Anerkennung Jugendsprache
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Anerkennung Jugendsprache
Zweisprachig, halbsprachig, gemischtsprachig – über die (Nicht-)Anerkennung der Sprache von jugendlichen MigrantInnen1 Volker Hinnenkamp, Hochschule Fulda 2006 1. Stellen Sie sich einen Moment lang vor, Sie befinden sich im Jahr 2043. Sie sind schon vor sieben Jahren nach China, der größten wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Supermacht, ausgewandert. Chinas Wohlstand ist vergleichbar mit dem Europas um die Jahrtausendwende. Die Bevölkerung Chinas stagniert. Es werden Arbeitskräfte und Spezialisten aus den „failed states“, den abgewirtschafteten und verarmten Ländern gesucht. Auch Sie haben damals Ihr Glück versucht. Sie haben schon ganz gut das reformierte Chinesisch gelernt. Doch wie sehr Sie sich auch bemühen, Sie haben immerzu das Gefühl, dass Ihnen die Anerkennung, die Sie für Ihre Mühen verdient haben, nicht gezollt wird. Sie haben sich an viele Dinge angepasst. Doch immer wieder machen Sie die Erfahrung, dass Sie als andersartig, als zugewandert wahrgenommen werden. Sie sind nicht allein mit dem Problem. Die chinesischen Statistiken weisen aus, dass es auch nach Jahren noch große Integrationsschwierigkeiten gibt, vor allem mit der in China geborenen Jugend. Ein nationaler Präventionsrat, an dem viele Spezialisten und Spezialistinnen, selbst Zugewanderte, beteiligt sind, beschäftigt sich zum Beispiel mit Fragen der Suchtvermeidung, der Kriminalitätsverhütung und anderen negativen Entwicklungen. In speziellen Integrationskursen soll verstärkt die chinesische Sprache und Kultur beigebracht werden. .... An dieser Stelle breche ich meine kleine geleitete Phantasiereise ab. Sie ist ein wenig grobschlächtig. Dennoch, einige Demographen und Wirtschaftsspezialisten haben genau eine solche wirtschaftliche Entwicklung vorausgesagt (vgl. z.B. Miegel 2006): Europa werde demographisch und wirtschaftlich immer weiter schrumpfen, einhergehend mit einer Europäisierung Asiens. Insofern sind solcherlei Szenarien nicht einmal abwegig. Primär geht es mir damit allerdings um den Aspekt der Anerkennung, die Ihnen in der kleinen Vision verweigert erscheint, der Anerkennung als Individuum jenseits Ihrer Andersartigkeit, Ihres Zuwanderungsstatus, Ihrer chinesischen Sprachdefizite. Anerkennung betrifft nicht nur die Identität eines Individuums, sie ist immer ein großes Thema der psychologischen, sozialwissenschaftlichen, ja schließlich auch der politischen Diskurse gewesen, und im Moment erleben wir eine große Debatte um die Anerkennung von Glaubensfragen, in deren Mittelpunkt – zumindest im Westen – die muslimische Religionszugehörigkeit steht (vgl. Tibi 2001, Roy 2005). 1 Vortrag „Zweisprachig, halbsprachig, gemischtsprachig – über die Sprache von jugendlichen MigrantInnen“ auf der Tagung Weg-weisend. Vernetzung der Angebote der Jugendhilfe, Justiz und Polizei zur (Re)Integration von jugendlichen Migrant(inn)en, 12. Oktober 2006 Bonifatiushaus in Fulda und publiziert in der Dokumentation mit dem Tagungstitel von der Arbeitsgemeinschaft Katholische Jugendsozialarbeit Region Nord Hannover: Arbeitsgemeinschaft Katholische Jugendsozialarbeit Region Nord, 2007, S. 104-122. 1 2. Der kanadische Sozialphilosoph und Politikwissenschaftler Charles Taylor hat Anfang der 1990er Jahre mit einem viel beachteten Plädoyer, Fragen der Anerkennung insbesondere in der multikulturellen Gesellschaft neue Beachtung zukommen zu lassen, damit eine neue alte Debatte angestoßen, die auch in Europa nicht ohne Folgen geblieben ist. Taylor schrieb: „Die Forderung nach Anerkennung wird [...] besonders nachdrücklich erhoben, beflügelt von der Annahme, es bestehe ein Zusammenhang zwischen Anerkennung und Identität, wobei »Identität« hier das Selbstverständnis der Menschen bezeichnet, ein Bewusstsein von den bestimmenden Merkmalen, durch die sie zu Menschen werden. Die These lautet, unsere Identität werde teilweise von der Anerkennung oder Nicht-Anerkennung, oft auch von der Verkennung durch die anderen geprägt, so dass ein Mensch oder eine Gruppe von Menschen wirklichen Schaden nehmen, eine wirkliche Deformation erleiden kann, wenn die Umgebung oder die Gesellschaft ein einschränkendes, herabwürdigendes oder verächtliches Bild ihrer selbst zurückspiegelt. Nichtanerkennung oder Verkennung kann Leiden verursachen, kann eine Form von Unterdrückung sein, kann den anderen in ein falsches, deformiertes Dasein einschließen.“ (Taylor 1993: 13f.; letzte Hervorhebung V.H.) Und weiter, ziemlich zum Schluss seines Plädoyers für mehr Anerkennung, fasst Taylor zusammen: „Neu ist also, dass die Forderung nach Anerkennung heute ausdrücklich formuliert wird. Und dazu kam es [...]: indem sich die Vorstellung verbreitete, dass wir durch Anerkennung geformt werden. Man könnte sagen, dass dank dieser Vorstellung die Verkennung oder Nicht-Anerkennung heute in den Rang eines Schadens erhoben worden ist [...]