Konkurrenten beschränkte Daheim seinen Wirkungskreis aber nicht auf eine Stadt oder Region, sondern wuchs bald darüber hinaus. Seit mehr als acht Jahrzehnten ist der Leserkreis unangefochtener Branchenprimus. Wer nur verteilt, was andere produzieren, kann leicht in Abhängigkeit geraten. Mit der Beteiligung an Hoffmann und Campe wurde 1941 der erste Schritt zum Aufbau einer eigenen Verlagsgruppe getan. Aus dem Buchverlag heraus entwickelte sich das erste eigene Zeitschriftenprojekt, Merian. Die Gründung des Jahreszeiten Verlags machte das Unternehmen endgültig vom Zeitschriftenvermieter zum Zeitschriftenverleger; zur Vertriebskompetenz trat die inhaltliche Kompetenz. 367 Durch verstärkte Transparenz und Kooperation im Inneren wurde es möglich, die eigenen Kräfte zu bündeln und Synergien besser zu nutzen. Der gemeinsame Auftritt in der Öffentlichkeit erlaubt es, sich als kompetenter Produzent und Partner auszuweisen. Die Erweiterung und Vertiefung der Themen palette des Jahreszeiten Verlags, der Einstieg ins Corporate Publishing, die Übernahme und Weiterentwicklung von Prinz sowie des Gräfe und Unzer Verlags haben die bereits vor handene Kompetenz erhöht und die Wissensbasis der Gruppe verbreitert. Darauf sollen neue, zukunftsträchtige Medien aufgebaut werden. Dazu gehört beispielsweise die Kombination geocodierter Navigationssysteme mit digitalisierten Informa tionen: interaktive Führer für Reisende, die mehr als nur den Weg suchen. Ein Unternehmen kommt nie an. Es muss sich immer wieder neu erfinden, um zu wachsen, neue Herausforderungen zu bewältigen und im Wettbewerb erfolgreich bestehen zu können. Das galt in besonderer Weise während und nach den beiden Weltkriegen, der Hyperinflation und Weltwirtschaftskrise. Im Zeitalter der Globalisierung, in der soziale und wirtschaftliche Veränderungsprozesse in einem vorher nie gekannten Tempo ablaufen und die Welt, in der wir leben, sich auch ohne Kriege und andere Katastrophen rasant wandelt, ist die Bereitschaft zum permanenten Neuanfang noch wichtiger geworden. Doch um diesem Druck gewachsen zu sein, brauchen Menschen Verlässlichkeit und im Wandel Beständigkeit. Eigentümergeführte Unternehmen können diese Werte heu te eher garantieren als Kapitalgesellschaften, die den Launen der Börse ausgesetzt sind und zum Spielball anonymer Inves torengruppen werden können. Familienbetriebe können sich leichter an langfristigen Perspektiven orientieren als Gesellschaften, die täglich von Analysten durchleuchtet werden, deren Erfolg an Quartalsergebnissen gemessen wird und deren Kapital sich im Besitz einer Vielzahl von Aktionären befindet, 368 die an jedem Börsentag »Bäumchen wechsle dich« spielen können. Beständigkeit im Wandel: Das wurde nicht nur dadurch erreicht, dass sich die Unternehmen der Ganske-Gruppe immer wieder neu aufgestellt haben, sondern auch dadurch, dass eine Eigentümerfamilie, die die Verlagsgruppe inzwischen in der dritten Generation führt, Entscheidungen reifen und Entwicklungen Zeit lassen kann, ohne immer sofort auf schnelle Ergebnisse zu schielen. Aus dem Lesezirkel