Wellenschläge. Kulturelle Interferenzen im östlichen Mitteleuropa
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Wellenschläge. Kulturelle Interferenzen im östlichen Mitteleuropa
Wellenschläge. Kulturelle Mitteleuropa des langen 20. Jahrhunderts Hg. v. Ute Raßloff Interferenzen im östlichen Inhalt Vorwort 8 Winfried Eberhard Langfristige Strukturen Ostmitteleuropas als Vorraussetzung für kulturelle Interferenzen. Eine historische Einführung 9 Anna Veronika Wendland Galizien als Referenzraum kultureller Interferenz 1. Kulturelle Interferenz und ihre Räume: Problemstellungen und Diskussionen 1.1 Die Begriffe 1.2 Galizien 1.3 Interferenzräume zwischen Modediskurs, politischer Kontroverse und wissenschaftlicher Begründung 1.4 Wer spricht im Interferenzraum – und wer macht ihn? Das galizische Beispiel 2. Interferenz, Mobilisierung, Urbanität: Die Rolle des städtischen Raumes 2.1 Interferenz auf dem Land und in der Stadt 2.2 Die Bedeutung der urbanen Erfahrung: Lemberg im 20. Jahrhundert 2.3 Galizien – ein Sonderfall? 3. Zeitlosigkeit vs. Historizität 3.1. Historische Präfigurationen des Interferenzraums Galizien 3.2 Interferenz und Konflikt – Konflikt als Interferenz 3.3 Interferenz und Segregation in der Zwischenkriegszeit 3.4 Die Transformation der urbanen Raumbilder 4. Postkoloniale Ansätze und Interferenz 4.1 Kulturelle Differenzen und Hierarchien 4.2 Macht und Recht 4.3 Kulturelle Essentialisierung und Selbstindigenisierung vs. ökonomische Integration 4.4 Gewalt 5. Schlussbemerkung 79 81 83 Lenka Řezníková Suche nach Differenzen als Interferenzprozess. Praktiken der nationalen Abgrenzung in Prag um 1900 1. Multiethnisch oder multikulturell? 2. Aspekte der Imaginierung Prags um 1900 3. Lust auf Unterschiede? 94 94 97 99 42 42 42 44 46 50 56 56 58 64 65 65 66 68 69 71 73 77 2 4. Das Wesen interethnischer Differenzen: Konstruktionscharakter, Relativität, Nichtrepräsentativität 5. Modellbildende Räume der Konstruktion von Unterschieden: Historiographie und Ethik 6. Topik der sozialen Differenz 7. Die Ethnisierung der Sprache 8. Tres faciunt collegium 9. Weitere Typen von Differenz 10. Differenz und Grenzziehung 11. Sprachgrenze als Modell? 12. Die Metapher der Kreuzung 13. Die Tschechen – pragmatische Perspektive – funktionale Grenze 14. Grenzüberschreitung als Interferenzprozess 15. Entstehung einer neuen Qualität als Interferenzprozess 16. Am Nullpunkt. Schlussbemerkungen Borbála Zsuzsanna Török Die Kunst, provinziell zu sein: Siebenbürgische Landeskunde als Wissenschaft und literarische Fiktion 1. Einführung 2. Die Wilden im eigenen Land: Darstellungen der regionalen Gesellschaft in der Landeskunde der Aufklärung 3. Der Wilde als soziale Metapher: „Die Ziganiade“ 4. Die nationale Kartierung Siebenbürgens im 19. Jahrhundert 5. Von der realen zur symbolischen Verortung: Siebenbürgen als Land des Dracula 6. „Totale Verrücktheit“: Die Erosion der nationalen Taxonomie während des Kommunismus 7. Der Schock des Alten: Neugestaltung der nationalen Verortung nach dem Zusammenbruch des Kommunismus Gabriela Kiliánová Tod und Tödin in Medzev. Interferenzen der kulturellen Repräsentation in einem mehrsprachigen Kommunikationsraum 1. Einleitung: Begriffe, Material und Methode 2. Personifikationen des Todes in slowakischen und deutschen Narrativen in der Slowakei 3. Slowakischsprachige Erzählungen mit Todespersonifikationen aus dem 19. und 20. Jahrhundert 4. Die Gestalt des Todes in deutschsprachigen Erzählungen in der Slowakei 5. Vergleich der slowakisch- und der deutschsprachigen Überlieferung aus dem 20. Jahrhundert 102 107 102 113 118 120 122 127 129 131 133 134 135 144 144 149 154 158 162 165 172 186 186 190 192 201 209 3 6. Medzev 7. Feldforschung in Medzev 8. Die Stadt als mehrsprachiger Raum 9. Die kulturelle Repräsentation der Gestalt des Todes in Medzev 10. Die Personifikation des Todes in der slowakischsprachigen Gruppe 11. Die Personifikation des Todes in der deutschsprachigen Gruppe 12. Die kulturelle Repräsentation des Todes bei Slowaken und Mantaken in Medzev 13. Schlussbemerkung 210 213 215 216 217 219 222 223 Laura Hegedüs Grenz(ver)handlungen und Grenz(er)findungen im Kontaktraum Burgenland und Westungarn – Repräsentationen eines Raumes 1. Zur Einführung 2. Auf der anderen Seite 2.1 Nachdenken über Grenzen und Grenzzeichen 2.2 Grenzen – Von der Be-grenzung eines Begriffs 3. Geographische, politische und sozio-kulturelle Verschränkungen einer Grenzregion: Burgenland und Westungarn als Kontaktraum 4. Grenzen verhandeln – Grenzen überschreiten. Theoretische Grundlagen 4.1 Soziologische Zugänge 4.2 Semantisch-semiotischer Hintergrund 4.3 Narrative Entwürfe von Grenzen 4.4 Das Subjekt als Vermittler zwischen sozialem und erzähltem Raum 5. Grenzverschränkungen im erzählerischen Raum: Vier Grenzerzählungen 5.1 Grenzverschiebung und Sprachwechsel – Helene Flöss: Brüchige Ufer 5.2 Grenzüberwindung und Verlusterfahrung – Agota Kristof: Das große Heft 5.3 Grenzüberschreitung und Identitätswechsel – Terézia Mora: Seltsame Materie 5.4 Grenzverletzung und Verbrechen – Gerhard Roth: Der See 6. Fazit – Literarische Grenzverhandlungen. Der Kontaktraum als Interferferenzraum 266 Matteo Colombi Vom klassischen zum plastischen Karst. Darstellungswege in einem kulturellen Interferenzraum 1. Karstlandschaft 1.1 Klassischer Karst 1.2 Plastischer Karst 2. Repräsentation I: Geschichtsschreibung 2.1. Fokus-Karst 274 274 274 275 276 277 230 231 231 231 234 236 239 239 241 243 244 245 247 249 253 263 4 2.1.1 Chronologie des Narrativs 2.1.2 Struktur des Narrativs 2.2 Kraken-Karst 3. Karstuntergrund I: Interkultureller und transkultureller Karst 4. Repräsentation II: Reisetexte 4.1 Nebeneinander-Karst 4.2 Gegeneinander-Miteinander-Karst 4.3 Ineinander-Karst? 5. Karstuntergrund II: Ciao-fanti-Karst 6. Repräsentation III: fiktionale Literatur 6.1 Einzelgänger-Karst 6.2 Heimat-Karst 7. Interferenzkarst (Fazit) Andreas R. Hofmann Neuer Besuch bei alten Nachbarn. Ein Essay über das Metastereotyp in der Geschichte des Posener Gebiets 1. Einleitung 2. Das Stereotyp als Material einer deutsch-polnischen Beziehungs- und Verflechtungsgeschichte 3. Anfänge der deutsch-polnischen Stereotypisierung und der unsichtbare Dritte 4. Die Nationalisierung des Stereotyps 5. Exkurs: Gibt es ein visuelles Stereotyp? Die Stereotypisierung von Bildern und Realien 6. Was bleibt – ein Witz? Das Stereotyp als Phänomen der histoire lentement rhythmée 7. Fazit Ute Raßloff Bier oder Käse?. Transformationen des Karpatenräubers Juraj Jánošík als Symptome kultureller Interferenz 1. Jánošík als transnationaler Erinnerungsort 2. Der westliche Karpatenraum als kultureller Interferenzraum 3. Identitäten, Codes, Interferenzen, Topoi 4. Jánošík historisch 5. Ebenen der Interferenz im Topos Jánošík 6. Legendenbildung – Jánošík als interferenzieller Code in Bild und Wort 7. Der slowakische Jánošík im 19. Jahrhundert. Subversion und Integration – ein Gesetzloser wird zum Volks- und Nationalhelden 8. Der tschechische Jánošík – Aneignung der Slowakei, Exotisierung, ethnische Codierung 9. Tschechisch-slowakischer Jánošík und die Avantgarde. 277 284 287 292 300 301 302 305 308 312 313 325 333 342 342 345 350 357 373 380 386 404 404 405 408 410 413 415 421 425 5 Nationale Codierung in Wort und Bild 10. Popularisierung durch den tschechoslowakischen Film 11. Der polnische Janosik: Die Frauen und das Verderben 12. Spaltungen: Entweder – oder 13. Übersetzung, Transgression: Sowohl – als auch 14. Kooperation – Eine wahre Geschichte 15. Alternation und Interferenz 16. Zusammenfassung: Interferenz als Zeichenprozess 429 434 437 443 449 451 455 457 6 Vorwort Dieses Material entstand als Ergebnis des Projekts „Reflexion kultureller Interferenzräume. Ostmitteleuropa im 20. Jahrhundert“, das von 2007 bis 2010 am Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO) in Leipzig angesiedelt war. Es wurde durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung im Rahmen des Programms „Geisteswissenschaften im gesellschaftlichen Dialog“ unter dem Themenschwerpunkt „Europa – Kulturelle und soziale Bestimmungen Europas und des Europäischen“ gefördert. Leitgedanke der Untersuchungen war die Frage, wie Akteure mit der in Ostmitteleuropa langfristig gewachsenen sprachlichen, ethnischen, nationalkulturellen und konfessionellen Pluralität im 20. Jahrhundert vor Ort umgingen, als diese Strukturfaktoren dramatischen Veränderungen ausgesetzt waren. Die international zusammengesetzte und interdisziplinär arbeitende Forschergruppe entschied sich gezielt für solche Orte auf der Landkarte – Dörfer, Städte, Regionen und Grenzgebiete –, deren Geschichte und Kultur sich mit homogenisierenden Kulturmodellen nicht angemessen beschreiben lassen. Die Gruppe untersuchte Literatur, orale Traditionen und visuelle Artefakte als Medien, in denen sich kulturelle Interferenzen auf der Zeichenebene niederschlagen. Die in den Einzelstudien analysierten mannigfaltigen Identitätsprozesse werden unter der Metapher der kulturellen Interferenz zusammengeführt. Damit sind vielfältige Überlagerungen, Durchdringungen und wechselseitige Beeinflussungen von symbolischen Ordnungen, Verhaltens- und Wertesystemen oder einfach von diversen Zugehörigkeiten gemeint. Im Zeitalter von Migration und Globalisierung sind Konstellationen der kulturellen Interferenz allerorts und in wachsendem Maße zu beobachten. Aufgrund seiner langfristigen kulturellen Pluralitätsstrukturen erweist sich aber gerade Ostmitteleuropa als ein besonders geeignetes Untersuchungsfeld für dieses Phänomen. Leipzig, im Dezember 2012 Ute Raßloff 8 Winfried Eberhard Langfristige Strukturen Ostmitteleuropas als Vorraussetzung für kulturelle Interferenzen. Eine historische Einführung Ostmitteleuropa ist nach heutigem wissenschaftlichen Verständnis eine Geschichtsregion, d.h. eine aus historischen Beobachtungen und Vergleichen konstruierte Region Europas mit lang wirkenden gemeinsamen Strukturmerkmalen und -problemen. Gegenüber der Vorstellung, eine solche Konstruktion sei interessengeleitet, willkürlich oder gar fiktional, ist zunächst zu betonen, dass Geschichtswissenschaft und Geschichtsschreibung wie auch andere Wissenschaften in ihren Deutungen und Ergebnissen immer und erkenntnistheoretisch unausweichlich (Re-)Konstruktionen darstellen, wie man seit den Auseinandersetzungen um Historismus und Hermeneutik weiß. Damit ist selbstverständlich auch die Geschichtsregion eine Konstruktion, besser gesagt: ein Deutungsmodell. Um nicht Fiktion oder politisches Plädoyer zu werden, ist dieses Modell wissenschaftlich sachlich und plausibel zu begründen. Damit ist es zwar beabsichtigt kritisierbar und falsifizierbar. Es vermeidet aber als wissenschaftliches, durch sachlich belegbare Vergleiche gewonnenes Modell, dass es durch Interessen und Politik vorgegeben und damit manipulierbar wird, wie etwa die mythifizierten Geschichtskonstruktionen der Nationalbewegungen1 oder die interessengeleiteten Mitteleuropakonzeptionen2 der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Überdies sind es keineswegs geographische Grenzen und auch nicht politische Reichsbildungen und Imperien, sondern eben „nur“ die erwähnten historisch gewachsenen, gemeinsamen Strukturfaktoren mit ihren weitreichenden Konsequenzen, die das östliche Mitteleuropa zwischen Ostsee und Adria als Geschichtsregion konstituieren.3 Dieser Ostmitteleuropa-Begriff und dieses strukturale Verständnis sind inzwischen mehrfach begründet und entfaltet worden, gerade auch für das Forschungsprogramm des GWZO.4 Entwickelt wurde dieser wissenschaftliche Ostmitteleuropabegriff vor allem durch die struktural vergleichenden Analysen und Entwürfe von Oskar Halecki, Werner Conze, Klaus Zernack und Jenő Szücs.5 Es geht dabei um eine an konkreten, geschichtlich 1 ZACH, Balkan, 2004, 327 und 339. Vgl. Anm. 4. 3 LE RIDER, Mitteleuropa, 1994, 7; KREFT, Das östliche Mitteleuropa, 1996, 6. – Zum Verständnis des Begriffs der Geschichtsregion STROHMEYER, Historische Komparatistik, 1999; TROEBST, Vom spatial turn zum regional turn?, 2007. 4 EBERHARD, Ostmitteleuropa, 2003, 73–80; DERS, Ostmitteleuropa, 2007; Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas, 1998; BAHLCKE, Ostmitteleuropa, 1999. 5 HALECKI, The Limits and Divisions of European History, 1950; CONZE, Ostmitteleuropa, 1992; ZERNACK, Osteuropa, 1977; SZŰCS, Die drei historischen Regionen Europas, 1990. Diese 2 9 gewordenen Strukturen beobachtete Geschichtsregion, nicht um eine abstrakte Modellvorstellung wie etwa das Zentrum-Peripherie-Modell der Modernisierungstheorie. Dabei ist allerdings zu beachten, dass die historischen Strukturen – eben weil sie historisch sind – nicht als essentialistisch und unwandelbar zu betrachten sind. Vielmehr sind auch jeweils epochenspezifische neue Strukturen und das Zurücktreten von alten zu beachten – bei aller Konstanz von anderen.6 Ja, theoretisch und begriffsnotwendig kann eine Geschichtsregion auch ihr Ende finden. Der vorliegende Band greift mit seinem Thema der kulturellen Interferenzen und Interferenzräume wesentliche Strukturfaktoren Ostmitteleuropas auf und zielt gleichsam ins Zentrum des Begriffs. Denn für kulturelle Transfers und Interaktionen, Durchdringungen und Verflechtungen bietet das östliche Mitteleuropa ein herausragendes Untersuchungsfeld7 von – bei allem Wandel einzelner Faktoren – bemerkenswerter Konstanz vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert. Seine Kulturkontakte und -transfers richteten sich dabei grundsätzlich in alle Himmelsrichtungen.8 In ihrer Verflechtungsvielfalt und – dichte sowie in deren zeitlicher Kontinuität übertrifft diese Region die Alpen und Pyrenäen und sogar den Mittelmeerraum. So konnte Krista Zach, jedenfalls mit Blick auf den Süden Ostmitteleuropas, zu Recht feststellen: Keine andere Region in Europa weist seit dem Hochmittelalter und bis heute noch eine ähnliche Vielfalt der Kulturalität in Sprache, Ethnikum oder Konfession und der siedlungsbedingten Streuung wie Verschränkung der Kulturen auf. Vielfalt und Verschränkung bilden, historisch betrachtet, die Dominanten in der Kulturgeschichte des östlichen und südöstlichen Europa.9 Auf einige historische Grundlagen von solchen Überlappungen Verschränkungen sollen sich die folgenden Überlegungen beschränken. und Einen der auffälligsten strukturbildenden Faktoren Ostmitteleuropas, der auch dem Nichthistoriker meist unmittelbar einsichtig ist, bildet sein ethnischer Pluralismus.10 Gerade weil der Begriff des Ethnischen so unmittelbar einleuchtend erscheint, ist jedoch gegen Missverständnisse zu betonen, was oben Verwissenschaftlichung setzte sich dezidiert ab vom politisch instrumentalisierten Verständnis Mitteleuropas in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: LE RIDER, Mitteleuropa, 1994, 121–147; Mitteleuropa-Konzeptionen, 1995. 6 ZERNACK, Nordosteuropa, 1993, 21. 7 NIENDORF, Mehr als eine Addition von Nationalhistoriographien, 2000, 102 f. postuliert als Aufgabe des Faches Osteuropäische Geschichte, die vielfältigen Verflechtungen in der Geschichte dieser Region aufzugreifen und zu analysieren, und zwar mit dem Ziel einer Modell- und Theoriebildung interethnischer Prozesse. 8 Ebd., 9 („Kontakt- und Durchdringungszone“); DERS., Osteuropa, 1977, 33–41; Westmitteleuropa – Ostmitteleuropa, 1992, 15–16. 9 ZACH, Balkan, 2004, 326. 10 NIENDORF, 2000, 102. – Zu den länderübergreifenden ethnischen Gruppen: Studienhandbuch östliches Europa I, 1999, 449–490. 10 schon zu den historischen Strukturen und zur Geschichtsregion gesagt wurde: Er ist nicht essentialistisch aufzufassen, sondern sprachlich-kulturell bestimmt. Das bedeutet, dass das Ethnos ein wandelbares Phänomen ist und sich durch Kulturtransferprozesse und sprachliche Assimilation verändern kann. Meist ist das ethnische Merkmal einer Bevölkerungsgruppe auch gesellschaftlich geprägt oder verstärkt, so dass soziale Mobilität auch eine ethnische Mobilität (Veränderung) zur Folge haben kann. Überdies ist zu vermeiden, dass Ethnien – wie es seit dem 18. Jahrhundert üblich war – unter dem Paradigma von Fortschritt und Modernisierung nach zivilisatorischem Gefälle eingeordnet und gewertet werden. Der ethnische Pluralismus Ostmitteleuropas wurde zunächst11 vor allem durch den Prozess des Landesausbaus im 13. Jahrhundert grundgelegt, als die Fürsten und Könige Polens, Böhmens und Ungarns sowie der deutsche Orden zur Ressourcensteigerung Siedler und Mönche aus dem westlichen Mitteleuropa anwarben, wo die Möglichkeiten der Binnenkolonisation dem demographischen Aufschwung nicht mehr entsprechen konnten.12 Die – im Allgemeinen deutschen – Neusiedler brachten neue Agrar- und Bergbautechniken und neue Verfahren der Anlage und Organisation von Dorf- und Stadtsiedlungen mit und erhielten als Anreiz neue Freiheiten und ihr eigenes Recht, das ius teutonicum13, das aber in der Folge vielfach auch auf slawische Siedlungen übertragen wurde und eine gewisse gemeindliche Selbstverwaltung erlaubte. Dies erbrachte in etwa 150 Jahren im Ergebnis erstens eine rasche Modernisierung östlich von Elbe und Oder, Böhmerwald und Leitha und eine zweite, entscheidende Stufe des kulturellen Ausgleichs mit dem westlichen Mitteleuropa.14 Zweitens prägte nun nicht nur die ethnische Pluralität (zunächst meist Dualität) die Länder Ostmitteleuropas, sondern darüber hinaus erhielten manche zuvor kaum besiedelte Regionen, wie die Ränder Böhmens und Mährens oder Teile Schlesiens und Siebenbürgens, ein ganz deutschsprachiges Gepräge. 11 Abgesehen von einer gewissen Zuwanderung von Adeligen und Mönchen schon im 10./11. Jahrhundert im Gefolge einer ersten Stufe kultureller Angleichung durch die Integration der Zentralländer Ostmitteleuropas in die lateinische Christenheit um die Jahrtausendwende. 12 Als historische Grundlage des östlichen Mitteleuropa sieht LE RIDER, Mitteleuropa, 1994, 26 die mittelalterliche Ostsiedlung. – Zu Landesausbau und Siedlungsbewegung des 12. bis 14. Jahrhunderts CONZE, Ostmitteleuropa, 1992, 58–104; KUHN, Vergleichende Untersuchungen, 1973; Die deutsche Ostsiedlung des Mittelalters, 1975; dieser Konferenzband signalisierte eine Wende von der Sicht der „deutschen Ostkolonisation“ zur vergleichenden Wahrnehmung eines europäischen Landesausbaus. Der heute vorherrschende Begriff „Landesausbau“ betont die Initiative der einheimischen Fürsten und Adeligen bei der Besiedlung. – SEIBT, Die deutsche Siedlung, 1983; HIGOUNET, Die deutsche Ostsiedlung, 1990; PISKORSKI, Die mittelalterliche Ostsiedlung, 1997; DERS., The Historiography, 1999. – Die aktuelle Sichtweise vermittelt LÜBKE, Das östliche Europa, 2004, 333–364; zur ethnischen Vielfalt in Landesausbau und Besiedlung ebd. 365–376; HARDT, Von der Subsistenzwirtschaft zur marktorientierten Produktion, 2008. – Sehr gute Zusammenfassung der Gesamtentwicklung des Landesausbaus in Ostmitteleuropa bei GÜNDISCH, Deutsche, 1999, 456–459. 13 Zum Begriff LÜBKE, Das östliche Europa, 2004, 360 f. 14 LE RIDER, Mitteleuropa, 1994, 26; SZÜCS, Die drei historischen Regionen Europas, 1990, 47– 49; DRALLE, Die Deutschen, 1991, 43–102. 11 So kamen schon seit dem 12. Jahrhundert bäuerliche Siedler aus Österreich in die wenig erschlossenen Regionen Südböhmens und Südmährens, oder aus der Oberpfalz und dem Egerland nach Nordwestböhmen. Im 13. Jahrhundert wurden Nordostböhmen und Nordmähren von der Mark Meißen und der Oberlausitz aus besiedelt, der Böhmerwald aus Bayern und der Oberpfalz und das Egertal aus Franken und Sachsen. Sprachinseln entstanden in und um die Bergbaustädte Iglau und Kuttenberg, um Olmütz und Ungarisch Hradisch (Südostmähren). Die Neuanlage und der Ausbau von Städten und deren Umorganisation zu neuem Recht (ius teutonicum) förderte in Böhmen insbesondere König Přemysl Ottokar II. durch Werbung und Privilegierung von Siedlern aus der deutschen Nachbarschaft.15 Die deutsche Kaufmannsiedlung in Prag war bereits im 12. Jahrhundert von Herzog Soběslav mit eigenen Freiheiten ausgestattet worden und wurde nach weiterem deutschem Zuzug maßgeblich für die Stadtwerdung Prags.16 In Polen wurde die ländliche Besiedlung durch deutsche Zuwanderer vor allem im Westen organisiert, in Schlesien und Großpolen. Im Übrigen waren hier Fremde – Deutsche, Flamen, Italiener – insbesondere an der Neuanlage und organisation von Städten beteiligt.17 In das Reich der Stephanskrone war Siebenbürgen bereits in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts einbezogen. Hier in den südöstlichen Grenzgebieten wurden dann seit dem 12. Jahrhundert zur militärischen Sicherung „hospites“ (Gastsiedler) angesiedelt18 – so vor allem, neben den Széklern („schwarze Ungarn“), Deutsche, die sogenannten Sachsen, die 1224 von König Andreas in einer Goldenen Bulle bedeutende Selbstverwaltungsprivilegien erhielten. Weitere deutsche Siedler folgten nach dem Abzug der Mongolen im 13. Jahrhundert, so dass die entstehenden handels- und gewerbestarken Städte, die sich in einem Bund zusammenschlossen, im Wesentlichen deutsch geprägt waren. Mit den Széklern, dem ungarischen Adel und den Gebieten und Städten der Sachsen entstand in Siebenbürgen so eine spezifische ethnische Gemengelage, die überdies topographisch ganz unübersichtlich verschränkt war.19 Eine politische Überlagerung und Überlappung ergab sich außerdem aus der Notwendigkeit des Zusammenhandelns der im 15. Jahrhundert gebildeten „Universitas“ der drei genannten „Nationen“20, etwa zur Türkenabwehr oder in den 15 HOENSCH, Geschichte Böhmens, 1992, 98–102; SEIBT, Die deutsche Ostsiedlung, 1983; SCHLESINGER, Die böhmischen Länder, 1963. 16 LÜBKE, Das östliche Europa, 2004, 366; LEDVINKA/PEŠEK, Praha, 2000, 80–82. 17 BOGUCKA, Das alte Polen, 1983, 47; HOENSCH, Geschichte Polens, 1990, 42–45; LÜBKE, Das östliche Europa, 2004, 362–364. 18 ZSOLDOS, Le Royaume de Hongrie, 2003, 68 f.; zu Siebenbürgen LÜBKE, Das östliche Europa, 2004, 375. 19 Zur Entwicklung Siebenbürgens ROTH, Siebenbürgen, 1999; DERS., Kleine Geschichte, 1999; GÜNDISCH, Siebenbürgen, 1998; BAUMGÄRTNER, Welt im Aufbruch, 2008. – Zu den Städten GÜNDISCH, Das Patriziat, 1993; ROTH, Hermannstadt, 2006. 20 ZACH, Nation und Konfession, 2004, 21 und 30–33. – Zur politischen Situation in der Frühneuzeit DIES., Fürst, Landtag und Stände, 2004, 49–69. 12 Konfessionskonflikten. Neben diesen privilegierten Gemeinschaften gehörten zum ethnischen Ensemble Siebenbürgens auch die (orthodoxen) rumänischen (walachischen) Hirten und Bauern, die jedoch politisch nicht repräsentiert waren und erst um 1700 durch eine Union mit Rom teilweise zu gesellschaftlicher Anerkennung und sozialem Aufstieg gelangten.21 In der Epoche des mittelalterlichen Landesausbaus war den ungarischen Königen insbesondere am Ausbau und an der Förderung des Städtewesens gelegen. So entwickelten auch in Oberungarn und der Zips, der heutigen Slowakei, deutsche „hospites“ – zur Grenzsicherung im Nordosten des Reiches angesiedelt – seit dem 12. Jahrhundert ein dichtes Städtenetz und den Bergbau. Obwohl seit dem 15. Jahrhundert auch Slowaken in diesen, ähnlich wie in Siebenbürgen, mit weitreichenden Selbstverwaltungsprivilegien ausgestatteten Städten Aufnahme fanden, blieb das Stadtbürgertum doch deutsch geprägt, die Landbevölkerung weitgehend slowakisch, in der Zips auch deutsch – neben dem ungarischen Adel, dem sich der slowakische assimiliert hatte.22 Damit ergab sich in Oberungarn eine mit Siebenbürgen vergleichbare Überlagerung der ethnischen und gesellschaftlichen Gruppierung. Dies vor dem 19.Jh. als nationalen Gegensatz begreifen zu wollen, wäre jedoch verfehlt; Sprache diente hier wie sonst in Ostmitteleuropa als Ausdruck ständischer Unterschiede; oder anders: Die Sprache trennte gesellschaftliche Gruppen, hier den ungarischen Adel vom deutschen Bürgertum und den slowakischen Bauern.23 Im Hinblick auf die ethnisch-sozialen Überschichtungen und Probleme in der weiteren Geschichte Ostmitteleuropas vor allem auch im 19./20. Jahrhundert ist aber schließlich vor allem auf die gesellschaftliche Bedeutung der neuen Siedler in der Epoche des Landesausbaus hinzuweisen. Die Zugewanderten wurden nämlich infolge ihres technisch-organisatorischen Erfahrungswissens und ihrer besonderen Freiheiten nicht nur in dörflichen Bereichen, sondern auch in den neugegründeten oder zu neuem Recht umorganisierten Städten, in denen sie meist den Handel oder den Bergbau beherrschten, vielfach zur gesellschaftlichen Oberschicht – wie etwa in Prag, Brünn, Olmütz, Lemberg, Posen, Krakau, Buda und anderen ungarischen königlichen Freistädten, in den Städten Oberungarns und Siebenbürgens oder in und um die mährische Bergbaustadt Iglau.24 Diese ethnisch-soziale Grenze führte in den Städten bereits im Spätmittelalter teilweise zu gesellschaftlichen Spannungen und verschob sich schon damals, aber auch im 16. Jahrhundert allmählich nach oben, indem die slawische Bevölkerung aus sozialem Aufstieg auch zu politischer Partizipation gelangte.25 Der ethnische 21 GYÁRFAS, Die Union, 2007, 137–156; BITAY, Die Rumänen, 2007. PUTTKAMER, Slowakei/Oberungarn, 1999, 379 f. 23 HELMEDACH, Slowenien, 1999, 389. 24 Zur ethnischen Vielfalt in Polen-Litauen um 1500, zumal auch in den Städten, und ihrer Veränderung grundlegend: SAMSONOWICZ, La diversité ethnique, 1995. – In Krakau durften im 13. Jahrhundert keine Polen als Bürger aufgenommen werden, um die ländliche Siedlung nicht zu schwächen: LÜBKE, Das östliche Europa, 2004, 362–364. 25 Zu den Konflikten SAMSONOWICZ, La diversité ethnique, 1995, 10 und 13; LÜBKE, Das östliche Europa, 2004, 370–374. – Ein deutliches Beispiel für den sozialen Aufstieg der 22 13 Dualismus wirkte sich aber nicht immer nur in akuten Konflikten aus, wie im hussitischen revolutionären Prag 1419/20, sondern auch in Assimilationsprozessen wie etwa in der Polonisierung der Deutschen in Krakau und anderen Städten im 15./16. Jahrhundert.26 Im Allgemeinen aber blieb die ethnische Pluralität in Ostmitteleuropa grundsätzlich prägend bis ins 20. Jahrhundert. Sie wurde in der Frühneuzeit nicht als nationaler Gegensatz, sondern eher als sozialer, gelegentlich auch als konfessioneller Unterschied empfunden. Erst seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter den modernen Vorzeichen nationaler Loyalitäts- und Identitätsforderungen steigerte sich ethnische Pluralität oder Dualität zum dauerhaften Konfliktverhältnis.27 Ethnische Vielfalt war jedoch nicht nur ein Ergebnis der Siedlerwerbung im Landesausbau, sondern auch der mittelalterlichen Expansion der ostmitteleuropäischen Königreiche, so vor allem Ungarns und Polens, aber auch der österreichischen Länder. Diese Expansion war allerdings immer auch mit Landesausbau und so mit Zuzug fremder Siedler verbunden. In das Reich der Stephanskrone wurden – nach Siebenbürgen in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts – bereits im 12. Jahrhundert Slawonien, Kroatien und Dalmatien einbezogen (bis 1918), womit das slawische Ethnicum des Reiches neben den Slowaken Oberungarns bedeutend verstärkt wurde.28 Auch im heutigen Slowenien und in Istrien waren es Expansionsprozesse, die seit der slawischen Einwanderung um 600 in mehreren Stufen die Region ethnisch pluralisierten. Zunächst wurde dieses Gebiet Ende des 8. Jahrhunderts in das Frankenreich eingegliedert, das seine Südostgrenze durch von außen eingesetzte Grafen kontrollieren ließ und unter den Ottonen durch Marken sicherte (Mark Krain, Windische Mark). Gefördert durch die Sicherheit unter der Herrschaft des ostfränkischen Reiches siedelten sich in Istrien in der Folge weitere Slawen aus den fränkisch-bayrisch beherrschten Nachbarregionen an. Die Mark Krain und die Windische Mark kamen im 13. Jahrhundert an die Grafen von Görz, im 14. Jahrhundert dann zusammen mit Kärnten auf Dauer an die Habsburger, die ihre Herrschaft bis an die Adria erweiterten (Grafschaft Duino) und allmählich, 1518 auch endgültig, Görz einbezogen. Auch Triest hatte sich gegen das ausgreifende slawischen Stadtbevölkerung in Konkurrenz zur deutschen Führungsschicht bildet Prag im 14. bis Anfang des 15. Jahrhunderts: MEZNÍK, Praha, 1990, 49–174. – Zu den Begegnungen von Slawen und Deutschen durch den Landesausbau, zu dessen Wirkungen sowie zu den Fragen der ethnischen Integration und Segregation bietet WÜNSCH, Deutsche und Slawen, 2008, 54–64, 91– 101, 115–117 und 124–128 einen sehr guten aktuellen und interpretierenden Forschungsüberblick. 26 SAMSONOWICZ, La diversité ethnique, 1995, 14. f.; DERS., Gesellschaftliche Pluralität, 2000; BELZYT, Krakau und Prag, 2003, 59–80 und 106–118. 27 HROCH, Das Europa der Nationen, 2005; ZERNACK, Problem der nationalen Identität, 1994; DRALLE, Die Deutschen, 1991, 177–219; Loyalitäten, 2004, hier insbesondere die Beiträge von Martin SCHULZE WESSEL, 1–22 über „Loyalität“ als geschichtlichen Grundbegriff, von Peter HASLINGER, 45–60, über Loyalität in Grenzregionen am Beispiel der Südslowakei sowie von Sabine BAMBERGER-STEMMANN, 69–86, über nationale Minderheiten und ihr Loyalitätsproblem; Juden zwischen Deutschen und Tschechen, 2006; KŘEN, Konfliktgemeinschaft, 1996. 28 ZSOLDOS, Le Royaume de Hongrie, 2003, 46 f. (Karpatenbecken), 61–68 (Kroatien). 14 Venedig schon 1382 Habsburg unterstellt. Um 1500 gehörte der ganze slowenische Siedlungsbereich – mit Ausnahme der Gebiete Venedigs – zum Habsburgerreich. – Bis Ende des 12. Jahrhunderts war die Mark Krain als slowenisches Bauernland nur in der Herrschaftsschicht des (teilweise assimilierten) Adels und der hohen Geistlichkeit (große bischöfliche Herrschaften von Freising und Brixen) deutschsprachig. Seit der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts jedoch entstanden im Zuge des damaligen Landesausbaus auch neugegründete Städte mit deutschem Bürgertum, wie etwa in der Hauptstadt Laibach. Ländliche deutsche Besiedlung entwickelte sich im 14. Jahrhundert als zusammenhängende Region nur in der Gottschee. Im frühmittelalterlich slawischen Kärnten verschob sich durch den – auch bäuerlichen – Landesausbau die deutsch-slowenische Sprachgrenze weit nach Süden; jenseits dieser Grenze sprachen nur der Adel und das im Landesausbau entstandene Stadtbürgertum deutsch.29 Diese Sprachgrenze blieb bis ins 19. Jahrhundert bestehen und wurde durch deutschen Neuzuzug im Laufe der Industrialisierung noch verstärkt. – In Istrien lagen die Städte und ihre Selbstverwaltung seit dem Frühmittelalter, gesteigert noch durch die Expansion Venedigs im Westen und Süden Istriens, in der Hand der romanischen (italienischen) Bevölkerung, während die Dorfgemeinden ähnlich wie in Krain von Slawen geprägt waren. Diese ethnischsoziale Trennung zwischen Stadt und Land begründete im 19./20. Jahrhundert spezifische nationale Konflikte.30 Die Region des heutigen westlichen Slowenien und Triests ist somit infolge langfristiger historischer Prozesse durch eine komplexe ethnische und ethnisch-soziale Gemengelage charakterisiert. Überdies war sie in habsburgischer Zeit auch in der Länder- und Verwaltungsgliederung zerteilt; und seit Kaiser Karl VI. Triest zum Freihafen erhoben hatte, um das Habsburgerreich an den Seehandel anzuschließen, und hier sich die „Orientalische Kompanie“ niedergelassen hatte, erhielt diese Stadt ein noch stärkeres, ökonomisch-kommerziell bedingtes, multiethnisches Gepräge etwa durch Griechen und andere Levantiner. Nach der deutschen Siedlungsmigration im Zuge des Landesausbaus der polnischen Herzogtümer im 13. Jahrhundert entfaltete eine spätere Welle polnischer Ostsiedlung im 14.–16. Jahrhundert ihre besondere, langfristige Wirkung für die ethnische Pluralisierung und Durchmischung. Auch sie ging von Expansion aus, nachdem Kasimir d. Gr. zwischen 1340 und 1366 Rotreußen (Ruthenien) erobert hatte, das „regnum Galiciae et Lodomeriae“ (Land HaliczWolhynien/Vladimir). Mit den Ruthenen und dem westlichen Rest des ehemaligen Kiever Reiches wurde eine ostslawische orthodoxe Bevölkerung in das Königreich Polen inkorporiert. Damit sowie mit der bald folgenden polnischlitauischen Union wurde die spätere jagiellonische Konzeption eines ethnisch und konfessionell gemischten Reiches grundgelegt, die mit der piastischen, nach Westen gerichteten Politik eines national und konfessionell einheitlichen Staates 29 30 HELMEDACH, Slowenien, 1999, 388 f. FERLUGA, Istrien, 1991, 703. 15 brach, aber auf Integration des multiethnischen Mosaiks unter einem starken Königtum zielte.31 Schon im 13. Jahrhundert war überdies Bevölkerung aus dem Westen angesiedelt und das Städtenetz ausgebaut worden.32 Im 14. Jahrhundert initiierten die polnischen Könige nun einen neuen Landesausbau durch eine polnische Ostsiedlung, die bis ins 16. Jahrhundert anhielt.33 Es kamen Polen aus Kleinpolen, Deutsche aus Schlesien, dazu Italiener (Genuesen), Armenier und Juden, und mit dem Magdeburger Recht wurden Städte neuen Typs gegründet (Lemberg 1352)34, überdies katholische Klöster, und am Sitz des orthodoxen Metropoliten Halicz auch ein katholisches Erzbistum (1414 nach Lemberg verlegt). So entstand eine ethnisch und konfessionell sehr starke Gemengelage und Vernetzung. Der ruthenische orthodoxe Adel, dem polnischen katholischen seit 1430 rechtlich gleichgestellt, vollzog seit dem 15. Jahrhundert eine rasche Akkulturation durch vor allem gesellschaftlich motivierte und von der seit Ende des 14. Jahrhunderts organisierten Mission unterstützte Übertritte zur katholischen Kirche sowie durch eine sprachlich-kulturelle Polonisierung.35 Ruthenisch und orthodox blieben die Bauern und wenige Städter. Zumal die Städte waren um 1500 äußerst multiethnisch geprägt: Deutsche und Italiener stellten die Führungsschicht, und außer Ruthenen und Polen lebten hier in privilegierten Rechtsbereichen vor allem die im Handel engagierten Armenier und Juden. Zwischen den Privilegierten und den Ruthenen entstanden schon damals sozialethnische Konflikte.36 Die Verschränkungen ethnisch-sprachlicher, sozialer und konfessioneller Gruppierungen und Prägungen wurden dann jedoch erst im 20. Jahrhundert zum Anlass von dauerhafteren und vor allem wechselnden Konflikten, nicht zuletzt infolge der polnischen Assimilationspolitik der Zwischenkriegszeit.37 Eine weitere ethnische Pluralisierung durch Ostexpansion erfuhr das polnische Reich in der erwähnten Union mit Litauen (1385) nach der Taufe von dessen Fürsten Władysław Jagiełło. Durch Aufnahme in die Wappenverbände polnischer Adelsgeschlechter, durch Zugang zu den Staatsämtern und Gleichstellung des Adels – auch des orthodoxen ruthenischen – mit dem polnischen, mit dem er freilich erst seit 1563 wirklich gleichberechtigt war,38 31 HOENSCH, Geschichte Polens, 1990, 55 und 57 f.; BOGUCKA, Das alte Polen, 1983, 89.; BÖMELBURG, Das polnische Geschichtsdenken, 2002; zu der an einem multiethnischen und multikonfessionellen Reichsdenken ausgerichteten modernen „Jagiellonenidee“ DERS., Zwischen imperialer Geschichte und Ostmitteleuropa, 2007. 32 WÜNSCH, Galizien, 1999, 165. 33 WÜNSCH, Ostsiedlung, 1999; LÜBKE, „Germania Slavica“, 2007; JANECZEK, Ethnische Gruppenbildungen, 2003, hier auch zum königlichen Preußen und allgemein zur ethnischen Pluralisierung Polens. 34 In Lemberg lebten aber bereits in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts neben Ruthenen auch Polen, Deutsche und Juden: LÜBKE, Das östliche Europa, 2004, 367 f. 35 LÜBKE, „Germania Slavica“, 2007, 188. 36 SAMSONOWICZ, La diversité ethnique, 1995, 7, 9 f. und 13. 37 BARDACH, De la nation politique à la nation ethnique, 1995, 26–28. 38 Die Gleichberechtigung mit der polnischen Szlachta galt aber in der Realität nur für Konvertiten: LÜBKE, „Germania Slavica“, 2007, 187 f. 16 assimilierte sich der litauische Adel bis ins 16. Jahrhundert allmählich an die polnische Sprache und Kultur.39 Und die Union wurde 1569 sogar staatsrechtlich intensiviert. Aber im 19. Jahrhundert „erwachten“ die ethnischen Litauer und erstrebten schließlich im 20. Jahrhundert eine eigene Nation – in Ablehnung der Konzeption eines plurinationalen Staates der Litauer, Polen und Weißrussen.40 Eine vor allem ökonomisch und kommerziell gewichtige Expansion gelang Polen schließlich 1454, als sich das westliche Deutschordensland mit seinen bedeutenden Städten der Krone Polen als „Königliches Preußen“ inkorporierte. Neben adeligen und bäuerlichen Polen auf dem Land sowie bürgerlichen am Rand der Städte waren diese politisch und gesellschaftlich ganz deutsch geprägt.41 Konflikte entstanden hier wie in Großpolen („Provinz Posen“) – im preußischen Teilungsgebiet Polens – erst mit der aggressiven Assimilations- und Besiedlungspolitik Preußens im 19. Jahrhundert und in der Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts.42 Neben den deutschen Neusiedlern bildeten vor allem die Juden seit der Epoche des Landesausbaus einen weiteren Faktor der ethnischen Pluralisierung Ostmitteleuropas.43 Bereits zuvor hatten zwar die Juden in ostmitteleuropäischen Städten wie Prag oder Breslau oder als hospites in Ungarn ihre besonderen Siedlungen. Aber erst der Landesausbau nach den Mongoleneinfällen motivierte auch die gezielte Anwerbung von Juden für die neuen oder erweiterten Städte. So suchten vor allem die österreichischen, ungarischen, böhmischen und polnischen Herrscher sie seit dem 13. Jahrhundert mit dem Angebot größerer Freiheit und Absicherung anzulocken. Und sie fanden dort, dauerhaft vor allem in Polen, seit der Diskriminierung in Frankreich und den Verfolgungen und Vertreibungen in deutschen Reichsstädten und Territorien seit dem 14. Jahrhundert bessere Lebensmöglichkeiten. Die Könige Přemysl Ottokar II. von Böhmen (1254), Béla IV. von Ungarn (1291), Boleslav der Fromme (1264) und insbesondere Kasimir der Große von Polen (1334, 1367 für Rotreußen, 1388 für Litauen) erteilten den Juden Schutz- und Selbstverwaltungsprivilegien; in Polen erhielten sie auch Handelsfreiheit sowie eine eigene Stadt (Kazimierz) an der Königsresidenz Krakau. In Polen-Litauen konnten sich die Juden am kontinuierlichsten entfalten. Zumal auch in die neu erschlossenen Länder Litauen und Rotreußen zogen zahlreiche Juden aus deutschen Regionen und beherrschten dort nun im 15. Jahrhundert in den städtischen Zentren den Handel nach Polen. Der Zuzug vermehrte die Judengemeinden in Polen-Litauen in diesem Jahrhundert enorm. Daher sind gerade damals soziale Spannungen, mehrfache Rechtseinschränkungen 39 BARDACH, De la nation politique à la nation ethnique, 1995, 23. Ebd., 23–25. 41 SAMSONOWICZ, La diversité ethnique, 1995, 7–9. 42 GÜNDISCH, Deutsche, 1999, 460 f. 43 SAMSONOWICZ, La diversité ethnique, 1995, 10 f.; PETERSEN, Judengemeinde, 2003; LÜBKE, Das östliche Europa, 2004, 368 f.; PUTTKAMER, Slowakei, 1999, 380; BOECKH/ GLASS/ TUCHTENHAGEN, Juden, 1999. 40 17 und partielle Vertreibungen zu beobachten. Anfang des 16. Jahrhunderts erfuhren die polnischen und litauischen Judengemeinden jedoch erneuten Zuzug durch sephardische Juden, die 1492 aus Spanien vertrieben worden waren. Im 16. Jahrhundert kulminierte auch die Entwicklung der jüdischen Selbstverwaltung im Kahal, einem obersten, für das ganze Krongebiet zuständigen Judenrat als Interessenvertretung gegenüber den Obrigkeiten und als innerjüdische Regelungsinstanz in religiösen, sozialen und wirtschaftlichen Fragen. Die aus den deutschen Ländern Zugewanderten assimilierten sich sprachlich nicht an das Polnische, sondern entwickelten als Umgangssprache das Jiddische. Sie lebten in Polen-Litauen nicht nur in den Städten, sondern auch auf dem Land als Handwerker, Gasthaus- und Mühlenpächter und Verwalter von Adelsgütern. Konflikte mit den Bauern blieben dabei nicht aus. Einen erheblichen Einbruch erfuhr die Rechtssicherheit und Prosperität der Juden Mitte des 17. Jahrhunderts durch schwere Pogrome im Zusammenhang mit den Kosakenaufständen. Erst danach und als Reaktion darauf entstand das neue „Ostjudentum“ mit seiner religiösen Hinwendung zu Kabbala, Messianismus und Chassidismus und der Ausbildung des „Schtetl“ als Kleinhandelszentrum mit Hausierern und Schankwirtschaften. In Böhmen, wo Karl IV. die Juden noch besonders gefördert hatte, ihre Position aber danach bis Anfang des 16. Jahrhunderts durch gelegentliche Pogrome und Vertreibungen aus den Städten immer wieder gefährdet war, blieb die Stellung Prags als Zentrum der böhmischen Juden dennoch ganz herausragend. Um 1600 lebten hier noch etwa die Hälfte aller böhmischen Juden. Aber auch in böhmischen und mährischen Kleinstädten und Dörfern hatten sich – wohl durch die genannten Vertreibungen – Judengemeinden gebildet, die hier unter der Protektion des Adels vor allem vom Kleinhandel mit Textilien lebten. Durch Flüchtlinge aus Polen und aus Wien erhielten die böhmischen und mährischen Judengemeinden im 17. Jahrhundert noch Verstärkung. Bis zum Toleranzpatent Kaiser Josephs II. (1781/82) mussten sie unter Karl VI. und Maria Theresia allerdings zunehmende rechtliche und wirtschaftliche Einschränkungen hinnehmen. In Ungarn bildeten sich im Mittelalter Judengemeinden wie anderswo ebenfalls in den Städten, wo sie auch gelegentlich unter Vertreibungen zu leiden hatten. Aber das Wachstum der jüdischen Bevölkerung ist hier vor allem im 16. Jahrhundert zu beobachten. Am sichersten war ihr Status in Siebenbürgen und im osmanischen Ungarn, wo die neu zugewanderten Sepharden in Buda eine bedeutende Gemeinde bildeten. Außerdem bestand in Preßburg eine große jüdische Gemeinde. Weitere Einwanderungen erfolgten im 17./18. Jahrhundert aus Mähren und Polen, seit den Teilungen Polens dann insbesondere aus Galizien, zumal auch in die überwiegend deutschen Städte Oberungarns. Als bereits im Mittelalter relevante ethnische Gruppe sind schließlich noch die Armenier zu erwähnen. Sie bildeten als reiche Kaufleute vor allem für den Orienthandel autonome Gemeinden sowohl in den Städten des ruthenischen Landes Halicz (Galizien) – hervorzuheben ist hier Lemberg – als auch seit dem 17. Jahrhundert in Siebenbürgen. Die städtischen Obrigkeiten waren ihnen in 18 Polen zwar nicht gerade wohlgesonnen. Dennoch wurden ihre Gemeinden zahlreicher und dehnten sich bis nach Kleinpolen aus.44 Die Grundlegung der ethnischen Pluralität Ostmitteleuropas ist ganz deutlich aus den Interessen des mittelalterlichen Landesausbaus zu erklären. Für die Nachhaltigkeit und Prägekraft dieser Pluralität als ostmitteleuropäische Struktur der longue durée45 bis in die Konflikte des 20. Jahrhunderts hinein, damit ebenso für den Emanzipationsdruck gegen herrschende Ethnien seit dem 19. Jahrhundert, aber auch für die Erinnerungskultur der ostmitteleuropäischen Nationen sind jedoch zwei weitere Momente von entscheidender Bedeutung: Erstens folgten dem Landesausbau des Mittelalters weitere Migrationswellen in der Frühneuzeit. Sie steigerten und verstetigten die Multiethnizität oder eine bereits vorhandene ethnische Gruppe, so etwa die Deutschen in Ungarn oder Böhmen,46 aber auch die Juden, auf deren Zuwanderungen in der Frühneuzeit bereits hingewiesen wurde. Zweitens verstärkten die Expansionen und Grenzverschiebungen der Imperien ganz wesentlich die ethnische Durchmischung, nicht zuletzt auch als Auslöser für die genannten neuen Migrationswellen. Insbesondere das Habsburgerreich spielte hierbei schon frühzeitig für viele Regionen eine ganz herausragende Rolle. Auf das Osmanische Reich, das für die ethnische Pluralität eine besondere Behandlung verdienen würde, soll hier aber nicht eingegangen werden, da die in diesem Band behandelten Regionen nicht unter seine Herrschaft fielen. Die Rolle der Imperien (ein spezielles Strukturproblem Ostmitteleuropas), die – neben der Belastung für die Identitätsbildung und -kontinuität ihrer Teilländer oder deren kolonialer Provinzialisierung – den Rahmen und die Bedingungen ausformten für eine Verstärkung, Verlagerung und Überschichtung der ethnischen Pluralität, soll hier zunächst skizziert werden.47 Durch die imperiale Expansion wurden die zusammengesetzten Monarchien komplexer, und ethnische Pluralität und Interferenzen wurden gesteigert. Neben und noch vor der Begünstigung von ethnokulturellen Überlagerungen durch weitere Migrationen wirkte nämlich bereits die schiere Ausbildung und Expansion von Imperien für die Überwindung alter sprachlicher und kultureller Grenzen und damit für Kulturkontakte und gegenseitige Beeinflussung, zumal auch in 44 SAMSONOWICZ, La diversité ethnique, 1995, 12 ; ROTH, Armenier, 1999 ; LESNIAK, Armenier, 2004. 45 Im französischen geschichtswissenschaftlichen Strukturalismus gehören zur Grundstruktur der „langen Dauer“ nur sehr langfristige, die Geschichte bestimmende Faktoren wie Landschaft und Klima. Daher ist darauf hinzuweisen, daß auch die ostmitteleuropäische Multiethnizität – obwohl sich verändernd wie Landschaft und Klima – eine solche langfristige Struktur ausgebildet hat, die darin zumindest mit der des Klimas und seinen Wechseln vergleichbar ist. 46 GÜNDISCH, Deutsche, 1999, 459 f. 47 Vergangene Größe und Ohnmacht in Ostmitteleuropa, 2007, zeigt die historiographische Entwicklung in der Bewertung imperialer Erfahrungen; so etwa zur kulturellen Pluralität in der neuen Habsburg-Forschung (236–238), aber auch zur Wahrnehmung von Beherrschung und Unterdrückung (238, 263); neuerdings findet sich aber etwa in der slowakischen Historiographie auch eine positive Wertung der kulturellen Pluralität des Habsburgerreiches (271–273). 19 Grenzgebieten (etwa zwischen Ungarn und Österreich oder zwischen Oberungarn und Ruthenien/Ukraine). In den letzten Jahren wurden Forschungen zu Grenzregionen verstärkt48 und dabei Einflüsse, Anpassungsprozesse und Überlagerungen bis hinab in den Dialektbereich festgestellt (etwa zwischen dem südmährischen und süd- bis westböhmischen Tschechisch einerseits, dem Österreichischen und Bayerischen andererseits49). Für kulturelle Interferenzen sind Grenzräume eines der ertragreichsten Untersuchungsfelder. Der Fall, bei dem frühneuzeitliche Imperienbildungen durch neue Grenzen alte Kontaktlinien kappten (wie die preußische Eroberung Schlesiens), war dagegen eher selten. Dies war den Nationalstaatsbildungen und den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts, aber auch dem Sowjetimperium vorbehalten, als Grenzen aus Grenzräumen zu Trennlinien wurden.50 Weil es daher heute reizvoll ist, die einstigen ethnischkulturellen Überlagerungen und Verschränkungen gleichsam archäologisch auszugraben, kann die Langfristigkeit der allmählichen Formierung dieser Verschränkungen, wie sie immer noch im Gedächtnis der ostmitteleuropäischen Länder und Nationen präsent ist, nicht genug betont werden. Die ethnischkulturellen Überlagerungen dürfen freilich nicht romantisiert werden, sondern ihr Konfliktpotential ist stets mitzuberücksichtigen. Abgesehen von der Überlagerung alter Grenzen ist bei der Rolle der Imperien für die ethnische Pluralisierung zu bedenken, dass die imperiale Zusammenfassung ganz unterschiedlicher historischer Länder vor allem auch der horizontalen und vertikalen Mobilität neue Möglichkeiten und Impulse bot. Dabei ist zunächst auf die Mobilität von Standeseliten hinzuweisen, die von außen kamen. Trotz ihrer quantitativen Begrenzung stellten sie keineswegs eine quantité négligeable dar, sondern gehörten zur Führungsschicht und bestimmten so die ethnische und sprachlich-kulturelle Orientierung entscheidend mit. Dies war bereits bei der Expansion Polens nach Rotreußen oder bei der Union Polens mit Litauen zu beobachten gewesen. Das gilt ebenso etwa für den neuen Adel in den böhmischen Ländern, der nach 1620 auf Grund der Konfiskationen im Zuge der Rekatholisierung aus Österreich, dem Reich, Italien, Spanien und den Niederlanden nach Böhmen und Mähren kam, hier ansässig wurde und zu umfangreichem Güterbesitz gelangte. Noch erheblich gesteigert wurde dieser Zuzug fremder Adelsfamilien nach den gegen Wallenstein und seine Anhänger 1634 verhängten Strafkonfiskationen, die zu einer zweiten Welle der Umverteilung von Grund und Boden führten. Auch Heiratsverbindungen mit ausländischem Hochadel trugen zur Europäisierung der böhmischen und mährischen Adelsfamilien bei.51 Neben den Adel traten als multiethnische Standeselite in den meisten Ländern, zumal in den habsburgischen, die hohe 48 HLAVÁČEK, Der böhmisch-sächsische Grenzraum, 2007; Grenze im Kopf, 1999 (mit Lit.); Grenzen in Ostmitteleuropa, 2000; FOHLOVÁ, Das „Grenzgebiet“, 2008. 49 ŠRÁMEK, Zur Stabilität der deutschen Mundarten, 2006; DERS., Spezifika des tschechischdeutschen Sprachkontaktes, 2003; DERS., Zur Wortgeographie, 1998. 50 WÜNSCH, Grenzen, 1999, 15 und 16. 51 RICHTER, Die böhmischen Länder, 1974, 353–361; HOENSCH, Geschichte Böhmens, 1992, 232–233. 20 Geistlichkeit und die zahlreichen Niederlassungen der neuen Orden in der Epoche der Rekatholisierung, die vielfach mit Deutschen, Niederländern, Schotten, Italienern und Spaniern besiedelt wurden. Dazu kamen die für die Imperien und ihre Mobilitätsangebote wichtigen Funktionseliten der Universitätsgelehrten, Kaufleute und Bergbauexperten. Das Heer von Verwaltungsbeamten und Militärs, Geistlichen und Intellektuellen, die vom Zentrum etwa des Habsburgerreiches in die peripheren Länder kamen oder entsandt wurden, war ein weiteres Reservoir der Mobilität, in den böhmischen Ländern schon im 17. Jahrhundert, danach die Lehrer im Zuge der habsburgischen Schulreformen des 18. Jahrhunderts. Ein breiteres Phänomen in der imperialen Länderzusammenfassung bildeten die Migrationen aus ökonomischen Gründen. Eine die vorhandene ethnische Pluralität verstärkende Rolle spielte im werdenden Habsburgerreich schon die neue deutsche Zuwanderung in Nord- und Westböhmen im Zuge des Anfang des 16. Jahrhunderts aufblühenden Silberbergbaus und der sich besonders seit der zweiten Jahrhunderthälfte ausbreitenden Leinen-, Tuch- und Glasproduktion52, die Ende des 17. und Anfang des 18. Jahrhunderts zur Entstehung von Manufakturen und des Verlagswesens führte.53 Diese Gewerbeentwicklung in den Grenzlandschaften Böhmens (Böhmerwald, Erz- und Riesengebirge) löste seit dem 16. Jahrhundert einen neuen Zuzug von Deutschen aus. Ein Zehntel aller vor 1945 bestehenden Siedlungen in Böhmen wurde zwischen 1650 und 1750 gegründet.54 Dies dürfte ganz überwiegend auf die deutsche Zuwanderung in die Gewerbeentwicklungsgebiete zurückzuführen sein. In Nord- und Westböhmen verschob sich so in der Frühneuzeit die deutsche Sprachgrenze allmählich, so dass sie in etwa wieder den Stand aus der Zeit vor den Hussitenkriegen erreichte.55 In Ungarn erhielt – nach der Zurückdrängung der Osmanen – die Anwerbung von Neusiedlern für die „Neoaquistica“, die rückeroberten Gebiete, im 18. Jahrhundert bis in die Zeit Maria Theresias besondere Bedeutung. Zunächst waren es Serben, aber auch Böhmen, dann vor allem Deutsche („Donauschwaben“), die auf Gütern von Magnaten und Bischöfen sowie durch die Monarchie insbesondere in den Gebieten der Militärgrenze Südungarns, im ungarischen Mittelgebirge, in Slawonien und Syrmien, in der Batschka und im Banat angesiedelt wurden.56 Ebenfalls unter Maria Theresia verstärkten die „Transmigrationen“ (Ausweisung von Protestanten aus Innerösterreich) die lutherischen Deutschen in Siebenbürgen. 52 KAŠPAR/ HORÁK, Schlikové, 2009; PITTROFF, Böhmisches Glas, 1987; WOSTRY, Das Deutschtum Böhmens, 1939, 333–344. 53 RICHTER, Die böhmischen Länder, 1974, 332–334. 54 Ebd., 357. 55 SCHLESINGER, Die böhmischen Länder, 1963, 47. 56 GÜNDISCH, Deutsche, 1999, 459 f. – Zum Prozeß der Neubesiedlung demnächst die exemplarische Tiefenanalyse durch Norbert SPANNENBERGER: Migration im Habsburgerreich im 18. Jahrhundert. Deutsche Siedler in den süd-transdanubischen Dominien der Fürstenfamilie Esterházy. Habilitationsschrift Leipzig 2011. 21 Schon im 17. Jahrhundert waren in Siebenbürgen auch Armenier in die Gründung neuer Handelsstädte integriert worden.57 Nach der Annexion Galiziens (Halicz-Wolhynien und Podolien) samt Teschens und Teilen Kleinpolens durch die Habsburgermonarchie ergaben sich für die Politik der „Peuplierung“ neue Möglichkeiten und Notwendigkeiten.58 Mit dem Ziel der Modernisierung wurden zunächst unter Maria Theresia vorzugsweise deutsche katholische Kaufleute, Handwerker und Fabrikanten, aber auch armenische Händler mit gewissen Vergünstigungen und Steuerfreiheiten zur Niederlassung in der neuen Provinz angeworben. Erst durch Joseph II. wurde die Ansiedlungspolitik auch auf Bauern erweitert, um gemäß den physiokratischen Prinzipien in der Landwirtschaft einen Innovationsschub anzustoßen. Entsprechend der Toleranzpolitik des Kaisers konnten sich nun auch Nichtkatholiken frei ansiedeln. Neben deutschen Siedlern wanderten Polen, Ruthenen und Juden aus dem russischen Teilungsgebiet sowie Polen aus dem polnischen Reststaat ein. Andererseits zogen nun arme „Ostjuden“ aus Galizien – infolge der Mobilitätsmöglichkeiten im Imperium – sowohl nach Oberungarn als auch und vor allem nach Wien. Die Besiedlungspolitik wurde auch auf die Bukowina ausgedehnt, zielte hier aber vorwiegend auf Kolonisten aus der Moldau. Obwohl die „Peuplierung“ spätestens Anfang des 19. Jahrhunderts beendet wurde und in absoluten Zahlen nur eine kleine Minderheit erfasst hatte59, veränderte sie doch qualitativ die Bevölkerungsstruktur Galiziens und der Bukowina sowohl in den Städten als auch auf dem Land. Einen spezifischen Akzent erhielt diese Veränderung durch die Einrichtung des Volksschulwesens mit deutscher Unterrichtssprache und die Durchsetzung von Deutsch als interner Amtssprache. Auch das Zarenreich und Preußen initiierten ethnische Veränderungen in ihren Teilgebieten Polens und im Baltikum durch russische Zuwanderung sowie durch die Begünstigung zusätzlicher Ansiedlung von Deutschen in Westpreußen und in Großpolen. Insgesamt zeigt also die Frühneuzeit eine bemerkenswerte Verstärkung der multiethnischen Struktur vieler Regionen Ostmitteleuropas. Gleichzeitig beeinflusste die imperiale Macht aber auch die soziale Hierarchie in den multiethnischen Landschaften. So erhob das habsburgische Imperium unwillkürlich oder gezielt die Deutschen zu Elite und das Deutsche zur Leitkultur. Unter den strukturbildenden Faktoren Ostmitteleuropas ist – neben der ethnischen Pluralität und der Rolle der Imperien – auch die konfessionelle Pluralität für unser Thema von Bedeutung. Sieht man nur auf Polen und die ehemaligen habsburgischen Länder, wo die Rekatholisierung seit dem 17. Jahrhundert nachhaltige Ergebnisse zeitigte, so kann die langdauernde Prägekraft 57 ROTH, Siebenbürgen, 1999, 372. WÜNSCH, Galizien, 1999, 167 f.; MANER, Galizien, 2007, 49–53. 59 Im 19. Jahrhundert (um 1870) wurde die Zahl der Deutschen unter den etwa 3,5 Millionen Einwohnern auf 100.000 geschätzt. Sie lebten in 220 Siedlungen, davon fast die Hälfte in selbständigen deutschen Gemeinden. MANER, Galizien, 2007, 52 u. 146. 