. Einer der Autoren, der entscheidend zu diesem Wandel beigetragen haben, ist Frantz Fanon, der in seinem einflussreichen Buch Les damnés de la terre (Die Verdammten dieser Erde) die These aufgestellt hat, eine der mächtigsten Waffen der Kolonisatoren sei die, den von ihnen Unterworfenen ihr eigenes Bild vom Kolonisierten aufzuprägen. Die Unterworfenen müssen sich also, wenn sie frei werden wollen, zuallererst von diesem erniedrigenden Selbstbild befreien. Fanon empfahl die Gewalt als Weg zur Freiheit – Gewalt als Ausgleich für die Gewaltanwendung, die mit der Aufnötigung des fremden Selbstbildes verbunden war. [....] [D]ie Vorstellung, dass es bei einer Veränderung des Selbstbildes zu einem Kampf kommt, der sich einerseits im Beherrschten abspielt, andererseits gegen den Herrscher richtet, hat weithin Anklang gefunden. Sie ist für bestimmte Spielarten des Feminismus ebenso wichtig geworden wie für die aktuellen Debatten über Multikulturalismus.“ (Taylor 1993: 60f.) Man kann diese Beschreibung, diese Parallele zum Kolonialismus, die zitierte Dichotomisierung von Herrschern und Beherrschten, Kolonisatoren und Kolonisierten auch als Warnung verstehen. Die gewaltsamen Konflikte in den französischen Vorstädten legen ein beredtes Zeugnis für die Aktualität dieser These ab (vgl. France-Mail-Forum 2005, Dossier Nr. 5). Verweigerung von Anerkennung findet in ganz unterschiedlicher Weise statt. Diese Verweigerung ist abzulesen an vielerlei Fakten, wie sie sich aus den Belegen systematischer und vielfacher Benachteiligungen von Migranten ergibt (vgl. z.B. Radtke / Gomolla 2002). Mitunter ist Anerkennungsverweigerung auch nur ein Gefühl. In den Arbeiten zur Sozialpsycho- 2 logie von Minderheiten wird dieser Aspekt detailliert beschrieben (vgl. z.B. Tajfel 1978). Zudem heißt Anerkennung ja nicht nur wohlwollende Wahrnehmung des Anzuerkennenden, sondern impliziert viel mehr, nämlich – wie Taylor anmerkt – anzuerkennen, dass diese auf das Engste mit der Identität eines Individuums verknüpft ist, dass sie eine – wie immer – manifeste Wertschätzung der spezifischen „Fähigkeiten“ eines Individuums bedeutet. Diese Anerkennung findet sich wieder in der Akzeptanz und Befähigung zur Teilhabe und Teilnahme am „normalen“ Leben. Sie resultiert in dem Gefühl, für spezifische Eigenschaften (z.B. linguistischer, kultureller, ethnischer etc. Natur) eben nicht ausgegrenzt zu werden und benachteiligt zu sein, sondern diese als Ressourcen – um ein beliebtes modisches Wort zu verwenden – anerkennend einbringen zu können. So abstrakt formuliert sind das zunächst fromme, moralisierende Worte. Als Soziolinguist, also als jemand, der den Zusammenhang von Sprachverwendung und gesellschaftlicher Bedingtheit erforscht, möchte ich mich nun ganz speziellen Aspekten der Anerkennung von Sprache und Sprachen zuwenden, auch wenn das vordergründig nur wenig mit Sucht- und Kriminalitätsprävention zu tun hat. 3. In meiner Untersuchung über die Gruppensprache von Migrantenjugendlichen, speziell bei meiner ersten Forschung von Jugendlichen mit türkeitürkischem Hintergrund, bin ich speziell der Frage nachgegangen, wie sich die schulische Leistungsperformanz dieser Schülerinnen und Schüler, die ja oft – und PISA hat das noch einmal drastisch unterstrichen – mangelhaft ist, mit der sprachlichen Performanz in der Freizeit verhält. Das Deutsch dieser Jugendlichen ist ja in vielerlei Weise stigmatisiert; schon seit Jahrzehnten herrscht in den Köpfen der verantwortlichen BildungsmacherInnen das Bild von der „Halbsprachigkeit“ dieser Jugendlichen vor (Hinnenkamp 2005b). Es gibt einen nachweislich engen Zusammenhang zwischen Leistungsperformanz in der Schule und Kenntnissen der deutschen Sprache. Zunächst einmal ist zu sagen, dass insgesamt ein sehr rudimentäres und oftmals falsches Bild über die Zwei- bzw. Mehrsprachigkeit vorherrscht – gleichwohl etwa 2/3 der Menschheit als mehrsprachig gilt. Schief ist das Bild aufgrund der Tradition der herderianischen Vorstellungen des Zusammenhangs von Nation und nationaler Sprache, oder aufgrund der Geschichte vom babylonischen Fluch der Mehrsprachigkeit. Eine Pädagogin meint, dass das Resultat dieser tief liegenden Auffassung von Mehrsprachigkeit sich im „monolingualen Habitus“ der deutschen Schule niedergeschlagen habe (Gogolin 1994). Man muss sich verdeutlichen, dass vor ca. 40 Jahren ein mitunter drastisches Bild vom mehrsprachigen Menschen vorherrschte, wie es das folgende Zitat des Sprachwissenschaftlers Leo Weisgerber, der ja viel über Identität und Muttersprache geschrieben hat, zeigt: „Für die große Menge behält es Geltung, daß der Mensch im Grunde einsprachig ist. [...] Vor allem aber gehen corruption du langage und corruption des mœurs Hand in Hand [...] Das geht von einer Störung der geistigen Entfaltung zu einer Einbuße der Geistesschärfe selbst; geistige Mittelmäßigkeit ist die Folge, erschwert dadurch, daß zugleich die Kräfte des Charakters leiden: man läßt sich gehen, unscharfer, grober, fahrlässiger Sprachgebrauch, das ist gleichbedeutend mit wachsender Trägheit des Geistes und sich lockernder Selbstzucht, einem Abgewöhnen des Drängens nach sprachlicher Vervollkommnung. Die Trübung des sprachlichen Gewissens führt nur zu leicht zum Erschlaffen des Gewissens insgesamt.