Daheim hat sich im Laufe eines Jahrhunderts eine Verlagsgruppe mit fast 1500 Mitarbeitern und einem Umsatz von rund 270 Millionen Euro entwickelt, die heute ihren festen Platz in der deutschen Medienlandschaft hat und in deren Entwicklung sich zugleich ein Jahrhundert deutscher Geschichte spiegelt. Nachbemerkung A m Anfang waren es nur einige Puzzleteile, am Ende ist daraus ein Bild geworden. Das war nur möglich, weil viele mit geholfen haben, verloren geglaubte Daten und Fakten, Bilder und Dokumente ausfindig zu machen. Ehemalige Mitarbeiter und Kunden stellten private Aufzeichnungen, Fotos und Erinnerungsstücke zur Verfügung. Besonders wichtig und hilfreich waren die vielen ausführlichen Gespräche mit Mitarbeitern und Pensionären, Kunden und Geschäftspartnern der Verlagsgruppe, die aus ihren Erinnerungen beisteuerten, was in Archiven oft nur noch bruchstückhaft oder gar nicht mehr zu finden ist. Ihnen allen sei an dieser Stelle für ihre Bereitschaft gedankt, bei der Spurensuche und Rekonstruktion von 100 Jah ren deutscher Wirtschaftsgeschichte am Beispiel eines Fami lienunternehmens mitzuhelfen und über gute und schwere Zeiten offen zu informieren. Dass niemand von denen, die in diesem Buch zitiert werden, versucht hat, den Inhalt in unsachlicher Form zu beeinflussen, Fakten zu unterdrücken oder zu beschönigen, soll dabei nicht unerwähnt bleiben, da es keineswegs selbstverständlich ist. Ein besonderer Dank gebührt Barbara Holst, der Leiterin des Firmenarchivs, die wesentlich zum Erfolg der »Ausgrabungsarbeiten« beigetragen und vieles wieder zusammengetragen hat, was lange Zeit als verloren galt. Bedanken möchte ich mich auch bei meiner Frau MarieClaude, die es (wieder einmal) fast klaglos ertragen hat, dass ich für einige Monate in meinem Arbeitszimmer verschwunden bin, und die zudem bereit war, die Aufgabe der ersten Kritikerin zu übernehmen. 371 Personenregister A Adenauer, Konrad 251 Albers, Hans 185 Althen, Michael 294 Andres, Stefan 156 Arnold, Jürgen 245 f. Augstein, Rudolf 137 B Bähnisch, Theanolte 147 Banzhaf, Dieter 343 ff., 355 f. Bardot, Brigitte 165 Barsch, Gerhard R. 137 Baum, Vicki 203 Biller, Maxim 294, 296 Bissinger, Manfred 162 f., 294, 309 f., 312 ff., 332 f., 336 Boch, Brigitte von 244 Böckem, Jörg 294 Brandt, Willy 233 Breier, Lo 294 Brinckmann, Albert Erich 61, 122 Brümmer, Helmut 134, 257, 277 Bruyn, Günter de 163 Burda, Franz 175 Burda, Frieder 175 Bürkle, Albrecht 156, 230, 239 Buschinski, Albert 195, 256, 277 C Campbell, Fiona 168 Campe, August 18 Campe, Julius 60 Carlsson, Wilhelm 13 Caruso, Enrico 204 Cervantes, Miguel de 200 372 Christensen, Martinus 60, 64 ff., 71 ff., 80 f., 84, 87, 89 ff., 97 f., 100 ff., 149, 153, 155, 164 Claudius, Matthias 104 Clausewitz, Carl von 257 Cocteau, Jean 156 Colette 156 Courths-Mahler, Hedwig 15 Cramer, Heinz von 232 D Danella, Utta 232 Declair, Wolfgang 214, 256, 277 Degenhardt, Franz Josef 232 Dick-Read, Grantly 230 Dickens, Charles 200 Dietzel, Gustav 45, 48, 120, 127, 133, 134 Dithfurt, Hoimar von 233 Dutiné, Gottfried H. 325 ff. E Ebert, Dieter 249 