Antje Allroggen - Heinz-Kühn

Transcription

Antje Allroggen - Heinz-Kühn
���� ���� �������������������� ����� ����� ���������
���������������������������������������������������������������
���������������������������������
Mit der Heinz-Kühn-Stiftung Eine Welt erleben.
Heinz-Kühn-Stiftung 18. Jahrbuch
Mit der Heinz-Kühn-Stiftung Eine Welt erleben.
Junge Journalistinnen und Journalisten sehen eine andere Welt.
Heinz-Kühn-Stiftung 18. Jahrbuch.
Grußwort zum 18. Jahrbuch der Heinz-Kühn-Stiftung
Das Ziel und das Programm der Heinz-Kühn-Stiftung ist es, junge Journalistinnen und Journalisten aus der ganzen Welt in ihrer Aus- und Weiterbildung zu fördern, ihnen die Möglichkeit zu bieten, miteinander ins Gespräch
zu kommen, kulturelle Unterschiede zu begreifen und gegenseitig voneinander zu lernen. Diesem Ziel fühlt sich die Heinz-Kühn-Stiftung seit mehr als
zwanzig Jahren verpflichtet, und ich bin davon überzeugt, dass wir damit
einen – wenn auch kleinen – Beitrag zu mehr Toleranz und Verständigung
zwischen unterschiedlichen Kulturen leisten, um unsere Eine Welt, wie dies
schon Heinz Kühn, der Namensgeber der Stiftung, vor Jahrzehnten formuliert hat, lebenswerter zu gestalten.
Unsere globalisierte Welt stellt uns jeden Tag neue Herausforderungen, wir
müssen Lösungen und Antworten finden, und es sind nicht zuletzt gerade
die Journalisten, die eine wichtige Funktion dabei übernehmen. Deshalb ist
es so wichtig, in die Aus- und Weiterbildung gerade junger Journalisten zu
investieren. Denn nur gut ausgebildete Journalisten besitzen die notwendige
Qualifikation für eine objektive Darstellung der komplexen Sachverhalte
der täglichen Berichterstattung in Presse, Funk und Fernsehen. Der erste
Schritt auf diesem Weg ist freilich, die Welt zu kennen und sie in ihrer Unterschiedlichkeit zu begreifen. Nur dann kann man auch objektiv darüber berichten. Wenn junge Journalisten aus Nordrhein-Westfalen in Afrika, Asien
oder Lateinamerika unterwegs sind und sich selbst gewählten Recherchethemen widmen, dann lernen sie in den sechs Wochen oder drei Monaten,
die sie in den jeweiligen Ländern unterwegs sind, eine ganze Menge über
die spezifischen Situationen ihrer Gastländer. Dies wird nicht zuletzt auch
später in der täglichen Berichterstattung zurück in den heimischen Medien
Spuren hinterlassen. Ein Gleiches gilt für die Aufenthalte unserer ausländischen Stipendiaten in Deutschland. Sie lernen nicht nur den Medienalltag bei uns in Nordrhein-Westfalen kennen, sondern sie haben gleichzeitig
die Möglichkeit, etwas über deutsche Geschichte, Kultur, Tagespolitik oder
einfach auch den Alltag in Deutschland zu erfahren. Ihr Deutschlandbild
ist nach ihrer Rückkehr ein anderes, differenzierteres, und einige der weit
verbreiteten Klischees werden durch Sachkenntnis und eigene Eindrücke
ersetzt.
Ihre Erfahrungen und Erlebnisse haben die deutschen und ausländischen
Journalisten in spannenden und unterhaltsamen Berichten geschildert, die
uns mit fremden Welten und Sichtweisen bekannt machen. Geschichten aus
Burjatien, einem kleinen Land am Baikalsee an der Grenze zur Mongolei,
die Artenvielfalt auf den Galapagos-Inseln, die Probleme der Müllsammler
in Buenos Aires, die Arbeitsbedingungen der Goldschürfer in Ghana oder
auch die Eindrücke, die eine junge argentinische Journalistin im Deutschen
Medienalltag gesammelt hat; dies sind nur einige Beispiele aus dem diesjährigen 18. Jahrbuch der Stiftung, das ich allen Leserinnen und Lesern
heute gerne vorstelle.
Ich wünsche Ihnen anregende und unterhaltsame Stunden bei der Lektüre
und danke den Stipendiatinnen und Stipendiaten für ihre gelungenen Beiträge.
Dr. Bernhard Worms
Staatssekretär a.D.
Stellvertretender Vorsitzender des Kuratoriums der Heinz-Kühn-Stiftung
Inhaltsübersicht
Antje Allroggen aus Deutschland
Marokko, vom 26. August bis 07. Oktober 2003
9
Thorsten Bothe aus Deutschland
Tansania, vom 16. September bis 15. Dezember 2003
39
Birte Detjen aus Deutschland
Burjatien, vom 15. Juni bis 15. September 2003
79
Maricel Drazer aus Argentinien
Nordrhein-Westfalen, vom 01. Mai bis 30. August 2003
117
Angelica Aires de Freitas aus Brasilien
Nordrhein-Westfalen, vom 01. September bis 30. Dezember 2003
139
Arlette Geburtig aus Deutschland
Südafrika, vom 30. Oktober 2003 bis 14. Februar 2004
153
Nguyen Thi Thu Huong aus Vietnam
Nordrhein-Westfalen, vom 01. Juli bis 31. Dezember 2003
197
Daniele Jörg aus Deutschland
Ecuador, vom 25. März bis 06. Mai 2004
217
Florian Klebs aus Deutschland
Ghana, vom 31. August bis 03. Dezember 2003
259
Dr. Sonja Kretzschmar aus Deutschland
Südafrika, vom 10. Februar bis 28. März 2004
309
Andreas Lautz aus Deutschland
Argentinien, vom 01. Dezember 2003 bis 15. Januar 2004
343
Michael Lohse aus Deutschland
Senegal, vom 16. Januar bis 06. März 2004
375
Hyacinthe Ouingnon aus Benin
Nordrhein-Westfalen, vom 01. Juli bis 29. Dezember 2003
413
7
Hoang Than Phuong aus Vietnam
Nordrhein-Westfalen, vom 04. Mai bis 13. September 2003
431
Kristin Raabe aus Deutschland
Vietnam, vom 06. April bis 28. Mai 2004
453
Astrid Reinberger aus Deutschland
Botswana, vom 24. August bis 15. November 2003
483
Andrea Rönsberg aus Deutschland
Chile, vom 03. Januar bis 16. Februar 2004
519
Susanne Rohlfing aus Deutschland
Tansania, vom 24. Juni bis 05. August 2003
551
Ilka Schmitt aus Deutschland
Vietnam, vom 08. März bis 16. April 2004
575
Dorothea Scholz aus Deutschland
Peru, vom 03. März bis 23. April 2004
603
Alexandre Schossler aus Brasilien
Nordrhein-Westfalen, vom 01. September bis 30. Dezember 2003
641
Kathrin Schröter aus Deutschland
Argentinien, vom 20. September bis 01. November 2003
667
Simone Utler aus Deutschland
Südafrika, vom 20. Oktober bis 30. November 2003
697
8
Antje Allroggen
aus Deutschland
Stipendien-Aufenthalt in
Marokko
26. August bis 07. Oktober 2003
9
Marokko
Antje Allroggen
Wanderer zwischen den Welten
Frauen und der Faktor Bildung in Marokko
Von Antje Allroggen
Marokko, vom 26. August bis 07. Oktober 2003
betreut von der Friedrich-Ebert-Stiftung
11
Marokko
Antje Allroggen
Inhalt
1. Zur Person
14
2. Ein Land zwischen den Kulturen
14
3. Die politische Situation unter König Mohammed VI.
16
4. Die neue Bildungspolitik – Situation der Frauen in Marokko
19
5. Der Stadt-Land-Konflikt
25
6. Zwischen Nomadenstämmen und Berberaffen
27
7. Eine kurze Begegnung mit Fertima Mernissi
29
8. Frauen in den Medien – Situation der Medien
32
9. Marokko im Wandel
36
10. Danksagung
38
13
Antje Allroggen
Marokko
1. Zur Person
Antje Allroggen, geboren 1969 in Georgsmarienhütte, studierte Kunstgeschichte, Vergleichende Literaturwissenschaften und Philosophie in
Bonn und Nancy. Während des Studiums zahlreiche Praktika, u.a. beim
Deutschlandfunk und bei Radio France Internationale in Paris. Nach dem
Magister im Jahr 1996 freie Autorin, zunächst für Deutsche Welle tv, dann
für den ARD-Hörfunk, vor allem für Deutschlandfunk und Deutsche Welle,
mit dem Schwerpunkt Bildung. Das sechswöchige Recherche-Stipendium
gab ihr die Gelegenheit nachzuvollziehen, dass der Faktor Bildung beim
Demokratisierungsprozess eines Landes eine grundsätzliche und wichtige
Rolle spielt.
2. Ein Land zwischen den Kulturen
Ein Land, das nicht wenige aus dem eigenen Urlaub kennen. Ein Land,
mit dem man Exotik, Orient und Märchen aus 1001 Nacht assoziiert.
Die Geiselentführungen in den Nachbarländern Algerien und Mauretanien hatten bei vielen Urlaubern die Befürchtung wachsen lassen, in
Marokko auf ähnliche Banden stoßen zu können. Das Bombenattentat,
das sich in Casablanca am 16. Mai 2003 ereignete, hatte dann auch für die
Touristikbranche im Land negative Konsequenzen. Seitdem droht Marokko,
seinen orientalischen Charme mehr und mehr zu verlieren. Touristen bleiben aus, Botschaften – allen voran die US-amerikanische – und andere
internationale Einrichtungen verbarrikadieren ihre Eingänge mit kugelsicheren Stahltüren und kontrollieren Rucksäcke und Taschen der Besucher.
Auch die marokkanische Polizei hat die Sicherheitskontrollen verschärft.
Ihre Maßnahmen wirken allerdings ziemlich halbherzig: Die meisten Autos
dürfen problemlos das Hindernis passieren, nur einige LKWs werden oberflächlich kontrolliert.
Bei der Ankunft in Marokko zeigt sich das Land jedoch nicht von seiner
fragilen, sondern eher von seiner selbstbewussten Seite: Auf dem Flughafen
herrscht überall nervöses Handy-Klingeln, Männer in beigen Anzügen
und Rayban-Sonnenbrillen eilen an einem vorbei und verschwinden in dicken, auf Hochglanz polierten neuen Mercedes-Modellen in ihre Büros in
Casablanca.
Wie ambivalent das Leben in Marokko aber ist, zeigt sich beispielsweise daran, wie dicht hier Orient und Okzident nebeneinander leben: Junge
Marokkanerinnen geben sich betont amerikanisch bzw. europäisch, indem
sie knappe Shirts und kurze Röcke tragen. In Casablanca zeigen sich sogar
14
Marokko
Antje Allroggen
eindeutig als Prostituierte zu erkennende Frauen ungeniert in der Öffentlichkeit. Andere Frauen, nicht nur die älteren, tragen hingegen Kopftuch,
manche sogar einen gesichtsverhüllenden Schleier.
Zunächst erscheint es so, als würde das kulturelle Miteinander problemlos
miteinander harmonieren. Auf den zweiten Blick jedoch kann man feststellen, dass es zu kaum einer wirklichen Begegnung zwischen beiden Kulturen
kommt: Die eher traditionell eingestellten Marokkaner bleiben unter sich,
kleiden sich mit Kaftan und Kopfbedeckung. Ihr Französisch ist nicht selten schlecht, wenn überhaupt vorhanden, eine Verständigung häufig nur auf
arabisch möglich. Es scheint kein Zufall, dass die ehemals französischen
Straßennamen in Casablanca inzwischen alle nach und nach arabisiert werden. War es noch vor ein, zwei Generationen eine Selbstverständlichkeit,
französisch sprechen zu können, ist nun auf den Straßen Marokkos eindeutig die arabische Sprache dominant. Konservative Araber haben sich seit
dem 11. September wieder stärker der islamischen Religion zugewandt.
Mehrere Journalisten weisen darauf hin, dass es in Marokko noch nie so
viele Männer mit langen Bärten gegeben habe wie in diesen Zeiten. Sie
gehen in Cafés und sind vor allem in der Medina zu finden. Die eher westlich gekleideten Marokkaner hingegen sprechen in der Regel neben arabisch
fließend französisch und kaufen in schicken Läden der Nouvelle Ville ein.
Der marokkanische König Mohammed VI., der seit 1999 das Land regiert,
bemüht sich redlich, beide kulturellen Ströme unter einer marokkanischen
Identität zu bündeln. So sieht man ihn auf Fotos in öffentlichen Räumen in
höchst unterschiedlicher Ausstattung und Pose: Im Fremdenverkehrsbüro
Casablancas trägt er Kaftan und Käppi; in den traditionellen Hotels und Cafés
nippt seine Majestät am marokkanischen Volksgetränk, dem Pfefferminztee;
in einer Galerie im nahezu chicen Strandort Essaouira trägt er eine mutige
Häkelmütze, und in einem Strandcafé in Rabat lässt er sich auf seinen Jetskis
ablichten. Häutungen, die den König wie selbstverständlich von einer kulturellen Rolle in die andere schlüpfen lassen. Bei den meisten Marokkanern
hat er mit dieser Selbstdarstellung Erfolg: die konservativ Eingestellten sehen in ihm einen König, der das Land in der Tradition seines Vaters weiterregiert, die Modernisierer erhoffen sich durch ihn neue Reformen, die das
Land aus seiner Krise retten könnte, und die neureichen Jungen lassen sich
eine ähnliche Frisur wie „M6“ wachsen und lernen Jetski fahren.
Ähnlich praktiziert es M2, das zweite Programm des marokkanischen
Fernsehens: nach einer Soap, die aus Gesprächen unter Männern auf einem Diwan besteht, Nachrichten und Werbung in arabisch-marokkanischem Dialekt folgen Drei Engel für Charlie in der französischen Synchronisationsfassung.
15
Antje Allroggen
Marokko
3. Die politische Situation unter König Mohammed VI.
Bereits Ende der 90er Jahre waren erste politische Reformen vom damaligen König Hassan II. eingeleitet worden. Hassan, der Marokko vierzig
Jahre lang mit eiserner Hand regiert hatte, setzte seinen alten Opponenten,
den Sozialistenführer Youssoufi, als Ministerpräsidenten ein. Damit sollte
der Wandel des Königreichs in einen modernen Staat mit prosperierender
Wirtschaft eingeleitet werden.
Nach dem Tod Hassan II. übernahm sein Sohn 1999 das Zepter.
Der junge Monarch verkörperte für die Bevölkerung nicht nur einen
Generationenwechsel, sondern auch einen neuen Regierungsstil. Im
Gegensatz zu seinem Vater zeigt sich Mohammed VI. gerne volksnah. Er ist
der erste marokkanische König, der eine bürgerliche Frau geheiratet hat.
Drei Ziele hat sich der neue König gesetzt: Armutsbekämpfung, Emanzipation der Frau und Durchsetzung eines Rechtsstaates. So hat er zum
Beispiel der armen ländlichen Bevölkerung öffentlich seine Unterstützung
ausgesprochen. Der Kampf gegen den Analphabetismus ist ein weiteres Ziel
des Königs. Außerdem wurden in den vergangenen Jahren etliche politische
Gefangene befreit.
Im Westsahara-Konflikt bleibt Mohammed VI. allerdings hart. Zwar wird
in der unabhängigen Republik Westsahara nicht mehr mit Waffen, sondern
nur noch mit Diplomatie gekämpft, dennoch erhebt Marokko nach wie vor
seinen Souveränitätsanspruch auf die „marokkanische Sahara“ und blockiert
damit weiterhin die UN-Verhandlungsrunden. Auch eine Demonstration von
Studierenden der Universität Rabat wurde im Februar 1999 mit Hilfe von
polizeilicher Gewalt beendet, nachdem die Demonstranten die Bannmeile
durchschritten hatten. Auffallend hingegen war, dass der relativ brutale politische Eingriff durchaus kritisch in der Öffentlichkeit diskutiert werden
konnte, ohne dass staatliche Sanktionen folgten.
Nach anfänglichen positiven Schritten und Erfolgen sind jedoch die
Reformbemühungen des Königs ins Stocken geraten. Der „Reformstau“
wird allerdings seitens der Bevölkerung weniger dem Monarchen, als dem
politischen System angelastet, das als korrupt und reformunwillig gilt. Um
das Land trotz der Widerstände dennoch zu modernisieren, hat Mohammed
VI. seit 2001 Regierungsbefugnisse übernommen und sich damit mehr als
vorher in exekutive Entscheidungen eingeschaltet. Die Konsequenz dieser
Entwicklung war, dass nach den Parlamentswahlen im September 2002
vom König eine neue Regierung eingesetzt wurde, die von einem parteilosen Vertrauensmann, Driss Jettou, geleitet wird. Das bis dahin geltende
Mehrheitssystem ist seitdem in ein Proporzsystem umgeändert worden.
Um Manipulation und Stimmenkauf zu erschweren, wurde anstatt der frü16
Marokko
Antje Allroggen
heren getrennten Wahllisten für jede Partei ein einheitlicher Stimmzettel
mit der Liste aller Parteien eingeführt. Auch dem Wunsch des Königs, das
Parlament mit mehr Frauen zu verstärken, wurde entsprochen. Die Wahlen im
September 2002 wurden in den internationalen Medien als Schlüsseldatum
für Marokkos Demokratie betrachtet.
Dennoch bleiben die Modernisierungsversuche des Königs erste Gesten,
über die die Reformideen bisher noch nicht hinaus gekommen sind. Zwar
entließ Mohammed VI. zur allgemeinen Überraschung den langjährigen
Innenminister und Vertrauten Hassans II., Driss Basri, der in zahlreiche
Unrechtstaten des Regimes verstrickt war, und kündigte einen gesellschaftlichen Versöhnungsprozess zwischen den Opfern der zahlreichen
Menschen-rechtsverletzungen und den Tätern an. Aber diese Maßnahmen
verbessern nicht den Lebensstandard der Bevölkerungsmehrheit: Auf dem
Land sind immer noch 85 Prozent ohne Stromanschluss und 70 Prozent ohne
Trinkwasserversorgung. Auf dem UN-Entwicklungsindex liegt Marokko
unter 173 Ländern immer noch an 123. Stelle – hinter den Nachbarländern
Algerien und Tunesien. Deshalb wandern immer mehr gut ausgebildete junge Marokkaner in andere Länder ab.
Dennoch kann man grundsätzlich von einigen Modernisierungsansätzen
innerhalb der Politik des neuen Königs sprechen. Die demokratischere
Stimmung im Land führte dazu, dass die Zahl der Nichtregierungsorganisationen (NGOs) in Marokko seit 1999 stark zugenommen hat. Im Jahr 2000
gab es in Marokko bereits mehr als 17. 000 NGOs, die im Land eine wichtige
Rolle spielen. „Ohne diese Nichtregierungsorganisationen könnte die Armut
in Marokko nicht hinreichend bekämpft werden“, weiß Nadira Barkali,
Wirtschaftswissenschaftlerin an der Universität Rabat und Frauenrechtlerin.
„Die Politik beteuert zwar immer gerne, dass sie sich der Probleme im Land
annehmen möchte, aber nur die NGOs engagieren sich wirklich tatkräftig,
um die Lebensbedingungen in Marokko zu verbessern.“
Zur Zeit meines Aufenthaltes fanden zum einen die Kommunalwahlen
statt, die ein wichtiger Spiegel für die politische Situation innerhalb des
Landes sind. Die Islamisten erhielten bei den Wahlen großen Zulauf; nur
eine verschwindend geringe Zahl von Frauen wurde in die Gemeinderäte
entsandt. Ein Ergebnis, das zeigt, dass weite Teile der Bevölkerung am
Modernisierungsprozess des Maghreb-Staates nicht beteiligt sind, ihn
sogar verhindern wollen. Profiteure dieser Situation sind eindeutig die
Islamisten, die sich in Marokko besonders stark dafür einsetzen, den
Zugang zur Bildung für alle Bevölkerungsschichten zu öffnen. Dafür haben
sie Alphabetisierungskurse und Wohltätigkeitsvereine eingerichtet und engagieren sich vor allem für die armen und ungebildeten Marokkaner. Auch
an den Universitäten haben sich seit einiger Zeit Islamistenbewegungen eta17
Antje Allroggen
Marokko
bliert, die sich als Opposition zur herrschenden Regierung begreifen. Nicht
zufällig tragen auch immer mehr Studentinnen auf dem Unigelände wieder
Kopftuch.
Zum anderen wurden zwei Reformvorhaben des Königs besonders virulent diskutiert. Eine Entscheidung über ein neues Gesetz der Moudwana, der
Familiengesetze in Marokko, stand im September 2003 bevor. Der König
hatte die Reform schon lange angekündigt, allerdings musste er alle Akteure
der unterschiedlichsten politischen Zugehörigkeit an einen Tisch bringen.
Monatelang schien die Suche nach einem Konsens so gut wie unmöglich.
Am 13. 10. 2003 schließlich, als der marokkanische König Mohammed VI.
nach den Sommerferien die erste Parlamentssitzung eröffnete, kündigte er
an, die traditionellen Familiengesetze des Landes in kürzester Zeit reformieren zu wollen. Sein Versprechen wurde von nationalen, wie auch internationalen Medien als ein großer Schritt, gar als eine „gesellschaftspolitische Revolution“ bezeichnet. Wie mutig sein öffentlich ausgesprochenes
Versprechen ist, lässt sich daran ermessen, dass zuletzt im Jahr 2000 bei der
bislang größten Demonstration innerhalb der marokkanischen Geschichte
eine Million Islamisten in Casablanca auf die Straße gingen, um gegen jedwede Veränderung des „islamischen Rechts“ (Scharia) zu protestieren.
Nach dem bisherigen Familienrecht steht die Frau unter der Obhut ihres Mannes. Ohne seine Zustimmung darf sie noch nicht einmal das Haus
verlassen. Will ein Mann sich von seiner Frau trennen, kann er sie bislang einfach verstoßen, ohne vor einen Scheidungsrichter zu gehen und
für die finanzielle Grundsicherung der Frau Sorge tragen zu müssen. Die
Reformierung des Code de la famille soll fortan unter der Verantwortung
von beiden Ehepartnern und nicht allein unter der des Mannes stehen.
Außerdem wird das Mindestalter für Eheschließungen von 15 auf 18 Jahre
erhöht. Vorgesehen ist auch, die Polygamie ausdrücklich zu verbieten.
Änderungen, die auf die marokkanische Gesellschaft erhebliche Auswirkungen haben werden. Nicht nur die Frauen, die in zahlreichen NGOs seit
Jahren für mehr Rechte der Frauen kämpfen, sind von dem Vorstoß des
Königs begeistert. Auch „einfache“ Frauen, die weder lesen noch schreiben
können, erhoffen sich von den Reformen größere Unabhängigkeit als bisher. Die Reform des Gesetzes wird auf den Status der Frau in Marokko also
erhebliche Auswirkungen haben. Bleibt abzuwarten, wie die Islamisten auf
diesen Gesetzesvorstoß reagieren werden.
Zu den vornehmlichen politischen Zielen des Königs gehört die Alphabetisierung, vor allem der ländlichen Bevölkerung, und die Einschulung
aller schulpflichtigen Kinder. Um ihnen die langen Wege zur Schule zu erleichtern, sollen neue Straßen gebaut und Busse eingesetzt werden. Nach
der Einschulung für das Schuljahr 2003/2004 im September 2003 verkün18
Marokko
Antje Allroggen
deten die marokkanischen Medien stolz, dass die Zahl der eingeschulten
Kinder im Laufe eines Jahres um 2,2 Prozent gestiegen sei. Damit liege die
Einschulungsrate der 6-jährigen Kinder bei 95 Prozent. Wenn man allerdings
über Land fährt und auf dem Weg zahllosen Kindern begegnet, die auf einem Maultier reiten und Wasserkanister transportieren, bekommt man den
Eindruck geschönter Statistiken. Grund dafür mag sein, dass nur ein Bruchteil
der Familien, die auf dem Land teilweise ohne Wasser und Strom leben, von
den staatlichen Behörden überhaupt erfasst und registriert werden.
4. Die neue Bildungspolitik - Situation der Frauen in Marokko
Lange Zeit galt es in Marokko als selbstverständlich, dass Frauen kein
Anrecht auf eine fundierte Ausbildung hatten. Die Grundstrukturen für diese Auffassung finden sich bis heute in vielen islamischen Gesetzen, die sich
zum Teil unmittelbar aus dem Koran ableiten. Der Ehevertrag, der immer
noch in Marokko gilt, versteht die Beziehung zwischen Mann und Frau als
eine Art Tausch: Der Mann erwirbt durch die Zahlung der Brautgabe an
seine zukünftige Frau materielle Sicherheit, die sexuellen und reproduktiven Dienste dieser Frau und ihren absoluten Gehorsam. Der noch geltende Code de Statut Personnel folgt dieser Ungleichheit der Geschlechter, er
wird sogar als gottgegeben angesehen. Der Mann kann darüber entscheiden, wann und ob seine Frau das Haus verlässt. Frauen, die sich in einen
männlich dominierten Raum wagen, tun dies immer noch häufig verschleiert. Selbst im stark westlich geprägten Casablanca kann man beobachten,
dass in den Cafés an den großen Boulevards nur Männer zu sehen sind, die
ihrem Müßiggang nachgehen. Arbeitende Frauen gelten immer noch vielen Männern als bedrohlich, weil sie das sichtbare Zeichen dafür sind, dass
ein Mann seiner Unterhaltspflicht nicht nachgekommen ist. Wenn eine Frau
dennoch einer außerhäuslichen Arbeit nachgeht bzw. nachgehen muss, ist
die männliche Ehre dem traditionellen marokkanischen Verständnis zufolge
in Gefahr. In den Augen der anderen scheint der Mann nicht in der Lage zu
sein, die Familienehre zu schützen.
Die Mehrzahl der Ehen in Marokko fußt nach wie vor auf dem Verständnis
der Ungleichheit von Mann und Frau. Dennoch sieht man zumindest in den
größeren marokkanischen Städten immer mehr junge Frauen, die sich – ablesbar an ihrer Kleidung – bewusst vom tradierten Frauenbild der marokkanischen Gesellschaft absetzen. Die Politik des neuen Monarchen scheint sie
in ihrer westlich orientierten Lebensweise zu bestärken.
19
Antje Allroggen
Marokko
Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts konnte man Marokkos Bildungssystem
allenfalls mit den Standards vergleichen, die in Europa zur Zeit des Mittelalters geherrscht haben. Die Kinder gingen alle in die Koranschule, deren
Atmosphäre sich über Jahrhunderte lang nicht verändert hatte: Im Hintergrund
eines dunklen Raums, zur Gasse der Medina hin geöffnet, hockten sie auf
Matten und sangen mit hohen Nasallauten Koranverse. Wenn die Kinder die
Koranschule verließen, war ihre Ausbildung zumeist abgeschlossen. Nur
sehr wenige besuchten die einzige Universität Marokkos, die im Jahre 808
gegründet worden war. Noch als Marokko 1955 unabhängig wurde, entsprach diese Hochschule dem europäischen Universitätsleben des 12. und
13. Jahrhunderts.
Seit den fünfziger Jahren gab es immer wieder Rufe, die Bildungspolitik
Marokkos zu verbessern. Bereits der Sultan zog 1956 gegen den Analphabetismus zu Felde, und auch die Frauen erkannten schon zu dieser Zeit,
dass ihnen mehr Wissen eine größere Freiheit zusichern würde. Doch erst
allmählich füllen sich die Versprechungen des jetzigen Königs mit einigen
konkreten Maßnahmen, um die Frauen mehr als bisher an der Bildung teilhaben zu lassen.
Mohammed VI. räumt der Gleichbehandlung von Frauen und Männern
in seiner Politik relativ viel Platz ein, weil er erkannt hat, dass nur ein modernisiertes Erziehungssystem dafür sorgen kann, dass Marokko allmählich
den Anschluss an internationale Standards finden kann. Der marokkanische
Bildungsminister kündete 2001 sogar an, ein neues Ausbildungssystem zu
schaffen, das als Mittel für eine neue, gerechtere Gesellschaft dienen soll,
das Männer und Frauen vollkommen gleichberechtigt behandelt. Es wurde eine Charta verabschiedet, die das marokkanische Ausbildungssystem in
seinen Grundstrukturen vollkommen reformieren will. Zu den wichtigsten
Anliegen der Reform gehört zum einen ein flächendeckendes Alphabetisierungsprogramm wie auch das Vorhaben, den Mädchen in den ländlichen
Gebieten einen Schulbesuch in Zukunft grundsätzlich zu ermöglichen. Die
Reformvorhaben haben inzwischen auch eine juristische Basis gefunden.
Was bislang allerdings fehlte, ist eine genaue Analyse des marokkanischen Ausbildungssystems unter geschlechtsspezifischen Aspekten. In
Marokko gibt es erst seit kurzem wissenschaftliche Arbeiten, die versuchen,
das Schulsystem mit der Gender-Frage zu verbinden. Immerhin gibt es seit
Mitte der 90er Jahre erste statistische Erhebungen, die Auskunft darüber geben, wie viele Mädchen in den ländlichen Gebieten Marokkos in die Schule
gehen. Vereinzelte Untersuchungen bemühen sich darum, auch Auskunft
über die qualitative Ausbildungssituation in Marokko zu geben. Dabei
wurde unter anderem festgestellt, dass etwa die Hälfte aller Kinder, die in
ländlichen Gebieten wohnen, einen Schulweg von bis zu fünf Kilometern
20
Marokko
Antje Allroggen
Länge zurücklegen muss. Tatsächlich sieht man entlang der großen Straßen
Marokkos viele Kinder mit Tornistern, die auf dem Weg zur Schule sind.
Außerdem wurde festgestellt, dass 73 Prozent der Jungen, aber nur sechs
Prozent der Mädchen nach der Grundschule weiterführende Schulen besuchen. Grund dafür ist der relativ lange Schulweg, vor dem besonders die
Mädchen zurückscheuen. Außerdem haben die Internate in Marokko für
Mädchen noch sehr viel weniger Kapazitäten als für Jungen. Obwohl die
Zahl der Internatsschüler sich in den vergangenen zehn Jahren erhöht hat –
1991 waren es 56.657, 1998 immerhin schon 62.059 –, sind nur 20 Prozent
der Internatsschüler Mädchen. Inzwischen wird darüber nachgedacht, für
Schülerinnen, die aus ländlichen Gebieten kommen, Stipendien anzubieten,
die sie ermutigen sollen, eine weiterführende Schule zu besuchen. Studien
haben nämlich erwiesen, dass Mädchen sehr viel bessere Leistungen in der
Schule erbringen als ihre männlichen Mitschüler.
Viele Mädchen haben außerdem nicht die Möglichkeit, einen höheren
Schulabschluss zu machen, weil sie von ihren Eltern sehr früh verheiratet
werden. Noch kann eine Ehe geschlossen werden, wenn das Mädchen 15
Jahre alt ist. Erst die Abschaffung des bisherigen Code de la famille sieht
vor, das Heiratsalter auf 18 Jahre zu erhöhen.
Im Unterricht erfahren die Mädchen bereits im jungen Alter von der
Abhängigkeit des weiblichen Geschlechts. Bis heute werden jedoch die
Diffamierungen, die viele Mädchen im Schulunterricht zu ertragen haben, tabuisiert. Nicht selten kommt es sogar zu sexueller Belästigung und
Vergewaltigung. Als vor drei Jahren in Casablanca 500 Gymnasiastinnen
und Studentinnen danach gefragt wurden, ob sie schon einmal innerhalb
eines Schul- bzw. Universitätsgebäudes sexuell belästigt worden seien, beantworteten 96,2 Prozent der Befragten die Frage positiv. Ihren Auskünften
zufolge komme es an nahezu allen öffentlichen Orten zu regelmäßigen sexuellen Übergriffen: in Schulhallen, den Bibliotheken, Toiletten, Garderoben.
Ein junges Mädchen, das an einem Alphabetisierungskurs in der Nähe von
Marrakesch teilnimmt, bestätigte mir, dass nahezu alle Mädchen und Frauen
sexuell belästigt oder regelmäßig geschlagen würden. Seitdem sie bei ihrem Onkel wohne, würde der sie regelmäßig schlagen. Ohne seine Erlaubnis
dürfe sie außerdem nicht das Haus verlassen.
In den Schulen ist es meistens das Lehrpersonal, das die Schülerinnen
belästigt. Die Hälfte der Mädchen gab übrigens an, dass die Lehrer, die sie
sexuell missbrauchen, sie das Schuljahr wiederholen ließen. Viele mussten
daraufhin ihren Schulbesuch beenden. Inzwischen werden immerhin immer mehr dieser Fälle publiziert, so dass allmählich der öffentliche Druck
wächst, gegen das Problem politisch vorzugehen.
21
Antje Allroggen
Marokko
Eine aktuelle Studie hat herausgefunden, dass die Kinder von Müttern, die
lesen und schreiben können, bessere Voraussetzungen haben, eine Schule zu
besuchen. Darüber hinaus wurde auch festgestellt, dass viele Jungen und
Mädchen nur wenig Interesse an einem Schulbesuch haben. Stattdessen ziehen sie es vor, selbst hergestellte Produkte auf Märkten zu verkaufen. Die
Mädchen müssen dabei allerdings das Geld an ihre Männer bzw. Väter abgeben und können sich gegen diese Bevormundung kaum wehren, weil sie
noch nicht einmal die Summe errechnen können, die sie am Tag eingenommen haben. Deshalb zielt der Schulbesuch der Mädchen auch darauf ab, ihnen zumindest die grundlegenden Rechenarten und das Alphabet beizubringen, damit sie in der Lage sind, ihr verdientes Geld selber zu verwalten. Ein
Schulbesuch kostet die Eltern in der Regel viel Geld: der Staat übernimmt
keine Kosten für Bücher und Hefte, alles ist selber zu finanzieren. Insofern
nimmt es kaum Wunder, dass eine kinderreiche Familie finanziell stark belastet wird, wenn sie jedes Kind so lange wie möglich zur Schule schicken
will. „Meine Tochter soll dennoch alle Möglichkeiten einer guten Ausbildung bekommen“, erzählt Malika, der es selber nicht möglich gewesen war,
lesen und schreiben zu lernen. Gleichzeitig befürchtet sie, ihre Tochter könne sie, wie ihre Söhne auch, nach der Schule verlassen. Schließlich bieten
die großen marokkanischen Städte sehr viel bessere Verdienstmöglichkeiten
als die ländlichen Gebiete.
Wenn die Regierung stolz verkündet, dass von Jahr zu Jahr immer mehr
schulpflichtige Kinder die Schule besuchen, wird allerdings nach wie vor
nicht zwischen Jungen und Mädchen differenziert. Die Charta war ursprünglich davon ausgegangen, dass im Schuljahr 2002/2003 alle sechsjährigen
Marokkaner und Marokkanerinnen eine Schule besuchen. Das ist jedoch
immer noch nicht der Fall.
Darüber hinaus gibt es in Marokko keine wirkliche Trennung zwischen
Staat und Religion. Der Schulunterricht wird stark von islamischen
Vorstellungen geprägt. Das heißt: das Bild einer Frau, die ihrem Mann untersteht, wird auch in den Schulen weiterhin vermittelt. Auch die pädagogischen Methoden orientieren sich am klassischen islamischen Frauenbild
und ermöglichen kaum einen freien und kritischen Diskurs über Modernisierungsvorhaben in der marokkanischen Gesellschaft. Die Institution
Schule, die nach wie vor die sehr konservativen Ideale über das Verhältnis
zwischen Mann und Frau vermittelt, prägt das Rollenverständnis zwischen
den Geschlechtern nach wie vor sehr stark.
Nicht die Schulen, sondern die Frauenrechtsbewegungen, von denen es
in Marokko zahlreiche gibt, haben stattdessen die Aufgabe übernommen,
das Erziehungssystem zu modernisieren und es an einem Frauenbild zu
orientieren, das sich von alten Rollenklischees verabschiedet und stattdes22
Marokko
Antje Allroggen
sen von der Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern ausgeht. Die
meisten Frauenrechtsbewegungen befinden sich in Rabat. Fast alle Frauen,
die sich hier engagieren, arbeiten ehrenamtlich. Die Organisationen haben
sich voll und ganz der Aufgabe verschrieben, die Lebensbedingungen für
die Frauen in Marokko zu verbessern. Sie selber bezeichnen sich als militant und wollen die nötigen gesellschaftspolitischen Veränderungen nicht
allein der Politik überlassen. Mit finanzieller Unterstützung internationaler
Organisationen und Stiftungen richten sie Alphabetisierungskurse ein und
bieten Frauen eine rechtliche Beratung an. Die in diesen Einrichtungen tätigen Frauen – und Männer – sind untereinander bestens vernetzt, teilweise
auch miteinander befreundet. Sie haben die Gleichberechtigung schon längst
zu ihrem Lebensmotto erklärt. Viele von ihnen sind von ihren Männern geschieden und stehen finanziell auf eigenen Füßen. Sie verdeutlichen nach
außen hin, dass ein gesellschaftspolitischer Wandel hin zu demokratischeren Werten in Marokko grundsätzlich möglich erscheint. Allerdings sind die
meisten Frauen in Marokko noch um Lichtjahre von diesen Vorreiterinnen
entfernt. Sie können weder lesen noch schreiben, werden nicht selten von
ihren Ehemännern geschlagen und sind sich ihrer zivilen Rechte noch nicht
einmal bewusst. Ein Ausbruch aus der Ehe oder dem gemeinsamen Haushalt
ist in den seltensten Fällen möglich, weil die Frau finanziell vollkommen
auf ihren Mann angewiesen ist. Erst ein verbessertes Bildungssystem könnte sie aus ihren Abhängigkeiten befreien. Die Alphabetisierungskurse dienen dazu, den Frauen eine erste Grundlage zu geben, eine einfache Arbeit,
zum Beispiel als Schneiderin, aufnehmen zu können. Deshalb befinden sich
in vielen Klassenräumen auch alte Nähmaschinen, an denen die Frauen lernen zu schneidern. Die Kurse vermitteln weitere praktische Dinge: wie eine
Rechnung zu schreiben ist, wie man Aufträge schriftlich festhält und wie
Zahlen auf dem Papier aussehen. Auf diese Weise garantiert der Besuch eines Alphabetisierungskurses nicht nur, lesen und schreiben zu können, sondern auch, einen Beruf zu erlernen, um damit finanziell unabhängig zu werden. Interessanterweise beginnen die Alphabetisierungskurse in der Regel
mit dem Rezitieren eines Koranverses. Hier wirken die Stimmen der Frauen
sicher, die Worte sind ihnen seit Jahren in Fleisch und Blut übergegangen.
Das gemeinsame Beten soll sie motivieren und ihnen die Furcht vor einer
Unterrichtssituation nehmen, die sie bislang noch nicht kannten.
Darüber hinaus bieten die Kurse diesen Frauen die Möglichkeit, über ihre
Probleme mit anderen Frauen zu reden. Die Teilnehmerinnen müssen das
laute Artikulieren vor Zuhörern regelrecht üben. Selten oder sogar nie zuvor
ist ihnen in ihren Familien das Recht eingeräumt worden, vor Publikum eine
eigene Meinung zu äußern.
23
Antje Allroggen
Marokko
Um die Frauen dazu zu bewegen, am Alphabetisierungs-Unterricht teilzunehmen, bedarf es allerdings viel Zeit und Mühe. Nur selten gibt es die
Möglichkeit, telefonisch auf die Veranstaltungen aufmerksam zu machen.
Also müssen die Mitarbeiter der Organisationen von Tür zu Tür gehen
und regelrecht um die Teilnahme an einem Alphabetisierungskurs werben.
Häufig sind es die Männer, die ihren Frauen verbieten, am Unterricht teilzunehmen. Falls es den Frauen jedoch gelingt, lesen und schreiben zu lernen
und danach einer Tätigkeit nachzugehen, bekommen viele von ihnen mehr
Selbstbewusstsein: Sie sind plötzlich beweglich und können mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren, weil sie die Schilder auf den Fahrzeugen lesen
können; sie können die Zeitungen lesen und sich ein eigenes Bild von Politik
und Gesellschaft machen. Mehr noch, sie erfahren von Möglichkeiten, sich
aus der Abhängigkeit ihrer Männer zu befreien und neben ihren familiären
Verpflichtungen eigene Wege zu gehen. „In Zukunft muss man sich aber nicht
nur auf die Frauen konzentrieren, sondern auch Kontakt zu ihren Männern
aufnehmen“, meint Hassan Morjani, einer der wenigen Männer, die sich für
die Gleichberechtigung der Frauen in Marokko engagieren. Er leitet eine
Initiative in Salé bei Rabat, die unter anderem Alphabetisierungskurse für
Frauen anbietet. „Erst wenn auch die Männer begriffen haben, dass sie nicht
einfach brutal über ihre Frauen verfügen können, werden die Frauen ihre
Rechte auch verwirklichen können.“
In Rabat habe ich mehrere deutsche Frauen kennengelernt, die ursprünglich nach Marokko gekommen waren, weil sie einen Marokkaner geheiratet haben. Alle diese Ehen sind im Laufe der Zeit geschieden worden.
Zumeist waren die unterschiedlichen Vorstellungen über die Rolle der Frau
unüberwindlich. Außerdem brachte auch die Familie des Mannes nur wenig
Verständnis für die „Frau aus Europa“ auf. „In Marokko als geschiedene
Frau zu leben, ist der reine Alptraum“, erinnert sich Sabine Kilito, die in
den 70er Jahren mit ihrem Mann nach Marokko kam. „Man wird von allen
Männern wie Freiwild behandelt. Allein deswegen ist es ratsam, hier verheiratet zu sein.“ Inzwischen ist sie mit einem marokkanischen Professor in
zweiter Ehe verheiratet und unterrichtet als Deutsch-Lehrerin am GoetheInstitut in Rabat. Ihre Erfahrungen mit der anderen Kultur, die ihr bis heute, auch wenn sie sie gut kennt, fremd geblieben ist, hat sie in zahlreichen
Romanen verarbeitet. Ihre beste Freundin hat genau das gleiche Schicksal
erlebt: Heirat mit einem Marokkaner, Scheidung, zweite Heirat mit einem
Marokkaner. Beide sagen, dass das Leben in Marokko für sie, auch dreißig
Jahre nach ihrem Umzug hierher, nicht einfach sei. „Viele Marokkaner begegnen uns nach wie vor mit einigem Misstrauen, allein aufgrund unserer
blonden Haarfarbe und unserer Kleidung. Dabei können wir beiden sogar
24
Marokko
Antje Allroggen
fließend arabisch, auch das reicht häufig nicht aus, um sich in das gesellschaftlich immer noch stark männlich geprägte Leben zu integrieren.“
Beide haben beobachtet, dass ein Teil der Frauen in Marokko sich am
europäischen Frauenbild orientiert, ein anderer Teil aber zum traditionellen islamischen Rollenverständnis zurückkehrt. In den Deutschkursen des
Goethe-Instituts erscheinen seit einiger Zeit immer mehr junge Mädchen
mit Kopftuch. „Nicht immer aus politischer bzw. religiöser Überzeugung,
sondern häufig auch deswegen, um sich in der Öffentlichkeit vor männlichen Avancen zu schützen“, vermutet Sabine Kilito. „Aber es ist schwerer,
sie als Person einzuschätzen. Die meisten Mädchen, die Kopftuch tragen,
halten sich mit ihrer Meinung im Unterricht vollkommen zurück. Deswegen
ist der Zugang zu ihnen sehr viel schwerer, und, das muss man ehrlicherweise auch sagen, die Vorurteile sind erst einmal größer, wenn eine junge Frau
mit Kopftuch in meinem Unterricht erscheint.“
Die Frauen, die in Marokko ehrenamtlich tätig sind, haben in der Regel
einen höheren Schulabschluss, haben häufig studiert, und üben einen Beruf
als Professorin an der Universität oder in einer internationalen Organisation
aus. Alle Frauen, die ich kennen gelernt habe, standen finanziell völlig auf eigenen Füßen, lebten allein oder waren geschieden. „Wir sind eben wirkliche
Idealisten“, gesteht Sadira, die schon über zehn Jahre in der Frauenbewegung
aktiv ist. „Ich glaube einfach daran, dass es für Marokko eine Möglichkeit
gibt, sich zu einem freien und demokratischen Staat zu entwickeln, und weil
die Regierung nicht genug dafür tut, gibt es eben zahlreiche NGOs, die diese
Aufgabe maßgeblich übernehmen.“
5. Der Stadt-Land-Konflikt
Auf dem Land, vor allem im Süden Marokkos, beschränken sich die
Alphabetisierungskurse nicht allein auf das Erlernen von Schrift und
Sprache. In Ouarzazate zum Beispiel hat man die Frauen dazu ermutigt, gemeinsam Ball zu spielen. Für diese Frauen – die traditionellerweise alle verschleiert sind und lange Kaftans tragen – war es das erste Mal, sich auf diese
Weise ausgelassen zu bewegen, die Hände vom Körper weg zu strecken und
auf diese Weise eigene Körperlichkeit zu erfahren. Viele Frauen haben so
zum ersten Mal erlebt, wie es sich anfühlt, sich ungehemmt und unkontrolliert bewegen zu können. Für Sadira, eine Powerfrau aus Rabat, die schon
seit Jahren in der Frauenbewegung aktiv ist, ein deutliches Zeichen dafür,
dass die Verschleierung die Frauen daran hindert, sich frei zu bewegen, ein
eigenes Körpergefühl zu entwickeln.
25
Antje Allroggen
Marokko
Zwischen der Alphabetisierungsrate von Männern und Frauen gibt es ein
drastisches Stadt-Land-Gefälle: Während 1998 in den Städten immerhin
54,5 Prozent der Frauen lesen und schreiben konnten, waren es auf dem
Land nur 17 Prozent. Dennoch ist inzwischen einiges für die Ausbildung getan worden: 1982 konnten nur fünf Prozent (!) der Frauen, die auf dem Land
lebten, lesen. Noch immer gibt es sehr viel mehr Männer, die zumindest
eine Grundausbildung genossen haben: 1998 war gut zwei Drittel der in den
Städten lebenden Männer alphabetisiert; auf dem Land konnten zu dieser
Zeit immerhin schon mehr als die Hälfte der Männer lesen und schreiben
(Quelle: UNIFEM, 2003).
Eine aktuelle Studie hat herausgefunden, dass es besonders die Mütter sind,
die in den ländlichen Gebieten einen erheblichen Einfluss auf die Erziehung
ihrer Töchter haben. Die Frauenbewegungen versuchen deshalb, diesen
Müttern die Vorteile einer schulischen Ausbildung aufzuzeigen, um so zu
erreichen, dass immer mehr Mädchen trotz weiter Entfernungen zur Schule
geschickt werden. Besonders die jungen Frauen haben inzwischen erkannt,
dass eine bessere Ausbildung ihren Töchtern bessere Lebensbedingungen
ermöglicht und unterstützen deshalb die Initiativen der Organisationen.
Viele Nichtregierungsorganisationen haben auf dem Land eigene Initiativen gegründet, die sich darum bemühen, den Frauen Lesen und Schreiben
beizubringen. Die Caravane Civique ist eine Organisation, die inzwischen
auch international bekannt ist, weil sie von Fertima Mernissi unterstützt
wird. Gegründet wurde sie von Jamila Hassoune, die im Universitäts-Viertel
von Marrakesch einen kleinen Buchladen besitzt. „Angefangen hat alles mit
der Idee, Frauen, die in entlegenen Dörfern leben und noch nie in ihrem
Leben ein Buch in der Hand gehabt haben, alte, bekannte Geschichten vorzulesen“, erzählt Jamila Hassoune. Dafür packte sie Stapel von Büchern in
ihren kleinen Renault und fuhr einfach los. Inzwischen hat sich die Tour in
die Bergdörfer institutionalisiert: zahlreiche Ehrenamtliche helfen ihr bei
ihrer Fahrt. Sogar Schriftsteller, Journalisten und Künstler nehmen inzwischen an der Karawane teil und lesen der einheimischen Bevölkerung in
alter Tradition Geschichten aus dem Orient vor. „Ich habe im Hohen Atlas
ganz allein eine Umfrage unter 100 Jugendlichen gemacht“, so Hassoune.
„Daraus ergab sich, dass es nicht nur einen richtigen Wissenshunger gibt,
sondern auch ein Bedürfnis, sich mit Künstlern, Literaten und Erzählern zu
treffen.“
Neben der Caravane Civique hat Jamila Hassoune den Club du livre et
de la lecture gegründet, in dem junge, engagierte Lehrer, Ärzte und Juristen
mithelfen. Gemeinsam sammeln sie Jahrhunderte lang mündlich überlieferte Berbermärchen und bringen sie in eine schriftliche Form. „Unsere kleine
Buchhandlung ist ein Treffpunkt geworden für alle, die sich beteiligen wol26
Marokko
Antje Allroggen
len.“ Im Obergeschoss der Buchhandlung zeigt sie mir großflächige abstrakte Bilder. Alle sehr ausdrucksstark, mit einzelnen konkreten Elementen.
Geschichten, die über das harte Leben auf dem Land erzählen. Jamila
Hassoune fördert inzwischen auch Künstlerinnen aus dem Süden Marokkos.
Autodidaktinnen, die nie in eine Schule gegangen sind, nicht lesen und nicht
schreiben können und stattdessen die Kunst als Vehikel benützen, um ihre
Gefühlswelt anderen mitzuteilen.
In Essaouira, einem Strandort im Süden Marokkos, der lange Zeit als ein
wenig verschlafen galt, leben viele Künstler, die Analphabeten sind, inzwischen aber von ihrer Malerei leben können. Einige von ihnen sind außerdem
stark von der Gnaoua-Musik geprägt, für die Essaouira bekannt ist. In der
Gnaoua-Musik werden bestimmten Farben bestimmte Klänge zugeordnet.
Die Maler setzen die Töne bildlich um. So entstehen Bilder-Geschichten,
in denen die Künstler, ohne Schrift und Sprache benutzen zu müssen, sich
nach außen mitteilen können. Patrick, ein Niederländer, der bereits vor
Jahrzehnten in Essaouira die erste Galerie eröffnete, gilt als Entdecker dieser Bilder-Sprachen. Er hat vielen Künstlern ermöglicht, von ihrer Malerei
leben zu können. Ein Mitarbeiter der Galerie erzählt, dass das marokkanische Kunstgewerbe – die Schnitzereien, Intarsien- und Knüpfarbeiten – bis
heute für viele Marokkaner die einzige Ausdrucksmöglichkeit sei, weil sie
weder lesen noch schreiben könnten. Vielleicht ist die Kunstfertigkeit vieler
Marokkaner tatsächlich damit zu erklären, dass sie ihnen als Schrift-Ersatz
im Alltag dient.
6. Zwischen Nomadenstämmen und Berberaffen - die chicste Universität
Marokkos liegt in der grünen Mitte Marokkos
Im mittleren Atlas, wo Berber ihre Schafe durch die öde Landschaft treiben, liegt das kleine Bergdörfchen Ifrane, der wohl ungewöhnlichste Ort
innerhalb Marokkos. Denn hier gibt es gepflegte Bürgersteige und gesprengte Rasenflächen, die man nicht betreten darf. Die einstige französische Kolonialmacht hatte sich hier in den zwanziger Jahren eine Kunstwelt
geschaffen, die noch heute sehr an das europäische Ausland erinnert:
Ziegeldächer und Giebelhäuser wähnen den Besucher im Elsass, und in den
stark französisch geprägten Cafés trifft man auf westlich gekleidete Studenten. Sie besuchen die Universität Al Akhawayn. Eine marokkanisch-saudische
Gründung, die sich die saudischen Scheichs 50 Millionen US-Dollar kosten
ließen. Als einzige marokkanische Hochschule bietet sie den Studierenden
die Möglichkeit, einen internationalen Abschluss in den Fächern Informatik,
BWL und internationale diplomatische Beziehungen zu machen.
27
Antje Allroggen
Marokko
Mehr als 50 Prozent der Studierenden sind weiblich – eine erstaunlich
hohe Zahl für ein muslimisch geprägtes Land, in dem in der Regel nur
Männer eine akademische Karriere machen. Doch viele der Studentinnen
sind nicht ganz freiwillig hier. Ihre Eltern haben ihnen verboten, an eine
ausländische Universität zu gehen. Um ihnen dennoch eine angemessene
Ausbildung zu ermöglichen, sind sie in Ifrane.
Einige der Studentinnen tragen bauchfreie Shirts auf dem Campus, andere verhüllen sich mit Kopftuch. Auch die Mädchen mit Kopftuch würden gerne an eine Universität ins Ausland wechseln. Allerdings befürchten
sie, aufgrund ihrer Verschleierung Probleme zu bekommen. Hier, auf dem
Campus, scheint die Integration zwischen traditionellen und westlich orientierten Marokkanern hingegen vorbildlich zu funktionieren. Abends wird zu
amerikanischen Filmen eingeladen, gleichzeitig steht inmitten der Anlage
eine Moschee – eine Nachbildung der Moschee Koutoubia in Marrakesch.
Der Lehrkörper setzt sich aus Marokkanern und Amerikanern zusammen.
Die Universität ist für ausländische Lehrkräfte allein deshalb attraktiv,
weil sie ein gutes Gehalt garantiert. Hachim Haddouti lehrt Informatik und
Softwareentwicklung an der Universität in Ifrane. Als Deutschmarokkaner
hat er in Berlin studiert, an der TU München promoviert und war als
Gastdozent in Japan und in den USA. Weil er als angehender Wissenschaftler
in Deutschland nur wenig verdiente, ging er nach Marokko. Ohne habilitiert
zu haben, lehrt er an der Al Akhawayn-Universität als Professor und kann
sich einen großen Mercedes mit abgedunkelten Fensterscheiben leisten.
Seine Nähe zu Deutschland bewahrt er sich, indem er an der Universität
einen German Club gründete. Außerdem rief er eine Partnerschaft mit der
TU München ins Leben.
Inzwischen hat der German Club bereits mehr als 50 Mitglieder.
Nicht wenige der marokkanischen Studierenden erhoffen sich von ihrer
Mitgliedschaft, ihr Studium an einer deutschen Uni fortsetzen zu können.
Schließlich, so sagen sie, sei das Studium in Deutschland gebührenfrei.
Das Studium an der Universität Al Akhawayn hingegen kostet mindestens 1.000 Euro pro Semester. Folglich studieren an der noblen Uni nur
die reichsten Töchter und Söhne angesehener marokkanischen Familien.
Auch der Cousin des marokkanischen Königs studiert in Ifrane. Deswegen
ist der Campus wie ein Kasernengelände abgesichert. Ein Studium hinter
verschlossener Schranke – ein Studium wie im goldenen Käfig.
Nur wenige Meter vom Universitätsgelände entfernt, wohnen Menschen
in Hütten, ohne fließendes Wasser und Strom. Die Gegend ist bekannt dafür,
dass hier viele Frauen der Prostitution nachgehen, um auf diese Weise Geld
für ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Die Universität bemüht sich im amerikanischen Stil darum, die Armut um den Campus herum zu lindern. Man
28
Marokko
Antje Allroggen
spendet zum Beispiel Stifte, Schultafeln und Tornister an die Bedürftigen.
Außerdem wurde im Nachbarort Azrou ein eigenes Frauenzentrum eingerichtet. Hier haben die Frauen die Möglichkeit, medizinisch versorgt zu
werden und an Alphabetisierungskursen teilzunehmen.
Das Beispiel Ifrane zeigt, wie dicht in Marokko Wohlstand und Armut nebeneinander stehen. Während ein Teil der Bevölkerung für viel Geld einen
Master of Business and Administration erwerben kann, leben nur ein paar
Kilometer weit entfernt noch heute Nomaden in ihren Zelten.
7. Eine kurze Begegnung mit Fertima Mernissi, prominenteste Frauenrechtlerin Marokkos
Bereits Wochen vor meiner Abreise nach Marokko hatte ich den Versuch
unternommen, bei Fertima Mernissi per e-mail nach einem Interviewtermin
anzufragen. Allerdings ohne Erfolg. Auch die Friedrich-Ebert-Stiftung in
Rabat, die in gutem Kontakt zur prominentesten Frauenrechtlerin des Landes
steht, konnte leider nicht behilflich sein. Umso erleichterter war ich, als es
über eine Veranstaltung der Deutschen Botschaft in Rabat die Möglichkeit
gab, Frau Mernissi zu begegnen und sie um ein kurzes Gespräch zu bitten. Fertima Mernissi war eine der ersten Frauen, die Anfang der sechziger
Jahre im Maghreb-Staat studierten und die anschließend eine wissenschaftliche Karriere ansteuerte. Auf 100 Studierende kamen damals 27 weibliche
Kommilitonen. Bis zu ihrem 18. Lebensjahr erging es Mernissi wie vielen anderen marokkanischen Frauen: Sie hatte ihre Heimatstadt Fès, die als
besonders traditionsbewusst gilt, noch nie verlassen. Sie war 1949 in Fès
geboren worden. Ihre Mutter und Großmutter waren Analphabetinnen und
führten ein traditionelles, von Geschlechtertrennung und Verschleierung geprägtes Leben in einem Harem. Ihr Leben in diesem „Harem“ betont sie immer wieder in ihren Texten, ohne ihre Aussage jedoch genauer zu erläutern.
Stattdessen wirken ihre Ausführungen häufig sehr assoziativ.
Nach dem Besuch einer traditionellen Koran – und einer Nationalschule
studierte Mernissi an der Universität in Rabat Jura. Sie fällt durch die
Prüfungen und entscheidet sich für ein Studium der Soziologie. Diese
Studienzeit in Rabat zu Beginn der 60er Jahre war für sie eine sehr prägende Zeit, wird sie doch bis heute mit den durch die Unabhängigkeit von
Frankreich bedingten Veränderungsprozessen in Verbindung gebracht.
Durch einen Au-Pair-Aufenthalt 1965 bis 1966 in London und das anschließende Studium im Paris der 68er Bewegung lernte sie die freizügige westliche Lebensart kennen. Als junge Studentin schreibt sie bereits für das renommierte Magazin Jeune Afrique, das in Paris herausgegeben wird. Ihre
29
Antje Allroggen
Marokko
Meinungen sind dem Blatt aber bald schon zu unkonventionell – sie muss
die Zeitschrift verlassen.
Nach einem Aufenthalt in den USA kehrt Mernissi schließlich in ihr
Heimatland zurück, wo sie bis 1981 Soziologie an der Universität Mohammed V in Rabat lehrt. Mernissi beendet ihre Lehrtätigkeit, weil sie ihre
Ansprüche, die sie an die soziologische Lehre und Forschung stellt, in
Marokko scheinbar nicht verwirklichen kann: „Wenn man Soziologie
als Wissenschaft genauestens betreiben will, muss man auch das wissenschaftliche Rüstzeug zur Verfügung gestellt bekommen, um soziologische
Forschungen über das Land anstellen zu können. Das wird uns Wissenschaftlern in den arabischen Ländern aber verwehrt“, schreibt sie 1989
rückblickend in einem Aufsatz. Seitdem geht sie ihren Forschungsinteressen
anderweitig nach, indem sie beispielsweise für die UNESCO und die
UNO arbeitet. Ferner engagiert sie sich journalistisch für marokkanische
Frauenzeitschriften. Gleichzeitig ist Mernissi in marokkanischen, arabischen
und afrikanischen Frauenkollektiven aktiv, die gemeinsame Forschungen
und Publikationen in Angriff nehmen.
Inzwischen wird die Soziologin mit Preisen überhäuft. Erst vor kurzem erhielt sie den spanischen Prinz-von-Asturien-Preis, den sie sich mit der nicht
minder bekannten amerikanischen Schriftstellerin Susan Sonntag teilt. Vom
ägyptischen Nobelpreisträger Nagib Mahfus wurde sie zur „einflussreichsten Intellektuellen der arabischen Welt“ gekürt. Fertima Mernissi veröffentlichte zahlreiche Studien über die Vereinbarkeit von Islam und Moderne, die
in mehreren arabischen Ländern teilweise heute noch verboten sind. Auch
in Marokko standen einige ihrer Bücher für längere Zeit auf dem Index.
Die Soziologin hat allerdings sehr früh verstanden, dass ein zensiertes Buch
in einem islamischen Land den Stellenwert und Bekanntheitsgrad dieser
Veröffentlichung auch international nur erhöht und hat bei späteren Büchern
sogar gehofft, dass sie zunächst in Marokko nicht zu kaufen seien.
Mernissi brüskiert konservative islamische Gralshüter mit der Forderung
nach einer modernen Koran-Interpretation und wirbt mit wachsendem Erfolg
für einen „vorurteilslosen Dialog der Kulturen“. Dieser kann ihrer Meinung
nach nur gelingen, wenn sich Orient und Okzident gleichermaßen auf einander zu bewegen. Als Frauenrechtlerin meint Mernissi, dass die Frauen in
der Annäherung zwischen Orient und Okzident eine wichtige Rolle spielen.
Sie kämpft dafür, dass die Frauen im Maghreb mehr Rechte – vor allem auf
Bildung – bekommen, damit sie sich selbst aus dem „Harem“ der männerdominierten Gesellschaft befreien können. In Wort und Schrift vermutet die
Soziologin ein wahres Macht-Potential der Frauen, das ihnen dabei helfen
kann, ihre Rechte ohne das Mittel der Gewalt erfolgreich durchzusetzen.
Ihrer Meinung nach kann es nicht Ziel sein, dass sich die Marokkanerinnen
30
Marokko
Antje Allroggen
dem europäischen bzw. amerikanischen Frauenbild einfach anpassen.
Auch die „westlichen“ Frauen müssen sich nämlich, so Mernissi, von ihren
„Harems“ des Konsumterrors emanzipieren, sind also nicht selten genauso
unfrei wie Frauen im Orient. Damit distanziert sich die Soziologin in ihren
Schriften immer mehr von westlichen Konzepten, die sie bis in die achtziger Jahre hinein als Vorbild für den Orient vertreten hatte. Seit Ende des
Golfkriegs wendet sich Mernissi mehr ihrem arabischen und muslimischen
Erbe zu und will Marokko in einen moderneren Staat überführen, indem
nicht westliche Werte kopiert, sondern alte islamische Traditionen wiederentdeckt werden. Nicht nur in den okzidentalen, auch in den orientalischen
Gesellschaften sei die Vorstellung von Demokratie nämlich durchaus angelegt. Eine mutige These, hat es in den islamischen Ländern doch nie eine
Aufklärung, Revolution oder einen Humanismus gegeben.
Die Abgrenzung vom europäischen Ideen- und Gedankengut ist bis heute
bei vielen marokkanischen Intellektuellen zu beobachten. Nadira Barkali,
Professorin an der Universität Rabat und Frauenrechtlerin, macht vor allem den Westen für diese Abkehr des Orients von Europa verantwortlich.
Nicht nur die Bush-Politik nehme auf die Bedürfnisse der Araber keinerlei Rücksicht, auch Europa verschärfe mit seiner Nahostpolitik den Graben
zwischen dem Orient und dem Okzident. „Ich bin von meiner Mutter nach
westlichen Werten erzogen worden“, erzählt Barkali. Meine Mutter hat
schon vor dreißig Jahren kein Kopftuch mehr getragen und hat auf Europa
als Vorbild für uns gehofft. Wie aber soll ich bei meinen Studierenden für
ein Europa werben, das die USA in ihrer arabisch-feindlichen Politik unterstützt? Ich kann in Europa kein Vorbild mehr für uns Marokkaner sehen.“
Die Biographie Fertima Mernissis macht jedoch deutlich, dass sich der
Zugang zur Bildung entscheidend auf die Lebensplanung auswirken kann.
Durch eine entsprechende Ausbildung kann der traditionell vorgezeichnete Weg einer Frau, das heißt Ehe und Mutterschaft – Mernissi ist weder
verheiratet noch hat sie Kinder – verlassen oder modifiziert werden, weil
eine oder gar mehrere Alternativen zur Verfügung stehen. Diese Wahl an
Möglichkeiten schärft bei vielen gebildeten marokkanischen Frauen das
Bewusstsein, sich nicht als eine von ihrem Mann abhängige Frau zu definieren, sondern als ein Individuum, das vollkommen frei ist in seinen
Entscheidungen.
Fraglich ist dabei, ob diese Möglichkeiten von Freiheit und Individualismus wirklich allen Frauen in Marokko zur Verfügung stehen. Die Bücher
Mernissis zumindest erschließen sich nur denjenigen, die französisch oder
englisch sprechen können, also einer Minderheit. Die Autorin Ursula Günther geht davon aus, dass Mernissi sich auch gar nicht „an die breite arabische Masse wenden will, weil sie diese (eben) gar nicht erreichen könnte“.
31
Antje Allroggen
Marokko
Stattdessen will sie in erster Linie die Intellektuellen Marokkos und auch
das westliche Publikum mit ihren Streitschriften ansprechen. Von den „einfachen“ Frauen Marokkos werden ihre Botschaften wohl kaum verstanden.
Aus der umworbenen Intellektuellen ist im Laufe der Zeit ein Star mit
Allüren geworden. Auf dem Podium in Rabat erzählt sie, dass sie gerade von
einem Kongress in Madrid komme und bald nach Deutschland zur Frankfurter
Buchmesse fliege. Dabei hält sie ihre neuesten Veröffentlichungen in die
Luft, gestikuliert viel und redet dabei phrasenhaft ohne großen Gehalt.
Eine Diva, der dennoch alle Zuhörer bewundernd an den Lippen hängen.
Zwei Kollegen – ein junges Mädchen, das für die GTZ arbeitet, und ein
Hörfunkkollege aus Deutschland – möchten Mernissi interviewen, geben
aber schließlich auf, weil die Soziologin darauf verweist, dass sie grundsätzlich keine Interviews gebe. Auch die Deutsche Botschaft erweist sich als
wenig hilfsbereit, ein Gespräch zu vermitteln. Aus irgendwelchen Gründen
gibt sie mir eine kleine Chance und verspricht mir ein Interview im Van
der Delegation, auf dem Weg ins Restaurant zum Mittagessen. Immerhin
gelingt eine erste Frage. Ob sie es bedaure, dass so viele junge qualifizierte Leute das Land verlassen. Ja, es sei ein Verlust für Marokko, dass die
besten Köpfe ins Ausland gingen. Das alles könne man aber auch auf ihrer
Homepage nachlesen. Dann lässt sie sich durch ihren Nachbarn auf dem
linken Fahrersitz ablenken, hat den Faden verloren, steigt aus und fängt ein
neues Gespräch mit Hans Magnus Enzensberger an, der ebenfalls an der
Veranstaltung teilnimmt. Mernissi steuert gedankenlos auf das Restaurant
zu und ist in ihren rauschenden blauen Gewändern plötzlich verschwunden.
Mir wird klar, dass Frau Mernissi durch ihre Prominenz an Bodenhaftung
verloren hat. Zwischen ihrem Jetset-Leben, das auf hohem Niveau für eine
eigene Kultur des Orients wirbt, und dem Leben der Frauen auf dem Land,
die nicht lesen und schreiben können, liegen Welten. Inzwischen hat sie die
„Feldarbeiten“ längst anderen überlassen: Frauen, die vor Ort arbeiten und
dadurch direkt daran beteiligt sind, den Demokratisierungsprozess voranzutreiben.
8. Frauen in den Medien – Situation der Medien
Immer mehr Titelseiten marokkanischer Zeitungen und Zeitschriften
schmücken Frauen. König Mohammed VI. ist der erste König des MaghrebStaates, der eine Bürgerliche geheiratet hat. Gerne zeigt er sich in den
Gazetten mit seiner Frau, neuerdings auch mit ihrem Neugeborenen. Eine
nach außen hin glückliche, moderne Familie.
32
Marokko
Antje Allroggen
Das Magazin Femmes du Maroc ist die erste marokkanische Frauenzeitschrift, die sich ganz auf eine weibliche Leserschaft eingestellt hat. Das
Magazin versteht sich als eine Mischung aus Mode- und Lifestyle, aber
auch Ratgeberblatt und orientiert sich offensichtlich an europäischen oder
amerikanischen Produkten wie Elle oder Cosmopolitain. Allerdings nehmen die Artikel und auch die Fotos Rücksicht auf die islamische Religion
des Landes. So präsentieren die Models zwar eine moderne Mode, die sich
aber deutlich an der marokkanischen Tradition orientiert. Großen Raum
nehmen Briefe von Leserinnen ein, die häufig in anonymisierter Weise von
Problemen in ihrer Ehe sprechen. Die Frauen belastet es zum Beispiel, wenn
ihre Männer eine Beziehung zu einer weiteren Frau haben und sie davon
erst nach Jahren zufällig erfahren haben. Auch kommen in den Briefen viele
Frauen zu Wort, die nach einer Scheidung ohne jegliche soziale oder finanzielle Absicherung dastehen und zudem keinen Rückhalt aus ihrer eigenen
Familie bekommen. Femmes du Maroc erscheint auf Französisch und wendet sich deutlich an eine betuchte Leserinnenschaft, die es sich leisten kann,
in den teuersten Boutiquen Casablancas zu shoppen.
Auch andere Zeitungen und Zeitschriften, die sich durch eine gesellschaftskritische Berichterstattung auszeichnen, haben versucht, in Artikeln auf die
Rechte der Frauen aufmerksam zu machen. Das junge Wochenmagazin telquel brachte zum Weltfrauentag im März 2003 sogar eine Ausgabe heraus,
die ausschließlich den Frauen gewidmet war und sich deswegen konsequenterweise tellequelle nannte. Schon auf dem Cover der Ausgabe sieht man,
welche unterschiedlichen Frauenbilder in diesem Land aufeinander treffen:
Eine junge Marokkanerin, gestylt im Laura-Croft-Stil: Sonnenbrille, ein
Tanktop mit der Aufschrift „Sex“, ein kämpferischer Gürtel um die Hüften
gebunden. Umrahmt wird sie von zwei jungen Frauen, die Kopftuch tragen.
Im Heftinneren folgen ein Porträt über die erste Kamerafrau des Landes; eine
Reportage über Frauen im Gefängnis, junge Mädchen, die sich nachts ohne
männliche Begleitung in Bars und Diskotheken wagen, und über Frauen auf
dem Land, die eine ganze Familie ernähren müssen, weil ihre Männer nicht
arbeiten. Die Hälfte der Leser dieses Blattes ist übrigens weiblich.
Auch die marokkanische Tageszeitung Al Ahdath Al Maghribia, die 1998
gegründet wurde und die auflagenstärkste Zeitung Marokkos in arabischer
Sprache ist, hat sich für die Rechte der Frauen stark gemacht. Mohamed
El Brini, Direktor der Zeitung, kämpft schon seit langem für die freie
Meinungsäußerung in der Presse. Er saß in den siebziger und achtziger Jahren häufiger im Gefängnis, weil er öffentlich seine Meinung äußerte. Selbst
die Folter musste er erleiden. „Noch in den achtziger Jahren war es in
Marokko möglich, eine Zeitung zu zensieren, weil ein falscher Begriff verwendet wurde“, sagt der Journalist. „So war zum Beispiel in einem Artikel ei33
Antje Allroggen
Marokko
ner größeren Zeitung von der marokkanischen Armee die Rede. Die Zeitung
durfte nicht gedruckt werden, weil es eigentlich königliche marokkanische
Armee hätte heißen müssen.“ Lange Zeit gab es in Marokko nur eine parteigebundene Presse, die kein Recht auf freie Meinungsäußerung kannte.
„Inzwischen hat sich in diesem Punkt sehr viel verbessert“, so El Brini.
Inzwischen gibt es ein Recht auf freie Meinungsäußerung. Dennoch kann
man noch von keiner freien marokkanischen Presse sprechen. Der Code de
la presse gilt als erster Schritt hin zu einer Demokratisierung. Mangelhaft
ist bislang allerdings noch der rechtliche Schutz, der Journalisten gewährt
wird. So gibt es in Marokko noch keine wesentliche Unterscheidung zwischen Zivil- und Strafrecht. „Ein Journalist, der von der Regierung beschuldigt wird, falsche Informationen veröffentlicht zu haben, wird vom selben
Richter verurteilt, der über das Strafmaß eines Diebes entscheidet, der auf
der Straße eine alte Frau überfallen hat“, erläutert El Brini. Er selber musste
sich einem Gerichtsverfahren unterziehen, weil seine Zeitung von der marokkanischen Regierung beschuldigt worden war, die Polizei verunglimpft
zu haben. Die Zeitung Al Ahdath Al Maghribia, eines der wenigen Blätter
im Land, die einen investigativen Journalismus anstreben, hatte über den
Drogenschmuggel im Norden des Landes berichtet. Ein Korrespondent hatte mit eigenen Augen gesehen und in der Zeitung darüber berichtet, wie die
Polizei den Schmuggel duldete und nicht gegen die Drogenbarone vorging.
Folglich war im Blatt von der korrupten Polizei im Norden Marokkos die
Rede gewesen. Daraufhin wurde der Direktor der Zeitung vom zuständigen
Gouverneur angezeigt und der Lüge bezichtigt. „Anstatt die Arbeitspraktiken
der Polizei zu überprüfen, wird unsere Zeitung nun kritisiert, weil das Einleiten eines Gerichtsverfahrens für die Regierung inzwischen die einzige
Möglichkeit ist, ein Blatt zu verbieten. Man kann einen Artikel nicht mehr
einfach so zensieren. Unsere Leser jedenfalls wissen, dass wir und nicht die
Regierung recht haben.“
Inzwischen gibt es in den marokkanischen Printmedien mutig recherchierte Geschichten, die zum Beispiel über verschleppte Gefangene oder über
die wirtschaftliche Misere des Landes berichten. Die Zeitung Al Ahdath Al
Maghribia weiß, dass ein qualitätsvoller Journalismus nur mit einer besseren
Ausbildung der Medienmacher einhergehen kann. Deshalb arbeiten in der
Redaktion ausschließlich junge Leute, die von Anfang an dazu angehalten
werden, ihre Geschichten objektiv zu recherchieren und keinen Verlautbaru
ngsjournalismus betreiben.
Anders sieht es noch bei den audiovisuellen Medien aus. Die Radiostationen stehen größtenteils noch völlig unter staatlicher Kontrolle. Das Fernsehen bezeichnet Mohamed El Brini sogar als steinzeitlich. Hier mangele
es vollkommen an einer professionellen Berichterstattung. Stattdessen wür34
Marokko
Antje Allroggen
den die Politiker einen großen Einfluss auf die Gestaltung des Programms
ausüben. Einige zaghafte Versuche gibt es allerdings, auch das Medium
Fernsehen für eine kritischere Berichterstattung zu öffnen. Im Rahmen einer Veranstaltung wurde ich zum Beispiel von M2, dem zweiten marokkanischen Fernsehen, interviewt und um eine persönliche Einschätzung
der Medien in Marokko gebeten. Es gibt auf M2 eine Sendung, die sich an
Jugendliche richtet und sich deutlich an westlichen Vorbildern orientiert.
Das Fernsehen spielt in Marokko eine große Rolle: So sieht man selbst in
den Slums Parabolantennen auf den Dächern, mit denen die Marokkaner
CNN, Al Jazira, Arte, selbst RTL gucken können. Die Demokratisierung in
den Medien ist wohl nicht mehr aufzuhalten. Deshalb plant man nun auch in
Marokko, Radio und Fernsehen von der staatlichen Kontrolle zu befreien.
Zu weit darf die kritische Berichterstattung zurzeit allerdings noch nicht
gehen: Erst im Sommer 2003 wurden gleich zwei satirische Wochenblätter
verboten. In den Heften befand sich eine Karikatur, die in einer Fotomontage
die Hochzeit des Königs verballhornte. Daraufhin war der Chefredakteur
der Blätter wegen Majestätsbeleidigung von der Regierung zu drei Jahren
Gefängnis verurteilt worden. Nach Ansicht von Mohamed El Brini ist der
Karikaturist mit seiner Satire zu weit gegangen: „Um zu zeigen, dass er mutig
ist, bediente er sich einer Zeichensprache, die gegen den guten Geschmack
verstieß und den König bewusst diffamierte.“ Ein solches journalistisches
Verständnis, so El Brini, schade der gesamten Zunft und dem Ruf der marokkanischen Presse. „Marokkos Medien sind längst noch nicht so weit wie
in anderen Ländern. Deshalb müssen wir uns Schritt für Schritt an eine freie
Presse annähern und dürfen unser Recht auf freie Meinungsäußerung nicht
aufs Spiel setzen. Es gibt immer noch die Gefahr, dass es in Marokko zu einem Kurswechsel kommt und in Zukunft die Islamisten das Land regieren“,
warnt El Brini.
Paradoxerweise profitieren nämlich auch die Islamisten von der zunehmenden Demokratisierung der marokkanischen Medien: So konnte Yassine,
der Anführer einer radikal islamistischen Bewegung in Marokko, den König
mehrmals in den Medien offen kritisieren. Dem Fernsehsender Al Jazira
sagte Yassine sogar, der marokkanische König Mohammed VI. sei ein unreligiös handelnder Monarch. Erstaunlicherweise hatte Yassine für seine
Äußerungen keine staatlichen Sanktionen zu befürchten. Weder wurde ihm
der Prozess gemacht, noch landete er im Gefängnis.
Nach wie vor gibt es unter den Gazetten Marokkos auch noch zahlreiche Verlautbarungsblätter, die sich als Sprachrohr der Regierung verstehen.
Auf Seite eins der Tageszeitung Le Matin erscheinen täglich abgedruckte
Agenturmeldungen über repräsentative Termine des Königs. Gerne wird
hier auch über Zusammentreffen mit internationalen Politikern berich35
Antje Allroggen
Marokko
tet, die alle immer sehr erfolgreich verlaufen. Auch die Problematik der
Frauen wird in diesen Blättern bewusst verschwiegen. Stattdessen bringt
die Zeitung Le Matin beispielsweise auf dem Titelblatt eine Geschichte über
die milde lächelnde Prinzessin Lalla Hasna, die immerhin die Vorsitzende
einer kleinen Stiftung ist und namhafte Marokkaner empfangen darf. Viele
Tageszeitungen bringen keine recherchierten Beiträge, sondern übernehmen
einfach Agenturberichte der MAP, die als äußerst regierungsfreundlich gelten.
Auch das Internet spielt in Marokko eine zunehmend wichtige Rolle.
Zumindest in den größeren Städten gibt es Internetcafés, die am Wochenende
mit jungen Leuten regelrecht überlaufen sind. Nicht selten ist das Netz dadurch völlig überlastet. Viele von ihnen – sowohl junge Frauen als auch
junge Männer – nutzen das Internet, um hier auf Partnersuche zu gehen. Die
entsprechenden Homepages sind keine marokkanischen, sondern französische Domains, richten sich also an junge Marokkaner, die die französische
Sprache beherrschen. Viele junge Frauen erhoffen sich, über das Internet
einen Franzosen kennen zu lernen, mit dessen Hilfe sie nach Frankreich
ausreisen können. Ihre äußere Erscheinung spielt hier zunächst einmal keine
Rolle. Deshalb sieht man in den Cafés auch viele Mädchen mit Kopftuch,
die sich Homepages mit flimmernden Herzen angucken und sich im schriftlichen Flirten üben. Problematisch ist allerdings, dass der Zugang zum
Internet für viele Marokkaner einfach noch zu teuer ist. Eine Stunde Surfen
kostet etwa einen Euro. „Dabei bietet das Internet für viele junge Leute die
einzige Möglichkeit, Kontakt zu Gleichaltrigen in anderen Ländern aufzunehmen“, meint Jamila Hassoune, Buchhändlerin in Marrakesch. „In den
letzten Jahren ist es für die marokkanischen Studierenden nicht einfacher
geworden, ein Visum zu bekommen, um an einer ausländischen Universität
zu studieren. Über das Internet können sie jetzt wenigstens verschiedene
Informationsquellen nutzen.“
9. Marokko im Wandel
So, wie die Rechte der Frauen im Umbruch sind, ist es auch die Presse,
die sich in Marokko erst langsam auf den Weg macht, den Journalisten ein
Recht auf freie Meinungsäußerung zuzubilligen. Der Code de la presse
soll in nächster Zeit überarbeitet werden. Das für die Medien zuständige
Kommunikationsministerium steuert allerdings bislang noch heftig gegen
eine Kultur der Meinungsvielfalt. „Warum soll man den Lesern zumuten,
unter einer ständig größer werdenden Zahl an Zeitungen auswählen zu müssen“, fragt eine Mitarbeiterin aus dem Ministerium auf einer öffentlichen
36
Marokko
Antje Allroggen
Veranstaltung. „Damit überfordern wir die Menschen. Der Staat muss ihnen bei der Orientierung helfen.“ Der investigative Journalismus steckt in
Marokko noch in den Kinderschuhen. Um die Qualität der Branche zu verbessern, soll vor allem die Ausbildung der Journalisten professionalisiert
werden.
Die Bildungspolitik des Landes kann statistisch auf eine Besserung der
Alphabetisierungsrate verweisen. Allerdings beruhen die Zahlen auf offiziellen Angaben einzelner Ministerien. Bislang fehlte es an Analysen, die
die bestehenden offiziellen Untersuchungen überprüft hätten. Im Herbst
2003 wurde erstmals eine regierungsunabhängige Erhebung veröffentlicht,
die mit Unterstützung der UNIFEM (Fonds des Nations-Unies pour le
Développement des Femmes) finanziert wurde. Die Studie hat nicht nur die
Statistiken der einzelnen Ministerien zu Einschulung und Alphabetisierungsrate überprüft und nicht selten korrigiert, sondern sie hat außerdem
versucht, den Ursachen für den Analphabetismus im Land mit Hilfe qualitativer Methoden nachzuspüren.
Die Politik hat sich die Situation der Frauen in Marokko auf die Fahnen geschrieben. Oberflächlich betrachtet, scheint die Regierung der Bildungspolitik oberste Priorität einzuräumen. Es bleibt allerdings zu hinterfragen, ob
die angekündigten Reformen mehr sind als bloße Lippenbekenntnisse. So
undurchsichtig die politischen Absichten auf diesem Gebiet sind, so unklar
scheint auch der generelle Kurs zu sein, den Marokko in Zukunft einschlagen möchte. Zurzeit prallen die Kulturen, wenn auch (noch) verbal, so dennoch unversöhnlich aufeinander: Die Traditionalisten wenden sich immer
stärker einem konservativ orientierten Islamismus zu, die Fortschrittlichen
wollen das Land in Richtung Westen öffnen, es modernisieren. Doch viele
progressive Denker haben sich in letzter Zeit von den Vorbildern USA und
Europa abgewandt. Ihnen missfällt die Bush-Politik, die auf die Interessen
der arabischen Welt viel zu wenig Rücksicht nehme. Sie wollen ihr Land
verändern. Dabei ist viel von „Modernisierung“ die Rede. Doch was sich
mit einer Modernisierung konkret verbindet, so scheint mir, ist für alle recht
unklar. Noch haben sie keine alternativen Modelle entwickelt, mit denen der
Maghreb-Staat aus seiner Krise herauskommt, ohne die Politik des Westens
blind übernehmen zu müssen.
Nach meinem sechswöchigen Aufenthalt scheint es für mich offensichtlich, dass der Faktor Bildung im Demokratisierungsprozess Marokkos
eine maßgebliche Rolle spielt. Bildung ermöglicht der Bevölkerung, neuen Erwerbstätigkeiten nachzugehen und sich somit Lebensgrundlagen zu
schaffen, die wirtschaftlich meist attraktiver sind als die bisherigen. Die
Fähigkeit, lesen und schreiben zu können, eröffnet vielen außerdem völlig
neue Perspektiven: sie können öffentliche Diskurse verfolgen und sich ein
37
Antje Allroggen
Marokko
eigenes Urteil bilden. Für die Frauen erscheint es notwendig, Lesen und
Schreiben zu lernen und einen Beruf auszuüben, um sich aus der gesellschaftlich nach wie vor bestehenden Ungleichheit zwischen Mann und Frau
zu befreien. Der Wunsch vieler Frauen in Marokko, lesen und schreiben
zu können, kann aber auch völlig andere Motive haben, als die, die man
als Europäer gemeinhin vermutet: viele streng religiöse Frauen, die ihre finanzielle und soziale Abhängigkeit von ihrem Ehemann vollkommen akzeptieren, möchten ihre Ausbildung verbessern; nicht, um sich aus ihrer
Ungleichheit zu befreien und ihr politisches Bewusstsein zu schärfen, sondern, um sich noch mehr als bisher in den islamischen Glauben vertiefen zu
können. Das Erlernen von Lesen und Schreiben soll diesen Frauen ermöglichen, noch intensiver als bisher die Koranverse zu beten und zu verstehen.
Dennoch wird es meiner Meinung nach so sein, dass auch diese Frauen sich
durch ihre Lese- und Schreibfähigkeit langfristig mit anderem, eher westlich geprägtem Ideen- und Gedankengut auseinandersetzen werden müssen.
Vielleicht werden es in Marokko tatsächlich die Frauen sein, die darüber
entscheiden, ob es im Maghreb zu einem „Clash of Civilization“ kommen
wird, in dem sich Tradition und Moderne in der Gesellschaft unversöhnlich
bekriegen, oder ob es gelingen kann, beide Kulturen versöhnlich nebeneinander bestehen zu lassen.
10. Danksagung
Ich danke der Heinz-Kühn-Stiftung, insbesondere Frau Ute Maria Kilian
für ihre begleitende Betreuung. Herzlich bedanken möchte ich mich auch
bei Frau Kathrein Hölscher von der Friedrich-Ebert-Stiftung in Rabat, die
mir bei den Recherchen vor Ort sehr behilflich war.
38
Thorsten Bothe
aus Deutschland
Stipendien-Aufenthalt in
Tansania
vom 16. September bis 15. Dezember 2003
39
Tansania
Thorsten Bothe
Vergangenheit mit Zukunft –
die ehemalige Sklavenhandelsroute in Tansania
Von Thorsten Bothe
Tansania vom 16.09. bis 15.12.2003
41
Tansania
Thorsten Bothe
Inhalt
1. Zur Person
46
2. Aller Anfang ist schwer – auch in Dar es Salaam
46
3. Die Geschichte hinter dieser Geschichte - der Sklavenhandel
48
4. „Kooperations“-Partner Schweden –
die Entwicklungshilfeorganisation SIDA
49
5. Der Weg ist das Ziel – Gespräche im Department of Antiquities
51
6. Systemloses Sammelsurium – der Sklavenhandel
im Nationalmuseum
53
7. „Der Sklavenhandel wird instrumentalisiert“ –
sagt der Schriftsteller Adam Shafi Adam
53
8. „Hallo mein Freund, wie geht‘s?“ – Alte Bekannte in Dar
54
9. „Hier gibt‘s keinen Fahrplan“ –
Unterwegs mit der Zentralbahn, Teil 1
55
10. Unter ständiger Beobachtung – in Tabora
57
11. Ein paar Kili zum Frühstück –
Unterwegs mit der Zentralbahn, Teil 2
57
12. Versteckte Geschichte – Ujiji am Lake Tanganyika
58
13. Nicht nur der Fisch müffelt – Schifffahrt auf dem Tanganyika-See
60
14. Grenzer mal so, mal so – Via Sambia zurück an die Küste
62
15. Steinerne Geschichte – in Sansibars Altstadt
63
16. „Das war gar nicht die Hauptroute“ – Zweifel an der „Historical
Correctness“
66
43
Tansania
Thorsten Bothe
17. „Irgendwann werden sie kommen“ – nach Bagamoyo
67
18. „Ich muss gehen“ – Träume eines Touristenführers
69
19. „Sie leiden noch immer“ – sagt Father Gallus vom Missionsmuseum 70
20. Kulturhauptstadt Bagamoyo – Ein Exkurs zum College of Arts
72
21. „Modellort Bagamoyo“ – Visionen einer Hotelbesitzerin
76
22. Ja, es war richtig – Rückblick am Ende der Reise
77
23. Danksagung
78
45
Thorsten Bothe
Tansania
1. Zur Person
Neugierig in die Welt blickte ich, Thorsten Bothe, erstmals am 26. Januar
1969 in Göttingen. Der Schulzeit dort folgte ein Studium der Politik,
Publizistik und Völkerkunde an der Uni Göttingen, und diesem von 1997 bis
1999 ein Volontariat beim Göttinger Tageblatt. Seit Januar 2000 arbeite ich
als Redakteur in der Nachrichtenredaktion der Tageszeitung „Die Glocke“
in Oelde (Kreis Warendorf). Fast 31 Jahre lang in Göttingen gelebt zu haben
bedeutet allerdings nicht, dass ich nie über Südniedersachsen hinausgekommen bin. Schon mit meinen Eltern bin ich oft verreist, später mehrfach allein
– Neuseeland, Australien – oder in Gruppen (Marokko, Namibia).
Auf Tansania aufmerksam geworden bin ich durch die Aktivitäten des
Freundeskreises Bagamoyo, der unter anderem Schulen und Krankenhäuser
in dem Küstenstädtchen nördlich der Metropole Dar es Salaam unterstützt
und sich insbesondere dem Kulturaustausch verschrieben hat. Da viele
Mitglieder des Freundeskreises im Verbreitungsgebiet der „Glocke“ leben,
ist der Verein hier besonders aktiv und es gibt zahlreiche Verbindungen zwischen der Region und Bagamoyo.
2. Aller Anfang ist schwer – auch in Dar es Salaam
Ob das alles so richtig war? Die Entscheidung, für drei Monate nach
Tansania zu gehen? Ich sitze in meinem Hotelzimmer in Dar es Salaam und
bin mir diesbezüglich alles andere als sicher.
Vor ein paar Stunden, am späten Nachmittag, bin ich angekommen und
habe nach der Fahrt ins Hotel nichts weiter gemacht, als ein paar Ecken weiter einen Happen zu essen. „Und pass auf, die Männer draußen sind nicht
gut“, hatte die Frau an der Rezeption gesagt, nachdem sie mir den Weg zu
dem kleinen Restaurant erklärt hatte. Na prima. Im Reiseführer wird auch
vor Taschendieben gewarnt, und von Bekannten, die schon mal in Tansania
gewesen waren, war ich ebenfalls zur Vorsicht gemahnt worden.
Tatsächlich lungern auf der Straße und dem kleinen Platz vor dem Hotel
einige Leute herum, die nicht unbedingt mein Vertrauen erwecken. Kaum
bin ich „entdeckt“ worden, prasseln die Fragen auf mich ein: „Hallo, woher kommst Du, was machst Du – willst Du auf Safari gehen? Wir haben
hier ein Büro, da kannst Du Dich informieren...“ Nein danke, entgegne ich
stoisch, dabei mein Portemonnaie in der Tasche immer im Griff behaltend.
Eine Safari interessiere mich nicht. Oder: Ich weiß es noch nicht. Oder: Ich
habe schon gebucht. Die Antwort ist ein Fehler: „Bei wem? Warum nicht bei
uns?“ Meine Güte, denke ich, lasst mich doch einfach nur in Ruhe! In den
46
Tansania
Thorsten Bothe
folgenden Tagen werden mir meine unterschiedlichen Antworten noch zum
„Verhängnis“: Ich kann mich natürlich nicht mehr daran erinnern, welchem
Safari-Werber ich welche Version erzählt habe – aber die Jungs wissen es
noch ganz genau und verwickeln mich in Widersprüche. Hätte ich doch nur
an einer Variante festgehalten!
Jetzt bin ich erstmal froh, wieder im „sicheren“ Hotel zu sein. So ähnlich
muss sich ein junger Vogel fühlen, der zum ersten Mal das Nest verlassen hat.
Tag 2. Der Vogel entfernt sich zwangsläufig weiter vom Nest, um diverse
Dinge zu regeln. Der Herr beim „Information Services“, von dem ich eine
offizielle Arbeitserlaubnis als Journalist haben möchte, liest sorgfältig das
HKS-Empfehlungsschreiben, reicht mir ein Formular zum Ausfüllen, sieht
sich auch das in Ruhe an. „Kommen Sie in zwei Stunden wieder, mit zwei
Passfotos“, sagt er, jetzt habe er einen Termin. Zweieinhalb Stunden später
bin ich Besitzer einer „Temporary Press Card“, für die der freundliche Herr
nicht einmal eine Gebühr verlangt hat. Wenn die Bürokratie doch nur immer
und überall so einfach funktionieren würde! Das macht doch gleich Mut,
die Nervosität beim Gang durch die Stadt lässt nach. Das Gewusel auf den
Straßen fängt an, mich zu faszinieren. Aber es nervt noch immer, ständig
angesprochen zu werden.
Tag 3. Der Taxifahrer, der mich zum Verlagshaus der englischsprachigen
Tageszeitung „The Guardian“ bringen soll, behauptet zwar, er kenne den
Weg. Trotzdem biegt er auf halber Strecke falsch ab, muss mehrfach fragen,
bis wir schließlich an der in einem Vorort gelegenen Redaktion ankommen.
An einer Ampel trinkt er aus einem Plastiksäckchen Wasser – der Beutel landet auf der Straße. Es liegt viel Müll herum auf und neben den Straßen von
Dar, obwohl immerhin ab und zu Leute mit einem Besen unterwegs sind.
Zurück in die Innenstadt nehme ich ein Dalladalla. Die Dalladallas – alte,
zumeist japanische Kleinbusse – bilden das öffentliche Nahverkehrssystem
der 3,5-Millionen-Stadt. Sie fahren auf den Hauptverkehrsachsen, nicht
nach Fahrplan, sondern dann, wenn sie voll sind. Am besten übervoll. Wo
20 Sitzplätze drin sind, passen locker 27 Fahrgäste rein. Wer zu spät kommt,
muss mit eingezogenem Kopf stehen. Eine Fahrt kostet 150 Tansanische
Schilling – so etwa 12 Cent. Neben mir sitzt eine junge Frau. Nach einer
Weile spricht sie mich an: „Hello, where are you from? Oh, Germany?“
Ein echtes Gespräch entwickelt sich leider nicht – sie kann kaum Englisch,
ich kein Kisuaheli. Dann muss sie aussteigen. „Welcome to Tanzania“, sagt
sie noch. Als der Bus anfährt, winke ich ihr durch das Fester zu. Sie winkt
zurück. Und strahlt.
47
Thorsten Bothe
Tansania
3. Die Geschichte hinter dieser Geschichte - der Sklavenhandel
Tansania, erst deutsche Kolonie (1885-1918) und dann britisches Mandatsgebiet (1921-1961) – beides bezieht sich auf den Festlandteil –,
ist eines der ärmsten Länder der Welt, politisch recht stabil und daher
Aktionsfeld zahlreicher Entwicklungshilfeorganisationen und Geberländer.
Die Bundesrepublik engagiert sich staatlicherseits vor allem in klassischen Entwicklungsfeldern wie dem Ausbau des Gesundheitssystems, der
Wasserversorgung oder der sonstigen Infrastruktur. Deutschland hilft Tansania aber auch, seine zahlreichen Nationalparks zu verwalten und touristisch zu nutzen. Allein an direkter Hilfe zahlt die Bundesrepublik in den
Jahren 2003 bis 2005 85 Millionen Euro. Parteinahe Stiftungen unterstützen
das Land zum Beispiel beim Aufbau demokratischer Strukturen.
Die kulturelle Zusammenarbeit dagegen ist noch deutlich ausbaufähig, gibt Ulrike Haffner, Kultur- und Wirtschaftsattaché an der Deutschen
Botschaft in Dar, zu: „Wir unterstützen den Kulturaustausch, aber es fehlt
das Geld, um zum Beispiel Musiker aus Deutschland nach Tansania einzuladen und umgekehrt.“
Daher sei auch keine finanzielle Beteiligung Deutschlands an einem Projekt zu erwarten, an dem in Tansania derzeit gearbeitet wird: die Ernennung
der ehemaligen Sklavenhandelsroute von Ujiji am Lake Tanganyika – der
Tansania im Westen begrenzt – nach Bagamoyo, ca. 70 Kilometer nördlich von Dar. Auf dieser rund 1.200 Kilometer langen Route sind bis weit
in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein vornehmlich von arabischen Händlern ausgerüstete Karawanen entlanggezogen, die neben der
menschlichen „Ware“ auch Elfenbein aus dem östlichen Kongo und dem
Landesinnern des heutigen Tansania an die Küste brachten.
Abnehmer für die Sklaven waren unter anderem Araber, die entlang der
Küste siedelten, und die Besitzer der Gewürzplantagen auf den arabisch beherrschten Inseln Sansibar – etwa 60 Kilometer vor Bagamoyo gelegen –
und Pemba. Ein großer Teil der Sklaven wurde nach Arabien weiterverkauft
sowie auf Zuckerrohrplantagen auf den französischen Inseln Mauritius und
Réunion ausgebeutet. Es kann nur geschätzt werden, wie viele Afrikaner
auf dieser oder einer der beiden anderen Hauptrouten, die durch Ostafrika
an die Küste des Indischen Ozeans führten, im Laufe mehrerer Jahrhunderte
verschleppt wurden. 1,5 Millionen, zwei Millionen, drei Millionen – genaue Zahlen wird es nie geben. Hinzu kommen jedenfalls noch zahllose
Menschen, die den Marsch an die Küste gar nicht überlebten. Offiziell verboten wurde der Sklavenhandel 1873 auf Druck der Briten, doch noch jahrelang ging das schmutzige Geschäft weiter, versuchten die Händler, ihren
48
Tansania
Thorsten Bothe
britischen Verfolgern Schippchen zu schlagen, indem sie die Sklaven nachts
transportierten und in Höhlen auf Sansibar versteckten.
Jetzt also soll das, was von der Route noch erkennbar ist – Wege, Karawansereien, Häuser von Händlern oder Plätze, die als Sklavenmarkt dienten von der UNESCO zum Weltkulturerbe ernannt werden, hoffen die Tansanier.
Und nicht nur das: Da es nicht mehr allzu viele sichtbare Erinnerungsstätten
gibt, soll auch das immaterielle Erbe den Kulturerbestatus erhalten und besser erforscht und dadurch bewahrt werden – also die Erzählungen ehemaliger Sklaven und Sklavenhändler bzw. derer Nachkommen und die Kultur
der entlang der Route lebenden Menschen.
4. „Kooperations“-Partner Schweden –
die Entwicklungshilfeorganisation SIDA
„Wir sind nicht diejenigen, die das Projekt vorantreiben – wir kooperieren
mit den Tansaniern!“ Gudrun Leirvaag schmunzelt allerdings vielsagend,
während sie das sagt. Leirvaag arbeitet als „Programme Officer Culture and
Media“ für das Tansania-Büro der schwedischen Entwicklungshilfeorganis
ation SIDA und ist damit auch für das Sklavenrouten-Projekt zuständig. Für
die Schweden ist die kulturelle Entwicklung Tansanias ein deutlich wichtigerer Aspekt der Zusammenarbeit als für die Deutschen.
SIDA kooperiert beim Sklavenrouten-Projekt sehr intensiv mit den
Tansaniern und hat beispielsweise Konferenzen zu dem Thema und die
Sanierung historischer Gebäude in Bagamoyo (mit-)finanziert. „Ziel ist
es, einen Kulturtourismus zu schaffen“, erklärt Leirvaag. Eine Form des
Tourismus, „der Arbeitsplätze schafft, der Stolz vermittelt, der dazu beiträgt,
die eigene Geschichte zu verstehen und zu wissen, wo man jetzt steht und
wo vielleicht in der Zukunft“ – wobei sich Leirvaag auf die Tansanier selbst
bezieht. Sie ist sich sicher: „Die Tansanier sind nicht stolz darauf, Sklaven
gewesen zu sein, aber stolz darauf, dies hinter sich gelassen zu haben.“ Das
Bewusstsein, dass es wichtig ist, das eigene Erbe zu bewahren, wachse.
Gerade ältere Leute seien daran interessiert, dass ihre Kultur dokumentiert
und bewahrt wird – ein wichtiger Aspekt im Rahmen des WeltkulturerbeVorhabens, wie Leirvaag noch einmal betont.
Erfolgreich sein kann das Projekt ohnehin nur, wenn die lokale
Bevölkerung involviert ist, hebt die Schwedin hervor. Die Leute müssen
auf eine wachsende Zahl von Besuchern vorbereitet werden, sagt sie – denn
dass der Weltkulturerbe-Status mehr Touristen anziehen würde, dessen ist
sich Leirvaag sicher. Bei anderen Weltkulturerbestätten sei dies stets der
Fall gewesen.
49
Thorsten Bothe
Tansania
Damit nicht nur der Tourismussektor profitiert, unterstützt SIDA zugleich
ein „Strategic Urban Development Planning Framework“ (SUDPF; etwa:
Netzwerk zur strategischen Planung städtischer Entwicklung) in Bagamoyo.
In diesem diskutieren Vertreter der Ortsteile der 30.000-Einwohner-Stadt, der
Stadt- bzw. Distriktverwaltung und Experten der Universität Dar es Salaam,
wie die allgemeine Situation des Ortes verbessert werden kann – durch eine
neue Busstation zum Beispiel oder einen neuen Markt für einen Ortsteil.
Auch für andere Städte entlang der Route sind solche Gremien geplant.
Die Idee für das Kulturerbe-Projekt, erläutert Leirvaag weiter, entstand
schon in den 80er Jahren. Zunächst war nur von Bagamoyo die Rede:
Ausgangs- und Endpunkt der Karawanen, Startort für die Expeditionen
vieler europäischer Forscher, Ausgangsort sowohl für die christliche als
auch die islamische Missionierung Ostafrikas sowie für die Verbreitung
des Kisuaheli als Verkehrssprache in Tansania und angrenzenden Staaten,
von 1888 bis 1891 erste deutsche Kolonialhauptstadt – ein historisch bedeutender Ort halt. Ein Ort, der zudem eine Altstadt aus Steinhäusern vorweisen konnte, eine alte deutsche „Boma“ (Verwaltungssitz), ein Fort,
eine Karawanserei und einen lebendigen Dhau-Hafen. Bald aber wurde
deutlich, dass Bagamoyo allein den UNESCO-Kriterien für ein Welterbe
nicht genügen würde. Auf die Weltkulturerbe-Liste kommen Orte, die von
„universeller Einzigartigkeit“ sind und deren „historische Echtheit“ noch
erhalten ist. Reicht ein Staat eine Bewerbung ein, muss er den aktuellen
Zustand der zu schützenden Stätte dokumentieren und einen Plan für deren Erhalt. Ärmere Staaten bekommen für die Arbeiten an den historischen
Orten finanzielle Unterstützung aus einem UNESCO-Fonds, in den die
derzeit 176 Unterzeichnerstaaten der Welterbe-Konvention einzahlen. Um
also die Chancen zu erhöhen, die UNESCO-Kriterien zu erfüllen, wurde
das Vorhaben um die gesamte Sklavenroute erweitert. Im September 2002
wurde dies als Ergebnis einer internationalen Konferenz in Bagamoyo festgeschrieben, im November 2003 auf einer kleineren Tagung beteiligter
Institutionen noch einmal bestätigt.
„In drei, vier Jahren sollte Tansania die Bewerbung der UNESCO präsentieren können“, sagt Leirvaag. Langfristig, fügt sie an, müsse das Projekt vollständig in tansanisches Management übergehen, müsse sich das „System“
– Werbung für die historischen Stätten gleich steigende Einnahmen aus dem
Tourismus gleich Geld für den Erhalt des kulturellen Erbes – selbst tragen.
50
Tansania
Thorsten Bothe
5. Der Weg ist das Ziel – Gespräche im Department of Antiquities
Der Chef selbst ist nicht da, aber ein Mitarbeiter nimmt sich Zeit für
mich und meine Fragen. Sehr nett, denn angemeldet bin ich nicht. Doch
im Department of Antiquities (D.o.A.), der für die historischen Stätten des
Landes zuständigen Denkmalschutz-Abteilung des Tourismus-Ministeriums, scheint man fast glücklich darüber zu sein, dass sich mal jemand
von der Presse für seine Arbeit interessiert. Ich stelle mich nicht nur als
HKS-Stipendiat vor, sondern auch als Mitarbeiter der englischsprachigen
Tageszeitung „The Guardian“, bei der ich vier Wochen lang hospitiere. Die
tansanischen Zeitungen haben das Sklavenrouten-Projekt bis dato noch
nicht aufgegriffen, sagt Fabian Kigadye vom D.o.A.
Seiner Ansicht nach sprechen drei Gründe für das Projekt:
1. Als Teil der Geschichte müssen die historischen Stätten erhalten bleiben. Wobei auch Kigadye sagt, dass die Tansanier ein ambivalentes Verhältnis zu dieser Epoche haben: „Viele würden die Geschichte gerne begraben. Aber viele andere sagen: Die Initiative kommt zu spät.“
2. Das Projekt fördert den Tourismus.
3. Es dient der Entwicklung der Infrastruktur entlang der Strecke.
Die Route, erläutert der Experte, führt durch immerhin sechs der 25
Regionen (Verwaltungsbezirke) des Landes, wobei die Regionen hinsichtlich ihrer Größe etwa den deutschen Bundesländern entsprechen. Vielerorts
ist der Weg noch heute als solcher erkennbar und wird als Fußweg oder
Straße genutzt, erklärt Kigadye. Zum Teil wurden Hauptverkehrsstraßen auf
der Trasse gebaut, und auch die zentrale Eisenbahnstrecke zwischen Dar
und Kigoma am Tanganyika-See verläuft streckenweise auf oder unmittelbar neben der historischen Route.
Experten des D.o.A. sowie des University College of Lands and
Architectural Studies (UCLAS) der Uni Dar – zusammen mit dem D.o.A.
Hauptträger des Projekts auf tansanischer Seite – haben die gesamte
Route im Sommer 2003 bereist, erzählt Kigadye. Ziel war eine detaillierte
Bestandsaufnahme. „Einige historische Gebäude sind verschwunden, andere in schlechtem Zustand und ganz oder teilweise verfallen“, sagt Kigadye
bedauernd. Ein weiteres Ergebnis der Reise: „Es gibt Teilstücke, wo kein
Weg mehr zu erkennen ist – aber alte Leute erinnern sich oft noch an den
Verlauf.“ Die Pläne des D.o.A. gehen dahin, die fehlenden Abschnitte zu
rekonstruieren. Der Weg ist quasi das Ziel.
Wieviel in das gesamte Projekt – etwa in die Renovierung der Route und
historischer Gebäude und in die Ausbildung lokaler Gästeführer – investiert werden muss, kann Kigadye noch nicht sagen: „Wir arbeiten noch am
Budget.“ Die tansanische Regierung habe aber schon ihre Unterstützung
51
Thorsten Bothe
Tansania
zugesichert, die lokalen Behörden werden einen Teil beitragen müssen,
und schließlich hofft das D.o.A. darauf, dass auch SIDA wieder in die
Geldschatulle greift.
Kigadye ist wirklich sehr entgegenkommend; er kopiert mir den Bericht
der Expertengruppe über die Reise entlang der Route. Der Report führt,
nach Regionen gegliedert, auf, was von der Strecke noch zu sehen ist, was
den Erhalt des Weges gefährdet – zum Beispiel die sich ausweitende Landwirtschaft – und welche historischen Gebäude und Stätten es noch gibt.
Praktischerweise nennt der Bericht auch lokale Ansprechpartner.
Zwei Tage später klopfe ich noch mal mit weiteren Fragen beim D.o.A. an,
wieder unangemeldet. Diesmal nimmt sich Simon Odunga eine gute Stunde
Zeit für mich. Er ist verantwortlich für die Arbeit an sämtlichen historischen
Stätten im Land. „Das Problem ist, den Leuten die Bedeutung des kulturellen Erbes nahe zu bringen“, sagt Odunga. Häufig werden beispielsweise alte
Gebäude einfach abgerissen, weil den Besitzern das Bewusstsein für deren
geschichtlichen Wert fehle.
Deswegen hat das D.o.A. schon vor Jahren ein „Public awareness
on Cultural Heritage“-Programm ins Leben gerufen. In Seminaren und
Workshops werden die Vertreter lokaler Behörden und Institutionen, aber
auch Lehrer mit der jeweiligen Historie vertraut gemacht. „Die lokalen
Behörden sind dafür verantwortlich, das Erbe zu schützen und zu bewahren“,
hebt Odunga hervor. „Wir erklären ihnen, wie das geht.“ Ist entsprechendes
Wissen vorhanden, könne dieses auch mit Besuchern geteilt werden: „Wenn
sich die Stätten in gutem Zustand präsentieren, kommen die Touristen automatisch.“ Dass noch immer nicht sonderlich viele Touristen den Weg zu den
bereits 1981 zum Weltkulturerbe ernannten Ruinen der früher bedeutenden
Handels- und Hafenstadt Kilwa Kisawani finden, liegt vor allem an fehlenden Verkehrsverbindungen, erklärt der Experte. Immerhin wird derzeit ein
Anlegesteg auf der Insel gebaut, so dass Besucher die Sehenswürdigkeit
leichter per Boot erreichen können.
Die Kooperation mit den lokalen Behörden ist ungeheuer wichtig für den
Erfolg des gesamten Sklavenrouten-Projektes, betont Odunga zum Schluss
noch einmal. Schließlich muss nicht nur das Ministerium für Land- und
Stadtplanung zustimmen, wenn eine Stätte zum geschützten Gebiet erklärt
werden soll, sondern auch die Verwaltungen vor Ort: „Wenn die nein sagen,
bedeutet dies das Ende.“
52
Tansania
Thorsten Bothe
6. Systemloses Sammelsurium – der Sklavenhandel im Nationalmuseum
Das D.o.A. hat seinen Sitz im Nationalmuseum Tansanias. In diesem widmet sich eine Abteilung der Entstehung des Menschen – Tansania gilt als
eine der Wiegen der Menschheit –, wobei einige Angaben ziemlich veraltet
sind. Eine andere Abteilung beschäftigt sich mit den verschiedenen Völkern
des Landes, ein Naturkunde-Teil gibt mit Hilfe in Alkohol konservierter
Schlangen, ausgestopfter Vögel und aufgespießter Insekten einen Einblick
in die Tierwelt, und eine Etage ist für die Geschichte Ostafrikas reserviert.
Die Ausstellung wirkt ziemlich systemlos. Bilder und Exponate hängen
an der Wand bzw. liegen in Vitrinen, mit zwei, drei Zeilen beschrieben
– doch es werden kaum Zusammenhänge deutlich, Entwicklungen werden
nicht kontinuierlich dargestellt. Das gilt auch für die Ecke, die sich mit dem
Sklavenhandel beschäftigt. Verblichene Karten, auf denen die Handelswege
eingezeichnet sind, ein paar Bilder von Karawanen, von den deutschen
Kolonialbehörden ausgestellte Freibriefe für Sklaven. Ein Bild des berühmten Händlers Tippu Tipp, ein Elefantenstoßzahn, eine eiserne Schelle. Das
ist alles. Keine Daten über Anfang und Ende dieser dunklen Epoche, keine
Zahlen, keine Angaben über die Abnehmer der Sklaven, kaum welche darüber, woher die Gefangenen stammten und welche sozialen und demographischen Folgen die gnadenlose Menschenjagd hatte.
7. „Der Sklavenhandel wird instrumentalisiert“ – sagt der Schriftsteller
Adam Shafi Adam
Adam Shafi Adam stimmt der Einschätzung zu, dass die Ausstellung
im Nationalmuseum dürftig ist. Der Schriftsteller – er ist Vorsitzender
der Dachorganisation aller im weitesten Sinne mit der Herstellung und
Verbreitung von Büchern befassten Institutionen, des „Book Development
Council of Tanzania“ – bedauert das. Auch er hält das Sklavenrouten-Projekt
für bedeutsam: „Sie sollte bewahrt werden als Teil unserer Geschichte.“
Bislang aber „ist das Thema von tansanischen Wissenschaftlern noch nicht
ausreichend erforscht worden“, findet der Intellektuelle. Eine vorurteilsfreie
Forschung ist nach Shafi Adams Ansicht noch aus einem anderen Grund
wichtig: „Es gibt Leute in Ostafrika, die den Eindruck zu vermitteln versuchen, dass der Islam als Religion für den Sklavenhandel verantwortlich war.
Doch das stimmt nicht – es waren Vertreter aller Religionen beteiligt. Die
Araber waren nicht deshalb im Sklavenhandel involviert, weil sie Moslems
waren, sondern weil sie Geschäftsleute waren.“ Der Sklavenhandel wird
also nach Meinung des Schriftstellers für religiöse Gefechte instrumentali53
Thorsten Bothe
Tansania
siert: „Es gibt starke Vorbehalte zwischen Christen und Moslems. Und daher
versucht jede Seite, die dunklen Punkte in der Geschichte der anderen Seite
herauszustellen.“ Das treibt laut Shafi Adam bereits unschöne Blüten: So
habe ein Autor von der (zu 95 Prozent muslimischen) Insel Sansibar schon
ein Buch auf Kisuaheli geschrieben über den Einfluss der Christen auf den
Sklavenhandel – als Reaktion auf entsprechende umgekehrte Publikationen
christlicher Verfasser. Kein Wunder, dass Shafi Adam abschließend warnt:
„Wenn die Diskussion über die Sklaverei aus religiösen Gründen missbraucht wird, geht der Sinn der Forschung verloren.“
8. „Hallo mein Freund, wie geht‘s?“ – Alte Bekannte in Dar
Nach gut vier Wochen habe ich das Gefühl, in der überschaubaren
Innenstadt Dar es Salaams kenne mich jeder. Immer wieder werde ich wie
ein alter Bekannter begrüßt, wenn ich durch die Straßen gehe. Immerhin
wissen die Jungs von den Safari-Unternehmen irgendwann, dass ich nicht
bei ihnen zu buchen gedenke.
Vor dem Hotel sitzt häufig Muhammad: „Hallo mein Freund, wie geht‘s,
was machst Du heute?“ fragt er fast jeden Morgen auf Deutsch und abends,
was ich denn gemacht habe. Er hat mal eine zeitlang in Deutschland gelebt
und unter anderem als Seemann gearbeitet, aber da er keine Arbeitserlaubnis
hatte, ist er nach einer Weile nach Tansania zurückgekehrt. Jetzt arbeite er
als Führer in den Nationalparks, sagt er, aber derzeit gebe es kaum Arbeit.
Seitdem im Frühjahr 2003 vor angeblich geplanten Terroranschlägen gewarnt wurde, kommen weniger Touristen. Und die Konkurrenz unter den
Safariunternehmen ist riesig. Ab und zu begleitet mich Muhammad ein paar
Schritte, etwa wenn ich an einem der vielen Straßenstände frische Mangos
oder Bananen kaufen will. Natürlich erhofft er sich davon ein bisschen Geld.
Ich verabrede mit ihm, dass er mir an einem Samstag den riesigen Markt im
etwas verrufenen Stadtteil Kariakoo zeigt. Obst und Gemüse in Hülle und
Fülle, Fisch, Haushaltswaren – ein Fest für die Augen, aber weniger für die
Nase.
Ein paar meiner „Bekannten“ aus dem Viertel wollen sich einfach nur mit
mir unterhalten, wenn möglich bei einem spendierten Bier. Manchmal will
ich meine Ruhe haben, wenn ich abends vom „Guardian“ komme. Zwei,
drei Mal willige ich ein. Und rede zum Beispiel mit Alan und einem seiner Freunde über die vielen Probleme Tansanias, aber auch darüber, dass
das Zusammenleben zwischen Christen und Moslems – die jeweils etwa 40
Prozent der Bevölkerung ausmachen – in Tansania gut funktioniert. Noch
zumindest.
54
Tansania
Thorsten Bothe
An meinem letzten Arbeitstag beim „Guardian“ organisieren die Kollegen
ein Abschiedsessen in einem Open-Air-Pub. Jeder gibt ein bisschen Geld
– nur ich darf nichts beisteuern, das wird mir ausdrücklich „verboten“.
Es wird ein sehr schöner Abend. Ich muss viel von Deutschland und meiner Arbeit bei der „Glocke“ erzählen, und wir vergleichen die Lebensverhältnisse in unseren Ländern. Die „Guardian“-Kollegen sind einerseits stolz
darauf, dass das Land politisch stabil ist, dass Völker und Religionen weitgehend spannungsfrei miteinander leben und dass die Presse frei ist. Das
alles könne die Grundlage für eine positive Entwicklung sein, heißt es.
Andererseits spüre ich auch tief sitzenden Pessimismus. In 42 Jahren Unabhängigkeit habe Tansania wenig erreicht, lautet eine verbreitete Meinung.
Von den Regierenden seien viele korrupt und steckten das Geld westlicher
Geberländer zum Teil in die eigene Tasche, höre ich. Sie kümmerten sich
aber nicht wirklich um das mangelhafte Gesundheits- und das ebenfalls
nicht gerade optimale Bildungssystem und unternähmen zu wenig gegen
die Armut. Eine ambivalente Haltung, die mir in Dar häufig begegnet ist und
die ich auch im übrigen Tansania noch oft registrieren werde.
9. „Hier gibt‘s keinen Fahrplan“ – Unterwegs mit der Zentralbahn, Teil 1
Sonntag, 16 Uhr. Im Bahnhof der Zentral-Eisenbahn in Dar herrscht dichtes Gewusel. Verkäufer bieten Wasserflaschen, Brote, Früchte und Süßigkeiten an. Ganze Familien sitzen mit ihrem Gepäck auf dem Bahnsteig, die
Frauen zumeist in bunte Wickelgewänder, Kangas, gehüllt. Die Passagiere
der 1. und 2. Klasse schauen auf einer Tafel nach, welche Liege in welchem Abteil für sie reserviert ist. Ich teile mir ein 2.-Klasse-Abteil mit sechs
Liegen mit drei weiteren Männern. Sie sind mit reichlich Taschen, Säcken
und Bündeln unterwegs. Pünktlich um 17 Uhr ruckelt der Zug los – doch
ab jetzt gilt für die 1.200-Kilometer-Fahrt nach Kigoma am Tanganyika-See
nur noch ein ungefährer Fahrplan. Mehr als 40 Stunden dauert die Tour.
Gebaut haben die Bahn noch die Deutschen.
Bald nach der Abfahrt wird es dunkel. Der Schaffner verteilt Kopfkissen
und Laken, später bringt er einen Holzpflock in jedes Abteil. Die werden,
wenn der Zug nachts irgendwo hält, unter das Schiebefenster geklemmt. „Als
Schutz vor Dieben“, erklärt Abteilnachbar Alphonce, „die laufen über die
Waggondächer und langen von oben durch offene Fenster“. Alphonce kehrt
nach dreimonatiger Geschäftsreise durch Südafrika zu seiner Familie nach
Kigoma zurück. Er schwärmt von Südafrika: „Alles sauber, gute Straßen, im
Supermarkt geht alles automatisch – man muss zum Bezahlen einfach eine
55
Thorsten Bothe
Tansania
Karte in einen Automaten stecken.“ Verglichen mit Johannesburg sei Dar
ein Dorf, und Kigoma sei ein Dorf verglichen mit Dar.
„Ich habe Fisch mit Reis, Rindfleisch mit Reis und Huhn mit Reis“, zählt
ein Speisewagenkellner das Angebot zum Abendessen auf. Kurze Zeit später bringt er die Mahlzeit ins Abteil. Einen Tisch gibt es nicht, die Knie
müssen als Ablage reichen. Die Frau eines Mitreisenden ist herübergekommen – Männer und Frauen schlafen strikt getrennt –, die beiden essen mitgebrachtes Mishkake, am Spieß gebratene Fleischstückchen, mit Chappatis,
Fladenbroten.
An jedem Bahnhof warten Verkäufer auf den Zug, selbst mitten in der
Nacht. Sie halten Tabletts und Eimer mit Früchten, Gebäck oder Tomaten
an die Fenster. In der ersten größeren Stadt hinter Dar, Morogoro, deckt sich
Alphonce mit Kokosnüssen ein. Auch die übrigen Mitreisenden kaufen ein:
Orangen, Bananen, ein Sack Zwiebeln. Bei jedem Halt füllt sich das Abteil
weiter, bald stapeln sich Körbe, Matten, Mörser und andere Haushaltswaren
in der Mitte des Abteils und auf den freien Liegen. In Dodoma, der offiziellen Hauptstadt Tansanias, werden auch lebende Hühner angeboten – aber
von denen reist dann doch keines mit nach Westen. Die meisten Reisenden
frühstücken auf dem Bahnsteig: Chappatis, Tee, Obst.
Hinter Dodoma folgen die Gleise in etwa der historischen Handelsroute.
Der Zug zockelt dahin und wird schon mal von Radfahrern überholt. Die
Landschaft ist trocken, das Gras- und Buschland liegt unter flirrender Hitze.
Über die Ebene sind kleine Gehöfte gesprenkelt, einfache Lehmhütten, oft
mit Stroh gedeckt. Überall, wo ein paar Hütten dichter beisammen stehen,
hält der Zug, überall warten die Verkäufer bzw. sind kleine Garküchen aufgebaut. Immerhin sind die Gleise für die meisten Orte die beste Verbindung
zum Rest des Landes, die Straßen oder eher Pisten sind meist schlecht. Ich
beginne mich zu fragen, was die erwarteten Touristen denn hier anschauen
sollen, wie sie in die kleinen Dörfer kommen und wo sie übernachten sollen. Aber die Fahrt mit der Zentralbahn – das ist ein Erlebnis nicht nur für
Eisenbahnfreunde.
Schon der Menschen wegen, die mitreisen. Irgendwann sitzt ein alter Mann
im Abteil, mit dunklem Anzug und dunkler Kappe. „Ein Witchdoctor“, erklärt Alphonce, ein Naturheiler. In einem Beutel trägt er allerlei Heilmittel
mit sich. Zum Beispiel Holz, von dem ein Stückchen in Wasser gekocht wird,
und das Wasser hilft dann gegen Asthma, übersetzt Alphonce. „Aber ich
glaube nicht daran“, fügt er lachend hinzu. Später sehe ich den Witchdoctor
im Gang auf dem Fußboden schlafen. Der Zug ist ziemlich voll, da muss
man sich halt mit jedem Plätzchen zufrieden geben, das noch frei ist.
Die Fahrt führt über die Hochebene Zentraltansanias, meist ziehen sich
die Gleise durch trockene, niedrige „Miombo“-Wälder. Gegen 22 Uhr
56
Tansania
Thorsten Bothe
am Montag Abend erreicht der Zug Tabora, etwa zwei Drittel der Strecke
sind zurückgelegt. Eigentlich hätte er – glaubt man der Homepage der
Zentralbahn-Gesellschaft – schon um 20.10 Uhr Richtung Kigoma weiterfahren, ein Anschlusszug nach Mwanza Tabora um 21.30 Uhr verlassen
sollen. „Du bist in einem afrikanischen Land“, lacht Alphonce, „hier gibt‘s
keinen Fahrplan“.
Ich unterbreche meine Fahrt in Tabora, um mich dort ein wenig umzusehen.
10. Unter ständiger Beobachtung – in Tabora
Tabora hat wohl um die 200.000 Einwohner, ist Eisenbahnknotenpunkt,
über Straßen allerdings schlecht zu erreichen. Früher war die Stadt ein bedeutender Handels- und Karawanenort. Der im Reisereport des D.o.A. genannte
Ansprechpartner ist leider gerade in Dar, also fahre ich auf eigene Faust mit
dem Taxi zum etwas außerhalb gelegenen David-Livingstone-Museum. In
dem kleinen Haus, das als nationales Denkmal sogar auf einer Briefmarke
abgebildet ist, hat der berühmte Afrika-Forscher und Gegner der Sklaverei
(1813-1873) mehrfach gewohnt. Es ist geschlossen, der Taxifahrer spricht
einen Jungen an, der zum Glück weiß, wen er holen muss. Die beiden fahren
mit dem Wagen los und kommen kurze Zeit später mit dem Museumswärter
zurück. Erklären kann der wenig – er spricht, ebenso wie der Fahrer, praktisch kein Wort Englisch. Zu sehen ist in dem Häuschen nicht viel: ein paar
Bilder, kopierte Zeitungsseiten und Dokumente. Die meisten Räume sind
leer. Eine halbe Stunde Aufenthalt reicht völlig. Die als solche verzeichnete
Touristenattraktion hatte ich mir ein bisschen anders vorgestellt.
Allzu viele Touristen scheinen ohnehin nicht in die Stadt zu kommen.
Während ich durch die Stadt laufe habe ich das Gefühl, ich sei der einzige
„Mzungu“, Weiße, weit und breit. An jeder Ecke höre ich jemanden „Mzungu, mzungu“ rufen. Irgendwie fühle ich mich stets beobachtet.
11. Ein paar Kili zum Frühstück – Unterwegs mit der Zentralbahn, Teil 2
Der nächste Zug nach Kigoma fährt am Mittwoch Abend. Am Bahnhof
will zunächst niemand etwas davon wissen, dass ich eine Liege gebucht habe,
schließlich werde ich doch noch in einem Abteil untergebracht. Diesmal ist
es mit sechs Mann voll belegt, alle haben reichlich eingekauft. Entsprechend
schwierig ist es, meinen großen Koffer unterzubringen. Mit Mike, der ebenfalls zu seiner Familie fährt, unterhalte ich mich über Tansania. „We‘re happy“, sagt er. Glücklich, weil es keine Kriege im Land gibt, und weil die
57
Thorsten Bothe
Tansania
Volkszugehörigkeit keine Rolle spiele. Die Verkehrssprache Kisuaheli sei
das verbindende Element, dank derer sich jeder in jedem Landesteil verständigen kann. Von der Sklavenroute habe er gehört, vom Weltkulturerbe
noch nicht. „Es ist gut, dass die Erinnerung an die Geschichte für die kommenden Generationen bewahrt wird“, findet er. Eine typische Antwort. Die
Sklaverei wird zwar im Geschichtsunterricht behandelt, das höre ich stets,
wenn ich mal danach frage. Aber egal ob bei einem Taxifahrer in Dar, bei
einem Kollegen vom „Guardian“ oder eben beim Abteilnachbar Mike – ich
habe oft das Gefühl, als wolle man nicht so recht über das Thema sprechen.
Am nächsten Morgen ist die Landschaft grüner. Teilweise reicht dichter
Wald an die Gleise, an den Haltepunkten gibt es Zuckerrohr zu kaufen. Zum
Frühstück werden im Speisewagen Nudeln zum öligen Omelett gereicht.
Am Nachbartisch gibt es stattdessen ein paar „Kili“ – Kilimanjaro-Bier in
Halbliterflaschen.
Ein paar Stunden nach Sonnenaufgang ist der Tanganyika-See zu sehen,
und gegen 10 Uhr fährt der Zug in den riesigen Kolonialzeiten-Bahnhof von
Kigoma ein.
12. Versteckte Geschichte – Ujiji am Lake Tanganyika
Eliud Mulilo hat eine Menge Ideen. „Man könnte ein Hotel mit Restaurant
am Strand bauen“, sagt der Stadtplaner von der Distriktverwaltung KigomaUjiji und zeigt auf das Ufer des Tanganyika-Sees. „Davon könnten die lokale Bevölkerung und die Stadt profitieren.“ Die Stadt, das ist in diesem
Fall Kigomas Nachbarort Ujiji. Hier landeten früher Boote mit Sklaven, die
auf der anderen Seite des Sees, im heutigen Kongo, geraubt worden waren.
Und von hier aus zogen dann die Sklaven- und Elfenbeinkarawanen los in
Richtung Küste. Heute ist Ujiji ein eher verschlafenes Städtchen. Aber das
soll sich ändern, findet Mulilo. Nicht zuletzt mit Hilfe des WeltkulturerbeVorhabens.
Ein paar Tage zuvor war ich schon einmal alleine durch den Ort gelaufen. Eine der Attraktionen ist das Livingstone Memorial Museum, errichtet an dem Ort, an dem der amerikanische Journalist Henry M. Stanley
1871 den verschollen geglaubten Livingstone fand. Ein Gedenkstein erinnert an den Moment, eine kleine Ausstellung an die beiden Forscher.
Ihr Aufeinandertreffen, bei dem Stanley den Briten mit den Worten „Dr.
Livingstone, I presume?“ begrüßt hat, ist mit zwei Pappmaché-Figuren
nachgestellt. Darüber hinaus sind ein paar Bilder und Dokumente ausgestellt. Immerhin ist mit Haruna Kapitulo ein kompetenter Ansprechpartner
58
Tansania
Thorsten Bothe
anwesend, der aus einer Kladde etwas über Livingstones Leben erzählt bzw.
abliest. Er ist auch für die Pflege des kleinen Grundstücks mit seinen alten Mangobäumen zuständig – das Ergebnis kann sich sehen lassen. Laut
Gästebuch waren von Anfang Februar bis jetzt, Ende Oktober, grob geschätzt
1.800 Besucher in dem Museum, zu vielleicht 80 Prozent Tansanier.
Beim Spaziergang durch den Ort höre ich wieder an allen Ecken „Mzungu,
mzungu“, aber es wirkt freundlicher als in Tabora, und die Kinder freuen
sich über ein Winken oder ein „hello“. Kisuaheli-Kenntnisse wären jetzt
hilfreich, Englisch spricht kaum jemand. Schade, denn ich suche nach
laut Reiseführer noch vorhandenen Relikten der Vergangenheit, aber von
denen ist nichts zu erkennen (kein Wunder – zumindest die Existenz von
Sklavengefängnis-Ruinen hat der Autor des Buches fälschlicherweise vermeldet, den Fehler in einer späteren Auflage aber korrigiert). Ausnahme:
eine prachtvolle Mangoallee am Ortsrand. Solche Alleen hat es früher über
weite Strecken der Sklavenroute gegeben, sie spendeten Schatten und zugleich die leckeren Früchte. Heute sind die meisten dieser Baumreihen verschwunden.
Gemeinsam mit Mulilo fällt der Blick in Ujijis Vergangenheit leichter.
Wir hatten uns für den Morgen in seinem Büro verabredet, doch nachdem
wir eine Weile über das Sklavenrouten-Projekt gesprochen hatten, meint er
plötzlich: „Ein alter Mann in der Stadtverwaltung kommt aus Ujiji, der kann
uns die Plätze dort zeigen.“ Sprachs und verschwindet, um den Kollegen
Bakari Tambwe zu holen. Ein Auto samt Fahrer findet sich auch bald, dennoch geht es noch nicht gleich los. Es dauert ein bisschen, bis ich begreife:
„Die Benzinkosten übernehme ich natürlich.“
In Ujiji steigen wir am Museum aus. Die Moschee nebenan war einmal das
Haus des berühmten Händlers Tippu Tipp, erklärt Mulilo. Aha, man muss es
nur wissen. Ein paar Meter weiter steht ein weiteres unscheinbares, etwas
heruntergekommenes Haus: „Hier lebten auch Araber“, sagt Mulilo, „noch
fünf Jahre, ohne dass etwas getan wird, und es verfällt, und wir verlieren
wieder einen Teil unserer Geschichte“. Der Bewohner wollte einmal neue
Fenster und Türen einbauen. Aber das verhinderte die Distriktverwaltung,
die historischen Relikte blieben erhalten. Geld für Renovierungen fehlt der
Behörde allerdings, bedauert der Stadtplaner.
Ein paar Ecken weiter, auf einem kleinen Platz, bleibt Tambwe wieder
stehen. Das sei Kabondo, erklärt er. Heute liegt das Stadtviertel einige hundert Meter vom See entfernt, doch im 19. Jahrhundert verlief hier noch dessen Ufer. „Hier war ein Sammelpunkt für die Sklaven“, sagt Mulilo. Früher
stand hier sogar ein aus Stein gebautes Lager, im Untergrund seien davon
noch Reste zu finden. Ein Anwohner führt uns in den Hof eines der flachen
Lehmhäuschen, in dem ein Haufen Steine liegt. Mulilo hebt einen Brocken
59
Thorsten Bothe
Tansania
hoch: „Die stammen von dem Lager. Jetzt dienen sie dem allgemeinen
Gebrauch, aber wir wollen sie als historische Relikte bewahren.“
Wieder nur ein paar hundert Meter weiter öffnet sich die Straße – eigentlich mehr ein festgetretener breiter Weg - zu einem gänzlich unspektakulären
Platz. „Hierher wurden die Sklaven von Kabondo gebracht und verkauft“,
erklärt Tambwe – wir stehen auf dem ehemaligen Usagara-Sklavenmarkt.
Ein Fort soll es an dessen Rand gegeben haben, doch das ist verschwunden. „Man könnte hier einen Gedenkstein errichten der zeigt, dass hier der
Sklavenmarkt war. Mit einem Zaun drumherum, wie beim Livingstone
Museum“ – Mulilo hat wirklich einige Ideen.
Am Usagara-Markt begann einmal die lange Mangoallee, jetzt sind es
vielleicht zwei Kilometer, die wir mit dem Geländewagen zu deren Beginn
zurücklegen. „Es wäre doch denkbar, dass Touristen in einem Hotel am
Strand von Ujiji wohnen und vom Livingstone Memorial Museum aus die
Strecke über Kabondo und Usagara bis zur Mangoallee erwandern“ – Mulilo
hat schon ganz konkrete Vorstellungen. Erklärende Tafeln an den entsprechenden Orten müssten aufgestellt werden, dann könnten die Besucher den
historischen Wegen folgen. Schön wäre es auch, fährt Mulilo fort, wenn
es ausgebildete Führer gäbe, die den Touristen die Geschichte wirklich nahebringen können und nicht nur ein paar Zahlen vorlesen – der Traum bezieht sich auch auf das Museum. Das, erzählt der Stadtplaner, soll ohnehin
irgendwann aus der Verantwortung der Zentralregierung in die der Stadt
übergehen. Mulilo ist auf jeden Fall dafür: „Wir wollen spüren, dass es uns
gehört.“
Wenn dann wirklich einmal etwas zu erleben ist in Ujiji und die Touristen
im Ort auch wohnen können, dann werden sie auch Geld dalassen und nicht
nur, wie heute, einen wenige Stunden dauernden Ausflug hierher machen.
Daran glaubt Mulilo fest. Aber er versichert auch, dass neben dem finanziellen Aspekt die Bewahrung der Geschichte an sich eine große Rolle spielt,
wenn über das Weltkulturerbe-Projekt gesprochen wird.
Den ganzen Vormittag über haben sich Mulilo und Tambwe für mich Zeit
genommen. Einfach so. Einfach nett.
13. Nicht nur der Fisch müffelt – Schifffahrt auf dem Tanganyika-See
Kigoma hat noch mehr zu bieten als Ujiji und seine Vergangenheit, was den
Glauben an eine steigende Gästezahl durchaus realistisch erscheinen lässt.
Der Gombe-Stream- und der Mahale-Nationalpark, jeweils Lebensraum
von Schimpansen, sind von hier aus zu erreichen, der See ist für seinen fantastischen Fischreichtum berühmt und damit für Taucher und Schnorchler
60
Tansania
Thorsten Bothe
attraktiv. Kigoma ist zudem der einzige nennenswerte tansanische Hafen
am Lake Tanganyika. Einmal in der Woche, mittwochs, fährt ein Schiff die
Küste entlang bis zur Südspitze des Sees. Soll ein tolles Erlebnis sein, heißt
es im Reiseführer. Also auch eine weitere potenzielle Attraktion für weitere
Touristen, denke ich. An diesem Mittwoch bin ich der einzige. 55 US-Dollar
kostet eine Fahrt in der 1. Klasse, bar und in Devisen zu zahlen. Gut eine
Stunde vor der Abfahrt – die für 16 Uhr vorgesehen ist – bin ich am Hafen.
Ein älterer Mann schnappt sich gleich meinen Koffer, lotst mich in den
Wartebereich. Wie üblich warten ganze Familien, Kinder spielen zwischen
den Gepäckbergen.
Es wird 17 Uhr, 17.30, „mein“ Gepäckträger geleitet mich zu einem Tor,
das den Weg zum Kai öffnet. Doch auch hier heißt es erst einmal: warten. 18 Uhr ist es schließlich, als die Passagiere auf das Schiff gelassen
werden. Leider bedient diesmal die „MV Mwongozo“ die Strecke – und
nicht die „Liemba“. Die „Liemba“ ist 1914/15, mit von Deutschland nach
Ostafrika gebrachten Einzelteilen, als „Graf von Götzen“ zusammengebaut
worden. Im ersten Weltkrieg versenkten die Deutschen das Schiff, nach ihrer Niederlage wurde es von den siegreichen Belgiern geborgen, sank jedoch erneut. 1924 wurde es erneut gehoben, und seit 1927 dampft es als
„Liemba“ über den See.
Der Kofferträger stürmt mir voran in den 1.-Klasse-Teil, wo sich erst einmal alles auf den Gängen staut. Schließlich will wieder reichlich Gepäck
zwischengelagert werden. Ich zucke zusammen, als mein Helfer seinen Preis
nennt – 10.000 Schilling will er haben, gut acht Euro! Das ist ein Vielfaches
dessen, was sonst üblich ist. Ich beginne die Verhandlungen bei 2000, bei
4000 habe ich keine Lust mehr zu diskutieren und gebe ihm das Geld.
Der Steward lässt sich Zeit, jedem einzelnen Passagier Kabine und Bett
zuzuweisen. Ich beziehe alleine eine Zwei-Bett-Kabine – und schrecke beim
Eintreten zurück. Es müffelt heftig aus Richtung der stellenweise aufgeschlitzten Matratzen. Sanitäre Anlagen gibt es auch nicht. Als ich, nachdem
das Schiff gegen 19 Uhr endlich abgelegt hatte, die Gemeinschaftstoiletten
betrete, schüttelt es mich noch mehr. Meinen Plan, mit der Liemba von der
Südspitze des Sees aus gleich wieder zurück nach Kigoma zu fahren, lasse ich fallen. Ich ertappe mich dabei, in touristischen Kategorien zu denken – die Europäer, Amerikaner, Japaner oder Australier, die wirklich Geld
brächten, würden zweifellos mehr Komfort erwarten.
Dabei ist die Fahrt trotz allem sehr erlebnisreich. Da die kleinen Fischerorte,
von zwei Ausnahmen abgesehen, nicht über Anlegestege verfügen, ankert die „Mwongozo“ ein Stück vor dem Ufer. Nach kurzer Zeit schwirren mindestens ein Dutzend Boote um das Schiff herum, und in wildem
Chaos – zumindest sieht es für Außenstehende so aus – und lautem Geschrei
61
Thorsten Bothe
Tansania
klettern Passagiere aus den Booten an Bord, wird Fracht an Bord gehievt.
Gleichzeitig aber versuchen Frauen, Männer und Kinder vom Schiff aus in
die schaukelnden Nussschalen zu klettern, Gepäck – darunter auch schon
mal ein paar Hühner – natürlich inklusive. Immerhin: Außer dem einen oder
anderen Bootsführer geht niemand baden, und Gepäck oder Fracht scheinen
auch vollständig an ihr Ziel zu gelangen. Das gilt auch für die Säcke mit
kleinen, getrockneten Fischchen, die sich zu Hunderten auf dem Vorderdeck
stapeln. Das Schauspiel wiederholt sich 15 Mal. Fotografieren ist nicht gern
gesehen, das wird mir beim ersten Versuch wort- und gestenreich deutlich
gemacht.
Am zweiten Abend – die einfache Fahrt dauert bis Freitagmittag, also fast
zwei Tage – spricht mich im Bordrestaurant ein Junge an, vielleicht 17 oder
18 Jahre alt. Ob er meine Adresse haben und ein Foto von uns beiden machen lassen könne. Klar, kein Problem. Dann erzählt John Paul in passablem
Englisch, dass er ja gerne noch zwei Jahre lang zur Schule gehen würde, in
die Sekundarstufe: „Aber für ein Jahr muss man 150.000 Schilling (etwa
120 Euro) zahlen. Und meine Eltern haben kein Geld, wir leben in einem
kleinen Dorf, und mit der Landwirtschaft verdienen sie kaum etwas.“ Es
wird wieder eines dieser deprimierenden Gespräche, nicht zum ersten und
nicht zum letzten Mal während der drei Monate: Ich muss erklären, dass ich
auch nicht jedem helfen kann, der um Geld bittet – obwohl klar ist, dass jeder Tourist per se „reich“ ist für tansanische Verhältnisse. „Wenn Gott will,
treffen wir uns wieder“, sagt John Paul zum Abschied.
14. Grenzer mal so, mal so – Via Sambia zurück an die Küste
Da die Rückfahrt nach Kigoma nun also ins Wasser fällt und die Südspitze
des Tanganyika-Sees schon zu Sambia gehört, sind nach dem Ausschiffen in
Mpulungu erst einmal 25 US-Dollar für ein Transitvisum fällig. Die sambischen Grenzer nehmen ihren Job sehr genau, der Name jedes Einreisenden
wird in diverse Listen eingetragen, das Gepäck kontrolliert. „Ich habe Durst,
ein Drink wäre nicht schlecht“, murmelt ein Grenzer, während er meinen
Koffer durchsucht, und eine leichte Fahne weht mir entgegen. Wie soll
man denn darauf reagieren? Einen ausgeben – und Ärger bekommen, weil
man die Grenzer bestechen wollte? Gar nicht – und ein paar Stunden in der
Grenzbaracke verbringen? Der Mann in Uniform macht jede Seitentasche
des Koffers auf, ganz geruhsam. „Mein Hals ist ziemlich trocken“, meint
jetzt auch der Kollege des Koffer-Durchsuchers. „Meiner auch“, fällt mir
nur als Antwort ein, und daraufhin geben es die beiden Uniformierten zum
Glück auch schon auf.
62
Tansania
Thorsten Bothe
Am nächsten Morgen geht es ganz früh weiter, mit einem Lkw Richtung
Grenzort Nakonde. Der ist von Mpulungu etwa 240 Kilometer entfernt. Die
Erdstraße ist mit Schlaglöchern und Spurrinnen übersät, der junge Fahrer
heizt trotzdem ziemlich. Zum Glück sitze ich im Führerhaus – die vielleicht
zwei Dutzend Passagiere auf der Ladefläche müssen neben dem Gerüttel
auch noch jede Menge Staub ertragen.
Nach gut fünf Stunden ist die Grenze erreicht. Wieder wird mein Name
auf sambischer Seite in mehrere Listen eingetragen – als ob die jemals mit
den Einreiselisten abgeglichen werden. Auf tansanischer Seite sind gleich
wieder 20 US-Dollar fällig, denn mit dem Verlassen des Landes hatte mein
Drei-Monats-Visum seine Gültigkeit verloren. „Auch wenn Sie nur eine
Stunde in Sambia gewesen wären, bräuchten Sie ein neues Visum“, sagt die
Grenzbeamtin. Aber sie lächelt dabei und wünscht noch freundlich einen
schönen Tag.
Der Kleinbus in die nächste Großstadt, Mbeya, ist wie üblich überfüllt,
der überraschend modern scheinende Reisebus, mit dem ich ein paar Tage
später nach Dar fahre, ist es nicht. Dafür ist er auf den gut ausgebauten
Straßen aber verdammt schnell unterwegs. Für die 850 Kilometer benötigt
er keine zehn Stunden reine Fahrzeit. Das Busunternehmen, Scandinavia,
gilt gemeinhin als das zuverlässigste im Land, die Fahrer als die vorsichtigsten... dennoch bin ich ganz froh, auf einem der hinteren Plätze zu sitzen
und dadurch nicht so genau mitzubekommen, was sich alles auf der Straße
abspielt.
15. Steinerne Geschichte – in Sansibars Altstadt
Sansibar. Schon als die Fähre, von Dar kommend, die auf einer Halbinsel
liegende historische Altstadt umfährt, bin ich von der abwechslungsreichen
Architektur der Wasserfront fasziniert. Und dann der erste Gang durch die
„Stone Town“ genannte Altstadt! Das Gewirr enger Gassen – Ortsfremde
verlaufen sich unweigerlich nach ein paar Minuten. Die Häuser aus
Korallengestein aus dem 19. Jahrhundert, von denen zwar viele verfallen
und viele andere in schlechtem Zustand sind, einige aber auch wunderschön
renoviert sind. Die vielen mit Schnitzereien reich verzierten Holztüren.
Einfach toll. Kein Wunder, dass die Stone Town bereits als Weltkulturerbe
auf der Liste der UNESCO steht, seit 2000. Dass der relative Reichtum der
Stadt früher zum guten Teil aus ganz dunklen Quellen sprudelte – nämlich
dem Sklavenhandel und der auf Sklavenarbeit angewiesenen Kultivierung
von Gewürzen – gerät leicht in Vergessenheit.
63
Thorsten Bothe
Tansania
Auch bei der Bewerbung der Stone Town haben schwedische Experten
geholfen, erläutert Mwalim A. Mwalim. Geschrieben haben die Mappe die
Leute der „Stone Town Conservation and Development Authority“ (STCDA,
etwa: Stone Town Denkmalschutz- und Entwicklungsbehörde), deren
Generaldirektor Mwalim ist. Ins Leben gerufen wurde die STCDA 1985,
aber erst 1994 erhielt ihre Arbeit eine gesetzliche Grundlage. „Prinzipiell
haben wir fast unbeschränkte Befugnisse“, antwortet Mwalim auf die
Frage, was die Denkmalschutzbehörde denn gegen die Zerstörung historischer Gebäude tun könne. So ist im Prinzip für jede Baumaßnahme eine
Genehmigung erforderlich, die STCDA kann das Aussehen zum Beispiel
der Türen und Fenster eines Hauses vorschreiben.
„Praktisch aber haben wir wenig Einfluss“, fährt Mwalim bedauernd
fort. Grund sei zum einen die mangelhafte finanzielle Ausstattung durch
die Regierung Sansibars (Sansibar bildet gemeinsam mit dem Festlandteil
Tanganyika den Bundesstaat Tansania, verwaltet sich aber weitgehend
selbst). Zum anderen werde seine Behörde in den politischen Strukturen
zerrieben – mit der Regierung Sansibars, der Verwaltung der Region
West-Unguja (Unguja ist der offizielle Name der Insel, auf der die Stadt
Sansibar liegt) sowie der Stadtregierung gibt es gleich drei Ebenen, die
ihre Macht beweisen müssten, indem sie sich in die die Altstadt betreffenden Angelegenheiten einmischen. Das verkompliziert die Entwicklung der
Stone Town oft genug, ärgert sich Mwalim.
„Ein Teil der Bewohner ist sich der kulturellen Bedeutung der Stone
Town bewusst, ein anderer Teil nicht. Aber alle wissen, dass Stone Town
etwas ganz besonderes ist“, glaubt Mwalim. Was oft unterschätzt werde sei
das Interesse des Auslands an dem geschichtsträchtigen Ort. Die jüngere
Generation und insbesondere die Geschäftswelt haben die Attraktivität der
Stadt für den Tourismus aber längst erkannt.
Leider hat Mwalim nur wenig Zeit – er muss zu einem mehrtägigen
Fachkongress. „Ich wünschte, ich selbst könnte Ihnen die Stadt zeigen“,
sagt er, als er mich für weitere Fragen an die „Zanzibar Tourist Corporation“
(ZTC) verweist.
Bei der ZTC zeigt man sich sehr an dem interessiert, was ich so über das
Sklavenrouten-Projekt in Erfahrung gebracht habe. Sansibar ist daran nicht
beteiligt, bedauert Marketing-Mitarbeiter Muhidin B. Rajab: „Wir haben erst
vor drei Monaten (also im August 2003) überhaupt davon gehört.“ Einerseits
sei das verständlich, weil die Stone Town eben schon den WeltkulturerbeStatus besitzt. Andererseits gibt es historische Stätten auf der Insel, die nicht
dazugehören und in das Schema der neuen Initiative passten. Der Sitz der
ZTC etwa, das Livingstone House, in dem der Forscher mal gewohnt hat. Und
die Sklavenhöhlen von Mangapwani, rund 20 Kilometer nördlich der Stadt
64
Tansania
Thorsten Bothe
an der Westküste der Insel. Dort, in einer in das Korallengestein gehauenen,
überdachten Höhle haben die Sklavenhändler ihre Opfer versteckt, nachdem die Briten den Sklavenhandel verboten hatten und die Händler auf dem
Meer jagten. Jede „Spice-Tour“, eine Tagesfahrt durch die Gewürzplantagen
Sansibars, führt auch zu dieser Höhle. Dunkel ist es darin, steile Treppen
führen hinunter in die Kammer. Es gruselt bei der Vorstellung, dass hier von
Zeit zu Zeit vielleicht ein paar hundert arme Menschen zusammengepfercht
waren, ein ungewisses Schicksal erwartend.
In der Stone Town selbst gibt es auch einige Spuren der düsteren
Vergangenheit. Zum Beispiel einen Keller nahe der anglikanischen Kirche,
die wiederum auf einem Platz errichtet wurde, auf dem zuvor Sklaven gehandelt worden waren. In den dunklen Gewölben seien die Opfer „zwischengelagert“ worden, erzählt ein Gästeführer – angeblich oft mehrere Tage ohne
Nahrung, um ihr Durchhaltevermögen zu testen. Es ist allerdings umstritten, ob die Keller wirklich diesem Zweck dienten. Vor der Kirche erinnert
ein Skulpturen-Monument – lebensgroße, realistisch gestaltete Figuren mit
Ketten um den Hals – an die Zeit des Sklavenhandels.
In das wunderschöne „House of Wonders“, einem früheren Sultanspalast,
wird im Herbst 2003 gerade die Sammlung des Historischen Museums verlagert – auch der Sklavenhandel spielt in der Ausstellung eine gebührende
Rolle.
Und in der Stone Town steht auch noch das Haus von Tippu Tipp, dem
berühmt-berüchtigtsten Händler des 19. Jahrhunderts. Von außen ist es unscheinbar, grau, alles andere als gepflegt. Die wunderschön geschnitzte Tür
hat auch schon bessere Zeiten gesehen. Dennoch – ein Foto muss sein. „Hey
my friend, welcome, have a look inside“, höre ich plötzlich eine Stimme
hinter mir, während ich noch mit der Kamera hantiere. Ein Bewohner des
Hauses kommt auf mich zu, Einkaufstüten in der Hand. „Weißt Du, dass
das Tippu Tipps Haus war?“, fragt er, während er mich hinein bittet. Aspara
wohnt unter dem Dach, in einer riesigen Wohnung – sicher 100 Quadratmeter,
sparsam möbliert. Die Außenmauer ist nach oben hin, unter dem Dach, einen
Spalt breit offen, so dass Luft zirkulieren kann. Eine Holztreppe führt auf
eine herrliche überdachte Dachterrasse. Es könnte eine Traumwohnung sein
– doch sind die Treppenstufen marode, die Fensterläden schief und kaputt,
und die Holzbalustrade des ohnehin wenig Vertrauen erweckenden Balkons
sieht aus, als breche sie bei der kleinsten Berührung zusammen. „Das ist
alles noch original“, erläutert Aspara. „Wir reparieren hier immer mal ein
bisschen was“, sagt er, doch für die große Instandhaltung fehle den vier
Mietparteien im Haus schlicht das Geld. Das Gebäude gehört der Regierung
von Sansibar, sagt mein freundlicher Gastgeber, aber die kümmere sich nicht
65
Thorsten Bothe
Tansania
darum. Dabei zahlt er für tansanische Verhältnisse eine durchaus ordentliche
Miete von 100.000 Schilling, etwa 80 Euro.
Ja, natürlich freue er sich über ein bisschen Geld, sagt Aspara beim
Abschied. Ich habe nur 1.000 Schilling klein. „Normalerweise nehmen
wir 2.000 oder 3.000“, sagt Aspara fröhlich – es kämen immer mal wieder
Touristen vorbei –, „aber Du bist mein Freund, also sind 1.000 genug“. Und
wenn ich mal wieder nach Sansibar komme und einen Platz zum Übernachten
brauche, sei ich jederzeit willkommen – „weil wir jetzt Freunde sind“.
16. „Das war gar nicht die Hauptroute“ – Zweifel an der
„Historical Correctness“
Mr. Rajab von der Tourismus-Vereinigung ZTC hatte mir noch den Tipp
gegeben, dass ich im Archiv von Sansibar weitere Informationen über den
Sklavenhandel bekommen könnte. Archivleiter Hamadi Hassan ist nirgendwo zu finden, doch der ZTC-Mitarbeiter, der mich später auch noch bis
zu den Höhlen von Mangapwani fährt, findet im „House of Wonders“ immerhin Prof. Abdul Sheriff. Der ist Dozent für Geschichte an der Uni Dar
es Salaam sowie Berater und Kurator der Museen von Sansibar. „Meine
eigenen Forschungen haben ergeben, dass die Route Ujiji – Bagamoyo
nicht die wichtigste Handelsroute war“, sagt er zu meiner Überraschung.
Vielmehr seien 80 bis 90 Prozent der für Sansibar und Arabien bestimmten
Sklaven aus dem Bereich des heutigen Nord-Malawi über eine vergleichsweise geringe Entfernung nach Kilwa, gut 200 Kilometer südlich von Dar,
verschleppt worden. Auf der zentralen Route, die ja durch sehr trockene
Gebiete führt, hätten die meisten Opfer nur ein Teilstück zurücklegen müssen. „Nur wenige Sklaven sind überhaupt nach Bagamoyo gebracht worden
und wenn, dann kamen sie nicht aus dem Osten Kongos, sondern eher aus
Zentraltansania“, sagt Sheriff.
Für die „Popularität“ Bagamoyos und der Zentralroute sieht der Historiker
vor allem zwei Gründe:
1. Die ersten Missionare haben vor allem dort Sklaven befreit und „bekehrt“ - also wurde die Bedeutung des Ortes als Sklavendrehscheibe hervorgehoben.
2. Die Bekanntheit Tippu Tipps. Dabei sei der eher Elfenbein- als
Sklavenhändler gewesen: „Tippu Tipp war vor allem Geschäftsmann, und
Elfenbein war einträglicher. Der Sklavenhandel war eher ein Nebengeschäft.“
Er habe zwar selbst viele Plantagensklaven für sich schuften lassen, aber
keine großen Sklavenkarawanen von Ujiji nach Bagamoyo geführt – dessen
ist sich Sheriff sicher.
66
Tansania
Thorsten Bothe
Auch andernorts werde, der guten Story wegen, eifrig an Mythen gebastelt. So wird in der Anglikanischen Kirche erzählt, dass an der Stelle, an
der sich heute der Altar befindet, früher ein Pfahl gestanden habe, an den
Sklaven zur Auspeitschung gekettet wurden. Dafür gebe es jedoch keinerlei
Belege. Und von den Kellern eines heute als Schule genutzten Gebäudes
wird behauptet, sie hätten als Sklavenkerker gedient – in den Augen Sheriffs
ebenfalls eine fragwürdige Geschichte. Denn das Gebäude sei im 19.
Jahrhundert von Franzosen als Hospital gebaut worden, und die Kammern
wurden, so seine Vermutung, zum Lagern von Medikamenten genutzt.