“ (Weisgerber 1966: 73) 3 Nun wissen wir heute, dass Zweisprachigkeit – ähnlich wie bei den Erkenntnissen übers Onanieren – nicht mit einem Verlust der guten Sitten oder einem Erschlaffen des Gewissens einhergeht. Dennoch herrscht immer noch – und insbesondere in Bezug auf die sprachlichen Fähigkeiten von MigrantInnen, und hier besonders Migrantenjugendlichen – eine Sichtweise vor, die erstens wenig zur Kenntnis nimmt, dass diese – wie immer ausbalanciert – zwei- und oft mehrsprachig sind; zweitens, dass Zweisprachigkeit keineswegs das gleichwertige Nebeneinander von zwei Sprachen bedeutet, mithin keine doppelseitige Einsprachigkeit sein kann; und drittens, dass diese Jugendlichen in und mit ihren verschiedenen Formen der Zwei- und Mehrsprachigkeit durch die unterschiedlichen und oftmals sehr gegensätzlichen Ansprüche der Gesellschaft, wie Schule, Elternhaus, Peergroup etc. sich hindurch manövrieren und hindurchbasteln müssen. Insofern habe ich in meiner Forschung versucht einen ganz anderen Blickwinkel einzunehmen, nämlich erstens der Frage nachzugehen, wie der mehrsprachige Alltag mit all den unterschiedlichen linguistischen Ansprüchen von den Jugendlichen gemanagt wird; zweitens aufzuzeigen, welche spezifischen Formen der Zwei- und Mehrsprachigkeit sich dabei herausbilden; und drittens zu zeigen, inwieweit die spezifische Sprache der Jugendlichen mit ihrem Migrationshintergrund verknüpft ist; und schließlich viertens zu eruieren, was diese Sprache den Jugendlichen hinsichtlich der Frage der Anerkennung durch die Gesellschaft bzw. ihrer repräsentativen Institutionen bedeutet. 4. Ich will einiges davon – wenn auch nur kursorisch – im Folgenden anhand von zwei kleinen authentischen Gesprächsbeispielen illustrieren und wenigstens einige wichtige Gesichtspunkte exemplarisch daran klar machen. Die folgenden Gespräche sind in einer bestimmten technischen Weise verschriftlicht (transkribiert), wobei versucht wird, neben der je eigentümlichen Sprechweise der beteiligten SprecherInnen auch andere Gesprächsphänomene zu berücksichtigen. Allerdings ist die Transkription – weder fürs Deutsche, noch fürs Türkische oder Englische – lautgetreu, sondern versucht von der normalen Orthographie auszugehen (die Legende zum Transkriptionssystem findet sich im Anhang) 4.1 Das erste Beispiel ist nicht einmal von mir selbst, sondern stammt von meiner Kollegin Ingrid Gogolin aus Hamburg, die sich damit beschäftigt hat, wie diese Vielsprachigkeit der Migrantenjugendlichen als Kapital auf den Arbeitsmarkt eingebracht werden kann (Gogolin 1999). Im folgenden Gesprächsausschnitt unterhalten sich die beiden zehnjährigen Mädchen, Aysel und Cansu auf dem Gelände einer Hamburger Freizeiteinrichtung. „Gunda“ ist eine Betreuerin dieser Einrichtung; weitere Mädchen sind anwesend. (Die Verschriftlichung des zitierten Originals wurde an mein Transkriptionssystem angepasst). 4 »Hasta la pizza« 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 Aysel: Cansu: Aysel: Cansu: Gunda: Cansu: ((spricht direkt ins Mikrophon; sehr gedehnt:)) hallo ((leise)) ach so- ((laut zu Gunda)) ja- wie heißen Sie? (xxxxxx) wie heißen Sie? {da red ich gar nichts rein} wa- wie heißt du noch mal? Gunda dicke Flunder heißt sie. Manche nennen es Gunda manche nennens dicke Flunder Gunda: (xxxxxxx) Cansu: die ärgern Ayfer: manche nennen sie Gunda: genau Cansu: manche nennen sie Gunda: nennen sie Cansu: und Aysel ist so doof Aysel: alles klar Oma Cansu: alles klar Opa ((Cansu und Aysel gehen zum Spielplatz und sprechen dabei weiter)) ((Cansu erzeugt rhythmische Geräusche mit Stimme und Lippen; wie Reggae-Musik)) Aysel: (fuck) äh äh you understand me ((engl. ausgesprochen; lacht)) Cansu: äh äh you understand me ((äfft nach)) Aysel: ((mit englischer Aussprache)) english Cansu: ((mit gleicher Aussprache)) english. What's your name? My name is (xxxxxxx) Aysel: what's your name Cansu: what's your name Aysel: my name is Cansu Cansu: my name is Cansu Aysel: fuck your mum Cansu: fuck your mun Aysel: ((korrigierend)) mum Cansu: mum (+) fuck your mum Aysel: ((imitiert österreichischen Akzent)) halts d' Maul du Paul. Ich bin österreichisch Cansu: ((kichert)) noch mal noch mal bitte huhu noch mal noch mal Aysel: ((stärker betont)) halts d' Maul du Paul. Ich bin österreichisch Cansu: ((lachend)) başka bişey konuş sag was anderes 37 Aysel: başka bişey yok. Was soll ich sagen es gibt nichts anderes 38 39 Cansu: hasta la pizza Aysel: also Cansu öyle yapılmaz also das find ich öh ((kichert)) das macht man nicht 40 ?: nein nein du musst mal Türkisch (xxxxxxxx) 5 41 Cansu: ((schreit)) bak seni sevmiyorum artık terk et beni (xxxxxx) ich liebe dich nicht mehr, verlass mich 42 43 ((die Mädchen kichern)) Cansu: ((lacht)) bunu diyen Aysel Özkan'dır die das sagt ist Aysel Özkan 44 45 46 Aysel: halts d' Maul du Paul Cansu: halts d' Maul pts Plaul ((rufend)) Nurtaç sana yok. Güler aldı du kriegst keins ((Aufnahmegerät)) Nurtaç. Güler hat es genommen 47 Cansu: {kandırdım} ((summt)) a- my name is {ich hab gemogelt} 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 Aysel: Cansu Cansu: my name is Hafida my name is my name is Aysel Özkan und ich komme aus I- ähm Aysel: nein (xxxxx) ((spricht direkt ins Mikrophon, ahmt Anrufbeantworter nach)) mein Name ist Cansu Mafi und ich wohne in der wie heißt eure Straße Buntenbach 8 wenn Sie wollen können Sie mich unter dieser Nummer anrufen ((die Mädchen decken kichernd das Mikrophon ab)) Cansu: ((zunächst im Tonfall eines Anrufbeantworters)) 4 3 8 3 6 3 7 8. Ich wiederhole ((Tonfall wechselt zu dem einer Lottozahlen-Ansagerin aus dem Fernsehen)) 3 8 4 8 was weiß ich devamını wie es weiter geht 60 61 62 63 Aysel: Cansu: ?: Cansu: das is ohne Gewähr ((Aysel nachahmend)) das is ohne Gewähr ach das wusst=ich nich ((„?