58 22 konfessioneller Vielfalt Ostmitteleuropas leicht aus dem Blick geraten. Bedenkt man jedoch die lange Koexistenz der römisch-katholischen, griechischkatholischen (unierten) und orthodoxen Kirchen im Südosten des historischen Polen-Litauen (heute West-Ukraine) sowie dasselbe konfessionelle Zusammenleben einschließlich des Protestantismus im südlichen Ostmitteleuropa (Ungarn, Siebenbürgen, Rumänien, ehemaliges Jugoslawien), so kann deutlich werden, dass hier nicht nur die ethnische, sondern auch die konfessionelle Vielfalt und Verschränkung die Gesamtgeschichte mitbestimmt, ja, die Konfession zum Teil heute noch oder wieder als nationales Identitätsmerkmal fungiert.60 Das Phänomen der konfessionellen Pluralität der historischen polnischen, böhmischen und ungarischen Länder sowie der konfessionellen Dualität in den österreichischen Ländern, die sich gegen katholische Könige durchsetzte, beruht zum einen auf der politischen, frühparlamentarischen Partizipationsstärke des Adels und dessen ökonomischer Selbständigkeit aufgrund von Eigengütern ohne Lehensbindung – zum anderen auf seiner darauf aufbauenden Vorstellung und Durchsetzung individueller adeliger Freiheit. Die freie Konfessionswahl des Adels, die auch von den andersgläubigen Standesgenossen nicht angezweifelt wurde, führte in der Adelsrepublik Polen-Litauen zu vier reformatorischen Konfessionen. Sie wiesen jedoch weniger ethnische als eher regionale Schwerpunkte auf.61 Das Luthertum konsolidierte sich vorwiegend im königlichen Preußen, aber auch beim Adel Großpolens, der auch die Böhmische Brüderunität aufnahm und protegierte. Den Calvinismus wählten insbesondere die Adeligen Litauens sowie Kleinpolens, wo sich auch die vom Calvinismus abgespaltenen Unitarier (Antitrinitarier) etablieren konnten. Ethnische und konfessionelle Gruppierungen überkreuzten sich somit vor allem im Luthertum. Während durch Rekatholisierung und adelig-sarmatische Barockkultur62 der Protestantismus in Polen-Litauen bis ins 18. Jahrhundert bekanntlich fast verschwand, blieb in Rotreußen (Galizien) die orthodoxe Kirche nicht nur erhalten, sondern stärkte die ethnische Identität der Ruthenen und akzentuierte deren Abgrenzung zu den Polen und anderen Ethnien bis ins 20. Jahrhundert, zumal die orthodoxe Kirche – anders als der orthodoxe Adel – auch nach der Union von Lublin nicht mit der katholischen gleichberechtigt wurde.63 Die Hoffnung auf diese Gleichberechtigung zum einen, die Gegenreformation zum anderen führten dann zur Union von Brest (1596) zwischen orthodoxer und katholischer Kirche. Allerdings erfüllte sich die damit verbundene Erwartung eines Integrationsimpulses nicht, sondern es entstand dabei nur eine weitere konfessionelle Gruppierung, da einige orthodoxe Bischöfe ihre Zustimmung verweigerten und viele Ruthenen diese „Latinisierung“ ablehnten. Künftig galt die tolerante Politik der Regierung aber nur noch den Unierten, die nichtunierten 60 ZACH, Der Balkan, 2004, 332 f.; ROTH, Religion und Konfession, 1999, 47; Nationalisierung der Religion, 2006. 61 SCHRAMM, Der polnische Adel, 1965; SCHMIDT, Auf Felsen gesät, 2000. 62 BOGUCKA, Das alte Polen, 1983, 160 und 178–194; DIES., World of the „Sarmatians“, 1996; TAZBIR, Sarmaci, 2001. 63 LÜBKE, „Germania Slavica“, 2007, 188 f. 23 Orthodoxen wurden allenfalls geduldet.64 Die Attraktivität der Union wurde auf diese Weise dennoch nicht gefördert, sondern im Gegenteil dadurch vermindert, dass die erhoffte und versprochene Gleichstellung der unierten (griechischkatholischen) Bischöfe mit den lateinischen ausblieb. Sowohl in der religiösen Praxis der Gläubigen als auch in der Architektur und Ausstattung der Kirchen sind allerdings in der Frühneuzeit manche Synkretismen und Interferenzen zwischen Katholiken einerseits und Unierten oder Orthodoxen andererseits zu beobachten.65 Die Union zeigte im Ergebnis ambivalente Konsequenzen: Einerseits nahm die religiöse Kultur der Ruthenen durch die Vermittlung der Unierten Einflüsse des lateinischen Westens auf, andererseits entwickelte sich die griechisch-katholische Kirche zum Kern eines eigenen ruthenischen Selbstbewusstseins und damit einer allmählichen Nationalisierung, während die nichtunierten Orthodoxen zum Tor für russische Einwirkungen wurden.66 Die Abgrenzung zu den Polen, in deren Händen die Verwaltung der Provinz weitgehend lag, verband die Formierung einer ruthenischen Nationalität jedoch im 19. Jahrhundert auch mit einer besonderen Loyalität gegenüber der österreichischen Monarchie.67 Im Ergebnis ist festzuhalten, dass langfristige ethnisch-konfessionelle Übereinstimmungen, aber auch Interferenzen (ruthenisch-orthodox/ruthenisch-uniert) in Polen-Litauen neben den orthodoxen Regionen des litauischen Reichsteils vor allem in Rotreußen/Galizien zu verfolgen sind. Anders als in Polen folgten in Ungarn die konfessionellen Gruppierungen weitgehend den ethnischen. Während der ungarische Adel mit seinen Gütern überwiegend für den Calvinismus optierte, nahmen die Deutschen in Siebenbürgen und den oberungarischen Städten durch die Verbindung ihrer Geistlichen mit Wittenberg das Luthertum an.68 Mit der Koexistenzordnung der „Vier rezipierten Religionen“ der Katholiken (Großteil der Székler), Calvinisten, Lutheraner und Unitarier („Antitrinitarier“) etablierten sich seit 1571 in Siebenbürgen zwar auf politischer Ebene Konsenszwang und ständische Toleranz. Für die Siebenbürger Sachsen wurde aber – durch den entschiedenen konfessionellen Gegensatz zum Calvinismus – das Luthertum zu einem besonderen Identitäts- und Integrationsfaktor in Abgrenzung zum magyarischen Adel und zu den orthodoxen Walachen – bis hin zur Nationalisierung der Konfession in Verbindung zum Deutschen Reich im 20. Jahrhundert.69 Die rumänischen Orthodoxen in Siebenbürgen, die den Metropoliten der Moldau und der Walachei unterstanden, zählten nicht zu den „rezipierten 64 WÜNSCH, Die religiöse Dimension, 2004, 67. Ebd.; KERYK, Artists, 2010, 147–155. 66 WÜNSCH, Galizien, 1999, 167 f.; TURIJ, Die griechisch-katholische Kirche, 2007; VULPIUS, Feind und Opfer, 2007; zu den Konsequenzen der Union auch TAZBIR, Polen, 2000, 89-93. – Zur jüngsten Entwicklung der griechisch-katholischen Kirche im 20. Jahrhundert: Churches Inbetween, 2008. 67 WÜNSCH, Galizien, 1999, 169. 68 TÓTH, La Réforme, 2003, 260; FATA, Ungarn, 2000, 68–73, 98, 101, 104. 69 ZACH, Nation und Konfession, 2004; FATA, Ungarn, 2000, 97–118. 65 24 Religionen“ und erfuhren im 16. Jahrhundert insbesondere von Seiten der Calvinisten einen deutlichen Konversionsdruck, der jedoch letztlich erfolglos blieb. Die rumänisch-orthodoxe Kirche konnte sich im Gegenteil Anfang des 17. Jahrhunderts wieder stabilisieren, und ihre Priester erhielten größere Freiheiten, wenn auch keine Gleichberechtigung.70 Auch die ostungarischen Komitate umfassten eine orthodoxe Bevölkerung – zum Großteil aus Ruthenen –, die nach dem „langen Türkenkrieg“ infolge Neubesiedlung durch Rumänen und Serben noch verstärkt wurde.71 Die soziale und rechtliche Gleichstellung erreichten hier die orthodoxen Geistlichen, die sich seit 1646 mehrheitlich einer Union mit Rom anschlossen.72 Auch in dem 1691 der Habsburgermonarchie eingegliederten Siebenbürgen fand sich eine orthodoxe Synode zur Union bereit, die zwischen 1697 und 1701 dann auch vollzogen wurde und die den Geistlichen nun die gesellschaftliche Gleichberechtigung brachte, obwohl sie sich letztlich der Oberaufsicht des Erzbischofs von Gran nicht entziehen konnten.73 Neben der so entstandenen griechisch-katholischen Kirche der Ruthenen und der Rumänen blieb in Ungarn wie in Polen freilich die griechisch-orthodoxe Kirche erhalten, so dass durch die Unionen der konfessionelle Pluralismus – nun auch innerhalb der ethnischen Gruppen – sich noch steigerte. Die griechischen Katholiken der Rumänen und Ruthenen spielten auch hier wie in Galizien eine bedeutende Rolle bei der Entstehung ihrer Nationalkulturen, nicht zuletzt wegen des höheren Bildungsstandes des Klerus im Vergleich mit dem orthodoxen. Im Rumänien der Zwischenkriegszeit fand sich allerdings die griechisch-katholische Kirche in einer prekären nationalen Konkurrenz zu der sich als Staatskirche betrachtenden orthodoxen Kirche.74 Anders als in Siebenbürgen übergriff das Luthertum in Oberungarn die ethnischen Grenzen, da es in den Städten des mittleren Oberungarn und der Zips auch von Slowaken angenommen wurde, während umgekehrt deutsche Bauern großenteils katholisch blieben.75 Die slowakischen Protestanten – ähnlich wie die tschechischen und auch in Verbindung mit diesen – wurden dann im 19. Jahrhundert zu wichtigen Akteuren der Nationalbewegung.76 Die konfessionelle Gemeinsamkeit mit den Deutschen Oberungarns blieb also ethnokulturell und national gesehen unerheblich. 70 FATA, Ungarn, 2000, 115–118 und 251–253. Ebd., 228. 72 Ebd., 228–231. 73 Ebd., 280–283; im Einzelnen GYÁRFÁS, Union, 2007. – Zu den Spannungen zwischen den griechisch-katholischen und den ihre Jurisdiktion betonenden römisch-katholischen Bischöfen im 18. Jahrhundert samt ihren nationalen Implikationen BAHLCKE, Ungarischer Episkopat, 2005, 298–308. 74 MANER, Multikonfessionalität, 2007. – Im Übrigen zu den Entwicklungen der Position der griechisch-katholischen Kirchen im Zusammenhang mit den Nationsbildungsprozessen die Beiträge in dem Band: Konfessionelle Identität und Nationsbildung, 2007. 75 PUTTKAMER, Slowakei/ Oberungarn, 1999, 380 f.; FATA, Ungarn, 2000, 68 f., 80 f. 76 HOENSCH, Die Entwicklung der Slowakei, 1995, 118 f. und 123. 71 25 Trotz der Gegenreformation, die der katholischen Kirche in Ungarn wieder einen Bevölkerungsanteil von fast 50% verschaffte, blieb im gesamten historischen Ungarn und in besonderem Maße in Siebenbürgen die multikonfessionelle Struktur – im Unterschied zu Polen und Böhmen-Mähren – bis ins 20. Jahrhundert erhalten, infolge mehrerer sowohl landespatriotisch als auch konfessionell motivierter Adelsaufstände vom Anfang des 17. bis Anfang des 18. Jahrhunderts.77 Die Reformierten (Calvinisten) empfinden sich daher bis heute als besondere Repräsentanten der magyarischen Nation.78 Eine ethnische Stärkung brachte die Reformation in Ansätzen auch für die Slowenen durch Gottesdienst und Predigt in der Volkssprache und durch Bibelübersetzungen, Katechismus und Grammatik und damit die Grundlegung der Schriftsprache. Insbesondere der Reformator der Südslawen Primus Truber wirkte hierfür, indem er zwischen 1550 und 1582 protestantische Katechismen und Übersetzungen des Neuen Testaments in slowenischer Sprache anfertigte, die durchweg im Herzogtum Württemberg gedruckt wurden. Als Superintendent im Herzogtum Krain verfasste er auch eine slowenische Kirchenordnung. Ein entscheidender Einfluss auf die Entwicklung der slowenischen Schriftsprache kommt aber vor allem der ersten Übersetzung der gesamten Bibel zu, die von einem Truber-Schüler angefertigt, von den innerösterreichischen Ständen finanziert und 1584 in Wittenberg gedruckt wurde. Von der Reformation wurden in Kärnten und Krain jedoch vor allem der Adel und das Stadtbürgertum erfasst, die slowenischen Bauern allenfalls am Rande. Die Gegenreformation, die Erzherzog Ferdinand von Innerösterreich um 1600 ganz entschlossen durchzuführen begann, setzte sich bis 1628 in allen innerösterreichischen Ländern durch, am raschesten und erfolgreichsten im Herzogtum Krain.79 Im Ergebnis konnte sich die ethnische Identität und Abgrenzung der Slowenen somit nicht auf die Konfession stützen, obgleich der sprachliche Entwicklungsschub durch die Reformation nicht unterschätzt werden darf. In Böhmen und Mähren hatte sich der konfessionelle Pluralismus infolge der hussitischen Revolution schon seit dem 15. Jahrhundert entwickelt80 und wurde im 16. Jahrhundert noch ausgeweitet durch die Rezeption des Luthertums in den deutschsprachigen Regionen und Städten. 81 Der zuvor bestehende Gegensatz zwischen katholischen Deutschen und mehrheitlich hussitischen Tschechen war damit aufgelöst. Die protestantischen Ständeaufstände von 1547 und vor allem 1618–1620 wurden vom deutschen ebenso wie vom tschechischen böhmischen Adel getragen. Infolge der Niederlage des Aufstands am Weißen Berg 1620 77 TÓTH, L’histoire du XVIIe siècle, 2003. SPANNENBERGER, Ein Phänomen im Grenzraum, 2007, 154; BRANDT, Konfessionelle und nationale Identität, 2002. 79 Katholische Reform, 1994; WINKELBAUER, Ständefreiheit, 2003, II, 43–55; STROHMEYER, Konfessionszugehörigkeit, 2006. 80 EBERHARD, Konfessionsbildung und Stände, 1981. 81 EBERHARD, Die deutsche Reformation, 1992. 78 26 konnte jedoch die Gegenreformation nach innerösterreichischem Vorbild das Land konfessionell vereinheitlichen, obwohl in manchen Grenzregionen zu Schlesien und Ungarn ein gewisser Kryptoprotestantismus bis ins 18. Jahrhundert erhalten blieb. Für die Rekatholisierung und katholische Barockkultur spielte im Übrigen auch der internationale Adel eine bedeutende Rolle, der – wie erwähnt – die konfiszierten Güter der Protestanten und der Wallenstein-Anhänger aufkaufte. Obwohl Böhmen und Mähren auch im 19. Jahrhundert fast ganz katholisch blieben, erreichte die protestantische Vergangenheit durch das historische Gedächtnis der tschechischen Nationalbewegung – eine longue durée eigener Art – eine neue Wirkung. Der Prozess der nationalen Identitätsfindung wurde nämlich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem auch von Protestanten angeführt und von der Geschichtskonstruktion František Palackýs inspiriert. So fand die Nationsbildung in der als nationale Blütezeit gedeuteten Epoche von Hussitismus, Reformation und Ständestaat ihre spezifische ideologische Grundlage der historischen Legitimation.82 Trotz neuer evangelischer Kirchen nach Josefs II. Toleranzpatent und trotz Gründung einer neuen hussitischen Nationalkirche 1919 bedeutete dies jedoch keine wirkliche Renaissance des Protestantismus. In Abgrenzung zur habsburgischen katholischen Staatskirche – insbesondere in der Zeit des Neoabsolutismus des 19. Jahrhunderts – wurden die antiklerikalen nationalen Tschechen eher nichtkatholisch als protestantisch. Die als Nationalkirche gedachte Tschechoslowakische Hussitische Kirche blieb bis heute eine kleine Minderheit, ebenso die Kirchen der Böhmischen Brüder. In unterschiedlicher Weise hat sich die konfessionelle Pluralität, die sich durch imperiale Expansion Polens im 14./15. Jahrhundert und der Habsburgermonarchie im 16.–18. Jahrhundert noch erweitert hatte, in den Ländern Ostmitteleuropas somit als kulturelle Struktur der longue durée ausgewirkt: als Überschichtung der ethnischen Gruppierungen oder als deren zusätzliche kulturelle Akzentuierung bis in die Nationalbewegungen hinein. Die Komplexität der konfessionellen Situation entfaltet teilweise bis heute ihre Wirkungen, insbesondere bei der Koexistenz von Orthodoxie und lateinischem sowie griechischem Katholizismus in der Ukraine und in Rumänien.83 Neben der ethnischen und der konfessionellen Pluralität Ostmitteleuropas insgesamt wie auch seiner einzelnen Länder und Regionen bestimmte ein dritter, vom Westen differenter Strukturfaktor die Entwicklung bis ins 19./20. Jahrhundert: die Relation zwischen Adel und Bürgertum. Im Hoch- und auch noch 82 František Palacký, 1999; Spor o smysl českých dějin, 1997 (eine historiographische Anthologie der am Thema beteiligten Autoren.) – Zur Geschichtskonstruktion gehörte vor allem, dass durch die Niederlage der protestantischen Stände am Weißen Berg 1620 die tschechische Nation in eine Zeit der Finsternis geraten sei, aus der sie erst jetzt durch die nationale Bewusstseinsbildung neu erwache: MAMATEY, The Battle of White Mountain, 1981; PETRÁŇ, Na téma mytu, 1993; HOJDA, Náboženská persekuce, 1998. 83 Konfessionelle Identität und Nationsbildung, 2007; ROTH, Religionen und Konfessionen, 1999, 47–49. 27 im Spätmittelalter hatte sich aus den Gefolgschaften der Herrscher, aus der Konkurrenz um Anhänger bei den häufigen dynastischen Thronrivalitäten, aus den zahlreichen Abwehrkämpfen (etwa gegen das römisch-deutsche Reich, gegen Tataren und Osmanen) mit ihrem Kriegerbedarf und den dadurch motivierten Landschenkungen eine enorme Zunahme adeliger freier Landbesitzer ergeben. Der hohe Anteil des Adels an der Bevölkerung unterschied Ostmitteleuropa signifikant vom Westen.84 Da das differenzierende Lehenssystem fehlte, blieb diese große Masse des Adels zudem relativ amorph; sie war weder nach Lehensabhängigkeiten noch in Ständekorporationen (außer in den Böhmischen Ländern seit dem 15. Jahrhundert) gegliedert, sondern bildete in ihrem Selbstbewusstsein eine Gemeinschaft von prinzipiell Gleichen. Überdies stieg die breite Adelsschicht der kleinen Landbesitzer vom 13. bis 15. Jahrhundert in das adelige corpus politicum auf, das heißt zur politischen Partizipation in Reichsund Landtagen, und beherrschte schließlich die regionalen Ebenen der Komitate bzw. Wojwodschaften oder Kreise. Die Urbanisierung im Zuge des Landesausbaus des 13. Jahrhunderts und die politische ebenso wie die ökonomische Potenz der Städte verloren demgegenüber im Spätmittelalter an durchdringender Kraft. Die durchschnittliche Größe der Städte blieb geringer als im Westen. Anders als die flandrischen und italienischen Städte, Nürnberg, Köln oder Lyon erreichten sie in Gewerbe und Handel nie die Rolle von Exportproduktionsmärkten. Im Übrigen gab es vergleichsweise zu wenige und zu wenig bedeutende autonome Städte, so dass sie von dem die Landund Reichstage beherrschenden Adel aus der politischen Mitbestimmung in der communitas regni wieder verdrängt werden konnten. Die „politische Nation“ blieb somit auf den Adel – inklusive der adeligen hohen Geistlichkeit – begrenzt, neben dem auch keine bürgerliche noblesse de robe aufkam. Dies stellt die Kehrseite der adeligen absolutismusresistenten Libertät dar, die sich seit dem 13. Jahrhundert in der Formierung von Landesgemeinden oder Reichsgemeinschaften (communitas regni oder terrae) als Gegenüber zum Herrscher entwickelt hatte, um 1500 voll ausgebildet war und in ihrer Partizipationsstärke ein spezifisches Strukturmerkmal Ostmitteleuropas bildete, das in seiner langen Dauer am ehesten mit England und Schweden-Finnland zu vergleichen ist. Aus dieser Libertät folgten auch der konfessionelle Pluralismus der ostmitteleuropäischen Reformationen und die ihm entsprechenden konfessionellen Koexistenz- und Toleranzlösungen.85 In den größten Reichen Ostmitteleuropas ist somit um 1500 gegenüber dem Westen eine umgekehrte quantitative, ökonomische und politische Relation zwischen Adel und Stadtbürgertum zu beobachten: z.B. 4-5 % Adel in Ungarn, 7-8 % in Polen-Litauen gegenüber 1 % in Westeuropa; 2 % freie Bürger in Ungarn, 10 % in Frankreich. Infolge der Nachfrage nach Agrarprodukten durch den urbanisierten Westen Europas und infolge des dementsprechenden und durch 84 SZÜCS, Die drei historischen Regionen Europas, 1990, 50–53. Ständefreiheit, 1996; Konfessionalisierung, 1999; TAZBIR, Toleranz, 1977; EBERHARD, Toleranz, 2010. 85 28 die Schwäche der Städte geförderten Desinteresses an Merkantilismus und Manufaktur – außer in Böhmen86 – wurde Ostmitteleuropa in der Frühneuzeit zur Agrarperipherie des westlichen Europa. Der Adel, der auf die exportorientierte Agrarwirtschaft auf seinen Großgütern ausgerichtet war, die er sich im Spätmittelalter überdies noch vielfach aus dem Krongut angeeignet hatte, bedurfte der am Ausgang des Mittelalters einsetzenden Schollenbindung seiner Bauern. Die Konsequenz waren die verbreitete „ostelbische“ Gutswirtschaft und die bäuerliche Leibeigenschaft.87 Die frühneuzeitliche Konzentration auf die Landwirtschaft und die ländliche Welt von Adel und Bauern sowie die Zurückdrängung des Stadtbürgertums zeitigten ihre langfristigen Folgen in der Verspätung der Industrialisierung und geringen Ausbildung von Kapitalbürgertum und schließlich – in Zusammenhang damit – in den nationalen Selbstfindungsprozessen, in denen danach zu fragen war, wer die erstrangigen Repräsentanten der Nation und ihrer Werte seien. Ob die Länder Ostmitteleuropas im Dorf oder in der modernen Metropole, im Bauer oder im Bürger ihren nationalen Typus fänden, darüber gab es in den Debatten über nationale Selbstbilder und Modernisierung bis ins 20. Jahrhundert hinein ganz unterschiedliche Antworten. So war das tschechische Volk für die Literaten der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch die bäuerliche Volkskultur geprägt, der Bauernstand wurde zur Basis der Nation und die „böhmische Hütte“ (chalupa, chaloupka) zur Metapher des Tschechentums.88 Und die Prager Landesausstellung Böhmens von 1891 inszenierte in einem speziellen Pavillon die „böhmische Hütte“ und die bäuerliche Volkskultur, die dann auch von der Kunstgewerbebewegung am Anfang des 20. Jahrhunderts rezipiert und akzentuiert wurde.89 Eine ähnliche Idealisierung des bäuerlichen Volkstums wurde auch für die Slowaken typisch, die noch im Ersten Weltkrieg zu über drei Fünftel im Agrarsektor tätig waren.90 Wie die Slowaken stützten sich generell die sogenannten nichthistorischen Nationen – wie etwa die Ruthenen, Litauer oder Slowenen – in der Nationsbildung auf ihre bäuerliche Grundlage, da ihnen der eigene Adel als Träger der historischen Kontinuität und als „politische Nation“ entweder fehlte wie bei den Slowenen oder durch Polonisierung, Magyarisierung oder Germanisierung als Akteur der neuen ethnischen, an der Sprache orientierten Nation ausfiel, ja gegen den sich diese wenden musste.91 Allerdings wurde der Adel auch aus der tschechischen Nationalbewegung verdrängt, aus sprachlichen ebenso wie aus sozialen Gründen.92 Im Unterschied zu den Tschechen und den genannten nichthistorischen Nationen entwickelte sich dagegen in Polen und Ungarn die moderne ethnisch-kulturelle Nation aus der vormodernen politischen Nation des Adels heraus, der hier in der Nationalbewegung die Initiative und 86 87 88 89 90 91 92 HOENSCH, Geschichte Böhmens, 1992, 283–286. SZÜCS, Die drei historischen Regionen Europas, 1990, 60 f. HROCH, Na prahu národní existence, 1999, 221–224 und 255–257. JANATKOVÁ, Modernisierung und Metropole, 2008, 39–42. HOENSCH, Die Entwicklung der Slowakei, 1995, 119 f. und 122. BARDACH, De la nation politique à la nation ethnique, 1995, 20–21. HROCH, Na prahu národní existence, 1999, 253–255. 29 Führung übernahm und bis in die Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts seine gesellschaftliche Autorität wahren konnte.93 Die ostmitteleuropäischen Nationsbildungsprozesse waren mit der Notwendigkeit einer dreifachen Emanzipation konfrontiert. Bei der Formierung der modernen, ethnischen Nation und ihres nationalen Bürgertums mussten sich erstens insbesondere die nichthistorischen Nationen, aber auch die Tschechen von der längst polonisierten, magyarisierten oder germanisierten Adelselite emanzipieren. Darüber hinaus erforderte ihre Nationsbildung zweitens auch die kulturelle und gesellschaftliche Emanzipation insgesamt vom Einfluss der (bislang) herrschenden, obgleich oft minoritären Nationalitäten der Polen, Ungarn oder Deutschen – gleichsam in konkreter Dialektik der historisch gewachsenen Multiethnizität – , zumindest die Abgrenzung und Verhältnisbestimmung zu „den anderen“ im Lande bei der nationalen Bewusstseinsbildung.94 Schließlich drittens, und damit in Zusammenhang, mussten sich die neuen Nationen aus den imperialen Großreichen emanzipieren. Dies alles zusammen gelang bekanntlich endgültig erst infolge des Ersten Weltkriegs. Die neuen Nationalstaaten und ihre Positionierung im europäischen Mächtesystem hatten für ihre Ausreifung und Stabilisierung nur wenig Zeit, bis sie in und nach dem Zweiten Weltkrieg erneut einer imperialen Herrschaft unterworfen wurden, diesmal dem Sowjetimperium, das die Phase der bürgerlichen Nationsbildung abrupt beendete. Die folgende Epoche zeitigte in Ostmitteleuropa gewiss ihre strukturbildenden Wirkungen in Wirtschaft und Gesellschaft. Die angestrebte ökonomische und gesellschaftliche Modernisierung blieb jedoch stets begrenzt durch ideologische Vorgaben und durch die Ausrichtung auf das Sowjetimperium. Zwar kamen nun neue soziale Schichten zu Aufstieg und Partizipation in Gesellschaft und Kultur, und der Einfluss des Adels (aber auch des traditionellen Bürgertums) war definitiv beendet. Aber soziale Mobilität aus individueller Leistung wurde nur im Rahmen und unter der Kontrolle des gegebenen Kollektivs ermöglicht und gesellschaftlich effiziente Elitenbildung nur in der kommunistischen Partei oder in strikter Loyalität zu ihr. Zur ökonomischen Modernisierung wurde zwar die Industrialisierung (meist die Schwerindustrie, aber sektoral mehrfach wechselnd) forciert und die kollektivierte Landwirtschaft industrialisiert. Aber die modernisierenden Wirkungen waren für die Volkswirtschaften nicht nur wegen der oft ideologisch gesteuerten und auf apriori festgelegten Bedarf ausgerichteten Planwirtschaft begrenzt, sondern vor allem auch durch die imperiale Ausbeutung der Produktion, die quantitativ, qualitativ und sektoral auf den Bedarf des Imperiums, insbesondere der Sowjetunion selbst ausgerichtet und daher künstlich gesteuert wurde. Letztlich wurden so in der Wirkung die Regressionen der Frühneuzeit und die Verspätungen des 19. Jahrhunderts – in Industrialisierung und eigenständiger Nationsbildung – erneut bestätigt und verlängert. 93 94 HROCH, Ethnonationalismus, 2004, 21 und 23; DERS., Das Europa der Nationen, 2005, 139. BARDACH, De la nation politique à la nation ethnique, 1995, 29. 30 Der am längsten wirksame Strukturfaktor der Länder Ostmitteleuropas, die ethnische Pluralität, wurde im Zweiten Weltkrieg und in der Nachkriegszeit mit ihren Grenz- und Bevölkerungsverschiebungen, Judenmorden, Aussiedlungen und Vertreibungen in den meisten Regionen beendet, zumindest weitgehend abgeschwächt, abgesehen etwa von den Ungarn Siebenbürgens und der Slowakei.95 Erhalten blieb die Multiethnizität jedoch in der Erinnerungskultur, im langen Gedächtnis Ostmitteleuropas, das sich vielfach in der Literatur niederschlägt. Allerdings entstand durch das Sowjetimperium mit der Zuwanderung russischer Bevölkerung in manchen Ländern eine neue ethnische Pluralität, besser: Dualität. Insgesamt blieben die horizontale Mobilität und ethnische Durchmischung jedoch auf weit geringerem Niveau als in den alten Imperien der Frühneuzeit. Es ging in diesem Beitrag nicht nur darum, exemplarisch vier historisch gewachsene strukturbildende Faktoren – Multiethnizität, Rolle der Imperien, konfessionelle Pluralität, sowie die Relation von Adel und Bürgertum – vor allem für die in diesem Band behandelten Regionen in ihrer Entstehung zu erläutern und ihnen damit die nötige geschichtliche Tiefendimension zu geben. Vielmehr ging es auch darum, sie als langfristige kulturprägende Struktur zu verdeutlichen, die sich freilich immer wieder gewandelt hat. Diese strukturelle longue durée ebenso wie ihr Funktionswandel insbesondere im 19./20. Jahrhundert gilt grundsätzlich für alle vier genannten Faktoren. So spielte etwa die konfessionelle Pluralität ebenso wie das Gewicht des Adels in den Nationsbildungsprozessen eine unterschiedliche Rolle; sie ist jedoch bis heute vor allem in den Regionen der unierten und orthodoxen Kirchen relevant. Offenkundig ist diese sich wandelnde Langzeitstruktur nicht zuletzt aber in der ethnischen Vielfalt und deren jeweils neuen oder unterbrochenen Kulturkontakten bis zu den Grenz- und Bevölkerungsverschiebungen des 20. Jahrhunderts. Verstärkt noch durch die Funktion der Imperien, bildete sie jedenfalls Voraussetzungen für ethnokulturelle Überschichtungen und Verschränkungen ebenso wie für Abgrenzungen und Konflikte, die noch bis heute relevante Wirkungen in Erinnerungskultur und Mentalität hervorbringen. Literaturverzeichnis: BAHLCKE, Joachim: Ostmitteleuropa. In: Studienhandbuch östliches Europa, Bd. 1: Geschichte Ostmittel- und Südosteuropas. Hg. v. Harald ROTH. KölnWeimar-Wien 1999, 59–72 95 BARDACH, ebd. 30 f., weist auf bleibende ethnische Mischungen in manchen Regionen hin. Allerdings stellten Ethnien keinen gesellschaftlich relevanten Faktor mehr dar. 31 BAHLCKE, Joachim: Ungarischer Episkopat und österreichische Monarchie. Von einer Partnerschaft zur Konfrontation (1686–1790). 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Kulturelle Interferenz und ihre Räume: Problemstellungen und Diskussionen 1.1 Die Begriffe Jede geschichtswissenschaftliche Diskussion um kulturelle Interferenz setzt voraus, dass es Differenz gibt. Historische Akteure schließen sich als soziale Wesen zu Gruppen zusammen, was auch bedeutet, dass sie andere, ihnen vermeintlich oder tatsächlich unähnliche Individuen oder Gruppen von dieser Vergesellschaftung ausschließen. Ohne dass jedes dieser Merkmale zutreffen muss, beziehen sie sich dabei in der Regel auf eine gemeinsame Sprache oder auf geteilte religiöse Vorstellungen, auf gemeinsame historische Erfahrungen und Erwartungshorizonte. Auf den unklaren Begriff der „kollektiven Identität“ wird hier in Anlehnung an Lutz Niethammers Kritik „wissenschaftsförmiger“ Identitäts-Formeln bewusst verzichtet.1 Präziser scheint der von den Sozialpsychologen Henri Tajfel und John Turner vorgeschlagene Begriff der „sozialen Identität“, der konsequent vom Individuum ausgeht. Soziale Identität ist demnach das Selbstkonzept eines Individuums, das aus der Kenntnis des Individuums über seine Teilhabe an einer sozialen Gruppe erwächst. Es regelt sein Verhältnis zu anderen Menschen und enthält kognitive, bewertende und affektive Komponenten. Individuen wissen sich einer Gruppe zugehörig, bewerten diese Zugehörigkeit und verbinden damit bestimmte Emotionen. Sind diese Bewertungen und Gefühle ausgeprägt positiv, gewinnen die entsprechenden Gruppen an Kohärenz durch gegenseitige Verpflichtung der Mitglieder. Gleichzeitig gibt es kategorisierende Vereinbarungen der Gruppenmitglieder untereinander – sie entscheiden, wer zur Gruppe gehört und wer nicht (ingroup vs outgroup), sie verhalten sich so, dass sie als Gruppe wahrnehmbar sind („Salienz“), und sie teilen Auffassungen über ein gemeinsames Schicksal in der Vergangenheit und gemeinsame Ziele in der Zukunft. Da die einzelnen Menschen aber als soziale Wesen in der Regel mehreren Kollektiven unterschiedlicher Ausdehnung angehören, kommt es immer wieder zu Koexistenzen, Überschneidungen, hierarchisierenden Einschließungen, aber auch Konflikten 1 NIETHAMMER, Kollektive Identität, 2000, 28‒54, 625. 42 unterschiedlicher sozialer Identitäten.2 Die in diesem Band umschriebene „kulturelle Interferenz“ vollzieht sich auf diesem Wege in und durch einzelne Menschen in Kommunikation mit anderen, oft aber auch buchstäblich durch sie hindurch. Historische Akteure agieren nicht ort- und raumlos, sondern in ihren jeweiligen Milieus, Lebensmittelpunkten und Geschichtsregionen. Das Zugehörigkeitsgefühl zu einer bestimmten räumlichen Einheit bildet häufig eine affektive Komponente sozialer Identitäten. Daher muss auch die Frage nach den Räumen kultureller Interferenz gestellt werden. Gibt es besondere Räume, die sich durch eine signifikante Intensität von Interferenz-Ereignissen auszeichnen? Die historische und kulturwissenschaftliche Forschung zum Konzept- und Kulturtransfer, zur Verflechtungsgeschichte und zur „transnationalen“ Geschichte hat sich insbesondere mit Orten und Räumen auseinandergesetzt, welche Transfers begünstigen. Insbesondere Grenzgebiete (im nationalen Zeitalter) oder Transitionszonen (im vornationalen) sind in diesem Zusammenhang von besonderem Interesse.3 Dazu können Geschichtsregionen gehören wie das Rheinland oder der Ostrand Ostmitteleuropas (die ehemaligen Ostgebiete PolenLitauens) mit ihren spezifischen konfessionell-kulturell-politischen Konstellationen, aber auch Kontaktzonen anderer Art: die osteuropäische frontier des Mittelalters und der Frühneuzeit an der Steppengrenze, welche eine Erschließungsgrenze zwischen christlich-agrarischen und nomadischmuslimischen bzw. nomadisch-animistischen Kulturen war, oder die russische Erschließungsgrenze in Sibirien und Ostasien4, aber auch innere Peripherien wie Gebirge oder Küsten. Die Diskussion über „Kulturgrenzen“, Interferenzen – oder mit den postcolonial studies gesprochen, „hybride“5 Phänomene und „dritte“ Räume, benötigt also Referenzräume. Mit dem Begriff des Referenzraums meine ich aber nicht nur Kommunikationsräume oder den in der Literaturwissenschaft geformten third space, sondern auch konkrete Geschichtsregionen. Im vorliegenden Band konzentrieren sich die Beiträge sogar auf einen geographisch relativ eng umgrenzten Groß-Referenzraum bzw. die mit ihm korrelierenden literarischen Wirklichkeitsentwürfe. Dieser ist weitgehend deckungsgleich mit Peripherien und inneren Peripherien der Habsburgermonarchie und deren 2 TAJFEL/ TURNER, Social identity, 1986; TAJFEL, Human Groups, 1981. ESPAGNE, Transferts, 1999; WERNER/ ZIMMERMANN Hg., De la comparaison à l’histoire croisée, 2004; DIES.: Vergleich, 2002; RANDERA, Geteilte Geschichte, 1999; RANDERA/ CONRAD, Einleitung, 2002; PATEL, Nach der Nationalfixiertheit, 2004. 4 WENDLAND, Randgeschichten?, 2008. 5 Das von Homi Bhabha und anderen popularisierte Konzept der „Hybridität“ ist auch ein Beispiel für eine besondere Form kultureller Interferenz, in diesem Falle für den Konzepttransfer über die Grenzen von Disziplinen und Regionen hinweg. „Hybridität“ wanderte von der Biologie im Gefolge der Evolutionstheorie zur Literaturtheorie Bachtins und von Westeuropa nach Osteuropa, schließlich wurde der Begriff zurücktransferiert und von den transatlantischen Kulturwissenschaften popularisiert. Dieser Prozess erfolgte über – allerdings selektive – Rezeption und Übersetzung von Werken aus der osteuropäischen Formalen Schule und Kultursemiotik; dazu BAL, Travelling Concepts, 2002. 3 43 Nachfolgestaaten: Ostgalizien, der Karst, die Karpaten, die deutschsprachigen „Sprachinseln“ in der Slowakei, das Burgenland. 1.2 Galizien Galizien spielt in diesem Konglomerat aus Peripherien – aus denen Karl Markus Gauß einmal ein „Buch der Ränder“ synthetisiert hat6 – vermutlich noch einmal eine Sonderrolle. Als nach den und durch die Teilungen Polens synthetisisch hergestelltes Kronland eignet es sich als Studienobjekt par excellence für transregionale bzw. transkulturelle, sogar transnationale Betrachtungen: Galizien war keine gewachsene, sondern eine durch die Teilungen Polens ab 1772 gemachte – also durch Grenzverschiebungen, Annexion und Militäraktion generierte Neoregion des anbrechenden nationalen Zeitalters. Darin ist es späteren Neoregionen vergleichbar, so den ihrerseits in einem alten sprachlich-kulturellen Interferenzraum gelegenen, von den westlichen Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffenen westdeutschen Bundesländern Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg. Das Kunstprodukt Galizien musste also als zusammenhängender Raum erst noch erfunden werden, eine diskursive, historiografische und politische Operation, auf die noch zurückzukommen sein wird. Der US-Historiker Larry Wolff geht soweit, von einem Konglomerat aus Idee und Phantasie zu sprechen, das gleichwohl in der imperialen Provinz – und gerade in der Provinz – als transnationaler Raum immer mehr an Realitätsgehalt gewann.7 Zunächst aber zu den konkreten räumlich-historischen Gegebenheiten: Die Neoprovinz Galizien integrierte eine alte europäische Kontaktzone, nämlich jene zwischen lateinischer, römisch-katholischer Welt und der Slavia orthodoxa. An dieser konfessionellen Grenzlinie waren infolge politischer Hegemonie (Herrschaft römisch-katholischer polnischer Könige und eines römischkatholischen Adels über orthodoxe Untertanen) und im Zuge gegenreformatorischer Angleichungspolitik neue regionale Sonderkonfessionen entstanden, nämlich die mit Rom unierten Ostkirchen der Ruthenen (Ukrainer) und Armenier, die ihren angestammten Ritus und ihre kirchenslawische bzw. armenische Liturgiesprache behielten, aber der vatikanischen Jurisdiktion unterstanden. Gerade die konfessionelle Lage kann also als besonderes Merkmal der Geschichtsregion festgehalten werden. Die erst unter habsburgischer Herrschaft eingeführte neue Konfessionsbezeichnung für die unierte ruthenische Ostkirche als griechisch-katholische Kirche ist nicht nur symbolischer Ausdruck einer vorher nicht gekannten rechtlichen Besserstellung gegenüber den römischen Katholiken, sondern kann auch als nomenklatorischer Hinweis auf diese besondere Form kultureller Interferenz gelten. Trotz mannigfaltiger Einflüsse des hegemonialen lateinischen Katholizismus auf die ruthenische Kirche, ihre 6 7 Buch der Ränder, 1992. WOLFF, Idea, 2010. 44 Verwaltungsstruktur, theologische Inhalte, Bildsprache und Liedgut waren aber die Lebenswelten, Sprachen, Liturgien, Kirchenarchitekturen, Kalender und Festtage der römischen und der „griechischen“ Katholiken nach wie vor stark voneinander unterschieden. Die alte west-ostkirchliche Grenze war in Galizien zwar administrativ verwischt, lebte aber weiter.8 In Galizien lag darüber hinaus auch eine linguistische Grenzlinie, nämlich jene zwischen dem west- und dem ostslawischen Sprachraum, mit den Leitsprachen Polnisch und Ukrainisch und den – wiederum auf die römischen bzw. byzantinisch-griechischen kirchlichen Zuordnungen zurückgehenden – unterschiedlichen Schriftsystemen, dem lateinischen und dem kyrillischen Alphabet. Quer zu diesen Grenzziehungen befanden sich die deutschen und jüdischen bzw. jiddischsprachigen Gemeinschaften, die über das gesamte Land verstreut zu finden waren. Die Provinz entstand also als Ergebnis einer Reihe von territorialen Neuordnungen am Ostrand Ostmitteleuropas zwischen dem letzten Drittel des 18. und der Mitte des 19. Jahrhunderts. Ihre Grundbestandteile waren einerseits die historischen Territorien Kleinpolens und der Stadt Krakau sowie einige kleinere schlesische Herzogtümer – das war der „lateinische“ Teil, das spätere Westgalizien bzw. der Oberlandesgerichtsbezirk Krakau. Auf der anderen Seite stand das eigentliche historische Land Galizien, also das neugeschaffene „Ostgalizien“, das mit dem Oberlandesgerichtsbezirk Lemberg identisch war. Ostgalizien – und überhaupt die gesamte Bezeichnung – ging auf ein ostslavisches Teilfürstentum im Verbund der Kiewer Rus’ zurück: Halyč-Volodymyr („Galizien und Lodomerien“) umfasste große Gebiete der heutigen Westukraine mit den bedeutenden Burgstädten Lemberg (lat. Leopolis/ ukr. L’viv/ poln. Lwów/ jidd. Lemberik) und Halyč. Es fiel Mitte des 14. Jahrhunderts an das Königreich Polen, wo es jedoch stets eine gesonderte Verwaltungseinheit blieb, deren Namensgebung auf die ostslavische und orthodoxe Tradition verwies: Czerwona Ruś/ Russia Rubra bezeichnete das in deutschsprachigen Quellen als „Rotreußen“ bezeichnete Gebiet, bzw. in älterer Diktion die „Červenischen Burgen“ des Mittelalters, eine Gruppe von befestigten Orten, die den westlichsten Außenposten der Kiewer Rus‘ darstellten. Im der mittelalterlichen polnischen territorialen Einteilung wurde daraus die sogenannte „ruthenische Wojewodschaft“ (wojewódzstwo ruskie). Österreichs Anspruch auf die galizischen Gebiete wurde derweil in der die Teilungen Polens begleitenden Legitimationspropaganda als „Revindication“, also Rückforderung ehemals zugehöriger Kronlande dargestellt. Diese schien durch galizisch-ungarische Heiratsbeziehungen in der Fürstenzeit, welche einen Anspruch der Stephanskrone auf „Galizien und Lodomerien“ nach sich gezogen hätten, belegbar.9 Die 8 Zur Einführung in die konfessionelle Gemengelage: HIMKA, Religion, 1999. Ein Überblick zu diesen territorialen Vorgeschichten in WENDLAND, Galizien, 2000. Innerhalb der Projektgruppe „Mittelalterliche Grenzregionen im Vergleich“ am Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas an der Universität Leipzig (GWZO) (Laufzeit 2011‒2013), in der es insbesondere auch um die neuzeitliche Rezeption der Grenzregion Halyč-Volyn geht, gegenwärtig in Arbeit Marina DMITRIEVA: Das 9 45 österreichische Titulatur reflektiert den Synthesecharakter des Territoriums, wobei die westgalizischen, kleinpolnischen Territorien in dem Konglomerat zumindest nicht mehr als polnische Länder erkennbar waren: „Königreich Galizien und Lodomerien mit den Herzogthümern Krakau, Auschwitz und Zator“. Die Berührungsängste vieler Polen – insbesondere der demokratisch-revolutionären Polen des 19. Jahrhunderts – mit diesem Konstrukt, dem Oktroi Galizien, rührten unter anderem aus dieser Geschichte der Teilungen und der anschließenden Verschleierung historisch-territorialer Zusammenhänge.10 „Königreich mit…“, römisch- und griechisch-katholisch, west- und ostslawisch: Galizien war eine bipolare Neoregion, und die Himmelsrichtungen Osten und Westen markierten die administrative und auch kulturell-sprachliche Unterteilung. Die beiden Metropolen Krakau und Lemberg mit ihren unterschiedlichen städtebaulichen Traditionen und politischen Kulturen standen stellvertretend für diese Doppelgesichtigkeit Galiziens. Diese komplexe territorial-historische Gemengelage hat aber dem Mythos Galizien als einer zusammenhängenden Geschichts- und Kulturregion nichts anhaben können, oder umgekehrt, sie hat ihn erst geschaffen. Die Renaissance des Interesses an Galizien, die wir seit den 1990er Jahren beobachten, erfolgte in einem Bedingungsgefüge aus der politischen Neuordnung (Ost-) Europas und dem daraus entstehenden Interesse an alten Grenzziehungen, vergessenen bzw. systematisch denunzierten Zugehörigkeiten und verschwiegenen Erinnerungen. Das erklärt die vor allem in Österreich, aber auch in Deutschland gesteigerte Aufmerksamkeit für Galizien und andere ehemalige österreichische Kronländer. Im Vordergrund stand dabei immer Galiziens kulturelle Pluralität: die Vielsprachigkeit seiner Bewohner zwischen Polnisch, Ukrainisch, Jiddisch, Deutsch, die religiöse Vielfalt der christlichen Konfessionen bei einer gleichzeitig bedeutenden Stellung des Judentums; Galizien als gemeinsame Literaturlandschaft vieler Sprachen und Gruppen; Galiziens Stellenwert in der Erinnerungskultur des in Europa fast vollständig vernichteten, in Nordamerika und Israel aber weiterlebenden aschkenasischen Judentums – und all dies (vermeintlich) abgebildet und uns überliefert in der beeindruckenden Textproduktion von Autorinnen und Autoren mit galizischem biografischen Hintergrund.11 1.3 Interferenzräume zwischen Modediskurs, politischer Kontroverse und wissenschaftlicher Begründung Fürstentum Halyč-Volyn im Spiegel der russisch-imperialen, sowjetischen, polnischen und ukrainischen Archäologie und Kunstgeschichte. 10 Abgesehen davon machte Galizien durchaus auch im polnischen Milieu Karriere, denn es wurde der Bezugsraum der galizischen polnischen, habsburgloyalen Konservativen und ihrer historisch-politischen Schule. WOLFF, Idea, 2010, insbesondere Kapitel 5, 188‒230. 11 Galizien, 1988; KASZYŃSKI, Der jüdische Anteil, 1996; DERS., Galizien. Eine literarische Heimat, 1987; DERS., Mitteleuropa, 2009. 46 Die Verortung von Interferenz oder, je nach Fachrichtung, „transnationaler“ oder „transkultureller“ Phänomene in speziellen Geschichtsregionen kann gleichzeitig aufschlussreich und problematisch sein, wie Fachdiskussionen zeigen.12 Das große Interesse ist auch immer mit der Gefahr der Exotisierung und Idealisierung verbunden – die Einwanderergesellschaften von heute suchen Antworten auf ihre Probleme in längst untergegangen territorialen Einheiten, wo die Koexistenz in Differenz vermeintlich besser funktionierte als heutzutage. Erhellenden Erkenntnissen aus Lokalstudien zu interkulturellen Beziehungen stehen Zweifel an Theoriekonjunkturen mit globalem Erklärungsanspruch gegenüber. Leistet nicht eine Konzentration auf Transkulturalität, Interferenz und im Nachhinein wahrgenommene (oder solche wahrhaben wollende) Gemeinsamkeiten einer ungewollten Exotisierung historischer Verhältnisse Vorschub, statt ihnen gerecht zu werden? Darauf hat Riccardo Nicolosi in seinen – sich ebenfalls mit dem Habsburgerreich als wichtigem Referenzraum auseinandersetzenden Arbeiten zu bosnischen kulturellen Identitäten im Kontext des Habsburgerreiches hingewiesen,13 und das gilt ähnlich auch für Galizien. Im Kontext der UkraineStudien wird gegenwärtig diskutiert, ob und inwieweit man eine transnationale Geschichte der Ukraine (in der die Geschichtsregion Galizien eine bedeutende Rolle spielt) jenseits einer Geschichte der Ukrainer schreiben könnte – als aufeinander bezogene Geschichte von ukrainischen Ukrainern, Polen, Juden, Russen und anderen Gruppen auf dem Territorium der Ukraine, oder als Geschichte transnationaler Verflechtungen und nichtnationaler Vergesellschaftungen in Religionsgemeinschaften oder Städten.14 Die Ukraine als Ganzes wird im Westen bereits als „Laboratory of transnational history“15 bezeichnet, während im Lande selbst nach wie vor das nationale Paradigma dominiert, im Sinne einer nachholenden Geschichtsauffassung nach dem Ende des sowjetischen pseudo-transnationalen Zwangssystems.16 Fest steht aber, dass Osteuropa in der Diskussion der Kultur- und Geschichtswissenschaften um Transnationalität, Kulturtransfer, Translationsforschung oder die Frage nach leitenden travelling concepts in den Geisteswissenschaften zunehmend als wichtige Region wahrgenommen wird. Dabei geht es gar nicht so sehr um nachholende Theoriearbeit im Sinne eines West-Ost-Wissenstransfers nach dem Ende der Diktaturen. Im Mittelpunkt steht vielmehr die Wiederentdeckung von spezifisch osteuropäischen Herangehensweisen bei der Erforschung oder Konzeptualisierung von Interkulturalität sowie osteuropäischer Impulse und lange vergessener 12 Als Beispiele seien hier neben der eigenen Projektgruppe „Kulturelle Interferenzen“ am GWZO (2007-2010) einige einschlägige Forschungsgruppen genannt: Universität Konstanz, Exzellenzcluster 16 „Kulturelle Grundlagen von Integration“; GWZO, Projektgruppen „Ostmitteleuropa transnational“ und „Mittelalterliche Grenzregionen im Vergleich“ (2011‒2013); Universität Wien, Doktoratskolleg Galizien (2007‒2012). 13 NICOLOSI, Dialogische Toleranz?, 2009. 14 WENDLAND, Ukraine transnational, 2011; insgesamt KAPPELER Hg., Ukraine, 2011. 15 A Laboratory, 2009. 16 WENDLAND, Ukraine transnational, 2011. 47 Transferwege von Ost nach West, welche für die Theoriebildung im Westen, d.h. v.a. in Frankreich oder den USA, von großer Bedeutung waren. Dazu gehört beispielsweise die westliche Rezeption russischer und tschechischer semiotischer und linguistischer Schulen. Auf diesem Gebiet hat die Slawistik in letzter Zeit einigen Forschungsbedarf angemeldet.17 Der Interferenzbegriff wird im Wissenschaftssystem anders verhandelt und behandelt als im System der politischen Öffentlichkeit, so beispielsweise in den Kontroversen um die Zukunft moderner Gesellschaften. In den Einwanderungsländern werden vor allem die politisch-rechtlich-kulturellen Verfahrensweisen im Umgang mit durch Einwanderung erworbener kultureller Differenz und (behaupteten) Parallelgesellschaftsbildungen diskutiert – wobei mit dem problematischen Begriff der Parallelgesellschaft eigentlich die historisch migrationstypischen Verhaltensweisen und Vergesellschaftungsformen der ersten drei Generationen von Einwanderern gleich welcher Provenienz gemeint sind. Eine historische Kontextualisierung der Entstehung von Einwanderergesellschaften oder eine selbstreflexive Beobachtung der damit verbundenen Kontroversen kommt dabei in der Regel nicht zustande, wie am Beispiel der Sarrazin-Debatte in Deutschland 2009/10 zu sehen. Diese Debatte kann genau genommen selbst als Ausweis kultureller Interferenz gelten, denn sie spiegelt den Diskussions- und Selbstvergewisserungsprozess einer Gesellschaft über die in ihr vorgefundene kulturelle Differenz wider, welche als gesellschaftsverändernd wahrgenommen wird. Auch könnte die Geschichte der Titularnation, um die es in der Debatte vordergründig ging, auch als Interferenzgeschichte und ihr Territorium als Interferenzraum gelesen werden: Deutschland hat eine Migrations- und Integrationsgeschichte mit historisch weit zurückreichenden Traditionen, und es besitzt Geschichtsregionen, in denen Wanderungsbewegungen und kultureller Austausch immer besonders dicht waren. In stark polarisierenden Diskussionen haben jedoch solche oft kompliziert begründeten und hintergründigen Interferenz-Begriffe schon aufgrund der Gesetzlichkeiten medialer Aufbereitung keine hohe Verbreitung. Sie werden in jedem Falle verkürzt und je nach Position entweder nur auf wünschenswerte (nicht: vorgefundene) Effekte interkulturellen Lernens angewendet oder aber pauschal mit einer unkritischen Idealisierung von Multikulturalität gleichgesetzt.18 17 Was der Referent Boris Buden 2009 auf einer Tagung problematisierte: „The Transnational Study of Culture – Lost or Found in Translation? Cultural Studies – Sciences humaines – Kulturwissenschaft(en).“ Tagung des Graduate Center for the Study of Culture (GCSC) der JustusLiebig-Universität Gießen, Rauischholzhausen 28.-30. Oktober 2009; WENDLAND, Russian Empire, 2008; DIES.: Jenseits der Imperien, 2009; DIES. Cultural Transfer, 2012. 18 Die Debatte um Thilo Sarrazins Bestseller „Deutschland schafft sich ab“ wurde im Kern um die angeblich kulturell begründbare Integrierbarkeit oder Nichtintegrierbarkeit von Zuwanderergruppen geführt, im Detail auch um Methodologie und argumentative Traditionen, in die sich Sarrazin stellte, nämlich biologistische und proto-eugenische Argumentationsmuster. Dabei kamen die genannten konträren, verkürzten Vorstellungen von Interferenzialität zum Tragen. Dazu: Sarrazin, 2010; Schwarz, Sarrazin-Debatte, 2010. 48 Die geisteswissenschaftliche Interferenzforschung hingegen bewegt sich viel näher am naturwissenschaftlichen Vorbild,19 indem sie jedwede Interaktionsform zwischen kulturell differenten Einheiten beobachtet und dabei kulturelle Differenz gar nicht wegdiskutieren – oder durch Assimilationsprogramme wegdekretieren – möchte, sondern eine solche Differenz notwendigerweise voraussetzt. Leitbegriffe und -konzepte einer solchen Forschung sind idealerweise blind für den Inhalt der jeweils transferierten, transportierten oder interagierenden Phänomene: die Kulturtransferforschung konzentriert sich auf die Transformation ihrer Gegenstände – ob Ideologie, Technologie, Ware oder Kunstströmung, die sich beim Wandern von Ausgangs- zu Zielgesellschaften einstellt, sie analysiert Aneignungsleistungen und Spurenverwischungen, von denen die Geschichte kultureller Transfers voll ist. Die Übersetzungsforschung behandelt die konkreten Akteure und Verfahren, welche in komplexen sprachlichen und kulturellen Übersetzungsakten Dinge verändern und in neue Kontexte einschleusen. Auf dem Feld der Wissenschaftsgeschichte und wissenschaftlichen Theoriegeschichte gewinnt das Phänomen der travelling concepts zunehmend Bedeutung: Begriffe und Konzepte überwinden demnach nicht nur kulturell-sprachliche, sondern auch disziplinäre Grenzen und werden in ihren neuen Kontexten zu erkenntnisfördernden Innovationsmaschinen. Alle drei Konzepte greifen ineinander, weil häufig „übersetzende“ historische oder wissenschaftliche Akteure in kulturellen Interferenzregionen geboren, geprägt und vor allem mehrsprachig ausgebildet wurden oder auf andere Weise (als Migranten) Erfahrungen sammelten, die ihrer Übersetzungsaufgabe zugutekamen.20 Was dabei übersetzt, transferiert und an lokale Gegebenheiten angepasst wurde, ist dabei zweitrangig, und schon gar nicht ist das Kennzeichen kultureller Vermittlungs- und Transferprozesse, wie sie uns in Interferenzregionen interessieren, notwendigerweise die Vermittlung und Grenzverwischung. Mitunter haben bestimmte Denkweisen und Konzepte sehr erfolgreich Grenzen überwunden, generieren aber sogleich neue; das Lernen vom Gegner ist eines der großen Themen der Kulturtransfer- und somit auch der Interferenzforschung. Dabei geht es den Akteuren häufig weniger um Grenz- als vielmehr um Spurenverwischung, um die Aneignung des gegnerischen Wissens oder institutionellen Vorbildes in der eigenen Gesellschaft zu erleichtern.21 Zum Repertoire transnationaler Wissens- oder Ideologietransfers im 19. und 20. Jahrhundert gehören nicht nur viele Aspekte der deutsch-französischen Institutionen- und Militärgeschichte, sondern auch lange unterbelichtete Lern- und Wissenstransferprozesse zwischen den USA, der Sowjetunion und dem NS-Staat.22 Höchst erfolgreiche europäische bzw. globale Lern- und Transfergeschichten bieten der Anarchismus genauso wie 19 Dazu auch die Einleitung zu diesem Band. BAL, Travelling concepts, 2002, 22‒34; WENDLAND, Cultural Transfer, 2012; BACHMANNMEDICK, Cultural turns, 42010, 238‒283, Kapitel „Translational Turn“; HÜCHTKER/ KLIEMS, Überbringen, 2011. 21 AUST/ SCHÖNPFLUG, Vom Gegner lernen, 2007; Middell, Kulturtransfer, 2000. 22 SCHERRER, „Einholen“, 2007; PATEL, „All of this“, 2007; WIRSCHING, Antibolschewismus, 2007. 20 49 der Antisemitismus, die moderne Nationalidee genauso wie der Internationalismus, das ökologische Denken genauso wie die Kerntechnik und der Rüstungswettlauf.23 Genauso bedeutet Interferenz nicht die Abwesenheit von Konflikt, sondern der Begriff will und muss auch das konflikthafte Interagieren von Akteuren und den von ihnen produzierten kulturellen Ausdrucksformen analysieren. Gleichwohl ist letzteren Forschungen weniger Popularisierungserfolg beschieden, weil im Falle der Konflikt- und Gewalterfahrungen andere Ansätze mehr Beachtung finden, so die reine Gewaltgeschichte oder Erklärungsansätze, die auf der Prämisse kultureller Inkompatibilität beruhen: clash of civilizations, Parallelgesellschaften, neuerdings auch wieder biologistische Metaerklärungen für kulturelle Differenz. Bedauerlicherweise gehorchen auch überaus integre Vorhaben den Gesetzen dieses Marktes, wie der Erfolg von Timothy Snyders „Bloodlands“ belegt: hier wird im Resultat einer durchaus wünschenswerten Rezentrierung der Geschichte von Kriegs- und Gewalterfahrungen auf vergessene Opfer im ethnokulturell pluralistischen Hinterland der Weltkriegsfronten dennoch das Ostmittel- und Osteuropa des 20. Jahrhunderts einmal mehr zum finsteren (Schlacht-) Keller der europäischen Geschichte, wobei, wie Jörg Baberowski bemerkt hat, die Interferenz der Gewaltakte, nämlich ihre Aufeinanderbezogenheit, nicht nur Aufeinanderfolge, der Stalinschen und NaziVerbrechen in denselben Regionen gerade nicht erklärt wird.24 1.4 Wer spricht im Interferenzraum – und wer macht ihn? Das galizische Beispiel Wenden wir uns noch einmal der begründeten Skepsis gegenüber weichzeichnerischen Aspekten im Umgang mit kultureller Interferenz zu. Wenn wir uns in der Sachbuchliteratur zu Interferenzräumen umblicken, dann scheinen die auf literarischen Zeugnissen oder Erinnerungsliteraturen basierenden Aussagen für geschichtswissenschaftliche Untersuchungen oft problematisch, weil seltsam schwerelos und unverortet, obwohl die konkreten Bedingungen der Textproduktion, nämlich die politischen, ökonomischen und diskursiven Machtverhältnisse, uns interessieren sollten.25 Zum Beispiel waren im Habsburgerreich allein die Sprachwahl des Erinnerungstextes oder die Frage, wann Texte in welcher Sprache produziert wurden, schon das Ergebnis komplexer Sprache-Macht-Beziehungen. Diskursgeschichtlich gesprochen ging es darum, was sagbar und was nicht sagbar war, und auch welche Sprachen in konkreten historischen Situationen überhaupt – im Wortsinne – salonfähig waren, d.h. im Rahmen der hegemonialen Hochkulturen sprechbar, niederschreibbar oder publizierbar. Eine Varietätenvielfalt noch nicht kodifizierter Dialekte in einer 23 LEY, Kleine Geschichte, 2003; BENZ, Protokolle, 2007; TIBI, Public Policy 2008; RADKAU, Ära, 2011, 14‒37; WENDLAND, Povernennja, 2011. 