Der Tod Jesu im Spiegel seiner »letzten Worte« vom Kreuz

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Der Tod Jesu im Spiegel seiner »letzten Worte« vom Kreuz
Der Tod Jesu im Spiegel seiner
»letzten Worte« vom Kreuz*
Michael Theobald
»Sterbeworte haben eine überdurchschnittlich hohe Überlebenschance«, heißt es im
Vorwort zu einem amerikanischen Dictionary of Last Words.1 Warum das so ist, ist
leicht begreiflich. In einem »letzten Wort«, das ein Mensch – zumal ein bedeutender
– in seiner Sterbestunde spricht, verdichtet sich die Wahrheit seines Lebens, und sie
verdichtet sich so, dass die Nachwelt in ihm die Summe dieses Lebens wie in einem
kostbaren Gefäß aufbewahrt sieht. Authentisch ist ein solches Wort nicht unbedingt
deshalb, weil der Verstorbene es tatsächlich so und nicht anders gesprochen hat, sondern weil es im Rückblick das im Tod erfüllte Leben in eine geglückte Pointe bannt. Oft
genug sagt man deshalb, dass dieses oder jenes »letzte Wort«, auch wenn es vom Verstorbenen selbst nicht gesprochen worden sein sollte, doch gut erfunden sei. Beides, die
besondere »Form« solcher »letzten Worte« wie ihr Hervorgehen aus dem gelebten Leben hat Walter Benjamin in seinem berühmten Essay »Der Erzähler« (1936) in einer
tiefsinnigen Passage bedacht. Er schreibt:
»Sterben, einstmals ein öffentlicher Vorgang im Leben des Einzelnen und ein höchst exemplarischer (man denke an die Bilder des Mittelalters, auf denen das Sterbebett sich in einen Thron
verwandelt hat, dem durch weitgeöffnete Türen des Sterbehauses das Volk sich entgegen drängt)
– sterben wird im Verlauf der Neuzeit aus der Merkwelt der Lebenden immer weiter herausgedrängt. Ehemals kein Haus, kaum ein Zimmer, in dem nicht schon einmal jemand gestorben
war. […] Heute sind die Bürger in Räumen, welche rein vom Sterben geblieben sind, Trockenwohner der Ewigkeit, und werden, wenn es mit ihnen zu Ende geht, von den Erben in Sanatorien
oder in Krankenhäusern verstaut. Nun ist es aber an dem, daß nicht etwa nur das Wissen oder
die Weisheit des Menschen[,] sondern vor allem sein gelebtes Leben – und das ist der Stoff, aus
dem die Geschichten werden – tradierbare Form am ersten am Sterbenden annimmt. So wie im
Innern des Menschen mit dem Ablauf des Lebens eine Folge von Bildern sich in Bewegung setzt
– bestehend aus den Ansichten der eigenen Person, unter denen er, ohne es inne zu werden, sich
selber begegnet ist – so geht mit einem Mal in seinen Mienen und Blicken das Unvergessliche
* Der Text gibt den mit Anmerkungen versehenen Vortrag wieder, der am 19. September 2009 vor der
Mitgliederversammlung des Katholischen Bibelwerks im Caritas-Pirckheimer-Haus/Nürnberg gehalten
wurde. Ich danke meinem Assistenten, Herrn Dipl. theol. Christoph Schaefer, für mancherlei Hilfen bei der
Ausarbeitung.
1 Edward Le Comte, Dictionary of Last Words, New York 1955, VII, zitiert in: K. S. Guthke, Letzte Worte.
Variationen über ein Thema der Kulturgeschichte des Westens, München 1990, 15.
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auf und teilt allem, was ihn betraf, die Autorität mit, die auch der ärmste Schächer im Sterben
für die Lebenden um ihn her besitzt. Am Ursprung des Erzählten steht diese Autorität«2.
Erst am Ende des Lebens, meint hier Walter Benjamin, formt sich die Lebenserzählung
im Rückblick zu einem Ganzen. In »Mienen und Blicken«, aber auch in Bildern, die vor
dem inneren Auge aufsteigen, geht im Angesicht des Todes auf einmal »Unvergessliches« auf und gewinnt in »letzten Worten« »tradierbare Form«. Benjamin resümiert:
»Der Tod ist die Sanktion von allem, was der Erzähler berichten kann. Vom Tode hat er
seine Autorität geliehen.«3
In der Kultur (nicht nur) des Westens spielen »letzte Worte«, ultima verba, last
words in Anekdote, Biographie und Geschichtsschreibung seit alters eine bemerkenswerte Rolle4. Die Formpalette ist schon in der Antike breit. »Abschiedsreden« kennen
wir aus dem Alten Testament mit seinen Sterbeszenen der Patriarchen und Könige5 wie
vor allem aus frühjüdischen Schriften6, ultima verba in Gestalt pointierter Aussprüche
bedeutender Persönlichkeiten eher aus der griechisch-hellenistischen und lateinischen
Literatur7. Das rabbinische Schrifttum setzt mit dem Vermächtnischarakter der Sterberede von Rabbinen die biblische Tradition fort8. Das Neue Testament steht an einer
Schnittstelle: Neben beeindruckenden Beispielen für die Gattung »Abschiedsrede«
oder Testament (vgl. Lk 22,14–38; Joh 13,31–17,26; Apg 20,18–35) bietet es mit den
sieben »letzten Worten« Jesu vom Kreuz die berühmtesten ultima verba der Literaturgeschichte9. Für Theologie und Frömmigkeit waren sie schon immer wichtig, erlangten
2 W. Benjamin, Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows, in: Orient und Occident, NF,
Okt. 1936, 16–33, Nachdruck in: ders., Gesammelte Schriften II/2 (Hrsg. von R. Tiedemann und H. Schweppenhäuser), Frankfurt 1977, 438–465, 449 f. (kursiv von mir).
3 Ebd.
4 Außer Guthke, Letzte Worte (Anm. 1) vgl. auch M. Augustin, Mehr nicht! Letzte Augenblicke
berühmter Frauen und Männer, Zürich 2000; W. Fuld, Lexikon der letzten Worte. Letzte Botschaften
berühmter Männer und Frauen von Konrad Adenauer bis Emiliano Zapata, München 2002; H. Halter, Ich
habe meine Sache getan. Leben und letzte Worte berühmter Frauen und Männer, Berlin 2007.
5 Vgl. Gen 27 (der Tod Isaaks), Gen 49 (der Tod Jakobs), Dtn 33 (der Tod des Mose) und 2Sam 23; 1Kön 2
(der Tod Davids).
6 Vgl. etwa Jub 7,20–39; 10,14–17; 20–23; 35 f.; AssMos; Test XII; slavHen 1–3; 13–20; äthHen 81–91: 4Esr
14; Test Hiob; Test Abr; Test Isaak etc.; J. Becker, Das Evangelium nach Johannes (ÖTK 4/2), Gütersloh
31991, 523–529 (»Die Gattung des literarischen Testaments«).
7 Vgl. W. Schmidt, De ultimis morientium verbis, Diss. phil. Marburg 1914; A. Ronconi, Exitus illustrium
virorum, in: RAC 6 (1966) 1258–1268; vgl. auch M. Reiser, Sprache und literarische Formen des Neuen
Testaments (UTB 2197), Paderborn 2001, 163. – Tacitus, Hist I 41, nennt das »letzte Wort« extrema vox.
8 Vgl. A.J. Saldarini, Last Words and Deathbed Scenes in Rabbinic Literature, in: JQR 68 (1977) 28–45;
J. Neusner, Death-Scenes and Farewell Stories. An Aspect of the Master-Disciple Relationship in Mark and
in some Talmudic Tales, in: HThR 79 (1986) 187–197.
9 Exegetische Studien zu allen sieben Worten sind selten: W. Bauer, Das Leben Jesu im Zeitalter der neutestamentlichen Apokryphen, Tübingen 1909, 220–226; J. Wilkinson, The Seven Word from the Cross, in: SJT
17 (1964) 69–82; S.J. Kistemaker, Seven Words from the Cross, in: WTJ 38 (1976) 182–191; A.M. Schwemer,
Jesu letzte Worte am Kreuz (Mk 15,34; Lk 23,46; Joh 19,28 ff., in: ThBeitr 29 (1998) 5–29; vgl. auch F.-G.
Untergassmair, Art. Kreuzesworte Jesu. I. Biblisch, in: LThK3 6 (1997) 457 f.; Lit. zu den einzelnen Worten
vgl. unten. – Erbauliche oder frömmigkeitsgeschichtliche Arbeiten: K. Hautz, Die sieben Worte Jesu am
Kreuze, Diss. Wien 1953; J. Dover, The Words of the Crucified, London 1967; M. Meyer, Die sieben Worte
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größere Wirkung aber vor allem seit dem Mittelalter, spätestens seit dem 16. Jh. auch
über das Medium der Musik10.
Zur Annäherung an das Thema beginnen wir zunächst mit der Betrachtung ausgewählter ultima verba der antiken Literatur. Sie zeigen, dass die Gattung immer schon
dazu diente, eine ganze Lebens- oder Weltansicht in einen einzigen Ausspruch zu bannen (1). Sodann vergegenwärtigen wir uns die Tradition der sieben Worte Jesu als Komposition, wie sie sich unter dem Vorzeichen der Evangelienharmonien schon im zweiten
Jahrhundert herausgebildet hat und seitdem prägend wurde (2). Drittens wenden wir
uns der diachronen Frage zu: Welche der überlieferten letzten Worte Jesu sind sekundär,
welche primär? Enthielt bereits die älteste Passionserzählung hinter den Evangelien ein
ultimum verbum? Wenn ja, welches? (3.1) Schließlich: Können wir auf dieser Basis etwas darüber ausmachen, ob Jesus am Kreuz ein derartiges Wort gesprochen hat? (3.2)
Der letzte große Teil unserer Überlegungen ist dann der Frage gewidmet, welches Verständnis des Todes Jesu seine letzten Worte in den Evangelien jeweils widerspiegeln (4).
1. Das Leben eine Komödie, eine Krankheit oder was es sonst mit ihm auf sich hat –
ultima verba in der antiken Literatur
»Nemo moriturus praesumitur mentiri« – »von keinem Sterbenden ist anzunehmen,
dass er lügt«, lautet eine alte Maxime11. Zu ihr passt, was Friedrich Nietzsche in der
»Fröhlichen Wissenschaft« unter dem Stichwort »Letzte Worte« zu Kaiser Augustus
notierte: »Man wird sich erinnern, dass der Kaiser Augustus, jener fürchterliche
Mensch, der sich ebenso in der Gewalt hatte und der ebenso schweigen konnte wie irgend ein weiser Sokrates, mit seinem letzten Worte indiscret gegen sich selber wurde:
er ließ zum ersten Male seine Maske fallen, als er zu verstehen gab, dass er eine Maske
getragen und eine Komödie gespielt habe – er hatte den Vater des Vaterlandes und die
Jesu am Kreuz, Göttingen 1995; H. Gross, Die Sieben Letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze. Eine theologische Betrachtung, in: Die Sieben letzten Worte Jesu in der Musik – Handschriften und Drucke aus der
Bischöflichen Zentralbibliothek Regensburg (Katalog zur Ausstellung in der Bischöflichen Zentralbibliothek),
Regensburg 2001, 11–13; G. Lange, »Mein Gott, warum …?« Der Verlassenheitsschrei Jesu am Kreuz als
bildgeschichtliches Problem – in praktisch-theologischer Arbeit, in: H. Baldur/G. Berghaus (Hrsg.), Kreuzungen. Christliche Existenz im Diskurs (FS H. Luthe), Mühlheim/Ruhr 2002, 175–196; P. Niskansen, The Last
Words of Jesus, in: Homiletic and pastoral review 102 (2002) 23–25; F.-J. Steinmetz, Leben aus dem Tod? Die
sieben Worte Jesu am Kreuz, in: Geist und Leben 75 (2002) 117–131; M. van Wijnkoop Lüthi, Die sieben
Kreuzesworte im Spannungsfeld musikalischer Harmonie und theologischer Dissonanz, in: C. Klein/S. Tobler (Hrsg.), Spannweite: Theologische Forschung und kirchliches Wirken (FS H. Klein), Bukarest 2005, 312–
325; L. Resch, Hingabe bis zum äußersten. Jesu Gebet am Kreuz, in: EuA 83 (2007) 309–312.
10 Eine umfassende Bestandsaufnahme bei K. Langrock, Die Sieben Worte Jesu am Kreuz. Ein Beitrag zur
Geschichte der Passionskomposition, Essen 1987; vgl. außerdem P. Kreyssig, Die Sieben letzten Worte des Erlösers am Kreuz, in: Zwischen Bach und Mozart. Vorträge des Europäischen Musikfestes Stuttgart 1988
(Schriftenreihe der Internationalen Bachakademie Stuttgart 4), Kassel 1994, 184–196; R. Dittrich, Die Sieben
letzten Worte Jesu in der Musik – Ein Überblick in Beispielen, in: Worte (Katalog Regensburg) (Anm. 9) 14–56.
11 Vgl. Guthke, Worte (Anm. 1) 35.187.
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Weisheit auf dem Throne gespielt, gut bis zur Illusion! Plaudite amici, comoedia finita
est!«12 – »Klatschet Beifall, Freunde, die Komödie ist zu Ende!« Mit diesem Wort an
der Rampe verabschiedet sich der Hauptdarsteller eines ganzen nach ihm benannten
Zeitalters und tritt von der Bühne ab. Das Leben eine Komödie?! Nichts als »Eitelkeit«
und »Schwatzhaftigkeit« erkennt Nietzsche in diesem Wort, »und recht das Gegenstück
zum sterbenden Sokrates!«13
Diesem hat Platon in der Erzählung von seinem Tod im Phaidon ein literarisches
Denkmal gesetzt. Vergegenwärtigen wir uns kurz, was er dem Phaidon in den Mund
legt, der mit seinen Worten auch Echekrates, der beim Sterben des Sokrates nicht dabei
war, an dieser Stunde teilhaben lassen will:
Als […] Sokrates den Menschen sah [der ihm den Trank reichen sollte], sprach er [zu ihm]:
Wohl, Bester, denn du verstehst es ja, wie muss man es machen? –
Nichts weiter, sagte er, als wenn du getrunken hast, herumgehen, bis dir die Schenkel schwer
werden, und dann dich niederlegen, so wird es schon wirken.
Damit reichte er dem Sokrates den Becher, und dieser nahm ihn, und ganz getrost, o Echekrates, ohne im mindesten zu zittern oder Farbe oder Gesichtszüge zu verändern, sondern,
wie er pflegte, ganz gerade den Menschen ansehend, fragte er ihn:
Was meinst du von dem Trank wegen einer Spendung? Darf man eine machen oder nicht? –
Wir bereiten nur soviel, o Sokrates, antwortete er, als wir glauben, dass hinreichend sein
wird. –
Ich verstehe, sagte Sokrates. Beten aber darf man doch zu den Göttern und muss es, dass die
Wanderung von hier dorthin glücklich sein möge, worum denn auch ich hiermit bete, und so
möge es geschehen.
Und wie er dies gesagt, setzte er an, und ganz frisch und unverdrossen trank er aus.
Als die Anwesenden ihre Tränen nicht mehr zurückhalten konnten – heißt es in der
Erzählung des Phaidon weiter – sprach Sokrates:
Was macht ihr doch, ihr wunderbaren Leute! Ich habe vorzüglich deswegen die Weiber
weggeschickt, dass sie dergleichen nicht begehen möchten; denn ich habe immer gehört,
man müsse stille sein, wenn einer stirbt. Also haltet euch ruhig und wacker.
Als wir das hörten, schämten wir uns und hielten inne mit Weinen. Er aber ging umher, und
als er merkte, dass ihm die Schenkel schwer wurden, legte er sich gerade hin auf den Rücken,
denn so hatte es ihm der Mensch geheißen. Darauf berührte ihn eben dieser, der ihm das Gift
gegeben hatte, von Zeit zu Zeit und untersuchte seine Füße und Schenkel. Dann drückte er
ihm den Fuß stark und fragte, ob er es fühle; er sagte nein. Und darauf die Knie, und so ging
er immer höher hinauf und zeigte uns, wie er erkaltete und erstarrte. Darauf berührte er ihn
noch einmal und sagte, wenn ihm das bis ans Herz käme, dann würde er hin sein.