„Vor einigen Jahren bin ich um meine Beteiligung an dem UNESCOProjekt gebeten worden“, sagt Sheriff – aber da damals bereits das
Hauptaugenmerk auf der Route Ujiji - Bagamoyo lag, hat er abgelehnt: „Ich
wollte nicht an den falschen Mythen mitbauen.“
Grundsätzlich unterstützt er die Bemühungen, die Geschichte zu erforschen und zu bewahren, fährt Sheriff fort, aber: „Ich möchte nicht, dass
die Geschichte benutzt wird, um heute damit Auseinandersetzungen auszutragen.“ Der Historiker bezieht sich dabei unter anderem auf die Debatte
um die „Schuld“ an der Sklaverei, die – vor allem in Westafrika - nicht
selten in Reparationsforderungen afrikanischer Staaten an die Europäer und
Amerikaner mündet. Schließlich sind auch die Afrikaner selbst in den traurigen Handel verstrickt gewesen, gibt Sheriff zu bedenken. Und während
der sozialistischen Revolution auf Sansibar 1964, die den arabischen Sultan
stürzte, seien tausende Araber nur aufgrund ihrer Abstammung ermordet
worden, obwohl sie selbst nichts mit der Sklaverei zu tun gehabt hätten.
„Schuld war nicht eine bestimmte Volksgruppe, sondern eine bestimmte
Klasse von Leuten - die Oberschicht, die Händler“, meint Sheriff.
17. „Irgendwann werden sie kommen“ – nach Bagamoyo
„Wir sagen gar nicht, dass Ujiji-Bagamoyo die einzige Handelsroute war
– es gab ja mindestens zwei weitere“. Felix Ndunguru reagiert gelassen,
als ich ihn mit der Kritik des Historikers Sheriff am Sklavenrouten-Projekt
konfrontiere. Der für Bagamoyo zuständige Konservator des Department
of Antiquities ist überzeugt, dass die Ausrichtung des Vorhabens die richtige ist: „Wir haben die Zentralroute gewählt, weil hier mehr Karawanen
unterwegs waren als auf den anderen Routen. Außerdem gibt es mehr
Landmarken wie Mangoalleen und Ruinen. Und es gibt hier noch mehr
Nachkommen ehemaliger Sklaven als entlang der anderen Routen.“ Literatur
und Augenzeugenberichte legten ebenfalls nahe, sagt Ndunguru, dass er
und seine Kollegen vom D.o.A. Recht haben: „Ich bin überzeugt, dass die
67
Thorsten Bothe
Tansania
Zentralroute die Hauptroute war.“ Wohl nicht umsonst bedeutet Bagamoyo
soviel wie „Lege Dein Herz nieder“ – offenkundig eine Anspielung auf das
Schicksal der Sklaven, die hier auf die nach Sansibar auslaufenden Dhaus
verfrachtet wurden und von da an wussten, dass es keine Hoffnung mehr
gab, der Sklaverei zu entrinnen.
Ohnehin könne nicht jeder Weg, den einmal Sklavenkarawanen nahmen,
zum Weltkulturerbe werden – da müsse es schon eine Beschränkung geben,
fährt Ndunguru fort. Die Stadtoberen von Bagamoyo hätten es am liebsten,
dass sich die Denkmalschützer und die UNESCO sogar nur auf ihren Ort
beschränken. Bei der Konferenz im November hätten sie dies noch einmal
deutlich gemacht. Doch war das Ergebnis der Konferenz eindeutig: „Nein,
die sechs Zentren entlang der Route müssen um Zuwendungen ‚kämpfen’.“ Die D.o.A.-Leute, die die Strecke im Sommer zurücklegten, verteilten damals auch Broschüren an die Stadtverwaltungen, erzählt Ndunguru.
Die Faltblätter sollten das Bewusstsein der lokalen Autoritäten für ihr
historisches Erbe wecken und sie zum Mitmachen animieren. In einigen
Kommunen funktioniert das auch schon ganz gut – „die in Kigoma zeigen
großes Interesse“, lobt der D.o.A.-Konservator den dortigen Stadtplaner
Eliud Mulilo und dessen Kollegen. Anderswo geschehe hingegen wenig.
Bagamoyo zählt Ndunguru eher zur zweiten Gruppe, das wird im
Gespräch deutlich. Dabei sind in dem Städtchen noch einige Relikte aus
der Vergangenheit sichtbar: ganze Straßenzüge steinerner, zweigeschossiger
Häuser, der alte deutsche Verwaltungssitz – die „Boma“ – nebst weiteren
Hinterlassenschaften der Kolonialzeit, eine Karawanserei, ein von der Mission
betriebenes Museum zur Geschichte des Ortes und des Sklavenhandels in
historischen Mauern, einen überdachten Markt. Allerdings sind - von einigen
restaurierten Gebäuden abgesehen – viele Gemäuer nur noch Ruinen oder
kurz davor, welche zu werden. Das gilt insbesondere für Wohnhäuser in der
Altstadt, die wie in Sansibar Stone Town genannt wird. Zahlreiche Häuser
sind sogar ganz verschwunden. Aber auch das Prunkstück, die Boma, ist
in erbärmlichem Zustand: Die Außenmauern sind verwittert, Fensterladen
hängen herunter, ein Teil der Vorderfront ist bereits zusammengebrochen.
Wäre das Gebäude vor ein paar Jahren nicht zumindest notdürftig gesichert
worden – es wäre vermutlich jetzt nicht mehr als ein Schutthaufen.
„Zum Teil gehören die Altstadtgebäude der Regierung, zum Teil der
Stadtverwaltung, zum Teil der Kirche oder den islamischen Gemeinden“,
erklärt Ndunguru. Die in Privatbesitz befindlichen werden seinen Angaben
zufolge selten von den Besitzern bewohnt, die sich zudem kaum um den
Verfall ihrer Immobilie scheren – während den Bewohnern das Geld für die
Instandsetzung fehlt. Besonders aber ärgert sich der D.o.A.-Experte über
die Nachlässigkeit der staatlichen Stellen: „Wenn es die Zentralregierung
68
Tansania
Thorsten Bothe
ernst meinen würde, könnten sie sich sicher um die Gebäude kümmern
und Geld für Renovierungen in den Haushalt einstellen – aber sie kümmert sich nicht darum.“ Die lokale Verwaltung sei da nicht viel besser: „Der
Distriktvorsteher will lieber ein neues Verwaltungsgebäude bauen als das
alte, die Boma, zu renovieren“, schimpft der Konservator. Wenn sich aber
die Leute vor Ort um die Bauten kümmerten und zur Instandhaltung wenigstens einen Teilbeitrag leisteten, dann ließen sich auch Investoren aus dem
Ausland anlocken. Da ist sich Ndunguru ganz sicher.
Bei allen Problemen und Hindernissen, die es zu überwinden gilt –
Ndunguru ist vom Erfolg des Projekts überzeugt. „Unser Hauptanliegen ist
es, das kulturelle Erbe zu bewahren, zum Wohle dieser und der kommenden
Generationen“, betont auch er. Der Tourismus wachse dann ganz von selbst,
quasi als Nebenprodukt. Also gelte es, das Bewusstsein der Leute zu schärfen – wie oft habe ich das jetzt schon gehört, frage ich mich –, was in erster
Linie Aufgabe der Verantwortlichen vor Ort sei. Die müssen den Leuten
deutlich machen, dass sie von ihrem kulturellen Erbe auch materiell profitieren können. „Ich bin optimistisch, dass viele Touristen die Orte entlang
der Route besuchen, wenn sie einmal Weltkulturerbe ist“, sagt Ndunguru.
„Das dauert sicher etwas, aber irgendwann werden sie kommen. Vielleicht
werden einige auch die gesamte Route erwandern. Warum nicht?“
Warum nicht? Ich denke an die kleinen Dörfer an der Bahnstrecke, an die
eintönigen, heißen, trockenen Ebenen im Landesinneren, an die fehlende
Infrastruktur und möchte klar und deutlich antworten: Darum nicht. Aber ich
lasse es bei einem zaghaften Einwand bewenden. Ndungurus Optimismus
ist unerschütterlich – und Optimismus kann ja auch nicht schaden.
18. „Ich muss gehen“ – Träume eines Touristenführers
Immerhin – in Bagamoyo tut sich schon einiges in Sachen Tourismus.
Es gibt ein paar gute Hotelanlagen, die zum Teil Räumlichkeiten für
Konferenzen offerieren. Und das D.o.A. hat ein paar junge Leute zu
Gästeführern ausgebildet. Joshua, 27, ist einer von ihnen. Er zeigt mir die
Sehenswürdigkeiten der Stadt, fährt mit mir über die breiten, staubigen,
mit knietiefen Schlaglöchern übersäten Straßen zum alten Fort, in dem die
Händler ihre menschliche „Ware“ „zwischengelagert“ haben sollen – was
allerdings nicht eindeutig belegt ist. Wir besuchen den alten deutschen
Friedhof und die – renovierte – Karawanserei, in der früher die Händler
abstiegen und die heute eine Mini-Ausstellung über Bagamoyo beherbergt.
Joshua zeigt mir den Dhau-Hafen, also den Strand vor dem Fischmarkt,
an dem noch immer die traditionellen Holzboote gebaut werden. Und das
69
Thorsten Bothe
Tansania
Grab einer in den 70er Jahren gestorbenen Frau, die als Kind noch Sklavin
gewesen war. Joshua weiß viel zu erzählen über die Geschichte der Stadt.
Wir fahren zwischen den einstöckigen, oft aus Lehm gebauten Häuschen
entlang, in denen sich vielfach kleine Läden befinden. Besonders „urban“
ist die Atmosphäre in dem Städtchen nicht.
Abends holt mich Joshua auf ein Bier ab. In einer typischen Kneipe – eine
Bar unter einem Dach aus Palmwedeln, nach zwei Seiten offen – erzählt
er, dass er bald Grundschullehrer werden und damit ca. 50 Euro im Monat
verdienen möchte. Auch als Touristenführer will er weiter arbeiten und die
Einnahmen daraus zurücklegen. Und wenn er genug gespart hat, will er
nach Europa, vielleicht nach Deutschland, zum Arbeiten: „Andere haben
es auch geschafft – warum nicht ich? Ich weiß es – ich muss gehen.“ Was
er vom Leben in Deutschland wisse? „Das Klima ist kälter, und die Leute
haben viel zu tun.“
Wir treffen uns noch zwei, drei Mal, und jedes Mal erzählt Joshua mehr
von seinen Plänen. Eine weiße Frau will er heiraten, und er nimmt jede
Arbeit in Europa an, vielleicht in einem Hotel, aber er würde alles machen. Im Zweifelsfall eben schwarz. Um Geld zu sparen, würde er sogar im
Freien übernachten, er brauche nicht viel. Das Geld, dass er verdient, will
er sparen. Und irgendwann kehrt er wieder nach Tansania zurück, ein paar
gebrauchte Computer im Gepäck: „An denen lasse ich die Leute spielen,
damit kann man viel Geld verdienen.“ Eine Kokosplantage will er anlegen,
davon könne man bei geringem Aufwand gut leben. Joshua hat viele Pläne.
Da auch er mit einem Anwachsen der Besucherzahl rechnet, überlegt er,
gemeinsam mit Freunden eines der historischen Häuser zu übernehmen und
daraus ein Hotel zu machen. Und schließlich spricht er von seinem ganz
großen Traum: „Ein großes Motorrad, eine 750er.“ Da ist er wieder, dieser
beeindruckende und zugleich verwirrende Optimismus – in meinen Augen
realitätsfremd, aber offenbar für viele Tansanier ein zumindest gedanklicher
Fluchtweg aus einem Alltag, in dem nicht einmal die täglichen ein, zwei
Euro für eine ausreichende Ernährung gesichert sind.
19. „Sie leiden noch immer“ – sagt Father Gallus vom Missionsmuseum
Wer nach Bagamoyo kommt, der besucht zumeist auch das Museum
der katholischen Mission. Ein Gemälde an der Außenwand des wunderbar renovierten Gebäudes verweist auf den Schwerpunkt der Ausstellung:
Es illustriert die Geschichte eines Mädchens, das in die Hände arabischer
Sklavenhändler geriet, nach Sansibar verfrachtet wurde, schließlich unter
dramatischen Umständen von christlichen Missionaren gerettet wird und
70
Tansania
Thorsten Bothe
als Krankenpflegerin einen ihrer früheren Peiniger wiedertrifft. Ein inzwischen wieder in Deutschland lebender deutscher Pater, John Henschel, hat
die Geschichte aufgeschrieben und als Büchlein veröffentlicht. Henschel
hat viel über die Sklaverei geforscht und war auch maßgeblich am Aufbau
des Museums beteiligt, erzählt sein Nachfolger als Museumsdirektor, Father
Gallus Marandu. Die liebevoll aufbereitete Sammlung beschäftigt sich mit
dem Sklavenhandel und der Befreiung vieler Sklaven durch die christlichen
Missionare. Diese kauften die Menschen frei, soweit sie es finanzieren konnten, und gründeten für sie in Bagamoyo eine kleine Siedlung, von der heute
nichts mehr zu sehen ist. „15.000 Besucher hatten wir 2002 im Museum“,
sagt Father Gallus, „dieses Jahr (2003) werden es wohl 30.000 sein“.
Mindestens 70 Prozent kommen aus Tansania: Studenten, Schulklassen aller
Altersstufen, zum Teil Familien auf einem Ausflug etwa von Dar es Salaam
aus. „Die Tansanier wollen ihren Kindern die Realität der Geschichte vermitteln“, als Ergänzung zu dem, was sie in der Schule lernen, ist Father
Gallus’ Erfahrung. Und gerade Einheimische mit höherer Bildung wollen
ihre eigene Familiengeschichte verstehen. Es kämen sogar Tansania-stämmige Araber, die jetzt im Ausland leben und ihren Kindern zeigen wollen,
wo sie herkommen.
In Bagamoyo selbst ist es allerdings nicht ganz einfach, über das Thema
zu reden, sagt Father Gallus. Dabei leben hier noch viele, deren Vorfahren
als Sklaven an die Küste gebracht worden waren, aber: „Einige von ihnen
sprechen darüber, einige haben Angst davor.“ Die bitteren Erfahrungen ihrer
Ahnen sitzen offenbar bei vielen noch zu tief, so dass sie sich nicht als deren
Nachkommen zu erkennen geben wollen: „Sie leiden noch immer darunter,
unter einem Gefühl der Erniedrigung.“ Oft, sagt Father Gallus, bedarf es
langer Gespräche, bevor die inzwischen meist alten Leute erzählen, was sie
von ihren Eltern oder Großeltern über deren Leiden in der dunklen Epoche
erfahren haben. Pater Henschel und Felix Ndunguru vom D.o.A. haben
viele solcher Gespräche geführt und sie in einem Büchlein dokumentiert.
Das ist, wie die Geschichte des Sklavenmädchens, im Museum erhältlich.
Es zeigt auch, dass in Bagamoyo Vertreter zahlreicher Volksgruppen aus
ganz Tansania und sogar dem benachbarten Ausland – Kongo, Uganda,
Mosambik – zusammenleben. Auch eine Folge der Sklaverei.
Henschel und Ndunguru sprachen auch mit den Nachkommen von
Sklavenbesitzern – doch die, so das Fazit der Autoren, waren noch weniger bereit, über ihre Familiengeschichte Auskunft zu geben. Der frühere Standesdünkel sei auch noch immer nicht verschwunden, meint Father
Gallus: „Früher traten vor allem befreite Sklaven zum Christentum über
– also sahen die Moslems in Christen vor allem ehemalige Sklaven. Und
da Sklaven, die zum Islam übergetreten waren, nach ihrer Freilassung einen
71
Thorsten Bothe
Tansania
besseren Stand hatten als die Christen, blickten sogar sie oft auf diese herab.
Das schwingt selbst heute noch etwas nach.“
Das vielfache Verdrängen der Geschichte hat dazu geführt, dass die jungen
Leute in Bagamoyo kaum etwas über die Vergangenheit des Ortes wissen,
bedauert Father Gallus. In seiner Gemeinde allerdings wird darüber gesprochen, denn „die Leute müssen darüber Bescheid wissen“. Zum einen, um aus
der Geschichte zu lernen. Und zum anderen, um Besucher informieren zu
können. Denn im Gespräch, im Gedankenaustausch können Besucher und
Bewohner voneinander lernen, glaubt der Geistliche. Das WeltkulturerbeProjekt könne hierzu beitragen, meint er: „Es animiert die Leute dazu, sich
ihrer historischen und kulturellen Wurzeln bewusst zu werden.“ Da ist es
wieder, das Stichwort „Bewusstsein wecken“. Die Leute von Bagamoyo
sind bereit, es wecken zu lassen, glaubt Father Gallus.
20. Kulturhauptstadt Bagamoyo – Ein Exkurs zum College of Arts
Bagamoyo – das ist neben aller historischen Bedeutung auch so etwas
wie die gegenwärtige Kulturhauptstadt Tansanias. Denn in Bagamoyo ist
seit 1980 das „College of Arts“ beheimatet, die einzige Kulturhochschule
Ostafrikas. Aus allen Teilen des Landes bewerben sich Kulturschaffende,
etwa 20 bis 30 erhalten nach einem mehrstufigen Auswahlverfahren die
Zulassung. Drei Jahre lang werden sie in Tanz, Musik, Schauspiel/Drama,
bildende Künste und Bühnentechnik unterrichtet, wobei sich jeder ab
dem zweiten Jahr auf eine Fachrichtung spezialisiert. Auch Akrobatik
steht auf dem Stundenplan, hinzukommen Englisch und Kisuaheli sowie
Kulturpromotion und Forschungsmethodik. Die Absolventen sind früher
von der Regierung in die Regionen des Landes entsandt worden, um dort
ein kulturelles Leben aufzubauen. Jetzt hat der Staat kein Geld mehr dafür,
die Studenten müssen sich selbst oder in Gruppen durchschlagen. „Wir bewahren alte Traditionen und versuchen dabei, die Kultur des ganzen Landes
abzudecken“, erzählt der Akademische Rat Juma Swafi. „Aber wir lehren
auch moderne Kunst.“
Aushängeschild des College sind die „Bagamoyo Players“, das aus den
Lehrern des College bestehende Nationalensemble Tansanias. Mit Tanz- und
Theatervorführungen ist die Gruppe schon oft im Ausland aufgetreten, zum
Beispiel in Skandinavien – Schweden und Norwegen leisten der Hochschule
finanzielle Hilfe – und Deutschland. Auf der Expo 2000 in Hannover repräsentierten die Bagamoyo Players ihr Land.
Darüber hinaus leistet das Ensemble einen wichtigen Beitrag zur
Entwicklung Tansanias. Viele der selbst erarbeiteten Stücke behandeln
72
Tansania
Thorsten Bothe
aktuelle soziale Probleme wie Aids, die Position der Frauen – die traditionell nach dem Tod des Mannes nichts von diesem erben und daher als
Witwe oft mittellos sind –, Alkoholmissbrauch oder Malaria-Vorsorge. „In
Zusammenarbeit mit UNICEF gehen wir regelmäßig auf Tournee durch
das Land“, erzählt Swafi. Gerade in den Dörfern hätten die Aufführungen
großen Einfluss, sagt Swafi, dort bekomme die Gruppe immer ein gutes
Feedback. Schauspieler Nkwabi Nghangasamala ergänzt, dass die Aufträge
für solche Stücke und Tourneen nicht nur von UNICEF, sondern auch von
anderen Entwicklungs-Organisationen kommen. Viele Anfragen gebe das
College inzwischen an ehemalige Studenten weiter, da diese zum Teil in den
betreffenden Regionen leben und die College-Lehrer ohnehin nicht ständig
auf Achse sein können.
Die Studenten sind mit hoher Motivation bei der Sache, zeigt eine MiniUmfrage unter ein paar Nachwuchskünstlern in einer Unterrichtspause.
Francis Mallindi, 28, Hauptfach Tanz, Nebenfach Musik im dritten Studienjahr, „ist mit einem Künstlerherzen geboren“, wie er selbst sagt. Vor dem
College-Studium war er Grundschullehrer, aber schon als Kind hat er gesungen, getrommelt und Gitarre gelernt. Später hat er für Radiosender Jingles
eingespielt. Nach seinem Examen in Bagamoyo möchte er sich noch weiter
bilden, am liebsten an der Universität Dar es Salaam. Und später will er einmal professionell Musik machen und unterrichten – „denn beim Unterrichten
entwickele ich mich weiter“. Er möchte experimentieren, beispielsweise
afrikanische mit europäischen Rhythmen mixen. „Es gibt nicht viele professionell arbeitende Musiker in Tansania. Die meisten können Instrumente
spielen, haben aber keine theoretischen Kenntnisse“, sagt Francis. Er habe
am College wichtige Grundlagen erlangt.
Saada Mohammedi steht ebenfalls kurz vor ihrem Abschluss. Auch die 21Jährige hat sich auf das Tanzen spezialisiert. Sowohl traditioneller als auch
moderner Tanz gehören zu ihrem Repertoire. „Ich möchte einmal Kinder
unterrichten, das mag ich soooo gerne“, sagt die junge Frau. Das Studium
ermöglicht ihr eine Familie aus Deutschland, die ihr die jährlich 150.000
Schilling (ca. 120 Euro) Gebühr für Unterricht, Unterkunft und Verpflegung
bezahlt. Die Familie hat sie 1998 in Deutschland kennen gelernt, als sie
mit einer von Nkwabi Nghangasamala geleiteten Gruppe von Kindern und
Jugendlichen an einem Musical-Projekt im Kreis Warendorf teilnahm.
Edgar Ngelela will einmal etwas für Tansania völlig Neues auf die Beine
stellen: „Ich denke daran, eine Filmindustrie zu gründen – so Gott will“,
sagt der 23-Jährige mit dem Hauptfach Drama. Schon als Kind hat er
Theater gespielt, sich aber von jeher für den Film interessiert. Regisseur
oder Schauspieler will er werden, Science Fiction und Werke über die tansanischen Traditionen drehen. „Seit vier Jahren habe ich eine Videokamera“,
73
Thorsten Bothe
Tansania
erzählt er stolz, einen Kurzfilm hat er damit schon hergestellt. Auch Edgar
schwebt ein weiterführendes Studium an der Uni Dar vor – „aber dafür
bräuchte ich einen Sponsor“.
Höhepunkt im College-Jahr ist das „International Bagamoyo Festival
of Arts“ am letzten September-Wochenende. Tanz-, Musik- Theater- und
Akrobatik-Gruppen aus ganz Tansania, aus den Nachbarländern und immer
wieder auch mal aus Europa sorgen dafür, dass in dem eher verschlafenen
Städtchen ein paar Tage lang richtig Trubel ist. Die Hotels sind gut belegt,
auf den Straßen ist deutlich mehr Leben als sonst, auf dem College-Gelände
wird ein kleiner Kunsthandwerk-Markt aufgebaut.
Spielort ist die einzige feste Bühne Tansanias: das College-eigene
Freilufttheater, das allerdings nur noch eine Ruine ist. Anfang 2002 hat es
mutmaßlich der damalige College-Direktor in Brand gesetzt, als Motiv wird
Versicherungsbetrug vermutet. Jetzt soll es wieder aufgebaut werden. Die
tansanische Regierung wird, so Swafi, einen Beitrag leisten – und natürlich
hilft auch die schwedische Organisation SIDA wieder, die schon den ursprünglichen Bau mitfinanziert hat. Auch Norwegen hat Hilfe zugesagt.
Das Festival ist beliebt im Ort: Schon die Nachmittagsvorstellungen sind gut
besucht, abends ist das Amphitheater brechend voll. Dabei kostet es immerhin
500 Schilling Eintritt – nicht wenig für tansanische Verhältnisse. Kinder
zahlen 100 Schilling – und es kommen reichlich, auch abends. Kostenlos ist
der Besuch einer kleinen Nebenbühne. Hier treten Amateure und Anfänger
auf, denen das Festival die Gelegenheit gibt, erste Bühnenerfahrungen zu
sammeln.
Die Begeisterung ist groß, auch während der „Problem“-Stücke: Das über
die Erbschaftsproblematik haben die Bagamoyo Players auf eine witzige
Art inszeniert, die an das Ohnsorg-Theater erinnert. Das kommt an beim
Publikum. Die Zuschauer gehen mit, lachen viel, spenden immer wieder
Beifall. Anders als in Europa üblich, gibt es jedoch keinen anhaltenden
Schlussapplaus mit mehreren „Vorhängen“. Hier werden die Akteure mit
kurzen Klatschrhythmen auf Kommando des Moderators verabschiedet.
Die Akrobaten agieren auf teilweise hohem Niveau – viele könnten, denke
ich, problemlos ein Engagement in einem Zirkus in Europa bekommen.
Die traditionellen Trommel- und Tanzvorführungen beeindrucken durch
ihre Intensität, die die meist farbenfrohen Gewänder der Künstler noch
unterstreichen.
Ein vielstimmiges „Iiiihhh – ääähhh“ ist in dem steinernen Halbrund zu
hören, während eine tansanische Gruppe einen „Schlangentanz“ mit echter
Schlange darbietet. Das arme Viech wird arg verdreht, fast schon verknotet.
Schließlich wirft der Tänzer das Reptil in Richtung der Zuschauer, die laut
schreiend auseinanderstieben. Einem Polizisten treibt das den Schweiß auf
74
Tansania
Thorsten Bothe
die Stirn: „Die Schlange ist giftig“, sagt er nervös. Doch es passiert nichts.
Zu überfordern scheint die Tansanier ebenso wie die vielen europäischen
Gäste nur der Auftritt einer Gruppe aus Uganda: Als während der wohl als
Opern-Persiflage gedachten Gesangsshow der Strom ausfällt, ist erleichterter
Applaus zu hören – als die Lichter wieder angehen, eher verzweifelte
Ausrufe.
Europäische Gäste hat das College im Übrigen nicht nur zu Festival-Zeiten.
Immer wieder mal nehmen Gruppen oder Einzelpersonen an Workshops teil.
Die Werbung dafür könnte noch besser laufen, gibt Swafi zu. Das sei einer
der Punkte, in denen man sich in den nächsten Jahren verbessern wolle. „Wir
haben eine Reihe von Problemen“, fährt er fort und blättert in einer Liste:
„Ineffizientes Finanzmanagement... einige Lehrer stehen vor der Rente, aber
es fehlt am Nachwuchs... wir haben nicht genug Erfahrung in der Forschung
– aber wir wollen die Traditionen der verschiedenen Völker Tansanias erforschen... und es fehlt an kompetenten, professionellen Organisatoren für das
Festival.“ Jetzt wird die Großveranstaltung noch mehr oder weniger nebenamtlich von Mitgliedern der Stadtdistriktverwaltung, vom College-Personal
und vom Department of Culture der Regierung in Dar es Salaam vorbereitet.
Ein „Untermieter“ des College of Art ist die Bagamoyo Sculpture School,
die sich ganz dem Schnitzen und Modellieren sowie dem Zeichnen verschrieben hat. Die etwa 15 Studenten pro Jahrgang bekommen während
der dreijährigen Ausbildung aber auch Englisch-Unterricht und lernen,
ihre Produkte zu vermarkten. Seit 1995 existiert die schwedisch-tansanische Kooperation, berichtet Schuldirektor Andrew Mwaselela. Die meisten
bisherigen Absolventen haben sich zu Gruppen zusammengeschlossen oder
versuchen, selbstständig über die Runden zu kommen. „Wir kooperieren
mit früheren Studenten“, erzählt Mwaselela, „zum Beispiel, wenn wir von
Botschaften, dem Bagamoyo Festival oder Messen zu Ausstellungen eingeladen werden, dann stellen immer auch einige unserer Absolventen ihre
Werke aus“. Wenn die Studenten ihre Werke verkaufen können, fließt ein Teil
des Erlöses an die Schule – neben der Unterstützung durch SIDA ist das ihre
Haupteinnahmequelle, sagt der Direktor. Gebühren müssen die Lernenden
nicht zahlen, obwohl ein Essen am Tag und die Gesundheitsversorgung frei
sind. Mit dem College kooperiert die Sculpture School, etwa indem Lehrer
an beiden Institutionen unterrichten.
Mit einem früheren Schüler der Sculpture School komme ich zufällig
an einem der vielen Souvenirstände in Bagamoyo ins Gespräch. Ein kleiner Stand, zusammengezimmert aus ein paar Latten, mit einem löchrigen
Strohdach. Im Angebot: Schnitzereien, Postkarten, Ketten und ähnliches
Kunsthandwerk. Shabani, der sich den Stand mit ein paar Freunden teilt, hat
erst wenige Monate zuvor seine Ausbildung an der Sculpture School abge75
Thorsten Bothe
Tansania
schlossen. Er schwärmt vor allem von einem polnischen Gastdozenten, bei
dem er die realistische Schnitzerei gelernt hat. „Früher war ich Straßenjunge“,
erzählt der 24-Jährige. „Aber jetzt ist alles besser, weil ich manchmal etwas an Touristen verkaufen kann, hier oder am Strand an Hotelgäste.“ An
Ausstellungen der Schule hat er auch schon mitgewirkt, und auch dafür ist
er dankbar: „Alleine habe ich keine Chance, ausstellen zu können.“
21. „Modellort Bagamoyo“ – Visionen einer Hotelbesitzerin
Eine historische Vergangenheit, eine Gegenwart als Kulturzentrum, Strand
– Bagamoyo ist ein Ort, der für Touristen immer interessanter wird. Helen
Pieper ist das nur recht. Die Südafrikanerin hat Anfang der 90er Jahre mit
ihrem deutschen Mann Frank eine der ersten Hotelanlagen im Ort eröffnet.
Seitdem sind vier, fünf hinzugekommen. Natürlich begrüßt Helen auch das
Sklavenrouten-Projekt – nicht ohne die ihrer Ansicht nach viel zu passive Stadtverwaltung zu kritisieren: „Die tun wenig und das ganz langsam.
Außerdem wollen sie Profit machen, übersehen dabei aber die Bedeutung
des Kulturgutes.“ Das führe naturgemäß zu Differenzen mit potenziellen
Gebern, die sich für den Erhalt eben dieses Erbes engagieren wollen. Zudem
müssten die Geschäftsleute verschiedene Abgaben an die Stadt zahlen, die
in die Infrastruktur des Ortes investiert werden sollen – was dann aber nicht
immer der Fall sei. Die Polizei wiederum sehe sich nicht in der Lage, für die
nötige Sicherheit der Gäste im Ort zu sorgen – nach eigenen Angaben fehlt
es ihr an Personal.
Doch auch Helen lässt diese ambivalente Haltung aus Resignation und
Optimismus erkennen. Denn sie sagt ebenfalls ganz deutlich: „Seit wir hier
sind, hat sich schon eine Menge getan.“ Die Stromversorgung klappt viel
besser, es gibt Internetanschluss, die Teerstraße nach Dar es Salaam ist eine
große Erleichterung, da sie früher zum Einkaufen stundenlang auf holperigen
Pisten in die Stadt fahren musste. Und bei der einzigen Bank im Ort konnten Gäste noch vor drei, vier Jahren nicht einmal Reiseschecks in Bargeld
tauschen – was jetzt möglich ist. Ganz allgemein registriert sie eine positive Aufbruchstimmung im Land: „Es weht ein frischer Wind. Es kommen
immer mehr dynamische, professionelle Leute in die Führungspositionen,
die engagiert sind und mit viel Enthusiasmus wirklich etwas für das Land
erreichen und dessen Ruf verbessern wollen.“
Und so träumt sie davon, dass Bagamoyo einmal zu einem „Modellort“
wird, der sich mit einer ganzen Palette an Attraktionen einen festen Platz
auf der internationalen touristischen Landkarte erobert. Mit einer renovierten Stone Town: „Man soll sich vorstellen können, wie es hier zur Zeit
76
Tansania
Thorsten Bothe
der Sklaverei aussah, man soll verstehen können, wie es damals war, die
Geschichte begreifen und auf eine gewisse Art nachempfinden“, beschreibt
Helen plastisch ihre Idee. So bliebe das „Flair der Vergangenheit“ des Ortes
erhalten. Die Vergangenheit wird ihren Vorstellungen zufolge zugleich mit
der Gegenwart verknüpft. Zum Beispiel durch ein Meeresschutzgebiet am
vorgelagerten, allerdings schon teilweise zerstörten Riff, das Möglichkeiten
zum Schnorcheln und Tauchen bietet. Und durch einen Kulturtourismus
mit dem College of Arts als tragende Säule, das zum Beispiel abendliche
Theateraufführungen und Konzerte anbietet, aber auch sein bereits bestehendes Angebot an Workshops und Kursen für zahlende Gäste aus dem
Ausland ausweitet und besser vermarktet. „Das ist meine Vision“, sagt
Helen, und zwar so, dass deutlich wird: Sie meint es ernst. Visionen sollen
ja auch manchmal wahr werden.
22. Ja, es war richtig – Rückblick am Ende der Reise
14. Dezember, Flughafen Dar es Salaam. In einer Stunde geht das Flugzeug
Richtung Heimat. Ob das alles so richtig war – drei Monate Tansania? Ja,
es war richtig. Es war nicht immer alles „schön“ im wörtlichen Sinne. Es
nervte mitunter, fast nie unbeobachtet zu sein und ständig angesprochen
zu werden. Und wenn ich in Gesprächen oder durch eigene Anschauung
mit großer Armut konfrontiert wurde, habe ich mich oft schwer damit getan, die Eindrücke zu verarbeiten und mit der Situation umzugehen. Diese
„Bauchschmerzen“ wurden noch verstärkt durch das Bewusstsein, dass ich
selbst allein schon durch die Tatsache, eine Reise von Deutschland nach
Ostafrika finanzieren zu können, relativen Reichtum zur Schau stellte.
Es war eine Erfahrung für sich zu erleben, dass die Vorbereitung von
Gesprächsterminen nicht oder nur schwer möglich ist, wenn es selbst in
Behörden kaum Telefone gibt. Doch wage ich zu bezweifeln, dass sich deutsche Behördenvertreter auch so spontan die eine oder andere Stunde Zeit
für mich genommen hätten, wie dies bei Besuchen diverser Institutionen in
Tansania der Fall war. Andererseits war es, trotz mehrerer Versuche, nicht
möglich, einen Termin mit einem kompetenten Mitarbeiter des UNESCOBüros in Dar zu bekommen. Schade, aber das gibt’s natürlich auch in
Deutschland.
Genau diese Vielfalt, diese Gegensätze aber haben die Reise ausgemacht
– sie war, von Anfang bis Ende, spannend, erlebnisreich und intensiv. Ich
habe viele Gespräche geführt, die mich nachdenklich machten und die
mich bedrückten, die mir aber unglaublich viel über die Probleme in einem Entwicklungsland vermittelten. Und ich habe mindestens ebenso viele
77
Thorsten Bothe
Tansania
Gespräche geführt – und nicht selten waren es dieselben wie die vorgenannten –, die ob des Optimismus meiner Gegenüber ermutigend waren. Viele
Diskussionen haben Spaß gemacht und stellten einen echten Austausch von
Ansichten und Ideen dar. In solchen Momenten hatte ich das Gefühl, dass so
etwas wie Freundschaft schon in einem kurzen Dialog seine Wurzeln haben
kann. Und deshalb: Kwaheri, Tanzania - auf Wiedersehen, Tansania.
23. Danksagung
Ohne die Heinz-Kühn-Stiftung wäre ich vermutlich nie auf die Idee gekommen, für drei Monate in ein Land wie Tansania zu reisen – und schon
gar nicht auf diese Weise. Deshalb gilt mein Dank der Stiftung, die mir
diese großartige Erfahrung ermöglicht hat. Frau Kilian von der HKS danke ich für die Unterstützung bei der Vorbereitung der Reise und die vielen
Kontaktadressen. Zahlreiche Ansprechpartner hat mir auch Rudolf Blauth
vom Freundeskreis Bagamoyo genannt, der mir zudem durch seinen Hinweis
auf das Sklavenrouten-Projekt überhaupt erst den Weg in „mein“ Thema
gewiesen hat. Dafür danke ich ihm - ebenso wie für die wertvollen praktischen Reisetipps, die er, wie auch sein Freundeskreis-Vorstandskollege
Peter Harke, mir gegeben haben. Doch was wäre ein solches Unternehmen
ohne die Gesprächspartner vor Ort!? Ich danke daher allen in Tansania, die
sich für ein Gespräch Zeit genommen haben. Mindestens ebenso hilfreich
waren diejenigen, die mich in das Land „hineingeleitet“ und mir viel von
der Lebenswirklichkeit vermittelt haben – was besonders für die Kollegen
vom „Guardian“ gilt, von denen ich stellvertretend Ludger Kasumuni und
Pastory Nguvu nennen möchte.
78
Birte Detjen
aus Deutschland
Stipendien-Aufenthalt in
Burjatien
15. Juni bis 15. September 2003
79
Burjatien
Birte Detjen
Burjatien – Streifzug durch eine russische Republik
Von Birte Detjen
Burjatien vom 15.06. – 15.09.2003
81
Burjatien
Birte Detjen
Inhalt
1. Zur Person
86
2. Ankunft
86
3. Warum Burjatien?
87
4. Stadtleben: Ulan-Ude
88
5. Die Mentalität
90
6. Burjaten
90
7. Ewenken
7.1 Der Rentierzüchter
7.2 Alptraum, schön verpackt
7.3 In der Taiga
92
93
94
95
8. Schamanismus
8.1 Die Macht der heiligen Orte
8.2 Schamanen
8.3 Exkurs: Schamanismus auf Olchon
97
98
99
99
9. Buddhismus
9.1 Eine kurze Einführung
9.2 Der Tempel von Ivolginsk
9.3 Buddhistische Zeremonien
100
100
101
103
10. Die Altgläubigen
10.1 Tourismus pur
10.2 Der ganz normale Alltag
103
104
105
11. Nichtregierungsorganisationen
11.1 Firn
106
106
12. Rendezvous mit dem Baikalsee
107
13. Das Workcamp von Daimler Chrysler
109
83
Burjatien
Birte Detjen
14. Jahresurlaub für den Umweltschutz
14.1 Gran
14.2 Junge Ökojournalisten
109
110
111
15. Wasser für das Leben
112
16. Resumée
113
17. Danke
114
85
Birte Detjen
Burjatien
1. Zur Person
Birte Asja Detjen, geboren 1969 in Osnabrück. Studium der DiplomSozialwissenschaften, 1995/96 Aufenthalt in Südamerika, hier unter anderem
Autorin für das ecuadorianische Fernsehen. Anschließend Presse- und Öffentlichkeitsreferentin bei der Fairhandelsorganisation El Puente in Hildesheim
und berufsbegleitendes Studium für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit an der
Medienakademie Leipzig. 1999/2000 Projektmanagerin bei der Expo 2000
GmbH im Bereich Weltweite Projekte International. Seit 2001 freiberufliche
Print-, Hörfunk- und Fernsehjournalistin in Köln, Anfang 2003 Abschluss
eines Fernlehrgangs Fotografie.
2. Ankunft
Irkutsk, Juni 2003. Da sitze ich nun, in der transsibirischen Eisenbahn.
Nach zwei Flug(hafen)tagen trennt mich nur noch ein Katzensprung von
meinem Ziel: der Russischen Republik Burjatien. In der Nacht werde ich
von Irkutsk aus den Baikalsee entlang bis in Burjatiens Hauptstadt UlanUde fahren. Was wird mich dort erwarten?
Ich verstaue mein Gepäck unter der Bank und mustere meine Abteilgenossen: zwei Männer, eine Frau, offensichtlich eine burjatische Familie. Sie
haben asiatische Gesichtszüge, sind klein, untersetzt. Sie wirken zurückhaltend.
Der jüngere der beiden Männer stellt eine 2-Liter-Flasche mit Bier auf den
Tisch und beginnt, mit seinem Vater zu trinken. Als sie merken, dass ich mit
der Schaffnerin Russisch rede, sprechen sie mich an. Wir unterhalten uns
radebrechend – über Schröder und Putin, den Irakkrieg und Hitler. Im Laufe
der ersten zwei Stunden leeren die Männer die Bierflasche. Die Frau schaut
ihnen zu, spricht nicht viel. Als wir müde sind, bereitet sie den Männern
das Nachtlager. Wir wissen: Die Fahrt entlang des Baikalsees werden
wir verschlafen. Erst als uns die Schaffnerin am nächsten Morgen weckt,
ergattere ich einen Blick aus dem Fenster. Was ich sehe, ist wunderschön:
ein Fluss, der sich durch die Landschaft schlängelt, kleine Holzhäuser im
Nebel, im Hintergrund Berge, die Morgendämmerung - geheimnisvoll.
Pünktlich um 6.01 kommen wir in Ulan-Ude an. Ich verabschiede mich
von meinen Reisegefährten und halte Ausschau nach Larissa, meiner
Gastgeberin. Sie arbeitet bei der burjatischen Umweltorganisation Firn. Ihre
Arbeit werde ich in den nächsten Wochen begleiten.
86
Burjatien
Birte Detjen
Larissa ist mit ihrer Kollegin Irina gekommen. Mit dem Auto fahren wir
durchs morgendliche Ulan-Ude. Die Stadt schläft noch, es ist Wochenende.
Die breiten Straßen sind matschig, es hat geregnet und gestürmt.
Das Zentrum der Hauptstadt wirkt gemütlich. Hier stehen viele alte
Holzhäuser, die blau bemalten Fensterrahmen sind mit Schnitzereien verziert, Pappeln säumen die Straßen.
Wir fahren über den Fluss Uda in einen Wohndistrikt. Vorbei mit der
Idylle. Es sind die üblichen russischen Häuserblocks, die hier den Ton angeben: in Karrees angelegte, mehrstöckige graue Gebäude – schäbig, trist.
In ihrer Mitte Sand, ein paar alte Klettergerüste, Sitzbänke. Vermächtnisse
des Sozialismus.
Wir biegen in Larissas Karree ein. Nun ist es gleich soweit: Nach fast
drei Tagen Anreise naht die heiße Dusche. Meine Gastgeberin dreht sich zu
mir um. „Übrigens haben wir momentan kein heißes Wasser, die Stadt hat
wohl Zahlungsprobleme“, sagt sie, und: „Gestern Abend haben sie uns das
Licht abgedreht. Da konnte ich nicht mehr richtig aufräumen“. Bevor ich
mich davon überzeugen kann, dass mein neues Domizil gar nicht so übel
zugerichtet ist, nimmt Larissa ihren täglichen Kampf mit dem klemmenden
Wohnungsschloss auf. Nach wenigen Minuten öffnet sie die Tür. Ich bin
angekommen.
3. Warum Burjatien?
„Burjatien? Noch nie gehört.“ So reagierte fast jeder, dem ich von meinen
Plänen erzählte, drei Monate in Ostsibirien zu verbringen. Doch: Es gibt
jede Menge Gründe, diese „kleine“ russische Republik einmal genauer unter die Lupe zu nehmen.
Burjatiens westliche Landesgrenzen liegen am Baikal – dem ältesten,
tiefsten und wasserreichsten See der Welt. Von vielen Einheimischen wird
die „Perle Sibiriens“ als heiliges Meer verehrt. Andere betrachten den See
samt seiner artenreichen Tier- und Pflanzenwelt schlicht und ergreifend als
Einnahmequelle. Und die UNESCO erklärte ihn 1996 zum Weltnaturerbe.
Eine Million Menschen lebt in Burjatien, auf einer Fläche, die so groß
ist wie Deutschland. 70 Prozent von ihnen sind Russen, etwa 24 Prozent
Burjaten. Auch kleine Volksgruppen wie Ewenken und Tuwiner sind hier zuhause – genau wie Ukrainer, Mongolen, Chinesen und Russlanddeutsche.
Doch: Burjatien ist nicht nur ein Sammelsurium an Völkern. Es ist auch
ein Schmelztiegel der Religionen. Noch immer sind viele Menschen vom
Schamanismus geprägt, einem Glauben, der Bergen, Pflanzen und Flüssen
eine Seele zuspricht. Mit den Russen kamen auch das Christentum – und die
87
Birte Detjen
Burjatien
Altgläubigen, von der orthodoxen Kirche nach Sibirien verbannt. Last but
not least ist Burjatien Russlands buddhistisches Zentrum.
Nach Dagestan und Tschetschenien ist Burjatien die ärmste der 21 russischen Republiken. Seit ihrer Gründung im Jahr 1923 gab es keinerlei
Bestreben nach Unabhängigkeit. Zwar hat Burjatien autonome Entscheidungsbefugnisse, ein Parlament, eine Verfassung und eine eigene Gerichtsbarkeit. Den Gesetzen der Förderation muss sich die Republik allerdings
unterordnen.
Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat sich die wirtschaftliche
Situation in Burjatien zugespitzt. Das Leben vieler Menschen ist bitter und
hart – besonders auf dem Land. Industriebetriebe und Sowchosen liegen
brach, die Menschen sind auf sich allein gestellt. Mit Viehzucht, Fischfang
und eigenem Gemüsegarten halten sie sich über Wasser. Sie bauen illegal
Holz ab oder handeln heimlich mit wertvollen Pelzen. Arbeitslosigkeit,
Perspektivlosigkeit und ein langer, kalter Winter nehmen vielen die Lebensfreude, treiben sie in den Alkohol.
Aber: Burjatien ist auch ein Land voller Hoffnung. Viele kleine Organisationen engagieren sich für eine lebenswerte Zukunft – für wirtschaftliche Entwicklung, burjatische Kultur, Umweltschutz und nachhaltigen
Tourismus.
Einige dieser Organisationen besser kennen zu lernen und ihre Arbeit zu
begleiten: das war mein Ziel. Zunächst allerdings hatte ich alle Hände voll
zu tun, mir die Vielfalt dieses Landes und seiner Menschen zu erschließen.
4. Stadtleben: Ulan-Ude
Lautes Hupen, Musik, Menschenmassen, Verkehrschaos und Hitze – für
den sensiblen Westeuropäer ist diese Melange immer wieder gewöhnungsbedürftig. Im Zentrum von Ulan-Ude macht einem noch dazu der omnipräsente
Sommerschnee das Leben schwer. Die Pappelbäume treiben ihr Unwesen.
Ihre Kätzchen lassen sich im Sommer auf Bussen, Verkaufsständen und
Fenstersimsen nieder. Sie landen auf dem aufgewölbten Asphalt, in den
verschlafenen Seitenstraßen und auf der schönen Hauptgeschäftsstraße, die
wie in vielen russischen Städten noch immer Uliza Lenina heißt. Nicht mal
vor Wladimir Iljitsch selbst machen sie Halt. Der Revolutionsheld ist UlanUdes ganzer Stolz. Besser gesagt: Sein Kopf. Denn der steht als fünf Meter
hoher Granitblock auf dem Sowjetischen Platz – als größter Leninkopf der
Welt.
88
Burjatien
Birte Detjen
Auf den ersten Blick irritiert die Hauptstadt mit ihren 400.000 Einwohnern.
Ist Ulan-Ude asiatisch? Russisch? Europäisch? Ist es eine Großstadt? Eine
Kleinstadt? Ein Dorf? Sie hat wohl von allem etwas.
Asiatisch ist Ulan-Ude, weil die vielen Burjaten und so manch ein Chinese
das Straßenbild prägen; weil das Leben auf den Straßen nur so tobt und die
Menschen allüberall Produkte verkaufen: Lebensmittel, Kleidung, Bücher,
CDs.
Russisch ist die Stadt wegen der orthodoxen Kathedralen, der Pelze
auf dem Markt, der sozialistisch verhangenen, Kauflust erstickenden
Schaufenster. Und natürlich wegen der unüberschaubaren Flut an Kiosken.
Es gibt Kassettenkioske, Kosmetikkioske, Schmuckkioske, Zeitungskioske,
Eiskioske, Brotkioske, Kartenvorverkaufskioske, Schuhreparaturkioske,
Loseverkaufskioske und Allzweckkioske. Diese wiederum finden sich
auch in Europa – genau wie die Kaufmannshäuser aus dem 19. Jahrhundert,
das Yves-Rocher-Geschäft an der Ecke und die Hot-Dog-Bude auf der
Flaniermeile.
Ulan-Ude ist Großstadt – schon allein deshalb, weil die Republik eine
Metropole braucht. Hier gibt es die meisten Fabriken, mehrere Hochschulen,
drei Fernsehstationen, vier Theater, eine Reihe Museen, die Philharmonie,
ein respektables Straßenbahnnetz und den größten Flughafen des Landes.
Hier befinden sich Ministerien, Parlament und Regierung. Hier sind die
zentralen Vereinigungen von Minderheiten zuhause, hier gibt es zwei große Touristenhotels, großzügige Sportstadien, Schulen mit Internetanschluss
und einen Kinokomplex mit Popcorn.
Ulan-Ude ist Kleinstadt, weil das Zentrum trotz Verkehrschaos und
Menschengewirr absolut übersichtlich ist. Weil es eine vertrauenerweckende Beschaulichkeit ausstrahlt. Weil, wer nur wenige Wochen hier ist, täglich
Bekannte trifft. Und weil Jugendliche sich in aller Gemütlichkeit zum
Rendezvous am Springbrunnen treffen können.
Und Ulan-Ude ist Dorf. Weil hier Ruhe einkehrt, sobald man sich in eine
der Seitenstraßen im Zentrum verirrt. Weil es hier immer noch Menschen
gibt, die ihr Wasser aus dem Brunnen holen. Weil viele alte Frauen hier
nicht nur landwirtschaftliche Produkte verkaufen, sondern ihnen auch eine
dörfliche Aura anhaftet: Sie sind klein, gedrungen und gehen leicht gebeugt.
Sie tragen Kopftücher und meist eine Strickjacke über dem geblümten Kleid
– in Russland das typische Erscheinungsbild einer alten Frau vom Land.
Und dann gibt es in Ulan-Ude noch so vieles, das sich nicht in ohnehin
zweifelhafte Schemen pressen lässt. Zum Beispiel das dick aufgetragene
Pathos, mit dem die Stadtväter auf riesigen Plakaten den 80. Jahrestag der
Republik ankündigen. Die Schießstände, an denen Burjaten ihre Geschicklichkeit erproben. Die respektvollen Jugendlichen, die älteren Mitfahrern
89
Birte Detjen
Burjatien
in der Straßenbahn Platz machen. Und die Menschen, die trotz ihrer Armut
nicht betteln.
5. Die Mentalität
Wie sind die Menschen in Burjatien? In den Geschäften, auf den Straßen,
in den Bussen wirken viele zunächst skeptisch, gleichgültig, verhalten, fast
rüde. Doch unter dem Deckmäntelchen der Zurückhaltung verbergen sich
meist große Hilfsbereitschaft und Gastfreundschaft. Oft erscheinen mir
die Menschen melancholisch, in sich gekehrt, nachdenklich. Dann wieder
gehe ich durch die Straßen und bin erstaunt über die heitere, unbeschwerte
Stimmung. Ich versuche zu unterscheiden zwischen russischer und burjatischer Mentalität. Sind Russen schwerblütiger als Burjatien? Eine eindeutige Antwort finde ich nicht.
Mentalitäten, Traditionen, Kulturen, Gesichter: all das hat sich in Burjatien
im Laufe der Jahrhunderte vermischt. Anfangs fällt es mir schwer zu entscheiden, wer Burjate ist, wer Mongole und wer Chinese. Welche Wurzeln
haben die hellhäutigen, hochgewachsenen, extrem schlanken Asiaten?
Woher kommen die kleinen, gedrungenen, etwas dunkleren Menschen? Und
können so unterschiedliche Typen überhaupt eine gemeinsame Herkunft haben?
6. Burjaten
Ich treffe mich mit Elvira im Zentrum von Ulan-Ude nahe der Deutschen
Fakultät, an der sie als Professorin arbeitet. Elvira ist Burjatin. Sie hat ein
Faible für deutsche Literatur und erzählt liebend gern von den Expeditionen
deutscher Forscher in Sibirien.
Heute hat Elvira mich zu einer Fahrt ins Ethnografische Freilichtmuseum
eingeladen. Hier stehen inmitten von Birken- und Kiefernwäldern die
Wohnhäuser von Burjatiens ethnischen und religiösen Gruppen. Elvira
erzählt, dass sie das Museum mitbegründet hat. Sie führt mich zu einem
kleinen Gelände, auf dem zwei Holzhäuser und eine Jurte stehen. Es ist
ihr Elternhaus. Sie hat es in der Nähe von Irkutsk abtragen und auf dem
Museumsgelände wieder aufbauen lassen. Wir gehen ins Wohnhaus. Hier
liegen Teppiche aus Rinderhaut, hier stehen Truhen aus Birkenrinde und
hier hängt die Babywiege, in der Elvira vor über 60 Jahren in den Schlaf
geschaukelt wurde. Ich erfahre, dass Elvira nicht aus der Republik Burjatien
90
Burjatien
Birte Detjen
stammt, sondern Westburjatin ist – Anlass genug, mir einen kleinen Einblick
in die Geschichte ihres Volkes zu geben.
Die Burjaten waren ursprünglich Nomaden und lebten von Viehzucht,
Jagd und Fischfang. Sie siedelten in der Baikalregion, die lange Zeit
zum Mongolischen Reich gehörte. Erst im 17. Jahrhundert ließen sich
auch Russen auf dem wasserreichen Territorium nieder, das ihnen nach
Grenzstreitigkeiten mit China im 18. Jahrhundert zugesprochen wurde. Die
neuen Siedler arbeiteten im Bergbau, als Händler oder Bauern – und sie
beeinflussten den Lebensstil der Burjaten. Besonders auf der Westseite des
Baikals passten die Burjaten sich ihren russischen Mitbürgern an. Sie wurden
sesshaft, vernachlässigten die Viehzucht und widmeten sich Ackerbau und
Holzverarbeitung. Aus Filzjurten wurden Holzjurten, und so manch ein
Westburjate trat zum Christentum über.
Anders die Ostburjaten. Bis zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts behielten
sie ihre traditionelle Lebensweise bei. Dann übernahm Stalin das Regime.
Er verbot das Nomadentum und ließ die Menschen in landwirtschaftlichen
Großbetrieben arbeiten. Nach dem Zerfall der Sowjetunion schlossen viele
Kolchosen. Seitdem sind die Menschen auf sich gestellt. Das ist hart, sagt
Elvira. „Trotzdem: Die Zeiten waren nie so gut wie jetzt. Wir können frei
reden – und das ist das Wichtigste“. Dann erzählt sie, dass die Burjaten sich
heute wieder auf ihre Herkunft, ihre Kultur und ihre Traditionen besinnen.
Zwar sei es richtig, dass der Lebensstil von Russen und Burjaten sich
mittlerweile kaum noch voneinander unterscheide. Dennoch: „Es gibt wieder
Gruppen, die burjatische Tänze tanzen. In unseren Schulen singen Kinder
in burjatischen Kostümen burjatische Lieder, und viele junge Leute lernen
unsere Sprache - wenn auch manchmal nicht ganz so gern“. Sie berichtet
von burjatischen Zeitungen und Radioprogrammen und lässt mich wissen:
„Unsere Traditionen und unsere Sprache sind eng mit dem Mongolischen
verwandt“.
Das ist mein Stichwort. „Woher kommen nun eigentlich die Burjaten?“,
frage ich sie. „Darüber streiten sich die Wissenschaftler. Es gibt keine eindeutige Antwort auf die Frage nach unseren ethnischen Wurzeln. Man weiß nicht
genau, wie wir zum Baikalsee gelangt sind und von welchen Völkern wir
abstammen. Einige Gelehrte meinen, dass wir mit den Mongolen verwandt
sind – dafür sprechen Gemeinsamkeiten in Sprache, Sitten und Bräuchen.
Andere behaupten, wir hätten unsere Wurzeln bei den Turkvölkern, die ähnliche Kopfbedeckungen trugen wie wir. Wahrscheinlich ist beides richtig.
Sicher ist zumindest, dass verschiedene Stämme für unsere Herkunft verantwortlich sind“.
91
Birte Detjen
Burjatien
7. Ewenken
Und da ist noch etwas, dessen man sich gewiss sein kann. Es gibt mindestens zwei Volksgruppen in Burjatien, die felsenfest davon überzeugt
sind, die Ureinwohner der Baikalregion zu sein: Burjaten und Ewenken
– ein tungusisches Volk, das in Sibirien, China und der Mongolei siedelt.
Die Ewenken lebten ursprünglich als Jäger und Rentierzüchter, im Norden
des Baikalsees auch als Fischer. Im 18. Jahrhundert drangen die Russen
in ihren Lebensraum ein – und zwangen die Ewenken, fortan einen Tribut
zu zahlen, wenn sie sich in angestammten Jagdgebieten aufhalten wollten.
Die Folge: Viele Ewenken verarmten und mussten sich als schlechtbezahlte
Jäger ausbeuten lassen.
Im 19. Jahrhundert eskalierte der Run auf Zobel und andere Pelzträger.
Mehrere Tierarten waren in ihrem Bestand bedroht, und viele Ewenken
wurden bitterarm. Sie schufteten in Goldminen, litten unter eingeschleppten
Krankheiten und verfielen dem Alkohol. Russische Wissenschaftler
befürchteten, die Ewenken könnten schon bald aussterben.
Einen Ausweg aus dieser Situation schien der Sozialismus des frühen 20.
Jahrhunderts zu versprechen. Mit Bildungs- und Integrationsprogrammen
unterstützte er Ewenken und andere bedrohte Völker. Doch schon in den 30er
Jahren wendete sich das Blatt: Stalin wollte die Industrialisierung Russlands
forcieren. Er ließ ganze Völker kollektivieren und sesshaft machen. Viele
Ewenken mussten ihre angestammten Gebiete verlassen, Kinder wurden in
Internate gesteckt und entfernten sich von Lebensweise und Know-how ihrer
Eltern. Die Identitätsfindung von Minderheiten hatte sich erübrigt.
Das neue Leben hinterließ viele Ewenken orientierungslos. Mit der von oben
aufgedrückten „Modernisierung“ kamen sie nicht zurecht – im Gegensatz zu
vielen Russen, die sich schneller an die veränderte Situation anpassten. Fazit:
Die Selbstachtung eines ganzen Volkes sank auf den Nullpunkt.
Heute leben in Burjaten etwa 2.000 Ewenken. Sie siedeln vor allem im
Norden des Baikalsees, in der schwer zugänglichen Region Baunt im Osten
des Landes und im weiter westlich gelegenen Distrikt Kurumkan. Russische
und burjatische Sprachen, Bräuche und Arbeitsweisen haben sie übernommen.
Die soziale Situation der Ewenken bleibt auch nach dem Ende der
Sowjetunion schwierig, die Arbeitslosigkeit ist – wie in ganz Burjatien
– hoch. Dennoch: Seit einigen Jahren besinnen viele sich wieder ihrer
Herkunft. In den Städten fördern sie ewenkische Musik, ewenkischen Tanz
und ewenkischen Journalismus. Auf dem Land gehen sie jagen oder investieren in Rentiere – genau wie Juri Iwanowitsch Tschernoew aus dem Dorf
Cholodnaja.
92
Burjatien
Birte Detjen
7.1 Der Rentierzüchter
Ich begegne Juri zum ersten Mal in Ulan-Ude. Er ist mit dem Flugzeug
aus dem Norden der Republik gekommen, um am ewenkischen Fest
Boldjor teilzunehmen. Alle zwei Jahre treffen sich Ewenken aus Burjatien,
Jakutien, China und anderen Regionen. Sie diskutieren über ihr Volk, sitzen
beisammen und feiern, machen Musik, genießen die ewenkische Küche.
Und: Sie präsentieren ihre Kunst. In einer Ausstellung zeigen sie Wandbilder
aus Robbenfell, Schuhe vom Rentier, Puppen aus Zobel.
Pawel, ein ewenkischer Künstler, hat mir den Kontakt zu Juri vermittelt.
Bei der Eröffnungsausstellung lerne ich den Rentierzüchter kennen. Er ist
ein zurückhaltender, etwas bulliger Mann mit einem markanten, besorgt
dreinblickenden Gesicht. Sicher könne ich ihn und seine Familie besuchen
kommen, sagt er. Wenn ich allerdings die Rentiere sehen wolle, müsse ich
Zeit mitbringen. Dazu müssten wir in die Taiga fahren. Und das werde
einige Tage in Anspruch nehmen.
Wenige Tage später sitze ich im Flugzeug nach Nischneangarsk, einer
kleinen Stadt im äußersten Norden des Baikalsees, etwa 400 Kilometer von
Ulan-Ude entfernt. Es ist Mitte September. Als das Flugzeug zur Landung
ansetzt, bin ich überwältigt: strahlender Sonnenschein, tiefblauer Himmel,
Unmengen von Birken in wunderschönsten Herbstfarben – und der Baikal,
umgeben von schneebedeckten Bergmassiven. Das ist sie, die Perle Sibiriens,
der Brunnen des Planeten, das Kleinod des Klaus Bednarz. Endlich. Fast
den ganzen Sommer über hatte sich der Gigant von seiner schlechtesten
Seite gezeigt: grau, verhangen, verregnet, die Sicht aufs gegenüberliegende
Ufer durch Nebel und Rauch verdeckt.
Wie verabredet holt mich Galina ab. Sie ist Vorsitzende des ewenkischen
Komitees in der Region. Die große, burschikose Frau hatte zugesagt, mich
bei der Organisation meines Aufenthalts im Norden der Republik zu
unterstützen. Sie weiß: Mein vordringlichstes Anliegen ist es, zu Juri und
seiner Familie zu kommen.
Wir fahren zu Galinas Büro in der Stadtverwaltung. Hier warte ich fünf
Stunden, bis ich erfahre, dass man mich leider erst am nächsten Morgen ins
15 Kilometer entfernte Cholodnaja bringen kann.
Pünktlich um neun holt mich Galinas Schwiegersohn am nächsten Tag
ab. Wir fahren am Baikal entlang durch dichten Herbstwald. Die Straßen
sind kurvig, mein Fahrer plaudert lustig daher und steuert sein Auto so
halsbrecherisch, dass ich die schöne Stimmung kaum zu genießen wage.
Mit heilen Knochen landen wir 20 Minuten später vor Juris Haustür. Der
Tag ist freundlich, die Sonne strahlt, das Dorf schmiegt sich gemütlich an
einen Berghang, bunte Birken verwöhnen den Blick, aus den Holzhäuschen
93
Birte Detjen
Burjatien
steigt Rauch auf, die Straßen sind ruhig, nur ein paar Menschen, hier und da
ein Hund – Idylle pur.
7.2 Alptraum, schön verpackt
Wenige Menschen haben ab und an das Glück, diese Atmosphäre zu
genießen. Cholodnaja hat nur ein paar Hundert Einwohner. Hier lebt ein
Potpourri aus Ewenken, Russen und Burjaten.
Eigentlich sollte ich gleich nach meiner Ankunft zu den Rentieren in
die Taiga fahren – mit dem deutschstämmigen Michel und seinem geländegängigen Militärfahrzeug. Aber weder Michel noch seine Wunderkarre
sind zu sehen – und niemand weiß, ob sie überhaupt auftauchen. Doch:
Ich habe Glück. Nach schlappen anderthalb Tagen sind die beiden sowohl
eingetrudelt als auch startklar. In der Zwischenzeit bin ich zu einer längst
geahnten Erkenntnis gelangt: Die Idylle von Cholodnaja ist ein Privileg des
ersten Blicks.
Tatjana, eine Bewohnerin des Dorfes, hat mich unter ihre Fittiche
genommen. Gemeinsam machen wir einen Streifzug durch ihre Heimat.
Wir besuchen die Schule und eine ewenkische Babuschka (jede ältere Frau
in jedem russisch-burjatischen Dorf wird von jedem Bewohner Babuschka,
Großmutter, genannt). Nach einem starken Tee ziehen wir weiter. Wir
nähern uns dem Nachbarhaus. Weil die Grundstücke in den Dörfern von
hohen Bretterzäunen umgeben sind, weiß man nie, was einen dahinter
erwartet. In diesem Fall staune ich nicht schlecht: Auf einem Holzboden
im Innenhof liegen unzählige tote Wasserratten mit abgezogenem Fell. Auf
der Treppe zum Haus sitzt ein junger Mann mit einem Holzbrett zwischen
den Beinen. Eines der Tiere hat er auf das Brett gespannt. Er kratzt ihm
das letzte Stückchen Fleisch vom Leibe. Ich frage ihn, was er denn mit
der Haut vorhabe. „Mützen machen“, sagt er wortkarg. Ein Foto gestattet
er nicht. Offensichtlich arbeitet er illegal – wie so viele Menschen in den
vergessenen Dörfern Burjatiens.
Wir ziehen weiter, sammeln Tatjanas angetrunkenen Gatten ein und gehen
zum Fluss in dem kleinen Wäldchen am Dorfrand. Hier sitzen ein paar Männer am Lagerfeuer. Sie haben Wodka besorgt und Fisch aufgespießt – Okun,
eine Spezialität der Region. Es ist gegen Mittag. In den nun folgenden Stunden
sitzen wir am Feuer und unterhalten uns. Wir essen Fisch und mitgebrachte
Kartoffeln, meine Gastgeber rauchen ununterbrochen Zigaretten, trinken
Bier und Wodka. Zwischendurch bitten sie mich, zum Laden zu gehen und
Nachschub zu holen.
94
Burjatien
Birte Detjen
Wir haben es uns inmitten einer sibirischen Traumlandschaft gemütlich
gemacht – ich und lauter fremde Erwachsene, die Zeit haben, den ganzen
Tag am Lagerfeuer zu verbringen. Zu singen. Zu lachen. Zu reden. Mitten in
der Woche. An einem Dienstag – beneidenswert.
Doch: Je mehr Zeit vergeht, desto weniger vergnüglich ist unser Zusammensein.
Der Alkoholpegel meiner Gefährten steigt so stark, dass sie Stunden später
nur noch nach Hause taumeln können. Tatjanas Bruder bleibt auf der Strecke,
er sinkt am Wegesrand zusammen. Die anderen interessiert das nicht.
Im Laufe des nächsten Tages bemerke ich, dass sich fast die Hälfte der
Bewohner Cholodnajas wankend fortbewegt. Dass viele Menschen aufgeschlagene, blutunterlaufene, geschwollene Gesichter haben. Aus der
Ferne beobachte ich ein Handgemenge zwischen mehreren Männern. Ich
begegne einem Ehepaar, das sich auf offener Straße hemmungslos streitet.
Ich treffe eine Frau, die so betrunken ist, dass sie nicht einmal merkt, wie
ihr das Blut von den Wangen läuft. Ich lerne Kinder kennen, die ihren Eltern
weggelaufen sind, weil sie deren Alkoholsucht nicht mehr ertragen können.
7.3 In der Taiga
Zum Beispiel Tatjanas Sohn, der 13-jährige Valerij. Er und seine beiden
älteren Brüder leben und arbeiten seit einigen Jahren bei Juri und seiner
Familie. „Die Tschernoews sind die einzigen, die wirklich was auf die Beine
stellen. Sonst gibt es hier doch keine Arbeit. Das Einzige, was man tun kann,
ist Gemüse anbauen, Fische fangen oder in den Wald gehen und jagen“, sagen die Dorfbewohner.
Und tatsächlich: Den Tschernoews geht es besser als den meisten Menschen
in Cholodnaja. Mit ihren Rentieren haben sie sich einen bescheidenen
Wohlstand geschaffen. Sie können es sich leisten, Leute zu beschäftigen - in
der Taiga und auf dem großen Kartoffelacker im Dorf.
Bis vor wenigen Jahren war Juri selbst schwerer Alkoholiker. Aus eigener
Kraft hat der Mittfünfziger es geschafft, dem Wodka zu entsagen. Der
Handel mit den Rentieren gibt ihm Kraft und neuen Lebensmut. Fell, Fleisch,
Milch, Geweih - für Geschäftsmann Juri ist das Rentier ein wirtschaftliches
Allroundtalent. Auch aus der Schönheit der Landschaft schlägt er Kapital.
Für umgerechnet 300 Euro bringt Juri Touristen in die Taiga. Hier leben sie
in Holzhütten und genießen die Natur.
Auch für mich ist nun endlich die Zeit gekommen, die Taiga kennen zu
lernen. Mit Michel und Juris zweitältestem Sohn Pawel mache ich mich
auf den Weg. Es wird die abenteuerlichste Fahrt meines Lebens. Unsere
95
Birte Detjen
Burjatien
schwere Militärmaschine kämpft sich durch Flüsse, überfährt Sträucher und
riesige Steine und manövriert uns durch eng bewachsene Waldwege.
Nachts um zwei haben wir acht Stunden Fahrt hinter uns – und ganze 110
Kilometer geschafft. Wir halten auf einem freien Feld. Hier grasen Rentiere
bei einer winzigen Wellblechhütte. Zwei Pritschen und ein kleiner Ofen
haben darin Platz. Pawels Bruder und ein junger Mann aus Cholodnaja liegen
auf ihrem Nachtlager. Sie haben es sich beim Schein einer Petroleumlampe
gemütlich gemacht. Nach kurzer Begrüßung fahren wir weiter und halten an
einer nahe gelegenen Anhöhe. Hier stehen zwei weitere Hütten. Die beiden
Männer, die hier leben, freuen sich über den späten Besuch. Auch sie wachen über die knapp 500 Rentiere, die auf dem großen Terrain von Juris
Familie verstreut sind – damit Wilderer keine Chance haben, die Tiere zu
jagen.
Die Männer sind hier oben völlig unabhängig, Lichtjahre entfernt von
jeglicher Zivilisation. Der einzige Kontakt zur Außenwelt: Die geländegängigen Fahrzeuge der Familie, die ab und zu Verpflegung oder Menschen
vorbeibringen.
Auch Pawel wird den Winter hier verbringen. Er ist froh darüber. „In der
Taiga bin ich frei. Ich kann machen, was ich will, bin eins mit der Natur“.
Das Leben in Cholodnaja gefällt ihm nicht. „Zuviel Alkohol, zu viele
Schlägereien“. Die Hütte, in der Pawel den Winter verbringen wird, ist von
Taigawäldern umgeben, von Schnee und Bergen, kleinen Bachläufen, klarem
Wasser und Rentieren. Es ist eine Welt mit besonderem Zauber. Das finden
auch Pawels Eltern und Geschwister. Und deshalb freuen sie sich auf den
Juni. Dann wird die ganze Familie die winterliche Unterkunft in Cholodnaja
verlassen und in der Taiga ihr Sommerlager aufschlagen. Gemeinsam werden sie hier leben – bis es Ende August zu kalt wird und die Ernte im Dorf
auf sie wartet.
Juri hat fünf Kinder. Zu Beginn des Jahres ist sein ältester Sohn bei einem
Asthmaanfall in der Taiga ums Leben gekommen. Er war ledig – genau
wie seine Geschwister, die zwischen 23 und 30 sind. Für Burjatien ist das
ungewöhnlich. Wer hier mit Mitte 20 nicht unter der Haube ist, wird schräg
angesehen – besonders auf dem Land. Doch wo jemanden finden? „Die
Taiga ist einsam, Cholodnaja betrunken, und in die Stadt komme ich nicht“,
meint Pawel lakonisch.
Nach einer kurzen Nacht auf Rentierfellen und einem deftigen Frühstück
fahren wir am nächsten Vormittag zu den Tieren an der Wellblechhütte. Sie
sind zahm und ziemlich faul. Nur die Herren der Schöpfung sind brünstig
und laufen ab und zu erregt schnaufend hinter einem Weibchen her. Auch sie
werden früher oder später irgendwo in Russland verspeist, und ihr Fell wird
einen fröstelnden Menschen wärmen. Wir verweilen ein paar Stündchen bei
96
Burjatien
Birte Detjen
Pawels Bruder und den Tieren. Dann verlassen Michel und ich diese heile,
aber harte Welt. Acht Stunden Fahrt durch die wilde Taiga liegen vor uns
– und ein Dorf, in dem die Hoffnung ein seltener Gast ist.
8. Schamanismus
Vielleicht ist Cholodnaja ein Extremfall. Es heißt, Ewenken würden den
Alkohol aus biologischen Gründen besonders schlecht vertragen. Doch:
Wodka- und Bierkonsum sind auch aus dem Leben vieler Russen und
Burjaten nicht wegzudenken. „Eigentlich haben wir goldene Hände. Wir
sind sehr begabte Künstler, Handwerker, Musiker. Aber der Alkohol zerstört die Menschen“, erzählt mir eine junge Russin, die mir ab und zu beim
Übersetzen hilft.
Auch aus religiösen Zeremonien ist der Alkohol in Burjatien nicht
wegzudenken. Zum Beispiel, wenn die Menschen ihren Göttern Opfer
bringen. Dann gießen sie Wodka ins Feuer oder sprenkeln ein paar Tropfen
in die Luft.
Solche Rituale haben ihren Ursprung im Schamanismus. Bis heute
hängen viele Burjaten diesem Glauben an. Für sie hat jeder Berg, jeder Stein,
jeder Fluss eine Seele. Den Baikalsee verehren sie besonders. Hier gibt es
unendlich viele „Heilige Orte“ – genau wie im Rest der Republik. Meist
liegen sie in der Nähe eines Berges. Denn: Eine Erhebung gilt als besonders
sakral. Hier ist man den Göttern am nächsten.
Oft steht an Heiligen Orten ein sogenannter Obo – eine Gottheit,
symbolisiert durch einen Pfahl oder eine Gestalt aus Holz. Früher banden
die Menschen zum Zeichen ihrer Ehrerbietung Stofffetzen um die Obos.
Sie schrieben Gebete und Wünsche auf den Stoff, der möglichst von einem
Kleidungsstück stammen sollte, das sie am Körper trugen. Heute hat sich
das Ritual verändert. Wenn die Gläubigen Stoff um den Holzgott knoten,
sprechen sie ihre Wünsche in Gedanken. Gibt es keinen Obo, nehmen sie
eine Pflanze – weshalb an heiligen Stellen oft bunte Bäume oder Sträucher
stehen. Wer keinen Stoff hat, hinterlässt einen Rubel, ein Streichholz, eine
Zigarette oder eine Visitenkarte.
Möchte jemand den Göttern besondere Aufmerksamkeit schenken,
genehmigt er sich am heiligen Ort ein Picknick, Wodka inklusive. Bonbonpapiere, leere Flaschen und anderen Abfall lässt er liegen – den Geistern
darf nichts entrissen werden. So stapeln sich an vielen heiligen Stellen
Müllhaufen, die vor allem aus zerbrochenen Glasflaschen bestehen.
Wer keine Zeit zum Wodkatrinken hat (der Hochprozentige hat übrigens
im Laufe der Jahrhunderte die Milch verdrängt – ein wichtiges Getränk
97
Birte Detjen
Burjatien
der Burjaten, das u.a. die Reinheit der Gedanken symbolisiert), sollte im
Vorbeifahren wenigstens ein paar Kopeken aus dem Fenster werfen. So
stimmt er die Geister gnädig – und sorgt dafür, dass er selbst beschützt ist.
8.1 Die Macht der heiligen Orte
Ich bin mit der Organisation Firn und einer deutschen Reisegruppe im
Zabaikalsk- Nationalpark unterwegs. Einer der Betreuer ist Juri Mangutow,
ein Burjate Ende 20. Juri arbeitet in einer Textilfirma in Ulan-Ude. Hier ist
er auch geboren. Seine Eltern kommen aus Ranschurovo. Der kleine Ort in
der Nähe des Baikalsees ist schamanistisch geprägt. Deshalb ist auch Juri
Anhänger des Schamanismus. Denn: Kinder übernehmen ihren Glauben
automatisch von den Eltern. Für Juri ist das keine Formalität. „Für die Reise
in den Park habe ich extra Geld gewechselt. Ich brauche genügend Kopeken.
Schließlich möchte ich nicht, dass mir ein Unglück zustößt“, erzählt er. Schon
zweimal habe er einen Unfall gehabt, weil er heilige Stellen übersehen habe.
„Vor einigen Jahren bin ich mit ein paar Freunden über eine Brücke gefahren,
in deren Nähe ein heiliger Platz war. Kurze Zeit später gab unser Auto den
Geist auf. Wir versuchten, es zu reparieren – erfolglos. Plötzlich kam ein
Mann und erzählte uns, dass in der Nähe eine heilige Stelle ist. Wir gingen
sofort dorthin, ehrten die Götter und hinterließen einige Rubel. Als wir zurück
zum Auto kamen, sprang es nach kurzer Zeit wieder an“.
Gemeinsam mit Juri betreut meine Gastgeberin Larissa die deutsche Gruppe.
Larissa ist Buddhistin und kommt aus Nowosibirsk, wo der Schamanismus
keinerlei Bedeutung hat. Dennoch glaubt auch sie, dass die Baikalregion von
einer ganz besonderen Magie beseelt ist. „Als meine Eltern in Burjatien zu
Besuch waren, haben sie an einer heiligen Stelle einen Zweig abgeschnitten
und mit zu uns nach Hause gebracht. Am gleichen Tag wurde meine Tochter
Isabella krank. Ich rügte meine Mutter und sagte ihr, das könne Unglück
bringen. Als Isabella nicht gesund wurde, entfernte meine Mutter den heiligen
Zweig aus der Wohnung. Schon am gleichen Nachmittag ging es meiner
Tochter wieder besser“, erzählt die 30-jährige. Wenn man wolle, könne man
daran glauben, dass Isabellas Krankheit eine Rache der Geister war. „Auf
jeden Fall können wir mit dem Schamanismus vieles erklären, was rational
nicht zu verstehen ist“. Dieser Ansicht sind viele Menschen in Burjatien, seien
sie Russen, Ewenken oder Burjaten, Buddhisten oder Schamanisten.
98
Burjatien
Birte Detjen
8.2 Schamanen
Wenn schwierige Entscheidungen anstehen, geht Larissas Mann Sorik
schon mal zu einem Schamanen. Dabei ist er weit entfernt von bedingungsloser Verehrung. „Schamanen sind oft schwierige Leute, sie sind entweder
total verstockt oder ziemlich kommerziell. Aber sie können dich beraten und
dir wichtige Impulse für dein Leben geben“, erklärt er mir. Viele Burjaten
haben dieses Bedürfnis nach einer höheren, vermittelnden Instanz. Seit dem
Ende der Sowjetunion bekennen sie sich auch öffentlich wieder dazu – genau
wie die Schamanen selbst. Als Vermittler zwischen Menschen und Geistern
haben sie die Macht, ihren Schützlingen die Zukunft vorauszusagen und
sie von Krankheiten zu heilen. Sie beten um ihr Glück und befreien sie von
bösen Geistern. Sie segnen sie, wenn sie geboren werden oder heiraten – und
wenn sie wollen, bringen sie Unheil und Krankheit über die Menschen.
Ein Schamane „vererbt“ seine Fähigkeiten meist einem Familienmitglied.
Der Auserkorene muss sein Schicksal akzeptieren, will er nicht krank werden
oder den Tod erleiden. Ein kleiner Trost bleibt auch dem Widerwilligen:
Schamanen genießen hohes Ansehen – vor allem auf dem Land.
8.3 Exkurs: Schamanismus auf Olchon
Eine besondere Rolle spielt der Schamanismus auf der Baikalinsel Olchon,
die – entgegen anders lautender Berichte in der deutschen Presse - nicht zur
Republik Burjatien, sondern zum Irkutsker Gebiet gehört. Die Insel hat etwa
1.500 Einwohner, fast die Hälfte sind Burjaten.
Während der Sowjetunion war Olchon Zufluchtsort für Schamanen.
Heute treffen sich hier völlig unbehelligt heilige Männer aus aller Welt.
Sie tauschen sich aus, zelebrieren Rituale und heilen sich gegenseitig.
Normalsterbliche pilgern auf die Insel, um an heiligen Plätzen Tuchfühlung
mit der Götterwelt aufzunehmen. Und Touristen lassen sich bei einer
Stippvisite schamanistische Rituale vorführen – zum Beispiel die Reisegruppe aus Dänemark, die nur ein paar Stunden auf der Insel verweilt. Zu
ihrer Unterhaltung ist Valentin Schagdaew nach Olchon gekommen. Er ist
einer der bekanntesten Schamanen der Region. Vor dem Hintergrund des
heiligen Schamanenfelsen, der malerisch aus dem Baikal ragt, erzählt er
den Touristen von Ritualen und Bräuchen. Er singt ein paar Lieder, lädt
seine Gäste zum Gruppentanz ein, lässt sich mit ihnen ablichten, begleitet
sie zum Mittagessen und erklärt ihnen, dass man vor dem Wodkatrinken
zu Ehren der Götter ein paar Tropfen des köstlichen Wässerchens in die
Luft sprenkelt. Anschließend verabschiedet er sich, quält sich aus seiner
99
Birte Detjen
Burjatien
strahlend blauen Tracht und schleicht sich ungesehen vom Gelände. Die
Touristen sollen nicht merken, dass er ein „ganz normaler Mann“ ist.
9. Buddhismus
Während meiner ersten Wochen in Burjatien verwirren mich viele der
Beobachtungen, die ich in punkto Religion mache. Eine klare Trennung
zwischen Buddhismus und Schamanismus scheint es nicht zu geben. Vor
buddhistischen Monumenten hängen Zweige voller Stofffetzen, Christen
opfern an heiligen Stellen, Schamanisten lassen sich von buddhistischen
Lamas beraten. Ich spreche mit Buddhismusexperten, Künstlern und
Wissenschaftlern über diese Frage. Die plausibelste Erklärung kommt von
Larissas Mann Sorik, einem Vollblutmusiker: „Burjatien ist schamanistische
Erde, hier sind die Geister zuhause, sie leben in Seen und Bergen. Den
Buddhismus gibt es hier erst seit wenigen Jahrhunderten. Da ist es ganz klar,
dass er sich anpassen musste“.
9.1 Eine kurze Einführung
Hilfreich für die friedliche Koexistenz beider Religionen ist sicher, dass
sie in wichtigen Punkten miteinander vereinbar sind. Bestes Beispiel: die
Achtung der Natur, die bei beiden sehr ausgeprägt ist.
Der Buddhismus (auch Lamaismus genannt) kommt im 17. Jahrhundert
von Tibet über die Mongolei nach Burjatien und findet schnell Anhänger.
Viele Menschen beschäftigen sich mit den heiligen Büchern Tibets – und
verehren gleichzeitig ihre alten Götter. Als Religion der Toleranz übernimmt
der Buddhismus schamanistische Bräuche. Viele Lamas beginnen, als
Schamanen zu wirken.
1741 ernennt der Zar ein lamaistisches Oberhaupt – schließlich soll der
russische Buddhismus von Tibet unabhängig sein. Im 19. Jahrhundert gibt
es einen wahren Boom: Fast jeder fünfte Mann auf burjatischem Gebiet ist
Buddhist, und es entstehen mehr und mehr Datzans (Tempel). Viele von
ihnen werden in der Stalinzeit wieder zerstört. Lamas werden verfolgt und
in Zwangslager gesteckt. Dennoch kann sich auch der Buddhismus über
die offiziell religionslose Sowjetzeit hinwegretten. Seit gut zehn Jahren ist
er nun wieder im Aufwind. Überall in Burjatien entstehen buddhistische
Tempelanlagen – zum großen Teil von privaten Geschäftsleuten finanziert.
Menschen besuchen Datzans, um ihren Göttern Opfer zu bringen. Und in
100
Burjatien
Birte Detjen
den Städten treffen sich Gruppen, die unter Anleitung eines Lehrers buddhistische Rituale vollziehen.
Dreh- und Angelpunkt des Buddhismus in Russland ist nach wie vor die
Klosteranlage von Ivolginsk. Hier lebt auch der Hambo-Lama, der ranghöchste Lama der Russischen Föderation.
9.2 Der Tempel von Ivolginsk
Es ist absurd: Obwohl Stalin und seine Schergen die Buddhisten in
Arbeitslagern gefangen hielten, bauten sie ihnen 1949 einen Tempel – in
Gedenken an ihre Heldentaten im Zweiten Weltkrieg.
Der Ivolga-Datzan liegt nur eine halbe Autostunde von Ulan-Ude entfernt.
Mein erster Eindruck: Auf dem großen Gelände mit seinen Tempeln und
Holzhäusern gibt der Tourismus den Ton an. Am Eingang empfangen mich
Andenkenstände mit kitschigen Souvenirs aus China und der Mongolei. Die
Erlaubnis zu fotografieren muss ich mir erkaufen, und auch das Museum ist
für burjatische Verhältnisse recht teuer.
Ich bin mit Dschingis verabredet, einem Lamaanwärter Mitte 20. Er hat
mich eingeladen, bei ihm und seiner Mutter zu wohnen. In roter Lamakutte
kommt er auf mich zu. Er soll eine Gruppe koreanischer Touristen durch die
Anlage führen, und so begleite ich ihn. Im Uhrzeigersinn bewegen wir uns
auf dem großen Gelände – vorbei an Gebetstrommeln, Wohnhäusern und
der buddhistischen Akademie. Dschingis erzählt uns, dass hier über 100
Studenten eingeschrieben sind. Auch er gehört dazu. Die jungen Männer
kommen aus verschiedenen Regionen der Republik. Die meisten von ihnen
wohnen mit ihren Lehrern in Häusern auf dem Klostergelände. Neben vielen
anderen Fächern lernen die Studenten altmongolisch, tibetisch und englisch.
Intensiv widmen sie sich der buddhistischen Lehre Burjatiens, die sich von
tibetischen Grundsätzen kaum unterscheidet. Insgesamt 5 Jahre dauert das
Studium. Erst dann darf ein Student sich Lama nennen. Wir erfahren, dass
viele Tempel in den Provinzen schon auf die Absolventen warten, denn noch
gibt es nicht genügend Lamas in Burjatien.
Auf dem Gelände stehen mehrere Tempel, das älteste aus buntem Holz.
Die neueren Datzans sind aus Stein und wirken ziemlich nüchtern – von
außen. Als wir ins Innere des Haupttempels kommen, bin ich überwältigt:
Diese Farben! Überall hängen bunte Deckenbehänge und Gebetstücher, und
auch die Sitzkissen der Lamas sind absolut farbenfroh.
Auf die Simse der bemalten Säulen haben die Gläubigen Münzen,
Reiskörner und Streichhölzer gelegt. Gläserne Kästen voller Kopeken erwarten neue Spender, und ein großer Tisch bietet Platz für Opfergaben. Von
101
Birte Detjen
Burjatien
der Rückwand des Raumes blicken mir unzählige Buddhas entgegen. In ihrer Mitte stehen eine überdimensionale Buddhastatue und ein Bild des Dalai
Lama, der auch in Burjatien verehrt wird. Einige Gläubige beten andächtig,
die Handflächen aneinandergelegt. Andere verbeugen sich und gehen rückwärts zum Ausgang – ein Zeichen des Respekts vor Buddha, dem man nicht
den Rücken kehren sollte. Bevor wir den Tempel verlassen, sehen wir einen
Mann, der aus einer Teekanne Wasser trinkt und sich die Haare beträufelt
– ein buddhistisches Reinigungsritual.
Die Führung ist vorbei. Gemeinsam mit Dschingis verlasse ich das Gelände.
Über eine knarrende Holzbrücke gehen wir ins nahegelegene Verhnyaya
Ivolga. In dem kleinen Dorf wohnt der künftige Lama mit seiner Mutter und
vier Katzen. Das Häuschen, das wir betreten, ist ärmlich. Es gibt einen zugigen
Bretterverschlag, der als Küche dient. Ein Durchgangszimmerchen für Ofen
und Kühlschrank. Und einen Wohnraum mit abgeschabten Holzdielen. Hier
stehen Dschingis´ Schreibtisch und ein kleiner Altar – und hier schläft der
junge Mann mit seiner Mutter im Ehebett. Fließendes Wasser gibt es nicht,
wie meist in burjatischen Dörfern. Glücklicherweise liegt das Dorf an einem
kleinen Flüsschen, aus dem Dschingis Wasser schöpft. Die vollen Eimer
schleppt er in den Garten. Hier befindet sich eine Art Wasserhahn: Eine
durchgeschnittene Flasche, die mit der Öffnung nach unten an ein Holzbrett
gehängt ist. Dreht man den Verschluss auf, tröpfelt Wasser heraus. „Ich bin
nicht für Luxus zu haben“, sagt Dschingis. „Das einzige, was man braucht,
ist ein Dach über dem Kopf und etwas zu essen“. Immerhin: Ivolga hat
elektrisches Licht. Manch anderes Dorf in Burjatien ist schon seit 10 Jahren
vom Stromnetz abgeschnitten. Mit dem Ende der Sowjetunion gehörte die
staatlich garantierte Stromversorgung der Vergangenheit an.
Zuhause angekommen, wirft Dschingis seine Kutte ab und streift sich
einen Wollpullover über. „Unser Gewand tragen wir nur auf dem Gelände“,
erzählt der 24-jährige. Wir setzen uns in die Küche und trinken Tee. „Ein
burjatischer Lama kann ein ganz normales Leben führen“, sagt Dschingis.
„Er darf eine Familie haben und in seinem eigenen Haus wohnen. Wenn
er möchte, kann er sich fürs Zölibat entscheiden. Unsere Religion ist eben
tolerant“.
Kurz darauf wird auch meine Toleranz auf die Probe gestellt. Dschingis
schlägt mir vor, mich zum Schlafen neben seine kranke Mutter ins Ehebett
zu legen. Ich lehne dankend ab. Nach langem Hin und Her kann ihn davon
überzeugen, dass es für alle besser ist, wenn ich mich ins Durchgangszimmer
auf den Boden lege. Nicht zum ersten Mal stelle ich fest: Privatsphäre ist in
Burjatien ein echtes Privileg.
102
Burjatien
Birte Detjen
9.3 Buddhistische Zeremonien
Am nächsten Morgen wache ich ziemlich gerädert auf. Ich habe mir
vorgenommen, einen buddhistischen „Gottesdienst“ zu besuchen. Um
kurz vor neun mache ich mich auf den Weg. Auf dem Gelände ist es still,
zwischen den Tempeln grasen Kühe, ein Lama dreht Gebetstrommeln, ein
paar Hunde streunen durch die Gegend.
Es sind nur wenige Lamas, die sich auf den bunten Kissen im Haupttempel
dem Lotussitz widmen. Ich lasse mich auf einer Bank nieder und lausche ihren Chorälen, einem vielstimmigen Sprechgesang in Alttibetisch und mongolisch.
Nach und nach treffen die Gläubigen ein. Es sind Männer und Frauen,
junge und alte Menschen. Andächtig lauschen sie den Lamas, die sich
im Takt der Musik wiegen. Eine Familie kommt herein und stellt Kekse,
Bonbons und Getränke ab – Opfergaben, die sie später segnen lässt.
Die Lamas singen etwa anderthalb Stunden – und führen Rituale durch,
die mir völlig unverständlich sind. Sie zünden Papier an, schwenken
Pfauenfedern, streuen Salz, lassen die Gläubigen vor sich auf dem Boden
knien. Zwischendurch stärken sie sich mit Tee und Gebäck.
Als alles vorbei ist, verlasse ich das Gelände – erstaunt über die vielen
Zeremonien und die devote Haltung der Gläubigen. „Die Lamas in Ivolginsk
vollziehen Rituale, die viele nicht verstehen“, kritisiert meine Gastgeberin
Larissa. Sie selbst ist Mitglied einer buddhistischen Gruppe in Ulan-Ude.
„Unsere Rituale sind die gleichen wie in Ivolginsk. Aber wir lernen wenigstens, was sie bedeuten – und das kann Jahre dauern“.
10. Die Altgläubigen
So komplex wie im Buddhismus geht es bei den Altgläubigen nicht zu.
Die selbsternannten „wahren Christen“ spalteten sich im 17. Jahrhundert
von der russisch-orthodoxen Kirche ab. Sie verweigerten sich den Reformen
von Patriarch Nikon, der die Liturgie veränderte und Kirchenbücher
umschreiben ließ. In den folgenden Jahren gründeten die Altgläubigen
eigene Siedlungen. Sie mieden Kontakte zu Andersgläubigen, folgten einem
strengen Moralkodex und verzichteten auf Alkohol, Tabak und Kaffee. Weil
die „Semeiski“ (Semja = Familie) in Russland verfolgt wurden, flüchteten
sie nach Polen. Hier blieben sie etwa 100 Jahre. Als Teile Polens im 18.
Jahrhundert dem Russischen Reich zugesprochen wurden, verbannte man
die Altgläubigen nach Sibirien.
103
Birte Detjen
Burjatien
Heute gibt es noch etwa 200.000 „wahre Christen“. Die meisten leben
in Burjatien und im benachbarten Gebiet Tschita. Die UNESCO nahm die
Altgläubigen als einzige russische Volksgruppe in die Liste der „Masterpieces
of the oral and intangible heritage“ auf – ihrer einzigartigen Gesangskunst
sei Dank.
10.1 Tourismus pur
Ich bin mit einer Reisegruppe der Organisation FIRN unterwegs. Wir
fahren von Ulan-Ude nach Tarbagatai, einem der bekanntesten Dörfer der
Altgläubigen. Mitten in der Walachei halten wir an. Am Fuße eines Berges
begrüßen uns vier Russen. Sie tragen festliche Kostüme und laden uns ein,
die Anhöhe zu erklimmen. Die Mühe lohnt. Unser Blick schweift über
gewaltige Bergmassive und den breiten Fluss Selenga, der sich seinen Weg
durch die Täler bahnt. Eine der Frauen gesellt sich zu uns und erzählt von
den Altgläubigen. Wir erfahren, dass Mitte des 18. Jahrhunderts etwa 450
Familien in das Gebiet von Tarbagatai kamen. Hier leben bis heute vorwiegend
Altgläubige. Doch auch christlich-orthodoxe Russen und Burjaten gesellten
sich zu ihnen. Sie kamen, als das Stalinregime alle altgläubigen Kirchen
zerstörte und führende Priester in den Gulag verbannte. Das war in den 30er
Jahren. Seitdem haben sich Sitten und Bräuche vermischt.
Noch während wir auf der Anhöhe sind, geben uns die Altgläubigen eine
Kostprobe ihrer Gesänge. Die Lieder sind wunderschön – vielschichtig,
rhythmisch verschachtelt und sehr melancholisch.
Nach dem kleinen Konzert steigen wir den Berg hinab und steuern auf
Tarbagatai zu. Hier stehen viele bunt bemalte Häuser – typisches Indiz für
ein altgläubiges Dorf. Vor einem Museum steigen wir aus. Wieder dürfen wir
uns ein Konzert anhören. Dann erzählt Galina uns von den farbenprächtigen
Kostümen, die heute nur noch zu besonderen Festen und für Touristen
getragen werden. Sie schnappt sich eine Frau aus unserer Gruppe und kleidet
sie in eine altgläubige Tracht. Nebenbei klärt sie uns auf: „Die Altgläubigen
sind fleißiger und sauberer als andere Menschen in Burjatien. Sie sind begabte Sänger, ziemlich heiter - ja, und vielleicht ein bisschen arrogant“.
Nach der Show entledigt sich Galina ihrer Tracht und begleitet uns in ein
Privathaus. Hier sollen wir zu Abend essen. Die Besitzerin bedient uns wie
in einem Restaurant, Raum für Gespräche lässt sie nicht. Mit 1.000 Fragen
verlassen wir Tarbagatai. Einen Eindruck vom Leben der Menschen haben
wir nicht bekommen.
104
Burjatien
Birte Detjen
10.2 Der ganz normale Alltag
Was ist nun dran an dem Mythos, dass viele Altgläubige noch immer so
leben wie vor 300 Jahren? Um das herauszufinden, mache ich mich auf den
Weg nach Sagan. Das altgläubige Dorf liegt etwa 100 Kilometer südlich von
Ulan-Ude. Von hier ist es nicht mehr weit bis in die Mongolei.
Sagan war bis vor wenigen Jahrzehnten ein geteiltes Dorf. Im alten Teil
lebten Russen und Burjaten, im neuen Sagan siedelten Altgläubige. Erst
1960 begannen die Menschen, überkonfessionelle Ehen zu schließen. Der
erste Schritt zu einem vereinten Dorf war getan.
Ich komme bei Ludmilla Radinowi und ihrem Mann Nikolai unter. Sie ist
Direktorin der einzigen Schule, er freiberuflicher Tierarzt. Die beiden sind
freundliche, aufgeschlossene Leute, die von morgens bis abends arbeiten.
Von ihren Berufen allein können sie nicht leben, die Löhne sind schlecht.
Und so haben sie sich eine beachtliche Landwirtschaft aufgebaut. Sie
züchten Schweine, Kühe, Gänse und Hühner, haben ein riesiges Kartoffelfeld
und einen Garten mit Gemüse für den täglichen Bedarf. Für die meisten
Dorfbewohner in Burjatien ist ein solches „Doppelleben“ völlig normal.
Zwar kann ich mich auch in Sagan vor offiziellen Veranstaltungen nicht
retten – angeblich bin ich die erste Ausländerin, die jemals hierher gekommen
ist, und so bescheren mir die beiden Dorfchöre ein wunderschönes Konzert.
Dennoch lerne ich ein bisschen mehr über den altgläubigen Alltag als in
Tarbagatai – und stelle fest, dass die Semeiski mittlerweile genauso leben
wie Russen, Burjaten und Ewenken. Sie rauchen, trinken Alkohol, leben
friedlich mit Menschen anderen Glaubens zusammen und besuchen sogar
die gleiche Kirche. Für viele Menschen hat ihre Abstammung kaum mehr
Bedeutung. Sie müssen erst überlegen, was eigentlich typisch altgläubig ist
an ihrem Leben. Dann fällt ihnen ein, dass sie hart arbeiten und eigensinnig
sind.
Dennoch: Es gibt sie noch, die altgläubige Identität, in erster Linie geprägt
durch die gemeinsame Geschichte, das Schicksal als Vertriebene und die
Musik. Besonders seit Anfang der 90er Jahre bekennen sich die Menschen
wieder zu ihrer Herkunft – auch in Sagan.
Ich sitze mit Ludmilla am Küchentisch, über uns ein kleiner Altar
mit Ikonenbildern. Der Alltag lässt ihr und Nicolai wenig Zeit, über ihr
Selbstverständnis als Altgläubige nachzudenken. Trotzdem freut sie sich,
dass ihre Kultur im Aufwind ist. Dass es in ihrer Schule Kinderchöre gibt,
die in altgläubigen Kostümen auftreten. Und dass in Sagan endlich wieder
eine altgläubige Kirche gebaut wird.
Immerhin: Solche Entwicklungen lassen hoffen, dass die Altgläubigen
sich nicht eines Tages nur noch als „Paradiesvögel“ vermarkten.
105
Birte Detjen
Burjatien
11. Nichtregierungsorganisationen
Schon zu Beginn meiner Reise stelle ich fest: Es gibt in Burjatien unzählige Initiativen, die sich für den Erhalt des Baikalsees, für nachhaltiges Wirtschaften, umweltgerechten Tourismus und die Weiterbildung von
Jugendlichen engagieren. Da ist der Amerikaner Bill Müller mit seiner
Organisation Reap International, der jedes Jahr den sogenannten Green
Walk durchführt – eine Wanderung, bei der Teilnehmer aus aller Welt
Menschen und Umwelt in Burjatien näher kommen. Da ist die Nichtregie
rungsorganisation „Together with Baikal“, die ökologische Sommercamps
für Jugendliche organisiert. Da ist Sergej Schebaew mit seiner „Regionalen
Burjatischen Abteilung für den Baikalsee“, die Umweltgesetze mitentwickelt und sich gegen den Bau von Ölpipelines in der Baikalregion stark
macht. Und natürlich sind da FIRN und GRAN, die sich im Ökotourismus,
in der Umweltbildung und im Naturschutz engagieren – und dabei eng mit
deutschen Partnern zusammenarbeiten.
11.1 Firn
Das Büro von Firn liegt in der Nähe des Zentralen Marktes von Ulan-Ude.
In einem ca. 30 Quadratmeter großen Raum stehen auf kleinen Tischen 10
Computer. Die Atmosphäre ist geschäftig, es ist ein ständiges Kommen und
Gehen. Ein paar Frauen diskutieren am Besprechungstisch, mehrere Leute
telefonieren, ein junger Mann begrüßt Gäste, jemand versucht, einen Text
zu schreiben. Zu Stoßzeiten arbeiten im Büro von Firn bis zu 15 Leute.
Es sind gleich zwei Institutionen, die sich hinter Firn verbergen: die Ni
chtregierungsorganisation Club Firn, die sich weltweit für den Erhalt des
Baikalsees engagiert und Umweltprojekte in ganz Burjatien unterstützt.
Und der Reiseveranstalter Firn Travel, der nachhaltigen Tourismus organisiert und damit auch die wirtschaftliche Entwicklung fördern will.
„Wenn du die Welt entdeckst, entdeckst du dein Herz“, heißt es bei Firn.
Das Programm: in Naturschutzgebiete reisen, Heilquellen besuchen, Berge
besteigen, im Eis angeln. Die Philosophie: Einheimische einbeziehen,
Umweltprobleme thematisieren, Kultur und Mentalität vermitteln, die ökonomische Situation erklären.
Dieses Anliegen teilt Firn mit seinem deutschen Partner, dem Reiseveranstalter Baikalexpress. Der Sibirienspezialist aus Vogtsburg hat in einer
Nachhaltigkeitserklärung versprochen, Natur und Kultur im Reiseland zu
schützen. Er hat sich verpflichtet, die wirtschaftliche Entwicklung seiner
Geschäftspartner zu fördern, lokale Projekte zu unterstützen und private
106
Burjatien
Birte Detjen
Unterkünfte zu nutzen. Wer an seinen Reisen teilnimmt, soll nicht Tourist
sein, sondern Gast.
Das „Rendezvous mit dem Baikalsee“ ist eine von mehreren Reisen, die
der Baikalexpress gemeinsam mit Firn organisiert. Von Moskau aus fahren
deutsche Urlauber mit der Transsibirischen Eisenbahn nach Irkutsk. Hier
beginnt ihre Entdeckungsfahrt durch die Baikalregion.
12. Rendezvous mit dem Baikalsee
Ich treffe die Gruppe auf Olchon: Fünf deutsche Urlauber und zwei
Reiseleiter von Firn. Die Stimmung ist locker, freundlich und entspannt. Wir
verbringen einen Tag auf der Insel und fahren am nächsten Morgen mit dem
Schiff zum Zabaikalsk-Nationalpark, einem burjatischen Naturschutzgebiet.
Unser Ziel: das schwimmende Hotel „Garmonia“ (Harmonie). Dichter
Nebel begleitet uns während der 10-stündigen Fahrt auf dem Baikalsee. Erst
als wir am frühen Abend in eine Meerenge einfahren, klart es auf. Unser
Kapitän steuert auf eine einsame Bucht zu. Hier liegt ein Schiff, das zu einem
schwimmenden Hotel umgebaut wurde. Die „Garmonia“ ist fast autark: Ein
eigener Generator erzeugt elektrisches Licht, und das (fließende!) Wasser
kommt aus dem Baikal. Damit nicht zu viel Energie verschwendet wird, gibt
es vor allem abends Strom. Und auch das Wasser fließt nur dann, wenn wir
es brauchen: nach dem Aufstehen und vor dem Schlafengehen. Obendrein
achten Hotelmanager Vladimir und seine Mitarbeiter darauf, dass nicht zu
viel Müll am Strand liegt. Aller Abfall wird später von einem Schiff abgeholt
und in die nächst größere Stadt gefahren. Was dann passiert, weiß niemand
so genau. Die meisten Dörfer und Städte in Burjatien haben am Ortsrand
eine Müllkippe, frei nach dem Motto: Die Zeit wird´s richten.
Zwei Tage verbringen wir auf der Garmonia. Strandspaziergänge, heiße
Quellen und ein deutsch-russischer Abend am Lagerfeuer stehen auf dem
Programm. Dann machen wir uns auf den Weg nach Ust-Bargusin.
Die 10.000-Einwohner-Stadt ist Hauptverwaltungssitz des ZabaikalskNationalpark.
Wir kommen privat unter – bei Nationalparkinspektor Sascha und seiner
Frau Galia. Ihr Haus ist groß und komfortabel eingerichtet. Uns ist schnell
klar: Die Familie profitiert von den vielen Übernachtungsgästen. Doch
obwohl jedes Jahr über 100 Touristen die Füße unter ihren Küchentisch
stecken, belässt die Hausherrin es nicht dabei, uns köstliches Essen
aufzutischen. Sie setzt sich zu uns, erzählt von ihrem Leben, zeigt uns ihre
Stadt. Wir erfahren, dass die Arbeitslosigkeit in Ust-Bargusin sehr hoch ist.
Alle Fabriken sind seit der Wende geschlossen, die zerfallenden Gebäude
107
Birte Detjen
Burjatien
verbreiten Endzeitstimmung. Galia ist froh, dass sie als Lehrerin arbeiten
kann – und dass auch Sascha eine Anstellung hat. “Das Leben im Ort ist
härter geworden“, erzählt die Mittdreißigerin. „Zu Sowjetzeiten gab es in
der Stadt eine zentrale Wasserversorgung. Jetzt muss jeder selbst sehen, wie
er fündig wird. Glücklicherweise haben wir eine Pumpe im Garten.“
Wir haben nicht das Gefühl, für Galia nur „Kunden“ zu sein. Trotz der
vielen Arbeit scheint sie die sommerliche Abwechslung zu genießen. Und
auch die Gruppe freut sich, einen kleinen Einblick in den burjatischen Alltag
zu bekommen.
Am Morgen des nächsten Tages brechen wir auf. Mit einer Wodkazeremonie
verabschieden wir uns vom Baikalsee. Unser nächstes Ziel ist Ulan-Ude.
In der Hauptstadt und ihrer Umgebung ist ein buntes Programm geplant:
Wir besuchen mehrere Museen und ein kleines burjatisches Dorf. Hier
empfängt uns Gelya, eine freundliche Burjatin in traditioneller Tracht. Sie
führt uns auf eine Anhöhe mit steinernem Monument – die heilige Stelle des
Dorfes. Mit einem Glas Wasser in der Hand umrunden wir das Heiligtum.
Die Verbindung zur Götterwelt soll uns Schutz gewähren.
Nach der Zeremonie lädt Gelya uns auf ihr Grundstück ein. Hier steht
ein Holzhaus mitsamt Jurte. Vor der Jurte wartet ein burjatisch gekleideter
Musiker. Nicht nur seine Tracht erinnert an die Nachfahren Dschingis Khans
– auch die Klänge, die er Flöte und Pferdegeige entlockt, muten mongolisch
an. Das kleine Konzert ist Auftakt für unser Abendmahl in der Jurte. Der
Tradition entsprechend lassen wir Frauen uns auf der rechten Seite nieder.
Hier stehen Geschirr und Haushaltsaccessoires. Unser einziger Mann gesellt
sich zu den Jagdutensilien links vom Eingang.
In den nächsten anderthalb Stunden beglückt Gelya uns mit köstlichem
Essen. Wir lernen traditionelle Speisen wie die Sauermilch Arca kennen
– ein Produkt, das Dschingis Khan in Burjatien eingeführt haben soll. Wir
probieren Salamat, eine Mischung aus Butter, saurer Sahne und Mehl. Und
wir versuchen, die beliebten Posy herzustellen. Die Fleischbällchen in Teig
sind noch heute Nationalspeise.
Während wir essen, erzählt Gelya von burjatischen Speisen, Traditionen
und Festen – zum Beispiel vom Monat Februar, der auf das burjatische
Neujahrsfest folgt und als „Weißer Mond“ bezeichnet wird. Während
dieser Tage steht „weißes Essen“ auf dem Speiseplan. Es gibt vorwiegend
Milchprodukte. In vorsowjetischer Zeit waren auch Yaks und Kamele für die
weißen Köstlichkeiten zuständig. Heute züchten die Burjaten meist Kühe.
Nach dem Festmahl erwartet uns ein letztes Highlight. Wir dürfen uns in
einer traditionellen burjatischen Sportart erproben: dem Bogenschießen.
Mit vielen neuen Eindrücken machen wir uns auf den Rückweg nach
Ulan-Ude, jeder von uns in Begleitung eines schalen Beigeschmacks. Zwar
108
Burjatien
Birte Detjen
war Gelya eine liebevolle Gastgeberin, die begeistert von ihrem Volk und
seinen Traditionen erzählt hat. Dennoch haben wir das Gefühl, einen Zoo
zu verlassen – zumal Gelya uns zum Abschied erzählt, dass sie eigentlich
in Ulan-Ude lebt.
Ich spreche später mit mehreren Burjaten über dieses Erlebnis. Alle meinen,
dass solche Begegnungen wichtig sind – damit Touristen die burjatische
Kultur kennen lernen. Doch unsere Gruppe ist sich einig: Angenehmer,
authentischer und aufschlussreicher als ein solcher Folkloreabend ist der
Alltag einer ganz normalen Familie.
13. Das Workcamp von Daimler Chrysler
Nicht das tägliche Leben, sondern der hautnahe Kontakt zur Natur: das
war Ziel eines Experiments der besonderen Art. Im Sommer 2003 organisierte Firn Travel zum ersten Mal ein Sommerworkcamp für junge Daimler
Chrysler-Mitarbeiter. Das Projekt entstand in Zusammenarbeit mit dem
deutschen Global Natur Fund (GNF) und der russischen Vereinigung
Gran. Der Hintergrund: Sowohl Gran als auch Firn vertreten den Baikal im
internationalen Seennetzwerk „Living Lakes“. Träger dieser Vereinigung
ist der GNF. Die Umweltorganisation unterstützt Programme zum Schutz
der Seen und fördert den weltweiten Austausch von Initiativen, die sich
vor Ort engagieren. Daimler Chrysler sponsert die Arbeit des GNF. Und so
konnte der Konzern sich für die Idee erwärmen, seinen Angestellten einen
Arbeitsurlaub anzubieten. Etwa 60 junge Leute beschlossen, sich an einem
von vier Seen für den Umweltschutz ins Zeug zu legen. Zwölf von ihnen
gingen an den Baikal.
14. Jahresurlaub für den Umweltschutz
Ein Morgen Ende Juli in einer verschlafenen kleinen Baikalbucht. Ich
schäle mich aus meinem Schlafsack und wage einen Blick aus dem Zelt.
Keine Menschenseele ist zu sehen. Plötzlich ertönt der Klang eines Gongs,
dazu der Ruf: „Aufstehen, Kinder“. Das ist Axel, der heute Lagerdienst hat.
Nur langsam kriechen ein paar verschlafene Gestalten aus den Zelten – die
Nacht am Feuer war lang. Katzenwäsche am See, ein warmes Frühstück,
und schon geht es los. Mit Äxten und Sägen machen sich die jungen Leute
auf den Weg. Es ist ihr erster Arbeitstag auf der Halbinsel Heilige Nase. Die
Swatoj Nos, so der russische Name, gehört zum Zabaikalsk Nationalpark.
109
Birte Detjen
Burjatien
Hier gibt es über 600 Pflanzen- und fast 300 Tierarten. Ein Großteil der
Fläche besteht aus Taiga.
Ich begleite die Gruppe zu einem Wanderweg in der Nähe des Baikalufers. Eine Strecke von sechs Kilometern sollen sie begehbar machen. Sie
befreien den Pfad von Gestrüpp, räumen Bäume zur Seite, beschneiden
Büsche, sammeln Steine auf, erweitern den Pfad, wo er zu eng ist. Doch:
Die größte Herausforderung liegt ganz woanders. „Für mich ist das
Holzhacken die Hauptaufgabe“, sagt Kai aus Durmersheim. „Nur so können
wir überhaupt kochen und abends lange am Feuer sitzen“. Zurück auf dem
Zeltplatz, geht es denn auch gleich weiter: Holz sammeln, zerhacken und
stapeln, Sitzbänke bauen, Wasser holen, Essen machen. Hier ist echtes
Survivaltraining angesagt – und das bei strömendem Regen. „Das hat mir
überhaupt nicht ins Konzept gepasst. Aber es war eine wichtige Erfahrung,
auch im Regen zu bestehen“, meint der 19-jährige Dominik.
Als er mir das erzählt, sitzt Dominik bereits in einer trockenen Jurte
im kleinen Dorf Istomino. Hier befindet sich ein internationales Umweltbildungszentrum. Nach zwei Wochen Survivalcamp und einer Stippvisite
in Ulan Ude quartiert sich die Gruppe hier ein - gemeinsam mit Larissas
Kolleginnen von Gran, die für diesen Teil der Reise verantwortlich sind.
Gemütliche warme Holzhütten, fließendes Wasser, drei Mahlzeiten am
Tag: Das ist Luxus pur. Aber Müßiggang steht nicht auf der Wunschliste
der jungen Leute. Sie wollen arbeiten, auch wenn es weiter regnet. An
Rastplätzen stellen sie Abfalleimer auf, sie streichen Bänke an und sammeln
Müll ein. In Schulen bauen sie Nistkästen und richten Ökoecken ein. Dabei
entstehen neue Spiele – wie das Umweltmemory, das je eine umweltfreundliche und eine umweltfeindliche Aktion zum Paar macht.
Nach vier Wochen am Baikalsee sind sich die jungen Leute einig: Es
gibt noch jede Menge zu tun. Zwar empfanden die meisten ihre Arbeit als
sinnvoll. Aber viel wichtiger wäre es, die Menschen in Burjatien für den
Naturschutz zu begeistern. Denn hier liegt noch so einiges im argen.
14.1 Gran
Das meinen auch die Mitarbeiter der Organisation Gran. Sie wollen ihre
Landsleute für die Umweltprobleme in Burjatien sensibilisieren. Deshalb
sammeln sie Informationen zu ökologischen Themen. Sie erarbeiten
Material zur Umweltbildung und veranstalten Workshops. Ihr besonderes
Steckenpferd: Die Arbeit mit Jugendlichen. Kein Wunder, denn viele
Mitarbeiter von Gran sind Schul- oder Hochschullehrer. Sie nutzen ihre
Freizeit, um sich für Burjatien zu engagieren.
110
Burjatien
Birte Detjen
„Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion haben viele Menschen die
Orientierung verloren. Wir wollen ihnen einen neuen Sinn geben und sie zum
Handeln motivieren“, sagt Erdem Dagbaew. Der Mittvierziger ist Journalist
und Lehrstuhlleiter für Politologie und Soziologie an der Universität in
Ulan-Ude.
14.2 Junge Ökojournalisten
Einen Teil seines Sommerurlaubs verbringt Erdem mit seiner Frau Nina
und dem fünfjährigen Sohn im ökologischen Umweltbildungszentrum von
Istomino. Nina Dagbaewa ist Direktorin von Gran und Leiterin des Lehrstuhls
für Pädagogik an der Uni in Ulan-Ude. Die beiden sind gekommen, um
einen Workshop für junge Ökojournalisten zu leiten. 15 Jugendliche aus
verschiedenen Provinzen Burjatiens sind mit ihnen hier. Sie wollen eine
Internetzeitung zum Thema Umwelt gestalten. Die Arbeitswoche gehört zu
den vielen sommerlichen Aktivitäten, mit denen Schulkinder ihre langen
Ferien überbrücken. Zu Sowjetzeiten kamen Staat oder Gewerkschaften
für die zusätzlichen Bildungsangebote auf. Heute werden sie von Schulen,
privaten Sponsoren oder gesellschaftlichen Organisationen wie Gran finanziert.
Im großen Konferenzsaal des Umweltzentrums begrüßt Journalist Erdem
jeden seiner Schüler mit Handschlag und überreicht ihm ein Heft samt
Namensschild. Dann führt er die jungen Leute in den Journalismus ein: Was
ist eine Reportage, wie gestaltet man ein Interview, was sind die Merkmale
des Feuilletons? Der Hochschullehrer unterrichtet mit ansteckender
Hingabe.
Wenige Stunden später überlässt er die Jugendlichen ihrem Schicksal. Mit
dem neugewonnenen Wissen sollen sie eine Wandzeitung gestalten. Sie
interviewen Gäste des Bildungszentrums, schreiben Legenden über den
Baikalsee auf, besprechen die Umweltprobleme in Burjatien und malen viele
schöne Bilder. Am nächsten Morgen überprüft Gran-Mitarbeiterin Elena ihre
Ergebnisse auf journalistische Qualität. Welche Zeitung ist zu schriftlastig,
wo fehlen Informationen, welchem Beitrag mangelt es an Spannung? Voller
Begeisterung verrät die Journalistin ihren Schülern die Tricks und Kniffe
der Zeitungsreportage. Kurze Zeit später versuchen die jungen Leute, die
Tipps der Lehrerin in die Praxis umzusetzen. Doch die Jugendlichen sollen
nicht nur schreiben lernen. Sie vertiefen auch ihr ökologisches Wissen. GranMitglied Angelika ist Biologielehrerin. Sie klärt über Umweltprobleme auf
und zeigt den Kindern Bäume, Büsche und Pilze im Wald.
111
Birte Detjen
Burjatien
Zwischen all diesen Aktivitäten erarbeiten die Schüler ein Konzept für
ihren Internetauftritt. Am Mittag des letzten Tages präsentieren sie ihre
Ergebnisse. Ihre Zeitung soll aus vielen verschiedenen Rubriken bestehen. Sie werden über ökologische Probleme in der Baikalregion berichten
und über internationale Erfolge im Umweltschutz. Sie wollen Geschichten
erzählen, Tipps für ein gesundes Leben geben, Naturkosmetik vorstellen
und Gedichte zur Natur schreiben. Und sie möchten Witze erzählen und
Kreuzworträtsel erfinden. Das Symbol ihrer Zeitung: eine Baikalrobbe in
nationaler Tracht.
Die Lehrer sind begeistert vom vielseitigen Konzept - und beglücken
jeden Schüler mit einer Urkunde. Für heute ist die Arbeit getan. Nach den
Ferien werden sich die jungen Redakteure bei Gran treffen und ihr Konzept
mit Leben füllen. Im Februar soll die erste Ausgabe online gehen.
15. Wasser für das Leben
Schüler für die Natur gewinnen und sie zugleich mit dem Internet vertraut
machen: Das ist auch das Anliegen des Projektes „Wasser für das Leben“.
Gran hat es in Kooperation mit der Deutschen Gesellschaft für Technische
Zusammenarbeit ausgetüftelt.
Gemeinsam mit 15 Schülern nimmt auch Angelika Kuschnarewa am
Internetprojekt teil. Sie ist Biologielehrerin am musikalisch-humanistischen
Gymnasium in Ulan Ude. „Wir arbeiten absolut praxisorientiert“, erzählt sie
mir. „Das wirkliche Leben steht an erster Stelle“.
Und so erkundeten ihre Schüler zunächst die eigene Umgebung. Sie
sammelten Legenden rund um ihren Fluss, schrieben sie auf und schickten
sie zu Gran. Die Organisation veröffentlichte ihre Geschichten auf einer
Website.
Anschließend begannen die jungen Leute, ihren Fluss und sein Umfeld
zu beobachten. Sie notieren, wann das Eis schmilzt, wie sich die Pflanzen
verändern und wann der Sommer beginnt. Und damit sie den Wechsel der
Jahreszeiten nicht verpassen, sind die Schüler jeden Tag im Einsatz - ein
ganzes Jahr lang: „Wenn sie von der Schule nach Hause gehen, beobachten
sie die Natur. Sie wissen genau, worauf sie achten müssen und was das bedeutet“, sagt Angelika.
Für Gran ist das Projekt ein echter Erfolg. „Die Schüler gehen mittlerweile
von selbst in den Wald, um die Veränderung der Bäume zu beobachten. Sie
warten nicht mehr darauf, dass Erwachsene die Initiative ergreifen“, freut
sich Nina Dagbaewa.
112
Burjatien
Birte Detjen
Und da ist noch etwas, auf das Gran Wert legt: die internationale Kommunikation. „Wasser für das Leben“ vereinigt Schulen aus Japan, Usbekistan,
Kasachstan, Deutschland und Russland. Für die meisten Schulen in Burjatien
ist globaler Austausch bis heute ein Traum. Das Internet ist in der Republik
eine Rarität. Immerhin 15 Schulen konnte Gran dank des Umweltprojektes
mit einem Modem ausstatten.
Ein echtes Highlight für die Schüler sind die Chats mit Jugendlichen aus
anderen Ländern. Ihre Themen: Waldbrände, Müllprobleme, Hobbys und
Musik.
Die meisten Kinder in Burjatien waren noch nicht im Ausland. Das
Internet bringt ihnen die Welt ein kleines Stück näher. Doch nur bis Mitte
2004 – dann läuft die Finanzierung aus. Und Gran muss sich neue Partner
für neue Projekte suchen.
16. Resumee
Das ist sicherlich ein Hauptproblem vieler Nichtregierungsorganisationen
in Burjatien: Sie sind auf ausländische Sponsoren angewiesen und von zeitlich begrenzten Projektgeldern abhängig. Die burjatische Regierung und
einheimische Geschäftsleute tun sich immer noch schwer, sie finanziell zu
unterstützen. Allerdings gewinnen Nichtregierungsorganisationen peu à peu
an Einfluss im öffentlichen Leben – und werden als Gesprächspartner auch
auf politischer Ebene mehr und mehr akzeptiert. Dass ihre Arbeit in einer
Republik wie Burjatien Gold wert ist, steht außer Frage. Angesichts des harten Lebens auf dem Land, der hohen Arbeitslosigkeit, des erschreckenden
Alkoholmissbrauchs und einer weit verbreiteten Perspektivlosigkeit bedarf
es vieler Initiativen, die sich für ihre Gesellschaft und für eine lebenswerte
Zukunft einsetzen.
Die Nichtregierungsorganisationen in Burjatien zeigen, wie vielen
Menschen Kultur, Umwelt, Bildung und wirtschaftliche Entwicklung am
Herzen liegen.
Natürlich ist ihre Arbeit nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Natürlich
wäre es an der burjatischen Regierung, ökonomische Alternativen für
die Menschen in den Dörfern zu entwickeln. Und natürlich müsste mehr
staatliches Geld in den Umweltschutz und die Ausstattung der Schulen
fließen. Aber: Burjatien ist ein armes Land. Es hängt am Tropf einer weit
entfernten Föderationsregierung, für die Ostsibirien nicht viel mehr ist als
ein Lieferant von Erdöl, Holz und anderen Rohstoffen.
Und: Burjatien ist noch immer im Wandel. Seit dem Ende des Sozialismus
sind die Menschen auf der Suche nach Perspektiven – in Wirtschaft und
113
Birte Detjen
Burjatien
Gesellschaft. Dass sie sich dabei einerseits auf Traditionen zurückbesinnen
und andererseits nach den Werten des Westens streben, macht die Sache
nicht leichter.
Organisationen wie Gran und Firn können dazu beitragen, dem Wandel eine
Richtung zu geben. Zum Beispiel durch Ökotourismus. Das „nachhaltige“
Reisen stärkt die Entwicklung auf dem Land, es unterstützt Familien und
fördert internationalen Austausch – und es bemüht sich, Ressourcen zu
schonen.
Umweltschutz und Umweltbildung in den gesellschaftlichen und
wirtschaftlichen Wandel einbeziehen - auch das ist eine Chance, die Burjatien
nutzen könnte. Allerdings: Wer voll und ganz mit der Bewältigung des
Alltags beschäftigt ist, denkt nicht zuerst an Ökologie. Initiativen wie Firn
und Gran sind deshalb wichtige Motoren. Sie können immer wieder darauf
hinweisen, dass wirtschaftliches Wachstum nicht von den Bedürfnissen
der Umwelt abgekoppelt werden darf. Sie engagieren sich für den Schutz
der Natur. Und sie vermitteln jungen Leuten Umweltbewusstsein und eigenständiges Denken – in der Hoffnung, dass Burjatiens Zukunft voller
Perspektiven ist.
17. Danke
Ich danke der Heinz-Kühn-Stiftung, die mir eine hochinteressante Reise,
viele neue Erkenntnisse und den Kontakt zu wunderbaren Menschen ermöglichte.
Ich danke Frau Kilian, die mich ermutigte, mich für ein ungewöhnliches
Reiseziel zu bewerben, die mein Anliegen innerhalb der Stiftung unterstützte
und die geduldig wartete, bis dieser Bericht endlich auf ihrem Schreibtisch
lag.
Ich danke Larissa und Sorik, die drei Monate lang immer wieder ihre
Wohnung mit mir teilten, die mir freundschaftlich zur Seite standen und
mich mit Rat und Tat unterstützten.
Ich danke ihrer kleinen Tochter Isabella, die immer wieder ihr Zimmer für
mich räumte.
Ich danke Julia, die mir eine treue Dolmetscherin und gute Freundin war.
Ich danke allen Mitarbeitern von Firn, die mir ihr Büro zur Verfügung
stellten und mich bei der Organisation und Durchführung meiner Reise
unterstützten.
Ich danke Elvira, Nina, Lena und Elena von Gran für ihre Hilfsbereitschaft
und ihr Wissen.
114
Burjatien
Birte Detjen
Ich danke Andreas Kiefer, der mir ein Rendezvous mit dem Baikalsee ermöglichte.
Ich danke Pawel und Michel für einen wunderschönen Tag in der Taiga.
Ich danke den Menschen aus Sagan für ihre Herzlichkeit.
Ich danke Nikita und Natascha für eine schöne Zeit auf Olchon.
Ich danke allen Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern für ihre
Geschichten, Erzählungen, Kommentare und Gedanken.
Ich danke meiner Familie, die mich immer wieder bestärkte.
Und ich danke Jochen, der mich drei Monate lang aus der Ferne begleitet
hat.
115
Maricel Drazer
aus Argentinien
Stipendien-Aufenthalt in
Nordrhein-Westfalen
01. Mai bis 30. August 2003
117
Nordrhein-Westfalen
Maricel Drazer
Das Leben kann so schön sein...
Von Maricel Drazer
Nordrhein-Westfalen vom 01.05. bis 30.08.2003
119
Nordrhein-Westfalen
Maricel Drazer
Inhalt
1. Zur Person
124
2. Das Leben kann so schön sein
124
3. Warum habe ich mich beworben?
125
4. Warum Deutschland?
125
5. Wie habe ich von dem Stipendium der
Heinz-Kühn-Stiftung erfahren?
125
6. Die Antwort, Teil I
126
7. Die Antwort, Teil II
126
8. Terminfragen
127
9. Die Ankunft
127
10. Das Goethe-Institut
128
11. Praktikum beim ZDF
128
12. Willkommen!
129
13. Ideale Ergänzung
129
14. SPAM
130
15. Der neue Golf
131
16. Das Deutsche Fernsehen. Eine argentinische Sicht
131
17. Goethe’s Sprache
134
18. Neue Emotionen
136
19. Weltanschauung
136
121
Nordrhein-Westfalen
Maricel Drazer
20. Intensität
137
21. Danksagung
137
123
Maricel Drazer
Nordrhein-Westfalen
1. Zur Person
Maricel Drazer hat an der Universität von Buenos Aires Sozialwissenschaften studiert. Erste journalistische Erfahrungen in Europa sammelte sie während eines dreimonatigen Auslandsstipendiums des Staatlichen Spanischen
Fernsehens. Im Rahmen eines Auslandsstipendiums des Internationalen
Journalistenprogramms (IJP) war sie von Februar bis Mai 2001 an einer
journalistischen Produktion für das ZDF in Berlin tätig. Auf Einladung der
Bundesregierung berichtete sie über die Bundestagswahlen 2002 in Bonn
und Berlin. Das viermonatige Stipendium der Heinz-Kühn-Stiftung von
Mai bis August 2003 ermöglichte ihr, ihre Kenntnisse und Erfahrungen im
Journalismus noch weiter zu vertiefen und einen intensiveren Einblick in den
deutschen Lebensalltag zu bekommen. Seit ihrer Rückkehr nach Argentinien
arbeitet Maricel Drazer als freie Fernsehjournalistin in Buenos Aires.
2. Das Leben kann so schön sein
Mit Ihnen, verehrte Leser, möchte ich hiermit meine Erfahrungen teilen,
die ich erlebt habe im Rahmen eines von der Heinz-Kühn-Stiftung gewährten Stipendiums für junge Journalisten.
Ich möchte Sie warnen: Diese Aufgabe wird nicht leicht für mich. Warum,
wenn ich doch Journalistin bin und mir das Schreiben eigentlich nicht zu
fremd sein dürfte?! Nun ja, ich befürchte, dass die geschriebene Sprache
einfach nicht ausreicht für eine solche Beschreibung... Ich werde es dennoch
versuchen, wobei meine Worte nicht den Anspruch erheben, das schwer
Fassbare zu fassen.
So wie ein Kind, das sein ganzes Leben im Gebirge verbracht hat, zum
ersten Mal das Meer sieht... Was könnte es sagen oder erzählen? Was könnten die Zeugen dieses Moments erzählen? Wörter werden kaum ausreichen,
um die Intensität des Moments auch nur annähernd zu beschreiben. Durch
sie kann man die vielfältigen Emotionen vielleicht erahnen, aber nicht greifen... Ich bin zwar kein Kind mehr und habe auch nicht in den Bergen gelebt, aber der Vergleich trifft es dennoch ganz gut.
Ich muss gestehen, dass ich daran dachte, mit dem Verfassen dieses
Berichts schon lange vor dem Ende des Stipendiums zu beginnen. Dabei
habe ich mich selbst mit einer sehr deutschen Art überrascht. Sollte ich
plötzlich deutsch geworden sein, zumindest in der Weise, mich zu organisieren? Ich versuchte, mit dem Bericht schon weit vor Ablauf der Frist zu
beginnen. Was war los mit mir? Hat die „deutsche Erfahrung“ so intensiv
gewirkt?
124
Nordrhein-Westfalen
Maricel Drazer
Erst vergingen die Tage, dann die Monate, und nun beginne ich tatsächlich mit dem Verfassen dieser Schlussbilanz. Ganz argentinisch, gefährlich
nahe am Abgabetermin...
Ich könnte meine Erzählung beginnen im Monat Mai des Jahres 2003, in
dem ich das Stipendium begann; aber auch einige vorhergehende Ereignisse
verdienen Erwähnung.
3. Warum habe ich mich beworben?
Schon immer hat mich das Reisen in andere Länder interessiert, aber nicht
als Tourist, dazu verurteilt, lediglich einen oberflächlichen Eindruck der besuchten Realität wahrzunehmen, sondern um irgendeiner Tätigkeit nachzugehen, die es mir erlaubte, in den Alltag der Menschen einzutauchen und
ihre Gewohnheiten zu entdecken, ihre Sorgen, ihre Anlässe für Freude und
Traurigkeit, ihre Art zu fühlen und zu handeln.
Auf der anderen Seite war die Möglichkeit eines etwas längeren Auslandsaufenthalts für mich (und wie für fast alle Argentinier) mit dem Erhalt
der nötigen Finanzierung verbunden.
Ein Stipendium sollte also der Weg sein, der meine Träume wahr werden
ließ!
4. Warum Deutschland?
Weil es die Heimat meiner Vorfahren ist und mich daher ein besonderes
Interesse mit diesem Land verbindet. Nähe – gefühlsmässig, subjektiv – und
Ferne – geographisch, objektiv – gleichzeitig. Daher ursprünglich mein
Verhältnis zu Deutschland.
Heute unterhalte ich enge berufliche Beziehungen mit diesem Land. Im
Jahr 2001 hatte ich durch den Erhalt eines Stipendiums die Möglichkeit, ein
Praktikum beim ZDF in Berlin zu machen. 2002 hatte ich auf Einladung des
Bundespresseamts die Gelegenheit, über die Bundestagswahlen zu berichten.
5. Wie habe ich von dem Stipendium der Heinz-Kühn-Stiftung erfahren?
Wie bereits ausgeführt, war es mein Bestreben, nach Deutschland zu
reisen, um einer Tätigkeit als Journalistin nachzugehen. Und dazu war
125
Maricel Drazer
Nordrhein-Westfalen
ein Stipendium die Grundvoraussetzung. Die Schlüsselwörter waren also:
“Journalist, Deutschland, Stipendium“.
Mein moderner Spürsinn gebot mir die Nutzung des Werkzeugs dieser vernetzten Welt: Ich schrieb die Schlüsselwörter in die Internetsuchmaschine
Google und schon erschien das so ersehnte Resultat. In der Tat, es existierte
eine Stiftung, die Stipendien an Nachwuchsjournalisten vergab, um ihnen
eine Berufserfahrung in Deutschland zu ermöglichen. Zu meiner Zufriedenheit las ich Punkt für Punkt die Bewerbungsvoraussetzungen durch und
vergewisserte mich, dass ich sie erfüllte.
Geduldig und hoffnungsfroh machte ich mich nun an den Bewerbungsgprozess: Das Verfassen des Projektes, seine Begründung, das Zusammenstellen
des Lebenslaufs und der entsprechenden Nachweise.
6. Die Antwort, Teil I
Fast drei Monate später erreichte mich der so erwartete Anruf. Aus
Deutschland sprach Frau Kilian. Die offiziellen Ergebnisse waren zwar noch
nicht da, aber es schien so, als ob die Dinge gut laufen würden für mich. Die
Wahrscheinlichkeit, ein Stipendium zu erhalten, waren groß. Klasse!
Die Nachricht erreichte mich nicht an irgendeinem Tag, nein! Der Anruf
kam an meinem Geburtstag und war ein unvergessliches Geschenk. Ich
dachte erst, es handelte sich um einen glücklichen Zufall. Erst später habe
ich erfahren, dass dies von Frau Kilian beabsichtigt war und sie mir damit
sozusagen ihre menschliche Wärme bewies.
Und noch aus einem zweiten Grund kam der Anruf in einem besonderen
Moment: Am Nachmittag zuvor war mir während der Pressekonferenz des
kolumbianischen Sängers Juanes meine Handtasche gestohlen worden, die
alle meine Ausweise, Schlüssel, Geld, Handy und persönliche Gegenstände
enthielt. Der Lohn als freie Journalistin für diesen Bericht würde nicht ausreichen, um die Kosten des Diebstahls zu decken. Daher war meine Laune
am nächsten Morgen nicht gerade die beste... Daher kamen der Anruf und
die guten Nachrichten aus Düsseldorf gerade zum rechten Zeitpunkt.
7. Die Antwort, Teil II
Anfang April erhielt ich die Bestätigung: Ich habe das Stipendium bekommen! Und damit einher gingen die immense Freude und Zufriedenheit
über das Erreichte, sowie die Erkenntnis der Herausforderung, die vor mir
lag.
126
Nordrhein-Westfalen
Maricel Drazer
Es folgte, natürlich, der Papierkram: Ganz besonders die Ausstellung des
Visums, die genauso viele Tage benötigte, wie zur Abreise fehlten. Erst wenige Stunden vor Reiseantritt hielt ich meinen Pass mitsamt dem Visum in
Händen.
8. Terminfragen
Ich muss gestehen, dass mein Reisedatum, das nach einer Verschiebung
fast ein Monat vor dem ursprünglich vorgesehenen Datum lag, eigentlich
nicht mit meinen Plänen und Verpflichtungen übereinstimmte. Schließlich
wurde mir durch die Terminänderung verwehrt, zum Zeitpunkt der zweiten Runde zur Wahl des argentinischen Präsidenten in Buenos Aires meiner
Tätigkeit als Journalistin nachzugehen. Da es unmöglich war, den Beginn
des Stipendiums zu verschieben, reiste ich dennoch – und verfolgte tausende Kilometer entfernt gespannt den Ausgang: Während eines Abendessens
in Düsseldorf mit Frau Kilian und Ex-Stipendiaten der Stiftung erreichte
mich ein Anruf auf meinem Mobiltelefon, und informierte mich über die
Absage der Stichwahl und die daraus folgende automatische Ernennung des
Kandidaten, der in der ersten Runde die meisten Stimmen erhalten hatte:
Néstor Kirchner, der aktuelle Präsident. Wahrscheinlich war ich zu diesem
Zeitpunkt die erste Journalistin in Deutschland, die davon erfuhr.
9. Die Ankunft
Mit großen Erwartungen und relativ kleinem Gepäck kam ich in
Düsseldorf an, einer Stadt, in der ich nie zuvor gewesen war. Ziemlich müde
war ich auch, da ich die letzten zwei Nächte nicht geschlafen hatte. In diesem Zustand und ohne Pause fuhren wir, Frau Kilian und Herr Lindemann,
der Fahrer, direkt zum Goethe-Institut, wo ich den Einstufungstest für den
Deutschkurs absolvieren sollte.
Ich erinnere mich daran, dass ich kaum in der Lage war, ein Wort zu artikulieren, nicht nur auf Deutsch, sondern nicht mal auf Spanisch, meiner
Muttersprache! Das ist keine Übertreibung: Ich weiß noch haargenau, dass
die Lehrerin, da ihr bekannt war, dass ich aus Argentinien kam, den Namen
der „Club del Trueque“ (Tauschclubs, die im Zuge der Wirtschaftskrise entstanden sind) wissen wollte. Nun ja, in diesem Moment konnte ich mich
nicht einmal an den spanischen Ausdruck erinnern. Tatsächlich funktionierte
nur ein kleiner Teil meines Gehirns, und der beschäftigte sich gerade hauptsächlich mit der größtmöglichen Erinnerung an den deutschen Wortschatz.
127
Maricel Drazer
Nordrhein-Westfalen
Letztlich waren die Ergebnisse der Prüfung trotz allem anständig, ich kam
in die Mittelstufe 3.
10. Das Goethe-Institut...
...war einfach ein Traum. Vor mehr als einem Jahrzehnt hatte ich im
Goethe-Institut von Buenos Aires angefangen, Deutsch zu lernen und habe
immer den Wunsch gehabt, einmal einen Kurs in einem Goethe-Institut in
Deutschland zu belegen und bis zu jenem Moment hatte ich ihn mir nicht
erfüllen können. Dabei muss ich auch erwähnen, dass diese Möglichkeit
für mich eine ganz besondere Bedeutung hatte. Vor Jahren blieb mir nach
einem zumindest zweifelhaften und fragwürdigen Auswahlprozess seitens
des Goethe-Instituts in Buenos Aires ein Stipendium für einen Deutschkurs
an einem Goethe-Institut in Deutschland verwehrt.
Nun denn, im Laufe der nächsten zwei Monate besuchte ich von Montag
bis Freitag den Unterricht am Goethe-Institut Düsseldorf, wo ich an den
letzten Mittelstufen-Kursen teilnahm. Das war eine ganz besondere Phase,
in der meine Hauptbeschäftigung, ja eigentlich meine einzige Aufgabe, darin bestand, deutsch zu lernen. Alles weitere hatte die Stiftung schon für
mich erledigt. Angefangen von der Unterkunft bis zur Lösung aller praktischen Fragen meines Aufenthalts. Es war wie eine Rückkehr in meine
Studentenzeit, die ich als sehr nützlich empfand.
Im Institut stand mir alles, was zur Perfektionierung der Sprache nötig
war, zur Verfügung: Bücher, Zeitschriften, Zeitungen, Kassetten, Videos,
Computer und dazu bestens ausgebildete Lehrkörper. Dies alles in einem für
mich sehr idyllischen Ambiente. Ich erinnere mich zum Beispiel an meine
Überraschung, als unsere Lehrerin uns fragte, ob uns nicht der Lärm störe,
der von außen durch die Fenster drang. Stimmt, das Institut liegt direkt am
Düsseldorfer Hauptbahnhof. Doch für mich, gewohnt an die in Buenos Aires
herrschende „auditive Umweltverschmutzung“, war dies eine überraschende Frage. In diesem Moment wurde mir einmal mehr die entschieden höhere
Lebensqualität Düsseldorfs im Vergleich zu meiner Heimatstadt bewusst.
11. Praktikum beim ZDF
Und bald begann das mit Spannung erwartete Praktikum. Mit Sicherheit
die intensivste Zeit während des Aufenthalts. Die Chronologie: Da ich meine
Tätigkeit als Journalistin im Fernsehen ausübe, wurde mir von der Stiftung
vorgeschlagen, ein Praktikum beim ZDF zu machen – ein Angebot, das ich
128
Nordrhein-Westfalen
Maricel Drazer
gerne annahm. Das Zweite Deutsche Fernsehen ist ein öffentlich-rechtlicher
Sender mit nationaler Reichweite und einer der zwei großen öffentlichen
Sender in Deutschland.
Mein Arbeitsplatz war das ZDF-Landesstudio Düsseldorf. Es ist zuständig für die Berichterstattung aus dem nordrhein-westfälischen Raum. Mit
Reportagen, Hintergrundberichten und Analysen zu allen Themen dieser
Region liefert das Studio Beiträge für das ZDF.
In einem anderen Stockwerk des gleichen Gebäudes wird das Magazin
„Volle Kanne“ produziert, das im ganzen Land gesendet wird und dessen
Arbeitsweise ich ebenfalls kennen lernen und erfahren durfte.
Im Verlauf der ersten Wochen war es mir vergönnt, den Alltag der journalistischen Arbeit im Landesstudio aus nächster Nähe zu beobachten und
kennen zu lernen.
12. Willkommen!
Am ersten Tag war ich unterwegs mit einem Studio-Team, bestehend
aus Redakteur, Kameramann und Assistent. Das Thema des Berichts war
das Dosenpfand bei Bierdosen. Daher wandten wir uns an die Brauerei
Brinkhoff in Dortmund, wo ich Zeugin der Abfüllung und des Abtransportes
des Bieres wurde: Typisch deutsch, oder?!
Die Außendrehtermine finden meist in einem freundschaftlichen Ambiente statt. Aber ich erinnere mich auch an eine nicht so freundschaftliche
Situation, die schon vorher stattgefunden hatte: An diesem, meinem ersten Praktikumstag, machten sich zwei Teams auf, um auswärts zu drehen.
Zusammen mit Kerstin Edinger, meiner immer freundlichen „Gastgeberin“
beim ZDF, wandte ich mich an eine der Redakteurinnen, die heute auswärts drehen würden, um sie zu fragen, ob ich zu dem Team dazustoßen
könne. Die Antwort lautete „nein“, ohne größere Erklärungen. Erster Tag,
erstes Nein, ein richtiger Kulturschock. Ich behaupte nicht, dass wir in
Argentinien unbedingt viel freundlicher seien, aber ein „Nein“ wird für gewöhnlich ausgeschmückt mit Erklärungen, es wird mehr „verkleidet“, mit
Entschuldigungen versehen...
13. Ideale Ergänzung
Tage später wurde mir aufgetragen, einen Bericht in Teamarbeit zu erstellen. Ich sollte die journalistische Tätigkeit gemeinsam mit einer deutschen
129
Maricel Drazer
Nordrhein-Westfalen
Journalistin, Nicola Kuhrt, übernehmen, die zu diesem Zeitpunkt ebenfalls
ein Praktikum im Landesstudio absolvierte.
Nicola Kuhrt hatte als Journalistin bis dato hauptsächlich in graphischen
Medien gearbeitet, hatte aber keine größere Erfahrung im Bereich des
Fernsehens.
Meine Erfahrung dagegen im Fernsehen und im Bereich der Nachrichten
waren recht groß, nur musste ich diese Tätigkeit jetzt in einer Fremdsprache
ausüben, in Deutsch.
Die Intention der Produktion war, dass wir uns beide möglichst ergänzen
sollten – und so war es!
Wir sind nach Aachen gefahren, um für die Kulturzeit über den Streit
zwischen den drei Kuratoren der großen «Ex-Oriente»-Ausstellung zu berichten.
Ein Kurator, Professor Wolfgang Dreßen, hatte in der Ausstellung ein
Video installiert, gegen das die beiden anderen waren und es einfach abgeschaltet haben.
Wir haben einen von ihnen interviewt und den leeren Bildschirm gefilmt.
Für mich, und auch für Nicola, wie sie mir später bestätigte, war dies eine
erfreuliche und bereichernde Erfahrung.
14. SPAM
Während mir zusehends immer mehr Verantwortung übertragen wurde
und ich somit die Gelegenheit erhielt, mich im Redaktionsalltag einzubringen, wurde ich bereits kurze Zeit später mit einer neuen Aufgabe betraut: ich
sollte ein Interview machen.
Ich, die aus dem fernen Argentinien kam, für die die deutsche Sprache, so
sehr ich sie auch zu studieren vermochte und mich mit ihr auseinandersetze, eine Fremdsprache war und blieb. Mir trauten sie in Deutschland diese
Aufgabe zu, genauer gesagt, das ZDF traute mir diese zu. Ein öffentlichrechtlicher Sender, einer der größten Sender Deutschlands, bat mich für die
Nachrichtensendung ein Interview zu machen. Das war klasse! Welch eine
Herausforderung! Und welch einen Respekt ich vor dieser Aufgabe hatte!
Ich sollte den Rechtsanwalt Sven Karge vom Verband der Internetwissenschaften in Köln interviewen. Das Thema: Spam mails. Ausgestrahlt werden
sollte das Interview in der Nachrichtensendung „Heute Journal“. Nachdem
schließlich alle notwendigen Formulare ausgefüllt waren, damit nun auch
der offiziellen Realisierung nichts mehr im Weg stand, konnte es los gehen. Und das Interview verlief ohne bedeutende Zwischenfälle. Die einzi130
Nordrhein-Westfalen
Maricel Drazer
ge Person, die in Wirklichkeit aufgeregt war, war mein Interviewpartner.
Wir mußten sogar dreimal die Dreharbeiten unterbrechen, damit er seine
schweißgebadete Stirn abwischen konnte.
Mein erstes Interview auf deutsch für das ZDF war nun eine Tatsache
und ich hatte alle journalistischen Erwartungen, die an mich gestellt wurden, erfüllt. Für mich hatten sich damit auf einmal alle Erwartungen und
Hoffnungen, die ich mit diesem Stipendium verband, mehr als erfüllt.
15. Der neue Golf
VW stellt den neuen Golf vor: die fünfte Generation des Modells. Das
nordrhein-westfälische Landesstudio sollte dazu Professor Dr. Ferdinand
Dudenhöffer – den deutschen „Auto-Papst“ – befragen. Und ich hatte das
große Los gezogen und sollte das Interview machen. Für mich eine Ehre,
aber gleichzeitig auch eine unglaubliche Verantwortung. Ich machte mich
dann so gut ich konnte ans Werk und bereitete das Interview vor:
«Was bedeutet der neue Golf für VW?»
«Wie kann der neue Golf dazu beitragen, VW aus der Krise zu holen?»
«Der Autobauer setzt Hoffnungen auf den neuen Golf: Sind diese
Hoffnungen berechtigt?»
«Kann ein bestimmter Autotyp einen ganzen Konzern wieder nach vorne
bringen?»
«Warum sollten die Leute ausgerechnet den neuen Golf kaufen, wenn
doch in dieser Klasse der Konkurrenzdruck sehr hoch ist?» ... usw....
Ich hatte alle Fragen fast auswendig gelernt.
Das Interview fand in der Fachhochschule Gelsenkirchen statt. Dann mußte das Interview zum ZDF Studio-Hannover überspielt werden. Es war eine
Zulieferung für Rainer Hirsch, den Leiter des Landesstudios Niedersachsen,
für die 19 Uhr Heute-Sendung und für das Wirtschaftsmagazin WISO. Das
Interview wurde gesendet und die Redaktion war mit meiner Arbeit zufrieden. Für mich war das eine tolle Erfahrung.
16. Das Deutsche Fernsehen. Eine argentinische Sicht
Ein analytischer Vergleich: Der erste und größte Unterschied zwischen
Argentinien und Deutschland, den ich bezüglich der Arbeitsbedingungen im
aktuellen Nachrichtenbereich beobachten konnte, war mit Sicherheit der unterschiedliche Standard der Ausrüstung des Arbeitsmaterials. Das bedeutet
131
Maricel Drazer
Nordrhein-Westfalen
sowohl im technischen, als auch im organisatorischen oder im strukturellen
Bereich.
So stellt sich zum Beispiel in Argentinien für einen Journalisten erst einmal die Frage, ob er für den entsprechenden Arbeitstag eine Kamera zur
Verfügung haben wird, um sein Interview oder seine Schnittbilder überhaupt drehen zu können. In Düsseldorf jedoch stellt sich diese Frage erst gar
nicht: denn es ist ganz klar, das Kamerateam wird dann bestellt, wenn der
Redakteur auf Dreh gehen möchte.
Während wir in Buenos Aires mit Mühe und Not in der Redaktion einen mit Computer ausgestatteten Arbeitsplatz versuchen zu ergattern, steht
dieser dem Redakteur in Düsseldorf jederzeit zur Verfügung, wann immer
er ihn benötigt. Während der Journalist in Buenos Aires versuchen wird,
um seine gedrehten Bilder die Nachricht zu stricken, kann der Kollege in
Düsseldorf sich die Bilder zu seiner Nachricht meistens passend aussuchen.
Entweder indem er ins Archiv geht und sich die Bilder dort besorgt oder in
dem er sie eben noch schnell drehen geht. Ebenso wird er sich noch die entsprechende Musik zu seinem Beitrag aus dem Computer aussuchen können,
der natürlich auch selbstverständlich einen Internetanschluß hat.
Auch wenn es aus europäischer Sicht vielleicht lächerlich erscheinen
mag, möchte ich doch noch einmal erwähnen, dass jeder Redakteur seinen
eigenen Arbeitsplatz hat, sprich seinen eigenen Schreibtisch, Bürostuhl und
Telefonanschluß – und der Drucker hat selbstverständlich Papier! Und um
dieses Bild, zum Erstaunen der Argentinier noch zu vervollständigen – oberhalb jeder Tür steht auf einem Schild die Namen und die Funktionen der
jeweiligen Redakteure, die in diesem Büro sitzen. Dies wäre auf argentinischem Boden unvorstellbar; in einem Land, in dem der einzelne Mitarbeiter
nie wirklich weiß, wie lange er in seiner Funktion noch tätig sein wird und
ihm sein Posten sicher ist. Noch nicht einmal sein Arbeitsplatz oder seine
Arbeitszeiten sind gewährleistet, geschweige denn, daß man die Gelegenheit
hätte, die stets im Wechsel arbeitenden Kollegen überhaupt einmal alle kennenzulernen. Daher ist bei uns die Chance auch um so geringer, dass es
einem Mitarbeiter gelingt, seinen Namen auf ein Namensschild drucken zu
lassen.
Doch es gibt noch mehr Unterschiede zu verzeichnen. So ist beim ZDF
die Arbeit gut organisiert, ordnungsgemäß durchgeplant und systematisiert.
Das bedeutet, die Aufgaben und Funktionen jedes Mitarbeiters sind grundsätzlich nach bestimmten hierarchischen Kriterien und nach Kompetenz
aufgeteilt. (Und wer sich über seine Kompetenzen und seine hierarchische
Position nicht sicher sein sollte, der kann alles auf einem Plan nachlesen,
der stets im Produktionsbüro aushängt.) Es ist womöglich überflüssig zu
132
Nordrhein-Westfalen
Maricel Drazer
erwähnen, dass dies in Argentinien nicht die übliche Situation wäre, die man
vorfinden würde.
Anders gesagt: Sicherlich ist in Deutschland alles durchorganisiert und –
geplant, so dass wenig Spielraum für Improvisation bleibt. Die Moderatoren
lesen zum Beispiel alle ihre Moderationen von einem Teleprompter ab (ein
Bildschirm, auf dem die geschriebenen Moderationen erscheinen und ablaufen, so dass der Moderator diese nur noch während der Sendung in der richtigen Geschwindigkeit ablesen muß und all dies natürlich, ohne dass es sich
abgelesen anhört.) In Argentinien pflegen die Moderatoren ohne einen solchen Prompter zu arbeiten. Das heißt, daß wir bereits in unserer Ausbildung
lernen müssen, frei vor der Kamera zu sprechen, jederzeit bereit zu improvisieren. Und es passiert nicht selten, dass der Moderator während einer
Sendung eine andere Nachricht vortragen muß, als im Ablaufplan vorgesehen war. In letzter Sekunde bekommt er die Nachricht ins Studio gereicht,
die aktuellen Ereignisse sind eben nicht immer planbar. So gesehen, auch
wenn der journalistische Alltag oftmals hektisch ist und schnelles Handeln
erfordert, gibt es beim ZDF doch immer wieder die Möglichkeit, dieser
Hektik zu entkommen, indem man oftmals dann doch einfach mehr Zeit hat
für seine Beiträge. Denn es ist in der Tat weder notwendig zu hektisch herum zu rennen, noch zu schreien oder permanent mehrere Dinge gleichzeitig
zu machen. Und außerdem hat man auch durchaus die Zeit zu essen.
Während in Argentinien ein Nachrichten-Journalist drei bis vier verschiedene Beiträge am Tag produziert, so wird der deutsche Kollege nur zwei
bis drei Beiträge pro Woche machen. Somit hat er die Möglichkeit, jedes
einzelne Thema gut zu recherchieren, und dies mit der nötigen Ruhe und
Konzentration.
Was die Unterschiede des journalistischen Alltags in Argentinien und
Deutschland anbelangt, so führt der offizielle Weg in Deutschland oft
zum gewünschten Erfolg. Das heißt, wenn man in Deutschland mit einer
bestimmten Person aus dem öffentlichen Leben, sei dies ein Minister, ein
Abgeordneter, die Polizei, ein Universitäts-Professor oder ein Arzt sprechen
möchte, so findet man sich nicht bei der Suche dieser Person dem endlosen Blättern in Telefonbüchern ausgesetzt oder versackt in irgendwelchen
Vorzimmern. Denn die Nummern, die im Telefonbuch oder im Internet angegeben sind, sind nicht nur stets aktualisiert, sondern führen auch noch zu
der gewünschten Person. In Deutschland bedarf es nicht unbedingt im beruflichen Alltag eines Journalisten der Fähigkeit, stets alternative Methoden
anzuwenden, um sich in einem Vorgespräch ein Bild des Interviewpartners
zu machen, genauso wenig muß man herausragende Eigenschaften mitbringen, um in der Lage zu sein, mit der gewünschten Person Kontakt aufzunehmen.
133
Maricel Drazer
Nordrhein-Westfalen
Gut. Aber um ehrlich zu sein, möchte ich ebenso wenig behaupten, dass
diese von mir gerade beschriebene Situation die Ideale ist, oder ausschließlich Vorteile zur Arbeitsweise in Argentinien birgt. So konnte ich zum
Beispiel beim ZDF feststellen, dass diese Form der Organisation oftmals
mit sehr viel Bürokratie einhergeht, die nicht immer nur produktiv ist. So
würde ich zum Beispiel behaupten, dass die argentinischen Arbeitnehmer
im allgemeinen und womöglich gerade wegen ihrer Arbeitsumstände, besser in der Lage sind, unverhoffte Situationen zu meistern. Sprich, mit einer
größeren Spontaneität und einer gewissen Fähigkeit auch zur Kreativität,
mit der sie die schwierigen Situationen dann erfolgreich meistern.
17. Goethe’s Sprache
Vor einigen Jahren fing ich aus eigener Motivation heraus an Deutsch
zu lernen. Ich hatte das Bedürfnis, die Sprache meiner Vorfahren zu lernen und mich zugleich damit auf ein für lateinamerikanische Verhältnisse
ungewohntes Terrain zu begeben. Deutsch zu lernen ist nicht gerade sehr
verbreitet in Lateinamerika.