24 SNYDER, Bloodlands, 2011; BABEROWSKI, In verwüstetem Land, 2011. 25 Einige wichtige Sachbücher über Galizien mit breiterem Adressatenkreis als die geschichtswissenschaftliche Fachliteratur: POLLACK, Galizien, 2001; DERS.., Kaiser, 2010; DOHRN, Galizien, 2000. 50 oralen, bäuerlichen Kultur, wie etwa im Falle des (West-) Ukrainischen bis Ende des 19. Jahrhunderts, oder eine als Jargon abqualifizierte gesprochene und geschriebene Alltagssprache, wie im Falle des Jiddischen, vermochte diese Anforderungen schlechter zu erfüllen als die imperiale Schriftsprache Deutsch sowie die subdominanten Schriftsprachen der regionalen Eliten, Polnisch und Ungarisch. Die dominierenden Vorstellungen und auch Forschungen über die Region Galizien als kultureller Interferenzraum beruhen wiederum zu einem großen Teil auf Selbstzeugnissen und anderweitiger Textproduktion jüdischer Galizierinnen und Galizier26 oder polnischer Eliten in diesen imperialen oder regionalen Hegemoniesprachen, während bis ins 20. Jahrhundert die nichtschriftlichen Äußerungsformen der ukrainisch-, polnisch-, jiddisch- oder romanisprachigen Unterschichten, welche die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung in Galizien repräsentierten, weitgehend unbeachtet bleiben. Dies führt uns zu einem Sachverhalt, den im Kontext postkolonialer Kulturund Geschichtswissenschaften nichteuropäischer Gesellschaften die sogenannten Subaltern Studies zur Diskussion gestellt haben: Es gibt in imperialen und kolonialen wie nachkolonialen Gesellschaften komplexe Macht- und Hierarchieverhältnisse von Herrschern und Beherrschten, Kolonisatoren und Kolonisierten, in welchen „unterdrückte“ (oppressed) Gruppen nicht gleichbedeutend sind mit „subalternen“: Während die einen sichtbar und fassbar sind und für sich sprechen können – so die von imperialer Fremdherrschaft unterdrückten lokalen Eliten – gibt es andere Gruppen, welche überhaupt nicht zum Sprechen und zur Sprache kommen, sei es, weil beständig andere für sie sprechen, oder weil ihre Art zu sprechen nicht verstanden wird.27 Die im indischen Kontext aufgekommene Erforschung subalterner Gruppen fokussiert vor allem auf Eingeborene, Unterkasten und auf Frauen in diesen Gruppen; zu fragen ist, ob auch die galizischen Kleinbauern und Landarbeiter (oder marginale Gruppen wie die Roma) in bestimmten Phasen des 19. und 20. Jahrhunderts als quasi-unterkastische, subalterne Gruppen anzusehen sind, welche nicht zum Sprechen und folglich auch nicht zur Sprache kamen. Sie treten uns jedenfalls nicht als Urheber und Urheberinnen von literarischen Texten entgegen, sondern häufiger als Vermittler nichtschriftlicher Überlieferung und Subjekte nichtsprachlicher Kommunikation. Sozialbanditismus, Kleinkriminalität, Aufstände, Agrarstreiks, auch die kaisertreue konservative Rebellion gegen den Grundherrn gehören zu diesen reaktiven und aktionistischen Formen des Sprechens, meist in Reaktion auf eine vermeintliche Verletzung althergebrachter korporativer Rechte. Oder aber die Bauern sprachen in spezifischen Situationen – so als Angeklagte oder Zeugen in Strafprozessen –, die eine mehrfache Übersetzungsleistung verlangten und verlangen. Übersetzen musste man bereits im Gerichtssaal aus ukrainischen Dialekten ins Deutsche oder Polnische – Polnisch löste seit Mitte der 1860er Jahre als Amts- und Gerichtssprache in Galizien das Deutsche ab, d.h. die Protokolle wurden in der Regel in diesen 26 27 HÜCHTKER, „Mythos“, 2002; BECHTEL, „Galizien“, 2004. SPIVAK, „Can the subaltern speak?“, 2011. 51 Sprachen verfasst, wenn auch das Ukrainische in Ostgalizien als weitere Amtssprache in Gebrauch war. Heutigen Forschern wiederum obliegt die Übersetzung des Gesagten der offiziell protokollierten Aussage in das vermutlich Gemeinte. Bei Begründungsversuchen für gewaltförmigen oder auch anderen Protest, den die Behörden als Störung der öffentlichen Ordnung oder sogar Anstiftung zum Umsturz im Namen fremder Mächte interpretierten, ging es den bäuerlichen Sprechern beispielsweise oft um kryvda (wörtlich „Verletzung“, gemeint war die Verletzung von Rechtsstatus, Würde oder Integrität von Person, Familie oder eigener sozialer Gruppe oder Verweigerung von traditionell zugänglichen Ressourcen), die durch Wiedereinsetzung in alte Rechte geheilt werden konnte. Darauf aufmerksam zu machen, war Ziel des Protests oder der „staatsgefährlichen“ Aussage. Der vermeintlich russophile Agitator, der den Zaren ins Land holen wollte, um die Polen und Juden zu verjagen, war vielleicht eigentlich nur auf die Wiederherstellung seines Anrechts auf Weide- und Waldnutzung nach alter Tradition aus, das ihm infolge der Grundentlastung entzogen worden war.28 Sicherlich gab es auch die Übersetzungsleistung von mit der Region vertrauten Einheimischen, jener ukrainischen Aktivisten und Literaten, welche die Situation der Bauern als doppelt durch österreichische imperiale und polnische regionale Herrschaft Unterdrückte thematisierten. Gleichwohl stammten wiederum diese Akteure bereits aus dem Inbetween, es waren polyglotte Aufsteiger und Brückenbauer, die sozial und sprachlich gesehen der Bauernwelt schon genauso fern standen wie die jüdischen oder polnischen Literaten. Exemplarisch steht dafür der ukrainische Schriftsteller Ivan Franko, ein Beispiel für einen interferenziellen Sprecher ohne jüdischen Hintergrund. Er wird heute als der ukrainische Nationalschriftsteller der Westukraine vereinnahmt, ähnelt aber hinsichtlich seines Erfahrungshorizonts und seiner Produktionsweise seinen jüdischen Generationsgenossen: Frankos Familie hat eine gemischte deutschukrainische Vorgeschichte, er machte als sozialer Aufsteiger aus dörflichen Verhältnissen früh Erfahrungen mit Diskriminierung und Zurücksetzung durch die Arrivierten; er war mehrsprachig und publizierte auf Ukrainisch, Deutsch und Polnisch.29 Seine Novellen und Feuilletons aus der Welt der ruthenischen Tagelöhner, urbanen Handwerker und Arbeiter der Ölindustrie am Beginn des 20. Jahrhunderts waren mitunter die einzige kritische Informationsquelle der polnisch- und deutschsprachigen Leserschaft zur sozialen Lage der Ruthenen bzw. des sich bildenden galizischen Subproletariats. Solche gebildeten, politisch aktiven Brückenbauer hatten jedoch überdies oft auch noch andere Motive, die für manche Unschärfen bei der Übersetzung führten. Sie waren glühende Verfechter einer Hebung und Zivilisierung der eigenen Bevölkerung, was auch bedeutete, dass sie traditionale Wertesysteme, Konsumgewohnheiten und Sprachregelungen, 28 Zu den sprachlichen und symbolischen Formen öffentlich demonstrierter und sozial motivierter Russophilie WENDLAND, Die Russophilen, 2001, 178‒193, 489‒513. 29 SIMONEK, Möglichkeiten, 2003; HRYCAK, Prorok, 2006. 52 die sie zu übersetzen hatten, unter Umständen nicht teilten, nicht (mehr) verstanden und nicht billigten. Das Ergebnis dieser Divergenz von wenigen Sprechenden und vielen Nichtsprechenden in Galizien ist eine gewisse Schieflage bei der Wahrnehmung der Geschichtsregion. Die aufgrund der objektiv günstigeren Quellenlage vorgefundenen Zeugnisse werden von heutigen Lesern als Standard wahrgenommen, der für die Region als Ganzes steht. Diese Zeugnisse werden einerseits als exotisch wahrgenommen, weil sie häufig dem fremdgewordenen jüdischen Kontext und der sehr fern erscheinenden galizischen Armutsökonomie entstammen. Andererseits werden sie als nah empfunden: Sie erscheinen hinsichtlich der sozialen Stellung seiner Urheber, des ihnen zugrundeliegenden Bildungsstandards und der Erzählkonventionen dem Eigenen ähnlich. Gleichzeitig waren es tatsächlich die jüdischen Autorinnen und Autoren, welche sich in ihren Erfahrungsräumen tagtäglich mit Differenz und Interferenz auseinandersetzen mussten: Sie erfuhren Marginalisierung und religiöse Diskriminierung genauso wie Erfolgserlebnisse im Laufe ihrer Bildungs- und Karrierewege im Zeichen der Akkulturation, welche wiederum die polyglotten Sprech-, Denk- und Schreibwelten der jüdischen Bürger zwischen jiddischem Substrat und deutschem wie polnischen Superstrat, später auch deutscher bzw. polnischer Erstsprachigkeit erst hervorbrachte. Folglich waren jüdische Autoren und Autorinnen besonders sensibel für Fragen der Sprache, des Zusammenlebens der Nationalitäten, für die Situation von Marginalisierten und Minderheiten in ihrem Verhältnis zu den Herrschenden und den Mehrheiten, kurz – für Interferenzformen. In einem Aufsatz von 200230 hat Dietlind Hüchtker die Galizien-Literatur aus drei Jahrhunderten gesichtet, die vor allem aus solchen Selbstzeugnissen oder Erinnerungen sowie Reiseberichten besteht. Sie analysiert diese mehrheitlich deutschsprachigen Texte als Schichtungen eines seit der Aufklärung allmählich aufgebauten „Mythos Galizien“ und legt eine chronologische Abfolge von Überlieferungsschichten frei – vom aufklärerischen Reformdiskurs, der sich vor allem mit sozialen und hygienischen Fragen auseinandersetzt, zur Galizienbelletristik des 19. Jahrhunderts bis hin zur Erinnerungsliteratur über die verlorenen Kindheitsorte und die durch den NS-Massenmord vernichteten sozialen Zusammenhänge nach 1918 und 1945. Hüchtker betont, offensichtlich inspiriert von der postkolonialen Literaturtheorie, die subversiven Aspekte des galizischen (vorwiegend: galizisch-jüdischen) Interkulturalitätsmythos. Demnach diente die Rückschau auf vergangene soziale Verhältnisse und interkulturelle Begegnungen nicht, wie vordergründig vermutet, der Essentialisierung von eben vorgefundener, typisch galizischer idealer kultureller Pluralität. Es handelte sich auch nicht um pauschale Modernekritik, wenn auch die Modernisierungsfolgen an der agrarischen Peripherie ein großes Thema dieser Literatur waren. Vielmehr bedeutete dieser Rückgriff in seiner jeweiligen Epoche eine Infragestellung, mitunter Ironisierung bestehender Machtverhältnisse aus der Erfahrung der 30 HÜCHTKER, „Mythos“, 2002. 53 Marginalisierten – allerdings fast durchgängig, ohne die Kritik auf die Geschlechterverhältnisse auszudehnen. Diese spezifische Konstellation der Textproduktion hat das heutige Bild Galiziens als eines Landes kultureller Interferenz erst produziert: wir finden viele Quellen in dominanten und weniger davon in nichtdominanten Sprachen; wir beobachten ein Geflecht von Sprechenden und Nichtsprechenden, beziehungsweise von Sprechenden, die Macht besitzen, und anderen, die sich selbst in einer prekären Situation zwischen Dominanz und Nichtdominanz befinden und darüber reflektieren. Dazu kommt ein weiterer Aspekt: Auch spezifische Erwartungshorizonte auf der Seite der Rezipienten haben mit zur Erschaffung Galiziens als typischem Interferenzraum der Kultur(en), „am Schnittpunkt der Kulturen“, „at the crosscurrents of culture“31 beigetragen. Solche Erwartungshorizonte wurden in Deutschland und Österreich durch bestimmte historisch-biografische Motivationen abgesteckt: das spezifische Interesse in den nachgeborenen Generationen der Täternationen am ausgelöschten osteuropäischen Judentum. Dieses Interesse steht durchaus in einer älteren Tradition. Das in der Galizien-Rezeption des 19. Jahrhunderts bedeutende Genre des Reiseberichts, dem nicht nur die Erfassung unbekannter Gegenden, sondern auch die Sehnsucht nach Fremdheit und fremden Gegenden als Motiv zugrundeliegt, legt eine weitere Vermutung nahe. Denkbar ist, dass nach 1945 die oben bereits erwähnte spezifische Textproduktion weniger im Sinne Hüchtkers als subversive Sicht auf eigene Verhältnisse gesehen wurde, sondern nur deshalb so begierig aufgesogen wurde, weil sie sich vorzüglich in eine bereits bestehende Sichtweise einpassen ließ: nämlich die diskursive Auslagerung von Interferenzereignissen und den damit einhergehenden Verunsicherungen an die – vorzugsweise kakanischosteuropäische – Peripherie. Statt Kulturkonfrontation und -kontakt also mit den Herrschaftspraktiken und Umgangsweisen eigener historischer Akteure, beispielsweise in den westdeutschen Ländern, zu verknüpfen – wie es der britische Historiker David Blackbourn am Beispiel des saarländischen Marpingen in der Kulturkampfzeit oder der ostfriesischen Nordseeküste seit den 1830er Jahren gezeigt hat32 – vermutete man die Andersheit in zeitlich und räumlich abgeschiedenen Gegenden. Nicht in Frankfurt am Main, in Hamburg, im Leipzig Mendelssohns oder auch der agrarischen Welt der westfälischen oder nordhessischen Landjuden wurde das Judentum aufgesucht, was geheißen hätte, vor der eigenen Haustür und bei den eigenen Nachbarn zu suchen, mit allen daraus sich ergebenden historischen Verantwortlichkeiten. Stattdessen wurde die Jüdischkeit mit dem galizischen Schtetl assoziiert. Die Austauschformen zwischen galizischen Juden und Nichtjuden hingegen verblieben dabei zumeist im Dunkeln, obwohl die jüdische Kultur Osteuropas – mit sicht- und hörbaren Folgen in Sprache, Alltags-, Ess-, 31 So die Titel zweier einschlägiger Galizien-Sammelbände: FÄSSLER/ HELD/ SAWATZKI Hg., Lemberg, 1995; CZAPLICKA, Lviv, 2002. 32 BLACKBOURN, Marpingen, 1993; DERS., Eroberung, 2007. 54 Musik- oder synagogaler Baukultur – in jahrhundertelangem Austausch mit der christlichen Umwelt entstand.33 Diese Sichtweise auf Galizien als Interferenzraum ist auch wahrnehmbar in der Geschichte seiner Re-Touristifizierung nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Gerade in der bemühten Suche nach der vorbildlich interkulturellen Geschichtsregion ging dabei die oben beschriebene Sensibilität für kulturelle Differenz und Begegnung, die bezeichnend für die jüdische Rezeption ist, verloren. In der Anfangszeit der Wiederentdeckung neuer Destinationen gab es immer wieder Bildungs- und Studienreisen auf den Spuren des alten Galizien, welche ins heutige Lemberg führten, aber eigentlich – und ausschließlich – nach dem jüdischen Lemberg suchten, als sei dieses wie ein Getto abtrennbar von den anderen galizischen Kulturen. Seltsam fern blieb dabei das schon über ein halbes Jahrhundert alte sowjetische und postsowjetische Lemberg-L’viv, in dem es bis zur Emigrationswelle der 1990er Jahre immer noch mehr Juden – sowjetische Juden – gab als in deutschen Großstädten vergleichbarer Größe! Fern blieben die heutigen Bewohner, die zur überwiegenden Zahl nicht in den historischen Gemäuern oder Jugendstil-Bürgerhäusern der Kernstadt, sondern in sozialistischen Plattenbauten wohnen. Auch das real existierende Lemberg-Lwów vor 1939 bleibt bis heute oft kaum erschlossen. Dieses Lemberg besaß tatsächlich eine bedeutende jüdische Gemeinde und ein pluralistisches, in polnischer und jiddischer Sprache sich artikultierendes jüdisches kulturelles Leben.34 Aber es war deswegen keine „jüdische“ Stadt, schon gar kein Schtetl, und auch kein Infrastrukturcontainer zur Austragung von Nationalitätenkonflikten, in denen ab und zu auch Polen und Ukrainer als Pogromisten auftauchten, sondern in erster Linie eine europäische Großstadt, und auch in der zunehmend intoleranter werdenden Zwischenkriegszeit immer noch eine pulsierende Kultur- und vor allem Wissenschaftsstadt. Polnische Lemberger Wissenschaftler wie der Mathematiker Stefan Banach oder der Mikrobiologe und Wissenschaftstheoretiker Ludwig Fleck, der als Jude die deutsche Herrschaft in Galizien nur überlebte, weil die Besatzer sein Wissen für ihre Zwecke ausbeuten wollten, stehen für dieses Galizien der Moderne.35 Wer wiederum dem Alltag dieses modernen Lembergs als Einsteiger literarisch auf die Spur kommen möchte, kann beispielsweise in den 33 Aufschlussreich hier die Beiträge zur Tagung „Urban Jewish Heritage and History in East Central Europe“, Center for Urban History of East Central Europe, L’viv, 26.10.2008‒28.10.2008; BROWN, Biography, 2004, 52‒133. 34 Zur jüdischen Moderne in Lemberg EIDHERR/ HINRICHS, Vom Shtetl, 2007. Vom Ansatz her vorbildlich und solchen Tendenzen gegenläufig ist der Ausstellungskatalog, aus dem auch der genannte Beitrag stammt: SIMON/ STRATENWERTH/ HINRICHS Hg., Lemberg, 2007. – Meine Überlegungen zur Touristifizierung Lembergs beruhen auf persönlichen Eindrücken, welche ich während meiner langjährigen Aufenthalte in L’viv im Kontakt mit deutschsprachigen Touristen, Gaststudierenden sowie Anbietern solcher Reisen machen konnte. 35 Die Texte Flecks, welche nicht zuletzt auch aus der Erfahrung der transdiszipliniären Diskussion im Kontext der „Lemberger Moderne“ (Sylwia Werner) und aus der Erfahrung der wissenschaftlichen Zwangsarbeit unter KZ-Bedingungen entstanden, wurden in der Nachkriegszeit zur Pflichtlektüre der Wissenschaftstheorie: FLECK, Denkstile, 2011; WERNER, Lemberger Moderne, 2011. 55 – im Original polnischsprachigen – Erinnerungsbüchern von Stanisław Lem oder Józef Wittlin fündig werden, die dem Lemberg der urbanen Erfahrungen, dem Lemberg der Stadtparks, der Bahnhöfe und der Schulschwänzer einige schöne Betrachtungen widmen.36 Die genannten Kontroversen und Zweifel legen einen post-emphatischen und durchaus skeptischen Umgang mit Räumen kultureller Verflechtung nahe. Das bedeutet auch Skepsis gegenüber jener kakanisch-nostalgischen Interpretation, die eine imperial generierte und garantierte, positiv konnotierte kulturelle Vielfalt gegen die angeblich erst später folgende nationale Integration und kulturelle Gleichschaftung von Gesellschaften setzt. Heute wird in der ost- und ostmitteleuropäischen Geschichte ohne solche Wertungen eher danach gefragt, ob es die in die Zeit vor 1918 – oder vor 1939 – gedachten Formen von Grenzüberschreitung so je gegeben hat, und ob es „Formen der […] Begrenzung gibt, die sich nicht von vorneherein negativ auf gesellschaftliches und kulturelles Miteinander auswirken“.37 Zweifelsfrei weisen Ost- und Ostmitteleuropa Zonen besonderer Dichte von Kulturkontakten auf ‒ das betrifft vor allem die Sprachkontakte und die weitverbreitete Polyglossie. Gleichwohl richtet sich der Blick nun auch auf jene Interferenzformen, in denen Grenzziehungen oder sogar Konflikte auch als Regulationsmechanismen funktionieren. Damit rückt man ab von den legendären „verwischten Grenzen“ als einzig zulässiger Definition von Interaktion – verwischte und unterlaufene Grenzen, die Joseph Roth in Lemberg noch in den 1920er Jahren gesehen zu haben meint, also in einer Zeit, als sich die städtischen Öffentlichkeiten schon auf dem Wege rapider sozioethnischer und sprachlicher Segregation befanden.38 2. Interferenz, Mobilisierung, Urbanität: Die Rolle des städtischen Raumes 2.1 Interferenz auf dem Land und in der Stadt Auch Vorstellungen von vorgeblich besonders transkulturellen Identitäten und Verhaltensmustern, die Teil moderner Autostereotype (so der Juden oder der Bosnier) geworden seien, werden zunehmend differenziert. Wohnumgebungen und Lebenswelten, auch die situativ unterschiedliche Wahl einer sozialen Identität aus einer Menge von möglichen Varianten waren ein bedeutender Faktor für die Ausformung transkultureller Beziehungen. Die Nachbarschaft und räumliche Nähe im Dorf konnte zwischen ruthenischen Bauern und traditionell lebenden galizischen Juden, die als Handwerker oder Schankwirte bestimmte soziale Rollen 36 WITTLIN, Mein Lemberg, 1994; LEM, Das hohe Schloß, 1974. Kulturgrenzen im transnationalen Kontext, 2009. 38 ROTH, Lemberg, 1924; dazu WENDLAND, Stadtgeschichtskulturen, 2009; DIES., Nachbarn, 2002. 37 56 in der Agrargesellschaft bekleideten, spezifische (übrigens auch sprachliche) Gemeinsamkeiten und gemeinsame Interessen stiften. Hingegen mag zwischen dörflichen Schtetl-Juden und polyglotten, liberalen Lemberger jüdischen Bildungsbürgern nicht nur sprachlich, sondern auch hinsichtlich des religiösen Bekenntnisses viel Trennendes gelegen haben. Eines der wenigen literarischen Zeugnisse, welches dieses Phänomen sehr konsequent, d.h. unter seltener Berücksichtigung des ruthenischen Elementes, zum plot-bildenden Gestaltungsprinzip machten, ist die Romantrilogie „Funken im Abgrund“ von Soma Morgenstern,39 in der die kulturelle Grenze eher zwischen traditionalem Land und in die Moderne vorstoßender Großstadt, zwischen polnischen staatspolitischen Mehrheitsund ruthenisch-jüdischen lokalen Minderheitsinteressen verläuft als einfach zwischen Ruthenen, Polen und Juden. Als Liebespaar finden sich hier mehr allegorisch als historisch korrekt der wiedergeborene, ins Erbe seines Großvaters kommende Jude und das ukrainische Dorfmädchen zusammen, das dem Freund zuliebe zum Judentum konvertiert. Gleichzeitig kann man aber auch dieses Werk durchaus als quasi-roth’sche Idylle verstehen – das „Idyll“ erscheint auch im Titel des zweiten Bandes. Kontrapunktisch wird es als Zwischenkriegs-Utopie knapp an oder in den „Abgrund“, also bewusst ins Ostpolen der 1920er Jahre und nicht ins kakanische Galizien versetzt, obwohl es sich natürlich um dieselbe Region handelt. Aber vielleicht wollte Morgenstein einen späten Funken aus dem habsburgischen Erbe schlagen. Es war eine österreichische Erfahrung, dass Juden und Ruthenen, die von den Unterdrückten Unterdrückten, als die treuesten Untertanen des Wiener Kaisers galten, während die nationalen Ambitionen der Polen, großdeutschen Patrioten, Tschechen und Ungarn, die sich ja als die ersten Opfer der Völkergefängnisse verstanden, die dynastische Reichsidee und die traditionalen dörflichen Lebenswelten unter Druck setzten. Aber auch die Ruthenen lagen im Trend dieser Mobilisierung durch (oder mit) Segregation. An der Schwelle des 20. Jahrhunderts begann auch in den mehrheitlich ukrainischen oder auch jüdischen Dörfern Ostgaliziens die über Zeitungen, Vereine, nationale Läden und Schulen und Kirchenbruderschaften laufende Genese der Nationalgesellschaft gewachsene vertrauensvolle Alltagsverbindungen allmählich zu verändern und zu zerlegen, auch wenn solche Prozesse in der ukrainischen Gruppe wesentlich später zu beobachten sind als unter Polen, Tschechen, Slowenen oder Ungarn. Ganz abgesehen von der einen oder anderen literarischen Verdichtung lässt sich jedoch mit einiger Sicherheit feststellen, dass vornationale Transkulturalität sich in Galizien zum einen über die Teilhabe verschiedener Gruppen an einer universalen urbanen Hochkultur vollzog – zunächst der deutschsprachigen Stadtkultur, später auch der sich immer stärker durchsetzenden polnischsprachigen. Im zweiten Falle interferierten soziale Gruppen durch soziale Praxis, räumliche Nähe und geteilte Lebenserfahrungen – bei gleichzeitiger Bewusstheit und Akzeptanz von Grenzen, in diesem Falle der fast 39 MORGENSTERN, Funken, 1996. 57 undurchlässigen konfessionellen Trennlinie. So gesehen waren die galizischen Jüdinnen und Juden nicht „transkultureller“ als ihre ruthenischen Kommunikationspartner, sondern die Beziehung zwischen den beiden Gruppen war es. 2.2 Die Bedeutung der urbanen Erfahrung: Lemberg im 20. Jahrhundert Galiziens Geschichte und Nachgeschichte bietet aber auch viele Hinweise auf Formen der Auseinandersetzung von Menschen mit dem im 20. Jahrhundert erfahrenen rapiden Wandel von Lebenswelten zwischen Stadt und Land und den dadurch generierten Verwerfungen. Diese waren konstitutiv für die Entstehung von transkulturellen Beziehungen und die Produktion neuartiger Interferenzen. Nur endete diese Geschichte des galizischen Interferenzraums ganz und gar nicht mit der Geschichte Galiziens als administrativer Einheit. Auch ist sie kein galizisches Spezifikum, sondern genauso als Teil einer größeren europäischen, ja globalen Entwicklung begreifbar zu machen. Um diese Beobachtung soll es in den folgenden Abschnitten gehen. Der gebürtige jüdische Galizier Alexander Granach, der im Deutschland der Weimarer Republik Schauspielkarriere machte, beschreibt seine Ankunft in Lemberg, der ersten Großstadt seines Lebens, als Kontrastprogramm zur Kindheit auf dem südostgalizischen Dorf: Bahnhofshektik, Menschenmengen, riesige Neubauten, das Unterkommen bei Verwandten, die harte und mies bezahlte Arbeit als Bäcker in der „Arrival City“40. Diesen Erfahrungen der Fremdheit und der Überschüttung mit neuartigen Sinneseindrücken wird als Epiphanie der erste Besuch im (jiddischen) Theater – ebenfalls ein überwältigender Sinneseindruck – gegenübergestellt.41 Solche und ähnliche Fremdheitserfahrungen machten in der Generation Granachs und danach Millionen von Menschen in Osteuropa bzw. aus Osteuropa, sie sind typisch für die Migrationsmuster und Migrantengeschichten, die Doug Saunders jüngst auf allen Kontinenten sowie in den historischen Einwandererstädten Paris, London, Chicago und Toronto ausmachte, in denen seinerzeit „der Westen ankam“. Saunders identifiziert solche Migrationsbewegungen, die zumeist vom Land in die Großstadt führen, als das Lebenselixier moderner urbaner Gesellschaften.42 Bestimmte Muster wie die primäre Erfahrung von Fremdheit, Armut, Kriminalität; die harte Arbeit, der Pragmatismus und der Erfindergeist der Migranten mit dem Ziel des sozialen Aufstiegs, die Rolle der lokalen Migrantengemeinde als erste Zuflucht sind typisch für Land-Stadt-Migrationserfahrungen, wie sie auch im Galizien des 19. und 20. Jahrhunderts gemacht wurden. Diese Beobachtung gilt auch über die Epochengrenzen des Zeitalters der Weltkriege hinweg, also auch für Zeiten, als Galizien als solches schon längst der 40 41 42 SAUNDERS, Arrival City, 2001. GRANACH, Da geht ein Mensch, 52005. SAUNDERS, Arrival City, 2011, insbesondere 130‒160. 58 Vergangenheit angehörte und die ehemaligen galizischen Ruthenen als sowjetische Ukrainer die Großstädte eroberten. Für die galizische Moderne der Zwischenkriegszeit kann trotz aller Skepsis gegenüber den grenzenlos „verwischten Grenzen“ Joseph Roth als Kronzeuge herangezogen werden – und zwar nicht als Galizien-Mythologe, wie man es nach Lektüre seiner Romane vermuten könnte. Vielmehr äußerte er sich auch als Beobachter aus dem „Dazwischen“, der er selbst als gebürtiger Galizier und Korrespondent der „Frankfurter Zeitung“ war. Seine journalistischen Aufzeichnungen von 1924 sind ein einziges Zeugnis der Ambivalenz – auf der Ebene des Beobachters zwischen eigener Empathie zu den Subalternen und erworbenem kolonialen Blick auf die Eingeborenen, auf der Ebene der Beobachtung zwischen Fremdheit und Einebnung der Fremdheit, zwischen ewigem Verharren und pragmatischer, vorwärtsstrebender „Tendenz ins Weite“: Alle leben eigentlich von der einzigen produktiven Klasse: den Bauern. Die sind fromm, abergläubisch, furchtsam. Sie leben in scheuer Ehrfurcht vor dem Priester und haben einen maßlosen Respekt vor der „Stadt“, aus der die seltsamen Fuhrwerke kommen, die ohne Pferde fahren, die Beamten, die Juden, die Herrschaften, Ärzte, Ingenieure, Geometer, Elektrizität, genannt: Elektryka; die Stadt, in die man die Töchter schickt, auf dass sie Dienstmädchen werden und Prostituierte; die Stadt, in der die Gerichte sind, die schlauen Advokaten, vor denen man sich hüten muss, die gerechten Richter in den Talaren hinter den metallenen Kreuzen unter dem bunten Bild des Heilands, in dessen heiligen Namen der Mensch verurteilt wird zu Monaten und zu Jahren und auch zum Tode durch den Strang; die Stadt, die man ernährt, damit man von ihr leben kann, damit man in ihr bunte Kopftücher kaufe und Schürzen, die Stadt, in der die „Kommissionen“, die Verordnungen, die Paragraphen, die Zeitungen ausbrechen. So war’s, als der Kaiser Franz Joseph regierte, und so ist es heute. Es sind andere Uniformen, andere Adler, andere Abzeichen. Aber die wesentlichen Dinge ändern sich nicht.43 Die Stadt mobilisiert, vereinfacht, vermenschlicht, und es scheint, dass diese Eigenschaften mit ihren kosmopolitischen Neigungen zusammenhängt. Die Tendenz ins Weite ist immer gleichzeitig ein Wille zur selbstverständlichen Sachlichkeit. Man kann nicht feierlich sein, wenn man vielfältig ist. Sakrales selbst wird hier populär. Die großen, alten Kirchen treten aus der Reserve ihres heiligen Zwecks und mischen sich unter das Volk. Und das Volk ist gläubig.44 43 44 ROTH, Leute und Gegend, 1924, 281f. ROTH, Lemberg, die Stadt, 1924, S. 288. 59 Und das Volk? „Die Kiewer sind schon verrückt, leben übereinander, wie die Hühner im Stall.“45 Dieses Zitat über den rural-urbanen clash of civilizations stammt aus dem ostgalizischen Dorf Ostrivec’– dem Nachbardorf der Granachs übrigens – und wird in der Familie meines Mannes tradiert. Seine Großmutter, Varvara Osadčuk, geborene Sykora, die als Tochter landloser Bauern in der Nähe von Kolomyja aufwuchs und als junges Mädchen im Haus des lokalen polnischen Grundbesitzers die Böden schrubbte, lernte kurz vor dem Zweiten Weltkrieg von ihrem Mann Illja, der aus einer wohlhabenden Bauernfamilie stammte, lesen und schreiben – um mit dem Soldaten der polnischen Armee per Feldpost korrespondieren zu können. Sie war jünger als Granach, könnte aber eine Generationsgenossin von Soma Morgensterns Romanhelden sein. Tatsächlich werden auch einige Erinnerungen über die traditionale Rolle der wenigen jüdischen Familien im Dorf (ihre soziale Rolle als Inhaber der Schankwirtschaft, die ukrainisch-jiddische Zweisprachigkeit, Flurnamen, die auf jüdische Vorbesitzer hindeuten) in der Familie tradiert. Varvara selbst war keine klassische Großstadtmigrantin. Sie wechselte zwar mehrmals die Staatsbürgerschaft, aber nie ihren Wohnort. Der österreichischen folgte die polnische und dann die sowjetische Staatsbürgerschaft, letztere zunächst ohne Pass, denn bis Ende der 1960er Jahre hatten Dorfbewohner kein Recht auf Freizügigkeit innerhalb der Sowjetunion und folglich auch keine Papiere, in denen eine neue Meldebescheinigung hätte eingetragen werden können. Den arrival vollzogen hingegen Varvaras drei Söhne, die dem Dorf Ende der 1950er Jahre unter mehr oder weniger abenteuerlichen Begleitumständen den Rücken kehrten und Karriere in den sowjetukrainischen Großstädten Odessa und Kiew machten. Söhnen und Enkeln zuliebe begab sich Varvara ab und zu auf temporäre Migration und verbrachte mehrere Wochen am Stück in der Großstadt. Der innerfamiliär kolportierte Ausspruch, der aus dem sowjetischen PostGalizien stammt, steht für zwei Entwicklungen: Zum einen illustriert er, dass die Konfrontation mit neuen Lebensweisen, die immer zur kulturellen Interferenz gehört, zwar häufig, aber nicht notwendig infolge einer Bewegung der Individuen selbst geschehen muss. Zum anderen steht er für eine prinzipielle Haltung der Subalternen in Konfrontation mit der Welt der Dominanten, in die sie – die einen unvermittelt, die anderen schrittweise – hineingezogen wurden. Konfrontation mit neuen Lebensweisen und somit kulturelle Interferenz kann durch eigene Mobilität erzeugt werden, aber auch durch das Wandern von Grenzen über Individuen hinweg. In Varvaras Fall war dies die Grenzverlagerung zwischen imperial-österreichischen Grenzen, polnischen der Zwischenkriegszeit und sowjetisch-polnischen der Nachkriegszeit. Die Region (Ost-) Galizien wechselte ihre Ausrichtung auf Zentren und Subzentren mehrmals, aus Wien und später Warschau wurden schließlich – nachdem die neue Staatsgrenze den Ostvom Westteil des alten Galizien getrennt hatte – Kiew und das noch fernere 45 Varvara Osadčuk, geb. Sykora (1905–1982), Ostrivec, Rajon Horodenka, Oblast’ IvanoFrankivs’k (ehem. Stanislau/ poln. Stanisławów/ ukr. Stanyslaviv), über die sowjetische Großstadt (um 1975). Quelle: Interview mit Roman Osadchuk, Leipzig, 15.9.2010. 60 Moskau. Die Region aber verblieb in ihrer Position als Grenzland: Was einmal die nordöstliche imperiale Provinz und dann die südöstliche Peripherie eines polnischen National- und Zentralstaates gewesen war, wurde nun zur besonders sorgfältig überwachten und auch gewaltsam gemaßregelten äußersten SüdwestPeripherie der Sowjetunion. In der Anfangszeit bis Mitte der 1950er Jahre ist diese Beschreibung wörtlich zu nehmen, handelte es sich doch um ein Gebiet, in dem es immer noch bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen sowjetischen Sicherheitsorganen und nationalistischen ukrainischen Partisanen gab, in dem Verhaftungen, Deportationen in den GULag und politische Pressionen aller Art an der Tagesordnung waren. Auch die ökonomische Position des ehemaligen Ostgalizien als vorwiegend agrarische Provinz blieb zunächst erhalten. Gleichzeitig jedoch passierte nach der sowjetischen gewaltsamen Befriedung in den städtischen Zentren etwas für die Region tatsächlich Neues: die Ankunft der industriellen Moderne in Gestalt neu angesiedelter großer Industriebetriebe und der dadurch ausgelösten Migrationsprozesse. Aus galizischen Bauern wurden nun Arbeiter und Fachleute für Elektrotechnik, Maschinenbau und Erdölverarbeitung – bis auf letztere hatten solche Industrien in Galizien vorher nie eine nennenswerte Rolle gespielt. Joseph Roth hätte sich wohl nicht träumen lassen, dass in Galizien zwischen der elektryka und der Elektroindustrie, zwischen den Dienstboten und den Ingenieuren letztlich nur vier Jahrzehnte lagen, die Lebensspanne einer guten Generation. Im Zuge dieser Prozesse, die hier nur in ihren groben Umrissen skizziert werden, veränderten die galizischen Städte ihr Gesicht. Junge Ukrainer aus der galizischen Provinz erkannten in der Stadt ihre Chance, nachdem die diffuse Aussicht auf eine mit der Waffe zu erkämpfende staatliche Unabhängigkeit der Ukraine sich endgültig als Illusion erwiesen hatte und die zwangskollektivierte Landwirtschaft keinerlei ökonomischen Anreiz mehr zum Verbleiben im Dorf bot. Industriearbeit, Berufsausbildung oder Studium in der Stadt, das galt nun als die Formel für den Aufstieg, freilich unter den Bedingungen des Sowjetstaates. Diese Verlockungen wurden von der neuen Macht – insbesondere der poststalinistischen – auch bewusst eingesetzt, um die ideologisch und sprachlich von den Machthabern differente Bevölkerung zu gewinnen. Gleichzeitig erschien auch eine ganz neue Schicht von Akteuren in Galizien: die russischsprachigen Ukrainer und Russen aus der Dnjepr-Ukraine und anderen sowjetischen Regionen. Es handelte sich um Menschen, die seit zwei Generationen sowjetisch sozialisiert waren und oft bereits aus einer Großstadt stammten. Sie gehörten zur technischen Intelligenz oder waren Angehörige der administrativen und militärischen Nomenklatura; ihre Aufgabe war es, die neuerworbene Region zu entwickeln und an das neue Mutterland, die Sowjetukraine, anzuschließen – wieder einmal eine zivilisatorische Mission, wie sie in Galizien schon häufig vollzogen worden war. In Lemberg trafen diese moskali (wörtlich „Moskowiter“), wie sie genannt wurden, auf die galizischen Ukrainer, die neu in der Stadt waren, und in der Umgebung auf eine vor allem in agrarischen Berufen arbeitende Bevölkerung, die allen Repressionen zum Trotz ihrer traditionellen Religiosität anhing. Kulturelle Pluralität hörte also in Galizien, speziell in der Stadt Lemberg, nach der 61 Vertreibung der Polen und der Ermordung der Juden nicht auf, sondern sie wurde neu zusammengesetzt. In jedem Falle – ob österreichische, polnische oder sowjetische Phase – hatten sich die Region und ihre Bewohner sich nicht nur mit einer vorgefundenen Pluralität der Sprachen und Weltsichten zu arrangieren, sondern auch mit dem ordnenden, rekonfigurierenden, norm- und sprachstandardsetzenden Eingriff eines politischen Machtzentrums. Der Ausspruch von den sonderbaren Wohn-Gewohnheiten der Großstädter steht auch für historische Auseinandersetzungsformen mit der großstädtischen Moderne, wie sie uns auch viel früher, in der Erinnerungsliteratur über und von Land-Stadt-Migranten in Galizien seit dem Ende des 19. Jh. überliefert werden. Vor 1914, aber auch noch später war für jüdische wie ruthenisch-ukrainische Migranten in der Regel die Kronlandhauptstadt Lemberg die erste Station einer Konfrontation mit einer fremden urbanen Welt, der unter Umständen andere Stationen bis nach New York oder in den Schwerindustriegürtel des amerikanischen Mittleren Westens folgten. Zunächst bedeutete die Wanderung in die Großstadt eine Konfrontation mit fremden Wohn-, Arbeits- und Konsumwelten und mit neuen Lebensrhythmen. Im sowjetukrainischen Falle war das eine Auseinandersetzung mit neuen Formen des Wohnungsbaus und neuen Arbeitswelten, der für Millionen von Menschen mit dörflichem Hintergrund relevant wurde. Was Varvara Osadčuk über Kiew sagte, das sagten zur selben Zeit viele im galizischen Dorf gebliebene Alte über die Lebenswelt ihrer Kinder und Kindeskinder im neuen sowjetischen Lemberg-L’viv. Denn nicht so sehr Kiew als vielmehr die alte Regionalmetropole war die erste und vornehmliche Anlaufstelle für die in der Sowjetzeit mobilisierten galizischen Dorfbewohner. Diese Kinder nahmen beim Sprung in die Stadt etliche Lebensgewohnheiten mit, die auch die Stadt transformierten. Davon zeugen bestimmte Charakteristika des Alltagslebens und der Sozialbeziehungen in den Plattenbausiedlungen, und aus diesem Kontext stammen auch die Diskussionen über die Ruralisierung der sowjetischen Großstädte. Aber viel stärker transformierte die Stadt ihre Neubewohner selbst. Sowjetische Ausbildungsstätten und neuangesiedelte Industrien bestimmten nun die Lebensrhythmen, Lebensträume und Selbstverständnisse.46 Im sowjetischen Lemberg waren es Industriearbeit oder staatliche Berufs- und Hochschulausbildung, das hochstandardisierte Wohnen in der Plattenbauperipherie oder im Wohnheim, die das konfrontative Neue und Andersartige ausmachten, mit dem man sich arrangieren musste und aus dem man auch mannigfaltige Vorteile zog. Andere Erinnerungen und Verhaltensmuster gingen derweil verloren. Im Lemberg der Jahrhundertwende erschien den ukrainisch-ruthenischen halyčany und jüdischen galitsyanern das konfrontative Neue in Gestalt der jüngst fertiggestellten oder im Bau befindlichen repräsentativen Bauprojekte, welche den europäischen Anspruch und die habsburgisch-imperiale Prägung ihrer Erbauer widerspiegelten – Fernbahnhof, Stadttheater, Landesausstellungsgelände, Landtagsgebäude, Mietshauskomplexe; einer der bekanntesten (aber einer der besseren) wurde übrigens auch in der 46 BODNAR, Mihracija, 2007; DIES., L’vivs’ki seljane, 2012; Risch, The Ukrainian West, 2011. 62 Stadttopographie (wie in anderen polnischen Großstädten) als nowy świat, Neue Welt, ausgewiesen. Sowohl die Lemberger Migranten um 1900 als auch jene der 1950er und 1960er Jahre waren mit einer ungewohnten Sprachsituation konfrontiert: Während im 19. und frühen 20. Jahrhundert in den Dörfern und Schtetlech die orale Kultur des Alltags-Ukrainischen und -Jiddischen dominierte (die erst von städtischen Intellektuellen in die Produktion von Hochliteratur überführt wurde), war die Sprache Lembergs selbst in den griechisch-katholischen ruthenischen Familien das Polnische, bei älteren und gebildeten Stadtbürgern auch das Deutsche. Die Ankunft in der Hauptstadt bedeutete für die vormaligen Landbewohner auch eine vorher ungekannte Konfrontation mit hochkulturellen sprachlichen Rastern, ob in Schulen, Hochschulen, Verwaltungen oder in Vereinen und Medien. Das war für einen ukrainischsprachigen Migranten nicht nur das Polnische oder Deutsche, sondern auch die sich von den Dialekten stark unterscheidende ukrainische Schriftsprache. Die vielfältigen Reflexions- und Aneignungsleistungen der Betroffenen in dieser neuen Sprachumgebung sind ein beherrschendes Thema in der galizischen Erinnerungsliteratur. Dasselbe gilt aber auch für eine Zeit, in der Galizien für tot erklärt war und kulturelle Interferenz kein Thema mehr zu sein schien. Doch die Neu-Städter und Zuwanderer in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Junge Ukrainerinnen und Ukrainer, die nach dem Zweiten Weltkrieg nach Lemberg und in andere Großstädte einwanderten, landeten vor der Ära des neuen Städtebaus erst einmal in den Wohnungen und Häusern der vertriebenen Polen und der ermordeten Juden. Sie lernten repräsentative Gebäude kennen, welche nun die sowjetischen Verwaltungs-, Lehr- und Kulturinstitutionen beherbergten, deren Formensprache aber von der anderen imperialen Herkunft der Provinz sprach. Bestimmte Sprachregelungen, Konsumweisen, aber auch Bilder und Bücher hatten den Krieg in den städtischen ukrainischen Familien überstanden. Oft werden solche visuellen und habituellen Phänomene als „Palympsest“ bezeichnet: als Ergebnis eines Überschreibungsprozesses, das gleichwohl eine vorhergehende kulturelle Schreibschicht, oder deren mehrere, noch ahnen lässt. Die Nähe der polnischen Grenze ermöglichte zudem einen, wenn auch begrenzten, Austausch mit polnischen Besuchern, die modische Kleidung und westliche Schallplatten als Handelsgut mitbrachten. All das floss in die Stadtkultur der Nachkriegszeit ein, welche die Migranten als neu und anders empfanden und doch begierig aufsogen.47 Hinzu kam die Konfrontation mit der russischsprachigen Welt der aus dem Osten neu Hinzugekommenen. Diese Russischsprachigen besetzten zunächst die Schaltstellen in Verwaltung und Wirtschaft, wurden aber bereits in der Chruščev-Ära durch nachrückende ukrainische Funktionäre und neu ausgebildete Spezialisten bald in ihrer dominierenden Stellung abgelöst. Die in den 1960er Jahren sich allmählich vollziehende sprachliche Ukrainisierung der Stadt erfasste auch die vorher einsprachig-russischen Bevölkerungsteile. Im Ergebnis beobachten wir neue Interferenzformen, die sich in unterschiedlichem Maße im 47 RISCH, Ukrainian West, 2011, 53‒115. 63 städtischen Alltag, in Konsummustern oder auch in den – von den sowjetischen Behörden misstrauisch beäugten und mitunter auch verfolgten – urbanen Sub- und Jugendkulturen manifestierte. So überlagerten sich schließlich in der Subkultur ererbte galizische Sprachbesonderheiten und Traditionen, das Echo der begehrten, weltweit hegemonialen westlichen Popkulturen sowie allgemein-sowjetische, in russischer Sprache artikulierte gegenkulturelle Trends. 2.3 Galizien – ein Sonderfall? Kulturelle Interferenz – im Sinne eines Aufeinandertreffens, Sich-Verstärkens-, Sich-Aufhebens von kulturellen Einflüssen, aber auch (wie in der linguistischen Definition der kulturellen Interferenz) von kulturellen Missverständnissen und Übersetzungsfehlern – ergab sich also nicht a priori aus einer besonderen, Galizien-typischen ethnisch-konfessionellen Zusammensetzung, sondern vor allem aus sozialer und räumlicher Mobilisierung im 19. und 20. Jahrhundert. Fremdheitserfahrungen und Anpassungs- und Aneignungsprozesse zu ihrer Überwindung wurden weniger durch die polyethnische Gesellschaft als solche generiert: Diese gab es vor 1939 auch auf dem Lande, wo die vielfältigen ökonomisch-sozialen Konfliktlagen sich häufig mit ethnisch-kulturellen Zuschreibungen deckten. Gleichwohl wurden sie dort mit dem bewährten Instrumentarium der Gewohnheiten und Traditionen verstehbar, erklärbar, handhabbar gemacht. Wer mit dieser Umgebung brach, der musste auch mit dem Verlust dieser Berechenbarkeit, mit der Aufgabe der Einbettung in gewachsene familiäre und soziale Kontexte bezahlen – auch dies ein großes Thema in schriftlichen Zeugnissen über Galizien, auch jenen, die sich mit Migrationserfahrungen nach dem Ende Galiziens als administrativer Einheit auseinandersetzten. So ergab sich die wirkliche Fremdheitserfahrung erst durch den Ausgang des Individuums aus seiner gewohnten Lebenswelt, gründete er nun auf eigener Entscheidung oder auf von außen auferlegten Zwängen. Und dieses Erlebnis war nicht auf die Geschichte Galiziens im engeren Sinne – also die Zeit vor 1918 – beschränkt, sondern war in der Geschichtsregion eine Konstante des gesamten 20. Jahrhunderts. Mit Blick auf die menschlichen Differenz- und Kontingenzerfahrungen in der anbrechenden Moderne war Galizien jedoch kein besonderer Schauplatz, sondern Mit-Schauplatz eines gesamteuropäischen Prozesses, der im 19. Jahrhundert einsetzte und im 20. größtenteils vollendet wurde. Zeitversetzt erfassten ähnliche Phänomene der Modernekonfrontation die Bewohner ländlicher Räume vom französischen Zentralmassiv über das Saarland bis zu den ostfriesischen Kolonisationsgebieten, in den Einzugsgebieten von Berlin, Warschau und Lodz genauso wie jenen Moskaus und Jaroslavl’s; in den Schwerindustriebezirken in Lothringen, an der Ruhr, im Donbas-Dnjepr-Raum. Wenn die preußischen Militärs und Ingenieure in den Watten und Marschen um das spätere Wilhelmshaven der Landschaft und ihren Bewohnern ihr Regelwerk, ihre monumentalen Bauwerke, ihre Sprache und ihre militärisch-ökonomischen 64 Bedürfnisse auferlegten,48 war dies ein nicht weniger massives kulturelles Interferenzereignis als die Durchsetzung der österreichischen, später polnischen und sowjetisch-russischen Verwaltungsstrukturen und Wirtschaftsordnungen im ostgalizischen Dorf. Wenn der Bismarck-Staat und seine Lokalbehörden mit den religiösen Vorstellungen und sozialen Befindlichkeiten katholischer Nebenerwerbslandwirte und Bergarbeiter zusammenprallten und diese dann entsprechende Abwehr- oder Vermeidungsstrategien entwickelten, war dies eine nicht minder heftige Konfrontation und Interferenzerfahrung, als wenn die religiöse Vorstellungswelt eines jüdischen Rekruten aus dem Ansiedlungsrayon auf die gewaltförmige Normdurchsetzung in der zaristischen Armee traf. Ein gewichtiger Unterschied allerdings bestand darin, dass das „Zeitalter der Extreme“ (Hobsbawm)49 zwischen 1914 und 1946 für die osteuropäischen Referenzregionen unserer Überlegungen eine ungleich dichtere Abfolge von gewalttätigen Herrschaftswechseln bereithielt. Auf die Bedeutung solcher Gewalterfahrungen für die Galizier komme ich unten noch einmal zurück. 3. Zeitlosigkeit vs. Historizität 3.1. Historische Präfigurationen des Interferenzraums Galizien In Joseph Roths Galizien-Reportagen der 1920er Jahre klang die Zeitlosigkeit oder das ewig Verharrende selbst in der galizischen Moderne an; Dietlind Hüchtker zufolge ist die Positionierung Galiziens als besonders herausgehobener ost-westlicher Interferenzraum „wie eine klassische Mythologie zeit- und raumlos“, ohne überprüfbaren Ursprung diskursiv naturalisiert worden.50 Dieser Aussage kann aus geschichtswissenschaftlicher Sicht durchaus widersprochen werden, denn die historisch-faktischen Ursprünge dieser Fremd- und Selbstzuschreibungen sind ganz unmythologisch und in der polnischen wie ukrainischen (wenn auch nicht der deutschsprachigen) Erinnerungskultur über Galizien tatsächlich als historische Zusammenhänge präsent. Diese Ursprünge der ostmitteleuropäischen Galizien-Mythologie – die aber genaugenommen auch andere östliche Grenzgebiete des historischen Polen umfasst – liegen historisch noch vor der habsburgischen Geschichte der Provinz. Sie gründen in den durch die politischen Machtverhältnisse und die Zugriffsmöglichkeiten auf damalige globale Ressourcen bestimmten voraufklärerischen Konzeptionen europäischer Grenzräume des Christentums. Solche Konzeptionen eines christlichen antemurale, welche vorgängige Motive der römisch-imperialen Barbarengrenze übernahm, sind für Polen-Litauen gut 48 49 50 BLACKBOURN, Eroberung, 2007. HOBSBAWM, Zeitalter der Extreme, 72004. HÜCHTKER, „Mythos“, 2002. 65 belegt.51 Allerdings war diese Vormauer durchaus nicht hermetisch. Über Jahrhunderte hatte das galizische Städtenetz eine bedeutsame ökonomischkommunikative Funktion im polnischen Orient-Fernhandel, der stark von jüdischen und armenischen Kaufleuten geprägt war. Auf der anderen Seite kam Lemberg eine historischen Funktion als Knotenpunkt sozial-rechtlich-politischer Okzidentalisierung im östlichen Grenzland des Königreichs Polen zu: Stadtrecht des deutschen Magdeburger Typus und die daraus sich ergebende korporative Gliederung und Machtverteilung in der Stadt waren hier vorbildlich ausgeprägt und strahlten auf die gesamte Region aus. Die frühe, vornationale Konsolidierung nichtdominanter christlicher Gruppen wie der Ruthenen und Armenier geht unter anderem auf diese verfassungsgeschichtlichen Besonderheiten zurück; aber auch die jüdische Gemeinschaft hatte in diesem Stadtsystem, gesichert durch königliche Privilegien, trotz der von Kirche und Patriziat ausgehenden Pressionen ihren festen Platz. Im Grunde handelt es sich hier um einen jener Fälle, in denen – verrechtlichte – Grenzziehungen zur Stabilisierung von Gemeinwesen beitrugen und gleichzeitig den Rahmen schufen, in dem sich die kulturellen Interferenzen des vornationalen Zeitalters ausbilden konnten.52 Frühneuzeitliche Lemberger Stadtmythologien verweisen darauf: Die galizische Metropole rühmte sich ihres Rufes als politisch-militärische civitas semper fidelis, die stets treue Bürgerfestung der Rzeczpospolita in den Kosakenund Schwedenkriegen des 16. bis 18. Jahrhunderts. Es wird überliefert, dass in dieser Zeit polnische römisch-katholische, ruthenische und armenische orthodoxe (später unierte) und auch jüdische Bürgerwehren mit Piken und Musketen bewaffnet die Stadtmauer bemannten.53 Eine immer wieder zitierte Überlieferung solcher wehrhafter Urbanität im vornationalen Zeitalter der Leopolis triplex (gemeint ist damit die Dreieinigkeit der christlichen Konfessionen)54 ist die Verweigerung der Herausgabe der Lemberger Juden an die kosakischen Belagerer unter dem ukrainischen Hetman Bohdan Chmel’nyc’kyj Mitte des 17. Jahrhunderts, welche dank einer finanziellen Abfindung durch die Stadt und das Lemberger Erzbistum von ihren Forderungen abließen. Auch wenn die Geschichte dieses Verhandlungsprozesses in Wirklichkeit viel komplexer war – dies ist die mythologische Kristallisation im Stadtgedächtnis.55 3.2 Interferenz und Konflikt – Konflikt als Interferenz Wie also die in der Vormoderne und in vor-ethnischen urbanen Identitäten wurzelnde Interkulturalität der Region auf quellensicherer Grundlage steht, so tun 51 WENDLAND, Semper fidelis, 2002; HEIN-KIRCHER, Antemurale, 2006. Winfried EBERHARDT in diesem Band; KAPRAL, Nacional’ni hromady, 2003. 53 WENDLAND, Semper fidelis, 2002. 54 Diese Bezeichnung geht auf den polnischen Historiker Bartłomej Zimorowicz (1597‒1677) zurück: ZIMOROVYČ, Potrijnyj L’viv, 2002. 55 WENDLAND, Semper fidelis, 2002; PAPÉE, Historia, 1924, 117‒154; SERCZYK, Na płonącej Ukrainie, 1999, 149‒157. MELAMED, Evrei, 1994. 52 66 dies auch die Konfliktträchtigkeit und der rapide Wandel der galizischen gesellschaftlichen Verhältnisse, die einer Idealisierung und Affirmation der Verhältnisse eigentlich gar nicht zuträglich sind. Konflikt war in Galizien aber auch immer Interferenz: mobilisierte Gemeinschaften kommen sich ins Gehege, weil die Ressourcen neu verteilt werden müssen, und in diesem Prozess lernen sie voneinander. Werfen wir einen Blick in die Parlamentsprotokolle, Gerichtsakten und Zeitungskorrespondenzen aus der Region zwischen der 1848er-Revolution und dem Ersten Weltkrieg, so treffen wir auf kollektive und individuelle Akteure, die pointiert und zäh ihre sozialen, ökonomischen und kulturellen Besitzstände und Ziele gegen Ansprüche des österreichischen Staates wie gegen die Ansprüche konkurrierender Gruppen verteidigen – ob dies nun der polnische Adel im Zeitalter der Grundentlastung und der Demokratisierung der polnischen Bewegung war oder die neuen sozialen Aufsteiger aus den jüdischen und ruthenischen Milieus, die sich an den Universitäten, in den Behörden, in den Professionen mit polnischen Konkurrenten auseinandersetzen mussten. Wir treffen ab den 1860er Jahren ein ungeheures Maß an sozialer Mobilisierung, bäuerlicher Selbstermächtigung und Selbsthilfeinitiative an, das so gar nicht in die galizischen Klischees einer in der Vergangenheit verharrenden und angeblich nur deshalb transnationalen Feudalgesellschaft passen will. Seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts haben wir es mit prozessierenden und streikenden Bauern zu tun, mit jüdisch-ruthenischen Wahlplattformen, mit Lesevereinsgründerinnen und -gründern, mit hochengagierten Parlamentariern, mit Frauenorganisationen, Gewerbeausstellungsorganisatoren, jüdischen Mäzenen und wahlkämpfenden Schullehrern und Provinzpfarrern, die hergebrachte Vorstellungen von einem Land im Windschatten der Moderne infragestellen.56 Das Lernen vom politischen Gegner, auch das Imitieren von Mobilisierungsformen oder kulturellen Mustern, die man für maßgeblich hielt, waren dabei von großer Bedeutung. So waren Symbolpolitik, politische Kulturen oder Zielsetzungen der galizischen Polen und Ukrainer oft auf das Engste aufeinander bezogen.57 Auch die berüchtigten, im Westen Österreichs und in Zentraleuropa als solche bezeichneten „galizischen Verhältnisse“ waren im Grunde weniger Ergebnis einer feudal-kolonialen Stagnation als vielmehr Konsequenz der – mitunter brachial verlaufenden – Integration Galiziens in eine gesamtösterreichische politische und ökonomische Sphäre. Somit gehörte der politische Konflikt, der mit Bestechung, Polizeigewalt, bewaffnetem Widerstand gegen diese einherging, zur galizischen Moderne genauso wie die Ersetzung der bäuerlichen Heimarbeitsproduktion durch die auf den Eisenbahnlinien hereinströmenden Billigwaren aus anderen Kronländern und dem Ausland – zu einer Zeit, als sich in manchen Regionen Galiziens junge Aktivisten überhaupt erst aufmachten, um eine Bestandsaufnahme der verschwindenden traditionalen materiellen Kultur zu machen. Auch die allmähliche Segregation der immer komplexer werdenden und sich medial differenzierenden öffentlichen Sphären, in denen der Sprachwahl bald die 56 57 Zur Bedeutung der Parlamentarisierung in diesem Zusammenhang BINDER, Galizien, 2005. WENDLAND, Macht und Medien, [im Druck]. 