Als ihm nun schon der Unterleib fast ganz kalt war, da enthüllte er sich, denn er lag verhüllt,
und sagte, und das waren seine letzten Worte:
O Kriton, wir sind dem Asklepios einen Hahn schuldig,
12 F. Nietzsche, Die Fröhliche Wissenschaft, Nr. 36, in: G. Colli/M. Montinari (Hrsg.), Nietzsche. Werke.
Kritische Gesamtausgabe, Bd. V/2, Berlin u. a. 1973, 79. Dem Augustus-Wort stellt er das des Nero zur
Seite: qualis artifex pereo.
13 Ebd.
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entrichtet ihm den,
und versäumt es ja nicht. –
Das soll geschehen, sagte Kriton, sieh aber zu, ob du noch sonst etwas zu sagen hast. Als
Kriton dies fragte, antwortete er aber nichts mehr, sondern bald darauf zuckte er, und der
Mensch deckte ihn auf; da waren seine Augen gebrochen. Als Kriton das sah, schloss er ihm
Mund und Augen14.
Drei religiöse Elemente enthält der Text: Trank-Spende an einen Gott; Gebet zu den
Göttern; Opfer an Asklepios (die letzten Worte). Ein Grund für das von Sokrates erbetene Opfer an den Gott der Heilkunde und der Ärzte wird nicht angegeben. »Der Leser,
angeregt, ihn hinzuzudenken, kann ihn nur in den vorangegangenen Gesprächen über
die Unsterblichkeit finden«15. So wird er in der Weihegabe des Hahns, den Kranke nach
ihrer Genesung dem Asklepios gewöhnlich anboten, ein »Sinnbild« dafür sehen, dass
Sokrates sich nun »von den Übeln dieses Lebens geheilt fühlte und die Genesung, nämlich die Befreiung der Seele vom Körper im anderen Leben, zu erreichen im Begriff
war«16. Das wird sehr anschaulich erzählt: Als Sokrates sein letztes Wort spricht, ist sein
Körper schon fast ganz vom Gift gelähmt und seine Seele dabei, sich von ihm zu trennen
und hinüber in die Ewigkeit zu »wandern«. Für das Verständnis des platonischen Dialogs
als ganzen ist diese seine Abschlussszene fundamental. Sie zeigt nämlich, »dass Sokrates
nicht nur nach dem Lebensideal zu leben verstand, das er gepredigt hatte, sondern dass
er auch den Tod mit der Heiterkeit und Erwartung des künftigen Lebens anzunehmen
wusste, die ihm allein aus dem Glauben an die Unsterblichkeit zufließen konnte«17.
Die Nachwirkung der platonischen Szene in der Antike war groß. Sie wurde zum
»Archetypos einer langen Überlieferung«18, für die der Tod des Seneca, den Kaiser Nero
wegen angeblicher Verstrickung in eine Verschwörung gegen ihn zum Selbstmord
zwang, nur das bekannteste Beispiel ist. Tacitus (ann. 15,64) erzählt, der Philosoph
habe, nachdem er sich die Adern geöffnet hätte und durch den Blutverlust schon ganz
geschwächt gewesen sei, nach dem Schierlingsbecher verlangt – »offensichtlich ein rein
literarisches, aus Platon übernommenes Motiv, das zu dem geschichtlichen Detail des
Verblutens einfach addiert ist«19. Zuletzt sei er, so Tacitus weiter, »in ein Bassin mit
heißem Wasser« gestiegen, »wobei er die zunächststehenden Sklaven besprengte und
hinzufügte, er weihe dieses Nass Iuppiter, dem Befreier«. Auch das ist eine bewusste
14 Platon, Phaidon 117a-118a. Übersetzung von F. Schleiermacher, in: K. Hülser (Hrsg.), Platon. Sämtliche Werke. Bd. IV, Frankfurt 1991, 345.347.
15 R. Hirzel, Der Dialog. Ein literarhistorischer Versuch. Erster Theil, Leipzig 1895, 195.
16 G. Reale, Die Begründung der abendländischen Metaphysik: Phaidon und Menon, in: T. Kobusch/
B. Mojsisch (Hrsg.), Platon. Seine Dialoge in der Sicht neuer Forschungen, Darmstadt 1996, 64–80, 70.
Hirzel, Dialog (Anm. 15) 195: Der Tod ist »Heilung von allen irdischen Leiden«.
17 Reale, Begründung (Anm. 16) 70.
18 Ronconi, Exitus (Anm. 7) 1258; er verweist u. a. auf Plutarch, Cato Min. 68,2/70,4, den Tod des Cato
Uticensis, der, bevor er sich selbst tötet, im Phaidon liest; vgl. auch C. Gnilka, Ultima Verba, in: JbAC 22
(1979) 5–21; G. Sterling, Mors philosophi: The Death of Jesus in Luke, in: HThR 94 (2001) 383–402, 387–390.
19 Ronconi, Exitus (Anm. 7) 1259.
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imitatio des Sokrates, der von dem ihm gereichten Gift zuerst ein Trankopfer darbringen wollte, es aber nicht konnte, weil die Flüssigkeit zu knapp bemessen war, so dass er
sich mit einem Gebet an die Götter begnügte. Dieses Trankopfer holt jetzt Seneca nach,
wobei seine Widmung an Jupiter Liberator das letzte Wort des Sokrates und den in ihm
enthaltenen Gedanken auf greift, dass der Tod eine Heilung bzw. Befreiung darstellt20.
Die Gattung der »letzten Worte« hat auch Eingang in die jüdisch-hellenistische Literatur gefunden. Ein Beispiel dafür ist der Schluss der Erzählung vom Martyrium des
Eleazar, 4Makk 6,26-30. Dort heißt es:
26
27
28
a
b
c
a
b
c
a
b
29
a
b
30
a
b
c
Als er (sc. Eleazar) schon bis auf die Knochen verbrannt war
und im Begriff war, das Bewusstsein zu verlieren,
erhob er seine Augen zu Gott und sprach:
Du weißt, Gott,
obgleich es mir freistand, mich zu retten,
sterbe ich in feurigen Qualen um des Gesetzes willen.
Sei gnädig deinem Volk,
indem du an unserer Bestrafung (stellvertretend) für sie (ὑπὲρ αὐτῶν)
Genügen findest.
Zu einem Reinigungsopfer für sie (καθάρσιον αὐτῶν) mache mein Blut,
und als Ersatz für ihr Leben (ἀντίψυχον αὐτῶν) nimm mein Leben
(τὴν ἐμὴν ψυχήν).
Nachdem er dies gesagt hatte,
starb der heilige Mann in edler Haltung unter Martern
und widerstand bis zu den Qualen des Todes
mithilfe der Denkkraft (τῷ λογισμῷ) um des Gesetzes willen.21
Eleazar stirbt mit einem Gebet auf den Lippen22. Er stirbt aus Treue zur Tora und bittet
Gott darum, er möge seinen Tod als stellvertretendes »Reinigungsopfer« für das ganze
Volk annehmen. So sehr damit seine »letzten Worte« in Israels Glauben integriert
20 In diese Richtung deutet auch ein anderes Detail der Tacitus-Erzählung: Statius Annaeus, der Mann,
den Seneca beauftragt hätte, »das längst vorbereitete Gift zu holen, mit dem die vom Volksgericht der
Athener Verurteilten hingerichtet wurden«, hätte »sich ihm schon lange durch seine treue Freundschaft
und seine ärztliche Kunst bewährt«.
21 Übersetzung nach LXX deutsch. Vgl. auch 2Makk 6,30; außerdem 2Makk 7,37 f.: »Ich aber gebe wie
(meine) Brüder Leib und Leben hin für die Gesetze der Väter und rufe Gott an, dass er bald (seinem) Volk
milde gestimmt werde und dich unter Prüfungen und Geißeln bekennen lasse, dass allein er Gott ist. In mir
aber und meinen Brüdern möge der Zorn des Allmächtigen, der zu Recht über unser ganzes Geschlecht gekommen ist, zum Stehen kommen« (es handelt sich freilich nur um einen Gebetsbericht). Vgl. auch Schwemer, Worte (Anm. 9) 13 f.; T. Rajak, Dying for the Law. The Martyr’s Portrait in Jewish-Greek Literature, in:
M.J. Edwards/S. Swain (Hrsg.), Portraits: Biographical Representation in the Greek and Latin Literature of
the Roman Empire, Oxford 1997, 39–67.
22 Die Bedeutung des Bittgebets erhellt daraus, dass der Verfasser es in seiner Schlussreflexion 4Makk
17,20–22 als von Gott erfüllt aufgreift: »Sie also, die sich heiligten um Gottes willen, fanden verdiente Ehre
[…] dadurch, dass um ihretwillen die Feinde unser Volk nicht überwältigen konnten, […] und unser Vaterland gereinigt wurde, sind sie doch zu einer Art Ersatzleistung für die Sünden des Volkes geworden. Durch
das Blut jener Frommen und ihren sühnenden Tod hat die göttliche Vorsehung das zuvor schwer heimgesuchte Israel gerettet.«
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sind,23 die das Buch insgesamt prägende hellenistische Vorstellungswelt ist doch deutlich: Der Tod des Märtyrers erscheint hier als bewusste Tat seiner Freiheit, die zu setzen
ihn seine »Denkkraft« instand setzt, da sie ihn frei macht gegenüber seinen Affekten.
Der Tod selbst ist Übergang in die Unsterblichkeit der »Seele« bei Gott24.
Halten wir fest: Ultima verba sind ein beliebtes Stilmittel in Historiographie und
Biographie der hellenistisch-römischen Zeit, wobei die Rahmengattungen, in denen
dieses Stilmittel Anwendung findet, naturgemäß variieren25. Fester Bestandteil sind
ultima verba in Sterbeszenen, die überaus beliebt waren26. Hier dienen sie dazu, »die
mutmaßliche Summe eines Lebens« »auf eine Formel« zu bringen, weshalb sie schon
»sozusagen definitionsgemäß von zweifelhafter Authentizität« sind27. Vor dem Hintergrund dieses literarischen Befunds scheint auch bei Jesu letzten Worten in der Frage
ihrer Authentizität Zurückhaltung geboten.
2. Die sieben letzten Worte Jesu in der Tradition der Evangelienharmonie
»Mehr als ein letztes Wort zu hinterlassen scheint geradezu zum Stil des Berühmtseins
zu gehören«, meint K. Guthke28. Gleich sieben letzte Worte werden Jesus zugesprochen,
wobei sich diese Zahl ergibt, wenn man die in den vier Evangelien zu findenden Worte,
die Jesus vom Kreuz herab gesprochen hat, zusammenzählt. Die Zahl sieben scheint
also zufällig zu sein, ist es aber nicht ganz, da man das Wort Jesu an seine Mutter und
das an den geliebten Jünger als ein Wort zählen muss, will man auf die Sieben kommen.
Problematisch wird die Zahl erst recht beim Gebet Lk 23,34 – »Vater, vergib ihnen,
23 H.-J. Klauck, 4. Makkabäerbuch, in: JSHRZ III (1989) 671: »Die Übernahme von Konzeptionen aus der
atl. Opfertheologie und Opfersprache liegt auf der Hand«. Dennoch – so Klauck – wird man »angesichts der
sonstigen Affinitäten unseres Autors zur hellenistischen Kultur im allgemeinen und zu Euripides und der
Tragödie im besonderen […] nicht am stellvertretenden Sterben bei den Griechen vorbeigehen können«,
zumal auch hier das »Sterben für […]« dem Volk zugedacht sein kann.
24 4Makk 18,23 heißt es von den Martyrern, dass »sie heilige und unsterbliche Seelen empfangen haben
von Gott«; dazu E. Brandenburger, Fleisch und Geist. Paulus und die dualistische Weisheit (WMANT 29),
Neukirchen-Vluyn 1968, 71 f. Anm. 5: »Unsterblichkeit eignet der Seele nicht nach ihrer Substanz, denn
nach 18:23 wird die reine und unsterbliche Seele erst von Gott verliehen«; zur individuellen Eschatologie
des Buches vgl. Klauck, 4Makk (Anm 23) 672–674.
25 Neben den Übersichten von Ronconi, Exitus (Anm. 7) und Gnilka, Verba (Anm. 18), vgl. noch
E. Stauffer, Abschiedsreden, in: RAC 1 (1950) 29–35; K. Berger, Hellenistische Gattungen und das Neue
Testament, in: ANRW II 23,2, Berlin 1984, 1031–1432, 1257–1259; ders., Formgeschichte des Neuen Testaments, Heidelberg 1984, 75.77.349 f.
26 Gnilka, Verba (Anm. 18) 5: »Nicht zu Unrecht hat man gesagt, dass die beiden Hauptwerke des Tacitus
aus einer endlosen Kette dargestellten Sterbens bestünden«.
27 Guthke, Worte (Anm. 1) 160: Verba ultima sind »unentbehrlich für biographische und historiographische Intentionen«.
28 Guthke, Worte (Anm. 1) 78.
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denn sie wissen nicht, was sie tun« –; das Wort fehlt in wichtigen alten Textzeugen und
könnte deshalb nachgetragen sein29.
J.A Whitlark und M.C. Parsons meinten jüngst, dieses ursprünglich mündlich tradierte JesusWort30 sei erst zu dem Zeitpunkt sekundär in das Lukasevangelium hineingekommen, als man
im Prozess des Vergleichens der vier Evangelien miteinander auf die Gesamtzahl der letzten
Worte Jesu aufmerksam wurde und diese dann zur Zahl der Vollkommenheit – der Sieben –
auffüllen wollte31. Das sei geschehen, als man mit den Widersprüchen, Wiederholungen und
Doppelungen der Evangelien als ihrer Glaubwürdigkeit nicht dienlich haderte und deshalb die
anerkannten Evangelien in ein einziges zu verschmelzen suchte. Die erste nachweislich bekannte Evangelienharmonie ist die des Syrers Tatian, die – entstanden um 170 n. Chr. – für die
gesamte Entwicklung der Evangelienüberlieferung und -rezeption bis in die Neuzeit hinein von
nicht zu überschätzender Bedeutung ist32. Sie selbst ist nicht erhalten und lässt sich nur noch
aus Sekundärzeugen rekonstruieren. Hinzu kommt, dass ein derartiges Unternehmen nie in
einem ersten Wurf gelingen konnte und deshalb überall da, wo die Evangelienharmonie auf
Interesse und sogar gottesdienstliche Akzeptanz stieß, zu Verbesserungen einlud. Die Folge ist
eine im Osten und Westen weit verzweigte Tradition von Evangelienharmonien in Antike und
Mittelalter, die in sehr vielfältiger Weise den Archetyp Tatians fortgeschrieben haben33.
29 So B.M. Metzger, A Textual Commentary on the Greek New Testament, Stuttgart 1975 (Corrected
Edition), 180; Nestle27 klammert V. 34a ein; das Wort fehlt immerhin bei so wichtigen Zeugen wie P75 B D*
W Θ ita,d syrs cosa,bo(mss). Angesichts dieser crux interpretum erstaunt die große Zahl der Studien zum Vers
nicht: A. von Harnack, Probleme im Texte der Leidensgeschichte Jesu II: Zu Luc. 23,33.34, in: ders., Studien
zur Kirchengeschichte des Neuen Testaments und der Alten Kirche I: Zur neutestamentlichen Textkritik
(AKG 19), Berlin u. a. 1931, 91–98; D. Flusser, »Sie wissen nicht, was sie tun«. Geschichte eines Herrenwortes, in: P.G. Müller/W. Stenger (Hrsg.), Kontinuität und Einheit (FS F. Mußner), Freiburg 1981, 393–
410; Th.M. Bolin, A Reassessment of the Textual Problem of Luke 23:34a, in: Proceedings, Eastern Great
Lakes and Midwest Biblical Societies, Vol. 12, Cincinnati 1992, 131–144; J.H. Petzer, Anti-Judaism and the
Textual Problem of Luke 23:34, in: Filologia neotestamentaria 5 (1992) 199–203; J. Delobel, Luke 23,24a: A
Perpetual Text-Critical Crux?, in: W.L. Petersen (Hrsg.), Sayings of Jesus. Canonical and non-canonical.