Einige Jahre später, 2001, hatte ich dann zum ersten Mal die Chance, das,
was ich gelernt hatte, in Deutschland endlich anzuwenden. Und letztes Jahr,
2003, hatte ich erneut diese Chance – worüber ich mich sehr gefreut hatte.
Doch dieses Mal ging es nicht darum, Deutschland als „Sprachlabor“ zu
verstehen, dieses Mal sollte ich den deutschen Alltag mit Haut und Haaren
kennen lernen. Im Anschluß einige heitere Situationen, die ich erlebt habe.
Ihnen zum Ursprung lag oftmals ein sprachliches Mißverständnis.
„Sauerbier“
Wie jeden Morgen, war auch an diesem Morgen um Punkt 10 Uhr im ZDFLandesstudio in Düsseldorf unsere Redaktionssitzung, in der der Ablauf des
Nachrichtentages besprochen und festgelegt wurde. Dieser Morgen war
einer meiner ersten Tage beim ZDF. Aufmerksam hörte ich den Kollegen
zu, um die Arbeitsabläufe der Redaktion kennenzulernen. Herr Schmuck,
der Leiter des Landesstudios, der die Sitzung meistens leitete, verteilte die
aktuellen Themen des Tages an die einzelnen anwesenden Redakteure. Zu
einem bestimmten Zeitpunkt hieß es dann, dass noch ein bestimmtes Thema
zu vergeben sei, Pamela Seidel erklärte sich bereit, dieses zu übernehmen.
Soweit ich das Thema des Beitrages verstanden hatte, handelte es sich um
eine bestimmte Biersorte, was mich – da ich ja in Deutschland war – nicht
134
Nordrhein-Westfalen
Maricel Drazer
besonders überraschte. Um so weniger, nachdem ich in dieser Woche bereits mit einem Team auf Dreharbeiten in einer Brauerei war, bei dem es um
Dosenpfand ging. Nachdem die Sitzung also vorbei war und in Anbetracht
der Tatsache, dass ich das Thema äußerst spannend fand (typisch Deutsch,
oder?) ging ich zur Redakteurin, um sie zu fragen, ob ich sie auf ihrem Dreh
begleiten dürfe. Zu meinem Erstaunen handelte es sich nicht um eine mir
unbekannte Biersorte, es drehte sich sogar überhaupt nicht um Bier. Es ging
vielmehr um ein ganz anderes Thema, das allerdings bei den Kollegen so
unbeliebt zu sein schien, dass keiner es übernehmen wollte, bis sich schließlich Pamela mutig bereit erklärte das Thema umzusetzen…
„Selbstfahrerstudio“
Bei einer anderen Gelegenheit, in der Hörfunkakademie von Dortmund,
erhielt ich, gemeinsam mit meinen europäischen Kollegen, einige Informationen zum Thema „Selbstfahrerstudio“. Für mich war das ein ganz neues
Konzept, dass ich bis zu diesem Zeitpunkt nicht kannte. So versuchte ich
jedes einzelne Wort genau zu verstehen, Worte die allerdings für mich keinen Sinn ergaben. So dachte ich, dass es sich um ein Studio handelt, das
ich selber fahren müßte, eine Art Fahrzeug, dass der Journalist von außen
irgendwie lenken mußte. Dann fiel mir auf einmal ein, dass ich ja gar keinen
Führerschein habe.... Schließlich war mir klar, was ein „Selbtsfahrerstudio“
in Wirklichkeit bedeutete: es ging nicht um eine Art Fahrzeug, dass man
von außen lenken mußte, sondern vielmehr um ein technisch komplett ausgestattetes Aufnahmestudio, das vom Redakteur selber bedient wird – ohne
die Anwesenheit eines Tontechnikers....
Jetzt, da ich meine Stipendiums-Zeit beendet habe, kann ich sagen, dass
ich „mit der deutschen Sprache klar gekommen bin“. Ich kann sagen, dass
es Tag für Tag und Satz für Satz eine Herausforderung, aber auch immer
wieder ein kleiner Kampf war. Dennoch ist die deutsche Sprache mittlerweile für mich keine Barriere mehr in der Kommunikation. Ich habe, wenn auch
vielleicht oftmals mit Fehlern und durchaus immer wieder mit sprachlichen
Hürden, jede Gelegenheit, die mir der deutsche Alltag bot, voll und ganz
und ohne Einschränkungen genutzt. Und natürlich habe ich das alles auf
deutsch gelebt!
135
Maricel Drazer
Nordrhein-Westfalen
18. Neue Emotionen
Das Stipendium hat mir die Gelegenheit gegeben, eine neue Kultur, neue
Sitten und Bräuche kennenzulernen, und dies erschöpft sich natürlich nicht,
indem man die Abläufe einer Nachrichtenredaktion kennenlernt. Und um
darüber hinaus weitere Erfahrungen mit der deutschen Kultur machen zu
können, habe ich auf den wertvollen Rat von Frau Kilian gehört. So schickte sie mir eines Tages freundlicherweise einen Prospekt zu, indem Orte in
Nordrhein-Westfalen aufgelistet waren, die als sehenswert bezeichnet wurden. Einer dieser Orte war ein „Spa“ - ein Wellness-Center, wo man die
Seele baumeln lassen kann und dabei der Gesundheit noch einen Gefallen
tut. „Leben wie im Süden. Die neue Dimension, für Sauna, Wellness und
Fitness vor den Toren Kölns“ – so der Werbespruch des Ortes. Da die
Deutschen gerne reisen, vor allem in den sonnigen Süden, versprach dieser
Ort den Süden und dies mitten im Herzen Deutschlands. Es hörte sich interessant an und versprach viel, also nichts wie hin. Wir fuhren also gemeinsam dorthin.
Und es sollte wieder eine Erfahrung voller Überraschungen sein. Es drehte sich hier nämlich um einen FKK-Ort, wo man der sogenannten Freien
Körper Kultur nachgeht. „FKK – wie Gott sie erschuf. FKK ist für viele Aktive die Verbundenheit mit der Natur ohne Kleiderzwang.“ Auf dem
Schild stand so viel wie, dass es wünschenswert sei, dass sich die Besucher
in diesem Teil des Wellness-Centers bitte ohne Kleider aufzuhalten haben.
Hier ging es also keineswegs um einen Euphemismus. Für mich, aus einer
lateinamerikanischen Kultur kommend, die in vielen Punkten konservativer
ist, war dies eine ganz neue Erfahrung und eine Herausforderung. Ich erinnere mich noch heute daran, welch eine wirklich neue Erfahrung das für
mich war. Und dies, obwohl ich bedingt durch meinen Beruf im Laufe der
Jahre doch schon einiges gesehen hatte und viel gereist war. So wurde ich
immer mit außergewöhnlichen Situationen konfrontiert und habe mit außergewöhnlichen und zum Teil eigenartigen Menschen Interviews geführt.
Aber eine solche Erfahrung, wie in diesem Wellness-Center hatte ich bis
dato noch nie erlebt.
19. Weltanschauung
Eines habe ich während meines Aufenthaltes in Deutschland vermißt, und
ich denke jetzt nicht an das argentinische Fleisch! Mir fehlte vielmehr die argentinische Sicht der Dinge manchmal – die argentinische Weltanschauung
sozusagen. Ich habe Gesprächspartner vermißt, die dieselbe Weltanschauung
136
Nordrhein-Westfalen
Maricel Drazer
wie ich haben, mit denen ich gemeinsam Deutschland kennen- und verstehen
lernen konnte. In Argentinien blicken wir von einem anderen Blickwinkel
auf die Dinge, und dies nicht nur aus geographischen Gründen. Wir haben
andere Bedürfnisse und Prioritäten.
So zum Beispiel, wenn es um das Thema Arbeitslosigkeit oder Armut
geht. Es erfordert sehr viel, um diese in beiden Ländern vergleichen zu
können. Denn wie kann man zum Beispiel die Zahlen der Arbeitslosen in
Deutschland mit denen in Argentinien vergleichen, wenn ein Arbeitsloser
in Deutschland Arbeitslosenhilfe erhält, während ein Argentinier praktisch
dazu verurteilt ist, zu hungern? Wie kann man den deutschen Arbeitslosen
mit einem argentinischen Arbeitslosen vergleichen, wenn man in Argentinien
zwar durchaus einen Job haben kann und dennoch arm ist und noch nicht
einmal für das Nötigste zum überleben aufkommen kann?
20. Intensität
Aus allen diesen Gründen und trotz aller dieser Gründe, war meine Zeit
in Deutschland eine sehr wertvolle Zeit. Ich habe mich in das deutsche
Leben integriert, habe herzliche Menschen kennengelernt, konnte mit alten
Freunden wieder gemeinsam neue Momente erleben, ich habe beobachtet
und alles, was ich konnte, aufgenommen, ich habe gelernt, an Vorträgen teilgenommen, Bier getrunken. Ich habe gearbeitet und war im Kino. Ich habe
aktiv für ein deutsches Fernsehprogramm gearbeitet. Ich habe diskutiert und
vor Emotionen geweint. Und all dies habe ich versucht in diesem Bericht
zum Ausdruck zu bringen.
Wer diese Zeilen lesen wird, auch wenn dies erst Monate oder Jahre später sein wird, und wer noch mehr erfahren möchte, oder mit mir persönlich
sprechen möchte, kann mir schreiben (e-mail: mariceldrazer@yahoo.com)
oder mich anrufen (00 54 11 48 06 68 20). Und wenn Sie eines Tages in
Buenos Aires sein sollten, sind Sie herzlich eingeladen, einige „Mates“ zu
trinken.
21. Danksagung
Ute Maria Kilian (sie ist mittlerweile eine gute Freundin geworden) – Für
ihre wertvolle und große Unterstützung, für ihre Zuneigung und menschliche Wärme.
137
Maricel Drazer
Nordrhein-Westfalen
– Stipendiaten der Heinz Kühn Stiftung: Hyacinthe aus Benin, Phuong und
Huong aus Vietnam, Angelica und Alexandre aus Brasilien – Für den gemeinsam gegangenen Weg.
ZDF-Martin Schmuck, Leiter des Landesstudios Nordrhein-Westfalen
– Für seine stets freundliche und herzliche Art. Er hat immer versucht,
mir das Gefühl zu vermitteln „zuhause“ zu sein. Und wann immer sich die
Gelegenheit bot, hat er sich mit mir auf Spanisch unterhalten.
– Kerstin Edinger – Sie war stets da, wenn ich sie brauchte.
– Pamela Seidel, Heiko Rahms, Andrea Budke – Für ihre Großzügigkeit
und ihren Respekt.
– Sabine Witt – Für ihr Vertrauen und Freundlichkeit
– Birgit Steimann – Für ihre Zusammenarbeit
– Bianca Berens, Claudia Kynast, Nicola Kuhrt – Für ihre Unterstützung
„Volle Kanne“-Birgit Franke, Arlette Geburtig, Ebba Petzsche,
Alexander Block – Sie haben mich stets in die Arbeit integriert.
– Nina Betzler – Für die gemeinsam verbrachte Zeit.
– Susanne Birnmeyer (ZDF-Studio Hannover) – Für ihre Unterstützung
– Margarete Schleicher – Für ihre liebenswerte Aufrichtigkeit
– Heinz und Marianne Kilian – Für ihre Gastfreundschaft und Freude
– Michael Flucht – Für seinen Respekt mir gegenüber und den, dem ich
ihm entgegenbrachte.
– Andreas Schmidt – Für seine Zusammenarbeit
– Kathrin Schroeter – Für ihre Unterstützung
– Esther Marie Merz – Für ihre Freundschaft
– Joern Fischer – Weil er immer da war.
138
Angelica Aires de Freitas
aus Brasilien
Stipendien-Aufenthalt in
Nordrhein-Westfalen
01. September bis 30. Dezember 2003
139
Nordrhein-Westfalen
Angelica Aires de Freitas
Eindrücke aus dem Ruhrgebiet
Von Angelica Aires de Freitas
Nordrhein-Westfalen vom 01.09. – 30.12.2003
141
Nordrhein-Westfalen
Angelica Aires de Freitas
Inhalt
1. Zur Person
144
2. Wichtige Wörter
144
3. Der kurze Weg hinauf
145
4. Wie die Oberfläche des Mondes
147
5. Halden, ein Überblick
148
6. Einige Zahlen
150
7. Freiwillig wächst nichts
150
8. Links
151
9. Danksagung
151
143
Angelica Aires de Freitas
Nordrhein-Westfalen
1. Zur Person
Angélica Aires de Freitas, geboren am 08.04.1973 in Pelotas, Rio Grande
do Sul, hat Journalistik in Porto Alegre studiert (1995-2000). Im Januar
2001 begann sie als Reporterin bei „O Estado de S.Paulo“ zu arbeiten, eine
der größten Zeitungen Brasiliens. Nach Erfahrungen als Politikredakteurin
schreibt sie jetzt Nachrichten und Reportagen für die Lokalteile „Cidades“
und „Geral“.
2. Wichtige Wörter
Bergbau, Zeche und „Glück auf“: Die ersten Wörter und Ausdrücke, die
ich in Bochum, bei meinem Praktikum bei der Westdeutschen Allgemeinen
Zeitung (WAZ) lernte. Alle Wörter haben mit Kohleabbau zu tun. Bergbau
bedeutet die Förderung der Bodenschätze wie Kohle; eine Zeche ist der Ort,
wo die Kohle gefördert wird; und „Glück auf“ ist, was die Bergleute sagen,
bevor sie runter in die Zeche fahren: Das bedeutet nämlich „Viel Glück auf
der Zeche“ oder „Viel Glück bei der Arbeit“. Ungefähr 6 Millionen Leute
wohnen im Ruhrgebiet, und ihre Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist
von Industrie geprägt.
Es ist nicht möglich, Zeit im Ruhrgebiet zu verbringen, ohne an Kohle
oder Stahl zu denken. Konkret: In der Nähe meiner Wohnung gibt es eine
„Gußstahlstraße“. Und eine der Hauptsehenswürdigkeiten der Stadt ist das
Bergbau-Museum, wo man einige Exponate aus der Bergbau-Geschichte
besichtigen kann. Von seinem Förderturm kann man das „Revier“ (ein anderes Wort für Ruhrgebiet) beobachten. Um alles, was das Museum bietet,
zu sehen, braucht man zumindest einen ganzen Tag. Die andere berühmte
Bochumer Sehenswürdigkeit ist „Starlight Express“, das am längsten laufende Musical der Welt: In 10 Jahren kamen über 10 Millionen Zuschauer.
Die Geschichte der Züge ist das Thema, dargestellt von Schauspielern auf
Rollschuhen. Das hat auch mit Industrie zu tun, natürlich.
Man kommt nicht am Bergbau vorbei, aber seit den 70er Jahren ist
die Kohle nicht mehr der wichtigste Arbeitgeber im Revier. Man spricht
vom „Strukturwandel“, ein anderes Wort, welches ich viel gehört habe.
Bergbau-Jobs gibt es kaum mehr; jetzt stehen beispielsweise Berufe im
Dienstleistungssektor und High-Tech im Mittelpunkt. Und man hört ebenfalls oft über Spitzentechnologie-Projekte, entwickelt von den Universitäten
in Essen und in Bochum.
Fast am Ende meines Aufenthalts in Bochum habe ich das Wort „Halde“
gelernt. Und als ich einige dieser großen Berge sah – es sind fast 90 - dann
144
Nordrhein-Westfalen
Angelica Aires de Freitas
wusste ich, dass diese ein guter Ausdruck für die Änderungen im Ruhrgebiet
waren – wo der Bergbau nicht nur die ökonomische Struktur bestimmte,
sondern auch die Landschaft.
3. Der kurze Weg hinauf
Es war Nikolaus-Nachmittag in Bottrop, sonnig, aber kalt. Nach 50
Kilometern auf seinem Mountainbike machte der Sozialarbeiter Frank
Domeyer eine kleine Pause. Er hatte es sich verdient: Das war eine mindestens 90 Meter hohe Fahrt bis zu dieser Bank. Domeyer saß und erholte
sich. Er konnte die Dächer von Oberhausen, Duisburg und Essen sehen.
Die ganze Industriekulisse. Einmal in der Woche kommt der 41-Jährige von
Dinslaken, und genießt diesen herrlichen Blick vom Ruhrgebiet. An diesem Nikolaustag wurde seine Ruhe von einer vor Kälte zitternden HeinzKühn-Stipendiatin unterbrochen. Sie wollte wissen, was er über die Halde
Prosper-Haniel denkt.
Die Heinz-Kühn-Stipendiatin war ich. Ich fror und hatte schmutzige,
schwarze Hände – musste an Wurzeln und Bäumchen greifen, um hoch zu
klettern, manchmal in wahrscheinlich 70 Grad Steigung. Die Halde war der
Ort, wo wir derzeit waren: Ein Berg, entstanden aus den nicht genutzten
Kohleabbau-Materialien von den Schachtanlagen Prosper, Jacobi und Franz
Haniel. Grund für ihre Existenz: Irgendwo musste der „Müll“ vom Bergbau
– der dort in den 20er Jahre begann - deponiert werden. Diese Berge haben
tatsächlich die Landschaft des Ruhrgebiets verändert. Wenn es keine Halden
gäbe, wäre es eigentlich ganz flach zwischen den Flüssen Lippe und Ruhr.
Das bedeutet nicht, dass die Einwohner zufrieden mit diesen LandschaftsÄnderungen waren. Halden waren hässlich. Manchmal brannten sie sogar.
Aber das war früher.
Domeyer guckte mich an und fragte freundlich, ob das Gespräch kurz
sein könnte. Ich stimmte zu. Es ist sehr windig auf der Halde; und es ist
gar nicht einfach, dort ein Interview zu führen. Meine Finger waren so kalt,
dass ich den Kugelschreiber nicht gut greifen konnte. „Ich finde, es ist ein
positiver Aspekt des Industrie-Recycling“, sagte der Sozialarbeiter. „Dass
der Industrieabfall kulturell genutzt werden kann.“
Er sprach über den früheren Schmutz, den er in seiner Kindheit erlebt
hatte, und das jetzige Grün. Und wie die Industrie das ganze Ruhrgebiet
geprägt hat. Endlich hat er einen Satz gesagt, den ich in fast zwei Monaten
im Revier kaum gehört hatte: „Es ist ganz schön hier.“
Ja, viele Leute im Ruhrgebiet betrachten ihre Heimat nicht als Schönheit.
Aber den Blick von den Halden lieben sie: Laut Kommunalverband
145
Angelica Aires de Freitas
Nordrhein-Westfalen
Ruhrgebiet (KVR), der verantwortlich für die Kultur- und Freizeit-Aspekte
der Halden ist, ist die reizvolle Aussicht der erste Grund für eine Haldenbesichtigung: 62 Prozent der Leute haben das beantwortet, gemäß einer 2001
geführten Umfrage.
Klettern ist nicht mein Bereich. Wenn die Möglichkeit besteht, dass ich
fallen kann, dann falle ich. Aber der kürzere Weg hinauf, sagt mein Kollege
Bert Giesche von der WAZ, wäre ein Pfad, der ganz nass und deswegen rutschig sei. Bert hat mich zu den Halden geführt, und weil er schon Erfahrung
hat, ging er vor. Ich griff an die dünnen Bäumchen und hoffte, nicht zu fallen.
So konzentriert war ich, dass ich kaum dachte, dass jene Bäumchen in einem früher „toten“ Boden geboren waren. Hier wurden Erlen, Robinien und
Roteichen, unter anderen, in der 50er-60er Jahren gepflanzt. Ein Wunder,
wenn man so will. Ein Wunder ebenfalls, dass ein früherer Schutt-Berg heute eine Sehenswürdigkeit ist.
Berühmten Besuch hatte die Halde Prosper-Haniel auch: der Papst selbst.
(Ich schätze, er hat den langen Weg gewählt). Am 2. Mai 1987 las Johannes
Paul II eine Messe auf der Halde. Anlässlich des Besuches wurde ein Kreuz
von der Künstlerin und Ordensfrau Tisa von Schulenburg und Bergleuten
von Prosper-Haniel errichtet. Auf dem Altar sind Worte des Papstes zu lesen:
„Die Arbeit gehört zum Menschen. Sie ist Ausdruck seiner Ebenbildlichkeit
mit Gott.“
Der lange Weg hoch ist eigentlich ein Kreuzweg, 1995 eingeweiht, den viele
Gläubige am Karfreitag gehen. Frank Domeyer über die Revitalisierung der
Halde: „Die Kombination mit der Begrünung der Halde und dem Kreuzweg
ist das Beste, was sie machen konnten.“ Vom Fuß bis zum Gipfel sind es
15 Stationen. Es gibt keine Bilder der Leiden Christi zu sehen, sondern
Objekte, die mit Bergbau zu tun haben. Maschinenteile, zum Beispiel. Der
Geschmack mag umstritten sein, aber er zeigt, wie wichtig der Kohleabbau
war und ist. Übrigens, in Bottrop ist der größte Arbeitgeber immer noch der
Bergbau, mit 4.500 Mitarbeitern.
94 Prozent der Bevölkerung der Stadt Bottrop sollen eine Halde schon
besichtigt haben. Laut Kommunalverband Ruhrgebiet liegt das Potential
der Halden in der Kombination der Freizeitaktivitäten. Das Kunst- und
Kulturerlebnis sei verantwortlich für 17 Prozent der Besucher. Zum
Beispiel: Auf der Halde Prosper-Haniel gibt es ein rundes Amphitheater
oder Freilicht-Theater (1997), wo Stücke etwa „Jedermann“, von Hugo von
Hoffmannsthal schon inszeniert wurden. Und Kunstobjekte: Eine Reihe
bunter Eisenbahnschwellen, jede ungefähr 2 Meter groß, wurde aus Spanien
mitgebracht. Der Künstler, Agustin Ibarrola, hat die Schwellen in seinem
Atelier in Bilbao bearbeitet, und später (2002) ist er ins Ruhrgebiet gekommen, um das Kunstwerk aufbauen zu lassen.
146
Nordrhein-Westfalen
Angelica Aires de Freitas
Ich verabschiedete mich von Frank Domeyer, und kurz danach war er wieder unterwegs. Wir mussten auch gehen, Richtung „Halde des Tetraeders“.
Trotz der Kälte kamen uns auf dem Rückweg andere Fahrradfahrer entgegen.
4. Wie die Oberfläche des Mondes
Die „Halde des Tetraeders“ wird auch genannt Halde Beckstrasse oder
„Haldenereignis Emscherblick“ – aber der erste Begriff ist am häufigsten.
Das ist auch die bekannteste Halde im Ruhrgebiet. Wie ein gigantisches, außerirdisches Gebäude liegt ein Tetraeder auf dem schwarzen, kahlen Gipfel
der 90-Meter-Halde. Der Tetraeder ist 50 Meter hoch, es sind 200 Stufen bis
nach oben. Dort gibt es drei Aussichtsplattformen. (Auch um den Kontakt
mit dem All zu probieren?) Durch kleine Löcher in der Stahltreppe, pfeift
der Wind. Kombiniert mit dem Geräusch der eigenen Schritte, klingt es wie
industrielle Musik - und das ist ein geeigneter Soundtrack.
Auf der Halde gingen Leute mit ihren Hunden spazieren. Eine Gruppe,
drei Frauen und ein Mann, machten Photos. Hinter ihnen war das AlpinCenter, auch auf einer Halde gebaut, zu der Touristen aus ganz Deutschland
und sogar Holland kommen. Denn eine Attraktion ist eine Skihalle mitten im
Ruhrgebiet, wo es selten schneit, sicher für viele Sportfans. Noch dahinter
war ein Schornstein, der große Rauchwolken in den blauen Himmel blies. Ich
bin zu der Gruppe gegangen, um ihre Meinung über das „Haldenereignis“
herauszufinden.
Der Mann hieß Sascha Wittbeck und kam aus Dorsten. Das war seine
dritte Besichtigung. Ich fragte ihn über den Tetraeder, 1995 eingeweiht,
ein Projekt des Darmstädter Architekten Prof. Wolfgang Christ, und über
den Blick. Der 24-jährige dachte darüber nach, und sagte dann schließlich:
„Bei klarem Wetter kann man ein bisschen von der Industrie sehen. Aber die
Landschaft ist nicht so attraktiv.“
Die Sozialpädagogin Maria Pflug (52), aus Neumarkt, Bayern, die mit
Sascha Wittbeck unterwegs war, meinte: „Die Halde hat mir sehr gut gefallen. Es ist schon was besonderes, mit dem Tetraeder. Alles aus Stahl.“
Aus Stahl sind auch die Bänke auf der Halde. Sie scheinen DesignerBänke zu sein. Aber bei kaltem Wetter ist Sitzen undenkbar. Ob die Kälte
wirklich eine Rolle spielt? Silvester, wenn es viel kälter ist, kommen hunderte Bottroper hierher, um ihre Knaller und Raketen anzuzünden. Von der
Halde ist es möglich, die Feuerwerke im ganzen Ruhrgebiet zu sehen. Der
Blick soll herrlich sein. Man vergisst einfach, dass man auf den nicht benutzten Materialien der „Musterzeche“ Arenberg (1912-1930) steht.
147
Angelica Aires de Freitas
Nordrhein-Westfalen
Heute noch sollen 37 Prozent der Ruhrgebietsbevölkerung an Kohle
und Zechen denken, wenn sie das Wort Halde hören, laut Umfrage des
Kommunalverbands Ruhrgebiet. Dagegen denken 30 Prozent an Grün und
Freizeit.
Als ich die Halde des Tetraeders verließ, habe ich einen Dialog zwischen
einem Paar gehört. Er fragte sie: „Wie sieht das aus?“. Und sie sagte: „Wie
die Oberfläche des Mondes.“
Außerirdisch, also.
5. Halden, ein Überblick
Die ersten Halden wurden so gebaut: die Bergbaumaterialien, für die es
keine Verwendung mehr gab, wurden von einem Förderband oder einem
Lastwagen einfach nur an einem Ort abgekippt. So entstanden sogenannte
„Spitzkegel“ Halden – und das passierte bis ungefähr 1967, als die ersten
„Richtlinien für die Zulassung von Berghalden im Bereich der Bergaufsicht“
erschienen. Dann wurden sie als Landschaftsbauwerke gebaut. Man kann
schon verstehen, was für ein Problem die Halden waren, wenn man erfährt,
dass bis zu Beginn der 80er Jahre diese nicht benutzten Materialien 43
Millionen Tonnen im Jahr ausmachten. Mit weniger Kohleförderung war
die Erwartung für 1995 immerhin noch bei 16 Millionen Tonnen pro Jahr.
Das führte natürlich zu Problemen. Dietmar Schulz schrieb in seinem
Artikel „Begrünung von Steinkohlebergehalden“ (im Buch „Bergehalden des
Steinkohlenbergbaus, Vieweg, 1991) dass diese neuen Berge die Umgebung
– Siedlungsgebiete, das heißt, dort, wo die Bergleute und ihre Familie wohnten - durch Rauchentwicklung belästigten; und dass die Begrünung auch
schwierig war. Seit die ersten Richtlinien für die Zulassung von Berghalden
erschienen, gibt es Maßstäbe dafür, wie ein solcher Berg gebaut werden
muss: etwa wie ein terrassierter Tafelberg. „Mit strengen Linien und harten
Konturen“, beschreibt Schulz. Das würde auch „Bergrutsche“ vermeiden.
Aber die Halden waren immer noch ein Problem. Ihr Material bestand
aus Tonschiefer und Sandstein, und natürlich auch aus einem Anteil an
Steinkohle. Es war nicht möglich, alle Kohle von den anderen Materialien
zu trennen. Und je mehr Steinkohle und Sauerstoff, desto größer war die
Möglichkeit der „Ausbrennung“. „Weil der Kohle-Anteil so hoch war – etwa
30 oder 35 Prozent - haben die Halden sich selbst entzündet. Die fingen an
zu qualmen“, sagt der Garten- und Landschafts-Architekt Wolfgang Buron.
Heute besteht diese Gefahr nicht mehr, weil der Anteil der Kohle auf
fast 2 Prozent verringert wurde. „Aber es gibt Halden, die heißer als ihre
Umgebung sind. Durch Infrarot-Photos kann man sehen, dass es Punkte
148
Nordrhein-Westfalen
Angelica Aires de Freitas
gibt, wo es heiß ist“, so Buron. Der Architekt kann sich gut an ausgebrannte
Halden erinnern, die er in seiner Kindheit in den 50er Jahren gesehen hat.
Und früher war es ganz normal für Kinder, in der Nähe von Halden zu spielen, erzählte er. „Die Halden gehören zu meiner Heimat wie die Zeche, wie
die Schwerindustrie.“
Wann eigentlich hat diese neue Ausrichtung auf Freizeit und Kultur für
diese Halden begonnen? Buron: „Das war eigentlich ein Zufallsprodukt. Die
Leute haben gemerkt, so schön sind die nicht.“ Und die Ausbrennung war
auch ein Grund. So haben die Behörden und die Bevölkerung im Ruhrgebiet
entschieden, die Halden zu begrünen – und Kunst-Objekte aufzustellen.
Buron bezeichnet sich selber nicht als Haldenexperten, sagte aber, das
er sich ganz intensiv mit Halden beschäftigt hat. „Ich verstehe ein wenig
mehr“, betonte er, in unserem Telefongespräch, aus seinem Essener Büro.
Als ich ihn fragte, ob er im Ruhrgebiet geboren ist, antwortete er stolz: „Ja,
und ich habe es nie verlassen.“ Er erzählte mir, wie schmutzig die Luft früher war: es gab immer mindestens einen halben Millimeter schwarzen Staub
auf den Fenstern.
Um Umweltprobleme zu umgehen, hat die Landesregierung NordrheinWestfalen schon 1957 eine „Begrünungsaktion Ruhrkohlenbezirk“ vorgenommen. Begrünung war leider gar nicht billig. Die Oberfläche musste überprüft werden auf Verwitterungszustand, ph-Werte und auch Erosionsrisiken
– das bedeutete viele Kosten. Und auf Halden, wo die Temperatur zwischen
80 und 90 Grad lag, war es ebenfalls schwierig, Pflanzen zu finden, die dieses „Klima“ ertragen konnten.
Am Anfang der 70er Jahre gab es Proteste gegen die „störenden Elemente“
in der Landschaft. Eigentlich sind die ersten Beschwerden wegen der Halden
bereits 1900 erschienen. Die Berg- und Hüttenmannischen Zeitung Nr. 52
berichtete: (...) die großen Bergwerksgesellschaften, die früher ganz besonders zur Vernichtung unserer Wälder beigetragen haben, sind jetzt auch
bemüht, ihrerseits nach Möglichkeit dadurch zur Pflege und Vermehrung
von Busch und Wald beizutragen, dass sie alte Berghalden mit Bäumen und
Sträuchern bepflanzen lassen.“
Auf der Halde Zollverein, in Essen, zum Beispiel, wurden schon 1895
Robinien gepflanzt. Auf anderen Halden wurden Birken, Akazien und
Haselnusssträucher gesetzt. Aber nicht alle Bäume können auf solchen
Böden wachsen. Immer noch nicht.
149
Angelica Aires de Freitas
Nordrhein-Westfalen
6. Einige Zahlen
Am Ende des Sommers 2001 hat der Kommunalverband Ruhrgebiet eine
Telefonumfrage durchgeführt, um zu erfahren, was die Leute im Revier über
die Halden denken. 918 Personen nahmen teil und nannten 79 Halden. Die
bekanntesten: Das Emscherblick Haldenereignis mit dem Tetraeder und
dem Alpin-Center, und die Halde Haniel mit ihrem Kreuzweg. Die Halde
des Tetraeders sollen 83 Prozent der Einwohner Bottrops schon besichtigt
haben. Die Bevölkerung der Nachbarstädte kommt auch oft: 38 Prozent der
Gelsenkirchener und 32 Prozent der Oberhausener waren schon da.
Für 83 Prozent der Befragten seien die Halden ein gutes Beispiel der
Änderung in der Region hin zu einem Strukturwandel. Sind Halden ein gutes Aushängeschild für die Region? 81 Prozent haben mit „Ja“ geantwortet.
Mehr als 40 Prozent der Einwohner sollen eine Halde schon besichtigt haben. Regelmäßig besuchen sie 21 Prozent, davon 6 Prozent einmal in der Woche. Und für die sind Spazieren (78%), Radfahren (64%)
und Naturbeobachtungen am wichtigsten. Andere Beispiele von FreizeitVeranstaltungen sind das Drachenfest auf der Halde Pattberg in Moers und
Mountainbike Events auf der Halde Hoppenbruch.
Für 55% der Besucher lohnte es sich, die Halden zu sehen, um ihre positive Entwicklung zu beobachten.
7. Freiwillig wächst nichts
Drei Tage nach Nikolaus habe ich die Straßenbahn 308 genommen,
Richtung Gerthe, ein Viertel im Norden Bochums. Es ist wie ein kleines
Dorf, mit einer Fußgängerzone, alten Gebäuden und Geschäften. Ich bin
dahin gefahren, um die neu eingeweihte Halde Lothringen zu sehen. Sie ist
viel kleiner als die Halden, die ich vorher besucht habe. So klein, dass nicht
viele Leute mir sagen konnten, wo sie liegt.
Auf der Halde steht ein großes, gelbes Kunstobjekt aus metallischen
Rohren: die „über(n)ort“ Skulptur der Münsteraner Künstlerin Kirsten
Kaiser. Sie sieht aus wie ein großer Zaun oder eine Brücke, oder sogar ein
Kai. „Sehr industriell“, habe ich sofort gedacht. (Später, in meinem Gespräch
mit dem Architekten Wolfgang Buron habe ich ihm gesagt, dass ich nicht
viel davon verstehen konnte. Er lachte und antwortete: „Das ist Kunst, ja.
Sie brauchen es nicht zu verstehen“.)
Die Umgebung riecht nach Industrie: eine Mischung von Kohle, Benzin
und verbrannten Reifen. Der Boden ist schwarz – von der Kohle - und es
gibt kaum eine Pflanze zu sehen. Ein Schild der Route-Industriekultur in150
Nordrhein-Westfalen
Angelica Aires de Freitas
formiert, dass da nichts freiwillig wächst. Die Erklärung ist, dass diese steile
Oberfläche keinem Samenkorn Halt bietet. Wind und Regen erlauben es
nicht. Der Boden muss bearbeitet werden, so dass er flach genug wird.
Ich war nur kurz auf der Halde Lothringen: Es gibt einen ungefähr 300
Meter Spaziergang, nicht mehr. Viel zu sehen gibt es nicht, aber es kann
ein guter Zielort sein, für einen sonnigen Samstag, und um mit dem Hund
spazieren zu gehen. Dass die Halde so klein war, aber jetzt auch gepflegt
wird, hat mir einen positiven Eindruck gegeben. Die Arbeit ist nicht umsonst. Es soll schon die ersten Lebenszeichen geben: Vögel wie Bussarde,
die Mäuse jagen; sind von Mai bis in den Herbst am Himmel zu sehen;
Schmetterlinge, z. B. die Admirale, haben sich hier niedergelassen, und das
schmalblättrige Greiskraut, aus dem fernen Südafrika stämmig – soll ganz
gut den Schwierigkeiten widerstehen.
8. Links
Diese Internetseiten bieten Auskunft über das Ruhrgebiet.
Kommunalverband Ruhrgebiet
(http://www.ruhrgebiet.de)
Route der Industrie-Kultur
(http://www.route-industriekultur.de)
7. Danke schön
Ich danke der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ) Redaktion in
Bochum, für ihre Hilfe und Geduld während meines Praktikums. Ich habe
viel über Journalismus und die Deutsche Sprache bei der WAZ in zwei
Monaten gelernt. Besonders möchte ich Bert Giesche von der StadtteilRedaktion danken: ohne ihn wäre dieser Bericht nicht möglich gewesen.
Schließlich danke ich der Heinz-Kühn-Stiftung, für die Möglichkeit, ein
Praktikum in Deutschland zu machen. Das war eine Erfahrung, die ich für
immer schätzen werde.
151
Arlette Geburtig
aus Deutschland
Stipendien-Aufenthalt in
Südafrika
30. Oktober 2003 bis 14. Februar 2004
153
Südafrika
Arlette Geburtig
Südafrika am Scheideweg
Menschenbilder und Momentaufnahmen
Von Arlette Geburtig
Südafrika vom 30.10. 2003 – 14.02.2004
155
Südafrika
Arlette Geburtig
Inhalt
1.
Zur Person
160
2.
Transformationsgedanken
160
3.
Lost in Translation – die ersten Verwirrungen
160
4. Praktikum bei SABC
4.1. Special Assignment – die weiße Sicht auf Südafrika
161
162
5. Soweto
5.1. Bei Familie Rapotho
5.2. Ubuntu gibt’s nicht mehr
5.3. Kein Geld für Bildung – Tshebedisanong Primary School
5.4. Aidsforschung im Baragwanath Hospital
163
165
166
167
170
6. NISSA hilft misshandelten Frauen
7. HIV ist überall – Hintergründe und Gespräche zur Aidspandemie
7.1. Community Aids Center Hillbrow
7.2. Geduld ist eine Tugend - das Treffen mit Angie Diale
7.3. HIV – vor allem ein Problem der Armen
7.4. Aids ist auch ein kulturell bedingtes Problem
172
174
174
175
176
178
8. Themba Labantu – Ein Pfarrer im wilden Westen
8.1. Die Suppenküche von Philippi
8.2. Wie Weihnachtssterne HIV-Infizierten helfen
8.4. Township-Schicksale
180
182
183
184
9. Radio Zibonele
9.1. Der Gesundheitssender für das Volk
9.2. Alles im Kopf
9.3. Ein DJ mit Deutschlanderfahrung
185
186
187
188
10. Die Frauengewerkschaft SEWU und der informelle Sektor
189
11. Black Empowerment und die ANC Women’s League
191
157
Südafrika
Arlette Geburtig
12. Zukunftsgedanken über Südafrika
192
13. Danke
195
159
Arlette Geburtig
Südafrika
1. Zur Person
Arlette Geburtig, geboren am 29.10.1970 im Taunus.
Studium der Neueren Deutschen Literatur und Medienwissenschaften,
Italienisch und Französisch an der Philipps-Universität Marburg; daneben
Studienaufenthalte in Frankreich und Italien. Mitarbeit bei der DeutschItalienischen Kulturzeitschrift Onde, Praktika bei n-tv, RTL, sowie freie
Mitarbeit beim Hessischen Rundfunk, SAT 1 und dem WDR. Volontariat
bei Radio K.W. in Moers und Rheinberg. Seit 2000 Redakteurin beim ZDFVerbrauchermagazin „Volle Kanne - Service täglich“ in Düsseldorf.
2. Transformationsgedanken
Südafrika ist an einem Scheideweg. Was wird aus dem Schwellenland,
das als Vorbild für den ganzen Kontinent angesehen wird? In den nächsten Jahren wird es sich entscheiden. Ist es dem Untergang geweiht oder
wird es den Übergang in die erste Welt schaffen? Diese Fragen stellen sich
überall während meines Aufenthaltes, denn es ist kurz vor den dritten demokratischen Wahlen des Landes (14. April 2004). Darüber spreche ich mit
Intellektuellen, Politikern und Journalisten, aber auch mit weniger gebildeten Menschen und sogar mit Township-Bewohnern. Am kritischsten sind
weiße Südafrikaner, aber auch viele Schwarze haben Angst und sind unsicher, was ihre Zukunft anbelangt, obwohl in den vergangenen zehn Jahren
nach dem Ende der Apartheid schon so viele positive und viel versprechende Entwicklungen in diesem Land stattgefunden haben.
Doch zwei Probleme werden immer übermächtiger: zum einen die stetig
wachsende Zahl der Aidskranken und zum anderen die hohe Arbeitslosigkeit.
Beide Probleme wirken sich auf die wirtschaftliche Lage und die private
Situation jedes Einzelnen im Lande aus.
Hier muss dringend etwas geschehen, wenn das Land nicht zugrunde gehen soll.
3. Lost in Translation – die ersten Verwirrungen
Das erste Abenteuer ist die Orientierung in der 3,5-Millionen-Stadt
Johannesburg. Sie ist nicht einfach, bei mehreren Dutzend Bezirken und
den immer gleichen Straßennamen. Egal in welchem Stadtteil man sich gerade befindet, es gibt immer eine 5th Avenue, eine 3rd Road oder eine 7th
Street, die aber nicht zu verwechseln ist mit der 7th Road, oder manchmal
160
Südafrika
Arlette Geburtig
doch? Viele Straßen werden von den jeweiligen Regierungsbeamten auch
einfach umbenannt, darum sollte man immer die neueste Karte haben. Das
zweite Abenteuer ist die Autovermietung: „Rent a Wreck“. Für umgerechnet
8 Euro am Tag, inklusive Versicherung und Freikilometer, bekomme ich in
Downtown Johannesburg tatsächlich ein Wrack. Es fährt, aber niemand weiß
wie lange. Meines bleibt ca. einmal pro Woche liegen, aber die Mechaniker
von der Autovermietung bekommen es immer wieder flott.
Auch die Sprachen haben es in sich. Zwar wird in Südafrika fast überall
Englisch gesprochen (d.h. neben den anderen zehn Landesprachen), allerdings muss man sich an dieses Englisch erst einmal gewöhnen, denn zunächst klingt es wie eine afrikanische Stammessprache mit Klicklauten und
rollenden Rrrs. Die Grammatik scheint der Kreativität des Einzelnen zu entspringen. Aber der gute Wille zählt und hilft letztendlich Sprachbarrieren zu
überwinden. In meinem Fall dauert es ca. drei bis vier Wochen, dann verstehe ich fast jeden. Am Schluss kann ich sogar am Telefon die Hautfarbe des
anderen „hören“, so wie das für Südafrikaner ganz selbstverständlich ist.
4. Praktikum bei SABC
SABC – South African Broadcasting Corporation – das ist wie ARD
und ZDF zusammen, nämlich die öffentlich-rechtliche Rundfunk- und
Fernsehanstalt in Südafrika. Sie ist riesengroß und besitzt drei verschiedene Fernsehkanäle: SABC 1, 2 und 3. Die ersten beiden Kanäle decken
alle elf Landessprachen ab, der dritte sendet nur in Englisch. Desweiteren
unterhält SABC 18 Radiosender. Der Hauptsitz befindet sich in mehreren
großen Gebäuden in der Artillery Road im Stadtteil Auckland Park von
Johannesburg.
Nationaler Rundfunk- und Fernsehsender – das klingt nach Bürokratie
und mit ihr werde ich auch gleich am ersten Tag bekannt gemacht. Die
Pförtner lassen mich zwei Stunden am Eingang warten, bis mich jemand
von der Redaktion abholt. Ohne Hausausweis darf ich nicht alleine durch
die bewachte Absperrung vor dem Bürotrakt. Das gleiche Spiel wiederholt
sich noch zweimal, bis ich einen eigenen Hausausweis mit Foto erhalte,
der mir von da an Zutritt gewährt. Meine Tasche wird trotzdem jeden Tag
am Ein- und Ausgang gescannt, wie von jedem anderen Mitarbeiter auch.
Wenn ich mein Aufnahmegerät mitbringe oder einen Fotoapparat, bekomme
ich ein umfangreiches Formular, aus dem hervorgeht, dass es sich um mein
Eigentum handelt und nicht um Diebesgut. Pech für denjenigen, der ein solches Formular verliert! Das ist einer Moderatorin mit ihrem Laptop passiert,
vermutlich darf sie ihn bis heute nicht mit nach Hause nehmen.
161
Arlette Geburtig
Südafrika
Ich bin stolz, dass ich mich nach ca. einer Woche in dem gewaltigen
Gebäude auskenne. Alle drei Kanäle befinden sich hier unter einem Dach.
Zusammen ergeben sie bereits über die Hälfte der empfangbaren Programme
im Lande – und da wird andernorts von Monopolismus gesprochen.
Die Radiokanäle von SABC sind gleich nebenan in einem anderen
Gebäudekomplex. Sie haben zwar den besten Empfang im ganzen Land,
müssen aber mit zahllosen Privatsendern und Community-Radios konkurrieren, womit der freie Wettbewerb wieder hergestellt wäre.
Auf dem Weg zur Arbeit sehe ich fast jeden Tag einen schweren Autounfall
und mit der Zeit wird mir klar, warum Johannesburg als so gefährlich gilt.
Vor den meisten Ampeln stehen schwarze Obst- oder Zeitungsverkäufer
und klopfen an die Autofenster. Manchmal sind es auch Kinder, die kleine
Kunststücke aufführen oder einem nur die Hände entgegen strecken. Ich bin
gebeten worden, ihnen niemals Geld zu geben, da sie sich Klebstoff davon
kaufen würden – zum Schnüffeln. Auch „Dacha“, also Marihuana, kostet
umgerechnet nur ein paar Cent und wird von vielen konsumiert.
Mich erstaunt, dass mir des Öfteren weiße Bettler auf der Straße begegnen, vor allem Männer. Unter ihnen sind auch viele junge Leute – ob das
bereits eine Folge des „Black Empowerment“1 ist?
4.1. Special Assignment – die weiße Sicht auf Südafrika
Special Assignment heißt die Sendung, bei der ich mein Praktikum machen darf. Ein investigatives Programm, das einmal wöchentlich auf die
Missstände des Landes aufmerksam macht und mit seinen 20-minütigen
Reportagen versucht, „für diejenigen zu sprechen, die nicht für sich selbst
sprechen können“, erklärt mir die Moderatorin Anneliese Burgess. Sie ist
eine von sechs Redakteurinnen, neben nur zwei männlichen Kollegen in
der Redaktion, die die Sendung gestalten. Fast alle sind weiß, bis auf eine
Muslimin. Sie sprechen entweder Afrikaans oder Englisch. Die Themen
während meines Praktikums sind Drogensüchtige auf Entziehungskur,
die Katholische Kirche, die trotz Aids gegen Kondome protestiert, ein
Nahrungsmittelskandal, die mutmaßliche Spionageaffäre eines Polizeichefs
und zu hohe Telefonrechnungen. Meine Aufgabe ist es, den Redakteuren
Interviews zu besorgen, zu recherchieren und ab und zu als Ton-Assistent
bei Dreharbeiten auszuhelfen, da die Redaktion ähnlich wenig Geld für ihre
Produktionen zur Verfügung hat wie wir in Deutschland. Aber mir macht
1 Als „Black Empowerment“ wird die Transformation der Wirtschaft in Südafrika bezeichnet. Das
Regierungsprogramm „Black Economic Empowerment“ kurz: BEE steht für die Förderung der Teilhabe
schwarzer Bürger an der Wirtschaft.
162
Südafrika
Arlette Geburtig
es Spaß, denn auf diese Weise bekomme ich gute Einblicke in die Arbeit
der südafrikanischen Journalisten-Kollegen. Ob Special Assignment mit ihren Berichten aber wirklich die Mehrheit der Bevölkerung vertritt, ist die
Frage und ob diese Berichte den Menschen helfen, ebenso. Soviel ich erfahre, ist es eher die Oberschicht, die diese Sendung schaut. Ohne Zweifel
ist Special Assignment anspruchsvoll. Die Reportagen konzentrieren sich
jedoch überwiegend auf die Aufdeckung der Missstände und die kritische
Bewertung, nicht auf Informationen, wie und wo Betroffene Hilfe bekommen. Tatsächlich herrscht in Südafrika auch ein Mangel an Einrichtungen,
die Bürgern bei ihren Problemen helfen.
Für meinen Vorschlag, so etwas wie Verbraucherzentralen in Südafrika
einzurichten, ernte ich daher großen Beifall.
Die einzige schwarze Mitarbeiterin bei Special Assignment ist die Sekretärin Dimmakazu. Sie ist 24 Jahre alt und hofft seit Jahren, als Redakteurin
bei SABC arbeiten zu dürfen.
Die Überzahl an weißen Redakteuren in dieser Redaktion ist untypisch
für SABC. Denn als staatliches Unternehmen sollte der Sender im Sinne
der „Affirmative Action“2 80 Prozent schwarze Mitarbeiter einstellen. In
den anderen Abteilungen wird diese Quote erfüllt. Feindschaft aufgrund der
Hautfarbe kann ich nirgendwo im Hause feststellen.
5. Soweto
Morgens um halb acht ist es in Soweto am schönsten. Dann geht die Sonne
über den bunt zusammen gewürfelten Häuschen und Baracken auf und die
Kinder laufen in ihren schwarz-weißen Schuluniformen über die Felder, auf
denen schon lange nichts mehr angebaut wird, um zur nächstgelegen Schule
zu gelangen. In den engen staubigen Gassen zwischen den „Shacks“, den
Bretterbuden oder „Streichholzschachteln“, wie sie genannt werden, weil
sie nicht viel größer sind als solche und mehrköpfige Familien beherbergen,
ertönen Musikfetzen und Nachrichten aus klapprigen Radios. Dazwischen
ist Stimmengewirr von Familienmitgliedern zu hören, die sich zanken, unterhalten oder sich zum Ausgehen fertig machen.
Draußen auf den staubigen Wegen tragen Frauen in bunten afrikanischen
Gewändern Gefäße oder Plastiksäcke auf ihren Köpfen. Später werden sie
versuchen, diese mit etwas zu füllen, das sie für die meist wenigen Rand in
der Tasche bekommen. Die Frauen haben es oft am schwersten in so einem
2 Quotenregelung für benachteiligte Schwarze am Arbeitsplatz. Die Regelung ist umstritten, weil die
Hautfarbe zwar offiziell bei gleicher Qualifikation über die Jobvergabe entscheidet, aber inoffiziell
spielt die Qualifikation kaum eine Rolle.
163
Arlette Geburtig
Südafrika
Township. Sie müssen für ihre Familien sorgen, während ihre Männer, falls
sie Arbeit haben, oft weit weg sind oder, wenn sie keine haben, dem Alkohol
verfallen sind. Häufig kommt es zu häuslicher Gewalt. Nicht zuletzt, weil
die Männer in diesem Land nach wie vor das Sagen haben und Frauen,
vor allem in den Townships und den ländlichen Gegenden, immer noch als
Menschen zweiter Klasse angesehen werden.
In der neuen demokratischen Verfassung von 1996, die als fortschrittlichste der ganzen Welt gilt, ist die Gleichberechtigung aller Bürger Südafrikas
oberstes Gebot.
Doch was nützt das den Frauen aus den ländlichen Gebieten fernab jeglicher Informationsquellen oder den immerhin 16 Prozent Analphabeten.
Viele Frauen wissen nichts von ihren neuen Rechten oder würden es niemals
wagen, diese einzufordern und sich womöglich gegen den eigenen Mann zur
Wehr zu setzen. Obwohl sie für die Kinder verantwortlich sind und häufig
auch Geld ranschaffen, in dem sie z. B. bei Weißen in der Stadt putzen gehen
und dafür stundenlange Fahrten mit den Minibussen hinnehmen, werden sie
dafür von ihren Männern auch nicht mehr respektiert, als wenn sie es nicht
täten. Im täglichen Überlebenskampf versuchen viele Frauen Konflikten aus
dem Weg zu gehen und unterwerfen sich sogar dafür – wenn es sein muss.
SoWeTo, das South-Western Township, liegt etwa 15 Kilometer vom
Zentrum Johannesburgs entfernt. Keiner weiß genau, wie viele Menschen
auf den 120 km² leben. Die Schätzungen gehen bis hin zu fünf Millionen.
Ursprünglich war es entstanden, um zeitlich begrenzte Wohnquartiere für
die Minenarbeiter zu schaffen. Später wurde Soweto durch den „Urban
Areas Act“3 von 1923 dann zum Ghetto der schwarzen Bevölkerung von
Johannesburg. Obwohl ein staatliches Wohnungsbauprogramm hier hunderttausende von einfachen Zwei-Zimmer-Häusern schuf, die aufgrund ihrer Größe von der Bevölkerung als Streichholzschachteln bezeichnet werden, dehnen sich die illegalen Squatterquartiere immer weiter aus.
So fröhlich und freundlich es in Soweto während der Woche zugeht – freitags bleiben viele Bewohner lieber in ihren Häusern und Baracken. Dann
bekommen die wenigen Männer, die Arbeit haben, ihren Wochenlohn ausgezahlt und nicht selten wird er direkt in Alkohol umgesetzt. Dafür gibt es
eine Vielzahl von Shebeens, private „Wohnzimmerkneipen“, die in Zeiten
der Apartheid illegal entstanden sind, da damals der Alkohol-Ausschank an
Schwarze verboten war. Schon am späten Nachmittag torkeln betrunkene,
gewaltbereite Männer durch die Straßen Sowetos und lassen schon mal ihren Frust an Kindern und Frauen aus.
3 Der „Black Urban Areas Act“ legte 1923 das Fundament für die räumliche Trennung der Rassen.
Mit diesem Gesetz installierte man landesweit Passzwang und Zuzugskontrolle als Hauptelemente einer
räumlich getrennten Entwicklung und rechtlichen Diskriminierung.
164
Südafrika
Arlette Geburtig
5.1. Bei Familie Rapotho
Ich habe das Glück, für zwei Wochen bei einer Familie in Soweto wohnen
zu dürfen.
Die 24-jährige Dimmakazu kenne ich von SABC. Ihre Familie lerne ich
erst in Soweto kennen, wo sie aufgewachsen ist. So viel Herzlichkeit habe
ich bisher selten erfahren. Die ganze Familie ist stolz, dass ich bei ihnen
wohnen möchte.
Dimmakazus Mutter arbeitet für die örtliche Heilsarmee und kommt
abends spät nach Hause, weil sie große Strecken mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurücklegen muss.
Ihr Vater ist im Alter von 35 Jahren gestorben. Er war Hobby-Marathonläufer. Jeden Morgen joggte er vor der Arbeit durch die Strassen Sowetos,
machte sich aber nichts aus Vitaminen und Flüssigkeitszufuhr. So fiel er
eines morgens bei einem seiner Läufe einfach um und war tot.
Dimmakazus Bruder ist 34 Jahre alt und war früher einmal ein richtiger
„Gangster“. Er habe sogar im Gefängnis gesessen, erzählt Dimmakazu mir
irgendwann. Gearbeitet habe er noch nie richtig, nur als Parkplatzeinweiser,
aber das sei wenig lukrativ gewesen.
Jetzt verbringt er den ganzen Tag vor dem Fernseher. Dimmakazu bringt
ihm immer genügend Kondome mit, damit er bloß keine Kinder in die Welt
setzt. Auch Dimmakazus große Schwester wohnt noch bei der Familie.
Sie ist 32, arbeitet als Einkäuferin einer Modefirma und spart jeden Cent
für ihre 14-jährige Tochter. Gemeinsam leben sie alle in einem kleinen
Steinhäuschen in Marokville in Soweto. Es gibt kein Badezimmer und keine
Dusche. Stattdessen steht ein kleiner Bretterverschlag auf dem Hof mit einer
Toilette darin. Dimmakazus Bruder räumt seine Zimmerecke, so dass wir in
seinem Bett schlafen können. Das Räumchen ist nur durch eine wackelige
Falttür vom Wohnzimmer getrennt. Er selbst schläft auf dem roten StoffSofa, an dem noch die Plastikfolie klebt.
Mutter, Schwester und Nichte schlafen in dem anderen Bett im angrenzenden winzigen Schlafzimmer. Während meines Aufenthaltes in Soweto
kommen manchmal Verwandte vorbei, die dann auch noch in einem der
beiden Betten untergebracht werden.
Wer nachts mal austreten muss, weckt die ganze Familie, denn um über
den Hof gehen zu können, muss erst jemand die Tür aufschließen. Zum
Waschen bekomme ich jeden Morgen eine rote Plastikschüssel mit warmem
Wasser auf das Bett gestellt. „Egal“, denke ich, doch als ich mitbekomme, wie Dimmakazus Bruder die gleiche rote Schlüssel benutzt, um mein
Auto zu waschen, werde ich etwas zurückhaltender mit der morgendlichen
Hygiene.
165
Arlette Geburtig
Südafrika
Ich gewöhne mich schnell dran, dass Dimmakazus Mutter jeden Tag um
fünf Uhr früh an unseren Füßen rüttelt, um uns mitzuteilen, dass sie jetzt
arbeiten geht. Wie ich erfahre, ist das ihre Art von Rücksichtnahme, damit
wir uns keine Sorgen machen.
Die ganze Wohnung ist ein einziges Durcheinander. Ungebügelte oder
ungewaschene Kleiderberge stapeln sich, in der schmutzigen kleinen Küche
gibt es kein Geschirr und meist auch nichts zu Essen, dafür umso mehr
Ungeziefer. Wenn wir gegrillte Hähnchen mit Maisbrei, „Papp“ genannt,
mitbringen, wird mir die einzige Gabel im Haushalt angeboten, die völlig
verbogen ist. Alle anderen essen mit den Händen. Bald komme ich mir vor
wie im Zoo, denn die Nachbarn kommen ständig gucken und wollen mir die
Hand schütteln. Noch nie hat ein Weißer in diesem Viertel gewohnt. Manche
Kinder haben Angst vor mir. Sie haben noch nie eine Weiße gesehen und
fangen bei meinem Anblick an zu weinen. Andere schauen neugierig um
die Ecke, wenn ich mir im Hof unter dem einzigen Wasserhahn die Zähne
putze. Als die Nachbarn die Familie fragen: „Wer ist die weiße Frau auf
eurem Hof?“, antwortet Dimmakazu lässig: „Das ist unser Hausmädchen.“
Humor hat sie.
5.2. Ubuntu gibt’s nicht mehr
„Früher haben hier alle zusammengehalten“, sagt Dimmakazu. „Jeder ist
für den anderen eingetreten und alle haben einander geholfen. Es gab so
etwas wie Gemeinschaftssinn.“ Das Zusammengehörigkeitsgefühl und der
Respekt untereinander habe mit UBUNTU zu tun, fährt sie fort, „das ist der
Begriff für ‚Mensch-Sein’ und zwar durch andere. Jeder Mensch ist damit
dem anderen gleichgestellt. Dieses Mensch-Sein bzw. Ubuntu hat bei allen
Menschen die gleiche Qualität. Es verbindet die Menschen miteinander und
mit Gott.“
Die afrikanische Grundlage für die Wiederherstellung des Friedens nach
einem Konflikt ist die Überzeugung, dass kein Mensch von Ubuntu ausgeschlossen ist. „Durch Ubuntu sind wir alle miteinander verbunden, selbst
mit unserem größten Feind. Wenn wir dies wissen und anerkennen, können
wir gar nicht anders, als in allen Menschen unsere Brüder und Schwestern
zu sehen“, erklärt Dimmakazu. „Viele glauben, dass Ubuntu geholfen hat,
nach dem Ende der Apartheid ein friedliches Miteinander wiederherzustellen.“
Doch heute würde das den Jugendlichen nicht mehr beigebracht und so
ginge Ubuntu allmählich verloren, glaubt Dimmakazu.
166
Südafrika
Arlette Geburtig
Die Zeit in Soweto nutze ich, um verschiedene Interviews zu führen, die
ich vorher vereinbart habe. Natürlich wäre es lebensmüde, sich alleine
auf den Weg zu machen, also nehme ich immer zumindest Dimmakazus
Bruder Modisse als Beschützer mit. Meist kommen noch ein paar Kinder
aus der Nachbarschaft dazu – alle lieben es, in einem Auto herumgefahren zu werden und kurbeln die Fenster weit herunter, um allen Freunden
und Bekannten zuzuwinken. Seit meiner Ankunft wäscht Modisse jeden
Morgen ungefragt mein Auto und bekommt dafür umgerechnet zwei Euro
von mir. Als ich ihm sage, es sei nicht jeden Tag nötig, schaut er mich
empört an und erklärt, dass es unbedingt notwendig sei. „Wenn man ein
Auto hat, muss es immer blitzblank sein. Man muss doch schließlich den
Nachbarn imponieren!“ Während der Interviews wartet er mit den anderen in meinem Auto auf mich und singt zu einer selbst aufgenommenen
Musikkassette, die im Autoradio steckt. Ich mache mir Sorgen um die
Autobatterie, aber ein Verbot nützt nichts. Zum Glück kann Modisse nicht
Auto fahren.
5.3. Kein Geld für Bildung – Tshebedisanong Primary School
Tshebedisanong ist Sotho und heißt auf Deutsch übersetzt „Zusammenarbeit“. So heißt die Grundschule in Central White City Jabavu, irgendwo
im Norden Sowetos. Sie ist eine von vielen hundert Township-Schulen.
Seit fünf Jahren ist George Pitsoe Leiter der Grundschule, nachdem seine Vorgängerin in den Ruhestand getreten ist.
Als ich ihn in der Schule treffe, ist sie gerade auf Besuch da, denn heute
ist ein ‚Memorial’, eine Gedenkfeier zu Ehren eines verstorbenen ehemaligen Lehrers. Niemand wird hier vergessen.
George Pitsoe war früher selbst Lehrer für Geschichte und Afrikaans.
Studiert hat er auf dem Lehrer-College in Soweto, wie die meisten seiner
Kollegen.
„Zusammenarbeiten“, das ist Georges Leitprinzip, denn ohne Zusammenarbeit funktioniert nichts in Südafrika. Mit den Nachbarschulen finden gemeinsame Veranstaltungen statt und es werden Wettbewerbe ausgetragen,
denn Konkurrenz belebt die Gemeinschaft, sagt George Pitsoe.
167
Arlette Geburtig
Südafrika
Die Tshebedisanong Schule gibt es seit 1956. Überbleibsel aus der
„Bantu-Erziehung“4 sind überall sichtbar. Die Einrichtung ist bescheiden.
Es gibt keine Sportanlagen, keine Turnhalle, keine Mensa, keine Labors
und auch keinen Computer sowie vieles andere. Denn die in der Apartheid
für die Schwarzen vorgeschriebene Bantu-Erziehung benötigte das alles
nicht. Damals wurden die schwarzen Kinder in den Townships lediglich in
Gartenarbeit, Haushaltsführung, Kindererziehung und Reinlichkeit erzogen.
Mehr brauchten sie ja nicht, um den Haushalt für weiße Herrschaften zu
führen.
Auch heute noch sieht es an den Schulen in Soweto äußerlich nicht viel
anders aus als vor 50 Jahren: bescheidene Räume, kahle Wände, Kinder
in Schuluniformen. Nur der Unterricht hat sich geändert: heute lässt sich
George nicht mehr vorschreiben, wie und was er und seine Lehrkräfte zu
unterrichten haben. Heute bestimmen sie selbst, welche Schulbücher angeschafft oder beim Erziehungsministerium bestellt werden und welche
Lehrmethoden geeignet sind.
Auch die Bestrafung wurde abgeschafft. Körperliche Züchtigung, die früher in diesen Schulen an der Tagesordnung war, ist mittlerweile per Gesetz
verboten.
Erwachsene, die an ihre Schulzeit zurückdenken, zucken bei der Frage
nach Bestrafung zusammen und erinnern sich, dass sie Schläge und Peinigungen für die kleinsten Kleinigkeiten erdulden mussten. So z. B. wenn sie
bei der Haarkontrolle ungekämmt waren, bei der Händekontrolle schmutzige Fingernägel hatten oder die einzige Uniform zu Hause gewaschen werden musste und sie sie nicht anziehen konnten.
Auf die 350 Schüler in der Tshebedisanong Grundschule kommen neun
Lehrer. Unterrichtet wird in Klassen mit ca.50 Schülern, was nicht ungewöhnlich in Südafrika ist.
Doch es gibt andere Probleme. Fast immer haben sie mit Geld zu tun.
4 Das „Bantu-Erziehungs-Gesetz“ von 1953 regelte die Schuldbildung für Schwarze im Sinne der
Apartheid. Verbunden mit diesem Gesetz war unter anderem die Bestimmung, dass in den Stammesgebieten
in der jeweiligen Bantu-Sprache unterrichtet werden sollte. Im Rahmen des Gesetzes wurden auch die
grotesk ungleichen Bildungsaufwendungen für Schwarze und Weiße festgelegt. Die Argumentation des
damaligen Ministers für Eingeborenenfragen, Henry F. war folgende: Erziehung und Ausbildung sollten
bei den Eingeborenen keine falschen Erwartungen wecken, sondern sie lediglich auf ihre Funktion in
der Gesellschaft vorbereiten. „Der Schwarze muss dazu angeleitet werden, seiner eigenen Gemeinschaft
in jeder Hinsicht zu dienen. Oberhalb des Niveaus bestimmter Arten von Arbeiten ist für ihn in der
weißen Gemeinschaft kein Platz. Innerhalb seiner eigenen Gemeinschaft aber stehen ihm alle Türen
offen. Deshalb bringt es ihm nichts, eine Ausbildung zu erhalten, welche die Aufnahme in die weiße
Gemeinschaft zum Ziel hat...“
168
Südafrika
Arlette Geburtig
Viele Eltern können die jährlichen Schulgebühren von umgerechnet vier
Euro nicht bezahlen. Auch die Schuluniformen für 120 Rand, also 13 Euro,
sind für viele Familien unerschwinglich. So versucht die Gemeinde zu helfen. Jeder, der ein bisschen Geld übrig hat, stiftet dies für gute Zwecke und
für die Menschen, die noch weniger haben. Diese Einstellung, die man tatsächlich in Townships antrifft, hat aber auch etwas mit Aberglauben zu tun.
Denn wer einen Job hat, muss sich dankbar zeigen und Opfer bringen, damit
er den Job nicht wieder verliert.
Von den 350 Kindern, die in die Tshebedisanong Grundschule gehen, sind
über die Hälfte als bedürftig eingestuft. Sie erhalten jeden Morgen, wenn
sie das Gebäude betreten, das sog. „Mandela Sandwich“, ein Weißbrot mit
Erdnussbutter, das die Regierung spendet und in den notwendigen Mengen
an die Schulen sendet. Für einige der Kinder ist es die einzige Mahlzeit
am Tag. Weil sie nach einem langen Schulweg und den plötzlich gefüllten
Mägen müde sind, schlafen sie oft in der ersten Schulstunde ein.
Kinder zwischen sechs und vierzehn gehen auf die Tshebedisanong Schule.
Die meisten sind fleißig, weil sie wissen, dass es die einzige Möglichkeit
ist, der Armut zu entfliehen. Viele Eltern sind arbeitslos und wissen nicht,
ob es am Abend genug zu essen gibt. Manche Eltern bangen, ob sie ihre
Kinder weiterhin auf die Schule schicken können. Neben den finanziellen
Problemen hofft George, dass sich mehr Eltern für die Schule ihrer Kinder
interessieren.
Er lädt sie regelmäßig zu Elternabenden ein, aber nur wenige kommen.
„Viele Eltern würden es lieber sehen, wenn ihre Kinder möglichst schnell
anfingen zu arbeiten“, erzählt er „und nicht ihre Zeit in der Schule vertrödelten.“ Doch die Arbeitslosigkeit in Südafrika ist so groß, dass nur der, der
Bildung besitzt, eine Zukunft hat.
Viele Schwarze haben es immer noch schwer, eine gute Bildung zu erhalten. Auch wenn die Regierung möchte, dass langfristig 80 Prozent aller
Arbeitsplätze an Schwarze vergeben werden (Black Economic Empowerment), nützt es dennoch nicht viel, wenn diese schwarze Mehrheit oft
schlecht ausgebildet oder unmotiviert ist. Das wirft andere Probleme auf,
die die wirtschaftliche Entwicklung Südafrikas auf eine harte Probe stellen, bis irgendwann vielleicht wirklich gleiche Bildungschancen geschaffen
werden.
Mittlerweile gibt es überall im Lande gemischte Schulen. Die Zeiten der
Rassentrennung sind seit dem Ende der Apartheid vor zehn Jahren offiziell
vorbei. Das gilt aber hauptsächlich für die großen Städte wie Johannesburg
und Kapstadt und für die Kinder der privilegierten schwarzen Mittelschicht,
die es immerhin bis in die Großstadt geschafft haben. In den Townships sieht
es anders aus, da hat sich in den letzten zehn Jahren, zumindest oberfläch169
Arlette Geburtig
Südafrika
lich betrachtet, nicht viel verändert. Hier sind nach wie vor die Schwarzen
und Farbigen unter sich.
Kaum ein weißer Lehrer möchte an einer Township-Schule unterrichten.
Die Kinder in der Tshebedisanong Schule haben trotzdem keine Angst vor
mir, denn der Direktor hat mich vorgestellt. Als ich Fotos mache, versucht
jeder so weit wie möglich vorne und in der Mitte zu stehen, um nur ja mit
aufs Bild zu kommen.
Nachdem George einem kleinen Mädchen freundlich den Kaugummi aus
dem Mund nimmt, erzählt sie mir, dass sie Sheila heißt und sechs Jahre alt
ist.
Ihre Schwester Happy ist neun Jahre alt. Happy will Soldatin werden „und
kämpfen“, sagt sie. Der sechsjährige Thato und sein neunjähriger Freund
Kagiso wären lieber Polizisten – „wegen der Action.“ Vermutlich haben sie
einen Fernseher zu Hause.
Die sechsjährige Sheila geht gerne zu Schule, sie will Ärztin werden.
Als ich die Kinder frage, welche Berufe ihre Eltern haben, weiß es keiner
von ihnen. Einige sagen, dass ein Elternteil arbeite, aber was der genau mache, dass wüssten sie nicht. Das ist nicht ungewöhnlich.
Der elfjährige Tshepo mag in der Schule am liebsten Trampolinturnen
und Sotho. Er will Sozialarbeiter oder Arzt werden. Doch um alle diese
Berufsziele zu erreichen, muss man viel lernen, und dafür braucht man
Bücher. George schreibt ständig Briefe an Wohltätigkeitsorganisationen
und Regierungsbehörden, in der Hoffnung, dass irgendjemand eine kleine
Spende für die Schule übrig hat. Einmal habe ein reicher amerikanischer
Professor 6.000 Dollar gespendet, die größte Summe, die die Schule je erhalten hat, erzählt George. Von dem Geld habe er eine kleine Bibliothek
gebaut und eingerichtet.
In vielen Regalen fehlen zwar noch Bücher, aber George ist zuversichtlich, dass er auch dieses Hindernis überwindet und Bücherspenden auftreiben wird.
Einen engagierten Menschen wie ihn gibt es wohl selten an so einem Ort.
Einen, der auf Karriere in der Stadt verzichtet und dort bleibt, wo er am
nötigsten gebraucht wird.
5.4. Aidsforschung im Baragwanath Hospital
Wer ein bisschen Geld hat und nicht sterbenskrank ist, der setzt in
Soweto keinen Fuß in dieses Krankenhaus. Das „Bara“, wie das Chris Hani
Baragwanath Hospital überall genannt wird, ist mit seinen 3.200 Betten das
170
Südafrika
Arlette Geburtig
größte des Landes und wurde 1941 erbaut. 520 Ärzte bringen hier jedes Jahr
fast 16.000 Babys zur Welt und behandeln alljährlich über 100.000 Notfälle.
Die Zustände in diesem Krankenhaus sind zum Großteil katastrophal. Das
meiste, was nicht niet- und nagelfest ist, wurde von Patienten und Personal
gestohlen. Bei der Ein- und Ausfahrt überprüfen Sicherheitsbeamte daher
den Inhalt meines Kofferraums. Da kein Geld für Neuanschaffungen vorhanden ist, bekommen Kranke auf den Stationen nicht einmal Decken oder
Kissen.
Dennoch ist das Baragwanath Krankenhaus für die meisten Armen die erste Anlaufstation bei Krankheiten, Verletzungen oder Schwangerschaften.
Lorraine, die Pressesprecherin, führt mich durch die vorzeigbaren Räume
des Krankenhauses. Ich bin erstaunt, dass sie schwarz ist, denn bei ihrem
akzentfreien Englisch hatte ich am Telefon eine weiße Frau vermutet.
Die riesige Notaufnahme gleicht mehr einer Bahnhofshalle. Auf Holzbänken harren über 100 Patienten und Angehörige stundenlang aus, Kinder
wimmern oder schreien. In kleinen, durch Vorhänge abgetrennten Kabinen,
sitzen Ärzte, oft auch noch Medizin-Studenten, die die Patienten behandeln.
„Besonders stolz sind wir auf unsere Aidsforschung“, erklärt Lorraine
und führt mich zu den Laboratorien des Krankenhauses.
Dr. Eftyhia Vardas ist die Leiterin eines neuen Forschungsprojektes, das
einen Impfstoff aus mehreren Komponenten entwickelt hat, der gegen den
in Südafrika am häufigsten auftretenden HIV-Subtyp „Clade C“ immun machen soll.
Die Langzeitstudien an Freiwilligen haben gerade erst begonnen, dennoch
ist Dr. Vardas optimistisch: „Die Nebenwirkungen sind sehr gering.“ Einen
Zusatzstoff bekämen sie sogar aus Deutschland, sagt sie. Das Problem sei
nur, dass alles sehr teuer wäre und selbst wenn der Impfstoff die Menschen
gegen HIV immunisieren könnte, würde er wohl nie allen Betroffenen zugänglich sein. Antiretrovirale Therapien sind daher auch im Baragwanath
Krankenhaus nicht möglich.
In einem Bereich hat das Krankenhaus allerdings die Möglichkeit, zumindest die Übertragung des HI-Virus zu minimieren. Schwangere Frauen,
die HIV-positiv sind, bekommen vor der Geburt das Medikament Nevirapin
verabreicht. Damit wird das Übertragungsrisiko von der Mutter auf den
Fötus um ca. 80 Prozent gemindert. Obwohl das Mittel, das auch unter
dem Namen Viramune bekannt ist, seit 2001 vom Hersteller Boehringer in
Ingelheim kostenlos zur Verfügung gestellt wird, weigerte sich die südafrikanische Regierung bis zu einer gerichtlichen Verurteilung in diesem Jahr,
diese antiretroviralen Medikamente schwangeren Müttern flächendeckend
zur Verfügung zu stellen.
171
Arlette Geburtig
Südafrika
Im Baragwanath Krankenhaus können die HIV-infizierten Mütter nach
der Geburt ein halbes Jahr lang kostenlos Milchpulver vom Krankenhaus
bekommen, denn Stillen wäre aufgrund des Übertragungsrisikos zu gefährlich, erläutert Lorraine. Trotzdem gibt es Mütter, die an dem alten Slogan
„Feeding by brest is the best“ festhalten. Manche stillen ihre Kinder auch
aus Angst davor, was die Nachbarn ansonsten denken könnten. Sie gehen
lieber das Risiko ein, ihr Kind mit HIV zu infizieren.
„Trotz der Aufklärungsprogramme können wir das nicht verhindern“, sagt
Lorraine, während wir wieder zur großen Halle laufen.
Jeder kann sich hier im Baragwanath Krankenhaus kostenlos auf HIV testen lassen, doch viele wollen ihren Status gar nicht kennen. Der Test ist sehr
fortschrittlich, das Ergebnis liegt bereits nach einer Stunde vor.
6. NISSA hilft misshandelten Frauen
Pontscho K. Segwai ist die Pressesprecherin von NISSA in Lenasia bei
Johannesburg. NISSA steht für „Institut for Women’s Development in South
Africa“. Die Organisation will die Autonomie von Frauen fördern und ihnen Kontrolle über ihr Leben ermöglichen, dazu gehört auch die Hilfe bei
häuslicher Gewalt.
Pontscho erzählt, dass ca. 200 Frauen im Monat NISSA um Hilfe bitten.
„Und das sind nur diejenigen, die in der Nähe wohnen. Für all die anderen
gibt es andere Hilfsorganisationen“, sagt sie. Die Frauen bekommen, wenn
nötig, auch eine vorübergehende Unterkunft und dürfen ihre Kinder (Jungs
nur bis zwölf Jahre) ebenfalls mitbringen.
Frauenmissbrauch ist zurzeit ein sehr großes Problem in Südafrika. Viele
Frauen und Mädchen werden misshandelt und sexuell missbraucht, weil
die alten Traditionen des Patriarchats noch herrschen und sie weiterhin als
Menschen zweiter Klasse angesehen werden. Die Frauen, die finanziell von
ihren Männern abhängig sind, wagen erst recht nicht, sich gegen ihre Partner
aufzulehnen. Sie riskieren Verletzungen und Krankheiten, selbst HIV, um
weiterhin finanziell versorgt zu werden.
Bei den 30- bis 40-Jährigen, die in den 70er Jahren während der Apartheid
zur Schule gingen, ist die Gewaltbereitschaft besonders hoch. Es scheint
eine Verbindung zu geben zwischen den Gräueltaten des Apartheidregimes,
die viele bis heute nicht verarbeitet haben, und den unkontrollierten
Gewaltausbrüchen. Häufig ist Alkohol im Spiel. Viele Männer sind arbeitslos und blicken in eine hoffnungslose Zukunft. Die Gewalt kommt auch in
172
Südafrika
Arlette Geburtig
den besseren Gesellschaftsschichten vor und übertrifft bei weitem das, was
wir aus den westlichen Ländern kennen.
Eine weitere Ursache ist wohl in der Entwurzelung vieler schwarzer Südafrikaner zu finden, die in den 60ern und 70ern von der weißen
Regierung in so genannte „Homelands“, weit von ihrer ursprünglichen
Heimat entfernt, umgesiedelt wurden. Jetzt wollen viele dort wieder weg.
Die Menschenströme aus den kargen Gebieten der Transkei und Ciskei in
Richtung Westkap oder nach Johannesburg reißen nicht ab. Der Motor ist
die Hoffnung auf ein menschenwürdigeres Dasein. Täglich kommen 10.000
Menschen viele von ihren Familien getrennt, an, um erst einmal Arbeit
und eine Unterkunft zu finden. Damit sind sie zunächst wieder entwurzelt.
Das führt bei vielen Männern zu Verzweiflung, Enttäuschung, Wut oder
Aggression.
NISSA hat überall Plakate aufgehängt, auf denen steht: „Real men don’t
abuse women“ oder „You are only half a man if you rape a woman“.
Bei NISSA werden die Frauen beraten, sie bekommen psychologische
Hilfe angeboten und im besten Fall kommt es nach häuslicher Gewalt sogar zu einer Paartherapie, erfahre ich von Pontscho: „Wenn alles nicht hilft
und die Frauen nicht mehr nach Hause zurückkehren wollen, haben sie bei
NISSA die Möglichkeit, auf einer Farm zu leben und Gemüse anzubauen,
wovon sie sich und ihre Kinder ernähren können. Das, was übrig bleibt,
dürfen sie verkaufen.“
Die Organisation kämpft für die Rechte und für die Gleichberechtigung
von Frauen und will ihnen allen beibringen, sich selbst wertzuschätzen und
als gleichberechtigte Individuen zu sehen. Dazu ist gerade in den unterentwickelten ländlichen Regionen noch viel Arbeit nötig.
Pontscho ist 25 und sagt, sie sei aus Überzeugung immer noch Jungfrau, da
sie sich auf keinen Fall einem Mann unterwerfen wolle. In ihrer TownshipKindheit musste sie für ihre vier Brüder kochen, waschen und putzen, weil
sie das einzige Mädchen in der Familie war. Gegen diese Ungerechtigkeit,
die mit dem tradierten Rollenverständnis einhergeht, lehnt sie sich noch
heute auf. Außerdem könne sie keinem Mann vertrauen, denn die Männer
seien alle gleich und benähmen sich wie Tiere. Vergangene Woche sei ihre
Freundin vergewaltigt worden. Gemeinsam hätten sie den vermeintlich
harmlosen jungen Mann kennen gelernt und weil Pontscho glaubte, ihm
vertrauen zu können, habe sie die Freundin mit ihm alleine gelassen. Ein
Fehler, den sie zutiefst bereue. Sie habe die Freundin aber später dazu bringen können, zur Polizei zu gehen und den Täter anzuzeigen. Jetzt hoffen
beide darauf, dass er bestraft wird.
173
Arlette Geburtig
Südafrika
7. HIV ist überall – Hintergründe und Gespräche zur Aidspandemie
Fünf Millionen Menschen in Südafrika sind HIV-positiv. Darunter sind
1,8 Millionen Kinder. Etwa 1.600 Menschen stecken sich in Südafrika jeden Tag mit dem Virus an. Im Jahr 2005 werden nach Schätzungen sechs
Millionen SüdafrikanerInnen HIV-positiv sein. Nach Angaben der UNO
wird die durchschnittliche Lebenserwartung in den nächsten Jahren aufgrund der Krankheit von heute 57 Jahren auf 48 Jahre sinken.
7.1. Community Aids Center Hillbrow
Viele Interviews führen mich nach Hillbrow, einem berüchtigten
Schwarzen-Viertel in Johannesburg, in dem besonders viel Kriminalität
herrscht. Hillbrow ist die erste Anlaufstation von Arbeitsuchenden aus dem
ganzen südlichen Afrika, die die Townships schon hinter sich gelassen haben.
Diesmal bin ich mit meinem Autowrack an misstrauischen Gesichtern
vorbei in die Esselin Street zum Community Aids Center gefahren.
Maria Sbanyoni, die Pressesprecherin, begrüßt mich und erklärt, dass das
Zentrum 1984 als Aidsinformations- und Trainingsort eingerichtet wurde.
Es ist das Erste in der ganzen Provinz Gauteng. „Mit Hilfe von Spenden haben wir das Zentrum ausgebaut, so dass wir neben Patienten mit HIV auch
solche mit sexuell-übertragbaren Infektionen oder mit Tuberkulose beraten
können. Außerdem unterstützen wir hier Frauen bei der Familienplanung.
Zu unserem Angebot gehört auch der freiwillige HIV-Test und die Therapie
in Gruppen“, erklärt Maria.
Weil sich HIV immer mehr ausbreitet, gibt es mittlerweile unzählige solcher Zentren, die im ganzen Land verteilt sind.
Etwa 4.000 Patienten kommen monatlich alleine ins Aids Center Hillbrow.
„Das Hauptproblem hier ist die Migration. Dieses Viertel ist die erste Station
für Ausländer und Menschen aus anderen Provinzen, die Arbeit suchen“, erzählt Maria in sehr einfachen englischen Sätzen, deren schwarzafrikanische
Herkunft man tatsächlich hören kann.
Hillbrow ist eine Durchgangsstation, kaum einer bleibt für immer.
Fernab ihrer Familien hätten viele Männer sexuelle Kontakte und auch die
Vergewaltigungsrate sei hier besonders hoch.
Kostenlos bekommt jeder Kondome, die vom Gesundheitsministerium
gespendet werden. Manchmal hat Maria schon gesehen, wie Patienten die
Kondome abends auf der Straße weiter verkaufen.
„Es ist noch viel Aufklärung nötig. Viele Männer wissen nicht einmal,
wie ein Kondom verwendet wird. Andere wollen es nicht benutzen, denn
174
Südafrika
Arlette Geburtig
da seien Würmer drin. Wieder andere behaupten, die Kondome seien mit
HIV infiziert oder Männer, die Kondome gebrauchten, seien keine richtigen
Männer. Diese Vorstellungen und Vorurteile gibt es überall“, erzählt Maria
lachend.
Eine gut aufgeklärte Gruppe dagegen seien die „Sexworkerinnen“,
die auf den Straßen arbeiteten, erzählt Maria weiter. Sie könnten in dem
Aidszentrum kostenlos Frauenkondome bekommen, die in die Vagina eingeführt werden und das Infektionsrisiko um 90% mindern. „Jeden Monat
verteilen wir 2.500 Frauenkondome und über 700.000 Männerkondome.“
Die Männerkondome seien allerdings benutzerfreundlicher und darum auch
sicherer, meint Maria.
„Werden die Infizierten hier auch medizinisch versorgt?“, möchte ich wissen. „Nein, für so etwas müssen wir die Leute zu einer anderen Einrichtung
schicken. Dazu reicht unsere Kapazität nicht aus. Bei den Gesundheitsämtern
bekommen sie Vitamine und Prophylaxen gegen die Infektionen“ erklärt
Maria. „Der Fokus liegt bei uns auf der Prävention, darum beraten wir
Betroffene und organisieren Selbsthilfegruppen.“
„Aufklärung ist alles“, davon ist Maria überzeugt. „Wir reden mit den
Leuten über Verhütung und sogar Abstinenz. Es muss eine Veränderung
in den Köpfen der Menschen stattfinden, sonst kann HIV/Aids nicht gestoppt werden.“ Ob sie diesbezüglich optimistisch oder pessimistisch in die
Zukunft blicke, möchte ich von Maria wissen. „Sehr optimistisch“ antwortet
sie, “irgendwann werden wir ein Heilmittel finden!“
7.2. Geduld ist eine Tugend - das Treffen mit Angie Diale
In Südafrika muss ich oft auf Gesprächspartner warten. Bisher hat mich
aber noch nie jemand geschlagene vier Stunden warten lassen und das auch
noch bei einem Treffpunkt auf offener Strasse.
Ich habe mich mit der Managerin einer Aidshilfeorganisation in Soweto
verabredet. Sie ruft mich innerhalb der vier Stunden mehrfach auf meinem
Handy an, um mir mitzuteilen, sie sei unterwegs oder gleich da, sie habe
sich verfahren, es würde nicht mehr lange dauern und sie habe eine Freundin
vorgeschickt. Nach drei Stunden glaube ich ihr nichts mehr, aber die pure
Neugier, was sie für eine unglaublich unverschämte Person sein muss,
lässt mich ausharren. Und dann kommt sie tatsächlich noch, Angie Diale,
eine knapp 40-Jährige, gut aussehende Frau in einem bunten traditionellen
Xhosa-Gewand. Sie hat tatsächlich eine Freundin mitgebracht, ebenfalls traditionell gekleidet.
175
Arlette Geburtig
Südafrika
Meine anfängliche Reserviertheit und Skepsis weicht bald purem Erstaunen, denn Angie Diale ist eine ungewöhnlich aktive Person. Sie entschuldigt
sich mehrfach für die Verspätung, das sei auch ihr noch nie passiert. Nach
der ersten Tasse Tee in einem Restaurant bricht allmählich das Eis.
7.3. HIV – vor allem ein Problem der Armen
„Ich bin HIV-positiv und mein jüngster Sohn ebenfalls“, erzählt Angie
Diale, die Koordinatorin des HIV-/Aidsprogramms von World Vision in der
Soweto Region Orlando East. Sie ist eine der immer noch wenigen Menschen, die sich öffentlich zu ihrem Status bekennen. Die 39-jährige XhosaFrau hat sich vor etwa acht Jahren bei ihrem Ehemann infiziert, als beide
nach einer Ehekrise wieder zusammen kamen. „Ich hatte nie einen anderen
Mann außer ihn“, versichert sie. Als er die Vaterschaft ihres dritten Kindes
plötzlich leugnete, wusste sie, dass etwas nicht stimmen konnte. Doch erst
als ihr 18 Monate altes Baby krank wurde und in die Klinik musste, erfuhr
sie, was los war. „Er muss sich nicht bei mir entschuldigen“, sagt sie über
ihren Ex-Mann. „Denn ich war ja seine Frau und musste wie alle anderen
Frauen die Infektionen und Krankheiten hinnehmen. Aber unserem Kind
hätte er das nicht antun dürfen. Wenn er mir gesagt hätte, dass er HIV-positiv ist, hätte ich unserem Kind nicht die Brust gegeben. Dann wäre das Virus
vielleicht nicht übertragen worden.“ Nach der Trennung lebt Angie Diale
jetzt mit den drei Kindern bei ihrer Mutter. Sie setzt sich für HIV-infizierte
Menschen ein und arbeitet an zahlreichen Hilfsprogrammen mit.
Die ehemalige Krankenschwester ist eine von ca. fünf Millionen Menschen
in Südafrika, die mit dem HI-Virus infiziert sind. Das sind mehr Menschen
als in der übrigen Welt.
Zwei Drittel aller infizierten Südafrikaner sind Frauen und Mädchen.
Die Verbreitung des Virus in Südafrika ist regional unterschiedlich. Die
meisten HIV-/Aidskranken gibt es in den Provinzen KwaZulu-Natal und
Mpumalanga. In ländlichen Gebieten, wo die wirtschaftliche Not und die
Arbeitslosigkeit am größten sind, gibt es teilweise HIV-/Aidsraten von bis
zu 80 Prozent.
Die wirtschaftlichen Folgen von HIV/Aids sind absehbar. Die Schere
zwischen Arm und Reich klafft ohnehin schon weit auseinander. Derzeit
liegt die Arbeitslosenquote bei ca. 35 Prozent.
Die Erwerbsbevölkerung wird durch HIV weiter abnehmen. Bei unqualifizierten Arbeitskräften sind die Infektionsraten am höchsten, aber
auch gut ausgebildete Kräfte sind betroffen, so dass das wirtschaftliche
Wachstum zurückgehen wird, was dem Land großen Schaden zufügt. Einige
176
Südafrika
Arlette Geburtig
Unternehmen wie Daimler-Chrysler reagieren zwar auf die Pandemie und
haben Aidsprogramme für die Mitarbeiter gestartet: kostenlose Tests,
Aufklärung, medizinische Versorgung und Risikomanagement durch optimierte Sozialleistungen. Doch das ist momentan nur ein Tropfen auf den
heißen Stein.
Am meisten beunruhigt Angie Diale der Anstieg der Neuinfektionen bei
Jugendlichen: “Sie praktizieren ungeschützten Geschlechtsverkehr, probieren herum und haben häufig mehrere Partner gleichzeitig. Viele junge
Mädchen werden schwanger und tragen bereits HIV-infizierte Babys aus.“
Als Grund hierfür nennt sie die mangelnde Wirkung von Aufklärungskampagnen. Obwohl das Virus hauptsächlich durch Geschlechtsverkehr übertragen wird, weigern sich viele Männer, Kondome zu benutzen.
Die in Südafrika immer noch vorherrschenden patriarchalischen Gesellschaftsstrukturen spielen zweifelsohne eine große Rolle bei der Verbreitung
von HIV/Aids. Finanzielle Abhängigkeit vom Partner erhöht bei Frauen
das Risiko der Virusinfektion, denn unter Umständen haben sie überhaupt
keine Handlungsmöglichkeiten, wenn es um Sex geht. Selbst wenn sie
über Verhütung Bescheid wissen, trauen sich viele Frauen nicht, mit ihren
Männern darüber zu reden, aus Angst sie würden dann der Untreue bezichtigt und geschlagen werden. Außerdem muss eine gute Frau fruchtbar sein,
was die Verhütung und den Gebrauch von Kondomen schwierig macht.
Je ärmer eine Frau ist, desto höher ist das Aidsrisiko. Gerade in den
Townships werden Frauen besonders häufig Opfer sexueller Übergriffe.
Auf der anderen Seite ist in den letzten Jahren eine Art Frauenbewegung
in Südafrika entstanden, die viele junge Frauen selbstbewusster gemacht
hat. Nicht zuletzt durch das staatliche „Affirmative-Action-Programm“ sind
heute mehr schwarze Frauen berufstätig und damit finanziell unabhängig.
Unter ihnen findet man immer mehr, die sich in sexueller Hinsicht sehr
aufgeklärt verhalten und über ihre Rechte als Frau (die auch in der neuen
Verfassung stehen) Bescheid wissen. Diese Frauen leben vor allem in größeren Städten und weniger in den ländlichen Gebieten.
Das Virus unterscheidet nicht nach Arm und Reich. Allerdings sorgt ein
höherer Bildungsstand, insbesondere bei Frauen, für eine bessere Gesundheitsaufklärung und damit könnte die Zahl der Neuinfektionen langfristig
auch wieder sinken, wie Beispiele aus anderen afrikanischen Ländern, etwa
Uganda, zeigen.
Ein zentrales Problem bei der Bekämpfung von HIV/Aids ist in Südafrika
das Tabu-Thema Sex.
Für viele Männer und Frauen ist es schwer, offen über Sex zu sprechen
und erst recht, ihren HIV-Status offen zu legen. Die Angst vor gesellschaftlicher Ächtung ist nach wie vor groß. Viele befürchten, von der Familie
177
Arlette Geburtig
Südafrika
und ihren Freunden verstoßen zu werden oder ihre Arbeit zu verlieren, so
wie es Angie Diale passiert ist, deren Kolleginnen sie beim Vorgesetzten
anschwärzten.
Sie hat vier Jahre gebraucht, um ihrer Mutter zu erzählen, dass sie HIVpositiv ist. „Die Diskriminierung und Stigmatisierung von HIV muss gebrochen werden“, fordert Angie Diale. „Die Leute müssen öffentlich bekennen können, dass sie HIV haben und Familien müssen lernen, das zu
akzeptieren. Wenn wir lernen, HIV zu akzeptieren, dann wird es unser
Leben verändern und verbessern, vor allem, wenn allen Betroffenen die
Medikamente zugänglich gemacht werden“ meint sie und spielt damit auf
das neue Aidsprogramm der Regierung an, das antiretrovirale Medikamente
in einigen Jahren flächendeckend zur Verfügung stellen will. Bisher konnten sich nur wohlhabende und privat versicherte Südafrikaner Medikamente
leisten, die den Krankheitsprozess verzögern.
Zwar legt die Verfassung fest, dass alle schwangeren Frauen Zugang zu
antiretroviralen Arzneimitteln haben sollen, doch aus Mangel an finanziellen Ressourcen und Einrichtungen, vor allem in den Townships und den
ländlichen Gebieten, ist dies nicht gewährleistet. Längst haben nicht alle
Menschen mit HIV/Aids in Südafrika die gleichen Möglichkeiten.
Angie Diale will dafür kämpfen, dass auch die Armen besser versorgt
werden.
Der Kampf für alle Betroffen hat Angie Diale noch stärker gemacht.
„Eigentlich bin ich sogar dankbar für das HIV-Virus“, sagt Angie Diale,
denn das Virus hat mein Leben von Grund auf verändert. Ich arbeite jetzt
in dem Umfeld, das ich liebe und in dem ich mich weiter entwickeln kann.
Es klingt ironisch, aber das HIV-Virus hat mir ein besseres Leben gegeben
und ich hoffe, noch lange genug zu leben, um viele Menschen aufklären zu
können.“
7.4. Aids ist auch ein kulturell bedingtes Problem
„Bisher hat man kulturelle Gründe viel zu wenig in der Aidsdebatte beachtet“, sagt der Südafrika-Korrespondent Wolfgang Drechsler, der seit 20
Jahren in Südafrika lebt: „Nicht nur weil man in Afrika nur schwer über
Sexualität spricht, sondern auch, weil man auf weißer Seite ein großes
Problem hat, kulturelle Praktiken anderer Kontinente und Länder zu analysieren, hat man sich jahrelang darum gedrückt und viele Mythen in die Welt
gesetzt. Das hat Afrika nicht gut getan und vermutlich dazu beigetragen,
dass diese Aidsepidemie so weit fortgeschritten ist.“
HIV wird in Südafrika hauptsächlich sexuell übertragen. Es ist hinläng178
Südafrika
Arlette Geburtig
lich bekannt, dass viele Schwarze an Geschlechtskrankheiten leiden, was
auch durch die fehlende Hygiene, die Übertragung erleichtert. Verschiedene
Sexualpraktiken, die u.a. kulturell begründet sind, fördern die Verbreitung
des Virus. So zum Beispiel die Witwenerbschaft: stirbt der Ehemann, heiratet einer der Brüder oder Cousins die Witwe, um diese und ihre Kinder zu
versorgen. Der neue Ehemann muss die Witwe dann praktisch „reinschlafen“. Das bedeutet, wenn die Frau Aids hat, wird es auf diese Weise weitergegeben. Des Weiteren verlangen viele Männer von ihren Frauen „dry sex“:
Die Frauen trocknen ihre Vagina mit verschiedenen Mitteln (z. B. Putzmittel,
Salz, Baumwolle) aus. Das führt zu Risswunden in der Vagina und zerstört
den Bakterienhaushalt der Scheidenflora; beides erhöht natürlich die Gefahr
der Krankheitsübertragung.
Weit verbreitet ist in Südafrika die Polygamie. Besonders gefährlich sind
gleichzeitig geführte sexuelle Partnerschaften dann, wenn jemand eine
frische HIV-Infektion hat. Denn diese ist besonders ansteckend und der
Betroffene wird mit höherer Wahrscheinlichkeit andere Partner anstecken.
Außerdem ist gerade bei traditionellen Südafrikanern die Jungfräulichkeit
sehr hoch angesehen, weshalb manche Mädchen nur Analverkehr praktizieren, was durch die Verletzungsgefahr das Infektionsrisiko deutlich erhöht.
Besorgniserregend sind auch die hohen Vergewaltigungsraten. Selbst Babys
und Kleinstkinder werden sexuell missbraucht. Es wird vermutet, dass
dies häufig geschieht, weil die Täter glauben, Aids könne durch Sex mit
einer Jungfrau geheilt werden (dieser Glaube wird häufig von traditionellen
Heilern, „Sangomas“, verbreitet). Eine steigende Zahl junger Mädchen ist
infolge dessen HIV–positiv.
Auch soziale Faktoren spielen bei der Verbreitung von Aids eine Rolle,
wie die Arbeitsmigration: viele Männer arbeiten entfernt von ihren Familien
in Minen oder sind als Wanderarbeiter unterwegs und haben außereheliche
Kontakte, z. T. mit Prostituierten.
Allein in die Westkap-Region kommen jede Woche 10.000 Menschen in
der Hoffnung auf eine Arbeit und bessere Lebensbedingungen.
„Die Gesellschaft wurde in ihren Grundfesten während der Apartheid
zerstört“, erklärt Wolfgang Drechsler. „Teilweise hat es durch Apartheidspraktiken, teilweise durch die Wanderung vom Land in die Stadt, enorm
viele soziale Verschiebungen gegeben, die in Kombination mit kulturellen
Faktoren wie Polygamie etc. die Ausbreitung von Aids erklären können.“
Diese kulturellen und sozialen Aspekte müssten viel stärker in die
Aidsdebatte miteinbezogen werden, glaubt Wolfgang Drechsler. Nur so
könne man neue, wirksamere Methoden zur Prävention finden.
Das ist keine leichte Aufgabe, wenn selbst die Regierung nicht offen
Stellung bezieht. Lange Zeit hat Präsident Thabo Mbeki öffentlich die
179
Arlette Geburtig
Südafrika
Meinung vertreten, dass HIV mit Aids nichts zu tun habe und Aids im
Wesentlichen ein Armutsproblem der schwarzen Bevölkerung sei. „Der
Grund liegt bei der damit verbundenen Stigmatisierung“, vermutet Wolfgang
Drechsler: „Mbeki wehrt sich dagegen, dass Schwarze von Weißen als
ausschweifende, lüsterne, promiskuitive Wesen gesehen werden. Dieses
Stereotyp versucht er zu brechen, indem er dementiert, dass der eigentliche
Grund ein Virus ist, der sexuell übertragen wird.“
Dabei sind selbst Regierungskreise nicht von der tödlichen Immunschwächekrankheit verschont geblieben. So ist z.B. der Sprecher von Thabo
Mbeki sehr jung an einer plötzlichen Krankheit verstorben. Auch der ehemalige Chef der Jugendliga des ANC, Peter Mokaba, ist vor zwei Jahren an
Aids gestorben, ohne es öffentlich einzugestehen. „Es wurde dann allgemein
gesagt‚ er sei plötzlich erkrankt“, erzählt Wolfgang Drechsler. „Skandalös
ist, dass Mokaba zum Ende seines Lebens im Parlament noch die MbekiPolitik vertreten hat und behauptete, dass nicht das HI-Virus der eigentliche
Verursacher von Aids sei. Um sein eigenes Schicksal zu vertuschen, hat er
lieber neue Mythen in die Welt gesetzt.“
Was Südafrika dringend brauche, seien Vorbilder, fährt Wolfgang Drechsler
fort. Das seien Leute, wie der weiße Richter am Verfassungsgericht, Edwin
Cameron, der öffentlich eingestanden hat, homosexuell und HIV-positiv zu
sein. „Edwin Cameron ist meines Wissens jetzt schon seit 20 Jahren HIVinfiziert und lebt.“
Eine Verhaltensänderung kann nur erfolgen, wenn es eine gesellschaftsfähige Debatte gibt, wenn sich keiner mehr zu schämen braucht. Die Einbindung von Prävention und Betreuung Aidskranker innerhalb der ganzen
Gemeinde ist wichtig. „Das ganze Land muss hier an einem Strang ziehen,
aber bis dahin ist es noch ein weiter Weg.“
8. Themba Labantu – Ein Pfarrer im wilden Westen
Nyanga ist ein Township bei Kapstadt. Nyanga ist das Xhosa-Wort für
„Mond“, aber die Menschen in diesem Township erleben eines noch häufiger als den Mond, nämlich Mord. „In Nyanga gibt es die höchste Mordrate
am ganzen Westkap“, erzählt mir Otto Kohlstock, während wir in seinem
alten BMW durch das Township fahren. Vorsichtshalber macht selbst er die
Knöpfchen runter –„man weiß ja nie.“
Überall stehen Baracken aus Wellblech und Pappe, bunt zusammengewürfelt, manchmal nur mit losen Brettern oder etwas Stacheldraht voneinander
getrennt. Die Straßen sind staubig, Kinder spielen mit alten Autoreifen am
Wegesrand. Schilder mit Straßennamen gibt es selten.
180
Südafrika
Arlette Geburtig
Wer hier unbeschadet herauskommen will, muss seinen Weg sehr genau
kennen. Anhalten kann tödlich sein. „Nicht aus Hass der Schwarzen gegenüber den Weißen, sondern schlicht aus bitterer Armut oder aus Langeweile
überfallen Jugendliche Autos, denn die meisten hier haben keine Arbeit und
lungern herum“ sagt Otto.
Wir kommen in Philippi, einem anderen, jungen Township an, das erst
in den 80er Jahren als Squattercamp entstanden ist, also einer informellen
Siedlung aus einem Meer von einfachsten Blech-Baracken. Damals sind
viele Menschen vor der Gewalt in einem benachbarten Township hierher geflohen. Wir halten an einem kleinen weißen Kirchengebäude, das einst von
weißen Missionaren errichtet wurde und jetzt der schwarzen Lutherischen
Gemeinde hier gehört.
Otto ist seit einem Jahr der weiße Pfarrer dieser schwarzen Gemeinde.
Das ist ungewöhnlich.
Wir befinden uns in der „Eisleben Road“, die nach dem Geburtsort Martin
Luthers benannt ist und vor dem “Group Areas Act“5 in den 50er Jahren
sogar von Obst- und Gemüsebauern aus der Lüneburger Heide über ein
Jahrhundert lang bewohnt worden war, bis die Weißen umgesiedelt und entschädigt werden mussten. Für Otto ist es genau der richtige Ort für soziale
Arbeit.
Stolz erzählt er, dass er der letzte Missionar des Berliner Missionswerkes
sei. Vor einem Vierteljahrhundert kam er aus der damaligen DDR hierher,
um den Menschen in Südafrika zu helfen. Seitdem hat er nie an Rückkehr
gedacht.
„Themba Lambantu“ heißt das Community Centre (Gemeindezentrum),
das Otto Kohlstock seit einem Jahr leitet. Es bedeutet: „Hoffnung für die
Menschen“.
Wir werden von Madiba, seinem Hausmeister, begrüßt, mit dem Otto ein
paar Worte auf Xhosa spricht. Die Sprache, die am Westkap am meisten gesprochen wird, hat er jahrelang an der Kapstädter Uni gelernt. Auch ich werde gleich freudig mit dem typischen Händedruck begrüßt, bei dem man erst
die gekrümmten Finger ineinander hakt und dann die Daumen als Zeichen
der Sympathie mehrfach gegeneinander presst.
Zahnlücken blitzen aus dem dunklen Gesicht auf, als ich Madiba mit meinen paar Brocken Zulu begrüße: „Sawubona! Unjani.“ Er bricht in schal-
5 Der „Group Areas Act“ von 1950 war eine Steigerung des „Black Urban Areas Act, der die räumliche
Trennung von Schwarzen und Weißen im Sinne der Apartheid vorantrieb. Den ethnischen Gruppen wurden unterschiedliche Wohngebiete in den Städten zugewiesen und jedem Bürger Südafrikas untersagt, in
dem Wohngebiet einer anderen Rasse zu wohnen oder Eigentum zu haben.
181
Arlette Geburtig
Südafrika
lendes Gelächter aus. Nachdem er sich wieder beruhigt hat, antwortet er auf
Xhosa, doch ich verstehe kein Wort. Ich gebe ihm alte Kleidungsstücke und
Süßigkeiten für die Kinder als Gastgeschenke.
Madiba Madikizela gehört zur Familie des ersten demokratischen
Präsidenten und Volkshelden Nelson Mandela, worauf er sehr stolz ist. Er
passt auf, dass auf dem Gelände alles seine Ordnung hat.
Zuerst zeigt Otto mir sein Büro, das sich im zweiten Stock des kleinen
Kirchengebäudes befindet. Dort herrscht ein großes Durcheinander. Seine
Spezialität sei es, alles zu verlieren, sagt Otto lachend und wirkt dabei wesentlich jünger als seine tatsächlichen 49 Jahre.
Von seinem winzigen Fenster aus kann man den Tafelberg sehen, obwohl
wir etwa 20 km von Kapstadt entfernt sind.
Otto, der schwarze Jeans und ein schwarzes T-Shirt trägt, sowie, passend
zu seinen deutschen Wurzeln, dunkelblaue Socken in offenen Sandalen, hat
schon einiges erreicht.
Bei seinem Organisationstalent und Engagement hat er alte Projekte wieder zum Leben erweckt und neue geschaffen.
8.1. Die Suppenküche von Philippi
„Das Wichtigste ist die Suppenküche“ erzählt Otto. Die habe er eingerichtet, nachdem er sehr zu seinem Erschrecken festgestellt hatte, dass in
Nyanga Hunger das allergrößte Problem sei.
„Die Menschen auf der Straße haben mich immer nach etwas zu essen
gefragt und die Kinder haben richtig elend ausgesehen. Wenn ich Menschen
in ihren Shacks besucht habe, konnte ich die Not kaum fassen“, sagt er.
„Wenn ich sie fragte, was sie am Morgen gegessen hätten, bekam ich meist
die Antwort: ‚Nichts!’ Und auf die Frage: ‚Was wirst du heute Abend essen?’, hieß es: ‚Ich weiß noch nicht. Vielleicht haben die Nachbarn etwas
und geben uns davon ab.’“
Mittlerweile kochen drei Frauen täglich in einem kleinen Container,
auf dem in großen Buchstaben „Suppenküche“ steht, warmes Essen. Eine
Köchin ist Mutter von zehn Kindern und sehr glücklich, dass diese jetzt immer etwas zu essen haben und sie sogar noch ein paar Rand dazu verdienen
kann. Kinder bekommen die Mahlzeit umsonst und es kommen über hundert hungrige Kinder täglich nach der Schule zur Suppenküche. „Eigentlich
sollte es von der Regierung Schulspeisung geben, doch irgendwie scheint
das nicht richtig zu funktionieren“, murmelt Otto. Erwachsene müssen das
Essen bezahlen. 40 südafrikanische Cent für einen Teller Suppe und 60 Cent
für Gemüse und Maisbrei (Papp), umgerechnet nicht einmal sechs deutsche
182
Südafrika
Arlette Geburtig
Cent. Es sei wichtig, dass Erwachsene etwas bezahlen müssten, denn „erstens ist es eine Frage des Stolzes und zweitens wüssten sie es nicht zu schätzen, wenn es umsonst wäre“ glaubt Otto. Außerdem gibt es noch einen speziell mit Mineralien und Vitaminen angereicherten “E-Papp“, den vor allem
Kranke bekommen, die sonst ihre Medikamente bei Tuberkulose und Aids
auf nüchternen Magen nehmen würden.
„Von den Einnahmen werden die Angestellten bezahlt“ erklärt Otto, während wir zu dem grünen Küchen-Container laufen, vor dem schon eine Hand
voll Kinder auf ihr Essen wartet.
Sie trinken Milch, von der Otto eine ganze Ladung von einem Supermarkt
geschickt bekommen hat, weil das Verfallsdatum abgelaufen ist. Sie sei aber
noch eine Weile haltbar, sagt er.
Hinter der Kirche am Rande des Grundstückes hat Otto Kohlstock mit
Hilfe von Spendengeldern einen Gemüsegarten angelegt, den jetzt zehn
Familien bewirtschaften. Sie ernähren sich von dem geernteten Salat, den
Rüben und was sonst noch dort wächst. Was übrig bleibt, verkaufen sie.
Außerdem gibt es noch einen Kindergarten für behinderte Kinder auf
dem Gelände, doch der war schon vorher da und wird von NGOs (NonGovernmental Organisations) geleitet, erzählt Otto.
Mit den angrenzenden Räumen hat Otto aber noch einiges vor. Für die
Aidskranken, die niemanden haben, der sich um sie kümmert, möchte er ein
Hospiz gründen. Zunächst sollen nur acht Betten belegt werden. Diejenigen,
denen es besser geht, sollen sich um die Kranken im Endstadium kümmern
und in den Tod begleiten.
8.2. Wie Weihnachtssterne HIV-Infizierten helfen
Neben dem Kirchengebäude hat Otto Kohlstock eine Art Bastelstube eingerichtet, in der 18 Frauen und Männer unterschiedlichen Alters an einem
langen Tisch sitzen und aus Draht, Schnur und winzigen Perlen Weihnachtssterne und Kugeln basteln (für freundliche Menschen in Deutschland, die
das Projekt unterstützen und den recht teuren Weihnachtsschmuck für
fünf bis sieben Euro an Freunde und Bekannte verkaufen). Zuerst biegen
sie den Draht in die richtige Form und fädeln dann winzige Perlen mit einer Nadel auf einen Faden, den sie um die jeweilige noch freie Stelle des
Drahtgestelles wickeln. Ein etwa handtellergroßer Stern besteht aus mehreren hundert Perlen, so dass es bei sorgfältiger Arbeit mehrere Stunden
dauert, bis er fertig ist.
183
Arlette Geburtig
Südafrika
Alle haben eines gemeinsam: sie sind HIV-positiv. Von dem Weihnachtsgeschäft im letzten Jahr konnte Otto sie sozusagen fest anstellen und pro
Stern oder Kugel bekommen sie nun immerhin 20 Rand (ca. 2,50 Euro). Zwei
bis drei Sterne schaffen sie am Tag und damit erhalten sie mehr als sie anderswo verdienen würden. Um dieses Handwerk zu erlernen, sind die Bastler
geschult worden. Die Frauengruppe SEWU aus dem Nachbartownship
Guguletu hat sie dabei unterstützt.
Eine der Frauen, die besonders gesprächig ist, vor allem als Otto den Raum
verlassen hat, um seine Arbeit zu erledigen, erzählt, dass ihre Familie nichts
von ihrer Krankheit wisse und alle denken, sie hätte einen „normalen“ Job
hier. Die beiden jüngsten Mädchen in der Gruppe sind 20 und 22 Jahre alt.
Sie seien die einzigen Jungfrauen, scherzt die Ältere und lacht. Eine von ihnen würde heimlich sogar am Wochenende arbeiten und Sterne basteln, um
mehr Geld zu bekommen, sagt eine andere Frau mit einem neidischen Blick
auf ihre Nachbarin, die unbeeindruckt weiterarbeitet.
Die Idee des Projektes ist, HIV-infizierten Menschen die Möglichkeit
zu geben, sich mit etwas Sinnvollem zu beschäftigen und außerdem ihr
Schicksal und ihre Sorgen mit Leidensgenossen zu teilen, klärt mich der
Pfarrer später auf. Ich erzähle ihm, dass eine der Frauen sich bei mir beschwert hätte, sie würden zu wenig Geld verdienen. Otto antwortet, dass die
HIV-Kranken sich allmählich als etwas ganz Besonderes vorkämen, weil
sie überall Unterstützung bekämen. Besucher aus anderen Ländern kämen
hauptsächlich ihretwegen vorbei, brächten Geschenke mit, so dass sie langsam etwas übermütig würden. Andere Notleidende hätten dagegen gar keine
Chance, an Jobs, Kleidung oder Lebensmittel zu kommen.
8.4. Township-Schicksale
Später zeigt mir Otto eine Mitarbeiterin auf dem Gelände, die vor anderthalb Jahren von mehreren Männern in ihrem Shack vergewaltigt wurde und
sich dadurch mit HIV infiziert hat. So etwas passiere in einem Township
tagtäglich, sagt Otto, aber das ließe sich in absehbarer Zeit auch nicht ändern. Im gleichen Monat seien ihre Eltern bei einem Autounfall ums Leben
gekommen.
Ein 16-jähriges Mädchen, das aufgrund seiner Unterernährung aussieht
wie 14, sei vor einer Woche in einem elenden Zustand hier angekommen.
Es sei obdachlos und wäre zusammengeschlagen worden. Dieses Mädchen
darf jetzt mit in dem kleinen Gemeindehaus von Madiba wohnen und Otto
will sich darum kümmern, dass es zur Schule gehen kann. Leider gibt es
ein Problem: die Schule in der Nähe hat schon 70 Schüler zuviel auf der
184
Südafrika
Arlette Geburtig
Liste, die auf einen Platz warten. Aber da Otto weiß ist und überdies Xhosa
spricht, öffnen sich ihm viele Türen, meint er zuversichtlich als er das
Zeugnis des Mädchens der Sekretärin des Schuldirektors überreicht, der in
einer Besprechung ist.
„Viele Probleme hier resultieren auch aus einer schlechten Angewohnheit
der Schwarzen“, glaubt Otto. Eine Folge der Apartheid sei die Unmündigkeit
vieler Schwarzer. Sie habe vor allem bei den ärmeren Schichten zu einer
Haltung des „Handaufhaltens“ geführt, die bis heute weit verbreitet sei.
„Andere sind verantwortlich und schuld an meiner Situation“, sei eine gängige Überzeugung.
Sogar Sprachstudien belegen das. Wenn ein Xhosa oder Zulu den Bus verpasst, so wird er immer sagen: „Der Bus ist mir davon gefahren“ oder „er
hat mich nicht mitgenommen“, die meisten Schwarzen, vor allem in den
Townships, verwenden für Aktionen gerne die Passivform.
Statt selbst in Aktion zu treten, überlassen es viele lieber den anderen.
Ehrgeiz ist selten, dafür ist Neid umso größer. Aus Neid auf den Besitz des
Nachbarn werden tagtäglich zig Shacks in den Townships in Brand gesetzt.
9. Radio Zibonele
In Khayelitscha, dem zweitältesten Township in Südafrika, 30 km
vom Zentrum Kapstadts entfernt, befindet sich das „Community Radio“6
Zibonele, das vor zwölf Jahren als Piratensender ein Gesundheits- und
Aufklärungsprogramm für die Townships ins Leben gerufen hat. Mittlerweile
besitzt es eine offizielle Lizenz.
Eva Bendix, auch eine Heinz-Kühn-Stipendiatin, hat 1997 über dieses
Township-Radio berichtet. Ich möchte wissen, was aus dem Projekt geworden ist und verabrede mich mit Epaph Mbasi, dem Geschäftsführer von
Radio Zibonele in Khayelitscha.
Statt verwahrloster Shacks, wie in den anderen Townships, gibt es hier
kleine Steinhäuschen. Nur wenige sind noch aus Wellblechpappe. Sie alle
stehen ordentlich nebeneinander und bilden eine kleine Siedlung. Town two
ist einer der älteren Stadtteile Khayelitschas. Wer hier wohnt, hat es schon
geschafft, dem allergrößten Elend zu entkommen.
Die Menschen schauen offen und neugierig in mein Auto, nicht misstrau6 Community Radios sind keine kommerziellen Sender. Sie wollen Konsens erzeugen, die Demokratie
stärken und vor allem Community schaffen – daher der Name Community Radio. Sie werden z.T. durch
staatliche Förderprogramme unterstützt. Sie senden in Dörfern oder Stadtteilen, in denen auch ihre
Moderatoren leben, daher sind sie am täglichen Geschehen sehr nah dran.
185
Arlette Geburtig
Südafrika
isch wie sonst. Doch Straßen abzuzählen gilt es auch hier, denn Schilder
gibt es keine.
Noch immer befindet sich Radio Zibonele in dem blau gestrichenen
Container, den auch Eva schon besucht hat.
“Molo, kunjani?“ (wie geht’s?), begrüßt mich lässig ein junger Mann mit
Dreadlocks auf Xhosa und außer “ngikhona“ (danke gut), weiß ich keine
Antwort, und das ist auch noch Zulu.
Zum Glück kann Lennox, so stellt sich der Mann mit den Dreadlocks vor,
Englisch. Er sei hier DJ und wir könnten ihn gerne interviewen. Um die
hierarchische Reihenfolge einzuhalten, was in Südafrika sehr wichtig ist,
spreche ich aber erst mit Epaph Mbasi, dem Manager. Er ist etwa 30 Jahre
alt und damit viel jünger als ich vermutet habe. In seinem frisch gebügelten
Hemd steht er vor dem Radio-Container und wirkt fast etwas deplaziert, so
“aus dem Ei gepellt“, während ich ihn interviewe.
9.1. Der Gesundheitssender für das Volk
Radio Zibonele gibt es schon seit 1992 und war zunächst ein Piratensender,
der von einigen Healthworkerinnen (ungelernten Krankenschwestern) und
Freiwilligen betrieben wurde, die sich zum Ziel gesetzt hatten, Gesund-heitsaufklärung mehr Menschen zugänglich zu machen.
„Zibonele“ heißt soviel wie “stay for yourself“. „Da viele TownshipBewohner Analphabeten sind und kein Englisch beherrschen, sind ein paar
Leute damals auf die Idee mit dem Radio gekommen“, erinnert sich Epaph. „So
konnten sie schnell und effizient ihre Ratschläge auf Xhosa übermitteln.“ Auch
Kindererziehungsprobleme und Hygienefragen sollten mit Hilfe des Senders
geklärt werden, da es den Krankenschwestern zu mühselig geworden war, von
Haus zu Haus zu marschieren und jeden Einzelnen zu beraten. Das alles war zunächst illegal, da Schwarze in Townships nach dem alten Gesetz keine Erlaubnis
bekamen, Radiosender zu betreiben. Doch während der beginnenden Demokra
tisierungsprozesse, nach den ersten freien Wahlen 1994, war es möglich, legale,
öffentliche Gemeinde-Radios zu gründen. So bekam Zibonele von der Regierung
seine erste offizielle Lizenz, die seitdem jedes Jahr erneuert wird.
Der Sender arbeitet mit völlig veraltetem Equipment, „aber wir schaffen es,
jeden Tag von fünf Uhr morgens bis Mitternacht zu senden, also fast rund um die
Uhr“, sagt Epaph stolz. Es gibt nur neun Festangestellte, die die organisatorische
Arbeit erledigen. Etwa 35 Freiwillige unterstützen Zibonele als Moderatoren.
Sie erhalten lediglich eine kleine Unkostenpauschale für ihre Fahrtkosten und
das Material, das sie verbrauchen. Das Geld stammt aus Fördertöpfen der
Regierung.
186
Südafrika
Arlette Geburtig
Insgesamt erreichen sie 15.000 Menschen und längst dreht sich das
Programm nicht mehr ausschließlich um Gesundheitsaufklärung. Täglich
kommen hunderte von Zuhörern persönlich zum Sender oder rufen an, um
ihre Probleme zu schildern. Diese sind vielschichtig. Es werden z.B. vermisste Kinder oder verloren gegangene Kleidungsstücke gesucht, die dann
über den Sender ausgerufen werden. Manchmal haben die Leute Glück und
finden wieder, was sie gesucht haben. Auf jeden Fall ist Radio Zibonele die
erste Anlaufstelle, an die sie sich wenden, noch bevor sie evtl. die Polizei
einschalten. Als ich da bin, kommt ein Mann in einem viel zu großen,
billigen Anzug herein, der alle seine Kleider während seiner Reise nach
Khayelitscha verloren hat.
Aber die Township-Bewohner und Radiohörer wenden sich auch mit
anderen Problemen an den Sender. Zum Beispiel kommen einige mit
Eheproblemen oder rufen an, wenn sie geschlagen wurden. Manchmal versucht der Moderator ihnen direkt “On Air“ zu helfen.
9.2. Alles im Kopf
Nyani Mhsi Maponya (mit einem Schnalzlaut in der Mitte) ist eine der
freiwilligen Radio-Moderatorinnen. Ich höre fasziniert bei ihrer Sendung
zu, die natürlich auf Xhosa ist und verstehe kein Wort. Ich bin vor allem
deshalb fasziniert, weil ständig Leute in das winzige, provisorisch wirkende
Studio einfallen und ihr irgendetwas sagen, ihr Zeichen geben oder in den
CDs und MDs kramen, die vor ihr liegen. Sie hat kein einziges Blatt Papier
vor sich liegen und immer wenn sie “On Air“ geht, redet sie einfach drauf
los. „Ich habe alles im Kopf“, erklärt sie mir später: „Ich recherchiere vorher
zu Hause und merke mir dann alles, was ich sagen will.“ Sie brauche nichts
aufzuschreiben, sagt sie und das ist ein Phänomen bei vielen Schwarzen,
wie ich später noch feststellen werde. Aus Mangel an Ressourcen waren
sie einst gezwungen, sich alles zu merken. Diese Gabe hätten sich viele
bewahrt, erfahre ich. Nyani ist 35 Jahre alt und weil sie schon seit zehn
Jahren dabei ist, wird sie von ihren Zuhörern liebevoll “Mama Omncane“
genannt. So heißt auch ihre Radiosendung, in der es um Frauenprobleme
geht. Jede Woche hat sie ein anderes Thema, zu dem die Zuhörer dann anrufen können. Außerdem moderiert Mama Omncane am Wochenende noch
eine Kindersendung. Sie hat selbst einen kleinen Sohn, den sie oft mitnimmt
und auch jetzt ist er dabei und stopft sich während unseres Interviews mit
den Bonbons voll, die ich immer für alle Fälle dabei habe. Mama Omncane
187
Arlette Geburtig
Südafrika
will helfen, dass Frauen mehr Selbstbewusstsein bekommen und über ihre
Rechte als Frauen Bescheid wissen.
„Ich habe Glück“, meint sie lachend, „mein Mann ist völlig auf Gleichberechtigung getrimmt.“ Sie will, dass mehr Frauen so etwas finden oder
daran arbeiten.
Nyani hat aber auch eigene Wünsche. Sie träumt davon, richtig als
Journalistin ausgebildet zu werden und vielleicht sogar einmal als Fernsehmoderatorin zu arbeiten. Aber sie sei schon so alt, sagt sie und kichert dabei.
Dann steht sie auf, nimmt ihren Sohn auf die Arme und bindet ihn, nach
afrikanischer Sitte, mit einem Handtuch auf ihrem Rücken fest, um nach
Hause zu gehen.
9.3. Ein DJ mit Deutschlanderfahrung
Als Nächstes folgt die Musikshow von Lennox, dem Mann mit den
Dreadlocks. In seiner Sendung geht es nicht um Probleme; er macht eine reine Musiksendung, in der sich die Hörer etwas wünschen dürfen und er sucht
dann, während er mit dem jeweiligen Zuhörer plaudert, die entsprechenden
Musiktitel auf CD heraus und spielt sie dann ab. Wie er bloß alles so schnell
finden könne, frage ich ihn, als ich mit ihm im Studio sitze. Er sagt, es seien
meist moderne Titel und er hätte von jedem Genre etwas dabei. Falls er den
gewünschten Titel mal nicht habe, könne er sofort etwas anderes anbieten
und die Hörer ließen sich leicht überzeugen. Immer wieder unterbricht er
unser Interview, weil er “mal eben ‚On Air’ gehen muss“ und schwups ist
auch schon das Rotlicht an und er plaudert drauf los. Nervosität oder Angst
davor, etwas Falsches zu sagen, kennt er nicht. Das kennt eigentlich keiner
hier.
Lennox ist 34 Jahre alt und schon seit Anfang an bei Radio Zibonele ebenfalls freiwillig, ohne Gehalt zu bekommen. Es mache ihm Spaß und
außerdem sei er ja eigentlich Musiker und verdiene mit seiner Musikband
„Lennox T“ ein wenig Geld, erzählt er. Es reiche zum Leben.
Lennox war schon drei Mal in Deutschland, u.a. in Köln, wie letztes Jahr auf dem Südafrika Festival. Jetzt sei er schon wieder eingeladen.
Deutschland ist das einzige Land, das er “overseas“ kennt und damit gehört
er schon zu den Privilegierten. Er lebt gerne hier in Khayelitscha, aber es
geht ihm auch verhältnismäßig gut. Seine Frau arbeitet als Putzfrau, damit
das Familieneinkommen stimmt. Um seine drei Kinder macht er sich keine
Sorgen.
„Ich denke fortschrittlich“, sagt Lennox. „Von mir aus kann das Patriarchat
abgeschafft werden. Meine Frau und ich sind absolut gleichberechtigt. Wenn
188
Südafrika
Arlette Geburtig
es sein müsste, würde ich auch putzen gehen.“ Viel lieber macht er natürlich
seine Musik und hofft, eines Tages vielleicht doch noch damit berühmt zu
werden.
10. Die Frauengewerkschaft SEWU und der informelle Sektor
In Guguletu, einem Township etwa 20 km außerhalb von Kapstadt, ist
eines der Büros der Frauengewerkschaft SEWU, was für „Self Employed
Women’s Union“ steht, also Gemeinschaft selbständiger Frauen.
Etwa ein Dutzend Frauen wartet bereits auf meine Ankunft, alle haben
bunte Kleider an. Als ich das Häuschen betrete, sitzen sie erwartungsvoll auf
ihren Stühlen und fächeln sich mit Faltblättern der Organisation Luft zu. Die
Schuhe haben sie bereits ausgezogen, weil es so heiß ist.
Die meisten Anwesenden sind über 50, einige sogar über 60 Jahre alt.
Auf meine Frage, was sie arbeiten würden, antworten sie zunächst: “I’m not
working!“ – Pause - “I’m self-employed!“
Sie gehören zu den 50 Prozent aller afrikanischen Frauen, die sich informell als Straßenhändlerinnen, Gemüse- und Imbissverkäuferinnen oder
als Altpapiersammlerinnen durchschlagen müssen. Darum werden sie auch
als „survivalists“, Überlebenskämpferinnen bezeichnet. Gemeinsam ist den
Frauen in der Schattenwirtschaft, dass sie nie die Gelegenheit hatten, etwas
zu lernen, das eine Arbeit im formellen Sektor ermöglicht hätte.
Es gibt zwar auch Männer, die sich z.B. als Lastenträger, Autowäscher
oder Schuster anbieten, dennoch machen Frauen den größten Anteil auf dem
ungesicherten Arbeitsmarkt aus. Um sich und ihre Familien durchzubringen, fertigen sie auch Handarbeiten an oder bieten selbst genähte Kleidung
oder Getränke am Straßenrand an.
Gegenseitige Hilfe gehört zu den Überlebensstrategien im informellen
Sektor.
„Hier bei SEWU halten wir alle zusammen“, sagt Rosei Makosa, die
Vorsitzende der Westkap-Region mit Stolz: „Wir sorgen dafür, dass alle
Frauen, die zu uns kommen, lernen, wie man bestimmte Sachen herstellt,
und wir bringen ihnen Verkaufsstrategien bei.“
Außerdem fördert SEWU die Ausbildung von Grundfähigkeiten, wie
Geschäftsführung und Konfliktbewältigung sowie andere spezielle Fähigkeiten, wie Hausbau, Tischlern und Elektroinstallation. Dies sind keine traditionellen Tätigkeiten für Frauen, aber ein Bereich, in dem sie gut Geld
verdienen und ihre eigenen kleinen Betriebe aufmachen können. Die Frauen
müssen einen geringen Teil dieser Fortbildungen selbst finanzieren, wäh189
Arlette Geburtig
Südafrika
rend SEWU 80 Prozent der Kosten übernimmt. Teilweise bringen sich die
Frauen aber auch untereinander handwerkliche Fertigkeiten bei. Die meisten produzieren traditionelle Perlenarbeiten oder Kleidung.
Die Organisation wurde 1994 nach indischem Vorbild in Durban gegründet.
Allein in der Region Western Cape hat SEWU inzwischen 300 Mitglieder,
im ganzen Land sind es ca. 4.000.
Jedes Mitglied muss acht Rand im Monat zahlen (90 Cent). Viele Frauen
würden aber wieder aussteigen, sobald sie ihre eigene Existenz aufgebaut hätten, weil ihnen das zu viel Geld wäre. Das sei schade, sagen die
Anwesenden einstimmig, sie würden sich freuen, wenn einige der ExMitglieder zurückkämen.
Sylvia Pongoma macht Schmuck und Figuren aus Perlen (beads), wie die
meisten Frauen, die heute gekommen sind. Vor fünf Jahren hat die 52-jährige durch SEWU gelernt wie es geht, „dann habe ich mich damit selbständig
gemacht“, erklärt sie. „Bei uns zu Hause sind wir sieben Personen. Mein
Mann ist Rentner. Er bekommt kaum Geld. Außerdem habe ich fünf Kinder,
eines ist HIV-positiv; sie alle muss ich versorgen.“ Silvia hat einen Stand auf
dem Markt in Kapstadt. Wenn das Geschäft gut läuft, verkauft sie ein oder
zwei Stücke am Wochenende. Doch manchmal, wenn es schlecht läuft, hat
sie nicht einmal genügend Geld für die Busfahrt nach Hause oder einen Laib
Brot. Dann muss sie sich Geld leihen und später mit Zinsen zurückzahlen.
Es ist ein hartes Leben, doch durch SEWU ist sie nicht mehr allein.
Auch Charmain Govindarajod ist über 50 Jahre alt. Neben Basteln und
Nähen stellt sie noch afrikanische Heilmittel her. Ihr Traum ist es, ihre
Tochter zum Studieren nach Amerika zu schicken. „Manchmal, wenn ich
denke, ich schaffe es nicht, gehe ich zu unseren SEWU-Treffen und rede mit
den anderen und schon geht es mir wieder besser. Wir unterstützen uns gegenseitig bei allem. Oft singen und tanzen wir und machen uns gegenseitig
Mut. Das ist einfach toll!“
„Ich backe für Trauerfeiern und andere Gelegenheiten“, erzählt Priscilla
Mbdaga: „Ich laufe überall herum und erzähle was ich mache, und manchmal bestellt jemand dann etwas bei mir.“ Die Mutter von drei Kindern ist
seit fünf Jahren bei SEWU. Vorher war sie krank und arbeitslos, jetzt hat
sie neuen Lebensmut und träumt von einer Backstube mit anderen Frauen
zusammen.
Als ich sie nach ihren Zukunftsplänen frage, antworten die meisten, dass
sie ihre Geschäfte vergrößern möchten. Aber vor allem wollen sie auch anderen Frauen helfen! Als Konkurrentinnen sehen sie sich nicht, sondern als
Freundinnen und Unterstützerinnen.
Xouswa Nyarashe ist mit ihren 28 Jahren eines der jüngsten SEWUMitglieder. Sie lebt mit ihrem Bruder zusammen beim Vater und verkauft
190
Südafrika
Arlette Geburtig
Cola und Süßigkeiten an die Nachbarn. Das Geschäft hätte ihre Mutter aufgebaut, aber die sei weggelaufen und jetzt führe sie es fort. Da der Vater mit
seiner Rente die Familie seines verstorbenen Bruders unterstützen müsse,
sei ihr finanzieller Beistand sehr wichtig. Xouswa erzählt, dass das Beste
an den SEWU-Kursen für sie gewesen sei, zu lernen, wie man mit dem
Geld haushält, also wie man seine geringen Einnahmen vermehrt, statt alles
direkt wieder auszugeben und am Ende nichts mehr für den Neueinkauf der
Waren übrig zu haben. Außerdem habe sie gelernt, wie man mit wenig Geld
auskommen kann. „Ich kann mit all meinen Problemen hierher kommen“,
sagt Xouswa. „Es ist für mich wie ein zweites Zuhause und die anderen sind
meine Mamas!“
Neben der Organisation der kleingewerbetreibenden Frauen in Südafrika,
hat sich SEWU auch das „Women Empowerment“, also die Stärkung der
Frauen, auf die Fahnen geschrieben. Die Organisation hat schon einige
Erfolge im Kampf für die Rechte der Straßenverkäuferinnen verzeichnet.
Lange Zeit wurde den Frauen auf dem ungesicherten Arbeitsmarkt keine
Beachtung geschenkt. Ihre Bedeutung im Wirtschaftsgefüge war unklar.
Nur wenn Weltwirtschafts- und Handelsstrukturen zugunsten der Marginalisierten verändert werden, lassen sich laut SEWU die Lebensverhältnisse
dieser Frauen im informellen Sektor wirksam und dauerhaft verbessern.
Darum trägt SEWU auch auf internationaler Ebene dazu bei, die Lebensbedingungen bekannter zu machen und Schritte in die richtige Richtung
zu unternehmen. So hat die Gewerkschaft an der ILO-Konvention für
HeimarbeiterInnen mitgewirkt und beteiligt sich an Forschungsarbeiten
zum informellen Sektor. Überdies ist sie Teil des WIEGO-Frauennetzes
(Women in Informal Employment: Globalizing and Organizing), das
Straßenhändlerinnen weltweit vernetzt.
Am Ende meines Gespräches stehen alle Frauen wie auf Kommando auf
und beginnen zu tanzen und zu singen. Dabei klatschen sie in die Hände und
wiegen ihre Hüften im Rhythmus. Es sei das SEWU-Lied, erklären sie mir
nachher. Am Ende des Liedes strecken sie ihre Fäuste in die Luft und rufen
den SEWU-Kampfspruch: „Gemeinsam schaffen wir es!“
11. Black Empowerment und die ANC Women’s League
Eine Vorzeige-Frau unter den Schwarzen ist Charlotte Lobe, die Sprecherin der ANC Women’s League. Ich treffe sie in ihrem Büro im Parlament
von Kapstadt. Mit Mitte 30 hat sie es geschafft. Sie ist in zahlreichen
Frauenorganisationen im Land aktiv und hat eine steile Karriere beim ANC
hingelegt, in dem sie nach alter Familientradition seit ihrem 18. Lebensjahr
191
Arlette Geburtig
Südafrika
Mitglied ist. Sie ist ein gutes Beispiel der neuen selbstbewussten schwarzen Frauen, die Job und Familie unter einen Hut bringen und von „Black
Empowerment“, also der Ermächtigung der Schwarzen, tatsächlich profitiert haben.
Das Regierungsprogramm will durch „Affirmative Action“ (Fördermaßnahmen zugunsten von Schwarzen), dass bei der Jobvergabe in öffentlichen
Einrichtungen und bei Privatisierungen die ehemals Benachteiligten begünstigt werden. Bei gleicher Qualifikation soll zuerst eine schwarze Frau
vor einem schwarzen Mann, und wenn dies nicht möglich ist, eine weiße
Frau und dann erst ein weißer Mann eingestellt werden, bis die südafrikanische Gesellschaft sich tatsächlich auch in der Arbeitswelt widerspiegelt und
zwei Drittel aller Angestellten Schwarze sind. Die ehemals Benachteiligten
sollen jetzt bevorzugt werden. Die staatlichen Einrichtungen müssen sich
daran halten, alle anderen Unternehmen sollten es freiwillig tun.
Am interessantesten finde ich bei unserem Interview ihre Antwort auf
meine Frage, wie sie auf die Kritik reagiere, dass jetzt viele Schwarze nur
aufgrund der Hautfarbe und nicht aufgrund ihrer Qualifikation Jobs bekämen. Sie antwortet, das fände sie sehr richtig, denn die Schwarzen seien so
lange unterdrückt worden, dass es an der Zeit sei, ihnen Verantwortung zu
übertragen, auch wenn sie vielleicht noch viel lernen müssten. Aber man
wachse mit den Aufgaben, und oft sei es keine mangelnde Qualifikation,
sondern nur ein Mangel an Erfahrung gegenüber den alten weißen Managern,
Geschäftsführern und Chefs aus der Apartheidzeit.
Jetzt müssten die Schwarzen unbedingt lernen, selbst Verantwortung zu
tragen. Sie müssten lernen, wie es ist, selbst Vorgesetzter zu sein oder im
Management zu arbeiten und endlich auch einmal etwas zu sagen zu haben.
Auch wenn noch Fehler passierten, sei es sehr wichtig für die Zukunft,
dass Schwarze mehr Macht bekämen. Sie würden schon alles lernen, was sie
bräuchten. Ich bin überrascht, da ich die Problematik bisher immer aus der
anderen Perspektive betrachtet hatte.
Dann brachte Charlotte ein Gleichnis, um mir zu erläutern, was Südafrika
tun müsse, um die Vergangenheit zu bewältigen und Gleichberechtigung zu
schaffen:
Ich solle mir drei Marathonläufer vorstellen: „Der Erste hat Nike-Schuhe
und den besten Trainingsanzug, der Zweite hat ein zerfetztes, gebrauchtes,
altes Trikot und der Dritte nicht einmal Schuhe und muss barfuss laufen.
Was Südafrika jetzt versucht, ist allen Dreien Nike-Schuhe und gute Trikots
zu geben, damit alle die gleiche Ausgangsbasis haben. Doch ist das wirklich
gerecht?“ Der erste hätte nie gelitten, fährt sie fort, im Gegensatz zu den beiden anderen. Man müsse ihnen also eigentlich zusätzlich dabei helfen, die
192
Südafrika
Arlette Geburtig
Vergangenheit zu verarbeiten. Das wäre Gerechtigkeit. Ich vermute, dass sie
mit dieser Äußerung impliziert, dass Weiße jetzt erst einmal trotz besserer
Qualifikationen benachteiligt werden sollten, denn bislang haben sie es besser gehabt. Warum sollten sie nicht auch einmal um Jobs kämpfen müssen?
12. Zukunftsgedanken über Südafrika
Die meisten Menschen in Südafrika haben eine gespaltene Meinung über
die Zukunft ihres Landes. Häufig ist von einer unblutigen Transformation
(von weiß zu schwarz) die Rede, doch Otto Kohlstock, der Township-Pfarrer
ist überzeugt, dass sie mehr als blutig ist. Ein regelrechter Bürgerkrieg herrsche seiner Meinung nach. „Die Schere zwischen Arm und Reich klafft seit
dem Ende der Apartheid immer mehr auseinander und es ist kein Ende der
Entwicklung in Sicht. Nur einige Wenige, die vorher schon reich waren,
sind jetzt noch reicher“, sagt er. Unter ihnen befinden sich die ehemaligen
weißen Staatspräsidenten Pieter Willem Botha (1984-1989) und Frederik
de Klerk (1989-1994). „Den großen Weißen des Apartheidregimes geht es
heute besser denn je“, glaubt auch der Südafrika-Korrespondent Wolfgang
Drechsler. „Der Grund dafür ist der historische Kompromiss, mit dem der
Neuanfang nach der Apartheid geschaffen wurde: Aufklärung von Mensch
enrechtsverletzungen gegen Amnestie - das war der Deal, den die damalige
Regierungspartei NP unter Präsident de Klerk in der Übergangsregierung
bis 1994 gefordert hatte“. Der historische Kompromiss diente vor allem
dazu, die eigene Haut zu retten. Keine Strafverfolgung wegen der Apartheid
als solcher und damit verbundenen politisch motivierten Straftaten.
Der historische Kompromiss war schmerzhaft. So durften beispielsweise die wirtschaftlichen Besitzverhältnisse – laut der Vereinbarung mit
De Klerk – nicht angetastet werden. Das war der Preis dafür, dass das
Apartheidregime abdankte und das erste Mal freie Wahlen ausrief, an denen
sich auch Schwarze und Farbige beteiligen durften.
Auch zehn Jahre nach den ersten freien Wahlen, und dem ersten schwarzen Präsidenten Nelson Mandela, hat sich wenig an den Besitzverhältnissen
geändert. Noch immer liegt der größte Teil des fruchtbaren Landes in der
Hand der weißen Minderheit, genauso wie Industrie, Banken, Bergwerke
und ein großer Teil der privaten Medien.
„Die Schwarzen haben nie ein Ventil für Vergeltung gehabt“, sagt Otto
Kohlstock, „jetzt bringen sich die Menschen gegenseitig um, weil in ihnen
eine blinde Aggressivität schlummert, die immer wieder ausbricht.“
„Südafrika ist aber auch in vielen Bereichen ein besseres Land geworden“, glaubt Wolfgang Drechsler. „Ein Land, in dem Weiße wie Schwarze
193
Arlette Geburtig
Südafrika
nicht mehr mit einer großen Unsicherheit leben müssen, sondern wirklich
in die Zukunft planen können. Wer die politische und wirtschaftliche Lage
Südafrikas mit der vor zehn Jahren vergleicht, wird bemerken, dass sie stabiler geworden ist.“
Der Machtwechsel von Nelson Mandela zu Thabo Mbeki 1999 steht politisch für den Übergang von der Versöhnung zur Versorgung als zentralem
Ziel der Politik.
Bereits 1996 hat die Regierung einen neoliberalen Wirtschaftskurs eingeschlagen und setzt auf Weltmarktintegration, was der Wirtschaft zu einem
verhaltenen, aber stetigen Wachstum verholfen hat.
„Außerdem hat Südafrika den Übergang zu einer demokratischen Ordnung
und einer rechtsstaatlichen Verfassung geschafft“, erklärt Wolfgang
Drechsler. „Nach der Übergangsverfassung von 1994 trat am 4. Februar
1997 die neue Verfassung in Kraft. Sie wird weltweit als vorbildlich anerkannt und legt besonderes Gewicht auf den Schutz und die Förderung der
Menschenrechte. Dazu gehören auch soziale und wirtschaftliche Rechte,
die allen Menschen unabhängig von ihrer Herkunft zustehen und einklagbar sind, sowie Obdach, Zugang zu grundlegender Schulausbildung und
Gesundheitsführsorge.“
Otto Kohlstock befürwortet das „Affirmative Action Programm“. Damit
will die Regierung jetzt auch Gerechtigkeit in der Arbeitswelt schaffen und
ehemals benachteiligte Bevölkerungsgruppen bei der Einstellung bevorzugen. Vor allem in öffentlichen Einrichtungen wird das Programm bereits umgesetzt. Dort kann man beobachten, dass weiße und schwarze Südafrikaner
mit einer Selbstverständlichkeit zusammenarbeiten, die früher undenkbar
gewesen wäre. Doch es muss noch viel getan werden im neuen Südafrika.
Das Versprechen der neu gewählten Regierung von 1994, allen Bürgern
Arbeit und ein menschenwürdiges Auskommen zu sichern, konnte der ANC
bis jetzt nicht einlösen.
„Die Arbeitslosigkeit hat sich seit dem Ende der Apartheid drastisch verschlimmert“, weiß Otto Kohlstock. Eine Million Arbeitsplätze sind im Zuge
des Neoliberalismus während der schwarzen Regierungszeit wegrationalisiert worden, fast alles Arbeitsplätze von Schwarzen.
Die mehr als sechs Millionen Arbeitslosen stehen einer kleinen schwarzen
Mittelschicht gegenüber.
Nach wie vor lebt die Mehrheit der schwarzen Bevölkerung in Townships
unter menschenunwürdigen Bedingungen. In den Straßen der großen Städte
leben unzählige obdachlose Kinder und betteln um Geld. Viele kaufen sich
davon Benzin und Lösungsmittel zum Schnüffeln.
194
Südafrika
Arlette Geburtig
Die Säuglings- und Kindersterblichkeit ist in den letzten zehn Jahren um
über 30 Prozent gestiegen. Schuld sind die hygienischen Verhältnisse und
die mangelnde medizinische Versorgung.
Auch das Aidsproblem hat sich verschlimmert: Die HIV-/Aidsrate ist in den
letzten zehn Jahren dramatisch angestiegen. Inzwischen sind fünf Millionen
Menschen in Südafrika HIV-infiziert oder bereits an Aids erkrankt.
Neben den sozioökonomischen Problemen, die die Regierung in den
Griff bekommen muss, vollzieht sich dennoch eine gesellschaftliche
Transformation. Sie betrifft vor allem die schwarze Mittelschicht, die immer noch in der Minderheit ist, aber allmählich wächst. Besonders in öffentlichen Ämtern gibt es immer mehr schwarze Mitarbeiter. Die Hoffnung
ist groß, dass der „Black Economic Empowerment“-Prozess die gesamte
Unternehmenslandschaft umstrukturieren wird.
Es wird sogar von einer „Afrikanischen Renaissance“ gesprochen, denn ein
neues schwarzes Selbstbewusstsein ist erwacht, das nun zur Neugestaltung
mitmenschlicher Beziehungen beitragen muss.
Südafrika blickt in eine unsichere Zukunft. Die menschenrechtswidrigen
Gesetze der Rassentrennung sind zwar abgeschafft, und die Regierung will
ein neues Südafrika mit einer selbstbewussten schwarzen Mehrheit aufbauen, doch um die Lebensbedingungen zu verbessern, müssten die Ressourcen
gleichmäßiger verteilt werden. Die Zukunft des Landes wird wesentlich davon abhängen, ob dieses Problem bewältigt wird.
13. Danke
Für die tollen Erfahrungen und Begegnungen danke ich allen, die sich
Zeit genommen haben, mir etwas über Land und Leute zu vermitteln.
Ein Dankeschön gilt dem Südafrika-Korrespondenten Wolfgang Drechsler,
der mir immer wieder Kontakte zu interessanten Gesprächspartnern verschafft hat und auch selbst geduldig Rede und Antwort stand.
Vielen Dank auch an Anneliese Burgess für das Praktikum bei Special
Assignment und Dimmakazu Rapotho, die mich durch die Townships begleitete und bei ihrer Familie in Soweto wohnen ließ.
Ich danke dem Township-Pfarrer Otto Kohlstock für seine Bemühungen
und die interessanten Einblicke, die er mir gegeben hat.
Aber vor allem möchte ich mich bei der Heinz-Kühn-Stiftung und Ute
Maria Kilian bedanken, dass sie diese Horizonterweiterung ermöglicht haben. Ich habe viel gelernt und Unvergessliches erlebt.
195
Nguyen Thi Thu Huong
aus Vietnam
Stipendien-Aufenthalt in
Deutschland
01. Juli bis 31. Dezember 2003
197
Deutschland
Nguyen Thi Thu Huong
Ein Traum vom Paradies?
Von Nguyen Thi Thu Huong
Deutschland vom 01.07. – 31.12.2003
199
Deutschland
Nguyen Thi Thu Huong
Inhalt
1.
Zur Person
202
2.
Vorwort
202
3.
Politische Beziehungen
204
4.
Entwicklungspolitische Zusammenarbeit
204
5.
Bilaterale Wirtschaftsbeziehungen
205
6.
Bilaterale Kulturbeziehungen
206
7.
Deutschland – das Paradies?
207
8.
Eindruck über Deutschland heute
211
9. Was Vietnamesen sich nicht von Deutschland vorgestellt hätten
9.1. Kulturelle Unterschiede
9.2. Lebensartunterschied
211
212
212
10.
Familienbeziehungen
213
11.
Ausländer in Deutschland
213
12.
Praktikum beim ZDF
214
13.
Mein Gesamteindruck und Dank
215
201
Nguyen Thi Thu Huong
Deutschland
1. Zur Person
Mein Name ist Nguyen Thi Thu Huong. Ich wurde am 25. November
1973 in Hanoi, der Hauptstadt Vietnams, geboren. Von 1990 bis 1994 studierte ich in der Hanoi Hochschule für fremde Sprachen und ausländische
Kultur. Meine Bereiche waren Englisch und Japanisch, ihre Sprache und
Literatur. Während des Studiums arbeitete ich zuerst als Englischlehrerin,
als Fremdenführerin und dann als Angestellte einer Japanischen Firma, sowie bei einer Amerikanischen Rechtanwaltsfirma. Meine Arbeit gab mir viele positive Möglichkeiten, um viele Leute kennenzulernen, viele Kenntnisse
zu bekommen, und viele Erfahrungen zu machen. Für insgesamt 6 Monate
arbeitete ich 1994 als Nachrichtenreporterin für Vietnam Economic Times
Magazine (Vietnamesisches Wirtschaftsmagazin) in der Abteilung der englischen Sprache. Diese 6 Monate waren sehr wertvoll für mich. Ich lernte
zum ersten Mal etwa über Journalismus. Von August 1994 bis 30. November
2002 war ich Journalistin in Vietnam National Television, Kunst und Kultur
Redaktion, wo ich Nachrichten und Dokumentarfilme machte.
Je mehr ich arbeitete, desto besser und größer wurde mein Wissen und
desto mehr liebe ich meine Arbeit.
2. Vorwort
Meine ersten Gedanken und Eindrücke über Deutschland bekam ich in
meiner Schulzeit vermittelt. Deutschland war in meinen frühen Gedanken
ein Land, das eine komplizierte Geschichte hat. Deutschland durchlebte eine
dunkle Zeit in seiner Geschichte. Die Deutschen haben das nicht vergessen.
Sie lernten aus ihren Fehler der Vergangenheit und versuchen, eine neue
heile Zukunft zu bauen. Nach dem 2. Weltkrieg arbeiteten sie sehr hart, um
ihr Land wiederaufzubauen. Aus den Ruinen entstand 30, 40 Jahre später,
die Bundesrepublik Deutschland, eines der wirtschaftlich stärksten Länder
der Welt. Ich bewundere die Deutschen wegen ihres starken Willens, ihrer
Disziplin und ihrem Fleiß. Deshalb wollte ich Deutschland kennenlernen.
Seitdem ich in der Schule war, sind mir deutsche Gedichte vertraut.
Damals übersetzten die Vietnamesen, die in der früheren DDR studiert hatten, viele deutsche Gedichte von Johann Wolfgang von Goethe, Heinrich
Heine, Friedrich Schiller... Ich las diese Gedichte und ich stellte mir die
Deutschen, ihre Kultur und Lebensart vor. Deutschland im Kopf eines 17
jährigen Mädchens war sehr schön und romantisch. Dadurch wurden meine Kenntnisse über Deutschland größer. Ich entdeckte, dass die Deutschen
nicht nur fleißig waren, pünktlich und sehr anspruchsvoll, sondern auch
202
Deutschland
Nguyen Thi Thu Huong
gefühlsbetont und romantisch. Sie waren nicht – wie man ihnen nachsagt
– immer kühl, trocken, steif, sachlich oder gar humorlos.
Als Journalistin beim Internationalen Kunst- und Kulturprogramm beim
Vietnamesischen Fernsehen, interessierte ich mich für die Länder, die mit
der Vietnamesischen Regierung diplomatische Beziehungen unterhielten
oder deren Botschaften in Vietnam präsent waren. Inmitten dieser Länder
interessierte mich besonders die Deutsche Botschaft. Für die Dauer von
zwei Jahren (1996 – 1997), arbeitete ich mit Frau Daniela Dampf zusammen, die mir viele VHS Bände und Bücher (auf Englisch) über Deutschland,
seine Menschen, seine Geschichte, seine Kultur, etc. gab. Ich übersetzte
sie und dann wurden sie im Vietnamesischen Fernsehen gesendet. Meine
Beziehungen zur deutschen Kultur wurden enger, als das Goethe-Institut
in Hanoi Ende 1997 eröffnet wurde. Für 5 Jahre machte ich Nachrichten
oder Dokumentarfilme über fast alle Kunst- und Kulturaktivitäten, die vom
Goethe-Institut organisiert wurden. Ich freute mich darüber, weil ich auf der
einen Seite meine Kenntnisse über Deutschland vergrößern konnte, auf der
anderen Seite den Vietnamesen helfen konnte, Deutschland besser kennen
zu lernen.
Meine guten Beziehungen mit Botschaften in Vietnam boten mir viele Möglichkeiten, mit internationalen Journalisten und Filmemachen
zusammen zu arbeiten. Im Jahr 2001 half ich Herrn Dietmar Ratsch,
Indi Film, einen Dokumentarfilm über einen deutschen Fotografen, der
im Vietnamesischen Krieg gegen die Amerikaner in Vietnam in den
60er Jahren war, zu drehen. Und am Anfang des Jahres 2002, kooperierte ich mit Herrn Manfred Eichel, Chefkorrespondent Kultur, ZDF
Hauptstadtstudio Berlin, um einen Dokumentarfilm über vietnamesische
Kunst und Kultur zu machen. Hauptsächlich war ich beeindruckt von der
Arbeitsart der Deutschen Filmemacher, als ich mit Frau Dorothee Wenner,
einer Dokumentarfilmemacherin, arbeitete. Ich interessierte mich sehr für
Deutsche Dokumentarfilme, die Art und Weise der Gedanken und die Art
der Dreharbeiten. Während der Vietnamesischen Filmwoche in Berlin im
Januar 2003, und während der Berlinale im Februar 2003, beteiligte ich mich
an einer Diskussion über Deutschland und Vietnam, und ich schrieb auch
eine Filmkritik für das Internationale Forum des Jungen Films. Ich freute
mich sehr, beruflichen Erfahrungen in Berlin machen zu können. Diese ganz
besonderen Beziehungen zwischen mir und der deutschen Kunst, Kultur
und den Filmen ermunterten mich, mehr über die Beziehungen zwischen
Deutschland und Vietnam herauszufinden.
203
Nguyen Thi Thu Huong
Deutschland
3. Politische Beziehungen
Die politischen Beziehungen entwickelten sich nach der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Deutschland und Vietnam 1975 zunächst
nur langsam, da Vietnam in Deutschland – und – europapolitischen Fragen
der Linie der früheren Sowjetunion folgte. Seit Einsetzen der Reformpolitik
(Doi Moi) in Vietnam verbesserten sich die Beziehungen kontinuierlich
und gewannen mit dem Vollzug der deutschen Einheit eine neue Qualität.
Die vietnamesische Seite war bereit, mit dem wiedervereinten Deutschland
ähnlich eng zusammenzuarbeiten wie vorher mit der DDR. Höhepunkte
des hochrangigen Besucheraustausches waren der Besuch des vietnamesischer Premierminister Vo Van Kiet in 1993 in Deutschland und der von
Bundeskanzler Helmut Kohl 1995 in Vietnam, sowie von Premierminister
Phan Van Khai im Oktober 2001 in Deutschland.
Zwischen dem Deutschen Bundestag und der vietnamesischen Nationalversammlung bestehen seit vielen Jahren intensive Kontakte. Der VietnamBesuch von Bundestagspräsident Thierse im Dezember 2001 hat der Zusammenarbeit beider Parlamente neue Impulse gegeben.
4. Entwicklungspolitische Zusammenarbeit
Vietnam gehört zu den Schwerpunktländern der deutschen entwicklungspolitischen Zusammenarbeit (EZ). Insgesamt hat die Bundesregierung für
Vietnam seit Wiederaufnahme der EZ im Jahre 1990 bisher rund 500 Mio.