67 Ineinssetzung von Sprachgebrauch und ethnischer Zuschreibung folgte, sind Teil dieser Modernegeschichte. Lasen die Lemberger Städter um 1850 nur eine Zeitung, nämlich das amtliche Verlautbarungsorgan „Lemberger Zeitung/ Gazeta Lwowska“, gab es seit den 1880er Jahren eine Vielzahl (nach politischer Ausrichtung unterschiedene) polnische, jüdische, ruthenische Tagespresseprodukte, die ihre Leser wiederum ungleich stärker mit der galizischen Provinz vernetzten, als dies im vornationalen Zeitalter möglich gewesen war. Mitten in diesem beispielhaften Prozess der Bildung nationaler Kommunikationszusammenhänge wurden aber auch gleichzeitig die Voraussetzungen für die Grenzüberschreitung geschaffen. Es lasen, schrieben und kommunizierten eben nicht alle Polen, Ruthenen, Juden, Deutsche nur in und mit ihrer eigenen Gruppe, sondern eifrig über deren Grenzen hinweg – anders sind die damals üblichen, ausgedehnten Leserbriefpolemiken, Artikel, Gegen-Artikel, Gegen-Gegen-Artikel und das unablässige gegenseitige Kommentieren überhaupt nicht denkbar. Konflikt und Kommunikation waren dabei zwei Seiten derselben Medaille galizischer Interferenzen. Die Betonung des Kontakts ohne Konfrontation kam eigentlich erst im Nachhinein nach Galizien – massiv erst nach seinem Untergang als Verwaltungseinheit im Ersten und seiner Vernichtung als Aggregat kulturell differenter Sozialmilieus nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Zeitgenossen, die uns in den nicht-literarischen Quellen ansprechen, sahen ihre Region viel unprätentiöser und nüchterner; für sie war auch die Analyse der galizischen Armutsökonomie nicht der Anlass zu einer Essentialisierung und Exotisierung der Armut und des Schmutzes, sondern der Ausgangspunkt zum Raisonnieren – oder auch produktivem Streiten – über eine Entwicklungsregion mit großem Potenzial.58 3.3 Interferenz und Segregation in der Zwischenkriegszeit Dieser streitbare Grundkonsens wurde nach 1918 – und nach dem Verschwinden Galiziens als administrativer Einheit – insofern ausgehöhlt, als nun nicht mehr regionale Akteure mit einem relativ fernen Zentrum die Prämissen der Entwicklung ihres Kronlandes diskutierten, sondern ein relativ nahes Zentrum – Warschau – der nunmehr südöstlichen Peripherie seinen Takt vorgab. Insbesondere in den dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts wandelte sich auch der Blick des neuen Zentrums auf die Peripherie. Als Voraussetzung für eine erfolgreiche Integration der Peripherieregion galt jetzt nicht mehr – wie noch in den Visionen Piłsudskis – die allmähliche Integration der disparaten Traditionen unterschiedlicher Geschichtsregionen, so auch jener Galiziens, in die neue Republik Polen, sondern die Nivellierung und schrittweise Assimilierung. In jene Zeit fiel eine der glanzvollsten Epochen galizisch-Lemberger Stadtkultur, welche sich dem Provinzialisierungsdruck entgegenstemmte, aber auch eine neue Phase von nie gekannter Entsolidarisierung und Segregation im politischen Alltag, die 58 WENDLAND, Eindeutige Bilder, 2009; HÜCHTKER, „Mythos“, 2002. 68 zunehmend in die Ausschließung bestimmter Bevölkerungsgruppen (Juden, Ukrainer) von politischer und gesellschaftlicher Teilhabe mündeten und die Präfiguration für die anschließenden gewaltförmigen Umwälzungen herstellten.59 Die Entwicklungen in der Stadt sind dabei vor dem Hintergrund einer allgemeinen Umwälzung in der gesamten südostpolnischen Region zu sehen. In den 1930er Jahren wurde physische Gewalt in Friedenszeiten ein häufiger Begleiter des zwischennationalen politischen Alltags. Diese Gewalt ging von Polen und Ukrainern, von staatlichen wie nichtstaatlichen Akteuren aus. Ihre Veralltäglichung war sicherlich ein Qualitätssprung im Vergleich zur österreichischen Zeit – das Jahrzehnt vor 1914 ausgenommen, als solche Vorkommnisse noch als bedauerliche und entsprechend skandalisierte Ausnahme wahrgenommen wurden. Die politischen Morde ukrainischer Ultranationalisten, die Unterdrückungspolitik Warschaus gegen ukrainische und belarussische Oppositionelle bis hin zur Inhaftierung und Deportation in Lager, die Polizei- und Militärgewalt bei der Niederschlagung passiven Widerstandes auf den Dörfern, die Verunsicherung durch den Aufstieg NS-Deutschlands und der Stabilisierung der stalinistischen Sowjetunion produzierten eine Atmosphäre der Unsicherheit und der zunehmenden Militarisierung des Alltags. Das weitere Umland Lembergs war auch das Grenzvorland der neuen, als gefährdet und gefährlich empfundenen sowjetischen Grenze, über die sowjetukrainische Propaganda und kommunistische Partisanen einsickerten; Sicherheit durch militärische Ausbildung von Zivilisten, Aufrüstung der gefährdeten Regionen, verschärfte Kontrolle und schließlich Ausschaltung von Bedrohungsfaktoren – beispielsweise lästiger ukrainischer Agitatoren – war das beherrschende Thema jener Jahre.60 Hier können allerdings auch Parallelen zur Vorkriegszeit des Ersten Weltkriegs gezogen werden, als die österreichischen Behörden ebenfalls Galizien als Herd der Unruhe und Unsicherheit betrachteten und Ängste vor Infiltration und Spionage im Grenzland zum Russischen Reich schürten. Die Angst vor dem Kontrollverlust hat also schon ältere Wurzeln und wurde nicht erst im Zwischenkriegspolen erfunden. 3.4 Die Transformation der urbanen Raumbilder Schleichend vollzog sich auch ein Funktionswechsel der Regional- und Verwaltungsmetropole Lemberg zu einem faktisch und diskursiv befestigten Vorposten Polens im feindlichen nichtpolnischen Grenzgebiet. Schon lange vor 1914 hatte es, je nach kultureller Gemeinschaft, in Lemberg verschiedene Visionen des städtischen Raumes gegeben, die aber durchaus „interferierten“, d.h. an entscheidenden Stellen einander überlappten. Aus polnischer Sicht war Lemberg eine polnische Stadt mit einigen bunten, die Polonität aber nicht ernsthaft in Frage stellenden Einsprengseln, die ihre Besonderheit markierten und meist als kulturelle Bereicherung – polnische Einheit in kultureller Vielfalt – 59 60 WENDLAND, Nachbarn, 2002. SCHENKE, Nationalstaat, 2004. 69 dargestellt wurden; „nationale“ Konflikte um Raumverfügung und städtische Ressourcen wurden aus dieser Sicht lange Zeit noch als Störung einer bewährten Ordnung und Werk einiger weniger Außenseiter und Krawallmacher gesehen. Gleichwohl blickte man bang auf die große nichtpolnische Provinz im Hinterland der Stadt: Aus dieser Perspektive war Lemberg eine Insel, aber eine vorerst glückliche Insel. Aus ukrainischer Sicht war nicht die Stadt, die beanspruchte historische Metropole, eine Insel, aber die eigene Existenz in der Stadt wurde als inselhaft wahrgenommen. Es gab keine ruthenischen Viertel – so gesehen war die ruthenische Stadtbevölkerung unsichtbar, denn sie verteilte sich überall in der Stadt, die Eingesessenen waren überdies sprachlich stark akkulturiert an die polnische Umgebung. Die Zugewanderten, die Dienstleute und Vorstadtarbeiter (und natürlich auch die Roth’schen Prostituierten) blieben stumm und ohne Wahlrecht. Aber es gab überaus gut sichtbare und weichbildprägende Kristallisationspunkte der Ruthenischkeit Lembergs, von denen seit der Etablierung eines ukrainischen Vereins- und Publikationswesens sichtbare und unsichtbare Verbindungen bis weit ins Land reichten. Die Raumvision der Ukrainer von L’viv war somit eher der zentrale Ort, der endlich wieder in ein eigenes, ukrainisches, Recht eingesetzt wurde. Jedoch, das ist wichtig festzustellen, gab es einige urbane Landmarken, die auf ruthenischen Inseln lagen, aber für Lemberg als Gesamtorganismus genauso wichtig waren wie für die Teilgruppe der ruthenischen Städter. Dazu gehörte der St.-Jura-Berg mit dem griechisch-katholischen Metropolitensitz und das mittelalterliche ruthenische Viertel mit dem Korniak-Turm aus der Renaissance, während das nach 1948 neu hinzugekommene, mit Unterstützung der Zentralregierung ruthenisch umdefinierte Gebiet rund um das ruthenische Nationalhaus61 und die ruthenische Stadtkirche nicht in das Gesamtraumbild einging. Die Skyline Lembergs, die in unzähligen Visualisierungen zitiert wird, war tatsächlich (christlich-) transkulturell: Dominikanerkuppel, Armenische Kirche, Rathausturm, Lateinische Kathedrale, Korniak-Turm, mit den Höhenmarken Schlossberg und Juraberg. Die Lemberger Synagogen konnten nicht zu dieser Skyline der Sakralbauten gehören, weil sie aufgrund der diskriminierenden historischen Bauvorschriften wesentlich niedriger waren – sie waren wahrnehmbar, aber nicht salient. Der Lemberger Schlossberg war für lange Zeit multikonnotiert: hier koexistierten die Raumbilder „ruthenischer Stadtgründungsort“, „Ort des polnischen Neuanfangs“ (der Ort des Kasimir-Schlosses und Machtzentrum der polnischen Neugründung der Stadt im 14. Jahrhundert), sowie „polnisch-patriotische Pilgerstätte“, seit dort 1869 der Lubliner-Unions-Gedenkhügel aufgeschüttet worden war. Letztere Aktion war ein relativ früher polnischer Eingriff in die gefühlte Parität, der Versuch, einen kulturell uneindeutigen oder eben paritätischen Erinnerungsort mit polnischer Gewichtung zu vereindeutigen, was heftige Proteste der galizischen Ruthenen nach sich zog.62 Insofern ergibt sich ein interessantes Vergleichs-, aber auch Gegenbild zu den Inszenierungen „deutscher“ und „polnischer“ Stadträume in 61 62 WENDLAND, Macht, [im Druck]. PROKOPOVYCH, Kopiec, 2006; DERS. Habsburg Lemberg, 2009. 70 Posen vor 1918.63 Die Juden wiederum hatten sichtbare, durch die spezifische Dichte an jüdischen religiösen und sozialen Institutionen sowie an Ladenschildern und Aufschriften in hebräischen Lettern erkennbare Wohnbezirke. Diese waren aber nicht abgeschottet, und es waren viele nichtjüdische Elemente und auch Bewohner in sie verwoben, abgesehen von der Durchlässigkeit für Auswärts- und Aufwärtsbewegungen jüdischer Städter, die in die renommierten „polnischen“, katholisch dominierten Bürgerviertel umzogen. Soweit die urbane Raumsituation am Vorabend des ersten Weltkrieges. Die Kriegsund Bürgerkriegsereignisse, auf deren Verlauf und Brutalisierungswirkungen hier im Einzelnen nicht eingegangen werden kann,64 brachten jedoch eine für alle Stadtbewohner wahrnehmbare Umwertung der Räume: Im November 1918, während der ukrainisch-polnischen Kämpfe um die Stadt, bedeutete der Aufenthalt im falschen Viertel oder die Zurechnung zur falschen Gemeinschaft Gefahr für Leib und Leben, und auch lange Jahre danach wurde der städtische Raum in der Kriegserinnerung deformiert und neu zusammengesetzt.65 In der Zwischenkriegszeit sorgte die Militarisierung des Straßenbildes, die öffentliche Inszenierung der Erinnerung an den polnischukrainischen (und auch polnisch-sowjetischen) Krieg für eine Neuanordnung urbaner Raumbilder. Lemberger Nichtpolen, vorwiegend Ukrainer (bzw., was für die Zuordnung oft schon ausreichte, Griechisch-Katholische) und Juden, waren aus diesen Repräsentationsformen qua abweichender historischer Erinnerungen, nämlich jene an die militärische Niederlage und an den von den polnischen Siegern 1918 inszenierten Judenpogrom, ausgeschlossen. Staat und Gesellschaft wurden als Veranstaltung der katholischen Polen, aber nicht der Bürger Polens angesehen. Lokale Auseinandersetzungen zwischen Studierenden an der Universität, Ghettobänke, pogromähnliche Ausschreitungen gegen nichtpolnische Läden am Rande von nationaldemokratischen Demonstrationen waren die urbane Begleitmusik dieser Jahre der Angst – wie gesagt, in durchaus paradoxer Überlagerung (auch das ist Interferenz) mit frappierenden kulturellen und wissenschaftlichen Errungenschaften, die sich zur gleichen Zeit in der Stadt Bahn brachen, dem Festhalten an aus österreichischen Zeiten ererbten urbanen Freizeitformen und Konsumweisen in Kaffeehäusern, Ballsälen und Theatern, oder der Aneignung neuer Konsummuster in Kinos, Jazzlokalen und Sportarenen.66 4. Postkoloniale Ansätze und Interferenz 63 64 65 66 Dazu der Beitrag von Andreas R. HOFMANN in diesem Band. Dazu umfassend MICK, Kriegserfahrungen, 2010. WENDLAND, Nachbarn, 2002. WENDLAND, Post-Austrian Lemberg, 2003; MICK, Kriegserfahrungen, 2010. 71 In den vorhergehenden Abschnitten habe ich versucht, die verschiedenen Erscheinungsformen kultureller Interferenz sowohl im historischen Galizien als auch in seinen Nachfolgeterritorien zu skizzieren. Dabei habe ich der Erfahrung der sozialen und räumlichen Mobilisierung, der Rolle der Stadt und auch dem konflikthaften Ereignis wichtige Funktionen zugesprochen und in zweifacher Hinsicht meiner Skepsis Ausdruck gegeben: einerseits gegenüber allzu emphatischen Sichtweisen von kultureller Interferenz oder „Hybridität“, andererseits gegenüber einer Essentialisierung Galiziens als eines historisch und geografisch einzigartigen Referenzraumes kultureller Interferenz. Galizien ist ohne Zweifel ein faszinierendes Beispiel, aber weder sind Interferenzerfahrungen am Ostrand Ostmitteleuropas an die administrative Einheit Galizien in ihrer historischen Existenz als habsburgisches Kronland und seine spezifischen historischen Akteure gebunden, noch ist Galizien innerhalb Europas eine Ausnahmeregion. Vielmehr sind emphatische und essentialisierende Sichtweisen oder auch Selbstsichten galizischer kultureller Interferenz ihrerseits als historischpolitische Phänomene der (meist im Nachhinein) rezipierenden Gesellschaften analysierbar. Gleichwohl gibt es einen Anlass, der nach den Exkursen ins polnische und sowjetische Post-Galizien die Rückkehr zum eigentlichen, dem habsburgischen Galizien gerechtfertigt erscheinen lässt. Denn viele der in diesem Beitrag geäußerten Überlegungen können auch im Zusammenhang der kritischen Diskussion um koloniale, quasi-, halb- oder postkoloniale Verhältnisse des Habsburgerreiches und seiner Nachfolgestaaten gesehen werden. In diesem Abschnitt möchte ich daher am Beispiel Galiziens abschließend einige Themenfelder ausweisen, bei deren Erforschung sich postkoloniale Methoden der historischen Analyse fruchtbar machen lassen.67 Einige in den vorigen Abschnitten angesprochene Beispiele und Beobachtungen lassen sich auch diesen Themenfeldern zuordnen. Machtverhältnisse und Diskurse an den Peripherien Österreich-Ungarns könnten so angemessen beschrieben und die Vergleichsmöglichkeiten zu anderen imperialen Peripherien offengehalten werden – auch dies wäre ein Beitrag zu meinem Anliegen der historischen und analytischen Kontextualisierung Galiziens als eines wichtigen kulturellen Interferenzraumes unter anderen. Allerdings ist dabei zu beachten, dass die historischen Akteure unserer imperialen Peripherie, auch wenn sie sich als indigen verstanden und inszenierten, sich nicht wie die indigenen Emanzipatoren der überseeischen Kolonialgesellschaften auf eine prinzipielle kulturelle Andersartigkeit bezogen. Vielmehr beriefen sie sich auf dieselben Wertesysteme wie die imperialen Hegemonen: Fortschritt, Bildung, Entwicklung, Europäizität, häufig auch christliche Werte. Kritik an den quasi kolonialen Verhältnissen wurde meist in eine Kritik an der Verteilung ökonomischer und politischer Ressourcen gekleidet. Der Vorwurf an das Zentrum lautete dann, dass der Weg der Peripherie 67 Der folgende Abschnitt baut in wesentlichen Punkten auf einem andernorts veröffentlichten kurzen Text auf, Wendland, Galizien postcolonial? Imperiales Differenzmanagement, mikrokoloniale Beziehungen und Strategien kultureller Essentialisierung (2013). 72 nach Europa blockiert werde, wie Klemens Kaps in seiner Untersuchung galizischer Wirtschaftsdiskurse zeigt.68 Gleichwohl scheint mir eine postkoloniale Perspektivierung für unsere Fragestellung sinnvoll, weil sie die Machtbedingtheit kultureller Interferenz besonders offenlegt. Dabei geht es nicht um kulturelle Überformung durch vornational-dynastische bzw. –ständische oder moderne imperiale Herrschaft allein, wie sie umfassend in der Geschichte Ostmitteleuropas als einer Geschichte von polykulturellen Königreichen und Imperien, insbesondere des österreichischen, angesprochen wird.69 Vielmehr hat auch die Geschichtsforschung über das Habsburgerreich sich mit postkolonialen Theorieangeboten auseinandergesetzt, weil sie neue Erkenntnisse über lokale und mikrohistorische Machtverhältnisse, aber auch über Konfliktlagen versprechen. Interessant werden hier - die Beziehungen zwischen Herrschenden verschiedener Ordnungen bzw. Reichweiten und Beherrschten; - die Rolle ökonomischer Integration im imperialen Verband und zunehmend auch in eine global vernetzte Wirtschaft; - die Bedeutung der oben angesprochenen, in den Quellen kaum zu Wort kommenden Subalternen; - die Rolle von gewaltförmiger Interaktion; - schließlich die Rolle von reaktiver Selbstessenzialisierung der Beherrschten, die auch als Interferenzereignis gelesen werden kann. Die Referenzräume Galizien und Bosnien spielen in einer postkolonial inspirierten Perspektive auf die Aushandlung und Regulierung kultureller Differenz im Habsburgerreich eine besonders herausgehobene Rolle. Gleichzeitig sind sie interessante Sonderfälle imperialer Herrschaftsausübung. Galizien und Bosnien waren keine Kolonien im Sinne der klassischen Definition, da die österreichische Hegemonialmacht hier – mit Ausnahmen, auf die zurückzukommen sein wird – nicht auf Unterwerfung und rechtliche Segregation zum Zwecke ökonomischer Ausbeutung, sondern eher auf die Nivellierung von ökonomisch-politischen Unterschieden und Durchsetzung einer allgemeinen Staatsbürgerschaft zielte. Andererseits finden wir in den beiden Provinzen viele Verfahrensformen, die ohne Zweifel Kolonialverhältnissen sehr ähneln. Gleichzeitig waren diese Verfahren von großer Bedeutung für die Konstitution kultureller und auch politischer Interferenzen zwischen Herrschenden und Beherrschten verschiedener Kategorien. Am Beispiel Galiziens kann dies gezeigt werden. 4.1 Kulturelle Differenzen und Hierarchien 68 Dazu KAPS, Von Waren, 2009. – Dazu wie zu allen folgenden Überlegungen WENDLAND, Imperiale Blicke, 2010; FEICHTINGER/ PRUTSCH/ CSÁKY Hg., Habsburg, 2003. 69 Dazu der Beitrag von Winfried EBERHARD in diesem Band. 73 Kulturelle Hierarchien wurden in Österreich-Ungarn auf unterschiedliche Weise hergestellt – durch rechtliche Vorkehrungen wie die Sprachengesetzgebung, das Wahlrecht oder bestimmte symbolische Repräsentationsformen. Eine nicht zu unterschätzende Rolle spielte aber auch das kulturelle Sendungsbewusstsein der Hegemonialkultur, das auf Seiten der Provinzbewohner und ihrer Eliten zu Wahrnehmungen kultureller Inferiorität führte. Die lokalen Eliten, welche oft ihrerseits imperiale Bildungswege und Karrieren beschritten, arbeiteten diese Erfahrung in ihre Strategien zur Entwicklung ihrer Heimatregion ein. Eine gewichtige Rolle bei der Herstellung kulturellen Sendungsbewusstsein auf Seiten der Hegemonialkultur spielten die Reise- und Berichtsaktivitäten der imperialen Spezialisten, die zwecks Erkundung und Erfassung in die neuerworbenen Provinzen entsandt wurden – in Galizien finden wir solche Quellen seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, in Bosnien entsprechend im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Finanzfachleute, Kleriker, Geographen, Naturwissenschaftler, Industrielle und Ingenieure kommunizierten ein Bild rückständiger, aber entwicklungsfähiger (zu „hebender“) Provinzen in die Metropole. Diese konnte sich erst jetzt in einer neuen Rolle als Modernisierungsmotor etablieren – auf ökonomisch-technischer Grundlage alleine war dies zuvor nicht recht gelungen, lag doch Wiens ökonomisches Herzland außerhalb der Grenzen der dominierenden Nation, nämlich in Böhmen. Diese Tatsache hatte vorher ökonomisch grundierten Überlegenheitsgefühlen der Metropole stets enge Grenzen gesetzt. Galizien und Bosnien mit ihren als mittelalterlich empfundenen Feudalstrukturen und den als extrem rückständig, fast schon als Wilde dargestellten Bauernbevölkerungen gaben hingegen neue Projektionsflächen für die Inszenierung einer sozialreformerischen zivilisatorischen Mission ab. Im Gegenzug enstanden reaktive Strategien des Umgangs mit Inferiorität in den als unterlegen und reformbedürftig klassifizierten lokalen Gesellschaften. Die lokalen Eliten, in Galizien also vorwiegend die polnischen Eliten, suchten dieses Rückständigkeitsurteil zu entkräften oder wiesen der imperialen Herrschaft eine Mitschuld an den Verhältnissen zu. Parallel rief man mit Blick auf die inneren Verhältnisse der Provinz zu eigenen Reform- und Arbeitsanstrengungen auf. Dieser permanente Selbstansporn zur Reform wurde für Galizien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts symptomatisch. Das Konzept der „organischen Arbeit“ (praca organiczna) und die Kontroversen um die nędza Galicji, das in ganz Österreich sprichwörtlich gewordene „Elend Galiziens“70 entstammen diesem Kontext. Solche Kontroversen wurden auch als Diskussionen um von Fremden auferlegte Selbstbilder geführt. Zu radikalen Selbstkritikern wurde jedoch vorgeworfen, der Selbstkolonisierung Vorschub zu leisten, indem sie der westlichen Schmähkritik der sogenannten „polnischen Wirtschaft“ Argumente lieferten. Parallel entstanden neue Formen der Selbstvergewisserung, die bei allem Stolz über das Erreichte implizit oder explizit immer auf den 70 SZCZEPANOWSKI, Nędza, 1888. 74 Rückstandsvorwurf hin ausgerichtet waren, so anlässlich der galizischen Gewerbe- und Landesausstellungen.71 Dass die von oben kommende mission civilisatrice sich aber auch innerhalb der eroberten Gesellschaften als Selbstzivilisierungsmission etablierte, ist ein interessanter Aspekt der österreichischen Imperialgeschichte, der seine Entsprechung auch in anderen europäischen und außereuropäischen Ländern findet. Den wirklich nachhaltigen erzieherischen Angriff auf die Bauernkulturen Galiziens und ihre anarchischen, gewaltförmigen, sexualisierten Aspekte führten nämlich nicht die staatlichen Disziplinierungsorgane Schule, Gericht und Armee, sondern die polnischen und ruthenischen Volksaufklärer und Volksaufklärerinnen, welche die agrarischen Unterschichten mit dem Ziel der Kulturnationsbildung transformieren wollten. Hier interferierte das von den lokalen Eliten propagierte alleuropäische Konzept einer zivilisierten Hochkultur und des dazugehörigen Bildungskanons mit den vorgefundenen Gegebenheiten einer weitgehend auf oraler Überlieferung beruhenden und darüber hinaus politisch marginalisierten bäuerlichen Gesellschaft. Wenn also patriotische, oder wie sie selbst zu sagen pflegten svidomi („bewusste“, d.h. mit (National-) Bewusstsein ausgestattete) ruthenische Wahlkämpfer, zumeist Pfarrer und Lehrer oder deren Söhne und Töchter, die Prinzipienlosigkeit ihrer Bauern geißelten, dann galt ihr Kampf nicht nur der allfälligen Bestechung durch polnische Grundbesitzer, die ruthenische Wahlmänner mit „Wahlwurst“, „Wahlschnaps“ und anderen Vergünstigungen gefügig machten. Es ging auch nicht nur um die reichsweit berüchtigten „galizischen Wahlen“, die außerhalb des Kronlandes wegen Manipulationen und Ausschreitungen als Normabweichung im zivilisierten österreichischen Politikbetrieb skandalisiert wurden. Vielmehr stand der politische Kampf für Standhaftigkeit, gegen Korruption und für Transparenz auch im Kontext der lokalen Kampagnen gegen die traditionalen Lebenswelten. Alkoholmissbrauch, Völlerei bei Feierlichkeiten, Ausschweifungen auf der Pilgerfahrt und andere kleine Fluchten aus dem harten Alltag der Subsistenzbauern und Landarbeiter wurden nun als antiaufklärerisch, der nationalen Sache schädlich, gar als Verrat angeprangert.72 Solche Verhaltensweisen wollten die Volksaufklärer und „nationalbewussten“ Mitglieder der bäuerlichen Führungsschichten durch neue Geselligkeitsformen in Lese- und Abstinenzvereinen korrigieren, um die Entwicklung hin zu Formen europäischer, „deutscher“ Kultiviertheit in Gang zu setzen. In diesem Kontext waren „Galizien“, „galizisch“ eher Reizworte für einen reformbedürftigen Gesellschaftszustand, kein Erinnerungsort oder eine Raummetapher für Interkulturalität. Allenfalls beim historischen Rückgriff der Ukrainer auf vermeintlich bessere Zustände des Mittelalters, als die Ruthenen 71 WENDLAND, Eindeutige Bilder, 2009; zum Rückstandsstereotyp der „polnischen Wirtschaft“, das analog zum österreichischen Galizienstereotyp vor allem in Preußen verbreitet war und auch die Diskussion um Galizien mit beeinflusste: BÖMELBURG, „Polnische Wirtschaft“, 1998; dazu auch der Beitrag von Andreas R. HOFMANN in diesem Band. 72 Zur zivilisatorischen Offensive von Volksaufklärern und Hochkulturprojekten allgemein MITZMAN, Offensive, 1988. 75 noch ein Volk mit eigenen Adelseliten, starken Fürsten und eigenen Territorialgrenzen gewesen seien, war Galizien positiv konnotiert. Grundsätzlich waren aber im 19. und frühen 20. Jahrhundert die Bezeichnungen „Galizien“, „galizisch“ negativ belastet, vor allem im Deutschen. Auch im Jiddischen war der galitsyaner das Schlitzohr oder der Hinterwäldler aus dem Osten. Im Polnischen trug Galicja lange Zeit den Makel des eingangs erwähnten imperialen Oktrois, auch wenn die zugehörigen Territorien allesamt als historisch zu Polen gehörig beansprucht wurden. Die Ausdehnung der ostslawischen Territorialbezeichung nach Westen, auf historisch urpolnische Gebiete, wurde jedoch als Degradierung und Vernichtung gewachsener Traditionen empfunden. Trotz der beachtlichen Erfolge bei der allmählichen Herausbildung einer positiv konnotierten galizischen „Idee“ der dynastisch überwölbten Einheit in Vielfalt73 gerade in polnischkonservativen und habsburgloyalen Kreisen überwog am Ende die semiotische Hypothek „Galiziens“. Dies hat wesentlich zur raschen und ersatzlosen Auflösung der Verwaltungseinheit (Ost-) Galizien in der Zweiten Republik beigetragen. Die ostgalizischen Territorien wurden in einer nomenklatorischen Umkehrreaktion zur Großregion Małopolska Wschodnia („Ost-Kleinpolen“) zusammengefasst, ansonsten sah die administrative Unterteilung in Wojewodschaften eine Benennung von Subregionen nach ihren jeweiligen Hauptstädten vor. „Galizien“ lebte administrativ nur noch einmal als „Distrikt Galizien“ des NSGeneralgouvernements auf, was nicht gerade zur Aufwertung des Begriffs beigetragen hat. Vor 1945 blieben die Ruthenen bzw. Ukrainer dem GalizienBegriff und territorialen Konzept treu, weil sie als einzige Bevölkerungsgruppe eine autochthone historische Erinnerung daran knüpften. In der sowjetischen Ukraine nach 1945 war von Galizien allenfalls im Flüsterton die Rede, während die offizielle Propaganda die Territorialbezeichnung nur noch im Zusammenhang mit der „SS-Division Galizien“ verwendete und so zu ihrer nachhaltigen Diskreditierung beitrug. Auch der habsburgisch-offiziöse Galizienbegriff, der ursprünglich gar nicht den Makel der kulturellen Inferiorität trug, war deswegen noch kein Erfolgsausweis einer Interferenz etwa der (dominanten) kaiserlichen Diplomatie und der (marginalisierten) ruthenischen historischen Erinnerung. Was hier vordergründig die territorialen Interessen der Oberherrschaft und der underdogs zusammenspannte, war keine langsam sich entfaltende Übernahme einer Nomenklatur und Füllung mit neuer Bedeutung. Eine solche liegt in einem anderen Falle vor, nämlich in der späteren Erfolgsgeschichte der Territorialbezeichung Ukraïna in der Geschichtsregion, in deren Ergebnis aus Galizien (Halyčyna) die heutige Westukraine (Zachidna Ukraïna) wurde. Ihr liegt zum ersten eine lange Vorgeschichte grenzüberschreitender inter-imperialer Kommunikation der österreichischen und russländischen Ukrainer zugrunde, zum zweiten das territoriale Faktenschaffen durch die sowjetische Annexion 1939 und die Ordnung von Jalta. Im habsburgischen Falle ging es jedoch weniger um eine 73 WOLFF, Idea of Galicia, 2010, 13-62, 188-230. 76 über Generationen hinweg vollzogene Einwurzelung einer Bezeichnung bei gleichzeitiger Veränderung ihrer Bedeutungsreichweite, als vielmehr um die, wenn auch auf wackligen Beinen stehende dynastische Legitimierung einer Annexion. Vor allem ging es um die Auslöschung polnischer territorialer und somit auch staatsrechtlicher Traditionen. Die Rechtsnachfolger Österreichs auf galizischem Territorium – erst die Zweite Republik Polen und später die Sowjetunion – lernten hier vom Gegner insofern, als die Tabuisierung von Territorialbezeichnungen und ausgeklügelte Umbenennungspolitiken von der Großregion bis auf die Ebene der Orts- und Straßennamen seit 1918 zum Standardrepertoire des nationalizing74 bzw. sovietizing state gehörten. Dass Galizien (Galicja) heute selbst in Polen eher mit positiven Merkmalen assoziiert wird, ist den tiefgreifenden Transformationen und Umdeutungen im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts zu verdanken – sozusagen jenseits des Abgrunds. Nach ihrer fast totalen Vernichtung im Zweiten Weltkrieg wurden nun die vorher als Belastung angesehenen komplizierten polykulturellen Verhältnisse umfassend neu bewertet, ihre Vernichtung im Nachhinein als Verlust gedeutet. Darüber hinaus steht Galicja im heutigen Polen, insbesondere in der Krakauer Gegend, für eine längst versunkene austriakisch-polnische Spielart bürgerlicher Wohlanständigkeit – und für die regionstypischen kulinarischen Öffentlichkeiten und Produkte zwischen Konditorei, Kaffeehaus und Theater, die so manchem Markennamen mit galizischem Attribut ihr Gepräge geben sollen. 4.2 Macht und Recht In der postkolonialen Analyse wird „Mikrokolonialismus“ als ein Geflecht von gestaffelten Herrschaftsverhältnissen zwischen imperialem Hegemon, lokalen Eliten sowie anderen nichtdominanten und subalternen Gruppen beschrieben. In solchen Verhältnissen kann die unterworfene lokale Elite gleichzeitig im Verhältnis zu den lokalen Bevölkerungen in der Position des Unterdrückers verharren. Ihre Position kann sich durch die imperiale Oberherrschaft aber auch verändern, ohne dass die Elitenfunktion in Frage gestellt wird; andere nichtdominante Gruppen können zur Beherrschung des Territoriums vom Hegemon gegen lokale Eliten eingesetzt werden. Die jeweiligen Mikro-Rechtsund Machtverhältnisse sind also nicht einfach als Funktion kolonialer Unterdrückungspolitik zwischen Eroberern und Eroberten zu fassen, sondern müssen am jeweiligen Mikro-Verhältnis analysiert werden. Analog bietet auch die Verwaltungspraxis an der habsburgischen Peripherie Einblicke in das lokale Management kultureller und politischer Differenz. Was früher als divide et impera vereinfacht und unterschätzt wurde, entpuppt sich bei genauer Betrachtung lokaler Verhältnisse als komplexe Verschachtelung von Herrschaftsverhältnissen und Techniker der Machtdelegierung. Lokale Eliten und nichtdominante Gruppen wurden vom Hegemon auf verschiedene Weise in den Verwaltungsprozess 74 Brubaker, National minorities, nationalizing states, 1993. 77 einbezogen bzw. von ihm ausgeschlossen, oder sie wurden dem tagespolitischtaktischen Bedarf entsprechend instrumentalisiert oder subsidiert. Das österreichisch-polnisch-ruthenisch-jüdische Verhältnis in Galizien kann so gewinnbringend beschrieben werden, und viele Entwicklungen innerhalb nichtdominanter Gruppen werden besser verstehbar. Nicht nur steht der Kaiserstaat als Förderer hinter den frühen Regungen der westukrainischen Nationalbewegung – auch die Polen könnten sich ihm mit Blick auf ihre eigene Staatsbildungsgeschichte verpflichtet fühlen. Die polnisch-galizische Auftragsverwaltung des Kronlandes ab 1867 kann als Probelauf polnischer Staatlichkeit in einem der Teilungsgebiete angesehen werden: Etablierung der polnischen Amtssprache und eines kompletten polnischen Bildungssystems von der Volksschule bis zur Universität, Bereitstellung von politischem, wissenschaftlichen und administrativen Personal, Aggregation parlamentarischbürokratischer Erfahrung sowie kulturellen wie symbolischen Kapitals stehen auf der Habenseite dieser habsburgisch-polnischen Protostaatsgeschichte in Galizien. In engem Zusammenhang damit steht die Genese ganzer sozialer Schichten und Denkschulen loyalistisch-konservativer Polonität durch imperiale Erfahrung, die für die Alternative „organische Arbeit“ vs. demokratisches Aufstandspathos im polnischen politischen Denken stand. Ähnliches gilt für die Ruthenen/ Ukrainer. Ihre Nationsbildungsgeschichte – als Geschichte der Sprachstandardisierung, als Bildungsgeschichte, als politische Mobilisierungsgeschichte inklusive der binären Entwicklung russo- und ukrainophiler Strömungen kann ohne eine sorgfältige Berücksichtigung des doppelten Hegemonialverhältnisses mit ferner und naher Herrschaft nicht geschrieben werden. Auf beiden Bühnen – jener des Kaiserstaates und des Reichsrates in Wien und jener des „polnischen“ Lemberg und des galizischen Landtages machten die Ukrainer Politik, je nach Lage appellierte man an die eine oder andere Instanz oder kämpfte mit wechselnden Verbündeten, z.B. mit anderen Nichtdominanten wie den Juden oder den Tschechen, um Partizipation. Wesentliche Impulse für die nationale Integration der galizischen Ukrainer gingen gerade von der phasenweisen Kooperation zwischen imperialer Staatsgewalt und ruthenischen Interessengruppen aus. Allgemeine galizische Phänomene wie die Entwicklung von Sprachkontakten und Polyglossie sind ohne den Blick auf die zugrundeliegenden, sich gegenseitig überlagernden Machtverhältnisse (Imperium mit Universalsprache Deutsch, lokale Macht mit Regionalsprache Polnisch, nichtdominante Gruppe mit ruthenisch-russoruthenisch-ukrainischen Sprachvarietäten) nicht zu verstehen.75 Auch ein lohnendes Thema für Lokalstudien mikrokolonialer Beziehungen, welche wiederum Interferenzereignisse nach sich ziehen, ist die Geschichte der Verrechtlichung Galiziens. Damit meine ich die allmähliche Durchsetzung und phasenweise auch die Wiederinfragestellung von juristischen, reichsweit normierten Verfahrensformen zur Klärung von Interessenkonflikten. Deren gab es 75 PTASHNYK, Societal multilingualism, 2007; DIES., Sprachenpolitik, 2009; FELLERER, Mehrsprachigkeit, 2005; MOSER, „Jazyčije“, 2004. 78 viele in der agrarischen Welt nach 1848: Die Neuordnung der Agrar- und Untertansverhältnisse, die im Zuge der Grundentlastung auflaufenden Streitigkeiten um Servituten, um Zugehörigkeit von Flurstücken zu Gemeinde-, Guts- oder Bauernland, aber auch die oft daraus entstehenden quasi-politischen Gerichtsverfahren wegen „Beleidigung“ und „Störung der öffentlichen Ruhe“ fallen in diese Kategorie.76 Der wachsende Bedarf an juristischem Personal für Gerichte und moderne Leistungsverwaltungen machte auch vor der agrarischen ruthenischen Gesellschaft nicht halt. Das Jurastudium und der Anwaltsberuf war einer der großen Aufstiegswege ruthenischer Bauernsöhne aus der traditionalen Welt des Dorfes; auch in der polnischen Gesellschaft war die Juristenprofession von großer Bedeutung für die Elitentransformation und die Formierung von neuartigen politischen Agenden.77 Das hohe Sozialprestige des Juristen bei den Ruthenen, das an jenes der traditionellen Elite, des griechisch-katholischen Klerus, bald heranreichte, stammt aus jener Zeit. Ein anderer Aspekt dieses Verrechtlichungsprozesses ist die quantitative Zunahme von Gerichtsverfahren und die später allen Galiziern, egal welcher Herkunft, stereotypisch nachgesagte Prozessiersucht. Später wiederum bildeten sich neue Formen von Konfliktentscheidung in Galizien, die den Rechtsweg ignorierten und teilweise gewaltförmig waren: Agrarstreiks und ihre polizeiliche Disziplinierung, später die als „Pazifizierung“ (pacyfikacja) bezeichnete militärische Durchsetzung der polnischen staatlichen Hoheit in den ukrainischen Dörfern Ostgaliziens und die terroristischen Aktionen nationalistischer Ukrainer der 1930er Jahre. Die letztgenannten Konfliktformen entstanden nicht zuletzt infolge einer Aushöhlung und Delegitimierung verrechtlichter, auf Gewaltverzicht basierender Konfliktlösungsformen im Umfeld des Ersten Weltkrieges. 4.3 Kulturelle Essentialisierung und Selbstindigenisierung vs. ökonomische Integration Kolonialgeschichtliche Vergleichsperspektiven ergeben sich auch hinsichtlich bestimmter Verfahrensweisen mit kultureller Differenz, die oben bereits zur Sprache kamen. Die Bildungs- und Kultivierungsoffensive stellte die nondominant group der Ruthenen vor ein Dilemma. Die Anstrengungen der gebildeten Volksaufklärer zur Schaffung einer in Galizien gleichberechtigten Kulturnation waren auf einen hochkulturell-urbanen Referenzrahmen ausgerichtet. So gesehen war die ruthenische Idee von Sprachstandardisierung, Verschriftlichung, Entwicklung von Hochliteratur sowie Genese nationalsprachlicher wissenschaftlicher und publizistischer Öffentlichkeiten ein Interferenzereignis, denn es basiert auf der Ausrichtung einer vorgefundenen traditionalen Kultur auf transeuropäische kulturelle Muster. Auf der anderen Seite 76 ROSDOLSKY, Untertan, 1992; STAUTER-HALSTED, Nation, 2001; STRUVE, Bauern, 2005; WENDLAND, Russophile, 2001. 77 KRAFT, Europa, 2002. 79 ließ sich aber der identitäre Kern, auf den die Nationalbewegten rekurrierten, nicht leicht an diese Generallinie anpassen. Dieser Kern läßt sich als ruthenischer Anspruch auf Anciennität, Indigenität und Autochthonie in Ostgalizien beschreiben. Jedwede Argumentationslinie hinsichtlich politischer Gleichberechtigung basierte auf der Grundannahme, dass die ostslawische Bevölkerung Ostgaliziens die immer schon ansässige sei, die seit dem Mittelalter sukzessive aus ihren vorher eingenommenen Macht- und Rechtspositionen verdrängt wurde. Polen, Juden und aus den deutschösterreichischen und böhmischen Ländern stammende Bürger Galiziens waren in dieser Sicht lediglich Zuwanderer. Dieses Beharren auf dem Eingeborenenstatus – also sozusagen die programmatische Verneinung jedweder Interferenz – ging mit einer Essentialisierung der ostslawischen Bauernkultur einher. Ironischerweise setzte diese gerade zu einer Zeit ein, als Bildungsoffensive, Land-Stadt-Migration, Polyglossie, Einzug der Geldwirtschaft und der überregionalen Markt- und Verkehrsbeziehungen die Bauernkultur bereits massiv transformierten. Die Folge war eine spezifische Form ruthenischer Selbstinszenierung und -exotisierung als traditionales, Originalität beanspruchendes Element Galiziens, das auf ethnographischen Ausstellungen und in Bestrebungen zur Förderung und Erhaltung der bäuerlichen Kultur und bäuerlicher Produktionsverfahren zur Geltung kam.78 Der aufkommende Tourismus und das aus der Krise und Kritik der Stadt als Lebensform um 1900 erwachsene Interesse an traditionalem Anderssein leisteten dieser Entwicklung weiteren Vorschub. Im gesamten Habsburgerreich beobachten wir zur selben Zeit solche Prozesse der Touristifizierung und Essentialisierung des Volkstümlichen, das aber gleichzeitig in die industriellen Verwertungsketten der Habsburgermonarchie eingepasst wurde. Standardvorgaben für die Heimindustrie, Verwendung neuer Werkstoffe und Propagierung von Kunsthandwerk als Ware und regionales Exportgut spielten dabei eine wichtige Rolle. Festzuhalten bleibt, dass hier die behauptete kulturelle Essenz und eine realisierte kulturell-ökonomische Interferenz immer zusammengehörten.79 Auf einer anderen Ebene jedoch kam es in derselben historischen Situation bereits zu erheblichen, auch sprachlich-kulturellen, Interferenzen zwischen Ruthenen/ Ukrainern und ihren galizischen Mitbürgern sowie Impulsgebern von außerhalb des Kronlandes: Während auf den Gewerbeausstellungen Ethno-Kunst gezeigt wurde, schufen ukrainisch- und polnischsprachige Autoren bereits fiktionale und nichtfiktionale Texte, die sich mit den Problemen des modernen, urbanen Menschseins oder mit der Zerrissenheit des Individuums angesichts des Zusammenpralls traditionaler Welten und der industriellen Moderne beschäftigten. Sie schöpften dabei aus denselben Quellen, publizierten in den 78 WENDLAND, Eindeutige Bilder, 2009. Siehe dazu die Diskussion um „Orientalismus“ in Ostmitteleuropa, „Selbstorientalisierung“ von bestimmten Gruppen und kunsthandwerkliche Selbstinszenierungen: GRUNERT, [Tagungsbericht], 2010. 79 80 Sprachen des jeweils Anderen (z.B. Ivan Franko) und rezipierten die anderssprachige Literaturproduktion.80 Die nationalpopulistische Selbstindigenisierung endete durchaus nicht 1918 und auch nicht 1939. Sie erwies sich in der sowjetischen Zeit, während der zweiten oder eigentlich dritten imperialen Periode der Ukrainer, als anschlussfähig für sowjetukrainische (und in der Stalinzeit xenophobe) Inszenierungen von „Volk“ und sozialistischer Volkstümlichkeit. Somit steht sie am Anfang einer langen Entwicklungslinie der bis zum heutigen Tage noch nicht erledigten Folklorisierung und Selbstfolklorisierung der ukrainischen Kultur(en), die in nur scheinbarem Gegensatz zur Industrialisierungs- und Urbanisierungsgeschichte der Ukraine steht – ungeachtet der wichtigen Tatsache, dass an dieser Geschichte wesentlich auch nichtukrainische (u.a. russische und jüdische) Bevölkerungen teilhatten. Aus der letztgenannten Fragestellung ergeben sich mehrere transnationale Vergleichsperspektiven, so die Frage nach der Rolle des ukrainischen/ ruthenischen Faktors in der polnischen, aber auch russischen Ethnographie und Folkloristik und bei der Definition polnischer bzw. russischer Indigenitäts- und Originalitätsansprüche in der slawischen Welt.81 Darüber hinaus ist die Vergleichsperspektive zu anderen Essentialisierungs- und Musealisierungsformen „bäuerlicher“ oder indigener Tradition im Kontext von Nationsbildungsprozessen zu nennen, die nicht notwendig imperial überformt sein mussten. Beispiele für die (Freilicht-) Musealisierung von Agrartraditionen bieten Skandinavien, Böhmen und die deutschen Länder, Beispiele für die Apotheose des Indigenen viele postkoloniale Gesellschaften des 20. und 21. Jahrhunderts in Asien, Afrika und Lateinamerika. Auch die aktuelle Forschung zur Geschichte sozialer und ökologischer Bewegungen in den westlichen Metropolen verweist auf die Bedeutung von Repräsentationen der Indigenität und Unberührtheit traditionaler Gesellschaften im Zeitalter der dritten Globalisierung.82 Wie im Galizien des 19. Jahrhunderts haben solche kulturellen Repräsentationen oft nur wenig mit den Realitäten der idealisierten, vorgeblich traditionalen Gesellschaften zu tun, und wie damals werden sie auch hier und heute als Folie zur Kritik bestehender Herrschaftsverhältnisse eingesetzt. 4.4 Gewalt Kriegs- und Gewalterfahrungen sind ein konstitutiver Bestandteil von Kolonialund Imperialgeschichten. Erst in jüngster Zeit hat die Forschung zum Habsburgerreich begonnen, solche Erfahrungen in vergleichender Perspektive zu betrachten; so gesehen könnten sie auch Antworten auf die Frage nach den konflikthaften Aspekten kultureller Interferenz an imperialen Peripherien geben. 80 81 82 SIMONEK, Möglichkeiten, 2003; DERS. Hg., Versperrte Tore, 2006; DERS., Ivan Franko, 1997. SCHWITIN, Ruthenische Folklore, 2013; auch STÜBNER, Nationalismus, 2009. RADKAU, Ära, 2011, 124‒164, 255‒363. 81 Zu Beginn des Ersten Weltkriegs kam es in den frontnahen Regionen des österreichischem Staatsgebiets oder in eroberten Gebieten zu Formen von staatlicher und nichtstaatlicher Gewaltausübung, die kolonialer asymmetrischer Kriegsführung ähnelten, insbesondere was die Einbeziehung von Zivilisten in Kriegshandlungen angeht. Der gewaltförmigen Machtausübung gingen psychologisch-kognitive und diskursive Operationen voraus, welche die betroffenen Bevölkerungen als minderwertig oder politisch unzuverlässig aus dem Kreis der zivilisierten (d.h. europäischen) Menschheit ausgliederte. Solche Zuordnungen erleichterten bei Kriegsausbruch die Ausschließung ganzer Bevölkerungsgruppen aus dem Geltungsbereich reichsweit bzw. völkerrechtlich gültiger Standards. Von diesem Umschlagen diskursiver in rechtliche Inferiorität waren im Spätsommer und Herbst 1914 vor allem Ruthenen, Juden und Serben betroffen. Ihnen wurden wahlweise Illoyalität, pro-russische Sympathien und Teilnahme an Spionageaktivitäten zum Vorwurf gemacht. Im Falle Galiziens hatten der Entzug von Rechten und die kollektive Feinderklärung ihren Ursprung in früher liegenden Illoyalitätsvermutungen, welche in der Literatur über Galizien und die dortigen Nationalitätenkonflikte eine gewichtige Rolle spielten; an deren Produktion wiederum waren miteinander in Reaktion und Gegenreaktion verflochtene ukrainische, polnische, jüdische und deutschösterreichische Akteure beteiligt, ganz zu schweigen von den gegenseitigen Denunziationen, die 1914 einen Höhepunkt erreichten. In der akuten Konfliktsituation diente die Illoyalitätsvermutung dem Militär, aber auch zivilen Mobs zur Rechtfertigung von Pogromaktionen sowie Massenmorden und -deportationen, denen vor allem ruthenische Staatsbürger Österreichs zu Tausenden zum Opfer fielen.83 Dies sind, knapp skizziert, einige der möglichen Fragen und Antworten unter einer kritisch eingenommen postkolonialen Perspektive auf die Geschichte der Habsburgermonarchie und ihrer Peripherie Galizien als Geschichte von – häufig konflikthaften – Interferenzereignissen. Der Schwerpunkt liegt hier bewusst nicht auf den durch imperiale Überformung generierten neuen kulturellen Formen, die unter dem Schlagwort der „Hybridität“ zu einem prominenten Gegenstand der postcolonial studies wurden. Als Stärke des postkolonialen Ansatzes wird aus historischer Sicht vielmehr die Analyse spezifischer Machtverhältnisse, Sehgewohnheiten und Selbstsichten verstanden, welche zwangsläufig mit Grenzziehungen, Aus- und Einschließungsvorgängen zwischen Eigenem, Anderem und „Dazwischen“ einhergingen. Eine literaturwissenschaftliche Sicht mag mit der Gewichtung der Faktoren anders verfahren und vermutlich den Einschließungsprozessen mehr Bedeutung zumessen als den Grenzziehungen. Einschließungen waren aber auch in der politischen Sphäre über lange Zeiten hinweg von integrativer Kraft – so die Partizipation der Polen an imperialer Macht im Falle der Auftragsverwaltung und Autonomisierung Galiziens, die auf einen Machtgewinn der polnischen Eliten hinauslief. Auf der anderen Seite konnte diese Einschließung (einer Gruppe von Eroberten durch die Oberherren) an anderen Stellen Integration unmöglich 83 SCHEER, Zwischen Front, 2009; WENDLAND, Die Russophilen, 2001, 540‒566. 82 machen – so im Falle der Eigendynamiken, welche die österreichisch-polnische regionale Machtbalance auf Seiten der Ruthenen auslöste. Grenzziehungen konnten nach innen stabilisierend und integrierend wirken – so im Falle der ruthenisch-ukrainischen Nationsbildung. Mitunter waren sie, wie die galizischen Erfahrungen zweier Weltkriege zeigen, für die von der Grenzziehung Betroffenen lebensgefährlich. Unter Berücksichtigung von Praktiken der Grenzziehung und Gewaltausübung kann der imperiale Umgang mit kultureller Differenz – aber auch der Umgang der Beherrschten miteinander – in seiner gesamten Bandbreite erfasst werden, von den lange erfolgreichen Modellen der Delegierung und Teilung von Herrschaft bis hin zum Totalversagen bewährter Handhabungsformen von Andersheit unter den Bedingungen des modernen Krieges. 5. Schlussbemerkung Nehmen wir abschließend noch einmal Dietlind Hüchtkers aus der vergleichenden Grenzlandforschung inspirierten Aufruf auf, nämlich mit Baud und Schendel84 die Frage zu stellen, was eigentlich die Peripherien mit ihren Zentren anstellen, anstatt immer wieder die Sicht- und Zugriffsweisen des Zentrums auf die Peripherie durchzudeklinieren. Wenn man also folglich nicht das Handeln des Zentrums, sondern vielmehr die Interaktion zentraler und peripherer Akteure in den Mittelpunkt der historischen Grenzlandforschung stellt, dann heißt dies erstens, die Literaturproduktion des Grenzlandes, welche vor allem in den Sprachen der Zentren bzw. Subzentren vorliegt, auf ihre eigenen Intentionen hin zu befragen, statt sie auf die Intentionen und Zuschreibungen der Metropolen (und ihrer diskursiven Nachfolger) hin zu interpretieren. Mit Blick auf letztere wird nach den heutigen Motiven des Interesses an der jüdischen Erfahrung zu fragen sein – also auch den Motoren heutiger Galizien-Moden. Mit Blick auf erstere sollte umgekehrt auch nach den Implikationen dieses jüdischen Erfahrungshintergrundes in vielen literarischen Quellen gesucht werden. Deren Produzenten haben offensichtlich aufgrund ihrer Minderheitenposition (und des sich daraus ergebenden vitalen Interesses an transnationalen Garanten von Minderheitenrechten wie dem österreichischen Kaiserstaat), ihrer Bildungsgeschichte, ihrer Erfahrung des parallelen Spracherwerbs und oft auch des Bruchs mit der angestammten Lebenswelt eine weit größere Sensibilität für kulturelle Interferenzereignisse vor kakanischem Hintergrund entwickelt, als dies polnische oder ukrainische Textproduzenten taten. Das bedeutet jedoch nicht, dass polnische und ukrainische Produzenten in dieser Hinsicht stumm blieben. Wir können also auch die nichtjüdischen, insbesondere die ukrainischen Textproduzenten daraufhin befragen, was sie im Einzelfalle mit ihren wechselnden Zentren anstellten, d.h. mit welchen Intentionen sie welches Bild von Galizien und von sich selbst produzierten. Die Selbstessentialisierung der 84 BAUD/ SCHENDEL, Toward a Comparative History, 1997, 235. 83 vermeintlich Indigenen als Reaktion auf äußeren Druck wurde bereits erwähnt; viel weniger beachtet wurden bis heute die Strategien der Aneignung und Anpassung an vorgefundene kulturelle Muster und ihre sukzessive Transformation. Vor allem kann festgestellt werden, dass Galizien als Referenzraum kultureller Interferenz weder 1918 endgültig unterging noch 1939‒1944, auch wenn spezifische, lange Zeit für diesen Raum als typisch angesehene Interferenzformen tatsächlich die extremen Gewalteinwirkungen des Zeitalters der Extreme nicht überlebten. Vielleicht kann man präziser davon sprechen, dass dieser Interferenzraum beständig rekonfiguriert wurde, aber als solcher nicht an sein Ende gekommen ist. Daher sollten uns besonders die Auswirkungen der sozialen und räumlichen Mobilisierungswellen des gesamten 20. Jahrhunderts interessieren. Die Erfahrung der Stadt, die Genese einer westukrainischen, auf europäische Kontexte verweisenden Moderne kurz vor 1914 und in der Zwischenkriegszeit, und schließlich die sowjetukrainische Erfahrung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bieten hier nach meinem Dafürhalten Raum genug für neue Entdeckungen, sei es in der Literaturwissenschaft, sei es bei der Untersuchung zu Einzelproblemen der Urbanisierung vor und nach dem Zweiten Weltkrieg. Auch heute sprechen Galizierinnen und Galizier zu uns – und natürlich rekurrieren sie auf den Erwartungshorizont der Metropolen, spielen mit den galizischen Mythologien, kämmen sie gegen den Strich und legen ihre sowjetische und postsowjetische Erfahrung darüber. Die Werke von Taras Prochasko, Oleksandr Irvanec’ und Jurij Andruchovyč stehen für diese Sicht der Dinge und, wie im Falle der jüdischen Erfahrung des 19. Jahrhunderts, für subversive Transformationen der vorgefundenen Macht- und Sprachverhältnisse. Galizien wurde als „Idee“ (Wolff), als besonderes Land kultureller Interferenzen in einem langen Prozess erst gemacht. An seiner Herstellung beteiligt waren Akteure außerhalb und innerhalb der Geschichtsregion, zu Zeiten ihrer rechtlich-administrativen Existenz oder auch erst im unmittelbaren oder sehr späten Nachhinein, wie die reiche Rezeptionsgeschichte und auch die bis in die Jetztzeit reichende Geschichte der vielen positiven und negativen Galizienklischees nahelegt. Konflikt, Konfrontation, Gewalt waren ebenso Teil dieses Interferenzraumes wie die im Alltag gelebte Toleranz, die Idee der Übernationalität, das Lernen voneinander, und die gegenseitige Überlagerung und Überschreibung der Zeichen in Sprache, Musik, Kunststil oder Konsumkultur. Galizien ist, so gesehen, zweifellos eine besondere und faszinierende Region, und seine Geschichte als Interferenzraum reicht viel weiter und viel näher an uns selbst heran, als gemeinhin angenommen wird. Es ist aber kein historisches Unikat. Wenn wir von Galizien sprechen, sollten wir immer wieder das komparatistische Interesse mit Blick auf das – oben angesprochene – restliche (und westliche) Europa herausfordern. Aus geschichtswissenschaftlicher Sicht wird dies aufschlussreicher sein, als eine einzelne osteuropäische Geschichtsregion als das Land der verwischten Grenzen diskursiv zu verewigen. 84 Quellen- und Literaturverzeichnis A Laboratory of Transnational History. Ukraine and Recent Ukrainian Historiography. Hg. v. Georgiy A. KASIANOV u. Philipp THER. Budapest 2009 AUST, Martin/ SCHÖNPFLUG, Daniel: Vom Gegner lernen. Einführende Überlegungen zu einer Interpretationsfigur der Geschichte Europas im 19. und 20. Jahrhundert. In: Vom Gegner lernen. Feindschaften und Kulturtransfers im Europa des 19. Und 20. Jahrhunderts. Hg. v. DENS. Frankfurt, New York 2007, 9-35 BABEROWSKI, Jörg: In verwüstetem Land. In: Die Zeit Nr. 29 (14.7.2011), 50. 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Praktiken der nationalen Abgrenzung in Prag um 1900 Sehr geringe Unterschiede begründen manchmal sehr große Verschiedenheiten.1 (Marie von Ebner-Eschenbach) 1. Multiethnisch oder multikulturell? Eine der zentralen Konstituenten des heutigen kulturellen Gedächtnisses von Prag ist der Topos seiner ethnischen und kulturellen Heterogenität. Der Gedanke, dass die ökonomische, soziale und geistige Topographie der Stadt historisch von verschiedenen Ethnien, Konfessionen und Kulturen gestaltet wurde, entfaltete sich als prägender kulturstiftender Faktor besonders intensiv nach dem Umbruch von 1989. Die Vorstellung von Prag als einem Raum, der sich im Laufe von Jahrhunderten durch eine hybride Verflechtung heterogener kultureller Elemente konstituierte, wurde neuerdings in strategischer Opposition gegenüber den homogenisierenden diskursiven Praktiken des vorausgegangenen staatssozialistischen Regimes in Dienst genommen. Sie adaptierte die bekannte Metapher des melting pot, die unter den veränderten Verhältnissen manchmal auch auf die weitere, je nach Bedarf mal als habsburgischer Staatenverband, mal als Mittel- oder Ostmitteleuropa definierte Region angewandt werden konnte. Die Rekonstruktion des Gedächtnisses, die von der Betonung des Nationalen zur Rhetorik des Pluralismus überging, spielte sich nach 1989/90 in ganz Zentraleuropa ab und begleitete eine tiefgreifende Transformation der kulturellen Identität der Region.2 Im Prager Fall stellte man sich Multiethnizität und Multikulturalität ganz überwiegend in Form einer Triade vor: Das multiethnische Prag wurde als eine heterogene Tripolis dreier Völker, der Tschechen, der Deutschen und der Juden, wahrgenommen und inszeniert: „Hunderte von Jahren hindurch war Prag […] eine Stadt, in welcher drei Völker, Tschechen, Deutsche und Juden, Seite an Seite in kultureller Symbiose lebten,“3 hielt gleich zu Anfang der neunziger Jahre Václav Havel fest, der in der Zeit nach dem November 1989 wahrscheinlich einflussreichste tschechische Intellektuelle.4 Eine Abkehr von der mononationalen Interpretation der böhmischen Geschichte, welche diese praktisch mit der 1 2 3 4 EBNER-ESCHENBACH, Aphorismen, 1893, 55. Transnationale Gedächtnisorte, 2002. HAVEL, Geleitwort, 1992, 12. Ähnlich auch andere vormalige Dissidenten, z.B. GRUŠA/ KRISEOVÁ/ PITHART, Prag, 1993. 