Essays in Honor of Tjitze Baarda (NT.S 89), Leiden 1997, 25–36; G.P. Carras, A Pentateuchal Echo in Jesus’
Prayer on the Cross. Intertextuality between Numbers 15,22–31 and Luke 23,34a, in: C.M. Tuckett (Hrsg.),
The Scriptures in the Gospels (BETL 131), Leuven 1997, 605–616; M. Blum, «… denn sie wissen nicht, was
sie tun.” Zur Rezeption der Fürbitte Jesu am Kreuz (Lk 23,34a) in der antiken jüdisch-christlichen Kontroverse (NTA.NF 46), Münster 2004, 17–28 (»Zur Textkritik«); J.A Whitlark/M.C. Parsons, The »Seven« Last
Words: A Numerical Motivation for the Insertion of Luke 23.34a, in: NTS 52 (2006) 188–204.
30 Bauer, Leben (Anm. 9) 223 f., verweist darauf, dass das Agraphon bereits Irenäus, Origenes, Hippolyt,
den Ps.-Clementinen und der syrischen Didaskalia geläufig gewesen sei; auch Kaiser Julian habe es gekannt; vgl. auch Flusser, Geschichte (Anm. 29) 399 ff., sowie Metzger, Commentary (Anm. 29) 180.
31 Whitlark/Parsons, Words (Anm. 29) 188–204.
32 Vgl. H.J. Vogels, Handbuch der Textkritik des Neuen Testamens, Bonn 21955, 111–115; M.-É. Boismard, Le Diatessaron: de Tatien à Justin (EB.NS 15), Paris 1992; B.M. Metzger, The Early Versions of the
New Testament. Their Origin, Transmission, and Limitations, Oxford 1977, 10–36; W.L. Petersen, Tatian’s
Diatessaron. Its Creation, Dissemination, Significance, and History in Scholarship (VChr.S 25), Leiden
1994. – Die Frage, ob bereits sein Lehrer Justin über eine Evangelienharmonie auf synoptischer Basis
(ohne Joh) verfügte, ist umstritten; Petersen, Diatessaron, 513 (vgl. ders., Textual Evidence of Tatian’s
Dependence upon Justin’s ΑΠΟΜΝΗΜΟΝΕΥΜΑΤΑ, in: NTS 36 [1990] 512–534), bejaht sie, G. Stanton,
Jesus and Gospel, Cambridge 2004, 77, verneint sie. Bemerkenswert in unserem Zusammenhang ist aber,
dass Justin, Dial 99,1 und 105,5 zwei der letzten Worte Jesu, nämlich Mk 15,34/Mt 27,46 und Lk 23,46, mit
Verweis auf seine »Denkwürdigkeiten der Apostel« im selben Kontext bietet.
33 Hierzu vgl. den beeindruckenden Stammbaum der Diatessaron-Tradition in Petersen, Diatessaron
(Anm. 32) 490; vgl. auch C. Burger/A. Den Hollander/U. Schmid (Hrsg.), Evangelienharmonien des Mit-
9
Der Tod Jesu im Spiegel seiner »letzten Worte« vom Kreuz
In diesem Zusammenhang verweisen nun die beiden genannten Autoren darauf, dass in den
Zusammenstellungen der sieben letzten Worte Jesu ausgerechnet die Position des Gebets Lk
23,34 zunächst variierte, bis sich – der kanonischen Ordnung gemäß (bei Lukas steht es unmittelbar nach der Notiz von der Kreuzigung Jesu) – sein erster Platz festigte. In der Tat ist
seine Platzierung in der arabischen Übersetzung, einem »wertvollen Zeugen« des Diatessarons (Tatar) 34, erst an sechster Stelle und im Kommentar des Ps-Ephräm (Tatefr) 35 an siebenter
auffällig (vgl. auch Const. App.). Die folgende Synopse zur Reihenfolge der letzten Worte Jesu
in wichtigen Diatessaron-Zeugen36 kann den Befund veranschaulichen:
Tatar
Tatefr
Const. App.
V,14,17
Tatfuld
Tat pers
Harmonie des
Samuel Pepy
11. Jh.
4. Jh.
zwischen
375 und 400
547 n.Chr.
Capua 37
13. Jh.
um 1400
mittelenglisch
Lk 23,34
Lk 23,43
(Joh 19,26.27)
Lk 23,34
Lk 23,43
Joh 19,26.27
Lk 23,34
Lk 23,43
Joh 19,26.27
Joh 19,26.27
Mk 15,34 /
Mt 27,46
Joh 19,28
Joh 19,30
Lk 23,34
Mk 15,34 /
Mt 27,46
Mk 15,34 /
Mt 27,46
Joh 19,28
Joh 19,30
Joh 19,28
Joh 19,30
Joh 19,26.27
Lk 23,43
Mk 15,34 /
Mt 27,46
Joh 19,28
Joh 19,30
Lk 23,46
Lk 23,43
Mk 15,34 /
Mt 27,46
Lk 23,46
Lk 23,46
Lk 23,46
Mk 15,34 /
Mt 27,46
Lk 23,34
Lk 23,46
Lk 23,34
Lk 23,46
telalters (STAR 9), Assen 2004. Unter dem Eindruck des Nominalismus verändern sich während der Reformation die in den Evangelienharmonien angewandten Prinzipien weg von der Verschmelzung der Perikopen bzw. Auslassung von Parallelen etc. hin zu einer größeren Vollständigkeit des aufgenommenen
Materials; grundlegend hierzu P. Hörner, Zweisträngige Tradition der Evangelienharmonie. Harmonisierung durch den »Tatian« und Entharmonisierung durch Georg Kreckwitz u. a. (Germanistische Texte und
Studien 67), Hildesheim 2000, sowie dies. in: Erasmus Alber, Evangelienharmonie (Hrsg. von P. Hörner),
Berlin 2009, 4–18. – Zur Reformationszeit vgl. auch D. Wünsch, Evangelienharmonien im Reformationszeitalter. Ein Beitrag zur Geschichte der Leben-Jesu-Darstellungen (AKG 52), Berlin 1983.
34 So Vogels, Handbuch (Anm. 32) 115. – Vgl. auch A. Pott (Hrsg.), Tatians Diatessaron. Aus dem Arabischen übersetzt von E. Preuschen (mit einer einleitenden Abhandlung und textkritischen Anmerkungen), Heidelberg 1926. E. Nestle, The Seven Words from the Cross, in: ExpTi 10 (1899/1900) 423 f., nennt
die Platzierung der Vergebensbitte erst an sechster Stelle »strange«: »What may be the reason of this arrangement? Is the word, ›Father, forgives them,‹ a later insertion […]?”
35 Ephraem der Syrer, Kommentar zum Diatessaron. Übersetzt und eingeleitet von C. Lange, 2 Bde. (FC
54/1.2), Turnhout 2008, Bd.2: 20,24 f. 27 (Joh 19,26 f. werden nicht direkt zitiert).30; 21,1.3; vgl. auch L. Abramowski, Narsai, Ephräm und Kyrill über Jesu Verlassenheitsruf Matth. 27,46, in: H.-J. Feulner (Hrsg.), Crossroad of Cultures. Studies in Liturgy and Patristics in Honor of Gabriele Winkler (OCA 260), Rom 2000, 43–67.
36 Die Passionsszene der Apostolischen Konstitutionen (3. Spalte), die sehr wahrscheinlich aus Syrien stammen, wurde hier aufgenommen wegen der von ihr bezeugten harmonistischen Tradition, die mit ihrer Reihenfolge der drei letzten Worte Jesu an Tatar erinnert (vgl. E. Nestle, ›Father, forgive them‹, in: ExpTi 14 [1902/1903]
285–286). – Zu Tatpers, einer persischen Übersetzung des Diatessaron aus dem Syrischen, vgl. Vogels, Handbuch
(Anm. 32), 115, zur mittelenglischen Harmonie des Samuel Pepy Petersen, Diatessaron (Anm. 32) 168 f.
37 E. Ranke, Codex Fuldensis. Novum Testamentum Latine Interprete Hieronymo, Marburg/Leipzig 1868;
zu diesem auf Anordnung von Bischof Victor in Capua geschriebenen, heute in Fulda liegenden Codex vgl.
10
Michael Theobald
Jason A. Whitlark und Mikeal C. Parsons schließen aus ihren Beobachtungen, dass man das
Gebet Lk 23,34 erst nachträglich unter die letzten Worte Jesu in der Evangelienharmonie
aufgenommen hätte, von der es dann in die gewöhnlichen Lukas-Handschriften hinübergewandert sei. Man kann den Befund aber auch anders deuten, nämlich als Reflex der kontroversen Überlieferungslage, die sich erst im 4./5. Jh. änderte, als das Gebet fast überall fester
Bestandteil des Lukasevangeliums geworden war. Seine partielle Positionierung am Ende der
Reihe in einigen Diatessaron-Zeugen dürfte im Übrigen dem Eindruck von der überragenden
Bedeutung dieses jesuanischen Gebets für die Verfolger geschuldet sein.
Nach allem Abwägen des Für und Wider wird man sich für die Beibehaltung des Gebets
im ursprünglichen Text des Lukasevangeliums entscheiden. Abgesehen von den internen Gründen, die später transparent werden38, ist vor allem wichtig, dass sich ein Motiv für die so verbreitete Tilgung des Gebets in der frühen Textgeschichte angeben lässt:
ein heidenchristlicher Antijudaismus, der es nicht vertrug, dass Jesus für die mörderischen Juden Fürbitte bei seinem Vater eingelegt haben soll39.
Die Frage nach der Siebener-Reihe in der Tradition der Evangelienharmonie gibt uns
nun noch die Gelegenheit, die Worte insgesamt ins Auge zu fassen, und zwar in der
Reihenfolge, wie sie der im Jahr 547 fertig gestellte Codex Fuldensis (Tatfuld) zum ersten
Mal bezeugt40. Sie selbst ist aber gewiss älter. Von vereinzelten Abweichungen abgesehen, blieb sie im Mittelalter bis in die Neuzeit hinein konstant41. Wir kennen sie aus dem
Vogels, Handbuch (Anm. 32) 108: »Die Hs bietet das ganze NT, hat aber statt der vier Einzelevangelien ein
auf altlateinischer Grundlage ruhendes Diatessaron, das auf Tatian zurückgeht«, vgl. auch 113 sowie ders.,
Beiträge zur Geschichte des Diatessaron im Abendland, Münster 1919; zur jüngeren Diskussion um den
Codex Fuldensis vgl. U. Schmid, Evangelienharmonien des Mittelalters: Forschungsgeschichtliche und systematische Aspekte, in: C. Burger u. a. (Hrsg.), Evangelienharmonien (Anm. 33) 5–8.10 f. und im selben Band
ders., Lateinische Evangelienharmonien – Die Konturen der abendländischen Harmonietradition, 19–22 u. ö.
38 Vgl. unten 4.2 zur Komposition der drei Worte. – Nicht zufällig legt Lukas auch Stephanus drei letzte
Worte in den Mund, Apg 7,56.59.60, von denen das zweite und dritte (in umgekehrter Reihenfolge!) Lk
23,46.34 entsprechen und das erste an Lk 22,69 anknüpft (vgl. bei E. Haenchen, Die Apostelgeschichte
[KEK], Göttingen 61968, 244 Anm. 7). Da die Angleichung der beiden Sterbeszenen literarisch beabsichtigt
ist, dürfte die gleiche Anzahl der ultima verba für die Ursprünglichkeit von Lk 23,34 sprechen.
39 So schon von Harnack, Probleme (Anm. 29) 91–98; Bauer, Leben (Anm. 9) 224: »Antijüdische Tendenzen mögen dabei im Spiel gewesen sein. Der Hauptgrund war aber gewiß der, dass die auf das Jahr 70
und seine Katastrophe zurückblickenden Leser des Evangeliums fanden, Jesus hätte eine Fehlbitte getan –
was doch unmöglich angenommen werden darf«; vgl. auch Flusser, Geschichte (Anm. 29) 394.410 (ursprünglich ein Gebet nur für die Henker, das später als Gebet für die Juden verstanden und dann spätestens
im 3. Jh. aus antijudaistischen Gründen aus vielen Handschriften getilgt wurde); F. Bovon, Das Evangelium
nach Lukas (Lk 19,28–24,53) (EKK III/4), Neukirchen-Vluyn 2009, 462. – J.H. Petzer, Ecleticism and the
Text of the New Testament, in: P.J. Hartin/J.H. Petzer (Hrsg.), Text and Interpretation. New Approaches in
the Criticism of the New Testament, New York 1991, 47–62, 54–60, sieht die Sachlage genau umgekehrt:
Das nachträglich eingefügte Gebet für die Henker (westlicher Text!) wurzle in einem Antijudaismus, der
die Römer, die Jesus kreuzigten, entlasten, die Juden zugleich aber belasten wollte. Diese Erklärung hängt
am Verständnis des Gebets als Fürbitte ursprünglich nur für die Soldaten (vgl. unten 4.2).
40 Ranke, Codex Fuldensis (Anm. 37) 154–156.
41 Dittrich, Worte (Anm. 10) 15: »Zwar gab es zu keiner Zeit eine festgeschriebene Reihenfolge der sieben
Worte«, doch die oben dokumentierte hat sich »in der Praxis herauskristallisiert«; Langrock, Worte (Anm.
10) 13. Die Worte II und III wurden aus nahe liegenden Gründen des Öfteren vertauscht: Erst sollte Jesus
sich seinen Vertrauten zuwenden (= III), dann erst dem Verbrecher zu seiner Rechten (= II); so schon der
Heliand (9. Jh.), Gesänge 66 f.; Tat pers; die Harmonie des Samuel Pepy; auch die einflussreiche Passions-
11
Der Tod Jesu im Spiegel seiner »letzten Worte« vom Kreuz
Passionslied »Da Jesus an dem Kreuze stund«, das bis heute in unseren Kirchen gesungen wird42. Seine früheste Bezeugung bietet eine Wiener Handschrift von 1494, die auch
eine Melodie enthält. Auf dem Weg seiner poetischen Gestaltung durch den Hebraisten
Johann Böschenstein aus Esslingen von 1515 gelangte das Lied in zahlreiche protestantische und katholische Gesangbücher43. Die früheste mehrstimmige Vertonung des Liedes stammt von Ludwig Senfl (um 1520), die bekannteste ist die von Heinrich Schütz
(um 1645)44. Auch dem Instrumentalwerk von Josef Haydn (1787) liegt dieselbe Abfolge
der Worte Jesu zugrunde, die ihm von der spanischen Karfreitagsandacht in Cadiz her,
für die er sein Werk komponierte, vorgegeben war45. Mit ihrer ausgewogenen Architektonik, die der Wortfolge in den Evangelien nahe kommt, hat sie sich weithin bewährt:
I.
II.
Lk 23,34
Lk 23,43
Vater,
vergib ihnen,
denn sie wissen nicht, was sie tun.
Gebet
Amen, ich sage dir,
heute noch wirst du mit mir
im Paradies sein.
Heilszusage
III. Joh 19.26.27 Frau, siehe dein Sohn!
Siehe, deine Mutter!
IV. Mk 15,34
V.
Joh 19,28
Testament
Mein Gott, mein Gott,
wozu hast du mich verlassen?
Ps 22,2
Gebet
Mich dürstet!
Ps 69,22
Schrei des Menschen
harmonie des Johann Bugenhagen, Die Historia des Leydens und der Aufferstehung unsers Herrn Jhesu
Christi, aus den vier Evangelien, Wittenberg 1526 (abgedruckt in: E. Mühlhaupt [Hrsg.], D. Martin Luthers
Evangelien-Auslegung, 5. Teil: Die Passions- und Ostergeschichten aus allen vier Evangelien, Göttingen
4
1969, 33*-57*,48*f.), die Luther bei seinen Predigten benutzte; außerdem Paul Gerhardt. J.A. Bengel,
Richtige Harmonie der vier Evangelisten […], Tübingen 21747, 569, legt sich die Voranstellung von III vor
II folgendermaßen zurecht: »Nun aber ist Johannes, nachdem er die Mariam in seine Wohnung gefuehret,
wieder zu dem Creuz gekommen, V. 35, und ist daher zu erachten, sie sey nicht nur vor der dreystuendigen
Finsterniß von dem freyen Felde in ein Haus gefuehret worden, sondern es sey auch nach dem ersten Wort
des gecreuzigten JEsu zu seinem himmlischen Vater, sein zweytes Wort an seine beym Creuz erblickte
Mutter ergangen.« – Die Abschlussstellung von Joh 19,30 (= VI), eine weitere Variante der Reihe, kommt
seltener vor. Die klassische Form bietet z. B. Erasmus Alber, Evangelienharmonie (Anm. 33) 197–199.