Euro zugesagt. Schwerpunkte sind:
Unterstützung der Wirtschaftsreform und Aufbau der Marktwirtschaft,
Berufsbildung,
Schutz und nachhaltige Nutzung natürlicher Ressourcen einschl. Wasserversorgung, Abwasser- und Abfallentsorgung, Gesundheit, Familienplanung, HIV/AIDS-Prävention.
Im Rahmen eines Reintegrationsabkommens wird aus Deutschland zurückkehrenden Vietnamesen die Wiedereingliederung durch Existenzgründungsund Gehaltszuschüsse sowie Fortbildungsmaßnahmen erleichtert. Mit sehr
großem Abstand nach Japan und Frankreich ist Deutschland bisher der
drittgrößte bilaterale Geber Vietnams. Im Jahr 2002 hat Deutschland ODAMittel (Official Development Assistance) in Höhe von 40 Mio. Euro für
Vietnam neu zugesagt.
204
Deutschland
Nguyen Thi Thu Huong
5. Bilaterale Wirtschaftsbeziehungen
Mit einem Anteil von 28% am EU-Vietnam-Handel ist Deutschland innerhalb der EU der größte Handelspartner Vietnams. Die deutschen Exporte im
Jahr 2001 betrugen 428,3 Mio. Euro, während sich die Einfuhren aus Vietnam
auf 1.209,1 Mio. Euro beliefen. Damit hat sich das Handelsvolumen seit 1996
mehr als verdoppelt. Die wichtigsten vietnamesischen Exportgüter nach
Deutschland sind neben Textilien und Schuhen, Kaffee, Fischereiprodukte
sowie Keramikwaren. Hauptimportgüter aus Deutschland nach Vietnam
sind Kraftfahrzeuge, Maschinen, optische Geräte, Messgeräte, Chemikalien,
pharmazeutische Produkte sowie Spezialgarne und Textilien. Im ersten
Halbjahr 2002 haben die Ein- und Ausfuhren wieder um 7,2 % zugelegt,
wobei der bisherige hohe Handelsüberschuss Vietnams leicht zurückging.
Zur guten Ausgangsposition der deutschen Wirtschaft tragen nicht zuletzt
die zahlreichen Fachkräfte, die in der früheren DDR studiert bzw. gearbeitet haben und die langjährigen Kontakte zu DDR-Unternehmen bei. Von
den zurzeit ca. 240 ständigen Repräsentanzen deutscher Unternehmen und
Organisationen in Vietnam wird eine Reihe von Büros von Firmen aus den
neuen Bundesländern unterhalten.
Unter den ausländischen Investoren liegt Deutschland auf dem 18. Platz,
unter den EU-Mitgliedstaaten auf Platz 5. Wichtige deutsche Investitionen
werden aufgrund internationaler Konzernverflechtungen jedoch nicht immer Deutschland zugeschrieben. Von vietnamesischer Seite ist ein stärkeres deutsches wirtschaftliches Engagement erwünscht. Aus Sicht der deutschen Wirtschaft ist eine weitere Verbesserung der Rahmenbedingungen
notwendig. Dem Anliegen, dass deutsche Unternehmensinteressen bei
Großprojekten („Leuchtturmprojekte“) stärker berücksichtigt werden, wurde mit der Vergabe des Zementwerks Song Giang an eine deutsche Firma im
August 2002 entsprochen.
1995 wurde für Vietnam ein erster (150 Mio. DM) und im Oktober 2000
ein zweiter Hermes-Länderplafonds in Höhe von 100 Mio. Euro aufgelegt.
Einzelgeschäfte können bis zu einer Höhe von 10 Mio. Euro abgesichert
werden. Die OECD hat im Frühjahr 2002 die Ländereinstufung für Vietnam
von Stufe sechs auf Stufe fünf (von insgesamt sieben Risikokategorien) angehoben.
Der DIHK/AHK (Direktion für Industrie- und Auslandshandelskomitee)
und die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) sind mit einem Büro in Hanoi
vertreten. Seit 1997 findet jährlich wechselnd in Deutschland und Vietnam
das Deutsch-Vietnamesische wirtschaftspolitische Dialogforum statt, zuletzt
im Februar 2002 in Hanoi. Der BfAI (Bund für Auslandsinformationen) betreut seit Ende 2001 Vietnam von Thailand aus.
205
Nguyen Thi Thu Huong
Deutschland
6. Bilaterale Kulturbeziehungen
Nach Abschluss des Kulturabkommens 1990 konnten beide Seiten bei
den Kulturkonsultationen (1994 und 1999) eine positive Bilanz ziehen.
Mindestens 70.000 Vietnamesen, die in der ehemaligen DDR ausgebildet
wurden oder dort gearbeitet haben, darunter 5.000 Akademiker, bilden eine
- in Asien so einzigartige - Brücke zwischen Deutschland und Vietnam.
Die Kulturabteilung der Botschaft koordiniert die Deutsche Auswärtige Kulturpolitik in Vietnam. Dabei arbeitet sie eng mit vietnamesischen
Partnerinstitutionen und den vor Ort vertretenen deutschen Mittlerorganisationen zusammen und stellt den Kontakt zu solchen Mittlerorganisationen
her, die nicht mit einem eigenen Büro in Vietnam vertreten sind.
Deutschland ist an einem intensiven Wissenschaftler- und Studentenaustausch zwischen Deutschland und Vietnam interessiert. Mit dieser
Zielsetzung unterstützt die Botschaft die Arbeit des Deutschen Akademischen
Austauschdienstes (DAAD) in Vietnam, um neue Kontakte zwischen
Universitäten in Deutschland und Vietnam herzustellen und bereits bestehende auszubauen.
Gemeinsam mit dem Goethe-Institut in Hanoi führt die Botschaft kulturelle Veranstaltungen durch, die dazu beitragen sollen, deutsche Kultur in
Vietnam vorzustellen und bekannt zu machen. Wesentliches Ziel deutscher
Kulturveranstaltungen aber ist die Initiierung eines interkulturellen Dialogs
zwischen den Kulturschaffenden in Deutschland und Europa auf der einen
und Vietnam auf der anderen Seite.
Insbesondere der wissenschaftliche Austausch entwickelt sich positiv.
Der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD), die Alexander von
Humboldt-Stiftung und die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) fördern eine wachsende Zahl wissenschaftlicher Kontakte und Kooperatio
nsvereinbarungen. Im Februar 2001 konnte ein von der DFG finanzierter
Sonderforschungsbereich der Universität Hohenheim, der Kooperationen
mit mehreren vietnamesischen und thailändischen Universitäten einschließt, eröffnet werden. Zudem bieten mehrere deutsche Universitäten
Lehrveranstaltungen und Abschlüsse in Hanoi an. Auch das BMBF intensivierte seine Kontakte zu vietnamesischen Partnerorganisationen. Seit
Dezember 1999 hat das Vietnamesisch-Deutsche Zentrum (VDZ) an der
Technischen Universität Hanoi seine Arbeit aufgenommen. Es steht allen
Projekten im Wissenschaftsbereich offen und profitiert vom guten Stand der
Beziehungen. Projektträger auf deutscher Seite ist der DAAD.
Mehrjährige Verhandlungen über die gegenseitige Errichtung von
Kulturinstituten wurden im Januar 1997 mit der Unterzeichnung eines
Abkommens abgeschlossen. Am 22.12.1997 wurde das Goethe-Institut
206
Deutschland
Nguyen Thi Thu Huong
Hanoi (GI) eröffnet, das mittlerweile eine rege Programm- und Spracharbeit
entfaltet hat und aus dem kulturellen Leben Hanois nicht mehr wegzudenken
ist. Für viele zukünftige Studenten sind die Sprachkurse des GI Sprungbrett
für den angestrebten Studienaufenthalt in Deutschland.
Die deutsch-vietnamesische Kooperation wirkt sich auch positiv auf die
sich öffnende vietnamesische Kulturszene aus. So geht das seit 1994 jährlich stattfindende „Internationale Filmfestival Hanoi“ auf die erfolgreiche
deutsch-vietnamesische Zusammenarbeit im Filmbereich zurück. Ein EUFilmfestival fand 1999 und 2001 statt.
Die Friedrich-Ebert-Stiftung konnte als erste politische Stiftung im
November 1990 ein Büro in Hanoi eröffnen, 1993 folgte die KonradAdenauer-Stiftung.
Ein von beiden Regierungen gewünschtes Abkommen über die geordnete
Rückführung von Vietnamesen ohne Aufenthaltstitel in Deutschland kam
1995 zustande. Bis Ende 2001 kehrten ca. 9.000 Vietnamesen im Rahmen
des Rückübernahmeabkommens in ihr Heimatland zurück.
Der gegenseitige Besucheraustausch nimmt langsam zu. 2001 kamen
39.000 deutsche Touristen nach Vietnam, rd. 9.000 Vietnamesen erhielten
ein Visum für einen Aufenthalt in Deutschland (davon ca. 500 für Studium
und Wissenschaftsaufenthalte).
7. Deutschland – das Paradies?
Ja! Das denken viele Vietnamesen über Deutschland! Aber nicht nur über
Deutschland, sondern auch über andere europäische und nordamerikanische
Länder. Diese Meinung bildete sich bereits in den 60er Jahren, als die ersten
Vietnamesen nach Europa gingen, um zu studieren oder zu arbeiten. Damals
war Vietnam sehr arm, weil Vietnam alle Nahrungsmittel und Gelder für
den Krieg gegen die Amerikaner ausgegeben hatte. Durch die Photos, die
Geschenke und einige Haushaltsgeräte, die von Studenten oder Arbeitern
aus Deutschland in ihre Häuser nach Vietnam gesendet wurden, erschienen
Länder, wie beispielsweise die frühe DDR, die USSR, Polen, Ungarn oder
die Tschechoslowakei für damalige Vietnamesen wie wirkliche Paradiese.
Jetzt, wo sich die vietnamesische Wirtschaft allmählich entwickelt und
die Vietnamesen zum ersten Mal nach dem hundertjährigen Krieg gegen
die Franzosen und die Amerikaner ein gutes Leben haben, denken sie immer noch, Deutschland sei ein Paradies. Vietnamesen, die gute Kenntnisse
über deutsche Politik und Gesellschaft haben, denken Deutschland sei ein
Paradies, wegen der schnellen Entwicklung der deutschen Wirtschaft und
des guten Sozialversicherungssystems. Andere Leute denken es einfach
207
Nguyen Thi Thu Huong
Deutschland
wegen des materiellen Wohlstands, den die Deutschen haben, z.B. wegen
ihrer großen und reich eingerichteten Häuser, oder wegen teurer MercedesAutos.
Für mich ist Deutschland im Allgemeinen auch ein Paradies, aber aus
anderen Gründen.
8. Eindrücke über Deutschland heute
Das Land
Für annähernd neun Monate war ich in Deutschland und hatte die
Chance, in viele Gegenden in Deutschland zu reisen und viele schöne
Sehenswürdigkeiten zu besuchen. Alle Orte, in denen ich gewesen bin und
alle Besichtigungen, die ich gemacht habe, haben mich sehr beeindruckt.
Eine Fahrt entlang der „Romantischen Straße“, die von Würzburg nach
Freiburg führt, brachte mich zu den Höhepunkten deutschen und europäischen Kunstschaffens. Bereits am Anfang der Route wartete die „Romantische
Straße“ mit einem Highlight auf mich – der Würzburger Residenz, einem gelungenen Zusammenspiel zweier genialer Künstler, Giovanni
Battista Tiepolo und Balthasar Neumann. Der lange Treppenaufgang und
die gewaltigen Fresken der Residenz beeindruckten mich. Sie versetzten
mich in die Zeit des Barock zurück. Ich nahm mir Zeit und hielt an der
ersten Treppenstufe inne. Von hier ergibt sich ein erster Ausblick auf das
Deckenfresko, wo man ein wunderschönes Bild der ganzen Welt bewundern
kann. Dann ging ich durch den „Weißen Saal“, die barocke Kirche und viele
andere Räume, wo die Bischöfe lebten und arbeiteten. Fast drei Stunden war
ich in der Residenz und ich sah viele überraschend schöne Dinge. Ich verstand, wie mächtig und luxuriös diese Prinz-Bischöfe lebten, wie kompliziert die damalige Geschichte war und wie hart die normalen Leute für den
Reichtum der Bischöfe arbeiten mussten. Für eine Sekunde war ich traurig,
weil ich erkannte, dass die Bischöfe zwei verschiedene Gesichter hatten.
Auf der einen Seite sagten sie, die Leute sollen arm bleiben und hart arbeiten, auf der anderen Seite lebten sie wie Könige in großem Reichtum und
ohne selbst zu arbeiten.
In Würzburg, als ich über die Brücke der Heiligen ging, den Dom Sankt
Kilian besuchte oder einfach durch die Straßen ging, da bewunderte ich die
Deutschen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass am 16. März 1945 fast
achtzig Prozent der Stadt von der Royal Air Force zerstört worden war. Die
Deutschen haben großen Respekt vor der Geschichte und der Kultur. Sie
lieben die Kultur und arbeiten hart um sie zu schützen, um sie für die Welt
und auch für ihre nächsten Generationen zu erhalten.
208
Deutschland
Nguyen Thi Thu Huong
Danach besuchte ich Bamberg, Rothenburg und Aachen, alte Städte mit
sehr interessanten Museen und wunderschönen alten Häusern. Durch die
Architektur dieser Städte habe ich viel über deren Geschichte und Kunst
kennen gelernt.
Meine tiefsten Eindrücke sammelte ich bei meinem Ausflug nach Weimar
mit Frau Kilian und anderen Journalisten von der Heinz-Kühn-Stiftung.
Zum ersten Mal konnte ich mit meinen eigenen Augen die Stadt der großen
deutschen Dichter und Philosophen sehen und bewundern. Ich ging durch
die Räume in den Häusern Goethes und Schillers und sah ihre Möbel, besonders ihre Schreibtische und gleichzeitig hatte ich ein fremdes und mysteriöses Gefühl, das ich nicht erklären konnte. Vor meinem geistigen Auge sah
ich Goethe und Schiller noch an ihren Schreibtischen sitzen und ihre großen
Werke schreiben. Plötzlich fühlte ich mich sehr glücklich.
Deutschland war nach dem 2.Weltkrieg stark zerstört geworden. Während
der 40-jährigen Trennung entwickelten sich die frühe DDR und die BRD
ganz unterschiedlich in Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und natürlich auch
in ihrer Kultur. Die BRD folgte mehr dem westeuropäischen und nordamerikanischen Stil. Aber die frühe DDR blieb konservativ und geprägt von der
sozialistischen Ideologie. Aber trotzdem war es unvermeidlich, dass beide
Länder einem langen traditionellen Weg der gemeinsamen deutschen Kultur
folgten. Die „Klassische Straße“, einschließlich des Goethe Hauses und
des Museums in Weimar wurde sehr gewissenhaft restauriert und akribisch
bewahrt. Der Thomas-Chor in der Thomas Kirche in Leipzig, die in der
Zeit von Johann Sebastian Bach berühmt wurde durch die Sängerknaben,
ist jetzt noch berühmt. In der BRD wurden die Restaurierungsarbeiten am
Kulturerbe noch gründlicher realisiert.
Wohin es mich auch immer führte, von Ostdeutschland über Berlin und
Leipzig nach Westen, zum Beispiel Düsseldorf, Köln oder Bonn, zum Norden
nach Hamburg und hinunter in den Schwarzwald, nach München usw., überall sah ich das gut ausgebaute Autobahnsystem, die Bauernhöfe mit modernen Maschinen, die Weinberge mit den reifen schönen Weintrauben, die
grünen Wiesen wie aus einem Gemälde und viele andere Dinge. Manchmal,
wenn ich mit dem Zug fuhr, sah ich auch die Türme, die Burgen und die
Schlösser auf den Bergen oder an den Flüssen - traumhafte Landschaften,
die ich früher nur aus Märchen kannte.
Die Menschen
Die Deutschen lieben Bücher. Buchgeschäfte kann man überall, selbst
in kleinen Dörfern finden. Sie lesen überall, im Flugzeug, im Zug, an der
Bushaltestelle, im Park, am See, usw. Buchgeschäfte in Deutschland sind
wirklich Paradiese für Bücherwürmer. Ich war in großen Buchhandlungen
209
Nguyen Thi Thu Huong
Deutschland
in Berlin, München, Leipzig, Weimar und Düsseldorf und fand es dort unvorstellbar gut. Hier kann man alle Bücher über fast alle Themen finden.
Irgendwelche Kenntnisse der Menschheit, aus sämtlichen Zeiten der
Weltgeschichte, aus allen Teilen der Welt oder über irgendwelche Themen,
wurden ins deutsche übersetzt und in fast jedem Buchgeschäft in Deutschland
verkauft. Ich finde es toll, dass die Deutschen sich für so viele Fragen interessieren. Wenn ein Ausländer ein Buchgeschäft am Wochenende besucht,
wird man bestimmt, wie ich, überrascht und begeistert sein. Viele Leute
sämtlicher Altersgruppen, gesellschaftlicher Klassen und Berufe kann man
hier treffen. Neben den Millionen von Büchern in den Buchhandlungen gibt
es auch Plätze, um Kaffe oder Tee zu trinken während man ein Buch liest.
Oder Spielplätze und Videoshows für kleine Kinder. Ein Wochenende für
eine Familie in einem Buchgeschäft zu verbringen finde ich sehr interessant und nützlich. Buchhandlungen sind wie ein Spiegelbild der deutschen
Gesellschaft. Ich glaube, wenn man über ein Land etwas lernen möchte,
geht man einfach in ein Buchgeschäft. Hier kann man viele interessante
Dinge finden; über das Land, wie intellektuell die Menschen sind und wie
entwickelt das Land ist.
Viele Menschen denken, dass die Deutschen reserviert und fast unfreundlich sind. Es scheint, dass sie immer distanziert bleiben möchten
von anderen Menschen, die sie nicht kennen. Es dauert Zeit, bis sich die
Deutschen näher kommen. Wenn man allerdings einen echten Freund findet,
hat man eine gute und feste Freundschaft. Anders als in anderen Ländern,
sprechen die Deutschen direkt ihre Meinung aus und geben keine falschen
Versprechungen, die sie nicht einhalten können. Viele Ausländer geben
schnell auf, die Deutschen kennen zu lernen, da es schwierig ist. Es bleiben
dann nur förmliche Beziehungen. Man sollte geduldig sein, die Deutschen
kennen zu lernen, da man am Ende meistens eine sehr gute Freundschaft
erwarten kann.
Deutsche sind meist pünktlich und ordentlich. Dies kann man vor allem in
den Häusern und in den Büros, aber auch auf den Straßen und öffentlichen
Plätzen sehen. Sie möchten sich diese Eigenschaften bewahren, allerdings
finde ich, dass die Deutschen manchmal zu korrekt sind. Man kann nicht
alles organisieren und man sollte flexibler bleiben und Entscheidungen in
bestimmten Situationen treffen.
210
Deutschland
Nguyen Thi Thu Huong
9. Was Vietnamesen sich nicht von Deutschland vorgestellt hätten
9.1 Kulturelle Unterschiede
Es gibt sehr viele Unterschiede zwischen vietnamesischer und deutscher
Kultur. Trotzdem ist der größte Unterschied nach der Meinung von vielen
Vietnamesen das Fehlen eines Gemeinschaftslebens.
Die Deutschen schätzen die individuelle Freiheit zu sehr. Das führt dazu,
dass es an gegenseitiger Fürsorge fehlt und falls einige Leute das tun wollen, würden sie sich auch scheuen, weil man nicht weiß, ob es den anderen willkommen ist oder nicht. Auf den deutschen, sauberen und ordentlichen Strassen ist eine sich freundlich unterhaltende Gruppe von Leuten
selten zu sehen. Stattdessen sieht man stille, gefühlsarme oder auf Arbeit
konzentrierende Gesichter. Noch deutlicher kommt es in den öffentlichen
Verkehrsmitteln vor. Einmal bin ich in die U-Bahn eingestiegen, gerade noch
geschafft, bevor die Tür zuschließt. Aber auf meinen fröhlichen Ausdruck,
mit dem ich mein Glück mit den anderen teilen wollte, gab es nur gleichgültige Gesten. Ein anderes Mal wollte ich einem Mann auf der Strasse helfen,
der seine Sachen in seine Tasche zurückpacken musste, nach dem sie ihm
wegen seines Ungeschickes auf die Strasse gefallen waren. Aber der Mann
sagte: “Danke, ich kann es auch selbst tun“. Plötzlich kam ich mir sehr blöd
vor.
In Vietnam haben wir die Gewohnheit, uns um die Nachbarn zu kümmern, sowie sie zu begrüßen. “Waren Sie gerade auf dem Markt? Sie haben so frisches Gemüse gekauft“. Das sind die Fragen als Ersatz für eine
Begrüßung. Und es bedeutet gar nicht, dass man über das private Leben der
Anderen neugierig ist. “Sie kommen heute so spät! Sie sehen aber nicht gut
aus“. Wenn der Nachbar seine Gefühle mitteilen möchte, kann er darauf hoffen, dass ihm jemand zuhört. Fürsorge, Zuhören und Empfehlungen finden
sich nicht nur unter vietnamesischen Freunden und Familien, sondern auch
innerhalb der vietnamesischen Nachbarschaft.
Viele Vietnamesen, die in Deutschland und Westeuropa leben, fühlen
sich vereinsamt und vermissen die Fürsorglichkeit von den Nächsten. Ich
konnte das verstehen. In den 6 Monaten, die ich in der Luisestraße Nr.7 in
Düsseldorf wohnte, habe ich nur einen Nachbarn im Erdgeschoss getroffen. Und bei jedem Treffen begrüßte ich ihn zuerst und jedes Mal war er
so verlegen, dass er mich komisch anschaute und eine Weile zum “Hallo,
Guten Tag“ sagen brauchte und gleich wegging. Die Lebensweise, dass jede
Familie nur sich kennt und immer mit geschossener Tür ohne Unterhaltung
mit dem Nachbar bleibt, ist sehr schwermütig. Manchmal war ich allein zu
Hause und dachte “Wenn jemand allein zu Hause bleibt und lebensgefähr211
Nguyen Thi Thu Huong
Deutschland
lich krank wird, dann weiß dann auch keiner“. Dieser Gedanke trieb mich
dazu, gleich auf die Straße zu gehen, trotz des nassen kalten Wetters.
Da ich keine Nachbarn zum Plaudern fand, wollte ich meine Freunde im
Haus zu mir einladen, damit wir die Gelegenheit haben, uns über das Leben,
den Beruf, die Liebe usw. zu unterhalten oder mit ihnen zu verabreden, dass
wir zusammen zum Museum oder anderen interessanten Plätzen gehen.
Aber es ist mir nicht immer gelungen. Der Kulturunterschied führt ja zum
Unterschied der Lebensweise.
9.2 Lebensartunterschiede
Deutsche schätzen individuelle Freiheit von anderen hoch und erwarten
das gleiche Benehmen zurück. Dies könnte ab und zu als guter Vorteil betrachtet werden, falls es nicht übertrieben wird.
Vietnamesen wären schon sehr schockiert von dem Lesben- und
Schwulenstraßenmarsch mit komischen Kostüme und unvorstellbaren
Gesten. Obwohl diese Lebensart vor kurzem von der Gesellschaft anerkannt wurde, sind noch weiteren Forderungen auf Gleichberechtigung,
Menschenrechte vorgelegt. Ich fragte mich, ob diese jedoch unverschämt
sind.....
Es gibt noch mehrere Lebensunterschiede, was viele Vietnamesen, die in
der Kultur des Ostens erzogen wurden und aufgewachsen sind, sich niemals
vorstellen und keine Vorstellung davon haben, was sie in diesem so genannten „Paradies“ erleben können.
10. Familienbeziehung
Ich habe beobachtet, wie die europäischen Eltern sich ihren Kindern gegenüber benehmen. Sie hören den Wunschvorstellungen über zahlreiche
Themen von ihren Kindern ganz offen zu, geben aber nur Argumente dafür
und belasten keinen Zwang für die Kinder. Manchmal bemerkte ich, dass
die europäischen Eltern ihre Kinder wie Freunde behandeln.
Das schätze ich sehr positiv und fast jeder vietnamesische Jugendliche
würde sich etwas davon wünschen.
Nicht nur die alten, sondern auch die jungen Vietnamesen glauben noch
an die Konfuziusprinzipien in der Familie und der Gesellschaft. Das führt
dazu, dass die Alten oder Ältere hoch geachtet werden sollen.
In Deutschland sind alle Familiemitglieder gleich geachtet. Die Eltern
lassen die Kinder frei ihre Lebensentscheidung treffen, wie z. B die Wahl
212
Deutschland
Nguyen Thi Thu Huong
für das Studium. Aber einige Dinge könnte die vietnamesische Mehrheit
nicht akzeptieren. Ich nahm an einigen Besprechungen, besonders über das
Thema „Familienbeziehung“ im Goethe-Institut in Düsseldorf teil und stellte meine eigenen Aspekte über die Frage des Verhaltens der Kinder zu ihren
alten Eltern und das Aussehen dieser Frage in der deutschen Gesellschaft
dar. Beispielsweise werden die Eltern oft in Altenheime gebracht, wenn
ihre Kinder erwachsen und völlig beschäftigt mit ihrem Leben sind. Das
könnten die Vietnamesen sich niemals vorstellen. Das ist sehr fremd in der
vietnamesischen Gesellschaft. Aus Gründen des Egoismus möchten sie keine Zeit verbringen, sich um ihre Eltern zu kümmern und sie zu pflegen.
Solche Menschentypen werden in der vietnamesischen Gesellschaft nicht
geschätzt und unmoralisch genannt. Nach dem Buddhismus ist das wirklich
die größte Schuld eines Menschen. Können Sie sich bitte vorstellen, ein alt
gewordener Mensch, lebt im Altenheim, hat nur ein paar alten Freunde zum
reden, Einsamkeit und Traurigkeit bestimmen den Tag, und man wartet nur
noch auf den Tod. Man kann schon verstehen, dass nicht jeder einen kranken Menschen pflegen kann, aber es ist schwer zu akzeptieren. Ich teilte
meine Meinung einem deutschen Freundeskreis mit und erfuhr, dass diese
Lebensart als normales Sozialphänomen in Europa betrachtet wird. Ich meine, kein Vietnamese würde seinen Kindern dieses Lebenskonzept beibringen, welches seine Eltern später in ein Altenheim brächte, wenn die Eltern
alt geworden sind und nicht mehr arbeiten können.
11. Ausländer in Deutschland
Die Ausländer, die ich in Deutschland traf, kamen meisten aus Italien,
Russland, Asien und Afrika.
Sie betreiben Geschäfte, die in der deutschen Gesellschaft kein so hohes
Ansehen haben. Sie beschäftigen sich mit einfachen und minderwertigen
Jobs, die die Deutschen nicht übernehmen wollen. Meistens besitzen sie kleine Gaststätten oder kleine Imbissbuden, Blumen-, Obst- oder Kleiderläden.
Andere sind als Reinigungskräfte tätig. Kein Deutscher interessiert sich für
den Beitrag dieser ausländischen Arbeitskräfte. Manchmal werden sie von
den Deutschen sehr unfreundlich behandelt, ihnen sogar unsympathische
Blicke zugeworfen.
Eines Tages auf dem Weg zum ZDF saß ich im letzten S-Bahn Wagen,
zusammen mit fünf Mitfahrerinnen: eine Mutter und ihre etwa 10-jährige Tochter und zwei Studenten (Ich vermute, dass es Studenten waren, da
sich eine Hochschule in der Nähe vom ZDF befindet). Die Tochter schaute
mich ganz groß an und fragte: „Mutti, warum gehen Chinesen nicht in ihr
Heimatland? Warum bleiben Sie hier? “. Erstaunlicherweise hoffte ich auf
213
Nguyen Thi Thu Huong
Deutschland
die positive Antwort von der Mutter, aber leider ignorierte sie die Frage
und zuckte nur mit den Schultern. Enttäuscht blickte ich die anderen zwei
Studenten an, in der Hoffnung, dass sie eine kleine Antwort geben würden.
Leider schauten sie woanders hin.
12. Praktikum bei der ZDF
Nach 4 Monaten Sprachkurs beim Goethe-Institut Düsseldorf kam ich
aufgeregt zum ZDF, Landesstudio Düsseldorf. Ich habe mir viele Sorgen
gemacht, über die Arbeitsumwelt, das Benehmen der Kolleginnen, welche
Herausforderung es ist, ein gelungenes Praktikum durchzuführen.
Frau Kilian führte mich zum Herrn Direktor ZDF Düsseldorf. Sein freundlicher Empfang befreite mich von meinen ganzen Sorgen. In den folgenden
Tagen befreundete ich mich mit Kerstin Edinger, die mir später unheimlich
viel geholfen hat. Sie wies mich darauf hin, welche Regeln man beim ZDF
beachten musste und wie man sich bei der regelmäßigen Redaktionssitzung
verhalten sollte.
Wegen meiner beschränkten Deutschkenntnisse konnte ich nicht alle offenen Fragen und Themen verstehen. Daher beobachtete ich die ganze Zeit
die Produktion kurzer Nachrichten, die von 1 Minute 30 bis 2 Minuten 30
hergestellt wurden. Ich habe es nach und nach unter fachlichen Aspekten
mit Vietnam verglichen. Die Arbeitsmethode war überhaupt nicht neu für
mich, aber die Gespräche mit den anderen Journalisten interessierten mich
am meisten.
Die Wochen darauf studierte ich selbst meine Lieblingsthemen, nämlich Kulturprogramme. Kerstin Edinger und ich hatten gleiche Interessen
bei der Herstellung der Kulturprogramme, trotzdem war es für mich eine
große Enttäuschung, als ich erfuhr, dass Kulturnachrichten nur gesendet
werden, wenn es aus dem ZDF Zentrum in Mainz keine anderen aktuellen
Nachrichten gibt.
Da ich von meiner Berufserfahrung her sehr viele Kultur-, Kunst- und
Dokumentarfilme herstellte, war ich selbstverständlich sehr enttäuscht, besonders wenn meine ausgedachten Themen nicht akzeptiert wurden.
Das sind einige Meinungen über Arbeitsinhalte. Meine vietnamesischen
Kolleginnen und ich müssen von der Technik und den Maschinen hier sehr
begeistert sein, sogar davon träumen. Die Arbeitsbelastung vietnamesischer
Fernsehjournalisten ist nicht so groß wie die in Deutschland. Vietnamesische
Journalisten konzentrieren sich auf die fachliche Fassung der ausgewählten
Nachrichten, während sich deutsche Journalisten immer auch Gedanken machen müssen, wie sie die Nachrichten an andere Fernsehfirmen oder Kanäle
214
Deutschland
Nguyen Thi Thu Huong
verbreiten bzw. verkaufen können, damit die Produktionskosten wieder hereinkommen.
Früher dachte ich, dass Presse in Deutschland ziemlich fortgeschritten,
offen und frei ist. Das hat sich durch die Zeit viel geändert. In bestimmtem
Umfang kann der Journalist eine Nachricht frei berichten, aber sie muss
sorgfältig recherchiert sein. Nichtsdestotrotz wünschen sich vietnamesische
Journalisten das gleiche.
13. Mein Gesamteindruck und Dank
Das Stipendium der Heinz-Kühn-Stiftung hat mir die beste Gelegenheit
geschaffen, nicht nur schöne Sehenswürdigkeiten in Deutschland zu besichtigen sondern auch beruflichen Erfahrungen zu sammeln.
Die sechs Monate, in der ich in Düsseldorf lebte, studierte und mein
Praktikum absolvierte, waren mir wirklich sehr schön und unvergesslich.
Die Kenntnisse über das Land, die Menschen und die Entwicklung
Deutschlands können mir in Zukunft für mein privates Leben sowie meinen
Beruf eine große Bedeutung bringen.
Ich werde mir weiterhin Mühe geben, so dass ich einen kleinen Beitrag
zur Vertiefung und Verbesserung der Freundschaft zwischen beiden Völkern
leisten kann.
Zuletzt möchte ich mich ganz herzlich bei der Heinz-Kühn-Stiftung
und bei Frau Kilian sowie bei vielen Freunden in Deutschland bedanken.
Besonderer Dank an Kerstin Edinger von ZDF Düsseldorf.
Deutschland ist noch wirklich ein Paradies für mich und viele andere
Leute. Aber ein reales Paradies ist was man fühlt im Herzen.
215
Daniele Jörg
aus Deutschland
Stipendien-Aufenthalt in
Ecuador
25. März bis 06. Mai 2004
217
Ecuador
Daniele Jörg
„Ecuador – Armes reiches Land“
Von Daniele Jörg
Ecuador vom 25.03. – 06.05.2004
219
Ecuador
Daniele Jörg
Inhalt
1. Zur Person
224
2. Ein paar Daten und Fakten zu Ecuador
224
3. Mein Vorhaben
225
4. „Vergiss alles, was du in Deutschland gelernt hast.“
226
5. Die Vermessung der Erde
228
6. Humboldts Erben
229
7. Ein ungewöhnlicher Spaziergang
231
8. Das Urwaldexperiment
232
9. Humboldts Erbin für einen Vormittag
234
10. Carlos und die Männer und Frauen der Defensa
234
11. Agua es vida
236
12. Ein „Lichtblick“?
238
13. Ökologie vs. Ökonomie
239
14. Eine Shuar zwischen Tradition und Moderne
240
15. Man kann nur schützen, was man kennt
241
16. David gegen Goliath
243
17. Waterloo im Urwald
245
18. Die Rückseite der Story
246
19. Das Gewissen von Galapagos
248
221
Ecuador
Daniele Jörg
20. Schaufenster der Evolution
250
21. Feuer im Schlaraffenland
252
22. Galapagos darf nicht sterben!
254
23. Der Herr der Ziegen
256
24. Widmung
258
223
Daniele Jörg
Ecuador
„Die gefährlichste Weltanschauung ist die Weltanschauung der Leute, die
die Welt nie angeschaut haben.“ (Alexander von Humboldt)
1. Zur Person
Daniele Jörg, geboren am 1. April 1967, in Völklingen und Poughkeepsie/
New York State/USA zur Schule gegangen, in Mainz, am Oberlin College/
Ohio/USA und am Woods Hole Oceanographic Institution Biologie studiert
und so Wissenschaft „hautnah“ erlebt. Seit 1991 freie Wissenschaftsjournalistin für den WDR, das ZDF und den Deutschlandfunk. Ab 1995 Redakteurin
im WDR-Fernsehen u.a. für die Sendereihe „Quarks&Co“ und seit Oktober
2004 redaktionell verantwortlich für Dokumentationen und Mehrteiler über
Naturwissenschaften und Technik. Fasziniert von der Aufgabe, komplexe
wissenschaftliche Inhalte in verständliche und unterhaltende Sendungen
umzusetzen – ob es um die Physik eines Luftballons, die Chemie des
Kaffeeduftes oder die Biologie des Tintenfisches geht; aber auch immer
wieder die Chance des Berufes genutzt, um die Zuschauer in einer immer
komplizierter werdenden Welt kompetent zu machen und anzuregen, kritischer Beobachter des Fortschritts und der Globalisierung zu sein.
2. Ein paar Daten und Fakten zu Ecuador
Die Republik Ecuador liegt im Nordwesten Südamerikas und grenzt im
Norden an Kolumbien, im Süden und Osten an Peru und im Westen an den
Pazifischen Ozean.
Ecuador ist ein reiches Land. Wen diese Aussage überrascht, interessiert sich vielleicht mehr für Wirtschaft als für Biologie: In zahlreichen
Biodiversitätsstudien wird Ecuador zu einem der artenreichsten Länder der
Erde gekürt. Mehr als 1.500 Vogelarten finden sich hier, doppelt so viele
wie in ganz Europa. In den tropischen Anden lebt ein Viertel aller weltweit
bekannten Tier- und Pflanzenarten. Wissenschaftler identifizierten dort u.a.
sensationelle 20.000 Gewächse, die es nirgendwo sonst auf der Welt gibt.
„Hot Spots“ nennen Artenforscher solche Gebiete von extrem hoher Vielfalt
des Lebens. Und noch längst sind nicht alle Tiere und Pflanzen Ecuadors
bekannt.
Ecuador ist aber auch ein armes Land. Auf der Fläche Westdeutschlands
leben etwas mehr als 12 Millionen Menschen: Indigene (40%), Mestizen
(40%), Weiße (10%), Afro-Ecuadorianer (10%). Sie verdienen im Jahr durchschnittlich 1.080 US-Dollar (ein Deutscher 23.560$). Haupteinnahmequellen
224
Ecuador
Daniele Jörg
sind der Tourismus und die Landwirtschaft. Erdöl, Bananen, Kaffee und
Garnelen werden exportiert. Seit dem Verfall der Erdölpreise kriselt es in
der Wirtschaft, das Land ist hoch verschuldet (die Tilgung der Schulden
verschlingt etwa die Hälfte des Staatshaushaltes), die Regierung korrupt.
Die eigene Währung, der ecuadorianische Sucre, wurde im Jahre 2000
durch den US-Dollar ersetzt, was die Lebenshaltungskosten zum Teil verfünffacht hat. Der Reichtum ist extrem ungleich verteilt und diese Tatsache
verschärft sich durch die neoliberale Politik der letzten Jahre: Nur 3 Prozent
der Bevölkerung besitzen die Hälfte des Volkseinkommens, 70 Prozent der
Bevölkerung leben in Armut und haben weniger als 2 US-Dollar am Tag
zum Überleben. Schätzungsweise 30.000 Ecuadorianer verlassen pro Monat
ihre Heimat - mit Ziel USA und Europa.
Ecuador ist voller Extreme. Die Anden teilen das Land in drei komplett
unterschiedliche Regionen: die Küstenebene (Costa), die Hochgebirgskette
der Anden (Sierra) und das Amazonasgebiet (Oriente). Jedes dieser Gebiete
hat sein eigenes Klima, wird anders bewirtschaftet und besiedelt, hat eine
andere Geschichte. Höchste Erhebung des Landes ist der 6.310 Meter
hohe Chimborazo. Zu Ecuador gehören aber auch die paradiesischen
Galapagos-Inseln auf Meeresniveau, etwa 1.000 Kilometer vom Festland
entfernt. Auf dem Chimborazo liegt Schnee, auf der Halbinsel Santa Elena
herrscht Wüstenklima. Ein Drittel der Bevölkerung lebt in zwei Städten dem traditionsreichen Quito in den Bergen und der berüchtigten Hafenstadt
Guayaquil.
3. Mein Vorhaben
Ecuador ist ein einzigartiges Land. Es besitzt einen unglaublichen Reichtum an Natur. Ecuador ist aber auch ein armes Land und steht unter einem
großen wirtschaftlichen Druck. Wie wirkt sich dieser Widerspruch auf ein so
wichtiges globales Anliegen wie den Schutz der biologischen Vielfalt aus?
Lassen sich Armut und das Bemühen um den Erhalt der Natur überhaupt
vereinbaren? Was bedeutet Artenvielfalt für die Menschen in Ecuador? Wie
können Zivilgesellschaften dabei unterstützen? Das waren die Fragen, mit
denen ich aufgebrochen bin am 26. März in einen für mich neuen Kontinent
– Südamerika – mit neuen Geräuschen, Gerüchen und Ansichten. Und
ich hatte drei berühmte Reisebegleiter im Gepäck: Charles Marie de La
Condamine, der in der ersten Hälfte des 18. Jahrhundert in Ecuador den
Äquator „entdeckte“, Alexander von Humboldt, der den Rest seines Lebens
von seinen Entdeckungen und Erlebnissen in Südamerika (1799-1804)
zehrte, und Charles Darwin, der wie kein anderer durch seine Reise im
225
Daniele Jörg
Ecuador
Galapagos Archipel (1835) das Weltbild der Biologen prägte. Ich wollte ein
wenig auf den Spuren dieser großen Wissenschaftler wandeln, sehen, was
aus dem Ecuador geworden ist, das sie gesehen hatten. Wollte etwas von den
Empfindungen nacherleben, die „das erste Betreten der Tropen in der Seele
erregt“, und die sie in ihren Werken verewigt hatten.
Cher Monsieur de La Condamine,
ich bedauere es zutiefst nicht zu ihrer Zeit gelebt zu haben. Die Erde war
noch unbekannt. Man war oft der erste Mensch, der einen Flecken Erde oder
eine Insel betrat. Viele wissenschaftliche Rätsel konnten noch durch schiere
Betrachtung gelöst werden – ohne große Maschinen und schnelle Computer,
wie sie die Forschung dieser Tage nutzt. Heute sind Entdeckungen auf der
Erde nicht mehr möglich; den Fuß an Land zu setzen, verkümmert für
den modernen Reisenden zu einem kläglichen „ICH war noch nie hier“.
Dennoch erfüllt das Reisen einen Sinn: Es befriedigt weiterhin die Neugier
des Individuums, verknüpft Welten und Weltanschauungen und schafft neue
Geschichten zum Erzählen und Teilen. Wenn ich Ecuador auch nicht mit
Ihren Augen sehen kann, so kann ich ihnen dennoch berichten, was daraus
geworden ist und mit welchen Zeitgenossen, sie es heute zu tun gehabt hätten.
Herzlichst,
Daniele
4. „Vergiss alles, was du in Deutschland gelernt hast.“
Um Punkt 16 Uhr Ortszeit landet der Airbus 373 der Iberia in der
Hauptstadt Quito, und damit berühre ich zum ersten Mal in meinem Leben
südamerikanischen Boden. Ich war sehr nervös. Doch der Respekt vor dem
Unbekannten und Fremden, der mich immer befällt, wenn ich alleine verreise, wurde mir schnell genommen. Bereits unter der dichten Wolkendecke
tauchte ein vertrautes Bild auf: Ein Häusermeer mit voll gestopften Straßenzügen, bunten Autos und Bussen und riesigen Leuchtreklamen auf den
Häuserdächern. Quito schmiegt sich wie ein gemusterter Teppich an die
grünen und steilen Vulkane rundherum. Die Einreise ist kein Problem, mein
Gepäck ist vollständig und ich steige in ein Taxi, das mich zum Hotel bringt,
so als hätte ich dies schon tausendmal gemacht. Quito macht auf den ersten
Blick keinen gefährlichen Eindruck, auch kann ich in meinem Badezimmer
keine Kakerlaken aufspüren und schlafe ohne Abendessen erschöpft ein. Bis
mich zwei Schüsse vor meinem Hotelzimmer wecken und ich dann zum
226
Ecuador
Daniele Jörg
ersten Mal den Lärm der Strasse wahrnehme - den der Amazonas Avenue,
der geschäftigsten Strasse in Quito. Hier ist wohl doch irgendetwas anders
als in Köln. Was in der Nacht passiert war, konnte ich nicht in Erfahrung
bringen, und es blieben glücklicherweise die einzigen Schüsse, die ich in
den nächsten sechs Wochen hören sollte. Was für ein Empfang!
Am ersten Morgen bin ich verabredet – zum Frühstück mit der Mutter
eines Freundes, die jahrelang in Ecuador gelebt hat und gerade wieder auf
Besuch ist. Sie wohnt nicht weit von meinem Hotel und dennoch werden
diese ersten Minuten zu Fuß durch Quito zu einer kleinen Reise in die
Neue Welt: Wie telefoniert man in Ecuador? Was sind das für Früchte, die
am Straßenrand feilgeboten werden? Wer waren all diese Menschen, nach
denen die Straßen benannt sind (Lizardo Garcia, Joaquin Pinto, Mariscal
Foch), und was ist am 12. Oktober (Avenida 12 de Octubre 1820 – Befreiung
durch Simon Bolivar) oder am 6. Dezember (Avenida 6 de Diciembre 1534
– Gründung Quitos) passiert?
Ich treffe Christiane Janzen im „Centro de desarrollo integral“, einer
psychotherapeutischen Beratungsstelle für EcuadorianerInnen, die von einem Förderverein in Deutschland getragen wird. Geleitet wird das Zentrum
von Vera Kohn, einer eindrucksvollen älteren Dame, die sich mit an den
Frühstückstisch setzt. „Vergiss alles, was du in Deutschland gelernt hast“.
Das sind die Worte, die sich nach der Begegnung mit ihr im Gedächtnis
eingebrannt haben. Vera Kohn ist 93 Jahre alt, geboren in Prag, Ende der
30er Jahren nach Ecuador ausgewandert, sie und ihr Mann sind Juden, er
Architekt, sie Schülerin von Graf Karlfried Dürckheim und der Initiatischen
Therapie. Sie und ihr Zentrum sind eine lokale Berühmtheit. Auch wegen
einer Besonderheit: Wer ihre Hilfe braucht, aber nicht dafür zahlen kann,
dem hilft der Förderverein. An diesem Tag schaut auch das ecuadorianische Fernsehen vorbei, möchte ihre Meinung zum Kinofilm „La Pasión
de Jesús“ von Mel Gibson hören, der im katholischen Ecuador gerade mit
viel Pressebegleitung und gemischten Kritiken gestartet ist. Vera Kohn mag
den Film nicht. Während unseres Gespräches verspüre ich Lust, Ecuadors
Geschichte anhand ihrer Lebensgeschichte zu erzählen. Sie hat alles, was ich
in Büchern und Reiseführern lesen kann, miterlebt und sicherlich eine ungewöhnliche Sichtweise. „Ich kam in ein Dorf mit 300.000 Einwohnern und
habe damals am Stadtrand von Quito gewohnt.“ Doch die imposante Grande
Dame bereitete sich gerade auf eine lange Vortragsreise vor, nach Brasilien
und natürlich hatte sie dafür noch Portugiesisch gelernt. Ich ging also in
mein Hotel zurück und versuchte alles zu vergessen, was ich in Deutschland
gelernt hatte, um für die nächsten sechs Wochen offen zu sein.
227
Daniele Jörg
Ecuador
5. Die Vermessung der Erde
Zur „La Mitad del mundo“ nimmt man entweder ein Taxi oder einen Bus.
Ich entschied mich für den Bus. Sonntags, könnte man meinen, reist ganz
Quito zur Mitte der Welt. Stolz berichtet die Broschüre der Touristeninformation: Der Name Quito sei abgeleitet von „quitsato“, das sei tsafiqui (eine
indigene Sprache) und bedeute Mitte der Erde!
Und damit lässt sich auch gut Geschäfte machen: Die Mitte der Welt bietet
Souvenirs, Empanadas, Folklore mit Tanz und ein paar kleinere Museen mit
Jahrmarktscharakter, Eintritt „un dólar“. Nun war also der große Moment
gekommen, auf den ich mich so lange gefreut habe - meine erste Begegnung
mit dem Äquator. Wie würde er aussehen? „Eine orangene Linie, etwa 20 cm
breit“, notiere ich in mein Buch. Hier also war der Äquator, der dem Land den
Namen gegeben hat, und noch im 18. Jahrhundert ein zentrales Problem der
Wissenschaft war. Sir Isaac Newton hatte eine Theorie aufgestellt, nach der
unser Planet am Nordpol und am Südpol leicht abgeflacht und am Äquator
ausgebuchtet sei. Der französische Astronom Jean Jacques Cassini widersprach. Die Erde, so behauptet Cassini, sei ein längliches Sphäroid, das sich
zu den Polen hin etwas in die Länge zieht und am Äquator leicht nach innen
gewölbt sei – wie ein Mann mit einem dicken Bauch, der seinen Gürtel um
die Taille zu eng zusammengezogen hat. Die Französische Akademie der
Wissenschaften beschloss dieses Problem ein für alle Mal zu lösen. 1734
rüstete sie zwei große Expeditionen aus: Eine sollte nach Lappland ziehen,
zu dem dem nördlichen Polarkreis am nächsten liegenden Punkt, den man
erreichen konnte. Die andere sollte nach Neuspanien gehen: nach Ecuador.
Das Land schien geeignet, da es voller natürlicher Landmarken – Vulkane,
Schluchten, hohe Berge – für die Vermessung war. Ein neugieriger Franzose
namens Charles Marie de La Condamine steuerte einen nicht unerheblichen
Betrag aus eigener Tasche bei, um an dieser Expedition teilzunehmen. Die
Expedition stand zunächst unter keinem guten Stern, man hatte vergessen,
dass Ecuador unter einer ständigen Nebeldecke lag, deshalb wollten sie
möglichst hoch hinaus und gelangten nach Quito (2.850m). Hier misstraute
man den Vermessern der Erde, die mit ihren neumodischen Instrumenten
freiwillig eisige Felsen erklommen und über entlegene Hochebenen wanderten. Man glaubte, sie seien in Wahrheit auf der Suche nach dem Schatz
der Inkas. Die Vermessungen (wissenschaftlich Triangulation) dauerten fast
vier Jahre bis 1739. Am Ende hatte La Condamine ein dichtes Netz von
Linien auf einer Karte eingetragen und festgestellt, dass die Erde tatsächlich
am Äquator den größten Umfang hatte. Der neugierige junge Forscher blieb
noch einige Zeit in Südamerika, schrieb in seinem „Diario de un viaje“ über
228
Ecuador
Daniele Jörg
die Fauna und Flora, über den Rio Amazonas, die Indios und die Siedler am
riesigen Fluss.
Je früher man sich in der Mitte der Welt einfindet, umso ruhiger kann
man den Test machen: Fühle ich mich auf der Nord- oder der Südhalbkugel
wohler? Ich war erst ein paar Tage in Südamerika, postiere mich für ein paar
Sekunden südlich der Linie und dann nördlich. Noch schlägt mein Herz für
den Norden, wie wird es in ein paar Wochen sein? Noch viele Male habe
ich auf meiner Reise den Äquator überschritten oder überfahren und immer
war es ein besonderes Erlebnis. Auch Charles Marie de La Condamine sollte mir unterwegs noch mehrfach begegnen. Fast in jeder größeren Stadt ist
eine Strasse nach ihm benannt oder kennzeichnen Tafeln Gebäude, die in
seine Messungen eingeflossen sind, wie die hübsche Kirche „El Sagrario“
in Cuenca.
6. Humboldts Erben
Lieber Professor von Humboldt,
wenn Sie wüssten, wie viel von Ihrem Garten Eden, wie Sie den Süden
Ecuadors benannt haben, übrig geblieben ist. Wenn man als Mitteleuropäer
durch die Lande reist, scheint es im Vergleich zu Zuhause dicht bewaldet,
doch nirgendwo in Südamerika wird so schnell abgeholzt wie in Ecuador.
Dieses Vergehen an der Natur beschrieben Sie damals als „unvorsichtige
Hast“ und hatten es nur vereinzelt beobachtet, heute sind es 2% des Waldes,
die jährlich für immer verschwinden. Nur wenige haben die Notwendigkeit
einer Veränderung erkannt und kämpfen um den Erhalt der Arche Noah.
Und von denen will ich Ihnen berichten.
Sie bewundernd,
Daniele
„Funktionalität in einem tropischen Bergregenwald Südecuadors“ heißt
das Projekt, das ein Dutzend deutscher Doktoranden und Diplomanden in
einem Haus am Rande des Nationalparks Podocarpus zusammenbringt, dort
wo auch Alexander von Humboldt fleißig Exemplare aus Flora und Fauna
gesammelt hat. Die Fahrt zur Estación Cientifica San Francisco (ECSF) ist
heute sicherlich nicht mehr so beschwerlich wie damals zu Fuß oder auf dem
Rücken eines Esels. Aber ungefährlich auch nicht, wenn man sich den typischen ecuadorianischen Reiseuntersätzen – Bussen - anvertraut. Auch nach
sechs Wochen intensiver Studien bleibt es mir ein Rätsel, wann gebremst,
geschaltet oder beschleunigt wird. Auch die Theorie, dass dies im Rhythmus
229
Daniele Jörg
Ecuador
der Musik, die die Reisenden dauerbeschallt, stattfindet, konnte ich nicht
endgültig bestätigen. Von Quito nach Loja dauert die Busreise ca. 15 Stunden
und größtenteils führt die Strasse – schnell oder schottrig – durch sanfte
grüne Hügel, die an die Schweiz erinnern. Verstärkt wird dieser Eindruck
durch die überall weidenden schwarz weiß gefleckten Kühe. Zwischendurch
geht es immer wieder hinauf auf über 3.000 m durch nebeliges Hochland,
die „paramo“. Von Loja nimmt man ein Taxi, übt sich in ausweichenden
Antworten auf die typischen Fragen, ob man verheiratet sei (am besten immer mit „Ja“ beantworten) und was der Mann denn so mache etc. und dann
ist man plötzlich da. Die Straße geht weiter, ein kleiner Weg führt nach
unten, ein Schild weist auf die Forschungskooperation hin, die die Deutsche
Forschungsgemeinschaft (DFG) und die amerikanische Stiftung „Nature
and Culture International“(NCI, dahinter steckt der betuchte amerikanische
Geschäftsmann Ivan Gayler) vereinen. Doktor Felix Matt, der Koordinator
der Station, begrüßt mich, gibt mir einen Rundgang, erzählt, dass eigentlich seit Februar Regenzeit sei. Es ist später Nachmittag und noch immer
knallt die Sonne unerbittlich vom Himmel. Während unserer Unterhaltung
kommen die ersten Nachwuchsforscher aus dem Wald zurück, mit verdreckten Stiefeln und Tüten voller Dreck – Bodenproben, wie ich später lernen
werde. Beim Abendessen spricht man von T1 und Q5, und welchen Weg
man morgen am besten mit mir abgehe, damit ich sehe, wie und was hier
gearbeitet wird. Für einen Moment fühle ich mich zurückversetzt in meine
Studentenzeit. Später inspiziere ich die Station auf eigene Faust und entdecke
im und um das Haus herum die ersten Merkwürdigkeiten: Kameras, scheinbar ins Nichts gerichtet, Metallschleifen, die Bäume wie Vogelringe umgreifen, und junge Menschen, die bis tief in die Nacht getrocknete Pflanzen
sortieren und beschriften, fotografieren, mikroskopieren, zählen. Das sind
also die Erben Humboldts 2004. Humboldt war mit dem gleichen Problem
beschäftigt: Die Biodiversität um die Station herum ist phantastisch. In jeder
Ecke sitzen andere Arten, man kann die neuen Arten gar nicht so schnell beschreiben, wie man sie findet. Humboldt veröffentlichte über seine Amerikaexpedition den größten privaten Reisebericht der Geschichte, das 34bändige
Werk „Voyage aux régions équinoxiales du nouveau Continent“. Gleich zu
Anfang des Projektes wartete das Untersuchungsgebiet rund um die ECSF
mit einer Sensation auf: Ein Doktorand hat dort 1.000 verschiedene Arten
von Nachtschmetterlingen gesammelt, das sind um ein Zehntel mehr Arten
als bislang in Europa gefunden wurden. Eine solche Artenvielfalt ist weltrekordverdächtig und macht den Wald zum hottest hotspot zumindest für
Nachtschmetterlinge. Über Referenz-Kollektionen in der ganzen Welt konnte er die meisten wissenschaftlich zuordnen, trotzdem bleiben zirka 300
neue Spanner-Arten auf kleinstem Raum. Für einen Grundlagenforscher
230
Ecuador
Daniele Jörg
stellt sich die Frage, warum dieses Gebiet so vielfältig ist und wie all diese Arten nebeneinander vorkommen können. Schafft die außergewöhnliche
Topografie des Nationalparks – ein Gebirge von bis zu 3.600 m Höhe trennt
die feucht-warme Luft des Amazonas auf der Ostseite von der kühlen Luft
auf der Westseite – so genannte Mikroklimate? Begünstigen diese vielen
verschiedenen Lebensräume die Entstehung endemischer – nur hier vorkommender – Arten? Mittlerweile konnten die Forscher den Artenreichtum
nicht nur bei Nachtschmetterlingen feststellen, sondern auch bei anderen
Insekten, Vögeln und Bäumen.
7. Ein ungewöhnlicher Spaziergang
Am Tag zwei meines Besuches geht es dann los auf den Q2 (Quebrada
= Schlucht) und schnell wird mir die Bedeutung des Wege-Codes klar: Wie
Adern durchziehen die Wege den Wald und die Forscher fluten genau auf
diesen Pfaden den Wald. Der Weg ist steil und rutschig, teilweise mit einer
kleinen Holztreppe ausgerüstet, denn die Forscher müssen hier jeden Tag hinauf. Überall entdecke ich Messgeräte, Absperrungen, Behälter. Kein Baum,
kein Stückchen Boden, das nicht markiert und studiert wird. Densiometer
umarmen Bäume, um so das Dickenwachstum zu messen. Netze in Serie
gespannt sammeln den Kot der Fledermäuse, wenn er von den Bäumen fällt.
In Folien eingeschweißte, meist zweisprachige Computerausdrucke weisen
darauf hin, dass auf dem Plot 21 die AG Liede eine „Toma de muestras“,
also Proben entnimmt, oder in Plot 17 auf jeden Fall „Unbefugtes Betreten
verboten sei“, um die Versuchsergebnisse nicht zu verderben. Mein Begleiter
Ulf Soltau von der Universität Bayreuth interessiert sich für den Unterwuchs
und wird insgesamt ein Jahr auf der Station verbringen. Er hat so genannte
Transsekte von 100 m Länge und 2 m Breite abgesteckt, die er in regelmäßigen Abständen untersucht, und führt genau Buch über das, was dort wächst
und gedeiht. Er kennt sich sehr gut aus im Wald und weiß, was die anderen hier so erforschen. Ich lerne viel über Orchideen, winzige und prächtige, und wie sie sich fortpflanzen. Damenstrümpfe kommen zum Einsatz:
Über die Blüten gestreift, helfen sie die Frage zu beantworten, ob diese
sich selbst befruchten können oder nicht. Als nächstes betreten wir einen
Abenteuerspielplatz mit Kletteranlagen und Bretterverschlägen, die wertvolles Gerät vor dem Regen schützen. Ulf erklärt, dass hier der Wasserkreislauf
von Bäumen untersucht wird. Die Bäume sehen aus wie Patienten, denen
ein EEG angelegt wird: Unzählige Kabel sind am Stamm angebracht. Die
Forscher wollen so herausfinden, wie schnell das Wasser im Baum aufsteigt.
Nebenan im „Rutschenpark“ wird Regenwasser gesammelt, um zu sehen,
231
Daniele Jörg
Ecuador
was über den Regen alles an Nährstoffen in den Wald eingetragen wird. Wir
kommen an einer Wetterstation vorbei, die u.a. die Menge an Nebel und
damit Feuchtigkeit pro Tag misst. Eine handbetriebene Seilbahn über den
Fluss San Francisco bringt uns aus dem Untersuchungsgebiet zurück an die
Station. Die Arbeit der Forscher an der ECSF ist ein Pilotprojekt, wohin man
auch schaut. Die Wissenschaftler betreten mit der Ökosystemanalyse eines
abgesteckten Stückes Primärwald Neuland. Hier arbeiten Bodenkundler neben Botanikern, Pilzkenner mit Tierökologen und Forstwissenschaftler mit
Klimatologen zusammen und das ganze auch noch zweisprachig: Deutsche
mit Ecuadorianern und Ecuadorianer mit Deutschen. Der Vorteil: Somit
ist es erstmals möglich, die Ergebnisse direkt aufeinander zu beziehen.
Vielleicht können die Wetterkundler mit dazu beitragen, zu klären, warum
man in einem Jahr fruchtbare Samen findet und im nächsten Jahr nicht.
Die Fledermausexperten jedenfalls haben herausgefunden, dass bestimmte Baumsamen erst den Magen-Darm-Trakt einer Fledermaus passieren
müssen, um auszukeimen. Keine unerhebliche Einsicht, wenn man eine
Baumschule anlegen will, um die abgeholzten Flächen wieder aufzuforsten.
Und damit sind wir mittendrin, denn nicht alles ist so rosig und harmonisch,
wie es auf den ersten Blick scheint.
8. Das Urwaldexperiment
„Wenn man in Ecuador was Besseres ist, streift man nicht durch den
Wald“, damit skizziert Dr. Luis Romero, Direktor der Universidad Técnica
Particular de Loja, wie schwierig es ist, seinen Studenten die Kooperation
zwischen der Estación und seiner Universität zu vermitteln. „Universitäten
in Ecuador sind eher auf Lehre als auf Forschung ausgerichtet“, sagt er. Alle
hier wissen um das Grundproblem ihrer Zusammenarbeit: den unterschiedlichen Ansichten über die Natur. Verallgemeinert liest sich das so: Für einen
Ecuadorianer ist jedes Stück Nationalpark und auch die Forschungsstation
verlorenes Land, da er das Gebiet nicht mehr nutzen kann und damit ein
Stück Einkommen verloren geht. Die Bauern gewinnen neue Felder üblicherweise durch Brandrodung. Zwischen den verkohlten Baumstämmen
ziehen sie Mais oder Bohnen zum Überleben. Immer wieder flammen sie
ab, nach wenigen Ernten werfen die Felder kaum noch Ertrag ab und werden zu Weiden umfunktioniert. Eine Art Hirse dient den Haustieren als
Futter. Auch hier beschleunigen die Bauern das Wachstum durch regelmäßiges Abflammen. Dadurch gewinnt aber auch ein aggressives Unkraut immer mehr an Boden: der Adlerfarn. Er verbreitet sich mit unterirdischen
Ausläufern und schießt schließlich schneller als das Weidegras in die Höhe.
232
Ecuador
Daniele Jörg
Der Adlerfarn überwuchert die Weiden, ist auch durch Abflammen nicht
mehr kleinzukriegen, da seine Wurzeln sehr tief reichen. Dazu kommt:
Fressen die Kühe zuviel Adlerfarn, wird die Milch ungenießbar. Die Bauern
geben die Weiden auf und das nächste Stück Wald wird in Brand gesetzt. Ein
Teufelskreis. Ein wichtiger Forschungsschwerpunkt der ECSF ist deshalb
„Nachhaltiges Agrar- und Forstökosystemmanagement in Südecuador“, initiiert vom Forstwissenschaftlichen Institut der TU München. Vor allem „Das
Urwaldexperiment“ hält die Gemüter auf Trab. Wie wächst ein Baum im
Primärwald und was kann man daraus für nachhaltiges Wirtschaften lernen?
Der Versuch findet auf drei Flächen statt. Zunächst werden Bäume – vor allem wertvolle Hölzer – ausgesucht, aufwändig vermessen und markiert. Eine
Fläche soll unberührt bleiben, auf den beiden anderen werden so genannte
Bedränger abgeholzt – einmal 18 und einmal 36 Bäume. Ziel ist es, zu beobachten welchen Einfluss die Bedränger auf die Wachstumsgeschwindigkeit
haben und wenn ja, wie sich diese beschleunigen lässt. Wenn man über all
diese Daten verfügt, kann man den Wald nutzen und gleichzeitig erhalten,
erhoffen sich die Forscher. Die wertvollen Hölzer verkaufen sich gut, die
Bedränger lassen sich in Holzkohle umwandeln und der Wald sorgt dauerhaft für Nachschub an beidem. Aber bis dahin ist es noch ein weiter Weg.
Die Vermessungsarbeiten laufen schleppend: Auf der einen Seite ist es trotz
moderner Technik wie GPS und Laser nicht ganz einfach, die Höhe eines
Baumes im dichten Wald zu bestimmen, auf der anderen Seite finden die
Professoren keinen, der diese mühsame Arbeit unentgeltlich übernimmt.
Und die Zeit drängt, denn im Sommer 2004 läuft die Erlaubnis des ecuadorianischen Umweltministeriums zum Abholzen aus. Unaufgefordert hat
mir jeder an der Station seine Meinung zum Urwaldexperiment kundgetan,
sei es der Missmut über den x-ten Praktikanten, der angeheuert wurde, um
das Projekt durchzuführen und frustriert wieder abgefahren ist, seien es die
Spuren, die das Experiment im Wald hinterlassen wird. Ulf, der Botaniker,
ist dagegen, weil seine Transsekte davon betroffen sind und dadurch möglicherweise seine Ergebnisse beeinflusst werden. Rütger, der Klimatologe,
und Felix, der Fledermausexperte, sind dafür, weil sie keine andere Chance
sehen, den Wald zu erhalten, als ihn nachhaltig und zusammen mit der lokalen Bevölkerung zu bewirtschaften. Sonst ist er in 10-20 Jahren weg. Die
Kunde vom Urwaldexperiment ist bis nach Quito gedrungen. Die führende
Dame des Ökotourismus (Jean Brown von „Safari Tours“) gab mir zu verstehen, dass sie von diesem Projekt gar nichts halte. Warum müsse man
Wald abholzen, um zu sehen wie er nachwachse. Für sie ist jeder abgeholzte
Baum ein verlorener Baum für Ecuadors Zukunft.
233
Daniele Jörg
Ecuador
9. Humboldts Erbin für einen Vormittag
Mein dritter Tag auf der Station wird zur Reise in meine Vergangenheit als
Biologie-Studentin. Ulf hat mir angeboten, in ein anderes Untersuchungsgebiet mitzukommen, eine Autostunde entfernt, 1.000 m niedriger gelegen,
am Fluss Bombuscaro. Die Vegetation würde eine andere sein und auch das
Klima. Dafür könne ich auch bei einem Forschungsprojekt behilflich sein:
Ich sollte Pflanzen der Art Caladium bicolor markieren, ein unauffälliges
Gewächs am Wegesrand mit handtellergroßen grünen Blättern. Ihm sei bei
seinen Streifzügen durch den Urwald aufgefallen, dass manche Individuen
dieser Art panaschierte (also grün-weiß gemusterte) Blätter hatten, Bei genauerer Betrachtung fand er aber auch Blätter, die von einer Insektenart befallen waren und deren Freßgänge oberflächlich gesehen in den Blättern ein
ähnliches Muster hinterließen. Ist die Panaschierung also eine Art Schutz
der Pflanze, die dem Insekt signalisiert, dass sie schon befallen sei? Ulf will
dieser Frage einfach so, aus Spaß an der Forschung, auf den Grund gehen.
Wir haben also einen Vormittag damit verbracht, 300 Caladium bicolor zu
markieren: 100 Schildchen an grüne, 100 Schildchen an panaschierte und
100 Schildchen an grüne Blätter, auf denen wir mit Tipp-Ex ein fleckiges
Muster vortäuschen. Es hat Spaß gemacht und Ulf wird mir dann später
hoffentlich berichten, was aus seiner Theorie geworden ist.
10. Carlos und die Männer und Frauen der Defensa
Wald sollte zu DEM Thema meiner Recherchen in Ecuador werden. Auf
meiner nächsten Station war ich nicht mehr alleine. Ich hatte die einmalige
Gelegenheit, meine Kollegin Annette Hasselmann von GEO zu begleiten.
Sie arbeitet für den Verein „GEO schützt den Regenwald e.V.“, der durch
Spendengelder weltweit Projekte zum Erhalt der Artenvielfalt unterstützt.
Annette hatte ich während der Vorbereitungen zu meiner Reise gefragt, ob
sie noch einen Tipp für mich bereithalte, da ich ihr unglaubliches Netzwerk
schon einmal schätzen gelernt hatte. Und da sagte sie mir, dass sie im April
auch in Ecuador sein werde, um u.a. ein neues Projekt im Bergregenwald
anzuschieben. Die Hamburger Firma „Lichtblick“ war mit dem Verein in
Kontakt getreten, sie suchten nach einer guten Sache, die sie fördern können und die kundenwirksam ist. Lichtblick vertreibt seit der Liberalisierung
des Strommarktes 1998 „grüne“ Energie, und das nach einem schwierigen
Start heute mit enormen Zuwächsen. Wenn Lichtblick für jeden der momentan 100.000 Kunden einen bestimmten Betrag für einen guten Zweck
abgibt, dann kommt eine Menge Geld zusammen – und je mehr Kunden
234
Ecuador
Daniele Jörg
sich dadurch angesprochen fühlen, umso mehr Geld steht zur Verfügung.
Annette hat auch gleich einen guten Zweck identifiziert. Vor einem Jahr
hatte sie auf einer anderen Ecuador-Reise von Carlos Zorrilla gehört, ihn
besucht und versprochen, dass sie wiederkommen würde – mit Geld in der
Tasche. Carlos strahlt eine ganz besondere Faszination auf Menschen aus
– Landsleute wie Besucher, Politiker wie Idealisten. Carlos steht für die
Veränderung von unten, für den Kampf gegen Armut und Ungerechtigkeit.
Carlos Zorrilla lebt in Intag, einem bergigen Landstrich im Cotacachi
County unweit von Otavalo im Norden Ecuadors und hat die „Defensa y
Conservación Ecológica de Intag (DECOIN)“ gegründet – eine Nichtregie
rungsorganisation mit wachsendem Zuspruch in der Region. Carlos wohnt
mit seiner Familie auf „La Florida“; das ist kein Zynismus und kein AntiBushismus: Carlos ist US-Amerikaner, geboren in Kuba, dann nach USA
ausgewandert und von dort nach Ecuador eingewandert – auf der Suche nach
etwas Sinnvollem in Leben. Den Sinn hat er auf La Florida gefunden, einer
blühenden Landschaft aus 500 Hektar unberührtem Bergregenwald mit eigener Quelle, bestechender Artenvielfalt, einer Kolonie des seltenen Roten
Felsenhahns (Rupicola peruviana) und einem Garten, der die vierköpfige
Familie fast selbst versorgt. Auf La Florida ist ständig was los: Armando
berichtet Carlos von den neusten Waldgrundstücken, die zum Verkauf angeboten werden. Mary Ellen Fieweger, ebenfalls aus USA, vermittelt uns für
ein Interview an einen Journalisten ihrer Zeitung „El Periódico INTAG“.
Roberto von nebenan, der mit im Garten arbeitet und der Chef der lokalen
Kleinbauerninitiative ist, berät sich mit Carlos über die am Wochenende
anstehende Minga, seine Frau Norma schaut kurz mit den Kindern vorbei.
Norma ist Mitglied in der „Grupo de mujeres“ und zeigt Carlos die neuen Muster der Kaffeesäckchen. Ihre Frauengruppe ist sehr aktiv und fertigt
neben den Säckchen allerlei Kunstvolles aus Cabuya: Taschen, Tischsets,
Rucksäcke, Hüte. Verkauft wird u.a. im „Toisán“, einer Art Eine-Welt-Laden
direkt neben dem Mercado de Ponchos in Otavalo. Das Projekt, Touristen
Alternativen zu dem bunten Warenangebot, für das Otavalo berühmt ist,
zu bieten, an dem aber auch das Stigma Ausbeutung und Kinderarbeit haftet, wurde bereits von „GEO schützt den Regenwald“ unterstützt. Carlos
zeigt Annette die Bilder von der Eröffnungsfeier, die einen Tag vor unserer
Ankunft stattgefunden hatte.
Cabuya – Sisal, ist ein wichtiges Wort in Intag und Fluch und Segen zugleich. Sisal sind die Fasern der Agave, die gewaschen, aufwändig zu einem
Faden gewoben, gefärbt und dann verarbeitet werden. Ein Fluch, da beim
Auswaschen natürliche Substanzen in hohen Dosen ausgeschwemmt werden, die für Fische Gift sind und das Wasser als Trinkwasser ungenießbar
machen. Segen, da die Cabuya Arbeit und Einkommen für die Frauen be235
Daniele Jörg
Ecuador
schert und sie damit unabhängiger von ihren Männern macht. DECOIN engagiert sich deshalb mit einer Info-Kampagne: Rät die Fasern statt im Fluss
in geschlossenen Wasserbecken zu waschen, die man dann entsprechend
klären kann, hilft bei der Auswahl von möglichst natürlichen Farben und
unterstützt beim Verkauf.
11. Agua es vida
Wasser und Wald gehören zusammen. Wer einmal eine Nacht im
Bergnebelwald verbracht hat, weiß das. Alles ist klamm und feucht und
morgens mit den ersten wärmenden Sonnenstrahlen kann man zuschauen,
wie sich aus der Feuchtigkeit Nebel und aus dem Nebel Wolken formen, die
dann langsam den blauen Himmel verschleiern, bis sie so schwer werden,
dass Regen hinausfällt. Der Kreislauf des Wassers beginnt wieder von vorn.
Überall auf der Welt haben Wissenschaftler diesen kleinen Kreislauf des
Wassers untersucht und nichts ist dabei so wichtig wie die Bäume, die das
Wasser im Boden und den Nebel mit ihren Blättern einfangen. In Ecuador
jedoch ist der Wald auch eine wichtige Einnahmequelle: Er ist eine Quelle
für edles Holz, das sich zu stolzen Preisen verkaufen lässt, aber auch für
wertloses Holz, aus dem sich in der Masse noch Geld machen lässt oder das
als Brennstoff zum Heizen und Kochen dient. In Ecuador gibt es noch weite
Landstriche ohne Elektrizität! Ist der Wald abgeholzt, eignet sich das Land
zumindest noch eine Zeit lang als Acker oder Weide. Ist der Wald weg, ist
auch der Wasserkreislauf unterbrochen, und noch viel schlimmer, der Boden
verliert an Halt. Es klingt vielleicht überraschend, aber Regenwaldboden
ist nicht besonders fruchtbar. Die Humusschicht ist nur wenige Zentimeter
dick, locker und liegt meist auf festem steinigem Grund. Und die rutscht
schnell ab – ein natürliches Phänomen, beschleunigt durch menschlichen
Einfluss. Überall sieht man die Spuren der unzähligen Erdrutsche an den
schroffen Berghängen der Sierra. Und noch eines kommt hinzu: Die Kühe,
die die gerodeten Hänge beweiden, lockern die Erde immer weiter auf und
machen zudem eine Menge Mist. Der wird durch den Regen (z.B. aus dem
großen Wasserkreislauf der Wettermaschine Amazonas) mitgerissen, die
ganze „Sch...“ fließt den Hang hinab in die Flüsse, aus denen die Leute ihr
Wasser schöpfen. Trinkwasseraufbereitung ist nicht sehr verbreitet auf dem
Lande. Die weitere Dramaturgie sei der Phantasie überlassen.
Wasser ist Leben – „Agua es vida“ – prangert dann auch an gigantischen
Reklametafeln überall im Land, eine Werbekampagne des Umweltministeriums. Über Wasser ködert auch Don Carlito – wie die Einheimischen den
großen Bärtigen Carlos Zorrilla ehrfurchtvoll nennen – die Bewohner von
236
Ecuador
Daniele Jörg
Intag. Ihr ganzes Leben dreht sich ums Wasser – um die Menge und die
Qualität. Und in den letzten Jahren haben sie gemerkt, dass Wasser keine Selbstverständlichkeit mehr ist. Es wird knapper und es macht krank.
Komitees innerhalb der Juntas parroquiales – der Gemeindevorstände – wurden berufen, die sich um die gerechte Verteilung und Sauberkeit des Wassers
kümmern, und immer häufiger nehmen sie Kontakt zu DECOIN auf. Denn
DECOIN hat sich zur Aufgabe gemacht, Wasserscheiden für die Gemeinden
zu kaufen. Und das funktioniert so: Die rechte Hand Don Carlitos, Armando
Almeida, kennt die Gegend wie kein anderer und verfügt über ein gutes
Netzwerk. Auf den ersten Blick scheint der 36jährige nicht gerade kommunikativ, aber er weiß Bescheid, wann und zu welchem Preis Primärwald
in Privatbesitz verkauft werden soll. Und er ist ein guter Verhandler – „der
Beste“, lobt Carlos. Wenn Armando von einem Angebot hört, fährt er mit
seinem Motorrad hin, begeht das Grundstück mit dem Besitzer und vermisst es. Denn oft existieren keine oder nur sehr ungenaue Besitzurkunden.
Jeder Quadratmeter zu viel bezahlt, ist ein Verlust für die Gemeinschaft,
da dieser Prozess mit den knappen Mitteln von DECOIN – also vor allem
Spendengeldern - bestritten wird. Passt das Stück Wald zu einer Gemeinde,
die sich den Zielen von DECOIN verpflichtet hat, beginnt der offizielle
Teil der Verhandlungen und des Erwerbs. Nicht die Defensa sondern die
Gemeinde selbst wird Grundbesitzer. DECOIN legt nur Wert darauf, dass im
neuen Vertrag einige wichtige Klauseln eingefügt werden: Auf dem Gebiet
darf nicht abgeholzt und nicht gejagt werden, es darf nicht landwirtschaftlich genutzt oder Viehzucht betrieben werden. Kurz, alle Aktivitäten, die
die Vielfalt der Tiere und Pflanzen und somit auch die Menge und Qualität
des Wassers bedrohen, sind verboten. Steht für eine Gemeinde nur Land zur
Verfügung, das teilweise oder komplett gerodet ist, steht DECOIN ebenfalls zur Seite. Sie haben Baumschulen eingerichtet – viveros. Die spanische Bezeichnung gefällt mir viel besser, da sie von „vivir“ gleich „leben“
abgeleitet ist und damit viel treffender beschreibt, um was es hier geht.
Baumschulen sind an sich nichts Besonderes in Ecuador, es gibt viele davon
– aber sie bieten vor allem Eukalyptus und Kiefern an: Bäume die schnell
wachsen, aber nicht in Ecuador heimisch sind und den Boden zunehmend
auslaugen. Nur wenige Pflanzen können neben Eukalyptus bestehen, die
Tiere finden wenig Nahrung, die Artenvielfalt schwindet. „Grüne Wüsten“
nennen Experten deshalb mit diesen Arten wieder aufgeforstete Gebiete.
Carlos und Armando bringen uns im Landrover, neben dem Motorrad übrigens die beste Methode sich auf den staubigen bzw. schlammigen Wegen
in Intag fortzubewegen, zur Baumschule von Milton. Milton und eine Reihe
Freiwilliger sammeln in den Wäldern Setzlinge, also junge Bäumchen,
die dann in der Schule zu kleinen Bäumen heranwachsen, bis sie bereit
237
Daniele Jörg
Ecuador
sind, umgepflanzt zu werden. DECOIN kauft sie Milton ab, gibt sie an die
Gemeinde weiter, die dann in einer großen gemeinsamen Pflanzaktion die
Wiederaufforstung beginnt. Ich lerne an diesem Tag, wie eng hier alles miteinander verzahnt ist, wie viel Engagement auf allen Seiten nötig ist, um
ein für uns so selbstverständliches Gut – Wasser – auch für die zukünftigen
Generationen zu sichern. Carlos fasst unser Erstaunen in druckreife Worte:
„Nachhaltigkeit ist möglich, nicht vom Staat verordnet und von Gesetzen
vorgegeben, sondern als lokale Aktion. Veränderung von unten, jedenfalls in
Entwicklungsländern, geht es nur so.“ Das Beispiel Wasser gibt ihm Recht.
12. Ein „Lichtblick“?
„Von innen“ lerne ich in diesen Tagen auf „La Florida“ Ecuador kennen.
Am nächsten Tag bringt uns Carlos zum Bürgermeister von Cuellaje. Auf dem
Weg passieren wir mehrere kleine Gemeinden, es ist Samstag, und das heißt
Versammlungstag – die Frauengruppe, die Dorfverwaltung, das Wasserkomitee etc. – überall in Intag blüht das zarte Pflänzchen der Basisdemokratie.
Und immer wieder hält Carlos an, um uns der Schatzmeisterin von DECOIN,
dem Präsidenten der Gemeinde, dem Vorsitzenden der Junta oder aber einem guten Freund vorzustellen. Zwischendurch wird das Auto auch mal zum
Taxi, Don Carlito ist beliebt und bekannt für seine Freundlichkeit. Cuellaje
liegt am Rande des Naturschutzgebietes Cotacachi-Cayapas, auf zirka 2.000
m Höhe. Ein richtig totes Nest, kein Mensch auf der Straße. Mais wird gegen
alle Hygieneregeln auf der Straße getrocknet, ein Schweinskopf baumelt im
Türbogen, ein Schild nebenan weist darauf hin, dass es hier Käse zu kaufen
gibt. Armando erkennt das Motorrad des Bürgermeisters und wir werden in
einen Hinterhof mit Billardtischen geführt (Ich schwöre, genau so war es,
kein Zugeständnis an die Dramaturgie;-). Jose Garzon, ein Mann um die 40
mit kunstvoll rasiertem Bart und gepflegtem Äußeren hat wenig Zeit, aber
bei ein paar Flaschen Bier (Mittagszeit am Äquator!) kommen wir doch ins
Gespräch. Carlos hatte Cuellaje als möglichen Partner für Annettes Projekt
ins Auge gefasst. Er hatte von der guten Arbeit Joses gehört und außerdem
stehen große Stücke Wald oberhalb der Gemeinde zum Verkauf. Das sind
nicht nur wichtige Wasserscheiden, sondern sie könnten auch attraktiv sein
für einen sanften Gemeinde- und Naturtourismus, den DECOIN den Bauern
als alternative Einkommensquelle schmackhaft machen will. Man unterhält
sich ganz allgemein über die Pläne der Gemeinde Cuellaje, die Ziele, die
sie sich gesetzt haben für die nächsten Jahre. Carlos hat uns darauf hingewiesen, keine Erwartungen zu wecken, erst abzuchecken. Garzon ist ebenso
vorsichtig und erzählt von den schlechten Erfahrungen, die man in Ecuador
238
Ecuador
Daniele Jörg
mit Organisationen und vor allem mit Politikern gemacht hat. Man vereinbart, dass eine Abordnung von DECOIN demnächst vorbeischauen wird.
Zumindest ein Teil des Misstrauens scheint ausgeräumt.
Auf der wöchentlichen Versammlung von DECOIN in Apuela, an der wir
am Tag darauf teilnehmen, hat es sich herumgesprochen. Irgendeine deutsche Organisation will eine Kooperation eingehen: die Frauengruppe, der
Gemeindevorstand, die Jugendgruppe sprechen vor. Annette ist sich sicher,
dass sie mit ihrem Gefühl richtig lag. Carlos und die Männer und Frauen
der Defensa sind die richtigen Partner für Lichtblick. Jetzt braucht es nur
noch Zeit und Diplomatie, um die geeigneten Gemeinden zu identifizieren,
um zu planen, wie man das Geld aufteilt. Kauft man nur Wald oder investiert man einen Teil in Umweltbildung, unterstützt eine Frauengruppe und
baut eine weitere Baumschule auf? Den Feinschliff will Annette Carlos und
DECOIN überlassen, sie kennen sich am besten aus und verfügen über das
unentbehrliche Wissen, wie man in Ecuador erfolgreich für die Zukunft und
gegen Korruption kämpft.
13. Ökologie vs. Ökonomie
Cantón Cotacachi in der Provinz Imbabura ist aber nicht nur wegen
DECOIN und Carlos Zorrilla die Reise wert. Der Landkreis umfasst 1.800
km² (fast so groß wie das Saarland) vor allem bergiges Gebiet in den Anden
mit dem Cotacachi Vulkan (4.900 m) als höchster Erhebung, seine Ausläufer
reichen fast bis an den Pazifik auf 300 m. Die Reserva Ecológica CotacachiCayapas zählt zu den artenreichsten Gebieten Ecuadors und damit der Welt!
36.000 Menschen leben im Cantón: Indigene, Afro-Ecuadorianer, Mestizen.
Die Hauptstadt Cotacachi wird von einem jungen indigenen Bürgermeister
regiert: Auki Tituana, einmalig in Ecuador. Seit September 2000 hat Cotacachi
eine „Öko-Verordnung“, die besagt, dass wirtschaftliche Aktivitäten einzuschränken oder zu verhindern sind, die natürliche Ressourcen nicht nachhaltig nutzen und die die Gefahr bergen, die Umwelt zu verseuchen oder zu
zerstören oder sonst wie die Gesundheit der Bürger von Cotacachi zu gefährden. Die Gemeinden werden in alle Entscheidungsprozesse mit eingebunden und können sich so auch gegen neue Industrieansiedlungen wehren.
Jährlich finden öffentliche Versammlungen statt, in denen jeder Stimmrecht
hat. Dass die Verordnung befolgt wird, dafür sorgen Zivilgesellschaften wie
DECOIN, die im Cantón aktiv sind.
Noch viele Geschichten mehr, gäbe es also von meinem Besuch in Intag zu
berichten: wie Carlos Zorrilla zum Berater in einem Weltbank-Projekt über
„Extractive Industries“ wurde, wie sein Sohn Martin mit 13 Jahren detail239
Daniele Jörg
Ecuador
lierte Beobachtungen über Wasserinsekten veröffentlicht und wie die kleine
Gemeinde Junin es geschafft hat, den japanischen Megakonzern Mitsubishi
zu vertreiben, der im Schutzgebiet Kupfer abbauen wollte. Und wie – kurz
nach meiner Abreise aus Ecuador, erneut ein ausländisches Unternehmen
gestützt von der korrupten Regierung in Quito in die Wälder rund um Intag
einzudringen versucht, um nach Gold und anderen Bodenschätzen zu schürfen. Noch haben die Männer und Frauen der Defensa keine Ruhe.
Ein französischer, ein spanischer, ein amerikanischer und ein ecuadorianischer Koch sollen Krebse zubereiten. Der Ecuadorianer verschließt den Topf
nicht mit einem Deckel, so wie es die anderen tun. Die wundern sich warum.
Er entgegnet: “Das sind ecuadorianische Krebse, so bald einer rauskrabbeln
will, werden die anderen ihn schon wieder mit reinziehen“. (anonym)
14. Eine Shuar zwischen Tradition und Moderne
Der Oriente liegt uns zu Füßen, der Blick in den Westen Ecuadors, auf
das Amazonasbecken, ist überwältigend und entschädigt dafür, dass wir
hier seit einer Stunde in der schwülen Hitze warten. Der Grund für diese
Geduldsprobe ist paradox: Die Strasse nach Tena wird gerade ausgebaut.
Da der Baggerfahrer irgendwann mal mit seiner Arbeit anfangen musste und
jetzt nicht ständig unterbrechen will, staut sich eben alles auf dem noch
schmalen und schlammigen Pfad nach Tena. Eine ältere Dame ist gut vorbereitet und macht das Geschäft des Tages, sie verkauft Maiskolben mit
Käse – und fast alle im Bus greifen zu. Ich hatte auf dem Weg durch die
Reserva Ecológica Antisana kein Haus gesehen und doch waren hier plötzlich überall Menschen, die Wasser, Obst und Süßes anbieten – Ecuador
funktioniert irgendwie anders. Irgendwann und ohne Vorankündigung ging
die Fahrt weiter, aus dem Anblick des Amazonasbeckens wurde mit jedem
Meter Abstieg eine Busfahrt in die grüne Hölle. Unser Ziel war Puyo im
Südoriente, eine Stadt am Rande des Tieflandurwalds, für viele Touristen
das Tor zum organisierten „Urwald-Abenteuer“. Es war mein erster Ausflug
in den Urwald nach vier Wochen in Ecuador, ich hatte den Reiseführer studiert und die Geschichten gehört. „Schlangen sind ein Thema“, „Hast du
ein Moskitonetz?“, „Kennst du die Geschichte von der Frau, aus deren Haut
beim ersten Vollbad zu Hause die Würmer krabbelten?“ Warum berichten
die meisten Reisenden immer nur von den Horrorbegegnungen mit der
Natur?
Jedenfalls sah ich bei der weiteren Fahrt in die Nacht Moskitoschwärme
über mich herfallen und aus den Glühwürmchen am Wegesrand wurden
Schlangenaugen, die in den Büschen auf mich warteten (ich nenne diese
240
Ecuador
Daniele Jörg
Irrfahrten der Phantasie „das weiße Hai Syndrom“, das schon so manchem
den Badespaß verdorben hat). Im Hotel in Puyo wurde ich nicht enttäuscht:
Eine mittelgroße Vogelspinne lief mir über den Weg und Riesenkakerlaken
stoben durchs Bad. Aber glücklicherweise war ich irgendwann zu müde, um
mir weiterhin darüber Gedanken zu machen, was gerade auf unserem Dach
rumturnte und dass die quakenden Frösche vor der Tür meist als Beute von
Schlangen enden ;-)
Auch bei Anbruch des Tages war klar: Ich war mittendrin in der Vielfalt
!!!! – und es war endlich Regenzeit, so pralle Regentropfen hatte ich noch
nie in meinem Leben gesehen. Eimer voll Wasser fielen vom Himmel.
„Agua es vida“, hier war der Beweis. Im Ethnobotanischen Garten der
Stiftung Omaere (Wald in der Sprache der Huaorani) trafen wir Teresa
Shiki. Teresa ist eine Shuar, eine Indigene aus dem Südoriente, und sie hat
ein Ziel: den Erhalt und die Verbreitung traditionellen Wissens über den
Urwald. Der Park ist das erste Projekt, das „GEO schützt den Regenwald“ in
Ecuador gefördert hat. Annette Hasselmann kommt zum ersten Mal hierher.
Sie hatte in Deutschland üble Geschichten über das Management gehört,
über Geldunterschlagungen und den schlechten Zustand des Gartens. Teresa
ist ebenfalls darüber besorgt, denn auch sie ist erst seit ein paar Monaten
wieder in Puyo zurück. Der Garten wurde ihr Mitte der 90er von OPIP
(Organización de Pueblos Indígenas de Pastaza) „entrissen“, die hatten ihn
heruntergewirtschaftet und kürzlich aufgegeben. Teresa ist guten Mutes und
gibt uns eine Spezialtour durch das, was von ihrem Park übrig geblieben ist
bzw. was sie mit ein paar unermüdlichen Helfern in den letzten drei Monaten
wieder aufbauen konnte.
15. Man kann nur schützen, was man kennt
Pfade führen durch dichten und hohen Wald – in den Tropen wächst und
gedeiht alles sehr schnell. Was für mich völlig wild und nach der Handschrift
der Natur ausschaut, entwickelt sich nach Plan. Von Hand hat Teresa medizinisch wertvolle Pflanzen eingesetzt und gibt uns Kostproben. Etwas was ich
zuletzt in der Obhut meiner Mutter getan hatte, wartete auf mich: vollkommenes Vertrauen in einen Menschen, der mir die verschiedensten Dinge aus
dem Wald zum Riechen, Schmecken und Essen anbot. Ich biss kräftig in ein
Blatt und es schmeckte nach Zimt, ich aß süß und bitter Schmeckendes, das
angeblich gut für die Verdauung sein soll – konnte ja nur helfen. Ich probierte Früchte, Blüten und Wurzeln, die einfach nur nahrhaft sein sollen und aus
Erfahrung ungiftig. Wir zerrieben Blätter, die ein starkes Aroma entwickelten, die Shuar nutzen sie für eine Art Sauna-Aufguss bei Erkältungen. Teresa
241
Daniele Jörg
Ecuador
behandelte eine Wunde an Annettes Bein mit dem „Blut“ des Drachenbaumes
– der rote Saft wurde durch das Verreiben weiß und bedeckte die Wund mit
einer dünnen Schicht wie ein Pflaster. Die Wunde, die mehrere Tage nicht
verheilt war, wie das in den Tropen so üblich ist, hatte am nächsten Tag eine
Kruste! Wir lernten die „grüne Pille“ kennen, ein Strauch, der je nachdem
wie lange und in welcher Dosierung man davon kostet, unfruchtbar macht.
Teresa zeigte uns eine Pflanze, die Schlangenbisse heilt – ihre Mutter war
schon siebenmal gebissen worden und ein Tee, ein Sud aus dieser Pflanze,
hatte ihr jedes Mal das Leben gerettet. Es ging einen ganzen Vormittag so.
Ich konnte mir die Namen der Pflanzen gar nicht alle merken, sollte und
wollte auch nicht – das ist das Wissen der Indigenen, sie haben es sich durch
jahrhunderte langes Versuchen und Irren im Urwald geschaffen.
Und damit sind wir mittendrin in der Debatte. Gedanken, die sich ein
Humboldt vor zweihundert Jahren noch nicht machen musste, als er Tausende
von Pflanzen auf seiner amerikanischen Reise sammelte und mit nach Europa
brachte – wissenschaftlicher Kolonialismus sozusagen. Wem gehört eigentlich dieses Wissen? Der Menschheit oder denen, die es zuerst entdecken,
denen, die es zuerst zur Marktreife bringen, oder denen, die nichts anderes
haben? Das Thema wird auch von Teresa und ihrem Mann und Mitstreiter
Chris Canaday, einem US-Amerikaner, heiß diskutiert. In unserem Hotel
hatten Annette und ich am Morgen eine Gruppe älterer Herrschaften kennen gelernt (er Deutscher, sie Bolivianerin, dazu ein ecuadorianisches Paar).
Sie wollen ein Buch über medizinische Heilpflanzen schreiben, hatten vom
Hotelbesitzer gehört, dass wir die Leute vom Park kennen, wir haben bereitwillig noch ein paar Tipps zu Datenbanken im Internet notiert. Schließlich
sind wir daran interessiert, dass möglichst viele Leute zum Omaere Park
kommen. Im Park treffen wir die kleine Gruppe wieder, Teresa und ihr Mann
tuscheln, kurz danach pfeift Teresa ihre Mitarbeiter zurecht. Sie sollen nicht
zuviel erzählen, sie sei misstrauisch über die Absichten dieser Besucher.
Misstrauen – da war das Wort, von dem uns auch Carlos erzählt hatte, und
das so viele Chancen im Keim erstickt. Vielleicht arbeiteten sie ja im Auftrag
einer Pharmafirma, jedenfalls sollten Freddy und Co sie daran hindern, allzu
viel zu notieren, und auf gar keinen Fall sollten sie ihnen Proben mitgeben.
Mich irritierte diese plötzliche Unfreundlichkeit. Wenn die Damen ein schönes Buch über Medizinpflanzen veröffentlichen wollen, dann werden doch
noch mehr Menschen davon erfahren, welcher Reichtum in den Urwäldern
Ecuadors liegt und sind mitunter bereit, für dessen Erhalt zu spenden. Teresa
erzählt uns später vom jüngsten Gerücht: Omaere sei in den Verdacht geraten, ethnobotanisches Wissen an Pharmafirmen zu verkaufen, um sich
daran zu bereichern. Und wenn sich ein solches böses Gerücht verbreitet
und festigt, ist es mit dem ohnehin spärlichen Vertrauen unter den indige242
Ecuador
Daniele Jörg
nen Stämmen aus. Schon jetzt spürten Teresa und Chris, dass es schwerer
wurde, die Huaorani, die anderen Shuar, die Zapara für die Aufbauarbeiten
im Park zu gewinnen. Teresa ist davon überzeugt, dass sich OPIP so rächen
wollte, die seien korrupt und einflussreich genug. Dieser Frau und ihrem
kleinen Team spürt man aus jeder Pore das unglaubliche Engagement für
eine gute Sache an. Ich wurde wütend über diese Ungerechtigkeit: Was sollten die Beschuldigungen, wem nützen sie? Ich nahm mir vor, nach meiner
Rückkehr zumindest eine Kleinigkeit zurecht zu rücken. Aus dem deutschen
Reiseführer eines Bekannten hatte ich über den Omaere Park notiert: „Der
15 Hektar große Park wurde 1997 mit der Unterstützung der gleichnamigen Fundación, der europäischen Union, der UNESCO und Petroecuador
eröffnet. Die heutige indianische Administration ist jedoch eine mittlere
Katastrophe! Die 3 US$ Eintritt sind es keinesfalls wert.“ Ich wollte dem
Verfasser schreiben, dass Omaere auf dem besten Weg ist, seinen Eintritt
mehr als wert zu sein!!!
Annette hatte nach diesem Tag auch genug erfahren und gesehen, um
zu dem Schluss zu kommen, dass „GEO schützt den Regenwald“ Omaere
wieder unter die Arme greifen sollte. So verbrachten wir den nächsten Tag
damit, zu planen, wie viele Führer nötig sind, was der Direktor verdienen
soll, ob man eine Baumschule für Nutzpflanzen braucht. Investiert man in
Workshops für die Mitarbeiter oder bezahlt man lieber den Wiederaufbau der
traditionellen Stammeshütten und der Bibliothek, druckt man einen Katalog
mit Infos für die Besucher oder soll es eine kleine Aula für Schulklassen
geben? Die neue Förderphase wird zwölf Monate dauern und dann wird
sich Annette erneut vom Zustand des Parks überzeugen. Vertrauen ist gut,
Kontrolle ist besser! Im Vertrag soll festgehalten werden, dass sich Omaere
um andere Geldquellen bemüht, so lange der Touristenstrom den Park noch
nicht selbst finanziert. Es ist ein gutes Ergebnis für beide Seiten und ein
schnelles – immerhin sind wir in Südamerika.
16. David gegen Goliath
Yana curi steht für das Leid der Indigenen und den Reichtum einiger weniger in Ecuador. Schwarzes Gold, darüber ist schon viel geschrieben und
gesagt worden. Gerade Nordrhein-Westfalen macht keine gute Figur in dieser Geschichte: Das Land ist zu 43% Anteilseigner an der Westdeutschen
Landesbank kurz West LB und die finanzierte mit einem Kredit von 900
Millionen Dollar den Bau einer neuen Pipeline – der Oleoducto de Crudos
Pesados (OCP) – von Lago Agrio im Oriente quer über die Anden bis in den
Hafen von Esmeraldas an der Costa. „Mit deutschem Geld werden unsere
243
Daniele Jörg
Ecuador
Wälder zerstört“ prangert es von einem der meist zitierten Ortsschilder entlang der OCP; „... wurden unsere Wälder zerstört...“, muss man sagen, denn
trotz aller Widerstände und Spendengelder auch aus Deutschland rauscht
das Öl seit Ende 2003 durch die Rohre. Noch gab es offiziell keinen größeren Unfall, aber der Anblick der dicken grauen Rohre, die sich wie unendlich lange, gut genährte Schlangen über die Bergkämme quälen, ist kein
schöner. Bei Papallacta – auf der Reise ins Amazonasgebiet – sehe ich sie
zum ersten Mal, „Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er in die
weite Welt./Dem will er seine Wunder weisen, in Berg und Wald und Strom
und Feld.“ spottet der „Taugenichts“ in meinen Gedanken. Papallacta liegt
an der Straße der Vulkane – ist bekannt für seine Thermalbäder und ist das
Trinkwasserreservoir von Quito. 2002 brach der Vulkan El Reventador aus
und schleuderte frisch verlegte Rohre der OCP wie Streichhölzer durch die
Gegend. Im April 2003 wird die alte SOTE-Pipeline durch die Bauarbeiten
an der OCP-Pipeline bei Papallacta beschädigt, in 48 Stunden laufen 1,6
Millionen Liter Rohöl aus, ein großer Teil der Bewohner von Quito wird
mit Trinkwasser notversorgt. Ich mache hastig ein einziges Foto, die
Mitreisenden im Bus sind wie immer ambivalent, wenn es ums Erdöl geht
– Yana curi ist eben Reichtum und Leid.
Ich hatte keine Gelegenheit, die Erdölstory so aufzurollen, wie sie es verdient hätte. Sechs Wochen sind immer noch zu kurz und ich musste mich
für einen Schwerpunkt meiner Recherchen entscheiden. Auch erreichte
mich eine Schlüsselemail zu spät: Ich hatte Kontakt zu Friedemann Köster
vom Deutschen Entwicklungsdienst (DED) aufgenommen. Er ist Zoologe
an der Katholischen Universität Ecuadors in Quito (PUCE) und leitet die
Forschungsstation im Yasuni Nationalpark im äußersten Westen, einem
einzigartigen Reservat, das trotz Nationalparkstatus nicht gefeit ist vor den
Zugriffen der Ölkonzerne. „Sie können mitkommen, kein Problem. Aber
machen Sie sich auf zwei Tage Papierkrieg mit den Sicherheitsorganen der
Erdölgesellschaft Repsol-YPF gefasst“. Unser Weg hätte über die Straße der
Petroleros geführt, Köster hat eine Sondergenehmigung, eine Journalistin
im Schlepptau hätten die Ölgiganten sicherlich nicht so gerne gesehen. Ich
hätte diesen Kampf gerne ausgetragen, leider hatte ich schon alle Resttage
verplant. Ich versprach Köster und mir, wieder zu kommen.
Die Erdölgeschichte hat alles, was eine gute TV-Story braucht: Helden,
Unterdrückte, Bösewichte, David gegen Goliath – und sie ist extrem visuell.
Wer die Zeitungen nur oberflächlich versteht, kommt an dem derzeit alles
beherrschenden Konflikt nicht vorbei: Sarayaku versus OCP. Die Sarayakus
sind zu den Stars unter den Indigenen geworden und ihre Geschichte, zumindest wie sie in den meisten Medien verbreitet wird, liest sich ein wenig wie
der Kampf des kleinen gallischen Dorfes gegen die Römer. Zunächst eine
244
Ecuador
Daniele Jörg
kurze Skizze des Konfliktes: Am Ufer des Flusses Bobonaza in der Provinz
Pastaza im Oriente leben die Sarayakus, zirka 2.000 Tiefland-Quichuas. Seit
1989 widersetzen sie sich der Erdölförderung und Exploration auf ihrem
Territorium – um jeden Preis. Seit November 2003 spitzt sich der Konflikt
rasant zu. Nachdem der Ölkonzern Arco unverrichteter Dinge Anfang der
90er das Weite suchte, vergab die ecuadorianische Regierung 1996 die
Konzession für Block 23 (der Oriente ist derzeit in insgesamt 31 Blöcke
aufgeteilt) an die argentinische Compania General de Combustibles (CGC),
ohne das Eigentum der Sarayakus zu respektieren. Zwar haben die Sarayakus
und zahlreiche andere indigene Gemeinden im Amazonasgebiet mit großer
Mühe die Landtitel an den Wäldern erworben, die sie seit Generationen
bewohnen, aber die Urkunden haben einen Haken. Die Selbstverwaltung
erstreckt sich vertikal über Tausende von Hektar, endet aber bereits
30 Zentimeter unter der Oberfläche. Diese Klausel ermöglicht es der
Regierung, Konzessionen für die Erdölförderung zu vergeben. Aussichtslos
für die Indigenen könnte man meinen. Allerdings ist die Regierung auch
an eine Auflage gebunden: Bevor sie Konzessionen vergibt, muss sie das
Einverständnis der Eigentümer einstimmig einziehen (Free Prior Informed
Consent). Hier trifft David auf Goliath. Die Vertreter der Regierung behaupten, sie hätten dies getan. Die Sarayaku, deren Lebensraum zu 60 Prozent
in Block 23 liegt, halten dagegen: Einige Anführer wären bestochen worden, aber die genössen längst nicht mehr das Vertrauen der Gemeinden und
könnten deshalb auch nicht für diese sprechen.
17. Waterloo im Urwald
„Block 23 könnte so etwas wie das Waterloo für die Ölindustrie im
Amazonasbecken werden“, prognostiziert ein Vertreter von Earthrights
International, einer US-amerikanischen NGO, die Kampagnen in Ecuador
unterstützt. Ecuador verfügt etwa über 4,6 Milliarden Barrels an Ölreserven,
Öl macht mittlerweile über die Hälfte der Exporte aus. Durch die neue OCPPipeline können bis zu 850.000 Barrels am Tag fließen. Und genau das ist
das Dilemma: Ecuador hat hohe Auslandsschulden. Um die Zinsen abbezahlen zu können, hat der Internationale Währungsfond (IMF) Ecuador verpflichtet, so viel Erdöl wie möglich zu exportieren. Nach dem Aussaugen
des nördlichen Amazonasbeckens ist jetzt das südliche dran, damit die
Pipeline ausgelastet ist. „Das Erdöl gehört nicht den Sarayakus, das Öl gehört dem Staat“, so verteidigt die Regierung ein eventuelles gewaltsames
Eindringen in Block 23, um den Ölfirmen die vorgeschriebenen seismischen
Studien zu ermöglichen. Und die Sarayakus wiederum wehren sich: Sie ha245
Daniele Jörg
Ecuador
ben im Januar 2004 den Ausnahmezustand erklärt. In Friedenscamps üben
sie den zivilen Ungehorsam, der Unterricht in den Schulen ruht teilweise
und man ist gegebenenfalls auf eine Auseinandersetzung mit dem Militär
vorbereitet. Neben diesen pressewirksamen Aktionen haben Abgeordnete
der Gemeinde ihren Fall vor die Inter-American Commission on Human
Rights (IACHR) in Washington DC gebracht. Ihre Begründung: CGC hat
ohne Einverständnis der Sarayakus mit den Arbeiten begonnen und damit
Eigentumsrechte und die Artikel 88 + 89 der Verfassung verletzt. Außerdem
seien mehrere Anführer körperlich attackiert worden, sei es auf dem Weg
zu friedlichen Demonstrationen in Quito oder wie Marlon Santi, der amtierende Präsident der Sarayakus, unterwegs zu weiteren Verhandlungen in
Washington. Der IACHR reagierte im Mai 2003 mit der Order an die ecuadorianische Regierung „to take precautionary measures“ um die Menschen
und vor allem die Vorsitzenden der Gemeinden zu schützen. Die Sarayakus
sind die prominentesten Kämpfer für ihr Recht auf einen unangetasteten
Lebensraum, aber auch die Huaorani, die Achuar und die Shuar haben gesehen, wie die Politik der letzten 30 Jahre das Leben und die Natur im Norden
zerstört hat. Sie wollen keine weiteren Opfer des Yana curi Fluches werden. Sie alle kennen die Schilderungen und Statistiken: Anfang der 70er
Jahre baute der US-amerikanische Erdölkonzern Texaco die SOTE Pipeline,
um Öl aus dem Nordoriente abzutransportieren. Hinterlassen hat Texaco
eine Landschaft aus Ölseen, abgeholztem Regenwald und einem Netz aus
Zufahrtsstrassen, sowie überdurchschnittlich viele kranke Männer, Frauen
und Kinder, die an Atemwegserkrankungen, Hautausschlägen oder Krebs
leiden und sterben, und eine Liste von Tier- und Pflanzenarten am Rande
der Ausrottung. Texaco und alle, die danach kamen, boten Geld und versprachen Entwicklungshilfe – alles eine große Lüge. Die Sarayakus haben
daraus gelernt und stellen ihre Traditionen über die Versuchung: „Wir leben
barfuss wie unsere Vorfahren. Und so wollen wir es auch lassen“, fasst eine
der Stammesältesten die Entschlossenheit der Gemeinde zusammen. Wie der
Kampf ausgeht, wird entscheiden, ob sich Ecuador zu einem der wichtigsten
Öllieferanten für die USA entwickeln wird, und damit deren Strategie unterstützt, sich unabhängiger von den Lieferungen aus dem Mittleren Osten zu
machen – koste es, was es wolle.
18. Die Rückseite der Story
„El Ecuador, la vida en estado puro.“ So will (Noch-) Präsident Lucio
Gutiérrez sein Land Touristen schmackhaft machen. Aber gilt das auch für
Amazonien? Lago Agrio hat man mir empfohlen, muss ich besuchen - die
246
Ecuador
Daniele Jörg
Ölarbeiterstadt mit Spielcasinos und Bordellen-, um mir einen Eindruck von
dem zu verschaffen, was die westliche Kultur hier geschaffen hat. „Sauren
See“ haben es die neuen Herren getauft – in Erinnerung an ihren Salt Lake
in Utah. Vielleicht ist die Umtaufe auch besser so, denn Nueva Loja, wie es
die Ecuadorianer nennen, bietet nichts mehr, worauf die Ecuadorianer stolz
sind. Treffender wäre wohl „Schwarzer See“ ... schwarz soll es sein – das
Umland von Lago Agrio, schwarz vom ausgelaufenen Gold – so sieht man
es im Internet und so berichten die, die dagewesen sind. Rahel Weingarten
zum Beispiel, eine junge Deutsche, die nach dem Abitur in Ecuador was
Gutes tun wollte. Gelandet ist sie bei „Acción Ecológica“ – Aktivisten,
die von einer Art Villa Kunterbunt aus, Studenten in Quito mobilisieren,
sich gegen die Tonnen von Ungerechtigkeiten in ihrem Land zu wenden:
Gentechnik, Wasserverschmutzung, der Plan Colombia, Erdöl – es gibt
viele Themen. Ich frage sie, was der Gruppe zurzeit am ärgsten unter den
Nägeln brennt. Die Antwort: die Sarayakus. Und sie erzählt engagiert: Die
Sarayakus werden von der Regierung boykottiert, sie gelangen nur noch
via Flugzeug in ihre Dörfer, alle Lebensmittel müssen aufwändig herangeschleppt werden, die medizinische Versorgung ist nicht mehr garantiert,
die Schulen sind geschlossen, junge und entschlossene Krieger verstecken
sich im Wald und sind bereit zum Kampf ... eine tolle Geschichte, denkt
jeder Journalist. Ich überlege, mir ein Bild vor Ort zu machen, mit einem
Flugzeug zu den Sarayakus zu fliegen, mich mit ihren Führern zu treffen.
Doch das ist sehr teuer und leider bleibt mir in Puyo neben den anderen
Projekten nicht genug Zeit. Aber ich habe Glück und lerne im Omaere-Park
in Puyo Carlos Piruchkun kennen, der zwanzig Jahre lang als Lehrer für die
Sarayakus gearbeitet hat. Seine Frau ist Sarayaku und Tante des jetzigen
Gemeindepräsidenten Marlon Santi. Carlos hört fast jeden Tag Nachrichten
aus der Gemeinde und relativiert die Geschehnisse, ohne die Dringlichkeit
des Anliegens zu schmälern. Das Flugzeug war schon immer der einfachste
Weg, Lebensmittel zu transportieren, der andere ist per Kanu auf dem Fluss
– lang und beschwerlich. Die Schule geht weiter und er wisse auch nichts
von entschlossenen Kriegern in Kriegsbemalung, die sich im Wald versteckt
halten, aber man würde sich verteidigen, wenn die Regierung wahr macht,
und das Militär vorbeischickt. Ich frage Carlos, was die Sarayakus so besonders macht, woher sie die Kraft nehmen, sich zu widersetzen und sich nicht
bestechen lassen. Carlos lobt ihre Organisation (keine Selbstverständlichkeit
in Ecuador, wie wir aus den Begegnungen in Intag gelernt hatten) und ihr
Talent, auf ihre Belange aufmerksam zu machen und auch im Ausland
Mäzene und Unterstützer in Wort und Geld zu finden. Schließlich waren es
auch Sarayakus, die OPIP – zunächst mit ehrenhaften Zielen – gegründet
haben. Stolz ist Carlos auch, dass ausgerechnet seine Schüler hinter dem
247
Daniele Jörg
Ecuador
10-Punkte Forderungskatalog stünden, der den Ölfirmen so zu schaffen
macht. Sie fordern darin u.a. einen gerechten Lohn. Statt der üblichen 150
US-Dollar wollen sie, dass ein indigener Arbeiter so viel erhält wie ein ausländischer, nämlich ca. 500 Dollar pro Monat. Es gäbe keinen Grund, Arbeit
unterschiedlich zu bezahlen. Die Sarayakus wissen natürlich, dass sich CGC
und Konsorten nie auf diese Forderungen einlassen werden. Carlos warnt
aber auch, die Sarayakus als Naturschützer und Idealisten zu porträtieren
oder sich unkritisch auf ihre Seite zu schlagen. Hanns-Joachim Friedrichs
Worte, „sich nie mit einer Sache gemein zu machen, auch nicht mit einer
guten, zeichne einen guten Journalisten aus“, fallen mir ein. Die Sarayakus
bewohnen das Gebiet seit etwa 150 Jahren und hätten in dieser Zeit auch
Wald abgeholzt, Landwirtschaft betrieben und Tiere gejagt. Wenn sie ihr
Land jetzt zu einem „Patrimonio cultural“, zu einem Kulturerbe, erklären
lassen wollen, denken sie schlicht langfristig an die Vermarktbarkeit eines
intakten Waldes: Ökotourismus, Abenteuertourismus, Gemeindetourismus
– die Gäste sollen die Schönheit des Waldes genießen und das Leben der
Ur-Völker kennen lernen. Gleichzeitig ließen sich für diese Aktivitäten mit
entsprechendem Verhandlungsgeschick Spenden und internationale Gelder
in beträchtlicher Höhe eintreiben – und darin seien die Quichua Meister.
Ich spüre, wie Carlos hier mehr loswerden will. Ja, die Quichuas, die
Nachfolger der Inkas, hätten sich erst als Indigene bekannt, als man damit
international Aufmerksamkeit erregen und Geld machen konnte. Aber diesmal sei er zuversichtlich: Die Sarayakus haben aus der Vergangenheit und
den Betrügereien der OPIP gelernt. Ihr Widerstand könne Vorbild auch für
die anderen Bewohner des Oriente sein. Sarayaku vs. CGC bleibt also eine
spannende Geschichte.
19. Das Gewissen von Galapagos
Dear Mister Darwin,
wenn Sie wüssten, welche Folgen Ihr Abstecher auf die Galapagos Inseln
für die Menschheit hatte. Die Inseln sind zu einem Wallfahrtsort geworden
– für alle, die sich für Naturgeschichte interessieren und über die entsprechende Menge Geld verfügen, den Streichelzoo der Evolution zu betreten.
Und überall sind Sie präsent, als alter Mann mit Rauschebart und wissendem Blick. Dabei waren Sie damals bei Ihrem Besuch nur ein neugieriger
und draufgängerischer Medizinstudent. Aber Sie hatten offensichtlich ein
248
Ecuador
Daniele Jörg
Talent, das vielen der heutigen Besucher eher fehlt: Sie konnten genau hinschauen.
Sie beneidend,
Daniele
Godfrey Merlen wurde mir als das Gewissen von Galapagos vorgestellt.
Ein hagerer Mann mit Bart, Brite, er lebt seit einem Vierteljahrhundert hier,
arbeitet für eine Naturschutzorganisation. Wir reden beim Abendessen (vegetarisch) über Ziegen und Haie, Fangquoten und Tourismus. Alle, die ich in
den folgenden Tagen auf den Galapagos kennen lerne und die ihre Zeit und
Leidenschaft der Charles Darwin Research Station (CDRS) widmen, sind
das kollektive Gewissen des Archipels. Sie kämpfen für den Erhalt dieses
einzigartigen Ökosystems – freiwillig und für wenig Geld.
Wir erwarten, wenn wir Research Station hören, teure Geräte und dekorierte Wissenschaftler, die mit einem unverständlichen Forschungsauftrag
angereist sind, und Tag und Nacht experimentieren, sinnieren und publizieren. An der Charles Darwin Research Station sucht man die Labors mit den
Spektrometern, hochauflösenden Mikroskopen und genetischen AnalyseGeräten vergebens. Wer hier herkommt, ist in erster Linie Politiker. Die
Nachfolger Darwins kämpfen mit jeder Minute ihres Aufenthaltes gegen
den Verfall und die Zerstörung dieses Paradieses. Die Bedrohungen sind
keine Unbekannten: Tourismus, Fischerei, Verschmutzung, Invasionen
fremder Arten und neuerdings Biopiraterie. Über den Tourismus auf den
Galapagos ist schon viel geschrieben worden. Wenn es ihn nicht gäbe, würde sich kein Entscheidungsträger mehr für die Inseln interessieren, denn die
Galapagos – bislang 127 Inseln an der Zahl - sind die Gelddruckmaschine
Ecuadors. Über 80.000 Touristen jährlich pilgern zum Schaufenster der
Evolution. Jeder erbringt direkt ein Eintrittsgeld in den Nationalpark von
100 US-Dollar (macht insgesamt ca. 8 Millionen) und dazu noch mal etwa
das Doppelte an indirektem Verdienst durch die diversen Aktivitäten während des Aufenthaltes. Wer über die Menge der Touristen und die Spuren,
die sie auf den Inseln und im ganzen Archipel hinterlassen, klagt, vergisst,
dass dies, so paradox es klingt, oft die einzige Möglichkeit ist, heute ein
Gebiet zu schützen. Kein Land, deren Einwohner ums Überleben kämpfen,
kann sich die edle Ansicht leisten, die Natur und ihre Artenvielfalt sei allein
wegen ihrer Schönheit – aus ästhetischen Gründen sozusagen – zu bewahren. Konflikte drohen, wenn der Schutz gefährdeter Tiere und Pflanzen auf
Kosten der Menschen vor Ort durchgesetzt werden soll. Auf meinen Reisen
hatte ich es mehrfach gehört: „Ein Stück Wald, das in einen Naturpark umgewandelt wird, ist für einen Ecuadorianer ein verlorenes Stück Wald.“ Ein
Beispiel macht diese Aussage vielleicht klarer: Wenn wir in Deutschland
249
Daniele Jörg
Ecuador
– unser Gewissen bereinigend – Möbel aus Tropenholz boykottieren, rettet
dies im Amazonas nicht unbedingt den Wald. Der Schuss geht sehr oft nach
hinten los. Wenn keiner mehr die wertvollen Hölzer kauft, wird für den am
Rande des Existenzminimums wirtschaftenden Bauern der komplette Wald
wertlos und dann kann man ihn auch gleich brandroden und somit zumindest
noch für ein paar Jahre als Weide- oder Ackerfläche nutzen. Die Schönheit
der Natur zu betrachten, zu genießen und sie deshalb als schützenswert zu
erachten, ist ein Luxus der reichen Welt. Wer es einmal so herum betrachtet, versteht die Schwierigkeiten der Naturschützer in Entwicklungsländern,
die oft die einzigen Länder sind, die noch über große Flächen Wald oder
Artenreichtum verfügen. Die Engagierten kämpfen dort in erster Linie gegen Neid und Eifersucht – zwei unerträgliche und gefährliche Gefühle des
Menschen. Auf dem Festland wissen es alle und für viele ist es der letzte
Hoffnungsschimmer: Auf den Galapagos lässt sich noch Geld verdienen.
Die Bevölkerung wächst deshalb um mehr als 6 Prozent im Jahr und immer
mehr Menschen kommen größtenteils illegal auf die Insel. Offiziell herrscht
Einwanderungsstopp. Wer sich auf den Galapagos für Riesenschildkröten
und Meeresleguane, gar für Hammerhaie und Seegurken stark macht, muss
sich also warm anziehen, wie ich noch lernen sollte.
20. Schaufenster der Evolution
Was macht die Galapagosinseln so besonders? 1.000 Kilometer vor der
Küste Ecuadors quillt aus einem Hotspot Lava hervor, soviel, dass die Türme
bis an die Oberfläche reichen und Inseln bilden. Vulkanische Aktivität lässt
sich noch heute auf den jüngeren, den westlichen Inseln des Archipels beobachten, und liefert so ständig neues fruchtbares Land, auf dem sich Tiere
und Pflanzen ansiedeln können.
Warme Meeresströmungen vom Norden (der Panama-Strom), kalte vom
Süden (der Humboldt-Strom) stoßen hier aufeinander und sind mitverantwortlich für die skurrile Mischung der Tierarten, die größtenteils mit den
Strömungen auf die Inseln transportiert wurden. Von Westen kommt noch
nährstoffreiches kühles Wasser hinzu, das durch die besondere geologische Struktur nach oben gedrückt wird (ein so genanntes Upwelling). Zu
guter Letzt begünstigt die Lage am Äquator mit seiner konstanten Sonneneinstrahlung und der hohen Luftfeuchte, dass die Galapagos heute eine
so außergewöhnliche Mischung an Arten präsentieren können. Auf den
Galapagos existieren tropische Echsen neben arktischen Pinguinen, Kakteen
neben Sonnenblumenbäumen und Pelzrobben schwimmen mit Riff-Fischen.
Gepaart mit einer erstaunlichen Zutraulichkeit: Weißspitzenriffhaie wer250
Ecuador
Daniele Jörg
den zu Streicheltieren und Albatrosse lassen sich aus nächster Nähe beim
Balzen beobachten. Um es noch griffiger zu formulieren: Der Besucher
auf Galapagos sieht einen opulenten und aufregenden Tierfilm – nur ohne
Glas und mittendrin. Dabei ist der Anblick aus dem Flugzeug zunächst eine
Enttäuschung für den Reisenden, der gerade die Vielfalt und Üppigkeit
der Tropen kennen gelernt hat. Charles Darwin hat dies bereits bei seinem
Besuch 1835 sehr treffend geschildert: „Nothing could be less inviting than
the first appearance. A broken field of black basaltic lava, thrown into the
most rugged waves, and crossed by great fissures, is everywhere covered by
stunted, sunburnt brushwood, which shows little signs of life. ... and such
wretched-looking little weeds would have better become an arctic than an
equatorial flora. [....] None of the birds are brilliantly coloured as might have
been expected in an equatorial district. ... I did not see one beautiful flower.
The insects, again, are small sized and dull coloured and as Mr Waterhouse
informs me, there is nothing in their general appearance which would have
led him to imagine that they had come from under the equator.“
Die Besuche sind streng reguliert: Schon auf dem Flughafen in Quito oder
Guayaquil suchen Beamte im Gepäck nach Pflanzen oder Tieren, die nicht
auf die Inseln gehören. Bei der Ankunft in Baltra schnüffeln Hundestaffeln
am Gepäck vorbei und es wird noch mal ein Blick ins Handgepäck geworfen. Die Italiener in der Reihe vor mir, hatten eine tropische Leckerei
– Passionsfrüchte – dabei und mussten zusehen, wie der Beamte sie in einen
„Sondermüll“-Behälter beförderte. Eine Tour des Archipels geht nicht auf
eigene Faust. Die einzelnen Inseln besuchen oder eine Tauchsafari erleben,
kann man nur auf speziell lizenzierten Schiffen. Die Wahl hat der Besucher,
der meist auf dem Festland bucht, zwischen unterschiedlichen Kategorien,
was Luxus, Anzahl der Mitreisenden und die Art der Fortbewegung (Motorboot oder Segelschiff) anbelangt. Derzeit sind etwas 60 Schiffe zugelassen
und momentan noch freiwillig kann sich ein Betreiber mit dem werbewirksamen Zertifikat „Smart Voyager“ auszeichnen lassen. Beurteilt werden
u.a. Firmenpolitik, Bemühungen um den Artenschutz, Risikoverminderung
für die Einführung neuer Arten, gute Arbeitsbedingungen, Recycling und
Müllreduktion etc. Eine Insel betreten, kann man nur mit einem Forscher
oder einem so genannten „guia naturalista“, auf genau festgelegten Wegen
und auch nur für kurze Zeit. Der Naturführer achtet peinlichst darauf,
dass kein Sand und damit kein Kleinstlebewesen oder Samen unter den
Schuhsohlen von einer Insel zur nächsten transportiert werden. Die neuste
Studie über den Einfluss des Tauchtourismus auf die Unterwasserwelt der
Galapagos-Inseln hat die Kritiker überrascht: Zwar besuchen fast 12.000
Touristen jährlich die Teufelskrone vor der Insel Floreana, aber die Tierund Pflanzenwelt Unterwasser scheint nicht darunter zu leiden – bislang
251
Daniele Jörg
Ecuador
jedenfalls nicht. Und genau deshalb wollen die Forscher vorbeugen. Die
Taucher sollen auch im Meeresreservat nur bestimmte Attraktionen aufsuchen, und die Tauschschulen müssen ihre Routen im Voraus mit der
Nationalparkverwaltung absprechen, so dass stark frequentierte Plätze entlastet werden können. Außerdem sollen die Tauchschulen und ihre Kunden
in die wissenschaftlichen Untersuchungen miteinbezogen werden - Daten
sammeln, Fische zählen und damit auf Schwankungen im Ökosystem rechtzeitig aufmerksam machen. Viel problematischer als der Tourismus ist die
Überfischung.
21. Feuer im Schlaraffenland
Längst sind die Zeiten vorbei, in denen man Naturschutz mit Fernglas
und Notizblock betreiben konnte, heute braucht man Überwachungsflüge,
Wasserpolizei und Rechtsbeistand. Der Nationalpark Galapagos wurde 1959
ins Leben gerufen und von der UNESCO 1978 zum Weltnaturerbe ernannt;
das marine Schutzgebiet – kreiert 1998 – erhielt diesen Status erst 2001.
Eine 40 Meilen Schutzzone wurde um die Inseln eingerichtet und die industrielle Fischerei aus dem 133.000 km² umfassenden Meeresgebiet verbannt.
Lokale Fischer dürfen innerhalb dieser Grenzen ihrem Lebensunterhalt
nachgehen. Um die Einwanderung vom Festland aufzuhalten, gilt diese
Regelung aber nur für Fischer, die vor 1998 auf den Galapagos gemeldet
waren. Wen überrascht es da, das so manche alte Dame heute einer kleinen
Fangflotte vorsteht – auf dem Papier zumindest. Bestimmte Fangtechniken
wie das Langleinenfischen sind prinzipiell verboten und die Fangquoten und
-gebiete werden in gemeinsamen Abstimmungen der Fischer, Behörden und
Wissenschaftler festgelegt. Das ist für Ecuador ein einzigartiges Verfahren.
Für Eva Danulat, die wissenschaftliche Leiterin der Meeresforschung an der
CDRS, ist die Junta de Manejo Participativo (JMP) ein unendlich mühsamer
Kleinkrieg, aber auch die einzige Chance für den Naturschutz im Archipel.
Wirklicher Verlierer ist die industrielle Fischerei vom Festland, die mit großen Flotten vor den Inseln operiert(e). Die UNESCO-Auszeichnung als
Weltnaturerbe machte ihrem Geschäft den Garaus. Und ihrem Unmut verschaffen sie immer wieder Luft.
Die letzte große Studie zwischen 1997 und 2001 zeigte deutlich, dass der
Archipel überfischt ist, besonders für seine zwei Besonderheiten den roten
Spiny lobster (Panulirus penicillatus) und die Seegurke (Isostichopus fuscus). Exemplare dieser Arten zu sammeln, wird immer mühsamer und die
Individuen immer kleiner – ein sicheres Zeichen für den Zusammenbruch
einer Population. 2003 wollten die Forscher der Charles Darwin Station des252
Ecuador
Daniele Jörg
halb eine Schonzeit für die Seegurken erwirken. Seegurken – Verwandte
der Seeigel und Seesterne – leben am Meeresgrund, ernähren sich von
organischen Abfällen und das macht sie so wichtig für das ökologische
Gleichgewicht, gerade in den Küstengewässern. Aber auf Druck der Fischer
hat das entscheidende Gremium doch nachgegeben. Eva Danulat verweist
auf die üblichen Verdächtigen: In Ostasien gelten getrocknete Seegurken als
Delikatesse und so lassen sich in wenigen Wochen attraktive Jahresgehälter
(50.000 US-Dollar) verdienen. 2003 wurden in der 60tägigen Saison 5
Millionen Seegurken mit einem Umsatz von mehr als 4 Millionen Dollar aus
dem Meer geholt. Die Wissenschaftler verhindern durch ihre Auflagen und
Einschränkungen den schnellen Dollar, deshalb lässt sich leicht Stimmung
machen gegen die Naturschützer. Dazu kommt, dass Galapagos eine kleine aber einflussreiche Provinz in Ecuador ist. Ein lokaler Politiker braucht
nur wenige Anhänger zu versammeln, um trotzdem in den Versammlungen
in Quito ernst genommen zu werden. Und die kriegt er schnell, wenn er
Profit, uneingeschränkte Fischereirechte und eine laxe Siedlungspolitik verspricht.
In der Vergangenheit ist es immer wieder zu heftigen Auseinandersetzungen
zwischen den Naturschützern und den Fischern gekommen – so auch im
Februar 2004. Eva Danulat erzählt von den Fischern, die vor ihrem Haus
Autoreifen verbrannt haben. „Ich hatte Angst um mein Leben“. Seitdem
läuft ein Ultimatum: Die Fischer versuchen einen 18 Punkte Katalog zu
erzwingen, der ihnen die Fischerei im Schutzgebiet erleichtert und weitere
Privilegien verschafft. Als ich Eva in Puerto Ayora besuchte, zeigte sie mir
die Teerspuren auf der Strasse, die das Autoreifenfeuer hinterlassen hatte.
Das Ultimatum war gerade abgelaufen. Nichts ist passiert, aber das sei immer so in Ecuador. Man mache nun einfach weiter, versuche alles, um die
Fangquoten für 2004 so niedrig wie möglich zu halten. Das Pre-Monitoring
im April war erschreckend. Taucher, die den Seeboden inspizierten, fanden
nur wenige Exemplare pro Quadratkilometer. „Eigentlich dürfe man keine
einzige Seegurke mehr rausziehen“, sagt Eva. Aber es kam alles ganz anders.
Die Fangsaison für Seegurken wurde am 31. Mai eröffnet – für zwei Monate.
Entgegen allen wissenschaftlichen Erkenntnissen wurde der Fang von vier
Millionen Seegurken gestattet. Gleichzeitig flammte der Protest der Fischer
wieder auf, und heftiger als je zuvor. Büros, Anlagen und Aufzuchtstationen
der Forscher wurden besetzt und Touristen der Zugang zu den Schiffen
blockiert. Die Polizei und Ordnungskräfte schauten einfach zu. Bleibt die
Frage, warum sich die Fischer aufregen, sie haben doch ihr Recht erhalten.
Sie stören sich an der Limitierung: Immer mehr Familien, die über die Jahre
vom Festland nach Galapagos gekommen sind, leben vom Seegurkenfang.
Sie sammeln über das ganze Jahr illegal Seegurken, trocknen und lagern
253
Daniele Jörg
Ecuador
sie ein. Ohne Quote könnten sie diese während der Saison hervorzaubern
und ohne Probleme auf den Markt bringen. Unter diesem Druck wird auch
noch die letzte Seegurke verschwinden, und erst dann wird man merken,
welchen Schaden diese massive Ausbeutung der marinen Ressourcen auf
die Flora und Fauna an Land hat. „Wir sind entsetzt und tief besorgt über
die Zustände auf Galapagos“, sagt Christof Schenk von der Zoologischen
Gesellschaft Frankfurt (ZGF). Die ZGF unterstützt den Naturschutz auf den
Galapagos seit 1968 und hat in den letzten zehn Jahren jährlich 200.000 bis
300.000 Dollar in den Naturschutz auf Galapagos investiert. „Sollte sich
die Situation in Kürze nicht verbessern und die Regierung Ecuadors nicht
in der Lage sein, für Recht und Ordnung auf den Inseln zu sorgen und die
Sicherheit unserer Projektpartner zu gewährleisten, sehen wir uns gezwungen ein weiteres Engagement auf Galapagos einer kritischen Prüfung zu
unterziehen.“ Eva Danulat macht vorerst weiter, aber sie hat sich ein Limit
gesetzt: „Ich will nicht erleben, wie die Galapagos zu einer weiteren Costa
Brava werden.“
22. Galapagos darf nicht sterben!
Auf Galapagos arbeiten scheinbar zwei Kräfte gegeneinander. Die einen
tun alles, um Leben zu schützen, die anderen sind da, um zu töten. Doch
beide haben ein Ziel: Die Einzigartigkeit des Archipels zu erhalten, denn das
Ökosystem der Galapagos ist in Gefahr. Eingeschleppte Tiere und Pflanzen
verdrängen die einheimischen. Zuerst kamen die Ratten und Katzen mit
den Schiffen der Walfänger, zuletzt gelangten 1997 durch die warmen
Meeresströmungen des „El Nino“ die ersten Frösche auf die Inseln.
Töten um zu überleben, bestimmt auch einen Großteil der Arbeit des deutschen Forschers Helmut Rogg, Leiter der Abteilung Terrestrische Wirbellose
der Charles Darwin Research Station. Neben Riesenschildkröten und
Leguanen spielten Weichtiere und Insekten jahrzehntelang nur eine untergeordnete Rolle. Dabei bringen es die Landschnecken der Gattung Bulimulus
auf immerhin 60 Arten, die nur auf Galapagos vorkommen, während sich
die berühmten Darwinfinken in gerade mal 13 Arten aufspalteten. Seit 1998
gibt es an der Station auch ein kleines Insektenmuseum. Und immer wieder
finden die Forscher neue Arten auf der Insel. Die Galapagos-Inseln sind
noch jung und neue Arten können noch freie Nischen erfolgreich besetzen.
Das ist eine Chance, andererseits aber auch eine Gefahr. Vor allem seit es
Tourismus und Handel gibt. Mit jedem Flugzeug und mit jeder Ladung erreichen neue Organismen die Inseln. Auch Eva Danulat erzählt von ihrem
Umzug und der Handvoll verschiedener Insektenarten, die beim Auspacken
254
Ecuador
Daniele Jörg
aus den sorgfältig kontrollierten Kisten krabbelten. 2003 beschrieben die
Insektenexperten der Forschungsstation 10 Weltneuheiten, und berichteten
von 50 bekannten Arten, die zum ersten Mal auf einer Insel gesichtet wurden,
und von 440 neuen eingeschleppten Arten – ein Zuwachs von 22 Prozent gegenüber 2002. Eine erschreckende Zahl, aber eingeschleppt heißt noch lange nicht, dass sich die Art auch festsetzen wird. Genau das zu bewerten, liegt
Helmut Rogg. Er erzählt stolz von den verschiedenen Strategien, die sich
seine Abteilung im Kampf gegen die Eindringlinge ausgedacht hat, um sie
rechtzeitig zu entdecken und zu vernichten, bevor sie sich dauerhaft einrichten. Da ist zum Beispiel die Geschichte von den Feuerameisen. Sie kamen
mit einem Schiff und breiteten sich in Windeseile über die verschiedenen
Transportwege im ganzen Archipel aus. Feuerameisen sind Fleischfresser,
schrecken auch vor Vogel- und Schildkröteneiern nicht zurück. Sie sind auf
der ganzen Welt für ihre Aggressivität gefürchtet. Aber sie können nicht
fliegen und das ist die Chance der Forscher. Auf der Insel Marchena, einer der unbewohnten im Archipel, begannen sie ein Pilotprojekt. Sie legten Giftköder aus, die die Arbeiterinnen zur Königin brachten. Die Königin
und damit auch der Nachwuchs gingen daran zugrunde. Das war im Jahr
2000. Seit dem kontrollieren die Forscher jedes Jahr den Erfolg. Sie locken
die Feuerameisen mehrere Tage lang mit Erdnussbutter, doch 2002, 2003
und 2004 tauchten keine Vertreter der Art Wasmannia auropunctata mehr
auf. Auch Arten, die durch die Feuerameisen verdrängt wurden, breiten sich
wieder auf der Insel aus. Demnächst soll auf anderen Inseln genau so gegen die Feuerameisen vorgegangen werden. Gleichzeitig läuft natürlich ein
Überwachungsprogramm, um die Wiedereinwanderung der Feuerameise zu
verhindern. Helmut Rogg ist nämlich auch der Vater von SICGAL (Sistema
de inspección y cuarentena para Galapagos). SICGAL trifft man als Tourist
mindestens zweimal. Beim Einchecken auf dem Festland, wenn das Gepäck
abgetastet und wahrscheinlich im Bauch des Flugzeuges mit Chemie behandelt wird. Und am Flughafen auf Baltra, wenn das Handgepäck durchsucht
und speziell trainierte Hunde noch einmal am Gepäck vorbeischnüffeln.
Wer offiziell Waren zu den Inseln transportiert, trifft SICGAL in Form eines Maßnahmen-Kataloges – über die Art der Verpackungen, die erlaubt
sind und wie sie verschlossen und gehandhabt werden müssen und über die
Produkte, die eingeführt werden dürfen und die, die auf alle Fälle verboten
sind – z.B. Frischmilch und Käse. Seit 2001 ist das System in Betrieb und
der Erfolg der Männer und Frauen in roten Uniformen lässt sich erst in einigen Jahren bewerten, wenn hoffentlich weit weniger eingeschleppte Arten
als 2003 gezählt werden.
255
Daniele Jörg
Ecuador
23. Der Herr der Ziegen
Roslyn Cameron von der Öffentlichkeitsarbeit zeigt mir zwei Fotos vom
Rand des Alcedo Vulkans auf der Insel Isabela. Eines aus den 70ern mit
üppiger Vegetation und Riesenschildkröten überall, das zweite zeigt dieselbe Stelle Ende der 90er, kein Baum kein Strauch, drei Schildkröten, die in
einem Erdloch Schutz vor der Sonne suchen. Was war passiert? Irgendwann
in den 70er Jahren brachte vermutlich ein Frachter eine Handvoll Ziegen
auf den Nordteil der Insel. Der Süden war schon lange bewohnt und bewirtschaftet, aber ein 12 km breites Lavafeld zwischen dem Süd- und Nordteil
der Insel galt als unüberwindbar – die Hölle auf Erden. Oder gelang ein
paar Ziegen in einem verregneten Jahr doch die Passage? Ziegenexkremente
haben die Forscher dort zumindest gefunden. Wie auch immer die Ziegen
dorthin gekommen sind, 1998 zählte man bereits über 100.000 Exemplare
und 2004 schätzte man die Invasion auf eine halbe Million. Aus einer bewaldeten Insel war geschorener Fels geworden und die verbleibende dünne
Schicht Erde ist leicht wegerodiert. Isabela ist nicht nur die größte Insel
im Galapagos Archipel, vor allem der nördliche, unberührtere Teil zählt
auch die meisten endemischen Arten. Er beherbergt etwa 80 Prozent der
Riesenschildkröten und Landleguane Galapagos und die brauchen Schatten
und Tümpel zur Fortpflanzung.
Herr der Ziegen-Plage werden, das ist der Job von Felipe Cruz. Er steht
einer beispiellosen Kampagne vor: dem Projekt Isabela, der Ausrottung der
Ziegen auf der Insel. Als ich im Büro von Roslyn die Bilder der Verwüstung
betrachte, steigt nur wenige hundert Meter entfernt ein Hubschrauber auf
– bereit zur Jagd. Die Forscher haben sich Rat in Neuseeland geholt. Dort
rückt man Eindringlingen in ähnlich unzugänglichem Gebiet schon seit längerem aus der Luft zu Leibe. Ich frage, ob ich mal mitfliegen könne - für eine
Reportage über die Ziegenjäger, aber dafür ist das Projekt noch zu frisch.
Der Presse möchte man die Ergebnisse erst später komplett präsentieren.
Die Tierschützer auf Galapagos fürchten um ihren Ruf und damit um ihre
Spenden. Wie kommuniziert man, das man töten muss, um zu überleben?
Was passiert mit den Tonnen von Ziegenkadavern? Kann man das Fleisch
nicht zu hungernden Menschen nach Afrika transportieren? All diese Fragen
hatte Roslyn schon auf dem Tisch. Wenn das Projekt erfolgreich abgeschlossen ist, dann würde man gerne einen Film und alle Daten veröffentlichen.
Z.B. dass die Ziegen wie alle anderen Tiere, die auf Galapagos sterben, einfach in der Sonne verrotten und damit wenigstens neue Nährstoffe für den
Boden liefern. Vom Kadaver zum Skelett dauert das unter der Sonne des
Äquators gerade mal sieben Tage. Ganz unvermittelt fragt mich Roslyn, ob
ich denn nicht die Pressearbeit übernehmen möchte, man suche noch jeman256
Ecuador
Daniele Jörg
den, der sich auf dem internationalen Terrain auskennt. Ein festes Filmteam
arbeitet für den Nationalpark. Allerdings müsste ich viel Idealismus mitbringen, bezahlen könnten sie mir nichts. Ich überlege in den folgenden
Tagen, ob ich nicht wirklich alles stehen und liegen lassen soll – zuhause
im fernen Deutschland, ein halbes Jahr Auszeit nehmen, schließlich ist es
für eine gute Sache, das müsse man doch verstehen. Dann wurde mir klar:
Ich war im Galapagos-Fieber, wurde mit jeder Minute meines Aufenthaltes
stärker befallen vom Darwin-Virus, hier etwas Außergewöhnliches zu sehen
und auch etwas für den Erhalt des Paradieses tun zu müssen. [Anmerkung:
Offensichtlich habe ich mich dagegen entschieden.]
Ein wenig mehr Informationen über das Projekt erhalte ich dann aber
doch: Die Ziegenjäger haben erst Anfang April 2004 mit der Arbeit vom
Helikopter aus begonnen, verzeichnen aber erstaunliche Erfolge – Tausende
von Ziegen sollen sie schon erledigt haben. An diese erste Phase wird sich
dann die Jagd vom Boden aus anschließen, so wie Felipe Cruz und sein
Team es seit 1998 auf der Insel Santiago geprobt haben. Mit Hunden hat
man dort die Tiere zusammengetrieben und in Phase 3 mit so genannten
Judas-Ziegen. Das Prinzip ist einleuchtend: Ziegen sind Herdentiere. Stattet
man ein Individuum mit einem Radiosender aus, lässt sich eine Herde so telemetrisch auch in schwer einsehbaren Tälern oder Waldstücken ausmachen
und abschießen. Denn eines haben die Forscher gelernt: So lange nicht auch
das letzte Ziegenpärchen ausgelöscht ist, ist die Gefahr nicht gebannt. Und
wenn man mit den Ziegen fertig ist, dann muss man sich um die verwilderten
Esel, Katzen, Hunde, Schweine etc. kümmern, die sich ebenfalls in rasantem
Tempo auf der Insel ausbreiten. Von ihrer Arbeit auf Santiago wissen die
Forscher aber auch, dass es sich lohnt: So bald die Ziegen dezimiert werden,
wächst der Wald in erstaunlichem Tempo nach und einheimische Arten kehren zurück. In Santiago begann der Feldzug 2000 und die Insel gilt 2004 als
fast geheilt. Ein Zeichen dafür: Die Galapagos Ralle, die Darwin 1835 noch
als einen der häufigsten Vögel auf Santiago beschrieb und die vor wenigen Jahren auf eine Population von 100 Exemplaren zusammengeschrumpft
waren, kann man heute wieder überall antreffen. Das Projekt Isabela ist auf
sechs Jahre angelegt und darf 8,5 Millionen US-Dollar kosten. Doch überall
hört man die Gerüchte, dass die fliegenden Ziegenjäger wesentlich schneller
vorankommen als gedacht. Und die Mitarbeiter der Charles Darwin Station
haben sich an den Lärm der Helikopter gewöhnt, die nun mehrmals täglich
neben ihren Labors aufsteigen. Sie wissen, dass Galapagos nur so zu retten ist. Sie managen Natur und sind keine geblendeten Naturliebhaber. Und
wenn sie abends in der Avenida de Kiosco einkehren, wird die Frage nach
„... und wie schmeckt das Fleisch?“ auch mal gerne mit „nach Ziege“ quittiert. Umso stärker trifft die Forscher die Drohung der Fischer, auf Santiago
257
Daniele Jörg
Ecuador
ein paar Ziegen auszusetzen, wenn die Forderung nach höheren Fangquoten
nicht erfüllt wird. Die Schlange ist immer noch im Paradies!
„It is the fate of most voyagers, no sooner to discover what is most interesting in any locality, than they are hurried from it.“ (Charles Darwin)
24. Widmung
Ich könnte und müsste vielen danken, dir mir dieses wunderbare Erlebnis
von der ersten bis zur jetzigen Minute ermöglicht haben. Aber ich möchte diese Aufzeichnungen nur einem einzigen Menschen widmen, meiner
Großmutter Sophie Jörg („Dauphine Oma“), die am 18. April 2004 für immer eingeschlafen ist, als ich gerade mit Carlos Zorrilla und den Frauen und
Männern der Defensa in Apuela zusammensaß. Sie war fast 91 Jahre alt.
258
Florian Klebs
aus Deutschland
Stipendien-Aufenthalt in
Ghana
31. August bis 03. Dezember 2003
259
Ghana
Florian Klebs
Goldrausch in Ghana
Von Florian Klebs
Ghana vom 31.08. – 03.12.2003
261
Ghana
Florian Klebs
Inhalt
1. Zur Person
266
2. Einleitung
266
3. Basislager Accra
267
4. Schwarz und weiß
4.1 „Ein weißer Mann kann das nicht“
4.2 „Einmal zu Abédi Pelé, bitte“
4.3 „Sie wird dich töten! Sie macht einen Juju mit dir“
269
269
270
271
5. Zeitung in Ghana
5.1 FAZ und Fritten
5.2 Grünes Licht für Pressefreiheit
5.3 Mein Blatt: die Public Agenda
5.4 Gold in den Medien
271
271
272
272
273
6. Ghanas Goldschmuck
6.1 Feiner als Frauenhaar, dünner als Seidenpapier
6.2 Der Goldschmied des Königs
6.3 Design als Geheimsprache – Ghanas Adinkras
6.4 Ich war ein Wasserhahn – die Messinggießer von Kumasi
274
274
275
276
277
7. Die Könige und ich
7.1 Mein König von Accra
7.2 Doppelt verwaltet – der Staat und das Königssystem
7.3 Höfisches Protokoll – vom richtigen Umgang mit Königen
7.4 Eine Nacht im Palast
277
277
279
280
281
8. Gold – Hoffnungsträger für Ghanas Wirtschaft?
8.1 Ghana im Goldrausch
8.2 Reserve im Regenwald
282
282
283
9. Rund um die Goldgruben von Tarkwa
9.1 Ghana Goldfields
9.2 WACAM – Grasswurzeln des Widerstandes
9.3 Gold – was nutzt es den Menschen?
284
284
285
287
263
Ghana
9.4 Umweltskandale und Übergriffe –
Besuch in den Dörfern um Tarkwa
9.5 In den Gruben der Galamsey
Florian Klebs
289
292
10. Ashanti Goldfields – Ghanas ältester Vorzeigebetrieb
10.1 Obuasi, das Pulverfass
10.2 Flüssiges Gold – vom Stollen in die Goldschmelze
10.3 Harte und weiche Hunde
10.4 Die Verzweifelten von Sansu
10.5 Tod aus dem Abflussrohr
294
294
294
296
298
300
11. Recherche in Afrika
11.1 „Dann haben wir ja noch Zeit“
11.2 „Es gibt ihm ein unangenehmes Gefühl“
11.3 „Ich habe Angst vor dir“
302
302
303
304
12. Geschichten am Rande
12.1 Zum Studium nach Deutschland
12.2 Der erstaunliche Mr. Blayh
304
304
307
13. Thank you!!!
308
265
Florian Klebs
Ghana
1. Zur Person
Florian Klebs ist vor seinem Stipendium der Heinz-Kühn-Stiftung noch
nie in Afrika gewesen. Der 1967 Geborene studiert Geologie in Heidelberg,
Tübingen und Flagstaff/Arizona. Seine ersten Radioreportagen entstehen
während der Diplomarbeit in Brasilien. Nach dem Diplom volontiert er beim
Mindener Tageblatt, verlässt nach zwei Tagen den Pressestab der Expo 2000,
arbeitet als Chefredakteur für das Hochschulmagazins Unicum und wird
anschließend Pressechef der Alexander von Humboldt-Stiftung. Als freier
Autor veröffentlicht er bei der ZEIT, der Süddeutschen, dem Tagesspiegel,
Unispiegel und anderen. Zurzeit arbeitet Florian Klebs als Pressesprecher
für die Universität Hohenheim und lebt als freier Autor in Tübingen.
2. Einleitung
Ghanas Gold ist ein vielschichtiges Thema. „Goldküste“ taufen die Portugiesen den schmalen Landstrich, an dem 1471 ihre Schiffe anlegen. Die
Wirtschaftsgeschichte des Edelmetalls in Ghana ist allerdings wesentlich
älter.
Bereits im 7. Jahrhundert exportiert das Volk der Ashanti den Rohstoff
von Afrikas Westküste bis in den Norden des Kontinentes. Weltweit einmalig sind das handwerkliche Geschick und die reiche Bildersprache im traditionell-afrikanischen Goldschmuck der Ashanti. Ihre Schmiede verwenden
die Technik der „verlorenen Form“: Der Künstler formt den Schmuck aus
Wachs und ummantelt ihn mit Mist und Lehm. Das Wachs lässt er im Ofen
ausbrennen und gießt den Hohlraum mit flüssigem Metall aus. Europäischen
Arbeiten überlegen sind die feinen Strukturen, zu denen sich Wachs nur in
tropischer Hitze verarbeiten lässt.
Kulturgeschichtlich hat das Metall einen hohen Wert. Das wichtigste Symbol des Volkes ist der „goldene Schemel“: ein reich verzierter
Zeremonial-Stuhl. Direkt vom Himmel soll ihn der oberste Gott, Nyame,
dem 4. König der Ashanti übergeben haben.
Ende des 19ten Jahrhunderts führen die Kolonialmächte den industriellen
Bergbau ein. Kurz nach der Unabhängigkeit werden die Minen verstaatlicht,
in den 90er Jahren wird der Bergbau wieder liberalisiert. Heute sind Ghanas
Minengesellschaften multinationale Unternehmen. In den 90er Jahren des
20.Jahrhunderts vervierfacht sich der Goldbergbau. Nach Südafrika ist
Ghana der größte Goldproduzent des Kontinents. Gold stellt ein Drittel aller
Exportgüter.
266
Ghana
Florian Klebs
Zwei Zentren haben sich bei der Goldproduktion etabliert: die Bergbaustädtchen Tarkwa und Obuasi. Letzteres besitzt Ghanas einziges Tiefenbauwerk.
Das meiste Erz wird kostengünstig im Tagebau gefördert, aufgeschüttet
und mit toxischen Blausäure-Salzen durchspült. So werden selbst winzige
Goldmengen ausgewaschen.
Neben Landnutzungskonflikten mit örtlichen Kleinbauern werden mehrere Chemieunfälle bekannt, die ganze Flüsse verseuchen. Anwohner beklagen sich über vergiftete Felder, zerstörte Dörfer und Menschenrechtsverletzungen durch die Minengesellschaft.
3. Basislager Accra
Ankommen, Unterkunft, Praktikumsplatz – alles, was man von
Deutschland aus organisieren will, ist schwierig. Besser ist es, man hat einen Freund, der bei diesen und anderen Problemen hilft. Am besten, man hat
einen Freund wie Mike Anane: preisgekrönter Umwelt-Journalist, Sohn des
Königs von Ejisu und meist übermüdet, weil er einen Vortrag in Simbabwe
oder einen Workshop in Äthiopien vorbereitet.
Ich lerne Mike Anane bei meiner Vorrecherche kennen, weil er die
Probleme der Goldexploration seit Jahren bearbeitet. Hilfe und Unterstützung
erhalte ich auch durch die Friedrich-Ebert-Stiftung. Und während meines
Zeitungspraktikums lerne ich weitere Kollegen kennen, die immer wieder
weiterhelfen. Tatsächlich aber ist es Mike Anane, der bei mir die Rolle eines
Mentors übernimmt.
Für alle, die nicht das Glück haben, Anane zu kennen, hier ein paar
Erfahrungen:
Presscard. So heißt in Ghana die Presse-Akkreditierung. Und die wird
vor allem von staatlicher Seite überprüft. Den ghanaischen Presseausweis
unbedingt schon von zu Hause aus beantragen. Ich versuche es von Ghana
aus, was mich mehrere Tage auf dem Amt und fünf Wochen Wartezeit
kostet. Ohne die exzellenten Kontakte von Edward Briku Boadu von der
Friedrich-Ebert-Stiftung in Ghana hätte ich das Papier wahrscheinlich heute
noch nicht. Beim Verfahren hilft das deutsche Auswärtige Amt unter: www.
auswaertiges-amt.de/www/de/laenderinfos/adressen/index_html
Dress-Code. Selbst die kleinste Hütte besitzt ein vielbenutztes Bügeleisen.
Vor allem bei Recherchen in der Hauptstadt, bei Firmen oder Behörden ist
Dress-Code eine ernste Sache. Waschen und Bügeln bietet jedes Hotel.
Für den Alltag reichen Anzugshemd, Hose (Bügelfalten!) und Halbschuhe.
Mit Jackett war ich meist overdressed. Über die Krawatte war ich öfter
267
Florian Klebs
Ghana
froh. Meine Erfahrungen mit Schneidern in Ghana wären einen eigenen
Erlebnisbericht wert.
Visitenkarte. Englisch: Complimentary cards. Sie können helfen, dem eigenen Besuch etwas Autorität zu verleihen. Noch wichtiger: Man hat etwas
bei der Hand, wenn man um die Adresse in Deutschland gebeten wird – und
das passiert häufig, zum Teil von völlig unbekannten Menschen. Meine
Visitenkarte enthielt deshalb Namen, Email und meine Ghanaische HandyNummer. Drucken ließ ich sie in Accra.
Stadtpläne und Karten. Sind schwierig zu bekommen. Die einzige mir
bekannte Landkarte von Ghana wird vertrieben von IMB Publishing/
International Travel Maps in Kanada und hat die ISBN-Nummer 155341223-0
(vgl. Auch www.itmb.com). In Accra hilft das Souvenirgeschäft am Eingang
des Arts Centre in der 28th February Road im Stadtteil Victoriaborg.
Fotos. Fotografiert werden ist schön. Fotos geschenkt bekommen noch
schöner. Für mich als Journalisten, der in das Leben anderer Menschen einbricht, um dann auf immer zu verschwinden, sind Bilder oft die einzige
Möglichkeit, mich bei den Menschen zu bedanken, die mir ihre Zeit und
Einblicke in ihr Leben schenkten. Neben der Spiegelreflex mit Profifilmen
habe ich erstmals eine 20-Euro-Kamera mit Billigfilmen dabei, die ich vor
Ort entwickeln lasse. Vorsicht: Auf einem Foto können schnell 20 begeisterte Dorfbewohner sein. Ein Abzug kostet umgerechnet immerhin 20 Cent.
Außerdem haben Ghanaer bei Fotos ein gutes Gedächtnis. „Fehlt da nicht
der eine Abzug, wo ich so schräg nach hinten schaue?“, ist eine beleidigte
Frage, die man gestellt bekommen kann, obwohl man gerade zehn Abzüge
verschiedenster Posen verschenkt hat.
O-Töne und Technik. Mein MD-Player kennt die Tropen besser als ich:
Laut Aufkleber wurde das Gerät in Malaysia produziert. Trotzdem rollen
die meisten Verkäufer mit den Augen, wenn man sie fragt, ob ihre Technik
tropentauglich ist. Sorgen wie diese scheinen unbegründet: Kameras und
Minidisk bewähren sich drei Monate lang als äußerst zuverlässig. Auf dem
Land ist es manchen Menschen unangenehm, in ein Mikro zu sprechen,
andere tauen auf.
Telefonieren. Ghanas Variante der Telefonzelle ist das Communication
Centre: Ein Büdchen mit einer Theke voller Telefonapparate. Dahinter sitzt
der Betreiber, wählt die gewünschte Nummer, stoppt die Gesprächszeit
mit der Stoppuhr und kassiert sekundengenau. Handy ist teuer, aber unentbehrlich, wenn man wirklich etwas erreichen will. Billige StandardKommunikation läuft in Ghana über SMS. Ghanaische SIM-Karten kann
man in Accra kaufen. Unterlagen aufheben – sie erleichtern Sperrung und
Wiederbeschaffung, wenn das Gerät geklaut wird. Mein Handy wird im
268
Ghana
Florian Klebs
Gewühl beim Buseinsteigen aus meiner Hosentasche gezerrt. Ansonsten
keine Verluste.
Email & Büro. Computer in Internetcafés sind schrecklich langsam.
Manche Cafés dienen angeblich nur dazu, Emailadressen der Kunden zu
sammeln, um ihnen dann 491 Spam zu schicken. Einzige Ausnahme während meines Aufenthaltes: Busy Internet auf der Ring Road Central (östlich
des Circles) in Accra. Sehr flott und massentauglich. Hierhin kann man sich
auch ein Fax schicken lassen – oder gleich stundenweise ein Büro mit PC,
Telefon und Fax mieten.