Eckard, Christoph Gottfried 344 Eckardt, Emanuel 34, 168, 246, 253 Eckardt, Gustav 38 f. Eckert-Rotholz, Alice 230 Elster, Hanns Martin 72 Erben, Walter 79 Erhard, Ludwig 128 F Fischer, Jürgen 295 Fischer, Marc 294 Flechtheim, Ossip K. 233 Fleckhaus, Willy 158 f., 178 Fortmann, Ulrich 291 Friedell, Egon 51 Friedrich, Barbara 240, 242 Frohns (Filialleiter) 198 Frölich, Gerd 299 ff. Fuß, Arnold 60 G Ganske, Anna (»Ännchen«) 13, 25 ff. Ganske, Gerda 62, 77, 99, 111, 118 ff., 130, 150, 229, 257 f., 268 Ganske, Hilde 17, 25, 27, 52 Ganske, Käthe 17, 25, 52 Ganske, Kurt 16 f., 25 ff., 31, 33 ff., 42 ff., 49 ff., 55, 59, 61 f., 64 ff., 69, 71, 75 ff., 80 ff., 101 ff., 110 f., 117 ff., 122 ff., 128, 130 f., 133, 137, 141, 147 ff., 164, 166, 168, 178, 180, 183 ff., 192 f., 197 ff., 205, 207 ff., 219, 227 ff., 231 f., 235 ff., 239 f., 245 ff., 250 ff., 268, 278 ff., 285 ff., 293, 309, 319, 323 ff. Ganske, Mareile 257 f., 261 f., 287 Ganske, Michael 26, 45, 50, 61, 118, 120, 148, 150, 156, 166, 168 ff., 173, 175, 178, 180, 193, 196, 207, 246, 255, 257 ff., 279, 285, 287, 289, 293 Ganske, Richard 12 ff., 17 ff., 23 ff., 27 ff., 33, 35, 42, 47, 50, 52, 55, 111, 126, 141, 142, 258, 278, 309 Ganske, Thomas 12, 16, 50, 61, 69, 118, 123, 131, 148, 154, 157, 159, 162, 205, 216 f., 227, 229, 234 ff., 242, 249, 254, 257 f., 261 ff., 268, 278 ff., 285 ff., 293, 297, 301, 309 f., 312, 314 f., 319 ff., 323 ff., 330 f., 333 f., 343, 353, 355 f., 362 f., 366 f. Ganske, Veronika 262 f. Garbo, Greta 165 Gaul, Richard 332 Gimm, Peter 179 Giroud, Françoise 156 Globke, Hans 252 Goebbels, Joseph 51, 74, 150 Goethe, Johann Wolfgang von 100, 200, 203, 248, 309, 327 Gorbatschow, Michail 295 Gräfe, Heinrich Eduard 344 Grass, Günter 163 Gruner, Richard 166, 258 Gundlach, Franz Christian 168 f. H Haas, Willy 225 Hagelstange, Rudolf 230 Häger, Frank-H. 321, 355 f. Hamm-Brücher, Hildegard 160 Hantelmann, Christa von 173, 239 ff., 249 Harenberg, Bodo 352 Hartz, Alfred 114, 120, 133, 156 Hasse, O. E. 203 Hausendorf, Jörg 238, 364 Hazard, Paul 72 Hebel, Johann Peter 100 Heine, Heinrich 51, 60, 122, 233 Heinemann, Caesar 234 Herbst, Joachim 126, 136, 195, 207, 214, 272, 276, 278 Herrmann, Paul 230 Hess, Werner 17, 46, 61, 184 ff., 281 Heuss, Theodor 156 Hildebrandt, Rüdiger 231 f., 261 f. Hitler, Adolf 50, 55, 61 f., 98, 113 Hoffmann, Gottlob 344 Homer 200 Honecker, Erich 295, 311 Höynck, Hans E. 184 ff. Huffsky, Hans 174 Humboldt, Alexander von 71 J Jahnn, Hans Henny 234 Jahr, John 174, 179 Jakits, Madeleine 247 ff. Janssen, Horst 301 Jensen, Joy 239 Joop, Jette 244 Jourdan, Jochem 234 373 Jünger, Ernst 156 Jürgs, Michael 295 K Kaiser, Hans Jürgen 304 Karsten, Jochen 245 ff. Karven, Ursula 360 Kästner, Erich 51 Kaufmann, Andreas 299 ff. Kaufmann, Hans 253 Keller, Will 159 Kessler, Georg 356 f., 359 f. Ketelsen, John 84, 97 Klever, Ulrich 349 Knaus, Albrecht 227, 231 ff., 261 f., 287 Koch, Bernhard 345, 351 Koch, Lucas 295 Koch, Marianne 168 Koczian, Johanna von 168 Kolle, Oswalt 179 Konsalik, Heinz G. 203 Kopf, Uwe 294 Kracht, Christian 294 Kramer, Franz Albert 251 