42 Vgl. »Gotteslob« Nr. 187; das »Evangelische Gesangbuch« von 1996 enthält das Lied nicht. – Das »an
dem Kreuze stund« (es gibt auch die Variante »an dem Kreuze hing«) lässt an die Hoheit des romanischen
Crucifixus denken.
43 Des Näheren dazu vgl. Dittrich, Worte (Anm. 10) 30–34.
44 Allerdings kreuzen sich bei ihm zwei Traditionen: Übernimmt er in den Rahmenteilen seiner Komposition (Exordium/Conclusio) den Text des Passionslieds, so folgt er bei den sieben Worten der Tradition
der Passionsharmonien. »Erstmals in der Musikgeschichte bilden die Sieben Worte – in der deutschen
Übersetzung Martin Luthers – den Gegenstand einer selbständigen, nicht in den Rahmen einer Passion
integrierten Komposition« (Dittrich, Worte [Anm. 10] 21).
45 Hierzu Th. Göllner, ›Die sieben Worte am Kreuz‹ bei Schütz und Haydn, München 1986; D. Haberl,
»Diese Pause wurde von der Musik ausgefüllt« – Joseph Haydns Instrumentalfassung der ›Sieben letzten
Worte unseres Erlösers am Kreuze‹, in: Worte (Katalog Regensburg) (Anm. 9) 57–70.
12
Michael Theobald
VI. Joh 19,30
Es ist vollbracht!
VII. Lk 23,46
Vater,
in deine Hände lege ich meinen Geist!
Ruf des Gottessohns
Ps 31,6
Gebet
Zwei Beobachtungen seien an diese Übersicht angeschlossen46:
(1) Die Reihe bietet eine eigene Dramaturgie des Sterbens Jesu, die in den diversen
theologischen Kommentaren, Meditationen, Passionsandachten und Passionspredigten
zu den letzten Worten Jesu über die Jahrhunderte hinweg theologisch recht unterschiedlich entfaltet wurde47. Das Rückgrad dieser Dramaturgie sind die drei Gebete
Jesu, die am Anfang, in der Mitte und am Ende der Komposition stehen und von denen
das zweite und dritte aus der Schrift Israels geschöpft sind48. Diese Gebete beschreiben
einen inneren Weg, der beim Willen zur Vergebung einsetzt, zur Klage gegen Gott
führt und in ein letztes Einverständnis mit dem Vater einmündet. Die damit gegebene
Christologie besitzt exemplarischen Charakter: Sie lädt dazu ein, auch das eigene Sterben im Licht des Sterbens Jesu zu sehen, vermittelt also eine Art ars moriendi in drei
Etappen: Versöhnung mit den Menschen, Aufbegehren gegen Gott und schließlich die
Einwilligung in das Sterben49. Bevor man aus exegetischer Sicht das je spezifische Profil der Worte einklagt, insbesondere auf der Schärfe der markinischen Darstellung mit
46 Wilkinson, Words (Anm. 9) 69, bestimmt die Struktur der Reihe anders: »Three words of Intercession«
(I-II-III), »Two words of Suffering« (IV-V), »Two words of Victory« (VI-VII).
47 Zur monastischen Tradition der Passionsmeditation und -predigt im Mittelalter und in der frühen Neuzeit sowie zum liturgischen Hintergrund vgl. Dittrich, Worte (Anm. 10) 14 ff. Stellvertretend für vieles andere aus der Reformationszeit sei auf die schöne Meditation der Sieben Worte des Erfurter Augustiners Johannes von Paltz (gestorben 1511) hingewiesen, in: ders., Die himlische funtgrub: Werke 3: Opuscula, Berlin
1989, 208–210. – Zum 19. Jh. im angelsächsischen Raum vgl. etwa I. Williams, The Gospel Narrative of Our
Lord’s Passion harmonized. With Reflections, London 41850, 363–368, der die Sieben Worte »in a sevenfold
character or point of view« vorstellt; darunter eine christologische Lesart im Blick auf »the mysterious attributes of our Blessed Lord« (in der klassischen Abfolge der Worte): »1. His Mediation and Intercession. 2. His
Kingly Power. 3. The Son of Man. 4. His human Soul. 5. His human body. 6. His sinless perfection. 7. His
voluntary Sacrifice«, oder eine paränetische Lesart zu christlichen Lebensführung: »1. Forgiveness of injuries.
2. Penitence. 3. Filial duty. 4. Fear of God. 5. Fulfilment of His Word. 6. Perfect obedience. 7. Resignation« etc.
48 Für das erste Gebet wird zuweilen Jes 53,12 (»er trug die Sünden der Vielen und trat für die Übeltäter
ein«) als Hintergrund postuliert, was aber eher unwahrscheinlich ist: Lukas, auf den das Gebet zurückgehen
dürfte, orientiert sich in der Regel an der Septuaginta, die hier anders liest (»um ihrer Sünden willen wurde
er dahingegeben«); die Form des Gebets (Bitte mit Begründung) ist aber von den Psalmen her geläufig: vgl.
LXX Ps 6,3; 24,16; 55,2; 56,2; 122,3. – Dittrich, Worte (Anm. 10) 17, zeigt für die musikalische Entwicklung
seit dem 16. Jh., dass das vierte Wort »offenbar von Anfang an als ein Höhepunkt galt, um den sich die je drei
anderen Kreuzesworte gruppierten«.
49 So im Sinne einer ars moriendi z. B. Paul Gerhard in der 15. Strophe seines Gedichts »Die sieben Worte
/ die der Herr JESUS am Creutz geredet. (Hör an, mein Herz die sieben Wort)«: »O wollte Gott, dass ich
mein End / Auch also möchte enden! / Und meinen Geist in Gottes Hand / Und treuen Schoß hinsenden. /
Ach lass, mein Hort! dein letztes Wort / Mein letztes Wort auch werden / So wird ich schön und seelig
gehen / Zum Vater von der Erden« (in: Worte [Katalog Regensburg] [Anm. 9] 93).
Der Tod Jesu im Spiegel seiner »letzten Worte« vom Kreuz
13
Ps 22,2 als einzigem ultimum verbum Jesu beharrt50, das sich mit Ps 31,6 an siebenter
Stelle nicht ohne weiteres verträgt, wird man die Leistung der Komposition der Sieben
Worte samt der sich an sie anschließenden großen geistlichen Tradition würdigen.
(2) Wer die sieben Worte meditiert, dem ersteht vor seinem inneren Auge das zentrale
christliche Kultbild: der Gekreuzigte, thronend zwischen den beiden Schächern und zu
Füßen seine Mutter und »der Jünger, den Jesus liebte«. Der unendlichen Einsamkeit des
auf Golgotha Gekreuzigten scheint dieses Bild entrückt. Doch schon die vier Evangelisten sind auf dem Weg zu diesem Kultbild: Bei Markus sind noch »alle Jünger« geflohen
(Mk 14,50), nur Frauen beobachten das Geschehen »von ferne« (Mk 15,40); anders Lukas, der neben einer großen Volksmenge, die das »Schauspiel« verfolgt, »alle Bekannten«
Jesu in die Reichweite des Kreuzes rückt (seine Jünger eingeschlossen) 51 und sie zusammen mit den Frauen »von ferne« zuschauen lässt (Lk 23,49)52. Die letzte Steigerung
bietet das Vierte Evangelium mit seiner eher statuarischen Szene53: Es zeigt uns die
Frauen »beim Kreuz Jesu« (Joh 19,25), unter ihnen auf einmal seine »Mutter« und einen
besonders erwählten Jünger (Joh 19,26). Geht man davon aus, dass die johanneische
Gemeinde sich durch diesen anonymen Jünger vertreten wähnte, dann sah sie sich auch
selbst unter dem Kreuz, durch die Erzählung in die Szene hineingeholt. Später zeigen
die Maler den Stifter des Kultbildes oder andere hochrangige Christen unter dem Kreuz
– auf Knien an der Seite, womit allen, die vor das Kultbild treten, ihr Ort angewiesen
wird: ein Ort der Anbetung und Verehrung des Gekreuzigten.
Man könnte bei diesem Vorgang von einer Ästhetisierung der Wirklichkeit sprechen54. Sie provoziert die Frage: Was verbirgt sich hinter den Ikonen unserer Evangelien, das Markusevangelium eingeschlossen? Was geschah wirklich auf Golgotha? In
welchem Elend und in welcher Einsamkeit starb der Gekreuzigte tatsächlich?
3. Sieben letzte Worte. Ist überhaupt eines von ihnen authentisch?
Gegner sehen oft schärfer. So erklärte der Neuplatoniker Porphyrius (234–301/305) in
seiner Schrift »Gegen die Christen«, in der er umfassend auf Widersprüche und Ungereimtheiten zwischen den Evangelien hinwies, zu den unterschiedlichen Versionen der
50 W .Fritzen, Von Gott verlassen? Das Markusevangelium als Kommunikationsangebot für bedrängte
Christen, Stuttgart 2008, 342 Anm. 98: »In allen anderen Evangelien bleiben die Worte Jesu am Kreuz nicht
seine letzten; als Auferstandener richtet er seine Worte erneut an die Jünger und an die Leser […].«
51 Die Notiz von der Jüngerflucht, Mk 14,50, hat der Dritte Evangelist zwischen Lk 22,53 und 22,54 ersatzlos gestrichen.
52 Vgl. P.-G. Klumbies, Das Sterben Jesu als Schauspiel nach Lk 23,44–49, in: BZ.NF 47 (2003) 186–205.
53 Es gibt viel weniger Bewegung als bei den anderen Evangelien; von nur vier Soldaten ist die Rede, »die
Juden« treten am Kreuz selbst nicht in Erscheinung.
54 Auch auf unseren Fall trifft die Beobachtung von W. Hildesheimer, Mozart, Frankfurt 1977, 370, zu:
»Sterbeakt und Tod des Genies unterliegen nicht zuletzt auch der ästhetischen Zensur: Für die verehrende
Nachwelt haben sie das Minimum des emphatisch Schönen zu erfüllen, des Überlieferbaren, ›letzte Worte‹,
letzte Gesten.«
14
Michael Theobald
letzten Worte Jesu: Sie legten die Annahme nahe, »nicht ein einziger, sondern mehrere
hätten gelitten«55. Den bei Porphyrius gegen die Glaubwürdigkeit der Evangelien gerichteten kritischen Impuls nimmt die historisch-literarische Kritik der Neuzeit auf,
arbeitet jetzt aber im Wissen um die Standortgebundenheit aller geschichtlichen Deutung das sehr unterschiedliche theologische Profil der Evangelien heraus, um es mit
dem zu konfrontieren, was sich vernünftigerweise historisch sagen lässt. Was die letzten Worte Jesu betrifft, stehen zwei Fragen an: Welches Wort stand in der ältesten
Passionserzählung, die unseren Evangelien noch voraus liegt? Und erlaubt uns diese
älteste Quelle, über Jesu tatsächliches Sterben eine Aussage zu treffen?
3.1 Die älteste Passionserzählung – ohne ein verbum ultimum Jesu?
Auszugehen ist von Ps 22,2, dem ältesten verbum ultimum Jesu – und dem einzigen im
Markusevangelium. Alle übrigen Worte unterliegen m. E. schon auf Grund redaktionskritischer Einsichten dem Verdikt sekundärer Bildung. Damit ist aber noch nicht die Frage
entschieden, ob Ps 22,2 auch schon in der Markus vorgegebenen bzw. in der ältesten Passionserzählung gestanden hat. R. Bultmann verneinte das. Er verwies auf die Doppelung
des Motivs vom »lauten Schrei« in Mk 15,34 und 37 und erklärte: Der »laute Schrei« samt
Psalmwort, der in V. 34 vorangeht, sei »offenbar« »eine sekundäre Interpretation des
[nachfolgenden] wortlosen Schreis Jesu V. 34«, der älter sei56. Dabei ließ R. Bultmann sich
wohl auch von der Vorstellung leiten, die älteste Passionserzählung müsse »neutral« und
»(relativ) legendenfrei« gewesen sein, wozu die nüchterne Notiz vom Sterben Jesu mit
einem durchdringenden unartikulierten Schrei auf seinen Lippen passen würde57. Der
archaische Eindruck, den diese Notiz macht, erklärt vielleicht auch, warum der literarkritische Vorschlag von R. Bultmann bis heute auf Akzeptanz stößt58. Aber kannte die älteste
55 Bei A. von Harnack, Porphyrius, ›Gegen die Christen‹, 15 Bücher. Zeugnisse, Fragmente und Referate
(APAW.PH 1916,1), Berlin 1916, 50 f. (Fr. 15); dazu H. Merkel, Die Widersprüche zwischen den Evangelien.
Ihre polemische und apologetische Behandlung in der Alten Kirche bis zu Augustin (WUNT 13), Tübingen
1971, 15.
56 R. Bultmann, Die Geschichte der synoptischen Tradition (FRLANT.NF 12), Göttingen 81970, 295:
»V. 34 ist offenbar eine nach ψ 21,2 geformte sekundäre Interpretation des wortlosen Schreis Jesu V. 37 (πάλιν
fehlt V. 37, während Mt es hinzufügt!). Damit ist zugleich V. 35.36b als sekundär erwiesen«. Vgl. bereits
J. Weiß, Das Markus-Evangelium, in: ders. (Hrsg.), Die Schriften des Neuen Testaments, Göttingen 1906,
206; W. Bussmann, Synoptische Studien, Erstes Heft: Zur Geschichtsquelle, Halle 1925, 19 f. (»Überlieferungsdubletten«); auch D. Lührmann, Das Markusevangelium (HNT 3), Tübingen 1987, 263, macht das
Argument stark: »Auffällig ist bei Mk aber die doppelte Erwähnung des lauten Schreis Jesu in 34 und 37«.
57 Freilich bleibt Bultmann, Geschichte (Anm. 56) 296, vorsichtig: »Ob der einzig neutrale V. 37 einmal
einen Platz in einem älteren (relativ) legendenfreien Bericht hatte, vermag man nicht zu sagen.«
58 Bultmann folgen u. a. E. Linnemann, Studien zur Passionsgeschichte (FRLANT 102), Göttingen 1970,
137.148; J. Gnilka, Das Evangelium nach Markus (Mk 8,27–16,20) (EKK II/2), Zürich/Neukirchen-Vluyn
1979, 312; Lührmann, Mk (Anm. 56) 263 f., hält es für möglich, »dass Mk (oder vielleicht eine frühere
Fassung der ihm vorgegebenen Passionsgeschichte) dieses Zitat von Ps 22 erst eingebracht hat, um dadurch
die bereits vorhandene Verbindung von Ps 69,22 und Tod Jesu (vgl. Joh 19,29 f.) zu erweitern […]. Angesichts
der Bedeutung von Ps 22 für die Interpretation der Passion Jesu als Leiden des Gerechten ist es nicht ausgeschlossen, dass jedenfalls dessen Anfang auch in griechischsprachigen Gemeinden in Aramäisch bekannt
15
Der Tod Jesu im Spiegel seiner »letzten Worte« vom Kreuz
Passionserzählung wirklich kein letztes Wort Jesu? Und war diese Erzählung nicht immer
schon theologische Deutung, also alles andere als »neutral«? Vier Argumente sprechen
m. E. dafür, dass Ps 22,2 als ultimum verbum zum Urgestein der Passionserzählung gehört.