Unterkunft. Hotels sind eine gute Lösung. Im Herbst 2003 kostet
eine Nacht in Accra ab fünf Euro. Billighotels beherbergen meist keine
Touristen aus Übersee – denn Rucksacktouristen gibt es hier kaum welche,
Entwicklungshelfer und Firmenvertreter leisten sich andere Etablissements.
Wochenlang lebe ich Tür an Tür mit Studentinnen aus Côte d’Ivoire, die in
Ghana englisch lernen.
Geld. Wechselstuben erkennt man an türgroßen Aufstelltafeln mit den
Tageskursen, Bargeld ist hier kein Problem. Alle Banken und Wechsler
akzeptieren Traveller-Schecks in Dollar, Euros sind schwierig. Visa & Co.
sind in jeder größeren Stadt (Accra, Tarkwa, Obuasi, Cape Coast, Kumasi)
am Bankautomaten problemlos.
Essen. Frühstück, Mittag- oder Abendessen: In der Stadt gibt es alle paar
100 Meter einen Straßenstand oder Restaurants. Aus meiner Erfahrung zu
empfehlen. Krank geworden bin ich nie. Wer Glück hat, findet eine Frau wie
Auntie Bea in Tarkwa, die einen täglich bekocht und das Standardmenü der
Restaurants erweitert.
Schokolade. Ist lebenswichtig. Auch für die vielen Kakao-Bauern, die
Ghana für lange Zeit zur Nr. Eins der kakaoproduzierenden Länder machten.
Jede dritte Tafel in Deutschland enthält Kakao aus Ghana. Vor Ort besteht
jede Tafel zu 100 Prozent aus Kakao aus Ghana, wenn man die Lokalmarke
Kingsbite von Golden Tree wählt.
4. Schwarz und weiß
4.1 „Ein weißer Mann kann das nicht“
„Auf unserer Reise waren wir gezwungen, oft hüfttiefe Flüsse zu überqueren“, schreibt Bernhard Grzimek, Tierarzt, Zoodirektor und Filmemacher
in einem Buch über seine erste Afrikareise. Ein Foto zeigt seinen Sohn
Michael im blütenweißen Tropenanzug – auf den Schultern eines schwarzen
Angestellten, der bis zu den Hüften im Gewässer steht.
269
Florian Klebs
Ghana
Dieses Bild aus den 60er Jahren ist mir schon lange vor meinem Aufenthalt
in die Hände gefallen. Vergessen habe ich es nie. Die Afrikaner offensichtlich auch nicht. Entsprechend gering werden unsere Fähigkeiten vor Ort
eingeschätzt. „Ein weißer Mann kann das nicht“, ist eine Antwort, die ich
öfters zu hören bekomme. Variationen wie: „Kann ich bis zu diesem Dorf
laufen?“ – „Ja, man kann laufen, aber für einen weißen Mann ist es zu weit.“
oder: „Kann ich euch beim Goldschürfen begleiten?“ – „Nein, ein weißer
Mann hält das nicht durch“, ergänzen die Liste.
Andererseits haben weiße Besucher in Ghana ständig neuen, beeindruckenden und unerklärlichen Schnickschnack dabei. „Das ist der Grund,
warum wir euch Weiße fürchten“, meint Menschenrechts-Aktivist Kwesi
Aduakwah, als ich ihm den winzigen Minidisc-Player zeige und kurz darauf die eigene Stimme vorspiele. Auf dem Land werden weiße Menschen,
gewollt oder nicht, oft als Autoritätspersonen behandelt. Was sicher ein
Erfahrungswert ist. Weiße haben Geld. Weiße sind Minenarbeiter. Weiße
bringen Ärger. „I am sick of white men coming in our village“, übersetzt mir
Aduakwah das Zwiegespräch zweier Bauern, die wir auf einer Recherche
passieren.
Mit der Zeit wird meine Welt schwarz. Ich kann mir nicht vorstellen, dass
Menschen eine andere Hautfarbe haben. Bisweilen vergesse ich, dass ich aus
jeder Menschenmenge herausleuchte und beschreibe Erkennungszeichen,
wenn ich mich mit Fremden am Telefon verabrede. Zurück in Deutschland
beginnt der umgekehrte Prozess. Menschen sind weiß. In meiner Erinnerung
werden ghanaische Freunde immer weißer.
4.2 „Einmal zu Abédi Pelé, bitte“
Wochenlang sehe ich selbst keinen einzigen Weißen. Das ändert sich
schlagartig, als ich für fünf Tage bei Freunden in Accras Diplomatenviertel
Cantonments wohne. Die Mehrzahl der Bewohner scheint weiß – von
Fahrern und Nachtwächtern abgesehen. Kein Taxi findet hier eine Adresse –
zu selten, dass jemand mit öffentlichen Verkehrsmitteln in diese Ecke fährt.
Umgekehrt komme ich kaum von dort weg. Taxen meiden das Viertel, wo
jeder Bewohner ein Auto hat. Wenn man eines findet, verlangt der Fahrer ein
Vielfaches des Normalpreises. Mein Problem löst sich erst, als ich merke,
dass unmitellbar neben meinen Gastgebern auch die Villa eines prominenten Fußballers liegt. „Zu Abédi Pelés Haus“, sage ich seither zu Taxifahrern,
die mich dann sicher zur Heimatadresse des ghanaischen Kickers von 1860
München chauffieren. Die 20 Meter von dort zu meinen Gastgebern muss
ich halt zu Fuß gehen.
270
Ghana
Florian Klebs
4.3 „Sie wird dich töten! Sie macht einen Juju mit dir“
„Vielleicht wird es Sie wundern – doch in Ghana gibt es keinen Rassismus“,
schreibt Jojo Cobbinah im bekanntesten Reiseführer zu dem Land. Rassismus
vielleicht nicht. Aber ganz grün sind sich die Völkergruppen auch nicht.
„Unser Volk wurde immer von Ashanti überfallen. Weil sie zu viele Könige
haben. Die durften nicht arbeiten, da haben sie halt ihre Nachbarn bekriegt“,
erklärt mir George Komsoon, Journalist aus Cape Coast und Angehöriger
der Volksgruppe Fanti. Bei den Ashantis gilt diese Volksgruppe als die
Epikureer Ghanas. „Nimm ja keine Fanti zur Frau. Sie wird nur Kuchen
wollen und dein Geld verschleudern“, zitiert Mike Annane, Angehöriger der
Ashanti die Weisheit seines Volkes.
Harmlose Sticheleien im Vergleich zu dem Misstrauen gegenüber den
Ewe, einer Volksgruppe aus dem Osten. Ewe sprechen eine komplett andere Sprache, man versteht sie nicht und traut ihnen jede Schlechtigkeit zu.
„Ich wette, deine Mutter würde dir jede Fanti-Ehe verzeihen, bevor du auf
die Idee kommst, eine Ewe zu heiraten“, meine ich zu Mike. „Du lernst
schnell“, ist seine Antwort. „’Sie wird dich im Schlaf töten! Sie wird dich
mit Juju verhexen’ – das ist es, was eine Ashanti-Mutter zu ihrem Sohn sagen würde.“
5. Zeitung in Ghana
5.1 FAZ und Fritten
Wer schon immer das Bedürfnis hatte, das ein oder andere deutsche
Presseerzeugnis rektal zu applizieren – in Ghana bekommt er Gelegenheit
dazu. Handlich zerschnitten liegt das FAZ-Feuilleton auf öffentlichen
Toiletten. Als Teller-Ersatz schimmert der Leitartikel der Süddeutschen
durch scharf gewürzte Schnitzel von fettig frittierten Kochbananen am
Straßenstand.
Wer wissen will, was Deutschland vergangenen Sommer bewegte, sollte die Altpapierhändler am Kaneshi-Markt besuchen. Hier decken sich
die Marktfrauen mit Einwickelpapier ein. Woher die Zeitungen kommen?
Ausgewanderte Ghanaer aus ganz Europa würden den Nachschub sichern,
erklärt mir Händler Kwabena Achana.
Der Handel ist durchaus lukrativ. 200 Cedis kostet eine Toilettenbenutzung,
bezahlt wird dabei das Papier von ein bis zwei Zeitungsseiten. Auf diese
Weise ist die alte Secondhand-FAZ schnell teurer, als der druckfrische Daily
Graphic. Der ist für 2.000 Cedis zu haben. Und um einiges aktueller.
271
Florian Klebs
Ghana
5.2 Grünes Licht für Pressefreiheit
Was Medien betrifft, hat sich viel getan, seit meine Vorgänger mit einem
Kühn-Stipendium anreisten, um über die Pressefreiheit in Ghana zu recherchieren. Was Menschenrechte betrifft, sei die erste demokratische Regierung
von John Kufuor nach der vorherigen Militärdiktatur vorbildlich, sagen auch
die Kritiker von Kufuors Wirtschaftspolitik.
Eine Seite täglich widmet der Daily Graphic, Ghanas größte Zeitung, dem
Bericht eines Opfers aus Zeiten der Militärdiktatur vor der Menschenrech
tskommission. Ansonsten weiß die Regierungszeitung leider traurig wenig
aus ihrer Marktposition zu machen. Selbst spannende Schlagzeilen entpuppen sich oft als Zitat eines Beamten, der in Vertretung eines Vizeministers
ein Grußwort auf einer Veranstaltung verlas.
Vielversprechender sind die vielen kleinen Zeitungen – etwa der Statesman
oder der Chronicle. Was beim Kollegengespräch auffällt: Viele berichten
von Weiterbildungen und Stipendien in USA oder England. Leider zu spät
lerne ich, dass es in Accra mehrere Journalistenschulen gibt. Hier könnte
es sich für künftige Stipendiaten lohnen, ein wenig Werbung für die HeinzKühn-Stiftung zu machen.
Als Medienzentrum besitzt Accra jetzt das International Press Centre.
Herausragendes Ereignis während meines Aufenthaltes ist die Wahl der
neuen Vorsitzenden der Journalistenvereinigung von Ghana. Für einige
Medienvertreter soll die Wahl zum Fiasko werden. Einer der Kandidaten
wird schmählich disqualifiziert, als bekannt wird, dass er trotz Anstellung
als Chefredakteur seit Jahren seine Beiträge nicht zahlte. Ein anderer zahlte
sie erst kurz vor der Nominierung.
In den Medien wird das Ereignis breit dargestellt. „Ghanas Journalisten
haben viel zur Rückkehr der Demokratie beigetragen, deswegen ist die
Öffentlichkeit an allen Vorgängen innerhalb der Medien sehr interessiert“,
meint ein Teil meiner Kollegen. „Unnötige Nabelschau“, urteilt ein anderer.
5.3 Mein Blatt: die Public Agenda
Für mein Praktikum habe ich mir ein kleines Wochenblatt ausgesucht: Die
„Public Agenda“. Am Anfang ist es schwer für die Redaktion, den neuen
Mitarbeiter einzuschätzen. Viele Redaktions-Praktikanten aus Übersee sind
britische Highschool-Abgänger ohne Vorbildung.
Mit wechselnder Besetzung teilen wir uns die acht Computer und ein
Telefon. Wertvollstes Instrument ist immer noch der Kopf. Wer berichten
will, braucht Connections. Es gibt keine Nachschlagewerke, Adressenver272
Ghana
Florian Klebs
zeichnisse, Organigramme. Für viele Themen brauche ich erst mal die Hilfe
der Kollegen, um richtige Ansprechpartner zu identifizieren.
Viele schauen nur sporadisch in die Redaktion, statt Konferenzen laufen
Themenabsprachen informeller ab. Von Sonderseiten über den WTO-Gipfel
in Cancun bis zur ausführlichen Berichterstattung über Goldbergbau – wer
will, kann hier viel machen. Man muss sich allerdings aufdrängen.
5.4 Gold in den Medien
Gold ist täglich in den Medien, zumindest während meines Aufenthaltes.
Mit ganzseitigen Anzeigen liefern sich zwei ausländische Konzerne eine
Werbeschlacht. Denn Ashanti Goldfields Company (AGC), Ghanas ältester
und erfolgreichster Konzern, ist auf Brautschau. In 1.500 Meter Tiefe lassen
Probebohrungen immense Goldreserven vermuten. Doch um die zu heben,
braucht AGC das technische Knowhow aus Südafrika – und möchte fusionieren.
Liebling der Presse ist Samuel Jonah, AGCs Chief Executiv: Jonah ist
– seit 1986 – der erster schwarze Leiter eines Bergbaukonzerns in Afrika
und Ehrendoktor der University of Cape Coast. Noch während meines Aufenthaltes erhält der Manager für seine Wirtschaftsverdienste den
Ritterschlag durch Queen Elizabeth in London. Die Position von Jonah ist
stark. So stark, dass der Graphic bereitwillig seinen Aufruf druckt, die Presse
solle über Menschenrechtsverletzungen durch Minenpersonal nicht schreiben. Denn dies gefährde Ghanas Ansehen, die Fusion der Goldkonzerne und
damit auch die nationale Wirtschaft.
Nur einmal begeht Jonah einen PR-Fehler. Nach einem Vortrag im
Rotary Club von Accra zitiert ihn ein zufällig anwesender Journalist mit
dem Ausspruch, er fände Arbeitsplätze und Wohlstand wichtiger als
Schmetterlinge. Die Bemerkung zielt auf den Okyhene, Paramount-König
und damit höchste traditionelle Instanz im Gebiet seiner Volksgruppe.
Bislang hatte der Okyhene jeden Goldbergbau in seinem Königreich abgelehnt. Die lokale Bevölkerung habe nichts davon und das Erz liege in einem
Waldschutzgebiet, das wegen seiner hohen Biodiversität geschützt sei. Hat
Jonah den Okyhene beleidigt? Das Thema hält sich einige Tage.
Die Landwirte rund um die Goldminen haben es schwerer, in die Zeitung
zu kommen. Schuld daran ist auch die Distanz: In Ghana ist es üblich, dass
Journalisten nach einer Pressekonferenz vom Veranstalter für ihre Zeit
und die Anfahrt bezahlt werden. Für Interviews mit Kleinbauern, die 300
Kilometer entfernt leben, fehlen da Zeit und Ressourcen.
273
Florian Klebs
Ghana
Vor allem Bildmaterial ist Mangelware. Zurück in Deutschland erhalte
ich mehrmals eine Mail oder einen Anruf von Journalisten. Sie hätten von
meiner Recherche gehört. Ob ich ihnen Bilder schicken könnte.
6. Ghanas Goldschmuck
6.1 Feiner als Frauenhaar, dünner als Seidenpapier
Über die Kunstfertigkeit ghanaischer Goldschmiede erzählt man sich
wahre Wunder. Feiner gesponnen als Frauenhaar: Aus Bienenwachs formen
die Künstler filigrane Schmuckstücke, die Form wird mit Lehm ummantelt,
im Feuer ausgebrannt und mit flüssigem Gold ausgefüllt. Dünner geschlagen als Seidenpapier: Mit feiner Goldfolie veredeln sie Schnitzerein auf den
Sonnenschirmen der Adligen, den Repräsentationsstäben der königlichen
Linguisten oder den Griffen von Zeremonialschwertern.
Bei meiner Recherche hoffe ich, in Ghanas alter Königsstadt Kumasi
fündig zu werden. Denn traditionell ist Goldschmuck eines der wichtigen
Statussymbole ghanaischer Monarchen. Aus vielen Quellen höre ich von
sagenhaftem Reichtum. Bilder zeigen den Ashantihene, oberster König der
Ashanti, beladen mit so viel goldenen Armreifen, dass er die Hände auf die
Köpfe zweier Knaben stützen muss. Ein Wandkalender zeigt den Monarchen
in vollem Ornat, wie er die Queen in London besucht. Später erklärt mir ein
Goldschmied einen Teil der goldenen Ornamentik. „Ich greife dich nicht an,
wenn du auch den Frieden wahrst“, sei die Bedeutung der goldenen Symbole
im Kopfputz des Ashantihenes. Selbstbewusster kann man die Queen nicht
besuchen.
Fakt oder Fiktion? Professor Ayensu, Kosmopolit, international angesehener Mediziner und Verfasser eines Buches über Ashanti Gold, erzählt mir,
dass die Ashanti ihren toten König mit Goldstaub bepudern. Später würden die Körpergelenke durch Golddraht ersetzt, damit die Gebeine in ihrer natürlichen Position bleiben. Gleichzeitig erzählt mir der renommierte
Arzt von einem us-amerikanischen Kollegen, der „das nutzloseste Buch der
Welt“ über Heilkräuter Afrikas schrieb. Nicht eine Information sei zutreffend, denn während seiner Recherche sei der Fremde in Ghana von allen
Spezialisten nur angelogen worden. „Warum soll ich ihm alles verraten,
wenn er dann damit reich wird“, hätten die Quellen Ayensu gegenüber gestanden. In Ordnung! Botschaft verstanden!
274
Ghana
Florian Klebs
6.2 Der Goldschmied des Königs
Der Goldschmied des Königs – das sind eigentlich zwei Personen. Der
eine trägt den Titel des Burasemene – was heißt, das er selbst den Rang
eines Königs besitzt. Das Amt des Schmiedes vererbt sich mit seinem Stuhl.
Als der Ashantihene nach England reist, soll er ihm ein Goldkreuz für den
Bischof von Canterbury geschmiedet haben.
Tatsächlich stehen ein großer Lehmofen für Gussformen und ein kleiner
zum Metallschmelzen im Hof des Palastes. Für eine Werkstadt aber sieht es
sehr sauber aus. Der Burasemene arbeitet wohl nicht allzu oft. Zurzeit ist er
auf Reisen.
Nach vielen Telefonatsversuchen und einer geglückten Verbindung treffe
ich ihn später auf einem Parkplatz in Accra. Wie viele Monarchen unterhält
der Burasemene einen Zweitpalast in der Hauptstadt. Wir schmieden zusammen, vor allem große Pläne. Um das Ende vorweg zu nehmen: Viel ist
nicht daraus geworden. Ich glaube, dass alles möglich gewesen wäre, wenn
ich entsprechend Zeit und Energie investiert hätte. Drei Monate sind eine
lange Zeit. Doch manchmal nicht lang genug.
Geschäftiger geht es im Haus der Goldschmiede-Familie Agiare zu. Die
rußige Bretterbude liegt dem Palast des Burasemenes gegenüber. Dem
Hörensagen nach hassen sie sich von Herzen.
Zumindest über Aufträge scheint sich Familie Agiare nicht beklagen zu
können. Die Öfen rauchen, die Öllampen qualmen, über offener Flamme
lötet einer der Brüder mit dem Mundrohr.
Auch in der Fachwelt hat die Familie Agiare einen Ruf. Den talentiertesten der Brüder hatte die Pforzheimer Designprofessorin Johanna Dahm als
Dozent für einen Sommer-Workshop eingeladen. Seither ist der AusnahmeGoldschmied in England abgetaucht. Und seither kennt Familie Agiare ihren Wert.
Zusammen feilschen wir einen Vormittag. Sie würden mir gerne etwas erzählen, auch eine Demonstration geben. Ich bin gerne bereit, den
Verdienstausfall zu übernehmen. Doch unsere Vorstellungen unterscheiden
sich um Zehnerpotenzen. Ob ich denn wüsste, was ihnen ein US-Filmteam
gezahlt hätte? Ich überschlage die Kosten, die entstehen könnten, wenn alle
Quellen, die mir seit Tagen in Kumasi helfen, von diesem Deal Wind bekommen – und sehe selbst das großzügige Budget der Kühn-Stiftung gesprengt.
Was darf man mit dem ökonomischen Hintergrund eines Europäers umsonst in einem gebeutelten Kontinent verlangen? Welche Sonderregelungen
kann man als Journalist beanspruchen? Die Recherche bei den königlichen
Goldschmieden verläuft im Sande. Das Dilemma bleibt.
275
Florian Klebs
Ghana
6.3 Design als Geheimsprache – Ghanas Adinkras
Trotzdem bleibt die Zeit in Kumasi spannend. Zum Wohnen hat mich
Professor Kwabena Sarpong eingeladen. Sarpong lehrt Goldschmieden und
Design an der Universität von Kumasi. Er selbst hat in Zürich und Japan
studiert.
Tagsüber ist Sarpong am Improvisieren. Vom Strom, der irgendwann
einmal sein neues Haus erleuchten soll, bis zur Jagd nach einem flüchtigen Schuldner, für den er bei der Polizei bürgte. Abends sitzen wir auf den
Mauerresten eines Anbaus, für den schon dem Vorbesitzer das Geld ausging.
Sarpong plant, dazwischen eine Baumschule anzulegen. Was nur eines von
sehr vielen Projekten ist.
In langen Gesprächen weiht mich Sarpong in seine Sicht über afrikanisches Design ein. Dass Muster und Darstellungen lebhaft seien, weil sie
absichtlich Unregelmäßigkeiten enthielten. Dass Ghanas Künstler davon
abkommen müssten, die maschinenartige Gleichförmigkeit europäischer
Goldschmiede zu kopieren. Dass Nigerias Künstler in diesem Prozess schon
weiter seien.
Es sind Gespräche, die vom Hundertstel ins Tausendstel kommen. Sie
gleiten ab in die Frage, warum afrikanischer Honig gekocht wird, wie man
in Ghana reich werden könnte, ob ich einen Verleger für seine Gedichte
kenne und über die Macht des Juju, von der Sarpong selbst erlebte, wie sie
mehreren Menschen das Leben nahm. Sarpong grübelt über seine Vorfahren
und Europas Einfall in Afrika: „Ich frage mich, warum sie Juju nicht bei
euch Weißen angewendet haben. Aber vielleicht wirkt es bei euch nicht“,
sinniert der Designer.
Und Sarpong führt mich – ein kleines bisschen – in die Bedeutung der
Adinkras ein. Adinkras, das sind symbolische Ornamente. Und wer einmal einen Blick dafür bekommt, sieht die Zeichen plötzlich überall: auf
Plastikstühlen, Fertigbausteinen für Gartenmauern, Aschenbechern und
– natürlich – Schmuckstücken.
An den Symbolen gibt es einen reichen Fundus. Traditionell werden sie
vor allem auf Kleidung gedruckt. Stoffe mit dem Adinkra der Himmelsleiter
werden zum Beispiel meist auf Beerdigungen getragen. „Gye Nyame“ ist
das häufigste. „Nichts als Gott“ oder „ich fürchte nichts als Gott“ bedeutet
das bisymmetrische Design.
Aussage hat auch die Art, wie das traditionelle Tuch um den Körper
geschlungen wird. Stolz und Bescheidenheit, Macht, Unterwerfung oder
Drohung lassen sich so ausdrücken und meist mit wenigen Griffen in eine
neue Aussage arrangieren.
276
Ghana
Florian Klebs
Sarpong ist stolz auf die Adinkras. „Wir waren dabei, eine Schrift zu entwickeln“, ist er sich sicher.
6.4 Ich war ein Wasserhahn – die Messinggießer von Kumasi
Versierte Schmiede, die auch Adinkras produzieren, treffe ich auf einem
Eckchen Wiese auf der Straßenseite gegenüber Sarpongs Haus. Es sind zwei
Brüder. Statt Gold arbeiten sie kostengünstig mit Messing.
Ihre Technik entstammt der berühmten Tradition der Ashantis. Mit
Anleihen: Als Blasebalg verwenden sie die ausgebaute Klimaanlage eines
Autos. Schmelztiegel für das Messing sind die Motortöpfe ausgeschlachteter Kühlschränke. Vom Schrottplatz kommt das Metall für ihre Kunst: alte
Wasserhähne, Zahnräder, Manometer, Türklinken...
Zusammen verbringen wir mehrere Nachmittage, heizen das Lehmcarree
voller Formen auf, betrachten die grüne Flamme, gefärbt durch das Zink aus
der Messinglegierung. Flüssig zischt das Metall in Formen aus Lehm. Wir
schwitzen in der Tropenhitze.
Als ich weiterreise, habe ich ein Säckchen Messingschmuck dabei. Mein
Messingschmied hat genug verdient, um seinen zwei Kindern die nächste Rate Schulgeld zu zahlen. Außerdem hat er sich im Internet-Café eine
Email-Adresse eingerichtet. Er möchte mit mir Kontakt halten. Vielleicht
tun sich in Europa ja neue Absatzmärkte auf.
7. Die Könige und ich
7.1 Mein König von Accra
Gestehen wir es lieber gleich zu Anfang: Nana Boakye-Yadom I. ist eher
ein kleiner König. Tatsächlich beschränkt sich sein Reich auf einen Stadtteil
der Hauptstadt. Hinzu kommen einige verstreute Ländereien.
Wir lernen uns kennen zwischen Autowracks und ölverschmierten
Mechanikern: das gemeinsame Schicksal einer Wagenpanne hat uns auf
einem Werkstattgelände vor Cape Coast zusammenführt. Zufall, dass wir
mehr als die üblichen Begrüßungsfloskeln wechseln. Zufall, dass wir entdecken, fast gleichzeitig einmal im ostwestfälischen Minden gearbeitet zu
haben. Und Zufall auch, dass ich unter den weiten Ärmeln ein Armband um
sein Handgelenk entdecke: Das Statussymbol seiner Königswürde.
Ausgerechnet Minden: Die Kleinstadt, in der ich volontierte. Nana hat
dort drei Monate gearbeitet, als Hilfsbäcker in einer Brotfabrik. Eigentlich
277
Florian Klebs
Ghana
war er nach Deutschland gekommen, um Untertanen in der Diaspora zu
besuchen. Doch dann ging ihm das Geld aus - und zu Hause wurde erwartet, dass er Geschenke mitbringt. Also stellte sich der König in Minden ins
Labor, mischte Mehl mit Muskatnuss und Backtriebmittel, verbrachte den
Sonntag allein am McDonalds-Tischchen vor dem Marktplatz, blickte auf
die Turmspitze des einzig romanischen Doms Norddeutschlands und fühlte
sich einsam.
Eine Erfahrung, die mir nicht unbekannt war. Ob König aus Afrika oder
Volontär aus Süddeutschland – dem Ostwestfalen in Minden ist das egal.
„Minden ist kaputt-Stadt. People are scheiße there“ – ich würde es nicht
ganz so drastisch formulieren, wie Nana. Aber die gemeinsame Erfahrung
teilen, wie einsam man in einer Kleinstadt sein kann – das schweißt zusammen. In den nächsten drei Monaten wird Nana eine feste Größe in meinem
Leben.
Mit der Zeit ritualisieren sich unsere Begegnungen. Wann immer ich in
Accra bin, speise ich meine Ankunft in alle Kanäle der Kommunikation.
Selbstverständlich hat Nana ein Handy und ebenso selbstverständlich hat
er keine Einheiten drauf. Zudem harmoniert sein Ghana Telecom-Gerät
nicht mit meiner Ghana-Spacefon-Karte: Die afrikanisch-kostengünstige
Standardkommunikation über SMS bleibt uns verwehrt, Telefonate sind
nur manchmal möglich. Alternativ bleibt das Communication Center, die
afrikanische Variante der Telefonzelle. Nana verbringt viel Zeit in solchen
Einrichtungen, ich telefoniere ihm, seinem Neffen oder seinem Assistenten
hinterher. Er hinterlässt Zettel an meiner Hotelrezeption, wir verpassen uns
ein paar Tage, aber irgendwann sitzen wir doch beim Bier zusammen.
Selbstverständlich, dass ich bei solchen Gelegenheiten bezahle: Einen
König bittet man nicht, die Rechnung zu begleichen. Nana genießt es, sich
mit kleinen Beweisen seiner Macht zu revanchieren. Als ich weit nach
Ladenschluss erwähne, wie sehr ich zum Bier ein Stück Schokolade genießen würde, winkt er heimlich einen Jungen heran und fünf Minuten später
liegt die Tafel auf dem Tisch. Wie in aller Welt er das geschafft habe, leite ich brav einen Wortwechsel ein, der auch Ritualcharakter hat. „Rate“,
meint Nana. „Vielleicht, weil du König bist?“, frage ich, als käme ich jetzt
erst auf den Gedanken. „That’s right, man!“, trompetet Nana. Wir schlagen
die Hände ineinander, umgreifen die Finger, dann den Daumen und zurück.
Wir trennen die Finger, indem wir den Mittelfinger gegen den Daumen des
Freundes schnalzen. Dann lachen wir albern und freuen uns. Nana, weil er
es mir wieder mal gezeigt hat. Ich, weil ich mein Leben lang stolz sein werde, auf diese Nachmittage mit Nana.
Manchmal erscheinen seine Stories zu fantastisch: Dass er müde sei, denn
gestern sei er im Sessel eingenickt, statt im Bett zu schlafen. Seine Frau habe
278
Ghana
Florian Klebs
ihn sitzen lassen, anstatt ihm mehr Komfort zu geben, denn der Schlaf eines
Königs sei heilig, so dass sie ihn nicht wecken dürfe. Auch sein Auftreten
ist gewöhnungsbedürftig. Bei unserem ersten Treffen trägt er traditionelle
Batik-Kleidung, beim zweiten Netzhemd und Shorts. Im Zivilberuf sei er
Geodät und habe in den Niederlanden studiert. Von dort zeigt er mir Bilder,
wie er im Nebenjob im Radio moderiert. Tatsächlich kann ich mir Nana am
ehesten als Viva-Moderator vorstellen: Cool, schlagfertig und ansteckend
fröhlich.
Wann immer meine Fragen in die Tiefe gehen, scheint es Zeit, sich wieder
zu trennen. Denn Nana hat nie viel Zeit, er muss sein Land entwickeln, sucht
Investoren für seine Diamantvorkommen, hat Pflichten seinen Untertanen
gegenüber oder muss in die Burg: Ghanas Regierungssitz, in dem auch die
Monarchen mit einem Gremium vertreten sind.
Erst später setzen sich viele Puzzle-Teile zusammen und bestätigen Nanas
Geschichten. Einmal treffe ich ihn nach einem offiziellen Termin: Den
Körper gehüllt in Kente-Stoff, einem unerhört teuren Textil aus schmalen,
handgewobenen Streifen. Die Finger zieren Ringe mit Aufsätzen, so groß
wie Golfbälle. Gut, sie sind nicht aus massivem Gold. Ein silbriges Metall
scheint unter den abgewetzten Stellen hervor.
Das wahrhaft Königliche an Nana ist ganz bestimmt sein Selbstverständnis.
Einmal bleiben wir auf der Landstraße liegen. Als kurz darauf sein Wagen
wie durch ein Wunder wieder anspringt, stellt er eine Frage, die ich diesmal
nicht so leicht beantworten kann. „Weißt du, warum das Auto wieder angesprungen ist?“ – „Keine Ahnung“ – „Because otherwise Nana would have
been stuck in the middle of nowhere.“
7.2 Doppelt verwaltet – der Staat und das Königssystem
Viele weitere Könige werden mir auf den späteren Recherchen begegnen.
Tatsächlich ist Ghana das Land der Könige. In jedem Dorf gibt es einen König.
Diese unterstehen einem Distrikt-König. Darüber steht noch der ParamountKönig, die höchste traditionelle Instanz einer Bevölkerungsgruppe. Nur
die Ashantis kennen eine weitere Hierarchiestufe, in dem sie über die
Paramount-Könige den Ashantihene stellen: einen einzigen König, der über
allen anderen steht.
„Nana“, so lautet der Titel jedes Königs. Den zu erlangen ist ein komplizierter Vorgang: Die meisten Bevölkerungsgruppen Ghanas regeln die
Erbfolge matrilinear. Das heißt, nicht der Sohn eines Königs hat Anrecht auf
den Thron, sondern der Sohn seiner Schwester. Die Entscheidung trifft der
Onkel des Königs zusammen mit der Queenmother. Auch dieser Begriff ist
279
Florian Klebs
Ghana
für Europäer irreführend: Queenmother ist nicht die Königinmutter, sondern
eine Frau, die sich vorrangig um die Interessen der weiblichen Bevölkerung
kümmert. Dies kann zum Beispiel die Schwester des Königs sein.
Hinzu kommen die Familien der Königsmacher, die der Wahl eines Königs
zustimmen müssen. Auch für Ghanaer scheint dieses System komplex zu
sein: Einmal pro Woche hat jede Zeitung einen Bericht aus einer Region, wo
sich zwei Königsneffen um die Erbfolge streiten. Im Ernstfall liefern sich
Anhänger verfehdeter Königskonkurrenten auch Straßenschlachten.
Ghanas Recht, so Ghanas bekanntester Reiseführer von Jojo Cobbinah, sei
eine Mischung aus traditionellem und angelsächsischem Recht. Tatsächlich
scheint sich das Land in nahezu jedem Bereich eine doppelte Verwaltung zu
leisten, bei der staatliche Instanzen und Monarchen parallel, mit und gegeneinander ähnliche Aufgaben wahrnehmen.
Könige haben das Recht, Land zu verpachten und Steuern einzutreiben.
Von jährlich zwei Flaschen Schnaps bis zu einem Drittel der Ernte reichen
Steuersätze und Pacht, die mir in den Dörfern genannt werden. Im Dorf
Atwereboana erlebe ich, wie König Nana Kojo Bogya II. die Dorfbevölkerung
zur wöchentlichen Gemeinschaftsarbeit aufruft. In New Atuabo zeigt Joseph
Duncan mir ein Video, wie ihm durch den District König der Prozess gemacht wurde. Wegen angeblicher Königsbeleidigung war Duncan von der
offiziellen Polizei verhaftet worden, der staatliche Richter übergab den Fall
dem traditionellen Gericht.
Als Kläger und Richter hieß ihn der Monarch, ein Schaf als Opfer anzubieten. Vier Stunden stand Duncan in der Sonne, das Tier über den Schultern.
Derweil kniete seine Familie zu Füßen des Königs und flehte, das Schaf als
Entschuldigung anzunehmen.
Der Hintergrund des Konflikts: Als Verhandlungsführer seines Dorfes
stritt Duncan über die Höhe der Entschädigung, als die Bevölkerung durch
Bergbaugesellschaften umgesiedelt werden sollten. Ein Engagement, so
sein Verdacht, dass seinem König ein Dorn im Auge war. Denn auch an
dem Geld, das Bergbaufirmen für Abbaurechte bezahlen, sind District- und
Paramount-Könige beteiligt.
7.3 Höfisches Protokoll – vom richtigen Umgang mit Königen
„Was ist dein Begehr?“ – Bei meiner Recherche rund um die Goldminen
Tarkwas bekomme ich die Frage in jedem Dorf gestellt. Das erste Mal falle
ich aus allen Wolken. Mir gegenüber sitzt Nana Molobah, Dorfkönig von
Abekoase. Wir sitzen auf Holzbänken. Zwischen uns ein Eimer voll frisch
280
Ghana
Florian Klebs
gezapftem Palmwein. Hinter uns ein Gewirr von schwarzen Kesseln, Rohren
und Schläuchen. Hier brennt der König seinen Schnaps.
Und mein Begehr? Den hatten wir doch am Vortag besprochen. Wir waren
uns in Tarkwa begegnet, hatten uns bekannt gemacht und meine Reportage
haarklein besprochen. Molobah versteht meinen fragenden Blick: „Die
Tradition verlangt, dass es du es mir noch einmal sagst. Selbst, wenn ich es
schon weiß.“
Im Lauf der Zeit lerne ich das Ritual zu schätzen. Die kurze Zusammenfassung, warum man sich eigentlich trifft, hilft uns, das Gespräch zu strukturieren. Und ich merke, dass das Gespräch mit Molobah noch für lange Zeit
die informellste Begegnung bleiben sollte.
„Ein weißer Mann ist in unser Dorf gekommen. Wir treffen uns auf dem
Versammlungsplatz!“ – So übersetzt man mir den Ruf des Gong-GongBeaters, mit dem König Nana Kojo Bogya II. meine Ankunft im Dorf
Atwereboana bekannt gibt. Gut zehn Minuten läuft der Ausrufer durch das
Dorf, schlägt auf eine Metallglocke und wiederholt die Botschaft.
Der Platz ist groß, so groß wie ein Tenniscourt. Der König sitzt an der
Längsseite, an seiner Seite die Ältesten. Davor steht sein Linguist, der das
Gespräch führt und meine Antworten in Twi, die Landessprache, übersetzt.
Erst später erhalte ich die Erlaubnis, mich direkt an den König zu wenden.
Auf Englisch, denn Kojo Bogya spricht diese Sprache fließend. Warum er in
der Versammlung schweigt? Warum sein Linguist das Gespräch führt? Und
warum der alles, was ich sage, in Kojo Bogyas Muttersprache übersetzt? So
will es das Protokoll.
7.4 Eine Nacht im Palast
Zwei Monate nach meiner ersten Begegnung mit Nana Molobah,
Schnapsbrenner und Dorfkönig von Abekoase, soll ich noch einmal Gast in
seinem Palast werden. Zu diesem Zeitpunkt bin ich nicht allein: Begleitet
werde ich von dem Berliner Fotografen Dejan Patic. Gemeinsam verfolgen wir ein Ausstellungsprojekt über die Opfer des Bergbaus, das uns zwei
Wochen lang verschiedene Stationen meiner Recherche noch einmal aufsuchen lässt.
Von meiner Bitte, uns Quartier für die Nacht zu geben, ist Molobah anfangs begeistert. Doch als der Tag näher rückt, häufen sich die Ausflüchte.
Ob wir es wirklich wollten? Ob wir damit zu Recht kämen, nur Fufu zu essen? Ob weiße Männer es durchhalten, zu zweit auf einem Sack voll Stroh
zu schlafen? Die windigste Ausrede präsentiert Molobah am Morgen un-
281
Florian Klebs
Ghana
serer Anreise: Sein Sohn sei in ein Sanatorium eingewiesen worden. Und
leider habe er den Schlüssel zum Schlafraum im Palast mitgenommen.
Auch mir kommen Zweifel an der Idee. „Palast“ ist ein dehnbares Wort in
Ghana. An sich ist es wenig mehr, als der offizielle Wohnsitz des Königs. Im
Fall von Molobah ist es eine Lehmhütte wie die seiner Nachbarn. Einziges
Statussymbol ist die qualvolle Enge, die sechs Ungetüme von Postermöbeln
verursachen – in Ghana ein Zeichen für jemand, der es geschafft hat.
Vielleicht, so meine Vermutung, beschäme ich Molobah, weil ich ihn
zwinge, seine Armut offensichtlich zu machen? Gemeinsame Freunde überzeugen den König schließlich, dass der Besuch für meine Reise wichtig
sei.
Kurz vor der Abfahrt verschwindet Molobah noch einmal auf den Markt.
Als wir ins Sammeltaxi steigen, trägt er Päckchen unter dem Arm. Später,
als wir im Versammlungsraum plauschen, ist lauter Tumult vor dem Palast.
Es sind Molobahs Untertanen, die sich mit Hämmern und Macheten bemühen, die Tür zum Schlafraum aufzubrechen. Das Päckchen in Molobahs
Hand war ein neues Türschloss. Denn tatsächlich war Molobahs Sohn kurz
vorher in ein Sanatorium eingewiesen worden – und hatte den Schlüssel
zum Schlafraum des Palastes mitgenommen.
8. Gold – Hoffnungsträger für Ghanas Wirtschaft?
8.1 Ghana im Goldrausch
Für Ghanas Könige ist Gold ein Statussymbol. Für Ghanas Wirtschaft
ist es ein Hoffnungsträger. Nach Südafrika ist das kleine Land der größte
Goldproduzent des Kontinents. Weltweit rangiert Ghana auf Platz zehn der
Förderländer.
In den 90er Jahren liberalisiert Ghanas Regierung die Bergbaurechte und
privatisiert staatliche Firmen. In der Folge vervierfacht sich der Goldbergbau.
Heute stellt Gold ein Drittel aller Exportgüter. Für 2002 weist Ghanas
Minerals Commission in ihrem Statistical Overview einen Goldexport im
Wert von 689 Millionen Dollar aus. Im Folgejahr zur Zeit meiner Recherche
dürfte die Zahl noch höher liegen.
Der neue Goldrausch wird von der Börse getrieben. Fast 20 Jahre kennt
der Goldpreis nur die Abwärtsbewegung. Noch 2001 gilt die Investition in
das Edelmetall als unattraktiv. Doch im Kielwasser von Börsenschocks und
Terrorhysterie wird das Edelmetall als traditioneller Wert wieder modern.
Zur Zeit meiner Bewerbung feiern Wirtschaftsberichte den Goldpreis von
320 Dollar pro Feinunze als Aufsehen erregend. Kurz nach meiner Rückkehr
282
Ghana
Florian Klebs
wird Gold mit 428 Dollar pro Unze notiert. Generell gilt eine Mine ab einem
Goldpreis von 300 Dollar pro Unze als profitabel. In Obuasi, dem größten
und ältesten Bergwerk Ghanas, liegen die Produktionskosten bei 190 Dollar
pro Unze.
8.2 Reserve im Regenwald
Angesichts solcher Preise sind Ghana auch seine Waldschutzgebiete nicht
heilig. „Wir haben die Umweltbehörde beauftragt, spezielle Richtlinien für
den Goldbergbau in Waldschutzgebieten zu entwickeln“, erklärt Ghanas
Bergbauministerin Cecilia Bannerman kurz nach meiner Ankunft auf einer
Pressekonferenz.
In einer abenteuerlichen Argumentationskette begründen Industrie und
Behörden die neuen Pläne mit Umweltschutz. Viele der Wälder seien zerwühlt,
weil Glücksritter den Boden aufrissen, um selbst nach dem Edelmetall zu graben, erklärt mir Ahmed Nantogmah von der PR Abteilung der Ghana Chamber
of Mines. Da es unmöglich sei, die Schutzgebiete sicher abzuschirmen, sei es
besser, den Tropenwald im industriellen Bergbau abzugraben, um später ordnungsgemäß zu renaturieren.
Wie ordnungsgemäße Renaturierung aussieht, soll ich im Laufe der Zeit
noch in Obuasi erleben. Zudem zeigt sich, dass die Pläne umso mehr Beifall
finden, je weiter die Beteiligten vom Ort des Geschehens entfernt sind.
„Auf unserem Land werden wir keinen Goldbergbau zulassen!“, erklärt mir
Nana Kojo Bogyah II, König des Dorfes Atwereboana am Rande des BonsaWaldschutzgebietes. Als größter Kakao-Produzent des Disktrikts sei das Land
vergleichsweise wohlhabend. „Dank dem Kakao können alle unsere Kinder
zur Schule gehen. Wenn eines krank wird, können wir uns einen Arzt leisten.
Es gibt sogar spezielle Stipendien für Kinder von Kakao-Bauern“ begründet
Bogyah II.
„Wenn die Bagger den Boden aufreißen, werden wir kein Trinkwasser haben. Der Bergbau wird unser Wasser verseuchen, denn alle Quellen entspringen
im Wald. Wir werden kein Wild mehr haben, das wir jagen dürfen, denn die
Kinderstube des Wildes ist der Wald. Die Explosionen werden unsere Häuser
zum Einstürzen bringen. Unsere Kinder werden krank sein, denn für die Minen
stauen sie das Wasser auf. Dann haben sie Malaria und wir haben kein Geld
mehr, um Medikamente zu bezahlen“, berichtet der König. „Wir haben das
alles in anderen Dörfern gesehen. In Damang hatten alle Kakaobäume. Dann
wurden sie umgesiedelt, keines ihrer Kinder geht jetzt noch in die Schule. Gold
bringt niemals Wohlstand. Der Tagebau wird unsere Lebensgrundlage vernichten. Keine Summe der Welt kann diese Zerstörung aufwiegen.“
283
Florian Klebs
Ghana
Als kurz vor meiner Ankunft ein Explorationsteam den Wald untersuchen wollte, haben es die Dorfbewohner davon gejagt. Ob sie sich langfristig durchsetzen, ist ohne Unterstützung fraglich. Denn ohne Frage
ist Nana Kojo Bogyah II. eine beeindruckende und respekteinflößende
Persönlichkeit. Doch als Dorfkönig endet die Macht des Monarchen eben
an der Dorfgrenze.
9. Rund um die Goldgruben von Tarkwa
9.1 Ghana Goldfields
Ein Kärtchen für meine Visitenkarten-Sammlung und 20 Minuten
Schweigen mit Mittagessen – so lautet meine Bilanz nach einem offiziellen Besuch bei Ghana Goldfields Ltd, der Nummer zwei unter den
Bergbaukonzernen des Landes.
Im groben verteilt sich die Goldproduktion des Landes auf zwei große Firmen und Standorte. Die Nummer Eins, der ehemalige Staatsbetrieb
Ashanti Goldfields (AGC), betreibt Ghanas älteste Mine: ein UntertageBau in Obuasi. Goldfields Ghana Ltd, ist die Tochter eines Konzerns in
Südafrika und gilt als ernsthafter Herausforderer AGCs. Die Minen der
südafrikanischen Konzerntochter konzentrieren sich auf die Region um
die Bergarbeiterstadt Tarkwa. Anders als AGC baut Goldfields das Golderz
im Tagebau ab. Ein kleiner Konkurrent am gleichen Standort ist Ghana
Australian Goldfields.
Für beide Standorte habe ich einen Besuchstermin. So denke ich zumindest. Mein Türöffner ist eine Einladung durch John Brinpong, National
Chairman der Bergarbeiter Gewerkschaft. Möglich gemacht hatten das die
exzellenten Kontakte von Edward Briku Boadu, Programmkoordinator der
Friedrich-Ebert-Stiftung in Ghana.
Vielleicht ein ungewohnter Ansatz, sich einem Unternehmensmanagement
über die Gewerkschaft zu nähern. Doch im Vorfeld hatten sich Ghanas
Bergarbeiter aus einer Position der Stärke präsentiert. Als einziger Gewerkschaft gelang es den Bergarbeitern, Löhne und Gehälter inflationssicher
an den Dollarkurs zu koppeln. Ein Mindestlohn von 190 Dollar im Monat
macht den Beruf zur begehrten Tätigkeit. Ähnlich selbstbewusst wird mein
Eintreffen der Minenleitung mitgeteilt: „Herr Klebs bekundete sein Interesse
an der Goldindustrie Ghanas. Für einen Besuch wurde Ihre Firma ausgewählt“, steht in dem Schreiben.
Vor Ort sieht es ein wenig anders aus. „Ich bin hier nicht sonderlich beliebt“, gesteht mir Ralph Agbalenyo, Gewerkschaftsfunktionär von Tarkwa,
284
Ghana
Florian Klebs
der mich auf meinem Besuchstermin begleitet. Für sein Diplom von der
University of Cape Coast ist Agbalenyo der ketzerischen These nachgegangen, wie weit lokale Kleinbauern vom Goldreichtum ihres Bodens profitieren. Eine Studie, die allerdings auch Gewerkschaftskollegen dazu bringt,
ihn misstrauisch zu beäugen.
Tatsächlich ist es aber nur ein Satz, der meinen Rausschmiss aus dem
Gelände bedingt: Die Bemerkung, dass ich als Journalist arbeite. Er müsse erst den Human Resources Officer hinzuziehen, entschuldigt sich PRManager Stephen Yaw Yirenkyi. Der möchte gern den Standort-Manager
dabei haben. Doch der sei gerade in Urlaub gefahren. Nein, nächste Woche
sei er noch nicht zurück. Nein, auch in zwei Monaten könne es schwierig
werden. Und überhaupt: Aus Schweden sei schon einmal ein Journalist da
gewesen, mit dem sie nur schlechte Erfahrungen gemacht hätten. Eigentlich
wollen sie gar niemand auf dem Gelände haben.
Ich soll meine Fragen doch schriftlich einreichen. Am besten in der
Hauptstadt.
9.2 WACAM – Grasswurzeln des Widerstandes
Vielleicht war Yaw Yirenkyi auch mein Besuch in einem winzigen Büro
am Busbahnhof von Tarkwa zugetragen worden. Denn hier residiert die
Grasswurzelbewegung WACAM, die Wassa Association of Communities
Affected by Mining, wobei „Wassa“ die geographische Bezeichnung des
Districts ist.
Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, denn Nachrichten reisen schnell in dem
kleinen Bergbaustädtchen. Schon vor meiner Ankunft machten zwei deutsche Studenten von sich reden. Im Rahmen des ASA-Programms der deutschen Entwicklungsorganisation InWent interviewten Fabian Kutenkeuler
und Benedikta Rabins umgesiedelte Kleinbauern, um die sozioökonomischen Folgen des Goldbergbaus zu erforschen. Ich war kaum im Bahnhof
angekommen, da wurde den beiden Weißen meine Ankunft mitgeteilt: „Euer
Bruder ist da“, rief ein unbekannter Passant den Studierenden zu.
Die direkte Kommunikation von WACAM und Bergbaugesellschaft wird
– meist von letzteren – jedoch auf ein Minimum beschränkt. Dabei gäbe es
reichlich Gelegenheit. Jeden Sonntag nämlich. Dann singen Yaw Yirenkyi,
PR-Manager von Ghana Goldfields, und Daniel Owusu-Koranteng, geschäftsführender Direktor von WACAMs zusammen in der gleichen
Gemeinde. Die Orgel spielt Owusu-Korantengs Schwiegervater.
„Wenn wir gewusst hätten, was auf uns zu kommt, hätten wir es gar nicht
erst angefangen“, meint Owusu-Koranteng. Zusammen mit Landwirten
285
Florian Klebs
Ghana
und Dorfkönig hat der Gewerkschafter die Organisation 1998 gegründet.
Der Direktor arbeitet ehrenamtlich. Daneben besitzt WACAM drei feste Mitarbeiter und rund ein Dutzend Freiwilliger, die als Ansprechpartner
in den Dörfern fungieren. Als Lohn erhalten sie einen Jahreskalender. Ein
Statussymbol, ja. Aber nichts, was satt macht.
Dafür haben sie es weit gebracht: In Ghana ist WACAM ein Wort, das
Türen weit öffnet – oder fest verschließt. „Haben Sie irgendetwas mit
WACAM zu tun?“ ist meist die erste Gegenfrage von Minenbetreibern,
Regierungsvertretern und Behörden bei meinen Recherchen. Ghanas
Goldindustrie ist in der Defensive.
Wichtigstes Instrument der Aktivisten ist das Telefon im kleinen Büro
in Tarkwa. Mehrmals täglich erstatten die WACAM-Mitarbeiter ihrem geschäftsführenden Direktor Bericht: Gab es Übergriffe? Umweltskandale?
Landwirte, die bei Verhandlungen Hilfe brauchen?
„Statt Reichtum bringt Goldbergbau nur Verelendung“, ist OwusuKorantengs Fazit aus fünf Jahren Arbeit. Denn das Land, das dem Bergbau
zum Opfer fällt, ist meist von kleinen Bauern bewirtschaftet. „Diese
Menschen können meistens nicht lesen und schreiben. Sie leben von der
Hand in den Mund“, schildert Owusu-Koranteng. Wird ihr Land zerstört,
steht ihnen eine Entschädigung zu. „Doch dafür fehlt den Menschen die
Erfahrung. Wenn man ihnen ein paar 100.000 Cedis bietet, haben sie noch
nie in ihrem Leben so viel Geld gesehen und sagen sofort zu. Erst später
merken sie, dass sie kein Land mehr haben, um ihre Familie zu ernähren.
Sie merken, dass sie ihre Kakao-Plantage verloren haben, die 15 Jahre noch
Früchte getragen hätte. Selbst wenn sie wieder Land bekommen, merken
sie, dass jeder neue Setzling 15.000 Cedis kostet. Und dass sie fünf Jahre
warten müssen, bis ein Kakao-Baum wieder Früchte trägt.“
Von zwei Litern Kerosin bis ein paar 100.000 Cedis reichen die Summen,
mit denen Landwirte mir gegenüber ihre Kompensationszahlungen beziffern. Geldwechsler zahlen zu diesem Zeitpunkt 10.000 Cedis für einen
Euro.
Hinzu kommen Umweltprobleme: In Ghanas Bergbau wird Zyanidsäure
verwendet, um wertvolles Gold aus taubem Gestein auszulösen. Eine schnelle, billige Methode: längs mancher Straße hinter Stacheldraht sieht man die
haushohen Haufen aus Erz, darüber sprengen Düsen die Chemikalie, ähnlich wie ein Rasensprenger. Und eine schmutzige Methode: Zyanide sind
Salze der Blausäure. Goldproduzenten wie Tschechien, die Türkei und
Griechenland haben diese Form des Goldbergbaus deshalb verboten.
„Kisten, Fässer, Container – als ich beim Werkschutz der Mine angestellt
war, durften wir alle Verpackungen von Chemikalien oder Geräten verschenken. Die Arbeiter nutzten sie zum Möbelbauen, als Wassertonne oder ver286
Ghana
Florian Klebs
kauften sie als Altmetall. Nur die Zyanid-Container nicht. Mit Eisenstangen
haben wir sie zu Schrott gehauen, damit niemand in die Versuchung kommt,
sie mitzunehmen. Die Anweisung kam direkt vom Management – weil selbst
die leeren Fässer zu giftig waren“, berichtet Joseph Nartey, ein ehemaliger
Minenarbeiter.
Den wissenschaftlichen Hintergrund liefert Dr. Thomas Akabzaa,
Geologe an der Legon University in Accra. „Boom and Dislocation“ heisst
eine Studie, mit der sich Akabzaa im Auftrag des Third World Network
Ghana zwischen die Stühle setzte. Seither kritisiert er die Auflagen für die
Industrie als zu lax, die Sicherheitsvorkehrungen der Minenbetreiber als unzureichend und die Zahl der Umweltskandale als zu hoch. Als Dozent erhält
er mit Seminaren trotzdem Zugang zu den Abbaugeländen und vermittelt
seinen Studenten auch Aufträge.
„Zyanid wird verharmlost, weil es sich im Sonnenlicht zersetzt“, zitiert
Akabzaa aus seinem Werk. Allerdings dauere die Zersetzung ein bis zwei
Tage und auch die Abbauprodukte seien giftig. Hinzu käme die Belastung
anderer Giftstoffe, die mit dem Erz gefördert würden: Arsen, Chrom oder
Schwefel, der an der Luft zu Schwefelsäure oxidiert. Staub auf den Feldern
lasse die Ernten schrumpfen, durch Sprengungen stürzten die Hütten ein.
Außerdem steige die Krankheitsrate, vor allem Malaria, da der Bergbau
Gewässer aufstaue, in denen Moskitos brüten. Gleichzeitig schwinde die
Kaufkraft und damit das Geld für Arzneien: durch den Landverlust seien viele Menschen arbeitslos. „Auch ökonomisch ist sehr fraglich, ob der
Goldbergbau der Volkswirtschaft überhaupt Gewinn bringt“, schließt der
Geologe.
9.3 Gold – was nutzt es den Menschen?
Die Frage, ob Ghanas Bevölkerung vom Bergbau profitiert, kann WACAMGeschäftsführer nur dank seiner persönlichen Einschätzung verneinen.
Gerade drei Prozent der Einnahmen aus dem Goldbergbau fließen als Pacht
an den Staat zurück. Hinzu kommen Körperschaftssteuer, Einkommenssteuer
von 14.000 Arbeitern und Dividenden, denn immer noch hält Ghana einige
Aktien an der ehemals staatseigenen Ashanti Goldfields.
In Tarkwa kommen noch zehn Prozent der Pachtgebühren an. Rund die
Hälfte verwaltet die District Assembly. Der Rest geht an den District König
und das Traditional Council zur beliebigen Verwendung. Ein Verteilungsschlüssel, der auch von den Minengesellschaften kritisiert wird. „Es wäre
uns lieber, wenn ein größerer Teil der Abgaben vor Ort investiert würde“,
sind sich alle Interviewpartner aus der Goldindustrie einig.
287
Florian Klebs
Ghana
Die meisten Firmen unterhalten deshalb zusätzliche Stiftungen. Einen
Dollar pro Unze zahlt Goldfields in einen Trust für Projekte zugunsten der
Lokalbevölkerung. Zur Zeit meines Aufenthaltes entspricht die Summe 0,3
Prozent des Verkaufswertes, rund 0,7 Prozent des Gewinns. Die Verwendung
des Geldes bleibt im Ermessen der Firma.
„Mit dem Geld wird Politik gemacht“, urteilt Owusu-Koranteng. In wohlwollenden Dörfern würden Straßen und Schulen gebaut. Kommunen, die
hart verhandeln oder prozessierten, gingen leer aus. Auch das „alternativ
livelihood-programm“, in dem landlose Bauern Speiseschnecken züchten
oder Stoffe batiken, sei Image-Kosmetik. Zu wenige würden umgeschult, zu
unausgereift sei die Ausbildung, nach der die meisten Existenzgründungen
binnen kurzem wieder eingingen.
Mit Hilfe der deutschen Entwicklungsorganisation InWent versucht
Owusu-Koranteng, seine Einschätzung zu untermauern. Grundlage sollen
Interviews mit Betroffenen sein. Durchgeführt werden sie durch die deutschen Studenten Benedikta Rabins und Fabian Kutenkeuler. Beide sind
Teilnehmer des ASA-Programms von InWent. Das Kürzel steht für Arbeitsund Studienaufenthalt, ein Programm, das jährlich rund 200 Studierende
in lokale Projekte in Entwicklungsländer vermittelt. Ihr Studiengebiet, die
Siedlung von New Atuabo, ist Vorzeigeobjekt von Goldfields und WACAM
gleichermaßen.
Gut sehen die gelben Häuschen aus. Statt Bananenblätter und Lehm
gibt Beton den Wänden halt, das Zentrum bildet eine große Markthalle,
zur Infrastruktur gehören Brunnen und Latrinen. Erst auf den zweiten
Blick fällt auf, dass manche Häuser Anbauten aus Lehm haben. Denn bei
der Umsiedelung hat das Bergbauunternehmen die Zahl der Zimmer reduziert. Familien wurden zerrissen, es ist kein Land verfügbar und mit der
Arbeitslosigkeit kam auch der Handel zum erliegen, mit dem vor allem
Frauen ein Zusatzeinkommen erwirtschafteten. Die Lebenshaltungskosten
haben sich verdoppelt, errechnet Wirtschaftsstudent Kutenkeuler, denn
selbst die schmucken Latrinen sind kostenpflichtig. Statt auf die Schule
zu gehen, verdingt sich manche Bauerntochter als Prostituierte, behauptet
Owusu-Koranteng.
Für WACAM ist New Atuabo dennoch ein Teilerfolg. Vorbei die Zeiten, als
Besitzer einer Kakao-Plantage mit zwei Litern Kerosin entschädigt wurden.
In zähen Verhandlungen trotzte die Organisation der Bergbaugesellschaft
höhere Kompensationen ab. Auch das kleine Krankenhaus der Siedlung war
vor den Verhandlungen mit WACAM nicht vorgesehen.
Wo immer nun eine Ausweitung der Minen bevorsteht, ist WACAM
vor Ort, schult Landwirte in ihren Rechten, drängt darauf, Vereinbarungen
288
Ghana
Florian Klebs
schriftlich zu fixieren, erläutert und übernimmt auf Wunsch auch die Verhandlungen. Ein fairer Interessensausgleich?
Erst eine Tour durch die umliegenden Dörfer erlaubt mir einen Blick hinter die rechtsstaatliche Fassade.
9.4 Umweltskandale und Übergriffe – Besuch in den Dörfern um Tarkwa
Wenn die Geister über sie kommen, spricht Fetisch-Priesterin Augustina
Antwi in fremden Dialekten. Mal rauchen die Lippen Kette, mal gießen
die Finger ständig Schnaps in den Hals – denn so bewirtet sich ein Gott,
wenn er den Körper der Heilerin ergriffen hat. In diesem Zustand erkennt
Antwi die Leiden der Menschen. Rund um die Hütte des Schreins hat sie
ein kleines Krankenhaus gebaut. Hier heilt die Priesterin Verletzungen und
Durchfall, Epilepsie und Depression und hilft den Opfern des Juju, der bösen Hexerei.
An jenem Morgen winden sich gleich zwei Schwangere in den Wehen.
Antwi zerreibt ein paar Blätter, vermischt sie mit Salz und einem Eigelb
und formt Abrofo Nketse: Das Zäpfchen bewirkt, das jedes Baby glatt aus
der Mutter gleitet. Danach kocht die Priesterin Okumekra und Ofram: getrocknete Baumrinde und – spitzen, zusammen mit Ingwer und Pfeffer. Ein
Trank, der nach der Geburt Blutungen stillt und die Bauchwunde schließt.
Am Nachmittag weiß Antwi, dass sie ihre Frauen vergiftet hat.
Am Vorabend hatte es auf dem Gelände der Bergbaufirma Goldfields
Ghana einen Chemieunfall gegeben. Mehrere 10.000 Kubikmeter giftige Zyanidlösung verseuchten den Fluss, der die Dörfer mit Fischen und
Trinkwasser versorgt. Erst 20 Stunden später warnt die Minenleitung die
Bevölkerung, weder Wasser zu trinken, noch Fische zu essen.
Zu diesem Zeitpunkt befindet sich das Dorf Abekoase im Ausnahmezustand. Noch am Morgen hatten die Fischer den vermeintlich glücklichsten
Fang ihres Lebens aus den Netzen gezogen und verkauft. Ölbauern hatten
Palmfrüchte mit Flusswasser zu Palmöl verkocht. Nun leiden die Menschen
an Bauchschmerzen, Durchfall und Kopfschmerzen. Die Körper frieren, die
Haut der Fischer juckt, der ganze Körper schmerzt.
Nach zwei Wochen werden die Fischer zur Untersuchung ins Krankenhaus
gekarrt. Nach sechs Monaten wird das ganze Dorf gecheckt: Fieber,
Blutdruck und Proben von Blut und Urin. Ergebnisse der Untersuchung
werden nie bekannt gegeben. Zu diesem Zeitpunkt ist eines der Kinder, das
Kräuterheilerin Antwi entbunden hat, schon tot.
289
Florian Klebs
Ghana
Abekoase, das Dorf der Fetischpriesterin, ist wahrscheinlich der einzige Fall,
der international bekannt wurde. Seit dem Chemieunfall vom 16. Oktober
2001 kämpft das Dorf um Entschädigung.
Seit sieben Jahren versuchen die Einwohner von Nkwantakrom, sich Recht
zu erstreiten. Noch in den 80er Jahren will Dorfkönig Nana Kofi Karikari
dem Werksgeologen geholfen haben, die Goldvorkommen der Gegend zu
kartieren. 1996 habe ein Rollkommando unter Aufsicht von Polizei und
Werksschutz das Dorf zerstört, um die Mine auszuweiten. Der Vorwurf: Das
Dorf sei erst später gebaut worden, um Entschädigung für eine Umsiedelung
zu kassieren.
Zerstört wurden auch die Meiler der Köhler, eine Haupteinnahmequelle
des Dorfes. „Seither arbeite ich als Holzfällerin. Um unsere Schulden abzuzahlen. Mein Mann ist untergetaucht“, berichtet zum Beispiel Olivia Mbir.
Denn für ihre Arbeit habe er einen Vorschuss von den Händlern bekommen.
„Nachdem der Werkschutz unsere Kohle verbrannte, wollten die Händler
ihre Kohle – oder den Vorschuss zurück. Fast alle Männer sind inzwischen
geflohen.“ Den Prozess hätten die Richter über Jahre verschleppt, erklärt
Kofi Karikari. Wie das aussieht, kann ich selbst an einem Verhandlungstag
erleben.
Für ein Dorf wie Nkwantakrom bedeutet ein Tag vor Gericht zwei Tage
Arbeitsausfall: Die Buschkleider verschwinden im Schrank, die guten
Kleider werden hervorgesucht, die gusseisernen Bügeleisen mit Holzkohle
gefüllt, ein ganzes Dorf putzt sich selbst und reist zwei Stunden bis nach
Tarkwa, wo das Gerichtsgebäude steht. 300 Kilometer legt Anwalt August
Niber für die Anreise aus Accra zurück. Für Nkwantakrom ist Niber ein seltener Glücksfall: Als Vertreter einer Menschenrechtsorganisation vertritt er
die Dorfbewohner kostenlos.
Wer fehlt, sind die Vertreter der Bergbaugesellschaft und der Richter. Die
Sitzung sei verschoben worden, erfahren die Dorfbewohner im Gerichtsgebäude. Der Richter nehme an einer Fortbildung teil.
Auch Koduakrom, ein Dorf aus der gleichen Region, befindet sich seit
Jahren im Rechtsstreit. Einer, der nicht mehr vor Gericht aussagt, ist allerdings Simon Mawuko. Seit vier Jahren starrt der Landwirt Löcher in den
gestampften Lehm seines Hüttenbodens. Vor vier Jahren hatte Mawuko um
Entschädigung demonstriert: Arbeiter der Firma Ghana Goldfields hatten
einen Fluss umgeleitet, um ihr Minengebiet auszuweiten. Die Kleinbauern,
durch deren Felder der Kanal führt, wurden entschädigt. Doch am Ende
des Kanals habe der Fluss ihre Felder geflutet, erklären die Dorfbewohner.
17 Personen waren betroffen, sie ließen ihr Land schätzen, signierten unbekannte Dokumente mit dem Daumenabdruck und warteten auf ihr Geld
– nur leider vergeblich.
290
Ghana
Florian Klebs
Ein Minenarbeiter habe ihnen geraten, ihr Geld mit einer kleinen
Demonstration einzufordern. Doch „als wir am Werkstor standen, umzingelten uns 108 Wachleute von Ghana Goldfields“, berichtet Fatima Abukari,
die Sprecherin der Bauern. „Wir waren 35. Sie griffen uns einzeln heraus
und schlugen uns nieder. Die Fliehenden verfolgten sie im Auto. Zehn wurden verhaftet. Einen, der zusammenbrach, ließen sie liegen. Neun von uns
transportierten sie ab zur Polizeistation von Tarkwa. Dort waren wir eine
Woche in einer Zelle. Später zeigte uns Ghana Goldfields an: Wir hätten
Autos zerstört und das Minengelände angegriffen. Nach eineinhalb Jahren
wurden wir freigesprochen.“
„Wir waren neun Menschen in einer Zelle, sechs Männer und drei Frauen.
Die Älteste von uns war 68. Wir haben geweint und geschrieen. Wir waren
in Panik“, erinnert sich Landwirt Yaw Frimpong. Rund drei mal zwei Meter
sei die Zelle groß gewesen. „Als Toilette bekamen wir eine Gummischüssel,
unsere Sandalen haben sie weggenommen und fortgeworfen, wir mussten
im Urin stehen.“
Nach wenigen Stunden sei Frimpong das Auge zugeschwollen. „Die
Wachleute hatten mir mit Schlagstöcken ins Gesicht geschlagen, als ich am
Boden lag. Wir flehten die Polizisten an, dass unsere Verwandten Medizin
bringen dürfen. Aber sie sammelten die Medikamente ein und warfen sie
fort. Nach sechs Tagen wurden wir freigelassen und durften zum Arzt gehen. Der Arzt sagte, meine Wunde sei zu alt, um das Auge zu retten. Er
konnte mir nur etwas gegen die Schmerzen geben.“
Mawuko, der Mann auf dem Hüttenboden, schaut in die Luft statt seine
Geschichte zu erzählen. „Lass mich für ihn reden.“ – „Er wird dir nicht antworten.“ – „Er sitzt den ganzen Tag so da.“ – „Wenn er einen Minenarbeiter
sieht, zittert er am ganzen Leib.“ – „Vor Gericht kann er nicht aussagen.“ – „Er
ist kein Mensch mehr.“ – (...) – so drängen sich die anderen Dorfbewohner.
„Simon hat auch um Entschädigung demonstriert, weil Ghana Goldfields
das Land seiner Frau flutete und die Ernte zerstörte.“ – „Sie schlugen ihm
auf den Kopf. Ich sah, wie jemand in seine Geschlechtsorgane griff und sie
nach hinten riss.“ – „Ich sah, wie sie ihn brannten. Vier schlugen auf ihn ein.
Ein fünfter kam mit einer glühenden Eisenstange, etwa ein Meter lang, mit
Holzgriff. Sie stießen sie ihm zwischen die Schenkel.“
„Im Gefängnis schwoll ihm der Hoden an.“ – „Er konnte nicht mal sitzen.“
„Morgens steht er auf und läuft zwei bis drei Meter. Danach hat er
Herzschmerzen.“ – „Er fühlt sich schwach, hat Schmerzen im ganzen
Körper.“ – „Sein Penis funktioniert nicht mehr. Er kann keinen Sex haben.“
291
Florian Klebs
Ghana
„Er kann nicht arbeiten, kann seine Kinder nicht ernähren.“ – „Manchmal
geben ihm Leute Essen ab“ - „Seine Eltern haben ihn jetzt zum Schrein des
Fetisch-Priesters gebracht. Der Kräuterheiler gibt ihm Medizin zum Trinken
und zum Baden.“ – „Davor hat er vier Jahre lang gar keine Behandlung gehabt. Er ist nur so da gesessen.“
So schildern es die Dorfbewohner.
Zwei Monate später erhalte ich doch noch Gelegenheit zu einem
Gespräch mit Ghana Goldfields. Im Hauptsitz der Firma in Accra bitte ich
das Management um seine Sicht der Vorwürfe zu schildern. Nachdem ich
meinen Rauswurf vom Minengelände schildere, bemüht sich PR-Chef Toni
Amhym um Schadensbegrenzung. Zu dem Vorwurf, Demonstranten niedergeknüppelt und mit glühenden Eisen gebrannt zu haben, kann Amhym allerdings wenig sagen. Schließlich sei das Verfahren noch in der Schwebe.
9.5 In den Gruben der Galamsey
Ein Anblick, wie aus der Jeanswerbung: Nur Hose und leuchtend gelber
Schlamm zieren die athletischen Körper. Die Szene spielt sich mitten in vier
Meter tiefen Gruben ab. Darin plantschen fünf junge Männer, schachten
Schlamm aus dem Boden und kippen eimerweise Wasser über eine Rutsche.
„Ein weißer Mann“ – „Ein weißer Mann mit einer Kamera“ – „Hey, weißer
Mann, komm vorbei“, ruft es aus schlammiger Tiefe. Vier Meter unter der
Geländeoberkante herrscht gute Laune.
Im Busch zwischen Tagebau und Transportstraße haben Mike, Antwi,
Imanuel, William und Charles ihre eigene kleine Mine aufgemacht. Eigentlich illegal, denn die Grube dürfte im Konzessionsgebiet der Ghana
Australian Goldfields liegen. Doch die scheinen das oberflächliche Goldgekratze der Fünferbande zu tolerieren. Auch die fünf Freunde haben kein
Unrechtsbewusstsein: „Das ist ein freies Land. Wer will mir Goldschürfen
verwehren?“
Der Kleinbergbau in Ghana hat eine über tausendjährige Tradition.
Tatsächlich beschäftigt der Kleinbergbau mehr als fünfmal so viele Menschen, wie die industrielle Goldproduktion: 80.000 Menschen leben nach
vorsichtiger Schätzung des Bergbauministeriums vom Gold- und
Diamantenschürfen. Die Minen beschäftigen nur 14.000 Arbeiter.
„Galamseys“ nennen sich die meisten selbst, eine Wortschöpfung aus
„gather“ und „sell“. Ministerium und Bergbaukonzerne unterscheiden
die legalen „smal-scale miners“ und die illegalen „galamseys“, die in
Konzes-sionsgebieten wildern. Davon unbesehen kaufen staatliche Agenten
292
Ghana
Florian Klebs
die Ausbeute beider Gruppen gleichermaßen auf. Als Maßeinheit beim
Goldaufwiegen verwenden sie Rasierklingen.
„Goldschürfen ist typische Gelegenheitsarbeit für junge Männer“, erklärt
Kwesi Aduakwah. Aduakwah ist Mitarbeiter bei WACAM, ein Ex-Galamsey
und ein kleines Kraftpaket von annähernd quadratischem Körperbau. Die
Kräfte brauche man: „Es ist harte Plackerei, den ganzen Tag in der Sonne.
Der Galamsey will schnelles Geld, er isst aus schmutzigem Geschirr, er verschmutzt das Wasser, in dem er arbeitet – länger als ein paar Jahre hält man
das nicht durch.“
Auch Mike & Co. haben athletische Modellmaße. In den vergangenen
Wochen haben sie vier Gruben von jeweils fünf mal fünf Metern ausgeschachtet und den Schlamm portionsweise über die Rutsche mit Sackleinen
gewaschen. Das schwere Gold sinkt in die Fasern ab. Alle paar Stunden
wird der Stoff in einem Eimer ausgewaschen. Ende der Woche werden sie
das Konzentrat noch einmal waschen, mit Quecksilber verschütteln und den
Bodensatz aus Gold und Quecksilber über dem Feuer rösten. So lange, bis
das Schwermetall verdampft und das reine Gold zurückbleibt.
Falls ihnen das Warten dabei nicht zu lang wird. Denn Freitag wartet der
Goldagent und die leeren Taschen juckt es nach den Cedis. Schließlich wird
Mike oder Antwi, Imanuel, William oder Charles das Verfahren abkürzen,
wird Schwermetall-Gold-Gemisch in ein Schnupftuch binden, den Beutel in
den Mund stecken und saugen, bis das Quecksilber ausgelutscht ist.
Zwei Studien der UN Industrial Development Organization belegen das
Gesundheitsrisiko: Nicht nur Galamseys, auch Anwohner haben erhöhte
Quecksilberwerte im Blut. Um den Wildwuchs der Goldwäscher zu organisieren, fordert Ghanas Regierung die Kleinbergbauern auf, sich lizenzieren zu lassen. Bestandteil ist auch ein Schnellkurs im Umgang mit giftigen
Chemikalien. Außerdem subventioniert der Staat eine Apparatur, mit der
Galamseys das giftige Quecksilber rückgewinnen, statt abzulutschen oder
zu verdampfen.
Eine gute Idee. Warum es doch nicht funktioniert, erklärt Ex-Galamsey
Aduakwah: „Goldschürfen ist Gelegenheitsarbeit. Du hast ein Feld und
brauchst schnell etwas Geld für Setzlinge, für eine Machete, für Dünger...
Dann steigst du mit ein paar Freunden in die Galamsey-Grube.“ So schnell,
wie sich die Gruppen bilden, zerfallen sie wieder – wer wolle da die
Investition für etwas Überflüssiges wie eine Anlage tätigen, die angeblich
die Gesundheit schützt.
Die Statistik scheint ihm Recht zu geben. Wie viele Lizenzen sie denn
vergeben hätten, frage ich Wochen später in der Minerals in Accra. „254 für
jeweils bis zu zehn Personen“, gesteht Mitarbeiter Amponsah Tawiah. Bei
80.000 Galamsey macht das bestenfalls 0,2 Prozent.
293
Florian Klebs
Ghana
10. Ashanti Goldfields – Ghanas ältester Vorzeigebetrieb
10.1 Obuasi, das Pulverfass
Im Bergbaustädtchen Obuasi ist die Nachbarschaft von Minengesellschaft
und Galamsey eskaliert. Es herrscht Bürgerkrieg zwischen Wachschutz und
Goldsuchern, der Opfer auf beiden Seiten fordert. Nach einer factfinding
Mission hatte WACAM zu einer Pressekonferenz in Accra geladen, auf der
Dorfbewohner über Folter und Mord bei Verhaftungen sprachen. Ashanti
Goldfields konterte mit einer eigenen Pressekonferenz und schilderte Fälle
von Wachleuten, die während des Dienstes von marodierenden GalamseyBanden verletzt wurden.
Schon der erste Blick auf die Stadt verdeutlicht einen Teil des Problems:
In 100 Jahren Bergbautätigkeit haben sich Stadt und Goldmine wie zwei
Wurzelgeflechte durchdrungen. Im Vergleich dazu ist Tarkwa ein idyllisches
Städtchen, wo Tagebaue, Dörfer und Kommunen nebeneinander liegen. In
Obuasi wächst der Förderturm fast aus der Verkehrsinsel, die Straße taucht
unter Förderbändern durch, die ausgeräumten Felswände der Tagebaue bilden hier den Horizont.
480 Quadratkilometer umfasst das Konzessionsgebiet. Mehr als zwei
Fünftel davon sind aktives Abbaugebiet. Dazwischen gibt es über 200
Dörfer.
10.2 Flüssiges Gold – vom Stollen in die Goldschmelze
Im ersten Anlauf präsentiert sich Ashanti Goldfields in Obuasi wesentlich
offener als die Konkurrenz von Ghana Goldfields in Tarkwa. Im Gästehaus
ist ein Zimmer für mich reserviert, zwei Tage umfasst das Besuchsprogramm,
das PR-Mitarbeiter Sarpong für mich zusammengestellt hat.
Obuasi ist Ghanas älteste Mine. Vor 1987 trieben britische Geschäftsleute
den ersten Schacht in die Tiefe. Seither gab der goldene Boden 29 Millionen
Unzen preis – mehr als 8.000 Kilo Gold.
Nach der Unabhängigkeit wurde die Mine verstaatlicht. Heute ist Ashanti
Goldfields eine internationale Aktiengesellschaft. Seit zehn Jahren wird
Gold auch im Tagebau gewonnen. Den größten Teil fördert Ashanti jedoch
unter Tage. Bis 1.500 Meter unter die Erde reichen die Schächte. Um das
Gold vom Erz abzutrennen, baute Ashanti die größte Aufbereitungsanlage
der Welt, bei der ein Teil der chemischen Prozesse von Bakterien übernommen wird.
294
Ghana
Florian Klebs
Auf dem Firmengelände präsentiert sich die Firmenphilosophie als vorbildlich. Schilder fordern die Arbeiter auf, die Sicherheitsvorkehrungen ernst
zu nehmen, rechtzeitig Pause zu machen und die Volkskrankheit Aids zu
vermeiden. Andere notieren die aktuellen Produktionskosten von 190 USDollar pro Unze und den Wahlspruch „150 sind unser Ziel“.
„Jede Unze zählt“ ist ein anderer Slogan, den jeder Arbeitsoverall auf dem
Rücken trägt. Darüber prangt das Firmenlogo: zwei Krokodile über Kreuz,
deren Torso miteinander verwachsen ist. Es ist ein „Adinkra“, ein Zeichen
aus dem traditionellen Symbol-Schatz der Ashanti, der im Gebrauchsdesign
häufig verwendet wird. „Funtunfunefu-Denkyemfunefu“ heißt dieses
Doppel-Krokodil, bei dem zwei Mäuler im Wettstreit schlingen, obwohl jeder Bissen im Gemeinschaftsmagen landet und beiden zu gute kommt. „In
der Familie soll man nicht streiten, denn wenn einer profitiert, profitieren
alle“, ist eine Auslegung des Symbols. „Wenn jeder nur nach Kräften rafft,
wird es allen gut gehen“, wäre die weniger schmeichelhafte Deutung.
Derweil sorgt der Werkschutz dafür, dass die Arbeiter das Krokodilssymbol
nicht als Aufforderung zur Selbstbereicherung interpretieren. An jedem
Schachtausgang stehen Männer mit Detektoren, die jeden Passanten auf
Schmuggelgold untersuchen.
Die Kontrollen steigern sich bei der Aufbereitungsanlage und sind am
höchsten im „Goldhaus“. Täglich wird hier die Goldausbeute in ein bis zwei
Barren gegossen. Ein alchemistisches Spektakel mit Männern in silbernem
Hitzeschutz und flammenumtosten Schmelztiegeln, die einen Glutstrom aus
Schlacke und Gold in eine Kaskade aus Kastenformen speisen. Einmal die
Woche fliegt ein Helikopter die Goldkisten aus. Die Flugzeiten sind geheim.
Zur Zeit meines Aufenthaltes ist Ashanti Goldfields täglich in den Medien.
In London erhält Samuel Jonah, Ashanti Goldfields‘ Chief Executive, durch
Königin Elizabeth den Ritterschlag. Gleichzeitig feilt Jonah an einer internationalen Fusion. Denn in 1.500 Meter Tiefe stoßen Ghanas Ingenieure
an die Grenze ihres Knowhows: Die hohen Temperaturen in größerer Tiefe
verlangen, dass die Stollen – wie in Südafrikas Tiefenbergwerk - gekühlt
werden. Außerdem braucht Ashanti Kapital: Die aufwändige Technik könnte die Produktionskosten auf 40 US-Dollar pro Tonne verdoppeln.
Die Investition könnte sich trotzdem lohnen. Probebohrungen zeigen
Goldgehalte von 18, 40 und sogar 60 Gramm pro Tonne. Bei der jetzigen
Fördertiefe liegt der Gehalt bei zehn Gramm pro Tonne. Zwei Firmen, Rangold
und Anglogold, preisen sich täglich mit ganzseitigen Zeitungsanzeigen als
ideale Fusionspartner an. Schließlich erhält Anglogold den Zuschlag.
295
Florian Klebs
Ghana
10.3 Harte und weiche Hunde
Beim Mittagessen in der Werkskantine kommen wir das erste Mal auf die
Galamsey zu sprechen. „Wir haben die Konzession – wenn jemand denkt,
er könne hier schürfen, verletzt er unsere Rechte. Deshalb haben wir den
Werkschutz und die Polizei, um uns zu schützen“, erklärt Yiadom Bakye
Amponsah, Administration Manager von Ashanti. Die Leichenfunde auf
dem Minengelände? „Galamsey, die in die Löcher fallen oder so gewagte
Löcher graben, dass sie selbst darin ersticken.“ Die Vorwürfe, Verhaftete
würden wilden Hunden vorgeworfen? „Die Hunde werden nur von der Leine
gelassen, wenn ein Hundeführer sein Leben bedroht sieht.“ Und warum suchen Verbrecher, die illegal Gold schürfen, mit einer Pressekonferenz die
Öffentlichkeit? „Das liegt an den Eigeninteressen von NGOs wie WACAM.
Die machen Lärm, damit sie Spenden aus dem Ausland bekommen.“
Tatsächlich bekomme ich einiges an Verwüstung zu sehen, die den
Galamsey zugeschrieben wird. Unter einer Straße bohrt sich ein Tunnel in
Richtung einer eingezäunten Werkstatt. Eine Pipeline mit Brauchwasser, die
durchgeschnitten und umgeleitet sei, um Gold zu waschen. Zwei Säcke mit
Erde, weggekratzt unter den Transportbändern, die Galamsey auf der Flucht
zurückgelassen hätten.
Die meisten seien Profis, meint Manager Amponsah. Entlassene Arbeiter, die wegen Diebstahl oder Schmuggel hinausgeworfen wurden,
Hochkriminelle, die sich in Banden zusammenschließen und mit Macheten
und selbstgebauten Pistolen im Konzessionsgebiet einfallen. Auch unter den
Galamsey herrschten Rivalität und Bandenkriege, die Todesopfer kosten.
„Die Kleinbauern suchen höchstens nach Altmetall. Aber einen Tunnel graben und abstützen – so etwas kann ein Dorfbauer nicht“, sagt Amponsah.
Vom Rand eines Tagebaus sehen wir eine Gruppe, die Steine am Fuß der
Felswände aufschlägt. Einige der Gestalten sind in den Hängen platziert.
„Späher“, so meine Begleiter, die die Illegalen vor dem Werkschutz warnen. Warum die Gruppe dann nicht die Flucht ergreift? „Weil sie dich als
Besucher erkennen und sehen, dass wir keinen Einsatz fahren.“
Sergeant Samuel Gyasi Koomson ist einer der Hundeführer, der bei einem
Einsatz verletzt worden sein will. Ein schüchterner Mann in Uniform, sein
Tun und Handeln bestimmt von Vorschriften, die er nicht in Frage stellt.
Ein Mensch ganz unten in der Werkschutz-Hierarchie, die ein ausgedienter Colonel leitet. Wenn er Galamsey sehe, rufe er sie an, sofort zu verschwinden. Andernfalls würde er den Hund loslassen. Sollte der Hund einen
Galamsey stellen, rufe Koomson das Büro an, das einen Wagen schickt, ein
Protokoll aufnimmt und den Verdächtigen ins Gefängnis bringt. Meistens
sei er aber Opfer eines Gegenangriffs.
296
Ghana
Florian Klebs
An jenem Tag hatte Koomson Pech. Sein Vorgesetzter teilte ihm „einen
weichen Hund“ zu: ein liebes Schäferhund-Wauwauchen, das weder kratzt
noch beißt und höchstens abschreckende Wirkung habe. „Welchen Hund wir
mitnehmen, können wir Hundeführer nicht aussuchen“, resigniert Koomson
im Interview. Mit acht Mann und zwei Hunden hätten sie die Galamsey
umzingelt: 30 Banditen, die prompt die Felswände erklommen und Felsen
runterrollten. Einer davon habe den kleinen Dienstmann erwischt. Von der
sechsten bis zur elften Rippe seien die Knochen im Brustkorb zersplittert.
„Danach wollte ich kündigen“, beichtet der Sergeant im Einzelgespräch.
„Aber ich habe keine Alternative. Täglich habe ich Schmerzen und nicht
mal Geld für die Verletzung im Dienst bekommen.“
Es ist der dritte Tag meines Aufenthaltes bei Ashanti, an dem ich den
Besuchsplan über den Haufen werfe und um die Interviews mit den im
Dienst verletzten Männern vom Werkschutz bitte. Neben Koomson werden mir zwei weitere Opfer von Galamsey-Opfern vorgeführt: Chief Inspector Bayabu raubte das Geschoss einer Zwille die Sehkraft des rechten
Auges. Security Officer Bismarck Asare Addo zerschmetterte ein Stein
den Unterschenkel. „Als ich im Krankenhaus lag, kamen zwei Männer mit
dem Attentäter und zwangen ihn, mich um Vergebung zu bitten“, berichtet
Addo. Es seien Mitglieder einer rivalisierenden Gang gewesen, die Addos
Angreifer mit einem Hinterhalt gestellt hätten. Indem sie den Schuldigen
auslieferten, wollten sie verhindern, dass der Werkschutz großflächige
Strafaktionen einleitete.
Im Lauf des Gespräches bricht jedes Eis mit den Interviewten. Bereitwillig
stürzen sie sich in Uniform, um sich an ihren Unfallorten fotografieren zu
lassen. Dabei erlebe ich vor allem, wie Officer Addo sich verwandelt: Vom
leisen Angestellten in Zivil vor dem Colonel zum herrischen Befehlsgeber
vor den Untergebenen.
Auch Koomson ist nicht zufrieden, bis er mir einen der scharfen Hunde
vorführt. Ich bitte um einen weichen Hund für ein Foto. Danach besteht
er auf einem scharfen Hund: zähnefletschend springt mir das Tier in die
Kamera.
Die Werkschutzleute sind glücklich. Es ist das erste Mal, dass ein
Journalist mit ihnen spricht. Baba Ibrahim, Praktikant der PR-Abteilung,
verfasst einen Artikel über meinen Besuch für die Werkszeitung. Das Fazit
der Wachmänner: Sie brauchen endlich scharfe Waffen, um sich gegen die
Banditen zur Wehr zu setzen.
Bei jedem Gespräch betone ich, dass ich auch mit verletzten Galamsey
sprechen werde. Ob es nicht doch möglich sei, dass es in dieser aufgeheizten
Atmosphäre auch mal zu Übergriffen käme? Und sei es nur aus Nervenanspannung oder falsch verstandenem Korpsgeist, nachdem Kollegen im
297
Florian Klebs
Ghana
Dienst verletzt wurden? „Nein“, wird die Frage zurückgewiesen: Von Seiten
der Wachleute, des Managements und der PR-Abteilung.
Die Stimmung wird wesentlich frostiger sein, wenn wir das gleiche Thema
vier Wochen später noch einmal diskutieren. Nachdem ich in den Dörfern
gewesen war.
10.4 Die Verzweifelten von Sansu
Den Eindruck einer Räuberhöhle macht das kleine Dörfchen Sansu nicht
gerade. Und doch gibt es kaum einen unter den jungen Männern hier, der sich
nicht ein- oder zweimal die Woche heimlich und illegal ins Minengelände
schleicht.
Das Dorf wirkt eingezwängt zwischen Straßen und Halden der Minen.
Die Hälfte der Hütten zeigen Risse, die die Bewohner auf Sprengungen zurückführen. 50 Häuser seien eingestürzt. Auch die Pflanzen auf den Feldern
am Haldenfuß wirken kümmerlich: Bei jedem Regen schwemmt das Wasser
feinen Schlamm aus dem Gesteinsschutt zwischen die Pflanzen. Die Ernte
sei um ein Drittel geschrumpft.
„Wir wissen, dass Goldsuchen illegal ist. Aber wir stehen mit dem Rücken
zur Wand“, sagt Ben Annan, Assemblyman des Dorfes. Noch vor wenigen Jahren gab es manche Nacht, in der Ben Taschenlampe, Hammer und
Machete einsteckte, um auf das Minengelände zu schleichen. „Erst haben
sie uns die Felder genommen – jetzt jagen uns die Männer vom Werkschutz.
Ich war Zeuge, wie sie einen von uns ermordet haben.“
Dabei sei die Gemeinde einst reich gewesen, berichtet Charles Awuah,
81 Jahre alt und einer der ältesten des Dorfes. „Noch in den 80er Jahren
glitzerte das Gold nach jedem starken Regen zwischen den Kiesbänken des
Flusses. Früher einmal waren wir reich. Wir hatten alle unsere Felder und
am Flussufer wuschen die jungen Männer den Sand nach Gold.“ Sein Vater
habe sich 1930 einen Ford leisten können. „Damals gab es in ganz Obuasi
nur zwei Automobile. Das eine gehörte einem Weißen. Das andere war das
von meinem Vater“, erinnert sich Awuah.
So lange Ashanti Goldfields nur den Untergrund ausbeutete, sei das
Goldschürfen am Flussufer geduldet worden. Die Übergriffe hätten erst mit
Beginn des Tagebaus ab 1987 begonnen. „weil dort die Bagger die Erde aufreißen. Fast alle in unserem Dorf sind nun illegale Goldschürfer. Wir haben
200 arbeitslose Jugendliche hier. Manche hat der Werkschutz von Ashanti
Goldfields erwischt und zu Tode geprügelt. Jetzt haben sie scharfe Hunde,
die sie auf ihre Gefangenen hetzen.“
298
Ghana
Florian Klebs
Kofi Sarpong ist einer der Illegalen, die vom Goldsuchen nie zurückkamen. „Er starb im Werkskrankenhaus, nachdem ihn Wachdienst und Polizei
halb tot geprügelt hatten“, berichtet seine Witwe Grace Yankee. Erst später erzählten ihr Freunde, wie es dazu gekommen war: „Sie waren 16, die
Gold suchen wollten. In dieser Nacht wurden sie von Militär, Polizei und
Werkschutz mit 13 Hunden gestellt. Die schlugen die Goldsucher zusammen und fuhren sie zu den Zellen des Werkschutzes auf dem Minengelände.
Nach dem Aussteigen mussten sie Spalierlaufen durch 40 Männer, die auf
sie einschlugen. In der Zelle brachen mein Mann und zwei andere zusammen. Sie wurden herausgezogen und zum Werkskrankenhaus gebracht.“
Zu diesem Zeitpunkt war Yankee 19 Jahre alt und schwanger. „Wir hatten einen Hektar Land voll Kochbananen in den Hügeln“, berichtet sie von
ihren Zukunftsplänen. „Später sollte das eine Kakao-Farm werden, damit
unsere Kinder eine Zukunft haben. Mein Mann schlich sich deshalb etwa
zweimal die Woche zum Goldsuchen, um Bäumchen zu kaufen. Meistens
haben sie den Abraum von Ashanti Goldfields durchsucht. Manchmal fanden sie auch gar nichts.“
1998 habe Ashanti Goldfields die Hunde angeschafft. Seither sei das
Töten zurückgegangen. Dafür würden die Tiere auf Wehrlose gehetzt. „Ich
lag mit dem Gesicht nach unten, die Hände auf dem Rücken gefesselt. Der
Wachmann rief: Suzi, fass! Der Hund verbiss sich in meinen Arm. Ich hörte
den Hundeführer lachen. Ich weinte, ich bettelte, ich dachte, es sei das Ende
meines Lebens. Dann hetzten sie den zweiten Hund auf mich. Da fiel ich in
Ohnmacht“, berichtet Amos Abu.
Seit jener Nacht im März 2002 winden sich dicke Narbenstränge um seinen
Oberarm. Zusammen mit einem Freund habe er die Straße nach Gesteinsklumpen absuchen wollen, wie sie manchmal von den Lastern fallen. „Dabei
lauerte uns der Werkschutz auf. Sie schlugen mich mit Schlagstöcken, kickten in jeden Teil meines Körpers. Dann kamen die Handschellen und die
Hunde.“
Die Nacht habe Abu in einer Zelle des Werkschutzes verbracht. „Die
Wachleute feierten. Von dem Hundeführer habe ich gehört, dass er befördert
wurde. Ich kenne ihn, er heißt Charles Abay. Heute geht er nicht mehr auf
Patrouille. Er hat jemanden, der ihn fährt. Es heißt, die Wachleute würden für
Gefangene einen Bonus bekommen. Manchmal bekommen sie als Belohnung
Alkohol geschenkt. Am Morgen danach sagte einer von ihnen zu mir, wenn
ich in der Nacht gestorben wäre, hätte sie niemand zur Rechenschaft gezogen.“ Vor Gericht wurde Abu wegen illegalem Goldsuchen verurteilt und
musste 500.000 Cedis Strafe zahlen.
Die Stimmung ist aggressiver rund um Obuasi, als sie in den Dörfern um
Tarkwa war. „Es stimmt, wir haben Macheten und Hämmer dabei, wenn wir
299
Florian Klebs
Ghana
Gold schürfen. Es ist Werkzeug, schließlich musst du graben können. Und,
ja, es ist möglich, dass jemand auch mal eine Schleuder dabei hat“, gibt
Ex-Galamsey Annan zu. Auch sei es jemand aus seinem Dorf gewesen, der
dem Wachmann Bayabu einen Stein ins Gesicht schleuderte. „Wenn du um
dein Leben rennst, wenn du weißt, dass einer deiner Brüder getötet wurde
– dann kämpfst du dir den Weg frei“, begründet Annan. „Allerdings gibt es
Fälle, wo 120 Jugendliche von sechs Wachleuten gejagt wurden. Wir hätten
angreifen können. Aber wir rannten davon.“
10.5 Tod aus dem Abflussrohr
Dass manche Probleme erst anfangen, wenn der Bergbau längst abgeschlossen ist, erlebe ich wenige Kilometer entfernt am Rande des Dorfes
Binsere. Knapp 100 Meter von der Dorfgrenze entfernt bricht der Boden
an einer scharfen Kante ab. Dahinter klafft das Loch, in dem mehrere
Fußballfelder Platz fänden. Gut 20 Meter tief sind zerklüftete Felswände
sichtbar, darunter stauen sich Regen und Grundwasser.
Vom Grubenrand speit ein Rohr einen nach Schwefel stinkenden Schwall
schwarzen Schlamms in die Tiefe. Die Böschung ist zerfurcht, der scharfe
Strahl hat einen metertiefen Canyon hineingefräst. Durch die mannsbreite Schlucht drängen sich Schlammgestalten. Sie klettern, drängen, streiten,
prügeln sich um die besten Plätze am Rohr. Es ist die Dorfjugend. Beim
Goldschürfen. Denn selbst dieser schwarze Schlamm enthält noch einen geringen Rest Gold.
„Tailings“ nennt man den schwarzen Schlamm in der Bergbausprache:
Ein Industrieabfall, der bei der Erzaufbereitung anfällt. Es ist das ausgebeutete Gestein, fein gemahlen, voll mit Schwefel, der zu Säure oxidiert, außerdem Arsen, Chrom und andere Schwermetalle. Getränkt ist der Schlamm
mit Zyanidsäure, die das Gold auslaugt, und anderen Chemikalien.
Das Loch ist Pit T2, ein ausgebeuteter Tagebau der Firma Ashanti
Goldfields. Der Abfall dient als Füllmaterial: später soll Erde den schwarzen
Schlamm bedecken, darauf wird Ashanti zur Renaturierung Bäume pflanzen.
Prince Abu Gyamfi, 18 Jahre alt, ist einer der Jugendlichen, die jeden Tag
hier her kommen. Drei Wochen zuvor hat ihm der Schlamm den Bruder genommen: „Wir standen ganz unten, dort, wo der Schlamm in den Grubensee
fließt: Mein Bruder Eric, sein Freund Kwaku und ich“, erzählt Gyamfi unter
Drängen und mit Stocken. Nach vier Stunden sei der Schwall mit viel mehr
Druck aus dem Rohr geschossen. Vom Gas wurde das Trio bewusstlos.
300
Ghana
Florian Klebs
Später erwachte Gyamfi beim Spucken. „Wir waren wohl alle drei bewusstlos ins Wasser gerutscht. Mich haben die Anwohner herausgezogen. Sie
zwangen mir rotes Öl und Kakao ein, damit ich das Gift wieder hoch breche.“ Neben ihm lag sein Bruder, der jedoch nicht mehr aufwachte. Kwaku
blieb unter Wasser. Vier Tage habe es gedauert, bis seine Leiche nach oben
kam.
Zu diesem Zeitpunkt drängt sich Gyamfi schon wieder um einen der besseren Plätze am Rohr. Ein Tick läst die Lider der Augen flattern. Der Kopf
und die Brust seien seither voller Schmerzen. Manchmal schüttele es ihn
im Fieber. Doch untätig bleiben könne er sich nicht leisten. Den giftigen
Schlamm durchzuwaschen – das sei das einzige Einkommen, das er habe.
Fünfzehn Jahre ist es her, da hätten seine Eltern eine Farm gehabt. Wo?
Genau hier, meint Gyamfi. Dort, wo jetzt das große Loch ist. Das Loch, in
dem sein Bruder ertrank.
Für Ashanti Goldfields ist die Idee, Umweltauflagen durch Altlastenentsorgung abzuhaken ein kostengünstiger Coup. Laut Firmenangaben fallen
monatlich 160.000 bis 180.000 Tonnen chemiebelasteter Gesteinsbrei an.
Vor zehn Jahren hatte die Firma ein Tal abgedeicht und angefangen den
Pudding aus Stein und Chemie dahinter zu pumpen. Seither musste der
Damm bereits viermal erhöht werden. Gut 15 Meter dürfte die Altlast direkt
dahinter tief sein.
Strenge Sicherheitsvorkehrungen belegen, dass Ashanti Goldfields den
Tailingsschlamm durchaus als gefährlich einschätzt. Pumpwerke am Deichfuß sammeln jeden Liter Deponiewasser, der durch das Sperrwerk sickert
und kippen ihn oben wieder hinein. Als 1998 eine Pipeline bricht und
Aufbereitungsschlamm in den Fluß von Dokyiwaa fließt, warnt die Firma
davor, den Fluss weiter zu nutzen und bohrt Trinkwasserbrunnen.
Später wird mir das Management eine Genehmigung der Umweltbehörde
vorlegen, die es erlaubt, Tagebaue mit Aufbereitungsschlamm zu verfüllen. Dabei liegt der toxische Schlamm im Grundwasser. Durch Sprengung
und tropische Verwitterung ist das Gestein rundherum durch Risse zersiebt.
Außerdem sind die Trinkwasserbrunnen des Dörfchens Binsere nur wenige
Meter von der Schlammdeponie entfernt.
Die Giftstoffe seien im Schlamm fest gebunden, das Zyanid würde sich
zersetzen, versichert Kingsley Asamoh, Chief Environmental Engineer
von Ashanti. Sicherheitshalber gäbe es noch einen Beobachtungsbrunnen
zwischen Deponie und Dorf, mit dem man überwachen könne, ob die
Schlammgrube dicht halte. Wie denn der Notfallplan aussähe, wenn nicht,
will ich wissen. „Wir können uns einen solchen Fall nicht vorstellen“, lautet
die Antwort.
301
Florian Klebs
Ghana
Für Erics und Kwakus Tod hat das Management wenig Mitleid. „In der
Grube hatten sie nichts zu suchen“, meint Manager Amponsah. Selbst, wenn
es sich um Chemieabfälle handelt – im Konzessionsgebiet ist Goldsuchen
eben illegal.
11. Recherche in Afrika
11.1 „Dann haben wir ja noch Zeit“
„Wie lange bist du noch da?“ Mit dieser Frage wird meist der Tod jeder Recherche eingeleitet. Denn prompt folgt auf die Antwort gleich die
Feststellung: „Dann haben wir ja noch Zeit“.
Eins lerne ich schnell beim Recherchieren: Nichts anbrennen lassen, jede
Gelegenheit sofort nutzen. Denn sie kommt höchstwahrscheinlich nie wieder. Auf ein Terminangebot mit den Worten zu reagieren: „Heute um drei
passt schlecht, wie wäre es morgen um vier“, bedeutet meist eine verpasste
Gelegenheit.
Ein anderer Grundsatz: Niemals Alternativen anbieten. Die Terminbitte:
„Wir könnten uns morgen treffen oder auch Anfang nächster Woche“ führt
meist dazu, dass der Gesprächspartner anbietet, man könne ja auch noch mal
telefonieren. Und so viel zu dem Thema.
Zurückgerufen wurde ich fast nie. Gerade Behördenvertreter oder Firmensekretärinnen notieren sich gern eine Telefonnummer, um sich nie mehr zu
melden. Ausnahmen bestätigen die Regel. Manchmal hilft es, dreist vorbeizufahren mit dem Angebot, man wolle dem Gesprächspartner die Arbeit
erleichtern.
Traurigste Erfahrung machte ich mit dem Okyhene, einem ParamountKönig und Angehörigen der Umweltbehörde, der ankündigte, sein Land und
seine Waldschutzgebiete dem Goldbergbau zu verweigern. Mehrfach baten
Mike Anane und ich seinen Verwaltungschef um Gesprächstermine, brachten Bögen mit unseren Fragen zum Zweitpalast in Accra, riefen an, wenn
die ausgemachten Zeiten für einen Rückruf abgelaufen waren und sprachen
schließlich selbst noch einmal im Palast vor.
Einen Tag lang hatten wir das Gefühl, etwas bewegt zu haben. Beim nächsten Anruf putzte mich der Chief of Staff herunter: Es sei ein unmögliches
Benehmen, im Palast vorzusprechen, der Okyhene sei kein Politiker, sondern
traditional Herrscher. Ich solle vorsprechen, wenn ich gelernt hätte, mich zu
benehmen. Wie solches Benehmen aussähe, sei nicht seine Aufgabe, mir zu
erklären – ich solle meinen Freund fragen, der sei schließlich Ghanaer und
wenn er es nicht wisse, solle er einen fragen, der es weiß.
302
Ghana
Florian Klebs
Mike Anane weiß genau, wie man sich einem König gegenüber benimmt.
Seit rund 30 Jahren ist sein Vater der Paramount-König von Ejisu.
11.2 „Es gibt ihm ein unangenehmes Gefühl“
Vor allem Geduld brauche ich in den Dörfern, um die Menschen zu persönlichen Schilderungen zu bringen. Um zu erkennen, was Goldbergbau
für die Anwohner wirklich bedeutet, bitte ich sie, mir beispielsweise einen
konkreten Tagesablauf zu schildern: Wie sie Fische verkauften und später
erfuhren, dass der Fluss vergiftet war. Wie erfuhren sie davon? Per Zufall?
Gingen Ausrufer der Bergbaugesellschaft herum? Haben sie erst Fisch gegessen? Oder was passierte, als Wachhunde auf wehrlose Verhaftete gehetzt
wurden? Wurden sie erst gefesselt? Konnten sie weglaufen? Haben sie sich
gewehrt? Um Hilfe gerufen?
Zuerst bekomme ich meist Standardantworten: „Ich fischte und der Fluss
war kontaminiert“ oder „Ich wurde verhaftet und meine Menschenrechte
wurden verletzt“.
Aus anderen Quellen höre ich Berichte, wie sich die gleichen Menschen
verzweifelt auf dem Boden wälzten oder die Witwen illegaler Goldsucher
gehalten werden mussten, damit sie sich nichts antun. Die Aussage von einem Betroffenen selbst zu bekommen, war in vielen Fällen fast unmöglich.
Gipfel der Emotionslosigkeit im Ausdruck ist mein Gespräch mit Prince Abu
Gyamfi, dessen Bruder drei Wochen zuvor bei der verzweifelten Goldsuche
in Industrieabwässern starb. Gyamfi ist sichtlich traumatisiert. Sein Gesicht
ist maskenhaft, nur die Lider flattern nervös. „Die Erinnerung gibt ihm ein
unangenehmes Gefühl“, umschreibt der Dorfchronist seinen Zustand.
Mein Verdacht ist, dass meine Ankunft in einem Dorf per se ein so offizieller Akt ist, dass alle glauben, sie müssten sich, ähnlich wie vor Gericht,
sehr knapp, faktenorientiert und geschwollen ausdrücken. Alles Persönliche
oder vermeintlich banale wird ausgelassen.
Das Problem verschärft sich, wenn ich einen Übersetzer brauche.
Manchmal wird eine zehnminütige Aussage auf Twi von meinen Begleitern
in zwei Sätzen wiedergegeben. „Ich habe es zusammengefasst“, bekomme
ich jedes Mal zu hören, wenn ich nachfrage – selbst wenn wir schon zehn
Tage zusammen arbeiten.
Die Situation ändert sich ein bisschen, wenn ich den MD-Recorder auspacke. Ich erkläre, dass ich das Gespräch im Radio sende und jedes Wort übersetzt brauche. Wie weit es klappt, weiß ich nicht – aber die Übersetzungen
werden länger.
303
Florian Klebs
Ghana
11.3 „Ich habe Angst vor dir“
Vor allem ein Erlebnis scheint meine Theorie zu bestätigen, dass sich
die Dorfbewohner wie bei einem offiziellen Gerichtsprotokoll fühlen. Seit
Minuten dringe ich in einen Dorfbewohner, Okye Kuedufia, der schildert,
wie die Minengesellschaft einen Kanal durch sein Feld gezogen habe. Was er
gemacht habe, als der Bagger am Feldrand auftauchte. Habe er den Arbeiter
nicht gefragt, was er hier wolle?
Schließlich schreit Kuedufia auf: „Bei Gott, Mr. Klebs, wir sind nicht so
wie ihr. Wir haben Angst vor solchen Leuten, wir haben Angst auch vor den
Weißen und ich habe auch Angst vor dir. Wenn jemand auf einem Bagger
sitzt, dann ist das ein wichtiger Mann, dann laufen wir weg. Weiß ich, ob er
nicht gestern erst mit dem Präsidenten zu Abend gegessen hat?“
Zahlen, Daten, Fakten – in den Dörfern rund um die Goldminen werden
die Lieblingsangaben für Journalisten zum Problem. Begann das Problem
1997 oder 1998? Wurde zuerst das Dorf zerstört oder erst der Fluss vergiftet? Prompt kollidieren die Aussagen: „Meine Tochter kam im März zur
Welt, da war mein Mann schon tot. Er wurde im Januar erschlagen. Da war
ich im vierten Monat“, schildert mir eine Frau. Vor allem vor Gericht werden Schilderungen wegen Glaubwürdigkeitsmankos gegen Dorfbewohner
eingesetzt. Wo ein Landwirt verzweifelt mit Erinnerungen jongliert, legt die
Bergbaugesellschaft Wachbücher oder ähnliche Dokumente vor.
Auch die Anschuldigungen sind meist nicht nachprüfbar: Ist dieses Kind
tatsächlich gestorben, weil der Fluss kontaminiert war? Könnte dieser Fischer
nicht wieder Geld verdienen, weil das Wasser seit dem Chemieunfall längst
wieder sauber ist?
12. Geschichten am Rande
12.1 Zum Studium nach Deutschland
Unterm Arm trägt John Okae-Asante eine Info-Mappe der us-amerikanischen Franklin University. Darin stecken alle Dokumente, die dem 24jährigen Afrikaner heilig sind: Das Zeugnis der polytechnischen Hochschule
mit Notendurchschnitt „A“. Der Kontoauszug seines Onkels, der ihm ein
Auslandsstudium finanzieren will. Und eine Studienzulassung für den internationalen Bachelor-Studiengang „Electrical Engineering“ der Hochschule
für Technik und Gestaltung in Mannheim.
„Mannheim schlägt US-Universität“ könnte nun die Schlagzeile lauten.
Und Deutschlands Bildungspolitiker würden sich auf die Schulter klopfen.
304
Ghana
Florian Klebs
Denn jährlich sechs Millionen Euro spendierte Bundesforschungsministerin
Edelgard Bulmahn den deutschen Hochschulen, um weltweit Werbung für
den „Bildungsstandort Deutschland“ zu machen.
Doch Okae-Asante hat ein Problem: Trotz Zulassung in Mannheim wurde
ihm das Visum verweigert.
Dreimal war der angehende Ingenieur im Minibus zur Deutschen
Botschaft nach Accra gepilgert. Ab vier Uhr morgens formiert sich dort
die Schlange der Visumsbewerber. Ein mobiler Passbild-Fotograf macht
ein gutes Geschäft: Seit diesem Herbst akzeptieren Deutschlands VisumsVorschriften den landesüblichen roten Hintergrund für Passbilder nicht mehr.
Ein Kiosk brät Frühstückseier und schenkt Kaffee und heiße Schokolade
aus. Findige Jugendliche entdeckten den Geschäftszweig, sich jede Nacht
anzustellen um ihren Platz am Kopf der Schlange an betuchte Antragsteller
zu verkaufen.
Was Studentenvisa betrifft, habe sich die Zahl der Anträge seit Beginn
des Marketings von jährlich 50 auf an die 500 verzehnfacht, berichtet mir
Anne Wagner, Leiterin der Rechts- und Konsularabteilung der Botschaft.
Grund dafür sei, dass sich auch deutsche Hochschulen intensiver um
Studenten aus dem Ausland bemühten, ergänzt Harald Olk, der in Accra das
Informationsbüro des Deutschen Akademischen Austauschdienstes leitet:
„Viele haben „International Degree Programmes“ eingerichtet, bei denen
die Vorlesungen auf Englisch abgehalten werden.“
Für jeden Antrag müssen die Bewerber zum persönlichen Interview. „Bei
Studentenvisa fragen wir zum Beispiel, welche Kurse in dem Studiengang
vorgesehen sind, oder was der Antragsteller über die Stadt weiß, in der
er studieren will. Da merkt man schnell, ob sich jemand ernsthaft mit
Studienplänen auseinandergesetzt hat“, sagt Wagner. Außerdem müssen sie
ein Konto mit mindestens 6.000 Euro besitzen – als Nachweis, dass sie zumindest die ersten zwei Semester finanziell durchstehen.
Okae-Asante hatte vor seiner Entscheidung lange recherchiert, drei
Hochschulen in Deutschland und mehrere in England und den USA genau
durchleuchtet. Zum Gespräch will er den halben Lehrplan intus gehabt haben. Das Internet hatte ihm gezeigt, dass ihn im deutschen Winter die ersten
Minusgrade seines Lebens erwarten. Außerdem hatte er gelernt, fünfsilbige
Zungenbrecher wie „Baden-Württemberg“ auszusprechen.
„Wenn sie mir wenigstens mitteilten, warum sie mich ablehnen – dann
könnte ich den Makel beheben“, meint Okae-Asante. Doch „die Ablehnung
bedarf keiner Begründung“ steht auf dem Schreiben der Botschaft. Erst später erfährt der Bewerber, dass er sein Studieninteresse nicht ernsthaft belegen konnte.
305
Florian Klebs
Ghana
Der einzige Rat, den ich ihm geben kann, ist, seine Deutschkenntnisse aufzupolieren. Von Gesprächen im Umkreis des Botschaftspersonals weiß ich,
dass darauf großer Wert gelegt wird – selbst wenn die Lehrsprache an der
Hochschule Englisch sein wird. „Deutschkenntnisse sind keine explizite
Voraussetzung für die Visumserteilung, wohl aber ein weiteres Indiz für
die Ernsthaftigkeit des Studieninteresses“, lautet das autorisierte Zitat von
Wagner.
Für Okae Asante ist dies fast unmöglich. Vier Stunden Reise sind es bis
zum Goethe-Institut in Obuasi. Eine Stunde bis zum Sprachinstitut von
Kumasi – wenn der Bus pünktlich fährt und ohne Panne ankommt. Doch die
letzten Kurse beginnen um fünf Uhr. Um diese Zeit endet gerade die Schicht
des angehenden Ingenieurs.
Kennen gelernt habe ich Okae-Asante in Obuasi. Reiner Zufall: Sein Onkel
ist Human Ressources Manager von Ashanti Goldfields. Bei der gleichen
Firma hat Okae-Asante inzwischen eine Ingenieursausbildung als Trainee
begonnen. Ein Auslandsstudium würde ihn für das gehobene Management
qualifizieren. Von seinen Ausbildern wird er dafür ausdrücklich empfohlen,
für seine Rückkehr gibt ihm die Firma eine Arbeitsplatzgarantie.
In meinem Hotel in Accra lerne ich den nächsten Studenten kennen, der von
einem Studium in Deutschland träumt: Wilson Dogbatse, Marketingstudent
der Legon University of Ghana und Neffe des Hoteliers. Mit der Zeit häufen
sich Bekanntschaften wie diese. Und zunehmend lerne ich junge Männer
kennen, denen der Traum schon viel Geld gekostet hat.
8.000 Euro verlor einer von Dogbatses Freunden. 5.000 Dollar ein weiterer
Freund. Geld, das sie gutgläubig an einen Visa-Agenten bezahlten. „Diese
Männer versprechen dir, die Papiere durch Connections zu beschaffen“, erklärt Dogbatse. „Du erkennst sie am Anzug und den teuren Autos, mit denen
sie vor der Botschaft stehen. Oder du fragst einfach herum – irgendwann
sagt jemand ‚Mr. John kann dir helfen’, gibt dir eine Telefonnummer und
du triffst dich, um über den Preis zu verhandeln.“ Auch ich entdecke bald
die Aushänge an der Uni, die schnelle Hilfe bei der Passbeschaffung versprechen. Wer sie in Anspruch nimmt, wird meist zum Visa-Agenten weitergereicht, weiß Dogbatse. Vier Kommilitonen kennt der Student, die VisaAgenten das ganze Familienvermögen übergaben. „Sie sind alle noch hier
– nicht einer hat je die Papiere bekommen.“
Okae-Asante will es weiterhin auf legalem Weg versuchen. Nach meiner Rückkehr habe ich ihm ein Buch und zwei CDs geschickt: Schnellkurs
Deutsch für Englischsprachige. Seine jüngste Mail an mich überschrieb er
mit „Gutten Tag“. Ich halte weiterhin die Daumen.
306
Ghana
Florian Klebs
12.2 Der erstaunliche Mr. Blayh
Wer aus Deutschland nach Tarkwa kommt, wird früher oder später Mister
Blayh begegnen. Sobald der 60jährige Mechaniker hört, dass ein germanophoner Weißer die Stadtgrenze überschritten hat, wirft er sein Schweißgerät
in die Ecke, um den Fremden in dessen Landessprache zu begrüßen.
In den sechziger Jahren war ihm ein Flugblatt in die Hände gefallen. Das
Goethe-Institut – damals noch in Kumasi – bot kostenlos einen dreimonatigen Deutschkurs an. Drei weitere Monate legte Mr. Blayh aus eigener Tasche
drauf. Seither hat der feingliedrige Schweißer kein Klassenzimmer mehr
von innen gesehen. Das Land seiner Sehnsucht hat er noch nie betreten.
Seine Kenntnisse sind ihm geblieben. Und manchmal trifft er in Tarkwas
Straßen einen Landsmann, der einmal in Bochum oder Zuffenhausen malochte. Dann versucht er, ein Gespräch über Grammatik anzuknüpfen.
„Wenn ich einen englischen Anlasser in ein Auto baute, war der Kunde
nach drei Monaten wieder da. Wenn ich einen deutschen nahm, habe ich
mindestens ein halbes Jahr nichts mehr von ihm gehört“, begründet Blayh
seine Motivation, sich mit der Sprache auseinander zu setzen.
Seit WACAM, die Grasswurzelbewegung gegen Goldbergbau in Tarkwa,
jährlich Studenten von InWent bei ihren Praktika betreut, hat Mr. Blayh
wieder öfter Gelegenheit, seine Fähigkeit warm zu halten. Manchmal kauft
ihm einer der Studenten auch eine deutsche Zeitung, die als Altpapier zum
Einkäufe einzuwickeln nach Ghana exportiert wird. Dann liest Mr. Blayh
von Gemeinderäten, die im Allgäu Umgehungsstraßen fordern und von der
feschen Rosi, die sich in Boulevardblättern auf der Titelseite aalt.
Seine Sternstunde hatte der Sprachkünstler allerdings, als Ghana Manganese Company, ein Bergbau-Konzern mit starker Bindung an Deutschland,
ein echtes Problem hatte: Für mehrere Monate hatten sie einen deutschen
Fachmann eingeflogen. Doch der sprach kein Wort englisch. „Ich habe ihn
wochenlang unterrichtet“, erklärt Mr. Blayh mir stolz.
Nur zu gern möchte Mr. Blayh auch an Schulen Deutschunterricht geben.
Für Schüler, die weitab von Uni oder Goethe-Institut sonst keine Möglichkeit
haben, die Sprache zu lernen. Schon mehrfach hat er Deutsche gebeten, ihm
eine Adresse zu geben, wo er Lehrbücher bestellen könne.
Aus Accra und einem schnellen Internet-Café gebe ich ihm die Anschrift
von Langenscheidt. Vielleicht, so meine ich, gibt es dort sogar Restbestände
alter Auflagen, die billiger sind. Einfach wird es trotzdem nicht. Für Ghana
hat Langenscheidt keinen Importeur angegeben.
Ganz hat er seinen Traum noch nicht aufgegeben: Einmal das Land zu sehen,
dessen Sprache er langsam aber fließend beherrscht. Rund 8.000.000 Cedis
kostet der Flug nach Europa. Rund 400.000 Cedis hat er schon zusammen.
307
Florian Klebs
Ghana
13. Thank you!!!
My life was enriched thanks to Mike Anane and Carol Anane, who introduced me to Ghana, always made me feel at home and supported me in
every very way. I deeply wish to thank Nana Aboagye Aguei II for one of
the most impressive receptions in my life and Nana Boakye-Yadom I for the
many exceptional hours I spent with him.
My gratitude goes to Friedrich-Ebert-Stiftung in Ghana, especially Jörg
Bergstermann and Programmes Coordinator Edward Briku Boadu, who used
his excellent knowledge and local relationship to help me beyond my expectations. I do wish to thank Daniel Owusu-Koranteng, executive Director of
WACAM and his wife Hannah, also Kwesi Aduakwah of WACAM as well
as Mohamed and Kofi Scott, WACAM Community Volunteers, who all devoted enormous amounts of time to help me. I thank the Obuasi Management
of Ashanti Goldfileds for their hospitality and the excellent insight they gave
to me, namely Mr. Sarpong and his intern Baba Abdulai, also the Public
Relations Management of Ghana Goldfields.
I wish to thank Professor Kwabena Sarpong for being my host and the
long conversations introducing me to African art (apart from many other
topics). Also brassman Edward Owusu and his brother, Georg Koomson
and the staff of Public Agenda. I thank the inhabitants of the villages of
Abekoase, Nkwantakrom, Koduakrom, Atwereboana, Sansu, Binsere and
Dokyiwoa, namely Nana Molobah, Nana Kofi Karikari, Nana Kojo Bogya
II and fetish-priest Augustina Antwi.
I thank Fabian Kutenkeuler and Benedikta Rabins from the ASAFellowship for sharing their experiences in Tarkwa with me.
For getting me prepared I thank Uli Müller from FIAN Germany for sharing
his detailed knowledge and introducing me to Daniel Owusu-Koranteng and
Mike Anane, also ASA-alumni Marcus Quinlivan and Anne Wendler from
InWent for allowing me to take part in one of the preparation workshops
of the ASA-Fellowship. I thank Professor Johanna Dahms and artist Runa
Verdandi who first introduced me to the Ashanti art of metalsmithing.
Most of all, my deep gratitude belongs to the Heinz-Kühn-Foundation.
Thank you, Ute Maria Kilian, for doing an excel lent job that goes far beyond the administrative process.
308
Dr. Sonja Kretzschmar
aus Deutschland
Stipendien-Aufenthalt in
Südafrika
10. Februar bis 28. März 2004
309
Südafrika
Dr. Sonja Kretzschmar
Auf dem Land, im Gefängnis und im Fernsehstudio:
Die „Rainbow Nation“ und ihr Mediensystem.
Von Dr. Sonja Kretzschmar
Südafrika vom 10.02. – 28.03.2004
311
Südafrika
Dr. Sonja Kretzschmar
Inhalt
1. Zur Person
314
2. Vorwort
314
3. „Afrika ist ursprünglich auf dem Land, und das afrikanischste
aller Medien ist das Radio“ – oder: 24 Stunden Afrika pur
315
4. Die Idee des Multi Purpose Community Centers –
und ein Ausflug ins Gefängnis
323
5. Der Film: Gespräch Teboho Malatsi
328
6. Die Presse: Auf einen Tee zum „Star“
330
7. Das Internet: Black Rage
332
8. HIV / AIDS – das ungeliebte Medienthema
333
9. „Giving access“: den Zugang schaffen. Die Gemeinde-Radios
334
10. Das Fernsehen: SABC, größter Nachrichtenproduzent Afrikas
336
11. Die Medienwissenschaft und die NGOs:
Prof. Tuwana Kupe und Jane Duncan
338
12. Der Abschied
339
13. Dank
341
313
Dr. Sonja Kretzschmar
Südafrika
1. Zur Person
Dr. Sonja Kretzschmar, geboren am 9.10.1970 in Frankfurt/Main, studierte nach einem Auslandsjahr an der Sorbonne, Paris, Journalistik in
Dortmund und Edinburgh. Volontariat bei der „Berliner Zeitung“, Praktika,
freie Mitarbeit, Pauschalistin, Urlaubsvertretung bei Tageszeitungen im
Print- (WR/WAZ) sowie Online-Bereich (Märkischer Zeitungsverlag),
Nachrichtenagentur (DPA), Hörfunk und Fernseh-Redaktionen (SFB, Arte,
WDR, NDR).
2001 Promotion an der Universität Dortmund, von 2001-2004 Moderationsredakteurin bei den Tagesthemen (ARD-aktuell, Hamburg), seit 2001
Dozentin an den Universitäten Erfurt, Münster, Leipzig und freie Journalistin.
2. Vorwort
Als ich in der Grundschule war, kam eines Tages ein neues Mädchen in unsere Klasse; ihre Familie hatte vorher in Südafrika gewohnt. Sie wurde meine beste Freundin. In ihrem Haus gab es afrikanische Masken, Batiktücher,
gewebte Teppiche an den Wänden und Fotos von Löwen. Südafrika war
unvorstellbar weit weg, ein Land voller Geheimnisse und Abenteuer.
Viele Jahre später, nachdem ich Südafrika bereits als wunderbares
Urlaubsland kennen gelernt, Nationalparks und die Weingüter am Kap besichtigt hatte, flog ich wieder hin – diesmal als Journalistin.
Zehn Jahre nach den ersten freien Wahlen, zehn Jahre, in denen sich
die Medienlandschaft von Grund auf verändert hatte. Ein Land, das eine
gewaltsame Vergangenheit getauscht hat gegen eine Gegenwart, bei der
Gewalt und die Angst davor ein Teil des Alltags ist. Die Medien versuchen,
zwischen Gesellschaftsschichten zu vermitteln, die verschiedener sind als in
vielen anderen Ländern dieser Welt. Der Abstand zwischen dem Leben der
Schwarzen in den Townships und Dörfern und den Weißen in ihren alarmanlagengesicherten Villenvierteln ist groß. Ich wollte Menschen treffen, die
in den Medien des neuen Südafrika arbeiten, die versuchen, einen Dialog zu
führen, um zwischen diesen Gruppen Brücken zu bauen.
314
Südafrika
Dr. Sonja Kretzschmar
3. „Afrika ist ursprünglich auf dem Land, und das afrikanischste aller
Medien ist das Radio“ – oder: 24 Stunden Afrika pur
Die Hinfahrt
Zehn Uhr abends, mein Handy mit südafrikanischer Nummer klingelt.
Das Handy ist in Südafrika zum wichtigsten Kommunikationsmittel geworden, nicht nur unter den Weißen. Vor allem in den Townships, in denen
die Zeit der Festnetzanschlüsse übersprungen wird, sind Handys unersetzlich. Als mögliche Objekte zum Diebstahl haben Handys Fotoapparate abgelöst: natürlich soll man keine Fotoapparate in diesem Land offen tragen,
aber auch Handy-Anrufe auf offener Straße anzunehmen ist gefährlich. Man
riskiert einen Überfall. Diesen Anruf aber kann ich direkt annehmen: ich bin
zu Hause. Das Haus teile ich mir mit einem südafrikanischen Mitbewohner,
es liegt in einem sicheren Viertel der Stadt.
„Ja, hallo, Harry hier. Wir wollen doch morgen in den Norden fahren.
Aber - können wir uns nicht auch dort, an der Radio-Station, treffen? Ich
muss noch Verwandte besuchen.“
Harry Letsebe arbeitet in Johannesburg für die Media Development &
Diversity Agency (MDDA), eine staatliche Organisation, die unabhängige
und gemeinnützige Medien in Südafrika fördert. Schwerpunkt der Arbeit
sind die „Community Radios“, Gemeinderadios. In einem Land, wo der
Analphabetismus hoch ist, der Transport von Zeitungen schwierig und
Fernseher für die ganz Armen sehr teuer sind, ist das Radio einfachstes und
billigstes Medium, um zu informieren.
„Du meinst, ich soll da alleine hinfahren?“ Völlig ausgeschlossen. Mein
Leihauto von „Rent a wreck“, ohne dass ich in einem Land fast ohne öffentlichen Nahverkehr nicht arbeitsfähig wäre, ist nur in Johannesburg und
im nahen Umland ein sicheres Transportmittel. Wenn ich am Ende der Welt
liegen bleibe, was bei diesem Auto wahrscheinlich ist, holt mich niemand
von der Verleihfirma ab. Der Service, das bei Problemen sofort Mitarbeiter
kommen und das Auto reparieren, beschränkt sich auf das Stadtgebiet und
einen Radius von etwa 60 Kilometern. In meiner Zeit mit dem fahrenden
Autowrack habe ich ihn mehrmals nutzen müssen.
Eine Autopanne gehört zum Alptraum der Südafrikaner: schon normale
Überfälle kommen häufig vor, in manchen Gegenden des Landes werden
Straßen absichtlich mit Hindernissen blockiert, um die Fahrer beim Anhalten
auszurauben. Ein liegen gebliebenes Auto und vor allem dessen Fahrer sind
eine leichte Beute.
„Nein Harry, das ist zu gefährlich mit meinem Auto.“ Zum anderen würde ich dieses Radio niemals finden, Beschilderungen und Straßenkarten
sind, abseits der Touristenstrecken und der großen Städte, kaum vorhan315
Dr. Sonja Kretzschmar
Südafrika
den. „Dann komme ich lieber mit zu den Verwandten, das macht mir nichts
aus.“ – „Gut. Dann fahren wir aber früh los.“ Harry und ich einigen uns
darauf, dass ich um vier Uhr morgens mit meinem Auto zu ihm komme,
in seinen Stadtteil von Johannesburg, wo überwiegend Schwarze wohnen.
Das ist etwa eine halbe Stunde weit weg von meinem Villenviertel, in dem
ausschließlich Weiße wohnen, wenn man von den Gärtnern und Putzfrauen
einmal absieht.
Das heißt um drei Uhr nachts aufstehen. Egal, die Chance, in ländliche
Gebiete Südafrikas zu fahren, die „rural areas“, abseits von Touristenwegen,
kann ich alleine nicht wahrnehmen. Das ist nur möglich begleitet von einem
Einheimischen, der den Weg und die Menschen kennt.
Als ich am kommenden Tag um vier Uhr morgens bei Harry bin, sind wir
natürlich noch nicht abfahrbereit. Seine Frau und ein anderer, mir unbekannter Mann, fahren auch mit; wenn schon mal ein Auto fährt, dann muss
es auch voll sein. Als wir um fünf Uhr morgens Johannesburg Richtung
Norden verlassen, stelle ich fest, dass nur Harry Englisch spricht, was die
Unterhaltung im Auto auf uns beide beschränkt.
Dafür hat Harry umso spannendere Themen. „Was ich an Weißen nie verstehe, ist, warum sie Hunde haben.“ In Südafrika ist Hundehaltung unter
Weißen tatsächlich sehr verbreitet. Zum einen ist es ein sehr ländlich geprägtes Land, mit viel Platz, zum anderen haben auch die südafrikanischen
Städter fast alle Hunde: die großen Villengrundstücke werden nicht nur mit
Alarmanlagen, sondern meist auch mit großen Hunden gegen Einbrecher
geschützt. „Ein Hund, der kostet doch auch Geld, das Futter, der Tierarzt...
Wenn man das Geld, das man jeden Monat für den Hund ausgibt, sparen
würde, dann könnte man damit doch auch die Schulbildung für das Kind
eines Verwandten bezahlen.“
Eine bestechende Logik, ich weiß kaum, was ich darauf antworten soll.
Dass ich keine Verwandten habe, die die Schulbildung ihrer Kinder nicht
selber bezahlen können? Dass Schule in Deutschland sowieso umsonst ist?
Und dass, selbst wenn das nicht der Fall wäre, Bildung sicher nicht für den
Preis von ein bisschen Hundefutter zu haben wäre?
Irgendwann am Vormittag halten wir vor einer Art Verwaltungsgebäude. Es
ist mittlerweile über 30 Grad warm, Harry verschwindet, der Mann, Harrys
Frau und ich warten im Auto. Eine halbe Stunde, eine Stunde. Mittlerweile
studiere ich die Unterlagen für das Gemeinderadio im Schatten; da niemand
Englisch spricht, beschränkt sich die Kommunikation mit meinen Mitfahrern
auf den Austausch von trockenen Keksen. Irgendwann taucht Harry wieder
auf. Er erklärt mir, dass er irgendwelche Unterlagen für das Auto braucht,
die er dort abholen will, offenbar eine Art Tüv-Plakette. Nach einer weiteren
halben Stunde fahren wir weiter, ohne die Tüv-Plakette bekommen zu haben.
316
Südafrika
Dr. Sonja Kretzschmar
Ich habe es mir längst abgewöhnt, allzu nachdrücklich nach den Gründen
von Stopps zu fragen, wenn man eigentlich mit einem anderen, bestimmten
Ziel unterwegs ist. „Transport“ ist teuer in Afrika und damit kostbar, da
müssen immer viele Dinge auf einem Weg erledigt werden.
Da es nun Mittagszeit ist, fahren wir bei einer Art Fastfood-Imbiss vorbei,
wie alle Läden in Südafrika schwer vergittert, wegen der vielen Einbrüche.
Bei der Gelegenheit fällt mir auf, dass ich bei dem Aufbruch nachts um drei
Uhr etwas Entscheidendes vergessen habe: meinen Geldgurt mit Bargeld,
EC-Karte, Papieren. Ich habe nichts bei mir, keinen einzigen Rand. Das ist
erst einmal kein Problem, Harry zahlt an dem Imbiss für uns alle zusammen.
Als wir weiterfahren, klingelt Harrys Handy. Seine Stimme ändert die
Tonlage, aber nur kurz. Anschließend schweigt er, spricht dann aber doch
entschlossen weiter.
„Meine Mutter ist gestorben. Wir fahren jetzt zu der Radio-Station, aber
wir werden den Besuch dort abkürzen. Dann muss ich in das Dorf, wo meine
Mutter wohnt, wo ich herkomme.“
Das also war der Grund für Harrys Verwandtenbesuch: seine Mutter war
schwer krank. Meinen Einwand, sofort in das Dorf zu fahren, ohne die
Radiostation zu besuchen, lehnt Harry ab. „Nein, nein, das kommt nicht
in Frage“ sagt er mit fester Stimme. Auf der Weiterfahrt spricht er ohne
Aufzuhören von allem anderen, nur nicht von seiner Familie. „Was ich an
den Europäern beneide ist, dass sie so einfach reisen können. Sie sind alle
so viel gereist. Ich war in Genf, auf dem „World Summit of Information
Society“. Schon das ganze Drumherum hat mich so beeindruckt, das Hotel...
Ich konnte mich gar nicht auf die Inhalte konzentrieren. Das ist für die
Europäer normal, sie kennen das alles.“ Das neutrale Thema entspannt die
traurige Situation etwas. Ich erzähle ein paar Interrail-Geschichten, über das
Reisen von jungen Europäern ohne viel Geld, um klar zu machen, dass nicht
alle Europäer dauernd in Luxus-Hotels absteigen, in denen Weltkonferenzen
ausgerichtet werden.
Auch wir müssen uns durchfragen, und folgen schließlich einem staubigen Erdweg, an dessen Ende ein sauber gestrichenes Haus steht. Frauen mit
Kopftüchern arbeiten auf den Feldern rechts und links von der Radiostation,
mit krummem Rücken, über den Boden gebeugt. Es ist über dreißig Grad
warm, die Sonne blendet, ein süßlicher Geruch weht herüber von einem
Marulabaum, der neben dem Radio-Gebäude steht.
317
Dr. Sonja Kretzschmar
Südafrika
Moutse, das Gemeinde-Radio
Johannes Nsiza, Manager der Radio-Station und damit ihr einziger bezahlter Angestellter, empfängt uns überschwänglich. Er zeigt uns den
Sende- und Produktionsraum, wo noch mit Tonbändern gearbeitet wird. Die
digitale Radioproduktion ist noch nicht bei Moutse angekommen.
Seit 1997 ist Moutse on air, ursprünglich war es ein Pilotprojekt der nationalen Landfrauenbewegung. Ziel war es, Informationen für Frauen zugänglich zu machen, die oft mit ihren Kindern alleine in den ländlichen Gebieten
leben, während die Männer in den Städten arbeiten. Daher sendet Moutse
vor allem in den afrikanischen Sprachen des Nordens: Pedi, Zulu, Ndebele
und Tsonga, ein wenig Englisch ist auch dabei. Aber Englisch wird in den
ländlichen Gebieten Südafrikas kaum gesprochen.
Die Situation der Landfrauen ist nicht einfach: die Feldarbeit gehört traditionell zu den Aufgaben der Frauen, sie müssen sich um die Kinder kümmern, und auch die HIV-Infektionsrate auf dem Land ist sehr hoch. Die
Frauen werden von ihren Männern infiziert, die das Virus im Urlaub aus den
Städten mitbringen. Wenn die Eltern schließlich an AIDS sterben, bleiben
die Waisen mit den Großeltern zurück, die oft zu alt für die Feldarbeit sind;
das Essen wird knapp.
Über das Radio sollen die Frauen Informationen über richtige Ernährung
und Feldarbeit bekommen, aber das ist nicht einfach, erklärt Johannes Nsiza.
Eigene Beiträge können kaum produziert werden, denn der Transport für die
ehrenamtlichen Journalisten zu möglichen Gesprächspartnern ist schwierig;
so werden, wenn überhaupt, entweder Experten eingeladen oder Konserven
aus dem landesweiten Verbund der Community Radios gesendet.
„Innerhalb von drei Jahren soll Moutse sich selber tragen“, sagt Harry
Letsebe, „dauerhaft kann die MDDA die Radios nicht fördern.“ – „Die
Akquise von Werbekunden aber ist schwierig“, sagt Johannes Nsiza; „wo
sollen sie auch herkommen in einer Gegend, in der die meisten Menschen
als Selbstversorger von ihren Feldern leben, und wenig Geld zum einkaufen
da ist?“
Das Krankenhaus
Wir verlassen die Moutse Radio Station über den staubigen Feldweg und
fahren weiter zu Harrys Dorf. Die Landschaft wird bergiger, es gibt immer
weniger Dörfer, kaum noch Autos auf den Straßen. „Wer hier ein Auto hat,
ist Lehrer“ erklärt mir Harry. „Es sind die einzigen, die ein Gehalt bekommen.“ Arbeit für Geld gibt es wenig hier oben, in den Verwaltungsbezirken
Mpumalanga und Limpopo.
318
Südafrika
Dr. Sonja Kretzschmar
Bei etwa 35 Grad im Schatten, an einem steilen Berghang, passiert es:
Harrys Auto bleibt liegen. Es stottert noch leicht, weigert sich dann aber,
wieder anzuspringen.
Wir steigen aus, weit und breit kein Auto, nichts. Ein leichtes Ziel für
Überfälle. Die Kriminalitätsrate ist hoch, ohne Auto gibt es keinen Schutz.
Ob ich aussteigen soll, als einzige Weiße weit und breit, ein gut sichtbares
Ziel? Eine der Überlebensregeln bei Überfällen ist es, immer etwas Geld
griffbereit zu haben, um wenigstens mit dem Leben davon zu kommen. Ich
habe nicht nur kein Geld dabei, sondern überhaupt gar nichts, keine EC-, keine Kreditkarte, nichts. Wie soll ich möglichen Gangstern erklären, dass ich
meinen Geldgurt mit Inhalt gerade heute nicht dabei habe? In einer Gegend
wo sowieso keiner Englisch spricht, und wo von längeren Diskussionen bei
bewaffneten Überfällen nachdrücklich abgeraten wird? Immer wieder kursieren Geschichten, bei denen Menschen allein deshalb erschossen werden,
weil sie die Autoschlüssel für das teure Auto nur zögerlich hergeben wollten.
Ich setze auf Harry, der aus dieser Gegend kommt. Etwas anderes bleibt
mir auch nicht übrig. Tatsächlich hält irgendwann ein Auto, ein Mann mit
zwei kleinen Kindern hilft uns. Nachdem die Kinder mich im Auto entdeckt
haben, probieren sie erfreut ihre wenigen Worte Schul-Englisch an mir aus,
und ich beantworte geduldig etwa 20-mal die Frage, wie ich heiße.
Die Batterie von Harrys Auto ist offenbar leer, Überbrückungskabel gibt
es nicht. So wird kurzerhand die ganze Batterie unseres Helfers zum Starten
ein- und wieder ausgebaut, schließlich können wir weiterfahren.
In einem der nächsten Dörfer treffen wir einen Freund von Harry. Als die
Begrüßung vorbei ist, springt das Auto nicht mehr an. Dass ein Auto mit
leerer Batterie nicht mehr anspringen wird, wenn der Motor einmal aus ist,
ist selbst mir klar, Harry jedoch nicht. Es ist sein erstes Auto.
Für die meisten Schwarzen in Südafrika ist der Besitz eines Autos immer
noch etwas Besonderes. Erst seit dem Ende der Apartheid vor mehr als zehn
Jahren ist es für reichere Schwarze möglich, ein Auto zu kaufen – ganz
anders als bei uns, wo Autos für die meisten Menschen von Kind an zum
Alltag gehören.
Harrys Freund hat ebenfalls ein altes Auto, Batterien werden aus- und wieder eingebaut, wir können weiterfahren. Schließlich parken wir vor einem
flachen Gebäude, auf einem erdigen Parkplatz, Asphalt gibt es schon seit
langem nicht mehr auf den Straßen. Das Auto bleibt – nun mit laufendem
Motor – stehen. „Hier ist das Krankenhaus, wir werden hier meine Mutter
abholen.“ Ich schlucke. Wir sind bereits vier Leute im Auto, das deutlich
angeschlagen ist. Wo soll die tote Mutter hin? Und was ist, wenn wir mit
der toten Mutter erneut liegen bleiben? Ich versuche, mir nichts anmerken
319
Dr. Sonja Kretzschmar
Südafrika
zu lassen, und bekämpfe auch meine ganz persönliche Krankenhaus-Phobie,
die mich schon beim Betreten deutscher Krankenhäuser überkommt.
Es ist das fürchterlichste Krankenhaus, das ich jemals gesehen habe.
In zwei verschiedenen Räumen liegen Männer und Frauen apathisch auf
Bettgestellen mit Matratzen, es ist drückend heiß in den Zimmern. Eine
Schwester fächelt bei unserer Ankunft einmal die Fliegen von den Kranken
neben ihr weg, die sich sofort wieder niederlassen. Vor dem Mund einer
Frau, die auf der Seite liegt, steht ein Napf mit braunem Inhalt. Essen?
Erbrochenes? Für mich ist die Frage nicht zu klären.
Harry verhandelt lange, schließlich ist es klar: Aufgrund von irgendwelchen Verwaltungsproblemen können wir die tote Mutter nicht mitnehmen.
Ich atme auf.
Die Verwandten
Weiter geht es zu Harrys Bruder, der uns verweint entgegen kommt.
Hier wird auch Harrys Frau abgesetzt. Diverse Verwandte schütteln mir
die Hände. Der Aufenthalt ist aber nur kurz, Harry hat nicht viel Zeit für
Erklärungen für mich. Erst als wir wieder im Auto sind, sagt mir Harry,
wie es weitergeht. „Ich bin der älteste Sohn meiner Mutter“ sagt er. „Meine
Aufgabe ist es nun, alle Verwandten vom Tod meiner Mutter zu informieren.
Wir fangen bei der ältesten Verwandten an.“
Spätestens jetzt frage ich mich, ob ich heute noch nach Johannesburg zurückkommen, und wo ich die Nacht verbringen werde. Wir halten auf einem
erdigen Platz, auf dem einige Hütten stehen, aus Wellblech. Sie haben keine
Fenster, bestehen aus wackeligen Brettern, Blech, Plastiktüten: ein Windzug
kann sie umreißen. Heraus kommt eine alte Frau mit faltigem Gesicht, wenigen Zähnen. Bedächtig hört sie Harrys Nachricht, sie sprechen Pedi miteinander, was ich nicht verstehe. Pedi ist eine der neun offiziellen afrikanischen
Sprachen Südafrikas, neben Afrikaans und Englisch.
Die Frau geht zurück in die Blechhütte um sich umzuziehen, wie Harry
mir erklärt. Offenbar hat sie ihre schönsten Sachen angezogen, als sie wieder zu uns kommt: weiße Leinenturnschuhe, einen neuen Rock, ein neues Kopftuch. Würdevoll nimmt sie im Auto Platz, wir fahren los, eine
Staubwolke bleibt zurück.
Im Laufe des Nachmittags werden nach und nach verschiedene Verwandte
eingesammelt, viele kommen auch von alleine und zu Fuß: die Nachricht
spricht sich herum. Zahlreiche Verwandte und Freunde treffen sich schließlich
im Haus von Harrys Mutter. Es ist ein Haus aus Steinen, das im Wesentlichen
aus einem Wohnzimmer, einer Küche und einem Schafzimmer besteht. Die
Wände sind von innen weder verputzt noch tapeziert. Im Wohnzimmer ste320
Südafrika
Dr. Sonja Kretzschmar
hen zwei Sofas und ein Fernseher, Gardinen oder Vorhänge gibt es keine,
aber Glas in den Fenstern. Harry bringt mich in das Wohnzimmer. „Dieses
Haus habe ich für meine Mutter gebaut, von dem ersten Gehalt, das ich in
Johannesburg bekommen habe. Es ist so ein schönes Haus. Und jetzt kann
sie sich gar nicht mehr daran freuen“, fügt er bitter hinzu.
„Wie geht es jetzt weiter?“, frage ich vorsichtig. „Ich sage alle Termine
in Johannesburg ab für die kommende Woche“, sagt Harry. „Ich muss mich
jetzt um die Beerdigung kümmern“.
Es ist Zeit für eine Nachricht an meinen südafrikanischen Mitbewohner
Jeremy. Nachdem in meinem WG-Zimmer sonst immer Referendare einer
deutsch-südafrikanischen Anwaltskanzlei gewohnt haben, ist er erschüttert,
wie anders die Arbeit von Journalisten ist. Meine verschiedenen Termine
in den unterschiedlichsten Stadtteilen von Johannesburg beobachtet er mit
Sorge.
„Mutter tot, Auto kaputt“, texte ich per SMS; „Hast du eine Idee, wie ich
aus dem Norden wieder zurück nach Jo’burg komme?“ – „Es fährt ein Bus
von Pietersburg“, textet er zurück. Erleichtert frage ich Harry, wie weit wir
von Pietersburg entfernt sind. „Etwa 200 Kilometer“, meint er.
Als er meinen entsetzten Gesichtsausdruck sieht, überlegt er. „Mach Dir
keine Sorgen. Ich bring’ Dich heute Nacht noch nach Johannesburg. Ich
leihe mir das Auto von meinem Freund.“ Eine Fahrt durch die Nacht mit
dem alten Auto von Harrys Freund, mit dem er uns den Tag über immer
wieder Starthilfe gegeben hat? Im Dunkeln in Südafrika mit einem alten
Auto liegen zu bleiben ist noch gefährlicher, noch dazu ist Harry nach diesem Tag bestimmt kein sicherer Autofahrer mehr. Andererseits: Was mache
ich, wenn ich hier bleibe? Auch am nächsten Tag wird es keinerlei öffentliche Verkehrsmittel geben, mit denen ich mich selbst auf den Rückweg nach
Johannesburg machen könnte.
„Wenn es sein muss, komme ich dich abholen“, textet mein Mitbewohner.
„Also Harry, mein Mitbewohner könnte mich abholen. Was meinst Du?“,
frage ich. „Ja, das wäre besser“, sagt Harry und bemüht sich, nicht allzu
erleichtert zu klingen.
Eine gute Idee, doch schwierig umzusetzen. Harrys Dorf ist viel zu klein,
um auf irgendeiner Landkarte von Südafrika eingezeichnet zu sein, Schilder
gibt es kaum auf dem Land. Außerdem reflektieren die wenigen Schilder
hier kein Licht, sind also im Dunkeln nicht zu sehen. Die Sonne geht früh
unter in Südafrika. Während ich im Land bin ist Spätsommer, da ist der
Sonnenuntergang gegen 19 Uhr. Aufgrund der größeren Nähe zum Äquator
gibt es keine Dämmerung, die Nacht kommt schlagartig.
321
Dr. Sonja Kretzschmar
Südafrika
„Er wird es niemals allein finden“, sagt Harry, „aber mein Bruder wohnt in
Johannesburg, er kennt den Weg, er ist schon selber oft mit dem Auto gefahren.“ Nun muss ich also nur noch per Handy meinen Mitbewohner zum
Stadtteil von Harrys Bruder dirigieren, um ihn dort abzuholen. Und dann
einige Stunden mit Warterei überbrücken, bis ich abgeholt werde.
Der Abend
Bei Harrys Familie gibt es nun Essen: „mealie pap“ ist eine Art Brei, der
für sich genommen völlig geschmacklos ist, und daher mit einer scharfen
Soße und, wenn vorhanden, Fleisch gegessen wird. Hier sind Fischstücke in
der scharfen roten Soße. Natürlich wird mealie pap mit den Händen gegessen, der Brei wird in Stücken in die Soße getunkt, alles zusammen vermischt
in den Mund geschoben.
Selbstverständlich esse auch ich mit den Händen und stelle mir vor,
dass ich bei McDonalds bin, oder auf einer Party, wo „Fingerfood“ der
letzte Schrei ist. Erfrischungstücher gibt es nicht, dafür aber ein feuchtes
Handtuch, mit dem sich alle vor dem Essen die Hände abwischen, und es
ist dasselbe Handtuch, mit dem sich alle anschließend die Finger säubern.
Vom dringenden Bedürfnis getrieben, mir die Hände spätestens nach dem
Essen zu waschen, gehe ich in die Küche, werde aber enttäuscht. Der Raum
hat zwar einen Kühlschrank, in dem sich nichts außer Wasserflaschen befindet, und einen elektrischen Zweiplattenherd, aber keine Spüle und natürlich
auch kein fließendes Wasser. Ein Badezimmer gibt es gar nicht, draußen
auf dem Hof steht eine windschiefe Wellblechhütte, in der sich offenbar ein
Plumpsklo befindet.
Harrys Cousin und Cousine, sechs und zehn Jahre alt, setzen sich neben
mich auf das Sofa, Denia, das Mädchen, zeigt mir ihre Schulhefte, liest mir
auf Englisch vor und rechnet auf Englisch Aufgaben für mich. Anfassen
ist spannend, und Denia staunt über meine weißen Hände, verschränkt ihre
in meinen und lacht über die wechselnden schwarzen und weißen Finger.
Spannend sind für sie aber auch meine Haare. Erst nach einer Weile traut sie
sich, meine Haare anzufassen und bürstet sie anschließend neugierig, fühlen
sie sich doch ganz anders an als ihre eigenen. „Du warst die erste Weiße, die
Denia so nah gesehen hat, nicht aus dem Fernsehen“, wird mir Harry später
in einer E-Mail schreiben.
Mit den alten Frauen sitze ich anschließend ein wenig vor dem Haus, sie
sind traurig wegen des Todesfalls, deuten mir aber über Harry an, ich solle
doch unbedingt wiederkommen.
Schließlich, gegen elf Uhr abends, hält in einer großen Staubwolke ein
Auto vor dem Haus. Aus dem großen Kombi steigt mein weißer, blonder
322
Südafrika
Dr. Sonja Kretzschmar
und blauäugiger Mitbewohner, betritt höflich das Steinhäuschen, schüttelt
Harry die Hand, und meint, dass wir jetzt auch wieder fahren. Ich muss gestehen, dass ich mich noch nie so sehr gefreut habe, abgeholt zu werden.
Harry schüttelt mir zum Abschied die Hand, die Verwandten und Freunde
winken mir nach. Schweigend fahren wir los, auf der Rückbank Harrys
Bruder, der uns wieder den Weg zurück über die Dörfer führen wird, sowie
ein Mann aus der Gruppe von Verwandten und Freunden, den wir irgendwo
im Dunkeln in einem Dorf auf dem Rückweg absetzen.
Mein Mitbewohner Jeremy deutet im höflichen Understatement der britischen Südafrikaner an, dass es doch 350 Kilometer für eine Strecke waren,
und dass er vier Stunden allein für die Hinfahrt gebraucht habe. Da sein
Auto aber eine besondere Versicherung hat, die nur ihn als Fahrer zulässt,
kann ich ihn noch nicht einmal ablösen beim Fahren. Um überhaupt anzukommen, fährt er natürlich viel zu schnell für die erdigen Straßen, und
schließlich läuft ein Hase vor das Auto. Der Aufprall zerschlägt den Kühler,
die Ersatzteile müssen von VW in Deutschland eingeflogen werden, es wird
ein teuerer Ausflug. Als wir schließlich auch noch Harrys Bruder abgesetzt
haben, die Alarmanlage entsichern, um auf das Grundstück zu fahren, ist es
spät in der Nacht. Genau drei Uhr ist es, als ich schlafen gehe, 24 Stunden
Afrika nonstop liegen hinter mir.
„Es war unverantwortlich von Harry, dich mit so einem alten Auto in
diese Gegend mitzunehmen“, sagt Jeremy am kommenden Morgen. „Dein
ausländischer Akzent hat dich gerettet, wir wären dort totgeschlagen worden“, sagen die Eltern einer afrikaanssprachigen Freundin aus Johannesburg
zu mir, als ich ihnen von meiner Fahrt in den Norden erzähle. „Die Leute
da mögen die Weißen nicht, und sie haben allen Grund dazu“, fügt die
Mutter meiner Freundin hinzu. „Sie haben ihnen niemals etwas Gutes getan.“ Keiner meiner weißen südafrikanischen Freunde war je im ländlichen
Ausstrahlungsgebiet der Radiostation Moutse. Es gibt für sie keinen Grund,
dorthin zu fahren.
Südafrika, zehn Jahre nach den ersten freien Wahlen, zehn Jahre nach
Beginn einer demokratischen Regierung. Vieles hat sich geändert, vieles ist
geblieben.
4. Die Idee des Multi Purpose Community Centers –
und ein Ausflug ins Gefängnis
Bei mehr als 30 Grad fahre ich mit meinem alten Auto durch Johannesburgs
Großstadtverkehr. Johannesburg, oder kurz Jo’burg, hat das einfache quadratische Straßenmuster amerikanischer Großstädte, das die Stadt in Blocks
323
Dr. Sonja Kretzschmar
Südafrika
aufteilt. Theoretisch kann man sich gut zurechtfinden, wenn es nicht so viele
Einbahnstraßen gäbe. Aufpassen muss man im Straßenverkehr auf die vielen
Minibusse, voll gestopft mit Menschen, die oft die Spuren wechseln ohne zu
blinken, manchmal hält der Beifahrer lässig den Arm aus dem Fenster, anstelle eines Blinkers. Grundregeln für das Autofahren in Johannesburg, der
gefährlichsten Stadt der Welt: niemals mit offenen Fenstern fahren, immer
alle Türen von innen verschlossen haben, keine Tasche auf den Beifahrersitz
legen, niemals den Eindruck vermitteln, als würde man den Weg nicht kennen und wäre ein Tourist.
So kurve ich denn durch die Stadt, meinen Rucksack an den Füßen, damit
er nicht auf dem Beifahrersitz liegt, den Stadtplan auf dem Lenkrad, damit
ich mich nicht verfahre, natürlich mit geschlossenen Fenstern. Das hat den
Nachteil, dass die Temperatur im Auto auf etwa 40 Grad steigt: In meinem
Miet-Wrack ist natürlich keine Klimaanlage. Hinzu kommt der Linksverkehr,
bei dem ich auch nach einigen Wochen nicht die gleiche Routine habe wie in
Deutschland – es erfordert einigen Durchhaltewillen und etwas Glück, ohne
Unfall das Büro der Film Resource Unit (FRU) zu erreichen.
Dort treffe ich Desmond, er ist „Project Manager“ für ein neues Pilotprojekt, das FRU zusammen mit der südafrikanischen Regierung startet.
Über das ganze Land verstreut sollen „Multi Purpose Community Centres“
(MPCC) eingerichtet werden, vor allem in ländlichen Gebieten und städtischen Townships. Hier sollen Filme gezeigt werden, die die politische
Entwicklung des Landes thematisieren, über HIV-Infektionen aufklären,
Gesundheitsthemen behandeln, über Rechte der Arbeitnehmer informieren.
Neben den ländlichen Gebieten, in denen die Menschen sehr arm sind, sind
vor allem die Townships soziale Brennpunkte in Südafrika. Viele Menschen
wohnen auf engem Raum zusammen, oft ohne ausreichende sanitäre Anlagen. Die Arbeitslosigkeit ist nach dem Ende der Apartheid sprunghaft angestiegen, gerade in den Townships. Dabei hat die Gewalt in den Townships
eine lange Tradition: Während sie sich früher vor allem gegen die Polizei
richtete, die das weiße Apartheid-Regime verkörperte, ist sie heute vielfältiger. In den Townships leben heute viele Mitglieder von Banden, die in
die hoch gesicherten Villen der Weißen einbrechen. „Das sind die Helden
der Townships. Sie nehmen sich das von den Weißen, was sie sonst nicht
bekommen. Daher geht der ANC auch nicht gegen die Kriminalität vor.
Die stört fast nur die Weißen, und das ist eine Minderheit. Die TownshipBewohner wählen alle ANC“, erklärt mir Prof. Tuwana Kupe, der an der
Witwatersrand Universität arbeitet.
