Der gestiefelte Kater - Deutung - Durchblick

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Der gestiefelte Kater - Deutung - Durchblick
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Durchblick 6+ – Der gestiefelte Kater – Christian Theede – Deutschland 2009 – 59 min.
2.5 Themen und Deutungsversuche
Der gestiefelte Kater: Vom Weg, ein Mann zu werden
Das Märchen Der gestiefelte Kater als ein typischer Familienroman hat zum Ausgangspunkt
eine schwierige Familiensituation: Der Vater stirbt und hinterlässt seine Mühle den drei Söh­
nen, die nun das Erbe antreten müssen. Es gibt keine Mutter (sie ist wohl schon verstorben)
und es gibt keine Schwester. Das Weibliche ist in dieser Familie eine Leerstelle.
Mit dem Kater als Erbe des Vaters hat der Jüngste wenig Glück gehabt. Das Mühlrad dreht
sich unter der Obhut der zwei älteren Brüder weiter und das Schicksal des jüngsten Bruders
zeichnet sich ab: Er muss allein den Weg durch die Pubertät bzw. Adoleszenz antreten, er
muss ein Mann werden, ähnlich wie es Die Gänsemagd machen muss: weg von zu Hause,
um als Königstochter eine Frau zu werden.
In der folgenden Deutung wird jede Figur dieses Märchens als ein Teil der Persönlichkeit des
jüngsten Müllersohnes gesehen, um das innere Drama des Heranwachsens im Jugendalter
aufzuzeigen (subjektstufige Interpretation).
Der Kater in mir – ein innerer Begleiter und Mentor
Das Entwicklungsthema des jüngsten Sohnes ist die Ablösung vom Elternhaus sowie die
Aufgabe, selbstständig zu werden. Der Müllersohn steht für das Ich einer Person, die wach­
sen und reifen muss. Ihm zur Seite steht der Kater als ein trickreicher Helfer. Er ist gleichsam
ein zweites Ich und verkörpert das Selbst in Form einer inneren Stimme, die für das Unbe­
wusste spricht. Somit wird der Kater zu einem inneren Begleiter bei der Ausformung des
Ichs.
Wie gut, dass der Müllersohn den Kater nicht getötet hat, er hätte damit den Kontakt zu sei­
nem Unbewussten abgebrochen und damit vieles verdrängt. Der Kater bangt um sein Leben,
was in ihm Energien und Fantasie freisetzt. Das Ich des Müllersohnes versinkt in Trauer und
Verzweiflung, doch die Stimme des Katers weist ihm einen Weg aus seiner Lage und Armut
hin zur Selbstständigkeit sowie zu innerem und äußerem Besitz.
Die Reise des Helden beginnt mit Trauer und Einsamkeit
Der Tod des Vaters ist für den Müllersohn Anstoß, Abschied von der Kindheit und der Gebor­
genheit in der Familie zu nehmen. Die innere Stimme sagt „ich will erwachsen werden“. Zu­
gleich aber spürt der Müllersohn in sich eine Weigerung: Warum soll ich erwachsen werden,
ich muss doch erst um den Tod des Vaters trauern? So verharrt er in seinem Gram: Was hat
sich der Vater nur mit dem Kater gedacht? Wie soll er nun ohne Vater auskommen und auf
eigenen Füßen stehen können?
Der Müllersohn lässt die Trauer zu. Er verdrängt nicht seinen Schmerz und gesteht sich
selbst seine Wut zu, denn er könnte dem Kater an den Kragen. Da meldet sich der Betroffe­
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ne auch schon selbst, und die innere Stimme des Müllersohns verzeiht ihm seine Tötungsab­
sicht und ermahnt das Ich des Müllersohns, endlich etwas tun, um diese Stockung und Läh­
mung aufzulösen.
Der Kater (als Stimme des Unbewussten) hat schon einen Plan gefasst: Der Müllersohn ist
zu Höherem berufen, er soll Graf und König werden. Jugendliche haben in diesem Alter
Wünsche, die meist von Grandiosität und Selbstüberschätzung geprägt sind. Der Kater weiß
um diese Wünsche und er lässt dem Müllersohn für seine Entwicklung Zeit.
Die Stimme des Katers kann auch als die Summe der Erfahrungen und Erkenntnisse gese­
hen werden, die der Vater dem Sohn im Laufe der Zeit vermittelt hat. Die Psychologie spricht
dabei von Introjektion (vom unbewussten Einbezug der Anschauungen, Motive, Wertvorstel­
lungen anderer in das eigene Ich).