94 Geschichte des tschechischen Volkes gleichsetzte, formulierte appellativ zu Anfang der neunziger Jahre auch der erste Vorsitzende der damals gegründeten Deutsch-Tschechoslowakischen Historikerkommission Jan Křen mit der programmatischen Äußerung, dass „ohne den deutschen und jüdischen Beitrag die Geschichte dieses Landes schlicht nicht geschrieben werden“ könne.5 Diese Vorstellung wurde rasch zu einem zentralen Prager Narrativ. Das historische Miteinander von Tschechen, Deutschen und Juden wurde als emplotment und Interpretativ der böhmischen Kulturgeschichte wiederentdeckt. Es stimmte mit dem Diskurs der Pluralität überein und sollte die proklamierten demokratischen Traditionen des Landes wie der gesamten Region belegen. Dieser Aufgabe stellte sich seit Anfang der neunziger Jahre auch eine Reihe von Institutionen, die sich zu dem multikulturellen Vermächtnis der Region bekannten. Zu den Ersten zählte bezeichnenderweise die Franz-KafkaGesellschaft (Společnost Franze Kafky, Prag), die gleich 1990 entstand und sich zum Ziel setzte, „[...] das Bewusstsein für die Bedeutung der kulturellen Pluralität der mitteleuropäischen Region wiederzubeleben, in der Jahrhunderte lang Tschechen, Deutsche und Juden gemeinsam lebten.“6 Der Mythos der Prager Tripolis gewann an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert seine stärksten Bindungswirkungen. Gerade das Prag Rainer Maria Rilkes (1875–1926) und Franz Kafkas (1883–1924) wurde überaus häufig als Raum des multikulturellen Zusammenlebens und der interkulturellen Polemik der drei Ethnien oder Nationen konnotiert. Der Topos vom trinationalen Prag erlangte hohe gesellschaftliche Virulenz und wurde auch in der zeitgenössischen tschechischen Belletristik in spezifischer Weise widergespiegelt.7 Dennoch ist grundsätzlichen Fragen nicht auszuweichen, die sich umso stärker aufdrängen, desto selbstverständlicher eine solche Interpretation scheinen will. Es ist nicht zu bezweifeln, dass im soziokulturellen Raum Prags über Jahrhunderte hinweg Angehörige verschiedener Völker lebten. Neben den kleineren Gruppen, wie z.B. den Slowaken, von denen um 1900 in Prag und in seinen Vororten etwa 1300 lebten, den Russen, Franzosen oder Italienern, deren Anzahl sich allenfalls im zwei- oder dreistelligen Bereich bewegte,8 waren es eben die Tschechen, Deutschen und Juden, aus denen das Gros der Prager Bevölkerung bestand. Im Jahr 1900 bekannten sich annäherungsweise 30.000 Einwohner zur deutschen Umgangssprache und zum jüdischen Glauben etwa 20.000 Personen, bei einer Gesamteinwohnerzahl von ca. 400.000.9 Es handelte sich also um nicht zu vernachlässigende Bevölkerungsanteile. Doch reicht allein diese Tatsache zur Stützung der These, Prag habe einen plurikulturellen Charakter gehabt? 5 HOJDA/ PEŠEK , Česko-Německá mezivládní komise, 1993. Die offizielle Homepage der Franz-Kafka-Gesellschaft unter URL: www.franzkafka-soc.cz (5.1.2010). 7 URBAN, Lord Mord, 2008; KOHOUT, Hvězdná hodina,1995. 8 KOŘALKA, Národnostní poměry v Praze, 2002, 49. 9 Tabellen zur demographischen Statistik bei COHEN, Politics of Ethnic Survival, 1981, Kapitel: The Demographic Realities, 86–139. 6 95 Die Termini Multiethnizität und Multikulturalität gehen häufig Hand in Hand, sie bilden gewissermaßen ein automatisiertes Begriffspaar. Lässt sich jedoch so selbstverständlich ethnische oder nationale Heterogenität mit kultureller Heterogenität identifizieren und voraussetzen, dass dort, wo verschiedene Ethnien zusammenkommen, ganz automatisch auch verschiedene Kulturen aufeinandertreffen? Wenn wir einmal die weiteren Minderheiten außen vor lassen, die in wesentlich geringeren Anteilen vertreten waren, – bestanden denn zwischen Tschechen, Deutschen und Juden derart prinzipielle Unterschiede, dass wir vom Zusammentreffen, vom Dialog oder von der Konkurrenz ihrer Kulturen sprechen können? Gewiss wäre die Vorstellung einer monolithischen Prager Kultur ganz falsch und irreführend. Die Struktur der modernen urbanen Gesellschaft war höchst differenziert, und ebenso differenziert war die urbane Kultur.10 Handelte es sich dabei aber wirklich um interethnische Unterschiede, welche die kulturelle Vielfalt der urbanen Agglomeration auf dem Weg in die Moderne begründeten? Die so lauthals verkündete Multikulturalität Prags, die sich auf das Zusammenleben von Tschechen, Deutschen und Juden beruft, wird – bezeichnenderweise – oft lediglich behauptet, aber keineswegs gezeigt oder nachgewiesen. Sie fungiert gewissermaßen als Axiom, nach dessen Relevanz nicht mehr gefragt wird. Was für Unterschiede sind es aber, deren Persistenz affirmativ bestätigt wird? „In der Presse, in offiziellen Akten und Statistiken wurden die deutsch-tschechischen Differenzen sorgfältig dokumentiert,“11 schreibt z.B. Vera Schneider. Bestimmt zeigen die Belege ein Bewusstsein der deutsch-tschechischen Alterität. War jedoch jene Alterität, welche Tschechen und Deutsche als verschiedene Ganzheiten identifizierte, auf den konkreten Unterschieden gegründet, oder war vielmehr die verzweifelte Suche und Konstruktion von Unterschiedlichkeiten eine sekundäre Erscheinung des Bewusstseins dieser Alterität? Wenn wir nach den konkreten Unterschieden fragen, finden wir in den Texten der Jahrhundertwende überraschend wenig. So als ob die Argumentation sich stellenweise im Zirkelschluss bewegte: Tschechen und Deutsche unterscheiden sich voneinander dadurch, dass die einen Tschechen und die anderen Deutsche sind. Diese eigentümliche Unausgewogenheit zwischen der Betonung von Alterität und dem Fehlen konkreter Unterschiede führt selbstverständlich zur Frage nach Wesen und Inhalt des Begriffs des (kulturellen) Unterschiedes als solchem. Zumal es gerade das Konzept des Unterschieds ist, das Anstoß und Schema dafür liefert, wie wir über den Charakter von Konflikten einerseits und denjenigen kulturellen Wandels oder kulturellen Transfers andererseits nachdenken, und das auch dem Verständnis eines bestimmten Raums als multikulturell zugrundeliegt. Gewiss ist der Begriff des Unterschieds allein bereits deshalb problematisch, weil er keinen rein ontologischen, sondern einen erkenntnistheoretischen Status besitzt. Die Wahrnehmung von Unterschieden ist eine Funktion des Bewusstseins, 10 11 CSÁKY, Ethnisch-Kulturelle Heterogentät, 2001. SCHNEIDER, Wachposten und Grenzgänger, 2009, 198. 96 und wird also von Charakter und Struktur des Bewusstseins bedingt. Wenn wir Kultur im semiotischen Sinne als Zeichensystem begreifen, hat die Identifizierung des Unterschieds dabei auch semiotische Geltung: Das Erkennen von Differenzen ist ein semiotischer Akt, bei dem Entitäten unterschiedliche Zeichen zugewiesen werden, die dann im jeweiligen Kontext und im Lichte dieser Zeichen als unterschiedlich erscheinen. Diese Zeichen werden zwar von dem Beobachter wiederum als authentische Eigenschaften dieser Objekte wahrgenommen, ihrem Wesen nach sind sie jedoch vor allem kognitive Schemata, die zur Organisation von Erfahrung, Wissen und Gedächtnis in der Gesellschaft beitragen und die soziales Handeln motivieren oder legitimieren. Was als Unterschied identifiziert und arbiträr anerkannt wird, und welche Entitäten (d.h. welche Art von Entitäten) überhaupt Gegenstand eines in eine Differenzierung einmündenden Vergleichs sind, das wird also durch die diskursive Formation bestimmt, in der sich diese Identifizierung vollzieht.12 Dennoch oder vielmehr gerade deshalb kann der Diskurs der Unterschiede hohe Aussagekraft besitzen. Freilich trifft er nicht primär eine Aussage über Charakter und Umfang der thematisierten Unterschiedlichkeiten, sondern vor allem über den Charakter der Gesellschaft, welche die Unterschiede artikuliert. Von einer solchen epistemologischen Position aus kann der Unterschied natürlich kaum ein präzises Instrument der historischen Analyse sein. Er kann dagegen sehr wohl zu ihrem Gegenstand werden. Genau das ist die Absicht dieser Untersuchung. Im Hinblick darauf, was über den diskursiven und konstruktivistischen Charakter von Unterschieden und Unterschiedlichkeiten gesagt wurde, wird in diesem Beitrag nicht gefragt, was ein (kultureller) Unterschied sei und welche Unterschiede im Prag der Jahrhundertwende zwischen Tschechen, Deutschen, Juden (und gegebenenfalls weiteren Nationalitäten) bestanden, sondern wie das Konzept des kulturellen Unterschieds in der Gesellschaft funktionierte und auf welche sozialen und diskursiven Mechanismen es sich stützte, welche Arten von Unterschieden thematisiert wurden und welche Funktion es hatte, Unterschiede zu identifizieren. In Bezug auf das Prag der Jahrhundertwende wird es also besonders darum gehen, welchen Anteil der Diskurs der Unterschiede an der Wahrnehmung und mentalen Organisation dieses physischen und sozialen urbanen Raums hatte. 2. Aspekte der Imaginierung Prags um 1900 Die Stadt als Raum und als spezifische soziokulturelle Institution ist und war auch um die vorletzte Jahrhundertwende keine bloße neutrale Kulisse, nicht nur ein Schauplatz verschiedener sozialer Handlungen. Sie war mit kulturellen 12 Zur Problematik des diskursiven Charakters des Unterschieds siehe z.B. BUTLER, Gender Trouble, 1990; BUTLER, Bodies That Matter, 1993. – Judith Butler betrachtet die Problematik zwar anhand von genderbezogenen Unterschieden, das Konzept als solches lässt sich jedoch allgemeiner anwenden. 97 Bedeutungen aufgeladen, welche dieses Handeln vielfach im vorhinein festlegten. Die Stadt war Bestandteil einer Reihe von kohärenten Zeichensystemen, somit hing ihre Entzifferung davon ab, über welche Zugangscodes die jeweiligen Akteure verfügten und welcher Code in welcher Situation angewandt wurde. Die Art und Weise, in der Prag in verschiedenen Kontexten imaginiert wurde, war von einer Anzahl von Aspekten abhängig, die sich wechselseitig durchdrangen und vielschichtige Bedeutungsmatrizen schufen. In diesem Sinne waren im Kontext des Prag der Jahrhundertwende wohl die folgenden drei Aspekte die wichtigsten: Erstens war die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert deutlich von der politischen Differenzierung innerhalb der nationalen Gemeinschaften gekennzeichnet. Auf der einen Seite gewann der nationalistische Diskurs an Radikalität und Stärke. Die Spannungen zwischen den tschechischen und deutschen Bewohnern Prags eskalierten seit den 1880er Jahren von verbalen Invektiven und Beleidigungen hin zu gewaltsamen Zwischenfällen, wie z.B. der bekannten „Kuchelbader Schlacht“, bei der im Sommer 1883 in der Sommerfrische Chuchle/ Kuchelbad unweit Prag deutsche Studenten und Tschechen aneinandergerieten. Die „Straßenkrawalle“, die in den neunziger Jahren und nach 1900 folgten (besonders der sog. „Dezembersturm“ während der Badeni-Krise von 1897 und die Straßenunruhen der Jahre 1905 und 1908) waren auch von gewaltsamen Ausschreitungen gegen die jüdische Bevölkerung begleitet. Auf der anderen Seite wurde allerdings auch die nationale Idee, komplementär zum Prozess der Nationalisierung, problematisiert, marginalisiert und deaktualisiert, und es trat zutage, dass die Idee einer einheitlichen politischen Nation Rost ansetzte und bereits kein selbstverständlicher Wert der politischen Mobilisierung mehr war. Damit korrespondierte auch eine Differenzierung der politischen Szene. Während sich damals auf der einen Seite die nationalen Parteien radikalisierten, bildeten sich auf der anderen neue Parteien (agrarische, sozialistische, bäuerliche etc.), die ihre Programme auf der Grundlage sozioökonomischer und nicht nationaler Kategorien formulierten. Ein Teil der Gesellschaft distanzierte sich vom Pathos der nationalen Propaganda und wandte sich anderen gesellschaftlichen Themen zu, die auch andere Identitätstypen zum Gegenstand machten. Hinweise auf die Problematik des deutsch-tschechischen Zusammenlebens wurden so automatisch zu einem besonderen Instrument im Machtkampf zwischen den politischen Gruppierungen innerhalb der jeweiligen nationalen Gesellschaften, und die Thematisierung der deutsch-tschechischen Beziehungen war nicht zwangsläufig eine Kommunikation mit der anderen nationalen Gesellschaft, sondern eine Polemik mit anderen Richtungen innerhalb der eigenen nationalen Repräsentanz. Zweitens sah die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert die große urbanistische Metamorphose Prags zu einer modernen Metropole. Diesen Prozess begleiteten Maßnahmen und Veränderungen wie die Industrialisierung der Vorstädte und die Zerstörung der traditionellen ländlichen Umgebung, die Assanierung der jüdischen Stadt, die Regulierung der Moldau und anderes mehr, die wiederum eine starke Begeisterung für das alte, „malerische“ Prag auslösten und Traditionen und Symbole der lokalen, nationalen und transnationalen Kultur zum Thema 98 werden ließen. Die mit der Modernisierung der Stadt einhergehende Massenzuwanderung veränderte die nationale/ ethnische Zusammensetzung Prags sehr deutlich, denn die Migranten aus dem böhmischen Binnenland stellten die überwältigende Mehrheit der Zuzügler und verstärkten merklich das tschechische Gepräge der Stadt. Drittens waren die Jahrzehnte um 1900 eine Zeit der allgemeinen Modernisierung der Medien, die Bilder und Imaginationen von Prag vermittelten. Die Fotografie erlebte ihre erste große Konjunktur und die Kinematographie ihre Anfänge; beide hatten große Anteile an der Codierung Prags. Zugleich machte die Literatur eine tiefgreifende Metamorphose durch; mit dem Aufkommen der literarischen Moderne um 1900 veränderte sie merklich ihre Gestalt und zeichnete so auch ein neues Bild von Prag. Nicht zuletzt verweist auch der Mythos der Dreivölkerstadt auf das Feld der Literatur, denn er bildete sich vor allem im Kontakt mit der Literaturgeschichte des Prags der Jahrhundertwende und der Ersten Tschechoslowakischen Republik aus.13 Auch deshalb konzentriert sich diese Studie vor allem auf den damaligen literarischen Diskurs, und sie wird die Artikulationsformen der kulturellen Unterschiede besonders anhand zeitgenössischer Texte der tschechischen und deutschen Belletristik untersuchen. Die drei Veränderungsprozesse der Nationalisierung und Pluralisierung der nationalen Gesellschaften, der Metamorphose Prags zur Großstadt und der Modernisierung der Medien überschneiden sich in den Modellen der Repräsentation Prags. In bestimmter Hinsicht war die Großstadt sicher ein für die Thematisierung interethnischer Differenzen besonders geeignetes Terrain, jedoch überlappten sich ethnische Kategorien zugleich mit weiteren Schichten der Urbanität. Das Bild Prags und die Relevanz der interethnischen Differenzen änderten sich so in Abhängigkeit von situativ wandelbaren Parametern der Interpretationen des Stadtraums. 3. Lust auf Unterschiede? Nicht zufällig wird das 19. Jahrhundert manchmal als „Jahrhundert der Differenzen“ oder „Jahrhundert der Alteritäten“ etikettiert. Eine charakteristische, zuvor unbekannte Vorliebe für das Auffinden von Unterschieden, eine geradezu obsessive Sensibilität für Alteritäten aller Art ging einher mit einer Reihe zeitgleicher Prozesse, die gewöhnlich mit den Begriffen Modernität oder Modernisierung assoziiert werden und die ebenso wenig aus dem 19. Jahrhundert wegzudenken sind: Zum einen wurde das Konzept der modernen Nation und die damit verbundene weitreichende Transformation kollektiver Identitäten durchgesetzt, die in einem neuartigen Ausmaß und in veränderten Zusammenhängen die Technik des Othering aktivierten. Zum andern erlebten Geographie, Naturkunde, Ethnographie und das Reisen einen exponentiellen 13 TRAMER, Dreivölkerstadt Prag, 1961; BROD, Streitbares Leben,1960. 99 Zuwachs, die Mobilität weiterer Bevölkerungsschichten wuchs infolge der steigenden Arbeitsmigration, nicht zuletzt kam der Tourismus auf. Alle das bot immer mehr Gelegenheiten, bei denen es zur Begegnung und Konfrontation mit dem Neuen und Fremden kam. Es stimulierte und vertiefte das Nachdenken über kulturelle Vielfalt und machte empfänglich für die Wahrnehmung von (kulturellen) Unterschieden.14 Alle diese Trends offenbarten sich zuvörderst in der Stadt, dem mythischen Ort der Moderne.15 Die Stadt bot auf der einen Seite Nivellierungs- und Assimilationsprozessen Raum, auf der anderen Seite aber auch der Schichtenbildung und der Produktion von Differenzen.16 Bezeichnenderweise wurde nicht zuletzt das Problem der Differenz und der Differenzierung als eigenständiges Konzept der Sozialforschung gerade von dem Stadtsoziologen Georg Simmel (1858–1918) formuliert.17 Seine soziologische Entwicklungstheorie fußte genau auf dem Konzept der Differenzierung, und der Unterschied als Strukturmerkmal und Resultat sozialer Entwicklung wurde für ihn zum Schlüssel für die Deutung der modernen Gesellschaft überhaupt.18 Simmels gnomische Sentenz „der Mensch ist ein Unterschiedswesen“19 bedeutete freilich nicht nur, dass Menschen unterschiedlich sind, sondern auch, dass Menschen unterscheiden. Im Unterscheiden erkannte Simmel die mentale Operation, mittels derer Unterschiede identifiziert werden. Einerseits kamen im Verlauf der Modernisierung gewisse Unterschiede zum Verschwinden, andererseits jedoch wuchs das Bedürfnis, Unterschiede aufzuspüren. Den Umstand, dass diese besondere Vorliebe für Alteritäten grundsätzliche Bedeutung auch solchen Unterschieden zuschrieb, die unter anderen sozialen und historischen Verhältnissen kaum wahrnehmbar oder praktisch bedeutungslos gewesen wären, belegte auch Simmels Zeitgenosse Sigmund Freud (1856–1939) als er den „Narzissmus der kleinen Unterschiede“ als eines der pathogenen Elemente der menschlichen Mentalität identifizierte: [...] dass gerade die kleinen Unterschiede bei sonstiger Ähnlichkeit die Gefühle von Fremdheit und Feindseligkeit [...] bergründen. Es wäre 14 BARTH, Fremdheit und Alterität, 2008. MÜLLER, Die Großstadt, 1988. 16 CSÁKY, Die Stadt in der Moderne, 2008, 103. 17 In seiner frühen Untersuchung „Über sociale Differenzierung“ (1890) betrachtet Georg Simmel Differenzierung und Modernisierung als wechselseitig abhängige Prozesse. Er sieht die sog. primitiven Gesellschaften als wenig differenziert an, dagegen die modernen Gesellschaften als solche mit einem hohen Grad der Differenzierung; SIMMEL, Gesamtausgabe, 1989. 18 Auch bei zwei weiteren Klassikern der Soziologie der Jahrhundertwende figuriert das Konzept der Differenzierung, allerdings mit unterschiedlicher Akzentsetzung – der Arbeitsteilung bei Émile Durkheim und Wertdifferenzierung bei Max Weber. Von diesen Ansätzen aus wurde das Konzept zu einem konstitutiven Element weiterer Disziplinen, z.B. in der Linguistik Ferdinand de Saussures. 19 SIMMEL, Gesamtausgabe, 1989, 137. 15 100 verlockend, dieser Idee nachzugehen und aus diesem ‚Narzissmus der kleinen Unterschiede‘ die Feindseligkeit abzuleiten [...].20 In den Intentionen des „Zeitalters der Unterschiede“ wurde also ein offensichtlicher Unterschied zwischen der Differenz als soziale Tatsache und als sozialer Akt erkannt, und gewissermaßen ein konstruktivistisches Moment in der Erkennung und Operationalisierung von Unterschieden identifiziert. Auf diese beiden Phänomene, auf das Konfliktpotential der kleinen Unterschiede und die diskursive Sinnbildung von Unterschieden im Allgemeinen, verweist auch der Prager Diskurs der Jahrhundertwende. Der gesamte Diskurs über die ethnische Heterogenität Prags war von dem politischen Axiom der ethnischen Binarität geprägt und dadurch in seiner potentiellen Vielfalt reduziert. Binäre Oppositionen, d.h. semantisch zugespitzte Paare vom Typus Metropole/ Kolonie, Zentrum/ Peripherie, Mann/ Frau, ich/ der andere usw., waren (und sind allgemein) ein produktives Denkschema für die Thematisierung von Unterschieden und Unterschiedlichkeiten. Eine Folge der binären Denkökonomie, die in gewissem Sinne eine anthropologische Konstante ist, die sich aber nach Auffassung Heinz Gorrs im 19. Jahrhundert unter dem Einfluss der Denkschemata des Historismus merklich stabilisierte,21 war die deutliche Neigung, Andersartigkeit auf Alterität zu reduzieren. Zugleich mit dieser Reduktion trat eine bedeutsame semantische Verschiebung auf: Mannigfaltigkeit, die in ihrem Wesen als etwas Positives konnotiert war („der allwissende Gott schuf auch nicht zwei einander völlig gleiche Sandkörner“),22 verwandelte sich in einen Gegensatz. In dieser Weise wurde auch die nationale Polarität Tschechen versus Deutsche diskursiv zugespitzt. Der Deutsche bzw. Tscheche war in dieser Logik nicht nur jemand anderer, sondern der Andere (alter). Die Andersartigkeit, die auch für andere in Prag vertretene Nationalitäten noch Raum in dem binär errichteten Nationalitätsdiskurs gelassen hätte, wurde hier reduziert. Während Tschechen und Deutsche ihre Identität unter den Bedingungen Böhmens im Kern gerade in wechselseitiger Opposition herausbildeten, war die Beziehung zu den übrigen Nationalitäten ihrem Wesen nach in diesem Sinne nicht identitätsbildend. Die deutsch-tschechische Alterität war also eine besondere Beziehung zwischen zwei Subjekten, auf deren Grundlage diese Subjekte komplementäre Zeichen und Bestandteile ihrer Identität konstituierten. Und innerhalb dieses Prozesses hatten auch die Mechanismen und Prozesse des inventing of differences ihren Stellenwert. Wenn wir beispielsweise die Situation der eventuellen kulturellen Differenz zwischen Tschechen, Deutschen (und Juden) mit derjenigen der Migranten vom Land vergleichen, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts nach Prag kamen, wird 20 FREUD, Das Tabu der Virginität, 1988, 540. – Siehe auch FREUD, Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci, 1999 [1910], 197: „Die Intoleranz der Massen äußert sich merkwürdigerweise gegen kleine Unterschiede stärker als gegen fundamentale Differenzen.“ 21 GORR, Paris als interkultureller Raum, 2000, 22. 22 PALACKÝ, Dějiny národu českého, 1848, 10. – In Palackýs deutschsprachiger Ausgabe desselben Buches „Geschichte Böhmens“ (1836) sind die zitierten Passagen nicht enthalten. 101 offenbar, dass das Potential für reale kulturelle Interferenzen, wie sie auf der Ebene von Ethnizität bzw. Nationalität definierbar gewesen wären, entschieden geringer oder genauer gesagt anderer Art war. Insofern die Neuzuwanderer ein völlig anderes soziokulturelles Milieu repräsentierten, brachten sie andere Gewohnheiten und Vorstellungen mit und wurden in Prag mit einem völlig neuen Lebensstil, Arbeitsrhythmus, anderen Wohnformen usw. konfrontiert. Dagegen lebten Tschechen und Deutsche in der Stadt schon Jahrhunderte lang als Nachbarn, und dieser lange Zeitraum hatte eventuelle kulturelle Unterschiede nivelliert. Ethnizität war kein Kriterium, an dem sich die Struktur der Stadt historisch ausgerichtet hätte. In ethnischer, nationaler, konfessioneller und anderer Hinsicht durchdrangen sich die verschiedenen Bevölkerungsgruppen gegenseitig. Die Lebensweise, Ernährungs- und Kleidungsgewohnheiten, die Werteskala – all das war Tschechen, Deutschen (und Juden) im Prag der Jahrhundertwende gemeinsam. 4. Das Wesen interethnischer Differenzen: Konstruktionscharakter, Relativität, Nichtrepräsentativität Es sei eine bekannte und häufig zitierte Passage aus der Prag-Retrospektive Egon Erwin Kischs (1885–1948) angeführt: Mit der halben Million Tschechen der Stadt pflog der Deutsche keinen außergeschäftlichen Verkehr. Niemals zündete er sich mit einem Streichholz des Tschechischen Schulengründungs-Vereins seine Zigarre an, ebenso wenig ein Tscheche die seinige mit einem Streichholz aus einem Schächtelchen des Deutschen Schulvereins. Kein Deutscher erschien jemals im tschechischen Bürgerklub, kein Tscheche im Deutschen Casino. Selbst die Instrumentalkonzerte waren einsprachig, einsprachig die Schwimmanstalten, die Parks, die Spielplätze, die meisten Restaurants, Kaffehäuser und Geschäfte. Korso der Tschechen war die Ferdinandstraße, Korso der Deutschen „der Graben“.23 Modellhaft arbeitet der Text mit der Vorstellung einer tiefen nationalen Alterität, und die ganze Textpassage wirkt wie ein Katalog der Unterschiede. Es ist aber mindestens fraglich, inwieweit das artikulierte Alteritätsbewusstsein direkt auf Unterschieden fußt. Vielmehr bringt der Text den Umstand zur Sprache, dass die Prager Deutschen rauchten, ihre Zigaretten mit Zündhölzern anmachten, Vereinshäuser und Cafés aufsuchten und schwimmen gingen, während die Tschechen – genau dasselbe taten. Somit werden hier nicht kulturelle Unterschiede verbalisiert, sondern umgekehrt kulturelle Parallelen und Analogien. Diese Analogien werden allerdings so inszeniert, dass sie den Eindruck von Differenzen hervorrufen. 23 KISCH, Marktplatz der Sensationen, 1962 [1942], 76. 102 Aufgrund ihrer fortgeschrittenen Assimilation unterschied sich auch die Bevölkerung jüdischer Herkunft nur durch eine sehr geringe Anzahl von Kennzeichen, die diskursiv operationalisierbar wurden. Manche wohlhabenden jüdischen Familien hatten das Ghetto verlassen, lange bevor die restriktiven Niederlassungsbestimmungen aufgehoben wurden, und allmählich lockerte sich auch die traditionelle konfessionelle Identität. Um die Jahrhundertwende hatten davon in vielen Familien nur ein Teil der religiösen Rituale und die wichtigsten Feiern überlebt. Dennoch oder vielleicht gerade deshalb wurde eine Vorstellung der jüdischen Andersartigkeit mittels anderer Konstrukte suggeriert und von der konfessionellen auf die formbare und imaginäre Eben der Rasse verlagert. Der Mangel an Unterschiedlichkeiten zwischen Tschechen, Deutschen und Juden im Prag der Jahrhundertwende fiel bereits Gary B. Cohen auf, der zu dem Schluss kam, dass für das damalige kommunale und soziale Gemeinwesen soziale und möglicherweise konfessionelle Unterschiede größere Bedeutung besaßen als ethnische.24 Dieser These pflichteten auch Pieter Judson und Jeremy King bei,25 deren großzügige Anschauung offenbar auch von ihrer amerikanischen Perspektive beeinflusst ist. Wie Sander Gilman in seiner Studie über die Größe der „großen“ jüdischen Nase gezeigt hat, ist es in der Tat methodisch sehr umstritten, wie die absolute Größe von Unterschieden zu messen sei, also etwas, was von der Perspektive und der Wahl des Maßstabs abhängt.26 Der Prager Diskurs der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts scheint dennoch René Girards mimetische Konflikttheorie zu bestätigen, der zufolge keineswegs kulturelle Unterschiede, sondern im Gegenteil gemeinsame Schnittmengen, soziale Anknüpfungspunkte und parallele Interessen Probleme provozieren. Dieser spezifische „Zusammenhang von Konflikt und fehlender Differenz“27 kam in den Repräsentationen des Prag der Jahrhundertwende sehr deutlich zum Ausdruck. Beispielsweise bemerkte Viktor Dyk (1877–1931) in seinem Roman „Prosinec“ (Dezember, 1906) ironisch, dass noch 1897, nur wenige Monate bevor die tschechisch-deutschen Unruhen ausbrachen, zwischen den Tschechen und Deutschen in Prag ein einziger, winziger Unterschied bestand, und zwar, dass die Tschechen riefen „ať žije dědic!“ („es lebe der Kronprinz!“), während die Deutschen die genaue Aussprache nicht trafen und riefen „ať šije dědic!“ (etwa: „es nähe der Kronprinz!“). „Eine kleine Differenz“, schrieb Dyk, „ein strittiger Buchstabe!“28 Auch der vorzeitig verstorbene, aber sehr bedeutende Publizist Hubert Gordon Schauer (1862–1892) dachte Mitte der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts über das Problem in seinen allgemeinen Zusammenhängen nach. In 24 COHEN, Politics of Ethnic Survival, 1981, 136. JUDSON, Inventing Germans, 1993; KING, Budweisers, 2003. – Dazu ebenfalls ČAPKOVÁ, Tschechisch, Deutsch, Jüdisch, 2006, 73. 26 GILMAN, Die jüdische Nase, 2005. 27 PALAVER , Girards mimetische Theorie, 22004, 96. – Palaver setzt sich hier kritisch (S. 94) mit Samuel Huntingtons These über den „Kampf der Kulturen“ (HUNTINGTON, Der Kampf der Kulturen, 1996) auseinander. 28 DYK, Prosinec, 1906, 42. 25 103 einem seiner paradigmatischen Artikel über das Wesen des deutsch-tschechischen Zusammenlebens stellte er sich genau die Frage, wie es denn möglich sei, dass in einer Zeit, da die moderne Entwicklung die Unterschiede zwischen den Völkern verwische, sich zugleich die Nationalisierung des Denkens vertiefe. Eine Antwort auf dieses „Paradoxon“ fand er in der universellen biologischen These Charles Darwins, dass nämlich der unbarmherzigste Kampf ums Überleben in der Regel zwischen den sich am nächsten stehenden Tierarten ausbreche.29 Die diskursive Formierung des Prager soziokulturellen Raums zeigte sehr deutliche Indizien jenes „faktischen“ Defizits, das es auf der einen Seite unmöglich machte, das Tschechische, Deutsche (und Jüdische) in Prag klar zu unterscheiden, zugleich aber diese Unterscheidung forderte und vorantrieb. Das Fehlen greifbarer Differenzen aktivierte intuitive Praktiken der Konstruktion und Suggestion von Unterschieden, die sich ungeachtet ihres problematischen diskursiven Ursprungs und strittiger „Größe“ als gesellschaftlich höchst relevant erweisen konnten. Damit soll keineswegs gesagt sein, dass Kultur primär oder gar ausschließlich auf der Ebene des Alltags, der materiellen Kultur oder des Lebensstils definiert werde, und dass sich beim Fehlen von Unterschieden auf diesen Gebieten nicht von verschiedenen Kulturen bzw. von der Verschiedenartigkeit der Kulturen sprechen lasse. Kultur als System von Zeichen und symbolischen Beziehungen ist eine wesentlich komplexere Kategorie. Die Differenz ist nämlich selbst ein Zeichen und verweist auf ein bestimmtes semiotisches System, innerhalb dessen sie relevant ist. Selbstverständlich verweist die Thematisierung interethnischer Differenzen also auf einen ethnischen bzw. nationalen Diskurs. Allein dieser ermöglicht (als ein sinnstiftender Bezugsrahmen) einem solchen Typus von Differenz, sich zu konstituieren und in Erscheinung zu treten. Der Zwang zum Denken in nationalen Kategorien, der mit sich brachte, interethnische Differenzen zu thematisieren, wird auch in dem wenig konkreten und in vielfacher Hinsicht nicht konkretisierbaren Charakter einiger der angesprochenen deutsch-tschechischen Differenzen deutlich. Weder stand hinter diesen Manifestationen eine „reale“ Verschiedenartigkeit, noch auch nur eine annähernde Vorstellung davon, worin die angenommene oder vermeintliche Verschiedenartigkeit denn nun bestehe. Wie mühsam es damals war, die thematisierten Differenzen auch nur zu artikulieren, wie sehr sie von Intuition und situativem Kontext abhingen, das lässt sich z.B. anhand eines der meistdiskutierten tschechischen Romane des Jahrhundertwende illustrieren, des bereits erwähnten „Studentenromans“ „Prosinec“ von Viktor Dyk. Sein Autor arbeitet mit einem sehr begrenzten Repertoire an Differenzen, und zwar schon deshalb, weil der deutsch-tschechische Konflikt für ihn nur eine Folie bildet, auf der er innertschechische Themen ausbreitet. Selbstverständlich wird dabei auch die Sprachdifferenz angesprochen, die wir bereits erwähnt haben und auf die wir noch genauer zu sprechen kommen werden. Die sprachliche Verschiedenheit wird hier jedoch mit der Vorstellung einer tiefergehenden Differenz verknüpft, durch 29 SCHAUER, O podmínkách české literatury, 1889/90, 170. 104 die ein in mehrfacher Hinsicht symptomatischer Bezugsrahmen des Romans aufgebaut wird, in dem sich eine der Hauptfiguren, ein junger tschechischer Intellektueller, die rhetorische Frage stellt, wer „sich heute dessen bewusst ist, dass wir eigentlich alle deutsch denken.“30 Mit der Frage nach dem Einfluss der Germanisierungspraktiken auf die tschechische Mentalität wird hier das Problem der sprachlichen Bedingtheit des Denkens aufgeworfen. Dabei wird der Einfluss einer Kultur auf die andere postuliert, der auf der Ebene des Denkens mit Hilfe der Sprache erfolgt. Die Sprache figuriert als Medium des Denkens, und zwar eines national spezifischen Denkens. So wird die Sprache implizit zum Instrument einer eventuellen Veränderung des Denkens, vor allem im Sinne seiner „Entnationalisierung“. Ähnlich wie bei Kisch geht es auch bei Dyk darum, eine Differenz zwischen „uns“ und „ihnen“ zu suggerieren, die in diesem Fall durch die Opposition zwischen einer tschechischen und einer deutschen Denkweise vertreten wird. Allerdings wird diese Differenz zugleich postuliert und negiert. Zwar wird hier implizit zwischen der tschechischen und der deutschen Denkweise unterschieden, zugleich wird jedoch explizit festgestellt, dass es diese angenommene, erwartete, gleichsam selbstverständliche Differenz gar nicht gibt: Tschechen und Deutsche denken deutsch. Die Differenz manifestiert sich hier also eher als eine verschwundene, bloß historische. Einstmals existierte sie, aber sie wurde durch die Germanisierung verwischt. Abgesehen davon, dass diese Differenz zwischen der deutschen und der tschechischen Denkweise eigentlich nicht mehr aktuell war und deshalb im Prag der Jahrhundertwende gar nicht mehr zwischen Tschechen und Deutschen stehen und ihren Konflikt beleuchten konnte, handelt es sich gleichzeitig um eine inhaltlich sehr vage formulierte Differenz. Nirgendwo ist definiert oder ausdrücklich gesagt, was es eigentlich bedeutet, deutsch oder tschechisch zu denken und worin sich die deutsche Denkweise von der tschechischen unterscheidet. Auch hier wird symptomatischerweise die Differenz also nicht in einem Bereich thematisiert, der sich konkretisieren, visualisieren oder definieren ließe, sondern irgendwo in spekulativen, sich einer exakten Beschreibung entziehenden Denkstrukturen. Offensichtlich wird hier intuitiv eine kulturelle Opposition angenommen, es fehlt aber am analytischen Apparat für einen exakteren begrifflichen Umgang damit. Die Existenz zweier unterschiedlicher Denkkulturen wird einfach behauptet, aber nicht bewiesen. Die Wahrnehmung oder zumindest Verbalisierung von Differenz, und fügen wir an dieser Stelle auch noch die sich daraus ergebende Interferenz hinzu, wird also nur auf eine höchst spekulative und unklare Weise realisiert. Diese symptomatische Nichtfasslichkeit wird ebenso wie der weitgehend intuitive Charakter der Differenzen in einer ganzen Anzahl von Texten der Jahrhundertwende inszeniert. Beispielsweise zeichnet Rainer Maria Rilkes Erzählung „Die Geschwister“ aus dem Dyptichon „Zwei Prager Geschichten“ von 1899 eine Szene, in der der junge, deutschsprachige Ernst Land bei der Suche 30 DYK, Konec Hackenschmidův, 1904, 51. 105 nach einer Mietwohnung in einer ruhigen Straße auf der Kleinseite am Hauseingang vor der tschechischen Hauswirtin Rosálka steht: Er gefiel ihr nicht, das wußte sie im Augenblick. Er war ihr »zu deutsch«. Das empfand sie dann und wann einem Menschen gegenüber, obwohl sie nicht wußte, was diesen Eindruck hervorrief, kaum, ob es ein Zuviel oder ein Mangel war.31 Hier wird die deutsch-tschechische Alterität in den Vordergrund gerückt, repräsentiert von zwei Akteuren, deren verschiedene nationale Zugehörigkeit benannt wird. Die deutsch-tschechische Alterität ist markant und erheischt Aufmerksamkeit: Land ist Deutscher, Rosálka ist Tschechin. Im Prinzip handelt es sich jedoch um eine sekundäre Alterität. Die an dieser Stelle aufgebaute zentrale semantische Differenz ist diejenige zwischen einer Figur, die deutsch wirkt, und einer Figur, die „zu“ deutsch wirkt. Rilke entwirft hier keine oberflächliche, strategische deutsch-tschechische Alterität, sondern er siedelt den potenziellen Konflikt jenseits der Kategorie der Ethnizität an. Den Konflikt definiert er nicht apodiktisch als unausweichliches Risiko des Zusammenlebens, sondern er zeigt, dass er von dem individuellen Maß interethnischer Toleranz abhängig war. Ob der Unterschied zwischen dem Deutschen und dem „Allzu-Deutschen“ nun groß oder klein war und worin er eigentlich bestand, wird schlichtweg nicht konkretisiert, und selbst die Protagonistin ist nicht in der Lage, ein Kriterium für diese Unterscheidung zu benennen, denn sie weiß nicht, „was diesen Eindruck hervorrief“. Der hier suggerierte Unterschied ist somit undefinierbar: Ein Differenz wird impliziert, aber als etwas Nichtrepräsentierbares. Zugleich ist jedoch dieses Nichtrepräsentierbare gesellschaftlich relevant, denn es bestimmt das Maß von Sympathie und Antipathie, das wiederum das soziale Verhalten lenkt. Trotz seiner Unbestimmtheit findet es also eine soziale Resonanz und ist somit imstande, bestimmte gesellschaftliche Funktionen zu erfüllen. Die Logik von Rilkes Referenz lässt ahnen, dass das, was den Eindruck der Verschiedenheit hervorruft, nicht die Verschiedenheit selbst ist, sondern die diskursive Situation, in der sich der Sprecher, der Beobachter oder einfach das Subjekt befindet und die a priori eine Differenz voraussetzt. Den situativen Charakter und die Pragmatik einer Anzahl von Alteritäten, welche die Unterschiede zwischen den Bewohnern Prags keineswegs reflektierten, sondern überhaupt erst schufen, zeigt im Prager Diskurs letztendlich auch eine ganze Reihe weiterer Beispiele an, die nichts mit nationalen Kategorien zu tun hatten. Für die kommunalen Verwaltungsorgane war z.B. von großer Wichtigkeit, zwischen den ansässigen Bewohnern zu unterscheiden, d.h. denjenigen, die in Prag das Heimatrecht besaßen, und den Immigranten, welche dieses Recht in Prag eben nicht besaßen, denn das berührte die heikle Frage der städtischen Finanzen. Wenn Prag jemandem den Status des Gemeindemitgliedes 31 RILKE , Geschwister, 1899/2005, 117. 106 erteilte, nahm die Stadt damit bedeutende Verpflichtungen auf sich, besonders im Hinblick auf die Armenfürsorge. Nach dem Heimatgesetz von 1863, das bis 1901 gültig blieb, durfte jede Gemeinde entscheiden, ob und wen sie in ihren Verband aufnahm, und von diesem Recht machte sie im wohlverstandenen Eigeninteresse Gebrauch. So wurde im rechtlichen Status der Einwohner Prags künstlich ein Unterschied definiert, der den ökonomischen Interessen der Stadtverwaltung diente und der situationsabhängig auf die damaligen Migrationsprozesse reagierte. Die Aufhebung dieser Bestimmung an der Schwelle zum 20. Jahrhundert zeigt zugleich, dass sich die Maßnahme in Anbetracht der wachsenden Einwanderung nicht durchhalten ließ und dass mit dem Verschwinden der Lage, die zu ihr Anlass gegeben hatte, auch der Unterschied selbst verschwand. 5. Modellbildende Räume der Konstruktion von Unterschieden: Historiographie und Ethik Der Diskurs der deutsch-tschechischen Alterität bildete sich also in Prag um 1900 unter einer gewissen Absenz von konkreten Differenzen heraus. Der stark nationalisierte Diskurs der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte aber bestimmte Strategien, um solche Unterschiede zu suggerieren, zu generieren oder sie durch andere Formen der Distanznahme zu ersetzen. Es war v.a. der Bereich der Erinnerungskultur, der einen interpretativen Raum zur Konstruktion kultureller Unterschiede bereitstellte, und darüber hinaus ein formbares und spekulatives Feld der nationalen Charakteristik, das zum Teil ebenfalls in der Vergangenheit angesiedelt war. Gerade in der Vergangenheit wurden die wesentlichen deutsch-tschechischen Kulturdifferenzen gesucht und gefunden: Wenn wir zunächst einmal die Sprache beiseitelassen, wurden an Unterschieden zwischen Tschechen und Deutschen bereits für das frühe Mittelalter insbesondere solche der Art, sich zu kleiden, sich bei Hofe zu benehmen und solche der kollektiven ethischen Werte angesprochen. Das auseinanderdriftende historische Gedächtnis Prags wurde zum einen zum Reservoir von Differenzen, zum anderen zugleich ein Ort der Differenz. Die Gegenwart zweier Ethnika, die jeweils für sich die Anerkennung ihrer Autochthonie in Prag beanspruchten, war in der langen Geschichte ihres Zusammenlebens eine stets latente Konfliktursache. Bereits eines der ältesten tschechischen literarischen Textdenkmäler, die Reimchronik des sog. Dalimil vom Anfang des 14. Jahrhunderts, ist bekannt für ihren antideutschen Zungenschlag und den Versuch, systematisch zwischen einem einheimischen tschechischen und einem fremden deutschen Bevölkerungsanteil im Lande zu unterscheiden. Dennoch war die normative Aufteilung nach dem nationalen Kriterium, wie sie sich schrittweise in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchsetzte, in Prag nicht so selbstverständlich, und viele Einwohner Prags wussten nicht, ob sie sich 107 für Deutsche oder Tschechen halten sollten.32 Insoweit hier kulturelle Unterschiede existierten, die auf der Ebene von Ethnizität bzw. Nationalität definiert werden konnten, waren sie entweder irrelevant, d.h. es wurde ihnen keine paradigmatische Bedeutung zugewiesen, oder sie wurden nicht als nationale bzw. ethnische Unterschiede gesehen. Allerdings stärkte die fortschreitende Nationalisierung das Postulat einer Nationalkultur. Und genau da traten die Denkmechanismen der Unterscheidung und Abgrenzung in Aktion. Im Prager Fall war dies jedoch keineswegs einfach. Dem Spannungsverhältnis zwischen dem Zwang zur Unterscheidung einerseits und dem Mangel an relevanten Unterscheidungskriterien und faktischen Unterschieden andererseits verlieh bereits 1862 der Professor für österreichische Geschichte an der Prager Universität Antonín Gindely (1829–1892) Worte: „Schon bald kommt die Zeit, in der wir – wenn wir zu atmen wünschen – angeben müssen, ob wir tschechische oder deutsche Luft haben wollen […].“33 Die Unterscheidung in tschechisch und deutsch erschien ihm aus Prager Perspektive absurd. Wie sollte denn Luft zu unterscheiden sein? Wie das Tschechische und das Deutsche in Prag? Nach Gindelys Auffassung sollte das nationale Raster einer Masse übergestülpt werden, die damit nichts gemein hatte und sich historisch gemäß anderer Kategorien und Prinzipien gebildet hatte. Die Vorstellung kultureller Alterität wurde also zum Bestandteil der nationalen Mythologie paradoxerweise just in einer Zeit, in der sie sich in den markantesten Feldern, d.h. in der ganz gewöhnlichen Praxis des Alltags, eigentlich auf keinerlei wesentliche kulturelle Unterschiede stützen konnte, so dass sie aus Sicht der überlebenden Traditionen von Land und Dynastie ein eng verwachsenes Ganzes zu durchschneiden schien. Der der Konstruktion von Unterschiedlichkeiten offenstehende Raum war also vor allem die Vergangenheit. Bereits die fundierende Deutung der böhmischen Geschichte, die romantische Interpretation František Palackýs (1798– 1876), beruhte auf der Vorstellung eines diametralen Gegensatzes, nämlich auf dem Gegensatz der feudalen Ordnung der alten Germanen und der demokratischen Ordnung der alten Slawen, was wesentliche Differenzen im nationalen Wertesystem der beiden Ethnika implizierte. Während noch Palacký diese beiden Prinzipien in einer dialektischen Beziehung sah, welche die böhmische Geschichte in Bewegung versetzt und ihr zugleich Sinn verliehen habe, verstärkte sich im nationalisierenden Diskurs der zweiten Jahrhunderthälfte zusehends die Vorstellung, dass gesellschaftliche Stabilität normativ mit einer mononationalen Gesellschaft gleichbedeutend und Multiethnizität als Ursprung notwendiger und unausweichlicher Konflikte zu betrachten sei. Schon Palackýs jüngerer Kollege Václav Vladivoj Tomek (1818–1905) kritisierte die Stadtbaupolitik der Přemysliden, da sie in ihrem Bemühen um die Stadtentwicklung neuen, besonders aus deutschen Gebieten stammenden Siedlern Privilegien erteilten: „Niemals dachten diese Herrscher an das Unglück, das die 32 33 COHEN, Politics of Ethnic Survival, 1981, 45. Dějiny Univerzity Karlovy, 1997, 306. 108 ungeordnete Vermischung der Bevölkerung im Laufe der Zeit mit sich bringen musste [...].“34 So wie sich der deutsch-tschechische Antagonismus immer deutlicher abzeichnete, so traten auch die ihn legitimierenden nationalen Stereotype klarer in Erscheinung. Hier standen sich auf der einen Seite die Idee vom slawischen Freisinn und Edelmut, die angeblich dem uralten demokratischen Geist des slawischen Rechtes entsprachen, auf der anderen die Vorstellung von germanischer Arroganz und Streben nach einer hierarchischen Organisation der Gesellschaft gegenüber. Aus der umgekehrten nationalen Perspektive wurden die disziplinierten und arbeitsamen Germanen den sentimentalen und ineffektiven Slawen entgegengesetzt.35 Die moralisierende Konnotation dieser Differenzen durch Wendungen wie: „Es ist nicht die deutsche Sitte […]“36 oder umgekehrt „du kennst nicht den eigennützigen Charakter der Deutschen […]“37 gab diesem Antagonismus das Dekorum eines Ringens um höhere Werte. Sie verlieh der aktiven Auseinandersetzung die Weihen einer höheren moralischen Verpflichtung, es ging dabei um nichts Geringeres als den Konflikt disparater Moralsysteme. Was auch immer sich eigentlich hinter diesen sprachlichen Wendungen verbarg, die diskursive Wirkung ihres Kontextes jedenfalls verschleierte den problematischen Status der Differenz selbst. So folgte z.B. auf das Zitat Karl Hans Strobls (1877–1946) „es ist nicht die deutsche Sitte“ als Objekt der Ausschließung: „sich über seine Liebe zu unterhalten“. Er nimmt an dieser Stelle Anstoß daran, dass die Tschechen sich in Liebesdingen mitteilen, also offen über Angelegenheiten sprechen, die im intimen Kreise verbleiben sollten. Mit der Wendung „es ist nicht die deutsche Sitte“ verallgemeinert er den vermeintlichen kulturellen und sittlichen Gegensatz zwischen Deutschen und Tschechen. Alois Jirásek (1851–1930), einer der kanonischen tschechischen Autoren der Jahrhundertwende, sah dies freilich bezeichnenderweise gerade umgekehrt. Er teilte mit Strobel die Auffassung, es sei nicht schicklich, über Herzensangelegenheiten zu sprechen, dieses sittliche Manko jedoch schrieb er vermittels einer seiner paradigmatischen Figuren den Deutschen zu. Es ist in diesem Falle umgekehrt ein tschechisches Mädchen, das im Einklang mit dem diesmal tschechischen Moralkodex tugendsam schweigt.38 Auch dieses vielsagende Beispiel illustriert den ideologischen Zuschnitt und Konstruktionscharakter der in der Literatur inszenierten Gegensätze. Mehr als eine reale Differenz manifestiert es die parallele Entwicklung der beiden nationalen Diskurse, und ähnlich wie die zitierte Passage aus Kisch’ „Marktplatz der Sensationen“ bezeugt es, dass die beiden Gesellschaften realiter diejenigen moralischen Werte teilten, die sie sich gegenseitig absprachen. 34 35 36 37 38 Ebd. ROBERTSON, National Stereotypes, 1989, 117. MAUTHNER, Der letzte Deutsche, 1919 [1887], 67. CHOCHOLOUŠEK, Palceřík, 1900 [1847], 108. JIRÁSEK, Do tři hlasů, 1951 [1890]. 109 Solche normativen Stereotypen ethischer Differenz begegnen in der tschechischen Literatur nicht zufällig besonders im Genre des historischen Romans.39 Es ist offenkundig, dass die für jedwede Interpretation offene Vergangenheit und die wenig konkrete, der Imagination freies Spiel lassende Schilderung des Nationalcharakters ideale Felder waren, um Verschiedenheiten entdecken zu können. Entschieden weniger Rückhalt fand der Diskurs der deutsch-tschechischen Differenz in der Gegenwart und in der alltäglichen, konkreten Realität des Zusammenlebens, wie sie alle vor Augen hatten und in der die Unterschiede zwischen Prager Deutschen und Prager Tschechen recht geringfügig ausfielen. Ein sehr überzeugendes Argument dafür ist der Befund, dass in den zeitgenössischen Texten die Kategorie des kulturellen Missverständnisses ganz und gar durch Abwesenheit glänzt: Tschechen und Deutsche verstanden einander anscheinend auf kultureller Ebene uneingeschränkt oder hatten zumindest nicht den gegenteiligen Eindruck. Kulturelle Missverständnisse als Quelle des Komischen hätten dabei, wären sie denn thematisiert worden, ein dankbares Objekt für zahlreiche Anekdoten abgegeben, wie z.B. das bekannte Missverständnis aus der Revolution von 1848/49, als die mährischen Weinbauern den Begriff der Pressefreiheit auf „Weinpresse“ bezogen und meinten, es gehe um Steuererleichterungen für die Weinkelterei. Selbstverständlich handelte es sich dabei nicht in erster Linie um ein sprachliches Missverständnis, allein schon deshalb, weil es sich nach Feststellung Miroslav Hrochs40 um deutschsprachige Weinbauern handelte, sondern um die Unvereinbarkeit kultureller Codes und Denkhorizonte. Diese Art von Missverständnissen, die eine relevante kulturelle Verschiedenartigkeit zwischen dem tschechischen und dem deutschen Ethnikon implizierten, werden wir in den Texten aus der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert vergeblich suchen. Das Fehlen kultureller Missverständnisse könnte selbstverständlich als Beleg dafür interpretiert werden, dass sich die beiden nationalen Gesellschaften voneinander abgrenzten, da sie schlicht allein aus Mangel an Kontakten nicht die kulturellen Unterschiede z.B. in der intimen Privatsphäre des Familienlebens der anderen Nationalität erkennen konnten und nicht mit einer andersartigen kulturellen Praxis konfrontiert wurden. Andererseits kann diese Fehlstelle aber auf den Umstand deuten, dass Deutsche und Tschechen einfach keine klar voneinander unterschiedenen kulturellen Systeme repräsentierten. Die Intentionen einer Vielzahl von Texten der Jahrhundertwende, die über Kontakte zwischen den beiden Nationalitäten, keineswegs aber über kulturelle Missverständnisse reflektieren, sprechen eher für die zweite Auslegung. Auch die nationale Propaganda war eher darum bemüht, den Eindruck zu wecken, man habe die andere Nation bestens studiert, und man sei sich über ihre (meist negativ) interpretierten Ziele, Absichten und Intentionen völlig im Klaren. 39 BOROVÁ, Obraz Němců, 1997; SCHAMSCHULA, Das Bild des Deutschen, 1980; MAIDL, Obraz německy mluvících postav, 1998. 40 HROCH, Rozhovor, 2010 [2001]. 110 Die erwähnten nationalen Stereotype, die wie gesagt besonders im historischen Bereich operationalisiert und zu moralischen Aussagen erhöht wurden, waren freilich in vielem älteren Datums und gingen bis auf die frühsten Phasen des nationalen Diskurses zurück. Um die Jahrhundertwende wirkten sie schon sehr differenziert und fanden nur in einem bestimmten nationalistischen Kontext gesellschaftliche Resonanz. Ein Teil der Gesellschaft war sich ihrer ideologischen Bedingtheit bewusst und grenzte sich dagegen ab, sie weiter zu pflegen und zu hegen. Der Schriftsteller Vilém Mrštík (1863–1912) z.B. polemisierte ausdrücklich gegen die stereotype deutsch-tschechische Alterität in seinem bekannten Pamphlet gegen die Assanierung und radikale urbanistische Modernisierung Prags, das 1897 unter dem Titel „Bestia triumphans“ erschien: „[C]o se to u vás děje? Kdo to vše způsobil? - To jistě zase ti vaši Němci!“ Studem a v křečích kroutí se péro, když přes hranice vysvětlovati má: ne Němci, že to jsou, ale naši vlastní lidé, nepřítel všech nepřátel nejhorší, poněvadž – a to vysvědčení Němcům není možno upřít – dokud Němci byli v čele naší obce, takové surovosti páchány nebyly! „[W]as passiert hier bei euch? Wer hat das alles veranlasst? – Doch wohl wieder eure Deutschen!“ Vor Scham sträubt sich die Feder, wenn sie über die Grenzen hinweg bekennen soll: nicht die Deutschen, sondern unsere eigenen Leute, der von allen Feinden schlimmste Feind, denn – und dieses Bekenntnis zugunsten der Deutschen lässt sich nicht verweigern – solange die Deutschen die Führung unserer Gemeinde innehatten, wurden solche Barbareien nicht begangen!41 Die Tatsache, dass die Mobilisierungsfunktion der Stereotypen, die gerade auf der Konstruktion national-ethischer Differenzen beruhte, zur Jahrhundertwende bei einem Teil der Gesellschaft an Wirksamkeit verlor, wird auch von dem großen Diskurs der literarischen Moderne belegt, der sich um den Charakter und die künstlerische Bedeutung eines bestimmten literarischen Genres entwickelte, nämlich der historischen Belletristik. Mit dem Antritt einer neuen Generation von Schriftstellern wurde gerade dieser literarische Bereich, der nationale Stereotypen tradierte und auch noch zuspitzte, um 1890 herum zur Zielscheibe der Kritik. Die sich formierende literarische Moderne warf ihm eine Anzahl von Mängeln und Versäumnissen vor, vor allem eben das hohle patriotische Pathos, mit dem der historische Roman seine historisierenden Ingredienzien einer bestehenden nationalen Matrix anpasste. Sie kritisierte den unhaltbaren zweckgerichteten Schematismus und die national-ethische Stigmatisierung historischer Gestalten, die in der damals aktuellen Prosa und im Mund zeitgenössischer Persönlichkeiten völlig absurd und lächerlich klänge.42 Die Wahrnehmung der deutsch41 42 MRŠTÍK, Bestia triumphans, o.J [1897], 3. ŘEZNÍKOVÁ, Moderna a historizmus, 2004. 111 tschechischen Stereotype wurde also differenzierter und zeigte an, dass innerhalb der jeweiligen nationalen Gesellschaft Unterschiede aufbrachen. 6. Topik der sozialen Differenz Teils historischen, teils Konstruktionscharakter besaß eine weitere, damals oft artikulierte Differenz, die zwischen Tschechen und Deutschen aufgrund ihrer sozialen Stellung und ökonomischen Potenz unterschied. Diese soziale Differenz wurde in der Dichotomie „reiche Deutsche“ versus „arme Tschechen“ zum Ausdruck gebracht. Egon Erwin Kisch spitzte sie im Rückblick journalistisch übertreibend zu: Das deutsche Prag! Das waren fast ausschließlich Großbürger […]; in ihrem Kreis verkehrten Professoren, höhere Offiziere und Staatsbeamte. Ein deutsches Proletariat gab es kaum.43 Diese Differenz wurde vor allem in der deutschsprachigen Literatur angesprochen, wo sie in einer Vielzahl von Texten offenbar ohne jede ideologische Intention, also als etwas völlig Selbstverständliches inszeniert wurde. Kischs getretener tschechischer Flößer, Hauschners schwindsüchtiger Schriftsetzer aus der tschechischen Arbeiterschaft oder Brods berühmtes tschechisches Dienstmädchen sind Figuren, die ganz selbstverständlich als paradigmatische Typen des Prager Tschechen dienen. Diese und weitere Autoren verwenden den Stereotyp ganz unreflektiert, es ist für sie ein selbstverständlicher Handlungsgenerator und Schüssel zur Besetzung der dramatis personae. Der Schematismus ist hier nicht unbedingt ein Instrument der nationalen Propaganda, und die damit arbeitenden Texte sind in einigen Fällen durchaus von einer gewissen protschechischen Sympathie geprägt. Umso mehr zeigt freilich diese topische Konstante, wie fest sie in den zeitgenössischen Denkstrukturen der Prager deutschen Autoren verankert ist. Dabei ist auch bemerkenswert, in welcher Weise sich umgekehrt die deutsche Literatur im Sinne dieses Schemas das eigene Proletariat zurechtlegte: Die arrivierten deutschen Mittel- und Oberschichten nahmen anscheinend die eigenen Armen gar nicht erst wahr: „Ein deutsches Proletariat gab es kaum.