“ (Gunda?) nachahmend)) ach das wusst=ich nich Hier endet die Sequenz. Aysel und Cansu albern noch eine Weile herum, dann nehmen sie wieder am Tischtennisspiel teil. Was die beiden Mädchen hier inszenieren umfasst eine Vielzahl von Sprachen und Sprachstilen, die sie spielerisch einzusetzen vermögen. Das Aufnahmemikrofon wird dabei zur Rolleninszenierung genutzt, und die Betreuerin Gunda wird mal foppend mal rappend miteinbezogen. Von Z. 19 - 31 wechseln Cansu und Aysel ins Englische, weniger ernsthaft sich unterhaltend als vielmehr Versatzstücke (aus einem Song?) zitierend, dabei schließlich die rituelle Beschimpfungsformel fuck your mum (Z. 28ff.) aufnehmend. In Z. 30 korrigiert Aysel Cansus fehlerhafte Aussprache (Z. 29). Damit zeigt sie auch für das spielerisch und beiläufig benutzte Englisch ein durchaus normatives Verständnis. In Z. 32 wird abrupt in eine vorgeblich österreichische Aussprache gewechselt, um dann in Folge (Z. 36ff.) vor allem zwischen Deutsch und Türkisch hin und her zu wechseln (Z. 36, 37, 39,40, 41, 43, 46, 47-50). Dazwischen gibt es erneut österreichische Einsprengsel (Z. 44f.). Hasta la pizza (Z. 38) ist wiederum eine romanischsprachige Mixtur aus spanisch hasta und italienisch la pizza (gleichwohl man auch im Spanischen la pizza sagen würde). Ganz offensichtlich sind einige Passagen des Gesprächs Zitate aus arabesken Liedern (Z. 4). Ab Z. 47 gibt es wieder englisch6 sprachige Passagen (Z. 47, 49), in Z. 58 noch einmal ein türkisches Etc. Ab Z. 51ff. werden wiederum mithilfe des Mikrophons „mediale Stimmen“ vorgespielt, erst der Anrufbeantworter, dann die Lotto-Ansagerin. Durchgehend wird auch auf der Metaebene mit unterschiedlichen Sprachen, Dialekten und Kommunikationsrollen gespielt; und last not least werden Eigennamen als Mischungen kreiert, wie „Cansu Mafi“ (Z. 52, ein italienischer Nachname, der zudem „Mafia“ assoziierbar macht). Es ist schwierig, in dem vorliegenden Gesprächsausschnitt ein kohärentes Gesprächsthema auszumachen; die Funktion des Austausches ist eher rituell und phatisch einzuschätzen. Dennoch – oder gerade dadurch – wird die sprachliche und stilistische Vielstimmigkeit, zudem die sprachreflexive und sprachnormative Ebene im Umgang mit Sprachen, Dialekten, Stilen und Modalitäten deutlich, sodass den jugendlichen Performern hier durchaus Sprachbewusstsein testiert werden kann. 4.2 Im nächsten Beispiel „Eingang“ werden bestimmte Aspekte dieses Sprachbewusstseins noch deutlicher. In diesem Gesprächsausschnitt werden wir Zeuge, wie die drei 15 bis 16jährigen Jugendlichen Mehmet, U—ur und Kamil in einem Selbstbedienungsladen in ihrer Nachbarschaft herumhängen und sich langweilen. Die drei kaufen sich schließlich einen Krapfen, essen ihn und albern dabei herum. Mehmet verschluckt sich vor lauter Herumalbern am Krapfen. Kamil klopft ihm kräftig auf den Rücken und wünscht seinem Freund dabei ironisch „Guten Appetit“ – auf Türkisch. Dieser kleine Vorspann geht noch mit weiteren guten Wünschen bis Zeile 5. »Eingang« 01 K: Afiyet [olsun Guten Appetit 02 M: [((Husten)) 03 M: Afiyetle beraber olsun Guten Appetit miteinander 04 U: Geber Verreck! 05 K: Afiyet şeker olsun Zuckersüßen Appetit 06 ((2 Sek.)) 07 U: Stirb langsam 08 M: hahaha + bizde (+) kaseti açtı=„stirb langsam“ yazıyor Bei uns hat er die Kassette angemacht, da steht „stirb langsam“ drauf 09 #((in Lachen übergehend)) U-Uğur „sıtırb langsam“ okuyor hahaha# U- Uğur liest „sıtırb langsam“ 10 #((Lachen geht ca. 6 Sek. weiter, K. und U. lachen mit)) 11 M: ha ha ha ha ha ha ha ha ha ha ha [ha ha ha ha ha ha ha ha ha ha ha# 7 12 K: 13 14 U: 15 M: #((Aus dem Lachen heraus)) [Stirb langsam (xxxxxxxxx) {sıtırb/stirb} langsam,{Alter}# {°xxxxx°} ((aus dem Lachen heraus)) Bak orda ne yazıyor, Ei-gang hahaha Schau, was da steht, Ei-gang, {Ei/Mond}Gang 16 17 U: 18 K: (+) {Ei/Ay}Gang Ei{n}gang Nerde bunun {ayı / Ei-ı} Wo ist hier {der Mond/das Ei} 19 M: He? 20 K: Nerde bunun {ayı / Ei-ı} Wo ist {der Mond / das Ei} 21 M: ((hüstelnd, in Lachen übergehend)) eh [eh ha ha ha 22 K: [{Ay-/ Ei-}Gäng 23 M: Doğru lan Stimmt Mann 24 U: Nerde bunun {ayı/ Ei-ı} oğlum Wo ist diese{r/s} {Mond/Ei}, mein Junge 25 M: Yoa: + #((betont gedehnt)) *ay-yın-gang*# (+) ay{ı}gang haha ya Nö 26 27 U: #((engl. Aussprache)) ein geyn zwei geyn# Ayının Gangı (+) hıhıhı Der Gang des Bären 28 29 30 31 32 33 K: Eingang (+) Zweigang ((0,5 Sek.)) M: [ha! U: [{Weiter-/ zweiter} Gang K: {°...°} M: Dün ne filmleri vardı? Was für Filme gab es gestern? 