Aber auch die Gewalt der Township-Bewohner untereinander ist groß.
Vergewaltigung von Frauen gehört zum Alltag, die HIV-Infektion verbreitet sich sprunghaft. Alle wohlmeinenden Ratschläge, die HIV-Infektion zu
324
Südafrika
Dr. Sonja Kretzschmar
senken, wie „Treusein“, „Kein Sex vor der Ehe“ oder „Benutzt Kondome“,
die als Parolen in den Townships hin und wieder zu lesen sind, bleiben sinnlos, so lange die Frauen der Gewalt in ihrem Alltag nichts entgegensetzen
können.
Unklar ist, ob die Gewalt in den Townships heute wirklich so viel häufiger
ist als zu Apartheid-Zeiten. „Früher waren die Fronten klar, die Polizei gehörte zu den Weißen, daher hat niemand im Township der Polizei Überfälle oder
Vergewaltigungen gemeldet“, erklärt mir Sam, der Touristengruppen durch
Soweto führt. Das South-Western-Township (kurz SoWeTo), im Südwesten
von Johannesburg, ist sicher das berühmteste Township Südafrikas: Hier formierte sich der Widerstand gegen die Apartheid besonders massiv, Soweto
war lange Zeit Wohnort von Nelson Mandela und Bischof Tutu.
In Soweto wohnt auch Desmond von FRU, mit dem ich nach Bophelong
fahre, ein Township im Süden von Johannesburg. „Mit welchem Auto fahren
wir?“, fragt er mich, und in Erinnerung an Harrys marodes Auto entscheide
ich mich für mein fahrendes Wrack.
Immerhin ist der Reparaturservice zuverlässig. „Kann ich dort parken?“,
frage ich vorsichtig. Sichere Parkplätze müssen bewacht sein, an jedem
Supermarkt und an jeder Straße steht jemand, der das Auto einwinkt, bis zur
Rückkehr bewacht und dafür Geld bekommt. Diebstahlversicherungen werben mit Peilsystemen, mit denen gestohlene Autos wieder gefunden werden
können.
Wir fahren nach Süden, Desmond zeigt mir den Weg zum Township,
etwa 60 Kilometer von Johannesburg entfernt. Dort angekommen suchen
wir die Halle, in der die Filme gezeigt werden. Auch Desmond kennt sich
im Township nicht aus, er ist noch nie da gewesen, wie er mir nun mitteilt.
Schilder gibt es nicht, asphaltierte Straßen sowieso nicht, so fragen wir uns
durch, nehmen hier und da mal eine Frau mit Kind mit dem Auto mit, die
uns den Weg zeigt. Schließlich finden wir die Halle, Parken ist, vom Platz
her, kein Problem. Oder anders gesagt, es gibt unbegrenzt viele Parkplätze
vor der Halle. Mein Auto ist das einzige im Township. Alle anderen dort
fahren Minibus oder gehen zu Fuß.
Die Filmvorführung hat bereits begonnen. Es ist dunkel, etwa drei- bis
vierhundert Menschen sitzen auf Stühlen in einer leeren Lagerhalle, die
nun vorübergehend als „Community Center“ dient. Desmond übergibt mich
dem Filmvorführer Simon, der mir einen Stuhl besorgt. Der Film hat bereits begonnen. Anlass für die Vorführung ist der „Human Rights Day“, der
in Südafrika mit großem Aufwand gefeiert wird. Die Filme, die an diesem
Tag gezeigt werden, sollen „den Menschen die Geschichte des Kampfes um
ihre Rechte, des Kampfes für die Unabhängigkeit“ zeigen, hat mir Michael
325
Dr. Sonja Kretzschmar
Südafrika
Dearham erklärt, Leiter von FRU und ehemaliger Partisanenkämpfer für
Umkhonto We Sizwe (spear of the nation), den bewaffneten Arm des ANC.
Die Tonqualität des Filmes ist miserabel, und ich frage mich, wie viele
Menschen in der Halle wohl das völlig verzerrte Englisch verstehen. Die
Bilder jedenfalls sind einfach zu verstehen: Im Wesentlichen beschießen
weiße Soldaten aus Flugzeugen im Tiefflug schwarze Widerstandskämpfer.
Gewaltszenen werden mit lautem Gejauchze kommentiert, auch die Vergewaltigung einer uniformierten Widerstandskämpferin durch ihren Vorgesetzten wird bejubelt. Ich überlege, ob das eigentlich ein Film ist, der für
die vielen Schulkinder, die in ihren Uniformen zuschauen, geeignet ist.
Aber vielleicht habe ich auch eine falsche Vorstellung von einer beschützten Kindheit. Vielleicht gehört Gewalt auch einfach zum Alltag der Kinder
hier.
Währenddessen läuft der Film weiter, die Reaktionen der Zuschauer
werde immer lauter, alle Zuschauer begeistern sich für die Gewaltszenen
und letztendlich siegen natürlich die schwarzen Freiheitskämpfer, und auch
die Liebesgeschichte findet ihr Happy End. Ich bin froh, als der Film endet. Es ist die einzige Situation, bei der ich mich, als einzige Weiße unter
Schwarzen, unsicher fühle.
Simon, der fieldworker, der die Filme vorführt, bringt mich zu den
Jugendlichen, mit denen ich sprechen soll. Sie setzen sich gegen die Gewalt
im Township ein. Jede Woche gibt es etwa zwanzig „Vorfälle“, das heißt
Mord, Vergewaltigung, Überfall. Die Jugendlichen versuchen, die Täter
dazu zu bringen, Konflikte ohne Gewalt zu lösen. „Wir wollen das hier
nicht. Das ist jetzt unser Land “, sagt einer der Jugendlichen. Die Gruppe
trifft sich hin und wieder in der Polizeistation, Geld bekommt sie nicht, alle
arbeiten ehrenamtlich. Es ist eine Initiative der Jugendlichen, die nur einen
eigenen Stempel für Briefe besitzt, keine Adresse, kein Büro, kein Telefon,
keinen Computer.
Die Polizeistation
„Kann ich noch etwas von dem Township sehen?“, frage ich Simon. „Ja,
natürlich“, sagt er, stolz, die weiße Journalistin begleiten zu dürfen. Ihm
fehlen mehrere Zähne, er trägt eine rote Wollmütze, obwohl es mindestens
30 Grad warm ist.
„Es ist echt gut, dass ich diesen Job bei FRU habe“, sagt er stolz. „Wenn
ich keinen Job habe, kann ich nichts zu essen kaufen. Wovon soll ich leben?
Wenn ich dann sehe, dass du einen Geldbeutel hast, nehm’ ich ihn dir natürlich weg. Klar.“ Auch ich bin froh, dass Simon diesen Job hat und ich mein
Portemonnaie behalten kann.
326
Südafrika
Dr. Sonja Kretzschmar
Ein Äquivalent zur deutschen Sozialhilfe gibt es nicht in Südafrika, selbst
Arbeitslosengeld gibt es nur unter ganz bestimmten Bedingungen, und auch
dann nur kurze Zeit. Anschließend muss die Familie einspringen, wenn sie
kann. Viele Möglichkeiten, Geld zu verdienen, gibt es nicht.
Wir gehen zwischen den Hütten durch, auf der rotbraunen Erde liegen Plastiktüten, Müll in verschiedenen Haufen. Das Problem ist, dass es
gar nichts zu sehen gibt im Zentrum des Townships. Einige Hütten sind
rundum vergittert, das müssen die Läden sein, die so gegen Einbrüche geschützt werden. „Das ist die Polizeistation“, sagt Simon, erfreut, mir eine
Sehenswürdigkeit im Township zeigen zu können. Sie ist direkt neben der
Lagerhalle, wahrscheinlich ein Grund, die Filme hier vorzuführen. „Willst
du nicht ein Foto machen?“, fragt mich Simon. „Nein, danke“, sage ich.
„Kann ich eins von dir machen?“, fragt er, sichtlich stolz, mir seine Kamera
zeigen zu können. „Ja, klar“, sage ich, und lächle freundlich für Simon in
die Kamera.
„Was machen Sie da?“, fragt mich ein Polizist, der aus der Polizeiwache
kommt. Bevor ich antworten kann, antwortet Simon für mich. „Sie ist
Journalistin.“ Der Polizist deutet uns an, ihm zu folgen, und in der Wache
müssen wir noch einmal seinem Chef erklären, was wir hier tun. „Sie dürfen
keine Fotos von der Polizeistation machen“, sagt der Chef, „Sie hätten um
Erlaubnis fragen müssen.“ Das sind die letzten Worte, die er auf Englisch
und zu mir spricht. Er deutet uns an, ihm zu folgen, und ehe ich es ganz
verstanden habe, fällt hinter uns eine Gittertür in Schloss. Der Polizeichef
ist draußen, wir sind drinnen. Von nun an reagiert er auf mich überhaupt
nicht mehr und lässt sich nur noch von Simon dazu bewegen, auf Sotho zu
antworten. Er könne nicht entscheiden, was weiter mit uns passieren solle,
lässt er sich noch entlocken. Das müsse sein Chef tun, und der würde bald
kommen. Er ignoriert weiterhin all meine Versuche, die Sache noch mit ihm
auf Englisch zu besprechen und reagiert schließlich auch nicht mehr auf
Simon. Dem ist die Sache sichtlich peinlich, er dreht die Wollmütze in seinen Händen.
Zeit für eine SMS an meinen südafrikanischen Mitbewohner. „message
not sent“, lese ich auf dem Display meines Handys. Die Prepaid-Karte ist
alle. Was für ein günstiger Augenblick. Ich überlege, was wohl passiert,
wenn ich die Nacht im Gefängnis verbringen muss, niemandem Bescheid
sagen kann, und was wohl mit dem Auto passiert.
Auch nach einer halben Stunde ist nichts weiter zu erreichen. Wenn
die Zeitangabe „bald“ sich auf „African time“ bezog, den sprichwörtlich
großzügigen Umgang mit der Zeit, dann kann die Warterei hinter Gittern
Stunden dauern. In etwa eineinhalb Stunden wird es dunkel werden, und bei
Einbruch der Dunkelheit wird es noch gefährlicher. Ich überlege, wie lange
327
Dr. Sonja Kretzschmar
Südafrika
mein Auto unbewacht auf dem Parkplatz stehen kann, obwohl er nicht weit
von der Polizei entfernt ist, und wie ich hier wegkommen soll, wenn das
Auto nicht mehr fährt oder ganz einfach weg ist.
Doch wir haben Glück. Der Chef der Polizeiwache kommt nach einer
guten Stunde, und in Kombination von Simons FRU-Ausweis und meiner
Visitenkarte mit Doktortitel gelingt es uns, den Polizeichef soweit zu beeindrucken, dass wir, mit einigen Ermahnungen, gehen können.
Simon dreht seine Wollmütze in den Händen, als wir zum Community
Center zurückgehen. „Integration between black and white is still very difficult“, sagt er.
Mein Auto ist noch da, und aus dem Nichts taucht auch Desmond wieder
auf. Während der Rückfahrt nach Johannesburg schweigen wir beide. „Ist es
so wie der Teil von Soweto, wo du wohnst?“, frage ich Desmond. „Nein“,
sagt er. „Das kann man nicht vergleichen. Soweto ist viel weiter entwickelt.“
Ich denke an die Jugendlichen, die in ihrem Township leben, ohne irgendetwas zu tun, außer dem Engagement gegen Gewalt und den Befreiungsfilmen
am „Human Rights Day“. Aber kann man das jeden Tag acht Stunden lang
tun? „Wir denken darüber nach, einen Elektrozaun auf die Mauer um unser Grundstück zu setzen“, erzählt mir am Abend die Schwester meines
Mitbewohners. „Wir haben hier so viele Überfälle. Es ist so gefährlich.“
5. Der Film: Gespräch Teboho Malatsi
„Es ist mein erstes Mal.“ – „Willst Du es lieber mit einem anderen Schüler
tun, auf der Schultoilette, hinterm Busch oder im Auto, weil zu Hause deine Mutter ist?“ Mit diesen romantischen Worten beginnt die Affäre zwischen Kekeletso, kurz KK, die vielleicht vierzehn Jahre alt ist, und ihrem
Englischlehrer Elliot Khubeka, in dessen Wohnung. Sehr bald ist sie auch
schon wieder zu Ende. Dabei hatte KKs Freundin Nomsa doch vorher auf
dem Schulklo gesagt: „Du wirst eine Frau sein, und Mr. Khubeka ist der
Jackpot!“
Der ungeschminkte Alltag in einer Township-Schule ist das Thema der
Reihe „Yizo Yizo“ (zu Deutsch: „So ist es.“). „Saying the unsaid, seeing the
unseen“ ist das Motto der Serie, und was die Zuschauer zu sehen bekommen,
schockiert: Missbrauch, Vergewaltigung, Mord, Auto-Überfälle, Einbrüche,
Prostitution und HIV/AIDS. Mit vier Millionen Zuschauern wurde Yizo
Yizo zum Straßenfeger, der die Nation spaltete. „Kinder-Pornographie“ riefen ANC-Politiker und wollten die Serie, deren erste Staffel 1998 ausgestrahlt wurde, verbieten, als auch noch die Vergewaltigung eines Mannes
im Gefängnis thematisiert wurde. Nelson Mandela hingegen bekannte sich
328
Südafrika
Dr. Sonja Kretzschmar
als Yizo-Yizo-Fan, und so sah das neue Südafrika zum ersten Mal das im
Fernsehen, was dem weißen Publikum vorher nur als No-Go-Area bekannt
war: die Townships und seine Bewohner. Unter den Jugendlichen hat die
Serie längst Kult-Status erreicht. „Wenn man als junger Mann im Township
aufwächst, hat man zwei Möglichkeiten: sterben, bevor man 21 ist, oder im
Knast enden“, fasst Zola, eine der Hauptfiguren, die Lebensperspektiven
zusammen. Und obwohl viel „dagga“ (Marihuana) geraucht wird, Alkohol,
Tabletten und Gewalt zum Alltag gehören, ist Yizo Yizo keine traurig-sentimentale Milieustudie. Es gibt nicht nur Gewalt sondern auch Wärme, es
wird auch auf den Schultischen gerappt. Die erste CD mit dem Yizo-YizoSoundtrack erreichte den Platin-Status, die zweite lag schon bei dreimal
Platin, die der dritten Staffel, deren Ausstrahlung 2004 begann, wird noch
verkauft. Die Serie lief auf verschiedenen Festivals weltweit, CNN, BBC,
das kanadische CBC, Sky, die ARD und Arte berichteten über Yizo Yizo
oder zeigten Teile der Serie. „Yizo Yizo war wie starker Kaffee – es hat alle
aufgeweckt“, heißt es in der Filmbroschüre, und die Laiendarsteller, allesamt Township-Bewohner, sind in Südafrika eine Art Stars geworden, viele
spielen mittlerweile auch in anderen Fernsehserien mit. Fünf Avanti-Preise
(das südafrikanische Äquivalent des Emmy) hat die Serie gewonnen, u.a.
für die beste Schauspielerin und den besten Regisseur.
Teboho Mahlatsi ist der Regisseur und Macher von Yizo Yizo. Zusammen
mit einigen anderen Kollegen hat er die Filmproduktionsfirma „the bomb
shelter“ im Norden von Johannesburg gegründet. „Ich komme aus dem
Free State, einer halb-ländlichen Region, wollte Filmemacher werden,
und bin deshalb nach Johannesburg gekommen. Als ich die Filmschule im
„Africa Culture Centre“ besucht habe, habe ich selber in Soweto gewohnt.
Ich kenne das Township und das Leben dort gut.“ Mit „Ghetto-Diaries“,
einer Dokumentarfilmreihe über Township-Bewohner, hat Teboho Mahlatsi
angefangen, Yizo Yizo war seine erste Fiction-Produktion. „Es gab diese
Ausschreibung von SABC (South African Broadcasting Corporation, das
südafrikanische öffentlich-rechtliche Fernsehen). Das Thema „Schule“
sollte im Mittelpunkt der Serie stehen. Ich habe ein Drehbuch-Konzept geschrieben, und das wurde dann angenommen“, erzählt Teboho.
Mit der dritten Staffel, deren Ausstrahlung im Sommer 2004 begann, ist
dann aber Schluss mit Yizo Yizo. „Die Schüler werden eben älter, verlassen
die Schule, fangen ihr eigenes Leben an. Das verfolgen wir noch, aber dann
löst sich die Gruppe auf. Yizo Yizo war eine Art Startschuss: Serien wie
Gazlam oder Cha-Cha führen heute unsere Themen weiter. Maria McCloy
macht die Homepage für Jugendkultur von „Rage“, Greg Maloka und sein
Team machen das Jugendradio „Radio Y“: der Alltag der Jugendlichen ist
ein Thema geworden, in allen Medien.“ Ein Medienthema, obwohl die
329
Dr. Sonja Kretzschmar
Südafrika
Nutzer dieser Medien längst nicht die ganze Regenbogennation umfassen.
Zuschauerzahlen sind nicht nach Gesellschaftsschichten aufgeschlüsselt:
Allen meinen schwarzen Interviewpartnern und Freunden war Yizo Yizo
ein Begriff, von den Weißen kannte es keiner. Immerhin sind die ZuluSequenzen, die Sprache, in der die Jugendlichen untereinander reden, wenn
sie nicht mit Lehrern Schul-Englisch sprechen, auf Englisch untertitelt. Falls
doch einmal ein Zuschauer einschaltet, der kein Zulu versteht.
6. Die Presse: Auf einen Tee zum „Star“
„Wen erkennen Sie auf diesem Bild?“ – „Lenin, Zar Peter I., Stalin“, sage
ich; eine Gruppe von Männern aus unterschiedlichen Zeiten, in Öl gemalt.
Das Bild hängt im Büro von Peter Sullivan, Herausgeber der IndependentZeitungsgruppe, dem größten Medienkonzern für Tageszeitungen in
Südafrika. Der Independent gibt mehr als zehn regionale englischsprachige Tageszeitungen heraus. Ich würde gern etwas über die Zeitung fragen,
muss aber zuerst weiter russische Staatsführer benennen. Es ist kein Spiel,
es ist ein Test. „Die anderen? Wer sind die anderen?“, hakt Sullivan nach.
Breschnew rate ich nicht, aber alle anderen erkenne ich, inklusive den Chef
der russischen Übergangsregierung von 1917. „Kerenski? Den hat nicht einmal der russische Botschafter erkannt.“ Peter Sullivan, dessen Familie seit
vielen hundert Jahren in Südafrika lebt, zieht die Augenbrauen hoch. Nun
zeigt er mir Fotos von seiner Familie zusammen mit Nelson Mandela und
lädt mich dann ein, auf dem Sofa im Büro Platz zu nehmen. Es gibt Tee, was
sonst bei traditionsbewussten britisch-stämmigen Südafrikanern.
„Ursprünglich wurden die Zeitungen der Argus-Gruppe vom Goldminenkonzern Anglo American gemacht, ohne jegliches Profitziel. Die Verbreitung von Informationen war nur ein Nebenprodukt des Konzerns, Profit wurde mit der Goldförderung ohnehin erzielt“, erklärt Sullivan die Geschichte
der Zeitungsgruppe. Nach dem politischen Umschwung änderte sich das, seit
1993 sollten auch die Zeitungen Profit erwirtschaften, der irische Verleger
O’Reilly kaufte den Verlag. „Früher haben sie uns Geld gegeben, um gute
Zeitungen zu machen. Heute wollen sie mit guten Zeitungen Geld machen,
und das ist etwas völlig anderes.“ Zugpferd des Verlags ist die Tageszeitung
„Star“, mit mehr als 165.000 Exemplaren Südafrikas auflagenstärkste
Tageszeitung. „Unter den Zeitungen ist es im Moment der Toyota“, beschreibt er das Blatt, „aber wir wollen mindestens einen Volkswagen daraus
machen. Mit dem Zwang zum Profit kann es kein Mercedes werden wie die
Frankfurter Allgemeine Zeitung in Deutschland.“
330
Südafrika
Dr. Sonja Kretzschmar
Zu Apartheidszeiten waren die englischsprachigen Medien in Südafrika traditionell regierungskritisch, die afrikaanssprachigen regierungsfreundlich.
„Unsere Chance war der Fall der Berliner Mauer. Sonst hätten wir uns
nach der Apartheid entscheiden müssen: für Washington oder für Moskau.
Jetzt sind wir ein freies Land, und was wir tun, das tun wir für uns selber. In
den vergangenen zehn Jahren konnte Südafrika sich selber finden.“
In dieser Zeit hat das Verhältnis zwischen Regierung und Medien verschiedene Höhen und Tiefen erlebt. „Mandela, der hatte ein gutes Verhältnis
zu den Medien. Wenn etwas war, hat er mich angerufen, wir haben das besprochen. Mbeki ist da anders. Die Situation vor 2001 war einfach schwierig, für beide Seiten. Wir Journalisten wussten, dass die Mitglieder der neuen Regierung praktisch über Nacht zu Politikern geworden waren. Vorher
waren sie Widerstandskämpfer. Wir wussten das zwar, aber wir haben nicht
verstanden, dass da natürlich viel Erfahrung fehlte. Wir englischsprachigen
Journalisten hatten vorher immer die Apartheidregierung kritisiert, und jetzt
haben wir einfach die neue Regierung kritisiert. Und die haben gedacht,
die Weißen aus den Medien kritisieren die schwarze Regierung, die wollen die Apartheid zurück. Sie waren überempfindlich Kritik gegenüber.“
Das Verhältnis von Regierung und Medien wurde immer schlechter, die
Zusammenarbeit wurde immer schwieriger, Informationen für Journalisten
waren immer schwerer zu bekommen. Medien- und Regierungsvertreter trafen sich im Jahr 2001 in Sun City, nahe Johannesburg, zu einer Konferenz.
„Der Anfang der Konferenz, der erste Tag, war dröge und schwerfällig.
Abends traf sich an einem Tisch per Zufall eine Runde von Journalisten und
Politikern, Thabo Mbeki war dabei. Wir haben dann plötzlich offen geredet,
wir haben uns gestritten, uns angeschrieen – aber wir haben gut gestritten,
wir haben uns dabei kennen gelernt. Alle Spannungen sind herausgekommen, und das war gut. Auch heute gibt es eine Art von Feindlichkeit zwischen Politikern und Journalisten, aber das muss auch so sein, sonst funktioniert Demokratie nicht. Aber so schlimm wie damals, in den Jahren vor
2001, wird es nicht mehr werden.“
Wir trinken den Tee aus, und Peter Sullivan führt mich noch durch die
Redaktion und zeigt mir den einzigen „pale male“, den männlichen weißen
Volontär des Jahrgangs. „Newsroom diversity“, das Besetzen von Stellen
durch Frauen und Nicht-Weiße, beziehungsweise der Kombination von beidem, ist für den Independent-Verlag ein wichtiges Prinzip. „In Durban ist
noch die Hälfte der Redaktion weiß, in Kapstadt noch etwa ein Fünftel,
in Johannesburg fast niemand mehr“, fasst Sullivan die Tendenz zusammen. „Johannesburg steht immer am Anfang der neuen Entwicklungen in
Südafrika.“ Die Mischung von ethnischen Gruppen im Konzern erreicht
aber nur die Redakteure: alle Mitglieder der Verlagsleitung sind weiß. „Das
331
Dr. Sonja Kretzschmar
Südafrika
ist noch so“, gibt Sullivan zu. „Aber wir sind auf dem Weg, Dinge in diesem
Land zu ändern. Wir haben schon viel geschafft.“
7. Das Internet: Black Rage
Es war eine Idee von Journalistik-Studenten. Damals, 1996, trafen sie
sich in Grahamstown, einer kleinen Studentenstadt an der Küste. Dzino, der
sich selber so nennt und aus Zimbabwe kommt, Kuloano Skosana aus dem
Township Soweto bei Johannesburg und Maria McCloy. Marias Vater kommt
aus Großbritannien, ihre Mutter aus Lesotho, dem kleinen unabhängigen
Königreich innerhalb Südafrikas. „Wir waren von der Kwaito-Bewegung
Anfang der 90er Jahre beeindruckt, wir mochten Hip Hop und lasen diese
amerikanischen Jugendmagazine: ‚Vibe‘, ‚Source‘, ‚Face‘. So etwas wollten wir auch machen. Die Stadtkultur der Jugendlichen in Südafrika wollten
wir zeigen, dazu gab es einfach nichts“, erzählt mir Maria. Kwaito ist eine
eigene Musikrichtung, die sich in Südafrika gebildet hat, hier sehr beliebt
ist, und längst auch über die Grenzen hinaus bekannt ist.
„Wir haben dann zusammen ein Konzept für eine Zeitschrift entwickelt,
zwei Verleger waren auch sehr interessiert daran. Aber es waren eben große Konzerne, sie wollten unser Konzept umsetzen, und wir wären nur die
Angestellten gewesen. Das wollten wir nicht. Wir Schwarzen haben in
Südafrika nie etwas besessen, wir wollten damit nicht weitermachen. Es
sollte unsere eigene Zeitschrift sein.“
Wie alle großen Industriezweige so sind auch die privaten Medienkonzerne
in Südafrika überwiegend in der Hand von Weißen. Die neue Regierung versucht zwar, mit dem Programm „Black Media Ownership“ Konzerne zum
Verkauf von Aktienpaketen an Schwarze zu bewegen, aber das Programm
ist nur mäßig erfolgreich. „Die Renditen im Medienbereich sind längst nicht
so hoch und schnell wie in anderen Bereichen“, hat mir Mathatha Tsedu von
SANEF (South African National Editors Forum) bei einem Besuch bei City
Press erklärt. „Das macht sie für Aktionäre nicht sehr attraktiv.“
Maria und ihre Freunde haben das Magazin dann als eigene OnlineZeitschrift gestartet, unter „http://www.rage.co.za“ ist es heute online,
mit monatlich aktuellen Meldungen über Konzerte, Veranstaltungen und
Entwicklungen in der „Urban Culture“. „Black Rage“ heißt die eigene
Medienproduktionsfirma, „Outrageous“ das eigene Label. Die drei Freunde
geben selber CDs heraus und entwickeln gerade ein Konzept für eine
Sendereihe über neue schwarze Musik in Südafrika, die auf dem öffentlichrechtlichen Fernsehsender SABC1 ausgestrahlt werden soll.
332
Südafrika
Dr. Sonja Kretzschmar
Leben können die drei einigermaßen davon: Die Website ist zwar kostenlos,
fungiert aber als Schaukasten, über die diejenigen auf „Black Rage“ aufmerksam werden, die sich für die Straßenkultur der Jugendlichen interessieren. Journalisten nutzen das Insider-Wissen der Rage-Mitarbeiter für eigene
Beiträge über die Musik-Szene, Produzenten von Werbe-Clips lassen sich
von ihnen beraten, und natürlich soll auch die Musik des eigenen Labels
über die Website vermarktet werden.
„Südafrika ist viel mehr als nur Kriminalität. Die Website ist einfach
Teil einer Bewegung: die Jugendlichen in den Städten machen ihre eigene
Musik, eigene Sendungen, und informieren sich darüber über das Internet“,
sagt Maria. „Wir zeigen dieses neue Südafrika, wir sind ein Teil davon.“
8. HIV / AIDS – das ungeliebte Medienthema
„Es ist dein Körper! Wenn du HIV-positiv bist, sag deinem Mann, dass
du willst, dass er Kondome benutzt!“ Der weiße Mann, etwa Mitte dreißig,
blonde kurze Haare, gestikuliert entschlossen mit den Händen. Die schwarze Frau, etwa gleich alt, sitzt ihm gegenüber auf dem Sofa. „Ja, weißt du,
nicht alle Frauen haben Arbeit, und sie haben Kinder. Sie fragen: Was soll
ich morgen essen, wenn er mich verlässt für eine, bei der er keine Kondome
nehmen muss?“
Der Rest der Selbsthilfegruppe schweigt. Es ist nicht einfach, AIDS anzusprechen, nicht in der Beziehung, nicht bei der Familie, nicht in der Arbeit.
Die Mitglieder der Selbsthilfegruppe, deren Treffen von der FernsehSendung „Beat it!“ verfolgt werden, haben diese Gespräche schon hinter
sich. Es sind Schwarze und Weiße, eine Muslimin mit Kopftuch ist auch
dabei. Sie sprechen Englisch, Afrikaans und verschiedene afrikanische
Sprachen, die in der Ausstrahlung auf dem englischsprachigen Privatsender
E-TV untertitelt werden. Das neue Südafrika, die Regenbogen-Nation, trifft
sich in der HIV-Selbsthilfegruppe.
Hier erfahren sie, dass über AIDS in den Familien geschwiegen wird, in
denen der weißen afrikanischen Buren ebenso wie in denen der Schwarzen
oder in denen der muslimischen Gemeinden. Aber: Zum Schluss geht es all
denjenigen, die diese Gespräche geführt haben, besser. Auch wenn sie viele
Jahre gebraucht haben, um es auszusprechen.
„Beat it!“, ein kämpferischer Ausruf, HIV zu begegnen, ist eine FernsehReihe, deren Stücke jeweils 26 Minuten lang sind. Ein schwarzer Moderator
und eine schwarze Moderatorin führen durch die Sendung, manchmal tragen auch sie T-Shirts mit der Aufschrift: „Yes, I am HIV-positive“. Bei den
Gesprächen in der Selbsthilfegruppe steuern sie eigene Erfahrungen bei,
333
Dr. Sonja Kretzschmar
Südafrika
denn auch sie leben mit AIDS. Sie sprechen mit Schülern, die HIV-infiziert
sind und diskutieren mit Schulleitern, warum es keine Kondom-Automaten
in den Schultoiletten geben darf.
„Beat it!“ ist eine Produktion der freien Fernsehfirma „Idol Pictures“, die
von den Filmemachern Zackie Achmat und Jack Lewis 1992 gegründet wurde. Die Fernsehreihe wird von verschiedenen NGO-Geldgebern gefördert,
die meist aus dem Ausland kommen. Auf dem privaten Sender E-TV lief sie
als eine Art Anzeigensendung – nicht nur die Produktionskosten, auch der
Sendeplatz musste bezahlt werden. Seit sich die AIDS-Politik der Regierung
geändert hat, und seit 2004 Anti-AIDS-Medikamente ausgegeben werden,
wurde auch den Fernsehmachern des öffentlich-rechtlichen SABC klar, dass
AIDS als Thema im Programm vorkommen muss. Im Juli 2004 startete die
neue Staffel von „Beat it!“, die in 26 Folgen am Sonntagnachmittag auf
SABC 1 läuft. Für Zackie Achmat und Jack Lewis ist die Produktion von
„Beat it!“ eine logische Folge aus ihrem privaten Engagement.
„Wir waren beide bei der Treatment Action Campaign (TAC) aktiv, wir
sind beide Filmemacher, da war es klar, etwas zu AIDS zu machen.“ TAC
ist die südafrikanische Bürgerbewegung, die sich für eine bessere AIDSPolitik in Südafrika einsetzt, seit sich das Virus Ende der 80er Jahre im Land
ausgebreitet hat. Heute kämpft sie dafür, dass retrovirale Medikamente an
HIV-Kranke abgegeben werden dürfen, was in Südafrika lange Zeit verboten war. Mit der rasend schnellen Verbreitung von HIV in Südafrika haben sich auch die Themen von „Beat it!“ verändert. Während am Anfang
noch Prävention im Vordergrund stand, geht es jetzt vor allem darum, den
Alltag der Infizierten lebenswert zu gestalten. In den Townships sterben
die meisten Menschen mittlerweile an Tuberkulose (TBC), die sich durch
die Immunschwächekrankheit AIDS ungehindert ausbreiten kann, und der
die schlecht ernährten und geschwächten Menschen wenig entgegensetzen können. Jack Lewis erklärt: „Es gibt in diesem Land eine unglaubliche
Ungleichheit, die sich gerade auch beim Thema AIDS zeigt. Da brauchen
wir Medien, die nicht nur Nachrichten bringen und Unterhaltung. Sie müssen auch eine soziale Agenda vorgeben, Themen ansprechen, die in unserem
Land gelöst werden müssen. Dafür arbeiten wir mit „Beat it!“.“
9. „Giving access“: den Zugang schaffen. Die Gemeinde-Radios
„Das Geld ist nicht das Wichtigste. Es geht um die Einstellung der
Menschen, die muss sich ändern. Sonst kann man in jede NGO so viel Geld
reinpumpen, wie man will, das bringt gar nichts. Das Ändern der Einstellung
ist schwierig, klar. Man muss bei dem Schulsystem anfangen: die Schule
334
Südafrika
Dr. Sonja Kretzschmar
soll Kinder ausbilden, die sagen: ‚Ja, ich bin für mich selber verantwortlich.’ Im Moment fallen hier 70 Prozent aller Kinder durch das Raster dieses Schulsystems. Sie haben das Wichtigste nicht gelernt: Sich selber zu
organisieren, ihre eigene Zeit und ihre Arbeit einzuteilen, Verantwortung zu
übernehmen.“
Faiza Abrahams-Smith leitet das National Radio Community Forum
(NCRF), den gemeinnützigen landesweiten Zusammenschluss aller
Gemeinde-Radios Südafrikas. In Orlando, Soweto, wurde die NCRF 1993
gegründet, als die ersten freien Community Radios den Sendebetrieb aufnahmen. Für die Gemeinderadios, die aufgrund von spärlichen Werbeeinnahmen
in strukturschwachen Gebieten chronisch unterfinanziert sind, ist die
NCRF Ansprechpartner für Probleme aller Art. Finanzierung, Programm,
Ausbildung der ehrenamtlichen Mitarbeiter, Organisation der Radiostationen.
„Die Gründung der MDDA (Media Development & Diversity Agency), die
die Gemeinderadios finanziell unterstützen kann, war ein großer Fortschritt:
wir haben dafür gekämpft, Lobbyarbeit betrieben. Das Problem ist, dass die
MDDA zu wenig Geld hat, um den Gemeinderadios langfristig zu helfen.
Die kommerziellen Medien sollten mehr Geld an die MDDA zahlen; bis
jetzt reicht das Geld nicht für eine dauerhafte Unterstützung.“
Die Finanzierung der Gemeinderadios wird weiterhin ein Problem bleiben, Werbeeinnahmen sind in strukturschwachen Gebieten kaum zu bekommen, Arme sind keine interessante Zielgruppe für die Wirtschaft. „Natürlich
ist noch längst nicht alles perfekt hier in Südafrika. Aber diese Regierung hat
schon jetzt mehr für die Armen getan, als alle anderen Regierungen in diesem
Land vorher.“ Eng verbunden mit der Unterfinanzierung der Radiostationen
ist die Programmproduktion: ohne Geld können keine Transportkosten für
Journalisten oder Interviewpartner gezahlt werden, manchmal reicht das
Geld gerade für den Strom zum Betrieb der Sendeanlage.
Den Programmaustausch von produzierenden Sendern über Satelliten
an neun regionale Verteiler organisiert die NCRF von Johannesburg aus:
Themen sind HIV/AIDS, Frauenförderung, Entwicklungsthemen. „Es ist
eine Herausforderung für die Gemeinderadios, die Politik für die Menschen
zu entmystifizieren, ihnen Informationen zu vermitteln, zu denen sie bis
jetzt keinen Zugang hatten. Das ist eine Errungenschaft dieser Radios: einen
Informationsfluss zu schaffen, wie es ihn in Südafrika nie vorher gegeben
hat.“
Neben den Programminhalten ist auch die Ausbildung der freiwilligen und
unbezahlten Mitarbeiter ein wichtiges Ziel der Gemeinderadios. Für viele
Menschen in den Townships und den ländlichen Gebieten ist es die einzige
Chance, eine Ausbildung zu bekommen, mit der sie später Geld verdienen
können. „Die Gemeinderadios bilden aus, und die ausgebildeten Freiwilligen
335
Dr. Sonja Kretzschmar
Südafrika
können dann zu kommerziellen Radiostationen wechseln, und arbeiten dort
als Radiojournalisten“ erklärt Faiza Abrahams-Smith. Auch dafür ist das
Geld der MDDA notwendig, die erst von der neuen ANC-Regierung ins
Leben gerufen wurde. „Es ist keine Honeymoon-Beziehung zwischen der
Regierung und uns, wir streiten viel“ sagt Faiza Abrahams-Smith. „Aber es
ist unsere Aufgabe als Organisation der Bürger, sie verantwortlich für die
Menschen zu machen, sie dazu zu bringen, sich zu engagieren. Es ist ihr Job,
wir von der NCRF sorgen dafür, dass sie ihn auch umsetzen.“
10. Das Fernsehen: SABC, größter Nachrichtenproduzent Afrikas
Der Kameramann macht eine Handbewegung zu meinem Handy. Während
der Vorspann schon läuft, schalte ich es ab. Sonst hätte es am Ende noch
geklingelt, live in der Hauptnachrichtensendung „News“, die täglich auf
SABC 3 läuft. Die Sendung wird nicht im Studio produziert, sondern direkt
aus der Großraum-Nachrichtenredaktion von SABC gesendet. Während im
Hintergrund die anderen Journalisten arbeiten, spricht die Moderatorin die
Texte, die sie vorher versucht hat auswendig zu lernen. Einen Teleprompter,
der es Moderatoren erlaubt, ihre Texte direkt aus der Kamera abzulesen, gibt
es nicht.
„News“ ist die einzige englischsprachige Nachrichtensendung des
Tages, die es innerhalb der Programme der drei öffentlich-rechtlichen
Fernsehsender SABC1, 2 und 3 gibt. Alle anderen Nachrichten-Sendungen
werden in verschiedenen anderen Sprachen gesendet. „Wir senden elfsprachig, das gibt es sonst nirgendwo auf der Welt“, sagt Jimi Mathews, Head
of News Department von SABC. Seit der politischen Wende in Südafrika
gibt es die elf offiziellen Sprachen in Südafrika, und der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist verpflichtet, Nachrichten in allen Sprachen anzubieten.
Im Radioprogramm ist das kein Problem, im Fernsehen ist es schwieriger,
weil die Produktionskosten hier viel höher sind. „Im Newsroom sprechen
alle Englisch, aber unsere Reporter müssen mindestens zweisprachig sein.“
Das Team fährt zum Drehen raus, anschließend wird dasselbe Material mindestens für drei bis vier Sprachversionen genutzt. Regionale Nachrichten
gibt es nicht, einzelne Regionalstudios liefern ihre Beiträge nur für das landesweite Programm zu. Gerade für Sprachgruppen, die sich regional genau
eingrenzen lassen, wäre ein eigenes Fenster zwar sinnvoll, lässt sich aber
nicht finanzieren. So werden die Nachrichtensendungen für die kleineren
afrikanischen Sprachgruppen, wie SiSwati und Ndbele, schon nachmittags
um 17 Uhr gesendet, wenn sie von einem großen Teil des Publikums gar
nicht gesehen werden können. Aus Sicht der Programmmacher ist das ver336
Südafrika
Dr. Sonja Kretzschmar
ständlich: Obwohl SABC ein öffentlich-rechtlicher Sender ist, finanziert er
sich zu mehr als 80 Prozent über Werbung. Um den „Audience Flow“ aber
zu halten, um also einmal erreichte Zuschauer von einer Sendung in die folgende mitzunehmen, sind Programme in Randgruppensprachen allerdings
tödlich. So werden die Nachrichtensendungen der meisten afrikanischen
Sprachen auf schlechten Sendeplätzen am Nachmittag versteckt: Damit
wird der Programmauftrag zwar erfüllt, den Zuschauern, die einen normalen
Arbeitstag haben, aber dennoch Nachrichten in ihrer Muttersprache sehen
wollen, nützt das wenig.
„Man kann den größten Teil der Zuschauer nicht einfach ignorieren, und
der spricht eben vor allem Englisch“, sagt Jimi Mathews. Englisch als lingua franca auf dem ganzen Kontinent zu etablieren ist auch ein Nebeneffekt
des neuen Projektes von SABC: Der Satellitensender SABC Africa, der über
dem ganzen Kontinent ausgestrahlt wird. „Seit dem Irakkrieg war klar, dass
wir nicht mehr nur von CNN abhängig sein wollen, dass wir einen eigenen
Nachrichtensender brauchen, der unabhängig berichtet. Dieser Bereich ist
für SABC der interessanteste Entwicklungsbereich, für SABC Africa arbeiten jetzt schon etwa 150 Mitarbeiter, wenn die technischen Mitarbeiter eingerechnet werden.“ Dabei soll SABC Africa, produziert in Johannesburg,
mehr sein als eine Abspielstätte von Bildern und Texten internationaler Bildund Textagenturen. „Wir haben extra ein News Desk hier und ein weiteres
in Äthiopien für SABC Africa. Oft schicken wir Reporter raus, die nur für
diesen Sender berichten. Das wollen wir ausbauen“, sagt Jimi Mathews.
„In den anderen afrikanischen Ländern wird SABC Africa oft kritisch
gesehen. Viele denken, SABC will einfach nur das CNN von Afrika werden. Eine Art Medien-Imperialismus. Schon heute ist Südafrika das Land,
das in Afrika den Ton angibt, wirtschaftlich und auch politisch“, sagt Peter
Schellschmidt, Leiter der Medienprojekte der Friedrich-Ebert-Stiftung im
südlichen Afrika, mit Sitz in Windhoek, Namibia.
Die eigenen SABC-Nachrichten „News“ werden jetzt schon auf SABC
Africa ausgestrahlt und können in mehr als 40 afrikanischen Ländern empfangen werden.
Für heute ist die Nachrichtensendung aber erst einmal zu Ende. Das
Gesicht des neuen Südafrika geht sich abschminken, es ist weder schwarz
noch weiß: die Moderatorin gehört zur Gruppe der Südafrikaner indischer
Herkunft.
337
Dr. Sonja Kretzschmar
Südafrika
11. Die Medienwissenschaft und die NGOs: Prof. Tuwana Kupe und
Jane Duncan
Es dauert eine Weile, bis ich den Seminarraum an der Witwatersrand
University, kurz „Wits“ genannt, gefunden habe. Das liegt nicht nur an der
verwirrenden Architektur auf dem Campus, sondern auch daran, dass ich
ohne Studenten-Chip nicht durch die Sicherheitsschleuse am Eingang komme. Erst ein Pförtner, den ich über ein Außentelefon herbeirufen kann, lässt
sich davon überzeugen, dass ich wirklich zu einem Seminar will, ohne als
Studentin eingeschrieben zu sein.
Etwa zwanzig Studenten sind gekommen zu der Veranstaltungsreihe
„Transformation of the Media – Reflections on Ten Years of Freedom“, die
Tuwana Kupe, Professor für Medienwissenschaften, zusammen mit Jane
Duncan, Leiterin des FXI (Freedom of Expression Institute), an der Wits
University durchführt.
„Die Medien in Südafrika haben sich in den letzten Jahren ähnlich entwickelt wie in Ost-Deutschland“, beginnt Professor Kupe, „weg von staatlich
kontrollierten Medien zu einer privaten Medienwirtschaft.“ Ich überlege,
ob ich vielleicht einige Unterschiede zwischen beiden Systemen klarstellen
soll, entscheide mich aber dagegen. Schließlich geht es nicht um die spezielle Situation ostdeutscher Medien, sondern um Südafrika.
Tuwana Kupe spricht viele Probleme der letzten zehn Jahre an, die mir
auch verschiedene andere Interviewpartner immer wieder bestätigt haben.
Zum einen kam es nach der politischen Wende fast in allen Redaktionen
zu einem kompletten Austausch des Personals. In öffentlich-rechtlichen
Medienanstalten sollten die Stellen nun vor allem mit „formerly underprivileged persons“ (FUP) besetzt werden, eine Regel, die auch alle Betriebe betrifft, die mit Regierungsbehörden zusammenarbeiten; das Prinzip der „affirmative action“ ist dabei aus den USA übernommen worden. Viele Weiße
sahen darin zum einen das Ende ihrer Karrierechancen in Südafrika; zum
anderen waren nach der Wende auch die Reisebeschränkungen gelockert,
viele weiße Journalisten leben und arbeiten seitdem dauerhaft in den USA
oder Großbritannien.
Eine neue Regierung musste relativ schnell besetzt werden: Gerade
Journalisten wechselten in großer Zahl in die Politik oder wurden
Pressesprecher für Behörden und Regierungsinstitutionen. Es kam zu einer
„Juniorisation“, zu einer radikalen Verjüngung der Redaktionen: Die neuen, nachrückenden Journalisten hatten relativ wenig Erfahrung. Obwohl das
nun schon zehn Jahre her ist, hat sich das Grundproblem nicht wesentlich
geändert. „Die Gehälter, die in Südafrika im Journalismus heute gezahlt
werden, sind meist so niedrig, dass die Leute nach der Einarbeitungsphase
338
Südafrika
Dr. Sonja Kretzschmar
schnell die Branche wechseln. Kaum jemand in den Redaktionen hat mehr
als fünf Jahre Arbeitserfahrung“, hat mir Mathatha Tsedu von SANEF erklärt. Das schlägt oft auf die Qualität der Berichterstattung, Lösungen sind
für dieses Problem nicht in Sicht. „Guter Journalismus, der viel Zeit für
Recherche braucht, dafür aber Missstände aufdecken kann, rechnet sich finanziell oft nicht; das ist in Südafrika auch nicht mehr anders als in westlichen Industrienationen. Früher wurden Themen der Schwarzen von den
weißen Medien unterdrückt. Im Prinzip ist das heute anders, aber wenn beispielsweise in Soweto der Strom abgeschaltet wird, weil die armen Leute
dort die Rechnungen nicht bezahlen können, dann berichten die Zeitungen
darüber kaum. Das ist kein politischer böser Wille. Aber die kommerziellen
Medien, wie Tageszeitungen, berichten eben über Themen, die ihre Leser
interessieren. Sie zielen auf kaufkräftige Lesergruppen, denn die sind attraktiv für die Anzeigen, die die Zeitung finanzieren. Die Bewohner der
Townships aber sind arm, sie sind keine Bevölkerungsgruppe, die für die
Wirtschaft interessant ist, denn sie können nichts kaufen. Das ist ein Problem
unseres kommerzialisierten Mediensystems: dass die Interessen der Armen
nicht wahrgenommen werden“ sagt Jane Duncan, Leiterin des FXI, die im
Anschluss an Prof. Kupe spricht.
Die zuhörenden Studierenden nicken beifällig. Ob sie die neue soziale
Bewegung bilden werden, um das Mediensystem der Zukunft zu befreien,
wie Jane Duncan es fordert?
12. Der Abschied
Mein südafrikanischer Mitbewohner bringt mich zum Flughafen in Johannesburg. „Und, wie war es?“ fragt er mich, als wir nach dem Einchecken
des Gepäcks noch einen Kaffee trinken und darauf warten, dass ich boarden kann. „Anders“, sage ich. „Nüchterner.“ Das Land aus meinen Kindheitsträumen, das wunderbare Urlaubsland, das Vorzeigeland eines neuen
Südafrika mit friedlichem Übergang, es ist realer geworden. Ich habe den
Lack der Oberfläche abgekratzt, und darunter war nicht nur die freundliche
Regenbogennation.
Jeremy, mein Mitbewohner, ist typisch für viele südafrikanische Weiße,
die ich in meiner Zeit von Februar bis April 2004 getroffen habe. Geboren
in Namibia, aufgewachsen in Zimbabwe, das damals noch Rhodesien war.
Sein Vater hat dort eine Mine geleitet. Zum Internat ging es erst mit bewachtem Autokonvoi, und als auch das zu gefährlich wurde einmal im Monat mit
dem Flugzeug nach Hause. Als die ersten Einschusslöcher am Flugzeug zu
sehen sind, verlässt seine Familie das Land, und zieht nach Johannesburg,
339
Dr. Sonja Kretzschmar
Südafrika
Südafrika. Heute arbeitet er als Ingenieur in einer Softwarefirma. Alle seine
Freunde sind Weiße.
Er möchte, dass ich einen guten Eindruck von Südafrika mitnehme. „All
das, was du hier siehst, die Straßen, die Städte, die Autos – und, woher kommt
das? Wer hat den ganzen Wohlstand hier aufgebaut?“, fragt er. Nein, denke
ich, den Gefallen tue ich ihm nicht. Ich sage nicht: „Die Weißen“, sondern
etwas anderes. „Das Land verdankt den Reichtum seinen Goldminen. Die
konnten billig ausgebeutet werden, weil die Schwarzen dort für wenig Geld
zur Arbeit gezwungen wurden. Sie mussten der Regierung Steuern zahlen,
mit Geld, das auf dem Land nicht zu verdienen war. So hat es die weiße
Regierung geschafft, die Männer zum Abwandern in die Minen zu bringen,
um dort für wenig Geld einen lebensgefährlichen Job zu machen.“
„Ja? War das so? Das wusste ich gar nicht, das mit den Steuern“, sagt
Jeremy, der weiße Südafrikaner.
Abends wird er wieder mit seinen Freunden am Pool sitzen, während die
schwarzen Hausangestellten die auf der Straße geparkten Autos vor möglichen Diebstählen bewachen, und wird mit ihnen darüber sprechen, dass es
diesem Land nicht gut geht, dass alles so gefährlich ist. Und morgen früh
wird er die Alarmanlage entsichern, die bei Überfall die „Armed Response“Truppe losschickt, die bewaffnet gegen mögliche Einbrecher vorgeht. Dann
wird er Rory, seinen achtjährigen Sohn, zur Schule fahren.
Die Schulen, Bildungsstätten der Nation, die zu Apartheidszeiten streng
nach Hautfarbe getrennt waren, sind heute verpflichtet, alle Schüler aufzunehmen. „Das führt dazu, dass das Niveau sinkt, denn die meisten
Schwarzen haben keine gute Bildung. Deshalb geht Rory, und alle Kinder
meiner Freunde, zu Privatschulen.“ Heute verläuft die Wohlstandsgrenze
in Südafrika nicht mehr entlang der Hautfarben, sondern entlang der
Einkommensgrenzen.
Südafrika ist also angekommen im Alltag der halb-industrialisierten
Schwellenländer, bei dem eine arme Mehrheit und eine reiche Minderheit
oft unvermittelt nebeneinander leben.
Aber dann muss ich an Frieda denken, die Putzfrau. Alle Bilder hängen
nach dem Abstauben immer schief, denn das räumliche Sehen klappt nicht
mehr: Frieda ist auf einem Auge blind. „My Zoetie-Love“ hat sie mich genannt, eine afrikaans-englische Wortschöpfung, es mag so viel wie „meine
süße Liebe“ heißen. Sie ist weit über 60 Jahre alt, trägt eine dicke, uralte
Hornbrille, und das weiß angelaufene, blinde Auge ist in ihrem schwarzen
Gesicht sehr deutlich zu sehen. Ihr Lächeln aber, mit vielen Zahnlücken,
ist unschlagbar. „Come back, my Zoetie-Love“, hat sie mir zum Abschied
gesagt.
340
Südafrika
Dr. Sonja Kretzschmar
13. Dank
Bei der Heinz-Kühn-Stiftung möchte ich mich für die Unterstützung meiner Recherche-Reise bedanken, besonders bei Ute Maria Kilian – vor allem
für das Versprechen, sie jederzeit auf dem Handy anrufen zu können. Und
obwohl Südafrika kein Bürgerkriegsland ist, hat es mich ungemein beruhigt,
die Heinz-Kühn-Stiftung auf dieser Reise als Unterstützung hinter mir zu
haben.
341
Andreas Lautz
aus Deutschland
Stipendien-Aufenthalt in
Argentinien
01. Dezember 2003 bis 15. Januar 2004
343
Argentinien
Andreas Lautz
Zwischen Hoffnungslosigkeit und Aufbruchsstimmung: Argentiniens mühsamer Weg aus der Krise
Von Andreas Lautz
Argentinien vom 01.12. 2003 – 15.01.2004
345
Argentinien
Andreas Lautz
Inhalt
1. Zur Person
348
2. Vorbemerkung
348
3. Rosa wandert aus
348
4. „Argentinien ist ein wunderschönes Land“
353
5. Das Schloss
356
6. Misión Imposible
359
7. River gegen Beccar
361
8. Der pfälzische Patron
366
9. Mähnenwolf gegen Ameisenbär
369
10. „Die Züge rollen wieder“
371
11. Schluss
373
347
Andreas Lautz
Argentinien
1. Zur Person
Andreas Lautz, Jahrgang 1970, Studium der Politikwissenschaft und
Geschichte in Trier und London, Büroleiter eines Abgeordneten im
Europäischen Parlament in Brüssel, Volontär der Georg-von-HoltzbrinckSchule für Wirtschaftsjournalisten und Redakteur beim Handelsblatt in den
Ressorts Finanzen und Politik in Düsseldorf. Seit März 2003 arbeitet er als
Pressesprecher im NRW-Ministerium für Wirtschaft und Arbeit, ebenfalls
in Düsseldorf.
2. Vorbemerkung
Drei Dinge verbindet man gemeinhin mit Argentinien: Fleisch, Fußball,
Krise. Gut zwei Jahre ist es her, dass Argentinien in eine der schlimmsten politischen und wirtschaftlichen Krisen seiner Geschichte schlidderte.
Straßenunruhen forderten Menschenleben, mehrere Präsidenten mussten
das Handtuch werfen. Inzwischen hat sich die Lage beruhigt, doch die bittere Wirklichkeit ist überall im Land deutlich zu spüren.
Vor gut 100 Jahren hieß es noch „Reich sein wie ein Argentinier“. Mit
dieser Hoffnung wanderten damals zahllose Menschen aus ganz Europa
nach Argentinien aus, um sich dort eine neue Zukunft aufzubauen. Ein
Jahrhundert später ist es umgekehrt. Viele Argentinier haben das Land verlassen. Und immer noch denken viele darüber nach, woanders ihr Glück zu
suchen.
Argentinien schwebt zwischen Hoffnungslosigkeit und Aufbruchsstimmung. Die folgenden Reportagen versuchen, das Land und seine Menschen
in möglichst vielen Facetten darzustellen. Sie drehen sich um das Thema
Auswanderung, um soziale Projekte, um Menschen, die versuchen zu überleben – und um Deutsche, die sich in Argentinien Träume verwirklichen. Es
gibt überraschend viele Verbindungslinien zwischen dem „Silberland“ am
anderen Ende der Welt und Deutschland.
3. Rosa wandert aus
Rosa sitzt kerzengerade, aber ihre Hände zittern, als sie beginnt, zu erzählen. Sie spricht zögerlich, ihre Worte sind kaum zu verstehen. „Wenn alles
gut geht, werden wir Argentinien bald verlassen und nach Israel gehen.“
Wenn alles gut geht. Bisher hat sie wenig Glück gehabt. Sonst säße sie
nicht hier, an diesem Esstisch im Versammlungssaal von Lamroth Hakol.
348
Argentinien
Andreas Lautz
Zwei ältere Frauen räumen die leeren Teller und die bunten Plastikbecher
ab. Mit Reis gefüllte Tomaten gab es, Pfannenkuchen mit Karamellcreme.
Rosa ist eine von zahlreichen Hilfesuchenden, die regelmäßig in die von
Deutschen gegründete, jüdische Gemeinde in Vicente Lopez im Norden von
Buenos Aires kommen, um wenigstens ab und zu richtig zu Mittag zu essen.
Oder um sich aus der Kleiderkammer eine gebrauchte Hose oder eine Bluse
auszusuchen.
Auswandern. Alles das zurücklassen, womit man aufgewachsen ist. Allein
irgendwo einen neuen Anfang suchen. Rosa hat ihr ganzes Leben in der
argentinischen Hauptstadt verbracht, 51 Jahre. Aber ihre Entscheidung ist
unumstößlich. „Mein Sohn Mauro hat hier keine Chance. Was sollen wir
hier noch?“
Vor zwei Jahren, auf dem Höhepunkt der Krise Argentiniens, ist ihr Mann
gestorben. Sie hat keine Arbeit und damit kein Geld mehr, um eine Wohnung
zu mieten. Und beim Schwiegervater kann sie nicht bleiben. Die Wohnung
ist viel zu klein für den Alten und die Frau mit dem elfjährigen Jungen. „Es
gibt nicht mal eine Küche, wo wir uns etwas kochen könnten.“
Rosas Schicksal ist in Argentinien nichts Außergewöhnliches. Seit das
Land im Dezember 2001 in die schwerste wirtschaftliche Krise seiner
Geschichte schlidderte, sind zahllose Menschen abgestürzt. So gut wie jeder
hat schon einmal darüber nachgedacht, das Land zu verlassen. Das Leben
ist teuer. Arbeit gibt es kaum, erst recht keine Arbeit, die mehr ist als Arbeit
zum bloßen Geld verdienen. Über die Hälfte der Menschen lebt heute unter
der Armutsgrenze, manche Schätzungen reichen sogar bis 70 Prozent. Wer
mehr will vom Leben, der überlegt, woanders sein Glück zu versuchen.
Das EinwanderungslandArgentinien ist längst zu einemAuswanderungsland
geworden. Viele Menschen haben resigniert. Dabei ist es gerade einmal
hundert Jahre her, dass die Redewendung „Reich sein wie ein Argentinier“
in Europa die Runde machte. Tausende Spanier, Italiener, Deutsche und Iren
machten sich damals auf den Weg an das andere Ende der Welt, um eine bessere Zukunft zu finden. Immer noch gibt es in Buenos Aires und in verschiedenen Provinzen hundert Tausende von deutschstämmigen Argentiniern.
Der Bauarbeiter, der Universitätsprofessor, der Arzt – jeder kennt jemanden, der schon weg ist oder weggehen will. „Meine Tochter lebt in
Frankreich, um dort zu arbeiten und Geld zu verdienen“, erzählt Angel. Der
alte Mann mit den grauen Locken und der Nickelbrille betreibt im Stadtteil
Palermo Viejo einen dieser unzähligen winzigen Kioske, wo man alles von
der einzelnen Zigarette bis hin zur Klopapierrolle kaufen kann. „Und eine
Bekannte von mir hat eine Tochter, die in Spanien lebt.“
Zweifellos ist der Auswanderungsdruck nicht mehr so extrem, wie auf
dem Höhepunkt der Krise. Vor zwei Jahren standen die Menschen Schlange
349
Andreas Lautz
Argentinien
vor den Botschaften und Konsulaten Spaniens, Italiens, Deutschlands oder
der USA. Seither ist der Auswanderungsstrom zu einem Rinnsal abgeschwollen. Aber zu einem Rinnsal, das das Land Tropfen für Tropfen auszutrocknen droht und rasch wieder anschwellen kann, wenn der neue Präsident
Ernesto Kirchner scheitert. Wer eine spanische Oma oder einen deutschen
Opa hat, der organisiert sich einen europäischen Pass. Wer nicht sofort ausreist, der besorgt sich die Papiere auf Vorrat. Für den Fall, dass das Chaos
zurückkehrt.
Kirchner ist es gelungen, ein gewisses Maß an Stabilität wiederherzustellen. Aber viele trauen dem brüchigen Frieden noch nicht. Argentiniens
Geschichte als Einwanderungsland wird dabei zur Hypothek. Schon immer
liebten es die Argentinier, sich als die Europäer Lateinamerikas zu sehen.
Bei den Nachbarn in Chile oder Brasilien gelten sie deswegen nicht selten als hochnäsig. Seit jeher blicken viele Argentinier sehnsuchtsvoll in die
Länder ihrer Vorfahren. Jetzt eröffnen die europäischen Wurzeln vielen die
reale Möglichkeit, tatsächlich in diese vermeintlich bessere Welt zu gelangen.
Dabei gilt der deutsche oder der italienische Pass in erster Linie nicht als
Eintrittskarte in das Land der jeweiligen Vorfahren, sondern als Fahrkarte
nach Spanien. Sprachliche Hürden verbauen oftmals den Weg in die Heimat
der Eltern oder Großeltern. Selbst Nachkommen polnischer, tschechischer
oder ungarischer Einwanderer zieht es nach Spanien. Sie setzen darauf, dass
die Erweiterung der Europäischen Union die Pforte zur iberischen Halbinsel
öffnet. Von den Übergangsfristen, die die Bewegungsfreiheit in der EU von
Ost nach West noch auf Jahre hinaus einschränken werden, hat bisher kaum
jemand gehört.
Zurzeit leben schätzungsweise 120.000 bis 180.000 Argentinier in Spanien.
Die argentinische Tageszeitung La Nación hat in ihrem Online-Angebot sogar eine gesonderte Rubrik eingerichtet, über die sich die Exilanten austauschen können.
Rosas deutsch-jüdische Gemeinde Lamroth Hakol ist ein Mikrokosmos,
in dem sich das Thema Auswanderung beispielhaft kristallisiert. „Die aktuelle Krise des Landes hat uns hart getroffen“, erzählt Marcello Taussik, der
Präsident. „Ein gutes Drittel der 1.200 Mitglieder ist in den vergangenen
zwei Jahren in erschreckende Armut gestürzt. Fünf bis zehn Prozent unserer Gemeindemitglieder haben das Land verlassen“, bilanziert der stämmige
Mann.
Lamroth Hakol feiert dieses Jahr ihr 60. Jubiläum. 1944 wurde die
Gemeinde als Ableger der Hauptgemeinde im benachbarten Stadtteil
Belgrano gegründet. Über lange Zeit hinweg war Deutsch die dominierende
Sprache, auch in den Gottesdiensten. Inzwischen haben sich die Kinder und
350
Argentinien
Andreas Lautz
Kindeskinder der Einwanderer jedoch mit Argentiniern anderer Herkunft
vermischt. Spanisch rückt immer weiter in den Vordergrund.
Vor zehn Jahren lebten noch zwischen 250.000 und 300.000 Juden aus
aller Herren Länder in Buenos Aires oder in den entfernten Provinzen des
Landes. Die jüdische Gemeinschaft in Argentinien war und ist damit einer
der größten der Welt. Deutsche Einwanderer jüdischen Glaubens haben diese Gruppe stark geprägt. Allein in den 30er Jahren gelangten bis zu 45.000
deutsche Juden auf der Flucht vor den Nazis nach Argentinien. Heute zählt
die Gemeinschaft noch knapp 180.000 Mitglieder.
Taussik schätzt, dass allein in den vergangenen zwei Jahren über 1.000
Familien das Land verlassen haben. Die meisten von ihnen sind in die USA
gegangen, nach Kanada, Spanien oder Israel. Allein nach Israel wanderten
nach offiziellen israelischen Angaben in den Jahren 2002 und 2003 knapp
8.000 Argentinier aus.
Die Jewish Agency macht in Argentinien massiv Werbung für die
„Heimkehr“. Rosa zählt auf, welche Hilfen der israelische Staat für diejenigen bereithält, die sich in dem Land niederlassen wollen: „Die Jewish Agency
organisiert alles und bezahlt den Flug. Es gibt sogar ein Taschengeld. Alle
Neuankömmlinge bekommen für die ersten sechs Monate eine Unterkunft
garantiert. Man hilft uns dabei, Arbeit zu finden und die Sprachkurse sind
gratis.“
Sorgen macht sich Rosa aber dennoch. „Ich kann zu den Verwandten meines Mannes in Haifa. Aber mich beunruhigt die explosive Lage in Nahost.
Man hat mir zwar gesagt, dass mein Sohn nicht zum Militär muss, weil ich
Witwe bin. Aber kann ich mir da so sicher sein?“ Tatsächlich trägt die unsichere Situation in Nahost neben der ruhigeren Lage in Argentinien dazu bei,
dass sich inzwischen auch die Auswanderung nach Israel abgeschwächt hat.
Nach Deutschland kam und kommt kaum einer der deutschstämmigen
Juden Argentiniens. „Viele von ihnen fühlen sich zwar auch heute noch eher
als Deutsche denn als Argentinier und haben über Jahrzehnte hinweg ihre
Kultur und ihre Sprache gepflegt“, erklärt Alfredo Schwarcz, Psychologe und
selbst Sohn deutschsprachiger Juden, die in der Nazi-Zeit nach Argentinien
kamen. „Gleichzeitig bleibt Deutschland aber das Land der Peiniger. Das
Land, das die eigene Familie verlassen musste, weil man sie sonst ermordet
hätte.“ Für sein Buch „Y a pesar de todo...“ („Und trotzdem...“) über die tief
zerrissene Identität deutschsprachiger Juden in Argentinien hat er zahllose
Einwanderer interviewt.
Aber es gibt Ausnahmen. Rosa erzählt von einem alten Ehepaar, das in
den 30er Jahren aus Bayern nach Buenos Aires kam und vor einem knappen
Jahr zurück nach München gegangen ist. Namen will Rosa nicht nennen.
„Die beiden haben Angst, weil sie hier Schulden zurückgelassen haben.“
351
Andreas Lautz
Argentinien
Oder Juan Strauß, 60 Jahre alt, Zahnarzt, heute Vorstandsmitglied in
der jüdischen Gemeinde Düsseldorfs. Sein Vater musste kurz nach Hitlers
Machtergreifung nach Argentinien fliehen und fühlte sich dort Zeit seines
Lebens fremd. „Er hat zu uns Kindern immer gesagt: Geht zurück nach
Deutschland, wenn ihr könnt.“ 1977 packte Strauß dann tatsächlich seine
Koffer, gemeinsam mit seiner Frau. „Damals war es allerdings leicht, in
Deutschland als Zahnarzt eine Arbeit zu finden. Ich konnte zwischen mehreren Angeboten auswählen. Heute ist das sicher anders.“
Taussik, der mit einer Nichte von Strauß verheiratet ist, unternimmt große
Anstrengungen, um die soziale Not seiner Gemeindemitglieder zu lindern
und die Menschen dazu zu bewegen, in Argentinien zu bleiben. „Unsere
Leute haben sich schon immer sehr engagiert“, erzählt er. „Aber in den vergangenen Jahren hat das eine neue Dimension bekommen. Früher waren
wir vor allem ein religiöses und kulturelles Zentrum. Inzwischen sind wir
zusätzlich Sozialstation.“
Lamroth Hakol kocht für Bedürftige nicht nur regelmäßig reichhaltige
Mahlzeiten, sondern verteilt auch in großem Stil Kleider, Lebensmittelrationen
und Einkaufsgutscheine für Supermärkte. Außerdem gibt es Medikamente.
„Manchmal wird auch eine dringende ärztliche Untersuchung bezahlt“, erzählt Rosa.
Besonders stolz ist Taussik auf eine Bäckerei, die er gemeinsam mit einer benachbarten katholischen Pfarrei aufgezogen hat. „Vier Mal die Woche
backen wir in unserer Küche Brot. Jeden Dienstag geschieht das zusammen
mit vier Frauen aus einer christlichen Gemeinde.“ Dabei vermischen sie
Weizen- mit Sojamehl, um die Laibe möglichst nahrhaft zu machen. Eine
Woche werden die Brote in der jüdischen, eine Woche lang in der christlichen Gemeinde verteilt.
Mit diesen Hilfen erreicht Lamroth Hakol über 1.000 Menschen. Die notwendigen Finanzmittel kommen aus eigenen Spenden, zum großen Teil aber
auch aus den USA und aus Deutschland. 2002 etwa überwies der Zentralrat
der Juden über 100.000 Euro nach Buenos Aires. Taussiks wichtigster
Kontaktmann in Deutschland: Juan Strauß.
Einer der Argentinien ganz sicher nicht mehr verlassen wird, ist Hermann
Ehrenhaus. Und dies, obwohl er in der jüngsten Krise fast alles verloren hat
„Dafür bin ich zu alt“, sagt er leise.
Fast vier Jahrzehnte lang hat der über Achtzigjährige im Orchester des
berühmten Teátro Colón Oboe gespielt. Der Pensionsfond, in den er sein
Leben lang eingezahlt hat, ist pleite. Deshalb lebt er heute in einer winzigen, zugigen Wohnung. Das Klassikprogramm im Radio läuft den ganzen Tag. In einem kleinen Bücherregal stehen säuberlich aufgereiht bunte
Suhrkamptaschenbücher.
352
Argentinien
Andreas Lautz
Seine Familie gehört zu den Juden, die Hitlerdeutschland verlassen mussten, obwohl sie mit dem Judentum eigentlich gar nichts zu tun, sich völlig assimiliert hatten. Sein Vater war Opernregisseur, seine Mutter Schauspielerin.
„Deshalb haben wir auch nie engeren Kontakt zu den jüdischen Gemeinden
hier in Buenos Aires gesucht.“ Erst kurz vor der Flucht nach Argentinien
erfuhr Ehrenhaus von seinem Vater, dass er jüdischer Herkunft ist.
Während der Militärdiktatur erhielt der Musiker einmal das Angebot, sich
in den USA niederzulassen. Ehrenhaus schlug es aus. „Argentinien ist mein
Zuhause. Hier habe ich seit meiner Jugend gelebt“, sagt er. Dabei töteten die
Militärs sogar den Lebensgefährten einer seiner Töchter. Bettina Ehrenhaus
zählt heute zu den aktivsten Menschenrechtlerinnen in Argentinien und vertritt die Interessen der Familien von deutschen Staatsbürgern, die von der
argentinischen Militärjunta umgebracht wurden.
Musizieren kann Ehrenhaus schon länger nicht mehr. Probleme mit den
Zähnen verbieten es ihm, Oboe zu spielen. Dafür zitiert er Gedichte von
Bertold Brecht aus dem Stegreif, die in Deutschland kaum noch jemand liest,
geschweige denn auswendig kennt. Etwa die Ballade von den Seeräubern:
„Sie lieben nur verfaulte Planken/ Ihr Schiff, das keine Heimat hat.“
4. „Argentinien ist ein wunderschönes Land...“
22.00 Uhr. Der Spuk ist vorbei. Der Zug schließt seine Türen und fährt an.
Langsam verlässt er die Station Urquiza im Herzen von Buenos Aires. Ein
paar Sekunden lang kann man die erschöpften Gesichter hinter den vergitterten Fenstern noch sehen. Dann sind die Cartoneros außer Sichtweite.
Abend für Abend werden tausende Kartonsammler in Sonderzügen aus
den Slums in die eleganten Wohn- und Geschäftsviertel der Millionenstadt
am Rio de la Plata transportiert. Ein paar Stunden haben sie dann Zeit, um
mit ihren Sackkarren durch die Straßen zu ziehen und Altpapier zu sammeln. Wenig später bringen die Sonderzüge sie wieder zurück in ihre elenden Wohnquartiere.
Das Sammeln von Altpapier hat sich in der argentinischen Hauptstadt zu
einem bestens organisierten Wirtschaftssektor entwickelt. Er ist aus dem
Leben der Stadt nicht mehr wegzudenken. Nicht nur Immigranten aus anderen Ländern Lateinamerikas und aus dem verarmten Norden des Landes verdienen sich als Cartoneros das Notwendigste zum Leben. Seit Argentinien
vor zwei Jahren in die schwerste Wirtschaftskrise seiner Geschichte gestürzt
ist, finden sich unter den Sammlern nicht wenige, die sich eben noch zur
Mittelschicht zählten.
353
Andreas Lautz
Argentinien
21.00 Uhr. In einem dunklen Winkel hinter der Bahnstation treffen die ersten Cartoneros ein. Geschickt wie chinesische Rikschafahrer manövrieren
sie ihre mannshoch bepackten Karren dorthin, wo sie niemandem im Weg
stehen. Die Kartons und das Papier haben sie in riesige weiße Säcke gepresst.
Franciscos Wagen ist ziemlich kein, wie er selbst. 30 Pesos, weniger als
10 Euro, verdient der braungebrannte Mann pro Woche. Wenn das Wetter
gut ist. „Das reicht für eine warme Mahlzeit am Tag“, erzählt er. Regnet es
zwei Tage lang oder gar eine ganze Woche, dann wird die Arbeit beschwerlicher. „Dann trocknet meine Kleidung nicht schnell genug.“
Francisco hat über 25 Jahre lang in einem Matadero gearbeitet, in einem
der riesigen Schlachthöfe der Stadt. „Vor ein paar Jahren haben sie mich
vor die Tür gesetzt.“ Ohne jegliche Abfindung, die es ihm ermöglicht hätte,
einen kleinen Lebensmittelladen oder einen Kiosk aufzumachen. „Bevor ich
an den Stadtrand ziehen musste, wohnte ich im Viertel San Martín. Damals
gab es dort eine kleine Fabrik neben der anderen. Heute gibt es dort nichts
mehr.“ Francisco zuckt mit den Achseln. „Argentinien ist ein wunderschönes Land, aber die da oben schaffen es nicht, Ordnung zu schaffen.“
21.10 Uhr. Gabi läuft durch die Reihen der Cartoneros und fragt jeden, ob
alles in Ordnung ist. Ihre ganze Familie lebt von der Arbeit als Papiersammler.
Ihre über 70 Jahre alte Mutter hilft genauso wie die sieben Kinder. Mit der
kümmerlichen Sozialhilfe ihres Mannes kommen sie zusammen auf etwa
390 Pesos im Monat, rund 110 Euro. Sie selber kann wegen Herzproblemen
nicht mehr sammeln. Aber sie hat Glück gehabt. Sie ist jetzt eine Delegada,
sprich eine jener Delegierten, die die Cartoneros an jeder Bahnstation selbst
ausgewählt haben, um dafür zu sorgen, dass alles reibungslos abläuft.
In knappen Sätzen erklärt die Frau, wie der Papierkreislauf in Buenos Aires
funktioniert. „Wir sammeln in der Stadt das Altpapier ein und bringen es zu
Sammelstellen am Stadtrand. Dort warten Aufkäufer, die uns das Material
abnehmen und in Lastwagen in die Papierfabriken transportieren. Die verschiedenen Stadtviertel sind unter den Cartonero-Gruppen fein säuberlich
aufgeteilt, damit sie sich nicht in die Quere kommen.“ Viele Sammler haben
in ihrem Revier Vereinbarungen mit den Ladenbesitzern und Privatleuten,
das Papier zu einer ganz bestimmten Uhrzeit auf die Straße zu legen.
Gabis Gruppe aus ungefähr 80 Sammlern mit 30 Karren ist gut organisiert und kann gegenüber den Aufkäufern recht gute Preise durchsetzen.
Einzelkämpfer werden von den Zwischenhändlern dagegen gnadenlos unter
Druck gesetzt. Immerhin gibt es inzwischen ein Gesetz, das gewisse Regeln
festschreibt. „Damit sind wir zu ganz normalen Arbeitern geworden“, sagt
Gabi. „Vorher hielten uns manche Leute für gefährlich. Jetzt haben sie sich
an uns gewöhnt.“
354
Argentinien
Andreas Lautz
21.25 Uhr. Inzwischen hat Ricardo eine kleine Feuerstelle aufgebaut.
Jeden Mittwoch kommt der Friseur, der seinen Laden gleich um die Ecke
hat zur Station, um für die Kinder Kakao zu kochen. Dazu verteilt er Kekse
mit Dulce de Leche, einer Art Karamellcreme.
Fast an jeder Bahnstation, wo die Cartoneros verladen werden, gibt es
jemanden, der sich um die Sammler kümmert. Ricardo erzählt, dass es seit
dem Absturz vor zwei Jahren viel Solidarität unter den Leuten gibt. „Jeder
weiß inzwischen, dass es auch ihn treffen kann.“ Der Friseur kann sich mit
seinem Laden ganz gut über Wasser halten. „Vor der Krise hatte ich mehr.
Aber es reicht.“
Die kleineren Kinder haben sich um die Tüte mit den Keksen gesetzt
und schlecken mit ihren Fingern die Karamellcreme aus dem Glas. Die
Größeren drängeln sich um Ricardos zerbeulten Topf und schöpfen sich mit
einer Kelle den heißen Kakao in kleine Plastikbecher.
Einer von ihnen ist Hugo. Er ist sechzehn Jahre alt, sieht ein wenig aus
wie Ronaldo, der Fußballstar, und ist überhaupt der Größte. Sein blau-gelbes Trikot von den Boca-Juniors trägt er lässig über der abgeschnittenen
Hose. „Wir haben gerade den Weltcup gewonnen“, sagt er stolz und zeigt
auf den Namenszug des Boca-Stars Carlos Tévez.
Ricardo fragt ihn, ob er weiß, dass Bayern München den Spieler gerne
kaufen würde. „Klar. Alle wollen sie ihn“, antwortet Hugo lachend. „Aber
Téves gehört zu Boca. Er wird hier bleiben.“
21.45 Uhr. Gabi gibt mit einem kurzen Pfiff durch die Zähne das Signal.
Der Zug wird gleich kommen und die Sackkarren müssen auf den Bahnsteig
geschoben werden. Hektisch füllt sich Hugo den Rest Kakao in eine leere
Plastikflasche. Die Cartoneros bilden mit ihren Karren eine Karawane, die
sich durch das kleine Stationsgebäude langsam auf den Bahnsteig schiebt.
Die anderen Passagiere, die auf ihren normalen Zug warten, treten einen
Schritt zur Seite.
21.55 Uhr. Die Cartoneros stehen kaum in Reih und Glied, da fährt schon
der Zug mit höllisch quietschenden Bremsen in die Station ein. Gabi und
zwei weitere Delegadas haben sich so auf dem Bahnsteig verteilt, dass sie
den Überblick behalten können.
Die Türen der beschmierten Wagons öffnen sich. Schon jetzt drängeln
sich in den dunklen Röhren Sammler, die an den vorherigen Stationen zugeladen wurden. Sitze gibt es keine, damit auch die Karren in die Wagons
passen. Die Gitter vor den Fenstern sollen die gewöhnlichen Passagiere auf
dem Bahnsteig vor Steinwürfen der Sammler schützen. Die Leute nennen
diese Züge „trenes blancos“, weiße Züge, weil die Bahngesellschaft die
Farben des Unternehmens abgeschliffen hat.
355
Andreas Lautz
Argentinien
Dann geht alles ganz schnell. Ein paar kurze Kommandos und die
Cartoneros haben ihre Gefährte durch die Öffnungen geschoben. Nur am
letzten Wagon gibt es eine kurze Verzögerung. Ein riesiger Karren passt
nicht durch die Öffnung. Gabi wird etwas lauter. Mit vereinten Kräften wird
das Gerät in den Wagen gewuchtet.
22.00 Uhr. Der Spuk ist vorbei. Der „weiße Zug“ schließt seine Türen und
fährt an. Langsam verlässt er die Station. Ein paar Sekunden lang kann man
die erschöpften Gesichter hinter den vergitterten Fenstern noch sehen. Dann
sind die Cartoneros außer Sichtweite.
Zurück bleiben die kleinen Kinder. Sie müssen noch ausharren. Zusammen mit einer älteren Sammlerin werden sie später mit einem normalen
Passagierzug das Stadtzentrum verlassen. In den Sonderzügen für die
Papiersammler dürfen nur Jugendliche ab 15 Jahren mitfahren.
5. Das Schloss
Wer sich auf der staubigen Schotterstraße bis ans Ende dieses menschenleeren Tals in den argentinischen Anden verirrt, den überrascht ein wahrhaft erhabener Anblick. Auf einem grünen Hügel thront einsam ein Schloss.
Ringsum steigen schroffe, mit Nadelhölzern bewachsene Berghänge auf.
Der weiße Putz des Gemäuers und die roten Fensterläden reflektieren das
grelle Sommersonnenlicht und an den Ecken des Gebäudes recken sich vier
stolze Türme.
„Ich glaube nicht, dass ich diesen Ort noch einmal verlassen und nach
Deutschland zurückkehren werde“, sagt Ruprecht von Haniel. „Ich habe
hier Wurzeln geschlagen.“ Zwanzig Jahre schon baut der Niederbayer aus
der weit verzweigten deutschen Adelsfamilie an seiner Residenz 50 km
südlich des feinen Wintersportstädtchens San Martín de los Andes. „Vor
drei Jahren bin ich endgültig hierher gezogen. Manche Verwandte haben
mich deshalb als vaterlandslosen Gesellen beschimpft.“ Zumal er damals
auch seinen angestammten Wohnsitz, die Burg Tunzenberg im bayerischen
Menghofen, verkaufte.
Von Haniel wirkt wie ein Holzfäller, wie er die Daumen seiner kräftigen Hände zwischen das weite weiße Hemd und die ledernen Hosenträger
schiebt. Seine Augen strahlen grün, die blaue Jeans ist ausgebleicht. Für
einen Arbeiter ist er allerdings ein bisschen zu beleibt.
Er ist nicht der einzige Deutsche in diesem Tal. Zwei weitere Wohlhabende
blauen Blutes haben hier schon Ende der 70er Jahre Tausende von Hektar
Land erworben. Gleich neben der Estancia Ruprecht von Haniels liegt das
Anwesen des baden-württembergischen Fürsten von Waldburg-Zeil, einem
356
Argentinien
Andreas Lautz
der größten Waldbesitzer in Deutschland. Der dritte im Bunde ist Wolf
von Buchholtz, der mehrere Jahre in der argentinischen Niederlassung des
Ferrostahl-Konzerns arbeitete. Zusammen kommen die drei Adligen auf
gut 15.000 ha Grundbesitz. In der Lokalpresse werden die „Prinzen“ aus
Deutschland auch als die „neuen Vizekönige“ des Landes bezeichnet.
Andere Ausländer haben die Schönheit und den wirtschaftlichen Wert des
argentinischen Südens ebenfalls für sich entdeckt und weite Landstriche
Patagoniens erworben. Zu ihnen zählen nicht nur Ted Turner, der Gründer
des US-Nachrichtensenders CNN, sondern auch der Italiener Luciano
Benetton, der in Argentinien einen Großteil der Wolle für seine Textilien
produziert. Auf seiner weitläufigen Estancia, die sich über knapp eine
Million Hektar erstrecken soll, betreibt er sogar ein Museum zur Geschichte
der indianischen Bevölkerung Patagoniens. In der jüngsten Vergangenheit
geriet Benetton jedoch in heftige Kritik, weil er seine indianischen Arbeiter
angeblich schlecht bezahlt.
Ruprecht von Haniel führt seine Gäste um das Schloss herum, zeigt stolz
die atemberaubende Aussicht hinunter ins Tal. Nach kurzem Zögern geleitet
er die Besucher auch in den Eingangsbereich des mittelalterlich anmutenden
Gemäuers. „Das Dachgeschoss ist noch nicht ausgebaut“, sagt er. „Das wird
wohl auch noch eine Weile dauern.“
Alte Möbel aus dunklem Holz säumen die rauhen, weiß verputzten Wände.
An den Mauern hängen Ahnenportraits. Die schweren Holztüren bleiben
verschlossen. Der Boden aus roten, weißen und schwarzen Steinplatten
wirkt, als läge er hier schon eine Ewigkeit. „Der Stein stammt hier aus der
Region. Mein Steinmetz hat die Platten nach meinen Anweisungen bearbeitet. Deswegen wirken sie so alt und ausgetreten.“
Von Haniel hat nicht nur Volkswirtschaft, sondern auch Forstwirtschaft
studiert. Er ist nicht zum Zeitvertreib in Argentinien. Wie die beiden anderen „Prinzen“ hat er auf seiner Estancia vor 25 Jahren mehrere Tausend
Hektar Nadelholz angepflanzt. Jetzt will er damit beginnen, die Früchte seiner Arbeit zu ernten. „Viele Bäume sind inzwischen so weit, dass sie geschlagen werden können.“
Der Bestand ist jung, das Holz noch nicht von besonderer Qualität. Als
einfaches Stangenholz ist es aber bestens für die endlosen Zäune geeignet,
mit der die argentinischen Grundbesitzer ihre Farmen abgrenzen. „Es gibt in
diesem Land kaum ernsthaft bewirtschafteten Wald, dafür aber einen gewaltigen Bedarf an Holz. Die wichtigsten Lieferanten sind Brasilien und Chile.
Mit denen kann ich aber locker mithalten. Erst recht seit der Abwertung des
argentinischen Pesos vor zwei Jahren.“
357
Andreas Lautz
Argentinien
Bedächtig erzählt von Haniel, dass Forstwirtschaft unter den argentinischen
Farmbesitzern nicht hoch angesehen ist. „Das Größte ist die Viehzucht. Als
Patron bist du dann „El Macho“, der Oberstier.“
Der Niederbayer versucht den Eindruck zu verwischen, sein Traumschloss
sei eine Verrücktheit im Stile König Ludwigs. Verglichen mit dessen
Zuckerschlösschen ist sein Werk tatsächlich schlicht und geschmackvoll.
„Wenn meine Familie das Schloss eines Tages nicht mehr als Wohnsitz nutzen will, dann kann sie es in ein Luxushotel umbauen.“
Die Region um San Martín de los Andes und Bariloche ist touristisch bestens erschlossen und zieht nicht nur Urlauber aus dem In-, sondern zunehmend auch aus dem Ausland an. Wie an einer Perlenkette aufgereiht finden
sich hier Nationalparks mit unberührten Wäldern, glitzernden Bergseen und
wilden Flüssen, an denen man herrlich Fliegenfischen kann.
Schon jetzt bietet von Haniel zahlungskräftigen Kunden auf seiner
Estancia Unterkunft an. In einem kleinen Pinienwäldchen hat er dreizehn
solide Ferienhäuser aus Stein und Holz errichtet. Ein junges Ehepaar aus
Buenos Aires, das von der argentinischen Hauptstadt die Nase voll hat,
kümmert sich um die Gäste.
Im Mittelpunkt steht für den Unternehmer aber die Waldwirtschaft.
Gegenwärtig plant von Haniel den Bau einer Anlage, in der er die
Baumstämme zu Stangenholz weiterverarbeiten kann. Etwas despektierlich
erzählt er, dass sich Fürst von Waldburg-Zeil auf seiner Estancia 2.000 ha
für die Rotwildjagd reserviert hat. „Das ist Fläche, die der Fortwirtschaft
verloren geht.“
Von Haniel hat schon in Deutschland Waldwirtschaft betrieben. „In den
70er und 80er Jahren nahm das dann aber eine Richtung an, die mir ganz
und gar nicht schmeckte. Hier in Argentinien habe ich freie Hand, kann
ich meine eigenen Vorstellungen verwirklichen und die Leute, die für mich
arbeiten noch formen.“ In Deutschland sei alles irgendwie schon fertig, die
Grundkoordinaten schon gezogen. „Das war mir alles zu eng.“
Er ist ein Eigenbrötler. Nur zur Feuerbekämpfung arbeitet er eng mit
Waldburg-Zeil und von Buchholtz zusammen. Der benachbarte Nationalpark
stellt Ranger zur Verfügung, die Deutschen bezahlen ihr Gehalt. Unten am
See haben sie sogar eine alte Landebahn ausgebaut, um Feuersbrünste notfalls auch mit Löschflugzeugen bekämpfen zu können. „Alle hier haben
ein Interesse daran, dass der Wald nicht zerstört wird. In dieser trockenen
Gegend ist Feuer die größte Bedrohung“, sagt der Niederbayer.
Das Schloss ist nicht die einzige Überraschung, die Besucher im Reich der
deutschen Fürsten erwartet. Im Stile des gütigen Lehnsherrn hat WaldburgZeil gleich neben dem Eingang zu seiner Estancia „San Jorge“ eine kleine
Kirche errichtet. Über der großen Holztür wacht Georg der Drachentöter,
358
Argentinien
Andreas Lautz
handgeschnitzt im Tiroler Stil. Weitere Heiligenfiguren aus edlem Holz finden sich im Inneren der Kapelle.
In San Martín de los Andes verrichtet zudem ein altes Feuerwehrauto aus
der ehemaligen DDR seinen Dienst. Waldburg-Zeil hat den alten Tatra aus
tschechischer Produktion Anfang der 90er Jahre mit der Hilfe des damaligen CDU-Generalsekretärs Volker Rühe nach Argentinien gebracht. Und im
Kirchturm des Andenstädtchens sollten eigentlich schwere Glocken hängen,
die Waldburg-Zeil in Deutschland gießen lies. Leider ist der Turm zu fragil,
um sie zu tragen.
„Ich gebe es ja zu“, sagt Ruprecht von Haniel. „Ein bisschen spinnert ist
das alles schon.“
6. Misión Imposible
„Wenn man nicht die Hand aufhält, dann kann auch niemand etwas hineinlegen“, sagt Padre Jorge Thor verlegen. Verlegen, weil er mit dieser
Begründung Lotto spielt. Jede Woche drei Pesos auf die gleiche Zahlenreihe.
An Lottoglück glaubt er aber nicht. Eher daran, dass „der da oben meine
ausgestreckte Hand sieht und etwas für mich hineinlegt“.
Der zurückhaltende Mann heißt eigentlich nicht Jorge, sondern Georg.
Er stammt aus Effelder in Thüringen und ist 1949 als kleiner Junge nach
Westdeutschland geflohen. Der Arnsteiner Pater lebt nun schon seit fast 40
Jahren in Argentinien. Der Lottogewinn wäre nicht für ihn selbst bestimmt.
Das Geld würde in seine Pfarrei in einem Armenviertel am Stadtrand von
Buenos Aires fließen.
Kerzengrade sitzt der fast kahle Padre auf einem Holzstuhl in seinem
kleinen Wohnzimmer. Das Hemd steht in argentinischer Manier ein paar
Knöpfe weit offen. Ruhig erzählt er, wie er vor sieben Jahren aus einer normalen Pfarrei im Stadtzentrum von Buenos Aires in das Armenviertel gekommen ist.
Es war ein Umzug aus der ersten in die dritte Welt. Die Armut ist mit
Händen zu greifen. Die meisten der fast 20.000 Bewohner dieses Bezirks
sind Zuwanderer aus Bolivien. Nur die wichtigsten Zufahrtsstraßen sind
geteert. Der Rest ist Staub. Die wenigen Bäume bieten nur wenig Schutz
vor der flimmernden Hitze. Aufgerissene Müllbeutel zeugen von hungrigen
Straßenhunden. Wenn es einen oder zwei Tage lang regnet, dann versinkt
die Pfarrei im Schlamm.
Durch Zufall kann der Pater für sich und die Gemeinde einen kleinen
Teil der 1. Welt bewahren. Allerdings einen, der schon vergangen ist. Hinter
dem Thüringer hängt eine alte Deutschlandkarte, die noch zwischen DDR
359
Andreas Lautz
Argentinien
und BRD unterscheidet. Sie stammt aus der aufgelösten DDR-Botschaft in
Buenos Aires. Zudem hat ihm die deutsche Botschaft ein paar alte Möbel
aus der DDR-Vertretung vermittelt, darunter zwei dringend benötigte: eine
alte Küchenzeilen und eine blumige bauchige Stehlampe.
Die Pfarrei ist ein großes Provisorium. „Als ich vor sieben Jahren hier anfing, gab es nichts“, erzählt der Padre. „Kein Pfarrhaus, keine Kirche, nichts.“
Deshalb ist der Deutsche nicht nur Seelsorger, sondern auch Architekt und
Bauherr. Immer wenn er ein wenig Geld aufgetrieben hat, baut er hier noch
ein Dach drauf, da noch einen Raum dran. „Mal sehen wie weit ich komme.
Mein Nachfolger kann dann darauf aufbauen.“
300 Euro geregeltes Einkommen hat der Pater im Monat neben seiner
kleinen Rente aus Deutschland. Das Geld kommt aber nicht von der eigentlich zuständigen Diözese Quilmes. „Die hat doch selber nichts“. Stattdessen
greift ihm Bischof Joachim Wanke vom Bistum Erfurt regelmäßig unter die
Arme.
Die meisten Mittel für die Baumaßnahmen hat das bischöfliche Hilfswerk
Adveniat bereitgestellt. In vier Jahren rund 40.000 Euro. „Wenn ich jetzt
Euro bekomme, dann kann ich damit Wunder bewirken“, erzählt er. Seit
der Abwertung des Pesos vor zwei Jahren sind die Spenden dreimal soviel
wert.
Eine der beiden Kapellen dient gleichzeitig als Speisesaal. Täglich bekommen hier bis zu 80 kleine Kinder aus der Gemeinde Frühstück, Mittag- und
Abendessen. Sieben junge Frauen aus der Gemeinde bereiten die Mahlzeiten
zu. Wenn Zeit bleibt, spielen sie auch mit den Kindern. Gerade stecken sie
kleine kitschige Weihnachtsbäume aus Plastik zusammen.
In den letzten zwei Jahren hat sich die Lage der Menschen in Padre
Thors Pfarrei drastisch verschlechtert. Fast alle Männer, die meisten
Bauhandwerker, haben ihre Arbeit verloren. Es sind jetzt die Frauen, die
Geld nach Hause bringen. Mucamas, sprich Hausmädchen, werden in der
Stadt immer gesucht. Die Jugendlichen gammeln in den Straßen herum.
Arbeit gibt es auch für sie keine, Drogen aus Bolivien dafür an jeder Ecke.
Sicher ist das Viertel nicht. Die Fenster der Pfarrkirche, der Kapellen
und des Pfarrhauses sind kleinmaschig vergittert, um sie vor Einbruch und
Steinwürfen zu schützen. „Die Armut verbittert die Leute. Die aufgestauten
Aggressionen machen dann auch vor uns nicht halt“, sagt der Pater.
Von den Nachbarn dringt ohrenbetäubende Musik herüber. Georg Thor
entschuldigt sich: „Das ist die Macht derer, die sonst gar nichts haben.“
Wenn er in der Gemeinde unterwegs ist, geht er immer zu Fuß. Zwei
Mopeds sind ihm schon gestohlen worden. „Ein drittes will ich nicht verschenken“, sagt er. Das zweite Moped hat er wenigstens einmal erfolgreich
verteidigt. Der Preis ist eine Kugel im Bein. „Es war halb so schlimm. Es
360
Argentinien
Andreas Lautz
ist nichts Wichtiges kaputtgegangen. Die Kugel ist noch drin, aber sie stört
nicht.“
Stolz zeigt er die zweite Kapelle, die er eigenhändig aufgebaut hat. Die
neue Eingangstür aus Holz schützt er mit einem großen Blech. „Es wäre
schade, wenn sie gleich zu Bruch ginge.“ Ansonsten steht nicht vielmehr als
der Rohbau. Die Wände sind kahl, die Treppe in den zweiten Stock grauer
Beton. Nur eine realsozialistische DDR-Garderobe aus falschem Furnierholz
und eine hässliche braune Plastikuhr schmücken den Eingangsbereich.
In einem kleinen Nebenraum will der Pater einmal einen oder zwei
Computer aufstellen. Auch von einer Bibliothek träumt er. „Ich muss den
Jugendlichen doch etwas bieten. Das ist ihre einzige Chance.“
Manchmal fühlt sich der Pater in seiner Gemeinde ziemlich allein. Dann
reist er zu Freunden ins Stadtzentrum von Buenos Aires. Die Bolivianer beteiligen sich zwar rege am Gemeindeleben, aber sie haben aus ihrem Land
starke Traditionen mitgebracht, auch in religiöser Hinsicht.
Die eine der beiden Kapellen hieß zunächst nur „Heiliges Herz Jesu“,
kein ungewöhnlicher Name für eine Kirche in Argentinien. Seit einiger Zeit
trägt das Gebäude aber zusätzlich den Namen der wichtigsten Heiligen der
Bolivianer: „Jungfrau von der Copacabana“. Und links und rechts vom Altar
stehen je eine argentinische und eine bolivianische Schutzpatronin.
Mit dogmatischem Katholizismus käme Pater Thor hier nicht weit. „Ich
bin Christ“, sagt er vorsichtig. „Ja, so kann man es sagen.“
Und deshalb pflanzt er vor den Kapellen und der Kirche einen Baum nach
dem anderen. Jedes Jahr aufs Neue, denn immer wieder gibt es jemanden,
der sie verstümmelt. „Aber irgendwann werden sie so groß sein, dass ihnen
niemand mehr etwas anhaben kann“, sagt er. Stacheldraht schützt neuerdings die jungen Stämme.
7. River gegen Beccar
„Beccar!“ Der in der Mitte des Spielfeldes hin und her laufende, beleibte Moderator hat eindeutig „Beccar!“ in sein Mikrofon gerufen. Aber so
schnell können es die Kinder auf der Tribüne gar nicht fassen. „Damit seid
Ihr gemeint!“ ruft ihr Trainer Javier Torres. „Victor, Diego, Martín, holt
Euch den Preis!“
Die Basketballarena in den Katakomben des River Plate-Stadions in
Buenos Aires ist zum Bersten gefüllt. Zum Abschluss der Fußballsaison
haben sich Jugendmannschaften aus der ganzen Stadt beim argentinischen
Traditionsclub River Plate versammelt, um die Preisverleihungen zu feiern.
361
Andreas Lautz
Argentinien
Alles glänzt. Der blank gewienerte Parkettboden des Spielfeldes, die Pokale
auf dem langen Tisch in der Mitte der Halle.
Mühsam bahnen sich die drei Gerufenen einen Weg durch die eng besetzten Reihen auf der Tribüne hinunter auf das Spielfeld, um stellvertretend für
ihre Mannschaften Fair Play-Medaillen entgegen zu nehmen. Als die drei
aus Beccar die Trophäen endlich in der Hand halten, kennt der Jubel ihrer
Mitstreiter keine Grenzen mehr. „Das gibt es doch gar nicht“, schreit Martín
euphorisch. „Wir sind die Größten!“ Lachend hakt er sich mit Victor und
Diego unter. Wie echte Champions posieren sie für ihren Trainer und seine
Kamera.
In dieser Stunde gibt es in der Fußballwelt Argentiniens keine Klassenunterschiede. Einen kurzweiligen Nachmittag lang überbrückt die von
River gesponserte Preisverleihung die tiefen Gräben, die die argentinische
Fußballlandschaft durchziehen.
Das eine Extrem: die Mannschaften aus dem Armenviertel Beccar. Sie
sind Teil eines privaten, in Argentinien einzigartigen Sozialprojektes, das
den Jugendlichen über den Sport neue Hoffnungen machen will. Das andere
Extrem: der privilegierte Nachwuchs des Rekordmeisters River Plate, der
auch dieses Jahr wieder reihenweise Pokale abräumt. River, so nennen die
Fans den Verein liebevoll, produziert Talente in Serie. Musterschüler wie
D‘Alessandro und Menseguez, die beim VfL Wolfsburg spielen, bekommen
sogar Angebote aus dem Ausland.
Beccar, im Norden der argentinischen Hauptstadt. Wie eine Insel liegt dieser herunter gekommene Stadtteil inmitten von vornehmen Villenvierteln.
14.000 Menschen leben hier, darunter zahllose Jugendliche. Als Fremder
sollte man sich nicht allein in die Gassen wagen. Die Leute sind misstrauisch und nicht immer freundlich gesinnt.
„Genau deshalb haben wir uns diesen Stadtteil für unser Projekt ausgesucht“, sagt Javier Ghía. Der Mittdreißiger verdient sein Geld als Manager
beim US-Nachrichtendienstleister Bloomberg. Er ist der Initiator und
Präsident der Stiftung DAD. Das Kürzel steht für „desarrollo a través del
deporte“, Entwicklung durch Sport. „Der Fußball ist für diese Jungs die
einzige Möglichkeit, aus ihrem trostlosen Alltag auszubrechen und lebenswichtige Grundwerte wie Fairness, Teamgeist und Disziplin zu erlernen“,
erklärt Ghía. „Die Kinder lieben Fußball. Damit packen wir sie.“
In der ganzen Welt – in Brasilien, auf dem Balkan, in Afghanistan oder
in Kenia – gebe es inzwischen erfolgreiche Entwicklungsprojekte, die sich
die Anziehungskraft des Sportes zu nutze machten, erläutert Ghía. „Als
Argentinien in die Krise schlidderte, dachte ich mir, dass man so etwas auch
bei uns aufziehen kann.“ Dort, wo es nur Verzweiflung gebe, könne der
Sport neue Hoffnung wecken, zitiert er Nelson Mandela.
362
Argentinien
Andreas Lautz
In kürzester Zeit trommelte der Manager im Jahr 2002 Freunde und
Bekannte zusammen, um die neue Stiftung ins Leben zu rufen. Neben dem
Präsidenten gibt es einen Chefkoordinator, der sich hauptamtlich um alle
praktischen Belange kümmert. Ghía hat dafür Melchor Villanueva gewinnen
können, der dafür seinen Job in der Marketingabteilung eines Unternehmens
an den Nagel hängte. Außerdem gehört Armicar Bossi zum Team. Der magere Banker im Ruhestand fungiert als Schatzmeister und Fundraiser. „Wir
nennen ihn nur Art“, sagt Ghía. „Weil er genial darin ist, Geld aufzutreiben.“
Und dann gibt es noch Javier Torres, 28 Jahre alt, Sportlehrer. Er trainiert die Jungen von Beccar jeden Abend von sieben bis halb neun. Am
Wochenende finden die Ligaspiele statt. „Da nehmen wir aber nur diejenigen mit, die sich in der Schule, zu Hause und im Training ordentlich benehmen“, sagt Torres. Wer nicht bereit sei, diese Regeln zu akzeptieren, der
könne gehen. „Aber normalerweise gibt es keinerlei Probleme. Die Kinder
sind einfach unglaublich.“
Ohne Victor, Diego und Martín wäre die Stiftung allerdings hilflos. Die drei
sind in Beccar aufgewachsen und kennen das Viertel wie ihre Westentasche.
Sie arbeiten für die Stiftung als Koordinatoren und stellen so sicher, dass
DAD in Beccar tiefere Wurzeln schlagen kann.
Victor, 25 Jahre alt, ist für den Kontakt zum ganzen Viertel zuständig.
Selbstbewusst erzählt er, dass es für ihn eine ganz neue Erfahrung sei, gebraucht zu werden. „Vorher war ich arbeitslos. Jetzt habe ich endlich was zu
tun. Stellen Sie sich vor, wie es hier gewesen ist, bevor die Stiftung startete.
Hier gab es rein gar nichts.“ Die Kinder hätten nur herumgelungert, ohne
jede Idee, was sie mal machen wollen.
Diego und Martín, 17 und 14 Jahre alt, sind als Koordinatoren so etwas wie
die offiziellen Anführer der Jungen und damit wichtige Vorbilder. Martín hat
zusammen mit seiner Familie bis vor kurzem noch als Papiersammler gearbeitet. Die Stiftung musste den Eltern seinen Verdienstausfall ausgleichen,
damit er bei dem Projekt mitmachen kann. „So kann ich mich mit Fußball
beschäftigen und außerdem in Ruhe die Schule fertig machen“, sagt er.
Das leuchtend rote T-Shirt trägt er lässig über der abgeschnittenen
Sporthose. Während er erzählt, gesellt sich ein anderer Junge mit blonden
Haaren und großen braunen Augen dazu. Interessiert mischt sich Jonathan
in das Gespräch ein, fragt, wer der Mann mit dem Notizblock und dem Stift
ist. Was er will. „Journalist? Wehe, Sie schreiben schlecht über uns! Wo
kommen Sie her? Was heißt Fußball auf Deutsch?“ Wie viele der anderen
Jungen trägt er für das Fußballtraining alte Turnschuhe, ein alte Jeans, ein
abgetragenes T-Shirt.
363
Andreas Lautz
Argentinien
Noch steht die Stiftung mit ihrer Arbeit ganz am Anfang. Im September
2003 ist sie offiziell gestartet und die Jungen haben bisher nicht einmal
eine Wiese, geschweige denn einen Sportplatz, auf dem sie trainieren können. Stattdessen treffen sie sich auf einem sandigen, mit kümmerlichen
Bäumen bestandenen Platz gleich neben der katholischen Kirche. „Richtig
Fußballspielen kann man hier nicht“, meint Torres. „Deswegen machen wir
vor allem Lauf- und Konditionstraining. Aber den Jungen ist es egal. Für sie
ist es schon etwas großartiges, irgendwo dabei zu sein.“
Neuerdings versucht die Stiftung auch, die Mädchen des Viertels mit
Sportangeboten anzusprechen. Über hundert nehmen bereits an dem Projekt
teil. Eine zweite Trainerin kümmert sich um sie. Javier Torres: „Es reicht
nicht, sich nur um die Jungen zu kümmern. Den Mädchen in Beccar geht es
keinen Deut besser.“
Bislang muss die Stiftung mit dem wenigen Geld auskommen, das die
Initiatoren und Mitarbeiter der Stiftung und einige wenige Sponsoren wie
zum Beispiel die Bank Itaú monatlich bereitstellen. Art Bossi erläutert, dass
es in Argentinien ziemlich schwierig sei, für ein Sozialprojekt Geld einzusammeln. „Systematisches Sponsoring hat hier keine Tradition. Viele, die es
sich durchaus leisten könnten, das Projekt zu unterstützen, wohnen gleich
in der unmittelbaren Nachbarschaft. Aber für die ist Beccar ein Slum, wo
Kriminelle wohnen. Sie glauben, dass die Kinder, die hier leben, ohnehin
schon verloren sind.“
Für jede Kleinigkeit braucht Bossi einen Sponsor. Zum Beispiel für die
regelmäßigen Busfahrten zu den Ligaspielen. „Einen eigenen Bus haben wir
nicht, Geld für öffentliche Transportmittel auch nicht. Also suche ich nach
einer Firma, die uns am Wochenende mit einem Bus aushilft.“ Oder für das
alljährliche Weihnachtsfest. Das letzte Mal haben Bloomberg-Mitarbeiter
die Hamburger und Getränke gespendet.
Für die Zukunft schwebt dem Ex-Banker ein Patenschaftssystem vor. „Pro
Kind brauchen wir nicht mehr als 30 Euro pro Monat. Dafür werden wir den
Paten regelmäßig Berichte über „ihr“ Kind abliefern, wie es sich entwickelt,
welche Fortschritte es in der Schule macht und wie es um seine körperliche
Gesundheit bestellt ist.“ Mit dem Geld will Bossi die laufenden Kosten des
Projektes abdecken: Ordentliche Gehälter, kleine Stipendien für bedürftige
Jugendliche, die Gebühren für die Teilnahme in der Fußballliga.
Große Hoffnung setzt Bossi in Gespräche mit der argentinischen Niederlassung von Siemens. Der Konzern besitzt in der unmittelbaren Nachbarschaft von Beccar ein riesiges, grünes Sportareal, das früher von SiemensMitarbeitern genutzt wurde und heute brach liegt. „Die Verhandlungen ziehen sich schon ziemlich lange hin“, sagt Bossi. „Aber wir sind guter Dinge,
dass da bald Bewegung rein kommt.“
364
Argentinien
Andreas Lautz
Die Jungen von River Plate, die sich auf dem Sportplatz seitlich des riesigen Stadions warmlaufen, tragen allesamt das rot-weiße River-Trikot und
Fußballschuhe. Einer der Jungen heißt Roberto. Stolz zeigt der Neunjährige
mit den kurzen braunen Haaren auf das Autogramm, das D‘ Alessandro ihm
auf sein Trikot gekritzelt hat. „Das ist noch aus der Zeit, als er bei River
spielte. Ich kenne ihn persönlich“, erzählt er ernst. Seit einem Jahr besucht
Roberto die Fußballschule von River.
Die Rahmenbedingungen, die der Verein ihm bieten kann, sind perfekt.
Neben dem Trainingsplatz gibt es zwei Schwimmbecken im Freien und sogar
ein Hallenbad. In den Katakomben unter den Tribünen des Stadions befinden
sich nicht nur die Basketballarena des Vereins, sondern auch Krafträume,
eine Kantine, eine Bibliothek und ein Kino. Außerdem sind hier die Schulund Schlafräume für die 80 Jungen des Fußballinternats untergebracht. Die
Gänge, die Flure, die Bettwäsche in den funktionalen Schlafräumen, alles ist
blitzsauber und in die Vereinsfarben getaucht.
Seit 1990 betreibt der Club, der Saison für Saison mit dem ewigen
Rivalen Boca Juniors um die Krone im argentinischen Fußball ringt, seine
Jugendförderung systematisch. 100 der 700 Mitarbeiter des Vereins arbeiten
in diesem Bereich. Rund 12.000 Jugendliche sichtet der Club jährlich in ganz
Argentinien. Vereinsfilialen in allen Landesteilen organisieren regelmäßig
Turniere, zu denen aus dem fernen Buenos Aires ein Talentsucherteam anreist. 400 Jugendliche werden jeden Dezember zu einer weiteren, zweiwöchigen Auswahlrunde in die Zentrale in der Hauptstadt eingeladen. 40 von
ihnen schaffen es in das Fußballinternat.
„Morgens ist Schule, nachmittags trainieren wir“ erzählt Roberto. „Und
am Wochenende sind die Spiele.“ Viel Freizeit bleibt da nicht. Jorge
Valentini, der bei River für die Nachwuchsarbeit zuständig ist, legt großen
Wert auf Disziplin. Der smarte Mittdreißiger hat selbst einmal bei River das
Fußballspielen erlernt. „Um halb neun wird das Licht ausgemacht. Um sieben Uhr klingelt der Wecker.“ Trotzdem sei es für die Kinder ein Traum, bei
River zu sein, versichert er. Viele stammten aus armen Verhältnissen.
Für River ist die Jugendförderung nicht nur aus sportlichen, sondern auch
aus wirtschaftlichen Gründen überlebenswichtig. Der Verkauf von Spielern
ist ein einträgliches Geschäft. „Ideal wäre es, wenn wir jedes Jahr einen
wie D‘Alessandro verkaufen könnten“, sagt Valentini. Die Verbindung zum
VfL Wolfsburg über D‘Alessandro und Menseguez sei deshalb von strategischer Bedeutung. „Das ist unsere Eintrittskarte in den deutschen Markt.“
Vor dem Eingang zum Stadion stehen mehrere weiße Vereinsfahrzeuge, die
Volkswagen, der Finanzier Wolfsburgs bereitgestellt hat. „Das ist Teil des
Geschäfts“, sagt Valentini.
365
Andreas Lautz
Argentinien
Für die Jungen aus Beccar ist die Welt von River wie ein fremder Planet.
Während Roberto realistische Chancen hat, einmal mit Fußball sein Geld
zu verdienen, dürfte für Martín oder Diego nur der Traum von einer großen Sportlerkarriere bleiben. Aber vielleicht ergibt sich ja doch eine
Möglichkeit. Denn auch ihr Trainer Javier Torres träumt. Davon, in Zukunft
jedes Jahr ein bis zwei Jungen zur Ausbildung in einen deutschen Verein zu
schicken. „Das wäre einfach fantastisch“ schwärmt der bekennende Fan der
Toten Hosen. Die Rockband aus Düsseldorf gibt in Buenos Aires seit Jahren
kultige Konzerte. „Sponsern die Toten Hosen nicht Fortuna Düsseldorf?
Vielleicht lässt sich da ja was machen!“
8. Der pfälzische Patron
„In Argentinien gibt es keine schlechten Jahrgänge. Nur gute und sehr
gute. Hier in der Pfalz, da wäre es manchmal besser, die Trauben einfach
hängen zu lassen.“ Heinrich Vollmer lässt seinen Blick über die Rebstöcke
schweifen, die sich in der sanft gewellten Landschaft in langen Reihen fast
bis zum nächsten Ort erstrecken. Die Hände wärmt er über einem Feuer, in
dem Gartenabfall kokelt. Der Betrieb liegt am Rand von Ellerstadt bei Bad
Dürkheim. Wäre der Februarnebel nicht, könnte man am Horizont die waldigen Hänge des pfälzischen Mittelgebirges sehen. „Bei Sonnenschein ist
die Aussicht fast wie auf meinem Gut in Mendoza“, sagt der Winzer. „Nur
dass die Anden nicht ein paar hundert, sondern ein paar tausend Meter hoch
sind.“
In Ellerstadt in der Pfalz ist Heinrich Vollmer ein Winzer unter vielen.
Aber in Mendoza, am Fuße der argentinischen Anden, ist er Herr über ein
feudales Weingut. Mit der Beharrlichkeit des Extrembergsteigers hat er sich
einen Lebenstraum verwirklicht.
1983: Um ein Haar wird der Pfälzer auf einer Tour in den peruanischen
Anden von einer Eislawine getötet. Sieben Kameraden sterben, er überlebt. Eine peruanische Familie findet ihn. Vor dem Aufstieg hat Vollmer auf
4.000 Meter Höhe ein paar Tage in ihrem Dorf bei der Ernte geholfen, um
sich an die Höhe zu gewöhnen. „Das hat mir das Leben gerettet“, sagt er.
„Emilio und seine Leute sahen die Lawine runterkommen und stellten einen Suchtrupp zusammen. Fünf Tage später haben sie mich halb erfroren
gefunden.“
Während das Auswärtige Amt den Deutschen nach ein paar Wochen ohne
Nachricht für tot erklärt, erholt sich Vollmer in dem Bergdorf. Erst Monate
später kann er nach Deutschland zurückkehren. „Das war der Beginn meines zweiten Lebens“, sagt er nachdenklich.
366
Argentinien
Andreas Lautz
Zwei Jahre später erwirbt Vollmer ein Stück Land in Argentinien. 600
ha im Uco Valley südlich der Andenstadt Mendoza. Zum Vergleich: sein
Betrieb in Ellerstadt umfasst rund 100 ha, wobei rund 20 ha ihm gehören
und der Rest von Nebenerwerbswinzern bewirtschaftet wird. Bevor er sich
endgültig zum Kauf entschließt, schlägt er jedoch für eine Nacht sein Zelt
auf dem Grundstück auf. „Früh am Morgen, wenn die Sonne aufgeht und
die Feuchtigkeit aus dem Boden aufsteigt, dann riecht man die Erde. Dann
weiß man, wie der Wein duften wird.“
Zu diesem Zeitpunkt existiert noch nicht einmal Chile auf den Karten der
europäischen Weinkenner, geschweige denn Argentinien. Dabei ist das Land
schon damals mengenmäßig einer der wichtigsten Weinbauproduzenten
der Welt. Die natürlichen Bedingungen sind nahezu perfekt: extrem nährstoffreicher, vulkanischer Boden; trockenes Wüstenklima mit starker
Sonneneinstrahlung am Tag; kalte Nächte, in denen sich die Reben erholen
können; Schmelzwasser aus den Anden, das sich über Bewässerungskanäle
und Wasserleitungen genau dosieren lässt.
Heute haben neben Vollmer auch andere ausländische Investoren die
Vorzüge der Weinbauregion Mendoza entdeckt. Die besten Lagen sind inzwischen fest in der Hand kapitalstarker Unternehmen wie Salentein aus
den Niederlanden oder Rothschild aus Frankreich. In kürzester Zeit haben
sie mit viel Geld und Know-how hochmoderne Kellereien errichtet, deren
Weine es problemlos mit europäischen, amerikanischen oder chilenischen
Spitzenerzeugnissen aufnehmen können. „Bei mir dauert das alles ein bisschen länger als bei meinen reichen Nachbarn“, sagt Vollmer. „Ich muss meine Finca eben ganz normal über Bankkredite, mit den Erträgen aus Ellerstadt
und natürlich mit den Einkünftigen in Mendoza finanzieren.“
Als er 1986 beginnt, existieren auf seinem Land lediglich ein paar vertrocknete Weinstöcke und eine alte Kellerei. Deren veraltete Betontanks nutzt der
Pfälzer nur vorübergehend. Mit schweren Maschinen, die er per Schiff aus
Deutschland heranschafft, bereitet er den Boden für die Rebstöcke vor. Ein
Bewässerungsteich muss gegraben, ein Wohnhaus gebaut werden. Im Laufe
der Jahre bepflanzt Vollmer über 500 ha mit Rebstöcken. Derzeit errichtet er eine moderne Kellerei mit Edelstahltanks und eigener Abfüllanlage.
Die ersten Rebstöcke transportierte er über Buenos Aires in Seesäcken nach
Mendoza – wie der Pionier Miguel Pouget, der Mitte des 19. Jahrhunderts
als Erster französische Rebsorten in Argentinien einführte.
Das Kalkül geht auf. Rotwein von der „Finca Enrique Vollmer“ hat es in
die erste Klasse der Lufthansa geschafft. Wer den Winzer in Ellerstadt besucht, der hat nicht nur die Wahl zwischen typischen Weiß- und Rotweinen
aus der Pfalz, sondern auch zwischen rotem Malbec, Cabernet Sauvignon
oder Syrah aus dem Uco Valley. Vor allem der weiche argentinische Malbec
367
Andreas Lautz
Argentinien
genießt Weltruf. Ursprünglich stammt die Sorte aus Bordeaux. Heute jedoch kommen die besten Malbecs aus dem französischen Cahors und eben
Mendoza.
Nur der Crash Argentiniens Ende 2001 drohte Vollmers Pläne gründlich
durcheinander zu wirbeln. „Der argentinische Fiskus schuldete mir damals 250.000 Dollar. Dieses Geld hat er schlicht einbehalten.“ Um frisches
Kapital herein zu holen, gründete er deshalb mit langjährigen Kunden eine
Aktiengesellschaft. „Aber 90 Prozent der Anteile behalte ich“, betont der
Pfälzer. Heute profitiert er davon, dass der argentinische Peso nicht mehr
1:1 an den Dollar gekoppelt ist und deutlich an Wert verloren hat. „Das reduziert meine Produktionskosten drastisch.“
Ortswechsel. Am Horizont schimmert die schneebedeckte Silhouette
der argentinischen Anden. Die beiden höchsten Gipfel sind in der klaren
Sommerluft gut zu erkennen: der Aconcagua, der mit fast 7.000 Metern
höchste Berg Amerikas, und weiter südlich der etwas niedrigere Tupungato.
Helmut Schrek, pensionierter Weinkontrolleur aus Speyer, pflückt mit routinierten Handgriffen eine Traube, um einen Tropfen Saft in sein Spektrometer
zu träufeln. Dann blickt er durch das Gerät, mit dem man den Zuckergehalt
der Flüssigkeit messen kann, in die Sonne. „60 Oechsle zwei Monate vor
der Lese, davon kann man in Deutschland nur träumen.“
Seit neun Jahren reist Schreck jeden Januar und Februar nach Argentinien,
um vor Ort für Vollmer die Ernte vorzubereiten. Dann nimmt er sich einen
löchrigen Strohhut zum Schutz gegen die starke Sonne und ein Pferd, um
über das Gut zu reiten und den Zustand der Reben zu analysieren. „Diese
Daten brauchen wir, um zu wissen, wann und in welcher Reihenfolge wir
die Parzellen abernten müssen“, erklärt Schrek.
Er und Vollmer kennen sich seit Ewigkeiten. Die beiden haben sogar
schon vor Gericht miteinander zu tun gehabt, weil Vollmer nicht zugelassene Rebsorten auf seinem Weinberg anpflanzte. Dem gegenseitigen Respekt
tat es keinen Abbruch. „Ich war noch keine 24 Stunden in Rente, als mich
Heinrich fragte, ob ich ihm in Argentinien helfen will. Eine Nacht hatte ich
Zeit, darüber nachzudenken. Am nächsten Tag saß ich im Flieger.“
In breitem Pfälzisch erläutert er, wie Vollmer die Arbeit auf der Finca
organisiert hat. Dabei bremst die Sommerhitze seine Bewegungen auf das
erforderliche Minimum herab. „Im Herbst wird in Deutschland geerntet, im
Februar und März hier in Mendoza. Ein pensionierter Major der argentinischen Armee dient Vollmer als Verwalter. Und die sieben Vorarbeiter hat er
allesamt für zwei Jahre zur Ausbildung nach Deutschland geholt. Für die
Zeit, die der Chef in Ellerstadt ist, gibt es Arbeitspläne, die akribisch umzusetzen sind.“
368
Argentinien
Andreas Lautz
Dreizehn Familien leben und arbeiten auf der Finca. „El Patron“ nennen
die Arbeiter ihren Chef respektvoll. In der Gewerkschaft ist keiner von ihnen,
weil ihr Chef deutlich mehr zahlt, als den gesetzlichen Mindestlohn. Wie ein
mittelalterlicher Gutsherr kümmert sich Vollmer auch um Dinge, die nur auf
den zweiten Blick mit dem wirtschaftlichen Erfolg seiner Unternehmung
zu tun haben. So hat er für die Kinder der Familien auf der Finca und aus
den Nachbarsiedlungen eine alte Schule wieder aufgebaut, die jahrelang geschlossen war. Das bindet die Eltern an seinen Betrieb und garantiert, dass er
später Leute bekommt, die lesen und schreiben können. Auch dass Vollmer
einen Ex-Soldaten als Verwalter beschäftigt, ist kein Zufall. So behält er die
Zügel fest in der Hand, wenn er nicht vor Ort ist.
Der Winzer pflegt beste Kontakte zum argentinischen Militär, seit er
1985 am Aconcagua einem jungen Gebirgsjäger, einem Generalssohn, das
Leben gerettet hat. Seither kann sich Vollmer auf die Militärs verlassen,
wenn er Hilfe braucht. Etwa wenn es darum geht, einen Vollernter aus
Deutschland durch den argentinischen Zoll zu bekommen. Genüsslich erinnert sich Schrek, wie die Zöllner im Hafen von Buenos Aires versuchten,
Vollmer abzukassieren. „Die wollten die Maschine nur gegen Bares reinlassen.“ Gemeinsam mit seinen Freunden habe der Winzer daraufhin eine
Geldübergabe fingiert, bei der die Zöllner aufgeflogen seien. „Da hatten
sich die Jungs ordentlich verrechnet“, erzählt Schrek. „Aber wenn du hier
einmal zahlst, dann zahlst du immer.“
Oder wenn sich Vollmer einen langjährigen Traum erfüllt und am
Aconcagua auf über 6.000 Meter Höhe die höchste Berghütte der Welt
errichtet. Gemeinsam mit einem Trupp argentinischer Gebirgsjäger und
Bergesteigerfreunden aus der Pfalz schafft er 1998 auf dem Rücken von
Maultieren zentnerweise Holz auf den Berg. „Da steht sie nun die Hütte“,
resümiert Schrek. „Der Heinrich ist eben ein Bergsteiger. Wenn er vor dem
Berg steht, dann will er mit aller Macht auf den Gipfel.“
9. Mähnenwolf gegen Ameisenbär
„Am liebsten frisst er Trauben. Mit anderen Früchten tut er sich noch ein
bisschen schwer. Aber ansonsten geht es ihm bestens“, erzählt die Zoologin
Roxana Laplace, während der junge Krefelder Mähnenwolf in seinem
Gehege auf und ab wandert, den wachen Blick immer auf die Besucher gerichtet, die dunklen Nackenhaare aufgerichtet. „Es braucht eben ein bisschen Zeit, bis er sich hier zuhause fühlt.“
Vier Monate ist es jetzt her, dass das rotfellige, hochbeinige Tier aus
dem Krefelder Zoo per Flugzeug auf die lange Reise nach Südamerika ge369
Andreas Lautz
Argentinien
schickt wurde. Der Mähnenwolf ist ein Geschenk an den Zoo La Plata, eine
Zugstunde entfernt von der Hauptstadt Buenos Aires. Mit zwei argentinischen Wölfinnen soll der Chrysocyon brachyurus dort möglichst bald Junge
zeugen und so das weltweite, von Frankfurt aus koordinierte Zuchtprogramm
für diese Tierart vorantreiben.
Bislang hatte der Krefelder Wolf dazu allerdings keine Gelegenheit. Das
neue Wolfsgehege ist noch nicht fertig. Bis es soweit ist, muss er noch in
einem provisorischen Auslauf leben, getrennt von den Weibchen. „Ein paar
Wochen wird es noch dauern. Aber dann kann er loslegen“, sagt Laplace.
Die oberste Zuchtbeauftragte des Zoos und ihre Handwerker bemühen sich,
den Tieren ein Liebesnest mit allen Annehmlichkeiten zu bereiten. Neben einer
komfortablen Hütte aus Holz und Beton für die nasskalten Tage ist ein großer
Auslauf mit viel natürlicher Vegetation vorgesehen. Aber auch wenn die drei
Tiere zusammengezogen sind, wird man sich noch ein wenig gedulden müssen. Mähnenwölfe haben nur in den Monaten von Oktober bis Dezember Lust
und die Tragezeit der Weibchen dauert immerhin 62 bis 66 Tage.
In jedem Fall können sich die Besucher des Zoos auf einen spannenden
Liebesreigen gefasst machen. Der Krefelder Wolf ist wie alle seine männlichen Artgenossen streng monogam. Eine der beiden Wolfsdamen wird also
leer ausgehen.
Auf den ersten Blick erscheint der Transport des Wolfes einmal diagonal über den Atlantik aberwitzig. Für die weite Flugreise schreinerten
Handwerker des Krefelder Zoos eine spezielle Transportkiste. Wegen der
komplizierten Veterinärsbestimmungen musste der Wolf 30 Tage lang isoliert, mehrfach geimpft und zweimal narkotisiert werden, damit Blutproben
entnommen werden konnten.
Dabei stammen seine Vorfahren ursprünglich aus Südamerika. Noch heute
streifen einige wenige Mähnenwölfe durch die weiten Steppenlandschaften
Argentiniens, Uruguays, Paraguays und Brasiliens. Die einsamen Streuner
ernähren sich vor allem von Früchten, Wurzeln, Nagetieren und Schnecken.
Mit dem furchterregenden Wolf, der im Rudel Schafe reißt, hat der Krefelder
Mähnenwolf also wenig zu tun. Die langen Beine dienen denn auch weniger zur schnellen Jagd, als dazu, in der Buschlandschaft die Übersicht zu
behalten.
Für den Erhalt der vom Aussterben bedrohten Art scheint kein Aufwand
zu groß. Um die frei lebenden Bestände im eigenen Land nicht zu gefährden,
kam für den Zoo La Plata nur ein Tier in Frage, das bereits in Gefangenschaft
lebt. „Und da die fünfzehn Mähnenwölfe in den argentinischen Zoos alle
miteinander verwandt sind, bot sich die Zusammenarbeit mit Deutschland
an“, erzählt Laplace. „Wir brauchten frisches Blut!“
370
Argentinien
Andreas Lautz
Ganz selbstlos haben die Deutschen den Rüden aber nicht abgegeben.
Der Krefelder Zoo hofft im Gegenzug darauf, in ein bis zwei Jahren einen jungen Tamandua aus Argentinien einfliegen zu können. Für den
„Kleinen Ameisenbären“ führen nämlich die Krefelder das europäische
Zuchtprogramm.
In Argentinien stehen Programme zur Erhaltung bedrohter Arten noch
ganz am Anfang. „Wir können da von den Deutschen, die das schon seit vielen Jahren systematisch mit detaillierten Zuchtbüchern machen, noch viel
lernen“ sagt Roxana Laplace. In den fünf Jahren, seit Carlos Galliari in La
Plata Direktor ist, hat sich aber schon viel verändert in dem fast 100 Jahre alten Botanischen und Zoologischen Garten. Inzwischen beteiligt sich der Zoo
nicht nur an der Zucht von Mähnenwölfen, sondern auch an entsprechenden
Programmen für Papageien, und verschiedene Affenarten. Unter anderem
gibt es auch ein Forschungs- und Schutzprojekt für Meeresschildkröten, die
jedes Jahr zu Tausenden ihre Eier an den Küsten Argentiniens ablegen.
Früher zeigte der Zoo vor allem exotische Tiere wie Elefanten und Giraffen.
Die gibt es auch heute noch. Stärker als bisher liegt das Augenmerk jedoch
darauf, den Besuchern die vielfältige Tierwelt des eigenen Landes näher zu
bringen. „Und dazu gehört eben auch der Mähnenwolf“, sagt Laplace.
Besonders die Schulen der Stadt wissen das zu schätzen. Die Kinder in La
Plata lieben den Zoo. An allen Gehegen gibt es ausführliche Informationen
zu den jeweiligen Bewohnern. Sogar einen kleinen Urwald lässt man wachsen, um den Kindern das eigene Land näher zu bringen.
Die Schulkinder werden es auch sein, die für den Krefelder Wolf die
Zeit der Namenlosigkeit beenden. „Wenn das neue Wolfsgehege fertig ist
und die drei Tiere endlich zusammen sind, werden wir mit den Kindern
einen Wettbewerb machen“, erzählt Laplace. „Dann bekommt der Wolf aus
Deutschland endlich einen schönen argentinischen Namen.“
10. „Die Züge rollen wieder“
Interview mit Hebe de Bonafini, der Präsidentin der Menschenrechtsorga
nisation Las Madres de Plaza de Mayo, am 3. Dezember 2003. Der Anlass:
der zweite Jahrestag der heftigen Unruhen Ende 2001 und der 20. Jahrestag
des Übergangs von der Militärdiktatur zur Demokratie.
Señora de Bonafini, werden Sie den 20. Geburtstag der Demokratie in
Argentinien feiern?
Nein. Von 20 Jahren Demokratie kann nicht die Rede sein. Wir haben
zwar seit zwei Jahrzehnten eine demokratische Verfassung, aber in dieser
Zeit gab es Phasen der schlimmsten Repression. Unter Präsident Menem
371
Andreas Lautz
Argentinien
zum Beispiel ist das Haus der Madres mehrfach verwüstet worden. Und
erinnern Sie sich nur an die gewalttätigen Auseinandersetzungen auf dem
Höhepunkt der Krise im Dezember 2001. Am 10. und 11. Dezember werden
wir deshalb stattdessen zum 23. Mal einen vierundzwanzig Stunden dauernden Widerstandsmarsch organisieren. Das wird ein großes Fest werden auf
der Plaza de Mayo, mit Hunderten von bunten Drachen!
Die Madres sind seit Jahren gespalten. Gibt es eine Chance, dass sie künftig
wieder mit einer Stimme sprechen?
Nein, aber das ist auch nicht notwendig. Meine Vereinigung ist eine starke Organisation mit 15 Filialen im ganzen Land, sogar mit einer eigenen
Universität. Die Madres von der “Linea Fundadora“ dagegen sind nur wenige.
Außerdem konzentrieren sie sich zu sehr auf die Vergangenheitsbewältigung
und nicht auf die sozialen Probleme der Gegenwart.
Welches sind für Sie die drei drängendsten Punkte auf der politischen Agenda
Argentiniens?
Erstens die Bekämpfung des Hungers. Wenn sie durch Buenos Aires laufen, werden sie zahllose Kinder sehen, die nicht genug zu essen haben. In den
Provinzen ist es noch viel schlimmer. Zweitens brauchen wir eine neue Kultur
der Arbeit. Es gibt viel zu viel Arbeitslosigkeit. Viele Menschen ziehen es vor,
zu demonstrieren und Sozialhilfe zu kassieren, als arbeiten zu gehen. Drittens
gilt es, die politische Mafia in den Provinzen zu zerschlagen. Sie behindern den
Wandel zum Besseren und machen unserem neuen Präsidenten Kirchner das
Leben schwer.
Es fällt auf, dass Sie nicht von denen sprechen, die während der Militärdiktatur
verschwunden sind. Oder davon, dass Kirchner die Aufarbeitung dieser
Verbrechen neu angestoßen hat. Stehen Sie nur noch für das Thema soziale
Gerechtigkeit?
Nein. Soziale Themen standen immer ganz oben auf der Agenda der Madres.
Arbeitslosigkeit ist ein Verbrechen! Sehen Sie, auf meinem Kopftuch stehen
nicht die Namen meiner verschwundenen Kinder. Wir verstehen uns als die
Mütter aller. Deshalb beziehen wir auch in wirtschaftlichen und sozialen
Fragen klar Position. Wir sind dagegen, wenn die argentinische Regierung ihre
Schulden im Ausland begleicht, ohne auf die Situation im Land Rücksicht zu
nehmen. Und wir unterstützen mit aller Kraft diejenigen Belegschaften, die
Unternehmen besetzt haben und sie in Kooperativen weiterführen, um ihre
Arbeitsplätze zu retten.
Trotzdem übt die Linke Argentiniens teilweise heftige Kritik an Ihnen.
Woran liegt das?
Wir zählen uns nicht zur Linken. Dort gibt es zu viele, denen nichts anderes
einfällt, als auf die Regierung einzuschlagen. Große Teile der Linken haben
372
Argentinien
Andreas Lautz
noch nicht verstanden, dass sich die Situation mit Kirchner entscheidend verändert hat. Mit ihm kann man ganz konkrete Verbesserungen erreichen.
Können Sie Beispiele nennen?
Natürlich. Kirchner hat dafür gesorgt, dass für Kinder bis zum 5. Lebensjahr
kostenlos Ausweispapiere beantragt werden können. Bislang waren zu viele
Menschen 2. Klasse, weil sie nicht genug Geld hatten, um für die teuren Papiere
zu bezahlen. Und noch ein Beispiel: Im vergangenen Jahr gab es für lange Zeit
in Buenos Aires keine Orangen zu kaufen, weil keine Züge mehr zwischen der
Provinz und der Hauptstadt verkehrten. Heute rollen die Züge wieder!
Es heißt, Sie stünden Kirchner sehr nahe.
Wir reden häufig miteinander. Wenn mir etwas nicht gefällt an seiner Politik,
dann sage ich es ihm. Zum Beispiel, dass seine wirtschaftlichen Pläne immer
noch nicht klar formuliert sind. Im Wahlkampf hat man mich oft gefragt, welchen Präsidentschaftskandidaten ich bevorzuge. Ich sagte: Keiner taugt etwas,
auch Kirchner nicht. Dieses Urteil musste ich revidieren, glücklicher Weise.
Kirchner hört den Leuten zu, und sie wissen es zu schätzen. Außerdem macht
er keine großen Worte. Er handelt.
11. Schluss
Diese Geschichten zeigen, dass Argentinien eine zerrissene Gesellschaft
ist. Einzelne verwirklichen sich märchenhafte Träume. Für die meisten ist
der Alltag jedoch ein Überlebenskampf, der so gut wie keine Zeit lässt für
Gedanken, die weiter in die Zukunft schweifen.
Diese Zukunft ist mehr als ungewiss. Selbst für aufmerksame Beobachter
ist es schwierig, zu erkennen, wohin sich das Land bewegt. Dem neuen
Präsidenten Ernesto Kirchner ist es mit einem neuen Politikstil gelungen,
wieder ein Mindestmaß an Ruhe und Ordnung herzustellen. Die Wirtschaft
nimmt langsam Fahrt auf, die Menschen schöpfen langsam Hoffnung. Doch
wie stabil ist die Situation? Ein Gutteil der Popularität des Präsidenten rührt
daher, dass er gegenüber ausländischen politischen und wirtschaftlichen
Akteuren einen rauhen Ton anschlägt. Mittelfristig braucht Kirchner jedoch
wieder das Vertrauen ausländischer Investoren. Nur mit Hilfe von außen wird
es ihm gelingen, dem Land neues Leben einzuhauchen.
Um die Argentinier auf seinem Weg mitnehmen zu können, benötigt
Kirchner möglichst bald vorzeigbare Erfolge, die die Menschen im Alltag spüren. Daneben muss der Präsident vor allem die in mächtige Interessengruppen
zerfallende politische Klasse davon überzeugen, dass grundlegende
Veränderungen im Interesse aller sind. Andernfalls ist der nächste Rückfall
des Landes vorprogrammiert.
373
Michael Lohse
aus Deutschland
Stipendien-Aufenthalt im
Senegal
16. Januar bis 06. März 2004
375
Senegal
Michael Lohse
Musik im Senegal Opium für das Volk oder Perspektive?
Von Michael Lohse
Senegal vom 16.01. – 06.03.2004
377
Senegal
Michael Lohse
Inhalt
1. Zur Person
380
2. Nachtleben
380
3. RAP - zwischen Revolte und Religion
382
4. Mbalax - zwischen Glamour und Konvention
391
5. Die Akteure im Hintergrund
400
6. Die geschäftliche und juristische Seite
405
7. Fazit
411
8. Dank
412
379
Michael Lohse
Senegal
1. Zur Person
Michael Lohse, Jahrgang 1967, studierte Musik an der Bremer Hochschule
für Künste, anschließend journalistisches Aufbaustudium an der Hochschule
für Musik und Theater Hannover, Volontariat beim WDR, dort seit 1999
Redakteur, zurzeit in der Hörfunkunterhaltung.
2. Nachtleben
Dakar, Senegal, zwei Uhr morgens. Endlich: Youssou Ndour taucht aus
dem Trockennebel. Die Stunden geduldigen Wartens haben sich gelohnt.
Sein Club „Thiossane“ mit dem etwas ramponierten Charme einer 70erJahre-Disco ist bis auf den letzten Platz gefüllt – den für die Senegalesen
saftigen Eintrittspreisen zum Trotz. Saturday-Night-Fever auf senegalesisch. Der Startschuss für die Tanzextase ist gefallen. Die Menge, die
eben noch steif und gelangweilt das Vorprogramm über sich ergehen ließ,
drängt sich plötzlich vor der Bühne, präsentiert sich in chicster Garderobe.
Meine Begleiter Issa und Samba kennen jedes Lied, jede Zeile. Sie sind
nicht die einzigen. Und Youssou, der König des Mbalax, läßt ohne sichtbare
Bewegung die Huldigungen über sich ergehen. Konzentriert liefert er seinem Publikum, was es hören will: keinen weich gespülten Pop à la „Seven
Seconds“, sondern Rhythmen, nach denen man tanzen kann. Später überlässt
er seinem Perkussionisten Mbaye Dieye Faye das Feld. Mit einer Energie,
die an Wahnsinn grenzt, bearbeitet er das senegalesische Trommelarsenal
von Djembé bis Sabar und singt dazu. Sonntagmorgens um halb fünf ist
dann schlagartig alles vorbei. Licht aus, Nebel verraucht, keine Zugaben.
Und das eben noch aufgeputschte Publikum schluckt den Abgang des Stars
widerspruchslos. Geordnet strömt man zum Ausgang, den aufdringlichen
Taxifahrern entgegen.
Ich kann mein Glück kaum fassen: Gerade bin ich gut 24 Stunden in
Dakar, schon habe ich Youssou Ndour live vor heimischem Publikum gesehen. Um es gleich vorwegzunehmen: so nah komme ich ihm danach
nicht wieder. Seine arrogante Entourage vereitelt erfolgreich jeden weiteren Annäherungsversuch. Und so einmalig, wie ich zunächst glaube, ist
die Chance nicht. Youssou Ndour ist wie die meisten Künstler, die es im
Senegal an die Spitze geschafft haben, ein Arbeitstier. Auch nach über 30
Jahren Showbiz schlägt er sich die Nächte um die Ohren und spielt jedes
Wochenende live in seiner Discothek, sofern er in der Heimat weilt.
Mich erschöpft ja schon das Zuhören: Reihenweise konsumiere ich in den
nächsten Wochen Konzerte, die selten vor zwei Uhr beginnen. Nachdem ich
380
Senegal
Michael Lohse
erst einmal festgestellt habe, dass Exkursionen ins Nachtleben der senegalesischen Hauptstadt nicht zwangsläufig meine Ermordung zur Folge haben,
bin ich nicht mehr zu bremsen. So sehe ich Thione Seck in seinem Club
„Kilimanjaro“, Cheikh Lô und Suleymane Faye im „Just 4 you“, gehe ins
Open-Air-Theater des französischen Kulturzentrums zu Abdou Guité Seck,
oder erlebe ein Konzert des Orchestre Baobab im „Yengoulene“, dem nagelneuen Musiktempel im Norden der Stadt. Der amerikanische Musiksender
MTV dreht dort einen Konzertfilm über die Klassiker der senegalesischen
Musik, die auf amerikanische Jazzmusiker treffen. „Eine solch hippe
Location gibt es nicht mal in New York“, schwärmt mir ein Kameramann
vor, der gelassen mit den Stromausfällen umgeht, die immer wieder für ungeplante Drehpausen sorgen.
Wie dieses Filmteam bin ich wegen der Musik in den Senegal gekommen, wegen des faszinierenden kulturellen Reichtums dieses Landes. Dakar
ist ein Schmelztiegel der Strömungen und Einflüsse, schon aufgrund seiner
exponierten Lage: Tor zu Schwarzafrika, westlichster Punkt des Kontinents,
keine andere Metropole südlich der Sahara liegt näher an Europa, aber auch
an New York und New Orleans, den Zentren von Blues und Jazz. Auf der
vorgelagerten Insel „La Gorée“ begann für die Sklaven unter grausamen
Bedingungen die Fahrt ohne Wiederkehr. Aus New York kommen heute die
schwarzen Musiker in den Senegal, auf der Suche nach ihren Wurzeln:
Da sind zum einen die Griots, die spezialisierte Musikerkaste der
traditionellen westafrikanischen Gesellschaft. Zugleich Musiker und
Geschichtenerzähler, übernahmen sie die Funktion des Historikers. Mündlich
gaben sie das Wissen einer Generation an die nächste weiter, priesen die
Stammbäume ihrer Adeligen bei festlichen Anlässen. Noch heute singen sie
auf Hochzeiten, Beerdigungen und Beschneidungsfesten und werden dafür
beschenkt.
Und da sind die islamischen Gesangstraditionen: monotone Sologesänge
und Rezitationen, die der Meditation dienen. Seit Jahrhunderten dominiert
der Islam das gesellschaftliche Leben im Senegal, allerdings weit weniger
dogmatisch als in arabischen Ländern.
In der aktuellen senegalesischen Musik mischen sich die Traditionen mit
latein-amerikanischer Musik, aber auch mit Rock, Blues und Rap. Stimmt
die Dosierung der Zutaten, kann diese Mischung durchaus erfolgreich sein:
Kaum ein afrikanisches Land hatte am Weltmusik-Boom der letzten zwanzig Jahre so großen Anteil wie der Senegal: Ob Youssou Ndour, Baaba Maal,
Ismaël Lô, das Orchestre Baobab, Touré Kunda, Africando oder die explodierende Rap-Szene – sie alle fanden ein internationales Publikum.
381
Michael Lohse
Senegal
Ich wollte wissen: Woher kommt dieses überschäumende kreative Potential?
Wer profitiert von diesem Erfolg? Und welche wirtschaftlichen Perspektiven
bietet er beim Kampf gegen die Armut?
Dazu führte ich Interviews mit allen Akteuren des Musikbetriebs:
Produzenten, Händlern, Managern, Gewerkschaftern und Veranstaltern,
aber zuallererst natürlich mit den Musikern.
3. RAP – zwischen Revolte und Religion
„C’est où, la maison de Didier Awadi?“ Die Taxifahrt kostet mich den
letzten Nerv. Der Fahrer hat keine Ahnung, ich sowieso nicht. Meinen
Stadtplan verschmäht er, stattdessen fragt er wahllos Leute an der Straße.
„Awadi? Studio Sakama?“ Und alle kennen ihn, den Kopf von „Positive
Black Soul“ (PBS), der bekanntesten Rap-Gruppe des Senegal. „Wohnt
gleich dahinten rechts“ – im Prinzip jedenfalls. Jeder weiß was, es hilft nur
nichts. Wir fahren durch Dakars nördliche Vororte: Hochhäuser dominieren
nur im Zentrum, hier reihen sich monotone Siedlungen weißer Bungalows
in unterschiedlichen Phasen der Fertigstellung aneinander. Dafür tragen die
Viertel phantasievolle Namen wie „Liberté I“, „Liberté II“ oder „Liberté
III“.
Meine Odyssee endet in „Amitié II“. Wir halten vor einem grauen
Appartementhaus. Hier soll es sein? Ich glaube kein Wort, will aber endlich
raus aus dem Taxi. Doch tatsächlich: Auf der geräumigen Dachterrasse über
der Wohnung von Awadis Familie finde ich die Creme der senegalesischen
Rap-Szene versammelt: Xuman von „Pee Froiss“, Shaka Babs, Doug E Tee
und Didier Awadi von „PBS“. Alte Couchsessel laden zum Abhängen ein.
Auf einem kleinen Gaskocher wird unermüdlich grüner Tee aufgebrüht. Die
Atmosphäre ist entspannt. Gerade haben verschiedene Rapper auf Einladung
von „PBS“ gemeinsam eine Hymne zur „Coupe d’Afrique des Nations“ aufgenommen, der afrikanischen Fußballmeisterschaft. Stolz präsentieren sie
mir das Werk mit eingängigem Refrain fürs Stadion. Auf der Dachterrasse
treffen sie sich fast jeden Nachmittag, um Konzerte zu planen, in Awadis
Heimstudio an neuen Sounds zu tüfteln, herumzuhängen – oder wie heute
einem neugierigen Journalisten Frage und Antwort zu stehen.
Routiniert und souverän sind viele Rapper im Umgang mit den Medien.
Zum einen entstammen die meisten eher der gebildeten Mittelschicht, zum
anderen sind sie den Medienauftrieb gewöhnt. Allen voran Didier Awadi,
denn seine 1989 gegründete Gruppe „Positive Black Soul“, war die erste
afrikanische Rap-Formation, die international von sich reden machte, nachdem der französische Rap-Star MC Solaar, selbst im Senegal geboren, sie
382
Senegal
Michael Lohse
als Vorgruppe engagiert hatte. „PBS“ zählt also schon zur senegalesischen
Old School, mischt aber immer noch ganz vorne mit.
3.1. Politisches Sprachrohr
Didier Awadi formuliert griffige Botschaften gleich in Serie: „Wir haben
einen Namen ausgesucht, der ein positives Afrikabild ausdrückt. Wir wollen nicht mehr die Gleichung Afrika gleich Hunger, Krankheit und Krieg.
Deshalb der Name Positive Black Soul.“
Bei allem schwarzafrikanischen Selbstbewusstsein – eine blinde Affirmation von allem, was Schwarze tun, meint er damit keineswegs: „Wenn
man dieses positive Bild zeigen will, müssen wir uns auch selbst kritisieren.
Das heißt auch: Jedesmal, wenn ein Schwarzer einen Fehler macht, muss
man ihn kritisieren.“
Die ganze Zeit habe ich das Gefühl, eher mit einem politischen Führer
zu sprechen als mit einem Musiker. Auf der aktuellen Platte hat sich die
Gruppe in „PBS radical“ umbenannt:
„Wir wollten deutlich machen: Das ist jetzt kein Witz mehr. Wir fordern von der Regierung Veränderung, Entwicklung. Keine Korruption
mehr, keine Unterdrückung, keine krassen Gegensätze zwischen arm und
reich, zwischen Regierenden und Regierten. Die Dinge müssen sich ändern. Um unserer Geschichte und Entwicklung willen: wir brauchen einen
Mentalitätswechsel.“
Die senegalesische Jugend befindet sich in einem Überlebenskampf,
der sich mit deutschen Verhältnissen schwer vergleichen lässt. 80 Prozent
der Bevölkerung sind unter 30 Jahre alt. Das Land hat eine der höchsten
Geburtenraten der Welt, ist gebeutelt von Krankheiten wie Malaria, Aids
und Tuberkulose. Die Jugendarbeitslosigkeit in den Vorstädten Dakars ist
katastrophal, die Studienbedingungen an der Cheikh-Anta-Diop-Universität
unsäglich. Studentenstreiks wegen hoffnungslos überbelegter Wohnheime
und ungenießbarem Mensa-Essen sind an der Tagesordnung. Die öffentliche
Infrastruktur, ob Bildung, Verkehr, Stromversorgung oder Gesundheitswesen
kann mit dem Wachstum der zweieinhalb Millionen-Metropole nicht annähernd Schritt halten. Diese Realität spiegeln die Rapper wider. Shaka Babs
zum Beispiel. In seinem Stück „Ich kann es nicht glauben“ spielt er auf
Staatsgründer Leopold Senghor an, der einst großspurig versprochen hatte,
im Jahr 2000 würde Dakar sein wie Paris: „Ich kann nicht glauben, dass
unser Land eines Tages das entwickeltste der Welt sein wird, weil ich einen
Präsidenten habe, der zu viel redet, der zu viel reist, weil es Abgeordnete
gibt, die überhaupt nichts tun. Weil ich die Bettler auf der Straße sehe, die
383
Michael Lohse
Senegal
kleinen Kinder, drei oder vier Jahre alt, die im Müll schlafen.“ Shaka Babs
betont, wie wichtig die Hip-Hop-Bewegung für den sozialen Frieden ist:
„Es gab viele Jugendliche ohne Arbeit, Diebe und Gewalttätige, darunter
auch Studenten, die keine Arbeit fanden und gezwungen waren, zu stehlen.
Als der Rap kam, hat er geholfen. Er hat viel Beschäftigung geschaffen.“
Man schätzt, dass es allein in Dakar zwischen drei- und fünftausend RapGruppen gibt. Geht man von durchschnittlich vier Mitgliedern aus und rechnet dann noch das jeweilige Umfeld dazu, ergibt sich eine gewaltige Zahl von
Jugendlichen, die durch den Rap wenn schon keine Verdienstmöglichkeiten,
so doch zumindest eine Idee haben, was sie mit ihrem Leben anfangen sollen. Der Rap ist für sie nicht irgendein Hobby - sie träumen von der Karriere;
hoffen, einmal von ihrer Musik leben zu können. Ein gewaltiges kreatives
Potential also wartet auf den Straßen der trostlosen Vororte, junge Leute, die
mit vollem Einsatz versuchen, Musiker zu werden.
3.2 Ventil für Frustration
Der deutsche Produzent Steven Töteberg betreibt seit drei Jahren ein
Studio in Yoff bei Dakar. Viele unbekannte Rapper kommen zu ihm,
um Demokassetten aufzunehmen. Sie kommen längst nicht nur aus dem
Senegal, sondern strömen von immer weiter her nach Dakar. Erst recht, seit
sich das 2.000 km entfernte Abidjan wegen des rassistischen Bürgerkriegs
in der Elfenbeinküste als Alternative praktisch erledigt hat. Töteberg berichtet: „Ich hatte hier eine Gruppe, die kam aus Conakry in Guinea. Die
kamen hier an, standen barfuss vor der Tür. Die hatten ihre Schuhe verkauft, um das letzte Stück der Fahrt noch zu finanzieren. Die haben wir dann
produziert und über Nacht 40.000 Kassetten verkauft. Ich hab davor einen
Riesenrespekt, wenn ein Jugendlicher zum Beispiel zehn Euro in der Tasche
hat und davon nimmt er 9,50 Euro, um ein Demotape aufzunehmen, auf dem
er tut, was er will. Dass das dann vielleicht nicht ganz große Kunst ist, ist
eine andere Frage, aber die Energie ist kanalisiert. Und vielleicht bleibt dann
ein Messer länger im Gürtel hängen.“
Der Rap ist ein Ventil für Protest. Dafür eignet er sich deshalb so gut,
weil er nicht viel voraussetzt: weder unerschwingliche Instrumente noch
langjährige musikalische Vorkenntnisse. Turntables sind im Senegal natürlich Mangelware, aber im Zweifel ersetzen eine Beat-Box oder einfach eine
Djembé das technische Equipment. Nein, es geht nicht in erster Linie um
Kunst, sondern um Botschaften. Didier Awadi: „Ich werde zuerst wegen der
Texte gehört, dann wegen der Musik. Die Musik ist nur ein Transportmittel
für meine Botschaften, eine Trägerrakete. Ich versuche, Sprecher zu sein.
384
Senegal
Michael Lohse
Ich versuche, zu sagen, wozu sie (das Publikum) nicht die Chance haben,
weil wir das Glück haben, exponiert zu sein durch Fernsehen und Radio.
Wir sind jetzt bekannt, aber wir kommen aus bescheidenen Verhältnissen
und kennen die, die unten leben; diskutieren mit ihnen. Es ist unsere Pflicht,
alles zu tun, damit sich ihr Leben entwickelt.“
3.3 Nach dem Wechsel
„Ca va P.T.“ – „Es wird knallen“ hieß ein Hit der Gruppe „Pee Froiss“.
Das war vor dem Regierungswechsel vor vier Jahren. Bis dahin hatten die
Sozialisten das Land regiert - ohne Unterbrechung, seit das Land 1960 unabhängig wurde. Den Wahlsieg über Präsident Abdou Diouf verdankte der damalige Oppositionsführer Abdoulaye Wade nicht zuletzt der Unterstützung
der Rapper. Insofern hat sich nach 2000 eine neue Situation ergeben. Xuman,
Sänger von „Pee Froiss“, berichtet: „Vor 2000 war die Gesellschaft in einer
großen Krise. Mit dem neuen System kam die Hoffnung. Aber das hat die
Rapper nicht daran gehindert, die Wahrheit zu sagen. Wir sind vielleicht einverstanden mit Sopi (Wolof für Wechsel), aber wir sind wachsam. An dem
Tag, an dem sich die Dinge zum Schlechten wenden, gehen wir mit Wade
genau so um wie damals mit Diouf.“
Der neue Präsident bewies vor der Wahl populistischen Instinkt, indem er
sich selbst als Rapper bezeichnete und an Protestmärschen der Studenten teilnahm. Noch immer genießt er deshalb einen gewissen Vertrauensvorschuss.
Shaka Babs beispielsweise erklärt mir:
„Wade ist ein Rapper, er ist schlicht, bescheiden. Wenn er will, geht er auf
die Straße. Was mich nervt: Im Moment sieht man ihn zu viel im Fernsehen.
Wenn er sich gut fühlt, verfällt er ins Delirium und sagt: Filmt mich, ich hab
was zu sagen. Das bringt uns nicht voran. Er müsste sich zurückziehen, um
die Probleme zu lösen. Weißt du, was der Präsident den Studenten sagt, wenn
sie streiken: Ihr müsst es machen wie die Nationalmannschaft, weiterkämpfen. Er ist clever. Er weiß, die Jugendlichen zählen auf die Fußballer.“
Als Shaka Babs mir dieses Interview gibt, ist der Bruder des senegalesischen Jugendministers dabei. Ich habe nicht den Eindruck, dass er sich deswegen zurückhält. Bei allen Defiziten der Politik - zumindest scheint kein
Klima der Angst und der Zensur zu herrschen. Die Regierenden fürchten
das Protest-Potential in den Slums und wissen nur zu gut, dass ohne die drei
Drogen - Musik, Sport und Religion - nichts mehr laufen würde im Senegal.
Und auch der Rap ermöglicht letztlich die Flucht vor der Wirklichkeit, auch
wenn er sich zugleich mit ihr auseinandersetzt.
385
Michael Lohse
Senegal
3.4 Religion und Moral
Weit riskanter als Kritik an den politischen Zuständen ist es für die Rapper,
Religion zu thematisieren. Xuman von „Pee Froiss“ berichtet:
„Selbst wenn man von Freiheit des Ausdrucks spricht, das ist ein sehr
sensibler Bereich. Man muss aufpassen. Gerade unter den Gläubigen
gibt es zwangsläufig Leute, die Fanatiker sind. Selbst wenn du mit einem Intellektuellen sprichst, sobald du auf die Religion kommst, legt
er das Gewand des Intellektuellen ab und vertauscht es mit dem eines
Fanatikers.“
Obwohl der Senegal eine laizistische Verfassung hat, ist der Islam fast so
etwas wie eine Staatsreligion. Vertrauenswürdige Statistiken sind wie auf
allen Gebieten Mangelware, aber man schätzt den Anteil der Moslems auf
über 90 Prozent. Weit problematischer als das Verhältnis zwischen Moslems
und hauptsächlich im Süden des Landes lebenden Katholiken sind die
Beziehungen der Moslems untereinander, da sie in teilweise rivalisierende
Sekten aufgesplittert sind. Ein halbes Dutzend Bruderschaften gibt es im
Senegal, alle haben eigene religiöse Führer, Marabouts genannt, und eigene
geistigen Zentren. Die zwei größten Gruppen sind die Tidjanen mit ihrer
Hauptmoschee in Tiavouane und die Mouriden mit ihrer heiligen Stadt Touba
im Landesinneren. Die Mouriden sind zwar in der Minderzahl, aber straffer
organisiert als die Tidjanen und äußerst geschäftstüchtig. Im 19. Jahrhundert
von Cheikh Amadou Bamba gegründet, dominierten die Mouriden zunächst
den Erdnußhandel, später auch Geschäftsleben und Transportwesen. Wie
ich später ausführen werde, haben sie auch die Musikbranche fest im Griff.