Erstens legt die jüdisch-hellenistische Märtyrerliteratur die Annahme nahe, dass
auch das Sterben Jesu nicht ohne ein ultimum verbum erzählt wurde. Zweitens könnte
die aramäische Fassung von Ps 22,2 im griechischen Text ein Indiz der alten in Jerusalem entstandenen Passionserzählung sein59. Drittens – und dieses Argument übertrifft
die beiden ersten an Durchschlagskraft – ist festzustellen, dass Ps 22 der Kreuzigungsszene insgesamt den »Deutehorizont« 60 liefert. Dabei sind die impliziten Anspielungen
auf den Psalm gegenläufig, wie die folgende Tabelle veranschaulichen kann:
Teilung der Kleider
Kopfschütteln der Passanten
Verspottung des Gerechten
Invocatio (»Mein Gott, mein Gott«) + Wozu-Frage
Mk 15
15,24
15,29
15,30–32
15,34
Ps 22
22,19
22,8
22,7–9
22,2
B. Janowski stellt zu Recht fest, dass sich diese Gegenläufigkeit daraus ergibt, »dass im Kreuzigungsbericht entsprechend der narrativen Chronologie die Schilderung der Feindbedrängnis – Teilung der Kleider (V. 24), Kopfschütteln der Vorbeigehenden (V. 29) und Verspottung
des Gerechten (V. 30 f.) – als der die Dramatik des Geschehens auslösende Faktor am Anfang
steht, während die klagende ›Wozu‹-Frage (V. 34) am Ende der Erzählung folgt […]«61. Gehören die drei ersten Elemente zur ältesten Passionserzählung – darüber bestehen m. E. kaum
Zweifel62 –, dann gilt dies gewiss auch von der Klimax, der Klage Jesu am Kreuz.
gewesen sein kann, wie das frühe Christentum ja auch andere Formeln von dort übernommen hat. Doch
mag dies Vermutung bleiben«; ähnlich W. Reinbold, Der älteste Bericht über den Tod Jesu. Literarische
Analyse und historische Kritik der Passionsdarstellungen der Evangelien (BZNW 69), Berlin/New
York 1994, 168 f., der erklärt: »Der gegenteilige Nachweis kann schwerlich gelingen«.
59 L. Schenke, Der gekreuzigte Christus. Versuch einer literarkritischen und traditionsgeschichtlichen Bestimmung der vormarkinischen Passionsgeschichte (SBS 69), Stuttgart 1974, 86.96; anders Lührmann, Mk
(Anm. 56) 263 f. (vgl. dazu oben Anm. 58). – Vgl. auch Schwemer, Worte (Anm. 9) 12 f.; für H. Gese, Psalm
22 und das Neue Testament. Der älteste Bericht vom Tode Jesu und die Entstehung des Herrenmahles, in:
ZThK 65 (1968) 1–22, 14, gibt es für den Verzicht auf eine Anspielung auf Ps 22,17b LXX (»sie durchgruben
meine Hände und Füße«) in der Kreuzigungserzählung »keine andere Erklärung als die, dass der Psalm nicht
in der LXX-Fassung, sondern aramäisch bekannt gewesen ist, was für ein sehr altes neutestamentliches Überlieferungsstadium spricht«.
60 Lührmann, Mk (Anm. 56) 263. – Zur Rezeptionsgeschichte von Ps 22 im Frühjudentum vgl. H.-J.
Fabry, Die Wirkungsgeschichte des Psalms 22, in: J. Schreiner (Hrsg.), Beiträge zur Psalmenforschung.
Psalm 2 und 22 (FzB 60), Würzburg 1988, 279–317; H. Omerzu, Die Rezeption von Psalm 22 im Judentum
zur Zeit des Zweiten Tempels, in: D. Sänger (Hrsg.), Psalm 22 und die Passionsgeschichten der Evangelien
(BThSt 88), Neukirchen-Vluyn 2007, 33–76.
61 B. Janowski, Konfliktgespräche mit Gott. Eine Anthropologie der Psalmen, Neukirchen-Vluyn 2003,
363; vgl. bereits Gese, Psalm 22 (Anm. 59) 14–17.
62 Das an Ps 22,8 erinnernde Motiv des Kopfschüttelns, V. 29a, begegnet zwar im vorliegenden Markustext in einem redaktionsverdächtigen Zusammenhang (V. 29b, das Wort der Spötter: »wehe dem, der den
Tempel niederreißt und in drei Tagen aufbaut […]«, dürfte nachgetragen sein), wird aber zum Urgestein
der Szene gehören; vgl. dazu nur Schenke, Christus (Anm. 59) 92; F. Schleritt, Der vorjohanneische Pas-
16
Michael Theobald
Das vierte Argument bedarf einer methodischen Vorbemerkung: Wer auf der Suche nach
der ältesten Gestalt der Passionserzählung ist, darf sich nicht allein auf das Markusevangelium stützen, sondern muss auch das von den Synoptikern unabhängige Johannesevangelium63 und die ihm vorgegebene Passionserzählung zu Rate ziehen. Es spricht nämlich
vieles dafür, dass auch diese vorjohanneische Passion ein Ableger der ältesten Passionserzählung ist, die nach Einschätzung von G. Theißen schon Anfang der 40er Jahre in Jerusalem entstanden sein könnte64. Für ihre Rekonstruktion zumindest in Umrissen ist ein
Vergleich von Markus und Johannes also unabdingbar65. Hinzu kommt, dass auch der
dritte Evangelist über seine Markus-Vorlage hinaus eine eigene Passionserzählung kannte
– wie die anderen Evangelisten wohl aus der Paschafeier seiner Gemeinden66 – und sie hin
und wieder mit heranzog67. Nach Ausweis signifikanter Berührungen mit Joh muss diese
vorlukanische Passion über einen Vorgänger mit der vorjohanneischen Passionserzählung
verwandt gewesen sein. So komplex die Überlieferungsverhältnisse sind – wir können
ihnen hier nicht weiter nachgehen –, ein synoptischer Blick auf die Sterbeszene bei Markus, Lukas und Johannes68 ist auch bei unserer Frage, ob die älteste Passionserzählung ein
verbum ultimum Jesu enthielt oder nicht, unumgänglich:
Mk 15,33–38
Lk 23,44–46 [36f.]
Joh 19,28–30
(33) Und als die sechste Stunde
ward, kam Finsternis über die
gesamte Erde bis zur neunten
Stunde.
(44) Und es war schon ungefähr
die sechste Stunde, und Finsternis kam über die ganze Erde bis
zur neunten Stunde, (45) weil
eine Sonnenfinsternis eintrat.
------------------------
sionsbericht. Eine historisch-kritische und theologische Untersuchung zu Joh 2,13–22; 11,47–14,31
und 18,1–20,29 (BZNW 154), Berlin etc. 2007, 430.
63 Zur Unabhängigkeit des Vierten Evangelisten von den synoptischen Evangelien (nicht unbedingt ihren Überlieferungen) vgl. M. Theobald, Das Evangelium nach Johannes. Kapitel 1–12 (RNT), Regensburg
2009, 76–81.
64 G. Theißen/A. Merz, Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen 1996, 404, verweisen auf die
»Zwischen zeit« 41–44 n. Chr. unter Agrippa I., während der die »jüdische(n) Instanzen das Ius gladii besaßen und auch Christen (wie Jakobus Zebedäus, Apg 12,1 f.) hinrichteten. Im Licht dieser Erfahrungen
wurde das Verhör Jesu zu einem regulären Prozess umgedeutet«.
65 Vgl. T.A. Mohr, Markus- und Johannespassion. Redaktions- und traditionsgeschichtliche Untersuchung der Markinischen und Johanneischen Passionstradition (AThANT 70), Zürich 1982; Reinbold, Bericht (Anm. 58); Lührmann, Mk (Anm. 56) 227–231.
66 Vgl. M. Theobald, Der Gottesdienst der Kirche und das Neue Testament. Erwägungen zu ihrem gegenseitigen Verhältnis, in: ThQ 189 (2009) 130–157, 136.
67 Vgl. H. Klein, Zur Frage einer Lukas und Johannes zu Grunde liegenden Passions- und Osterüberlieferung, in: ders., Lukasstudien (FRLANT 209), Göttingen 2005, 65–84; Schleritt, Passionsbericht
(Anm. 62) 109–114; vgl. auch schon V. Taylor, The Passion Narrative of St. Luke. A Critical and Historical
Investigation (SNTS.MS 19), Cambridge 1972; E. Trocmé, The Passion as Liturgy. A Study in the Origin
of the Passion Narratives in the Four Gospels, London 1983; F. Bovon, Le récit lucanien de la passion de
Jésus (Lc 22–23), in: C. Focant (Hrsg.), The Synoptic Gospels. Source Criticism and the New Literary
Criticism (BETL 110), Leuven 1993, 393–423.
68 Auf die Fassung des Matthäus – eine redaktionelle Neufassung des Markustextes ohne eigenen Quellenwert –kann hier verzichtet werden.
17
Der Tod Jesu im Spiegel seiner »letzten Worte« vom Kreuz
[vgl. unten V. 38]
Der Vorhang des Tempels riss
mitten durch.
------------------------
(34) Und in der neunten Stunde
----------------------------------schrie Jesus mit gewaltiger
Stimme: Eloi, Eloi, lama sabachthani? Das ist verdolmetscht: Mein
Gott, mein Gott, wozu hast du
mich verlassen?
------------------------
(35) Und einige der Dabeistehenden hörten (es), sagten:
Sieh da, er ruft Elias!
------------------------
-----------------------------------
(28) Danach – wusste
doch Jesus, dass schon
alles vollendet war –,
damit vollendet würde
die Schrift, spricht er:
Mich dürstet (vgl. Ps
69,22).
[(36) Aber auch die Soldaten verspotteten ihn,
(36) Da lief einer, machte einen
Schwamm voll mit Essig, steckte
ihn auf ein Rohr und versuchte
ihn zu tränken (Ps 69,22)
sie traten herzu und brachten
ihm Essig herbei (Ps 69,22)
und sagte: Lasst, wir wollen sehen, ob Elias kommt, ihn herabzunehmen.
(37) und sagten: Wenn du der
König der Juden bist, rette dich
selber!]
(37) Jesus aber stieß einen gewaltigen Schrei aus und
(46) Und Jesus rief mit gewaltiger Stimme und sprach;
------------------------------------- Vater, in deine Hände übergebe
ich meinen Geist.
verschied (hauchte aus).
(30) Als Jesus nun den
Essig genommen
hatte, sprach er:
Es ist vollbracht!
Dies aber sprach er und verschied Und neigte das Haupt,
übergab den Geist.
(hauchte aus).
(38) Und der Vorhang des Tempels [vgl. oben V. 45]
riss entzwei von oben bis unten.
(39) Als aber der Centurio, der
ihm gegenüber stand, sah, dass er
so (verschied) aushauchte, sprach
er: Wahrlich, dieser Mensch war
Gottes Sohn.
(29) Ein Gefäß voll
Essig stand da. Sie
steckten nun einen
Schwamm voll Essig
auf einen Ysopstengel
und brachten (ihn)
herbei an seinen
Mund (Ps 69,22).
------------------------
(47) Als der Hundertschaftsfüh- -----------------------rer sah, was geschah, pries er
Gott und sprach: Wirklich, dieser
Mensch war gerecht.
18
Michael Theobald
------------------------------------- (48) Und all die zu diesem
-----------------------Schauspiel mit herbeigekommenen Volksscharen – als sie sahen,
was geschah, schlugen sie sich an
die Brust und kehrten heim.
(40) Es waren aber auch Frauen
da, die von ferne zuschauten, unter ihnen auch Maria Magdalena
und Maria, die Mutter des Jakobus des Kleinen und des Joses,
und Salome,
(49) Es standen aber alle seine
Bekannten weit entfernt;
(41) die ihm schon nachfolgten,
als er in Galiläa war, und ihm
dienten, und viele andere Frauen,
die mit ihm nach Jerusalem hinaufgezogen waren.
auch die Frauen, die ihm von Galiläa her gefolgt waren, um alles
mit anzusehen.
[Vgl. 19,25]
Der synoptische Befund lädt zu drei Schlussfolgerungen ein:
(1) Da auch das Johannesevangelium ein verbum ultimum bietet, dürfte ein entsprechendes Wort schon in der vorjohanneischen Passionserzählung gestanden haben. Dieses hätte der Vierte Evangelist dann gegen sein Wort »Es ist vollendet!« ausgetauscht69.
Welches Wort er in seiner Passionserzählung vorgefunden hat, wissen wir nicht; dass
es die Klage Ps 22,2 war, ist nicht auszuschließen70.
(2) Lukas und Johannes zeigen, wo das »letzte Wort« Jesu ursprünglich stand: unmittelbar vor der Notiz von seinem Sterben (vgl. Lk 23,46; Joh 19,30). Das führt zu der
Annahme, dass Jesus auch nach der ältesten Passionserzählung nicht mit einem wortlosen Schrei starb – dies erzählt allein Markus! –, sondern mit einem »letzten Wort«
auf den Lippen. Dass es sich bei diesem »letzten Wort« tatsächlich um Psalm 22,2 gehandelt hat, legt das Motiv der »lauten Stimme« nahe (Mk 15,37; Lk 23,4671), das aus
den Klagepsalmen stammt und vor allem auch in der zweiten Vershälfte von Ps 22,2
begegnet: »Mein Gott, mein Gott, wozu hast du mich verlassen, bist fern meinem
Schreien, den Worten meines Flehens«72.
69 Dass dieses Wort »Repräsentant der Christologie von E« (des Vierten Evangelisten) ist (so J. Becker,
Das Evangelium nach Johannes. Kapitel 11–21 [ÖTK 4/2], Gütersloh 31991, 701), findet weitgehende Anerkennung.
70 Vgl. Reinbold, Bericht (Anm. 58) 168: »Kurz, über die Gewissheit: sofern Johannes Ps 22,2 in seiner
Quelle gelesen hat, hat er ihn gestrichen, kommt man nicht hinaus«. – Für nicht überzeugend halte ich den
Versuch von Schleritt, Passionsbericht (Anm. 62) 440 f., Joh 19,28 (»mich dürstet«) als letztes Wort Jesu für
die vorjohanneische (und dann auch die älteste) Passionserzählung zu reklamieren. Joh 19,28 ist m. E. mit Joh
19,30 zusammen zu sehen und gehört deshalb mit diesem Wort auf dieselbe literarische Stufe (vgl. unten!).
71 Dass Lukas das Motiv trotz seines Austauschs von Ps 22,2 durch Ps 31,6 beibehält, ist beachtlich und
könnte darauf hinweisen, dass er es auch von der Passionserzählung seiner Gemeinden her kannte.
72 So die gängige Konjektur des hebräischen Texts nach H.-J. Kraus, Psalmen 1–59 (BK.AT 15/1), Neukirchen 51978, 321 f., die übrigens 1QH XIII (V) 12 – eine Rezeption des Verses, die ihn allerdings in sein
Gegenteil verkehrt – bestätigt: »Denn in der Not meiner Seele hast du mich nicht verlassen und mein
Der Tod Jesu im Spiegel seiner »letzten Worte« vom Kreuz
19
(3) Das Dubletten-Argument von R. Bultmann bleibt gültig, verlangt nach den bisherigen Beobachtungen aber nach einer anderen Erklärung, die so aussehen könnte:
Markus hat das laute Rufen Jesu tatsächlich verdoppelt, dabei das Psalmwort nach vorne
gezogen und das dadurch entstandene zweite Rufen zu einem wortlosen, unartikulierten Schrei umgestaltet. Da das Missverständnis des Klagerufs Jesu durch die Umstehenden, die meinen, er rufe den Elija, nach verbreiteter Einschätzung auf Markus zurückgeht73, ist auch klar, warum er das Psalmwort nach vorne gezogen hat: Es bot ihm
samt seiner aramäischen Fassung die Gelegenheit, jenes ihm wichtige Elija-Motiv vor
dem Tod Jesu im Text unterzubringen74. Narrativ bewerkstelligte er das so, dass er dem
eigentlich das Leben und damit das Leiden des Delinquenten verlängernden Essigtrank
eine neue Motivation zuschreibt: nämlich dem gespannten Warten der Umstehenden
auf Elija Raum zu geben. Doch der kommt nicht, und Jesus stirbt mit einem lauten
Schrei auf den Lippen75.
3.2 Vom Text zur Geschichte?
Wer die alte Passionserzählung verstehen will, kann sich nicht deutlich genug vor Augen
führen, was es im jüdischen Kontext hieß, einen in Schande Gekreuzigten als den Messias
Israels auszugeben: »Verflucht ist jeder, der am Holz hängt!« erklärt Dtn 21,23. Aber
genau dies taten die Anhänger Jesu. Einen scheinbar von Gott Verfluchten und Entehrten
proklamierten sie als Retter, überzeugt davon, dass Gott ihn »von den Toten auferweckt«
und sich damit auf seine Seite gestellt habe. »Ihr sucht Jesus, den Nazarener, den Gekreuzigten (ἐσταυρωμένον)76 ; er ist auferweckt worden, er ist nicht hier; seht den Ort, wo
sie ihn hinlegten […]«, sagt der Jüngling im leeren Grab, Mk 15,6.