“ 44 Dabei machten Lohnarbeiter und Tagelöhner nach der Volkszählung von 1910 mehr als zwanzig Prozent der deutschen Bevölkerung aus.45 Gary B. Cohen führt dies darauf zurück, dass diese deutschen Armen nicht in den Vierteln mit der größten deutschen Bevölkerungskonzentration lebten, nämlich in der Prager Alt- und Neustadt, sondern „irgendwo weit draußen“ in den industriellen Vorstädten. Daher die eigentümliche räumliche Distanz, die zugleich eine soziale Distanz 43 44 45 KISCH, Marktplatz der Sensationen, 1962 [1942], 75f. Ebd., 76. COHEN, Politics of Ethnic Survival, 1981, 121f. 112 markierte: Die armen deutschen Bevölkerungsschichten passten einfach nicht in das vorgegebene soziale Schema, und den deutschen Autoren fielen offenkundig keine Narrative ein, in denen – mit der gelegentlichen Ausnahme des armen Studenten – ein proletarischer Held Platz gefunden hätte. Die historischen Wurzeln dieses Schemas hatten der o.g. historischen Interpretation zufolge noch eine weitere Ebene, nämlich die sprachliche. Bis in das 17. Jahrhundert, in gewissem Sinne sogar bis in das Mittelalter reichte die soziale Stratifikation der Sprachen in Böhmen zurück,46 und das ethnosoziale Schema lässt sich auch als eine antiquierte Version dieser historischen Stratifikation deuten. Die deutsche Sprache funktionierte darin als Mittel sozialer Anerkennung und gesellschaftlichen Aufstiegs. Bis zum 19. Jahrhundert handelte es sich aber nicht um eine soziale Stratifikation der Ethnika, sondern eine solche der Sprachen.47 Auf diese Weise wurde die anfängliche soziale Stratifikation der Sprachen unter dem Einfluss der ethnischen Nationalisierung in eine sozioökonomische Stratifikation der Nationalitäten transformiert. Im Kern unterlag dieses Schema einem zweifachen Irrtum. Es setzte erstens voraus, dass die deutschsprachigen Eigentümer bedeutender Unternehmen und Immobilien zugleich ethnische Deutsche waren, und zudem stellte zweitens der Aufstieg des tschechischen Industrieunternehmertums und Finanzwesens das einstige deutsche Übergewicht (sei es nun in sprachlichem oder ethnischem Sinne) in Frage. 7. Die Ethnisierung der Sprache So erschien um die Jahrhundertwende die Sprache in der Tat als der einzige reale Unterschied. Denn diese wurde als die „sichtbarste Verschiedenheit zwischen Tschechen und Deutschen in Prag“ gesehen.48 Aber auch die Sprache erfüllte die Rolle des Unterscheidungsmerkmals keineswegs vollständig und restlos. Die nationale Identifikation anhand der Sprache wurde durch den Umstand nicht gerade erleichtert, dass ein Teil der tschechischen Gesellschaft seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert infolge der Wiener Sprachenpolitik germanisiert oder bilingual war und je nach aktuellem sozialen Kontext zwischen den beiden Sprachen hin- und herwanderte, ohne sie mit ethnischen oder nationalen Kategorien in Verbindung zu bringen. Die deutsch-tschechische Zweisprachigkeit vereinfachte einerseits das deutsch-tschechische Zusammenleben in der Praxis, zugleich erschwerte sie aber eine strikte nationale/ ethnische Abgrenzung, indem sie das Sprachkriterium in 46 SKÁLA, Prager Deutsch, 1966, 88. Fritz Mauthner bestätigte diese noch für die Zeit seiner Prager Kindheit, d.h. die 1850er/60er Jahre, allerdings mit einer Einschränkung, die diese einfache Stratifikation schon problematisierte: „Das Tschechische war in meiner ersten Jugend – wenn man von den bewußten Förderern des Slawentums in den Städten absieht – die verachtete Bauernsprache; vermeintlich bessere Stände schämten sich ihres slawischen Idioms […].“ MAUTHNER, Prager Jugendjahre, 1969 [1918], 118. 48 BENEŠ, Historické kořeny, 2002, 18–19. 47 113 Frage stellte. Sogar in der Familie des „Vaters der modernen tschechischen Nation“, des Historikers František Palacký, wurde bekanntlich bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts deutsch gesprochen. Es ist allerdings offenkundig, dass sich mit dem Aufbau des tschechischen Schulwesens nach der Jahrhundertmitte die Situation änderte und die Sprache in der Folge immer deutlicher und eindeutiger als Kennzeichen der ethnischen Zugehörigkeit wahrgenommen wurde, und zwar nicht mehr nur programmatisch, als Appell, sondern auch real, als Feststellung. Diese Verschiebung lässt sich am literarischen Diskurs nachvollziehen, der eine spezifische Transformation im Nachdenken über die Prager Bilingualität widerspiegelt. Die Verschiebung ist bereits sehr gut sichtbar beim Vergleich von Texten Jan Nerudas (1834–1891)mit denen seiner jüngeren literarischen Kollegen Ignát Herrmann (1854–1935), Josef Laichter (1864–1949) oder auch Viktor Dyk. Gerade Neruda gilt als der bedeutendste literarische „Dokumentarist“ Prags im 19. Jahrhundert. Seine „Povídky malostranské“ (Kleinseitner Geschichten) gehören zu seinen bekanntesten Texten über die Stadt. Diese Retrospektiven auf die Lebenswelt der Prager Kleinseite aus der Zeit von Nerudas Jugend sind ungefähr in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts angesiedelt. Geschrieben wurden sie aber durchweg in der zweiten Hälfte der sechziger und in den siebziger Jahren, also noch bevor die nationalen Konflikte in den achtziger und neunziger Jahren zu eskalieren begannen. Auf den ersten Blick überrascht es sehr, wie häufig in Nerudas Texten die Präsenz des Deutschen in Prag demonstriert wird: Du, Poldi, hörst, […] krupici kup tady u toho nového, můžem to zkusit.49 [Du, Poldi, hörst, […] die Graupen kauf da bei dem Neuen, wir wollen es einmal versuchen.]50 Solche Verweise auf die Zweisprachigkeit der Bewohner der Kleinseite finden sich in Nerudas Geschichte viele, und durchweg haben sie einen komischen Effekt. So fällt etwa im Gespräch der Studenten die Bemerkung: První moje modlitební kniha vám byla německá. Já ale neuměl tenkrát ještě ani slova německy – po celý rok jsem se z ní modlil ‚Gebet für schwangere Frauen‘ a nestalo se mně pranic.51 [Übrigens, mein erstes Gebetbuch war deutsch. Damals konnte ich aber noch kein einziges Wort deutsch. Das ganze Jahr betete ich daraus das ‚Gebet für schwangere Frauen‘ [Orig. deutsch], und es geschah mir gar nichts.]52 49 50 51 52 NERUDA, Povídky malostranské, 1970, 126. NERUDA, Kleinseitner Geschichten, 2005, 183. NERUDA, Povídky malostranské, 1970, 108. NERUDA, Kleinseitner Geschichten, 2005, 153. 114 Eine andere Figur sagt an anderer Stelle: „Tenkrát jsem četl německy psaného Robinsona, ‚Insel, myslel jsem, že je to totéž co 53 ‚Inslicht‘, a přece se mě to líbilo.“ [Damals las ich den auf deutsch geschriebenen Robinson; „Insel“, dachte ich, sei dasselbe wie „Inslitt“, und doch hat es mir gefallen.]“54 Die häufigen Hinweise auf die deutsche Sprache bedeuten allerdings noch nicht automatisch, dass es dabei um Prager Deutsche geht. Die sich der deutschen Sprache bedienen, sind hier keine Deutschen, sondern Beamte, Mietshausbesitzer und ihre Familien (besonders Töchter), Studenten oder einfach studierte Leute. In der gesamten Sammlung der „Kleinseitner Geschichten“ tritt nur eine einzige Figur auf, die sich vorbehaltlos als ethnischer Deutscher identifizieren lässt: „Herr Šimr, ein Deutscher aus Schluckenau“55. Unter den Bedingungen des stark germanisierten Prags der Jahrhundertmitte war schließlich auch ein deutscher Name kein eindeutiger Indikator für eine deutsche ethnische oder nationale Zugehörigkeit: Páni Uhmühlové, synové pana Uhmela, městského písaře, vnukové pana Uměla, barvíře56 [Die Gebrüder Uhmühl, Söhne des Stadtschreibers Uhmel und Enkel des Färbermeisters Uměl]57 Abgesehen davon, dass das Deutsche bei Neruda nicht automatisch eine deutsche ethnische oder nationale Zugehörigkeit anzeigt, gibt es hier noch einen Aspekt, der in Bezug auf die Prager deutsch-tschechische Realität hervorzuheben ist, und zwar die jeweilige Motivation, Deutsch zu lernen. Man lernt nämlich keineswegs in erster Linie Deutsch, um sich mit seinem deutschen Nachbarn verständigen zu können, sondern weil es die Sprache der zentralen Verwaltung ist. Die hier von Neruda inszenierte Zweisprachigkeit ist also nicht primär eine Gegebenheit des interethnischen Zusammenlebens, sondern eines von außerhalb Prags herrührenden Zwangs. Beim Vergleich dieser Belege mit den später entstandenen Texten jüngerer Autoren offenbart sich eine merkliche Verschiebung: Die Sprachen gewinnen allmählich einen deutlicher ethnischen Charakter, und dies wird besonders an den auf das Deutsche bezogenen Belegstellen sichtbar: Als Sprecher des Deutschen 53 NERUDA, Povídky malostranské, 1970, 41. NERUDA, Kleinseitner Geschichten, 2005, 58. – Die Varianten Inslicht, Inslitt oder Inselt bedeuten Talg. 55 Ebd., 123. 56 NERUDA, Povídky malostranské, 1970, 100. 57 NERUDA, Kleinseitner Geschichten, 140. 54 115 treten nicht mehr in erster Linie ethnische Tschechen in Erscheinung, die sich aus sekundären Gründen dieser Sprache bedienen, sondern es handelt sich nunmehr ausdrücklich um Deutsche. Gebildete Tschechen beherrschen selbstverständlich weiterhin das Deutsche (z.B. beweisen Dyks Figuren ihre Bildung häufig durch Zitate aus den deutschen Klassikern im Original), wenn aber nun Tschechen deutsch sprechen, dann wie erwähnt entweder als Zitat, oder in der Kommunikation mit Deutschen. Denn nunmehr, gegen Ende des Jahrhunderts, besteht für die Tschechen bereits nicht mehr die Notwendigkeit, im Umgang mit den Behörden oder aus unvollkommener Kenntnis des Tschechischen ihr Deutsch zu aktivieren, sondern sie tun dies aufgrund der Multiethnizität der Stadt. Dabei werden die Tschechen in der Regel als zweisprachig vorgestellt, während in den zeitgenössischen Darstellungen die Deutschen normalerweise kein oder doch nur sehr wenig tschechisch sprechen. Darin unterscheiden sich tschechische und deutsche Darstellungen nicht. (Der Vollständigkeit halber sei ergänzt, dass in den patriotischen historischen Romanen, besonders wenn sie in der Hussitenzeit oder in der Zeit des Kuttenberger Dekrets spielen, die Unkenntnis der deutschen Sprache bei den Tschechen programmatisch inszeniert wird. Sie benötigen das Deutsche einfach nicht, und wenn in den historischen Romanen gebildete Tschechen auftreten, so sprechen sie Latein.)58 Dieser Entwicklung entsprachen schließlich auch die Veränderungen in der Auffassung und Vorbringung des Sprachproblems: Am Anfang des 19. Jahrhunderts sahen die Akteure der tschechischen Wiedergeburt das Problem noch vor allem darin, dass die Tschechen nicht tschechisch, sondern deutsch sprachen. Es war damals nicht die Anwesenheit der Deutschen, welche grundsätzlich ihre Ordnungsvorstellung störte, sondern die mangelhafte Kenntnis der tschechischen Sprache bei den eigenen Landsleuten. In diesem Geiste wurde eine Reihe von Sprachapologien geschrieben, welche die sprachlich „unaufgeklärten“ Tschechen anprangerten und sich über ihr sehr schlechtes Tschechisch lustig machten.59 Gegen Ende des Jahrhunderts hatte sich die Lage jedoch geändert: Das Problem waren nicht mehr deutsch sprechende Tschechen, sondern Deutsche, die durch ihre Anwesenheit in Prag (und überhaupt in Böhmen) dem Postulat ethnischer Homogenität eines mehrheitlich tschechischen Raumes entgegenstanden. Diese semantische Verschiebung vom Beamten (soziale Kategorie) zum Deutschen (ethnische Kategorie) als Träger der deutschen Sprache zeigt die Ethnisierung der Sprache an; zugleich werden die Textbelege für den Gebrauch des Deutschen in Prag immer seltener. Während bei Neruda diese Bezüge noch eines der stilistischen Hauptelemente des Textes sind, reduzieren sich bei dem 58 So verhält es sich z.B. in dem satirischen metahistorischen Roman „Nový epochální výlet pana Broučka“ (Neuer epochaler Ausflug des Herrn Brouček) von Svatopluk Čech, wo ein Alttscheche des 15. Jahrhunderts eifert: „Die Sprache des Böhmischen Landes ist die uns teure Sprache des Heiligen Wenzel. [...] Die an Zahl bescheidenen Deutschen sind später Zugezogene, und an ihnen war es, die Sprache des Volkes zu lernen, das sie gastfreundlich aufnahm.“ ČECH, Nový epochální výlet, 1960 [1889], 98. 59 Siehe z.B. JUNGMANN, Dvojí rozmlouvání, 1948 [1806]. 116 allgemein als seinem literarischen Fortsetzer angesehenen Ignát Herrmann die Hinweise auf das Deutsche spürbar. Sämtliche Alltagsbeschreibungen in Herrmanns großen Prager Romanen kommen praktisch völlig ohne einschlägige Verweise aus. Noch auffälliger ist das quasi völlige Fehlen von Hinweisen auf die deutsche Bevölkerung in Prag in Josef Laichters großem Gesellschaftsroman „Za pravdou“ (1892; dt. „Wahrheitssucher“, 1906), zumal der Roman von den stürmischen Ereignissen der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts handelt, die von deutschen Autoren wie Karl Hans Strobl, Robert Hohlbaum (1886–1955) oder Julius Kraus gerade vor allem als deutsch-tschechische, also nationale Konflikte ausgelegt wurden. Laichter schildert diese wie auch die Ereignisse um den Fall der BadeniRegierung als Auseinandersetzung der Tschechen mit der Wiener Zentralregierung und als Konfrontation zwischen einzelnen politischen Strömungen innerhalb der tschechischen nationalen Gesellschaft; die lokale deutsch-tschechische Dimension tritt demgegenüber deutlich in den Hintergrund. Das „Andere“, wogegen sich in Laichters Darstellung die tschechische Bewegung abgrenzt, ist also nicht die deutsche Einwohnerschaft Prags noch das deutsche Volk als solches, sondern Wien und die Dynastie. Diesem Verständnis der Unruhen der 1890er Jahre entspricht dann natürlich auch die begrenzte Zahl der Hinweise auf die Prager Deutschen. Hieran wird deutlich, dass seit der Emanzipation des tschechischen Schulwesens in den 1860er Jahren in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts Generationen heranwuchsen, die ihre Schulausbildung in tschechischer Sprache durchliefen. Zusammen mit der Tschechisierung der Verwaltung und der Aufteilung der Prager Universität in eine tschechische und eine deutsche reduzierte sich somit auch die Häufigkeit der Situationen, in denen die deutsche Sprache unerlässlich war. Der Gebrauch des Deutschen war bereits nur dann erforderlich, wenn ein ausschließlich Deutschsprachiger an dem Gespräch teilnahm, und der relative Anteil von Deutschsprachigen an der Gesamtzahl der Prager Bevölkerung war gegen Ende des Jahrhunderts merklich zurückgegangen. Diese semantische Ethnisierung der Sprache, also ein Prozess, bei dem die Sprache von einer kulturellen (oder kulturell aneigbaren) Kategorie zu einer ethnischen Kategorie wurde, war von bestimmten sekundären diskursiven Zeichen und Thematisierungen begleitet, welche die ethnische Bedingtheit und damit die kulturelle Nicht-Aneigbarkeit einiger Aspekte von Sprache betonten. Hierzu gehörten in erster Linie Akzent, Satzmelodie und Aussprache. Verständlicherweise wurden diese Aspekte auch in älteren Texten angesprochen,60 gegen Ende des Jahrhunderts wurden sie jedoch zu einem ausgeprägten Topos. Der Akzent trat nunmehr als Zeichen in Erscheinung, das 60 Z.B. CHOCHOLOUŠEK, Palceřík, 1900 [1847], 8: „‚Wer weiß, wer weiß,‘ äußerte sich wie in Gedanken Herr Heinrich Kuenring in ziemlich reinem Tschechisch, obgleich am Tonfall gleich der Deutsche zu erkennen war [...].“ 117 sich nur schlecht lernen lässt und das somit den Sprecher bei der Kommunikation „verrät“: Slabý úsměv jevil se na tváři všech, neboť paní Giovannina pronesla tu větu po francouzsku, tak strašným italským přízvukem, že bylo těžko zůstati docela vážným61 [Ein leichtes Lächeln überflog alle. Frau Giovannini hatte diesen Satz französisch gesprochen, aber ihr italienischer Akzent war so fürchterlich, dass man schwer ernst bleiben konnte.]62 Bei Rilke: „Oh bitte, entschuldigen Sie“, sagte sie jetzt deutsch mit ein wenig slawischem Tonfall [...].63 Ähnlich an etlichen Stellen bei Jirásek: Na konšelově tvrdé němčině bylo znát, že je Němec.64 [An dem harten Deutsch des Ratsherrn war zu erkennen, dass er Deutscher war.] Die Ethnisierung von Akzent, Intonation und Aussprache war eines der Instrumente, mit denen das Konzept der Sprachnation in einer Situation der überwiegenden kulturellen Bilingualität durchgesetzt wurde. Die Sprache etablierte sich also infolgedessen (wieder) als wichtigstes und sichtbarstes Kriterium einer ethnischen Aufgliederung. So wird sie auch von Pieter Judson und Jeremy King in ihren Arbeiten zur böhmischen Geschichte interpretiert. Die Sprache war während der gemeinsamen Geschichte von Tschechen und Deutschen in den böhmischen Ländern stets ein latentes Unterscheidungsmerkmal, aber im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde sie umfassend mit politischer Bedeutung aufgeladen. Die in früheren Zeiten landläufige Multilingualität wurde nunmehr als Problem begriffen, da sie zu der nationalistischen Doktrin „ein Volk – ein Staat – eine Sprache“ in Widerspruch geriet. 61 62 63 64 ZEYER, Jan Maria Plojhar, 2001 [1891], 9. ZEYER, Jan Maria Plojhar, 1908, 7. RILKE, Die Geschwister, 2005 [1899], 210. JIRÁSEK, Mezi proudy, 1952 [1888], 12. 118 8. Tres faciunt collegium Die Angabe der Umgangssprache war folglich gegen Ende des Jahrhunderts nach mehrheitlicher Auffassung eine Bestätigung der nationalen Zugehörigkeit; die meisten Menschen erklärten sich um 1900 tatsächlich Identität anhand der Sprache.65 Diese selbstverständliche Gleichsetzung von Sprachkompetenz und nationaler Identität ging aber nicht problemlos vonstatten. Die tschechischen Nationalisten machten den Behörden den Vorwurf, dass alle Personen gezielt als Deutsche eingestuft würden, die einfach nur deutsch konnten, und dass das Kriterium der Umgangssprache mit der Absicht eingeführt worden war, Kosmetik am schwindenden Prozentsatz der Deutschen an der Prager Bevölkerung zu betreiben. Abgesehen von der zweckgerichteten, politisch motivierten Problematisierung des Sprachkriteriums gab es aber auch ganz konkrete Einzelfälle, die belegten, dass Sprache nicht der einzige, noch der primäre identitätsbegründende Faktor war. Die Inkongruenz von Sprachkompetenz und nationaler Identität zeigt anschaulich das bekannte Beispiel Franz Kafkas, der bei der Volkszählung von 1910 als Umgangssprache Deutsch angab, während die übrigen Mitglieder seiner Familie Tschechisch verzeichneten. Wie Marek Nekula Kafkas Fallbeispiel resümiert, kollidierte hier die sprachlich konfrontative nationale Autoprojektion und „die damit von außen aufgezwungene monolinguale Identität“ mit der starken identitätsstiftenden Tradition des zweisprachigen Bohemismus.66 Tatsächlich hatten nicht zufällig gerade die Prager jüdischer Herkunft Probleme mit der Gleichsetzung von Sprachkompetenz und ethnischer bzw. nationaler Identität. Neben dem binären deutsch-tschechischen Diskurs erhob sich an der Jahrhundertwende auch die besondere Frage der jüdischen Identität, die gerade in dieser Zeit in einer diskursiven Situation spürbar wurde, die Jacques Le Rider als Krise kennzeichnet.67 Diese Frage hing einerseits mit der jüdischen Assimilation zusammen, mit dem Zerfall der traditionellen Gemeinschaft und der Aufhebung der konfessionellen Absonderung, was aber andererseits mit dem anschwellenden Antisemitismus konfrontiert wurde, der den Assimilationsprozess prinzipiell in Zweifel zog. Die Prager Statistiken aus dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts setzten wie selbstverständlich voraus, dass die Juden, die hier lediglich als konfessionelle Kategorie aufgeführt waren, sich bei der Frage zur Umgangssprache entweder zum Deutschen bekannten, das ihnen seit den Zeiten Maria Theresias und Josephs II. de jure vorgeschrieben war, oder aber zum Tschechischen, das für sie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sprachlich zur Alternative wurde. Diese Praxis des „entweder – oder“ zwang die Juden de facto zugleich dazu, sich für eine nationale Loyalität zu entscheiden: Im Koordinatensystem der Jahrhundertwende bedeutete ein Bekenntnis zur deutschen Umgangssprache auch, 65 66 67 KOŘALKA, Národnostní poměry, 2002, 40; NEKULA, Jazyky Franze Kafky, 2003, 430. Ebd., 438. LE RIDER, Das Ende der Illusion, 1990. 119 sich zur deutschen nationalen Loyalität zu bekennen, dito war die tschechische Umgangssprache gleichbedeutend mit der tschechischen nationalen Loyalität. Eine dritte Möglichkeit war von Amts wegen nicht vorgesehen. Die Selbstverständlichkeit dieser Praxis gab allerdings seit dem Ausgang der 1890er Jahre Anlass zu Zweifeln und zu Erwägungen über die tatsächliche Bedeutung und das Wesen der kollektiven Identität der jüdischen Bevölkerung. So machten die sich in der angespannten politischen Lage verschärfenden Erscheinungsformen des Antisemitismus deutlich, dass die Bekundung einer nationalen Loyalität seitens der Juden den archetypischen Modellen ihrer Exklusion keinen Abbruch tat. Den prinzipiellen Widerspruch zwischen diesen beiden Phänomenen, dem Druck hin zur nationalen Identifikation einerseits und den Exklusionspraktiken andererseits, setzte Julius Kraus 1908 in seinem vergessenen Roman „Prag“ in Szene. Vor dem Hintergrund der deutsch-tschechischen Auseinandersetzungen der achtziger und neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts pointierte er seine Prager Geschichte zur Illustration dessen, dass die Position der Juden in der gegebenen binären (deutsch-tschechischen) Konfiguration ausweglos war. Diese Situation führte er paradigmatisch anhand zweier jüdischer Kaufleute vor, von denen der eine leidet, weil er sich zur deutschen Sprache bekannt hat, während der andere leidet, obwohl er sich zur tschechischen Sprache bekannt hat. Obwohl sie anscheinend unterschiedliche Entscheidungen getroffen haben, befinden sie sich doch beide in einer ähnlich schwierigen Lage: Beider Läden werden während der Straßenunruhen geplündert, woraus der Autor (ähnlich wie auch Theodor Herzl, 1860–1904) den logischen Schluss zieht, dass der deutsch-tschechische Bezugsrahmen aufgegeben und neue Systemparameter aufgestellt werden müssen. Die Frage der jüdischen Identität wurde von verschiedenen Autoren unterschiedlich beantwortet. Dabei ist allerdings offenkundig, dass die Frage an sich sehr virulent war, vielfach diskutiert wurde und zur Suche nach einer Antwort zwang. Jedenfalls war die „objektive Gegebenheit“ einer kollektiven Identität als Problem ausgemacht, und zumindest indirekt kamen dabei Aspekte eines modernen Identitätsbegriffs ins Spiel, der den Konstruktionscharakter von Identität bloßlegte. 9. Weitere Typen von Differenz Auch weitere Unterscheidungskriterien wie etwa die von der Konfession oder der Rasse, die im Diskurs um 1900 artikuliert wurden, waren alles andere als eindeutig. Die Gleichsetzung von Konfession und nationaler Identität war unter dem Einfluss langwieriger historischer Interferenzprozesse und aus der prinzipiellen Nichtkorrelation mehr als fraglich.68 Der Zusammenhang von Nationalität und Konfession wurde deshalb im Laufe der zweiten Hälfte des 19. 68 Hierzu EBERHARD, Die deutsche Reformation in Böhmen, 1992. 120 und im frühen 20. Jahrhundert in vielfacher Hinsicht diskursiv eher problematisiert als verkündet. Modellhaft z.B. im großen historischen Roman „Praha a Řím“ (Prag und Rom, 1872) von Josef Svátek (1835 –1897), der die Verflechtung von der konfessionellen und der nationalen Identität in Prag der frühen Neuzeit illustriert. Wie problematisch die Gleichsetzung von ethnischnationalen und konfessionellen Kategorien war, zeigte sich etwa bei den Juden hinsichtlich der Auflösung ihrer traditionellen konfessionellen Identität. In ihrem Fall wurde die Rolle des Konfessionskriteriums von einer physiologisch kodierten Rassen-Distinktion übernommen, die komplementär zum Prozess der jüdischen Assimilation an Stärke gewann. Den Umstand, dass die konfessionelle in eine Rassendistinktion transformiert wurde, sprach auch Auguste Hauschner (1850– 1924) an: „Was macht unseren Glauben eigentlich so verhaßt, Herr Doktor?“ „Unser Glaube,“ der Doktor lächelte ein wenig, „trägt wohl am wenigsten die Schuld an unserer Unbeliebtheit. [...] im letzten Grund ist es ein Instinkt, aus dem heraus die andere Rasse uns so feindlich ist. [...]“69 Die Rassenkategorien, die auf den Körper verwiesen und die Rhetorik des Physiologischen operationalisierten, wurden mit Hilfe visueller Stereotype und Erwartungen artikuliert.70 Diese Erwartungen blieben aber auch hier oft vage, die implizierten Unterschiede wurden nicht konkretisiert. So unterstellte Jirásek beispielsweise bei der Figur einer jungen Jüdin ganz selbstverständlich, dass ihre jüdischen Gesichtszüge erkannt werden können, ohne sie freilich zu spezifizieren: „Doch ihr Gesicht, wenngleich anmutig, verbarg dennoch nicht, welcher Herkunft es war“.71 Auch diese physiologisch semantisierten Distinktionen hatten dabei einen begrenzten Geltungsbereich und funktionierten in Abhängigkeit von anderen kulturellen Faktoren. So stattete z.B. selbst der jüdische Autor Max Brod (1884– 1968) in der Zwischenkriegszeit seinen jüdischen Helden mit dem dunklen Teint und der dunklen Haarfarbe aus, die nach der Beobachtung von Sanders Gilman traditionell im antisemitischen Diskurs figurierten. Im Grunde tritt dieses Element in der Prager Literatur jedoch fast nie in Erscheinung, ähnlich wie etwa der berühmte Topos der jüdischen Nase, der in der zeitgenössischen (zumindest in der nichttrivialen) Prager Literatur fast nie vorkommt. Auch die Interpretation der Physiognomie nach ästhetischen Kategorien war letztlich kulturell arbiträr und konnte von der rein narrativen Absicht des jeweiligen Textes abhängen. Beispielsweise ist in Francis Marion Crawfords (1854–1909) Roman „The Witch of Prague“ (1891) die jüdische Physiognomie einer der Figuren im Vergleich mit dem Mainstream des nichtjüdischen master narrative ästhetisch positiv 69 70 71 HAUSCHNER, Die Familie Lowositz, 1910, 52. GILMAN, Jewish Frontiers, 2003. JIRÁSEK, Mezi proudy, 1952 [1888], 162. 121 semantisiert.72 In vielen Kontexten wurden physiologisch verstandene Distinktionen thematisiert, die sich aber als unzureichend oder unzuverlässig erwiesen. Auch hier geht es demnach um „kleine Unterschiede“, die Andersartigkeit implizierten, aber kein ausreichendes Unterscheidungspotenzial aufwiesen. Daraus entsprang das Bedürfnis, zur Unterscheidung künstliche, sekundäre Zeichen einzusetzen: die gelben Aufnäher an der Kleidung von Juden, die Kappen deutscher Studenten, die Abzeichen der verschiedenen studentischen Korporationen, Vereine, Institutionen, die gemeinsam mit dem Diskurs der Nationalfarben, -hymnen und weiterer Attribute ein semantisches Gesamtsystem von Identifikatoren schufen, die die Unterschiede de facto stellvertretend ersetzten. Antijüdische bzw. antisemitische Stereotype entstanden aus einer langen historischen Tradition und waren im Prinzip keine Erfindung des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Der Antisemitismus der Jahrhundertwende griff diese Tradition jedoch auf und re-definierte sie im neuen Differenzdiskurs. Übrigens ist auch das Aufkommen des Begriffes „Antisemitismus“ selbst, der gerade Ende des 19. Jahrhunderts in Gebrauch kam und den älteren Begriff „Judenhass“ ersetzte, als Bestandteil dieses umfassenden Reflexionsprozesses zu betrachten.73 Mit der notwendigen Neudefinition von Differenz stellte sich aber die Frage nach der objektiven Bedeutung und universellen Relevanz von Unterschieden. Die Einsicht, dass die großen nationalen Konflikte im Grunde auf banale, wenn nicht überhaupt erdachte Unterschiede zurückgingen, mündete bei einigen Autoren der Jahrhundertwende in die Problematisierung oder Negation der nationalen Ideologie als solcher und ließ sie fragen, was eigentlich die Triebkraft der sog. nationalen Konflikte sei oder was sich hinter diesen verberge. Das multiethnische Zusammenleben motivierte also einerseits dazu, den tatsächlichen Umfang interethnischer Differenzen theoretisch zu hinterfragen, andererseits aber setzte der nationalistische Diskurs solche Unterschiede voraus und aktivierte auf diesen fußende Denkmodelle. Die Konstruktion von Unterschieden und ihre Problematisierung entwickelten sich komplementär zueinander. Der Diskurs der interethnischen Differenz war also merklich ambivalent: Er ging a priori von Unterschieden aus und arbeitete mit einem Konzept von Differenz, zugleich jedoch machte er deren Relativität und ideologische Bedingtheit bewusst. 10. Differenz und Grenzziehung Ob nun für den jeweiligen Autor galt, dass er affirmativ in Gestalt von Unterschieden dachte, oder ob er das Denken über Unterschiede problematisierte, 72 73 CRAWFORD, Die Hexe von Prag, 1929. Ausführlicher hierzu z.B. MIKULÁŠEK, Antisemitismus, 2000. 122 der Begriff des Unterschieds als solcher war untrennbar von und allgegenwärtig in dem zeitgenössischen sozialen Diskurs. In einer Situation ethnischer Heterogenität bestimmte er nicht allein das soziale Handeln, sondern er war auch für die mentale Organisation des ethnisch heterogenen Raums mitverantwortlich. Die Praktiken der Suche und Identifizierung bzw. Konstruktion von Differenzen waren ein eigenständiger Bestandteil der Modellierung des Bilds von der multiethnischen Stadt, zergliederten diese und hatten Anteil an der Erstellung ihrer kognitiven Karte. In ihrer räumlichen Dimension verhielten sie sich weitgehend komplementär zu den Praktiken der Abgrenzung. Sie definierten getrennte Sphären und Kompetenzen, modellierten national definierte Zonen und einzelne topographische Stützpunkte, welche die nationalen Gruppen für sich in Anspruch nahmen. Die nationalen Kategorien gaben den städtischen Mikroarealen einen neuen autoritativen Sinn, begründeten ihre nationale Lesart und hierarchisierten sie gemäß einer strategischen und auf Sicherheit orientierten Bedeutung, die ihnen innerhalb des interethnischen Diskurses arbiträr zugeschrieben wurde. Indem sie den einzelnen Nationalitäten soziale und territoriale Sphären zuwiesen, legten sie gewissermaßen Grenzen fest, sei es im topographischen oder im gesellschaftlich-metaphorischen Sinne. Durch das Erkennen von Differenz(en) war das Denken darauf orientiert, die Grenze zu installieren, und umgekehrt implizierte eine installierte, internalisierte Grenze eine Alterität, suggerierte eine Differenz. Im Vergleich zum Konzept des Unterschieds besaß die Semantik der Grenze eine deutlichere räumliche Dimension und war in diesem Sinne eine sozusagen räumliche Projektion oder eine räumliche Inszenierung von Verschiedenheit. Ähnlich wie der Differenzbegriff trat auch der Begriff der Grenze im Zuge der Formierung des modernen Nationalstaats in eine neue Phase.74 Im Diskurs des späten 19. Jahrhunderts erfuhr er einen lebhaften Aufschwung und wurde in einer ganzen Reihe von Wissenschaftsdisziplinen zu einem wichtigen Thema. Nicht nur Geographie und Staatswissenschaften, sondern bezeichnenderweise auch Soziologie und Psychologie nahmen den Grenzbegriff in ihren terminologischen Katalog auf. Bereits aus dieser Fächerkombination wird ersichtlich, dass die Institution der Grenze an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in mindestens dreierlei Weise gesehen wurde: in räumlicher, sozialer und psychologischer. Grenze funktionierte als soziale Institution und zugleich als Denkkategorie. Die Häufigkeit des Gebrauchs des Begriffs, seine Virulenz im zeitgenössischen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskurs zeigen eine erhöhte Sensibilität im Hinblick auf die Möglichkeiten und Modelle der Konstituierung, Verschiebung und Überschreitung von Grenzen und der Schaffung von Distanz an. Der Grenzbegriff wurde im Laufe eben des 19. Jahrhunderts territorialisiert und deutlich nationalisiert. Auf diese explizite Territorialisierung wurde die soziale Mentalität durch die nationale Ideologie mit der Doktrin ausgerichtet: ein Volk – ein Staat, d.h. ein Territorium. Andererseits aber wurde der Grenzbegriff zugleich entterritorialisiert, am markantesten gerade in der zeitgenössischen Soziologie, 74 LUFT, „Alte Grenzen“ und Kulturgeographie, 2000; MEDICK, Grenzziehungen, 1995, 215. 123 und zwar vor allem in der Raumsoziologie, präziser in der Stadtsoziologie, in der er zu einem Instrument der Interpretation von sozialer Interaktion wurde.75 Die Topik der Grenze zog sich übrigens während der Jahrhundertwende durch den gesamten Makrodiskurs zu Mitteleuropa. Dieses wurde nämlich als ein spezifischer Grenzraum gesehen („Übergangseuropa“, „Grenzeuropa“, „Kulturgrenzgebiet“)76, in dem sich jeweils zwei – auf verschiedenen Ebenen definierte – oppositionelle Entitäten trafen und überlappten: zwei geographische Systeme (das westliche bergige und das östliche Flachland); zwei Klimazonen (die westlich-ozeanische und die östlich-kontinentale); zwei Ökosysteme (das pontische und das baltische); schließlich zwei verschiedene Kulturtypen (der westlich-urbane und der östlich-rurale). Für den Diskurs über Prag als mitteleuropäische Stadt hatte in diesem Kontext die Vorstellung besondere Bedeutung, dass Mitteleuropa die Grenze zwischen zwei Kultursystemen bilde. Bei der Abgrenzung der westlichen als einer urbanen von der östlichen als einer ruralen Kultur diente eben die Stadt als eines der zentralen Unterscheidungsmerkmale, genauer gesagt der Entwicklungsstand der Städte und die Dichte des Städtenetzes. Die Institution der Stadt selbst wurde als ein spezifisches Objekt des Transfers und ein Ort der Differenz begriffen. Während der gesamten zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte sich die tschechische Nationalhistoriographie mit der Tatsache auseinanderzusetzen, dass nach dem Stand der historischen Forschung die Städte in den böhmischen Ländern ein deutscher Kulturimport waren, ebenso wie das Stadtrecht, an dem sich die mittelalterlichen Städte in Böhmen ausrichteten. Der Begriff der „deutschen Kolonisation“, der diese Interpretation zum Ausdruck brachte, kam bezeichnenderweise an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert im historiographischen Diskurs in Gebrauch, also in einer Zeit, in der sich nationale Kategorien in der Geschichtsschreibung systemisch Geltung verschafften.77 Offenbar ist es in diesem Zusammenhang nicht als bloßer Zufall zu sehen, dass die Rolandstatue auf einem Pfeiler der Prager Karlsbrücke, die ähnlich wie viele andere Rolandssäulen in europäischen Städten das (deutsche) Stadtrecht symbolisierte, in der tschechischen Volksüberlieferung zur Verkörperung des legendären tschechischen Ritters Bruncvík uminterpretiert wurde, des Helden einer Sage über den Ursprung des Löwen im böhmischen Wappen. Gerade an der Gestalt des Roland/ Bruncvík kann die semantische Divergenz des tschechischen und deutschen kulturellen Gedächtnisses in Prag veranschaulicht werden, die u.a. die Verdoppelung der kulturellen Bedeutung bestimmter Zonen, Orte und Artefakte mit sich brachte. Als er Kisch’ Pragroman „Der Mädchenhirt“ (1914), in dem das bewusste Objekt als „Roland“ bezeichnet wird, ins Tschechische übertrug, änderte der Übersetzer 1922 den kulturellen Code und benutzte die Bezeichnung „Bruncvík“. Als „Roland“ war die Skulptur für die tschechischen Leser ein unverständliches, zudem offenbar auch 75 76 77 FÖLLMER, Grenzen und urbane Modernität, 2006. HANSLIK, Kulturgeographie, 1909, 4. Ausführlich vgl. LEŚNIEWSKA, Kolonizacja niemiecka, 2004. 124 ideologisch problematisches Artefakt, nämlich ein Hinweis auf den Einfluss der deutschen Kultur. An dieser Stelle sollte ergänzt werden, dass die semantische Struktur unter den Bedingungen der Multiethnizität in langfristiger Perspektive (longue durée) und im Hinblick auf den universellen Umlauf von Topoi noch einen Grad komplizierter war. Der Roland/ Bruncvík kann hier wieder als ein Modellbeispiel dienen. Denn die Volksüberlieferung hatte den Roland paradoxerweise durch den Löwen der Herzöge von Braunschweig ersetzt, über den seit dem Mittelalter eine Sage kursierte, deren Sujet mit der böhmischen Wappenlegende übereinstimmte.78 Die Prozesse der Semiose waren also offenbar weder eindeutig noch geradlinig, und die nationale Umdefinierung eines bestimmten urbanen Raumes oder Artefakts ging nicht immer auf einen unzweifelhaft der eigenen Nationalkultur zugehörigen Inhalt zurück. Es wird jedoch deutlich, dass das Konzept des deutschen Stadtrechts dem tschechischen Milieu fernstand und der Roland, sei es durch gezielte Manipulation oder unbewusst, aus ihrem Denkhorizont herausfiel und durch einen anderen Code ersetzt wurde, der innerhalb des tschechischen historischen Narrativs einen klar abgrenzbaren Raum besaß. Der Begriff der Kolonisation wurde somit zum ideologischen Mittelpunkt, an dem tschechisches und deutsches kulturelles Gedächtnis voneinander abwichen. Die tschechische Geschichtsschreibung stellte zwar nicht in Abrede, dass die deutsche Kolonisation für die Urbanisierung des mittelalterlichen Böhmen und die Geschichte Prags einen Wendepunkt darstellte, doch sie weigerte sich, die deutschen Verdienste um die kulturelle Entwicklung des Landes absolut zu setzen. Sie räumte ein, dass in Böhmen bis zum 13. Jahrhundert keine Städte gegründet wurden,79 betonte aber umso mehr den romanischen Ursprung der Stadt als Institution.80 Auch die Tschechen sahen die Stadt als Kennzeichen einer bestimmten Kultur. Als Bezugskategorie diente ihnen jedoch nicht Deutschland, sondern „der Westen“ allgemein. Z.B. sagt in einem literarischen Text Miloš Martens (1883–1917), eines wichtigen Vertreters der jungen tschechischen Literatur des beginnenden 20. Jahrhunderts, ein Franzose (was symptomatisch war und der Logik dieser Denkweise entsprang) – in Prag: „Ich habe in die Augen Ihrer Stadt geschaut [...], der ersten Stadt des heimatlichen Westens, die mich nach den in der Ferne verbrachten Jahren aufnahm.“81 Was wiederum auf die Grenzposition Prags (die „erste“ Stadt des heimatlichen Westens) hinweist. Seiner inneren Struktur nach verfügte Prag freilich über keine greifbaren, in den Raum übertragbare ethnische Grenzen. Eine ethnisch mehr oder minder homogene deutsche Siedlung wird nur für eine kurze Zeit im Frühmittelalter angenommen, aus der die Bezeichnung „deutsche Straße“ überliefert ist. Die alte deutsche Niederlassung, die um diese Örtlichkeit herum angelegt war, verlor aber 78 BAUMANN, Lateinische Quellen, 1973. WINTER, Zlatá doba, 1913. 80 WINTER, Kulturní obraz, 1890, 4. 81 MARTEN, Nad městem, 1924 [1917], 23. Der Text wurde bereits vor dem Krieg konzipiert, aber erst nach dem vorzeitigen Tod des Autors veröffentlicht. 79 125 bereits im hohen Mittelalter ihre (ohnehin eher imaginäre) ethnische Homogenität. Wahrscheinlich nahm sie weitere Anteile einer Bevölkerung fremden, besonders italienischen Ursprungs auf, aber auch slawische Einwohner. Bei der späteren Stadtentwicklung etablierte v.a. die Einrichtung des jüdischen Ghettos sozial wirksame räumliche Grenzen. Zwischen den einzelnen ethnischen Gruppen bildeten sich keine klaren Grenzen. Das darf angenommen werden, obwohl genaue Belege über die Aufnahme von Fremden oder die mögliche Existenz saisonaler Kolonien welscher (d.h. aus den romanischen Ländern stammender) Steinmetze und anderer Handwerkergemeinschaften in Prag für die ältere Zeit fehlen. Insoweit damals überhaupt die innere Vielfalt Prags ein Thema war, so ging es nicht primär um seine Ethnien, als vielmehr um die Heterogenität der verschiedenen Stadtteile, besonders der Alt- und der Neustadt, die gewissermaßen eine Konkurrenzbeziehung pflegten. Gerade die Verwaltungsgrenzen zwischen den einzelnen Prager Städten gliederten den Raum in kommunal, nicht aber ethnisch oder national relevante Einheiten.82 Diese mit den Stadtmauern übereinstimmenden Grenzen, die formal erst im Verlauf des 20. Jahrhunderts verschwanden, wurden durch den jeweils unterschiedlichen Gründungstypus und durch die unterschiedlichen Funktionen der einzelnen Viertel errichtet. Vom Standpunkt der städtischen Politik des Mittelalters, die zur Autarkie neigte, hatten sie – im Unterschied zu ethnischen Grenzen – eine eindeutige funktionale Motivation. Die Kleinseite und der Hradschin profilierten sich primär in engeren ökonomischen und sozialen Verhältnissen zur Prager Burg, während die Alt- und die Neustadt zum eigentlichen urbanen Kern Prags wurden, zum Zentrum von Gewerbe und Handel. Die so gebildeten Grenzen beförderten ihrerseits den unterschiedlichen Habitus der einzelnen Prager Städte. Auch hierbei handelte es sich um einen Diskurs der Unterschiede, die allerdings nicht in nationalen, sondern in administrativkommunalen Kategorien gefasst waren. Umso auffälliger war die im 19. Jahrhundert um sich greifende Neigung, Prag nach dem nationalen Code zu lesen. Die Suche nach der Grenze war hierbei sicherlich eine Folge der räumlichen Praktiken des Nationalismus. Zugleich aber war die Abgrenzung ein verbreiteter Trend des 19. Jahrhunderts, und nationale Kriterien waren nur ein Typ der Bemessung von Unterschieden. So spricht beispielsweise Richard Sennett von der allgemeinen Tendenz der urbanen Gesellschaft zur räumlichen Differenzierung und Segmentierung, die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts vertiefte. Einer fortschreitenden Segmentierung unterlagen z.B. auch Haus und Wohnung, die neu aufgeteilt wurden, wodurch funktionell individualisierte Räume wie Schlafzimmer, Wohnzimmer oder Kinderzimmer entstanden.83 Einerseits schwanden einige traditionelle Grenzen: Durch die Schleifung der Stadtmauern entgrenzte sich übrigens gerade an der Jahrhundertwende das Städtische an sich. Andererseits wurden demgegenüber neue Grenzen aufgebaut, so z.B. solche zwischen den Nationalitäten. 82 83 JANÁČEK, Hranice mezi Pražany, 1965, 262. SENNETT, Civitas, 1994, 46. 126 11. Sprachgrenze als Modell? Die Absicht der Grenzziehung zwischen Tschechisch und Deutsch wurde paradigmatisch besonders von Literaten verfolgt, die entweder aus der Region der Sprachgrenze nach Prag gekommen waren oder aus deutschen Gebieten jenseits davon. Es handelte sich also um Autoren, die entweder eigene Erfahrungen mit der Sprachgrenze hatten oder die die Sprache der Bevölkerungsmehrheit, das Tschechische, nicht beherrschten. 84 Gerade bei solchen Autoren wie Viktor Dyk oder Alois Jirásek auf der einen und Karl Hans Strobl oder Robert Hohlbaum auf der anderen Seite lässt sich der stärkste Drang ausmachen, Tschechen und Deutsche in Prag nach nationalen Kriterien als zwei eigenständige Entitäten voneinander zu sondern. Dieser Befund lässt sich auch so interpretieren, dass diese Autoren die Institution der ethnischen Grenze in ihrem soziopolitischen Denken nachhaltiger internalisiert hatten als die Prager Autoren, und die Idee der Grenze funktionierte bei ihnen (möglicherweise nur unterbewusst) als Ordnungskategorie in einem ethnisch gemischten Raum. Die Sprachgrenze begann um die Mitte des 19. Jahrhunderts, sich in der Habsburgermonarchie als Begriff und Instrument der österreichischen Kartographie zu etablieren, wie Robert Luft feststellt.85 Gegen Ende des Jahrhunderts wurde sie bereits weitgehend als soziales Faktum begriffen. Damit ist natürlich nicht der konkrete Grenzverlauf gemeint (dieser verschob und änderte sich in Teilbereichen ständig), sondern die Kategorie der Sprachgrenze als Institution. In nationaler Hinsicht war trotz des pathetischen Beharrens auf dem „böhmischen Staatsrecht“ der tschechischen Politik die ethnische Sprachgrenze als Topos wichtiger als die Landesgrenze, und zumindest bis zur tschechoslowakischen Staatsgründung wurde sie auch häufiger thematisiert und literarisch modelliert. Die ethnische bzw. sprachliche Grenze war offenbar eine stärker emotional wirksame Kategorie mit einer prägnanteren Topographie. So behandelten sie etwa der zitierte Roman „Konec Hackenschmidův“, Antal Stašeks epischer Roman „Na rozhraní“ (An der Grenze, 1908) oder auch Alois Jirásek in seiner Prosa, etwa in dem schon erwähnten Roman „Na Ostrově“ oder in der Erzählung „Do Němec“ (Ins Deutsche, 1889). Nach „Deutschenland“ bedeutete dabei keineswegs über die Staats- oder Landesgrenze, sondern nur in das Gebiet von Broumov (Braunau), das zu Böhmen gehörte, aber jenseits der Sprachgrenze 84 Auf diesen Zusammenhang verweist z.B. eine Passage bei Viktor Dyk, der 1925 über seinen Geburtsort berichtet:„Weit reichte der Blick vom Mělníker Felsen [...]. Weite Felder, tschechische Felder. Und doch war nicht weit von uns Liběchov [Liboch] mit einem Standbild des Kaisers, des Germanisierers. Wir waren zwar in der Mitte Böhmens, aber dennoch im Grenzgebiet: Nie verließ mich dieses beunruhigende Gefühl aus meiner Knabenzeit.“ DYK, Mělnik, 1934 [1925], 21–22. 85 LUFT, „Alte Grenzen“ und Kulturgeographie, 2000, 124f. 127 in einem Gebiet mit deutscher Mehrheit lag.86 Auf deutscher Seite reflektierte Fritz Mauthner (1849–1923) über das ethnische Grenzgebiet und das dortige Zusammenleben literarisch in seinen böhmischen Novellen; er stammte ähnlich wie Jirásek, Stašek und Dyk aus einer Region in der symptomatischen Nähe der Sprachgrenze, aus Hořice (Horschitz) im nordöstlichen Böhmen. In der Belletristik der Jahrhundertwende wird diese Grenze oft als eine zwischen den Dörfern verlaufende Linie dargestellt, die eindeutig und selbstverständlich den tschechischen vom deutschen Raum scheidet: Tohle je poslední česká ves. Teď už budou Němci. […] Teď teprve nastávala cizina. Také krajina stávala se chmurnější.87 Das ist das letzte tschechische Dorf. Jetzt kommen schon die Deutschen. [...] Da fing die Fremde erst recht an. Auch die Landschaft wurde düsterer. Doch auch hinter der Grenze leben beispielsweise in den Texten Jiráseks Angehörige von Minderheiten, allerdings in dem Bewusstsein, dass sie sich hinter der ethnischen Grenze befinden. Das Bewusstsein der Grenze hat sichtlichen Einfluss auf die Wahrnehmung der Landschaft, nicht nur in dem zitierten Text Jiráseks, sondern überhaupt in einem Großteil der Grenzliteratur.88 Im Anschluss an Ernst Gombrich89 könnten wir darin einen Beleg für die These sehen, dass die Kunst nicht mimetisch die Wirklichkeit imitiert, sondern eine Konfiguration internalisierter Denkkategorien ist, hier also der Idee der Grenze, die sie auch auf Erscheinungen projiziert, die mit ihr selbst nicht direkt und notwendig zusammenhängen. Der Umstand, dass das Zusammenleben von Tschechen und Deutschen in Prag als Problem bevorzugt von solchen Autoren thematisiert wurde, die eine persönliche Erfahrung mit der Sprachgrenze hatten, kann so begriffen werden als Nachweis der imaginativen Kraft dieser eidetischen Kategorie, die als Modell funktionieren und im nationalistischen Koordinatensystem normbildend für die Organisation ethnischer Heterogenität wirken konnte. Etliche Vorgänge im Prag der Jahrhundertwende folgten dem Prinzip der Separation einschließlich der konkreten räumlichen Trennung, wie sie auch längs der Sprachgrenze zu beobachten war. Ungefähr seit den 1880er Jahren entwickelte sich in den deutschsprachigen Gebieten ein spezifischer Diskurs der sog. „geschlossenen Gebiete“, der den Zweck verfolgte, der Institution der Grenze administrative Geltung zu verschaffen und die nationalen Unterregionen voneinander zu separieren. 86 JIRÁSEK, Z mých pamětí, 1980 [1911], 91. – Ähnlich auch z.B. SVĚTLÁ, Kříž u potoka, 1994 [1899], 17–18. 87 JIRÁSEK, Do Němec, 1951 [1889], 38. 88 SMOLEJ, Die Literatur und die Grenze, 2006. 89 GOMBRICH, Kunst und Illusion, 1978, besonders 83–113 (Kap. Wahrheit und Konvention). 128 In Prag kam das Modell einer territorialen Trennung zumindest in partiellen Verortungen sowie in der symbolischen Besetzung von angeblich deutschen oder tschechischen Orten zur Geltung. Am Ende des Jahrhunderts wurden daher in auffälliger deutsch-tschechischer Parallelität Versuche unternommen, eine nationale Topographie zu entwickeln. Das vielleicht markanteste Beispiel dafür war die nationale Codierung jener langen Allee, die als eine der Hauptverkehrsadern Prags den unteren Teil des heutigen Wenzelsplatzes quert und in der einen Richtung zur Moldau, in der anderen zum Pulvertor führt. Die Richtung zum Pulvertor, Am Graben genannt, geriet in den Ruf eines deutschen Korsos, der Alleeteil zum Fluss dagegen, an dessen Ende das tschechische Nationaltheater stand und der Ferdinandstraße hieß (die heutige Národní třída, Nationalstraße), galt als tschechischer Korso.90 Auch hier wird die Bedeutung einer imaginativen und virtuellen, dabei aber sozial wirksamen Grenze deutlich. Diese Form von Distanznahme bestand in der Etablierung scharf abgegrenzter Interaktionsräume innerhalb der Makroebene der Stadt. In diesen Räumen spielten sich dann auch die heftigen deutschtschechischen Konflikte ab, an denen charakteristischerweise vor allem Studenten und Angehörige der sozialen Unterschichten teilnahmen. 12. Die Metapher der Kreuzung Die Topik der Grenze und der Segregation war einer Art locus communis des Prager Diskurses. Insbesondere in tschechischen Kreisen setzte sich parallel dazu die allerdings semantisch abweichende Metapher der Kreuzung durch. Der semantische Unterschied zwischen den Konzepten der Grenze und der Kreuzung zeigte auch die unterschiedlichen Denkfiguren und -richtungen an, welche die Auffassungen von Multiethnizität und Heterogenität auf deutscher und tschechischer Seite konfigurierten. Während die Grenzmetapher die Multiethnizität Prags auf binäre Oppositionen reduzierte (Deutsche – Tschechen, West – Ost), bezog die Kreuzungsmetapher auch die Präsenz und den kulturellen Einfluss weiterer Gruppen ein. Als Kreuzung semantisierte beispielsweise Miloš Marten Prag in seinem fiktiven historisch-philosophischen Dialog „Nad městem“ (Über der Stadt, publiziert 1917), wo er Prag als „Stadt der Abenteurer“ beschreibt, die hierher „aus allen vier Himmelsrichtungen“ kamen.91 Bestimmend war hier nicht die Polarität West – Ost, wie dies für die Grenzmetapher galt, sondern die Semantik der vier Himmelsrichtungen. An Marten knüpfte später auch z.B. auch Jiřina Popelová (1904–1985) an, eine tschechische Philosophin und Schülerin von 90 Zur Nationalisierung der Prager Topographie vgl. z.B. NEKULA, Pražské mosty, 2006. Auch z.B. die Zweiteilung der Prager Universität besaß eine Dimension der räumlichen Abgrenzung (vgl. GOLL, Rozdělení pražské univerzity, 1908). Das trifft ebenfalls auf eine Reihe von Separierungspraktiken zu, wie sie E.E. Kisch beschrieb (siehe Anmerkung 23). 91 MARTEN, Nad městem, 1924 [1917], 24. 129 Benedetto Croce (1866–1952), die in einem anderen, ebenso in Dialogform aufgebauten Text in der Replik eines der Akteure über den Sinn der tschechischen Geschichte schrieb: Die Architektur Prags ist eine besondere Trigonometrie der Geschichte. Als würdest du, egal wohin du schaust, die Schnittpunkte historischer Kräfte geradezu anfassen, die sich an dieser Kreuzung von Ost und West, Nord und Süd treffen. […]92 Der Sinn unserer Geschichte war durch viele Umstände und durch unsere ganze historische Entwicklung bestimmt. Dies war vor allem unsere Lage am Kreuzungspunkt des Weltgeschehens.93 Sowohl Popelová als auch Marten gestalten ihre geschichtsphilosophischen Überlegungen als Gespräche, und beide wählen als Geschehensort dieser Gespräche einen Punkt über der Stadt, von dem die Diskussionsteilnehmer Prag quasi aus der Höhe beobachten können. Im Fall Martens diskutieren zwei Freunde über den Sinn der tschechischen Geschichte, ein Tscheche und ein Franzose, auf der Terrasse eines Patrizierhauses oben auf dem Hradschin. Auch in dieser Verortung des Beobachters, die für Marten wie auch für andere Autoren wie etwa Julius Zeyer und Zikmund Winter (1846-1912) typisch war, bestand einer der diskursiven Unterschiede zwischen der deutschen und der tschechischen PragImagologie. Für die tschechischen Autoren waren Prag und Nation homolog. Prag war der Mittelpunkt des nationalen Diskurses, eine Geschichtsachse, ein territoriales Zentrum. Das kollektive Gedächtnis Prags war zugleich das historische Gedächtnis der Nation. Im deutschen Diskurs funktionierte eine solche Identifizierung nicht. Wenn in der deutschsprachigen Belletristik jemand Prag von oben beobachtet (etwa vom Hradschin aus, wie z.B. bei Auguste Hauschner), sieht er unter sich einen Fluss, Dächer, Gebäude, Marktplätze und Straßen. In einem tschechischsprachigen Text sieht er dagegen bezeichnenderweise eine „Trigonometrie der Geschichte“. Die Ursachen dieser Verschiedenheit waren wohl die soziale Situation der Deutschen als Minderheit und die ganz andere Lage der Tschechen als Mehrheit. Um auf die These über den Raum als soziales Konstrukt zurückzukommen: Wenn die soziale Lage verschieden war, so waren auch deren räumliche Projektionen unterschiedlich. Die Deutschen setzten sich viel häufiger mit der Problematik des deutsch-tschechischen Zusammenlebens auseinander als die Tschechen, denn sie sahen sich als Minderheit viel stärker mit der deutsch-tschechischen Koexistenz konfrontiert als die Tschechen. Deshalb reduzierten die deutschsprachigen Literaten die Multiethnizität Prags auf ein binäres tschechisch-deutsches Problem, während die tschechischen Autoren Prag in bestimmten geschichtlichen Epochen weitaus kosmopolitischer modellierten. Dennoch erhoben die tschechischen Autoren implizit einen Alleinanspruch. Dieser wurde häufig wie beiläufig oder unreflektiert artikuliert. Die tschechischen Texte bestreiten selten explizit die 92 93 POPELOVÁ, Rozjímání, 1947, 10. Ebd., 17f. 130 deutsche Präsenz und den deutschen Anspruch auf Prag, dagegen schweigen sie einfach von den Prager Deutschen, so als ob sie sich ihrer Präsenz nicht einmal bewusst wären, als ob sie nicht relevant wäre; vielmehr interessieren sie sich programmatisch für andere Fragen. Ein anschauliches Beispiel hierfür liefert ein Vergleich der bereits zitierten Romane Karl Hans Strobls „Die Vaclavbude“ (1902) und Viktor Dyks „Prosinec“ (1906). Beide spielen in der Zeit der deutsch-tschechischen Straßenkrawalle in Prag nach dem Sturz der Badeni-Regierung im Dezember 1897. Dyks Roman wird deshalb manchmal als das tschechische Pendant zu Strobl gesehen. Zwischen den beiden Büchern besteht jedoch eine bedeutende Differenz: Während sich Strobl auf die Straßenkämpfe als nationalen Konflikt konzentriert, bieten dieselben Geschehnisse Dyk in erster Linie Gelegenheit zu beobachten, wie kollektive Bewegungen entstehen und funktionieren, wie irrational das Verhalten der Masse ist – also das, was Dyk selbst als „Psychologie des Sturmes“ bezeichnet. Es geht ihm somit nicht um einen binär aufgefassten nationalen Konflikt zwischen Deutschen und Tschechen, sondern um den Konflikt als solchen, und der Roman kann auch als Reaktion auf das vielzitierte Werk Gustave Le Bons (1841–1931) „Psychologie der Massen“ von 1895 gelesen werden, das im Jahre 1897 ins Tschechische übersetzt wurde.94 Die Perspektiven von Strobl und Dyk differieren also in charakteristischer Weise. 