Kröger, Ute 183 Krüger, Arne 245, 346 f., 350 Krumbeck, Detlev 20 Kuhlei, Regine 244 L Laakmann, Kai 334, 336, 342 Lafer, Silvia 244 Leander, Zarah 204 Lechte, Heinz-Dieter 202, 219 f., 269, 278, 280 Leininger, Carsten 327, 329 f. Leippe, Heinrich 150 f., 156 Lenz, Lilo 225, 228 Lenz, Siegfried 11, 61, 158, 225 ff. Leuwerik, Ruth 168 f. Liebig, Justus von 71 Löber, Hans 127, 134, 257 Loest, Erich 163 374 M Mailer, Norman 158 Mann, Thomas 158, 200 Markert, Willy 185 f. Marx, Erich 252 f. Mayer, Walter 296 Meister, Urban 354 Merian, Matthaeus 34, 150, 152 Meyendorff, Irene von 167 Michael, Marion 168 Miller, Henry 158 Montherlant, Henry de 156 N Nagel, Wolfgang 240 Nelken, Dinah 230 Neuss, Wolfgang 232 Nicodemus (Filialleiter) 65, 88, 117 f. Notz, Peter 321, 355 f. O Ossenbach, Clara 184 Ossenbach, Hans 184 P Palm, Frederik 306 ff. Peichl, Markus 294 ff. Petersen, Carl Wilhelm 62 Pieroth, Elmar 270 Pieroth, Dieter 269 ff. Ploog, Peter 237 Popper, Karl 233 Porten, Henny 167 Prelinger, Kurt 344 ff., 351, 353 ff. Pulver, Liselotte 168 R Ranft, Ferdinand 159 ff. Raupach, Susanne 296 Rensmann, Peter 331 ff., 337 Riedel, Heinz 345 f. Rilke, Rainer Maria 71 Ringelnatz, Joachim 51 Roegele, Otto B. 253 f. Röhring, Hans Helmut 261 f. Rohrsen, Johannes 97 Rüttgers, Barbara 167 S Salinger, Georg 289 Scheeler, Max 158 Scheibenpflug, Heinz 177 ff., 240 Schiller, Friedrich 200, 203 Schlame, Wilhelm 291 Schmidt, Hans-Jürgen 353 Schmidt, Hermann 272 ff., 313 Schmidt, Peter 331 Schmitz, Erwin 140, 205 ff., 213 f., 216 ff., 253, 269, 279 f. Schneider, Romy 168 Schramm, Percy Ernst 230 Schröder, Gerhard 233, 340 Seekamp 349 f. Segal, Erich 232 Seidl, Claudius 294 Servan-Schreiber, Jean-Jacques 233 Shakespeare, William 200 Siedler, Wolf Jobst 163 Siefke, Andreas 336 f. Simoneit-Barum, Gerd 360 Stahnke, Fred-Ruthard 202 f. Stammler, Eberhard 140 Stein, Josef 251 Stempka, Roman 137 Stock, Dennis 158 Stünzner, Günther von 73 T Tau, Max 230 Tauber, Richard 204 Teubner, Christian 347, 358 Thide, Rainer 362, 364 ff. Thieme, Wolf 249 Thyssen-Bornemisza, Hans-Heinrich Baron von 168 Timmerberg, Helge 294 Tolstoi, Leo 200, 203 Tönnies, Ilse 63 f., 67 ff., 104 f., 249 Tucholsky, Kurt 51 U Ulbricht, Walter 164 Unzer, August Wilhelm 344 Unzer, Johann 344 V Vesper, Guntram 163 Virchow, Rudolf 71 Vogt, Kristina 16 W Waldenburger, Curt (»Thomas«) 165 f., 169 f., 172 f., 177, 240 Waldenburger, Helga (»Puttchen«) 165 f., 169 f., 172 f., 177, 240 Wegener, Harriet 61 ff., 75, 77 ff., 117 f., 122, 124, 150 ff., 155 f., 230, 233, 239, 249 Wenger, Paul Wilhelm 251 Westerkamp, Michael 286 Wilhelm II. 34 Wille (Angestellte) 85, 86, 87 Willmenrod, Clemens 230 Wolf, Reinhard 158 Wolter, Annette 350 Wössner, Mark 326 Wrede, Karl Udo 235, 321, 323, 364 Wredenhagen, Alfred von 132 Wunderlich, Fritz 204 Y Yadin, Yigael 231 Z Zahn, Peter von 230 Zuse, Konrad 208 1. Auflage 2007 Copyright © 2007 by Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg www.hoca.de Gesetzt aus der ITC New Baskerville Druck und Bindung: Druckhaus Nomos, Sinzheim Printed in Germany ISBN 978-3-455-50018-9