Geschrei gehört in meiner Seelenbitternis«. Das Motiv »lautes Geschrei« begegnet auch in Ps 22,25; 27,7;
31,23; 69,4. F.-L. Hossfeldt, in: ders./E. Zenger, Die Psalmen 1–50 (NEB), Würzburg 1993, 148, lehnt die
Konjektur ab und übersetzt V. 2b mit: »fern von meiner Hilfe […]«.
73 Reinbold, Bericht (Anm. 58) 169 Anm. 261, verweist auf eine ganze Reihe von Forschern; vgl. auch
Schleritt, Passionsbericht (Anm. 62) 441.
74 Die Unverwechselbarkeit von aramäischem Eloi und Elija lässt das Missverständnis allerdings gekünstelt erscheinen (die hebräische Fassung »Eli, eli […]« in Mt 27,46 ist nachträgliche Glättung). Für griechischsprachige Leser war das allerdings weniger ein Problem; wie Linnemann, Studien (Anm. 58) 150, zu Recht
ausführt; es zeigt nur, dass Markus V. 34 schon vorgegeben war, bevor er V. 35.36b daran redaktionell
angeschlossen hat. Vgl. auch G. Dautzenberg, Elija im Markusevangelium, in: ders., Studien zur Theologie
der Jesustradition (SBA.NT 19), Stuttgart 1995, 352–375, 367 f.
75 Schenke, Christus (Anm. 59) 97, u. a. vermuten, dass der laute Ruf von V. 37 derselbe wie der von
V. 34a sei; es liege Gleichzeitigkeit vor. Das dürfte aber nach der narrativen Gestaltung der Szene (die Anwesenden erwarten gespannt, was nach dem Klageruf Jesu geschieht, ob Elija kommt oder nicht) ganz
unwahrscheinlich sein; auch die hier gebotene Erklärung, dass Markus nicht nur den Schrei verdoppelt,
sondern auch dem zweiten wahrscheinlich einen anderen, neuen Sinn gegeben hat (vgl. dazu unten 4.1),
spricht gegen diese Annahme; vgl. auch Gnilka, Mk II (Anm. 58) 312 Anm. 15.
76 Es ist die einzige Stelle in den Evangelien, an der die uns von Paulus her vertraute Rede vom »Gekreuzigten« begegnet (wie bei ihm, so auch hier im Perfekt!); m. E. steht die Stelle unter dem Eindruck von Dtn
21,23!
20
Michael Theobald
Damit ist der archimedische Punkt benannt, von dem aus die ganze Passionserzählung konstruiert ist77. Ihre theologische Leistung besteht nämlich primär darin, mit den
Psalmen und weiteren Schrifttexten gegen Dtn 21,23, also mit der Schrift gegen die
Schrift zu erweisen, dass der Gekreuzigte nicht der von Gott Verfluchte, sondern in
Wahrheit der ungerecht leidende und verfolgte Gerechte ist, ja der Messias Israels78.
Eine besondere Rolle spielte dabei Ps 22, weil der Beter hier nicht nur um Hilfe schreit
und vor Gott klagt, sondern auch ein »Lobversprechen« abgibt, wenn er gerettet wird,
der Psalm also den ganzen Weg Jesu vom Kreuz bis zu seiner Auferweckung abbilden
kann: »Ich will deinen Namen meinen Brüdern verkünden, inmitten der Gemeinde
dich preisen« (V. 23)79.
Wer sich dies vergegenwärtigt und auch wahrnimmt, dass ein ultimum verbum zur
Gattung einer derartigen Martyriumserzählung gehört, wird skeptisch gegenüber der
allzu forschen Annahme, Jesus habe sterbend tatsächlich Ps 22 gebetet80. »Wie es in Jesu
Herzen ausgesehen hat, weiß ich nicht und will ich nicht wissen […]«, schrieb R. Bultmann 192781. Angesichts des Geheimnisses seiner letzten Stunde scheint solche Zurückhaltung in besonderem Maße angebracht. Zeugen für das Geschehen am Kreuz
gab es nicht; die Jünger waren geflohen und die Frauen standen »fern ab« (ἀπὸ
77 Wichtig (auch zur rechten Einschätzung der Rezeption von Ps 22 in der Passionserzählung [s. Anm.
59.60]) ist, dass Mk 16,1–8* par. ursprünglicher Bestandteil schon der ältesten Passionserzählung war; so
zuletzt überzeugend J. Becker, Die Auferstehung Jesu Christi nach dem Neuen Testament. Ostererfahrung
und Osterverständnis im Urchristentum, Tübingen 2007, 15–17.
78 Paulus sollte noch darüber hinausgehen, wenn er eingesteht, dass der Gekreuzigte der Verfluchte
Gottes ist, dies aber im Sinne heilvoller Stellvertretung »für uns« versteht; vgl. M. Theobald, »Verflucht
ist jeder, der am Holz hängt«. Die Deutung des Todes Jesu nach Gal 3,6–14, in: BiKi 64 (2009) 158–165.
79 Allerdings wird fast durchweg betont, dass die Passionserzählungen den zweiten Teil des Psalms nicht
rezipieren, was nach Omerzu, Rezeption (Anm. 60) 76, den frühjüdischen Verhältnissen entspräche: »(I)n
den wenigen Belegen innerhalb des auf uns gekommenen Schrifttums des Judentums zur Zeit des Zweiten
Tempels (wird) vornehmlich der Klageteil von Psalm 22 aktualisiert«; E. Zenger, Ein Gott der Rache?
Feindpsalmen verstehen, Freiburg 1994, 151 f., meint, dass »Mk gerade den hoffnungsvollen Schluss von
Ps 22 ausblenden will«. Anders Gese, Psalm 22 (Anm. 59) 14: »Nicht die Formulierung des ersten Stichos,
die Rede davon, dass Gott den Beter verlassen habe, als Ausdruck der eigentlichen Not, ist der Anknüpfungspunkt zum Golgathageschehen, sondern der in diesem Psalm mit der Errettung aus dem Tod verbundene Einbruch der βασιλεία τοῦ θεοῦ«; ähnlich auch H.J. Carey, Jesus’ Cry form the Cross, Towards a
First-Century Understanding of the Intertextual Relationship between Psalm 22 and the Narrative of
Mark’s Gospel (LNTS 398), London 2009, vor allem 171–175; beide gehen von Ps 22 insgesamt als Matrix
der Passionserzählung aus. Daraus folgt m. E. aber nicht, dass Markus mit dem Incipit Jesus den ganzen
Psalm in den Mund habe legen wollen, was der narrativen Dynamik der Szene widerspräche. – Kaum beachtet wird, dass Joh 20,17 (»geh aber zu meinen Brüdern […]«) par. Mt 28,10 (»geht und tut meinen Brüdern kund […]«) auf Ps 22,23 (siehe oben Anm. 77) anspielen dürfte; Justin, Dial 106,1 f., macht diesen
Bezug explizit; vgl. auch Hebr 2,12 (Ps 22,23); 5,7.
80 Das oft zu hörende Argument, »niemand in der Gemeinde hätte gewagt, dies fremdartige und anstößige Wort Jesus in den Mund zu legen« (J. Schniewind, Das Evangelium nach Matthäus [NTD 2], Göttingen
12
1968, 269) kann wegen der Gesamtkomposition der alten Passionserzählung nicht überzeugen. Zu den
unterschiedlichen Antworten auf die Frage nach der Authentizität von Mk 15,34 vgl. die Übersicht bei
T. Gut, Der Schrei der Gottverlassenheit. Fragen an die Theologie (ThSt[B.]140), Zürich 1994, 15–27.
81 R. Bultmann, Zur Frage der Christologie (1927), in: ders., Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze, 1. Band, Tübingen 61966, 85–113, 101.
Der Tod Jesu im Spiegel seiner »letzten Worte« vom Kreuz
21
μακρόθεν) 82. Ein letzter durchdringender Schrei Jesu ist nicht belegbar83. Zum
Menschsein Jesu gehört auch, dass er in die letzten Tiefen des Sterbens hinabstieg. Wie
er gestorben ist, ob im tiefen Glauben oder gar in verzweifelter Einsamkeit84 – wir
wissen es nicht. Die Quellen entziehen sich jeglichem Versuch, die Mehrdeutigkeit, die
über seinem Sterben liegt, in Eindeutigkeit zu überführen.
4. Zu Jesu letzten Worten im Verständnis der Evangelisten
Oft wird ein Unterschied gemacht zwischen der Sterbeszene bei Markus, die Matthäus
nahezu identisch übernimmt85, und den beiden anderen Evangelisten, vor allem Johannes.
Der älteste Evangelist, so heißt es, habe die Verzweiflung des Sterbenden, seine Gottverlassenheit, noch ungeschönt in Szene gesetzt86, wohingegen bei Johannes alles ins österliche Licht getaucht sei. Aber dieses Urteil geht an den Texten vorbei. Es verkennt, dass alle
vier Evangelisten, ja schon die älteste Passionserzählung, das Geschehen vom archimedischen Punkt der Ostererfahrung her erzählen. Insofern können die Unterschiede zwischen
den einzelnen Darstellungen der Szene nicht prinzipieller, sondern nur gradueller Natur
sein. Lediglich ihr theologischer Referenzrahmen ist jeweils ein anderer.
4.1 Des Gekreuzigten Schrei nach Gottes rettendem Eingreifen –
die Sicht des Markus
Dass Gott auf Golgatha nicht abwesend, sondern verborgen anwesend ist, verdeutlicht
die markinische Darstellung schon dadurch, dass sie die Sterbeszene von zwei himmlischen Zeichen eingerahmt sein lässt, der dreistündigen Finsternis »über der ganzen
82 Selbst diese Notiz ist nicht über alle Zweifel erhaben, da auch sie die Psalmen durchschimmern lässt:
»Meine Freunde und meine Nächsten sind mir gegenüber hingetreten und haben sich hingestellt, und
meine engsten (Angehörigen) haben sich in der Ferne (ἀπὸ μακρόθεν) hingestellt« (Ps 38,12 LXX).
83 Wie oben gezeigt, ist Mk 15,37 (ohne Psalmwort) redaktionell. »Der Tod trat nach mehrstündigem
Todeskampf durch Ersticken ein« (Lührmann, Mk [Anm. 56] 260). Dazu passt kein »lauter Schrei«. Historisierend wie auch sonst in seiner Passionsauslegung argumentiert R. Pesch, Das Markusevangelium,
II. Teil (HThK 2/2), Freiburg 1977, 497: »Der ›laute Schrei‹ dürfte seiner Ungewöhnlichkeit wegen notiert
und gedeutet sein«.
84 Vgl. R. Bultmann, Das Verhältnis der urchristlichen Christusbotschaft zum historischen Jesus (SAH
1960), Heidelberg 31962, 12.
85 Auf seine Darstellung verzichte ich im Folgenden auch aus Platzgründen; verwiesen sei aber auf
U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 26–28) (EKK I/4), Düsseldorf/Neukirchen-Vluyn 2002, 330–
354 (auch zur Ikonographie des Kreuzes).
86 So vor allem Systematiker (wie etwa J. Moltmann), deren Stimmen Gut, Schrei (Anm. 80) 27–65,
zusammengestellt hat; J.B. Metz, Memoria Passionis. Ein provozierendes Gedächtnis in pluralistischer
Gesellschaft, Freiburg 2006, 24, will die »Gottesmystik Jesu« überhaupt von seinem »Schrei am Kreuz« her
begreifen: »Sie ist in einzigartiger Weise eine Mystik des Leidens an Gott.« Vgl. auch J. Yocum, A Cry of
Dereliction? Reconsidering a Recent Theological Commonplace, in: International Journal of Systematic
Theology 7 (2005) 72–80 (zu H.U. von Balthasar).
22
Michael Theobald
Erde« und dem Zerreißen des Tempelvorhangs »von oben bis unten«. Dass es sich bei
der Notiz zur Finsternis nicht um einen »Wetterbericht« 87 zur Region Jerusalem handelt, begreift, wer die Anspielung auf Amos 8,9 durchschaut: »Und an jenem Tag,
Spruch Gottes des Herrn, lasse ich die Sonne untergehen am Mittag, da bringe ich
Finsternis über die Erde am helllichten Tag«. Dem entsprechend versteht Markus die
Finsternis als ein Zeichen des Gerichts88. Dass auch der Gekreuzigte über drei Stunden
in dieser Finsternis versinkt, zeigt ihn auf der Seite derer, denen das Gericht Gottes gilt.
Das könnte auf sein stellvertretendes Todesleiden hindeuten89, zumal Markus Jesus
dessen letztes Wort am Ende dieser Finsternis herausschreien lässt (»in der neunten
Stunde«). So gewinnt der Hörer den Eindruck, dass mit Jesu Ruf (»Mein Gott, mein
Gott, wozu hast du mich verlassen?«) die Finsternis endet und das Sonnenlicht zurückkommt90. Die genaue griechische Wiedergabe des aramäischen Psalmworts mit seinem
Fragewort »wozu« (εἰς τί) durch den Erzähler unterstreicht, dass die Frage nicht zurück
in die Vergangenheit geht, um den Grund von Finsternis und Gottverlassenheit zu
erforschen, sondern in die Zukunft gerichtet ist – oder wie C. Burchard treffend formuliert: »Jesus drängt Gott zum Handeln, indem er ihn rhetorisch anschreit, wozu oder
warum er am Kreuz hängt. Er klagt den Zweck seines Todes ein«91.
Dass dieser Zweck nur durch den Tod hindurch, nicht unter seiner mirakulösen Umgehung erreicht werden kann, veranschaulicht Markus sehr nachdrücklich mittels des
87 So C. Burchard, Markus 15,34, in: ZNW 74 (1983) 1–11, 7, zu Pesch, Mk II (Anm. 83) 493 f., der jegliche symbolische Deutung der Episode von sich weist. Weiterführend ist P.G. Klumbies, Der Mythos bei
Markus (BZNW 108), Berlin 2001, 267 f.: »Angesichts der Bedeutung der Tages- und Nachtzeiten sowie der
Lichtverhältnisse für das mythische Denken erübrigt es sich, nach historischen Hintergründen dieser Angabe, etwa einer Sonnenfinsternis, zu suchen«.
88 Auch Schenke, Christus (Anm. 59) 95, schließt aus der Anspielung auf Am 8,9: »Somit dürfte mit
V. 33 angedeutet sein, dass sich im Kreuz Jesu das endzeitliche Gericht vollzieht«. Aber warum nur über
»das Judentum und den Tempel«?
89 So bereits G. Delling, Der Kreuzestod Jesu in der urchristlichen Verkündigung, Göttingen 1972, 70,
der von Mk 10,45 her deutet: »Wenn Jesus mit seinem Sterben das antallagma gibt, das die anderen als
Schuldverhaftete nicht geben können, um ihre vor Gott verlorene Existenz zu retten (8,37), dann trägt er
am Kreuz ihre Schuld, dann geht er für sie in die Gottferne, die die äußerste Folge ihrer Schuld ist, das
Verlorensein«. Zu skeptisch gegenüber dieser Deutung ist Burchard, Markus (Anm. 87) 7 f.
90 So mit guten Gründen Klumbies, Mythos (Anm. 87) 269: »In der neunten Stunde, in die das Ende der
Dunkelheit fällt, stößt Jesus seine letzten Worte hervor (V. 34). Mit der doppelten Zeitangabe V. 33 Ende
und V. 34 Anfang stellt der Erzähler die exakte Abstimmung der Geschehnisse sicher. Der Ruf Jesu von
V. 34 koinzidiert mit der Aufhellung der verdunkelten Szenerie. Beim Tod Jesu ist es hell« (unter Verweis
auf R. Zwick, Montage im Markusevangelium. Studien zur narrativen Organisation der ältesten Jesuserzählung [SBB 18], Stuttgart 1989, 439); vgl. auch ders., Das Konzept des »mythischen Raumes« im
Markusevangelium, in: JBTh 23 (2008) 101–121, 114 f. Anders Janowski, Konfliktgespräche (Anm. 61)
363 f.: »Gott, der vom Gekreuzigten mit der ›Wozu‹-Frage angeredet wird (›du‹), […] schweigt. Und auch
der Erzähler Markus gibt vorerst mit keinem Wort zu erkennen, wie und wann Gott reagiert. Im Kreuzigungsbericht gibt es ›keinen verborgenen Lichtglanz‹, alles ist Finsternis«; so richtig es ist, wenn Janowski
sich dagegen wehrt, die Klage zu einem »bedeutungsschwache(n) Durchgangsphänomen zur Rettungsgewissheit« abzumildern, so gewiss dürfen andererseits die himmlischen Zeichen im markinischen Erzählduktus doch nicht einfach abgeblendet werden.