13. Die Tschechen – pragmatische Perspektive – funktionale Grenze Wie es scheint, war also die Absteckung von Unterschieden und Grenzen zwischen den Nationen ein wichtiger zeitgenössischer Denkmechanismus. Besonders galt das für deutsche nationalistische Milieus, aus deren Perspektive Grenzen eine wichtige defensive Funktion hatten. Die tschechische Prager Literatur thematisierte im Vergleich zu ihrem deutschen Pendant viel ausgeprägter als die nationale die funktionale Gliederung der Stadt, auffällig häufig kam die Sprache auf die historisch bedeutenden Stadtteilgrenzen, die nicht nur als Mentalitätsgrenzen semantisiert wurden (was übrigens auch in der deutschen Prager Literatur vorkam), sondern besonders auch als Grenzen des Handelns, der Ausführung praktischer Verrichtungen, als Grenzen im kommunalen System. So thematisierte z.B. der bereits mehrfach erwähnte Ignát Herrmann die Schwierigkeiten, die die Wasserversorgung des unteren Teils von Vinohrady (Weinberge) machte. Der nächstgelegene Brunnen befand sich in der Neustadt, aber rechtlich besaßen die Vinohrader keinen Anspruch auf das Neustädter Wasser. Solange sie sich dennoch aus der Neustadt mit Wasser versorgten, kam es immer wieder zu kleinen Zwischenfällen und Provokationen seitens der Neustädter. Ähnlich stellte Herrmann die sog. alimentäre Linie (die Akvise) oder die Grenzfunktion der Brücken dar, die von der Einrichtung des Brückenzoll noch 94 LE BON, Duše davu, 1895. 131 stärker unterstrichen wurde.95 Die Brücke, die Alimentationslinie, die Entfernung, das waren die faktischen Grenzen, die im kommunalen Raum wirksam waren. Diese waren in der Stadt physisch gegenwärtig; sie zwangen dazu, Strategien zum Umgang mit ihnen zu finden, sie entweder illegal zu umgehen oder legal zu bezwingen, und in dieser Gestalt waren sie auch Gegenstand der Reflexion. Einer der Gründe, aus denen sich in der tschechischen Literatur die diskursive Praxis der ethnischen Abgrenzung nicht in demselben Maße durchsetzte wie in der deutschen, war gerade die unterschiedliche quantitative Position beider Gruppen und die dadurch unterschiedlich wahrgenommene und unterschiedlich strukturierte soziale Interaktion mit der Stadt. Die offenkundige Mehrheitsposition erlaubte den Tschechen, die Deutschen pauschal zu marginalisieren. Sie machte es überflüssig, national definierte Mikroräume der Stadt auszumessen. Durch den Mythos des slawischen Prag war die Stadt als Ganzes besetzt, und dadurch entfielen die Gründe, sie ethnisch aufzugliedern. „Prag ist heute eine tschechische Stadt, so sehr, dass sie tschechischer wohl nur in der Hussitenzeit war und direkt danach“, schrieb z.B. 1903 die große tschechische Enzyklopädie „Ottův slovník naučný“.96 Der entgegengesetzte, zur selben Zeit aufgekommene deutsche Mythos war ausschließlich auf die Geschichte orientiert. Er ging von der These aus, dass Prag eine alte deutsche Stadt und überhaupt die gesamte städtische Kultur der böhmischen Länder als Errungenschaft der deutschen Kolonisation vom Ursprung her deutsch sei. Für die Gegenwart folgten daraus alternative Abgrenzungsstrategien. Die Grenztopik spielte im Pragdiskurs der Jahrhundertwende eine herausragende Rolle. Abgrenzung, Vermessung und Unterscheidung waren virulente diskursive Praktiken mit starker sozialer Funktion. Übrigens wusste bereits Georg Simmel, dass „die Grenze nicht eine räumliche Tatsache mit soziologischen Wirkungen ist, sondern eine soziologische Tatsache, die sich räumlich formt.“97 Als eine derartige soziale Institution besaß die Vorstellung von Grenzen zwischen Tschechen und Deutschen drei Funktionen: eine normative, eine regulative und eine kognitive. Die Grenze als internalisierte soziale Institution regulierte die Beziehung zu den symbolischen Orten und normierte das kulturelle Gedächtnis. Nicht zuletzt half sie, Orte und Gedächtnis überhaupt zu identifizieren. Als kognitive Institution verlieh sie neuen Erfahrungen Sinn, ermöglichte, Prag als bi- bzw. trinationale Stadt zu interpretieren und stellte den Akteuren der Jahrhundertwende einen weitgehend verlässlichen Orientierungspunkt in den komplizierten und neurotischen sozialen Räumen der Moderne und der modernen Großstadt zur Verfügung. All das ändert nichts an der Tatsache, dass diese Grenzen spezifische kulturelle Konstrukte waren, genauso wie die Unterschiede, auf die sie sich stützten. 95 96 97 HERRMANN, Bodří Pražané, 1922, [1886–1894], 282. Praha [Prag], in: Ottův slovník naučný 20, 1903, 488. SIMMEL, Soziologie des Raums, 1903, 141. 132 14. Grenzüberschreitung als Interferenzprozess In dieser bedrohten binären Welt fehlte allerdings der Raum zur Thematisierung von Erscheinungen, welche die heutige wissenschaftliche Terminologie als Transfer, Austausch oder Interferenzen bezeichnet. Mehr Beispiele bietet der zeitgenössische Diskurs zum Thema der Grenzüberschreitung, weil die Separation weniger kompakt war, als die Nationalisten postulierten. Doch auch wenn die Deutschen und Tschechen die „Grenze“ überschritten, persönliche Freundschaften schlossen und einen gesellschaftlichen Verkehr pflegten, wurden dabei Austauschprozesse nicht automatisch aktiviert, gerade weil es keine relevanten Unterschiede gab. Erst die Identifizierung von Unterschieden in einem bestimmten Diskurs ermöglicht aber, davon zu sprechen, dass innerhalb dieses Diskurses ein Transfer stattfindet.. Unterschiede sind die Voraussetzung für Transfer und wechselseitige Beeinflussung. Identische Entitäten können sich logischerweise wechselseitig nichts übermitteln. Daraus folgt, dass der Mangel an Unterschieden im Prager Diskus um 1900 auch einen Mangel an der Repräsentationen von Interferenzen zur Konsequenz hatte. Darstellungen, die solche Prozesse thematisierten, die wir heute als kulturelle Interferenz bezeichnen würden, war die Zeit der Jahrhundertwende nicht sonderlich gewogen. Beispielsweise revidierte man auch das ältere, zu seiner Entstehungszeit kanonische Geschichtskonzept Palackýs, das eine solche Dialektik der Unterschiede operationalisierte. Die Koexistenz der beiden Nationen präsentierte Palacký als Quelle historischer Innovation und als Motor von Veränderung. Aus der Perspektive der zeitgenössischen hegelianischen Dialektik entstand durch die Mischung von zwei unterschiedlichen Elementen (des Deutschen und des Slawischen) eine neue, dritte Qualität – das Böhmische. In den Quellen wurden die Austauschprozesse im Vergleich mit Prozessen der Segregation und Ausgrenzung zwar auffallend selten reflektiert. Wenn, dann treten diese Überschreitungsprozesse aber doch auf einigen Ebenen in Erscheinung, vom banalen Transfer einer einzelnen Kenntnis oder Erfahrung bis hin zu tiefgreifenden geistigen Prozessen. Die Art der Beschreibung bzw. die analytische Gründlichkeit, mit welcher der jeweilige Prozess betrachtet wurde, hing ganz offenkundig vom diskursiven Kontext, eventuell sogar vom literarischen Genre ab. Solche Referenzen unterstützten aber paradoxerweise die Kultur des Unterscheidens, sie waren eine – unter Umständen auch nicht beabsichtigte – Technik der Produktion von Unterschieden. So stellt sich z.B. die Frage, was eigentlich die im historischen Roman „Mistr Kampanus“ (1909) von Zikmund Winter reflektierte Tatsache bedeutet, dass die Tschechen im 17. Jahrhundert die Kartoffel von den Deutschen übernommen haben. Einerseits geht es gewiss um eine Aussage über Transferprozesse. Zugleich wird aber durch diese Austauschvorstellung eine Alterität von Subjekten konstruiert, denn sie setzt voraus, dass es zwei unterschiedliche Subjekte gibt: das eine, das die Kartoffeln kennt, und das andere, das die Kartoffeln nicht kennt. Der Unterschied zwischen diesen beiden Subjekten besteht gerade in ihrem jeweils umgekehrten Verhältnis 133 zu diesem Gebrauchsgut. Die Abgrenzung von Subjekten voneinander ist einerseits die Voraussetzung des Transfers, andererseits ist der Transfer aber zugleich ein Mittel der Identifikation von Unterschieden und der Konstruktion von Alterität. Ausgrenzung wie auch Grenzüberschreitung sind durch das gemeinsame Konstrukt der Grenze eng miteinander verbunden. Die Alteritätsvorstellung ist beiden immanent – allerdings mit unterschiedlicher Akzentsetzung. 15. Entstehung einer neuen Qualität als Interferenzprozess Es gibt aber natürlich noch eine weitere Ebene der Reflexion der Prozesse, die von der Situation der Pluri- bzw. Multiethnizität stimuliert werden: Die Multiethnizität wird in einigen Texten aus der Zeit um 1900 auch als Umstand betrachtet, der eine neue Qualität produziert – auf der Makroebene Mitteleuropas ebenso wie auf der Mikroebene der Stadt oder des Stadtviertels. Wie erwähnt, wurde Mitteleuropa im damaligen geographischen wie auch im historischkulturellen Diskurs als eine Region eigener Art definiert: „Westeuropäisches Relief und osteuropäisches Klima und organisches Leben liegen hier übereinander und verschränken sich,“98 schrieb Erwin Hanslik. Die Vorstellung von Berührung, Durchdringung und Vermischung von Elementen unterschiedlicher Provenienz war für die Wahrnehmung dieser Region um die Jahrhundertwende konstitutiv. Überlegungen über solche Interferenzprozesse, welche die kulturelle Heterogenität als Ausgangspunkt einer qualitativ neuen Wirklichkeit sahen, treten allerdings auf der böhmischen Landes- oder der Prager Lokalebene relativ selten in Erscheinung. Dennoch gab es einzelne Reflexionen dieser Art. So führte z.B. Fritz Mauthner sein Interesse für Sprache sowie seine Sprachphilosophie insgesamt auf die Erfahrung mit der raumgeprägten und raumprägenden Mehrsprachlichkeit zurück.99 Durch die Erfahrung der Multilingualität und Multiethnizität wurden, so die zeitgenössischen Texte, einige theoretische Überlegungen katalysiert, die im monoethnischen Raum nicht „so selbstverständlich“ entstehen konnten. Meist waren sie aber in ihrer reflektierten Gestalt von memoirenartigem Charakter. So schrieb ähnlich wie Mauthner auch der gebürtige Prager Max Brod, das Leben um 1900 stellte die Bewohner „schon durch das Problem der beiden Sprachen vor Entscheidungen in Fragen der Kultur, die den Bewohnern eines einsprachigen Milieus erspart bleiben.“100 Heterogenität kann also einen Schlüssel zum Verständnis eines Gedankens, eines Autors, eines sozialen Mechanismus etc. liefern. Solche Referenzen waren 98 HANSLIK, Biała, 1909, 2. MAUTHNER, Prager Jugendjahre, 1969 [1918], 48: „Ich habe vorhin darauf hingewiesen, daß ich als Jude im zweisprachigen Böhmen wie «prädestiniert» war [...], der Sprache meine Aufmerksamkeit zuzuwenden [...] Jawohl, ein Sprachphilosoph konnte unter solchen psychologischen Einflüssen heranwachsen.“ 100 BROD, Streitbares Leben, 1969 [1960], 9. 99 134 aber eher ungewöhnlich. Ganz im Gegenteil, der Diskurs der Jahrhundertwende wurde nicht nur in Böhmen, sondern europaweit von dem Kult der Unklarheit und Unverständlichkeit beherrscht. Daraus resultierte z.B. auch die häufige Imagination der Stadt als Labyrinth. Die Epoche um 1900 wurde auf der Ebene der Werte wie auch auf der Ebene der Identitäten generell als eine Grenz- oder Übergangsepoche diagnostiziert, und die Denkfigur der Grenze diente mit all der semantischen Ambivalenz des Begriffes als Orientierungshilfe oder kognitives Schema in der komplizierten Welt der Moderne. 16. Am Nullpunkt. Schlussbemerkungen Die kulturellen Interaktionsprozesse, die an der Gestaltung und Wandlung des Prager Habitus teilhatten und aus dem Bestehen oder Erleben von Alterität hervorgingen, sind als langfristige historische Prozesse zu betrachten, die sich unter übergreifenden Rahmenbedingungen vollzogen. Darum können sie vom frühen Mittelalter an in den Kategorien der longue durée beobachtet werden. Wenn wir in diesem Sinne auch die Interaktionen auf der Ebene ethnischer oder nationalen Entitäten als Interferenzprozesse verstehen, dann ist zu berücksichtigen, dass die Unterschiede zwischen Ethnien oder Nationen, auf denen eventuelle Interferenzprozesse basieren könnten, in vielerlei Hinsicht selbst Produkte sozial eingebetteter intellektueller Operationen waren, die mit der Herausbildung und Durchsetzung kollektiver Identitäten zusammenhingen. Sie gingen dem Bewusstsein des Andersseins also nicht voraus, sondern sie resultierten aus ihm. Die Unterschiede waren demzufolge nicht die unmittelbare Ursache für die Herausbildung der nationalen Identität, sondern in vielen Hinsichten paradoxerweise ihre Konsequenz. Diese Konstruiertheit der Differenzen lässt sich paradigmatisch gerade am Beispiel jener Zeit demonstrieren, in der der Diskurs der ethnischen Alterität eskalierte, jene Zeit, da die nationale Ideologie eine ethnische Alterität voraussetzte und sie gleichzeitig mit diskursiven Mitteln produzierte. Rein definitorisch setzt der Begriff der Interferenz die Existenz zweier oder mehrerer Entitäten voraus, zwischen denen Interaktionsprozesse stattfinden können. Wie diese Entitäten bestimmt werden, auf Grund welcher Kriterien sie sich unterscheiden und welche Unterschiede zwischen ihnen thematisiert werden, hängt jedoch von historisch wandelbaren diskursiven Prämissen ab. Ungeachtet des gnoseologisch problematischen Charakters von Differenzen als Instrumenten kultursoziologischer Analyse sind jedoch Differenzen und Prozesse, die aus dem Konzept der Alterität hervorgehen, ein wesentliches soziales Faktum insofern, als sie bedeutende gesellschaftliche Konsequenzen zeitigen. Der diskursive Charakter der Differenzen verlangt es, den Blick gerade auf die Mechanismen der Produktion, der Thematisierung und des gesellschaftlichen Funktionierens von Alterität zu richten. 135 Erklärt man kulturelle Interferenzen mit der Metapher zweier (oder mehrerer) ins Wasser geworfener Steine, um die sich in Kreisen „kulturelle“ Wellen ausbreiten, um sich schließlich gegenseitig zu durchdringen und miteinander eine qualitativ neue „Kräuselung“ zu erzeugen, dann muss man für das Prag an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert diese Metapher spezifizieren. Die Tschechen und die Deutschen waren keine zwei ins Wasser geworfenen Steine, die sich einander beeinflussende kulturelle Wellen geschlagen hätten. Eher bildeten sie gemeinsam jene kulturelle Wasseroberfläche, in die plötzlich wie ein Stein die Nationalideologie hineingeworfen wurde, welche die geruhsame, wohl latent heterogene, aber immer noch ziemlich indifferente Gesellschaft ordentlich aufwühlte, wobei sie auf eine durchaus resistente Böhmen-Identität stieß. Diese neue Nationalideologie aktivierte ein Prinzip, mit dem die Gesellschaft historisch nicht gerechnet hatte und setzte neue Prozesse sozialer Grenzziehungen in Gang. Unter dem Aspekt kultureller Interferenzprozesse gesehen handelte es sich also um eine Art Nullpunkt, wo nicht Teilprozesse eines kulturellen Austausches von primärer Bedeutung waren, sondern vor allem der Prozess einer komplementären „Alterisation“ der Gesellschaft, ein Ausdifferenzierungsprozess also, der zur Herausbildung verschiedener Nationalgesellschaften und ihrer jeweiligen kulturellen Gedächtnisse führte, die freilich in der weiteren Entwicklung dem Diskurs der Interferenzen ein neues Potential eröffneten. Und unter diesen spezifischen Umständen und mit diesen begrifflichen Nuancierungen ist auch die proklamierte Prager Multikulturalität zu verstehen. Quellen- und Literaturverzeichnis Belletristik, wissenschaftliche Autobiographisches und politische Publizistik vor 1945, BROD, Max: Streitbares Leben. Autobiographie. 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Wo ist die Pedanterie und der Fleiß der Zigeuner hin? Von den Hauswänden fällt der Putz, Seiche fließt auf den mit Kopfsteinpflaster bedeckten Gassen, die hübschen Innenhöfe werden von Schweinen aufgewühlt. Auf einmal erscheint aber ein neuer Eisenzaun, ungeschickt groß und stilbrechend, doch man hat die Konturen der alten Bastei aus Blech hinausgeschnitten und darin eingeschweißt. Der fremde Bewohner erwacht, wird neugierig auf die Vergangenheit der Stadt, beginnt sie als eigene anzusehen und verziert die Plätze, baut den Uhrenturm den alten Holzschnitten entsprechend neu auf, restauriert die mit Dach versehene Stiege, nimmt die Kirche und den Friedhof wieder in Besitz.] Zsolt Láng, Kesselgulasch2 1. Einführung Dieses von dem zeitgenössischen siebenbürgischen Schriftsteller Zsolt Láng (geb. 1958) stammende Zitat evoziert den kulturellen Raum Siebenbürgen und stellt dessen ethnokulturelle Klischees zugleich scherzhaft in Frage. Die verschiedenen ethnischen Etikettierungen werden von ihren Referenten gelöst und bisweilen in eine neue Ordnung eingefügt. Der Leser muss aus Attributen herauslesen, wer hier wer ist. Die „Zigeuner“ des Textes sind städtisch, ordentlich und pedantisch, und die Erwartung des unvorbereiteten Lesers wird durch die Umkehrung der bekannten Klischees irritiert. Damit lädt uns Láng ein, über die Veränderbarkeit traditioneller ethnischer Charakterologien nachzudenken. Das ist eine grundsätzlich optimistische Botschaft: Im historischen Prozess ist das Projekt der Zivilisation unabschließbar und integrativ – auch für die sozial Ausgeschlossenen. Die verlassenen Siedlungen der ehemals wohlhabenden Siebenbürger Sachsen 1 Diese Studie ist die überarbeitete und erweiterte Fassung eines früheren Aufsatzes, der zuerst auf englisch veröffentlicht wurde (TÖRÖK, Locating Transylvanians, 2012). Für gedankliche und materielle Unterstützung danke ich den Mitgliedern des Projektes „Reflexion kultureller Interferenzräume. Beispiele aus Ostmitteleuropa im 20. Jahrhundert“ am GWZO der Universität Leipzig sowie dem Zukunftskolleg an der Universität Konstanz. 2 LÁNG, A kondér = Kesselgulasch, 2006, 65. 144 laden neue Bewohner aus den ärmsten der siebenbürgischen Unterschichten ein, die alte Architektur und sogar die alte Geschichte neu zu beleben und dieser eine neue Deutung zu geben. Mein Beitrag befasst sich mit der Behandlung der Multiethnizität in der Erzählliteratur Siebenbürgens. Das Thema wurde unlängst in der „History of Literary Cultures in East-Central Europe“ diskutiert. Dieses Sammelwerk stellt einen einzigartigen Versuch dar, die divergierenden Traditionen der modernen Literatur vom späten achtzehnten bis zum Ende des zwanzigsten Jahrhunderts in einem einzigen interpretativen Rahmen zu betrachten. Studien mit einer breiteren vergleichenden Spannweite fokussieren traditionell entweder auf kürzere historische Epochen wie z.B. die Spätromantik oder die Zwischenkriegszeit.3 Wie Mitherausgeber John Neubauer bemerkt, sind weder die historischen noch die sozialen Repräsentationen des Subjekts „wahrheitsgetreue“ Darstellungen ‒ ebensowenig wie die ähnlich voreingenommenen Nationalhistoriographien, ‒ vielmehr enthüllen sie „conflicting perceptions and desires oft the [ethnic] communities that generated them“.4 Die Herausforderung einer umfassenden Literaturgeschichte der Provinz besteht neben deren linguistischer Diversität vor allem in den verschiedenen historischen und soziologischen Interessen von Autoren mit unterschiedlichem nationalen Hintergrund. Eine umfassende Darstellung sollte verschiedene Zeitebenen teleskopartig ineinanderschieben und „superimpose upon each other various ethnic perceptions of space“.5 Dies bleibt eine ungelöste Aufgabe, obwohl Siebenbürgen einen Ruf als multiethnische Provinz genießt. Trotz vieler sozialer und historischer Untersuchungen gab es bislang überraschend wenige Versuche, die parallelen nationalen Literaturen der Region in ihrer wechselseitigen Dynamik oder, um einen gängigen Begriff zu benutzen, in ihrer Verflechtung zu fassen.6 Eine längere geschichtliche Perspektive erlaubt eine differenziertere Sicht auf Nationalität als kulturelles Konstrukt und politisches Programm seit dem späten 18. bis zum 20. Jahrhundert. Diese Geschichte schließt in Osteuropa Kommunismus und kalten Krieg und noch die darauffolgenden Jahrzehnte ein. Ein genauerer Blick auf die Literatur- und Wissenschaftstradition Siebenbürgens bringt wertvolle Einsichten in die Dynamik sich überschneidender Wissensfelder, die in der Zeit der späten Aufklärung aufkamen, im Zeitalter des Nationalismus ausreiften und im 20. Jahrhundert in eine Krise gerieten.7 Mein Beitrag beschäftigt sich mit zwei kognitiven Feldern, welche die regionale Gesellschaft in der Moderne abbildeten. Das eine ist die literarische Prosa; ich werde ohne 3 History of the Literary Cultures, 2004‒2007. Einen vergleichenden Überblick bietet Das Bild des anderen, 1998; zur wechselseitigen ungarisch-rumänischen Wahrnehmung KŐPECZI, Nemzetképkutatás, 1995, 37; MITU/ MITU, Magyaren, 1998, 67‒83. 4 NEUBAUER u.a., Transylvania’s Literary Cultures, 2006, 256. 5 Ebd. 6 Zum Begriff der „verflochtenen Geschichte“ ESPAGNE/ WERNER, Construction, 1987; in Bezug auf die Historiographie Siebenbürgens JANOWSKI/ IORDACHI/ TRENCSÉNYI, Why Bother, 2005. 7 NEUBAUER, Introduction, 2007, 346. 145 Anspruch auf Vollständigkeit rumänische, ungarische und siebenbürgischsächsische Beispiele einbeziehen. Das zweite Gebiet ist die für die deutschen Leser vertraute Landeskunde (ung. honismeret), eine der ältesten wissenschaftlichen Disziplinen der Moderne. Beide entstanden dank der Bildungsanstrengungen der späten Aufklärung, welche die Basis der modernen Sozialwissenschaften und Literatur in den siebenbürgischen Landessprachen bildete. Es ist nicht verwunderlich, dass prominente Schriftsteller der Region oft gleichzeitig auch bekannte Landeskundler waren – heute würde man sie als Historiker, Linguisten und Ethnographen bezeichnen ‒ und die damals neue deskriptive Statistik ihres „Vaterlandes“ Siebenbürgen betrieben. Ich habe bereits an anderer Stelle über die Landeskunde Siebenbürgens als Wissenschaftsdisziplin der Aufklärung geschrieben.8 Bisher wurde sie in Rumänien und Ungarn als Wissensbereich mit eigenständiger Tradition kaum analysiert, tatsächlich aber waren gelehrte Werke zum Vaterland im langen 19. Jahrhundert sehr populär. In den deutschsprachigen Gebieten Europas, also auch im Fürstentum Siebenbürgen lieferte die Landeskunde die erste umfassende Darstellung der regionalen Gesellschaft, die zur Basis für künftige kanonisierte nationale Narrative wurde und ein reiches Reservoir für Identitätskonstruktionen bildete. Regionalliteratur und Landeskunde wiesen in der Aufklärung viele Gemeinsamkeiten hinsichtlich des social mapping auf, umso mehr, als beide Genres stabile Entsprechungen zwischen Ethnizität, Religion, sozialer Klasse und Moral etablierten.9 Als ich landeskundliche Darstellungen im Lichte der literarischen Prosa und umgekehrt zu lesen begann, wurde mir die langwährende Osmose durch die Grenzen verschiedener kognitiver Felder (Fiktion und Wissenschaft) hindurch bewusst. In diesem Lichte erkannte ich, wie die literarische Prosa über die Bevölkerung in Siebenbürgen stilisierte Bilder und Allegorien des sozialen Umfeldes kreierte, die auf die Beschreibungen der Landeskunde zurückverfolgt werden können. Solch eine Entleihung von Narrativen und sozialen Klassifikationen war besonders am Ende des 18. und im 19. Jahrhundert offensichtlich, zur Entstehungszeit der nationalsprachlichen Erzählgenres, als die Autoren von wissenschaftlichen Abhandlungen und literarischen Werken oft identisch waren. Derartige Entleihungen werden bis in unsere Tage vorgenommen; sie bewahren damit eine Archäologie sozialer Visionen und Traditionen in einem Zeitalter radikaler Transformation. Zunächst werde ich die Besonderheiten des Blicks10 der aufklärerischen Landeskunde in Siebenbürgen am Ende des 18. Jahrhunderts vorstellen. Ähnlich wie im Fall der Staatenkunde diente hier das wissenschaftliche Bestreben nach Kategorisierung und Narration sozialer Differenzen dem pragmatischen Ziel der Gouvernementalität.11 Die Landeskunde entwarf ein hierarchisiertes Bild der 8 TÖRÖK, Learned Societies, 2009; TÖRÖK, Patriotic Scholarship, 2010; TÖRÖK, Ethnicity, 2011. 9 WOLFF, Inventing, 1994; TODOROVA, Imagining, 1997; daneben besonders auch Creating the Other, 2003. 10 BÖDEKER, On the Origins, 2001. 11 VÁ́ RI, Functions, 2003, 39. 146 regionalen Gesellschaft, in dem den verschiedenen „Nationalitäten“ und Konfessionen gemäß dem ihnen unterstellten Fortschrittlichkeitsgrad bestimmte Rollen zugewiesen wurden. In dieser Hierarchie rangierten deutsche und ungarische Eliten an der Spitze, während Rumänen („Wallachen“), Juden und vor allem Roma als unzivilisierte Wilde dargestellt wurden. Diese Hierarchie wurde fortan wissenschaftlichen oder literarischen Erzählungen von der regionalen Gesellschaft zugrundegelegt, und zwar bis zum Ausgang eines sehr langen 19. Jahrhunderts, den ich hier an das Ende des Zweiten Weltkrieges legen möchte. Literarische Fiktion und Wissenschaft zu trennen, ist für Schriften aus dem 18. und frühen 19. Jahrhundert nicht immer eine leichte Aufgabe. Wie auch andernorts in Ost- und Mitteleuropa, waren in Siebenbürgen die Grenzen zwischen den Genres nicht klar gezogen. Eine weitere Gemeinsamkeit war der epistemologische Anspruch, den sich die Autoren im Selbstverständnis ihrer „kulturellen Mission“ stellten, d.h. die Aufgabe, kritische Fähigkeiten zu entwickeln, historisches Bewusstsein zu stimulieren und das jeweilige nationale Lesepublikum zu vergrößern. Im zweiten Abschnitt werde ich diese Durchdringungen anhand von Ion Budai-Deleanus (ca. 1760‒1820) „Ţiganiada“ (Ziganiade) illustrieren.12 Dieses herausragende Stück führte auch einige der Figuren der späteren Populärliteratur Siebenbürgens ein: den unzivilisierten rumänischen (Klein-) Bauern und den „wilden“ (weil staatenlosen) Roma. Im 19. Jahrhundert wurde die Landeskunde in national ausgerichtete Traditionen in den Sozial- und Geisteswissenschaften zergliedert, die in sprachlich getrennten Gelehrtengesellschaften institutionalisiert waren. Der Verein für Siebenbürgische Landeskunde (1842‒1947, in Deutschland 1962 neu gegründet als Arbeitskreis für Siebenbürgische Landeskunde e.V. Heidelberg), die ungarische Siebenbürgische Museumsgesellschaft (Erdélyi Múzeum Egyesület, 1857‒1949, neugegründet 1990) und die Siebenbürgische Vereinigung für Rumänische Literatur und Kultur des Rumänischen Volkes (Asociația Transilvană pentru Literatura Română şi Cultura Poporului Român, ASTRA, 1861‒1950, neugegründet 1990) förderten konkurrierende und sich gegenseitig ausschließende nationale Narrative über Geschichte und Gesellschaft Siebenbürgens. Der Grund dieses Spannungsverhältnisses kann durch den faktisch national bestimmten Gegenstandsbereich der Landeskunde selbst erklärt werden, aber auch durch ihre patriarchale Sozialtaxonomie, in der den sozialen Eliten die zivilisatorische Rolle zugeschrieben und die übrigen Gruppen zu Objekten der Zivilisierung gemacht wurden. Ohne dieses Spannungsverhältnis sind die diskursiven Positionen der späteren national orientierten Autoren nicht zu verstehen. Beispiele aus der Literaturtradition des 19. Jahrhunderts, die bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg reichen, illustrieren im nächsten Abschnitt die Stabilität der traditionellen Weltsicht. Die narrative Literatur dieser Zeit konnte kritisch sein, wie die des rumänischen Romanciers Liviu Rebreanu (1885‒1944), der das Tableau einer ethnisch fragmentierten Gesellschaft im Siebenbürgen des Ersten 12 BUDAI-DELEANU, Ţiganiada, 1875‒1877 [1999]. 147 Weltkriegs entwarf. Sie konnte aber auch apologetisch sein, wie die Romane Heinrich Zillichs (1898‒1988), in der Zwischenkriegszeit zur Verteidigung der siebenbürgisch-sächsischen Kulturhegemonie und zur Rechtfertigung deutscher imperialistischer Ansprüche in der Region geschrieben. Die Literatur sorgte für eine immer stärkere Ausdifferenzierung des Bildes von den ethnosozialen Hierarchien der Provinz, sie überwand das Paradigma der kulturellen Hierarchie aber nicht, wie im dritten Abschnitt über die siebenbürgische Landeskunde und Prosa im langen 19. Jahrhundert dargelegt. Ein besonderer Abschnitt wird den wissenschaftlichen Hintergrund der populären Erzählung von Dracula untersuchen und darlegen, dass Bram Stokers (1847‒1912) Logik der „Orientalisierung“ von Europas geographischen Rändern den landeskundlichen Projektionen des ethnisch „Anderen“ ähnelte und dieser Autor sichtlich Ansätze der regionalen Wissenschaft bei der Beschreibung Siebenbürgens als metaphorischen Raum benutzte. Besonders in der realistischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts bedeuteten solche Kategorisierungen die symbolische Aneignung von Territorien oder Sprachräumen über politische Grenzen hinweg. Die genannten Hierarchien waren überraschend dauerhaft und wurden erst durch die kommunistischen gesellschaftspolitischen Systeme und ihre Sozialpolitik unterlaufen. In den 1970er und 1980er Jahren hatte die literarische Fiktion eine Vorreiterrolle bei der Darstellung der tiefgreifenden Umformung der Gesellschaft und ihrer Weltsicht, während die politisch angepassten Geschichts- und Sozialwissenschaften beflissen den Nationalkommunismus legitimierten. Die Landeskunde hörte offiziell auf zu bestehen, als alle siebenbürgischen Gelehrtengesellschaften, die die regionalen Wissenschaften förderten, im sozialistischen Rumänien aufgelöst wurden. Während der 1962 als Arbeitskreis für Siebenbürgische Landeskunde in Heidelberg und Gundelsheim am Neckar neu gegründete Landeskundeverein in der Emigration fortbestand, konnten seine rumänischen und ungarischen Pendants erst nach 1989 wiederbelebt werden. Stellt man die spätavantgardistische Literatur dieser Zeit den traditionellen Texte der Landeskunde und des honismeret gegenüber, wird der ästhetische und politische Bruch zwischen den neuen Autoren und jenen des alten Regimes besonders auffällig. Die nationale Stoßrichtung der Geistes- und Sozialwissenschaften wurde nach dem Fall des Kommunismus ernsthaft in Frage gestellt und relativiert. Wie spiegelte sich das in der Literatur wider? Interessanterweise waren siebenbürgische Romane anscheinend schon vor den 1990er Jahren dabei, die sozialen Klischees hinter sich zu lassen. Sie bezogen sich auf die Umbrüche des 20. Jahrhunderts, die Verschiebung der politischen Grenzen, durch die Siebenbürgen nach dem Ersten Weltkrieg von Ungarn an Rumänien überging, die politische Reorientierung in der Zwischenkriegszeit, den Rechts- und Linksextremismus, die Verfolgungen und Leiden während des Zweiten Weltkriegs und schließlich die Zerstörung der alten patriarchalen Welt Siebenbürgens in der sowjetkommunistischen Nachkriegszeit. Die Emigration nationaler und religiöser Minderheiten, allen voran von Deutschen und Juden, ließ Skepsis gegenüber der Stabilität nationaler Identität aufkommen. 148 Die besten literarischen Werke dieser Zeit setzten auch die teleologischen Geschichtsvisionen der Aufklärung außer Kraft. Hatten Autoren des 18. und frühen 19. Jahrhunderts wie Budai-Deleanu noch geglaubt, dass soziale Ungleichheiten durch den zivilisatorischen Fortschritt womöglich verschwinden würden, so ist diese Hoffnung in der Prosa der 1980er und frühen 1990er Jahre erloschen. Im letzten Abschnitt werde ich anhand des Romans „Sinistra körzet“ (Der Sinistra-Bezirk) von Ádám Bodor (geb. 1936) zeigen, wie eine posthistorische Gesellschaft dargestellt wird. In diesem Buch ist der alte Bildungseifer dem Skeptizismus gewichen, und die nationalen Merkmale sind entweder zu blassen Erinnerungen an die Vergangenheit oder zu nur noch schlecht funktionierenden Codes geworden.13 Die Unveränderlichkeit von Nationalität infrage zu stellen und auf ihr Wesen als kulturelles und politisches Konstrukt zu verweisen, wird zu einem wichtigen Merkmal der historischen und metafiktionalen Prosa des früheren Ostblock nach 1989,14 auch in Siebenbürgen. Diese Haltung geht Hand in Hand mit der Integration der Region in die internationale Wissenschaftslandschaft. Allerdings kamen in dieser Zeit nationale Standpunkte ebenso wie paternalistische nationale Hierarchien wieder zum Vorschein. Letztere sind besonders deutlich in dem inzwischen zur Trilogie ausgewachsenen nostalgischen Heimatroman „Der geköpfte Hahn“ von Eginald Schlattner (geb. 1933), der das Thema des letzten Abschnittes sein wird. 2. Die Wilden im eigenen Land: Darstellungen der regionalen Gesellschaft in der Landeskunde der Aufklärung Nachdem das Fürstentum Siebenbürgen gegen Ende des 17. Jahrhunderts von osmanischer Oberhoheit befreit und der Habsburgermonarchie einverleibt worden war, behielt es seinen Sonderstatus. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts blieb Siebenbürgen unter der ständisch-korporativen Kontrolle des magyarischem Adels, der ungarischsprachigen Szekler und der Siebenbürger Sachsen. Diese sogenannten „adligen Nationen“ waren ethnolinguistisch und konfessionell definiert. Die siebenbürgischen Bauern standen unabhängig von ihrem sprachlichen und konfessionellen Hintergrund in der gesellschaftlichen Hierarchie ganz unten, besaßen keine korporativen politischen Rechte und waren oft sogar Leibeigene. Die aufgeklärten Reformen der Habsburger Herrscher des 18. Jahrhunderts zielten deshalb darauf ab, die Lage zu verbessern, vor allem diejenige der griechisch-orthodoxen und griechisch-katholischen Rumänen. Die Reformen verfolgten im Allgemeinen das Ziel, in der ökonomisch an den Rand 13 BODOR, Sinistra körzet; 1992; dt. hier nach der Ausgabe BODOR, Schutzgebiet Sinistra, 1994. Die Aufhebung der traditionellen kollektiven Identität infolge von historischen Traumata oder Emigration ist auch Thema vieler siebenbürgisch-sächsischer Autoren, z.B. SCHLESAK, Vaterlandstage, 1986; es findet sich auch in URSU, Asediul Vienei, 2007. 14 LUKIĆ, Recent historical novels, 2006. 149 gedrängten Provinz den Lebensstandard zu heben und die Volksbildung zu verbessern. Als um 1790 die theresianischen und josephischen Reformen an ihr Ende kamen, wurden erstmals auch in Siebenbürgen die Umrisse einer gelehrten Geselligkeit sichtbar; Freimaurerzirkel, Lesegesellschaften und gelehrte Zeitschriften förderten das Aufkommen von deutsch- (also siebenbürgischsächisch-), magyarisch- und rumänischsprachigen Öffentlichkeiten. In den Publikationen verbanden sich wissenschaftliche Unternehmungen mit viel patriotischem Eifer. Diese Presse war im konkretesten Sinn des Wortes provinziell: Sie opponierte gegen die kulturelle Dominanz der österreichischen Metropole, befürwortete die empirische Materialsammlung im Sinne des Universalgelehrtentums und mittels regionaler Gelehrtennetzwerke, sprach sich vorsichtig für Aufklärung und Fortschritt aus und verteidigte die regionalen Privilegien und korporativen Rechte.15 Ein Wesenszug der siebenbürgischen gelehrten Öffentlichkeit, darin anderen östlichen Regionen der Habsburgermonarchie ähnlich, war ihre sprachliche Aufgliederung. Das Fürstentum zeichnete sich durch große soziale Vielgestaltigkeit aus, in der die Unterschiede zwischen Eliten und unterprivilegierten Schichten durch ethnokulturelle und konfessionelle Trennlinien und konfligierende politische Loyalitäten verschärft wurden. Die Provinz war gleichsam Satellit gleich mehrerer kultureller Metropolen, nämlich der Reichshauptstadt Wien, des aufsteigenden Kultur- und Verwaltungszentrums Pest und der deutschen Universitätsstädte Jena, Dresden, Weimar und Göttingen, in denen die protestantische Jugend aus Siebenbürgen ihre akademische Ausbildung erhielt. Angehende Akademiker aus Siebenbürgen studierten die v.a. auf den Rechtswissenschaften und der Geschichte aufbauenden deutschen Staatswissenschaften bei berühmten Professoren wie August Ludwig Schlözer (1735‒1809). Daraus gingen zahlreiche Publikationen zur Statistik, Geschichte und anderen „nützlichen“ Fächern in Form von Handbüchern und gelehrten Journalen hervor. Es enstand ein neuer Gelehrtentypus, der sich mit den brennendsten Forschungsfragen seiner Zeit befasste und sich patriotisch für die Wohlfart seiner Heimat engagierte. Diese Intellektuellen machten sich eine Haltung zueigen, die aus dem Europa der Aufklärung bekannt war, nämlich eine kritische Einschätzung der „Verbesserung“ ihres Vaterlandes und seiner Einwohner, die sie mit den zivilisierten und wohlgebildeten Gesellschaften verglichen, die sie während ihrer akademischen Wanderschaft kennengelernt hatten. Solche Vergleiche mündeten oft in sprießende ethnokulturelle (bzw. nationale) Stereotype bei der Klassifizierung der eigenen siebenbürgischen Gesellschaft. Was dem politisch sensibilisierten Leser von heute als krasse Herausstellung des „Fremden“ und „Anderen“ vorkommt, war in der Tat nicht nur typisch für Schmähschriften von außerhalb der Region, sondern wurde auch von aus der Region selbst stammenden Wissenschaftlern im Ergebnis ihres Vergleichs 15 ROCHE, Le siècle, 1989; BROCKLISS, Calvet’s Web, 2002; zeitgenössisch dazu NEUGEBOREN, Über die Lage, 1790. 150 der Verhältnisse und politischen Traditionen Siebenbürgens mit anderen Regionen so formuliert.16 Die deskriptive Statistik war ebenso wie ihre regionale Variante, die Landeskunde, Teil der Staatswissenschaften und eine praxisorientierte, auf Lehre und Verwaltung ausgerichtete Disziplin. Ihr Ziel war die systematische Beschreibung des Staates oder einer seiner politisch-administrativen Einheiten. Sie ging von der Erfassung geographischer Gegebenheiten aus, schloss detaillierte Beschreibungen der Bevölkerung („Land und Leute“) ein und erfasste die gesetzlichen, administrativen, ökonomischen, militärischen und kulturellen Gegebenheiten des Staatsgebiets.17 Charakteristisch für diese Darstellungsform war die Klassifikation der lokalen Gesellschaft nach Sprache, Religion, ethnischer Abstammung, nach Sitten und Gebräuchen sowie nach ihrer Zivilisationsstufe. Bei Statistiken der Aufklärung fällt die Kategorisierung der Bevölkerung anhand ihres Bildungsniveaus und ihrer sogenannten „Stufe der Cultur“ auf. In den Staatswissenschaften der Habsburgermonarchie überdauerten zudem ältere Formen von ethnokultureller Charakterologie, die eine der Quellen der nationalen Stereotypie war.18 Ein solches Klassifikationssystem wurde vor allem von Martin Schwartner (1759‒1823) aufgestellt, Professor für Diplomatie an der Universität von Pest. Ähnlich wie August Ludwig Schlözer, Professor für Geschichte und Statistik in Göttingen, verwandte Schwartner die vergleichende Methode der Völkerbeschreibung oder Ethnographie, um eine hierarchische Taxonomie der Völker und ethnisch definierter Kulturen zu entwerfen.19 Schwartner gliederte das Volk des Königreichs Ungarn nach der Sprache. Demnach waren Ungarn, Slawen, Deutsche und „Wallachen“ (d.h. Rumänen) seine statistisch signifikanten „Hauptnationen“, die von den kleineren „Nebenvölkern“ zu unterscheiden waren, wie Armeniern, „Zigeunern“, Juden, Makedoniern und anderen.20 Das Wort „Nation“ wurde hier im Sinne einer Statusgruppe verwendet, die nicht nur durch ihre Konfession und Stellung im politischen System, sondern vor allem durch gemeinsame Sprache, Geschichte und ihren vermeintlichen Zivilisationsgrad definiert war. Das kulturelle Niveau wurde in Abhängigkeit von der Eignung der Nationalsprache für die wissenschaftliche Kommunikation bestimmt. Dieses hierarchische Modell beeinflusste die späteren Nationalhistoriographien der Region ebenso wie die gelehrte und künstlerische Tätigkeit insgesamt; die deutschsprachige Expertengesellschaft hob es in den Rang eines Deutungsmusters.21 Innerhalb der ersten Kategorie gebührt den sogenannten alten oder ursprünglichen Ungarn ein Ehrenplatz, wenn auch Schwartner einräumt, dass ihre 16 BALÁZS, A Magyar jozefinisták, 1963; POÓR, Schlözer, 1989; über die Genese der kollektiven Identität der Siebenbürger Rumänen MITU, National Identity, 2001. 17 LINDENFELD, Practical Imagination, 1997, 39f.; BÖDEKER, On the Origins, 172. 18 Wie Vári feststellt, war dies keine neue Erfindung: VÁRI, Functions, 2003. 19 TÖRÖK, Ethnizität, [im Druck]. 20 SCHWARTNER, Statistik, 1809‒1811. 21 Ebd., Bd. 1, 103. 151 genaue Anzahl mangels Sprachenstatistiken nicht angegeben werden könne. Dies sind die ungarisch sprechenden „Asiaten“, die unter ihrem Stammesfürsten Arpad das Karpatenbecken besiedelten. In ihrem Bild vereinen sich die diametral entgegengesetzten Charakteristika der asiatischen Nomaden und der „Staatsklugheit“, die darin besteht, sesshaft zu werden und einen Staat zu gründen. Die Deutschen sind eine weitere „Hauptnation“. Die Siebenbürger Sachsen und die deutsch-lutherischen Bewohner der Zips werden dem historiographischen Stereotyp entsprechend als fleißig und fromm hingestellt; selbst ein angeblicher „Kosmopolitismus“ wird ihnen zugesprochen, wie er ihrer Rolle als Kolonisatoren und Zivilisatoren „von Amerika bis Indien“ zugrunde gelegen habe.22 Die Wallachen waren Schwartner zufolge zwar zahlreich, aber nach der Wertehierarchie der Aufklärung besaßen sie keinen besonderen Einfluss auf die Geschicke des Landes. Das Bevölkerungswachstum der Rumänen und der Slawen erscheint im Vergleich mit der geringeren Reproduktion von Deutschen und Ungarn als bedrohlich. Ihre angebliche Abstammung von den Zigeunern sieht Schwartner allerdings mit Skepsis, denn dafür gebe es keinen historischen Beweis, zumal bekannt sei, wie abschätzig Deutsche und Ungarn ihre Moralität einschätzten. Demnach seien „Mässigkeit verbunden mit Arbeitscheu, Duldsamkeit verbunden mit Rachbegierde, und Aberglauben ohne gesunde Moral, […] die Haupttugenden und Laster, dieses in der Geschichte der Menschheit aber auch in der ungarischen Statistik nicht unwichtigen Volkes.“23 Unter den „Nebenvölkern“ sind Juden (denen Kaiser Joseph II. kurz zuvor die Bürgerrechte zuerkannt hatte) und Zigeuner im selben Abschnitt aufgeführt. Das mochte durch ihre damalige nomadische Lebensform begründet sein, obwohl es unter Joseph II. Versuche gab, sie sesshaft zu machen. Während der deutsche Handel mit Respekt betrachtet wird, erfahren die Juden bemerkenswerterweise nur Geringschätzung als Menschen, die „nicht säen und nicht spinnen, und deren fast einziges Gewerbe, der Handel, besonders das Hausieren auf den Dörfern, ist.“24 Der Geldverleih ist ein weiteres allgemeines Charakteristikum beider Gruppen, obwohl Schwartner bemerkt, dass der Mangel an Bildung die Zigeuner empfänglicher für christliche Werte mache, während die Juden an ihrem „unsinnigen Aberglauben“ festhielten.25 Andererseits verfährt Schwartner durchaus gemäß der historiographischen Konvention, wenn er die Zigeuner auch als die edlen Wilden des Landes darstellt.26 Das zentrale Merkmal der wissenschaftlichen Modernisierung in der Habsburgermonarchie war in dieser Zeit der Wechsel vom Lateinischen zu den Landessprachen, die nicht nur für die Volksbildung, sondern generell für die Verbreitung von Wissen wichtig wurden. Die deutschsprachige Wissenschaft 22 23 24 25 26 Ebd., 94. Ebd., 99. Ebd., 103f. Ebd. Ebd., 106. 152 spielte dabei eine wichtige Rolle; einerseits war sie anerkannte Bildungsnorm, andererseits aber Instrument einer regierungsamtlichen Politik. Die „Siebenbürgische Quartalschrift“ war das erste gelehrte Journal, das sich der „Vaterlandskunde“ der Region widmete. Bereits der Leitartikel der ersten Ausgabe kategorisierte die Nationalitäten der Provinz nach Maßgabe ihrer Zivilisationsstufe. Die Wallachen befinden sich wiederum am unteren Ende dieser kulturellen Taxonomie; denn obwohl sie vermeintlich edler, nämlich römischer Abstammung seien, galten sie doch aufgrund ihres sozialen und politischen Status in Siebenbürgen als unkultiviert: Die Hälfte der Einwohner des Landes sind die Walachen, eine Nation, die auf der untersten Stufe der Cultur steht: Gelehrsamkeit und Wissenschaften werden von ihnen nicht mal vermisset; und ihre Sprache wird so lange noch jeder fremden Cultur den Eingang verwehren, bis sich geschickte Männer genug unter ihnen erheben, die mit Einsicht und Wahl die gemeinnützigen Schriften anderer gebildeten Nationen in ihre Sprache übertragen, und durch den Weg der Schulen unter ihnen verbreiten. Wehr ihre Popen etwa für ihre Gelehrten halten wollte, würde sich, wenigstens in der Regel, sehr irren.27 Mit den „zwei ungarischen Stämmen“, den Magyaren und den Szeklern, verhielt es sich etwas schwieriger. Die Magyaren konnten zwar auf eine ruhmreiche mittelalterliche Scholastik zurückblicken, doch die endlosen verlustreichen Türkenkriege, innere Konflikte und religiöse Auseinandersetzungen hätten zum Niedergang von „Geschmack“ und „Gelehrsamkeit“ geführt. Die meisten europäischen Länder hatten längst ihre jeweilige Nationalsprache als Wissenschaftssprache adaptiert, so dass die Magyaren, die am humanistischen Latein festhielten, auch in dieser Hinsicht ins Hintertreffen gerieten. Schließlich geht der Text auf die siebenbürgisch-sächsischen Intellektuellen ein, die durch Sprache, Religion und Kultur über die politischen Grenzen hinweg „ihre Zeitgenossen in dem beständigen Fortschritte mit der Aufklärung und dem Geschmacke Deutschlandes erhielten“.28 Ebenso positiv fielen die Urteile der Gelehrten Michael Lebrecht (1757‒1807) und Lucas Joseph Marienburg (1770‒1821) aus, die die Siebenbürger Sachsen in ähnlich vorteilhafter Weise beschrieben und dabei ihre Wirtschaft, ihren Fleiß, ihre reichen Dörfer und blühende Stadtkultur hervorhoben.29 Die siebenbürgisch-sächsische Landeskunde war produktiver und strebte danach, alle Völker auf der Landkarte des „Vaterlandes“ zu integrieren, indem sie den Austausch zwischen ungarischen und sächsischen Wissenschaftlern pflegte. Ein solches nationenübergreifendes Interesse hatte im honismeret der Magyaren keinen Platz. Ihren nationalen Fokus teilte dieser mit der Praxis der rumänischen Şcoala Ardeleanǎ, der Transsilvanischen Schule; beide regten Untersuchungen zur jeweiligen nationalen Geschichte und Sprache an. Der magyarische 27 28 29 NEUGEBOREN, Über die Lage, 1790, 1. Ebd., 24. LEBRECHT, Über den National-Character, 1792; MARIENBURG, Geographie, 1813. 153 honismeret drängte auf Selbstbehauptung gegenüber den als kulturell fortschrittlicher und politisch überlegen wahrgenommenen Siebenbürger Sachsen. Meines Wissens gibt es kein rumänisches Äquivalent für „Landeskunde“ bzw. honismeret. 3. Der Wilde als soziale Metapher: „Die Ziganiade“ Ion Budai-Deleanu, ein prominentes Mitglied der Transsilvanischen Schule und Mitautor der ersten Petition für die politische Emanzipation der Rumänen in Siebenbürgen („Supplex Libellus Valachorum“, 1791), war auch einer der ersten Schriftsteller, welche diese neuen wissenschaftlichen Konzepte in die Literatur übertrugen. In seinen Werken gibt es zahlreiche Bezüge auf zeitgenössische Statistik, Historiographie, Philologie und aufklärerische Anthropologie. Sein Hauptwerk, „Ţiganiada sau Tabãra ţiganilor“ (Die Ziganiade oder das Zigeunerlager), ist eine philosophische Reflexion über die glückliche Gesellschaft, die beste politische Ordnung und den idealen Herrscher. Es ist zudem ein didaktisches Werk, das die Notwendigkeit von Bildung und Aufklärung der Massen als Voraussetzung für politische Mündigkeit predigt – Themen, die länderübergreifend in der damaligen politischen Literatur präsent waren und bei der zeitgenössischen rumänischen Elite einen hohen Stellenwert besaßen. Ähnlich wie Staatswissenschaften und Landeskunde vermitteln BudaiDeleanus Schriften eine hierarchische Weltsicht, in der Roma und rumänische Bauern am unteren Ende der Gesellschaft rangieren. Nationalität ist ein Kennzeichnen für den Grad von Bildung und Kultur, jedoch ist im Gegensatz zu seinen ungarischen und deutschen Zeitgenossen Deleanus Ansatz ursprünglich subversiv. Während jene den Status quo befürworten, betont dieser die Möglichkeit von sozialer Mobilität durch Bildung und Aufklärung. Er kritisiert auch die Eliten seines Landes, die ihren Status missbrauchen, indem sie ihn von anachronistischen Privilegien und nicht von Bildung ableiten.30 Das Pseudoepos „Ţiganiada“, geschrieben im Jahr 1800, aber erst 1875‒1877 veröffentlicht, folgt demselben politisch-aufklärerischen Ansatz. Diese ironischkomisch-satirische Dichtung ist eine Allegorie der siebenbürgischen Gesellschaft und ihrer Narretei. Die Figuren der Roma und ihr chaotisches, unvorhersehbares Verhalten kontrastiert Budai-Deleanu mit seinen Vorstellungen vom idealen Staat. Als Anhänger der Aufklärung sieht er Ignoranz als Brutstätte für Chaos und soziale Konflikte. Der einzige Ausweg besteht in Weltwissen und Selbsterkenntnis: Apoi zică cine ştie, Eu cu mândru Solomon oi zice: 30 BUDAI-DELEANU, Trei viteji, 1928. 154 Toate-s deşerte şi nebunie! ... Căci numa de-acel aste ferice Care pe sine-a cunoaşte-începe Şi firea lucrurilor percepe. 31 [Wer auch immer seinen Willen bekundet Dem sage ich mit dem weisen Salomon: Alles ist vergeblich und närrisch! … Denn nur derjenige ist glücklich Der sich selbst zu kennen lernt Und die Natur der Dinge versteht.] Die Geschichte ist im 15. Jahrhundert angesiedelt, während der Herrschaft des Fürsten der Wallachei Vlad Ţepeş („der Pfähler“, i.e. Vlad III. Drăculea, ca. 1431‒1476), welcher der späteren Dracula-Legende als historisches Vorbild diente. Der Herrscher entsendet die undisziplinierten Zigeuner in eine Schlacht gegen die Osmanen. Er bewaffnet sie und verspricht, sie nach dem Kampf auf eigenem Land anzusiedeln. Die Zigeuner bereiten sich auf den Kampf vor, aber nach diversen Abenteuern, Anwendung von Magie, Enttäuschungen und Verrat zerstreuen sie sich schließlich, ohne ihr Ziel erreicht zu haben. Das Werk folgt den Konventionen des Heroisch-Komischen oder des Pseudoepos, indem es sich dessen gehobenen Stil mit häufigen Verweisen auf Homer, Vergil, Milton usw. zueigen macht; anstelle von Helden lässt Budai-Deleanu Antihelden auftreten. Die Zigeuner als Antihelden sind eine Allegorie der jungen siebenbürgischrumänischen Nation, und ihre politischen Bestrebungen sind das satirische Abbild der Unfähigkeit der Rumänen, eine zielgerichtete Politik zu betreiben.32 Das Epos ist auch eine Parodie auf falsche Gelehrsamkeit – es wartet mit frei erfundenen Fakten auf, mit denen banale Dinge ausgeschmückt werden. Die Einführung legt die pseudofeierliche Tonlage des Werks fest. Unter dem Namen Leonachi Dianeu, einem Anagramm von Ion Deleanu, richtet der Erzähler einen fiktiven Brief an Mitru Perea (alias Petru Maior, ein gebildeter Zeitgenosse BudaiDeleanus): Eu socotesc că ţiganii noştri sunt foarte bine zugrăviţi în povestea aceasta (...). Însă ţi bagă samă bine, căci toată povestea mi se pare că-i numa o alegorie in multe lucruri, unde prin ţigani să înţeleg ş’alţii carii tocma aşa au făcut şi fac, ca şi ţiganii oarecând. 33 [Ich denke, unsere Zigeuner werden in dieser Geschichte sehr lebensecht porträtiert (…). Bedenken Sie jedoch bitte, dass meiner Meinung nach diese 31 BUDAI-DELEANU, Ţiganiada, 1875‒1877/ 1999, Lied I, 68f. PETRESCU, Ion Budai-Deleanu, 1974. 33 „Epistolie închinãtoare. Cãtrã Mitru Pèrea, vestit cântãreţ!“ [Widmungsbriefe. An Mitru Pèrea, den angesehenen Dichter], in: Budai-Deleanu, Ţiganiada, 1875‒1877/ 1999, 61‒64, 63. 32 155 ganze Geschichte vielerorts nur eine Allegorie ist, in der in den Zigeunern alle anderen Menschen zu sehen sind, die sich verhalten haben wie die Zigeuner und es immer noch tun.] Die Erzählung durchziehen Verweise auf zeitgenössische historische, geographische und philologische Debatten über die Herkunft der Roma bzw. der Rumänen. Auch zahlreiche Annotationen zu den Sitten und Bräuchen der Roma und Rumänen machen aus dem Epos eine wahrhafte Landeskunde. Die Fußnoten kommentieren und widersprechen den Aussagen des Haupttextes, und jeder Kommentator hat sein eigenes Gesicht. Daher ist die Gesamtwirkung des Werkes, als würde dieses gemeinsam von einer Gruppe lebhaft debattierender, aber halbgebildeter Individuen gelesen – der scherzhafte Verweis auf aufklärerische Geselligkeitsformen ist unverkennbar. Budai-Deleanu beschreibt damit auch die gelehrte Öffentlichkeit seiner Heimatprovinz, wobei er eher ihre Unzulänglichkeiten als ihre Qualitäten betont. Die von dem Gelehrten Mitru Perea verfassten souveränen Kritiken bilden eine herausragende Ausnahme. Wie in Vorwegnahme der Unwissenheit des Lesers in solch gehobenen Dingen, erklären sie in aller Gelassenheit die klassische Poetik und die dramatischen Konventionen des Werkes. Perea erklärt auch die alltagssprachlichen Ausdrücke, so dass man sich das zeitgenössische Publikum der „Ţiganiada“, d.h. die rumänische Intelligenz, recht gut vorstellen kann. Die übrigen Kommentatoren dagegen sind von merklich gemischter Herkunft, vertreten heterogene Weltsichten und geben oft Binsenweisheiten und Allgemeinplätze zum Besten. Die Erzählung fußt auf den Ähnlichkeiten in der Geschichte der Roma und der Rumänen, wie sie von den zeitgenössischen Gelehrten gesehen wurden. Deleanu selbst war einer der wichtigsten Protagonisten der Theorie von der römischen Abstammung der Rumänen, und seine Zigeunerfiguren stattete er mit einer ebenso prestigeösen Herkunft aus, die entweder im Ägypten der Pharaonen oder bei Gestalten aus der indischen Mythologie liegt. Diese vornehme Herkunft, wie sie in dem Epos zugleich behauptet und persifliert wird, bildet einen grellen Kontrast zu ihrer gegenwärtigen erbarmenswerten Lage und ihren unzivilisierten Sitten.34 Sie sind eine amorphe Masse, die prärational und nicht in der Lage ist, eine geeignete soziopolitische Gestalt anzunehmen, die vielmehr von Vlad Ţepeş gezwungen werden muss, Glück und Selbstachtung zu finden. Der Weg zu gesellschaftlicher Verbesserung wird also nicht spontan beschritten, sondern in Ausführung einer regierungsamtlichen Anordnung: Căci Vlad-Vodă locuri de moşie Le dedusă cu ceastă-învoială, Ce de-acuma şi dânşii să fie Oameni ca ş’alţii cu rânduială, Iar ei mult să sfătuiea-între sine 34 Ebd., 61. 156 Cum s’ar tocmi trebile mai bine. 35 [Wojewode Vlad gab ihnen Land Gegen Ausführung seines Befehls [nämlich gegen die Türken zu kämpfen], So dass von dann an sie wie andere Menschen eine soziale Ordnung haben mögen, Und sie fuhren zu debattieren fort, Wie das am besten zu erreichen sei.] Drãghici, der Zigeunerhäuptling, erklärt die Gefahren der Uneinigkeit und des Mangels an „Gemeinschaft“ und „Gemeinsinn“, wie es die Sachsen nennen. Man vergleiche die Beschreibung der Roma als edle Wilde in der zeitgenössischen Statistik: Es sind dieselben aber in Ungern ebenso wie überall wo ihnen Gottes Sonne leuchtet wilde Zöglinge der blossen Natur die sich größten theils bis auf den heutigen Tag weder durch die Religion des Ortes wo sie wohnen und zu der sie sich leichtsinnig und ohne Bedenken sogleich bekennen weder durch die Nachbarschaft und durch den Umgang mit den Landeseinwohnern weder durch mannigfaltige Policey Verordnungen noch durch die Furcht vor dem Galgen und den Martern des Hungers wnd der Verachtung habe umformen lassen.36 Die politischen Dispute der Zigeunerfiguren parodieren die realen zeitgenössischen Debatten, ob diese nun im Siebenbürgischen Landtag oder in den gelehrten Abhandlungen zur politischen Philosophie geführt wurden. Da ist z.B. der Abgesandte Baroreu, dessen Name sich mit dem Romawort baro (mächtiger, großer, wichtiger Mann) oder auch dem ungarischen báró (Baron) assoziieren lässt; er behauptet, dass nichts besser die Anarchie abwende als die Monarchie.37 Eine andere Figur, Slobozan (abgeleitet vom rumänischen slobozie für Freiheit) verteidigt dagegen die Republik und meint, die Monarchie sei der Nährboden des Despotismus.38 Der Monarch kümmere sich nicht um das Wohl des Volkes, und der als nemeşi bezeichnete Adel (hergeleitet von ungarisch nemes ‒ Adliger), sei nur auf seine Privilegien bedacht, zahle keine Steuern und verachte das niedere Volk, obwohl viele seiner Angehörigen selbst oft aus ihm abstammten.39 Offensichtlich hat sich Budai-Deleanu von der zeitgenössischen Klimatheorie anregen lassen, die davon ausging, dass jede Gesellschaft eine Regierungsform benötige, die ihrem Charakter, ihrem natürlichen und kulturellen Umfeld wie auch 35 36 37 38 39 BUDAI-DELEANU, Ţiganiada, 1875‒1877/ 1999, Lied I, Strophe 30, 181. SCHWARTNER, Statistik, 1809‒1811, Bd. 1, 150. BUDAI-DELEANU, Ţiganiada, 1875‒1877/ 1999, Lied X, Strophe 60, 328. Ebd., Lied X, Strophe 101, 338. Ebd., Lied X, Strophe108, 340. 