34 U: Dün mü? Gestern? 35 K: Saate baksana Schau mal auf die Uhr Die für uns interessante Episode beginnt nach der zweisekündigen Pause, die Uğur mit „Stirb langsam“ einleitet (Z. 7). Uğur kommentiert damit immer noch Mehmets Hustenanfall. „Stirb langsam“ erinnert Mehmet an eine Episode, bei der Uğur den gleichlautenden Titel eines Videofilms als „sıtırb langsam“ ausgesprochen hat. Mehmets Schilderung führt zu lautem Gelächter (Z. 8 - 13). Noch aus dem Lachen über die Falschaussprache heraus lenkt Mehmet die Aufmerksamkeit seiner Freunde auf ein Schild im Laden, auf dem einmal in einzelnen Lettern EINGANG geklebt stand, bei dem sich aber das erste „N“ gelöst hat und nur noch „EI GANG“ zu lesen ist (Z. 15). Dies führt die drei zu einem kurzen, schnellen und effektiven Wortspiel, das mit Hilfe von Transkription und sprachlichen Zuordnungen allerdings nicht mehr authentisch wieder gegeben werden kann. Die ganze Episode von Z. 15 bis Z. 31 oder 8 32 ist nun der Polyfunktionalität und den Assoziationen dieses kleinen Wortes gewidmet, das im Deutschen natürlich ein „Ei“ ergibt und im Türkischen mit ay, Mond bzw. Monat, oder – erweitert um den türkischen Laut [I] – Bär (ayı) ergibt. Wir sehen hier, dass noch weit über das „Hasta la pizza“-Beispiel hinaus mit den beiden Sprachen, hier Deutsch und Türkisch, gespielt wird. Die Sprachmischungen scheinen dabei keine Restriktionen zu kennen: Türkische Endungen werden einfach an deutsche Wortstämme oder Grundformen angehängt. Zweideutigkeiten, das heißt gleichklingende Silben und Worte im Deutschen und Türkischen, werden ausgenutzt. Ergo können alle möglichen deutschtürkischen Kombinationen bei diesen Zusammenfügungen mit gedacht werden. Alles ist erlaubt. So kann folglich aus dem defekten deutschen “Ei gang”, respektive “eieriger Gang”, eben auch ein türkisch-deutscher “Ay Gang”, übersetzt “Mondgang”, werden. Im Einzelnen verläuft das Sprachspiel wie folgt: Aus der deutsch-türkischen Zweideutigkeit von „Ei“ heraus erfolgt nun Kamils Nachfrage “Nerede bunun ayı/Ei-ı” (Z. 18) und dessen Wiederholung (Z. 19), was Mehmet mit Lachen goutiert und Kamil zu der weiteren Variante: “Ay/Ei Gäng” (Z. 22) veranlasst. Kamil variiert hier also “Ay/Ei Gang” zu “Ay/Ei Gäng”, [aı gæŋ] ausgesprochen. Hiermit kommt eine dritte Sprache, Englisch oder Amerikanisch, ins Spiel. Auch der zuvor gehänselte Uğur tritt nun ins Wortspiel ein (Z. 24). Mehmet, der das Spiel eröffnet hat, klinkt sich hier mit einer weiteren Variante ein (Z. 25 und 26): Er spricht nunmehr das vollständige deutsche Wort mit wieder eingefügtem “n” ganz in Türkisch aus, dabei dehnt er das Wort und macht quasi einen Dreisilber daraus, sogleich gefolgt vom ursprünglich deutsch-türkischen “ay(ı)gang” und – als ob diese beiden Varianten ihm keine Befriedigung verschafften – nimmt er schließlich Kamils angloamerikanische Variante wieder auf, auch melodiös den 'heavy accent' eines deutsch sprechenden Amerikaners karikierend: [aın geın svaı geın] (Z. 26), dabei verkünstelt sich Mehmets Stimme förmlich um eine ganze Tonlage nach oben. Mehmet leitet wie in einem Wortbildungsverfahren aus dem Nomen „Gang“ das Verb „gehen“ ab. Dann ersetzt er „ein“ durch „zwei“ und stellt dem wiederum vieldeutigen Verb „eingehen“ das parallele Kunstverb „zwei gehen“ (man kann es zusammen oder getrennt schreiben) zur Seite, das als „zwei (Personen etc.) gehen“ Sinn ergeben könnte. Ihr Mitstreiter Uğur wartet in Folge mit einer ganz eigenständigen Lesart auf: Er bringt nämlich den Bären ins Spiel (Z. 27). Bär auf Türkisch heißt ayı und wenn er „ayının Gangı“ sagt, dann verwendet er eine typisch türkische Konstruktion, die man etwa mit „des Bären sein Gang“ übersetzen kann. Das dem „Gang“ angehängte -ı ist das türkische besitzanzeigende Fürwort. Kamil stellt im Anschluss zu Mehmets amerikanischem Zweiklang (Z. 26) dem “Eingang” einen “Zweigang” zur Seite (Z. 28), was Uğur dann zu “Weitergang” bzw. “zweiter Gang” (Z. 31) inspiriert. Als ob “Weitergang” wörtlich zu nehmen sei, eröffnet Mehmet im nächsten (hörbaren) Zug ein neues Thema (Z. 33). Offensichtlich ist dieses durchaus als virtuos zu charakterisierende Sprachspiel an diesem Punkt erschöpft. Tatsächlich war Uğurs letzter Beitrag ein rein deutsches, real existierendes Wort, weit genug entfernt vom Ausgangswort, um tatsächlich “weiter gehen” zu können. 9 Auf der folgenden Tafel ist die Abfolge des Spiels noch einmal in Übersicht dargestellt. Das Spiel dauert nur wenige Sekunden. (Z 15) (Z 16) (Z 17) (Z 18) (Z 20) (Z 22) (Z 24) (Z 25) (Z 25) (Z 26) (Z 27) (Z 28) (Z 31) Ei-gang {Ei/Ay}Gang Ei{n}gang {ayı / Ei-ı} {ayı / Ei-ı} {Ay/Ei-}Gäng ((engl. ausgesprochen)) bunun {ayı / Ei-ı} *ay-yın-gang* ay{ı}gang ((engl. Akzent)) ein geyn zwei geyn ayının Gang-ı Eingang (+) Zweigang {Weiter-/ zweiter} Gang In beiden Beispielen werden wir Zeuge von einem hohen Maß an sprachlicher Virtuosität. Auf der einen Seite wird auf ganz unterschiedlichen Ebenen mit Worten gespielt, werden Ähnlichkeiten und Identitäten zwischen Sprachen ausgenutzt, werden Sprachen gewechselt, werden unterschiedliche Stile, Stilisierungen und Modalitäten