91 Burchard, Markus (Anm. 87) 115. Zur sachlich zutreffenden Wiedergabe des aramäischen Frageworts
lema durch εἰς τί vgl. Janowski, Konfliktgespräche (Anm. 61) 360 Anm. 56.
Der Tod Jesu im Spiegel seiner »letzten Worte« vom Kreuz
23
von ihm eingebrachten Missverständnisses des Psalmworts durch jüdische Zuschauer,
die meinen gehört zu haben, er rufe nach Elija, damit dieser »komme« und ihn vom
Kreuz »herabnehme« (καθελεῖν αὐτόν)92. Doch erst der verstorbene Jesus wird durch
Josef von Arimathäa vom Kreuz »herabgenommen« werden93. Elija, hier vielleicht
schon in seiner Rolle als »Nothelfer« gedacht,94 kommt nicht, denn – wie die Leser des
Evangeliums bereits wissen – der Prophet, der vor Zeiten zu Gott entrückt worden war
und nun am Ende der Tage zurückerwartet wird, ist im Täufer, der auch umgebracht
wurde, schon gekommen (Mk 9,11–13). So erläutert die Episode samt ihren Assoziationen ein früheres Wort aus dem Evangelium: »Der Menschensohn muss vieles leiden
und von den Ältesten und den Hohenpriestern und den Schriftgelehrten verworfen und
getötet werden und nach drei Tagen auferstehen« (Mk 8,31).
Wenn deshalb Jesus mit einem gewaltigen Schrei auf den Lippen stirbt, ohne dass
Elija das Mirakel wirkt, könnte dieser Schrei nach der Konzeption des ältesten Evangelisten auch ein Siegesschrei sein95, ausgestoßen im festen Wissen darum, dass nun sein
Vater nicht allein ihn durch den Tod hindurch erretten, sondern seinen Tod auch als
»das für viele vergossene Blut des Bundes« (Mk 14,24) der Welt heilvoll zuwenden wird.
Genau dies bestätigen die beiden abschließenden Episoden der Sterbeszene, das Zerreißen des Tempelvorhangs und die Reaktion des römischen Centurio auf Jesu Tod:
Während das vom Himmel her gewirkte zweite Zeichen das Ende des Tempels ankündigt – angesichts des vergossenen Bundesblutes Jesu ist der Kult dort überflüssig
geworden!96 –, lässt die Reaktion des Centurio (»Wahrlich, dieser Mensch war Gottes
Sohn«) den späteren Weg des Evangeliums zu den Völkern erahnen97 – eben weil Jesu
Bundesblut »vielen« zugute kommen soll.
92 In der vorgegebenen Passionserzählung muss es aber ein römischer Soldat gewesen sein, der ihn mit
Essig zu tränken versuchte (vgl. Joh 19,29). Diese Spannung bestätigt die markinische Überarbeitung.
93 Mk 15,46 benutzt dasselbe Verb wie Mk 15,36: »und er (sc. Josef von Arimathäa) kaufte ein Leinentuch,
nahm ihn ab (καθελὼν αὐτόν) wickelte ihn in das Tuch und legte ihn in ein Grab, das in einen Felsen
gehauen war […]«.
94 Vgl. M. Öhler, Elia im Neuen Testament. Untersuchungen zur Bedeutung des alttestamentlichen Propheten im frühen Christentum (BZNW 88), Berlin u. a. 1997, 139–141.147: Die »Nothelfertradition«, entspricht s. E. »am besten dem Wortlaut des Textes«.
95 Vgl. O. Betz, Art. φωνή, in: ThWNT IX (1973) 272–296, 287, wo er belegt, dass der Topos des »großen
Schreis« in der frühjüdischen Literatur »vor allem das Reden von Engeln, Geistern und Geistträgern charakterisiert«. Die Bezeichnung des Sterbens Jesu mit ἐκπνέω = »aushauchen« dürfte auf Jesus »selbst als
Geistträger« abheben, so Pesch, Mk II (Anm. 83) 497; vgl. des Νäheren M. Theobald, Gottessohn und
Menschensohn. Zur polaren Struktur der Christologie im Markusevangelium, in: StNTU 13 (1988) 37–79,
65 mit Anm. 112.
96 Zu diesem Verständnis des Zeichens vgl. K. Paesler, Das Tempelwort Jesu. Die Traditionen von Tempelzerstörung und Tempelerneuerung im Neuen Testament (FRLANT 184), Göttingen 1999, 38 f.; vgl. auch
Fritzen, Gott (Anm. 50) 348–354.
97 So ist das vieldiskutierte Wort des Centurio weder ein im Sinne des Markus bereits vollgültiges Christusbekenntnis noch lediglich das gottesfürchtige Zeugnis eines Römers; es präfiguriert vielmehr die spätere Antwort der Heidenchristen (vgl. M. Frenschkowski, Offenbarung und Epiphanie II [WUNT II/80],
Tübingen 1997, 202; W .Fritzen, Gott [Anm. 50] 354–357). – Zur markinischen Szene insgesamt vgl. noch
C. Rose, Theologie als Erzählung im Markusevangelium (WUNT II/236), Tübingen 2007, 227–249.
24
Michael Theobald
Jesu letztes Wort im Angesicht des Todes, den allein der Schöpfergott zum Heil
wenden kann, bringt also nach der soteriologischen Konzeption des Markus – das zeigt
unser knapper Durchgang durch die Szene – in der Tat den Sinn seines Lebens auf den
Punkt und erfüllt damit die Erwartung, die an ein ultimum verbum gestellt wird.
Nichts anderes klagt dieses harte Wort ein, als dass Gott nun besiegeln möge, wozu »der
Menschensohn« gekommen ist, »nicht sich bedienen zu lassen, sondern zu dienen und
sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele« (Mk 10,45).
4.2 Des Gekreuzigten Zuwendung zu den Menschen und zu seinem Vater –
die Sicht des Lukas
Bietet Markus nur ein ultimum verbum, so hat Lukas deren drei. Kompositionell gehören sie zusammen: Die beiden Gebete Jesu an den Vater – am Anfang und gegen Ende
der Kreuzigungsszene (Lk 23,33-49) – rahmen sein Amen-Wort in der Mitte, mit dem
er sich an den Schächer zu seiner Rechten wendet. Dass in Jesu Passion zur Erfüllung
kommt, was seinen Weg nach Lukas insgesamt auszeichnet, bringen die beiden ersten
Worte zum Ausdruck: »Denn der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und zu
retten, was verloren ist« (Lk 19,10)98.
Auf wen bezieht sich seine Fürbitte Lk 23,34: »Vater, vergib ihnen, denn sie wissen
nicht, was sie tun«? Betet Jesus hier nur für seine Henker, also die römischen Soldaten,
die ihre Pflicht tun, ohne zu wissen, warum?99 Oder auch für diejenigen, die seine
Kreuzigung nach lukanischer Darstellung vor allem zu verantworten haben, die jüdische Obrigkeit?100 Zugunsten der ersten Möglichkeit spricht, dass Lukas das von ihm
selbst geformte Gebet in die ihm von Markus her überlieferte Episode der Kreuzigung
Jesu und der Verteilung seiner Kleider eingebettet hat. Subjekt dieser beiden Aktionen
sind aber selbstredend die römischen Soldaten. Nur sagt Lukas das nicht ausdrücklich.
Von Lk 23,26 an (»und als sie Jesus hinausführten«) bis zu Lk 23,33 (»und als sie kamen an die Stätte, die da heißt Schädelstätte, kreuzigten sie ihn dort«) bleiben die
Subjekte des Geschehens unbestimmt101. Hinzu kommt, dass der Abschlusssatz des
98 Vgl. E. Schweizer, Das Evangelium nach Lukas (NTD 3), Göttingen 1982, 225: »Fragt man nach der
Heilsbedeutung des zum Tod führenden Dienstes Jesu, dann sieht 19,10 ihn als ›Suchen und Retten des
Verlorenen‹. Darum ist es Lukas so wichtig, dass der Gekreuzigte unter Gottlosen zu finden ist (22,37), sich
ihnen zuwendet und ihnen die Umkehr schenkt (19,8; 22,51; 23,32.34.40–42), wie er es in seinem ganzen
Wirken tat […]«.
99 Allerdings »verspotten« sie ihn kurz darauf, indem sie in Lk 23,36 f. sagen: »Wenn du der König der
Juden bist, rette dich selbst!« – Nur auf die Soldaten beziehen das Gebet Flusser, Geschichte (Anm. 29);
Blum, Rezeption (Anm. 29); Kistemaker, Words (Anm. 9) 189 f.
100 So zuletzt Bovon, Lk IV (Anm. 39) 461 f.; vgl. auch T. Söding, »Als sie sahen, was geschehen war …«
(Lk 23,49). Zur narrativen Soteriologie des lukanischen Kreuzigungsberichts, in: ZThK 104 (2007) 381–
403, 389: Jesus »fasst nicht nur die römischen Soldaten ins Auge; nach dem vorangehenden Kontext denkt
er mehr noch an das Volk der Gaffer und an die Spötter unter den Oberen«.
101 Hierauf verweist mit guten Textbeobachtungen vor allem Bovon, Lk IV (Anm. 39), 449 f.: »Es liegt
ihm (sc. Lukas) vor allem daran, die Frage (sc. nach dem Subjekt von V. 26) in der Schwebe zu lassen« (an-
Der Tod Jesu im Spiegel seiner »letzten Worte« vom Kreuz
25
Pilatusprozesses lautet: »Jesus aber übergab er ihrem Willen« (Lk 23,25). Gemeint ist
hier die jüdische Obrigkeit, deren Schatten über allem liegt, was nachfolgend erzählt
wird. Wichtig zum Verständnis der Fürbitte Jesu ist schließlich, dass die Apostelgeschichte das Motiv der Unwissenheit wiederholt aus ihr aufgreift, um es explizit auf die
jüdischen Autoritäten, ja überhaupt auf die ἄνδρες Ἰσραηλῖται zu beziehen: Sie sind
es, die κατὰ ἄγνοιαν, d.h. in Unwissenheit, den Ratschluss Gottes vollzogen haben,
indem sie Jesus kreuzigen ließen102. Das führt dann doch zu dem Schluss, dass Jesus
seine Fürbitte um Vergebung103 zumindest auch, wenn nicht vor allem für die ausspricht, die ihn verantwortlich ans Kreuz gebracht haben104. Lukas zeichnet damit im
Spiegel dieses Gebets einen Jesus, der seiner eigenen Weisung zur Feindesliebe entspricht und damit zugleich zur Nachahmung einlädt: »Segnet, die euch verfluchen,
betet für die, die euch schmähen« (Lk 6,27). Stephanus wird der erste sein, der Jesu
Beispiel folgen wird (Apg 7,60)105.
Bewegenden Ausdruck findet Jesu Zuwendung zu den Verlorenen in seinem zweiten
Wort, Lk 23,43. Hier wendet er sich einem Verbrecher zu, der am Tiefpunkt seiner
gescheiterten Existenz seine Schuld erkennt und alle Hoffnung auf Jesus wirft: »Jesus106, gedenke meiner, wenn du in dein Reich kommst« (Lk 23,42). An der Antwort
Jesu sticht gewiss das »Heute« hervor: »Amen, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im
Paradies sein«. Nicht nur, dass dieses »Heute« für die im Hintergrund stehende individuelle Eschatologie höchst aufschlussreich ist – schon im Tod (lange vor der Auferstehung der Toten am Ende der Zeit) vermag die Seele an einen Ort des Glücks zu ge-
ders M. Wolter, Das Lukasevangelium [HNT 5], Tübingen 2008, 751). Lukas differenziert erst von V. 35 f.
ab, wo er nacheinander zuerst vom »Volk« (ὁ λαός) (V. 35a), dann von den »Hohenpriestern« (οἱ ἄρχοντες)
(V. 35b) und schließlich von den »Soldaten« (οἱ στρατιῶται) (V. 36) spricht.
102 Vgl. Apg 3,17 f.: »Und jetzt, Brüder, ich weiß, dass ihr aus Unwissenheit gehandelt habe, wie auch eure
Oberen. Gott aber hat auf diese Weise erfüllt, was er durch den Mund aller Propheten zuvor verkündet hat,
dass sein Messias leiden muss […]«; ähnlich auch 13,27.
103 Wolter, Lk (Anm. 101) 757, verweist auf den verbreiteten Topos der sog. »Unwissenheitssünden«, die
als vergebbar gelten, weil sie aus Versehen begangen werden, im Unterschied zu solchen »mit erhobener
Hand« (vgl. Num 15,22–31), also vorsätzlichen Sünden. Aber dieser Topos liegt hier fern; auf das Gegenüber
»Ratschluss« bzw. »Wille« Gottes und Tun der Menschen (auch vorsätzliches) kommt es an (vgl. Apg 2,23 f.;
3,17 f.), wobei die »Unwissenheit« der Täter daraus resultiert, dass sie Werkzeug Gottes sind, ohne darum
zu wissen. Kurzum: Es geht um theologische, nicht um ethische Unwissenheit.
104 So ist in der Sicht des Lukas – was die Verkündigung des Evangeliums in Jerusalem und unter den
Juden betrifft – nach Ostern und Pfingsten auch wirklich ein Neuanfang möglich. Dazu passt Lk 12,10:
»Und jeder, der ein Wort gegen den Menschensohn sagt, wird Vergebung erlangen; dem aber, der gegen den
Heiligen Geist lästerlich redet, dem wird nicht vergeben werden«.
105 Ihm folgen der Herrenbruder Jakobus, der Hegesipp zufolge bei seiner Steinigung betete: »Ich bitte
dich, Herr, Gott und Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!« (Eusebius, HE II 23,16) und
die Christen von Vienne und Lyon, über die der Martyriumsbericht sagt: »Für die Peiniger beteten sie wie
der vollkommene Märtyrer Stephanus: ›Herr rechne ihnen diese Sünde nicht an!‹« (Eusebius, HE V 2,5).
106 Bovon, Lk IV (Anm. 39) 468: »In allen Evangelien ist er einer der wenigen, die es wagen, sich an
Christus zu wenden, indem sie ihn bei seinem Namen nennen: ›Jesus‹ (vgl. 4,34; 8,28; 17,13; 18,38; Mk 1,24;
5,7; 10,47)«.
26
Michael Theobald
langen, in das Paradies107 –, vor allem christologisch ist dieses »Heute« bemerkenswert:
Jesus spricht in seiner Vollmacht (»amen, ich sage dir«) dem reuigen Sünder das Leben
zu, weil er bei seinem Eintritt in seine österlich-messianische Herrschaft seiner gedenken und ihm Gemeinschaft »mit ihm« schenken wird. Das Tröstliche an dieser Szene
besteht wohl darin, dass die Ansage des Heils im »Heute«, die sich durch das ganze
Evangelium zieht108, auch am Ende im Angesicht des Todes erklingt, also in der Stunde,
die eigentlich alles zur Vergangenheit werden lässt, in der es keine Gegenwart im
»Heute« mehr zu geben scheint.
Den Ermöglichungsgrund für solchen Zuspruch des Lebens veranschaulicht die Sterbeszene mit dem dritten Wort Jesu, Lk 23,46. Lukas streicht Ps 22,2 und legt Jesus ein
anderes Psalmwort in den Mund, dem er die Vater-Anrede hinzufügt: »Vater, in deine
Hände lege ich meinen Geist« (Ps 31,6)109. In mehrfacher Hinsicht ist dieses Gebet
bemerkenswert.
Zum einen wollte Lukas wohl den starken Ausdruck der Gottverlassenheit Jesu in
seiner Todesstunde vermeiden. In seinem ganzen Werk hatte er ihn als Beter porträtiert, der mit seinem Vater in Verbindung steht110, und das sollte gerade in seiner letzten Stunde so bleiben. Deswegen erhält auch die vorweg stehende Notiz von der Finsternis bei ihm eine andere, weniger dramatische Bedeutung als bei Markus. Lukas
verbindet sie mit der Notiz vom Zerreißen des Tempelvorhangs zu zwei himmlischen
Zeichen, einem kosmischen und einem geschichtlichen, die vorweg die Bedeutung des
Geschehens ankündigen, und löst das letzte Wort Jesu von diesen Zeichen. Der Leser
hat nicht den Eindruck, dass Jesus von ihnen, insbesondere der Finsternis111, selbst
betroffen wäre.