Hauptmerkmal der Mouriden ist ihre geradezu protestantische Arbeitsethik.
Die Anhänger, Talibés genannt, sollen schuften von morgens bis abends.
Der Marabout wird reichlich mit Spenden bedacht, dafür kümmert er sich
um Allahs Unterstützung. Der Einfluss der religiösen Führer auf die Politik
ist undurchsichtig und ein Tabu. In jedem Fall können ihre Empfehlungen
Wahlen entscheiden. Präsident Abdoulaye Wade ist Mouride und sucht ebenso wie Glaubensbruder Youssou Ndour immer wieder die Rückversicherung
der Geistlichen in Touba. Sein Appell für eine nationale Kraftanstrengung
zum Aufbau des Landes, der an Dakars Ausfallstraßen plakatiert ist, klingt
wie eine Variante des Mouriden-Credos: „Il faut travailler, beaucoup travailler, encore travailler – toujours travailler.“
Politiker wie Diouf und Wade kann man relativ gefahrlos kritisieren, mit
ihrem Ansehen ist es angesichts der offensichtlichen Missstände ohnehin
nicht weit her. Anders sieht es bei den Marabouts aus, auch wenn bei einigen
die Praxis mit dem Koran nicht viel zu tun hat. „Cadillac-Marabouts“ heißen im Volksmund diejenigen, die sich vom Geld ihrer Schüler ein schönes
386
Senegal
Michael Lohse
Leben machen. Als die Gruppe „BMG 44“ einen Marabout angriff, der sich
von Politikern für eine Wahlempfehlung bezahlen ließ, erhielt sie zahlreiche
Morddrohungen. Und es bleibt nicht immer nur bei Worten, wie Xuman
erfahren hat: „Ein Freund von mir wurde vor einiger Zeit überfallen, weil er
in einem Stück einen Marabout namens Kara kritisierte.“
Bei all dem muss man betonen, dass der Islam im Senegal mit dem
Feindbild der westlichen Islam-Hysterie nichts zu tun hat – gelegentlichen
Bin-Laden-Aufklebern im Taxi zum Trotz. Gegenüber anderen Religionen
ist man ausgesprochen tolerant, Moscheen dürfen von Ungläubigen besichtigt werden, und Kopftücher sieht man höchstens in Touba.
Faada Freddy von „Daara J“ hat recht, wenn er betont: „Die große Spiritualität sorgt dafür, dass der Senegal trotz allem ein friedliches Land ist.“
Die Rap-Formation bezieht sich schon mit ihrem Namen auf Religion:
„Daara J“ heißen im Senegal Islamschulen für Kinder, übersetzt „Schule des
Lebens“. Daara J verstehen das im übertragenen Sinne. Zu ihren Lehrern
und Vorbildern zählen sie etwa auch Vorkämpfer für ein selbstbewusstes
Afrika wie Ghanas Gründungspräsidenten Kwame Nkrumah oder den senegalesischen Wissenschaftler Cheikh Anta Diop. Religion steht bei ihnen
nicht für Fundamentalismus, sondern für einen positiven Gegenentwurf zur
korrupten Gesellschaft. Im Ausland ist „Daara J“ dabei, „PBS“ den Rang
abzulaufen, und auch im Senegal beweist die 1994 gegründete Gruppe,
dass man mit religiösen Themen äußerst erfolgreich sein kann. Vielmehr:
Ein Bekenntnis zum Glauben ist für senegalesische Musiker letztlich eine
Vorraussetzung für kommerziellen Erfolg. Wer öffentlich erklären würde,
Atheist zu sein, hätte bei einem Publikum keine Chance, für das Religion
eine zentrale Rolle spielt.
Das Äußerste, was man sich gestatten kann, ist Zurückhaltung in
Glaubensfragen. Sowohl Xuman als auch Didier Awadi meiden das Thema.
Awadi ist Katholik, alle anderen Mitglieder von „PBS“ sind Moslems. Vor
den Konzerten betet man gemeinsam, doch auf der Bühne hat das Thema
nichts zu suchen: „Ich mag die öffentliche Verteidigung von Religion nicht
besonders. Das ist eine sehr persönliche Sache.“
Allgemein aber lässt sich beobachten, dass zum einen der Rap für viele
Jugendliche zu einer Art Religion geworden ist, dass sich zum andern Islam
und Rap immer stärker miteinander vermischen. Xuman stellt fest: „Es gibt
Leute, die leben den Hip Hop von morgens bis abends. Der Rap ist dabei
auch ein Ausdrucksmittel für spirituelle Botschaften. Die Jugendlichen werden immer gläubiger.“
Einige Rapper entwickeln ein betont religiöses Sendungsbewusstsein.
James AJ 1 etwa erklärt mir: „Die Rapper suchen die Wahrheit und zu gegebenem Zeitpunkt gehört die Wahrheit Gott. Es geht immer um Wahrhaftigkeit.
387
Michael Lohse
Senegal
Ich muss die Jugendlichen zur spirituellen Seite stoßen, damit sie sich erkennen. Alles dreht sich um den Glauben. Wir haben nichts, doch wenn du
momentan das Land siehst, ist es, als hätten die Jugendlichen Millionen.
Weil wir eine Philosophie im Kopf haben, die besagt: Eines Tages wird Gott
kommen - das Wesentliche ist die Arbeit. Dieser Glaube treibt uns nicht nur
zur Wahrhaftigkeit, sondern auch dazu, die Moral zu bewahren.“
Ob aus religiösem Antrieb oder nicht - die senegalesischen Rapper sind
Moralisten. Sie wollen eine konstruktive Rolle spielen beim Aufbau der
Gesellschaft. Didier Awadi beschwört das Potential der Jugend: „Wir werden nicht depressiv. Wir verlassen nicht das Land. Nein, wir bleiben und
bauen es selbst auf. Es werden keine Geschenke aus dem Ausland sein, die
das Land aufbauen, sondern unser Engagement. Ich bin sehr optimistisch,
weil den Jugendlichen das immer bewusster wird.“
3.5 Nein zum Gangsta-Rap
„PBS“ scheuen sich nicht vor Appellen, die deutsche Kids vermutlich
nicht besonders cool fänden. So ermutigt Awadi die Jugendlichen, lesen zu
lernen, sich mit neuen Technologien wie dem Internet auseinanderzusetzen.
Manches wirkt verglichen mit dem Treiben der amerikanischen Kollegen
brav und banal, doch ist die Situation für die Rapper im Senegal eine völlig
andere. Trotz Hip-Hop-Kultur wird auch ihr Alltag stark von Konventionen
geprägt. Xuman erläutert: „Du hast eine große Verantwortung, wenn du
ein Stück schreibst. Tausende hören es, auch Kinder. Man darf sich keine
schmutzigen Redensarten erlauben. Schimpfwörter vor Erwachsenen gehören sich nicht. All das müssen wir in unseren Texten beachten.“
Hier zeigt sich der grundlegende Unterschied zu den USA. Die Rapper
im Senegal sind keine Outlaws wie die Vorbilder in den amerikanischen
Ghettos. Sie stehen in der Mitte der Gesellschaft, weil die Mehrheit arm ist.
Da bilden die Rapper keine Ausnahme. Daraus resultiert ein ganz anderes
Selbstverständnis. Man verzichtet auf Codes, die nur von Anhängern der
Hip-Hop-Community verstanden würden, weil man sich ja als Wortführer
der Entrechteten insgesamt versteht. Man will aus inhaltlichen wie aus ökonomischen Gründen möglichst breite Schichten ansprechen. Die Jugendlichen sehen sich wahlweise als Sprachrohr von Familie, Clan, Kaste oder
Wohnviertel. Generationskonflikte sind ihnen fremd. Sie wollen niemand
durch ungehörige Provokationen verschrecken, sondern konstruktiv am
Aufbau der Gesellschaft mitwirken.
Man bezieht sich dabei zwar auf den amerikanischen Rap, aber nur auf
dessen authentische Frühphase, Gruppen wie „Africa Bambaata“ oder
388
Senegal
Michael Lohse
„Public Enemy“. Von aktuellen Strömungen grenzt man sich ab. Sie werden als dekadent empfunden. Xuman unterscheidet deutlich: „In den USA
kannst du im Fernsehen sagen, ich habe mein Haus für so und so viele Dollar
gekauft, hier sagt man das nicht. Selbst wenn die Prahlerei ein Teil des Rap
ist: Ich bin der Schönste, Stärkste, meinetwegen, aber das ist nicht unsere
Kultur. Heute geht es im amerikanischen Rap um schicke Autos, Geld, aber
hier sind wir noch im Anfangsstadium, wo der Rap bewusst ist. Hier hat
man die Essenz des Hip Hop bewahrt. Das ist eine Botschaft des Friedens
und der Einheit.“
3.6 Kulturelle Identität
Die Musiker sortieren also äußerst bewusst, was in der eigenen Gesellschaft
vermittelbar ist und was nicht. Die Suche nach einer eigenen Rap-Identität
schlägt sich nicht nur in den Texten, sondern auch musikalisch nieder. Nicht
zuletzt stellen die Rapper ihren Sprechgesang in eine Linie mit senegalesischen Gesangsstilen wie Tasou und Tebetoul oder mit den Spottliedern der
Griots. Eine kühne Interpretation etwa liefern „Daara J“. Auf ihrem aktuellen Album „Boomerang“ schlagen sie selbstbewusst einen weiten Bogen
und singen: „Né en Afrique, grandit en Amérique, le rap n’a du faire qu’un
tour“ – „Geboren in Afrika, aufgewachsen in Amerika, hat der Rap nur umkehren müssen.“
Teilweise integrieren die Rapper traditionelle Instrumente in ihre Stücke
oder sampeln traditionelle Melodien. Didier Awadi erläutert: „Wir leben in
einer Gesellschaft, in der Tradition gegenwärtig ist. In einem afrikanischen
Haus leben drei Generationen unter einem Dach. So hast du eine direkte
Verbindung zwischen deiner Vergangenheit und deiner Zukunft. Die traditionellen Instrumente wie Kora und Tam Tam begleiten uns schon das ganze
Leben, lange vor Computer und CD. So ist es ganz natürlich, dass wir in unserer Musik diese Instrumente reflektieren. Wir brauchen unsere kulturelle
Basis, ohne die wir einfach nur Europa oder Amerika imitieren würden.“
Shaka Babs weist noch auf ein weiteres Originalitätsmerkmal des senegalesischen Rap hin: „Es gibt die Sprache: Wolof wird nur im Senegal gesprochen. Und selbst wenn ein Senegalese auf Englisch rappt, spürst du
seinen senegalesischen Akzent.“ Allerdings ist es durchaus nicht so, dass die
Rapper nur auf Wolof rappen würden. Es gibt vielmehr eine ganze Palette
von Sprachen, aus der man sich von Fall zu Fall eine herausgreift: die übrigen Stammessprachen, Englisch, Französisch, Spanisch oder Italienisch. Oft
wechselt man in einem Song das Idiom. Zum Beispiel singt man die Strophe
auf Wolof, den Refrain aber in Englisch, weil er das Thema zu einer globa389
Michael Lohse
Senegal
len Botschaft verdichtet wie „Fight your life“ oder „No more“. Teilweise
mischen sich gleich drei Sprachen in einem Satz wie bei Daara J: „Welcome
au pays de la Teranga.“ („Willkommen im Land der Offenheit“).
Letztlich zeigt sich hier auch die Zerrissenheit zwischen den Erwartungen
der senegalesischen Fans und denen des internationalen Publikums. Mit
Wolof lässt sich die Identität unter Beweis stellen, von englischen Texten
erhofft man sich den Karrieresprung ins Ausland. Während europäische
Veranstalter auf Koraspieler und Boubous anspringen, um ein exotisches
Afrikabild des Publikums zu bedienen, können die Rapper im Senegal auf
der Bühne nur mit westlichen Markenklamotten punkten. Die Gruppen laufen im Ausland nicht unter Hip Hop, sondern unter Weltmusik. Das zwingt
die Musiker zu einer zweigleisigen Strategie, wie Xuman erläutert: „Wir
spielen hier andere Stücke als im Ausland. Hier wollen die Leute vor allem
hören, was du zu sagen hast. Hier kann ich mit einer rhythmischen Musik
kommen, amerikanisch, kein Problem, aber wenn ich im Ausland nicht mehr
biete, verschwinde ich in der Masse. Da funktioniert vor allem der Fluss der
Texte und die Bühnenshow.“
3.7 Bilanz und Ausblick
Nach 15 Jahren Rap im Senegal sind die Gruppen längst über das Imitieren
amerikanischer und französischer Vorbilder hinaus. „PBS“, „Pee Froiss“
und „Daara J“ sind gefragte Acts in Europa und den USA. „Daara J“ zum
Beispiel sind zehn Monate im Jahr auf Tournee. Und ihr letztes Album steht
amerikanischen Produktionen an Professionalität in nichts nach, entstand allerdings größtenteils in Paris. Musik und Texte haben sich weiterentwickelt.
Der Rap genießt breite gesellschaftliche Akzeptanz und mediale Präsenz.
Alle Privatradios haben Rap-Sendungen, für die sie prominente Köpfe der
Hip-Hop-Bewegung wie Xuman als DJ verpflichten. Doch die goldene Ära
des senegalesischen Rap ist vorbei, wie Michael Soumah, Musikchef beim
wichtigsten staatlichen Radiosender Dakar FM, feststellt: „Der Rap fällt zurück - obwohl der Senegal nach den USA und Frankreich noch immer das
drittwichtigste Rap-Land der Welt ist. Eine zeitlang mussten die MbalaxStars den Rap integrieren, um zu verkaufen. Das ist vorbei. Es gibt einen
Mangel an Infrastruktur, jede Gruppe versucht es für sich.“ Noch immer
gibt es keine größeren Label und Studios, die sich auf die Promotion des
Rap konzentrieren würden. Und die heimischen Studios können mit den
technischen Möglichkeiten in Amerika und Frankreich oft nicht mithalten.
Für die zweite Rap-Generation ist die westliche Marktnische noch schmaler
geworden. Und vom jugendlichen Zielpublikum zu Hause kann man vorerst
390
Senegal
Michael Lohse
nicht leben. Dem fehlt schlicht die Kaufkraft, wie Xuman ernüchtert feststellt: „Wenn du ein Album gut verkaufen willst, musst du den Rahmen des
Rap verlassen. In der Hip-Hop-Gemeinschaft ist nicht viel zu holen.“
Einen viel versprechenden Ansatz, die Stagnation zu überwinden, verspricht der „Hip-Hop-Award“, der seit drei Jahren im Centre Culturel Francais
(CCF) in Dakar ausgetragen wird. Für eine Woche im Dezember verwandelt
sich das Gelände des Kulturzentrums in ein Dorf der Hip-Hop-Community,
wo Rapper, Breakdancer und Sprayer zeigen, was sie können. Begleitet wird
das Festival von Fortbildungsangeboten zu Fragen des Urheberrechts und
anderen wirtschaftlichen Aspekten des Show-Business. Hauptattraktion ist
ein Rap-Wettbewerb, bei dem Talente ohne Produzentenvertrag eine Chance
bekommen. Die Finanzierung übernimmt eine belgische Organisation. Die
Teilnehmer müssen einen Song zu einem vorgegebenen Thema einreichen.
Diesmal ging es um Aids. Sawie Ndiaye, Organisator des Wettbewerbs, beschreibt das Prinzip: „Wir wollten zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen:
Jungen Talenten helfen, ihnen eine Aufnahme finanzieren, und gleichzeitig
für Aids sensibilisieren. Das ist eine Sache, die wirklich Afrika als Ganzes
betrifft. Alle mussten auf einer Kassette die Übertragungswege erklären.
Die sechs Preisträger haben eine Kassette mit einer Auflage von 5.000 Stück
eingespielt, die umsonst verteilt wurde.“
In einem Land, in dem über die Hälfte der Bevölkerung nicht lesen und
schreiben kann, bietet der Rap eine einmalige Chance zur Aufklärung. Für
die Gewinner des Wettbewerbs indes bleibt es ein weiter Weg zu Ruhm und
Geld. Als ich Ndiaye im Garten des CCF interviewe, kommt auch einer der
Preisträger vorbei: Fou Malal. Er bietet mir ein Interview an, wenn ich ihn
dafür bezahle. Wenigstens zum Mittagessen soll ich ihn einladen. Es ist kein
Scherz. Ich lehne ab.
4. Mbalax - zwischen Glamour und Konvention
Dank des ausgeprägten Mitteilungsdrangs der Rapper laufen meine
Recherchen zum senegalesischen Hip Hop fast wie von selbst. Wesentlich
schwieriger komme ich an die etablierten Stars des „Mbalax“ heran, wie
ich bald feststellen muss. Doch zunächst: Was ist überhaupt Mbalax? So
nennt man die senegalesische Popmusik, die traditionelle Elemente mit
westlichen Einflüssen verschmilzt. Schnelle synkopierte Rhythmen und ein
arabeskenhafter, für westliche Ohren wenig eingängiger Gesang sind vielleicht die prägnantesten Merkmale. Doch im Grunde ist „Mbalax“ inzwischen ein diffuser Sammelbegriff für senegalesische Unterhaltungsmusik
unterschiedlichster Spielarten. Eine melodiöse Ballade von Ismaël Lô, die
391
Michael Lohse
Senegal
an Bob Dylan erinnert, fällt ebenso darunter wie eine schnelle Tanznummer
von Thione Seck mit endlosen Perkussionseinlagen. Man kann eigentlich
nur sagen, was Mbalax in der Regel nicht ist, nämlich traditionelle Musik
auf akustischen Instrumenten. E-Gitarre und Keyboard sind Standard, nur
bei der Perkussion greift man aufs heimatliche Instrumentarium zurück.
Hinzu kommen je nach Präferenz des Interpreten Anteile von Jazz, Blues,
Rock, Funk und vor allem lateinamerikanischer Musik in unterschiedlichen
Dosierungen.
Der Siegeszug des Mbalax begann Anfang der 70er Jahre in den Clubs von
Dakar, als man sich von den kubanischen Vorbildern löste und auf Wolof
sang statt auf spanisch – oder dem, was man dafür hielt. Die Besitzer der
Discotheken unterhielten eigene Orchester, die als wichtige Talentschmieden
fungierten – allen voran das „Miami“ von Ibra Kasset. Kasset war kein
Musiker, dafür aber ein Veranstalter mit untrüglichem Gespür für das, was
ankommt. Er engagierte Musiker für die „Star Band de Dakar“. Dort experimentierte man mit der Vielfalt überlieferter Rhythmen und arbeitete an der
zündenden Synthese aus importierter und einheimischer Musik, immer im
hautnahen Kontakt mit dem ebenso kritischen wie tanzwütigen Publikum
der Hauptstadt. Und dort bekam als 16jähriger auch der Mann seine erste
Chance, der den Mbalax zu einem globalen Exportschlager machen sollte: Youssou Ndour. Seit drei Jahrzehnten ist Ndour die alles überstrahlende Figur der senegalesischen Musik, wie die Szene überhaupt durch die
Dauerpräsenz weniger großer Namen geprägt ist: Ob Omar Péne, Ismaël Lô
oder Thione Seck – die meisten der aktuellen Superstars sind, wenn auch in
wechselnden Ensembles, seit den 70ern aktiv.
Wie komme ich an sie heran? Ich frage Paul Antoine Decraene, Kulturreferent im französischen Kulturzentrum von Dakar. Eine gute Idee, denn
Decraene ist nicht nur ein hervorragender Kenner der senegalesischen
Musik, er verfügt auch über eine aktuelle Telefonliste der Protagonisten.
Zum Glück gibt es Handys, wenn die Telefonate auch schnell ins Geld gehen. Vor ihrer Verbreitung muss das Verabreden mit Musikern fast unmöglich gewesen sein. So habe ich wenigstens eine Nummer, um zurückgerufen
zu werden – theoretisch jedenfalls.
4.1 Youssou Ndour
Ich rufe wegen eines Interviews bei Youssou Ndours Plattenfirma „Jololi“
an. Man stellt mich zu einem Mitarbeiter durch, der aber auch nicht zuständig ist. Vielleicht kommt der Zuständige Ende der Woche wieder. Ich ver392
Senegal
Michael Lohse
suche es noch mal. Wie gewünscht schildere ich mein Anliegen per E-mail.
Schließlich werde ich bescheidener und will nur noch einen von Youssous
Vertrauten interviewen. Ich verabrede mich mit Ousseynou Guèye, bei
„Jololi“ verantwortlich für „Développement“ und offenbar viel beschäftigt. Er sei noch nicht da, eröffnet mir die Empfangsdame nach gemessener
Frist, und wann er komme, könne sie nicht sagen. Ich erwische Guèye auf
dem Handy – er habe überraschend verreisen müssen, aber am Samstag...
Noch einmal mache ich mich pünktlich auf den Weg ins Nobel-Viertel an
der Pointe des Almadies, diesmal ist nicht mal mehr die Empfangsdame da.
Kurz – eine persönliche Begegnung ist mir nicht vergönnt.
Was soll’s, dafür kann mir jeder, den ich treffe, eine Geschichte über „You“
erzählen. Ein Straßenmaler im Plateau-Viertel berichtet mir stolz, er habe
den Star schon gekannt, als er noch ein niemand war. Damals habe Ndour
immer seine Fanta bei ihm gekauft. Im Studio „Maison Yes“ treffe ich den
jungen Franzosen Mathieu, der gelegentlich bei „Jololi“ als Toningenieur
jobbt. Ich erfahre, dass Ndour ein Arbeitstier ist, dass er bis zwei Uhr nachts
im Studio arbeitet, dann mal eben zum Auftritt ins „Thiossane“ fährt, um am
nächsten Morgen ohne Ermüdungserscheinungen weiterzumachen. Weniger
weiß man über sein Privatleben. Selbst langjährige Mitarbeiter hätten seine Frau nie zu Gesicht bekommen. In der Bibliothek des französischen
Kulturzentrums stoße ich auf das Buch eines Dakarer Universitätsprofessors,
das im Stil sozialistischer Schulbücher die grenzenlose Weitsicht und moralische Integrität des Volkshelden „You“ preist.
Kein Mangel also an Gerüchten und Legenden. Und in der Tat trägt
Youssou Ndours Karriere märchenhafte Züge.1984 lernt er Peter Gabriel
kennen, den Ex-Sänger von Genesis. Gemeinsam gehen sie auf Tournee und
produzieren Platten. Auch auf Paul Simons bahnbrechendem „Graceland“Album ist Youssou Ndour zu hören, wenn auch nur als Trommler. Der
Durchbruch in Frankreich kommt, als der Rocksänger Jacques Highelin
Ndour und Mory Kanté als Vorgruppen verpflichtet, die ihm die Show stehlen. Kaum ein afrikanischer Musiker konnte so vom Afro-Pop-Boom der
80er und 90er Jahre profitieren. Trotzdem darf man nicht übersehen, dass
die Bäume selbst für Youssou Ndour nie in den Himmel wuchsen: Nach drei
poporientierten Alben für den internationalen Markt, die sich jeweils nur
rund 200.000 mal verkauften, feuerte ihn 1991 seine Plattenfirma Virgin.
Eine Fehlentscheidung, denn kurze Zeit später kam mit „Seven Seconds“
im Duett mit Neneh Cherry der lang ersehnte internationale Hit. Inzwischen
hat Ndour beim Label des schwarzen Filmregisseurs Spike Lee unterzeichnet. Kein Westafrikaner hatte bis dato so viele Platten verkauft. Nur
Mory Kanté, der Kollege aus der Elfenbeinküste, sollte ihn einige Jahre
später mit „Yeke Yeke“ überbieten. Doch war der Charterfolg rückblickend
393
Michael Lohse
Senegal
eher ein Ausrutscher, an den er schon mit dem folgenden Album „Gainde“
nicht mehr anknüpfen konnte. Sein letztes Album „Sant“ (Heiliger), das im
Ausland unter dem Titel „Egypt“ erschien, floppte selbst im Senegal. Das
in Kairo eingespielte Werk behandelte ausschließlich religiöse Themen und
garantierte mit seinen Streichersounds und arabischen Zutaten nicht gerade
für volle Tanzflächen.
Für senegalesische Verhältnisse indes verdient Ndour unvorstellbare
Reichtümer. Und was noch wichtiger ist – er geht bemerkenswert überlegt
mit seinen Mitteln um. So gründete er sein eigenes Studio „Xippi“, seine Plattenfirma „Jololi“, betrieb weiterhin seinen Club „Thiossane“ und
investierte sein Geld auch außerhalb der Musikbranche. Mirko Hempel
von der Friedrich-Ebert-Stiftung schränkt allerdings ein: „Er ist nicht die
Lichtgestalt, als die er im Westen erscheint, er ist vor allem ein knallharter Geschäftsmann.“ So fördere er zwar aufstrebende Talente, sichere sich
aber auch mit entsprechenden Verträgen seinen Anteil am Erfolg. Auch der
deutsche Produzent Steven Töteberg berichtet von einer raumgreifenden
Mentalität der Firma Ndour, die Konkurrenten um jeden Preis draußen halten will: „Die Musiker von Youssou Ndour sind nicht in der Lage, sich mit
mir zu treffen, ohne dass gleich der erste Gedanke ist, was könnte mir der
andere wegnehmen.“
Immer wieder sorgt der Unternehmer Youssou Ndour auch für kritische
Schlagzeilen. So als er als Miteigner einer der größten senegalesischen
Telefongesellschaften im vergangenen Jahr, ohne zu zögern, Hunderte von
Mitarbeitern entließ, um sein Kapital zu retten. Am Ende meines Aufenthalts
lese ich im „Sud Quotidien“, dass die Behörden seinen Club Thiossane wegen eklatanter Sicherheitsmängel geschlossen haben – wozu im Senegal
schon einiges gehört.
In den Augen der Senegalesen können solche Meldungen das Bild ihres
Idols freilich nicht ernsthaft trüben. Zu groß sind seine Verdienste für das
internationale Ansehen des Senegal, von seinem sozialen Engagement ganz
zu schweigen, ob als UNICEF-Botschafter oder mit der Youssou-NdourStiftung. Unstrittig ist zudem, dass Youssou Ndour der senegalesischen
Musikindustrie einen entscheidenden Professionalisierungsschub gegeben
hat. Er war der Erste, der seinen Musikern ein regelmäßiges Gehalt zahlte und die Bedeutung einer effizienten Arbeitsteilung erkannt hat: Dass
es nicht reicht, schön zu singen, sondern dass man ein funktionierendes
Team für Tourmanagement, Studioproduktion und Promotion braucht. Das
Ergebnis ist ein Unternehmen, das vielen Leuten Arbeit bietet, und dessen
Schlüsselpositionen vorzugsweise mit Familienmitgliedern besetzt sind. So
führen die Brüder Boubacar und Ibou Ndour im Studio Regie und produzieren Nachwuchstalente, die gerne ebenfalls aus dem Ndour-Clan kommen
394
Senegal
Michael Lohse
dürfen: Schwägerin Viviane Ndour zum Beispiel ist momentan die wohl
erfolgreichste Sängerin im Senegal. Das „System Youssou“ hat nicht nur
mehrere hundert Arbeitsplätze geschaffen, es hat auch das traditionelle eher
mäßige Image des Musikerberufs im Lande aufpoliert, wie RTS-Redakteur
Michael Soumah betont: „Youssou Ndour hat den Senegalesen beigebracht,
dass Musik ein Beruf ist. Jetzt ermutigen die Eltern ihre Kinder, Musik zu
machen, weil das Geld bringen kann.“
Und Luc Mayitoukou von Africa Fete, der Weltmusik-Agentur, die
Youssous Karriere in Frankreich maßgeblich förderte, meint: „Youssou
Ndour ist ein Vorbild, aber er ist auch ein Unternehmer. Seine Stärke liegt
darin, seine Aktivitäten aufzufächern. Es ist nicht nur seine eigene Willenskraft, es sind auch die Leute um ihn herum. Er hat gute Berater.“ Youssou
Ndour scheint also ein Star zu sein, der sich unter Kontrolle hat, der trotz
seines Erfolgs und der fast grenzenlosen Verehrung durch seine Landsleute
nicht die Bodenhaftung verloren hat.
4.2 Suleymane Faye
Weniger Glück und Selbstdisziplin hatte Suleymane Faye. Ich treffe ihn
vor seinem Auftritt im schlecht besuchten Restaurant „Indigo“ im Zentrum
Dakars, wo er jeden Freitagabend spielt. Die Szenerie lässt es nicht vermuten, doch Faye, acht Jahre älter als Ndour, schrieb ebenfalls ein Kapitel der
senegalesischen Musikgeschichte. Er war in der zweiten Hälfte der 80er
Jahre Sänger der legendären Gruppe „Xalam 2“, die als die Erfinder des
Mbalax gilt. Doch Faye hatte sich nicht im Griff, schmiss während einer
USA-Tournee plötzlich alles hin. Ob Drogen oder Gefängnisaufenthalte im Laufe seiner langen Karriere hat er wenig ausgelassen. Heute wird Faye
besonders vom französisch-europäischen Publikum Dakars geschätzt, weil
sein Musikgeschmack westlichen Ohren entgegenkommt: „Ich mische zwischen Blues und Wolof, ich spreche Wolof, aber die Harmonien sind Blues
oder Rock. Ich mag den Mbalax, aber ich bin ein Rocker.“ Jetzt schlägt er
sich wieder wie zu Anfang seiner Karriere mit Auftritten in Touristenzentren
oder in Dakars Nachtlokalen durch wie dem „Indigo“ oder dem „Just 4 u“
gegenüber der Universität – ohne jede soziale Absicherung und ohne
Alternative: „Ich habe keine Wahl. Es gibt nicht viele richtige Konzerte,
also macht man die Tour durch die Clubs. Hier muss man viel arbeiten, um
ein bisschen was zu verdienen. Früher habe ich jeden Tag gearbeitet, dann
wurde ich krank, müde. Jetzt spiele ich Donnerstag bis Sonntag, Montag bis
Mittwoch erhole ich mich. Doch auch, wenn ich nicht arbeite, schlafe ich
nachts nicht mehr, dann höre ich die ganze Nacht Musik. Ich bin jetzt über
395
Michael Lohse
Senegal
50. Ich muss eine andere Formel finden, aber vorläufig muss ich so weiter
machen.“
4.3 Baaba Maal
Auch mein zweiter Versuch, einen senegalesischen Superstar zu interviewen, ist eine lange Geschichte des Misserfolgs, aber immerhin darf ich
ihn am Ende berühren. Doch der Reihe nach: Baaba Maal war für mich immer die faszinierendste Musikerpersönlichkeit des Senegal. Er schaffte den
Durchbruch beim breiten Publikum, obwohl er nicht auf Wolof singt, der
Verkehrssprache der Metropole Dakar, sondern auf Pular. Aufgewachsen in
Podor, ganz im Norden des Landes, wählte er – äußerst ungewöhnlich in
der von Griot-Nachfahren und Autodidakten dominierten Musikszene – den
klassischen Ausbildungsweg an der „Ecole nationale des Arts“ in Dakar.
Jahrelang tourte er anschließend durch die westafrikanische Provinz, um
gleichzeitig bei den örtlichen Griots zur Schule zu gehen. Ein traditionelles
Album mit akustischer Gitarrenbegleitung ist es auch, das den Sänger 1989
in England bekannt macht, während er für die senegalesischen Fans selbstverständlich zur E-Gitarre greift.
Ich kontaktiere Maals Manager, der mich an seinen Tourbegleiter verweist,
einen arabischstämmigen Franzosen namens Jean. Ich wähle die Nummer.
Das Telefonat verläuft etwas chaotisch, aber ich freue mich, dass mein
Gegenüber sich augenblicklich mit mir treffen möchte, um alle Details zu
besprechen, praktischerweise gleich um die Ecke. Tatsächlich tauchen mein
Gesprächspartner und sein Begleiter in einem äußerst schäbigen Wagen am
Treffpunkt auf, und fordern mich auf, einzusteigen, um mich zu Maals Haus
in Nord-Foire zu bringen. Ich verstehe nicht ganz, hatte es nicht geheißen,
Maal sei auf Tournee? Erst als sie das Haus nicht gerade zielstrebig suchen,
dämmert mir, dass ich mich schlicht und einfach verwählt hatte. Die beiden
waren Wildfremde, die beim Wort „Journalist“ die Chance auf einen kleinen
Verdienst witterten. Sie setzen mich schließlich tatsächlich vor Maals Haus
ab und sind auch nicht böse, dass ich ihre Hilfsbereitschaft nicht länger in
Anspruch nehmen will.
Beim nächsten Mal konzentriere ich mich beim Wählen und spreche tatsächlich mit Jean. Ja, man sei in Fouta, dem Tal des Senegals an der Grenze
zu Mauretanien. Da ich ohnehin eine Reise dorthin plane, schlage ich ein
Treffen vor. Ich solle mich wieder melden, wenn ich dort sei. Also fahre ich
nach Podor. Ein verfallenes Franzosen-Fort beherrscht den trostlosen Ort
am Senegal, der träge und braun dahin fließt. Kein Schiffsverkehr, nur eine
Piroge verkehrt gespenstisch lautlos zwischen senegalesischem und mau396
Senegal
Michael Lohse
retanischem Ufer. Vom Dach der Ruine des Gouverneur-Palasts sieht man
einen Streifen grünes Ackerland, Reisfelder, dahinter beginnt die Sahara.
Hier in Podor, mitten in Senegals ärmster Region, ist Maal aufgewachsen,
hier wohnen seine Eltern, zu denen er sich jedes Jahr zurückzieht. Und hier
wohnt seine Volksgruppe, die Tukuleur, zugleich seine treuesten Fans, für
die Maal häufig Tourneen veranstaltet. Jean bestellt mich ins 40 Kilometer
entfernte Ndioum, wo Maal abends als Höhepunkt des Stadtfestes auftreten soll; Maal habe zwar wenig Zeit, weil alle im Ort ihn sehen wollen,
aber er wolle sehen, was er tun könne. Ich organisiere ein Taxi, das mich
nach Ndioum und gegen 21 Uhr wieder zurück fahren soll. Doch vor dem
Konzert kann Jean leider gar nichts für mich tun. Und das Konzert findet
auch nicht wie behauptet um 20 Uhr statt, sondern mal wieder erst um 2
Uhr nachts. Also Taxi zum Hotel ade. Im Stadion werde ich inzwischen
Zeuge der „luttes sénégalaises“, traditionelle Ringkämpfe auf Sandboden
zu Trommelmusik. Mein findiger senegalesischer Freund tut nebenbei
eine Übernachtungsmöglichkeit bei einer Zufallsbekanntschaft auf. Dann
stundenlanges Warten, kein Interview. Maal müsse sich vor dem Konzert
konzentrieren. Um viertel vor zwei rast dann tatsächlich Maals Limousine
hinter den Bühnenbereich, spuckt den Star in die Nacht, und was ich nun
erlebe, ist mit einem Konzert in Europa schwer zu vergleichen. Maal tanzt,
wo vorher die Ringer den Sand aufwirbelten: vor dem Podest mit Boxen
und Band. Das entfesselte Publikum ist nicht zu halten, alle paar Minuten
rennt jemand zu ihm, an den Ordnern vorbei, drückt ihm einen Zettel in die
Hand, ein Geschenk. Und ich bekomme tatsächlich Jean zu Gesicht, der mir
Zutritt hinter die Bühne gewährt, und mich mitten während dieses völlig
chaotischen Konzerts Maal vorstellt, als der sich kurz vom Podium beugt.
Ich schüttele ihm die Hand, und das war es auch schon. Was soll man bei
dem Lärm auch reden. Dann ist das Konzert vorbei und Maal steigt wieder
in seine Limousine, die Fans fahren auf Dach und Motorhaube mit. Jeans
letzte Worte: Jetzt direkt nach dem Konzert sei doch auch nicht so der richtige Rahmen für ein gutes Interview, oder? Aber nächste Woche in Dakar,
da klappe es bestimmt, Ehrenwort... Ich verzichte und mache mir lieber ein
paar ruhige Tage in der Casamance.
4.4 Fallou Dieng
Doch es geht auch anders: Meine Zimmerwirtin in Dakar kann das Elend
meiner geplatzten Rendez-vous schließlich nicht mehr mit ansehen. So
schreitet sie zur Tat, um die Ehre der senegalesischen Musiker zu retten.
Fallou Dieng, einer der angesagtesten jungen Mbalax-Stars wohnt gleich
397
Michael Lohse
Senegal
bei ihr um die Ecke. Kurz entschlossen wirft sie sich in ein farbenfrohes
Gewand, türmt das passende Tuch über ihrem Kopf und macht sich mit mir
auf den Weg. Sie klingelt, wir werden eingelassen, bekommen grünen Tee
im Fernsehzimmer, und nach einigen Minuten ist Fallou Dieng für uns da.
So geht das also! Dieng lädt mich ein, bei den Proben für sein neues Album
zuzuhören. So treffen wir uns zwei Tage später nochmals.
Diengs hoher, kehliger Gesang erinnert stark an Youssou Ndour. Er wird
deswegen auch „der kleine You“ genannt. Eine Bezeichnung, die dem attraktiven Zwei-Meter-Mann ansonsten wenig gerecht wird. Sieht man darüber hinweg, gibt es durchaus Parallelen. Fallou Dieng ist wie Ndour in der
Medina geboren, dem afrikanischsten und ursprünglichsten Viertel Dakars.
Und Ndour hat Dieng immer wieder gefördert, lieh ihm Instrumente und
überließ ihm 1994 die Bühne des „Thiossane“, während er mit Neneh Cherry
auf Tournee ging. Stolz zeigt mir Dieng Videos von seinen Auftritten, wo er
im weißen Boubou zu sehen ist. Im vergangenen Jahr spielte er zusammen
mit Hubert von Goysern im „Théâtre Daniel Sorano“, der renommiertesten
Bühne des Landes.
„Stimmung und Show sind sehr wichtig für die Musik. Früher sangen die
Leute und blieben dabei auf der Stelle stehen, ich singe und tanze, habe eine
ausgearbeitete Choreografie. Ich bin stolz, dass ich das als erster gewagt
habe.“ Wenn Dieng von einem Wagnis spricht, übertreibt er nicht. Denn er
riskierte mit seinen Show-Einlagen, als unmännlich zu gelten. Zum Mbalax
tanzten ursprünglich nur die Frauen. Und als angehender Musiker hat man im
Senegal ohnehin schon mit Vorbildern zu kämpfen, umso schlimmer wenn
man wie Dieng aus einer strengen Marabout-Familie kommt: „Bevor ich
Sänger wurde, war mein Leben sehr bewegt. Ich konnte meine Studien nicht
beenden und wurde Schneider. Mit 19 verließ ich Dakar, um nach Spanien
zu gehen. Dort lief es nicht, und nach eineinhalb Jahren kam ich zurück. Ich
wurde Händler auf dem Sandaga-Markt, hatte meinen Stand und verkaufte
Kleider. 1989 lernte ich einen Saxophonisten vom Konservatorium kennen.
Er hat mir immer wieder gesagt: singe, du hast Talent, bleib nicht hier auf
dem Markt. Doch weil ich kein Griot bin – ich bin in eine adelige Familie
geboren – hatte ich Angst, meinen Eltern zu sagen, dass ich alles fallen lasse, um Sänger zu werden. Am Anfang ist man als Musiker nicht respektiert.
Man sagt, der Musiker nimmt Drogen, trinkt Wein. Ich liebte das Singen,
aber ich habe es im Verborgenen getan.“
Im schwarzen BMW fahren wir von seinem Haus zum Übungsraum in der
Medina. An jeder Kreuzung, an der wir halten, rufen ihm Leute etwas zu.
Jeder kennt ihn hier, doch der Erfolg ist auch eine Belastung. Die Texte des
Mbalax sind voller moralischer Botschaften. Und der Musiker steht unter
ständiger Beobachtung. Zumindest nach außen muss er das Bild des soli398
Senegal
Michael Lohse
den Ehemannes und Familienmenschen und des frommen Moslems pflegen.
Wer sich gehen lässt, ist gesellschaftlich erledigt: „Wir singen von aktuellen
Themen. Die Leute wollen keine Banalitäten hören. Die Verantwortung wird
immer schwerer. Man muss immer arbeiten an der Musik und den Texten.
Ich gebe immer mein Bestes. Hier wird man nicht respektiert, wenn man
keinen Ehrgeiz hat.“
In dem kleinen Übungsraum ist Dieng fast mit Fanatismus bei der Sache.
Stundenlang wiederholen er und seine sehr jungen Begleitmusiker zwei oder
drei Songs, selten stoppt das Ausdauertrommeln, um Stellen isoliert zu proben. Er ist von seiner Sache überzeugt. Seit 1990 hat er jedes Jahr ein Album
gemacht, tourt regelmäßig durch Europa. Von zu vielen Konzessionen an
den westlichen Geschmack hält er nichts: „Die Älteren haben behauptet,
die senegalesische Musik lasse sich nicht exportieren. Ich habe das immer
abgestritten. Wir haben nur unsere Kultur, den Mbalax. Wenn wir den nicht
verteidigen, haben wir nicht viel.“
4.5 Coumba Gawlo
Das sieht Coumba Gawlo, die ich einige Tage später befrage, ganz anders.
In ihrem Büro, das in einem modernen, hellen Bungalow im MittelklasseViertel „Sacre Coeur“ liegt, erklärt sie mir: „Um international erfolgreich
zu sein, muss man den Mbalax sehr dosiert einsetzen. Man darf sich nicht
darauf versteifen.“
Mit ihrem Remake von Miriam Makebas „Pata Pata“ landete sie vor einigen Jahren einen Sommerhit in Frankreich und Belgien. Von allen Vertretern
der jungen Mbalax-Generation kommt sie dem westlichen Bedürfnis nach
Eingängigkeit am weitesten entgegen. Zwar beherrscht auch sie perfekt
die Rhythmen des Mbalax, aber sie werden nur gelegentlich zitiert. Im
Vordergrund steht die luftige Handschrift ihres französischen Produzenten.
Stimme und Ausstrahlung bewahren sie dennoch vor weichgespülter
Beliebigkeit. Geschickt hat sie einen Look kultiviert, der für senegalesische
Verhältnisse freizügig und exzentrisch ist. Sie ist das Idol der weiblichen
Jugend, auch weil sie öffentlich gegen Polygamie und Beschneidung eintritt.
Sie erzählt mir von den Schwierigkeiten, sich als Frau in der Männerwelt
des Show-Business zu behaupten. Einerseits ist es in der Griot-Tradition
durchaus vorgesehen, dass Frauen singen. Und sie entstammt einer GriotFamilie – Gawlo ist das Pulaar-Wort für Griot. Andererseits gelten exzentrische Auftritte in der Öffentlichkeit für Frauen als ungehörig. Doch trotz
ihrer Offenheit für westliche Einflüsse, ihrer hervorragenden Kontakte in
Paris sieht sich Coumba Gawlo als musikalische Botschafterin des Senegal
399
Michael Lohse
Senegal
und denkt nicht an die Emigration. Im Gegenteil: Sie will in ihrer Heimat
jungen Frauen helfen, und ist dabei, ihre Fan-Clubs zu unterstützen und zu
einem Fortbildungsnetzwerk auszubauen.
Einige der erfolgreichen Musiker des Senegal habe ich kennen gelernt.
Sie leben sicher besser als der Durchschnitt. Abgehoben oder abgeschottet in einer luxuriösen Scheinwelt sind sie jedoch nicht. Die Realität des
Entwicklungslandes holt sie spätestens ein, wenn wieder der Strom ausfällt oder wenn sie wieder zwischen Dakar und Thiès im Dauerstau stecken. Sie alle brauchen eine gute Konstitution für die Nachtarbeit auf
der Bühne. Sie alle zahlen für den Erfolg mit Verantwortung. Zum einen
für ihre „musikalische Großfamilie“: Sie sind Arbeitgeber für Musiker,
Techniker und Büromitarbeiter. Zum anderen für ihr Land: Sie bringen
dem Staat Devisen und transportieren ein positives Image des Senegal, das
sich in Touristenzahlen niederschlägt. Das Publikum erwartet von ihnen,
dass Texte und Lebenswandel zusammenpassen. Wegen der Vorurteile gegen Musiker stehen sie unter besonderem moralischen Druck. Trotzdem
ziehen sie das Leben in Dakar der vermeintlich größeren Freiheit in Paris
oder New York vor. Kein Wunder: Sie hatten ausreichend Gelegenheit, auch
die Schattenseiten des gelobten Westens kennen zu lernen, um die Vorteile
Dakars zu schätzen. Hier leben ihre Fans, hier hat ihre Musik Bedeutung.
Hier erfreuen sie sich einer beneidenswerten Position, die Paul Antoine
Decraene vom französischen Kulturzentrum in Dakar so zusammenfasst:
„Es gibt keine Konkurrenz. Denn die Senegalesen sind ein bisschen chauvinistisch: Sie lieben vor allem ihre Musik.“
5. Die Akteure im Hintergrund
5.1 Französische Kulturförderung
Paul Antoine Decraene besetzt als Kulturreferent des Centre Culturel
Francais (CCF) in Dakar eine Schlüsselposition im Musikleben des Landes.
So fragwürdig der Einfluss der ehemaligen Kolonialmacht in Westafrika
auch auf wirtschaftlichem Gebiet ist, so wenig lassen sich ihre Verdienste
um die Kulturszene wegdiskutieren: Radio France International (RFI)
vergibt einmal im Jahr den „Prix Découverte“ und hat damit schon manchem Talent den Weg nach Europa eröffnet. Und die drei französischen
Kulturzentren in Dakar, St. Louis und Ziguinchor organisieren regelmäßig
Tourneen, Festivals und Wettbewerbe. Die Zentren verfügen über kleinere
Freilichtbühnen. Jeden Freitag finden etwa im „Théâtre de la Verdure“ in
Dakar Konzerte statt. Decraene verfügt über einen Etat, von dem staatliche
400
Senegal
Michael Lohse
Kultureinrichtungen wie das heruntergekommene „Centre Blaise Diagne“
nur träumen können. Er wählt die Künstler aus, präsentiert werden sie von
Michael Soumah vom RTS. Auch sonst bemüht sich der zum Islam konvertierte Franzose um eine enge Abstimmung mit den wichtigsten Akteuren des
senegalesischen Musiklebens wie Youssou Ndours Plattenfirma „Jololi“,
der Weltmusik-Agentur „Africa Fête“, den Produktionsfirmen „Keur
Serigne Fall“ und „Gadiaga“, der Musikergewerkschaft AMS und dem senegalesischen Büro für Autorenrechte, BSDA. Im Dezember 2003 trafen
sich Vertreter dieser Einrichtungen zu einer internationalen Tagung im CCF,
um über den Austausch von Musikern und die Situation von Produktion
und Vertrieb zu diskutieren. Das CCF veranstaltet auch Fortbildungen für
Musiker, allerdings ausschließlich zu wirtschaftlichen und technischen
Aspekten. Ansonsten ist der typische senegalesische Musiker entweder
Autodidakt. Oder seine Eltern sind Griots, und er ging zu Hause in die
Schule.
5.2 Musikhochschule
Das einzige staatliche Ausbildungsangebot bietet die Musiksektion der
„Ecole Nationale Des Arts“. Wer den Namen hört, mag sich ein altehrwürdiges Konservatorium vorstellen. Doch der Plattenbau, direkt am lauten, chaotischen Busbahnhof von Dakar gelegen, befindet sich im finalen Stadium
der Auflösung. Teilweise fehlen Türen und Fenster. Die Räume sind leer
bis auf ein paar kaputte Tafeln und Stühle. Auch ein paar hoffnungslos verstimmte Klaviere gibt es noch, die sich schlecht wegtragen lassen. Kaum
zu glauben, was hier unter diesen Bedingungen alles gelehrt wird: Auf dem
Lehrplan steht sowohl Klassik als auch traditionelle senegalesische Musik.
Nicht wenige prominente Namen waren hier eingeschrieben: Youssou Ndour
ebenso wie Baaba Maal – allerdings oft mehr pro forma, um ihrem Tun vor
der Familie einen seriösen Anstrich zu geben.
5.3 Studios
Viel wichtiger als die Musikhochschule sind die privaten Netzwerke der
Musikszene. Wer erfolgreich ist, fühlt sich verpflichtet, dem Nachwuchs unter die Arme zu greifen. Ob Youssou Ndours Künstlerförderung oder Didier
Awadis „Studio Sakama“ – sie bieten Anlaufpunkte, wo man zumindest
Know-how austauschen kann, sich je nach Vertrauenskredit aber auch mit
Instrumenten und Equipment aushilft.
401
Michael Lohse
Senegal
Dennoch sind die Studios keine sozialen Einrichtungen. Wer internationalen Standard bietet wie „Studio Xippi“, das von Youssous Bruder Ibou
Ndour geleitet wird, oder „Studio 2000“ von El Hadj Ndiaye, läßt sich das
auch bezahlen. Billiger wird es in den vielen kleinen Studios wie Steven
Tötebergs „Maison Yes“. Dennoch leidet die Qualität der Demobänder oft
unter dem Druck, mit einem Minimum an Studiozeit auskommen zu müssen. Für Töteberg, der aus deutschen Studios verbissene Diskussionen um
jedes Detail kennt, haben die senegalesischen Produktionsstandards allerdings auch Vorteile: „Der Sound hängt technisch zwar oft 20 Jahre hinterher,
aber dafür sind die Senegalesen authentischer. Sie denken nicht so viel nach,
sie spielen einfach. Die Tontechniker drehen einfach an ihren Knöpfen.
Wenn ich mit einem Perkussionisten zusammenarbeite, passiert es oft, dass
ich ihm das Stück einmal vorspiele, und er sagt: Okay, dann können wir ja
aufnehmen. Und das Ergebnis ist oft supergut.“
5.4 Medien
Eine weitere Anlaufstelle für Musiker sind auch die Medien. Vor allem
seit Mitte der 90er Jahre zahlreiche Privatradios entstanden, die in der Regel
von den großen Zeitungsverlagen wie „Sud Quotidien“ (Sud FM) oder
„Walfadjiri“ unterhalten werden. Auf „Walfadjiri FM“ hat etwa Rapper
Xuman seine eigene wöchentliche Show.
Daneben gibt es natürlich den staatlichen Rundfunk RTS (Radio
Télévision Sénégalaise) mit seinem Fernsehprogramm, das einmal im
Monat eine Rap-Show zeigt. Die von Aziz Coulibaly moderierte Sendung
bietet den Jugendlichen vor allem Gelegenheit im Free-TV die Neuheiten
aus Frankreich und Amerika zu sehen, der Anteil des senegalesischen Raps
beträgt laut Homepage gerade mal 15 %. Auf den Schirm kommen nur noch
Aufzeichnungen, nachdem einige Rapper bei Live-Sendungen offenbar die
Grenzen des Akzeptierten überschritten haben.
Mehr Möglichkeiten bieten die zahlreichen RTS-Radioprogramme. Landesweit senden „Chaîne Nationale“ und „Radio sénégalaise internationale“
(RSI), daneben gibt es zahlreiche regionale Stationen. Diese RTSLokalradios machen Aufnahmen mit traditionellen Künstlern der Umgebung. Die weitaus wichtigere Rolle für die Musikpromotion spielt aber der
staatliche Hauptstadtsender „Dakar FM“, der erste UKW-Kanal im Senegal
überhaupt, mit seinem Musikchef Michael Soumah. In Sendungen wie
„Generation 3R“ (gemeint sind Rap, Ragga, Reggae), „Sono Mondiale“
oder „Découverte“ präsentierte Soumah in den letzten 20 Jahren das Who is
Who der westafrikanischen Musik. Viele Stars machten bei ihm die ersten
402
Senegal
Michael Lohse
Gehversuche – von Fallou Dieng bis Viviane Ndour. Sein sicheres Gespür
für Qualität bezieht Soumah dabei aus seiner eigenen Praxis als Sänger und
Gitarrist. Seiner Einschätzung nach droht der senegalesische Pop die internationale Entwicklung zu verschlafen: „Der Mbalax blieb zu lange eine
senegalesische Angelegenheit. Man hat sich nicht darum gekümmert, dass
man den Mbalax auch im Westen tanzen kann. Der synkopische Rhythmus
des Mbalax ist viel komplizierter als zum Beispiel der Rhythmus der kongolesischen Musik. Man muss an den Exportchancen in den Westen arbeiten
und einen Rhythmus finden, der dort verstanden wird.“
5.4 Africa Fête
Die Verbesserung der Exportchancen für afrikanische Musiker ist das
tägliche Brot der Weltmusikagentur „Africa Fête“. Die Aktivitäten umfassen das Booking im Ausland, Konzertveranstaltungen im Senegal, ein
eigenes Label und die Weiterbildung für Musiker. Praktisch allen großen
Namen der westafrikanischen Musik ebnete „Africa Fête“ den Weg auf
den französischen Markt, angefangen mit Youssou Ndour über Mory Kanté
bis hin zu Manu Dibango und Salif Keita. In jüngster Zeit hat man „PBS“,
„Pee Froiss“ und Alioune Mbaye Nder unter Vertrag genommen. Anfang
der 80er Jahre von dem Senegalesen Mamadou Konté in Paris gegründet,
hat sich die Firma mit zehn fest angestellten Mitarbeitern mittlerweile in
Dakar niedergelassen. Für den Standort Dakar sprechen gute Gründe, wie
der Produktionsbeauftragte von „Africa Fête“, Luc Mayitoukou erläutert:
„Dakar ist das Tor zu Afrika, das heißt man kommt leicht an Neuheiten aus
dem Westen ran, und ebenso leicht können wir unsere eigenen Produktionen
in diesem Land voranbringen. Dakar ist eine musikalische Drehscheibe zwischen Afrika und dem Westen. Und es gibt ein konsumfreudiges Publikum
hier. Der wichtigste Unterstützer der senegalesischen Musik ist das senegalesische Publikum.“
Doch auch wenn das Publikum in Dakar einen Künstler feiert, bleiben
etliche Hürden vor dem Sprung ins Ausland. Das zeigt sich am Beispiel von
Alioune Mbaye Nder. Der Mbalax-Sänger aus einer Griotfamilie ist in seiner
Heimat ein Superstar, aber den europäischen Markt hat er trotz Promotion
durch „Africa Fête“ noch lange nicht erobert. Und wenn die Konzerte laufen, ist es wiederum ein großer Schritt, bis die Plattenverkäufe nachziehen.
Umgekehrt kann es sein, dass sich Alben traditioneller Kora-Spieler, von
denen im Senegal noch keiner gehört hat, im Westen gut verkaufen.
Angesichts der erforderlichen Investitionen ist es für die Agentur entscheidend, auf die richtigen Talente zu setzen. Luc Mayitoukou beschreibt den
403
Michael Lohse
Senegal
Auswahlprozeß: „Man taxiert die Entwicklungschancen. Wer eine schöne
Stimme hat, aber eine schlechte Bühnenpräsenz, hat ein Problem. Man muss
beides haben. Man braucht eine ordentliche Stimme, gute Texte, muss komponieren und sich auf der Bühne bewegen können. Wer von all dem mindestens ein bisschen hat, dem bieten wir eine Weiterbildung. Man kann einem
Künstler mit schlechter Bühnenpräsenz Proben bezahlen, Aufführungen zeigen, einen Regisseur stellen, um ihn fit zu machen für den internationalen
Wettbewerb. Aber er muss bereit sein, hart an sich zu arbeiten.“
Die Mitarbeiter von „Africa Fête“ erfüllen eine Mittlerfunktion: Sie kennen
die senegalesische Szene perfekt und müssen zugleich die Selektionskriterien
des Weltmarkts vorwegnehmen. Das Publikum im Senegal ist nicht repräsentativ. Die Senegalesen stehen auf Mbalax mit seinen harten, schnellen
Rhythmen, die für westliche Ohren ungewohnt sind, ebenso wie die wenig
eingängigen Melodien. Entfernen sie sich zu weit vom Mbalax in Richtung
westlicher Popmusik, verprellen sie wiederum die heimischen Fans. Die
Künstler werden also zu einer Gratwanderung gezwungen.
Das gilt für die Musik ebenso wie für die Bühnenperformance. Die oft
exotische Afrika-Perspektive des europäischen Publikums führt teilweise
zu Show-Elementen, die im Senegal lächerlich wirken würden. Auch RapGruppen wie „PBS“ oder „Daara J“ werden im Ausland in erster Linie als
Weltmusik-Acts vermarktet. So tragen „Daara J“ beispielsweise folkloristisch anmutende Phantasiekostüme, um bei ihren Luftsprüngen maximale
Show-Effekte zu erzielen. Oft tritt dieselbe Band im Ausland mit Boubous
und Koraspieler auf, im Senegal hingegen mit Schlabber-Jeans und NikeTurnschuhen.
Für die Promotion hat es sich außerdem bewährt, junge Talente zusammen mit bewährten Zugpferden spielen zu lassen. Mayitoukou: „Wir versuchen, die großen Künstler, die wir international auf den Weg gebracht haben,
als Lokomotive für junge Talente einzusetzen. Deshalb haben wir etwa im
Dezember Manu Dibango nach Dakar geholt, der hier mit Jugendlichen gearbeitet hat. So konnten wir ihn präsentieren und gleichzeitig junge Künstler
fördern.“
Außerhalb des Senegal hingegen stößt die Nachwuchsförderung zunehmend auf Schwierigkeiten, die das Booking für Africa Fete zum schwer
kalkulierbaren Risiko machen. Ein ganz wesentlicher Kostenfaktor sind die
Flugtickets. Für senegalesische Musiker halten sie sich noch im Rahmen,
denn zwischen Dakar und Paris gibt es auch günstige Angebote, aber für
Bands aus Ländern wie der Zentralafrikanischen Republik können die
Ticketpreise schnell das Aus bedeuten, zumal bei großen Besetzungen. Ein
noch größeres Problem ist die immer restriktivere Visa-Praxis der europäischen Konsulate, wie Mayitoukou berichtet: „Natürlich gibt es einige
404
Senegal
Michael Lohse
verzweifelte Musiker, die fahren und nicht zurückkehren, aber die Masse
hat ihre Basis hier in Afrika. Alle werden in einen Sack geworfen und verdächtigt. Viele Tourneen werden wegen der Visa annulliert. Um die Visa
zu bekommen, braucht man einen guten Ruf bei den Konsulaten. Für die
schon bekannten Gruppen wie PBS läuft es problemlos. Schwierig wird es
bei denen, die zum ersten Mal reisen. Dann investiert man Gebühren, und
plötzlich heißt es: keine Visa, Tournee annulliert. Man lebt ständig mit diesem Risiko, das alles zunichte machen kann.“
Um sich solche Scherereien zu ersparen, engagieren viele westliche
Veranstalter lieber gleich afrikanische Exilmusiker, die weder Visa noch
Flugticket benötigen. Überhaupt wird die Marktsituation für afrikanische
Künstler nicht rosiger: „Der Kampf um den Weltmusikmarkt wird immer
härter. Die große Afrika-Mode, die Mory Kanté ausgelöst hat, ist ein bisschen zurückgegangen, einfach weil die Künstler und ihr Publikum älter werden und sich anderen Dingen zuwenden.
6. Die geschäftliche und juristische Seite
Die Afropop-Welle ist abgeflaut. Der afrikanische Anteil am Weltmusikmarkt, ohnehin schon eine Nische, geht seit Jahren zurück. Kein senegalesischer Künstler konnte bisher an den kommerziellen Erfolg Youssou Ndours
anknüpfen. Das kann sich natürlich ändern. Dennoch bringt es nichts, den
Blick nur auf die Karrierechancen im Westen zu richten, denn nur ein
Bruchteil der senegalesischen Produktionen hat international eine Chance.
Im Senegal selbst dagegen hat die einheimische Musik einen überwältigenden Marktanteil und ein ebenso begeistertes wie treues Publikum. Eine
Quote für senegalesische Musik im Radio brauchen die Musiker wahrlich
nicht. Auch der Export in andere afrikanische Länder läuft zum Teil ausgesprochen erfolgreich. Die Künstler müssten nur mehr daran verdienen. Ihre
Situation würde sich bereits entscheidend verbessern, wenn es gelänge, den
senegalesischen Musikmarkt wie den innerafrikanischen Markt insgesamt
professioneller zu organisieren. Aziz Dieng, Vorsitzender der Gewerkschaft
AMS (Association des Métiers de la Musique du Sénégal) hat das Problem
erkannt: „Wenn wir von Exporten reden, denken wir immer an den Westen
– Afrika ist ein Markt, den wir noch nicht ausgeschöpft haben.“
Doch die Realität ist davon weit entfernt: Die Musiker leben in erster Linie
von ihren Tourneen. Und schon kleine CD-Umsätze in Europa lohnen sich
für sie mehr als ein Super-Hit im Senegal. Dort ist die Audio-Kassette nach
wie vor das relevante Medium, denn sie hat zwei unschätzbare Vorteile: Sie
ist billig. Mit 1.000 Francs CFA (rund 1,50 Euro) kostet sie nur ein Fünftel
405
Michael Lohse
Senegal
des CD-Preises. Und sie ist robust genug für den Härtetest im senegalesischen Alltag. Wo CD und DVD schon längst im Straßenstaub verreckt wären, leiert die Kassette unverwüstlich weiter. Wer größere Entfernungen im
Taxi Brousse zurückgelegt hat, weiß, dass die senegalesischen Ansprüche
an Klangqualität mitunter äußerst bescheiden sind. Aber ohne musikalische
Untermalung geht es nun mal nicht. Sie ist das Schmiermittel für den täglichen Überlebenskampf.
6.1 Das Basar-Prinzip
Dass die Musiker am Kassettenverkauf kaum etwas verdienen, liegt zum
einen am hervorragend organisierten Schwarzmarkt für Raubkopien, zum
andern am völlig desorganisierten Vertrieb. Lamine Fall vom zweitgrößten
Musikhändler Gadiaga-Production bringt das Problem auf den Punkt: „Im
Senegal ist der Vertrieb noch in einem informellen Zustand. Er beschränkt
sich praktisch auf Dakar, auf den Sandaga-Markt, es gibt kein Netz von
Filialen auf dem Land. So werden selten mehr als 50.000 Stück von einer
Kassette verkauft, und davon 80 Prozent hier in Dakar.“
Der Sandaga-Markt im Herzen Dakars besteht nur aus ein paar Straßenzügen
am Rande des Plateau-Viertels, aber was man hier nicht findet, findet man
nirgendwo im Senegal. Grell und bunt ist das Angebot der dichtgedrängten Marktstände: Früchte und Fisch, Sandalen und Bleichcreme, Handys
und Autoteile, Stoffe und grüner Tee. Eine Fülle, die sich als Weißer kaum
ungestört studieren lässt. Zielsicher steuern Schlepper der Souvenirläden
jeden Touristen an, der sich durch die überfüllten Gassen quetscht. Doch
zum Sandaga-Markt gibt es keine Alternative, wenn man im Senegal nach
musikalischen Neuheiten sucht. Die Kassettenstände in der Hauptallee sind
voll gestopft bis unters Dach. Und jede Woche lassen sich in den Regalen
neue Kassetten entdecken. Die Senegalesen schätzen im Übrigen die Hektik
des Feilschens. Das Gespräch mit Lamine Fall findet im Hauptgeschäft von
Gadiaga-Production statt. Dort im dritten Stock des Touba-Centers, einer
modernen Ladenpassage neben dem Sandaga-Markt, herrscht gähnende
Leere: „Hier im Laden verkaufen wir gerade mal zehn Prozent, alles andere
unten in der Hauptallee des Sandaga-Marktes. Die Senegalesen haben noch
nicht die Kultur, in ein Einkaufszentrum zu gehen. Sie ziehen die Kultur der
Straße vor.“
Das Basar-Prinzip steht allerdings einer wirtschaftlichen Entwicklung
im Weg. Theoretisch soll der „Distributeur“ für Werbung und landesweite Vermarktung sorgen, in der Praxis jedoch kann davon keine Rede sein.
Ladenketten fehlen, die Neuerscheinungen schnell im ganzen Land verfüg406
Senegal
Michael Lohse
bar machen würden, vom Export in die Nachbarländer ganz zu schweigen.
Verdienen kann der Musiker aber nur solange, bis die Raubkopierer aufgeholt haben, also höchstens ein paar Monate nach der Veröffentlichung. Jeder
Endhändler, ob aus Ziguinchor oder Tambacounda, muss sich selbst auf den
weiten Weg in die Hauptstadt machen, um sich mit Nachschub einzudecken. Die Kosten für große Stückzahlen können sie nicht auslegen. Ist eine
Kassette dann schnell ausverkauft, ist die Versuchung groß, Raubkopien
nachzulegen, statt noch einmal nach Dakar zu fahren.
6.2 Raubkopien
Bis vor einigen Jahren machten Originalkassetten deshalb nur einen
Bruchteil vom Umsatz aus. Denn der Sandaga-Markt beherbergte neben dem
legalen Vertrieb vor allem auch ein perfekt organisiertes System des illegalen Kassettenhandels: Mittelsmänner meldeten jede Neuerscheinung, die
dann über spezialisierte Firmen in Fernost kopiert wurde. Die Fälschungen
waren ebenfalls in Folie eingeschweißt und von den regulären Kassetten
kaum zu unterscheiden – außer durch den Preis. Sie kosten rund die Hälfte.
Diesem Treiben hat die Regierung mittlerweile zumindest teilweise einen Riegel vorgeschoben – ein Erfolg, den auch Musikgewerkschafter
Aziz Dieng anerkennt: „Seit zwei Jahren gibt es große Fortschritte beim
Kampf gegen die Piraterie dank der Einführung der Hologramme.“ Seit
März 2002 werden alle Neuerscheinungen mit einem nummerierten fälschungssicheren Aufkleber versehen. Kassetten ohne Hologramme werden bei Razzien konfisziert. Die Kontrolle des Marktes überwacht das
Bureau Sénégalais du Droit d’Auteur (BSDA), das anders als die deutsche
GEMA als öffentliche Behörde geführt wird. Diabé Siby, die Präsidentin
des BSDA, ging anfangs konsequent gegen Raubkopien vor und stieß auf
massive Widerstände bei den Kassettenhändlern, die bis zur öffentlichen
Morddrohung reichten. Inzwischen haben die Kontrollen wieder nachgelassen - und die Fälscherlobby kann aufatmen. Aziz Dieng kritisiert: „Trotz der
Hologramme gibt es immer noch Zonen, wo sich gefälschte Kassetten und
CDs offen verkaufen lassen – und das ist sehr lukrativ. Man muss die Märkte
permanent kontrollieren.“
Dennoch brachte die Einführung der Hologramme eine deutliche Verbesserung: Während im Senegal vorher nie mehr als 250.000 Kassetten im
Jahr gemeldet wurden, stieg die Zahl nach Angaben Diengs im letzten Jahr
auf 1,25 Millionen. Die Händler hatten nämlich bis dahin nur die gesetzlich vorgeschriebene Mindestmenge beim BSDA gemeldet: 3.000 Stück pro
Album, um weniger für die Autorenrechte zu zahlen. Jetzt nähert sich die
407
Michael Lohse
Senegal
Statistik erstmals der realen Produktion an – und dokumentiert durchaus
beachtliche Umsätze der senegalesischen Musikindustrie. Die Marktanteile
verteilen sich dabei nach Angaben von Lamine Fall wie folgt: „Der Mbalax
verkauft sich am besten, dann kommt der Rap und die religiösen Gesänge,
zum Schluss Musik aus dem Ausland, amerikanischer Rap oder die Musik
aus anderen afrikanischen Ländern.“
6.3 Religiöse Vertriebsmonopole
Interessanterweise liegen also die islamischen Gesangsrezitationen bei
den Verkäufen bereits an dritter Stelle, noch vor der westlichen Popmusik.
Das zeigt den Einfluss der Religion auf das öffentliche Leben. Und auch der
Musikvertrieb selbst wird von strenggläubigen Moslems dominiert. Oumar
Gadiaga und Talla Diagne haben den Musikvertrieb weitgehend unter
sich aufgeteilt. Sie gehören zu den Mouriden, der wichtigsten islamischen
Bruderschaft. Beide sind Anfang 30, Analphabeten und sprechen kaum französisch. Dafür pflegen sie enge Kontakte zu ihren Marabouts in Touba, was
ihr soziales Prestige sichert. Diagne hat seine Produktionsfirma gleich nach
seinem Marabout benannt: „Keur Serigne Fall“ (K.S.F.). Lamine Fall beschreibt das Verhältnis zwischen den Geschäftsleuten und ihren religiösen
Führern so: „Hier gibt es die Kultur der Talibés. Sie sind verpflichtet zur
Zusammenarbeit mit dem Marabout, denn er stärkt ihnen den Rücken, betet für sie. Gadiaga und Diagne beziehen sich stets auf den Marabout, sie
können keine Entscheidungen treffen, ohne seinen Segen einzuholen. Sie
brauchen die spirituelle Unterstützung. Aber die Marabouts intervenieren
nicht in die tägliche Arbeit.“
Mit Bauernschläue und Gebeten haben sich Gadiaga und Diagne ihre
Stellung auf dem Sandaga-Markt erarbeitet. Die Büroarbeit delegieren sie
indes an ihre eloquenten und gut ausgebildeten Verwandten – Lamine Fall
ist ein Halbbruder von Oumar Gadiaga, was ihn nicht davon abhält, dessen
Schwächen zu benennen: „Die Vertriebshändler haben keine Schulbildung,
sie wollen nicht investieren, ein tragfähiges Vertriebsnetz aufbauen. Das interessiert sie nicht. Wenn sie 10.000 Stück von einer Kassette verkaufen,
sind sie zufrieden.“ Das Desinteresse liegt auch daran, dass es keine Händler
gibt, die auf Musikvertrieb spezialisiert wären. Für Talla Diagne etwa sind
Kassetten nur ein Produkt neben Teppichen und Turnschuhen. Lamine Fall
ist deshalb überzeugt: „Es wäre sehr leicht für einen neuen Distributeur, sich
zu etablieren, weil sie nicht daran arbeiten, ihre Stellung zu festigen.“
Die Erfahrungen des deutschen Produzenten Steven Töteberg sehen anders aus. Mit seinen Bemühungen, einen eigenen Vertrieb aufzubauen, ist
408
Senegal
Michael Lohse
er gescheitert. Um seine Kassetten überhaupt auf dem Markt unterzubringen, arbeitet er mittlerweile gezwungenermaßen mit Gadiaga und Diagne
zusammen: „Von dem ganzen Verkaufsmarkt lässt man am besten schnell
wieder die Finger. Du kannst nichts kontrollieren, wirst sabotiert. Schwierig
für Musiker ist eben, dass die Afrikaner zwar den ganzen Tag Musik hören,
aber dass sie nicht bereit sind, Geld dafür auszugeben. Eine Kassette kostet
1.000 CFA und damit kannst du natürlich kein gutes Studio finanzieren,
damit kannst du im Grunde gar nichts finanzieren.“
Die Kassettenpreise sind knallhart kalkuliert, noch einmal verschärft, seit
1994 der an den Euro gebundene Franc CFA um die Hälfte abgewertet wurde.
Von dem Gesamtpreis entfallen allein 450 Francs auf die Vervielfältigung.
110 Francs gehen ans Büro für Autorenrechte. Der Handel behält nochmals
100 Franc. Der Produzent bekommt auch noch seinen Teil. So bleiben für
den Künstler zwischen 200 und 300 Francs - nur von den regulär verkauften
Kassetten wohlgemerkt. Hinzu kommen nur noch die Lizenzzahlungen des
BSDA. Selbst ein Künstler wie Omar Pène, dessen aktuelles Album 60.000mal verkauft wurde, verdient also selten über 20.000 Euro an einer Kassette.
Und mehr als ein Album pro Jahr ist in der Regel nicht drin.
Die geringe Kaufkraft, aber auch eine ausgeprägte Boykottmentalität
gegen Ausländer schrecken potentielle Investoren ab. Kein Wunder, wenn
Paul Antoine Decraene erklärt: „Der hiesige Musikmarkt ist für Ausländer
äußerst kompliziert. Die französischen Plattenfirmen überlassen ihren
Künstlern gleich von sich aus die Rechte für Afrika. Die wissen genau, dass
ihnen die nichts einbringen würden.“ So wird sich wohl so schnell nichts
ändern an der Monopolstellung von Diagne und Gadiaga. Zumal beide
längst auch in einer Doppelrolle als Produzent und Distributeur agieren.
Im Prinzip sind beide Funktionen im senegalesischen Musikgeschäft klar
voneinander getrennt: Der Produzent ist die Schlüsselfigur. Er engagiert die
Musiker und bezahlt sie nach getaner Arbeit. Er mietet das Studio und beschafft die Leerkassetten fürs Kopierwerk. Und er lässt die Einlageblätter
für die Kassetten („Jaquette“) drucken. Er trägt das volle Risiko, dafür behält er nach der Aufnahme das Masterband – und damit alle Rechte. Der
Distributeur kümmert sich anschließend um Werbung und Verkauf. Wer
wie Talla Diagne beide Funktionen vereint, kontrolliert also gleichzeitig
den Vertrieb und besitzt die Rechte eines riesigen Werkbestands bekannter senegalesischer Künstler, der für den internationalen Markt weitgehend
blockiert ist. Die Künstler versuchen vergeblich, an ihre Masterbänder heranzukommen.
409
Michael Lohse
Senegal
6.4 Urheberrecht
Unbefriedigend ist die Einnahmesituation für senegalesische Musiker
auch wegen des hoffnungslos veralteten Urheberrecht-Gesetzes von 1963.
Es kennt noch keine Leistungsschutzrechte für öffentliche Aufführungen
und Ausstrahlung in den Medien. So weigerten sich die Privatradios nach
ihrer Gründung jahrelang, irgendetwas für die pausenlos gespielte Musik
zu zahlen – mit der Begründung, ihre Gegenleistung bestehe bereits in der
Promotion für die Musiker. Inzwischen zahlen sie 4,5 Prozent ihres Budgets,
erstellen aber keine exakten Playlists, nach denen die Einnahmen an die
Künstler verteilt werden könnten. Die Zahlungsmoral ist zudem gering,
denn für den RTS gilt eine Sonderregelung. Der Staatssender mit seinen 13
Kanälen ist schon mit einer jährlichen Zahlung von 25 Mio. Francs CFA dabei - wogegen die ebenfalls staatliche Aufsichtsbehörde BSDA natürlich keine Einwände hat. Der Verbleib der vom Staat erhobenen Lizenzgebühren ist
ohnehin alles andere als transparent. Aziz Dieng: „Staatliche Einrichtungen
sollen private Interessen durchsetzen – das ist ein Widerspruch in sich.“
Die Musikergewerkschaft AMS fordert deshalb, das BSDA in eine unabhängige Verwertungsgesellschaft umzuwandeln, die von den Rechteinhabern
kontrolliert wird, um Interessenkonflikte auszuschließen. Immerhin wurde
der AMS-Vorsitzende Dieng im vergangenen Jahr zum Aufsichtsratsvorsitz
enden des BSDA ernannt, so dass erstmals eine Bilanz kontrolliert werden
konnte – und nicht genehmigt wurde. Ein erster Erfolg für die 1999 gegründete Gewerkschaft, die mittlerweile 1500 Mitglieder hat.
5.6 Weltbankprojekt
Unterstützt wird der Reformprozeß auch durch die Weltbank. Seit vier
Jahren arbeitet sie an einem Projekt, das auf Musik als Faktor der wirtschaftlichen Entwicklung in Afrika setzt. Der Senegal wurde dafür wegen
seiner kulturellen Dynamik und politischen Stabilität als Pilotland ausgewählt. Aziz Dieng erklärt dazu: „Die Weltbank hat begriffen: Wenn man der
Kultur hilft, so wie man traditionelle Wirtschaftszweige unterstützt, kann
man Reichtümer schaffen.“
Konkret geht es um die Schulung von Musikern in Urheberrecht und
Management. Außerdem sollen kleine Tonstudios und Plattenfirmen gefördert werden, und die Weltbank will ein Presswerk und einen Instrumentenmietservice finanzieren. Partner für die Umsetzung der Entwicklungsprojekte
ist die AMS. Die Gewerkschaft will jetzt dafür sorgen, dass die vielen
Kreativen nicht länger leer ausgehen. Im Zentrum der Bemühungen steht
410
Senegal
Michael Lohse
eine Reform des Gesetzes über Urheber- und Leistungsschutzrechte. „Dabei
geht es um die Bedeutung des geistigen Eigentums – sowohl wirtschaftlich
als auch künstlerisch“, so Dieng.
Die deutsche Urheberrechtsexpertin Sibylle Schlatter vom Max-PlanckInstitut hat für die Weltbank die Mängel der senegalesischen Rechtslage
aufgedeckt. So kennt das geltende Gesetz weder Leistungsschutzrechte
noch Ansprüche für private Kopien oder Internet-Downloads. Außerdem
wird Piraterie kaum ernsthaft bestraft. Die senegalesische Regierung hat
zwar grundsätzliche Bereitschaft zu einer Gesetzesnovelle signalisiert, eilig
scheint sie es damit jedoch nicht zu haben.
7. Fazit
Was kann Musik im Senegal zum Kampf gegen die Armut beitragen, fragte ich eingangs. Die Antwort fällt viel eindeutiger aus, als ich gedacht hätte:
Die Musik ist bereits ein ganz wesentlicher Entwicklungsfaktor, und das
Potential scheint bei weitem nicht ausgeschöpft.
Die überwältigende Mehrheit der senegalesischen Musiker lebt im
Senegal. Das gilt auch für die Stars, die ins Exil gehen könnten. Sie reisen
viel, aber sie ziehen die Geborgenheit des heimischen Clans dem Leben im
Exil vor. Davon profitiert das Land gleich in mehrfacher Hinsicht:
Einmal investieren sie ihr Geld im Senegal in Studios, Discotheken,
Plattenfirmen und Organisationsstrukturen. Die Musik schafft von allen
Kulturzweigen mit Abstand die meisten Arbeitsplätze. Dann aber verstehen
sie sich als Botschafter für den Senegal und seine Musik.
Die Stars transportieren so international ein werbewirksames Image
für den Tourismus. Im Land genießen sie eine schichtenübergreifende
Bewunderung als Repräsentanten der eigenen Kultur und tragen viel dazu
bei, dass im Senegal, anders als in den meisten afrikanischen Ländern, ein
nationales Bewusstsein ausgeprägt ist.
Noch mehr zur sozialen Stabilität trägt der Rap bei. Die Rapper kritisieren die politischen Zustände, aber ihre Grundeinstellung ist positiv. Sie suchen nach Lösungen für ihre Gesellschaft und wollen Hoffnung geben. Ihre
Power beziehen sie aus einem Islam, der keine fundamentalistischen Züge
trägt, sondern einen moralischen Gegenentwurf zur korrupten Gesellschaft
symbolisiert.
Die Musik ist im Senegal keine verzichtbare Zutat, sondern ein geistiges Grundnahrungsmittel. Das hat handfeste wirtschaftliche Auswirkungen:
Die heimische Musikproduktion hat einen Marktanteil von 90 Prozent. Die
Kassettenumsätze sind für senegalesische Verhältnisse bereits beachtlich
411
Michael Lohse
Senegal
und ließen sich leicht noch wesentlich steigern. Voraussetzung wäre ein professioneller Vertrieb auch auf dem Land und in den Nachbarstaaten.
Allerdings werden die Kreativen nicht angemessen am Gewinn beteiligt.
Die Gesetzeslage ist ungenügend, und viele Musiker kennen nicht einmal
die bestehenden Rechte. In den letzten Jahren hat sich jedoch viel getan. Es
gab Fortschritte beim Kampf gegen Raubkopien. Und mit der Gewerkschaft
AMS hat sich eine äußerst wirksame Interessensvertretung formiert, finanziell unterstützt von der „Fondation Youssou Ndour“. Die AMS arbeitet zusammen mit der Weltbank an einer Reform des Urheberrechts und fördert
die Professionalisierung der Musiker in den Bereichen Management und
Technik. Im Gegensatz zur senegalesischen Regierung hat die Gewerkschaft
das enorme wirtschaftliche Potential erkannt, das in der ebenso produktiven wie innovativen Musikszene schlummert. Dem Plädoyer des engagierten AMS-Vorsitzenden Aziz Dieng ist nichts hinzuzufügen: „Unsere
Politiker müssen endlich begreifen, welche Chancen die Kultur für ein
Entwicklungsland wie den Senegal bietet, das nicht über Bodenschätze verfügt. Die musikalische Kreativität ist ein wichtiger Rohstoff, unendlich und
– anders als Diamanten und Elfenbein - kein Auslöser für Kriege.“
8. Dank
Mein besonderer Dank gilt Samba Sow, Robert Ndiaye, Khady Faye,
Lamine Fall, Aziz Dieng, Luc Mayitoukou, Fallou Dieng, Coumba Gawlo,
Suleymane Faye, Xuman, Didier Awadi, Shaka Babs, Daara J, Paul Antoine
Decraene, Cheikh Tidiane Niane, Steven Töteberg, Sandro Winkler, Jay
Rutledge sowie Ute Maria Kilian und der Heinz-Kühn-Stiftung.
412
Hyacinthe Ouingnon
aus Benin
Stipendien-Aufenthalt in
Nordrhein-Westfalen
01. Juli bis 29. Dezember 2003
413
Nordrhein-Westfalen
Hyacinthe Ouingnon
Eine Erfahrung in Deutschland
Von Hyacinthe Ouingnon
Nordrhein-Westfalen vom 01.07. – 29.12.2003
415
Nordrhein-Westfalen
Hyacinthe Ouingnon
Inhalt
1. Zur Person
418
2. Mein Land
419
3. Jetzt erzähle ich etwas von mir...
421
4. Düsseldorf, Goethe und mein Deutschkurs
423
5. Die Ausflüge nach Dresden, Straßburg, Schwarzwald und Weimar
425
6. Bonn und mein Praktikum
429
7. Danksagung
430
417
Hyacinthe Ouingnon
Nordrhein-Westfalen
1. Zur Person
Geboren bin ich am 11. September 1974 in Porto-Novo. Mit 6 Jahren habe
ich das Gymnasium angefangen. 1994 habe ich mich an der Universität
eingeschrieben und zwei Fächer studiert: Literatur und Philosophie. Vier
Jahre später habe ich den Hochschulabschluss gemacht und bin Lehrer geworden. Aber ich wollte gerne auch Journalist sein. Leider gab es keine
Journalistenschule als ich an der Universität war.
Zur damaligen Zeit konnte man in Benin nicht Journalismus studieren.
Wenn man Journalismus studieren wollte, musste man in den Senegal oder
nach Europa fliegen. Ich hatte nicht die Möglichkeit das zu machen.
Es gab allerdings an der Universität eine Studentenzeitung, die „Le
Herauf“ hieß. Und weil ich verrückt nach der Feder war, habe ich mich bei
der Studentenzeitung eingeschrieben. Ich wollte nur lernen wie man schreiben kann. Weiter nichts. Von 1994 bis 1998 habe ich dann als Reporter bei
dieser Zeitung gearbeitet und gleichzeitig viel gelernt. Das war für mich
eine sehr gute Erfahrung. Im Jahr 1997 wurde ich von den Studenten zum
Zeitungsdirektor gewählt. Das war für mich unglaublich, aber ich habe mein
Möglichstes getan.
Im Jahr 1998 habe ich eine Arbeitsmöglichkeit bei einer große Privatzeitung
(Les Echos du Jour) gehabt. Seitdem habe ich bei vier weiteren Zeitungen
gearbeitet und meine journalistischen Kenntnisse erweitert. Zwischen 1998
und 2000 habe ich an vielen Seminaren über Presse und Medien teilgenommen und dabei viel gelernt, was mir in meinem Beruf helfen kann.
Im September 1998 trat ich der Vereinigung für Journalisten (Union des
Journalistes de la Presse privee du Benin) bei. Zwei Jahre später würde ich
dort zum Journalistensprecher gewählt.
Weil ich der Meinung bin, dass Journalisten viel im Kampf gegen AIDS
tun können, bin ich auch der Vereinigung von Journalisten gegen AIDS
(Reseau des Journalistes beninois pour la lutte contre le SIDA) beigetreten.
Um etwas gegen diese Geißel der Menschheit zu machen, habe ich viel über
AIDS geschrieben und zwei Preise gewonnen. Übrigens: seit dem Jahr 2000
arbeite ich auch als Literatur- und Philosophielehrer. Mittlerweile habe ich
auch mit meiner Doktorarbeit angefangen. Ich möchte über Albert Camus,
Jean-Paul Sartre und André Malraux promovieren und eine Arbeit über den
französischen Existentialismus schreiben.
Niemand kann in die Zukunft sehen, aber ich bemühe mich darum, meinen Verstand zu gebrauchen und gute Kenntnisse zu bekommen, die mir
eine gute Lebenserfahrung geben werden.
418
Nordrhein-Westfalen
Hyacinthe Ouingnon
2. Mein Land
Ich komme aus Benin, einem sonnigen Land. Benin liegt in Westafrika
zwischen Nigeria und Togo. Das Land ist circa 112.600 km2 groß und hat
verschiedene Landschaften. Im Süden gibt es Wald, Ebenen und Täler. Im
Landesinneren gibt es Hügel, Flüsse und Bäche, und im Norden kann man
viele Hochgebirge sehen. Dort gibt es mehrere Landschaftsschutzgebiete,
wo man auch Wildtiere, z.B. Elefanten, Löwen und Antilopen sehen kann.
Die Wirtschaft Benins hängt noch hauptsächlich von der Landwirtschaft
ab, weil Benin ein Entwicklungsland ist. Deshalb gibt es noch viel zu tun,
zum Beispiel Autobahnen, Krankenhäuser und Schulen müssen gebaut werden. Zwar gibt es schon eine Straßeninfrastruktur, aber sie muss noch verbessert werden.
Benin exportiert viele Produkte, besonders Ananas, Baumwolle, Garnelen
und Fisch. Benin hat eine vielfältige Kultur. Es gibt mehr als einhundert
Ethnien die friedlich zusammen wohnen. Die meisten Beniner wohnen auf
dem Land, aber immer mehr Leute wohnen auch in den größeren Städten,
wie Cotonou, Porto-Novo oder Parakou. Jede Ethnie spricht ihre eigene
Sprache, z. B. Fon, Mina, Yoruba oder Dendi. Obwohl, oder besser gesagt:
gerade weil es mehr als 50 verschiedene Sprachen und Dialekte gibt, ist
Französisch unsere Arbeitssprache.
Einst war Benin eine Französische Kolonie. Im Jahr 1960 erlangte es seine Unabhängigkeit. Die Geschichte von Benin ist nicht kompliziert, jedenfalls nicht so kompliziert wie die Deutsche Geschichte.
Nach der Unabhängigkeit von Benin gab es zunächst eine Zeit der
Unsicherheit mit vielen Staatsstreichen. Schließlich kam Herr Mathieu
Kerekou nach einem Staatsstreich im Jahr 1972 an die Macht. Er errichtete eine neue Ideologie: den Marxismus-Leninismus. Der Anfang der Zeit
des Marxismus-Leninismus war gut. Die Leute verließen sich auf die neue
Regierungsform und arbeiteten viel, um ihr Land aufzubauen. Das war eine
Zeit der Hoffnung. Aber schnell gab es Diktatur und Korruption. Fünfzehn
Jahre später war alles kaputt. Die Regierung konnte nicht einmal mehr die
Gehälter ihrer Beamten bezahlen. Die Lebensbedingungen wurden jeden
Tag schlechter.
Dann kam der Aufruhr. Die Leute revoltierten gegen die schlechten
Lebensbedingungen, besonders die Studenten. Das war eine schwere Zeit
in der Geschichte Benins. Um eine Lösung zu finden, berief die Regierung im
Februar 1990 eine Nationalversammlung ein. Alle repräsentativen Vertreter
aus Politik, Gesellschaft und Kirche nahmen an dieser Konferenz teil. Die
Hauptentscheidung dieser Nationalversammlung war, dass die Konferenz-
419
Hyacinthe Ouingnon
Nordrhein-Westfalen
teilnehmer beschlossen, den Marxismus-Leninismus als Staatsform aufzugeben und eine Demokratie aufzubauen.
Daher ist Benin seit 1990 ein demokratisches Land mit einer neuen
Verfassung und den verfassungsgebenden Organen. Alle fünf Jahre wählen
die Staatsbürger einen Präsidenten. Der Übergang vom marxistisch-leninistischen zum demokratischen Regierungssystem verlief friedlich, und das ist
so geblieben. Bis heute gibt es keinen Krieg, nicht einmal Unruhen in Benin.
Natürlich kommt es gelegentlich zu Spannungen, vor allem in der Zeit des
Wahlkampfes und der Wahlen. Aber ich denke, das ist normal.
Die Demokratie ist nicht einfach und man muss jeden Tag dafür kämpfen,
um sie zu verbessern.
Seit der Unabhängigkeit des Landes ist Porto-Novo die Hauptstadt von
Benin. Sie hat ungefähr 300.000 Einwohner. Es ist eine Stadt, die eine gute
Atmosphäre hat. Es lässt sich gut dort leben, es gibt keine Umweltverschmutzung und das Leben verläuft ruhig und gemächlich.
Die größte Stadt des Landes ist Cotonou mit ca. 1 Mio. Einwohner.
Die meisten Ministerien, Niederlassungen großer Firmen und wichtige
Wirtschaftsinstitutionen sind fast alle in Cotonou. Nur der Bundestag befindet sich in Porto-Novo. „Warum ist das so?“ kann man fragen. Die Erklärung
ist ganz einfach: Cotonou ist die größte Stadt von Benin und liegt zudem an
der Küste. Auch gibt es hier viele Strände. Jedes Wochenende fahren die
Leute dorthin um frische Luft zu haben und um sich zu entspannen. Sie baden gerne im Meer, machen Musik am Strand und essen gemeinsam.
Während es in den Vororten Cotonous eher ruhig zugeht, herrscht im
Stadtzentrum viel Aktivität und Betriebsamkeit. Die meisten Menschen
wohnen im Gegensatz zu den kleineren Städten in Cotonou in einem
Mehrfamilienhaus. Man kann sagen: In Cotonou ist immer etwas los, egal
zu welcher Tages- oder Nachtzeit.
In der Nähe des Stadtzentrums liegt Benins größter Markt der Dantokpa
heißt. Seit dem Jahr 1974 hat die Stadt auch eine große Universität, an der
heute ca. 20.000 Studenten eingeschrieben sind. Die Universität (Universite
d‘Abomey Calavi) hat einen guten Ruf in Westafrika. Viele Studenten aus
dem Kongo, aus Kamerun, Cote d‘lvoire, Togo, Niger oder dem Tschad
kommen hierhin um zu studieren. Auch das Stadtzentrum ist mittlerweile
sehr attraktiv und reizvoll geworden. Dort gibt es die besten Cafes, Bars,
Diskotheken und Restaurants. Und natürlich gehen die Stadtmenschen leidenschaftlich gerne ins Kino.
Ein weiterer Vorteil ist, dass man hier besser eine gute Arbeit finden
kann, weil es viele Aktivitäten und Möglichkeit gibt um Geld zu verdienen. Ein Nachteil ist, dass es viele alte Autos gibt und so wenig öffentliche
Verkehrsmittel. Die Konsequenz aus dieser Lage ist die Luftverschmutzung.
420
Nordrhein-Westfalen
Hyacinthe Ouingnon
Trotzdem wollen alle Leute in Cotonou bleiben. Jedes Jahr kommen immer mehr Ausländer und junge Leute aus den Dörfern in die Stadt, um eine
Arbeit zu finden. Leider, nur wenige haben Erfolg.
Benin hat auch andere Städte, wie Bohicon, Savalou, Kandi, Natitingou.
Auch dort kann man gut leben. Aber bezüglich der Entwicklungen dieser
Städte gibt es große Unterschiede. Um diese Lage zu korrigieren, hat die
Regierung sich für eine neue Entwicklungspolitik, die so genannte Dezen
tralisierungspolitik, entschieden. Man kann sagen, diese Entwicklung hat
in Benin begonnen und wird mittlerweile von fast allen anderen westafrikanischen Staaten ebenfalls praktiziert. Inhaltlich bedeutet diese Politik,
dass von jetzt an die Entwicklung von der Bevölkerung selber abhängt, oder
anders gesagt, die Bevölkerung darf viel mehr selber entscheiden, wie sie
leben möchte.
Deutschland hat eine wichtige Rolle gespielt, um die Dezentralisation
in Benin zu entwickeln. Zum Beispiel hat Deutschland den Prozess der
Dezentralisierung mit vielfältigen Projekten unterstützt und umfangreiche Maßnahmen finanziert. In diesem Kontext spielen der Deutsche
Entwicklungsdienst (DED) und die Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (gtz) sowie mehrere unterschiedliche politische Stiftungen eine
wichtige Rolle.
Es gibt noch viel zu tun, aber mit dieser Dezentralisierung verbinden
die Menschen eine große Hoffnung um ihre Lebensbedingungen zu verbessern. Man kann es zusammenfassen: Die Dezentralisierung ist für die
Bevölkerungen lebenswichtig.
Benin entwickelt sich zunehmend zu einem Touristenland. Noch gilt es
als Geheimtipp, doch die Zahl der Touristen, die aus Europa oder Amerika
kommen, steigt kontinuierlich Jahr für Jahr an. In der Tat gibt es in meinem
Land viel zu sehen und zu lernen. Außerdem: Die Lebenshaltungskosten
sind niedrig, die Menschen sehr herzlich, nett und gastfreundlich und es ist
niemals langweilig.
3. Jetzt erzähle ich etwas von mir
Wie habe ich das Stipendium bekommen?
Ich hatte gehört, dass es in Deutschland eine Stiftung gibt, die Journalisten
ein Stipendium gewährt in der Absicht, ihnen dabei zu helfen ihre journalistische Erfahrung zu erweitern und gleichzeitig die Gelegenheit bietet,
Deutschland kennen zulernen. Ich hatte auch gehört, dass diese Stiftung
Heinz-Kühn-Stiftung heißt und sie zu Nordrhein-Westfalen gehört. Da dachte ich mir, es wäre gut, wenn ich mich um ein solches Stipendium bemühen
421
Hyacinthe Ouingnon
Nordrhein-Westfalen
würde. Im November 2002 reichte ich meine Bewerbung ein. Zunächst hatte
ich wenig Hoffung, umso mehr, als ich niemanden in dieser Stiftung kannte.
Kurze Zeit später erhielt ich eine Mail von Frau Kilian, die mir schrieb, dass
ich bis März warten müsse, bis über die Vergabe der Stipendien entschieden
sei. Anfang April war ich dann im Cyber-Cafe um meine Mails zu lesen.
Zufällig war da gerade auch die Nachricht von der Heinz-Kühn-Stiftung
angekommen. Ich hatte ein Stipendium erhalten. Für mich war es zunächst
unglaublich. „Wie ist das möglich?“, fragte ich mich. Ich war wirklich überrascht und den ganzen Tag stellte ich mir vor, dass ich schon bald nach
Deutschland fliegen würde.
Ich wusste, dass das Stipendium für mich eine Möglichkeit ist, um Europa
zu entdecken und besonders um Deutschland kennen zulernen und auch um
meine Deutschkenntnisse zu verbessern.
Allerdings wusste ich wenig über Deutschland. Ich hatte in der Schule
ein paar Informationen über das Land durch den Geschichtsunterricht erhalten. Ich hatte dort etwas über die Rolle von Deutschland während des
zweiten Weltkrieges gelernt und warum das Land nach dem Krieg geteilt
worden war. Da ich Philosophie studiert habe, kannte ich einige deutsche
Philosophen wie Kant, Marx, Feuerbach, Nietzsche, Schopenhauer, Jaspers
und Hegel. Natürlich wusste ich auch, dass Deutsche gut Fußball spielen
und sehr sportliche Menschen sind. Und ich hatte gehört, dass die Deutschen
sehr stolz, anspruchsvoll und fleißig sind. Nun wollte ich wissen, ob meine theoretischen Kenntnisse mit der Wirklichkeit übereinstimmen würden.
Das Stipendium bot mir nun die Chance meine eigenen Erfahrungen zu machen.
Deutschland ist sehr gegenwärtig in Benin. Es gibt viele Stiftungen,
die in verschiedenen Gebieten arbeiten. Zum Beispiel hat die FriedrichEbert-Stiftung Benin im Bereich des Journalismus viel geholfen. Sie hat
zahlreiche Journalistenseminare und Publikationen finanziert. Auch die
Konrad-Adenauer-Stiftung hat in Benin viel getan. Diese Stiftung hat zahlreiche Projekte finanziert, um die Demokratie stark zu machen. Überall in
Benin vergisst niemand, was der Deutsche Entwicklungsdienst (DED) in
den Dörfern geleistet hat. Und wenn man die Bilanz der Gesellschaft für
Technische Zusammenarbeit (gtz) in Benin zieht, ist man wirklich zufrieden
und dankbar.
In Benin gibt es auch viele Studenten, die dank des Deutschen
Akademischen Austauschdienstes in Deutschland studieren konnten. Kurz
und gut: ich wusste schon, dass Deutschland ein sehr wichtiges Land ist.
Soviel ich weiß, ist Deutschland auch sehr wichtig für die europäische
Einheit.
422
Nordrhein-Westfalen
Hyacinthe Ouingnon
Die Vorbereitung meiner Reise war ganz leicht. Ich bekam das Visum
bei der Deutschen Botschaft in Benin ohne Unannehmlichkeiten, weil die
Heinz-Kühn-Stiftung mir eine offizielle Einladung und das Flugticket schon
früh zusandte. So bin ich in Deutschland am 1. Juli angekommen und habe
die nächsten vier Monate in der Landeshauptstadt Düsseldorf verbracht.
4. Düsseldorf, Goethe und mein Deutschkurs
In Düsseldorf, habe ich den Reiz des Neuen erlebt. Ich wohnte in der
Luisenstraße 7 in einem hellen, freundlichen, bequemen und schicken
Appartement mit Blick auf die Straßen der Innenstadt.
Meine erste Nacht war gewöhnungsbedürftig. Der Tag war schön gewesen, weil die Sonne geschienen hatte, aber als ich um 22 Uhr ins Bett
ging, konnte ich nicht schlafen. Ich sah aus dem Fenster und bemerkte, dass
es immer noch sonnig war. Unglaublich! Ich konnte das nicht verstehen.
Warum ist das so? Bei mir in Benin ist es schon um 19 Uhr dunkel und man
geht früh zu Bett. Am nächsten Morgen habe ich auch bemerkt, das der
Sonnenaufgang früher ist. Welche Erklärung gibt es dafür? Am folgenden
Tag fragte ich einen Nachbarn danach. „Wir sind jetzt im Sommer und normalerweise ist das Wetter immer so“, sagte er. „Ach so!“ war meine Antwort.
Das Wetter war also meine erste Überraschung in Deutschland. Der Sommer
war wirklich sehr heiß, aber das kannte ich ja schon von Zuhause. Insgesamt
machte mir das Eingewöhnen keine Probleme.
Zuerst war es allerdings ein bisschen schwierig mich zu orientieren, In
Deutschland ist das Orientierungssystem ganz anders als in meiner Heimat.
Mit den Straßenbahnen muss man immer aufpassen. Und bevor man die
Straßenbahn, den Bus oder Zug nimmt, muss man sich genau überlegen, in
welche Richtung man fahren möchte. In diesem Zusammenhang habe ich
mich zweimal verfahren, weil ich die falsche Straßenbahn genommen hatte.
Mehrmals habe ich Freunden von diesem Erlebnis erzählt und jedes Mal haben wir viel darüber gelacht. Aber kurz danach war ich ortskundig und dann
bin ich mehrmals in die Düsseldorfer Altstadt gelaufen. Bei diesem schönen
Sommer sollte man die frische Luft am Rhein und Ice-cream genießen. Der
Sommer war lebensvoll und herzlich Die Deutschen fanden ihn außergewöhnlich heiß, weil es normalerweise im Sommer häufiger regnet und die
Temperaturen nicht ganz so hoch sind. Aber in diesem Jahr gab es keinen
Regen. Um Spaß zu machen, sagte ich immer „Das Wetter ist so, weil ich in
Deutschland bin.“
Meine zweite Überraschung war, dass sich die Leute hier überall küssen:
auf der Straße, in der Straßenbahn und im Zug. Das stand nicht im Einklang
423
Hyacinthe Ouingnon
Nordrhein-Westfalen
mit dem Verständnis meiner Kultur. In Benin gilt das als unhöflich, aber hier
ist es normal. Die Welt ist so, mit vielen unterschiedlichen Kulturen. Das ist
eine Tatsache. Deshalb muss man geduldig, tolerant und offen sein.
Meine dritte Überraschung war, dass die Leute immer schnell laufen, als
ob sie verfolgt würden. Endlich hatte ich alles verstanden: die Verkehrsmittel
sind sehr geregelt und man muss sich beeilen, um die Straßenbahn oder den
Zug nicht zu verpassen. Einmal wollte ich nach Saarbrücken fahren. Aber
ich musste auf den folgenden Tag warten, weil ich meinen Zug verpasst
hatte.
Meine Deutsche Sprache ist noch nicht gut. Deshalb wollte ich sie gerne
noch weiter verbessern, und ich wußte auch, dass ich dazu viel tun muss.
Beim Goethe-Institut hatte ich eine gute Möglichkeit, um meinem Ziel näher zu kommen. Ich tat mein Möglichstes, um die deutsche Grammatik zu
begreifen und um einen guten Wortschatz zu bekommen Im großen und
ganzen habe ich viel gelernt Die Bedingungen waren einwandfrei. In der
Bibliothek konnte man verschiedene Bücher lesen oder sich ausleihen.
Bücher über Grammatik, Verben, Deklinationen, Präpositionen, es gab alles
Mögliche. Man konnte Texte hören und Phonetikübungen machen. Es gab
auch Praktikanten, die den Studenten bei ihren Hausaufgaben halfen. Unter
solchen Bedingungen kann man schnell lernen. Ich bedanke mich herzlich
bei meinen Lehrern. Ohne sie hätte ich mein Deutsch nicht verbessern können. Ich habe viel Glück gehabt. Während der gesamten vier Monate habe
ich pünktliche, nette, herzliche und fleißige Lehrer gehabt. Sie haben mir
immer geholfen und mich ermutigt. In meinem letzten Kurs hat mir meine
Lehrerin einen guten Ratschlag gegeben. Zu Anfang des Kurses hatte ich ihr
gesagt, dass ich besonders intensiv meinen Wortschatz verbessern, Dialoge
hören, sprechen und schreiben möchte.
Sie empfahl mir einige Bücher um meine Phonetik zu verbessern und sie
riet mir: „Besprechen Sie bitte mit mir, welche Laute Sie besonders üben
müssen. Leihen Sie sich Bücher und Kassetten aus, hören Sie sie zu Hause
und sprechen Sie laut. Üben Sie die Laute, die Ihnen noch Schwierigkeiten
machen. Bitten Sie die Praktikantinnen um Hilfe“.
Immer auch war das Goethe-Institut ein Kulturtreffpunkt. Wie man
weiß, kommen Goethe- Studenten aus verschiedenen Ländern der ganzen
Welt. Ich habe mit Japanern, Chinesen, Spaniern, Amerikanern, Franzosen,
Afrikanern, Türken, Indern, Italienern und Russen studiert und gelernt und
wir haben uns dabei auch persönlich kennen gelernt. Man kann sagen, dass
das Goethe-Institut für den Kulturdialog kämpft und das ist gut für die Ruhe
in der Welt.
Ich habe verschiedene Vergleiche angestellt. Zum Beispiel habe ich bemerkt, dass die menschlichen Begrüßungsrituale auf der ganzen Welt recht
424
Nordrhein-Westfalen
Hyacinthe Ouingnon
unterschiedlich sind. In vielen westlichen Ländern schüttelt man sich die
Hand. In Asien legt man beide Hände vor der Brust zusammen. In ostasiatischen Ländern begrüßt man sich mit einer Verbeugung. In Südamerika
umarmt man sich. In arabischen Ländern bewegt man seine rechte Hand
vom Herzen über die Stirn nach oben und grüßt. In Deutschland habe ich bemerkt, dass man die Hand des Gegenübers mit einem Augenkontakt verbinden sollte. In Japan, Korea und Afrika ist das anders. Man blickt sich nicht
in die Augen. Das gilt als unhöflich und respektlos. Zum Beispiel blicken
die jungen Menschen den älteren Leuten nicht in die Augen. Und wenn ein
Kind mit seinen Eltern spricht, muss es seine Augen senken.
Von nun an kann ich die andere Kultur besser verstehen. Ich habe jetzt
viele Freunde in der ganzen Welt und das freut mich. Ich erinnere mich an
einen wichtigen Treffpunkt: den Stammtisch. Jeden Donnerstag trafen sich
dort die Goethe-Studenten. Wir unterhielten uns miteinander, tranken ein
Bier und am Ende gingen wir zusammen in die Diskothek. Die Studenten
reden am Stammtisch vielleicht nur über das Wetter, aber dieser Stammtisch
ist für die Studenten der Grundstufe eine gute Möglichkeit um Deutsch zu
sprechen. Deshalb war ich fast jeden Donnerstag beim Stammtisch und ich
habe immer eine prächtige Zeit verbracht. Übrigens habe ich dorthin sehr oft
mein Wörterbuch mitgebracht und musste auch immer wieder hineinschauen. Mein erster Stammtisch war sehr lustig. Ich war normalerweise in der
Grundstufe, aber zufällig saß ich mit Mittelstufe- Studenten um einen Tisch.
Mein Deutsch war schlecht und ich konnte die anderen kaum verstehen.
Und jedes Mal wenn jemand etwas sagte, fragte ich nach den Worten und
schaute in mein Wörterbuch. Das war lustig und meine Nachbarn haben viel
gelacht. Aber ich wusste schon aus Erfahrung, dass man ohne Praxis nicht
schnell lernen kann. Auf jeden Fall habe ich jedes Mal beim Stammtisch
viel gelernt und die Atmosphäre hat mir immer gefallen. In Düsseldorf erinnere ich mich auch an das Heinrich Heine- und das Goethe-Museum, den
Turm, die Parks und den Hauptbahnhof, der immer voller Leute und belebt
war. Ich habe auch bemerkt, dass es in der Landeshauptstadt viele Ausländer
gibt, insbesondere viele, die aus Afrika kommen.
5. Die Ausflüge nach Dresden, Straßburg, Schwarzwald und Weimar
Ich habe vier Ausflüge gemacht. Ich bin nach Dresden, in den Schwarzwald
und nach Weimar gefahren. Durch diese Ausflüge habe ich viel über
Deutschland gelernt und meine Kenntnisse über die europäische Einheit
verbessert.
425
Hyacinthe Ouingnon
Nordrhein-Westfalen
Im August habe ich mit anderen Studenten des Goethe-Institutes einen Ausflug
nach Dresden gemacht. Ich hatte schon über Dresden gehört, als wir in der
Schule im Geschichtsunterricht über den Zweiten Weltkrieg sprachen. Die
Reise war zwar lang, aber trotzdem hat es mich gefreut, daran teilzunehmen.
Im vergangenen Jahr war die ganze Stadt unter Wasser, weil es viel geregnet
und ein Hochwasser gegeben hatte. Ich habe besonders die Kriegsgeschichte
wieder gehört und Fotos gesehen, wie sehr Dresden zerstört war. Wenn man
an die Kriegerwitwen, die Kriegstoten, die Kriegsbeschädigten denkt, wird
man traurig. Ich habe auch bemerkt, dass viele Touristen nach Dresden
kommen. Es gibt in der Tat ja auch viel zu sehen. Im Albertinum-Museum
und im Zwinger gibt es schöne Sachen zu bewundern: Juwelengarnituren
aus Brillanten, Smaragden, Saphiren, Porzellansammlungen und reiche
Medaillensammlungen der Barockzeit. In der Galerie der Neuen Meister
lernt man viel über Deutschlands Kunstgeschichte. Man sieht bewundernswerte Originalskulpturen, Antikensammlungen und Goldkunst, Steinschnitte
und Bronzestatuen der Renaissance. Im Mathematisch-Physikalischen Salon
sieht man ein Spezialmuseum für Uhren und wissenschaftliche Instrumente
aus dem 16. bis 19. Jahrhundert. Da entstehen im Kopf viele Fragen über
Kunst und Menschengeschichte.
Bei diesem schönen Sommer war mein Ausflug mit den anderen HeinzKühn-Stipendiaten nach Straßburg wunderbar. Straßburg ist meiner Meinung
nach eine lebenslustige Stadt mit einer bewundernswerten Geschichte. Ich
erinnere mich noch an die berühmte Kathedrale „Notre Dame“, die mehr
als hundert Jahre alt ist. Ich erinnere mich auch an seine Geschichte und
an die schönen Dekorationen auf der Mauer. Man kann nicht die astronomische Uhr vergessen und auch die alten Gebäude, umgeben mit Blumen,
die Festungen, die Bootsfahrt auf der Ill quer durch die Stadt. Ich war nie
in Frankreich, aber durch Straßburg habe ich etwas über das Land gelernt.
Dazu war ich im Europäischen Parlament. Ein wunderschönes Gebäude,
wo ich viele Erklärungen zum Thema der Europäischen Einheit bekam,
wie die Institutionen funktionieren, welche Probleme sie haben und warum die europäische Einheit wichtig ist. Diese Informationen helfen mir,
die Europäische Einheit besser zu verstehen. Auch kann man sagen, dass
Straßburg die Hauptstadt Europas ist. Übrigens habe ich bemerkt, dass die
Einwohner sowohl Deutsch als auch Französisch sprechen können. Zuerst
war ich überrascht. Aber durch die Geschichte habe ich alles verstanden.
Man kann sagen, dass Straßburg ebenso zu Deutschland wie zu Frankreich
gehört. Zweimal (1870 und 1940) hat Deutschland Straßburg unterworfen
und verwaltet. Das erklärt auch, dass man hier französisches und deutsches
Essen genießen kann.
426
Nordrhein-Westfalen
Hyacinthe Ouingnon
Ich habe auch einige Tage im Schwarzwald verbracht. Dort habe ich eine
andere Seite von Deutschland entdeckt. Zuerst: die Landschaft ist ganz anders.
Man merkt sofort ganz unterschiedliche Attraktionen: die Weinlandschaften,
die alten Bauernhöfe und natürlich die grünen Berge und den schwarzen
Wald. Im Schwarzwald gibt es viele Natursehenswürdigkeiten. Ich kann
durch meine Erfahrung sagen, dass der Schwarzwald für mich wie ein großer
Naturpark in Deutschland ist und auch ein Ziel für Genießer. Auf den Bergen
hat man eine gute Fernsicht. Weil der Herbst schön war, habe ich spektakuläre Stimmungen, zum Beispiel während der sommerlichen Abendstunden,
erlebt. Man schaut gern die Natur; wenn die Sonne im Westen versinkt,
glühen die Vogesen golden auf. Auch die Wanderwege über Berg und Tal,
die Fahrt mit der spektakulären „Sauschwänzlebahn“ haben mich gefreut.
Ich kann sagen, dass der Schwarzwald ein traditionelles Land ist. Das ist
offensichtlich. Ich habe gehört, dass man bei verschiedenen Sommerfesten
sogar noch die traditionellen Bollenhütten sehen kann. Zu den vielen traditionellen Feiern gehören auch bis heute die kirchlichen Prozessionen.
In diesem Ruheland kann man natürlich gut entspannen. In diesem
Zusammenhang würde ich gestehen, dass das Leben im Schwarzwald fast
wie in Benin ist. Die Leute sind herzlich, nett, liebenvoll, einfach und gastfreundlich. Wie kann ich mein erstes Abendessen in diesem Gasthaus vergessen, wo man gutes traditionelles Essen schmecken kann? Ich bemerkte auch, dass die Leute in der Gaststätte sich untereinander alle kannten
und solidarisch wirkten. Es gibt wirklich einen großen Unterschied zwischen Düsseldorf und Schwarzwald. In Düsseldorf hat man ständig den
Lärm der großen Stadt, im Schwarzwald genießt man die erholsame ruhige
Atmosphäre. Die Gemütlichkeit der Leute gefällt mir. Dort gibt es noch nicht
die Zivilisationskrankheiten wie die Einsamkeit, Stress, Unverschämtheit
und Egoismus. Der Schwarzwald ist ein unvergessliches, unwiderstehliches, unvergleichliches Land.
Und dann kam Weimar!
Die Studienfahrt nach Weimar und Umgebung vom 24. Oktober bis 2.
November war für mich eine große Möglichkeit für die Erweiterung meiner
Kenntnisse. Von nun an weiß ich, dass, wenn man über Deutschland und seine Kultur und Geschichte lernen will, sollte man einmal nach Weimar fahren. Dort gibt es viel über unterschiedliche Sparten zu lernen. Ohne Zweifel
genießt man gern die Thüringer Klöße, auch die Abendessen im Gasthaus
„Scharfe Ecke“, im Restaurant „Shakespeare“. „Sommer‘s Weinstube“ mit
gemütlicher historischer Weinstube, seit fünf Generationen. Aber man vergesse über all den gemütlichen Traditionsgaststätten nicht die Stadtführungen
durch die historische Altstadt. Man bemerkt, dass berühmte Personen in
Weimar gewohnt haben. Bekannte Personen wie Goethe, Schiller, Liszt,
427
Hyacinthe Ouingnon
Nordrhein-Westfalen
Nietzsche und Bach. Ich erinnere mich noch an die Besichtigung des
Weimar-Hauses, wo mit Spezialeffekten eine Geschichtsshow durch fünf
Jahrhunderte Weimarer Geschichte gezeigt wurde.
Für mich eine der interessanten Besichtigungen war die Wartburg. Von
dieser Festung aus kann man im Osten das Gebiet des Hörseltales überblicken. Die Besichtigung der Räume der Wartburg ist wie eine Reise durch
mehrere Jahrhunderte. Es ist gleichzeitig auch eine Reise durch einen Teil
der deutschen Geschichte, Kunst und Literatur. Ich habe etwas über die
Epoche mittelalterlicher Klassik gelernt. Ebenfalls gern schaut man sich die
Sammlung der romanischen Zeit und das Torhaus an. Übrigens habe ich ein
außerordentliches Gefühl in der Luther-Stube gehabt. Für mich ist Martin
Luther ein mutiger und unerschütterlicher Reformator. Bis heute habe ich
für ihn eine unbegrenzte Bewunderung. Ich frage mich nur, wie er in nur
drei Monaten das Neue Testament aus dem Lateinischen erstmals in die
deutsche Sprache übersetzen konnte.
Die Besichtigung des Schillerhauses hat mich sehr gefreut, hauptsächlich
sein Arbeitszimmer im Mansardengeschoss. Auch hier findet man originale
Sachen, die zu Schiller und seiner Familie gehört haben. Ich denke, dass
das Gebäude für die folgenden Generationen ein unschätzbares Memorial
ist. Denselben Eindruck hatte ich nach der Besichtigung von Goethes Haus,
Goethes Hausgarten und dem Goethe Nationalmuseum.
Wer kann die Sammlungen zur Geologie, Mineralogie und Botanik vergessen? Niemand. Im Nationalmuseum habe ich übrigens ein Panorama der
Literatur, Kunst und Politik zwischen 1750 und 1850 gehabt: eine unglaubliche Reise durch einhundert Jahre. Ebenfalls besichtigten wir das Gartenhaus
Goethes, wo die bekannten Gedichte und Prosafassungen entstanden sind.
Das war für mich eine große Ehre.
Ein weiterer wichtiger Moment in Weimar war für mich der Besuch bei
der Thüringischen Landeszeitung, dort insbesondere die Gespräche mit
der Chefredakteurin, Frau Gerlinde Sommer. Warum? Sie sagte, dass es
in der DDR Zeit keine Pressefreiheit gab. Die Regierung kontrollierte alles: die Berichte, den Zeitungsdruck, selbst die Zuteilung des Papiers. Die
Journalisten konnten sich keine Freiheiten herausnehmen Die Menschen
hatten ständig Angst vor der Strafverfolgung. Nach dem Fall der Mauer kam
die Hoffnung Heute gibt es verschiedene Zeitungen und Radios.
Merkwürdigerweise kann man einen Vergleich zwischen der Mediengeschichte in Ostdeutschland und der Mediengeschichte in Benin anstellen. In
meinem Land in der marxistisch-leninistischen Zeit gab es nur eine staatliche Zeitung, und auch nur einen staatlichen Fernsehsender. Die Regierung
kontrollierte auch alles, wie in Ostdeutschland. Das war eine schreckliche Zeit, eine Zeit, wo die Diktatur die Menschenrechte ermordete. Viele
428
Nordrhein-Westfalen
Hyacinthe Ouingnon
Journalisten begaben sich ins Exil oder wurden ausgewiesen. Ohne Freiheit
ist das Leben schwer, langweilig, schwül und unangenehm. Aber nach den
Nationalgesprächen kam die Freiheit.
Heute gibt es wie in Ostdeutschland verschiedene Zeitungen und Sendungen in Benin. Zum Beispiel gibt es in diesem kleinen Land fast 20 täglich
erscheinende Zeitungen und ca. 30 Radiosender. Und ein für allemal ist die
Diktatur verschwunden. Durch diesen Vergleich sieht man, dass manchmal
die Völker dieselbe Geschichte haben. Gewissermaßen sind die Menschen
dieselben.
6. Bonn und mein Praktikum
Mein Praktikum bei der Deutschen Welle war insgesamt wunderbar. Am
3. November habe ich mein Praktikum bei der Deutschen Welle angefangen. Und ich habe fast zwei Monate beim Französischen Programm verbracht. Zunächst würde ich sagen, dass die Deutsche Welle ein multimediales, weltweit abrufbares Informationsangebot in rund 30 Sprachen bietet:
von amharisch bis urdu, von bengali bis ukrainisch und auch in englisch,
französisch, spanisch, arabisch, kisuaeli, hausa, indonesisch, chinesisch und
japanisch, kroatisch, persisch, russisch, türkisch und natürlich in deutsch.
Ich kann weiter sagen, dass die Deutsche Welle eine der reichweitenstärkste Institution auswärtiger Medien ist, und sie einen wichtigen Beitrag zur
Kulturarbeit und zum interkulturellen Dialog leistet.
Daraus folgt, dass ich bei meinem Praktikum Leute aus vielen verschiedenen Ländern kennen gelernt habe. Schon am ersten Tag hatte ich ein gutes Gefühl. Die Kollegen des Französischen Programms waren sehr nett
und sympathisch. Jeder wollte mir etwas zeigen: Z. B. wie funktioniert die
Sendung, wie muss man die Berichte zusammenstellen, wie soll man durch
die Mikrofone sprechen. Die herzliche Aufnahme, die Liebenswürdigkeit,
die Besorgnis der Kollegen und das außerordentlich gute Arbeitsklima haben mich beruhigt. Ich hatte vorher noch niemals bei einem Radio gearbeitet, weil ich normalerweise bei einer Zeitung beschäftigt bin. Aber auf
Grund dieser vortrefflichen Bedingungen habe mich sofort eingewöhnt.
Schon zwei Tage später habe ich die moderne Digitaltechnik kennen gelernt. Und vier Tage später habe ich einen Bericht geschrieben und zusammen mit der Chefredakteurin meine erste Moderation gemacht. Das war am
7. November. Bei der folgenden Konferenz hat sie gesagt, dass ich super
war! Die anderen Kollegen waren stolz auf mich und haben geklatscht. Ich
war ein wenig geniert, aber zufrieden. Es war dasselbe, als ich mein erstes
Interview gemacht habe. Schnell hat die Chefredakteurin mir Vertrauen ge429
Hyacinthe Ouingnon
Nordrhein-Westfalen
schenkt. Deshalb hatte ich immer jeden Tag etwas zu tun. Und natürlich habe
ich meine Kenntnisse verbessern können. Insgesamt habe ich viele Berichte
über verschiedene Themen geschrieben und auch viele Interviews gemacht.
Manchmal hatte ich Angst, etwas Falsches zu machen. Aber die Kollegen
haben mich immer ermutigt. Hauptsächlich ein Kollege, der ein ehemaliger
Stipendiat der Heinz-Kühn-Stiftung war und der jetzt beim Französischen
Programm arbeitet. Mit seinem Einverständnis habe ich über einige Themen
geschrieben.
Mit einem Wort: Mein Praktikum bei der Deutschen Welle war sehr gut.
Ohne Unannehmlichkeiten. Zusätzlich habe ich nun mit dem neuen Medium
Radio von Heute auf Morgen eine Alternative, um meinen Lebensunterhalt
zu verdienen. Wegen des Stipendiums habe ich eine neue Perspektive und
höchstwahrscheinlich werde ich bei einem Radio arbeiten, wenn ich wieder
in meine Heimat zurückgekehrt bin.
7. Danksagung
Ich bedanke mich bei Frau Ute Maria Kilian.
Ich bedanke mich beim Goethe-Institut.
Ich bedanke mich bei der Deutschen Welle, dem französischen Programm.
Ich bedanke mich bei Nordrhein Westfalen.
Ich bedanke mich hauptsächlich bei der Heinz-Kühn-Stiftung und wünsche
ihr immer mehr Erfolg.
Von ganzem Herzen …
430
Hoang Than Phuong
aus Vietnam
Stipendien-Aufenthalt in
Nordrhein-Westfalen
04. Mai bis 13. September 2003
431
Nordrhein-Westfalen
Hoang Than Phuong
Aufenthalt und Erlebnisse in Deutschland
Von Hoang Than Phuong
Nordrhein-Westfalen vom 04.05. – 13.09.2003
433
Nordrhein-Westfalen
Hoang Than Phuong
Inhalt
1.
Zur Person
436
2.
2.1
2.2
2.3
2.4
Ein paar Informationen über Vietnam
Geographie und Klima
Nationalitäten und Sprachen
Religion und Glauben
Vietnam durch die Augen eines deutschen Redakteurs
436
436
437
438
439
3.
So fing es an
440
4.
Willkommen in Deutschland
440
5.
Meine zweite Familie
442
6.
Anfang gut, alles... ist nicht so einfach!
443
7.
7.1
7.2
7.3
Praktikum bei der WAZ
Die WAZ
Die Arbeit in einer WAZ-Redaktion
Ein Bericht über mich
443
444
445
446
8.
Meine Artikel
446
9.
Vielen Dank
451
435
Hoang Than Phuong
Nordrhein-Westfalen
1. Zur Person
Ich wurde am 09. November 1980 in Hanoi – der Hauptstadt von Vietnam
- geboren. Ich habe Germanistik an der Hochschule studiert. Meine Eltern
sind beide Journalisten von der Vietnamesischen Nachrichtenagentur
(VNA) und arbeiten meistens als Korrespondenten für VNA im Ausland.
Deshalb wohnen wir nicht immer zusammen. Trotzdem sind und waren
sie meine Vorbilder. Ich will eine gute Journalistin werden. Mit 16 Jahren
schrieb ich meinen ersten Artikel für eine Teenager-Zeitschrift, und dann
auch für verschiedene andere Zeitungen und Magazine, ebenfalls beim
Radio und Fernsehen. Das Berufsziel Journalistin stand damals für mich
schon fest. Dass ich nun Journalistin geworden bin und nicht etwas anderes hat sich einfach so ergeben – mir war nur von Anfang an klar, dass es
mit einem Notizbuch und einem Kugelschreiber zu tun haben musste. Nach
dem Praktikum bei der deutschen Firma „B.Braun Hanoi Pharmaceutical
Co.“ bin ich seit September 2002 bei der Sport & Kultur Zeitung – einer
Abteilung der VNA - beschäftigt. Mein Schwerpunkt im Journalismus liegt
natürlich im Sport- und Kulturbereich. Von Anfang Mai bis Ende August
2003 war ich Stipendiatin der Heinz-Kühn-Stiftung. Im Rahmen meines
Stipendiumaufenthaltes machte ich ein Praktikum bei der Westdeutschen
Allgemeinen Zeitung in Essen in der Lokalredaktion und in Gelsenkirchen
in der Stadtredaktion. Das journalistische Know-how lerne ich immer noch
weiter.
2. Ein paar Informationen über Vietnam
2.1. Geographie und Klima
Vietnam hat die Form eines S-Buchstabens. Es liegt östlich der Indochinesischen Halbinsel in Süd-Ost-Asien und völlig in der tropischen Zone.
Vietnam hat eine lange Seeküste von 3.000 km am Ostmeer und Pazifik,
nördlich grenzt es an China, westlich an Laos und Kambodscha.
Das Land Vietnam ist lang und schmal. Der nördliche und südliche Teil
sind größer als der Mittelteil. In Norden befinden sich die großen Deltas
des Roten Flusses, der Flüsse Lo und Chay, welche sich nordwestlichsüdöstlich langsam verbreiten und in die Bac Bo-Bucht einfließen. Vom
Monsun beeinflusst, wird das Wetter im Norden eindeutig in 4 Jahreszeiten
geteilt: Frühling, Sommer, Herbst und Winter, mit hoher Feuchtigkeit. Um
den Boden für den Ackerbau und das Leben zu erhalten, hatte das Volk im
436
Nordrhein-Westfalen
Hoang Than Phuong
Norden seit tausenden von Jahren ein System von Deichen gebaut, die tausend Kilometer entlang der beiden Flussufer laufen.
Im Süden fließt der Fluss Mekong von China über Laos und Kambodscha
bis zum Süden Vietnams, hier ist es in neun Flussarme geteilt – und wurde
deshalb Cuu Long (neun Drachen) genannt. Das Wetter im Süden bildet 2
Jahreszeiten: die Regenzeit und Trockenzeit.
Zwischen dem nördlichen und südlichen Teil des Landes liegt das lange
und schmale Mittelvietnam. Westlich befinden sich die Bergkette Truong
Son und viele kurze Flüsse, die direkt ins Meer fließen. Sie bilden da am
Rand des Meeres kleine schmale Ebenen. Das Klima hier ist hart, es gibt
oft Naturkatastrophen. Südwestlich des Mittellandes befindet sich eine
Hochebene auf einer Höhe von 1. 000 Metern über dem Meeresspiegel,
mit fruchtbarem Basaltboden, der sehr geeignet ist für den Anbau von tropischen und klimagemäßigten Industriepflanzen (Kautschuk, Tee, Kaffee,
Kakao usw.).
Entlang der Küste Vietnams, von Norden nach Süden, gibt es viele schöne
Badestrände, z. B. die Ha Long-Bucht mit über 3.000 kleinen Bergen, die
aus dem Meer emporragen. Sie ist 1995 von der UNESCO als ein natürliches Welterbe anerkannt worden. Vietnam hat noch viele Urwälder, die
noch nicht erschlossen sind, in denen mehrere wertvolle Holzbäume und
seltene Tiere vorkommen. Die Hochgebirgsstädte mit mäßigem Klima sind
anziehende Touristengebiete. Es gibt noch sehr viele Seen, Flüsse, Bäche,
Wasserfälle und wunderschöne Steingrotten.
Überall im Norden und in der Mitte des Landes liegen die Kohlengruben,
Eisenerz-, Bauxitbergwerke und andere Vorkommen von seltenen Edelsteinen. Am Korridor des Inlandes und der Meeresküste gibt es viele Erdöl- und
Erdgasvorkommen.
2.2. Nationalitäten und Sprachen
Vietnam hat 54 Nationalitäten mit ca. 80 Millionen Menschen. Die Viet
(Kinh) sind 88% der Bevölkerung; sie leben hauptsächlich im Flachland wie
im Delta des Roten Flusses, an der Küste des Mittellandes, im Delta des Cuu
Long-Flusses und in den Großstädten. Die übrigen 53 Nationalitäten leben
hauptsächlich in den Berg- und Waldgebieten, die entlang des Landes von
Norden bis Süden liegen und 2/3 der Gesamtfläche ausmachen.
Das materielle und geistige Leben der Völker ist noch unterschiedlich. In
der ganzen historischen Entwicklung des Landes haben die vietnamesischen
Nationalitäten immer die traditionelle Geschlossenheit, gegenseitige Hilfe,
besonders in der Zeit der Widerstandskämpfe gegen Aggressoren, gehalten.
437
Hoang Than Phuong
Nordrhein-Westfalen
Die Regierung der früheren Demokratischen Republik Vietnam und der jetzigen Sozialistischen Republik Vietnam hat sehr viele konkrete politische
Programme und kontinuierliche besondere Begünstigungen praktiziert, um
den Nationalitäten der Bergregionen zu helfen, damit sie mit anderen im
Flachland lebenden Völkern schritthalten können. Gleichzeitig bemüht sich
die Regierung um die Entwicklung und Erhaltung der traditionellen Identität
der einzelnen Nationalitäten.
Zur Zeit erreichen die Vorhaben und Programme zur Hilfe der Bergregionen
wie die Versorgung mit Jodsalz gegen Halskropf für die weit entlegenen
Dörfer, der Aufbau der Sanitärstellen und Schulen der Minderheitsschüler,
Bekämpfung der Malaria und andere Programme wie Schaffung der Schrift
für die Völker, die noch keine Schrift haben, sorgfältiges Studieren der traditionellen Kultur der einzelnen Nationalität, gute Ergebnisse.
Die verschiedenen Nationalitäten haben ihre eigenen Sprachen und viele haben eine eigene Schrift. Trotzdem ist Vietnamesisch die allgemeine
Volkssprache und wird überall im Land gesprochen. In vielen Jahrhunderten
waren schriftliche Dokumente in Altchinesisch geschrieben. Es ist wahrscheinlich, dass im 8. Jahrhundert die Vietnamesen eine neue Schrift geschaffen hatten, welche wie das bildhaft bedeutende Altchinesisch geschrieben und mit vietnamesischer Phonetik ausgesprochen wird, die dann als
die Nom-Schrift bekannt wurde. Im 13. Jahrhundert gab es viele in dieser
Schrift geschriebene vietnamesische Gedichte. Im 17. Jahrhundert hatten
einige westliche Missionare eine neue Schrift mit lateinischen Buchstaben
geschaffen, die Quoc Ngu (Nationalschrift) genannt wurde. Mit der Zeit
wurde diese Schrift vervollständigt und zur offiziellen Schrift am Anfang
des 20. Jahrhundert durch die Bewegungen zur Verbreitung der revolutionären Ideologie und kulturellen Entwicklung erklärt.
2.3. Religion und Glauben
Wie andere Völker haben die vietnamesischen Nationalitäten ihre Volksglauben wie Verehrung der Fetische und Heilige. Die Verehrung der Ahnen
ist jedoch am populärsten.
Vietnam ist ein multireligiöses Land. Heute gibt es über 30.000 Ehrungsstätten der Religionsarten, die systematisch organisiert und von den Menschen regelmäßig besucht werden.
Der Buddhismus ist die früheste populärste und anteilmäßig am meisten verbreitete Religion. Er wurde im 2. Jahrhundert nach Christus nach
Vietnam durch 2 Wege eingeführt: einmal durch China (Dai Thua), ein
anderer Weg durch Thailand, Kambodscha, Laos (Tieu Thua). In den feu438
Nordrhein-Westfalen
Hoang Than Phuong
dalen Dynastien Vietnams der vergangenen zehn Jahrhunderte war der
Buddhismus stets als Nationalreligion angesehen. Zur Zeit gibt es im ganzen Land über 20.000 aktive Pagoden, viele davon werden renoviert und
erweitert. Heute ist der Buddhismus immer noch die Hauptreligion mit der
größten Gläubigenanzahl; die zweitgrößte ist die katholische Kirche, die von
westlichen Priestern aus Spanien, Portugal und Frankreich am Anfang des
17. Jahrhunderts eingeführt wurde. Heute sind im ganzen Land über 6.000
Kirchen, die täglich religiöse Tätigkeiten durchführen. Über 500 Kirchen,
die durch amerikanisches Bombardement zerstört wurden, sind heute wieder neu aufgebaut worden.
Der Protestantismus kam im Jahr 1911 nach Vietnam und verbreitete sich
bis 1920 in ganz Vietnam. Dessen Anhänger sind dennoch nicht viele. Der
Islam kam nach Vietnam vor ziemlich langer Zeit, ist aber auch nicht sehr
verbreitet. Außer den eingeführten Religionen gibt es in Vietnam noch einheimische Religionen: Cao Dai und Hoa Hao. Ihre heiligen Stätten liegen in
Tay Ninh und Chau Doc – An Giang (Mekongdelta). Die vietnamesischen
Religionen sind nicht feindlich untereinander, sondern freundlich, zusammengebunden in einer nationalen Einheitsfront Vietnams. Sie kämpfen gemeinsam gegen die ausländischen Aggressoren und bauen das Land zusammen auf.
2.4. Vietnam durch die Augen eines deutschen Redakteurs
Als eine vietnamesische Leserin habe ich mich dafür interessiert, was
die ausländischen Journalisten über meine Heimat schreiben. Der letzte
Bericht, den ich gelesen habe, war von Michael Muscheid – Redakteur von
der WAZ in Gelsenkirchen. Nach zwei Monaten in Vietnam – im Rahmen
des Stipendiums der Heinz-Kühn-Stiftung – hat er eine ganze Seite über das
Land für die WAZ in Gelsenkirchen geschrieben. Hier zitiere ich einen Teil
dieser Seite:
Vietnam ist von der Fläche her so groß wie Deutschland und etwa genauso dicht bevölkert. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt (450 € pro Kopf)
gehört das Land aber noch immer zu den ärmsten der Welt.
Seit dem Sieg es kommunistischen Nordens über den von den USA unterstützten Süden (1975) ist das wiedervereinigte Land unabhängig. Zuvor waren
über 100 Jahre fremde Truppen in Vietnam: die französischen Kolonialisten
ab 1861, die Amerikaner ab 1964, 1973 zogen die US-Truppen ab.
Einen Alleinvertretungsanspruch hat die Kommunistische Partei, die 1986
den Reformkurs „Doi Moi“ (Neues Leben) startete: Die langsame Öffnung
in Richtung Markt-Wirtschaft gibt der Wirtschaft Auftrieb.
439
Hoang Than Phuong
Nordrhein-Westfalen
Wichtigstes Grundnahrungsmittel ist Reis, es wird auf 80% der landwirtschaftlichen Nutzfläche angebaut. Exportiert werden vor allem Reis,
Bekleidung und Kaffee.
3. So fing es an
Während meines vierjährigen B.A. – Studiums im Fach Deutsch an
der Hochschule für Fremdsprachen in Hanoi habe ich mich nicht nur mit
Sprache, Linguistik und Literatur beschäftigt, sondern auch mit Themen
aus der deutschen Alltagswelt. Da Journalismus schon seit langem zu meinen Berufszielen gehört, hat mich dabei auch die Struktur des deutschen
Pressewesens sehr interessiert.
Ich habe dabei erfahren, dass die Presse eine große Rolle in der deutschen
Gesellschaft spielt. Im Hinblick auf die Zeitungsdichte liegt Deutschland
hinter Japan, Großbritannien, Österreich und der Schweiz weltweit an der
fünfter Stelle.
Überraschend finde ich auch die Gliederung des deutschen Rundfunkund Fernsehwesens. Anders als in Vietnam gibt es in Deutschland zahlreiche
private Anbieter neben den öffentlichen Rundfunk- und Fernsehstationen.
In den großen Städten können die Bürger in „offenen Kanälen“ sogar ein
eigenes Fernsehprogramm machen.
Ich war mir sicher, dass ich meine Aufgaben erst dann kompetent und
zufriedenstellend erfüllen könnte, wenn ich die Chance haben sollte, durch
einen Gastaufenthalt in Deutschland meine sprachlichen und landeskundlichen Kenntnisse umfassend weiterzuentwickeln. In Vietnam habe ich relativ wenig Zugang zu deutschen Medien. Deshalb war es für mich wichtig durch das Praktikum vom Aufbau deutscher Zeitungen viel lernen zu
können: Ich wollte gern erfahren, wie man Artikel auch über komplizierte
Themen so spannend und verständlich schreiben kann, dass man die Leser
nicht verliert. Schon in Vietnam hatte ich den Eindruck, dass die Artikel
deutscher Magazine immer sehr sorgfältig gegliedert sind. Das ist immer ein
Vorbild für mich und die anderen vietnamesischen Journalisten. Das müssen
wir lernen. Das waren die Gründe, warum ich mich um ein JournalismusStipendium in Deutschland beworben habe.
4. Willkommen in Deutschland
Mit der Hilfe von David Schwake – dem ersten Sekretär der Deutschen
Botschaft in Hanoi, Herrn Franz Xaver Augustin – dem Leiter des Goethe440
Nordrhein-Westfalen
Hoang Than Phuong
Instituts in Hanoi, Paul Weinig – dem Leiter der Sprachabteilung des GoetheInstituts und besonders Jörg Tiedemann – mein Lehrer, der meine Liebe für
Deutschland und für die Deutsche Sprache geweckt hat – hoffte ich schon
am Anfang, das Stipendium zu bekommen.
Und dann kam das Stipendium sogar schneller als erwartet. Es blieb gerade genug Zeit, um die entsprechenden Papiere zu besorgen und die Reise
vorzubereiten.
Ich liess alles hinter mir: meine Arbeit, meine Freunde, mein Haus,
Vietnam und flog am 04.05.2003 nach Deutschland. Ich freute mich schon
darauf, aber trotzdem hatte ich noch ein komisches Gefühl aus Angst und
Neugier, aus Unsicherheit, aus Traurigkeit – denn es bedeutete auch, dass ich
meinen Freund eine lange Zeit nicht mehr sehen würde. Unbeschreibbar!
Der Flug dauerte fast 20 Stunden. Durchs Flugzeugfenster erschien
Deutschland durch die Wolken in vielen unterschiedener Farbflecken: grün,
blau und rot - wie ein riesiger Stadtplan. Das war mein erster Blick über
Deutschland. Und dann noch: die Sprache. Es klingt ein bisschen merkwürdig, aber mein erster Gedanke, als ich in Frankfurt gelandet bin, war:
„Oh Gott, hier spricht man Deutsch!“. Manchmal hörte ich auch Englisch,
Französisch, aber ich bin wirklich in Deutsch versunken. Ich versuchte alles
zu verstehen, und flirtete ein bisschen mit dem Zöllner. Er hat mich verstanden – nicht schlecht!
Frau Ute Maria Kilian von der Heinz-Kühn-Stiftung hat mich am
Düsseldorfer Flughafen abgeholt. Mein erster Eindruck über sie: eine sehr
sympathische Frau. Wir haben uns sofort erkannt. Bis jetzt weiß ich immer
noch nicht wie. Zu gleicher Zeit landete noch eine argentinische Stipendiatin:
Maricel Drazel, die später eine gute Freundin von mir wurde.
Am Anfang, als ich Maricel kennenlernte, hatte ich wirklich Sorge. Sie ist
älter als ich. Sie hat viel Journalismuserfahrung. Sie hatte schon vorher ein
Stipendium bekommen, um in Deutschland Journalismus zu studieren. Ich
habe mich selbst mit ihr verglichen. Und dann dachte ich: Was kann ich von
diesem Aufenthalt erwarten? Wie sieht mein Praktikum aus? Egal! Schau
mal, was kommt!
Die Praktika für Maricel und für mich waren nicht gleich. Maricel machte zuerst einen zweimonatigen Sprachkurs in Goethe-Institut und dann
ein zweimonatiges Praktikum beim ZDF. Ich machte ein viermonatiges
Praktikum bei der WAZ, weil ich schon genügend Kenntnisse der deutschen
Sprache besass. Wir brachten Maricel zum Goethe-Institut, wo sie eine
Prüfung machte und anschließend zu ihrem Appartement. Düsseldorf war
die erste deutsche Stadt, die ich kennenlernte. Eine schöne Stadt mit vielen
Geschäften und großen Gebäuden. Auch viel Verkehr, aber ordentlich! Das
Wetter war überraschend angenehm. Nicht warm, nicht kalt!
441
Hoang Than Phuong
Nordrhein-Westfalen
Schon am ersten Tag habe ich meinen Redakteur – Herr Bernd Kassner
– in der WAZ Lokalredaktion in Essen kennengelernt und mit ihm über
Journalismus in den beiden Ländern diskutiert. Das war interessant. Aber
ehrlich gesagt, an diesem ersten Tag wollte ich nur schlafen. Der Tag war zu
schwer für mich. Ich war fix und fertig.
5. Meine zweite Familie
Endlich war ich auch „zu Hause“ bei der Familie Muscheid. Als Frau
Kilian mir sagte, dass ich dort wohnen würde, war das eine Überraschung
für mich. Michael Muscheid – der erste Sohn der Familie – arbeitet als
Redakteur für die WAZ in Gelsenkirchen. Er war ein Stipendiat der HeinzKühn-Stiftung. Wir haben uns in Hanoi kennengelernt. Ich habe in einem
anderen Kapitel ja schon von ihm gesprochen.
Bei seinen Eltern wohnte ich in einen relativ großen Haus mit einer
Garage, einem schönen Garten mit vielen Früchtebäumen und Blumen, wo
wir oft grillten und es gab auch noch einen kleinen Teich, in dem waren
viele Fische und sogar eine Schildkröte. Ich hatte ein eigenes Zimmer, ein
Badezimmer und ein Sportzimmer, wo ich fernsehen und in der Freizeit
Sport treiben konnte. So viel hatte ich nicht erwartet.
Man könnte die Familie „eine schreckliche Familie“ nach einer Komödien-Serie im Fernsehen nennen. Hier fühlte ich mich wie zu Hause. Ich
habe sogar meine Gasteltern „Vati“ und „Mutti“ genannt.
Hans Muscheid – ein Wörtererfinder. Spielen mit englischen - und deutschen Wörtern ist eines von seinen Hobbys. Er bleibt mir in Erinnerung mit
den zwei Fragen „Is there any ... (Noun, wie Phuong z.B) in this area?“ und
„Phuong (oder wer anders), what is your opinion?“ Und weiter: Weißt Du,
was „after-table“ ist? Überlegst du noch? Hans wird sagen: „ I think you are
heavy on the woodway.“ („Ich denke, du bist schwer auf dem Holzweg.“
– bedeutet: „Ich denke, du denkst in die falsche Richtung.“) Die richtige
Antwort für „after-table“ ist „Nachtisch“. Bingo!
Karin Muscheid kochte für mich nicht nur deutsche, sondern auch internationale Gerichte. Sie weiß genau, was meine Lieblingsspeisen sind,
wie Heringsfilet oder Chickenwings. Sie ist eine sehr gute Köchin. Ohne
Zweifel! Ich habe in 4 Monaten 3 Kilogramm zugenommen. Sie hat sich
auch viel um mich gekümmert – wie eine liebe Mutter. Sie gab mir sogar jeden Bericht, jedes Photo über Vietnam, welches sie zufällig in den
Zeitungen gefunden hatte.
Michael Muscheid ist nicht nur ein guter Freund von mir, sondern war
mir auch ein guter Betreuer. In der Zeit des Praktikums in Gelsenkirchen
442
Nordrhein-Westfalen
Hoang Than Phuong
hat er mir viel geholfen. Er hat für mich jeden Artikel sorgfältig korrigiert.
Unsere Kollegen bemerkten, dass wir uns immer ohne Ende streiten konnten. Manchmal hatten wir auch ein paar Meinungsverschiedenheiten. Aber
ohne ihn? Das hätte ich mir doch nicht vorstellten können.
Sven Muscheid – der zweite Sohn der Familie - ist ein Praktiker. Wenn
dein Computer kaputt gegangen ist, oder du Probleme mit dem Drucker
hast, frag ihn. Und nicht zuletzt ist er für mich ein Freund, wie ein Bruder.
Wir haben auch viele Gemeinsamkeiten und können uns gut verstehen. Er
hat mir in meinem privaten Leben viel geholfen. Er ist ein sehr guter Freund
in Deutschland für mich geworden.
6. Anfang gut, alles... ist nicht so einfach!
Der erste Tag meines Aufenthaltes war perfekt. Ich wohnte bei den Eltern
eines Freundes von mir. Das Leben hier gefiel mir! Ich war wirklich willkommen in Deutschland. Das Wetter war sehr angenehm. Am Anfang war
es ein bisschen kalt. Es regnete auch viel. Aber das dauerte nicht so lange.
Die Probleme kamen erst ein paar Tage später. Es begann mit dem Geruch.
„Mein Zimmer“ war nicht mein Zimmer. Es hatte einen für mich fremden
Geruch, den Frau Kilian „deutschen Geruch“ genannt hat. Dann kam noch
das Problem mit der Zeitumstellung. Ich war schläfrig, konnte aber gar nicht
schlafen. Ich bekam immer Kopfschmerzen, wenn ich mehr als 30 Minuten
im Zimmer blieb. Und noch das Heimweh. Ich habe meinen Freund, mein
Land und meine Arbeit unheimlich vermisst. In meinem Kopf waren immer
Fragen wie „Wie spät ist es in Vietnam?“, „Was macht mein Freund gerade?“. Die Gastfamilie hat mir viel in dieser Zeit geholfen.
Zur Arbeit musste ich immer mit einem Bus und einer U-Bahn fahren. Das
hatte ich noch nie vorher benutzt. Ein Kuli und ein Notizbuch – wie immer
– sind meine besten Freunde. Ich schrieb alles auf, was in einem Fahrplan
steht und wie ich zur Arbeit und nach Hause fahren konnte. Aber trotzdem
habe ich mich noch mehrmals verfahren: in die falsche Richtung, oder mit
der falschen U-Bahn. War ich so dumm, oder war das kein Kinderspiel? Ich
habe eben Lehrgeld gezahlt.
So sahen meine ersten Wochen des Aufenthaltes aus.
7. Praktikum bei der WAZ
Bundespräsident Johannes Rau hat in Berlin 300 Journalisten getroffen und zur Rolle der Journalisten gesprochen: „Journalisten haben eine
443
Hoang Than Phuong
Nordrhein-Westfalen
Schlüsselrolle bei der Vermittlung eines so weit wie möglich authentischen
Bildes anderer Länder.“
Für die deutsche Presse habe ich mich immer interessiert. Es war sehr
interessant, und auch wichtig für mich, das Alltagsleben der deutschen
Redaktion von innen zu betrachten, daran teilzunehmen, neue Kolleginnen
und Kollegen kennenzulernen und vor allem, dies alles mit der vietnamesischen Presse vergleichen zu können.
7.1. Die WAZ
Die WAZ Mediengruppe versorgt 59 Prozent der Gesamtfläche NordrheinWestfalens. Das Verbreitungsgebiet erstreckt sich von der niederländischen Staats- bis zur hessischen Landesgrenze, vom nördlichen Rand des
Ruhrgebiets bis nach Rheinland-Pfalz. Etwa 90 Prozent der Gesamtauflage
werden im Abonnement vertrieben. Zehn Prozent werden im Zeitungshandel
verkauft. Rund 7.000 Zusteller sorgen jeden Morgen dafür, dass über eine
Million Abonnenten ihre Zeitung pünktlich am Frühstückstisch lesen können.
Zur WAZ Mediengruppe gehören 5 Zeitungen: Westdeutsche Allgemeine
Zeitung (WAZ), Neue Ruhr Zeitung/ Neue Rhein Zeitung (NRZ), Westfäliche
Rundschau (WR), Westfalenpost (WP) und Iserlohner Kreisanzeiger (IKZ).
Die „Westdeutsche Allgemeine Zeitung“ ist Deutschlands größte regionale Tageszeitung mit Hauptsitz in Essen und mit einer Wochenendauflage von
ca. 750.000 Exemplaren. Sie ist das Flagschiff der „WAZ Medien Gruppe“.
Gegründet wurde die „WAZ“ von Erich Brost und Jakob Funke als Zeitung
für das Ruhrgebiet und hatte ihren ersten Erscheinungstag am 3. April 1948.
Die WAZ erscheint mit 28 Lokalausgaben in einem Gebiet, das von Moers
bis Unna, von Haltern bis Velbert reicht. In den Reviermetropolen Essen,
Bochum, Gelsenkirchen, Duisburg, Oberhausen und Mülheim ist die WAZ
die jeweils führende Tageszeitung.
Nachrichten aus Politik, Wirtschaft und Kultur, aus Sport und Fernsehen,
Berichte aus der Welt, Deutschland und dem Ruhrgebiet, Reportagen
und Kommentare, Interviews und Leserbriefe, praktische Lebenshilfe,
Beratungen, Telefon- und Zeitungsaktionen (wie „Schulen in Not“ oder
„Tier in Not“) stehen immer fest in der WAZ. Außerdem gibt es noch die
Extras der Tageszeitung:
– „Reise-Journal“ (mittwochs und samstags) steigert die Reiselust im
dicht besiedelten Ballungsraum an Rhein und Ruhr. Reiseberichte und –bilder, Tipps für Fernreisende und Wochenendausflügler sowie die vielfältigen
444
Nordrhein-Westfalen
Hoang Than Phuong
Angebote der Touristikunternehmen bieten alles für jeden Geschmack und
jeden Geldbeutel.
– Jeden Freitag liegt den Titeln der WAZ Mediengruppe in NRW und
Thüringen die farbige TV-Illustrierte BWZ bei. Mit der BWZ (Bunte
Wochen Zeitung) behalten alle Kabel- und Satellitenfreunde den Überblick.
Kurzbeschreibungen, Filmtipps und Hintergrundberichte erleichtern den
Umgang mit der Fernbedienung.
– Freizeit (freitags) bietet allen Lesern eine Fülle von News und Storys. Die
bunt gemischte Themenpalette reicht von interessanten Alltagsgeschichten
bis hin zum hochaktuellen Veranstaltungskalender.
7.2. Die Arbeit in einer WAZ-Redaktion
In Vietnam arbeite ich für die Sport- und Kulturzeitung – eine Wochenzeitung. Sie erscheint zweimal in der Woche – dienstags und freitags.
Außerdem haben wir noch ein Sonderheft, das immer am Ende des Monats
erscheint. Wir schreiben auch unsere eigenen Artikel, trotzdem die Artikel,
die aus ausländischen Agenturen, Zeitungen, Zeitschriften übersetzt oder zusammengefasst werden, spielen sie eine große Rolle in der Zeitung. Das ist
der größte Unterschied zwischen meiner Zeitung in Vietnam und der WAZ.
Die deutschen Journalisten sind vor allem aktiv, pünktlich, verantwortungsvoll und immer beschäftigt. Das war mein erste Eindruck, als ich
bei der WAZ ein Praktikum machte. Sie haben alle Hände voll zu tun mit
Terminen und Telefongesprächen, haben manchmal sogar keine Zeit für ein
Mittagessen.
Es gibt jeden Tag eine Mittagskonferenz. In der Konferenz muss sich jeder Journalist darüber informieren, worüber und wie viele Zeilen er an diesem Tag schreiben möchte.
Genauso wie in Vietnam muss jeder deutsche Journalist Verantwortung für
seine eigene Arbeit tragen. Normalerweise entscheidet der Chefredakteur,
wer über was schreibt. Alle anderen Dinge plant jeder Journalist selber, z. B.
seine Termine, die Zeit und den Ort seiner Recherchen, und ob ein Artikel
mit oder ohne Photos erscheinen soll. Alle Termine für den nächsten Tag
werden von der Sekretärin, natürlich in Absprache mit dem Chefredakteur
zusammengestellt, auf einer Liste zusammengefasst und an die Türen geklebt.
Ein deutscher Artikel wird in 5 Teile geteilt: Überschrift, Vorspann, Artikel,
Bild und Bilduntertitel. (Manchmal gibt es nur Überschrift, Vorspann und
Artikel.) Nicht nur der Inhalt, sondern auch der Bilduntertitel ist wichtig
445
Hoang Than Phuong
Nordrhein-Westfalen
für einen Artikel. Man schätzt ihn sogar wie die Seele des Artikels. In einer
vietnamesischen Zeitung ist das anders.
7.3. Ein Bericht über mich
Wie ich bereits erzählt habe, war Herr Bernd Kassner der erste Kollege, den
ich in Deutschland getroffen habe. Die Zeit in der Essener Lokalredaktion
war eigentlich nicht so schön für mich, denn in dieser Zeit waren Deutschland
und die Deutsche Presse für mich noch neu. Deshalb konnte ich leider nichts
für die Redaktion schreiben. Dafür hat Herr Kassner einen kurzen Artikel
über mich veröffentlicht, den ich im folgenden wiedergeben möchte:
Viet Cong
Ja, wenn zwei Kulturen aufeinandertreffen, dann kann es passieren, dass
sich die Menschen überhaupt nicht verstehen.
Ich habe jetzt eine Kollegin aus Vietnam, die in der Redaktion ein
Praktikum macht. Sie ist in Hanoi Sportjournalistin, und schon nach kurzer
Zeit war klar, über Schumi weiß sie nicht nur mehr als ich, sondern ganz
viel mehr. Ich verstehe aber eine Menge von vietnamesischen Briefmarken.
Befreiungsausgaben des Vietcong während des Vietnamkrieges – ich könnte stundenlang mit ihr darüber fachsimpeln. Doch zu der Zeit war sie noch
gar nicht geboren. Ist das nicht schade, wenn zwei Kulturen sich gar nicht
verstehen?
8. Meine Artikel
Während meines Praktikums in der Gelsenkirchener Redaktion versuchte
ich immer mein Engagement zu zeigen. Das war wirklich nicht so einfach
für mich, weil ich alles auf Deutsch schreiben musste. Mit der Hilfe von
Michael Muscheid bekam ich den ersten Termin. Und dann erschien mein
erster Artikel. Das war nicht nur ein Traum, der in Erfüllung ging, sondern
auch die Motivation dafür noch mehr zu schreiben.
In ihren Adern fließt zweierlei Blut (WAZ – 28.06.03)
Julia Nguyen spricht sechs Sprachen und träumt von einem Job in der
Tourismus-Branche.
Asiatisches Aussehen, freundliches Lächeln. Das findet man bei Julia
Nguyen sofort. Die 19-jährige Deutsche hat gerade das Abitur am Annettevon-Droste-Hülshoff-Gymnasium (AvD) bestanden.
446
Nordrhein-Westfalen
Hoang Than Phuong
„Jetzt kann ich endlich ausschlafen“, sagt Julia lachend. Bislang musste
sie immer um 8.20 Uhr in der Schule sein. Und doch: „Ich vermisse die
Schule sehr, denn dort hatte ich viele Freunde und tolle Lehrer.“ Probleme
zwischen Schülern und Lehrern habe es währen ihrer Zeit am AvD keine
gegeben: „Wir waren eine Einheit.“
Aktiv ist Julia als Sängerin der sechsköpfigen Schülerband „Various“.