Die meisten Eltern meinen es gut mit ihren Kindern und sie möchten, dass die Söhne und
Töchter es einmal besser haben als sie selbst. Ferner wird den Heranwachsenden von den
Eltern die Bedeutung des Materiellen dringend ans Herz gelegt („Von was willst du einmal
eine Familie ernähren?“). Solche geheimen und gutgemeinten Absichten der Eltern tun die
Heranwachsenden oftmals ab, und es kann bis zum mittleren Lebensalter dauern, bis sie
solche Haltungen aufgrund eigener Erfahrungen schätzen lernen.
Der Kater als Botschafter des Unbewussten geht in die Offensive
Der Müllersohn (das Ich) hat genug getrauert. Der Kater macht sich auf den Weg und er
kennt auch das Ziel. Er bringt von nun an Neues in das Leben des jungen Mannes.
Die Gestalt eines Tieres steht in den Märchen vielfach für die vitalen, intuitiven und kreativen
Kräfte in einem selbst. Mit guten Schuhen bzw. Stiefeln kann man alle Wege einer Neuorien­
tierung im Leben gehen. Die neue Gangart (von vier auf zwei Beinen) sowie das selbstbe­
wusste Auftreten machen den Kater zu einer menschlichen Gestalt. Eine aufrechte Haltung
auf gleicher Augenhöhe bewirkt bei anderen immer Respekt. Das äußere Erscheinungsbild
ist Ausdruck der Einstellung zum Leben und prägt die Haltung zur Welt. Selbstsicheres Auf­
treten führt zum Erfolg. Das Reden und Handeln des Katers bewirken beim Müllersohn einen
Ruck durch Körper und Geist.
Der Kater hat eine Strategie und ein Konzept für die Lebensperspektive des Müllersohnes.
Er weiß genau, was der Müllersohn will und soll. Da er als Botschafter des Unbewussten das
Intuitive (und auch Instinktive) verkörpert, weiß er um vieles, was aber dem Müllersohn
(noch) nicht bewusst ist. Es (der Kater) bereitet sich etwas vor, von dem er noch nichts weiß:
er soll ein König werden, ein Mann und ein Vater – König und Königin sind im Märchen (ent­
sprechend der Tiefenpsychologie) Figuren, die insbesondere für ein gereiftes Ich stehen und
weniger für den Stand der Royals.
Als Erstes gibt der Kater dem Müllersohn einen neuen Namen und befördert ihn in den
Adelsstand, was die Entwicklung und Berufung zu etwas Höherem andeutet. Der Müllersohn
wird Graf, und das heißt, er soll es zu etwas bringen und den Erwartungen der Anderen so­
wie der Gesellschaft entsprechen.
Auf dem Weg – Die Arbeit am Selbstbild
In der Zeit der Pubertät und Adoleszenz sind die jungen Menschen auf der Suche nach sich
selbst und nach einem Platz in der Gesellschaft. Der Kater im Müllersohn verkörpert dabei
ein gesundes Selbstwertgefühl und unterstützt den werdenden Mann auf seinem inneren
Weg der Prüfungen:
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Die erste Prüfung ist das Bad im See. Wasser hat symbolisch mit dem Unbewussten zu tun.
Der Müllersohn muss sich ausziehen und sich selbst in seiner Nacktheit erkennen. Nackt
sein bedeutet, sich so zu sehen und anzunehmen, wie man wirklich ist, zumal im Lauf der
Kindheit und Jugend die Heranwachsenden Idealbilder von sich aufbauen, die wiederum oft
den Botschaften der Anderen, insbesondere der Eltern entsprechen (internalisierte Vorstel­
lungen).
Baden ist ein Vorgang der Reinigung und der Wandlung. Das Alte wird abgewaschen – und
dies kann sich auf überholte Ansichten oder Lebenseinstellungen, auf schmerzhafte Erinne­
rungen oder Bindungen sowie auf den Abschied von überholten Auffassungen und Verhal­
tensweisen in der Kindheit und Jugend beziehen.
Das Wasser steht symbolisch für das Weibliche und Mütterliche. In der Müllerfamilie gab es
schon lange keine Mutter mehr. Wasser erinnert an Geburt und Tod. Das Bad konfrontiert
den Müllersohn nochmals mit dem Schmerz des Verlustes der Mutter sowie des Vaters.
Wasser hat aber auch eine heilende Wirkung: Wasser entspannt die Haut, Wasser macht
den Körper leicht und den Geist gelassen. Wasser spiegelt das eigene Gesicht und Ausse­
hen wider: Erkenne Dich selbst – das ist die Botschaft aus dem Unbewussten.