des Sprechens inszeniert (wie Lottozahlenansage oder Anrufbeantworter; dialektale, ausländische und lernersprachliche Akzente; Echo- und Reimeffekte; Rhythmisierungen) und poetische und pop-poetische Elemente verwendet (wie Reggae, Rap oder türkische arabeske Musik); auf der anderen Seite wird ein hohes Maß an normativen Sprachwissen angedeutet., so wenn Cansu ihre Freundin Aysel (im Englischen) korrigiert (Z. 29/30), oder wenn sich Mehmet und Kamil über die hochstigmatisierte „Gastarbeiterdeutsch“-Aussprache ihres Freundes Uğur amüsieren, der an Stelle von „stirb langsam“ angeblich „sıtırb langsam“ (Z. 09) gesagt haben soll, oder wenn sie sich über die amerikanische Aussprache lustig machen (Z. 26) und wenn sie schließlich das defekte „Eingang“ zu einer kleinen zweisprachigen Mischtour zu nutzen wissen. Die beiden zitierten Beispiele stellen keine Einzelfälle dar. In dem von mir aufgenommenen Datenkorpus gibt es eine ganze Anzahl solcher Gesprächssequenzen, in denen die Jugendlichen in schneller Abfolge zwischen den Sprachen – vor allem zwischen Deutsch und Türkisch – hin- und herwechseln (Code-Switching und Code-Mixing) und in denen sie mitunter recht kunstvolle mehrsprachige Wortspielereien und Stegreifdichtungen vollziehen (vgl. Hinnenkamp 2005a, Keim 2005). Meine Daten zeigen in beeindruckender Weise, dass das Urteil über Sprachdefizite und sog. doppelseitige Halbsprachigkeit unter einem anderen Blickwinkel neu überdacht werden muss (Hinnenkamp 2005b). 5. Die Jugendlichen, die Sprachen und Sprachstile in dieser Weise mischen, haben in den Interviews deutlich gemacht, dass sie diese Sprechweise durchaus schätzen und dass ihr in bestimmten Situationen und Kreisen auch eine Prestigefunktion zukommt. Es gibt unterschiedliche Bezeichnungen für diese „Sprache“, so bezeichnen die ihre Sprechweise etwa 10 einfach als „gemischt sprechen" oder in Türkisch entsprechend als „karışık konuşmak“, andere wiederum nennen sie "halb deutsch halb türkisch reden". Meine Augsburger Informanten sagen dazu „yarım yamalak konuşmak“, was ungefähr so viel heißt wie „halb geflickt sprechen“. Aber was immer sie dazu sagen, es fallen vor allem zwei Dinge ins Gewicht: (i) Sie geben dieser spezifischen Sprechweise einen Namen und sie grenzen sie somit in ihrem subjektiven Bewusstsein von anderen Varietäten oder gar anderen Sprachen ab. (ii) Die Kennzeichnung, die die Jugendlichen für diese Varietät verwenden, drückt eine Aktivität aus: Sie kennzeichnen sie nicht mit einem Nomen wie „Mischsprache“ oder „Flickwerk“, sondern mit Formulierungen, die Verben wie „sprechen“, „reden“ oder „konuşmak“ (sprechen, reden) beinhalten. Das heißt, indem sie gemischt sprechen, tun sie etwas, sind sie aktiv bei der Sache. Die Bedeutung dieser Form der aktivischen Selbstreferenz wird erst wirklich deutlich auf dem Hintergrund der Benennung der Sprache der Eltern und Großeltern dieser Jugendlichen. Diese sprachen „Gastarbeiterdeutsch“. An dieser Beschreibung hingen vor allem Defizite. Erinnert sei daran, dass die Bezeichnung „Gastarbeiterdeutsch“ nicht von ihren Sprechern und Sprecherinnen selbst stammte, sondern eine Fremdcharakterisierung und Fremdbezeichnung einer Sprachvariante darstellte, deren Hauptcharakteristikum auch nicht etwa in der Stützfunktion für Sprachnotsituationen gesehen wurde, sondern vor allem eben in ihrer Mangelhaftigkeit. Die Muttersprachen der Migranten, auch daran sei erinnert, tauchten in der linguistischen Diskussion so gut wie gar nicht auf. Und wenn, dann sah man ihnen die Verantwortlichkeit für Übertragungsfehler im Gastarbeiterdeutsch. Auch die Versuche der nachfolgenden Generation, „Gastarbeiter-“ oder „Ausländerkinder“ genannt, sich in zwei Sprachen, der Sprache und Varietäten ihrer Eltern und der Sprache und Varietäten ihrer deutschsprachigen Umgebung, zurechtzufinden, wurde oft durch „doppelseitige Halbsprachigkeit“ qualifiziert oder genauer: abqualifiziert. Keine dieser Bezeichnungen hatte ihren Ursprung unter den Sprechern und Sprecherinnen selbst. Sie wurden als solche von den Spezialisten und Spezialistinnen der Mehrheitensprache etikettiert. 6. Dieses „gemischt Sprechen“ der Jugendlichen bildet m.E. nicht einfach eine Option unter anderen ab, sondern ist auch Ausdruck der ganz spezifischen Identität der Jugendlichen innerhalb des Migrationsprozesses. Die Jugendlichen wachsen unter polykulturellen und vielsprachigen Bedingungen auf und müssen für die Anforderungen, die sich aus diesen oft widersprüchlichen Konstellationen ergeben, auch ihre eigenen kommunikativen Lösungen finden. Würde man auf einen anderen im traditionellen Migrationsdiskurs bemühten Essentialismus zurückgreifen, der ähnlich wie bei Sprache oder Kultur von homogenen und allumfassenden Bestimmungsfaktoren ausgeht, dann könnte man sagen, dass die „Migrantenjugendlichen“ ähnlich wie sie eine gesplittete Sprache verwenden, sie damit auch ihre geplittete Identität, ihre Zerrissenheit zwischen zwei unterschiedlichen Sprachen, Kulturen und Erziehungsstilen zum Ausdruck bringen. Einer solchen Argumentation unterliegt jedoch ein Identitätsbegriff, demzufolge man eine