Die Gruppe hat zuletzt für musikalische Stimmung beim Abischerz an der
Goldbergstraße gesorgt. „Wir haben uns gut vorbereitet und gut gespielt“,
meint die Abiturientin, die in ihrer Freizeit meistens mit der Band singt,
Freunde trifft oder zum Bowling geht. In der Arena Auf Schalke arbeitet sie
im Wachdienst.
Sechs Sprachen hat sie gelernt – Deutsch, Englisch, Vietnamesisch,
Spanisch, Französisch und Lateinisch. Das will sie beruflich nutzen: Ihr
Traumjob liegt im Tourismusbereich, auch als Dolmetscherin würde sie arbeiten, denn sie möchte etwas machen, wo sie mit Menschen zu tun hat,
ihnen helfen kann.
Julias Eltern sind Vietnamesen, vor über 20 Jahren aus ihrer Heimat nach
Deutschland gekommen. Sie haben an der Ruhrstraße einen chinesischen
Imbiss. Julia, hier geboren, war noch nie in Vietnam. Das Land am Mekong
zu besuchen, sei aber immer ihr Wunsch gewesen. „Meine Eltern erzählen
mir viel über die vietnamesische Kultur, über die Zeit des Aufbaus in dem
Land.“ Und: „Ich lerne von meiner Mutter auch, vietnamesische Speisen zu
kochen.“ Außerdem spiele die Familie manchmal heimische Musik. „Meine
Vorstellung von Vietnam ist ein Land mit hohen Temperaturen, weiten
Landschaften und netten Leuten.“
„Zweierlei Blut fließt in ihren Adern. Obwohl hier aufgewachsen, „bin
ich zugleich Vietnamesin“. Stolz sei sie auch darauf, dass sie die einzige Vietnamesin in der Schule gewesen sei. Treu ist sie der vietnamesischen Küche, auch isst sie gerne mit Ess-Stäbchen. Ihre Lieblingsspeisen:
„Banh xeo“ und „Hu tieu“ – ein Reiskuchen mit Fleisch und eine spezielle
Nudelsuppe. Im Geschäft der Eltern gibt es beides aber nicht. Ein Grund
mehr, mal nach Vietnam zu fahren.
8.1. „Leseratte“ Timo gewinnt 100 Bücher (WAZ – 05.07.03)
Timo Henning ist der Gewinner des Gewinnspiels der Mayerschen
Buchhandlung zum Welttags des Buches: Der Zehnjährige gewann 100
Bücher und einen Sessel. Eine Frage galt es in dem Wettbewerb zu beantworten: Aus welcher Stadt stammt der Erfinder des Buchdrucks?“ Mit der
richtigen Antwort – Mainz – und auch etwas Glück hat Timo, Schüler der
447
Hoang Than Phuong
Nordrhein-Westfalen
vierten Klasse der Grundschule Fürstinnenstraße, den 1. Preis gewonnen.
„Die Antwort war für mich ganz einfach, ich habe sie in der Schule gelernt“,
sagt der schlagfertige Junge, der den Preis gestern im Beisein seiner stolzen Familie in der Buchhandlung entgegen nahm. Dank seiner Mutter ist
Timo bereits Besitzer eines großen Bücherregals. Darin stehen auch seine
Harry-Potter-Bücher, die Lieblingslektüre. Sein Hobby ist, natürlich, lesen.
Außerdem treibt er Sport: Fußball und Schwimmen.
8.2. Schalke-Fan macht die Stadt bekannter (WAZ – 12.07.03)
Thomas Brinkmann (41) organisiert die „ExtraSchicht“
Einen vollen Terminplan hat Thomas Brinkmann: Er ist einer der
Organisatoren von „ExtraSchicht“ der Nacht der Industriekultur, die am
heutigen Samstag auch in Gelsenkirchen steigt.
Zum dritten Mal ist Gelsenkirchen bei „ExtraSchicht“ dabei, einer von
drei Standorten ist der Nordsternpark. „Hier haben wir ein buntes Programm
mit Musik, Lichtkunst, Kunsthandwerkermarkt vorbereitet“, berichtet der
41-Jährige, der in Münster Geographie studiert hat. „Wir hoffen, dass diesmal mehr als die 5.000 Besucher aus dem vergangenen Jahr kommen“, so
sein Wunsch.
Tourismus-Referent der Stadtmarketing Gesellschaft (SMG) ist Brinkmann. Sein Ziel: die Stadt bekannter zu machen. Um das zu erreichen „muss
man viele interessante Programme organisieren, gute Broschüre vorbereiten.“
Familie und Arbeit unter einem Hut zu bringen, sei angesichts dieser
Aufgabe nicht immer einfach, sagt Brinkmann, der sich im Kreise seiner
Familie am Wohlsten fühlt. „Wir wohnen zu dritt in einem schönen Haus
in Ückendorf“, berichtet der Vater einer (fast) vierjährigen Tochter. Mit
ihr, natürlich, verbringt er viel Zeit, aber auch mit seinen Hobbys: mit dem
Erkunden des Ruhrgebiets (er wohnt erst seit vier Jahren hier) und mit Sport
– besonders mit Fußball. Als Schalke 04-Fan beispielsweise ist er häufig
Gast in der Arena. Zur Stadtmarketing Gesellschaft kam Brinkmann über
mehrere Stationen: Er war als Techniker beim WDR im Studio Bielefeld
und dann bei einem privaten Unternehmen tätig. Was ihm an seinem Job
in Gelsenkirchen gefällt? Hier kann ich viel Interessantes sehen, viele Leute kennen lernen.“ Und: „Es macht Spaß, kulturelle Aktivitäten für
Gelsenkirchen zu organisieren.“
Was er heute Abend macht? Natürlich das: Er ist bei „ExtraSchicht“ im
Nordsternpark.
448
Nordrhein-Westfalen
Hoang Than Phuong
8.3. Schaukelnest: Nachwuchs lernt schöpferisches Spielen
(WAZ – 17.07.03)
Kindergarten weiht Gerät ein – Malereibetrieb springt ein
Der evangelische Kindergarten Schalke-Ost an der Breslauer Straße hat
gestern ein Schaukelnest in Betrieb genommen.
Das sei ein weiterer Schritt in der Zusammenarbeit zwischen dem
Kindergarten und der Ev.-Lutherischen Kirchengemeinde Schalke, sagte Pfarrer Dirk Purz. Die Gemeinde habe den Kindergarten bereits bei der
Neugestaltung des Außengeländes 1996 mit neuen Spielgeräten unterstützt.
Dank der Initiative des Malereibetriebes Christofzyk habe das Schaukelnest
– eine Therapie – und Spielschaukel – realisiert werden können, freute sich
der Pfarrer. Dieses Schaukelnest kann der Kindergarten gut gebrauchen:
Viele Kinder sammelten heutzutage weniger Körper-Erfahrungen als früher,
erklärte Kindergarten-Leiterin Annette Bonna; viele Mädchen und Jungen
säßen meist nur in der Wohnung. Mit diesem neuen Spielgerät könnten die
Kinder auch mit anderen Altersgenossen in der Gruppe spielen.
Die Kindergartenarbeit ist ein Schwerpunkt in der Kirchengemeinde. Für
die Zukunft verspricht Pfarrer Purz noch weitere interessante Aktivitäten.
8.4. Beiköche brutzeln bald mit TV-Koch (WAZ – 18.07.03)
Pamela Böckmann gewinnt Wettbewerb
Küchenmeister und Initiator Heinrich Wächter war voll des Lobes: „Es
war wirklich schwer, den Sieger auszuwählen, alle haben ausgezeichnet
gekocht.“ Und doch musste einer gewinnen: Pamela Böckmann (20) aus
Gelsenkirchen.
Ziel des Westfälischen Kochwettbewerbs 2003 für Beiköche im zweiten und dritten Ausbildungsjahr war es, die Jugendlichen mit erhöhtem
Förderbedarf zu unterstützen und anzuspornen. Sechs Endrunden-Teilnehmer
wurden aus 26 Kandidaten Westfalens ausgewählt; sie trafen sich gestern in
der Hotelküche des Berufskollegs Königstraße.
Ihre Aufgabe war es, aus einem Warenkorb unter Anleitung ihres Ausbilders ein Essen für sechs Personen zu erstellen. Auf dem Menüplan standen als Vorspeisen ein Salat mit Tafelspitz sowie eine Rahmsuppe, als
Hauptgericht wurden Fisch der Schweineroulade mit Gemüse serviert, und
zum Abschluss kam Bayerische Creme mit Erdbeeren auf den Tisch.
„Wir sind sehr zufrieden mit den Wettbewerb“, berichtete Wächter, für
den feststeht: „Heute sind eigentlich alle Sieger.“ Deshalb bekam jeder
Teilnehmer den gleichen Preis: Ein Kochbuch von Matthias Ruta, bekannt
449
Hoang Than Phuong
Nordrhein-Westfalen
von VOX-Kochduell, der gestern – wie auch Sternekoch Björn Freitag und
Konditor Lothar Buss – Juror war beim Wettbewerb. Auch dürfen alle gemeinsam mit Ruta an den Herd. Und nicht zuletzt besuchen die Teilnehmer
die Nahrungsmittelfabrik Zamek in Düsseldorf und sind zu Gast beim
Gourmetspektakel Palazzo in Düsseldorf.
8.5. Sommerfest fördert soziale Kontakte von Senioren
Stadt lud zum Treffen in die Gerhart-Hauptmann-Realschule
Regelmäßig, seit 1975, findet es statt, das „Sommerfest zur Förderung
sozialer Kontakte von Seniorbürgern“. Gestern trafen sich Senioren und solche, die sich für sie engagieren, in der Gerhart-Hauptmann-Realschule. Das
Fest mit Musik, Tanz und Gedichten begann um 15 Uhr mit der Begrüßung
durch OB Oliver Wittke, der zu dem Treffen eingeladen hatte. Die Besucher
hatten ausreichend Gelegenheit, sich anschließend bei Kaffee und Kuchen
zu unterhalten, außerdem konnten sie natürlich das unterhaltsame Programm
genießen. Mit dabei Solopianist David Böse, Schauspieler und Solotänzer
Rolf Gildenast, das Akkordeonduo der Musikschule „Lasniski und Freund“,
Musiker der Neuen Philharmonie Westfalen sowie Richetta Manager vom
MiR.
8.6. Die Türkei ist für sie „nur“ ein Urlaubsland (WAZ – 30.07.03)
Ülkü Yilmaz engagiert sich in ihrer Heimat Deutschland
Die Türkei trägt Ülkü Yilmaz im Herzen. Und doch: Die Studentin der
Rechtswissenschaften verbindet heute viel mehr mit Deutschland als mit
ihrem Heimatland.
Als einziges Kind einer türkischen Familie ist Ülkü in Deutschland geboren und aufgewachsen. In der Türkei hat sie gut 25 Verwandte, doch die
Freunde und meisten Familien-Angehörigen wohnen in Deutschland. „Alle
zwei Jahre fliege ich in die Türkei, aber nur als Touristin“, erzählt Ülkü.
„Ein sehr schönes Land“, sei die Türkei, mit reichlich Natur und langen
Küsten. Doch wie dort der Alltag aussieht, das weiß sie nicht: „Ich habe dort
ja nie gelebt.“
Sehr beschäftigt ist die 29-jährige Ex-Bielefelderin, auch mit ihrem
Studium. Am Wochenende nimmt sie sich „unbedingt“ Zeit für Freunde,
fürs Fitness-Studio und auch für ihre anderen Hobbys, z.B. Musik; besonders gerne hört sie türkische Popmusik und Bryan Adams. Auf Letzteren,
gibt sie zu, stehe sie seit ihrer Kindheit. Und: Auch Tanzen liege ihr im Blut,
450
Nordrhein-Westfalen
Hoang Than Phuong
sie mag Tanz zu italienischer Musik und Jazzdance. Nicht zuletzt ist sie eine
gute Köchin: Ülkü kocht mit ihren Freunden, ihre Lieblingsgerichte sind,
natürlich, türkisch, aber auch italienisch, koreanisch und chinesisch.
Aktiv ist die Frau in der SPD: Ihr Amt als eine von zwei migrationspolitischen Sprechern hat sie gerade angetreten, und auch als stellvertretende
Juso-Vorsitzende engagiert sie sich. Die Frau, die später eine eigene Familie
haben möchte, ist Kandidatin für die Bezirksvertretung Mitte bei der nächsten Kommunalwahl.
9. Vielen Dank
Die Zeit verging wie im Fluge. Die vier Monate mit der Heinz-KühnStiftung waren und sind eine sehr schöne, unvergessliche Erinnerung
in meinem Leben. Ich bin glücklich, dass ich die erste vietnamesische
Stipendiatin der Heinz-Kühn-Stiftung war. Ich habe hier viel gelernt und
viele Erfahrungen gemacht. Über eine Chance, einen Gastaufenthalt in
Deutschland absolvieren zu können, bin ich sehr dankbar. Für meine Arbeit
als Journalistin in Vietnam ist dies von unschätzbarem Wert.
Danke auch an meine deutsche Familie. Die wunderschöne Zeit mit Euch
werde ich nie vergessen. Ihr seid alle immer willkommen in Vietnam. Und
bitte entschuldigt, wenn ich etwas falsches gemacht habe. Ihr wisst, Ihr habt
alle Liebe von Phuong.
Besten Dank an meine Kollegen in der Essener Lokalredaktion und
Gelsenkirchener Stadtredaktion, die immer hilfsbereit und freundlich, sogar
lustig waren!
Danke sagen möchte ich auch an Herrn Werner Conrad (weco), Herrn
Bernd Kassner (ber), Lars Oliver Christoph (loc) und besonders Michael
Muscheid (M.M), allen Kollegen, die mir sehr viel bei der Arbeit geholfen
haben.
Und vor allem vielen Dank an Frau Ute Maria Kilian für diese einzigartige Chance.
Last but not least „Danke Heinz!“
Ich werde noch mal zurück gehen.
Xin Chao Va Hen Gap Lai!
Glückauf!
451
Kristin Raabe
aus Deutschland
Stipendien-Aufenthalt in
Vietnam
06. April bis 28. Mai 2004
453
Vietnam
Kristin Raabe
Von Reisschnaps und Languren
Ein Vietnamesisches Tagebuch
Von Kristin Raabe
Vietnam vom 06.04. – 28.05.2004
455
Vietnam
Kristin Raabe
Inhalt
1. Zur Person
458
2. Vom Dschungel Hanois und den letzten verbliebenen Urwäldern
458
3. Pu Luong – was ist das?
459
4. Von Reisschnaps und Schweinezucht
461
5. Von Pilzen, Bienen und Touristen
464
6. Von Wilderern, Rangern und noch mehr Reisschnaps
468
7. Fabriken und Funkgeräte statt Schweine und Bienen?
471
8. Conservation Cowboys
474
9. Auf der Suche nach den Stumpfnasen
478
10. Fazit
481
11. Nachtrag
482
457
Kristin Raabe
Vietnam
1. Zur Person
Eigentlich waren es Berichte über die Tafelberge Venezuelas in der
Zeitschrift Geo, die in mir bereits während meiner Schulzeit den Wunsch
weckten, Journalistin zu werden. Ich wollte genau wie mein großes Vorbild,
der bekannte Geo-Reporter Uwe George, ferne Landschaften erkunden,
um dann darüber zu schreiben. Ein Biologiestudium und einige Semester
Philosophie schienen mir eine gute Vorbereitung für zukünftige Expeditionen
in unbekannte Gebiete zu sein. Nach meinem Studium in Köln, Berlin und
Düsseldorf blieb ich aber erst einmal in Köln, wo ich von 1997 bis 1998 für die
Ärztezeitung schrieb. Seit 1998 arbeite ich als freie Wissenschaftsjournalisti
n für öffentlich-rechtliche Radio- und Fernsehsender, unter anderem für die
WDR-Fernsehsendung „Quarks & Co“ und die Deutschlandfunksendungen
„Forschung Aktuell“ und „Wissenschaft im Brennpunkt“. Die Tafelberge
Venezuelas habe ich inzwischen auch besucht, danach aber durch Reisen
nach Thailand und Malaysia meine Liebe für Südostasien entdeckt. Das
Mikrofon war natürlich immer mit im Gepäck.
2. Vom Dschungel Hanois und den letzten verbliebenen Urwäldern
Darauf hat mich nichts, was ich zu Hause gelesen hatte, vorbereitet: Eine
Armada von Motorrädern stürmt wild hupend auf mich zu. Und ich stehe
fassungslos auf dem Zebrastreifen. Der hat hier keinerlei Bedeutung, genau
wie die Ampel, die ein leuchtendes Grün anzeigt. Grün für mich und rot für
die Motorradfahrer. Aber das scheint sie nicht zu interessieren. Langsam begreife ich, warum Vietnam das Land mit den meisten Verkehrstoten ist. Aber
ich will nicht dazugehören. Also springe ich gerade noch einmal rechtzeitig
zurück auf den Bordstein. Der Pulk der Motorradfahrer rauscht wild hupend
an mir vorbei.
Viel zu viele Menschen, denke ich. Aber das wusste ich eigentlich schon
vorher. In Vietnam leben genauso viele Menschen wie in Deutschland, gut
80 Millionen. Allerdings ist das Land 30.000 km2 kleiner als meine Heimat,
und ein beträchtlicher Teil seiner Fläche ist nicht bewohnbar. Wegen dieser
unbewohnbaren Gebiete bin ich hierher gekommen. Sie beherbergen eine faszinierende Natur. In den Wäldern der unzugänglichen Karstfelsformationen
leben fünf der seltensten Affenarten der Welt, das erst 1992 entdeckte SaolaRind, der schön gezeichnete Vo Quy Fasan und mit Sicherheit vieles, was
noch kein Biologe je gesehen hat.
458
Vietnam
Kristin Raabe
In den Tälern und Gewässern gibt es allerdings schon lange keine unberührte Natur mehr. 80 Millionen Vietnamesen brauchen viel Reis und Fisch.
Aber die Waldgebiete auf den Karstformationen könnten überleben; allerdings nur, wenn der Holzeinschlag und die illegale Jagd auf bedrohte Arten
aufhören.
Bei meinen Recherchen im Vorfeld der Reise war ich überrascht, dass
die Regierung Vietnams sich dieser Probleme anscheinend bewusst ist.
Sie hat ein Komitee zur vernünftigen Nutzung der natürlichen Ressourcen
und zum Schutz der Umwelt eingesetzt. 1985 hat dieses Komitee eine nationale Umweltschutz-Strategie vorgelegt, an deren Ausarbeitung auch
die Internationale Union für Naturschutz IUCN beteiligt war. Etwas
Vergleichbares kann kaum ein Land in Asien vorweisen.
Dass die Umweltschutz-Strategie Vietnams nicht nur auf dem Papier
existiert, belegt ein Übereinkommen, das 1986 von Vietnam, Laos und
Kambodscha unterzeichnet wurde. Darin sind Schutzmaßnahmen für das
seltene Kouprey-Rind und die Wasservogelwelt im Grenzgebiet zwischen
den drei Ländern festgelegt.
Ob all diese Maßnahmen tatsächlich greifen, lässt sich nur vor Ort beurteilen. Ich bin optimistisch. Durch die Entlaubungsmittel, die die Amerikaner
während des Krieges auf große Waldgebiete in Zentralvietnam versprühten,
und durch den armutsbedingten Raubbau an den Wäldern nach dem Krieg,
haben die Vietnamesen sehr schnell lernen müssen, was es bedeutet, wenn
Bäume und Tiere plötzlich verschwinden. Durch Erosion gehen dann die
letzten fruchtbaren Böden verloren und der Grundwasserspiegel sinkt. Ohne
Wälder ist ein lohnender Reisanbau also kaum möglich.
Die Vietnamesen haben also ein existentielles Interesse daran, die letzten verbliebenen Waldgebiete und ihre Bewohner zu schützen. Ob ihnen
das gelingt, möchte ich bei meiner Reise erkunden. Dabei wird mich der
Fotograf Stephan Fengler begleiten. Die einmalige Natur Vietnams lässt
sich manchmal besser im Bild, als mit dem Mikrofon festhalten. Aber bevor
wir uns auf den Weg in die Wildnis machen können, muss ich erst einmal
den Dschungel Hanoi durchqueren.
3. Pu Luong – was ist das?
„Fahren Sie bloß nicht mit dem Bus, mieten Sie sich ein Auto!“ hatte mir
Herbert Lempke geraten, der Leiter der „grünen Gruppe“ beim Deutschen
Entwicklungsdienst (DED) in Hanoi. Aber das war gar nicht so einfach.
Niemand wusste nämlich, wo ich hinwollte, und deswegen wollte uns erst
auch mal niemand fahren. Autos werden in Vietnam nur mit Fahrer ver459
Kristin Raabe
Vietnam
mietet. Kein Vietnamese schien das Naturschutzgebiet Pu Luong zu kennen. Schließlich entdeckt der Fotograf Stephan Fengler das Gebiet auf einer
Karte, und dann endlich finden wir auch einen Fahrer.
Aber Kartenlesen ist nicht gerade eine Stärke unseres Chauffeurs, also hält
er ständig an, um nach dem Weg zu fragen, und das ist jedes Mal interessant.
Wir haben Gelegenheit, in aller Ruhe die grün schimmernden Reisfelder
und die rechts und links der Straße aufragenden Kalksteinfelsen zu bewundern. Außerdem treffen wir bei unseren kurzen Stopps immer wieder auf
freundliche, aber auf uns fremdartig wirkende Menschen. Die Großmutter
zum Beispiel, die immer wieder völlig fasziniert über meine weißen Arme
streichelt. Ich bin mindestens genauso hingerissen von ihren schwarz lackierten Zähnen und dem blutroten Mund. Was ich zunächst für einen knalligen Lippenstift halte, stammt eigentlich vom Kauen der Betelnüsse, die
vor allem ältere Frauen immer in einem Beutel an ihrem Gürtel mit sich
herumtragen. Die Droge hält wach, dämpft den Hunger und macht abhängig. Außerdem verursacht Sie Mundhöhlenkrebs. Das alles erfahre ich allerdings erst im späteren Verlauf meiner Reise. Mit diesem Wissen gefallen mir
dann die roten Lippen der alten Frauen nicht mehr so gut, wie bei meiner
ersten Begegnung mit der Großmutter.
Als die alte Dame endlich von meinen weißen Armen lassen kann, gibt
sie uns noch einige hilfreiche Hinweise, dank derer wir tatsächlich in Ba
Thuoc ankommen. Drei Stunden von der Provinzhauptstadt Thanh Hoa
entfernt befindet sich dort die Forstbehörde, die das Naturschutzgebiet Pu
Luong verwaltet. Es gehört zur selben Karstfelsformation wie der berühmte Cuc Phuong Nationalpark, den Ho Chi Minh noch selbst eröffnet hat.
Erst kürzlich haben Expeditionen bewiesen, dass die Wälder in Pu Luong
mindestens so viele seltene Tierarten beherbergen, wie der Cuc PhuongPark. Beispielsweise haben Biologen in den Höhlensystemen von Pu Luong
eine Fischart entdeckt, die bis dahin ausschließlich in den unterirdischen
Gewässern der Höhlen von Cuc Phuong gefunden worden war.
Aber neben seltenen Fischen, Fledermäusen und Languren, den wunderschönen Schlankaffen Asiens, leben in Pu Luong auch 25.000 Menschen.
Und sie bedrohen die letzten noch halbwegs intakten Primärwälder Pu
Luongs. Denn die Landbevölkerung ist abhängig von den Fleisch- und
Holzressourcen in den Waldgebieten. Aber es gibt eine Alternative zum
Raubbau an den Wäldern, und die heißt Gabriele Prinz. Die deutsche
Entwicklungshelferin vermittelt den Dorfbewohnern im Naturschutzgebiet
neue landwirtschaftliche Methoden. Und dabei möchte ich sie eine Weile
begleiten.
460
Vietnam
Kristin Raabe
4. Von Reisschnaps und Schweinezucht
„Ga – Bieh, Ga – Bieh“ – der Ruf kommt ihr immer entgegen, wenn
Gabriele Prinz nach stundenlangem Fußmarsch endlich ein Dorf in ihrem
Gebiet erreicht. Kein Telefon, keine Email, kein Fax hat ihre Ankunft angekündigt. Aber das ist hier egal. Hauptsache: Ga-Bieeh ist da. Denn meistens
hat sie etwas mitgebracht. Keine greifbaren Geschenke zwar, aber Projekte,
die das Leben der Dorfbewohner entscheidend verbessern sollen.
Mit den Gaben ist stets eine Bedingung verknüpft: Die Bauern dürfen
nicht mehr im Naturschutzgebiet jagen, kein Holz mehr schlagen und die
Hänge nicht mehr roden, um dort Maniok anzupflanzen. Wenn sie die
Bedingungen akzeptieren, bekommen sie ein Projekt von der deutschen
Entwicklungshelferin, beispielsweise eine Schweinerasse, die viel schneller
wächst und schon nach sechs Monaten Mastzeit geschlachtet werden kann.
Allerdings nur, wenn die Schweine auch fachgerecht untergebracht sind und
entsprechend gutes Futter erhalten.
Das nötige Fachwissen in Sachen Schweinezucht wollen Gabriele Prinz
und ein vietnamesischer Experte den Bewohnern des Dorfes Thanh Cong
vermitteln. Alle Dorfbewohner gehören zur Minderheit der Muong. Sie leben in traditionellen Stelzenhäusern, tragen ihre eigene Tracht und sprechen
untereinander ihre eigene Sprache.
Hinter uns liegt nun schon eine halbe Tagesreise, die wir im Jeep, auf
einer Fähre und nicht zuletzt auf dem wichtigsten Verkehrsmittel Vietnams
verbracht haben: dem Xeom. Ein Xeom ist ein Motorradtaxi. Mit dem Auto
oder dem Jeep sind die meisten Straßen hier nicht zu bewältigen. Aber die
allgegenwärtige Honda Dream schafft das. Die letzten 1 ½ Stunden mussten
wir allerdings laufen, weil hier sogar die Honda Dream versagt hätte.
Die Landschaft, die wir dabei durchqueren, ist atemberaubend. Sie
macht aber auch deutlich, was das Problem dieses Naturschutzgebietes ist.
Rechts und links unserer schmalen Wege erstreckt sich die grün leuchtende
Symmetrie der Reisfelder. Dazwischen ragen immer wieder schroffe Felsen
auf, als wollten sie mit ihrer Wildheit die Ruhe der Reisfelder zerstören, die
praktisch jeden Quadratmeter bis zum Fuß der Felsen bedecken. Auf den
grün bewachsenen Hängen dieser Karstfelsformationen zeigen sich immer
wieder rotbraune Wunden. Es sind gerodete Flächen, auf denen zwei bis
drei Jahre lang Maniok angebaut wurde, solange bis sämtlicher Humus weggespült war. „Manchmal werden über diese Flächen Holzstämme ins Tal
gerollt. Danach hat auf diesem Boden keine noch so anspruchslose Pflanze
eine Chance“, berichtet die Landwirtschaftsexpertin, die wir – genau wie
alle anderen – Gaby nennen dürfen.
461
Kristin Raabe
Vietnam
Als wir endlich im Stelzenhaus des Dorfvorstehers ankommen, bin ich
beeindruckt von der schlichten Architektur des Hauses. Die Stelzen sind
so hoch, dass selbst hoch gewachsene Europäer bequem darunter herlaufen können. Die geschützte Fläche darunter dient zur Lagerung von allerlei
einfachen landwirtschaftlichen Gerätschaften. Aber auch Wasserbüffel und
Kühe finden hier einen Unterschlupf. Eine stabile Treppe führt zu einer Art
überdachter Veranda, auf der ein Webstuhl steht. Auf ihm weben die Frauen
des Hauses die traditionellen Schals, die sie sich um Brust und Taille binden. Im Inneren des Hauses beeindruckt vor allem der mächtige Dachstuhl.
Auf einem Zwischenboden lagert der Reis für das gesamte Jahr. Der Boden
besteht aus schlichten Bambuslamellen. Das ist sehr hygienisch, denn Staub
und Krümel fallen durch die Zwischenräume einfach hindurch. Als einziges Möbel fällt eine geschnitzte Truhe auf. In ihr wurde wahrscheinlich die
Aussteuer der Ehefrau des Hausbesitzers aufbewahrt. Die Bewohner essen
und schlafen auf einfachen Matten, die auf dem Boden ausgebreitet werden. Einen starken Kontrast zur schlichten Ausstattung des Hauses bilden
die vielen bunten Kalender, die überall an den Wänden und Balken hängen. Meistens zeigen sie Fotos oder kunstvolle Zeichnungen von protzigen Villen. Davor parkt meist eine Luxuskarosse, über deren Kühlerhaube
sich laszive eine spärlich bekleidete Asiatin räkelt. Die Welt, die die bunten Darstellungen auf den Kalendern zeigen, ist für fast jeden Vietnamesen
unerreichbar, auch für unseren freundlichen Gastgeber, den Dorfvorsteher
Herrn Thao.
Ich bin erschöpft von der langen Reise und den vielen neuen Eindrücken.
Am liebsten würde ich ein großes Glas kaltes Wasser trinken und mich
dann hinlegen. Gaby und unserem Fotografen Stephan geht es bestimmt
nicht anders. Aber Herr Thao hat etwas anderes mit uns vor. Er holt die
Schnapsflasche heraus, und wir müssen erst einmal mit ihm anstoßen. Eine
Ablehnung kommt nicht in Frage. „Trau nur dem, der mit Dir trinkt. Das ist
eine wichtige Regel bei den Minderheiten“, erzählt mir Gaby. Uns sollen sie
trauen, und deswegen kippen wir tapfer das scharfe Gebräu hinunter. Bei
einem Glas bleibt es nicht. Immer wieder schenkt uns Herr Thao nach. Seine
Frau Ngan Chi Kanh ist auch ganz schön trinkfest. Zu Hause in Deutschland
trinkt Gaby noch nicht einmal ein Bier, geschweige denn härtere Sachen,
wie diesen Reisschnaps.
Als endlich das Essen kommt, sind alle schon völlig besoffen. Ein
Verwandter von Herrn Thao hat es zubereitet. Bei den Muong- und ThaiMinderheiten kochen immer die Männer. Ihre Küche ist wegen der beschränkten Mittel nicht besonders abwechslungsreich. Weil wir zu Gast
sind, haben sie ein Huhn gerupft, gekocht und hinterher mit der Machete
in Stücke gehackt. Dazu gibt es gekochten Wasserspinat, bitteren Bambus
462
Vietnam
Kristin Raabe
und natürlich Reis. Ein paar Schweine könnten wirklich für Abwechslung
auf dem Speiseplan sorgen. Hoffentlich hat Gaby Erfolg mit ihrem Projekt.
Aber das startet erst am nächsten Morgen.
In der Nacht wache ich plötzlich von einem lauten Donner auf. Ein mächtiges Gewitter demonstriert, wie stabil die Stelzenhäuser sind. Kein Tropfen
Wasser durchdringt das mit Fächerpalmblättern gedeckte Dach. Und wenn
die Fensterläden geschlossen sind, kommt auch kein Wind herein. Diese seit
Jahrhunderten bewährte Bauweise bietet Schutz vor Unwettern und glühender Hitze. Tagsüber ist es innen überraschend kühl und schattig.
Am Morgen nach der Gewitternacht brennt die Sonne auf uns herab. Das ist
gut, denn der Regen hat die Wege im Dorf in gefährliche Schlammrutschen
verwandelt. Vielleicht ist das der Grund, warum viele Bauern, die weiter weg
wohnen, nicht ins Versammlungshaus gekommen sind. Der Dorfvorsteher
Thao ist verärgert. Er schimpft erst einmal mit allen Anwesenden, und
dann ermahnt er sie noch, nicht mehr in den Wald zu gehen. Die wichtigste Botschaft des Projektes ist hier anscheinend angekommen. Gaby ist begeistert. Das legt sich, als Herr Hien übernimmt. Er soll den Bauern die
Schweinezucht erklären. Und das tut er mit vielen Gesten, einer melodiösen
kräftigen Stimme und einigen hastig hingekritzelten Schaubildern. Ohne ein
Wort zu verstehen, habe ich den Eindruck, dass Herr Hien wirklich weiß,
wie er die Leute hier begeistern kann. Aber Gaby ist mit den Inhalten seines Vortrags nicht ganz einverstanden: „Bei dem geht es immer nur um die
Ställe. Dabei ist die Ernährung viel wichtiger.“ Couragiert mischt sie sich
schließlich ein.
Erst seit einem Jahr lernt sie intensiv Vietnamesisch und jetzt versucht sie
mit ihrem beschränkten Vokabular, den Menschen zu erklären, was Eiweiße
und Kohlenhydrate sind, und dass Schweine beides brauchen. Ich bewundere
Gaby, und die Dorfbewohner anscheinend auch. Bei einem Rundgang durchs
Dorf zeigen sie ihr, welche Erfahrungen sie bereits mit der Schweinezucht
gemacht haben. Gabys Urteil fällt mal mehr, mal weniger wohlwollend aus.
Sie ist begeistert von den eiweißreichen Futterpflanzen, die ein Bauer angebaut hat. Entsetzen packt sie, als sie zwei Ferkel mit einer Hautkrankheit
sieht. „Zuviel Sonne und zuwenig gutes Futter“, vermutet sie. Für Herrn
Hien ist das ein Anlass, noch mal auf die Ställe hinzuweisen. Jede Seite
soll gegen Sonnenlicht geschützt sein. „Die Mängel bei einem schlechten
Stall aufzuzählen, ist einfach, eine mangelhafte Fütterung aufzudecken, ist
schon schwieriger. Wenn ein Tier nicht gut aussieht, dann kann es auch daran liegen, dass es vielleicht Würmer hat oder sonst irgendwie krank ist. Das
muss also nicht unbedingt am Futter liegen.“ Gaby wird ungeduldig, weil
Herr Hien immer noch nichts über eine gute Schweinefütterung erzählt hat.
463
Kristin Raabe
Vietnam
„Dabei kann bei guter Fütterung ein Schwein auch in einem schlechten Stall
gut wachsen.“ Das Schweineprojekt macht Gaby Sorgen.
Am Nachmittag geht der Unterricht weiter, und ich mache mit dem
Fotografen Stephan Fengler einen Ausflug in den Wald, der direkt hinter
dem Dorf beginnt. Wir kämpfen uns auf einem schmalen Weg die Felsen
hinauf. Dabei sind wir ständig umgeben von Malariamücken.
Das alles nehme ich nur auf mich, weil ich unbedingt die Pandalanguren
sehen möchte, die hier leben sollen. Der Pandalangur zählt zu den seltensten Affen der Welt. Es leben nur noch knapp 300 dieser schönen, schwarzweiß gezeichneten Affen. Eine Gruppe von 50 Pandalanguren hat eine
Expedition erst Anfang 2004 in Pu Luong entdeckt. Nach nur einer Stunde
muss ich völlig erschöpft und dehydriert umkehren. Stephan geht noch weiter. Als er zwei Stunden später ebenfalls zurückkehrt, hat er zwar etliche
Fotos von schönen Orchideen und alten Bäumen gemacht, aber auch noch
keinen Pandalangur gesichtet. Wahrscheinlich sind die Tiere viel zu scheu.
Schließlich kennen sie Menschen nur als Jäger, die sie erschießen wollen.
Aber wer weiß, vielleicht hört das ja auf, wenn die Menschen von Thanh
Cong Erfolg mit der Schweinezucht haben.
5. Von Pilzen, Bienen und Touristen
Es regnet in Strömen – und das schon seit zwei Tagen. Wir kommen einfach nicht weg aus Ba Thuoc. Wenn es regnet, sind die Wege verschlammt,
und kein Xeom kommt dort hindurch. Ohne die wendigen Motorradtaxis
lässt sich praktisch kein Dorf in Gabys Revier erreichen. Also bleibt uns
nichts anderes übrig, als zu warten bis sich das Wetter bessert. Da ergibt sich
dann doch noch eine Möglichkeit: Wir begleiten Gaby zu einem Dorf, das
ganz in der Nähe liegt. Eine viertel Stunde Fahrt mit dem Jeep, und wir sind
da. Der Vorsitzende der örtlichen Jugendorganisation der Partei empfängt
uns. Ihn interessiert im Moment nur ein Thema: Pilze. Für sie hat er extra
eine Hütte gebaut. An der Decke hat er in Plastiktüten verpackte Ballen von
Reisstroh befestigt. Aus den angeritzten Tüten wachsen weiße Pilze. „Die
sind hier eine Delikatesse und können teuer auf dem Markt verkauft werden“, erzählt uns Gaby. Der Vorsitzende der Jugendorganisation jedenfalls
berichtet von einem ordentlichen Gewinn.
Sein Wissen hat er bereits an andere Dorfbewohner weitergegeben, die
jetzt auch mit einer Pilzzucht begonnen haben. Gaby ärgert sich, wenn immer nur die Dorfvorsteher oder ihre Verwandten die Projekte bekommen.
„Das sind ohnehin schon die Reichsten im Dorf, oft aber auch die Fitesten,
und das ist schließlich auch wichtig, wenn ein Projekt laufen soll.“ Die Pilze
464
Vietnam
Kristin Raabe
jedenfalls sind ein voller Erfolg, und sie schmecken recht gut, wie wir beim
Abendessen in Ba Thuoc feststellen.
Am nächsten Morgen hat der Regen endlich aufgehört, und wir machen
uns auf zu einer mehrtägigen Reise. Nach einem halsbrecherischen Ritt mit
den Xeoms über die immer noch verschlammten Wege gelangen wir schließlich in ein Dorf, in dem Gaby uns ihr Bienenprojekt vorstellen möchte.
Einige Dorfbewohner haben bei einem Kurs in Hanoi die Imkerei erlernt. Ihre Bienenvölker liefern einen ausgesprochen wohlschmeckenden
Honig. Allerdings sind die vietnamesischen Bienen um einiges aggressiver als ihre europäischen Verwandten. Etliche der Dorfbewohner haben
geschwollen Augen von den Bienenstichen. Deswegen ist es auch nicht
verwunderlich, dass erst mal niemand bereit ist, uns die Bienen vorzuführen. Schließlich findet sich doch noch eine mutige Frau, die den Deckel
des Bienenstocks öffnet. Die Kiste mit den Waben ist auf Holzfüßen befestigt, die in mit Wasser gefüllten Reisschälchen stehen. Das soll die Termiten
abhalten. Wir sehen zu, wie eine Wabe herausgenommen wird und in die
Schleudertrommel kommt. Anschließend wird der Honig in eine Flasche
gefüllt. „Dafür bekommen sie auf dem Markt schon mal 50.000 Dong. Das
sind ungefähr 2,50 Euro. Damit die Bienen einen guten Honig liefern, müssen die Bauern Brachflächen erhalten, auf denen sie sonst vielleicht Maniok
anpflanzen würden. Nur wenn sie die Natur schützen, machen sie mit den
Bienen auch einen guten Gewinn“, erklärt mir Gaby. Beim Bienenprojekt
ist der Naturschutz also quasi integriert. Wir verlassen das Dorf, und seine
Bewohner schauen uns lächelnd, mit geschwollenen Augen hinterher.
Gaby hat mir versprochen, dass ich nun endlich das schönste Dorf von
Pu Luong sehen darf. Dorthin sollen demnächst auch Touristen reisen. Die
deutsche Entwicklungshelferin plant ein Ökotourismusprojekt. „Wenn die
Menschen merken, wie begeistert die Ausländer von der Natur hier sind,
dann haben sie eher ein Interesse sie auch zu erhalten.“ Das Konzept könnte tatsächlich funktionieren. Schließlich gibt es dafür in Südamerika schon
einige positive Beispiele.
Aber bevor die Touristen kommen, muss Gaby noch einige Probleme bewältigen: Das erste Stelzenhaus, das in Zukunft einmal Ökotouristen beherbergen soll, liegt an einer kleinen Straße. Seine Bewohner tragen westliche
Kleidung und haben sogar Möbel. Eine Bank, einen Tisch und sogar ein Bett.
Das habe ich bisher in keinem Stelzenhaus gesehen. Seit kurzem gibt es auch
eine primitive Dusche und eine Toilette; alles in einem separaten Haus aus
Stein – extra für die Touristen. Ich bewundere den schönen sonnengelben
Anstrich und überhaupt die gute Ausführung des Baus. „Von wegen“ meint
Gaby und stellt sich in den Eingang des Toilettenhäuschens:„Guck Dir das
mal an!“ Mit ihren 1,75 m stößt Gaby auch mit eingeknickten Beinen mit
465
Kristin Raabe
Vietnam
dem Kopf an die Decke des Eingangs. Die Vietnamesen haben beim Bau
eben nicht berücksichtigt, dass der durchschnittliche Europäer, Amerikaner
und Australier um einiges größer sind als sie.
Nach einem kurzen Tee geht es auf Xeoms weiter nach Koh Muong,
dem angeblich schönsten Dorf der Gegend. Gaby schwärmt schon jetzt von
Herrn Nec, bei dem wir übernachten werden. Ich bin gespannt. Allerdings
verzögert sich unsere Ankunft, da wir bei unserer Wanderung auf dem letzten Stück des Weges ständig auf unseren Fotografen warten müssen. Immer
wieder stößt er auf eine Landschaft, die unbedingt festgehalten werden muss.
Besonders schöne Ansichten müssen mit der Hasselblad-Mittelformatkamera
aufgenommen werden. Und das dauert irgendwie länger als mit Kleinbild:
Mehrere Kameras und Objektive, etliche Filmrollen – alles in allem gut 20
Kilo. Ich verstehe nicht, wie er das die ganze Zeit mit sich herumschleppen
kann.
Nach zwei Stunden blicken wir endlich auf das Dorf Kho Muong. Es
erstreckt sich über zwei Talkessel, durch deren Mitte ein Fluss fließt. Die
Reisfelder leuchten beinah in einem Neongrün. Die hohen Berge rund um
die beiden Täler sind dicht bewaldet.
Als wir endlich am Haus von Herrn Nec ankommen, ist es schon ziemlich spät. Natürlich müssen wir zuerst die üblichen vier bis sechs Gläser
Reisschnaps hinunterspülen. Der Hausherr ist wirklich sehr nett, aber auch
ein wenig unvorbereitet. Er hat nicht viel zu Essen im Haus. Kein Problem,
wir haben das gekochte Huhn sowieso schon über. Gemüse und Reis – das
reicht uns. Herr Nec serviert Schnecken, zähe eklige Schnecken. Gaby isst
aus Höflichkeit ein paar. Stephan schafft immerhin zwei. Ich kriege beim
besten Willen nicht eine einzige hinunter.
Herr Nec ist ziemlich besorgt, was die Touristen angeht, als er sieht, wie
schwer wir uns mit seinem Essen tun. Er hat bereits an einer Schulung
teilgenommen, bei der alle potentiellen Gastgeber probekochen mussten.
Gaby macht sich keine Sorgen wegen seiner Kochkünste. Sie plant schon
die nächste Stufe des Ökotourismusprojektes: „Vielleicht könnten wir hier
einen Kerosinkühlschrank hinstellen, nur für Coca Cola. Die könnten dann
die ärmeren Familien an die Touristen verkaufen. Für eine Dose könnte man
dann schon mal 20.000 Dong verlangen.“ Gemeinsam fantasieren wir von
den Unsummen, die die Touristen nach Kho Muong bringen werden. Gaby
trinkt nur Cola. Wasser gibt es bei ihr nicht. Sie würde in Kho Muong jeden
Preis für eine kalte Cola bezahlen. 20.000 Dong entsprechen ungefähr 1
Euro. Das ist mehr als das doppelte, was eine Cola in Hanoi kosten würde. Aber schließlich ist es ein ziemlich langer Fußmarsch vom nächsten
Colahändler bis in das Dorf Kho Muong. Und der Kerosin-Kühlschrank will
466
Vietnam
Kristin Raabe
auch irgendwie betrieben werden. Also sind 20.000 Dong für eine kalte Cola
absolut gerechtfertigt.
Am nächsten Morgen führt uns Herr Nec zur Höhle von Kho Muong.
Er trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift „Intelligent Cinderella“. Eindeutig
ein Mädchen-T-Shirt. Aber das weiß Herr Nec sicherlich nicht, schließlich
spricht er kein Englisch. Als Übersetzer begleitet uns Chuyen, einer der
Forstbeamten von Ba Thuoc. Herr Nec ist ein fantastischer Führer. Freundlich
weist er uns auf jeden möglichen Stolperstein hin. Nach einer dreiviertel
Stunde haben wir endlich den Eingang der Höhle erreicht. Von dort müssen
wir einen Abhang mit Felsen und Geröll herunterklettern. Unten angekommen bietet sich uns ein beeindruckender Anblick. Stalagmiten ragen von
der Decke herunter, und die moosbewachsenen Felsen vor dem Eingang
leuchten grün zu uns herab. Es herrscht eine andächtige Stille. Aber Chuyen
sieht die Muong Höhle in einem ganz anderen Licht: „A perfect place for
Badminton – no Wind.“ Badminton ist der Nationalsport der Vietnamesen.
Jede Forstbehörde, und sei sie auch noch so abgelegen, hat ihren eigenen
Badmintonplatz. Aber Badminton in der Muong-Höhle – das kommt mir
beinah vor wie ein Sakrileg.
Plötzlich fällt mir auf, dass es gar nicht so still ist. Eine Art unterschwelliges hohes Zwitschern ist ständig zu hören. Ich schaue an die Decke und
sehe Fledermäuse umherflattern. Diese nachtaktiven Säuger sind typisch für
die Karstformationen. In den Felsen gibt es viele Höhlen, und die sind ein
idealer Lebensraum für Fledermäuse. Hier leben einige seltene Arten, die
nur in zwei bis drei Höhlen vorkommen und nirgendwo sonst.
Früher, erzählt Herr Nec, hätten die Menschen einmal im Jahr Gerüste
gebaut und die Fledermäuse zu hunderten gefangen und gegessen. Heute
mache das niemand mehr. „Es macht keinen Sinn, Tiere nur wegen einer
Tradition zu töten.“
Ich sage Herrn Nec, wie wunderschön sein Dorf sei, dass es überhaupt
das schönste Dorf sei, das ich jemals in Vietnam gesehen habe. Und dass
die Touristen alle begeistert sein werden – von der Höhle, von ihm und
überhaupt von allem. „Wirklich, für uns ist das hier alles ganz normal“, Herr
Nec glaubt mir irgendwie nicht. Er befürchtet, die Touristen werden mit seinem Essen nicht zufrieden sein. Diese Furcht kann ich ihm kaum nehmen.
Aber zum Abschied gibt es die in Asien allgegenwärtige Instant-Nudelsuppe
und das ist nun wirklich das leckerste, was ich jemals in einem Dorf im
Naturschutzgebiet Pu Luong gegessen habe.
467
Kristin Raabe
Vietnam
6. Von Wilderern, Rangern und noch mehr Reisschnaps
Bevor wir nach Ba Thuoc zurückfahren, machen wir noch einen kleinen Abstecher zu einer der kleineren Forststationen. Sie liegt mitten im
Naturschutzgebiet, abseits von jeder Ortschaft. Die dort stationierten Ranger
sind begeistert, als wir dort ankommen. Gaby will mir hier einen „wichtigen“ Menschen vorstellen. Der Leiter der Forststation hat eine Geschichte
zu erzählen. Er spricht sehr leise, und reagiert zunächst nur zögerlich auf die
Zwischenfragen, die Gaby und Chuyen ihm stellen: „Wir waren im Wald
unterwegs, als wir Wilderer entdeckten. Sie hatten einen Lockvogel dabei,
der andere Vögel anlocken sollte, die sie dann verkaufen wollten. Es gelang
uns einen Wilderer zu überwältigen und den Lockvogel zu konfiszieren. Er
ist sehr wertvoll, man bekommt 1,5 Millionen Dong (ca. 85 Euro) für so
einen gut abgerichteten Vogel. Aber den Wilderer mussten wir schließlich
laufen lassen. Wir können nicht wie die Polizei einfach jemanden gefangen nehmen. Diese Befugnisse haben wir leider nicht. Erst wenn formal
Anklage erhoben worden ist, wird ein Wilderer auch festgesetzt. Aber dieser
Wilderer war wütend auf uns, weil wir seinen Lockvogel hatten. Er kam
nachts zu unserer Forststation und klaute unsere Wäsche, einige T-Shirts
und Hosen. Wir sollten unsere Kleidung erst dann wiederbekommen, wenn
wir ihm seinen Lockvogel wiedergeben. Aber ich weigerte mich. Da wurde
er so wütend, dass er mit dem Messer auf mich losging.“
Der mutige Forstbeamte hat mehrere Wochen im Krankenhaus gelegen.
Die Wunde an seinem Bein hat eine tiefe Narbe hinterlassen. Sie ist inzwischen gut verheilt. Die psychischen Verletzungen, die er durch den Schock
erlitten hat, sind nicht so gut versorgt worden. „Ich habe den Eindruck, dass
dadurch irgendetwas in ihm zerbrochen ist. Er wird jetzt wahrscheinlich
nicht mehr so energisch gegen die Wilderer vorgehen“, vermutet Gaby.
Auch ohne gewalttätige Wilderer haben die Kiem lam, so heißen die
Forstbeamten in Vietnam, keinen leichten Job. Viele Forststationen und
Forstbehörden liegen abseits von bewohnten Gebieten. Die Beamten sehen ihre Familien nicht einmal jedes Wochenende, und zu alledem ist die
Bezahlung miserabel. Weniger als 100 Euro im Monat.
Als wir nach ein paar Tagen von unserem Aufenthalt bei der kleinen
Forststation endlich wieder dort ankommen, werden wir mit großem Hallo
empfangen. Zurzeit findet ein so genanntes „Awareness-Programm“ statt.
Forstbeamte aus den verschiedenen Forststationen sind zu einer Fortbildung
angereist. Trinh Le Nghuyen ist einer der Referenten. Er arbeitet für ENV,
das bedeutet „Education for Nature“. Er will den Forstbeamten beibringen, wie sie in den Dörfern ihres Reviers ein Bewusstsein für Naturschutz
schaffen können. Keine leichte Aufgabe, aber Trinh ist mit viel Engagement
468
Vietnam
Kristin Raabe
bei der Sache, und ich werde auch gleich mit eingespannt. Ich soll einen
Vortrag darüber halten, was Journalisten von den Forstbeamten erwarten. In
10 Minuten geht es los. Darauf bin ich nicht vorbereitet. Es ist auch nicht
besonders hilfreich, dass die meisten Forstbeamten überhaupt kein Englisch
sprechen. Am Ende soll ich trotzdem noch ein Interview mit ihnen führen,
um zu überprüfen, ob sie sich auch an meine Vorgaben halten. Ich hatte ihnen gesagt, dass Journalisten sich für Geschichten interessieren und dass allgemeine Statements und Statistiken dagegen weniger interessant sind. Als
ich sie frage, was das Besondere an ihrer Forststation ist und was sie dort
erlebt haben, hören sich ihre Antworten allerdings trotzdem so an, als wären
es artig aufgesagte Slogans der Partei.
Immerhin habe ich danach die Gelegenheit, mit Dr. Nguyen Xuan Dang
zu sprechen. Der Zoologe hat ein Buch verfasst, in dem sämtliche bedrohte Tierarten Vietnams aufgeführt sind. Die Forstbeamten können dann diese Tiere anhand der beschriebenen Merkmale leichter identifizieren. „Das
Besondere an der Natur Vietnams ist ihre Vielfalt“, erzählt Dr. Dang. „Das
liegt an unserer Landschaft. Felsige Berge, große Gewässer und Täler wechseln sich ab. Dadurch entstehen von der Umgebung isolierte Lebensräume,
in denen sich die Tiere völlig unabhängig von der Außenwelt entwickeln
können. Deswegen gibt es in Vietnam auch so viele Tierarten, die nur an
ein oder zwei Orten vorkommen.“ Zum Bedauern von Dr. Dang fehlt in
Vietnam oft das Geld, um die heimische Natur zu erforschen.
Einer, der schon viele Expeditionen in Vietnam organisiert hat, ist Neil
Furley. Der Ire arbeitet für FFI, Flora & Fauna International, eine britische
Naturschutzorganisation. FFI leitet das Naturschutzprojekt Pu Luong, dessen Aktivitäten zentral von der Forstbehörde in Ba Thuoc gesteuert werden.
Lediglich Gabys Stelle wird vom Deutschen Entwicklungsdienst finanziert.
Sie arbeitet aber eng mit Neil Furley und den anderen FFI-Mitarbeitern in
Ba Thuoc zusammen. Gemeinsam mit den Rangern hat der irische Biologe
eine Reihe von so genannten „Camera Trappings“ organisiert. Überall im
Naturschutzgebiet stehen Kamerafallen, die durch ein vorbeilaufendes Tier
ausgelöst werden. Auf den nur selten scharfen Bildern sind etliche erschrocken dreinblickende Tiere mit in der Dunkelheit leuchtenden Augen zu sehen. Die wohl faszinierendsten Tiere auf den Bildern sind der Nebelparder
und der asiatische Schwarzbär oder auch Kragenbär.
Der Nebelparder misst ohne Schwanz einen Meter Körperlänge. Diese
Raubkatze ist ein ausgezeichneter Kletterer und wird von den Asiaten auch
als „Astleopard“ bezeichnet. Der Nebelparder gilt in China und Thailand als
Delikatesse und wird vermutlich auch in Vietnam stark bejagt.
Mindestens ebenso bedroht ist der Kragenbär, der seinen Namen von
einem auffälligen Pelzkragen um seinen Hals hat. Manchmal ist dieser
469
Kristin Raabe
Vietnam
Pelzkragen auch weiß und hebt sich deutlich vom restlichen dunkelbraunen Fell ab. Kragenbären ernähren sich hauptsächlich von Pflanzen und
Insekten. Die chinesische Medizin schreibt ihrer Gallenflüssigkeit alle
möglichen wundersamen Wirkungen zu. Deswegen werden Kragenbären
überall in Asien eingefangen und in enge Käfige gezwängt. Dort wird ihnen
ständig Gallenflüssigkeit abgesaugt, bis sie schließlich elendig verenden.
Glücklicherweise ist in Pu Luong der illegale Tierhandel nicht sehr verbreitet, so dass die Kragenbären eine Chance haben, hier zu überleben. Die Kiem
Lam von Ba Thuoc jedenfalls sind alle so stolz darauf, in ihrem Revier echte
Kragenbären zu beherbergen, dass sie garantiert alles tun werden, um die
bedrohte Art zu retten. Das gelingt ihnen sicherlich nur, wenn sie auch die
Dorfbewohner in der Pufferzone und der Kernzone des Naturschutzgebietes
Pu Luong überzeugen können.
In einem Stelzenhaus, das mit Motorrädern schon in einer halben
Stunde zu erreichen ist, sollen die Kiem Lam zeigen, was sie während der
Fortbildung gelernt haben. Gaby, unser Fotograf Stephan Fengler und ich
sind auch herzlich eingeladen. Leider kommen die Kiem Lam erst mal nicht
dazu, den Dorfbewohnern, den Naturschutz näher zu bringen. Die Vorträge
der Kiem Lam enden oft in lautem Lachen. Erst als einer der Beamten ein
Lied über den Wald anstimmt wird es ruhiger. Aber dann geht auch schon
die Sauferei los. In der Mitte des Raumes steht ein riesiger Krug. Er ist gefüllt mit Maniok, und Reisschnaps ist auch dabei. Mit einer Kelle gießt ein
Junge ständig Wasser über die gärende Masse. Riesige Bambushalme stecken in der hochprozentigen Füllung des Kruges. Mindestens sechs Leute
können gleichzeitig daraus trinken. Die Dorfbewohner und alle Kiem Lam
trinken nacheinander das höllische Gebräu, und bei jeder Runde muss ein
Weißer dabei sein. Dadurch kommen Gaby, Stephan und ich öfter zum Zug
als alle anderen. Zum Glück sieht keiner, ob wir tatsächlich etwas durch die
Bambushalme hochsaugen.
Allmählich wird die Stimmung zwischen Kiem Lam und Dorfbewohnern
immer besser – auch wenn von Naturschutz nicht mehr die Rede ist. Die
Frauen führen schließlich, gekleidet in die traditionellen Trachten der Thai,
einen Fächertanz auf. Danach wird gesungen. Auch wir bekommen das
Mikrofon gereicht. Unser Fotograf stimmt die Internationale an, die niemand hier zu kennen scheint. Gaby singt „Ich wollt, ich wär’ ein Huhn“.
Und am Ende geben wir alle drei noch „Bruder Jakob“ zum Besten, wobei ich allerdings meinen Einsatz verpasse. Wie wir an diesem Abend nach
Hause gekommen sind, weiß ich nicht mehr.
470
Vietnam
Kristin Raabe
7. Fabriken und Funkgeräte statt Schweine und Bienen?
Auf diese Begegnung habe ich mich schon in Deutschland gefreut. Ich treffe Tilo Nadler, den berühmtesten und vielleicht erfolgreichsten Tierschützer
in Vietnam. Er empfängt mich in zerschlissenen Shorts und löchrigem TShirt. Mit seinem wettergegerbten Gesicht und seinem Dreitagebart sieht
Tilo Nadler genau so aus, wie ich mir einen Abenteurer vorstelle, der im
Dschungel Asiens bedrohte Tiere verteidigt. In seinem „endangered Primate
Rescue Center“ (frei übersetzt „Rettungszentrum für bedrohte Primaten“)
im Cuc Phuong Nationalpark beherbergt er die seltensten Affen der Welt.
Die meisten von ihnen wurden schon als Jungtiere gefangen und verkauft.
Irgendwann haben Forstbeamte sie dann entdeckt und konfisziert. In Tilo
Nadlers Rettungszentrum haben diese geschundenen und misshandelten
Tiere schließlich eine Zuflucht gefunden.
Endlich kann ich auch den Pandalangur bewundern – und zwar nicht nur
in den Käfigen. Der deutsche Tierschützer und seine Mitarbeiter haben einen Hügel im Nationalpark komplett abgesperrt. Das Gebiet ist groß genug, um eine Gruppe von Pandalanguren zu ernähren. Vom Zaun aus, kann
ich die Tiere tatsächlich dabei beobachten, wie sie in den Bäumen sitzen
und gemütlich ihre Blätter fressen. Languren ernähren sich ausschließlich
von Blättern. Das macht ihre Haltung außerhalb der Waldgebiete Asiens so
schwer.
Tilo Nadler weiß wahrscheinlich mehr über Languren als jeder andere.
Die Affen fühlen sich in seinem Rettungszentrum so wohl, dass sie ständig
Nachwuchs haben. In den geräumigen und abwechslungsreich eingerichteten Käfigen lassen sich Affen bewundern, die es sonst nirgendwo gibt.
Darunter sind auch die seltensten Languren Vietnams: Die Cat-Ba-Languren
oder Goldkopflanguren. Sie leben ausschließlich auf der Insel Cat Ba in der
Halong-Bucht.
Tilo Nadler träumt davon, seine seltenen Affen irgendwann einmal wieder in die Wildnis entlassen zu können. Genau deswegen hat er auch das
riesige Freigehege für die Pandalanguren geschaffen. Hier sollen die Tiere
lernen, wie sie in der freien Wildbahn an Nahrung kommen. Im mehrere
Hektar großen Freigehegen wachsen genug Futterbäume für die Languren.
Sie brauchen also kein zusätzliches Futter. Aber bevor irgendein Affe in die
freie Wildbahn entlassen wird, muss das entsprechende Gebiet vor Wilderern
sicher sein. Wie man mit denen umgeht, weiß der Tierschützer: „Als ich vor
elf Jahren hierher kam, habe ich die Wilderer selbst gejagt. Dabei kam es
auch schon mal zu der ein oder anderen brenzligen Situation, schließlich
haben die Wilderer Waffen.“
471
Kristin Raabe
Vietnam
Tilo Nadler fordert eine bessere Ausrüstung für die Ranger: „Die
Wilderer haben auch Waffen und Funkgeräte. Wenn die Kiem Lam überhaupt eine Chance haben wollen, dann brauchen sie eine gleichwertige
Ausrüstung.“ Nach Meinung des deutschen Naturschützers sollten die
Entwicklungshilfegelder besser in die Rangerarbeit investiert werden anstatt in die landwirtschaftliche Entwicklung. „Man sollte den Menschen, die
in den Naturschutzgebieten leben, nicht noch einen Anreiz bieten, dort wohnen zu bleiben. Dann ziehen doch immer mehr Menschen dorthin. Die holen
sogar ihre Verwandten aus den Städten, weil sie Schweine, neue Reissorten
oder eine Schule von den Entwicklungshelfern bekommen haben.“ Nach
Meinung von Tilo Nadler haben die Reisbauern in den Naturschutzgebieten
viel zu viel Zeit. „Wenn sie nichts zu tun haben, dann gehen sie eben in den
Wald, also müssen wir dafür sorgen, dass die Bauern beschäftigt sind.“ Das
ginge am besten, wenn die Bauern einer geregelten Arbeit nachgingen, beispielsweise in den Fabriken. Fabrikarbeiter arbeiten in Vietnam in der Regel
sieben Tage die Woche. Da bleibt wirklich keine Zeit, um im Wald Holz zu
schlagen oder seltene Tiere zu jagen.
Aber mir gefällt der Gedanke nicht, dass die freundlichen Menschen in
den Dörfern am Fließband stehen sollen. Das würde ihrer Kultur endgültig
den Garaus machen. Die meisten gehören zu ethnischen Minderheiten, wie
den Muong, den Thai, den Ede oder Hmong. Sie sprechen zwar alle vietnamesisch, haben aber einen völlig anderen kulturellen Hintergrund als die
Kinh, die 80 Prozent der vietnamesischen Bevölkerung ausmachen. Wenn
die Minderheiten unter sich sind, sprechen sie ihre eigene Sprache, viele tragen auch im Alltag noch die traditionelle, oftmals selbst gewebte Kleidung.
In Hanoi hat bereits der Ausverkauf ihrer Kultur begonnen. Dort bieten etliche Geschäfte traditionelles Kunsthandwerk an. Bei den Minderheiten,
die oft keine Vorstellung von dem Wert des Geldes haben, kommt von den
Einnahmen vermutlich nicht sehr viel an. Und nun sollen diese Menschen
also auch noch in die Fabrik.
Irgendwie hat der lange Kampf gegen Wilderei, illegalen Holzhandel und
Korruption Tilo Nadler zermürbt. „Es ist letztendlich nicht das Geld, das dem
Naturschutz in Vietnam fehlt, sondern das Bewusstsein.“ Er berichtet von
einer Naturschutzorganisation, die den Zollbeamten an der Grenze zu China
bessere Löhne finanzierte. Die Zöllner bekamen 500 Dollar im Monat. Das
ist für vietnamesische Verhältnisse ein gigantisches Einkommen. Die höheren Löhne sollten die Beamten dazu bewegen, den illegalen Tierhandel einzudämmen, anstatt immer nur Bestechungsgelder von den Tierschmugglern
zu kassieren. Nach Angaben von Tilo Nadler hat all das so gut wie nichts
gebracht: „Den Vietnamesen geht es nicht darum, ein gutes Einkommen zu
haben. Ein Vietnamese, der wenig hat, will mehr haben und einer, der viel
472
Vietnam
Kristin Raabe
hat, will noch mehr haben. Wenn die Entwicklungshelfer den Menschen alternative Einkommensquellen anbieten, dann ist das für die Vietnamesen
keine alternative, sondern nur eine zusätzliche Einkommensquelle. Die
Dorfbewohner werden weiter im Wald jagen und Holz schlagen, und die
Zollbeamten nehmen weiterhin Bestechungsgelder an.“ Wenn das zutrifft,
dann wäre die Arbeit von Gabriele Prinz in Pu Luong völlig überflüssig.
Irgendetwas muss aber getan werden, wenn die einmalige Natur Vietnams
überleben soll. Tilo Nadler kennt da nur eine Vorgehensweise: „Es hilft alles
nichts. Wir müssen die Gebiete abriegeln und die bestehenden Gesetze strenger durchsetzen. Dazu brauchen wir mehr und besser ausgebildete Ranger
mit einer guten Ausrüstung. Außerdem müssten die Befugnisse der Ranger
erweitert werden, damit sie die Wilderer selbst verhaften können.“
Diese Strategie bezeichnen Naturschützer als „Law-Enforcement“1.
Sie steht im krassen Gegensatz zum sogenannten „Community based
Management“2 oder den „Awareness Programmen“3 von ENV, bei denen
mit den Menschen gearbeitet wird, damit sie selbst erkennen, wie schützenswert ihre Natur ist. Aber ein Bewusstsein für Naturschutz zu schaffen,
braucht Zeit, und die haben vor allem die seltenen Affen Vietnams nicht
mehr. Von den Pandalanguren, den Cat-Ba-Affen und den StumpfnasenTonkin-Affen leben nur noch wenige hundert Tiere. All diese Affen könnten
schon in den nächsten Jahren ausgestorben sein.
Ich spaziere mit Tilo Nadler noch ein wenig durch die langen Reihen
geräumiger Käfige. Die meisten der Tiere darin haben eine schreckliche
Geschichte hinter sich. Der deutsche Naturschützer vertritt ihre Interessen
nun schon seit mehr als zehn Jahren. Für sie hat er sein Land, seine Familie
und seine Freunde hinter sich gelassen. Und trotzdem muss er ständig mit
ansehen, wie immer mehr dieser einzigartigen Tiere in der freien Wildbahn
aussterben. Tilo Nadler hatte nie geplant ein Zoodirektor zu sein. Aber wenn
die Entwicklung so weiter geht wie bisher, dann ist der einzige Ort, an dem
Tiere wie der Pandalangur überleben, sein Rettungszentrum im Cuc Phuong
Nationalpark.
Abgesehen vom Primatenzentrum ist Cuc Phuong ein gutes Beispiel dafür, wie wenig ernst der Naturschutz in Vietnam genommen wird. Mitten
durch den Park führt eine asphaltierte Straße. Dadurch können alle Besucher
mit Bussen oder geliehenen Motorrädern einfach und schnell zum Zentrum
des Nationalparks gelangen. Dort gibt es ein großes Schwimmbad, dessen
1 Rechtsdurchsetzung
2 Naturschutzmanagement auf Gemeindeebene
3 Bildungsmaßnahmen, die ein Bewusstsein für Naturschutz schaffen sollen.
473
Kristin Raabe
Vietnam
Wasser ziemlich stark mit Algen belastet ist. Außerdem befindet sich dort
ein Restaurant, das leicht mehrere hundert Personen bewirten kann. Und das
ist auch notwendig, denn beinahe jede Schulklasse in Vietnam macht einmal
einen Ausflug in den Cuc Phuong–Park. Aber auch auf Touristen aus Japan
oder Hongkong will das Parkmanagement vorbereitet sein. Es gibt an verschiedenen Orten im Park Unterkünfte in allen Preisklassen und natürlich
auch Karaoke Bars. Und direkt hinter dem Eingang zum Park heben Bagger
gerade einen See aus – als ob es nicht schon genug Mücken gäbe in Cuc
Phuong. Auch am Ufer dieses künstlichen Sees entstehen neue Unterkünfte.
Die Asiaten, die hier ihre Ferien verbringen werden, mögen es bequem.
Deswegen sind die Hauptwege im Cuc Phuong Park wahrscheinlich auch
asphaltiert. Immerhin verläuft man sich dann nicht so leicht. Auch mein
Fotograf und ich wandern zu den berühmten tausendjährigen Bäumen, und
die sind wirklich beeindruckend – jedenfalls, wenn man sich so hinstellt,
dass man die betonierten Picknickplätze rundherum nicht sieht. Ich wandere
ein bisschen abseits der befestigten Wege und entdecke unmittelbar hinter
einem tausendjährigen Baum eine kaum versteckte Müllkippe. Ich fange an
Tilo Nadler zu verstehen: Den Vietnamesen scheint der Naturschutz tatsächlich ziemlich egal zu sein.
8. Conservation Cowboys
Nach einigen Wochen in der Wildnis bin ich beinah froh wieder in Hanoi zu
sein. Die Stadt kommt mir auch schon gar nicht mehr so laut vor. Stattdessen
genieße ich die fantastischen und preisgünstigen Restaurants. Zumindest
wenn es ums Essen geht, hatten die französischen Kolonialherren einen guten
Einfluss auf Vietnam. Keine Frage, in Hanoi lässt es sich gut leben. Vielleicht
auch ein Grund, warum die meisten internationalen Entwicklungshilfe- und
Naturschutzorganisationen hier ihre Büros haben. In einem zentral gelegenen Altbau hat FFI, Fauna & Flora International, ihr Hauptquartier. FFI ist
eine britische Naturschutzorganisation, die in Vietnam sehr aktiv ist, und
das liegt an den beiden Conservation Cowboys. „Conservation“ ist der
englische Ausdruck für Naturschutz. Den betreiben Robert Primmer und
Frank Momberg nach Meinung einiger ihrer Mitarbeiter eben in „CowboyManier“. Solange sie damit erfolgreich sind, soll mir das recht sein.
Ich bin den beiden zum ersten Mal begegnet, als sie im Horizon Hotel
in Hanoi für das Ökotourismus Projekt in Pu Luong geworben haben. Der
deutsche Südostasien-Direktor von FFI, Frank Momberg, ergriff sofort die
Gelegenheit, eine deutsche Journalistin für seine Zwecke einzuspannen.
Ich habe nichts dagegen, solange ich dadurch auf interessante Themen und
474
Vietnam
Kristin Raabe
Projekte stoße. Innerhalb von weniger als fünf Minuten entwickelt er sieben
Ideen, was ich noch alles machen könnte in Vietnam. „Wie, Du hast nur noch
zwei DAT-Kassetten für Deine Interviews. Kein Problem, wir besorgen Dir
welche. In Hanoi ist alles möglich. Verschieb schon mal Deinen Flug, hier
gibt es noch soviel zu tun.“ Frank Momberg ist eindeutig ein Visionär. Aber
das muss man vermutlich auch sein, wenn man als Naturschützer in einem
Land wie Vietnam etwas erreichen will. Der deutsche Biologe hat ganz alleine die ersten FFI-Projekte in Vietnam ins Leben gerufen.
Über seine Erfahrungen will er mir in einem Interview im FFI-Hauptquartier
berichten. Ich will wissen, wie er die Situation in Vietnam einschätzt: Die
Vietnamesen haben doch die wahrscheinlich besten Naturschutzgesetze
in Asien. Es gibt so viele Naturschutzgebiete und Nationalparks. Ist es
nicht ermutigend, soviel Engagement im Land selbst vorzufinden? Frank
Momberg sieht das ganz anders: „Sicher, die Naturschutzgesetze in Vietnam
sind sehr gut. Nur leider fehlt es an Mitteln und Personal sie auch durchzusetzen. Wirklich erfolgreiche Projekte allein von vietnamesischer Seite
gibt es kaum. Und auch ausländische Organisationen haben es schwer, hier
überhaupt eine Genehmigung für Projekte zu bekommen. Vietnam ist eben
immer noch ein kommunistisches Land. Deswegen arbeiten hier viel weniger Naturschutzorganisationen als in einigen Nachbarländern.“
Letztendlich bestätigen Frank Mombergs Aussagen nur meine bisherigen
Beobachtungen im Laufe meiner Reise: „Das größte Problem ist wirklich
das Konsumverhalten. Wildtiere sind gerade bei der jetzt neu entstehenden
Mittelschicht angesagt – ob nun eingelegt in Reiswein oder als Balsam.
Meist wird ihnen eine Wirkung als Aphrodisiaka zugeschrieben. Am besten
wäre es wahrscheinlich, wenn man Viagra hier besser vermarkten würde.“
Die meisten Vietnamesen interessieren sich nicht für die einmalige Natur
in ihrem Land. Für sie ist ein Langur vor allem ein Stück Fleisch, das sich
zu traditioneller chinesischer Medizin verkochen lässt. Bleibt als Ausweg
also doch nur die konsequente Abriegelung der Naturschutzgebiete? Ist
die Verteidigung seltener Tierarten mit Waffengewalt wirklich die einzige Lösung? Der FFI-Chef sieht die Situation nicht ganz so streng: „Sicher
die Mehrzahl der Vietnamesen interessiert sich vor allem für ihr eigenes
wirtschaftliches Vorankommen. Aber sie haben auch einen Vorteil: Sie sind
sehr stolz und sehr diszipliniert. Wenn es gelingt, in den Vietnamesen den
Stolz auf ihre Naturschutzgebiete zu wecken, dann setzen sie auch alles
daran, diese Regionen zu schützen.“ Frank Momberg kennt auch ein FFIProjekt, bei dem dieses Konzept bereits erfolgreich war: Die StumpfnasenTonkin-Affen leben im Nordwesten-Vietnams. Ihre Beschützer sind die
Dorfbewohner, die am Rande ihrer Wälder leben. Ich muss dieses Projekt
unbedingt besuchen.
475
Kristin Raabe
Vietnam
Aber zunächst bin ich noch mit Robert Primmer verabredet. Als FFIKoordinator für die Primaten kennt er natürlich auch die StumpfnasenTonkin Affen sehr gut. „Bei diesem Projekt konnten wir mit sehr wenig
Geld schon in zwei Jahren unglaublich viel erreichen.“ Er verspricht
mir, bei den dortigen Behörden alles für meine Anreise zu organisieren.
Das Naturschutzgebiet liegt an der Grenze zu China, direkt neben der
Provinzhauptstadt Ha Giang.
Dort und in anderen Projektgebieten stößt der Tierschützer immer wieder auf ein Problem: „Korruption ist vielleicht das größte Hindernis für
den Naturschutz in diesem Land. Dabei wird Korruption hier nicht als
Korruption wahrgenommen. Es ist quasi ein normaler Bestandteil des ganzen Geschäfts. Wenn jemand beispielsweise einen Job als Ranger bei der
Forstbehörde haben möchte, dann funktioniert das wie folgt: Seine Familie
muss Verbindungen zur Forstbehörde haben, dann gibt seine Familie diesem Verwandten oder Bekannten ein Geschenk in Form von Geld. Aber auf
diesen Job bewerben sich zehn Leute, und wer immer die engste Beziehung
zu dem Forstbeamten hat und wer am meisten Geld rausrückt, bekommt
letztendlich die Stelle. 20 Millionen Dong, über 1.000 Dollar kostet ein Job
bei der Forstbehörde. Irgendwie muss dieses Geld natürlich wieder reinkommen. Also verkauft ein Ranger das Holz, das er gerade konfisziert hat,
wieder zurück an den Holzschmuggler.“
Rob Primmer hat auch in Botswana, Südafrika und Mosambik gearbeitet.
In Afrika war er jedoch einen ganz anderen Umgang mit Korruption gewöhnt: „Wenn man ein Projekt in Afrika machen möchte, dann sagt der zuständige Afrikaner einem wahrscheinlich: „O.k., Du willst hier ein Projekt
machen, dass so ungefähr 20.000 Dollar kostet. Gut und schön, ich will
5.000 Dollar davon auf meinem Konto sehen.“ In Vietnam läuft das ganz
anders. Wenn wir ein Projekt machen, bekommen wir gesagt „wir brauchen
einen Lohn für den und ein bisschen für den, ach ja, und der hilft uns auch,
also müssen wir ihn auch bezahlen“. Am Ende ist kaum noch etwas übrig.
Sie saugen das Geld aus den Projekten heraus. Aber niemand würde das als
Korruption bezeichnen. Unsere Kulturen sind so unterschiedlich. Wir hätten keine Chance, würden wir versuchen, die Korruption hier im Lande zu
beenden, denn Korruption wird von uns und den Vietnamesen ganz unterschiedlich wahrgenommen. Für die Vietnamesen ist sie ein Bestandteil des
Systems, den sie niemals als Korruption bezeichnen würden. Wir müssen
uns leider sehr oft diesem Denken anpassen und die Korruption quasi in
unsere Projekte einplanen. Für uns ist es Korruption, für die Vietnamesen
nicht, so einfach ist das.“
Die Korruption ist in Vietnam also ein großes Problem für den Naturschutz.
Allerdings hat Robert Primmer inzwischen auch gelernt, wie er die Sitten im
476
Vietnam
Kristin Raabe
Lande nutzen kann, um die Interessen des Naturschutzes durchzusetzen: „Oft
bringen wir einfach nur einen Ball ins rollen. Wir feiern mit den Menschen,
singen dann Lieder über den Wald und erzählen ihnen wie einzigartig der
Affe in ihrem Wald ist. Dann fragen wir sie, wie sie diesen Affen retten
wollen. Die Menschen entwickeln dann von ganz alleine eine Strategie und
stellen Regeln auf. Wir müssen sie nur bei der Durchführung unterstützen.
Wenn sich jemand nicht an die selbst aufgestellten Regeln hält, dann verliert er sein Gesicht. Und das will kein Vietnamese.“ Wenn Wilderei und
illegaler Holzeinschlag Gesichtsverlust bedeuten, dann hat der Naturschutz
in Vietnam eine Chance.
Für Robert Primmer war das Leben in Asien eine Umstellung. In seiner Heimat Südafrika musste er keine Rücksicht auf das „Gesicht“ seines
Gegenübers nehmen. In Vietnam – wie überall in Asien - sind die Regeln
der Höflichkeit jedoch wichtig, wenn man etwas erreichen will. Außerdem
dauert es eine Weile mit den örtlichen Hierarchien vertraut zu werden.
Das musste Robert Primmer feststellen, als er die zuständigen Ranger
des Naturschutzgebietes um Ha Giang davon überzeugen wollte, gegen
den illegalen Holzeinschlag vorzugehen. Nach einem Seminar sollten die
Beamten in der Praxis zeigen, was sie gelernt hatten. Nachts machte sich
Conservation Cowboy Rob zusammen mit einigen Beamten auf zu einer
Straße, über die das Holz in der Regel transportiert wurde. Bewaffnet mit
Taschenlampen versteckten sich alle im Gebüsch. „Sobald sich irgendein
Gefährt näherte, fingen die Kiem lam sofort an viel Lärm zu machen und
mit ihren Taschenlampen herumzuwedeln.“ Robert Primmer fand erst allmählich heraus, was vor sich ging. Die Forstbeamten fühlten sich gar nicht
befugt, jemanden wegen des illegalen Holzhandels festzuhalten. Erst als
Robert Primmer einen Professor für Forstwirtschaft aus Hanoi kommen
ließ, der die meisten der Beamten ausgebildet hatte, ließen sie sich von dieser Respektsperson überzeugen.
Inzwischen hat sich Robert Primmer daran gewöhnt, dass er manchmal nur auf Umwegen etwas für die seltenen Affen erreichen kann. Seine
Ungeduld hat er allerdings nicht verloren. Und die ist auch berechtigt. Denn
für die meisten seltenen Affenarten Vietnams ist es bereits fünf vor zwölf.
Trotzdem träumt der Tierschützer davon, auch den seltensten Affen der Welt
zu retten.
Von den östlichen schwarzen Schopfgibbons existieren nur noch gut
20 Tiere im Grenzgebiet zwischen China und Vietnam. Gibbons sind
Menschenaffen. Trotzdem ist das Interesse an ihnen bei Wissenschaftlern
und Laien gleichermaßen begrenzt. Dabei sind die Tiere nicht nur elegante
Kletterkünstler, die sich mit ihren langen Greifarmen geschickt durch das
Geäst hoher Bäume hangeln. Sie sind auch hervorragende Sänger. Häufig
477
Kristin Raabe
Vietnam
singen Weibchen und Männchen im Duett. Das festigt die Paarbeziehung,
die oft ein Leben lang andauert. Der Gesang des östlichen schwarzen
Schopfgibbons wird in den Wäldern des nordöstlichen Vietnams vermutlich
nicht mehr lange zu hören sein. Aber Robert Primmer will alles versuchen,
um den Menschenaffen zu retten: „Wenn wir ausreichend Mittel hätten,
dann könnten wir den östlichen schwarzen Schopfgibbon tatsächlich retten.“ Am liebsten würde der Naturschützer sofort selbst zu den Gibbons fahren und jeden einzelnen Affen eigenhändig mit der Pistole gegen Wilderer
verteidigen. Aber er weiß auch, dass das unmöglich ist. Stattdessen hofft
er auf Wissenschaftler, die daran interessiert sind, eine Population zu studieren, die gerade einen so genannten „genetischen Flaschenhals“ durchläuft. Von einem „genetischen Flaschenhals“ sprechen Experten, wenn eine
Tierart durch eine Umweltkatastrophe oder eine Seuche sehr plötzlich auf
wenige Individuen geschrumpft ist. Die Gene dieser wenigen Individuen
stellen dann das einzige Reservoir dar, aus dem sich die Population bei ihrem Wachstum bedienen kann. Ein genetischer Flaschenhals lässt sich auch
Generationen später im Genpool einer Tierart nachweisen. Dann sind sich
alle Individuen untereinander genetisch sehr ähnlich, da sie alle von wenigen Ahnen abstammen. Von den östlichen schwarzen Schopfgibbons gibt es
allerdings nur noch so wenige Tiere, das bereits jetzt die Gefahr von Inzucht
besteht. „Nur wenn wir den Lebensraum der Tiere sofort abriegeln und den
Tieren so viel Ruhe wie möglich geben, haben wir eine Chance, sie zu retten. Denn dann würden sie wieder anfangen, Nachwuchs zu zeugen und der
genetische Flaschenhals blieb auf wenige Jahre beschränkt“, ist sich Robert
Primmer ganz sicher.
Zu gerne würde ich den seltensten Affen der Welt in seinem Lebensraum
besuchen, aber meine Anwesenheit würde die Ruhe der Tiere stören, und
das kann ich nicht verantworten. Also beschließe ich, gemeinsam mit dem
FFI-Koordinator für Primaten die Stumpfnasen-Tonkin-Affen in Ha Giang
zu besuchen. Ob es mir diesmal endlich gelingen wird, einen der seltensten
Affen der Welt in freier Wildbahn zu sehen?
9. Auf der Suche nach den Stumpfnasen
Ich kann nicht behaupten, man hätte uns nicht gewarnt. Die Straße von
Hanoi nach Ha Giang ist eine einzige Schlammpiste. Ohne Vierradantrieb
geht hier gar nichts. Der Bus fährt schon seit einigen Tagen nicht mehr.
Kurz vor Ha Giang ist unsere Fahrt vorzeitig beendet. Eine Brücke, der
einzige Weg zur Provinzhauptstadt Ha Giang, ist eingestürzt. Also setzt
unser Fahrer mich und den Fotografen Stephan Fengler samt Gepäck ab.
478
Vietnam
Kristin Raabe
Da stehen wir nun: mitten im Matsch, als Fremde erkennbar und folglich
eine gute Einnahmequelle. Wie sich herausstellt, gibt es eine schwimmende
Behelfsbrücke aus Bambus, über die wir den Fluss überqueren können, allerdings nicht ohne einen recht großzügigen Obolus zu entrichten.
Am anderen Ufer müssen wir noch eine Weile durch den Schlamm laufen
bis wir ein Taxi erreichen, das uns zum Hotel bringt, in dem wir uns mit Robert
Primmer treffen. Er hat überraschende Neuigkeiten. In einem benachbarten
Hotel hat er einen jungen Gibbon entdeckt, der in einem Vogelkäfig unter erbärmlichen Bedingungen gehalten wird. Die Geschichte dieser Entdeckung
sagt einiges darüber aus, wie wenig Vietnamesen über Tierschutz wissen:
,,Ich kam zufällig mit der Hotelbesitzerin ins Gespräch“, berichtet Robert
Primmer. „Sie wollte schließlich wissen, was ich beruflich in Vietnam mache. Ich erzählte ihr, dass ich für eine Naturschutzorganisation arbeite. Da
wurde die Frau ganz aufgeregt und sagte, sie müsse mir unbedingt etwas
Interessantes zeigen. Ganz stolz präsentierte sie mir dann einen geschundenen kleinen Gibbon.“ Offenbar war der Dame nicht klar, dass die Haltung
einer bedrohten Tierart in Vietnam verboten ist. Am nächsten Morgen sollten
die Kiem Lam von Ha Giang den Gibbon konfiszieren. Das lokale Fernsehen
und eine Radiostation wollten einen Bericht darüber machen. Außerdem sollten Stephan und ich das ganze in Ton und Bild festhalten.
Als wir am nächsten Morgen bei der Forstbehörde von Ha Giang ankamen, war jedoch alles schon geschehen. Das lokale Fernsehen und die
Radiostation hatten auch keine Chance für einen Bericht erhalten. Dabei
wäre das eine gute Gelegenheit gewesen, die Bevölkerung über Tierschutz
zu informieren. Die 100 Millionen Dong Geldstrafe, die die Hotelbesitzerin
nun aufbringen muss, hätten sicherlich abschreckend gewirkt.
Aber mit Medienrummel wäre die Aktion für den kleinen Gibbon sicherlich noch stressiger geworden. Völlig verängstigt hockt das abgemagerte
Tier in seinem Käfig. Mit großen Augen schaut es ängstlich in die Runde
und fängt an zu schreien, sobald jemand eine unbedachte Bewegung macht.
Seine Haut ist rissig. Wahrscheinlich hat es nicht genug zu trinken bekommen. Aber auch das Wasser, das Robert Primmer, ihm mit einer Wasserflasche
einträufelt, läuft größtenteils daneben. Keine Frage, der kleine Gibbon muss
so schnell wie möglich nach Cuc Phuong zu Tilo Nadler. Nur dort kann er
gerettet werden.
Der FFI-Koordinator für Primaten will noch am selben Tag mit seinem
eigenen Jeep zu der gut zehnstündigen Fahrt aufbrechen. Das bedeutet allerdings auch, dass wir alleine nach den Stumpfnasen-Tonkin-Affen suchen
müssen. Robert Primmer will uns einen der so genannten „Community
Ranger“ zur Seite stellen. In seinem Haus sollen wir übernachten, bevor
es dann früh am nächsten Morgen hinauf auf den Berg geht. Dort leben die
479
Kristin Raabe
Vietnam
Stumpfnasen-Tonkin-Affen in einem nur schwer zugänglichen Waldgebiet.
Am Abend erzählt uns unser Gastgeber nach etlichen Gläsern Reisschnaps,
wie sich sein Verhältnis zu den Affen im Laufe der Jahre verändert hat:
„Früher waren die Affen für uns nur Fleisch. Wir haben sie gejagt, weil wir
hungrig waren. Aber jetzt wissen wir, dass diese Affen etwas Besonderes
sind. Deswegen gehen wir jetzt auch regelmäßig in den Wald, um aufzupassen, dass auch niemand anders sie jagt oder ihnen die Bäume wegnimmt.“
Ich will wissen, wie es war, als er zum ersten Mal einen Tonkin-Affen gesehen hat: „Oh, es sind sehr schöne Tiere. Sie sind ziemlich groß für einen Affen und haben ein blaues Gesicht. Früher habe ich sie nie gesehen.
Sie waren immer oben in den Bäumen und sind geflüchtet sobald sie einen
Menschen sahen. Aber jetzt sind Affen und Menschen Freunde. Sie bleiben
einfach oben in den Bäumen sitzen und schauen zu uns herab, wenn sie uns
sehen. Das ist wirklich ein sehr schönes Erlebnis.“
Die einzigen scharfen Fotos, die es von einem Stumpfnasen-TonkinAffen gibt, stammen von einem Jungtier, das in ziemlich üblem Zustand in
Tilo Nadlers Rettungszentrum ankam. Es starb nach wenigen Tagen. Auf
den Bildern, die der deutsche Tierschützer von dem Jungtier machte, ist erkennbar, wie schön diese Affenart ist. Das Gesicht ist blau von hellem Fell
umgeben. Die Stumpfnasen-Tonkin-Affen sehen ein wenig unnatürlich aus,
als wären sie nicht von dieser Welt. Sie ähneln vielleicht am ehesten den
Ewoks aus der Star Wars Trilogie. Ohne Frage zählen sie zu den größten
Affen Vietnams. Deswegen kann ich sie wahrscheinlich auch dann noch
sehen, wenn sie hoch oben in den Bäumen sitzen.
Am nächsten Morgen brechen wir früh um sechs Uhr ohne Frühstück auf.
Nach einer kurzen Wanderung durch das Dorf beginnt unser Aufstieg. Die
Wege sind erstaunlich gut, allerdings geht es konstant bei einer Steigung
von 30 bis 45 Grad bergauf. Nach knapp drei Stunden erreichen wir eine
kleine Hütte. Das ist also die Forschungsstation von FFI. Der britische
Wildlife-Fotograf Terry Whittaker lebt dort gerade. Als wir ankommen, ist
er allerdings mit seinem Führer im Wald unterwegs. Nur sein Koch ist da.
Er berichtet uns, dass Terry in ein paar Stunden zum Essen zurück sein will.
Also machen wir uns auch auf den Weg in den Wald.
Dass das Vorankommen so schwierig sein würde, hatte ich allerdings
nicht erwartet. Obwohl die Vegetation sehr dicht ist und uns riesige Bäume
umgeben, besteht der Untergrund nicht aus Erde. Wir gehen ständig über
scharfe Felsen. Sie sind glitschig und von Moos bewachsen. Dabei wird
unser Gepäck zu einem Problem. Ich habe ein Reportagegerät mit mehreren
Mikrofonen für Tonaufnahmen dabei und Stephan schleppt zwanzig Kilo
Kameraausrüstung mit sich herum. Nach gut zwei Stunden bin ich komplett
dehydriert und weiß, dass ich eigentlich dringend umkehren müsste, aber
480
Vietnam
Kristin Raabe
wir haben immer noch keinen Affen gesehen. Also versuche ich von unserem Führer zu erfahren, wie weit es noch bis zu den Stumpfnasen ist. Wenn
ich mein Wörterbuch richtig eingesetzt habe, dann lautete seine Antwort
wohl: „In diesem Tempo vier Stunden.“ Weitere vier Stunden in dem Wald,
das würde bedeuten, dass wir auf jeden Fall auch sechs Stunden für den
Rückweg bräuchten. Schweren Herzens kehren wir also um.
Als wir endlich wieder bei der Forschungsstation ankommen, die eigentlich eine Hütte ist, ist auch Terry, der britische Wildilfe-Fotograf wieder da.
Er hat heute auch noch keine Stumpfnasen-Tonkin Affen gesehen. Dabei
will er die ersten Fotos von diesen seltenen Tieren in freier Wildbahn schießen. Das gestaltet sich allerdings schwieriger als erwartet. „Die Tiere sind
zwar nicht scheu, aber sie leben soweit oben in den Bäumen, dass ich vom
Boden aus keine guten Fotos machen kann. Wir brauchen eine Plattform
in den Baumkronen, dann könnte ich wunderbare Bilder von diesen schönen Tieren machen.“ Als er merkt, wie enttäuscht wir sind, dass wir nicht
mal aus der Ferne eine Stumpfnase gesehen haben, ist er verwundert: „Hat
man euch denn nicht gesagt, dass man die Stumpfnasen jeden Morgen hier
von der Hütte aus sehen kann?“ Nein, das hat uns keiner gesagt. Wir hätten
einfach ein paar Stunden früher aufbrechen können, und dann gemütlich
auf der Bank vor der Hütte Stumpfnasen-Tonkin-Affen in den Baumkronen
beobachten können. Das wäre mit Sicherheit weit weniger anstrengend gewesen.
Am liebsten würden wir einfach eine Nacht hier oben bleiben. Aber das
will unser Führer nicht. Er hat irgendwelche Verpflichtungen und muss
dringend zurück. Außerdem ist die winzige Hütte mit dem britischen
Fotografen, seinem Führer und seinem Koch bereits voll belegt. Wir haben
also keine Wahl und müssen den Abstieg antreten, ohne einen StumpfnasenTonkin-Affen erblickt zu haben. Die schöne Aussicht und der wunderbare
Sonnenuntergang entschädigen ein wenig dafür.
10. Fazit
„Das Meer ist das Silber und der Wald das Gold Vietnams“, soll Ho Chi
Minh einmal gesagt haben. Der Satz lässt eine hohe Wertschätzung dieses
politischen Führers für die Natur seines Landes vermuten. Aber er macht
auch deutlich, dass Wald und Meer in erster Linie als natürliche Ressourcen
gesehen werden, die sich wirtschaftlich ausbeuten lassen, um daraus „Silber“
und „Gold“ zu machen.
Ein romantisches Naturerlebnis, wie wir Europäer es kennen, ist den Vietnamesen fremd. Das Wissen ist gering. Auch die Medien in Vietnam ver481
Kristin Raabe
Vietnam
mitteln keine Informationen über die Biologie des Landes. Die Probleme im
Umweltschutz sind erst recht kein Thema.
Dabei wären die meisten Vietnamesen stolz auf ihre Natur, wenn sie
nur wüssten, welche Schätze sie beherbergt. Aber das Saola-Rind, der
Stumpfnasen-Tonkin-Affe, der Vo Quy Fasan und der östliche Schopfgibbon
sind den meisten Vietnamesen unbekannt. Dabei hätten diese seltenen
Tierarten eine Chance zu überleben, wenn ihre Einmaligkeit ins Bewusstsein
der Menschen gelänge. Das Beispiel der Dorfbewohner, die eine eigene
Schutztruppe für den Stumpfnasen-Tonkin-Affen ins Leben gerufen haben,
beweist das.
11. Nachtrag
Inzwischen sind die ersten Touristen im Dorf Koh Muong angekommen.
Herr Nec wollte alles richtig machen und ihnen etwas ganz besonderes bieten. Also hat er Hund gekocht.
Im Auftrag von FFI hat ein Biologe nun begonnen, die StumpfnasenTonkin-Affen zu untersuchen. Damit er die Tiere aus der Nähe beobachten
kann, soll demnächst eine Plattform in den Baumkronen gebaut werden.
Auf dem Weltkongress der Primatologen in Turin haben die führenden
Affenforscher der Welt erneut eine Liste der 25 am meisten vom Aussterben
bedrohten Affenarten der Welt erstellt. Vietnam ist auf dieser Liste so häufig
vertreten wie kein anderes Land, insgesamt fünfmal.
Auf demselben Kongress hat Tilo Nadler im August 2004 eine Untersuchung vorgestellt, der zufolge die Pandalanguren in zehn Jahren ausgestorben sein werden. Die Studien des deutschen Tierschützers brachten
ein weiteres überraschendes Ergebnis: Die Pandalanguren werden in den
Naturschutzgebieten stärker bejagt als in ungeschützten Wäldern. In den
Nationalparks und in den anderen Schutzgebieten ist die Vegetation dichter,
so dass Wilderer schwerer zu entdecken sind. Außerdem gibt es dort viel
mehr Wild. Die ungeschützten, wildarmen Gebiete werden von den Jägern
gemieden. Dort haben Languren und Gibbons also eher eine Chance, zu
überleben. Angesichts solcher Beobachtungen fällt Tilo Nadlers Prognose
für die Pandalanguren eher düster aus: „Zukünftige Generationen, werden
diesen wunderbaren Affen wahrscheinlich nur noch aus Geschichtsbüchern
kennen.“
482
Astrid Reinberger
aus Deutschland
Stipendien-Aufenthalt in
Botswana
24. August bis 15. November 2003
483
Botswana
Astrid Reinberger
Von Überlebensstrategien im Alltag und der Ankunft
in der Informationsgesellschaft
Von Astrid Reinberger
Botswana vom 24.08. – 15.11.2003
485
Botswana
Astrid Reinberger
Inhalt
1. Zur Person
488
2. Moderne und Tradition
488
3. „Modimo“ und „Badimo“ – Glaubenssystem in Botswana
490
3.1 „My head is refusing to think“ – Überlebensstrategien im Alltag
492
3.2 Das Tabu – Ritualmorde und ein Gespräch mit Unity Dow
3.3 Lucky crème – ein Besuch beim Heiler
3.4 Healer associations - „modernisation can come“
3.5 Prävention von Pech und das „Traditional Health Practice Bill“
3.6 Grau ist alle Theorie
494
497
498
502
504
4. Modernes Botswana – Informationen für alle
4.1 Einen Mausklick vom Rest der Welt entfernt
4.2 Verbreitung des Internets und eine schöne Vision
4.3 Das Internet – ein „weißer Kontinent“
507
507
509
513
5. Schlussbemerkung
516
6. Dankeschön
518
487
Astrid Reinberger
Botswana
1. Zur Person
Ich bin 1970 in Rahden, Ostwestfalen, geboren, habe in Köln Deutsch
und Geschichte mit 1. Staatsexamen studiert und arbeite seit vielen Jahren
als freie Journalistin. Ich habe zunächst für Printmedien geschrieben, dann
zunehmend auch für den Rundfunk und hier am liebsten für den WDRHörspielbereich gearbeitet. Anfang 1998 begann mit der „Sendung mit
der Maus“ der Einstieg ins Fernsehmachen und die Leidenschaft für das
Kinder- und Jugendfernsehen. Seit 2000 bin ich Online-Redakteurin für das
Mädchen-Netzwerk www.lizzynet.de vom Bundesministerium für Bildung
und Forschung (BMBF), das Technikwissen an die Zielgruppe vermittelt.
Weiterhin arbeite ich als Autorin für verschiedene Fernsehmagazine (ARD
Morgenmagazin, wdr Kanzlerbungalow, cosmo tv), für das ZDF sowie die
Deutsche Welle und produziere Werbefilme im non-profit-Bereich.
2. Moderne und Tradition
Botswana – die „Schweiz Afrikas“ – ist auf der einen Seite hochtechnisiert, zukunftsorientiert, demokratisch – auf der anderen Seite leben nach
UN-Angaben von den ca. 1,68 Millionen Einwohnern 50% unterhalb der
Armutsgrenze, hiervon sind vor allem zwei Drittel der Landbevölkerung
betroffen. Mit der traditionellen Viehzucht lässt sich die Familie nicht mehr
ernähren, Förderungen erlangen nur die großen kommerziellen Viehzuchten
der Rinderbarone. Botswana zählt daher immer noch zur UN-Kategorie
„Least Developed Countries“, da seine Wirtschaftsstruktur auf einem
schwankenden Fundament, hauptsächlich dem Diamantensektor, steht und
zu wenig diversifiziert ist. Vor allem Krankheit – Botswana ist das Land
mit einer der höchsten Aids-Raten der Welt - aber auch Unterbeschäftigung,
Arbeitslosigkeit, ein beträchtlicher Druck auf die Reallöhne und die geringe Massenkaufkraft stellen Entwicklungshemmnisse dar. Seit 1995 liegt
Botswana, noch vor Brasilien, an der Spitze der Länder mit der größten
Einkommensschere: Die oberen zwanzig Prozent verdienen vierundzwanzigmal mehr als das untere Fünftel. Dennoch ist Armut in Botswana kaum
sichtbar. Die Gewinne aus der halbstaatlichen Diamantenwirtschaft sind offensichtlich so hoch, dass man Katastrophen abwenden kann - Botswana
schaffte mit fast 7% jährlich die weltweit höchste Wirtschaftswachstumsrate
im Schnitt der letzten 35 Jahre. Botswana hat in den größeren Städten eine
(westliche) Infrastruktur mit Fastfood-Ketten, amerikanischen Modefirmen
und südafrikanischen BigBrother-Fernsehstaffeln. Aber es ist eine Infra-
488
Botswana
Astrid Reinberger
struktur, die nicht wie unsere langsam gewachsen ist, sondern eine, die über
das Land rasant „hereingebrochen“ ist.
Botswana hat also viele Gesichter, zwei davon habe ich genauer betrachtet. Das erste hat mit einem Bereich zu tun, der den meisten von uns vertraut
ist und der die moderne Seite des Landes zeigt: die Verbreitung und der
Gebrauch des Internets. Das andere Gesicht konnte ich mir nur aus einer
„klimatisierten“ Perspektive heraus anschauen, durch den Zerrspiegel meines eigenen kulturellen Hintergrundes. Das Thema: „traditional beliefs“.
Glaubenssysteme ist eine sehr private Angelegenheit und derart in der Kultur
verwurzelt, dass man mit dem westlich geprägten Blick zunächst immer
nur das exotische „Fremde“ wahrnimmt. Traditional beliefs – da formieren
sich in unseren Köpfen fast automatisch Bilder von ekstatischen Tänzen
der „Eingeborenen“, von hutzeligen Medizinmännern, die Knochen werfen
und dazu auffordern, sich zur Reinigung mit am besten mehrfach benutzten
Rasierklingen zu ritzen, um durch die Drainage die innere Reinigung hervorzurufen. Viele der ‚traditional beliefs’ firmieren unseren Vorstellungen
nach eindeutig als „Aberglauben“ – aber distanziert betrachtet können
Außenstehende eine Religion, die auf der unbefleckten Empfängnis und
der symbolischen Verabreichung des Leibes und des Blutes Christi basiert,
ebenso als äußerst abergläubisch betiteln. Religion entzieht sich Fakten.
Das Glaubenssystem der Batswana, wie sich die Einwohner Botswanas nennen, geht von der Beseeltheit der Dinge aus. Die mystische Vorstellungswelt
schlägt sich im täglichen Leben nieder, für den Einzelnen mehr oder weniger, ist aber als allgemeines Phänomen betrachtet bedeutsamer und wirksamer als die christlich-westlichen Glaubensvorstellungen für die meisten
von uns. Eine Windhose ist nicht einfach ein Wetterphänomen, sondern ein
„Tanz der Hexe“ und ein Zeichen für etwas Böses. Ein Bergzipfel ist zu
meiden, er ist nicht nur die geographische Spitze eines Berges, sondern wird
von den Batswanern als Ort eines Geistes gefürchtet; eines Geistes, der als
Schlange mit Frauenoberleib sein Unwesen treibt. Und man kann nicht einfach morgens aufstehen und sich eines Aids-Test unterziehen - dafür bedarf
es eines wie auch immer gearteten Zeichens.
Krankheit und Heilung spielen in diesem System eine besondere Rolle. In
der Vorstellung vieler Batswana steht jedem Menschen, jeder Familie eine
gewisse Portion Glück oder Unglück zu. Hat eine Person von einem „zu
viel“, wird sie misstrauisch beäugt, gilt sogar als „bewitched“, verhext, bzw.
steht selber in dem Ruf, über „witchcraft“ zu verfügen und wird gemieden.
Viele Batswana glauben also, dass jemand „verhext“ sein muss, wenn er
plötzlich krank wird oder eines unnatürlichen Todes stirbt. Entweder hat der
Kranke oder Verstorbene Unrecht begangen und wurde von seinen Ahnen
bestraft, oder böse Mitmenschen haben ihm Geister gesandt, die ihn sei489
Astrid Reinberger
Botswana
ner Gesundheit beraubten. Ansprechpartner für solche Probleme sind in
der Regel traditionelle Heiler, in der Sprache der Batswana „Dingaka“ genannt.
3. „Modimo“ und „Badimo“ – Glaubenssystem in Botswana
Dr. James N. Amanze ist ein Fremder in Botswana. Einer der vielen
„Expats“, der „Expatriates“, Ausländer, die in Botswana leben. Amanze
kommt aus Malawi und lehrt und forscht für das Department of Theology
and Religious Studies an der University of Botswana. Will man etwas über
die neuere wissenschaftliche Erforschung von traditional beliefs in Botswana
erfahren, kommt man an ihm nicht vorbei. Sein Buch „Botswana Handbook
of Churches“ von 1994 ist eine einzigartige Sammlung aller Informationen
über Kirchen und Kirchenabsplitterungen, die in Botswana praktizieren: Es
sind über 215, die er aufführt, nach seiner eigenen Schätzung dürften es
mittlerweile über 500 sein. Ein Fremder zu sein, erzählt er mir während
meines Interviews in der Uni, sei auch gerade für sein letztes Buch „African
Traditional Religions and Culture in Botswana“ eine ziemliche Barriere gewesen: Es sei sehr schwer gewesen, überhaupt jemanden zu einem Interview
zu bewegen und zum „Reden“ zu bringen. Die Batswana seien eben äußerst
misstrauisch, und Fremden gegenüber sowieso.
Christen bilden in Botswana nach Amanzes Schätzung mit einem Anteil
von 40 – 45 % der Bevölkerung noch eine Minderheit, wenn auch eine
sehr große. Das ist erstaunlich wenig, bedenkt man, wie viele Kirchen es
in Botswana gibt und welchen durchschlagenden Erfolg die kirchlichen
Missionare Anfang des letzten Jahrhunderts im südlichen Afrika hatten.
Allerdings: Es genügen 10 Mitglieder, um nach dem Botswana Society Act
von 1972 eine Genehmigung zur Gründung einer „Gemeinde“ zu bekommen. Die meisten dieser Kirchen sind African Independent Churches, d.h.
sie haben sich von den großen Kirchen abgespalten und kombinieren christliche und traditionelle Anteile. Die African Independent Churches sind die am
schnellsten wachsenden Religionsgemeinschaften der Welt. Amanze meint,
dass viele dieser Kirchen auf dem Glauben an traditional healing basieren
oder ihnen zumindest der Gedanke des Heilens von körperlichen oder seelischen Wunden innewohnt. Der Glaube an traditionelle Heilvorstellungen
ist allgegenwärtig und ein Grundpfeiler der Kultur. Er basiert zum einen auf
der Rolle der ancestors, den Vorfahren, auf Setswana „Badimo“ genannt.
In der Religion des Tswana-Volkstammes, der die Mehrheit der Batswana
ausmacht, gilt der Tod nicht als endgültig. Der Tote lebt in einem anderen
Zustand der Existenz weiter und kann mit den Lebenden in Kontakt tre490
Botswana
Astrid Reinberger
ten. Die Badimo sind unberechenbar und es ist schwer, es ihnen recht zu
machen. Zum anderen gibt es „Modimo“, die Gotteinheit, die man durch
Rituale besänftigen bzw. beeinflussen kann. Diese Gotteinheit existierte
schon lange bevor das Christentum oder der Islam nach Botswana kamen.
Modimo ist die Ursache alles Guten und alles Bösen und äußert sich in allen
Erscheinungsformen der Natur. Er ist den Dingen immanent, ein Glaube, der
sich zum Beispiel auch in der Namensgebung von Kindern widerspiegelt: es
gibt Namen wie „Goitseona“, was so viel heißt wie „Modimo weiß es“ oder
„Samodimo“: „gehört zu Gott“ oder „Ompiditse“: „Er hat mich gerufen“.
Die Namensgebung der Batswana ist ohnehin sehr aussagekräftig und beschreibt häufig ein starkes Gefühl oder sogar einen präsenten Zufall, mit dem
die Eltern das Kind assoziieren: so gibt es Namen wie „Spoon“, Esslöffel,
oder „Nobody“ oder „Offentse“. In jedem Namen steckt eine Bedeutung,
etwas, was man dem Kind auf dem Weg geben will – auch wenn es sich, wie
bei „Spoon“, nicht auf den ersten Blick erschließt oder wie bei „Ompiditse“
verheißen soll, dass das Kind sein Leben Gott widmen soll oder von ihm
auserwählt ist. Modimo ist – auch wenn er nach 150 Jahren Christianisierung
in der Vorstellungswelt vieler Batswana eins geworden ist mit dem Gott der
Christen – immer noch ein Gott, den man durch Zeremonien und Opfergaben
(wie „Kabelo“ = Geschenke oder „Setlhabelo“ = Opfer) beeinflussen kann.
Man tritt zu ihm in Kontakt durch Singen, Händeklatschen, Tanzen, „spirit
possession“, Anflehen der Vorfahren als „Mittler“ zu Gott oder viele andere
Rituale. Er ist der Ansprechpartner für Nöte jeder Art, er ist das übergeordnete Ganze, während die Ahnen konkreter für die individuellen Krisen oder
Krankheiten verantwortlich sind. Modimo ist real und es ist ungeheuer wichtig, bestimmte Regeln zu beachten. Die Allgegenwärtigkeit offenbart sich
schon darin, dass man in einer Warteschlange mit jemanden ins Gespräch
kommt, belanglos über das Wetter plaudert und gesagt bekommt: „Wir müssen zu Gott beten, aber mit geschlossenen Augen, nicht mit offenen, wie das
manche machen, dann wird die Hitze vergehen und der Regen wird kommen.
Durch Gott ist alles möglich, man muss nur fest genug glauben.“ Den festen Glauben kann man durch Läuterung beweisen, sie besteht nicht nur aus
„high impact“ -Gottesdienst, sondern auch aus Körperreinigung – Bluten,
Übergeben, Ausräuchern des Bösen wie der Krankheit. Als Mittler zu Gott
fungieren neben den Vorfahren, die folgerichtig einen „direkteren“ Draht zu
Modimo haben, auch menschliche Zwischenhändler, eben die „Dingaka“,
die traditionellen Heiler mit ihren jeweiligen Schwerpunktfähigkeiten – ob
Wahrsagen, Regenmachen oder etwa „nur“ Heilen.
Die „Dingaka“ wurden von den Missionaren als böse Hexer bezeichnet,
ihre Methoden als abergläubischer Humbug abgetan und bekämpft, ungeachtet der wichtigen Funktion, die die Heiler damals wie heute im sozia491
Astrid Reinberger
Botswana
len Umfeld der Batswana spielen. Diese Abqualifizierung trägt bis heute
Spuren. Fragt man etwa als Europäer einen Einheimischen, den man im
Singular Motswana nennt, ob er einen traditional healer aufsucht, wird dieser in der Regel verneinen. Aber ganz offenkundig haben die dingaka nach
wie vor Zulauf, Amanze spricht davon, dass jede Tswana Community mindestens einen Heiler hat. Aus diesem Umstand lässt sich erklären, warum
viele Kirchen traditional healing und Gottesdienst miteinander kombinieren
– es ist eine Möglichkeit, aus der (Geltungs-) Not eine Tugend zu machen:
als christlich und somit westlich zu gelten und gleichzeitig der eigenen
Tradition treu zu bleiben.
3.1 „My head is refusing to think“ – Überlebensstrategien im Alltag
„Meine Beine weigern sich zu gehen“, „Mein Kopf will nicht denken“
– solche Argumentationen bekommt Jes Petersen, der seit 20 Jahren in
Botswana lebt, sehr häufig von seinen Angestellten zu hören. Für sie bedeutet es, dass die ancestors oder modimo etwas nicht wollen und dies zeigen,
indem sie Beine schwer werden lassen. Das lässt sich nicht einfach abtun,
sondern muss ernst genommen werden, sonst gibt es Streit, sagt Petersen.
Petersen hat in Botswana schon viel gemacht: Lehrer ausgebildet, an
Schul-Rahmenplänen geschrieben, als psychologischer Berater gearbeitet.
Seit zwei Jahren unterstützt er seine Ehefrau Kelone bei der Organisation
und Durchführung von Kultur-Touren und Safaris in ihr Heimatgebiet, die
Kalahari, das trockene Buschland, das es dem ehemaligen Wattführer aus
Deutschland ganz besonders angetan hat. Er lebt mit Kelone, die hauptberuflich Uni-Dozentin ist, und seinen Kindern in Molepolele. Die Geschichte
und die Kultur der Batswana interessieren Petersen sehr und es gibt wohl
kaum einen Deutschen, der so tief in die Kultur des Landes eingetaucht
ist. Er erzählt von den sozialen Strukturen des Landes und davon, wie sehr
Traditionen gerade im ländlichen Botswana noch eine Rolle spielen. Zum
Beispiel habe auch er im letzten Jahr, nach fast 20 Ehejahren, acht Rinder an
die Familie seiner Frau gezahlt. Die Zahlung des Brautpreises, in Setswana
„Bogadi“ genannt, ist auch heute noch üblich, je nach „Wert“ der Frau beträgt er mindestens sechs Rinder, die etwa 1.000 Pula (200 Euro) das Stück
kosten. Die Prozedur der Zahlung von Bogadi wird sehr ernst genommen,
die Verteilung der Rinder an bestimmte Personen sowie der Zeitpunkt der
Zahlung erfolgt nach strengen Regeln. Oft führt „Bogadi“ zu Konflikten
innerhalb und zwischen den Familien, da die Auslegung kulturellen Bedingungen unterliegt und von Stamm zu Stamm unterschiedlich sein kann.
Generell wird der Brautpreis als Absicherung der Frau gesehen, die bei einer
492
Botswana
Astrid Reinberger
Trennung vom Ehemann oder bei dessen Tod durch die Zahlung von Bogadi
einen Anspruch auf Unterstützung durch ihre Ursprungsfamilie erworben
hat. Die traditionelle Kgotla, die Dorfversammlung, dessen Oberhaupt der
Kgosi ist (übrigens gibt es mittlerweile auch weibliche Kgosi), gilt als Ort
praktischer Konfliktlösung. Petersen sieht in der Existenz der Kgotla den
Grund dafür, dass die Batswana als ein so friedliebendes Volk gelten, das
in der Vergangenheit Grenzkonflikte immer durch Verhandlungen löste und
auch während der Apartheid trotz der Nähe und Abhängigkeit zu Südafrika
immer neutral blieb.
Auch der traditional healer habe, so Petersen, eine im Prinzip positive Funktion: Nicht nur da die meisten über fundierte Kenntnisse von
Heilpflanzen und -verfahren verfügen, sondern auch da sie tieferen Einblick
in Familien- und Dorfstrukturen haben und somit effektive Familien-Konfliktlösungsstrategien entwickeln können. Allerdings, so fügt er hinzu, zeigt
die Erfahrung, dass es einigen von ihnen an Kenntnissen, Erfahrungen
und an Professionalität mangelt, was zunehmend zu Fehlbehandlungen
führt und zur interfamiliären Konfliktverstärkung und sogar -erzeugung.
Manchmal führe dies sogar zur Spaltung einer Familie. Dies sei dann nur
im Einzelfall notwendig und regulativ, etwa, weil eine Großfamilie zu sehr
anwachse und sich dringend, um als Verbund lebensfähig zu bleiben, teilen
müsse. Zumindest in der „ersten Instanz“, so Petersen, sei die botswanische
Religion auf jeden Fall sehr menschenfreundlich und helfe, das Überleben
im Alltag zu gewährleisten.
Es gibt auch eine Interpretation dessen, was wir Aberglauben nennen,
weil wir es so schwer verstehen können, als eine Regulation der Differenz
an Wohlstand und Glück. Niemand soll zuviel von einem haben und wenn,
dann soll er etwas davon abgeben und teilen, eine Art „afrikanischer Hyperhumanismus“ (David Signer), der allerdings zum Teil auf einer Neidkultur
basiert. Signer formuliert die Unterschiede in einem Artikel in der Schweizer
Weltwoche wie folgt, er zitiert das Gespräch mit einem jungen Afrikaner:
„Weißt du, warum es in Afrika keine Hochhäuser gibt? Ich verneinte. Er erklärte mir, dass in Europa, wenn jemand ein zweistöckiges Haus baue, sein
Nachbar ein Dreistöckiges hinstelle und dessen Nachbar ein Vierstöckiges.
Das sei fruchtbarer Neid. In Afrika hingegen sage sich der Nachbar: ‚Bilde
dir bloß nichts ein. Du wirst nicht alt werden in deinem Haus.“ Wer zu viel
hat und nichts abgibt – der wird bestraft.
493
Astrid Reinberger
Botswana
3.2 Das Tabu – Ritualmorde und ein Gespräch mit Unity Dow
Abends nicht fegen, weil der Staub die Ahnen stören könnte, nirgendwo Haare liegen lassen, weil jemand, der einem böse gesonnen ist, es für
Witchcraft-Zwecke nutzen könnte, den „Thokolosi“, einen arbeitswütigen
Zaubergeist, nicht ins Haus lassen, weil er Frauen schwängert – all das sind
harmlose Verhaltensregeln oder Vorstellungen, belanglos gegen das, was
durch die deutschen Medien in regelmäßigen Abständen als Beispiel für
das wilde, unzivilisierte Afrika kolportiert wird. Dies ist auch der Grund,
warum es hier angesprochen werden soll. Es geht um Ritualmorde. Die
meisten Leute, die ich danach frage, winken ab, und sagen, dass dies überall vielleicht geschieht, aber nicht in Botswana. Und doch erzählt mir z.B.
Jes Petersen von einem Vorfall in einem kleinen Dorf bei Gaborone. Vor
ein paar Jahren erweiterte ein Geschäftsmann seinen Laden. Er hatte sehr
viel Erfolg. Zufällig verschwand in dieser Zeit ein Kind, und alle glaubten
sofort, der Geschäftsmann habe sich sein Glück durch einen Ritualmord
erkauft. Der Verdächtige kam in Untersuchungshaft – bis man die Leiche
des Jungen fand und sich herausstellte, dass er nicht – wie bei solchen Taten
üblich - verstümmelt und seiner Geschlechtsteile beraubt war, sondern beim
Viehhüten einen epileptischen Anfall bekommen hatte und an Erbrochenem
erstickt war. Spätestens seit einem Vorfall 1994 in Moschudi, bei dem
die einflussreichen Beschuldigten eines Ritualmordes an einem kleinen
Mädchen zunächst freigesprochen wurden und bei dessen Verlauf es sogar
zu Ausschreitungen kam, ist die botswanische Öffentlichkeit für das Thema
sensibilisiert. Ritualmorde kommen also vor, aber nicht in der Häufigkeit,
die durch unsere Medienberichterstattung suggeriert wird und sie sind schon
gar nicht gesellschaftlich akzeptiert. Gegenüber Weißen schweigt man jedoch über das Thema. Die Richterin und Autorin Unity Dow engagiert sich
dagegen seit langem dafür, dass über diese Tabuthemen gesprochen wird.
Selbst auf die Gefahr hin, dass manche Klischees bestätigt werden. Sie will,
dass sich die Öffentlichkeit mit dem Thema auseinander setzt, dass man
sich zu Teilen seiner Kultur bekennt, andere überwindet. Mit dieser Haltung
ist sie auf relativ einsamem Posten. Unbedingt möchte ich daher mit ihr
reden – und in der letzten Woche meines Aufenthaltes klappt es schließlich.
Dow ist Richterin am Nationalen Gerichtshof, dem wichtigsten Gericht des
Landes, und zudem die erste Frau, die jemals so ein Amt bekommen hat. Sie
schreibt gerade an ihrem fünften Buch und engagiert sich für Human RightsProjekte. Dow war Gründungsmitglied des „Women and Law in Southern
Africa Research Project“ und hat einige Gesetze zur Gleichberechtigung
von Männern und Frauen durchgesetzt. Die Themen, auf die sie aufmerksam machen will, packt sie gerne zwischen zwei Buchdeckel – auch in
494
Botswana
Astrid Reinberger
Krimiform. Hauptsache, sie erreicht ihre LeserInnen. Ihr letztes Buch ist im
Dezember 2003 auch auf Deutsch erschienen, es heißt „Die Beichte“.
„Was war der Anlass für dich, „Die Beichte“ zu schreiben?“
Dow: „Es geht ja in dem Buch um einen Ritualmord, um einen Mord, der
von dem Glauben motiviert ist, dass man Teile des menschlichen Körpers
in einer rituellen Handlung benutzen kann, um das eigene Leben zu verbessern. Zum Beispiel könnte diesem Glauben nach ein Politiker dadurch mehr
Stimmen bekommen, ein Direktor eine Gehaltserhöhung, ein Angestellter
eine Beförderung… Ich glaube daran nicht, aber viele Menschen in Botswana
tun es. Wobei der Glaube, dass so etwas wirken kann, natürlich nicht heißt,
dass alle Ritualmorde praktizieren. Auf keinen Fall! Die große Mehrheit
verurteilt das absolut! Der Glaube daran, dass man mit einem Bulldozer in
die Wand einer Bank fahren und das ganze Geld rauben kann, bedeutet ja
noch lange nicht, dass man das tut oder etwa diese Art, sich Reichtum zu
verschaffen, gutheißt. Das sind vollkommen unterschiedliche Dinge: etwas
glauben und etwas praktizieren.“
„Aber niemand redet öffentlich darüber, darüber, dass er oder sie an
die Kraft von Ritualmorden glaubt oder dass es solche Ritualmorde gibt,
oder?“
„Also, die Leute erzählen schon, wovon sie gehört haben, aber sie erzählen natürlich nicht, woran sie selber glauben oder ob sie etwa selber
zu einem traditional healer gehen. Ich bin sehr engagiert, was Kinder und
Kinderrechte anbelangt und möchte Kinder gerne schützen – daher konnte
ich es nicht fassen, dass niemand das Thema Ritualmord offen auf den Tisch
bringt. Es gibt einige dokumentierte Fälle von Ritualmorden aus den letzten
paar Jahren und wie hoch die Dunkelziffer ist - wir wissen es nicht. Gerade
heute war wieder ein Artikel in der Zeitung, dass 3 Männer einen Jungen
umgebracht haben sollen und man vermutet einen Ritualmord.“
„Passt das nicht – leider – geradezu perfekt in das Klischee vom ‚wilden
bösen Afrika‘?“
Dow: „Hm, was ist denn z.B. mit den Kindermorden in Belgien – das
heißt ja noch lange nicht, dass alle Belgier schlechte Menschen sind, oder?
Das ist wirklich das Besondere an Afrika – wir werden immer beobachtet,
kontrolliert, bewertet. Wir stehen immer mit dem Rücken an der Wand, wir
können uns nicht mal mehr selbst beurteilen, weil wir so viel Angst haben, dass andere uns nicht richtig finden. Das richtige Maß an Vertrauen,
Unabhängigkeit fehlt. Man sollte immer so viel Mut haben, zu sagen: ‚verurteile mich nicht, was ist dein Problem?‘...
495
Astrid Reinberger
Botswana
Diese Ritualmorde, ja, sie passieren, und für Menschen aus der westlichen Zivilisation sind sie exotisch, bizarr, seltsam – aber seltsame und
bizarre Dinge passieren überall auf der Welt. Es ist nicht die Kultur der
Belgier Kinder zu vergewaltigen und zu töten – und das würde auch niemand behaupten. Beim Stichwort „Afrika“ heißt es, solche Dinge gehörten
zu unserer „Religion“ – und das ist ein Erklärungskonzept, das ja schon
das Rückwärtsgerichtetsein mit einbezieht, so nach dem Motto „sie können
nicht anders“. Natürlich geht es anders. Auch in Belgien und anderswo.“
„Was erhoffst du dir durch das Schreiben von Büchern?“
Dow: „Ich schreibe nicht, um Leute zu unterhalten. Wenn ich es tue, ist
es natürlich gut. Ich schreibe – das gilt für alle meine Bücher – um auf
bestimmte Dinge aufmerksam zu machen, um dem Leser etwas zu erzählen – und manchmal muss man den Leser eben auch schocken. Wenn sich
die Leute über meine Bücher aufregen, weil ich Dinge aussprechen lasse,
die sonst keiner sagt – ist das nicht mein Problem. Ich schreibe nicht, um
Probleme zu verursachen, sondern um zu lösen. Ich will, dass die Leute
anfangen zu denken.“
„Und wie siehst du die Verantwortlichkeit der healer als Richterin?“
Dow: „Das Problem ist nicht das Gesetz, es würde nichts nützen, die
Gesetze zu verschärfen. In diesen Fällen spielt es keine Rolle, ob man ein
Heiler ist oder nicht – wenn man an einem Mord beteiligt ist oder jemanden zum Mord auffordert, wird man bestraft. Sicher ist es schwierig, die
Beteiligung im Einzelfall nachzuweisen. Bei den tatsächlichen Mördern
kann man Spuren überprüfen, Zeugen befragen – aber es ist schwierig, an
Beweise zu kommen, dass ein Heiler sie angestiftet hat.“
„Aber wenn man als Mörder die Schuld von sich weisen will?“
Dow: „Es gab einen Fall vor ein paar Monaten, da ist ein Mann überführt
worden, dass er einen Menschen vergiftet hat. Der Mörder sagte, er hätte das
Gift von einem Heiler bekommen. Der Heiler aber sagt, dass das Medizin
war und er gedacht habe, es sei für den Klienten selbst. Er könne auch nichts
dafür, wenn jemand mit der dreifachen Dosis jemanden umbringt. Dieser
Heiler ist freigekommen. Aber es gibt einige andere, die im Gefängnis sitzen.“
„Was denkst du denn generell über traditional healer?“
Dow: „Hm, es gibt sehr viele gute Kräuterspezialisten unter ihnen, die
sich mit Wurzeln und ihren Heilungsmethoden sehr gut auskennen. Und es
gibt einige sehr gute Psychologen unter ihnen. Generell habe ich allerdings
496
Botswana
Astrid Reinberger
ein Problem mit einem Glaubenssystem, das andere verantwortlich macht
für die eigene Krankheit oder das eigene Unglück. Wenn du so viel Alkohol
trinkst, bis du krank wirst, kannst du dafür nicht jemand anderen verantwortlich machen. Wenn du Aids bekommst, hat dich nicht jemand anders
verhext. Du musst selber dein Leben in die Hand nehmen.“
„Wie passen die traditional healer in das ‚moderne‘ Botswana?“
Dow: „Ich glaube nicht, dass sie die Moderne verhindern. Verzögert
Religion die Moderne? Wenn man glaubt, dass Jesus vom Grab auferstanden ist – hindert das jemanden, modern zu sein? Ich denke nicht. Traditional
beliefs sind nicht anders als irgendein anderer Glaube. Es ist einfach ein
grundlegender Glaube, wie alles zusammenpasst. Außerdem ist es ja nicht
so, dass, wer an Traditionelles glaubt, nicht das Internet benutzen könnte.
Die Modernisierung ist nicht aufzuhalten, Leute wollen immer Veränderung.
Meistens spricht man über die Globalisierung im Ganzen, aber wenn man
ein Individuum in einem kleinen Dorf betrachtet – natürlich will der Mensch
immer ein bisschen mehr, natürlich möchte man Strom, Mobiltelefone und
besseres Essen. Es ist einfach, dort einmal hinzufahren und den wunderschönen Sternenhimmel zu bewundern. Aber wenn man dort lebt, will man
mehr – und das bedeutet Veränderung. Ich glaube, dass traditional beliefs
und Modernität sich überhaupt nicht ausschließen, das existiert einfach nebeneinander.“
3.3 Lucky crème – ein Besuch beim Heiler
Der Geruch ist nicht ungewöhnlich, es riecht nach Vaseline. Der traditional healer, ein alter Mann mit runzeligem Gesicht, schaut sehr ernst,
spricht einige Sätze auf Setswana und streicht mir mit zwei Fingern die
„Lucky Creme“ auf die Stirn. Damit soll ich – oder wer immer sie bekommt
– den ganzen Tag gute Laune haben. Und alle sollen freundlich auf mich
reagieren. Die Lucky crème besteht aus verschiedenen Wurzeln: der healer
nennt sie Phakwe, Mahtealolwe und Malaladigangwa und zeigt mir dazu
eine Packung roter – Vaseline. Also doch. Ich bin beeindruckt, zumindest
von der Zeremonie und auch gut gelaunt. Das Arbeitszimmer von Tshinki
Molebatsi, dem healer, ist ein Wohnzimmer mit einem Fernseher, einer alten
HiFi-Anlage und einem sehr kaputten Sofa. An der Wand hängen Jesus- und
Marienbilder. Seine Arbeitsutensilien hat Molebatsi alle in einem großen
Sack. Zunächst holt er eine Plastiktüte der Supermarktkette „Payless“ raus,
in ihr sind die Knochen, die er auf den Boden wirft. Er zeigt hin und her
und blickt so, als erkläre sich alles von selbst. Ratlos blicke ich zu dem
497
Astrid Reinberger
Botswana
Studenten, der mich begleitet hat, um für mich von Setsuana, der Sprache
der Batswana, ins Englische zu übersetzen. Er zuckt die Schultern und murmelt „jedes steht für etwas anderes“. Er nennt lange Namen für Knochen
und erklärt Bedeutungszusammenhänge, die jedoch immer anders sind, je
nach Person und Wurfausrichtung. Es gibt einen verzierten Knochen, der auf
die Familie verweist, interessanterweise besteht dieser aus Rinderknochen,
dem liebsten Tier der Batswana. Wenn er bei einer Person in eine bestimmte Richtung zeigt und auch die anderen Knochen eine bestimmte Position
haben, kann das etwa bedeuten, dass ein Mann sich von seiner Frau trennen
will. Die Frau wird nach Hause gehen und der Mann verschwindet.
Molebatsi fertigt auch Medizin für viele spezifische Probleme. Er führt
eine, die er „Mokaikai“ nennt. Sie hilft bei Problemen mit der Polizei. Wenn
diese dich sucht, musst du mit dem Zauber der Mokaikai dort stehen bleiben, wo du dich gerade befindest und die Polizei wird dich nicht finden. Die
Übergänge zwischen Medizin, Symbolträchtigkeit und Wunschdenken sind
fließend.
Molebatsi erzählt, dass jede Woche etwa vier bis zehn Leute zu ihm nach
Gabane, einem kleinen Dorf in der Nähe Gaborones, kommen, um sich beraten zu lassen, die Knochen werfen zu lassen oder sich Medizin abzuholen.
Für eine Konsultation nimmt er von 50 Pula bis 700 Pula (von 10 Euro
bis 140 Euro), am teuersten sind Beerdigungsbegleitungen, die in Botswana
sehr ritualisiert und aufwändig sind.
Auf die Frage, wie er seine Berufung gefunden hat, bekomme ich nicht
wirklich eine Antwort. Schon sein Vater sei ein healer gewesen und von
ihm hätte er alles gelernt, er arbeite sei 1969. Ob er auch Patienten mit Aids
kuriere? Ein böser Blick, sogar der Student guckt grimmig – und es folgt
eine lange Tirade, nein, er schicke alle ins Princess Marina Hospital nach
Gaborone, in die Hauptstadt. Er helfe nur bei den Dingen, bei denen er
Macht habe. Mein Besuch ist beendet.
3. 4 Healer associations – „modernisation can come“
Ein paar Tage später treffe ich Peter Mbenge im Cafe Wave, einem relativ
neuen Cafe in der Main Mall Gaborones. Relativ neu heißt: es ist tatsächlich
erst ein paar Wochen alt. Alle Cafes und Bars in Botswana sind „relativ“
neu, denn die shopping center und malls und mit ihnen die Etablissements,
die wie Pilze aus dem Boden schießen, sind nicht älter als 3-4 Jahre. Sie fungieren als Treffpunkte und sind ein Symbol des „western way of life“, dem
die wohlhabenderen oder jüngeren Batswana gerne folgen. Sogar, wenn sie
Kaffee trinken müssen, was ganz sicher keiner botswanischen Tradition ent498
Botswana
Astrid Reinberger
spricht. Peter Mbenge trinkt zum ersten Mal in seinem Leben Cappuccino.
Sagt er. Mbenge ist Vorsitzender der Botswana Dingaka Association, einer
der acht Vereinigungen, zu der sich traditional healer zusammengeschlossen
haben. Mbenge wurde im Mai 2003 zum Chairman dieser Vereinigungen
gewählt. Seine Aufgabe ist es, mit dem Gesundheitsministerium zu verhandeln und die Interessen der healer zu vertreten. Die neuen Pläne des
Gesundheitsministeriums, das Arbeitsfeld der traditional healer zu regulieren, findet er richtig. Es sei höchste Zeit. Und gefährlich, wenn man es nicht
tue, denn momentan könne jeder sich healer nennen. Ein Patient habe dann
endlich die Handhabe, etwas gegen unsachgemäße Behandlung zu tun.
Von solchen „unsachgemäßen Behandlungen“ kann man jeden Tag in den
Zeitungen lesen. Mit Schlagzeilen wie dieser aus der Tageszeitung Mmegi:
„A diabetic father of four, who lost faith in Western medicine, has lost his
leg after being treated by a traditional doctor.“
Der Patient sollte seine Beine über einen Trog mit glühenden Steinen legen. Diese Methode, „Sefutho“ genannt, soll eine Krankheit ausräuchern.
Der Mann verbrannte sich jedoch an einem Bein so stark, dass – als er nach
einiger Zeit doch in die Klinik gebracht wurde – sein Bein amputiert werden
musste. Wie Peter Mbenge tritt auch der Präsident der Dingaka tsa Setso
Association, Lesegolame Semathu, energisch gegen solche „healer“ auf
und fordert strengere Gesetze, die den Heiler – aber auch den mündigen
Patienten – mehr in die Pflicht nehmen. Dass viele der Heiler sich stark
machen für eine gesetzliche Regelung verweist auf den Leidensdruck, der
die healer verstärkt in den Dunstkreis von Scharlatanerie gebracht hat. Wo
die Not wächst, wo sich jeden Tag schätzungsweise 85 Menschen mit HIV
infizieren (Quelle: UNDP-Bericht 2002), ist auch viel Bedarf an Hilfe – das
machen sich Geschäftemacher zu Nutze, die den Ruf der tradtional healer nachhaltig schädigen, etwa, weil sie behaupten, Aids heilen zu können,
Schwangerschaftsabbrüche vornehmen oder gefährliche Praktiken durchführen wie etwa die Reinigung durch Ritzen mit Rasierklingen. Mbenge
schätzt, dass der Anteil dieser Scharlatane etwa 25 % ausmachen könnte.
Wie viele Heiler es denn insgesamt gäbe, will ich wissen – aber auch da kann
Mbenge nur schätzen: „Es gibt meiner Meinung nach etwa 12.000 traditional healer.“ Die Zahl, die African Comprehensive HIV/AIDS Partnerships
(ACHAP) ermittelt hat, liegt bei etwa 3.000 bei 1,6 Millionen Einwohnern.
ACHAP versucht, die Heiler bei der Aids-Aufklärung stärker mit einzubeziehen. Mbenge meint, dass „Schulkinder“ die Daten gesammelt hätten und
dass viele healer eben überhaupt nicht zu erkennen seien. Sie sind nur durch
Mundpropaganda bekannt oder haben sich so sehr spezialisiert, etwa nur auf
die Heilung von Zähnen oder sie seien, so Mbenge, wie manche healers of
songs nur an einem einzelnen Tag berufen. Die meisten Heiler sind Männer
499
Astrid Reinberger
Botswana
– aber es gebe auch viele weise Frauen unter den Heilern. Mbenge selber
ist ein „spirit medium“, also einer der „dingaka tsa dinaka“, ein spirituelles
Medium. Er beziehe seine Kraft aus dem Ozean. „Aus dem Ozean?!“ – wie
das denn gehen könne, im Binnenland Botswana? Er lacht und sagt: „Ja,
vom Ozean.“ Er erzählt, dass er, bevor er Heiler wurde, in Holland und in
New York war. Es sei ihm vor allem in New York nicht gut gegangen, er habe
ständig ein Geräusch im Ohr gehabt. Die Menschen dort fand er krank und
viel zu hektisch, sie hatten eine schlechte Ausstrahlung auf ihn gehabt. Der
Ozean habe ihn wieder zurückgebracht und sicherlich werde er einmal in den
Ozean entschwinden. Niemand dürfe dann eine Träne weinen, weil er sonst
für immer fort sei. Auf jede (Glaubens-) Frage eine Glaubensantwort. Peter
Mbenge sagt, er sehe die Beseeltheit der Natur sowie die Zusammenhänge
der Konstellationen zwischen Menschen und wiederum zu den Ahnen. Er
weist auf die spirituellen Kräfte der Berge hin, wie sie z.B. der „Lovers
Rock“ bei Otse im Südenwesten Botswanas besitzt. Dort verschwinden immer wieder Verliebte, deren Liebe nicht akzeptiert wird. Ich frage ihn, wie er
bei so viel metaphysischer Kraft von außen die Eigenverantwortlichkeit des
Individuums sehe. Der Patient müsse sich natürlich auch richtig verhalten,
nur Medizin nehmen allein reiche nicht. Und er schaue sich nicht nur die
offensichtliche Wunde eines Menschen an, sondern blicke in den Menschen
hinein. Auf meine Bitte einen Fall zu beschreiben, erzählt er mir von einer
Mutter, deren Sohn zum Studium nach England gegangen ist und der auf
der Suche nach der richtigen Religion zu einer Sekte gelangt sei und sich
überhaupt nicht mehr bei seiner Mutter gemeldet habe, sie sogar verleugnet
habe. Sie kam verzweifelt zu Mbenge. Er ließ sich ein Foto vom Sohn bringen und beschwor einen Zauber, der sowohl der Mutter wie auch dem Sohn
in dieser Angelegenheit helfen sollte. Es habe funktioniert.
Die Preise für eine Behandlung sind unterschiedlich, wenn jemand Hilfe
brauche, um einen Job zu finden, nehme er zunächst 250 Pula (50 Euro) und
wenn derjenige einen Job gefunden habe, noch mal 250 Pula. Ein Kind muss
nur 100 Pula bezahlen, manche Patienten mit wenig finanziellem Rückhalt
gar nichts – aber wenn sie zu Geld kommen, ist es wichtig, dass sie zu ihm
zurückkehren und ihm danken. Wer möchte, dass sein Auto vor Gefahren
geschützt wird, muss 700 Pula (140 Euro) zahlen, ein Schutz des Hauses
kostet 1.500 Pula (300 Euro). Die Art und Weise der Behandlung kann ganz
unterschiedlich sein: Wenn jemand sein Geschäft beleben möchte, kann der
traditional healer für ca. 980 Pula an belebte Plätze – wie Bushaltestellen,
Krankenhäuser – gehen und Fußabdrücke sammeln, der healer mixt die
Fußabdrücke mit Sand und Kräutern und weiht so den Laden. Eine Bar kann
man attraktiver machen, indem man sie mit dem Talg oder dem Schwanz
einer läufigen Hündin ausstattet. Die physikalische Medizin, mit der sich
500
Botswana
Astrid Reinberger
die meisten healer bestens auskennen, besteht aus Pflanzen, Kräutern, verschiedenen Pudern, den Knochen von Tieren, Saatgut, Wurzeln, Säften, diversen anderen Flüssigkeiten oder Blättern, Mineralien, Kohle, Asche. Es
gibt zudem zahlreiche Behandlungsmethoden, die dingaka therapieren mit
Medizin oder Gesprächen ebenso wie mit Massagen, dem Gebrauch von
Nadeln oder Dornen oder eben mit diversen Ritualen.
Früher sei es nicht wichtig gewesen, sagt Mbenge, Geld für die Behandlung
zu nehmen, weil alles im Ort geblieben wäre und die Dorfbewohner sich auf
ihre Weise bedankt hätten – mit Hühnern, Ziegen und was auch immer. Die
Zeiten hätten sich aber geändert, seine Medizin müsse er oft aus Francistown
oder anderen weit entlegenen Orten holen und viel mehr Aufwand betreiben.
„Und wie wird man ein spirituelles Medium?“ hake ich nach. „Um ein
spirituelles Medium zu werden, kann man 3 Monate oder bis zu 5 Jahren an
Training brauchen. Seine Weisheit kommt in der Regel durch ein anderes
spirituelles Medium und ein spirituelles Medium weiß immer, wer derjenige
ist, der zu ihm kommt. Du kannst nichts vor ihm verheimlichen. Er weiß,
ob du aus einem Haus mit einer roten Tür oder einer blauen Tür kommst,
er weiß es. Ein spirit medium kann einen Patienten sehen, bevor dieser auftaucht und kann die Medizin für ihn vorbereiten. Jedes spirit medium muss
lernen, wie man die Knochen werfen muss, aber ein spirit medium lernt sehr
schnell. Wenn sie es am Abend noch nicht können, dann erscheint ihnen
nachts der ganze Knochen und ihr Bedeutungszusammenhang – und dann
wissen sie, wie es geht. Außerdem musste ich sehr viel tanzen und in den
Busch gehen, um die einzelnen Heilkräuter zu lernen.“ Mbenge erläutert die
genaueren Unterschiede zwischen den verschiedenen Heilern sowie den spirituellen Mittlern. Seine Klassifizierung findet sich auch in einem Bericht
über „Traditional Health Practitioners“ wieder, den das Gesundheitsamt in
Auftrag gegeben hat: es gibt die „bone throwers, spiritual healers, Sangomas,
ancestral healers, herbalists, traditional birth attendants, blood suckers, eye
cleansers, water diviner, therapist, bone mender (Thobega) und die healers of song.“ Das Gesundheitsamt hat mit Hilfe von ACHAP 2003 zwei
Workshops zu dem Thema veranstaltet, um mit den Heilern zusammen ein
Gesetzespaket zu erarbeiten, das sie zum einen in die Pflicht nimmt und zum
anderen schützt. Peter Mbenge ereifert sich wieder: „neben denen, die nur
tun, als seien sie healer und nur Schaden verursachen, gibt es noch ein anderes großes Problem – das geistige Eigentum der Heiler ist bisher nicht geschützt. Große Firmen aus Europa kommen und lassen sich unsere Medizin
patentieren.“ Als Beispiel nennt er „Devils Craw“, das vor kurzem eine
deutsche Firma patentiert habe. Diese „Teufelskralle“, die ihren Namen von
ihren scharfen Widerhaken hat, soll Arthritis und Schmerzen bekämpfen.
501
Astrid Reinberger
Botswana
Ein anderes Beispiel ging vor einiger Zeit auch durch die Medien: Hoodia
ist eine Stammsukkulente, die appetithemmende Stoffe enthält. Sie wächst
in den Halbwüsten Südafrikas und wird seit Jahrhunderten von Heilern der
Khoisan als Appetitzügler und gegen Husten und Erkältungskrankheiten
eingesetzt. Die Konzerne Phytopharm und Pfizer hatten Hoodia-Wirkstoffe
patentieren lassen, mussten jedoch auf internationalen Druck die San-People
an den zu erwartenden Millionengewinne beteiligen und sie als Besitzer
des Kaktus anerkennen. Trotz dieser Regulierung scheint es für heimliche Sammler lukrativ zu sein, die Pflanze überall, wo sie noch frei wächst,
abzuernten. Zumindest gibt es im Umfeld von Gaborone mehrere völlig
ausgeschlachtete und zerstörte Hoodia-Pflanzen. Das „Übereinkommen
über die biologische Vielfalt“, das auf der Umweltkonferenz in Rio de
Janeiro 1992 unterschrieben wurde und Biopiraterie verurteilt, scheint viele Schlupflöcher zu enthalten – auch Peter Mbenge traut internationalen
Schutzbestimmungen nicht. Ihm wäre lieber, das Gesundheitsministerium
würde sich etwas mehr beeilen und endlich das „Intellectual Property Law
and Protection of Tradtional Knowledge holders“ zusammen mit den anderen Punkten verabschieden. Ob er glaube, will ich zum Schluss wissen, dass
durch den Vormarsch der westlichen Kultur, ob Cappuccino, Big BrotherFernsehstaffeln oder Internet, der traditonal healer verdrängt würde? Nein,
das glaube er nicht. Die Modernisierung könne kommen, sie sei ja schon
da und auch er lebe in der modernen Welt. Aber als Traditionalist. Und:
„je schneller sich die Welt verändert, desto mehr brauchen die Menschen
etwas, mit dem sie sich identifizieren können. Die Leute kommen immer
zum traditonal healer, home is home. Außerdem wissen viele Leute, welche
Nebenwirkungen Medikamente haben können und auf viele Dinge hat die
Schulmedizin ja auch keine Antwort.“ Außerdem bräuchten auch Europäer
offensichtlich seine Hilfe, denn über eine befreundete Französin kämen mittlerweile immer mehr zu ihm.
3.5 Die Prävention von Pech und das „Traditional Health Practice Bill“
Bisher gibt es lediglich ein Gesetz aus dem Jahr 1927, das den Umgang
mit traditionellen Heilmethoden und allem, was in dessen Randzonen geschieht, regelt. Es entstand also lange vor der Unabhängigkeit von den Briten
1966 und trägt den vielsagenden Titel „witchcraft“. Dieses Gesetz, das man
wie alle Gesetzestexte in der Botswana Government Press kaufen kann,
enthält schon im Titel die Bewertung der damaligen Kolonialherren und
-damen, nämlich als der christlich-biologistischen Weltanschauung gegenüberstehend und damit unterlegen, wenn auch gefährlich. Dieses Gesetz zur
502
Botswana
Astrid Reinberger
„witchcraft“, zur Hexerei, verbietet einen „witch doctor“ anzustellen oder
„Hexenwissen“ weiterzugeben und verbietet, anderen vorzutäuschen mit
Hilfe von übernatürlicher Kraft, Zauberei oder Beschwörung die Zukunft
vorhersagen oder beeinflussen zu können.
Das neue Gesetzespaket soll nun einen Kanon schaffen, an den sich healer und Patienten halten können. Es soll 2004 verabschiedet werden und
fußt auf neutraleren Einschätzungen. Es stellt die Fähigkeiten von Heilern
nicht in Frage oder zur Diskussion, sondern zollt der Tatsache Tribut, dass
die Dingaka nach wie vor enormen Zulauf haben. Ganz sicher möchte
man mit diesem Gesetz auch eine nüchterne Betrachtungsweise fördern,
die die traditionellen Heilmethoden weniger als spirituell, sondern mehr
als geerdet und begründet einstuft. Traditional healing soll nicht mehr in
die Nähe von „witchcraft“ gebracht werden. Schließlich ähnelt das traditionelle Medizinsystem in seiner Orientierung den Balancevorstellungen
der asiatischen Medizin, die – zum Beispiel – als alternative Medizin weltweit mehr Anerkennung genießt. Auch beim traditional healing liegt der
Blickwinkel nicht auf dem Körper als biochemischem Funktionsorgan, die
Krankheit ist vielmehr ein Ausdruck von gestörten Gleichgewichten zwischen Lebenden und den Toten. es ist damit nicht allein an ein Individuum
und sein Lebensmanagement gebunden, sondern in einem größeren Kontext
zu sehen.
Die Praktiken von traditional healing werden in der bisherigen
Arbeitsvorlage wie folgt definiert (Quelle: Report of the Traditionam Health
Practitioners Consultative Workshop, Ministry of Health, August 2003):
Diagnosefähigkeiten durch bestimmte rituelle Techniken
Heilen verschiedener Krankheiten, z.B. Hautekzeme, Geschwüre
Unpässlichkeiten wie Magenbeschwerden, Durchfall
Präventivmaßnahmen: Gefahrenvorbeugung, Vorbeugung von Pech
Schutz der Familie, des Heims, der Rinderfarm, des Geschäftes
das Durchführen von Ritualen bei Promotionen, Arbeitsantritten,
Jagdexpeditionen und Bestattungen
Regenmachen
das Heilen von Frakturen
Sachlich zusammengefasst, kann man die traditionellen Heilmethoden
wie folgt beschreiben: sie sind psychosozial, beinhalten homöopathische
und medizinische Elemente, sowie familien- und gruppentherapeutische
und religiöse Anteile.
Um die Preisdifferenzen zu minimieren, sollen Höchstpreise vereinbart
und die finanzielle Lage des Patienten soll stärker berücksichtigt werden.
Auch die Frage der ausländischen healer soll geregelt werden, momentan
gibt es ein inoffizielles Arrangement – lokale Heiler befragen die „Fremden“
503
Astrid Reinberger
Botswana
und erteilen ihnen ggf. die Erlaubnis zu praktizieren. Was die Ausbildung
der Heiler anbelangt, ist der bisherigen Gesetzesvorlage nicht viel zu entnehmen; sie umschreibt lediglich die Wichtigkeit eines Trainings, das mindestens 3 Monaten oder bis zu 3 Jahren dauern sollte. Die Heiler sollen nur
praktizieren dürfen, wenn sie sich registrieren lassen, sie sollen sich auch
nicht „Doctor“ nennen, sondern „Dingaka“ – und sie dürfen kein Stethoskop
tragen oder anderes medizinisches Equipment zur Schau stellen. Zudem
zeigt die Vorlage einige bisherige Probleme auf: durch die Registratur sollen die vielen Schwindler auffliegen, solche, die sich nur bereichern wollen
und solche, die angeben, durch Geschlechtsverkehr heilen zu können oder
Geschlechtsverkehr als Voraussetzung zur Heilung oder als Bezahlung ansehen. Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren dürfen nicht mehr ohne ihre
Eltern oder Erziehungsberechtigten behandelt werden; Heiler sollen keine
Patienten haben, die unter Drogeneinfluss stehen und sie dürfen keine schädlichen Stoffe wie Methanol, Paraffin, Diesel oder Benzin in ihre Mixturen
mischen. Auch ist in Zukunft verboten, Patienten in Gefahr zu bringen –
etwa durch das Benutzen von gebrauchten Rasierklingen beim „Ritzen“,
durch Überdosierung von Arzneien und übertriebener Körperreinigung
– und Schwächung wie durch das rituelle Übergeben. Die Heiler sollen bei
schwerwiegenden Krankheiten an einen Arzt oder ein Krankenhaus weiter
verweisen, bei Aids-Patienten nicht behaupten, sie könnten den Patienten
heilen, sondern offenlegen, nur Symptome kurieren zu können. Zudem wird
es Pflicht sein, den Patienten über die Behandlungsmethode aufzuklären,
über ihn eine Akte anzulegen und über die Art und Weise der Krankheit zum
Schutz des Patienten Stillschweigen zu bewahren. Der Maßnahmenkatalog
soll durch den „National Traditional Health Practice Council“ in die Praxis
umgesetzt werden und von einem Komitee betreut werden, das sich aus gewählten Stellvertretern der healer associations (wie Peter Mbenge) sowie
Vertretern von ACHAP, dem Gesundheitsministerium und Ärzten zusammen setzen soll.
Es gibt nur eine Verbindung zum alten Gesetz – im neuen Gesetz findet
sich genau wie im alten der Punkt, dass Verleumdungen, Schuldzuweisungen
und Hexereibezichtigungen ausdrücklich untersagt sind. Dies hat in
der Vergangenheit immer wieder zu Konflikten zwischen Nachbarn,
Geschäftspartnern und innerhalb von Familien geführt.
3.6 Grau ist alle Theorie
So erfreulich die Tatsache ist, dass man kurz vor der Verabschiedung eines neuen Gesetzes steht, das eines aus dem Jahr 1927 (!) ablöst, so sehr
504
Botswana
Astrid Reinberger
ist doch zu bezweifeln, ob wirklich alle Heiler erreicht werden und ob sich
das Gesetz durchsetzen kann. Ich frage Dr. Patson Mazonde, den Direktor
des Gesundheitsamtes, warum das Thema nicht stärker in die Öffentlichkeit
getragen wird oder besser: nicht schon lange in die Öffentlichkeit getragen
wurde. Dr. Mazonde ist ein besonnener Mensch und ein guter Rhetoriker. Er
sagt, dass man sicher im Zuge einer Aufklärungskampagne auf die Gefahren
hätte hinweisen können. Aber die Folgen wären katastrophal gewesen. Mit
so einer Kampagne hätte man nicht nur die Bevölkerung verunsichert, sondern sich auch die Tür zu den traditionellen Heilern zugeschlagen und die
Bemühungen, diese stärker ins Gesundheitssystem zu integrieren, unterlaufen. Seit fast 10 Jahren arbeitet Dr. Mazonde und sein Team mit den Heilern
zusammen - und am Anfang hätte es viele Vorbehalte auf beiden Seiten gegeben. Den Besuch beim Heiler hielten viele Batswaner ohnehin eher geheim, es wäre ihnen unangenehm, es offiziell zuzugeben - und Kampagnen
hätten diese Sphäre der Heimlichkeit nur vergrößert. Durch diese Politik
stärke man die Position der Heiler und hole sie aus dem Dunstkreis der
Kriminalität.
Dr. Mazonde erklärt weiter: „Das Ziel ist es, langfristig ein Bewusstsein
bei den Heilern zu schaffen, dass sie auch von der Regierung als Teil des
Gesundheitssystems gesehen werden und dass sie die Einrichtungen des
Gesundheitsamtes nutzen können. Die Schulmedizin und die traditionelle
Medizin dürfen nicht gegeneinander arbeiten, sondern müssen sich ergänzen – und jede Medizin hat ihre Berechtigung. Wenn beide noch mehr voneinander lernen könnten, wäre es optimal.“ Ob es nicht illusorisch ist, frage
ich, zu glauben, man könne alle Heiler dazu bringen, sich registrieren zu lassen, sich an Preistafeln und medizinische Standards zu halten. Sicher wäre
es naiv zu sagen, es gäbe keine Probleme, aber immerhin habe man schon
viel erreicht, gerade auch, was den Umgang mit Aids anbelangt.
Und außerdem: es sei eine Tatsache, dass keine Medizin, weder die traditionelle noch die Schulmedizin, eine Antwort auf Aids habe. Zum Abschluss
unseres Gesprächs sagt Dr. Mazonde: „Mit einigen unserer Bräuche oder
Glaubenssätze kann ich nichts anfangen. Aber Traditionen gehören zu unserem Volk, wir brauchen sie, um unsere Existenz und das Leben zu verstehen.
Jede Kultur ist dynamisch und man muss darauf achten, bei der Veränderung
seine Wurzeln nicht zu vergessen. Ein Volk ohne Werte ist ein unglückliches
Volk.“
Dass man große Fortschritte in der Zusammenarbeit mit Heilern gemacht
hat, bestätigt mir auch Prof. Georgia Rakelmann vom Institut für Soziologie
in Giessen. Sie arbeitet seit Jahren an einem Projekt zur Erforschung der
sozialen Folgen von Aids und hat in Botswana Hunderte von Interviews mit
Heilern und Aidserkrankten geführt. Sie sagt: „Ich habe bei den Interviews
505
Astrid Reinberger
Botswana
mit healern nicht eine Person getroffen, die nicht über Aids ausreichend informiert war. Alle waren restlos überzeugt davon, dass Patienten, bei denen sie den Eindruck haben, dass Aids eine Rolle spielt, an die Kliniken
zu verweisen sind. Und sie selbst befassten sich allenfalls mit den sozialen
und physischen Begleiterscheinungen, die bei der rein biomedizinischen
Behandlung im öffentlichen Gesundheitswesen zu kurz kommen.“
Die wenigen, die mit der Not der Patienten Kasse machen wollten – das
sei ein menschliches Problem, kein Problem der Heiler.
Prof. Rakelmann betont, dass mittlerweile die Scheu, über Aids-Erkrankungen zu reden, erheblich abgenommen habe. Sie sagt: „Inzwischen kann
man auch in der eigenen Muttersprache Aufklärung bekommen (nicht nur
in Englisch), die Sprachbilder sind mittlerweile hochsensibel angepasst,
es gebe gruppen- und milieuspezifische Ansprachen - kurzum alles, was
der Aufklärungsmarkt hergibt, wird angewendet.“ Aber mit dieser Art von
Aufklärung hat man zu spät angefangen, und auch heute dominieren die
ABC-Kampagnen, dessen kategorisches und etwas weltfremde A und B
sicher dazu führt, dass auch die Parole C nicht mehr glaubhaft wirkt: A
steht für Abstain (sei enthaltsam!), B für Be Faithful (sei treu!) und C für
Condomize (benutze ein Kondom!). Ob auch bess