Beim Baden kann der Müllersohn seinen Gedanken nachhängen und sich seiner eigenen
Person und Identität versichern. Was erwartet er sich vom Leben, was möchte er erreichen?
Wie steht es mit seinem Selbstwertgefühl, seiner Selbstsicherheit? Wasser macht symbo­
lisch mit dem Weiblichen vertraut – und dies steht an, denn er wird nun als junger Mann dem
anderen Geschlecht begegnen.
Der Kleiderwechsel – ein Wechsel der Rolle
Der Kater versteckt die alten Kleider, sie passen nicht mehr zu einem jungen Mann, dessen
Ich gewachsen ist. Nun werden ihm königliche Kleider verliehen.
Kleider bringen das Innere zum Ausdruck, nämlich die Veränderung und die Wandlung. Klei­
der als „zweite Haut“ des Menschen verkörpern die Persönlichkeit.
Ab einem gewissen Punkt ihrer Entwicklung setzen sich Jugendliche durch Kleidung von den
Eltern sowie von der Erwachsenenwelt ab. Mit zunehmender Ausformung der Identität be­
stimmen sie selbst, was sie anziehen möchten und sie vermeiden es, fortan beim Kleiderkauf
die Eltern als Berater dabei zu haben. Dies ist ein wichtiger Punkt in der seelischen Entwick­
lung, nämlich das Bewusstsein der Eigenständigkeit, Individualität, Originalität – auch wenn
die unterschiedlichen Geschmackskulturen zu Konflikten innerhalb der Familie führen kön­
nen, was von den Beteiligten ausgestanden und ausgehandelt werden muss.
Der König (als Personifikation eines idealen Ich für den Müllerssohn) verkörpert gleichsam
die Erwartungen und Auflagen der Gesellschaft. Die neuen Kleider unterscheiden sich von
den Kleidern seiner sozialen Herkunft, das heißt, sie verhüllen seine Herkunft und markieren
den Abschied von seiner Familie, die dem Handwerkerstand angehört (die Kinder sollen es
weiter bringen als die Eltern).
Der Müllersohn wird vom Kater zum Marquis von Carabas ernannt, das ist eine innere Bot­
schaft, deren Auftrag er nun umsetzen muss. In Phasen der Pubertät geben sich Jugendli­
che oft selbst neue Namen. Damit setzen sie für ihre Identität eine Zäsur und schreiben sich
eine neue Rolle sowie ein neues Selbstbild zu.
Der Abschied von der Familie
Die königliche Kutsche entfernt den jungen Marquis (vormals ein Müllersohn) von seiner Fa­
milie und Heimat.
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Abschied bedeutet, etwas hinter sich lassen. Ein bloßer Ortswechsel aber genügt nicht für
den Prozess der Entwicklung: „Solange wir innerlich unbewegt bleiben, helfen alle Reisen
und alle äußere Bewegung nichts. Wir nehmen uns selbst ja immer auf die Reise mit“ (Kauf­
mann 1985, S. 103).
In der Kutsche muss sich der junge Mann dem König (also seinem Ideal-Ich und Vorbild)
stellen, aber auch der Prinzessin, die ihn mit dem Weiblichen konfrontiert, denn die eroti­
schen Blicke und Gesten zeigen gegenseitiges Gefallen und deuten Zuneigung an.
Bei ihrer Fahrt durch das „weite Land“ heißen die Menschen (gebrieft durch den Kater) den
jungen Marquis in ihrer Gesellschaft willkommen und machen ihm dadurch bewusst, dass
ihm nun die Welt gehört und er sich dieser Welt bemächtigen könne. Das wachsende Ich
wird gleichsam durch die Gesellschaft gezwungen, Aufgaben und Verantwortung zu über­
nehmen.
Kleine und großen Reisen sind für den inneren Entwicklungsprozess junger Menschen von
Bedeutung, wobei das „weite Land“ auch für die Bereiche des inneren Lebens steht.
Das Leben ist ein immer wiederkehrender Abschied von Menschen, Situationen, Umständen,
Möglichkeiten, Träumen und Vorstellungen. Abschied nehmen ist mit Trauer verbunden,
aber auch mit dem Bewusstsein der eigenen Tatkraft sowie mit der Rückbesinnung auf die
eigenen Fähigkeiten und Werte.
Die Menschen kennen lernen sowie die Regeln der Gesellschaft durchschauen
Zum Entwicklungsprozess gehören nicht nur die Ausformung des Ich und der Identität, son­
dern auch der Durchblick im Umgang mit Menschen sowie das Durchschauen der gesell­
schaftlichen Verhältnisse.