Identität hat, die man sucht und findet bzw. im Laufe seiner Sozialisation erwirbt. Identität ähnelt demnach “eine[m] fertigen Anzug, in dem man nur noch hineinzuschlüpfen braucht und der einem passt oder nicht” (di Luzio / Auer 1986: 327). Diese 11 vorgebliche Gespaltenheit gehört ebenfalls zu den beliebten Stichworten einer laienhaften Ausländerpädagogik, die gerne als Argument für die Nichtintegriertheit der Migrantenjugendlichen angeführt wird (Diehm / Radtke 1999). Mit einem interaktionistischen Identitätsbegriff, der Identitätskonstitution als einen permanenten Prozess ansieht, der in der Interaktion, vor allem in der sprachlichen Kommunikation stattfindet, kommen wir natürlich zu einem ganz anderen Schluss. Somit hat man nicht Identität, sondern operiert, interagiert mit unterschiedlichen Identitäten, die untereinander und mit der Umwelt in kontinuierlicher Auseinandersetzung stehen. Diese Identitäten machen sich fest in Abgrenzung, z.B. gegenüber der Sprachverwendung von Seiten der Mehrheitsgesellschaft oder der Elterngeneration. Sie finden sich aufgehoben in „Identitätsakten“ (Le Page / Tabouret-Keller 1985), vor allem eben in sprachlichen Handlungen, in denen ein sprachliches Kategorieninventar verwendet wird, wie der Umgang mit eigenen und fremden Typisierungen und Zuschreibungen, wie das Einfordern, Bestätigen und Abgrenzen von Zugehörigkeiten, oder wie das Sicheinschließen oder Ausschließen in Gruppen und Mitgliedschaften. Identitätsakte machen diese und andere Kategorien der individuellen und sozialen Verortung in der Gesellschaft und in der Gruppe in einer bestimmten Weise bedeutsam. Sie sind aber nicht widerspruchslos oder von Dauer, sie erhalten je nach Schauplatz einen anderen Wert; sie implizieren eine permanente Auseinandersetzung zwischen selbst gewählten und zugewiesenen Identitäten. Die zwei- und gemischtsprachige Sprechweise der Jugendlichen ist somit Ausdruck einer bestimmten sozialen und auch kulturellen und linguistischen Identität. Sie stellt sprachliche Elemente nicht einfach nebeneinander, sondern vermischt sie, komponiert sie neu, entwickelt hybride Formen und füllt damit einen identitären Raum, der bislang unbestimmt und unbesetzt war – einen Raum, der nunmehr gefüllt wird vom hybriden und synthetischen Ineinander von sprachlichen Elementen, das die unterschiedlichen ethnischen, kulturellen und linguistischen Verhältnisse im Migrationsprozess – auch historisch im Anknüpfen am „Gastarbeiterdeutsch“ der Elterngeneration – symbolisch integriert. 7. „Nichtanerkennung oder Verkennung kann Leiden verursachen, kann eine Form von Unterdrückung sein, kann den anderen in ein falsches, deformiertes Dasein einschließen“, so habe ich weiter oben Taylor zitiert (1993: 14), und damit schließe ich in gewisser Weise den Kreis zu der Eingangsproblematik der Anerkennung. Denn Fakt ist, dass die Jugendlichen fast überhaupt nicht unter dem Blickwinkel gesehen werden, was sie selbst im Sinne der Integration permanent leisten, was ihre mehrsprachigen Fähigkeiten, ja mitunter ihre Virtuosität selbst für Leistungen darstellen, was für eine reichhaltige Ressource diese Fähigkeiten für eine Gesellschaft darstellen kann. Nichtanerkennung heißt dann konkret, den Jugendlichen unter rein (schulisch) normativen Gesichtspunkten so etwas wie einen blütenreinen Wechsel zum (richtigen, versteht sich!) Deutsch abzuverlangen oder eine als doppelseitige Einsprachigkeit aufgefasste Zweisprachigkeit zu erwarten, ohne einerseits den komplexen Prozess von Identitätskonstitution in Rechnung zu stellen, wie er sich unter Bedingungen der Migration (und eben auch die nachfolgenden Generationen können massiv davon betroffen sein) vollzieht mit all den damit verbundenen Problemen, die sich aus der sozialen, kulturellen, 12 ethnischen und sprachlichen Minderheitszugehörigkeit ergeben, und ohne andererseits die notwendigen Ressourcen zur gesellschaftlichen Anerkennung bereitzustellen. Dass die perfekte und vollständige Beherrschung einer oder mehrerer Sprachen eine Illusion ist, darauf wurde von Sprachwissenschaftlern schon mehrfach hingewiesen. „Für den Menschen gibt es weder eine vollkommene Beherrschung seiner Sprache noch eine völlig homogene Sprachgemeinschaft. Es gibt nie und nirgends ein perfektes, homogenes Monosystem, immer und überall nur unvollkommene heterogene Polysysteme. Das Verhältnis des Menschen zu seiner Sprache ist nicht das der vollkommenen Einsprachigkeit, sondern im Gegenteil das der unvollkommenen Mehrsprachigkeit und der mehrsprachigen Unvollkommenheit.