Worauf es Lukas vielmehr ankommt, ist die Freiheit und Souveränität Jesu, in der er
stirbt und die sein Gebet zum Ausdruck bringen soll. »Vater, in deine Hände lege ich
107 Bovon, Lk IV (Anm. 39) 471, stellt sich das so vor, »dass Lukas, wie er das beim armen Lazarus (16,22)
gemacht hat, die Gerechten zwischen ihrem Hinschied und der letzten Auferstehung an einen Ort des
Glücks setzt: Die ›Brust Abrahams‹ ist eine Art, davon zu sprechen, das ›Paradies‹ ist eine andere«; vgl. auch
H. Giesen, ›Noch heute wirst du mit mir im Paradies sein‹ (Lk 23,43). Zur individuellen Eschatologie im
lukanischen Doppelwerk, in: C. G. Müller (Hrsg.), »Licht zur Erleuchtung der Heiden und Herrlichkeit für
dein Volk Israel«. Studien zum lukanischen Doppelwerk (FS J. Zmijewski) (BBB 151), Frankfurt 2005,
151–177.
108 Vgl. Lk 2,11; 4,21; 5,26: 19,5.9.
109 Vgl. E. Bons, Das Sterbewort Jesu nach Lk 23,46 und sein alttestamentlicher Hintergrund, in: BZ.NF
38 (1994) 93–101. – Bovon, Lk IV (Anm. 39) 491 Anm. 45, fasst den Ertrag der jüngsten Studien zu diesem
Gebet zusammen.
110 Die Vater-Anrede ist Kennzeichen des jesuanischen Betens bei Lukas – entsprechend dem Gebet, das
er seine Jünger lehrt: vgl. Lk 10,21 f.; 11,2; 22,42; 23,34 (vgl. auch 3,21; 6,12 zum betenden Jesus); zum
Ganzen L. Feldkämper, Der betende Jesus als Heilsmittler nach Lukas (VMStA 29), St. Augustin 1978.
111 Vgl. dazu Frenschkowski, Offenbarung (Anm. 97) 200: »[…] von Lukas vielleicht nach Amos 8,9 f.
zur – astronomisch natürlich unmöglichen – Sonnenfinsternis rationalisiert«. Diese ist für Lk – wie das
Zerreißen des Tempelvorhangs – ein prodigium, das die Bedeutung und Größe des Sterbens anzeigt, womit
auch Profanhistoriker seiner Zeit rechnen konnten: vgl. die Belege bei Schenke, Christus (Anm. 59) 95
Anm. 14.
Der Tod Jesu im Spiegel seiner »letzten Worte« vom Kreuz
27
meinen Geist«112. Jesus besitzt die »Macht«, »dem Tod jetzt entgegenzutreten, bevor er
ihn besiegen wird«113.
Schließlich ist dieses souveräne Sterben im Vertrauen auf den Vater für Lukas auch
die Erfüllung des Märtyrer- und Prophetengeschicks in Jesus. Unbeschadet seiner soteriologischen Funktion, den Menschen allererst den Weg »in sein Reich« zu eröffnen114, besitzt es auch Vorbildfunktion. Lukas hat die Passion – mit den Worten von
E. Schweizer – so dargestellt, dass sie »den gesamten Dienst Jesu umfasst, in dem eine
neue Möglichkeit menschlichen Lebens und Sterbens geschaffen wird«115. Indiz dafür
ist, dass Stephanus die letzte Bitte des Gekreuzigten für sich wiederholt: »Herr Jesus,
nimm meinen Geist auf« (Apg 7,59). Nicht grundlos ist Lk 23,46 auch zu einem christlichen Sterbewort geworden, mit dem auf den Lippen schon manche gestorben sind116.
4.3 Vermächtnis und Vollendung –
die Sicht des Johannesevangeliums
Die johanneische Kreuzigungsszene bietet eigentlich vier Worte Jesu, die paarweise
angeordnet sind: die Worte an seine Mutter und den geliebten Jünger – die Tradition
zählt sie als ein Wort – sowie die vom Durst und der Vollendung. Die beiden letzten
112 Lk 23,46: […] παρατίθεμαι τὸ πνεῦμά μου. Semantisch entspricht das lukanische Gebet Joh 19,30c:
»er gab den Geist auf« (παρέδωκεν τὸ πνεῦμα). Diese lkn/joh Parallele könnte Indiz dafür sein, dass
Lukas in der Passionserzählung seiner Gemeinden einen entsprechenden Satz vorgefunden und ihn dann
in sein Psalmwort transformiert hat; vgl. Schleritt, Passionsbericht (Anm. 62) 438 f. – M. Müller, Die
Hinrichtung des Geistträgers. Zur Deutung des Todes Jesu im lukanischen Doppelwerk, in: R. Gebauer/
M. Meiser (Hrsg.), Die bleibende Gegenwart des Evangeliums (FS O. Merk) (MThSt 76), Marburg 2003,
45–61, interpretiert das Gebet als Rückgabe des Heiligen Geistes durch den Geistträger Jesus an den Vater.
113 Bovon, Lk IV (Anm. 39) 491. – Die lukanische Darstellung, dass Jesus trotz der Schande seiner Verurteilung zum Kreuz seine innere Freiheit bewahrt habe, könnte auch mit der Sensibilität des Evangelisten
für die hellenistische Sicht zusammenhängen, nach der genau solche Einstellung Größe zeigt, Kennzeichen
eines noble death ist; vgl. Sterling, Mors (Anm. 18) 393–400 (seine Behauptung, Lukas habe den Tod des
Sokrates als Modell vor Augen gehabt, lässt sich aber nicht erweisen); W. Kraus, Das jüdische Evangelium
und seine griechischen Leser. Zum lukanischen Verständnis der Passion Jesu, in: Gebauer/Meiser (Hrsg.),
Gegenwart (Anm. 112) 29–43. – Zum Hintergrund vgl. J. W. van Henten/F. Avemarie, Martyrdom and
Noble Death. Selected Texts from Graeco-Roman, Jewish and Christian Antiquity, London 2002.
114 Zur »narrativen Soteriologie« der lukanischen Passionserzählung vgl. die Studie von Söding, Soteriologie (Anm. 100).
115 Schweizer, Lk (Anm. 98) 226. »Wenn Glaube nicht nur Übernahme einer Formel oder eines Schemas
ist, muss es gewisse Erfahrungsanalogien zwischen Jesus und Jüngerschar geben […]«. Lk 22,27 etwa bedeute, »dass sein dienendes Leiden« der Gemeinde »die Möglichkeit des Dienens, also eine Art ‚Nach-Erfahrung’ […] der Kraft Gottes ermöglicht«.
116 Guthke, Worte (Anm. 1) 161 f., nennt u. a. Johannes Hus, Thomas Becket und Kardinal Newman.
Justin, Dial 105,5, empfiehlt den Christen, sie sollten »am Lebensende beten« wie Jesus am Kreuz. – Aber
Lk 23,46 ist nicht nur Sterbegebet, es hat auch Eingang in das Abendgebet der Kirche gefunden: In manus
tuas, domine, commendo spiritum meum (Responsorium in der Komplet). Vgl. auch Wilkinson, Words
(Anm. 9) 80: »Down through the centuries these words of Psalm 31.5 have been used by Jewish children
before they lay down to sleep”; Authorised Daily Prayer Book of the United Hebrew Congregations of the
British Empire 151935, 329.
28
Michael Theobald
stammen vom Evangelisten, während die Episode mit der Mutter und dem geliebten
Jünger auf die nachträgliche Redaktion des Buches zurückgeht117.
Entgegen der Tradition von den sieben letzten Worten wird man mit der neueren
Exegese festhalten, dass es bei der Verfügung Jesu vom Kreuz nicht um die Versorgung
der Mutter nach dem Tod ihres Sohnes durch einen dazu Bevollmächtigen geht. Die
bürgerliche Vorstellung eines Versorgungsnotfalls ist vom Text fern zu halten. Aber
auch die umgekehrte Deutung, nach der Jesu Sorge nicht der Mutter, sondern dem
Jünger gelte, der in Maria eine Mutter erhalten solle – also die mariologische Deutung
–, wird dem Text nicht gerecht. Ganz bewusst mündet dieser in die Notiz: »Und von
jener Stunde an nahm der Jünger sie in sein Eigentum« (Joh 19,27). Nicht die Mutter,
sondern der Jünger steht im Fokus. Ihn will Jesus dazu bevollmächtigen, die Mutter »in
sein Eigentum aufzunehmen« – keinen Verwandten, nicht Jakobus, den »Herrenbruder«118,
sondern diesen einen besonderen Jünger. Warum? Wahrscheinlich sah sich die spätere
johanneische Gemeinde durch ihn – ihre Gründerfigur – und das ihm von Jesus gegebene Vermächtnis zu ihrem spezifischen Glaubensweg autorisiert. Wenn Jesus seine
Mutter ihm anvertraut, dann ist das der symbolische Ausdruck dafür, dass sein durch
sie repräsentiertes Vermächtnis in der johanneischen Gemeinde und ihrem Evangelienbuch authentisch aufbewahrt ist, das Joh 21,24 zufolge ja diesen Jünger zum Autor
hat. Die beiden Worte besitzen eine hohe legitimatorische Bedeutung in ekklesiologischer Hinsicht.
Ganz anders die beiden folgenden Worte »Mich dürstet« und »Es ist vollbracht«, die
vom Evangelisten streng christologisch und als innerlich zusammengehörig konzipiert
sind119. Es sind keine Gebete (wie bei den anderen Evangelisten), sondern hoheitsvolle
Worte Jesu vom Kreuz, die eigentlich den Lesern des Buches gelten. Mit dem ersten
Wort ergreift Jesus selbst die Initiative zur Essigtränkung, lässt sie also nicht einfach
nur an sich geschehen, wie in den anderen Evangelien gemäß Ps 69,22b, wo es heißt:
»und für meinen Durst gaben sie mir Essig zu trinken«. Wenn zudem der Vierte Evangelist die Episode insgesamt als Schrift-Vollendung120 bezeichnet, dann wird er auch
dem Durst-Ruf gewiss tieferen Sinn zugeschrieben haben121. Die maßgeblichen Kom117 Vgl. M. Theobald, Der Jünger, den Jesus liebte. Das narrative Konzept der johanneischen Redaktion,
in: H. Lichtenberger (Hrsg.), Geschichte - Tradition - Reflexion (FS M. Hengel), Bd. III, Tübingen 1996,
219–255.
118 Vgl. C. Dietzfelbinger, Das Evangelium nach Johannes. Teilband 2: Johannes 13–21 (ZBK.NT 4/2),
Zürich 2001, 302 f.
119 Angezeigt ist das sowohl durch die inclusio mittels des Stichworts »vollenden« (Joh 19,28/30) als auch
durch die Einleitung des zweiten Wortes mit dem Temporalsatz: »Als Jesus das Essigwasser genommen
hatte, sprach er […]«.
120 R. Schnackenburg, Das Johannesevangelium, III. Teil. Kommentar zu Kap. 13–21 (HThK IV/3), Freiburg 21976, 330: die Schrift sollte »volle und letzte Erfüllung finden«; vgl. hierzu auch H.-U. Weidemann,
Der Tod Jesu im Johannesevangelium. Die erste Abschiedsrede als Schlüsseltext für den Passions- und
Osterbericht (BZNW 122), Berlin 2004, 382–385.
121 So auch Schnackenburg, Joh III (Anm. 120) 330: »Der physische Durst Jesu – beim Hängen am Kreuz
eine schreckliche Qual – hat für den Evangelisten sicher noch einen tieferen Sinn«. Die direkte Rede »Mich
Der Tod Jesu im Spiegel seiner »letzten Worte« vom Kreuz
29
mentartexte im Evangelium sind Joh 4,34 und 18,11. In 4,34 erklärt Jesus: »Meine
Speise ist es, dass ich den Willen dessen tue, der mich gesandt hat, und sein Werk vollende«; und in 18,11: »Soll ich den Becher, den mir der Vater gegeben hat, nicht trinken?« Hunger und Durst sind also Bilder für das Verlangen Jesu, den Willen des Vaters
und damit auch die Schrift bis zum Letzten zu erfüllen. Wenn dann Jesus den Essig
nimmt, wie es ausdrücklich heißt, und seinen Durst löscht, dann schließt sich daran
organisch sein allerletztes Wort »Es ist vollendet«122 an: Die Durststillung ist die Vollendung, im Tun des Willens seines Vaters bis zum letzten vollendet sich das ihm aufgetragene Werk. Dieses aber gipfelt entsprechend der johanneischen Christologie in der
Rückkehr des präexistenten Sohnes zum Vater, die nicht nur ihn betrifft, sondern alle,
die sich ihm im Glauben anschließen. Warum? Weil er in seinem Sterben – seinem
Hingang zum Vater – eine Bresche in das »Totenhaus« dieser Welt schlägt und den
Zugang zur Herrlichkeit Gottes eröffnet123. Richtet der Glaubende auf den Gekreuzigten seinen Blick, dann darf er sich dessen gewiss sein, hier und jetzt schon auf seinem
Weg in der Gemeinschaft der Glaubenden den Abglanz »ewigen Lebens« zu schauen.
5. Jesu letzte Worte – jeweils das Ganze im Fragment
Dreierlei sei am Ende unseres Durchgangs festgehalten:
(1) Auch die letzten Worte Jesu entsprechen dem, was man in der Antike mit dieser
Gattung verband, nämlich eine ganze Lebens- oder Weltansicht in den einen oder anderen knappen Ausspruch zu bannen. Die Christen wussten, dass der Tod Jesu über den
Sinn seines ganzen Lebens entschied. So legte es sich nahe, seine letzten Worte vom
Kreuz mit ultimativer Bedeutung zu versehen.
(2) Auch wenn es sieben Worte sind, so sträuben sie sich doch dagegen, in eine übergreifende Dramaturgie des Todes Jesu eingespannt zu werden, wie das die Tradition der
Evangelienharmonien möchte. Diese besitzt ohne Zweifel ihre großen spirituellen Verdienste, aber eine differenzierte Lektüre der Sterbeszenen in den Evangelien fördert
einen Reichtum an Aspekten zu Tage, die sich nicht einfach synthetisieren lassen, sondern verschiedene Bilder zeigen: bei Markus das Bild des in der Finsternis nach dem
Eingreifen Gottes schreienden Jesus (ähnlich Matthäus), bei Lukas das Bild des Märtyrers Jesus, der am Ende souverän das vorlebt, was er in seinem Leben gepredigt hat
– die Zuwendung zu den Verlorenen und absolutes Vertrauen auf den Vatergott – und
dürstet« ist »bewusste joh. Adaption« von Ps 69,22, wohl »aus tieferer Überlegung« heraus, »was dieses
‚mich dürstet’ bei Jesus bedeutet«. Vgl. auch Joh 4,7.13 f.; 6,35; 7,37; zur Metaphorik noch Ps 63,2; 42,3.
122 Lat.: Consummatum est. Eine bemerkenswerte Parallele findet sich in Senecas Tragödie »Hercules
Oetaeus«, bei der Herkules gegen Ende spricht: »Gut so, es hat sich erfüllt (peractum est), mein Geschick
klärt sich auf; dieses Tageslicht ist mein letztes« (Seneca. Sämtliche Tragödien. Lateinisch und deutsch,
übersetzt und erläutert von Theodor Thomann, Bd. II, Zürich/Stuttgart 1969, 357 [Z. 1472 f.]).
123 Vgl. Theobald, Joh I (Anm. 63) 63–65.
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Michael Theobald
bei Johannes das hoheitlich-königliche Bild des Gottessohnes, dessen Sendung sich im
Tod als Hingang zum Vater vollendet.
(3) Die Meinung, es hätte am Anfang der Jerusalemer Gemeinde eine »deutungsfreie« Darstellung der Passion Jesu gegeben, ist eine Illusion. Immer schon haben die
Christen den Skandal, dass ein ehrlos ans Kreuz Gehängter der Messias Israels und der
Retter der Welt sein soll, im Licht des Osterereignisses zu verarbeiten gesucht. Lediglich die Beleuchtung ist jeweils verschieden. Dass man sich dem Geheimnis der wahrhaft großen Gestalten der Geschichte nur nachträglich – post factum – nähern kann,
und dass auch dann Deutungsspielräume bleiben, gilt genau so auch bei Jesus von Nazareth.