Der Kater als innerer Begleiter konfrontiert den jungen Mann mit Situationen, in denen nicht
nur das ideale Harmonische und erwünschte Gute die Vorherrschaft hat, sondern auch das
Böse sowie List und Tücke:
Der Kater manipuliert und zwingt unter Androhung die Menschen, damit sie lügen und dem
Herrscher etwas vormachen („Sie gehören dem Marquis von Carabas“).
Der Kater zeigt das Mörderische, das wie ein Schatten in einem stecken kann:
Der eitle und größenwahnsinnige sowie von Grandiosität geblendete, kurzum nar(r)zisstisch
gestörte Zauberer und brutale Herrscher Abbadon verkennt die gefährliche Situation des
Spiels der Verwandlung. Er fühlt sich durch den Kater geschmeichelt und wird schlussend­
lich als verzauberte Maus zum Opfer seines anmaßenden Verhaltens.
Größenwahn, Grandiosität, Selbstüberschätzung sind auch Verhaltensweisen von Jugendli­
chen und jungen Erwachsenen, mit denen sie sich oft selbst zur Strecke bringen.
Schlussendlich zeigt der Kater dem jungen Mann, dass die Menschen sich vom Äußeren und
Materiellen (Besitz, Reichtum, Schönheit) blenden und täuschen lassen – im Märchen steht
jedoch Gold nicht nur für das Äußere, sondern auch für den inneren Reichtum und ist zu­
gleich Ausdruck für die Bewusstwerdung der eigenen Energien und Fähigkeiten.
Ein König werden – Der Prozess des Reifens braucht Zeit
König und Königin stehen tiefenpsychologisch für das Ich. Als ein König kann sich derjenige
nennen, der innerlich gewachsen ist sowie die verborgenen und erworbenen Fähigkeiten,
Talente, Begabungen zum Wohl der Gemeinschaft einbringt. König ist man nicht, um ledig­
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lich egoistische Wünsche zu befriedigen, sondern um einem Reich und deren Menschen zu
dienen sowie Gesetze zum Wohl der Allgemeinheit zu erlassen.
Durch das Erwachsenwerden hat das Ich bewusste Verantwortung übernommen. Die Person
(der Müllersohn) hat sich mit seinen Ängsten, seiner Trauer und seinem Schmerz auseinan­
dergesetzt. Unter der Führung des Katers (d.h. seiner eigenen Intuition) ist er den Weg zum
erwachsenen Mann gegangen.
Der Müllersohn und ernannte Marquis wird in das Schloss einziehen – und dieses Gebäude
ist ein Symbol des Weiblichen und Mütterlichen sowie der Heimat („my home ist my castle“).
König ist derjenige, der sich seines gereiften Selbst bewusst ist und seinen Platz in der Ge­
meinschaft mit anderen sowie in der Gesellschaft gefunden hat.
Die Entwicklung des Ich macht ihn auch fähig, seine männlichen Anteile (Animus) mit den
weiblichen Anteilen (Anima) zu verbinden. Die Prinzessin wird dem Marquis von Carabas
und späteren König versprochen. Aber es geht beim inneren, seelischen Wachsen nicht al­
lein um die Heirat mit einer Frau bzw. mit einem Mann, sondern auch darum, dass Animus
und Anima, das Männliche und Weibliche in einem selbst Hochzeit feiern können.
Das Erwachsenwerden braucht Begleitung mit Rat und Tat. Der gestiefelte Kater als innere
Stimme und Repräsentant des Unbewussten hat für den einstigen Müllersohn die Rolle eines
Mentors übernommen und er bleibt für den Marquis und jungen König weiterhin ein „Minister“
und kluger Berater. Er wird wie ein Therapeut dem jungen Mann zur Seite stehen – als der
Kater in mir, der einen ermahnt, auf die innere Stimme bzw. auf die Stimme des Herzens zu
hören.
Dr. Jürgen Barthelmes
Literatur
Alice Dassel
Märcheninterpretation „Der gestiefelte Kater“ (Grimm)
Baltmannsweiler 2009
Franz Kaufmann
Der gestiefelte Kater. Was einer aus sich machen kann.
Zürich 1985
Christine Schlicker
Warum gestiefelter Kater und nicht handschuhtragender Hund.
Über die Anthropomorphisierung von Tieren in Märchen am Beispiel des gestiefelten Katers.
Studienarbeit.
Norderstedt 2006
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