“ (Wandruszka 1979: 313). Umso wichtiger ist es, im Bezug der Mehrsprachigkeit von Jugendlichen mit Migrationshintergrund als ersten Schritt diese „unvollkommene Mehrsprachigkeit“ und „mehrsprachige Unvollkommenheit“ zu akzeptieren und nicht mehr in Kategorien von Defiziten zu fassen. Dass wir alle – mich eingeschlossen – in defizitären Kategorien denken, ist uns zur – professionellen – Gewohnheit geworden. Allein eine Tagung wie diese wird ja erst denkbar auf dem Hintergrund einer Problemperspektive, die Prävention erforderlich macht. Wir selbst gehören zu den Fachleuten einer sozialen Feuerwehr, die von den gesellschaftlichen Problemen – z.B. als Folge der Migration – lebt. Begriffe wie „Arbeitslosigkeit“, „Gewaltbereitschaft“, „halbsprachig“, „Integrationsfehlschläge“, „Kriminalität“, „negative Entwicklung“, „Schulden“, „straffällige Migrant(inn)en“, „Sucht“, „Suchtabhängigkeit“ und schließlich „von Straffälligkeit bedroht“ sind dem kurzen Flyer-Text zu dieser Weg-weisend Tagung entnommen. Natürlich sind sie in dieser Reihung ihres Zusammenhangs beraubt. Aber diese Begriffe beschreiben alle ein defizitäres Universum. Die kleine anfängliche Phantasiereise ins China des Jahres 2043 hat einen Teil dieser Begrifflichkeit aufgegriffen. Es geht, das möchte ich abschließend betonen, keineswegs um die Leugnung einer harschen Wirklichkeit; sie macht all das Engagement erforderlich, das sich in solchen Tagungen manifestiert. Bei der Bewertung von der Sprachkompetenz von MigrantInnen etwa ist es ein mühseliger und langwieriger Prozess, dass die Anerkennung dessen, was vor allem die nachwachsenden Generationen zu schultern haben und was sie unter diesen gesellschaftlichen Bedingungen der systematischen Benachteiligung leisten, sich durchsetzt und dass beispielsweise Forschungsfragen gestellt werden, die auf eine Perspektive orientiert sind, die nicht Defizite in den Vordergrund stellen, sondern eben diese Leistungen. In diesem Sinne ist Anerkennung ebenfalls eine wichtige und erst zu nehmende Präventionsmaßnahme. 13 Zitierte Literatur di Luzio, Aldo / Auer, Peter 1986: Identitätskonstitution in der Migration. Konversationsanalytische und linguistische Aspekte ethnischer Stereotypisierungen. In: Linguistische Berichte 104, S. 327-351. Diehm, Isabell / Radtke, Frank-Olaf 1999: Erziehung und Migration. Stuttgart: Kohlhammer. France-Mail-Forum 2005: Dossier Nr. 5, La banlieue / Die Bann-Meile, Sondernummer Herbst 2005, <http://www.france-mail-forum.de/dos/dos5/dos5index.htm> Gogolin, Ingrid 1994: Der monolinguale Habitus der multilingualen Schule. Münster / New York: Waxmann. Gogolin, Ingrid 1999: Mehrsprachigkeit als Kapital bei der Berufseinmündung. Vortrag in der Ringvorlesung Interkulturelle Bildung, Universität Hamburg, 23. November 1999 <http://www2.erzwiss.uni-hamburg.de/personal/Gogolin/Ringvorlesung.htm>. Hinnenkamp, Volker 2005a: „Zwei zu bir miydi?“ - Mischsprachliche Varietäten von Migrantenjugendlichen im Hybriditätsdiskurs. In: Hinnenkamp, Volker / Meng, Katharina (Hg.): Sprachgrenzen überspringen. Sprachliche Hybridität und polykulturelles Selbstverständnis. Tübingen: Narr, S. 51103. Hinnenkamp, Volker 2005b: Semilingualism, Double Monolingualism and Blurred Genres – On (Not) Speaking a Legitimate Language. In: sowi-onlinejournal 1/2005 (“Migration”, hgg. v. F.-O. Radtke) <http://www.sowi-onlinejournal.de/2005-1/index.html> Keim, Inken 2005: Kommunikative Praktiken in türkischstämmigen Kinder- und Jugendgruppen in Mannheim. In: Deutsche Sprache 3/04, S. 198-226. Le Page, Robert B. / Tabouret-Keller, Andrée 1985: Acts of Identity. Cambridge: Cambridge University Press. Miegel, Meinhard 2006: Epochenwende. Gewinnt der Westen die Zukunft? Berlin: Propyläen Radtke, Frank-Olaf / Gomolla, Mechthild 2002: Institutionelle Diskriminierung. Die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule. Opladen: Leske & Budrich / Wiesbaden: VS Verlag. Roy, Olivier 2006: Der islamische Weg nach Westen. Globalisierung, Entwurzelung und Radikalisierung. München: Pantheon. Taylor, Charles 1993: Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung. Frankfurt am Main Tajfel, Henri 1978: The Social Psychology of Minorities. London: Minority Rights Group. Tibi, Bassam 2001: Die neue Weltunordnung. Westliche Dominanz und islamischer Fundamentalismus. Berlin: Ullstein (Econ). Wandruszka, Mario 1979: Die Mehrsprachigkeit des Menschen. München: dtv. Weisgerber, Leo 1966: Vorteile und Gefahren der Zweisprachigkeit. In: Wirkendes Wort, Jg. 16, Nr. 2. 14 Anhang Legende zu den im Text verwendeten Transkripten {?kommt} {fährt /Pferd} (xxxxxxxx) (( )) #((Komm.)) dadada# wortsa:gt, sa:::gt lanngsam, dasssss ein damit DAS °da° °°da°° *ach was* **ach was** >darüber< >>darunter<< + (+) (h) = kom[men [da kom[men] [da ] oğlum mein Sohn unklar mögliche Hör- oder Interpretationsalternativen unverständlich (je nach Länge) Kommentar, Außersprachliches, z.B. ((1,5 Sek.)), ((lachen)) Reichweite des Kommentars Äußerungsabbruch Vokallängung, Grad der Längung Halten des Konsonanten, je nach Intensität Assimilation von „einen“ zu „ein“ hervorgehoben, betont laut leise sehr leise langsam sehr langsam schnell sehr schnell Pause, unter 1 Sekunde Mikropause, deutliches Absetzen Zögern, (z.B. er (h)kommt) schneller Anschluss Überlappung und Beginn der Überlappung Überlappung und parallele Länge der Überlappung fremdsprachiger Text in Kursiva Übersetzungszeile Adresse des Autors: Prof. Dr. Volker Hinnenkamp Hochschule Fulda University of Applied Sciences Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften Marquardstrasse 35 36039 Fulda GERMANY Tel: ++49-(0)661-9640 478 / Fax: ++49-(0)661-9640 452 hinnenkamp@hs-fulda.de 15