157 der von ihr erreichten Stufe des Fortschritts entspreche. Bei Budai-Deleanu erscheint die konstitutionelle Monarchie oder wahlweise die Despotie als geeigneter für eine Gesellschaft in einem sehr frühen Entwicklungsstadium, weil sie diese organisieren könne, während eine Republik eine reifere, selbstbewusstere und höher entwickelte Gesellschaft erfordere. Das Epos geht schließlich ohne Happy End aus und bestätigt so die Worte des Häuptlings Drãghici vom Anfang: Nämlich mit einer Engführung des Schicksals der Roma (will sagen der Rumänen) mit den in der Diaspora lebenden Juden ‒ ganz wie es auch Schwartner tut.40 4. Die nationale Kartierung Siebenbürgens im 19. Jahrhundert Die wissenschaftlichen und literarischen Genres sind an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert nicht klar voneinander getrennt. „Ţiganiada“ liefert ein Beispiel, wie sich eine wissenschaftliche Abhandlung in die Gestalt eines literarischen Werkes kleiden ließ. Da litteratura im Verständnis der Zeit auch die Geisteswissenschaften abdeckte, standen folglich auch die in dieser Epoche aufkommenden historiae litterariae ihrem Themenumfang nach der Landeskunde nahe. Der „Conspectus reipublicae litterariae in Hungaria“ (1785) von Pál Wallaszky (1742‒1824), „A magyar literatúra esmérete“ (Das Wissen von der ungarischen Literatur, 1808) von Sámuel Pápay (1770‒1827) oder die „Istoria pentru începutul românilor in Dachia“ (Geschichte von den Anfängen der Rumänen in Dakien, 1812) von Petru Maior (ca. 1756‒1821) nahmen philosophische, historische oder andere deskriptiv-gelehrte Schriften in sich auf. Doch im Laufe des 19. Jahrhunderts bildeten sich diese umfassenden Gebiete von Gelehrsamkeit in klar voneinander abgegrenzte Fachdisziplinen um, während die Belletristik fortan zu „imaginative literature written in the vernacular“ wurde.41 Der ungarische Literaturhistoriker János Horváth (1878‒1961) sollte diesen Prozess als „Verengung des literarischen Geistes“ beschreiben, im Verlaufe derer sich der Fokus von der politischen Diskussion auf die Landessprache verschob, was durch die stetig wachsende Bedeutung von „nationalem Gehalt“ und Ästhetisierung der Belletristik deutlich wurde.42 Der Wunsch, eine umfassende Völkerschau Siebenbürgens zu bieten, trat für magyarische, rumänische und deutsche Schriftsteller bei der Hinwendung zu ihren jeweiligen nationalen Gemeinschaften in den Hintergrund. Denn das 19. Jahrhundert war die Zeit der nationalen Bewegungen; Wissenschaft und Literatur waren damit beschäftigt, volkstümliche Erzählungen der Nation oder im siebenbürgischen Falle der nationalen Gruppe zu entwerfen. Am Vorabend der Revolution von 1848 bildeten in den größeren siebenbürgischen Städten 40 Ebd., Lied I, Strophe 38, Fußnote 1, 77. NEUBAUER, Introduction, 2007, 346. 42 János HORVÁTH: A magyar irodalom fejlódéstörténete [Geschichte der Entwicklung der ungarischen Literatur]. Budapest 1976, 46‒48, zit. n. NEUBAUER, Narrowing Scopes, 2007, 384. 41 158 Siebenbürger Sachsen, Ungarn und Rumänen getrennte Netzwerke, und diese nationale Spaltung blieb bestehen, obwohl sich die bürgerliche Öffentlichkeit in der zweiten Jahrhunderthälfte immer weiter ausdifferenzierte. Nach der ungarischen Staatsbildung von 1867 spielte eine große Rolle, die Autonomie von Kirche und Unterricht unter geistlicher Führung aufrechtzuerhalten, da gerade in Siebenbürgen linguistische und konfessionelle Grenzen ungefähr mit denen der drei großen Nationalitäten des Landes übereinstimmten. Die nationale Spaltung war auch an den Aktivitäten der drei größten gelehrten Gesellschaften Siebenbürgens erkennbar. Ihre anfänglichen Statuten ebenso wie ihre ostentative Offenheit für alle sozialen Klassen richteten sich zwar an eine regionale oder sogar an eine europäische Öffentlichkeit, doch in Wahrheit sprachen sie für ein exklusiv nationales Publikum. Der Verein für Siebenbürgische Landeskunde und die Siebenbürgische Museumsgesellschaft waren Ergebnisse der deutschen und magyarischen Bestrebungen, die Wissenschaft in der Provinz zu institutionalisieren und zu modernisieren. Diese Initiativen gingen bis in das 18. Jahrhundert zurück, erreichten das Realisierungsstadium aber erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts, als die ständische Loyalität von der Identifizierung mit der Nation als Kulturgemeinschaft allmählich an den Rand gedrängt wurde. Die neuen Institutionen pflegten die Erkundung eines siebenbürgischen Vaterlandes, das immer mehr als Heimatregion der jeweiligen nationalen Gemeinschaft aufgefasst wurde. Allerdings erwies sich eine lupenreine Abgrenzung der Kulturen in der vielsprachigen Region als unmöglich. Die Konstruktion von ethnisch definierten Kulturgemeinschaften verstärkte darüber hinaus die Neigung, den vermeintlichen eigenen Rang in einer imaginären Hierarchie kultureller Errungenschaften kritisch mit den anderen zu vergleichen.43 Der Landeskundeverein war nicht nur die inoffizielle Akademie der Wissenschaften der Siebenbürger Sachsen, sondern auch ein Versammlungsort ihrer intellektuellen, geistlichen und politischen Elite. Er kooperierte mit deutschen und österreichischen Akademien zu Fragen der siebenbürgischsächsischen Geschichte, Ethnographie und Linguistik. Neben Grundlagenwerken zu Statistik, Geschichte, Folklore, Linguistik usw. publizierte er auch stark nationalistisch gefärbte politische Streitschriften. Sein dritter Präsident, der Bischof und Historiker Friedrich Teutsch (1852‒1933), verteidigte diese Position mit der Behauptung, die Landeskunde diene auch der „Entwicklung unseres nationalen Bewußtseins“.44 Die magyarische gelehrte Gesellschaft spezialisierte sich um die Jahrhundertwende immer mehr und widmete sich gleichermaßen der Forschung und der Popularisierung. Ihre Jahresversammlungen vor sehr großem Publikum bedienten sich einer gleichermaßen kämpferischen Rhetorik. Bei einem öffentlichen Vortrag in Târgu Mures/ Marosvásárhely vertrat Sekretär Lajos 43 TÓTH, I., Az erdélyi román nacionalizmus, 1998; VERDERY, Transylvanian Villagers, 1983. TEUTSCH, Unsere Geschichtsschreibung, 1889, 643. Zu den siebenbürgischen Aspekten der rumänisch-ungarischen Nationalcharakterologie vgl. KÖPECZI, Nemzetképkutatás, 1995. 44 159 Schilling 1906 beispielsweise die Auffassung, der Staat habe die Pflicht, den Verein tatkräftig zu unterstützen, um die Magyaren im „Wettbewerb der Nationen“ zu fördern: „Unser Museum kann seine moderne Zweckbestimmung nur durch gemeinsame Anstrengung von Staat und Gesellschaft erfüllen […]. Unsere führende magyarische Rasse würde nicht erröten müssen, dass einige wenige Sachsen ohne Staatsunterstützung ein Museum haben aufbauen können, das uns in vielerlei Hinsicht voraus ist.“45 Auch die Literatur passte sich den antagonistischen nationalen Positionen an. Wohlgemerkt ignorierte sie den „Anderen“ nicht völlig, vielmehr war er fortan stets derjenige, der bedrohlich am Rande des eigenen nationalen Gesichtsfeldes lauerte. Seine Gestalt behielt die schon aus der Landeskunde der Aufklärung bekannten Merkmale: der magyarische (Klein-) Adlige, der ungebildete walachische Bauer, der in sich ruhende sächsische Bürger, der wilde Zigeuner und der fremdartige und materialistische Jude.46 Sogar noch als die gesellschaftlichen Umwälzungen begonnen hatten, der Prosa des Fin de Siècle ihren Stempel aufzudrücken, gingen die Schriftsteller den altbekannten Stereotypen der Landeskunde nicht aus dem Weg, sobald es um die Charakterisierung der eigenen Landsleute ging. Selbst die Romane der Zwischenkriegszeit hinterfragten die nationalen Trennlinien nicht, sondern stellten sie noch stärker heraus. Denn die nationale Frage wurde mit der Auflösung der Habsburgermonarchie am Ende des Ersten Weltkriegs zur besonders problematischen Minderheitenfrage, als Siebenbürgen rumänisches Staatsgebiet wurde. Gesteigerte Aufmerksamkeit für die eigene nationale Identität und den als feindlich wahrgenommenen kollektiven „Anderen“ prägte die Atmosphäre in der Literatur, so etwa in Dezső Szabós (1879‒1945) Roman „Az elsodort falu“ (Das fortgeschwemmte Dorf, 1919) oder in Heinrich Zillichs „Zwischen Grenzen und Zeiten“ von 1936. Beide Romane bieten ein Panoptikum ländlicher und städtischer Typen, bei Szabó einschließlich diverser Figuren des magyarischen kleinadligen Landbesitzers und des korrupten jüdischen Händlers. Zillichs Welt bietet eine noch größere Auswahl an nationalen Figuren, die getreu der zivilisatorischen Hierarchie aufgereiht werden. Seine Hauptfigur, Lutz Rheindt, ist der Sohn eines Zuckerfabrikbesitzers in dem siebenbürgisch-sächsischen Dorf Brenndorf (rum. Bod/ ung. Botfalu) und gehört dem städtischen Handwerkertum an. Seine Mutter ist die Tochter eines lutherischen Pfarrers aus der geschäftigen Handelsstadt Kronstadt (rum. Braşov). Magd und Fahrer sind Magyaren. Die übrigen Magyaren sind Staatsbeamte – die typische Laufbahn des magyarischen Edelmannes. Einer ihrer Ehefrauen, einer assimilierten Banater Schwäbin, wird unterstellt, sie sei eigentlich eine „Zigeunerin“. Sachsen und Juden stellen die freien Berufe und die Dorfelite. Als soziale Aufsteiger werden die Juden von den Sachsen zugleich verachtet und beneidet. Ganz unten in der sozialen Hierarchie befinden sich die rumänischen Bauern. Zillichs Panorama gibt durchaus das tatsächliche siebenbürgische Sozialgefälle seiner Zeit wieder, doch in seiner 45 46 SCHILLING, Az Erdélyi Nemzeti Múzeumról, 1908, 9–11. Besonders MITU/ MITU, Magyaren, 1998, 67‒83. 160 nationalen Haltung reproduziert sein Roman die überkommenen nationalen Stereotype. Die Deutschen sind die einzigen „Kulturbringer“ in den wilden Randgebieten des Ostens, geschmäht von einem ungerechten und korrupten ungarischen Staat, inmitten einer Masse von feindlich gesonnenen und allzu kinderreichen Rumänen.47 Die siebenbürgische Erzählliteratur der Jahrhundertwende und der Zwischenkriegszeit hält die Stärke der konkurrierenden und einander immer feindlicher werdenden Nationalismen für eine unumstößliche Tatsache. Sie führt vor, wie zum sozialen Außenseiter wird, wer die nationalen Grenzen überschreitet; so etwa die subtilen psychologischen Portraits in den Romanen Liviu Rebreanus.48 Sein Roman „Pădurea spânzuraţilor“ (Wald der Gehängten, 1922) beschreibt das psychologische Drama des Apostol Bologa, eines rumänischen Kleinstadtintellektuellen und rangniederen Offiziers der österreichisch-ungarischen Armee. Bologas Nationalgefühl gerät immer mehr in Konflikt mit seiner dienstgemäßen Loyalität zu seinen deutschen und magyarischen Vorgesetzten, die als gefühlskalte und abgehobene Figuren entworfen werden. Die Spannung wächst, als er seine Verlobte verliert, die kokette Tochter eines Dorfnotars, die ihn für eine bessere Partie sitzen lässt, nämlich einen magyarischen Offizier. Bologa findet schließlich seine wahre Liebe, das Bauernmädchen Ilona, das weder ganz magyarisch noch ganz rumänisch ist. Ilona und ihr Vater stehen ganz unten in der sozialen Hierarchie und werden zu Bologas Ersatzfamilie, seinem einzigen Beistand in seiner inneren Zerrissenheit. Nicht wie bei Zillich ein ausgeprägter Ethnozentrismus, sondern die Stabilität der nationalen Grenzen ist das wichtigste Thema eines weiteren bekannten siebenbürgischen Romanautors, des Ungarn Károly Kós (1883‒1977). Als exponierter Verfechter der Zwischenkriegsideologie des „Transsilvanismus“ vertrat Kós Regionalismus und ein „kulturelles Magyarentum“ (kultúrmagyarság), d.h. die von den politischen Grenzen unabhängige Definition der Nation über ihre Kultur. Dieser Ansatz schätzte die Besonderheiten des Regionalen und Lokalen und brachte die ethnokulturelle Vielfalt Siebenbürgens in Stellung gegen das aggressive nationbuilding des jungen rumänischen Staates: „[…] das kulturelle Schöpfertum, aber auch der siebenbürgische Mensch dieses wunderbar einzigartigen Landes hat zwei Eigenschaften, eine davon magyarisch, rumänisch oder deutsch, die andere aber siebenbürgisch. Das ist die Quadratur des Kreises, die den Siebenbürgener und Siebenbürgen für jeden von außen unbegreiflich macht.“49 Der Transsilvanismus pries die Koexistenz der rumänischen, ungarischen und deutschen Nationalkulturen, befürwortete ansonsten aber homogene nationale Gemeinschaften. Der von Kós verfasste programmatische Aufsatz der Bewegung „Erdély. Kultúrtörténeti vázlat“ (Siebenbürgen. Kulturgeschichtlicher Abriss) spricht sich für einen 47 48 49 KONRADT, Identität, 1998, 239f. REBREANU, Pădurea spânzuraţilor, 1922. KÓS, Kiáltó szó, 1921. 161 demokratischen Multikulturalismus aus, der auf starken und unabhängigen Kulturen der einzelnen Nationalitäten aufgebaut war, sowohl als politisches Projekt wie auch als historisches Faktum.50 Der Aufsatz spricht die Konflikte in der Geschichte Siebenbürgens vom späten Mittelalter über die Revolution von 1848/49 bis zur Magyarisierungspolitik des Königreichs Ungarn nach dem Ausgleich von 1867 an. Er versucht, die Perspektiven der drei großen Nationalhistoriographien miteinander zu verbinden, darüber hinaus aber auch die Geschichte der kleinen Leute zu erzählen.51 Kós geht so weit zu behaupten, dass weder die Vereinigung mit Ungarn von 1848 noch der Anschluss an Rumänien 1919 Zustimmung bei den einfachen Rumänen, Sachsen oder Magyaren gefunden hätten, sondern nur bei den politischen Eliten. Gyula Szekfű (1883‒1955), der einflussreichste Historiker im Ungarn der Zwischenkriegszeit, hielt Kós’ Absicht für „eine gesunde Reaktion“ auf den politischen Status quo, aber er kritisierte, dass Kós’ Insistieren auf einer „Politik des Transsilvanismus“, die auf der „organischen, inneren Verbindung“ zwischen rumänischen, deutschen und ungarischen regionalen Traditionen fußen sollte, den historischen Beweis schuldig bleibe.52 Karl Kurt Klein (1897‒1971), Professor für Germanistik an der Universität Jassy (Iași) und Herausgeber des Bulletin des Landeskundevereins, zeigte ebenfalls verhaltene Sympathien für den Geist des Transsilvanismus, der sich besonders im Vergleich mit der nationalistischen Voreingenommenheit der Historiker im Königreich Ungarn vor und in Rumänien nach dem Ersten Weltkrieg positiv ausnahm.53 Die These von der Einzigartigkeit Siebenbürgens rührte in der Zwischenkriegszeit mehr aus dem ungarischen Zeitgeist und wurde weniger als wissenschaftliche Argumentation akzeptiert. Gleichwohl regte der Transsilvanismus eine Reihe wichtiger Werke der Lyrik und Prosa magyarischer, deutscher und rumänischer Autoren an. 5. Von der realen zur symbolischen Verortung: Siebenbürgen als Land des Dracula Bis jetzt stellte dieser Überblick aus der Region selbst stammende Perspektiven vor. Jedoch hatte um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert Siebenbürgen auch durch auswärts geschriebene literarische Werke internationale Bekanntheit erlangt. Der Dracula-Roman Bram Stokers von 1897 ist nur das berühmteste Werk unter weiteren; allerdings erlebte er seinen internationalen Durchbruch erst Jahrzehnte später durch das noch junge Medium des Films. Auch die Ergebnisse der von einheimischen Gelehrten betriebenen ethnologischen Forschung über 50 51 52 53 KÓS, Erdély, 1929, 88. Auch BALOGH, Die Siebenbürger Deutschen, 1998, 300. SZEKFÜ, Kós Károly Erdélye, 1930. KLEIN, Karl Kós, 1931, 77. 162 Volkserzählungen und -bräuche der traditionellen ländlichen Gesellschaften Osteuropas wurden übersetzt und so einem westeuropäischen, insbesondere französischen und britischen Publikum zugänglich gemacht. Auf dieses übten Regionen wie Siebenbürgen vor allem durch ihre Exotik einen besonderen Reiz aus. Dracula ist die berühmteste Figur, mittels derer die Provinz als politische, zivilisatorische und sogar ontologische Grenzregion literarisch gestaltet wurde, als Region physischer und psychologischer Transgression. Wie die Sekundärliteratur über Dracula gezeigt hat, wurde Siebenbürgen („Transsilvanien“) ebenso wie Orte des Balkans in der westlichen Vorstellungswelt zum Raum des „Anderen“ schlechthin.54 Die politischen Motive hinter der Stereotypisierung Siebenbürgens im Sinne des Orientalismus sind an anderer Stelle dargelegt worden und sprengen den Rahmen dieses Beitrages. Für mein Anliegen ist die Frage interessanter, auf welche Art und Weise literarische Fiktionen wie die Dracula-Geschichten die landeskundliche Forschung über die Region für ihre Effekte adaptierten. In Bram Stokers Roman wird eine solche Verbindung gleich zu Beginn hergestellt, als der Erzähler Jonathan Harker nach seinem ersten Treffen mit Graf Dracula eigene landeskundliche Studien anstellt. Harker verschafft sich Informationen über Siebenbürgens Bevölkerung, Geographie, Geschichte, Sitten und Gebräuche auf die denkbar konventionellste Art: in der Bibliothek des British Museum. Das imaginäre Schloss des Grafen befindet sich tatsächlich in einem realen geographischen Raum, einer Grenzregion zwischen Siebenbürgen und anderen „Staaten“. Allerdings erhält der Leser erste Fingerzeige darauf, dass diese Region einige ungewöhnliche, um nicht zu sagen beunruhigende Merkmale aufweist („one of the wildest and least known portions of Europe“).55 Die darauffolgende Passage zur Bevölkerung könnte allerdings dem Gedankengut der Landeskunde entnommen worden sein: In the population of Transylvania there are four distinct nationalities: Saxons in the South, and mixed with them the Wallachs, who are the descendants of the Dacians; Magyars in the West, and Szekelys in the East and North. I am going among the latter, who claim to be descended from Attila and the Huns. This may be so, for when the Magyars conquered the country in the eleventh century they found the Huns settled in it.56 Szekler und Magyaren treten als soziale Kaste (aristokratischer Hintergrund) wie auch als Rasse auf (hunnische Abstammung). Diese soziale Zuordnung ist Bestandteil der verfremdenden und exotisierenden Darstellungsweise. Andererseits entspricht sie einem historischen Klischee und ist ein Standard der 54 Aus der umfangreichen Literatur zum Thema beispielsweise GIBSON, Dracula, 2006; CAZACU, Histoire, 1988. 55 STOKER, Dracula, (Chapter 1 Jonathan Harker's Journal), 1975, 9. 56 Ebd., 10. 163 magyarischen Selbstidentifikation seit der Aufklärung.57 Offensichtlich verschwendet Stoker nicht viel Überlegung an die zeitgenössischen gelehrten Diskussionen in Ungarn, mit deren Thesen er völlig eklektisch umgeht, sofern sie die Abstammung der Magyaren, Rumänen oder Szekler betreffen. Wissenschaftliche Genauigkeit ist seine Sache nicht; vielmehr wählt er die exotischsten Merkmale für seine Erzählung aus: „I read that every known superstition in the world is gathered into the horseshoe of the Carpathians, as if it were the centre of some sort of imaginative whirlpool.“58 Spannung wird erzielt durch eine allmähliche Steigerung des Exotischen und Bizarren, des Abstoßenden und Schockierenden, ganz nach der Rezeptur des Schauer- und Horrorgenres, der gothic novel. Wir befinden uns immer noch in der Exposition der eigentlichen Geschichte, doch Stoker hat bereits die subtile, von der Landeskunde sorgfältig errichtete Hierarchie der Völker umgeworfen. Ethnographische Vielfalt ist hier allerdings nur ein nachgeordnetes Detail, das allein den Eindruck von Chaos im Vergleich mit den gesitteten bürgerlichen Gesellschaften verstärken soll, damit also den Kontrast zwischen einem rassisch begriffenen „Wir“ (nämlich den rationalen Bewohnern der Zivilisation) und den „Anderen“. Letztere, d.h. Draculas Geschlecht, wird sich nicht nur als andere Rasse erweisen, sondern als Kreuzung von Menschlichem und Unmenschlichem: We Szekelys have a right to be proud, for in our veins flows the blood of many brave races who fought as the lion fights, for lordship. Here, in the whirlpool of European races, the Ugric tribe bore down from Iceland the fighting spirit which Thor and Wodin gave them, which their Berserkers displayed to such fell intent on the seaboards of Europe, aye, and of Asia and Africa too, till the peoples thought that the werewolves themselves had come. Here, too, when they came, they found the Huns, whose warlike fury had swept the earth like a living flame, till the dying peoples held that in their veins ran the blood of those old witches, who, expelled from Scythia had mated with the devils in the desert. Fools, fools! What devil or what witch was ever so great as Attila, whose blood is in these veins?59 Die Familiengeschichte des Grafen gerät zu einem Gemisch aus allerlei historischen Ingredenzien, zu denen auch die exotischen und blutrünstigen Gestalten der ethnologischen Narration gehören. Deren Funktion ist es, auf ein anderes, noch verstörenderes Detail hinzulenken: das transgressive Verhalten des Grafen Dracula, der niemand anderes ist als die Reinkarnation des historischen Wallachenfürsten Vlad Ţepeş in Gestalt des Vampirs. Diese zentrale Figur der rumänischen Geschichte wird in Ion Budai-Deleanus „Ţiganiada“ als politischer 57 SCHWARTNER, Statistik, 1809‒1811, Bd. 1, 1. Es ist nicht unbedeutend, das Stokers Informationsquelle vor Ort in Ungarn und Siebenbürgen der im Roman namentlich genannte Orientalist Ármin Vámbéry war, ein entschiedener Vertreter der Theorie von der asiatischen Herkunft der Ungarn. 58 STOKER, Dracula, (Chapter 1 Jonathan Harker's Journal), 1975 [1897], 10. 59 STOKER, Dracula, (Chapter 3 Jonathan Harker's Journal Continued), 1975 [1897], 33. 164 Wegweiser der Rumänen entworfen ‒ wie anders porträtiert ihn doch Stoker ein Jahrhundert später. Der politische Kontext wird zu einer bloßen Folie, auf der die Gewalt eine Erklärung findet, die offenbar nicht nur eine individuelle Eigenschaft, sondern ein Merkmal von Draculas „Rasse“ ist. Der Chronotopos des Romans wäre ohne die exotischen Gestalten der „Zigeuner“ unvollständig. Deren Beschreibung geht ebenfalls von dem klassischen Vorbild der Ethnographie der Aufklärung aus: A band of Szgany have come to the castle, and are encamped in the courtyard. These are gipsies. […] There are thousands of them in Hungary and Transylvania, who are almost outside all law. They attach themselves as a rule to some great noble or boyar, and call themselves by his name. They are fearless and without religion, save superstition, and they talk only their own varieties of the Romany tongue.60 Wiederum sind sie nicht einfach nur Wilde. Denn sie stellen eine Verbindung zwischen Realem und Fantastischem her, da sie Draculas Leibwächter sind und ihn von seinem Schloss nach London befördern: Last night the Count left me early, and locked himself into his own room. As soon as I dared I ran up the winding stair, and looked out of the window, which opened South. I thought I would watch for the Count, for there is something going on. The Szgany are quartered somewhere in the castle and are doing work of some kind. I know it, for now and then, I hear a far-away muffled sound as of mattock and spade, and, whatever it is, it must be the end of some ruthless villainy.61 6. „Totale Verrücktheit“: Die Erosion der nationalen Taxonomie während des Kommunismus Ob wohlwollend oder feindselig gegenüber dem „Anderen“ in der Gesellschaft, die Literatur des nationalen Zeitalters postulierte klar definierte Grenzen zwischen den Nationalitäten. Mobile Grenzüberschreiter wie Frauen, Juden und Roma wurden als unliebsame und dunkle Gestalten entworfen. Sie bedrohten die prekäre Balance der Provinzgesellschaft und die sozialen und politischen Ansichten, auf denen diese aufgebaut war. Das alte Regime und seine Werte lösten sich jedoch am Ende des Zweiten Weltkrieges und mit der Installierung des Kommunismus, der Gewalt der stalinistischen Säuberungen, der Vernichtung der alten sozialen Eliten und der Nationalisierung in den 1950er Jahren auf. 60 61 STOKER, Dracula, (Chapter 4 Jonathan Harker's Journal Continued), 1975 [1897], 43-44. Ebd., 46. 165 Der Literaturhistoriker Endre Bojtár nannte den Ostblock ein „kommunistisches Gefängnis“, dessen Kultur in der Lage war, gemeinsame Werte zu schaffen, manchmal durch Widerstand gegen die offizielle Kulturpolitik, manchmal durch Benutzung der Slogans, die „die Gemeinschaft der den Kommunismus aufbauenden Menschen“ verherrlichten.62 Diese Werte traten im Rumänien der 1960er und 1970er Jahre in der Literatur in Erscheinung, und bis zu einem gewissen Maße auch in der Wissenschaft, als sie von einem vorübergehenden politischen Tauwetter profitieren konnten, bevor die freie Meinungsäußerung in den 1980er Jahren erneut brutal unterdrückt wurde. Eine Reihe von Periodika wie der im siebenbürgischen Cluj/ Klausenburg erscheinende dreisprachige „Echinox“ oder die deutschsprachige Monatszeitschrift für Literatur, die in Bukarest unter dem Titel „Neue Literatur“ erschien, und Verlagshäuser wie Kriterion und Dacia erleichterten literarische Übersetzungen, Kommunikation und Wechselwirkung über die Grenzen hinweg. Eine wichtige Rolle im kulturellen Austausch über den Eisernen Vorhang spielten die Radiosender Free Europe, Deutsche Welle und Voice of America sowie einige Radiosender der etwas freieren Nachbarländer Ungarn und Jugoslawien, die auch in Rumänien empfangen werden konnten, z.B. die ungarischen Sender Kossuth und Petőfi. Ádám Bodor erinnert sich in einem Interview über den Zeitgeist: Kolozsváron a hatvanas években a fiatalság esténként megtöltötte a korzót, a Mátyás király tér négy oldala a társadalmi rétegek szerint oszlott meg, a nyugati és a déli oldal volt a diákoké, végig a Deák Ferenc utcán, le egészen a Román Operáig. Itt magyar, román és német szót egyaránt lehetett hallani – akárcsak a piacon, a boltokban vagy a hangversenytermek előcsarnokában. […] Az én eszmélésem egy ilyen többnemzetiségű környezetben történt, ahol a válaszfalak és mezsgyék nem ellenfelek, legfönntebb vetélytársak vagy inkább partnerek között húzódtak. Ez a másséág nyilvánossága volt, a különbőzőség nyílt vállalása. Miközben nem keveredtünk egymással, mégis öszetartoztunk, mintha az öröklött történelmi emlékek dacára élt volna bennünk valami közös transzilván öntudat, a közös örökség féltése: azok a nmezedékek még kölcsönösen tisztelni tudták egymást63 [Im Kolozsvár [Cluj/ Klausenburg] der 1960er Jahre pflegten die jungen Leute am Abend auf dem Korso zu sein, die vier Seiten des Mathias-Platzes waren zwischen den sozialen Schichten aufgeteilt; die West- und die Südseite gehörten den Schülern und Studenten, die Ferenc-Deák-Straße hinunter bis zur Rumänischen Oper. Hier konnte man ungarisch, rumänisch und deutsch sprechen hören, genauso wie auf dem Markt, in den Geschäften oder in den Eingangshallen der Konzertsäle. […] Ich war in einer solchen multinationalen Umgebung aufgewachsen; hier verliefen die Trennmauern und Feldraine nicht zwischen Gegnern, sondern meist zwischen Konkurrenten oder Partnern. Das 62 63 BOJTÁR, Pitfalls, 2007. BODOR, A Börtön szaga, 15. 166 war die öffentliche Natur des Andersseins, das selbstverständliche Hinnehmen des Andersseins. Zwar hatten wir keinen Kontakt miteinander, aber wir gehörten doch zueinander, so als lebte in uns trotz der ererbten historischen Ressentiments ein gemeinsames siebenbürgisches Bewusstsein, die Sorge um das gemeinsame Erbe; diese Generationen pflegten einander noch zu respektieren. Rückblickend war die Entspannung dieser Phase trügerisch, denn tatsächlich war sie nur ein Vorspiel der Diktatur der 1980er Jahre. Bodor findet das Bild des Ostwinds aus dem Sowjetreich für die Spannung, die zwischen den gegenläufigen politischen Kräften bestand: Ezzel párhuzamosan az is igaz, hogy Erdélyben, mint Európa egyik jellegzetes peremvidékén, másvalami is érződött: a Kárpátok szorosain át olykor besüvített a keleti síkságok egy-egy rideg fuvallata, nemegyszer a sarkkörön túli birodalom dermesztő hidege. Vidékenként más és más volt a táj képe, és néhol már fenyegető komorsággal jelentkezett Kelet-Európa elesettsége, kiszolgáltatottsága, igénytelensége és szegénysége. Egyúttal olyan közállapotoknak a kezdeményei, amelyek a romlás egy bizonyos további szakaszában már elviselik a diktatúrát.64 [Zugleich ist es wahr, dass man in Siebenbürgen als einem typischen europäischen Grenzgebiet noch etwas anderes spüren konnte: Ab und an blies ein heulender kalter Wind von den östlichen Ebenen durch die Karpatenpässe hinein, manchmal die klirrende Kälte des Reiches von jenseits des Polarkreises. Die Landschaft bot je nach Region ein anderes Aussehen, und stellenweise kam bereits mit drohender Unerbittlichkeit das Elend, die Hilflosigkeit, die Kargheit und Armut Osteuropas zum Vorschein. (Damals waren) auch die Anfänge eines Zustandes, die in einem bestimmten Stadium des Zerfalls sogar die Diktatur hinnehmen können.] Die Literatur der Nachkriegsgeneration spiegelte in Form und Inhalt die Spannung dieser Dynamik gegensätzlicher politischer Kräfte wider. Einerseits besaß sie die wenn auch begrenzte Freiheit, Erinnerungen an den Krieg und den gewaltsamen Regimewechsel danach zum Thema zu machen. Tatsächlich waren Demütigung, Folter und Psychoterror in den kommunistischen Gefängnissen nicht nur symbolischer Ausdruck des Alltags im Ostblock, sondern auch die sehr reale Erfahrung vieler Schriftsteller aus Bodors Generation. Anders als bei der „Vergangenheitsbewältung“ in Westdeutschland nach 1968 gab es im Osten keine Möglichkeit, die jüngste Vergangenheit aufzuarbeiten. Unter den Vorgaben einer strengen Zensur entwickelte die Literatur im Inland eine äsopische Sprache, um ähnliche Themen zu behandeln. Die Erzählungen des in Siebenbürgen geborenen Alexandru Ivasiuk (1933‒1977) sind beispielsweise historische Parabeln über eine 64 Ebd., 17. 167 machiavellische politische Ordnung65 oder Beschreibungen und Analysen reiner physischer Gewalt.66 Wie in dem im Stil des magischen Realismus gehaltenen Roman des aus Siebenbürgen stammenden Dumitru Radu Popescu (geb. 1935) „Vîntoare regala“ (Königliche Jagd, 1973) greifen die Autoren auf Surrealismus, das Absurde und Groteske zurück, um die tabuisierten Verbrechen des stalinistischen Regimes in Erinnerung zu rufen. Die Figur des Untoten wird so zur Metapher für den Spuk der Vergangenheit. Popescus Roman, den der Verlag Kriterion ins Deutsche und Ungarische übersetzen ließ, beginnt als eine in den 1970er Jahren angesiedelte Kriminalgeschichte. Der Erzähler beabsichtigt, die Todesumständes seines Vaters Horia Dunărinţu in den 1950er Jahren zu klären. Rasch schlägt der Roman jedoch in einen Bericht voller Halluzinationen und absurder Handlungsorte um ‒ jemand findet den Schädel des Ermordeten im Bauch eines toten Pferdes; voller untoter Figuren ‒ ein falscher Zeuge im Schauprozess Dunărinţus stirbt und erwacht siebenmal wieder zum Leben; und voller multipler Realitäten ‒ Menschen, auf die der Erzähler trifft, sind eigentlich zwei Wochen zuvor ermordet worden. Die Zentralfigur des Horia Dunărinţu, eines friedlichen Normalbürgers, wird dadurch zum Verbrecher, dass sie auf den Regeln des Rechtsstaates besteht; gerade das bringt Dunărinţu in Konflikt mit dem Machtapparat aus „Volk und Partei und Regierung“.67 Wie schon in Stokers Transsilvanien, beruht der Chronotopos in Popescus Roman darauf, dass der konkrete geographische Raum (hier das Dorf Cîmpuleţ) in den Bereich der Fantasie und des Volksglaubens an Untote übergeht („Baba Sevastiţa in Branişte, die sagt, es gäbe nicht lebendige und tote Leute, sondern bloß Leute, die auf der Erde, und solche, die unter der Erde leben, erzählte in den Dörfern der Toten, die unter dem Friedhof sind, hätten die, die dort ähnlich wie wir hier leben, Ieremias Seele nicht aufnehmen wollen“)68. Die semiotische Funktion des Phantastischen ist es hier jedoch nicht, wie bei Stoker den Raum zu exotisieren oder zu verfremden. Seine Funktion ist allegorisch: Sie steht für die durch das Regime tabuisierte historische Erinnerung und symbolisiert politischen Protest, darin Budai-Deleanus Pseudoepos nicht unähnlich. Eine Allegorie dieser Scheinwelt ist die des Zirkus. Die Zirkusdirektorin ist Richterin bei Dunărinţus Scheinprozess, ihre Haupteigenschaft ist die Unbeständigkeit und Täuschung: Sie taugt nicht zur Direktorin, […] und zwar, weil sie keine Künstlerin ist, sie ist Managerin, und wie eine Pokerspielerin, die sie ja auch ist, setzt sie alles auf eine Karte. Sie baut nicht auf, sie riskiert. Und es kommt vor, daß sie Glück hat, und dann sagen manche, sie sei phänomenal, und geben ihr noch eine Prämie und organisieren eine Auslandstournee für sie und ihre Truppe. Und auch dort wickelt sie ein, wen sie nur kann, legt sich selbst oder, weil sie 65 66 67 68 IVASIUC, Corn de vȋnặtoare, 1972. IVASIUC, Vorhalle, 1968. Hier zit. nach der dt. Ausgabe POPESCU, Königliche Jagd, 1973/ 1977, 36. Ebd., 33. 168 älter geworden ist, andere, frischere Frauenzimmer mit wem es nötig ist ins Bett – Zirkusdirektoren oder Zeitungssschreiberchen. […] Hol sie der Teufel, die Gauklerin, daß sie im Zirkus riskiert, ist kein so großer Schaden. Aber diese Sau hat auch Politik getrieben, sie war Assessorin und war eine zeitlang in alle Angelegenheiten von Cîmpuleţ verwickelt, für das sie von Turnuvechi aus verantwortete. Und sie hat auch dort riskiert: Sie spielte mit dem Leben mancher, als spiele sie Poker.69 In der Diktatur historische Zeit und Identität verlieren, in soziales Chaos versinken – „totale Verrücktheit“70 –, das waren seit den späten 1960er Jahren Leitmotive der siebenbürgisch-sächsischen Literatur, wie Edith Konrad feststellt.71 So verlieren die Figuren von Dieter Schlesaks „Vaterlandstage und die Kunst des Verschwindens“ (1986), die zuerst mit den Nazionalsozialisten, dann mit dem kommunistischen Regime Kompromisse schließen und schließlich nach Deutschland emigrieren, nicht nur ihre Geschichte und Identität, sondern auch ihre Heimat. Schlesak beschreibt sie als nachapokalyptische Wanderer, die in ihren Köpfen hartnäckig ihre Selbstbilder mit sich schleppen, ebenso wie die des „Anderen“: Edle Pflichterfüllung, Leben hingeben in EHRE, Zähnezusammenbeißen, während der Rumäne, der Zigeuner gar, dies nicht kann, ja, gar nicht will, nimmt Reißaus. Rettet sein kleines Leben. Stirbt nicht gern für ETWAS, auch wenns „Reich“ ist. Letzte Menschen sinds, Liederliche, die dann wortlos und wertlos verrecken, ganz ohne Aufgaben.72 Der Roman „Grenzsteine“ von Franz Hodjak (Erstveröffentlichung 1995) beschreibt die karnevaleske Absurdität und das Chaos der posthistorischen Gesellschaft am Ende des Ceauşescu-Regimes. Hodjak thematisiert Emigration und Heimatverlust der Siebenbürger Sachsen. In dieser Bachtinschen Welt der surrealen sozialen Subversion und Transgression wird die historische Selbstidentifikation sinnlos, da es keine Zukunft in der Heimat gibt. Nachdem sich die Hauptfigur, Harald Frank, zur Emigration entschlossen hat und für ein Visum nach Bukarest gereist ist, bricht in dem mit den Zelten der Visaanträger belegten Garten der deutschen Botschaft eine Revolution aus. Von diesem Moment an verwandelt sich der Raum in ein Niemandsland des sozialen Chaos. Fortan rufen die Einwohner des Botschaftsgartens diesen zum „Zeltstaat“ aus, geleitet von einem „blonde[n] Zigeuner, der, wie er erklärte, der Nachkomme eines Barons sei“.73 Ein ähnlicher Hang zu Groteske, zum Absurden und zum phantastischen 69 70 71 72 73 Ebd., 92f. HODJAK, Grenzsteine, 1995, 96. KONRADT, Identität, 1998. SCHLESAK, Vaterlandstage, 1986, 65. HODJAK, Grenzsteine, 1995, 22. 169 Einsatz von Märchenfiguren ist in Ádám Bodors „Sinistra körzet“ (SinistraBezirk) zu finden, veröffentlicht erst in den 1990er Jahren in Ungarn. Wie der Untertitel „Egy regény fejezetei“ (Kapitel eines Romans) andeutet, modifizierte Bodor zuvor geschriebene Kurzgeschichten so, dass sie nunmehr im Zusammenhang als Roman gelesen werden können. Das Buch sorgte bei der Kritik für ebenso große Verwirrung wie Faszination.74 Die fiktive Landkarte von Bodors „Bezirk“ wurde als Parabel der durch das totalitäre Regime verursachten Schäden an Mensch und Umwelt gelobt. Besonders der Vergleich mit Andrej Tarkovskijs Film „Stalker“ (1979) klassifizierte das Buch als ein unverkennbares Produkt des Kalten Krieges.75 Wie die Semiotik des Titels suggeriert (sinistra bedeutet sowohl „links“ als auch „finster“ und „unheimlich“), ist der „Sinistra-Bezirk“ eine Antiheimat, das Buch ein Antiheimatroman. Die meisten der Figuren sind interniert oder werden in das Lager verschickt (Oberst Coca Mavrodin aus der Dobrudscha), sind Fremde oder Spione (Andrej Bodor, der kommt, um seinen internierten Sohn zu suchen). Die vertraute Landschaft ist zu einem Militärcamp heruntergekommen, ihre Höhlen sind verschwunden, die Mine ist nun ein Futterplatz für regierungseigene Bären usw. Als Andrej bei seiner Ankunft in Sinistra ausspricht: „hier wird mein Leben zur Erfüllung kommen“, erinnert das an romantische Heimatverbundenheit, nur wird dieses Gefühl anschließend durch Banalität, nackte Gefahr und Andrejs traurige Laufbahn in der Zone ad absurdum geführt. Er muss die Drecksarbeit für seine Vorgesetzten erledigen und sogar einen Menschen töten, schließlich entkommt er im Kühlwagen eines türkisch-deutschen Schmugglers. Auf gleichsam klassizistische Art sind die Namen der Figuren von einer archetypischen Aura umgeben, die durch ungewöhnliche Zusammensetzungen erzeugt wird. Einige der Namen tragen Attribute wie in der epischen Dichtung, sie gewinnen dadurch mythische Tiefe und historische Resonanz. Einige Namen deuten auf hybride Identitäten hin, weil Vor- und Nachname auf je unterschiedliche nationale Herkunft verweisen. So könnte Béla Bundasian, Andrejs Pflegesohn, halb armenisch, halb ungarisch sein, Aranka Westin, „die alte Mähre“, eine weitere Geliebte Andrejs, womöglich halb ungarisch, halb deutsch, oder gar französisch-hugenottisch, Géza Hutira und Bebe Tescovina, das Mädchen mit den rot glühenden Augen, haben beide ruthenisch-rumänisch klingende Familiennahmen; Doktor Olinek, der übelriechende Bärenhüter, hat womöglich tschechische oder slowakische Vorfahren, während der Name der frommen Elvira Spiridon, Andrejs Geliebte mit dem „samtenen Hintern“, auf eine griechische Herkunft deutet und ironischerweise einen Schutzheiligen bezeichnet. Dieses Babel der Namen ist auch eines der Sprachen und Nationalitäten, da rumänisch, ukrainisch, ungarisch, deutsch sowie der Zipser Dialekt und rusinisch alle in der Zone gesprochen werden. In eine weitere, noch ungewöhnlichere Kategorie fallen Eigennamen und Bezeichnungen von Objekten und Tieren. 74 MÁRTON, Az elátkozott perepmvídék, 1992; als Beispiel für die umfangreiche Kritik und Sekundärliteratur zu Bodor in Ungarn vgl. Tapasztalatcsere [Erfahrungsaustausch], 2005. 75 ÁCS, Az erdő, 1992; Tapasztalatcsere [Erfahrungsaustausch], 2005. 170 Solche Namen tragen subalterne Beamte oder Offiziere in ausführenden Funktionen wie etwa Oberst Puiu Borcan (Borcan bedeutet Marmeladenglas), dessen schwarzer Regenschirm nach seinem Tod umherzufliegen beginnt wie eine überdimensionierte Fledermaus; ein Spion namens „roter Hahn“, oder die „grauen Gänseriche“ Mavrodins, zwanzig Informanten in grauen Anzügen. Die Bergjäger werden lakonisch als „eitle Hirsche“ bezeichnet. Eine dritte Kategorie von Namen betreibt historische Wortspiele mit Oxymora. Einem Vornamen mit historischer Patina wird ein eher gewöhnlicher Nachname beigesellt, so etwa im Falle von Musztafa Mukkerman, dem heimatlosen, übergewichtigen, homosexuellen Trucker, dessen Nachname deutsch klingt. Connie Illafeld alias Cornelia Illarion, die tragische Liebe des Béla Bundasian, ist von russisch-adliger Herkunft. Oberst Coca Mavrodin, alias Izolda Mavrodin, der Ersatz für den verstorbenen Oberst Borcan, kombiniert in äußerst bizarrer Weise den Namen des deutschen Isolde-Mythos mit einem Ortsnamen aus der Dobrudscha in Südostrumänien, einer Region, die tatsächlich für ihre stalinistischen Internierungslager berüchtigt war. Die Benennung der Albinozwillinge Hamza Petrika ist wohl am außergewöhnlichsten, denn Hamza ist der Name eines osmanischen Paschas, den Vlad Ţepeş pfählen ließ. Als ihre Liebe zu Doktor Olinek unerwidert bleibt, pfählen sich die schwulen Zwillinge selbst; so persifliert ihr Akt die schauerliche historische Begebenheit. Die Anthropologie von Sinistra bildet nicht nur einen diametralen Gegensatz zur Utopie der Aufklärung, sie verhöhnt auch die kanonisierten Vorstellungen über die nationalen Gemeinschaften Siebenbürgens. Im Gegensatz zu der traditionell stets auf eine bestimmte Nationalität fokussierten Regionalliteratur gibt es im „Sinistra-Bezirk“ keine Nationalität, die im Mittelpunkt steht. Die gemischte Herkunft der Figuren stellt die Utopie ethnokultureller Homogenität in Frage. Statt mit koexistierenden, aber deutlich voneinander geschiedenen Nationalitäten, als die die kommunistische Propaganda die ethnische Heterogenität Rumäniens sehen wollte, füllt Bodor den Raum mit Mischlingen und exotischen Minderheiten von den Peripherien: mit Ukrainern, Türken, Ruthenen, Zipser Deutschen, Serben und Armeniern. Sinistra ist kein Ort nationaler Pluralität, sondern eher eine Parabel über die Zerstörung kollektiver wie individueller Identität. Als Antiheimat duldet Sinistra keine Kontinuität, Tradition oder regionale Abstammung. Da den Figuren jedes historische Bewusstsein fehlt, existiert das Problem nicht, die eigene Identität auf eine nationale Vergangenheit beziehen zu müssen. Aus dem Fehlen von Vergangenheit rührt ein Fehlen von Zukunft ‒ wer sich in Sinistra aufhält, plant keine Veränderung seines Lebens. Nur einmal ist von einem Aufstand die Rede, und dieser bleibt eine unbedeutende Episode gegen Ende des Romans und wird ohne Probleme niedergeschlagen. Die Figuren besitzen keine Energie für ihre Handlungen, ganz zu schweigen von zielbewussten Motiven. Sie haben keinen Einfluss auf die Ereignisse. Auf der Ebene des Metanarrativs sind sie geschichtslos. Die Ahistorizität ist ein weiteres starkes Motiv, das Sinistra kennzeichnet und das auf die Unerschütterlichkeit des Regimes hinweist. 171 Die Darstellung der Machtstruktur in „Sinistra-Bezirk“ und der Figuren ist eine Allegorie der totalitären Regime des 20. Jahrhunderts. Orwellsche Motive beschreiben das System: Omnipräsenz, totale Kontrolle, Überwachung durch den Big Brother, Mittäterschaft der Kirche, Ausspionieren, Verschwörung, Bären unter staatlichem Schutz, von Beamten zerstörte Stromkabel, Verbot der Güterakkumulation, Unberechenbarkeit des Lebens. Fast alle, die Hauptfigur eingeschlossen, leben auf vertrautem Fuße mit der Macht und sind bereit, willfährig zu sein, sogar zu töten, als Gegenleistung für einen Job, einen Pass oder nur, um in Ruhe gelassen zu werden. Die zunächst als Wilde beschriebenen Figuren sind ebenfalls durch das Regime geprägt. Als literarische Figuren zeugen sie von den Auswirkungen des Kommunismus. Die chronotopischen Aspekte von Bodors Roman erweitern den Horizont der historischen Interpretation über die letzten Jahrzehnte des Kalten Krieges hinaus. „Sinistra-Bezirk“ erinnert sehr an die von Larry Wolff beschriebene „Erfindung Osteuropas“ als einer symbolischen Wildnis, wie sie in westlichen Reiseberichten seit der Aufklärung betrieben wurde. Wie Ádám Bodor Wirklichkeit und Fiktion mischt, erinnert an die „synthetic association of lands, which drew upon fact and fiction“, an die Techniken der Exotisierung, die für Schriften philosophierender Reisender über die Peripherien des zivilisierten Europa charakteristisch sind.76 In „Sinistra-Bezirk“ hallen alle früheren Darstellungen Siebenbürgens nach, aber der Roman treibt sie bis zum Äußersten. Allerdings moralisiert der Text nicht, der Gegensatz zu Budai-Deleanu und der nachaufklärerischen Literatur könnte nicht größer sein. Sinistra ist ein Gefängnis elender Ausgestoßener mit zweifelhafter oder hybrider Identität an der Grenze zwischen Wirklichkeit und Märchen. Dracula lässt grüßen. 7. Der Schock des Alten: Neugestaltung der nationalen Verortung nach dem Zusammenbruch des Kommunismus Nach dem Ende der politischen Zensur veränderte sich die literarische Landschaft des vormaligen Ostblocks dramatisch. Die komplexe Vielfalt der Literatur und die bitteren Kontroversen, die damals über die Funktion von Schriftstellern und ihrer Werke während der totalitären Regime geführt wurden, können hier nicht dargelegt werden, ebensowenig wie die literarische Heimkehr von Schriftstellern aus dem Exil.77 Tatsache ist, dass nach dem Zusammenbruch des Kommunismus allegorische Dystopien in der Literatur aus der Mode kamen. Der Wegfall der Zensur eröffnete dem Dokumentargenre noch unbekannte Spielräume, und Memoiren und vorher verbotene Werke vieler Exilschriftsteller wurden zu Bestsellern. Innerhalb dieser unübersichtlichen Literaturlandschaft gelangten rechtsgerichtete Autoren der 1930er und 40er Jahre zu ungeahnter Popularität, 76 77 WOLFF, Inventing, 1994, 356. NEUBAUER, Introduction, Chapter V., 2007, 473f. 172 darunter Schriftsteller der ungarischen faschistischen Pfeilkreuzlerbewegung, Angehörige der rumänischen Eisernen Legion, Anhänger des Präsidenten des slowakischen Marionettenregimes Josef Tiso, der faschistischen Ustaša nahestehende Autoren ‒ diese Reihe könnte beliebig fortgesetzt werden. Der triumphale Erfolg der Romane des siebenbürgisch-ungarischen Autors Albert Wass (1908‒1998) oder des Rumänen Horia Vintilă (1915‒1992) passte zu dem Wiederaufleben des Rechtsnationalismus in Ostmittel- und Südosteuropa.78 Dieser durchschlagende Erfolg des Nationalismus mag manchen liberal eingestellten Leser überrascht haben, doch er bestätigte die skeptische Vorhersage Endre Bojtárs, derzufolge nach dem Fall des Kommunismus das einfache Volk aus der Literatur des vormaligen Ostblocks verschwinden und die „allgemeinen Erfahrungen“ durch eine Wiederbelebung des Nationalismus ersetzt würden.79 Mit dem Exodus von Deutschen und Juden (teilweise auch von Ungarn und Rumänen!) in der Nachkriegszeit kam das Thema der nationalen Vielfalt im nostalgischen Heimatroman Siebenbürgens wieder auf, so etwa in Attila Váris (geb. 1946) „Cselédfarsang“ (Karneval der Diener, 2001) oder Eginald Schlattners Bestseller „Der geköpfte Hahn“.80 Anders als die o.g., unterschwellig antihumanistischen und antiidealistischen Werke, will Schlattner die Erinnerung an ein vergangenes Umfeld konservieren bzw. wieder herstellen: „Die Erinnerung ist das Paradies, aus dem dich niemand vertreiben kann.“81 Der Roman stellt so etwas wie Schlattners persönliche Landeskunde dar. Die Erzählweise ist die des traditionellen Bildungsromans. Der allwissende Erzähler kommentiert das Geschehen, indem er Randbemerkungen zu Geographie, Geschichte der Nationalitäten, selbst zu Geschichtsschreibung und zum Alltag seiner Figuren in der multiethnischen Kleinstadt Fogarasch (rum. Fogaraş, ung. Fogaras) macht. Die Zeit verläuft auf zwei Ebenen. Zum einen die historische Zeit, wie sie von dem Erzähler vorgestellt wird; sie verläuft kontinuierlich bis zum alles entscheidenden Wendepunkt, nämlich dem 23. August 1944. An diesem Tag entließ der rumänische König Michael die mit NS-Deutschland verbündete Regierung des General Antonescu, den er verhaften ließ. Rumänien kündigte sein Bündnis mit Deutschland und den Achsenmächten auf und stellte sich auf die Seite der heranrückenden Roten Armee. Die Erzählung bricht an diesem Punkt ab. Genausowenig wird von der Zeit nach dem Wendepunkt berichtet, dem Beginn der Machtübernahme der Kommunisten in Rumänien. Inmitten der großen Geschichte erfahren wir von den kleinen, alltäglichen Angelegenheiten des siebenbürgischen Ortes Fogarasch, gefiltert durch die 78 Eine hervorragende vergleichende Untersuchung der rechtsgerichteten Ideologie dieses Autors, der im Siebenbürgen der Zwischenkriegszeit zu schreiben begann und nach dem Zweiten Weltkrieg ins Exil in die USA ging und dort starb, bietet ÁGOSTON, A kisajátított tér, 2007. 79 BOJTÁR, Pitfalls, 2007. 80 Dieser Roman erschien erstmals 1998 in Wien, und seine Popularität v.a. bei den deutschen Lesern übertrifft alle zuvor genannten Autoren. Gegenwärtig ist die neunte Auflage in Vorbereitung. 81 SCHLATTNER, Der geköpfte Hahn, 1998, 9. 173 Jugenderinnerungen des Erzählers aus der wohlhabenden deutschen Mittelschicht. Während des Zweiten Weltkriegs erfährt er seine Initiation in die Welt der Erwachsenen: seinen Einzug in die Hitlerjugend, seine innere Zerissenheit zwischen regionaler – patriachaler, patriotischer und religiöser – Identität und Naziideologie und deren Entlarvung als leere Hülle und die Rückkehr zum Lutheranismus durch die Entscheidung, sich konfirmieren zu lassen. Mit der Abiturfeier, die ausgerechnet auf den Tag der politischen Wende fällt, findet diese kleine Geschichte einen glücklichen Ausklang, indem der Junge sich aus den Fängen der Naziideologie befreit. Zugleich beseitigt der junge Held seinen Gegenspieler, einen früheren Freund, der sich zu einem fanatischen Nazi gewandelt hat, und gewinnt das Herz der vornehmen Ortsschönheit Alfa Sigrid. Das zweite und tatsächliche Ende der Erzählung tritt später in der Nacht ein, als deutsche Flugzeuge Rumänien angreifen und die deutschen Landsleute in Fogarasch bombadieren, wobei auch der Erzähler einen Märtyrertod findet. Diese Verlusterfahrung leitet den Blick des fortan auktorialen Erzählers auf die Gesellschaft. Der Blick ist nostalgisch und sentimental, er verbindet sich mit der Sehnsucht nach der friedlichen Koexistenz der nationalen Kulturen Siebenbürgens und ihrer wechselseitigen Bereicherung – geschildert als das verlorene Paradies. In diesem idyllischen Universum kennt jeder seinen Platz, es ist eine wohlgeordnete Hierarchie, zu der nicht nur die jüdische städtische Mittelschicht, sondern auch das pittoreske Zigeunerlager am Rande der Stadt gehört. Deshalb gleicht der Tonfall weder dem des hochmütigen und selbstbewussten aufgeklärten Bildungsbürgertums, noch dem des tragischen Pathos der Nationalisten des 19. Jahrhunderts, sondern er ist eher ein Tonfall nostalgischer Ironie der abgesetzten herrschenden Klasse. So liefern die Deutschen nicht als einzige ein kulturelles Vorbild, vielmehr können sie ihrerseits auch einmal die Rumänen nachahmen, auch wenn es dabei nur um so gewöhnliche Dinge wie Feierbräuche geht: Tanztee ist laut Sprach-Brockhaus die Übersetzung von thé dansant. Er beginnt um vier, fünf Uhr und klingt vor Mitternacht aus. Wir hier in Fogarasch hatten diese gehobene Form der Geselligkeit den rumänischen Lyzealschülern abgeguckt: Sie pflegten den ceai dansant, so der Name bei ihnen, mit südlicher Lust und lateinischer Grandezza, wenn auch unter der Aufsicht von mindestens zwei Müttern, die die Töchter nicht aus den Augen ließen.82 So erscheint Siebenbürgen als bukolischer, polykultureller Himmel, mit dem deutschen Patriziat an oberster Stelle, das sich erfolgreich Angehörige der ungarischen und rumänischen Aristokratie von jenseits der Karpaten einverleibt hat und über kosmopolitische städtische Tugenden verfügt. In sozialer und mentaler Hinsicht unterscheiden sich die Nazianhänger deutlich. Darunter fallen die dümmlichen Tanten, die ärmer und weniger gut gebildet sind als der Rest der 82 Ebd., 8. 174 Familie; der Onkel, der jedem Rock nachjagt; vor allem aber Angehörige der ungebildeten Unterschicht, die darin den Kommunisten gleichen. Die Darstellung der Nazis als Dummköpfe oder subalterne Sozialparasiten kommt beispielsweise in der ungewollten Ironie der kleinen Schwester zum Tragen, die die subtilen Mechanismen der Verstellung in der Öffentlichkeit nicht verstehen kann: „Eines Mittags brachte die kleine Schwester ein modernes Tischgebet aus dem Kindergarten mit: ‚Hände falten, Köpfchen senken und an Adolf Hitler denken‘.“83 Das ist die eigentliche Aussage von Schlattners Roman und zugleich der Unterschied zur Ideologie der Transsilvanisten in der Zwischenkriegszeit, dass nämlich die wirkliche soziale Kluft innerhalb des alten Regimes zwischen den kulturell aufgeschlossenen sozialen Eliten verlief, zu denen manchmal auch Juden gehörten, und den Nichteliten. Der Erzähler geht auf ironische Distanz zur faschistischen Forderung rassischer Reinheit, wenn er über die Herkunft des Vaters spricht: Der Großvater hieß Goldschmidt, H. H. I. G. Goldschmidt, und stammte von Schirkanyen bei Fogarasch. Er war ein Siebenbürger Sachse, „achthundert Jahre alt!“. Und somit erwiesenermaßen rein deutsch auf fünfundzwanzig Generationen zurück. Da er wegen des Namens Goldschmidt oft für einen Juden gehalten wurde, stak der Ahnenpaß ostentativ in der Brusttasche der Marinenuniform, so daß jedermann den braunen Leineneinband und das Hakenkreuz erkennen konnte. Im Ahnenpaß stand zu lesen: „Der Inhaber dieses Ahnenpasses ist rein deutschblütig!“ Schwarz auf weiß. Die Eintragungen gestempelt und gesiegelt vom Evangelischen Pfarramt Schirkanyen. So – und nur so – konnte man dazumal Goldschmidt heißen. Unser Vater fragte: „Warum willst du unbedingt ein Deutscher sein? Wo man in Fogarasch keinen Schritt tun kann, ohne in mehreren Sprachen zu grüßen? Dies alles wird ein böses Ende nehmen!“ Der Großvater erwiderte ungehalten: „Ich bin ein alter k.u.k. Österreicher. Und du bist ein Defätist, Felix!“84 Ebenso ironisch wird die Abstammung der Großmutter behandelt: Anders als mit dem Großvater war es rassisch um die Großmutter bestellt. Ihr Ahnenpaß war dunkelgrau. Der Einband war bloß mit einer Siegesrune geziert – nicht mit dem Hakenkreuz. Sie wurde als arisch geführt, was wir Buben mit arabisch verwechselten. Dabei dachten wir an Hadschihalef Omar und waren erfreut, ihn in der Verwandtschaft zu wissen, mit seinen elf Schnurrbarthaaren auf der Oberlippe, fünf links und sechs rechts. In der Gebrauchsanweisung des Ahnenpasses war zu lesen: „rein deutsch ist, wer nur deutsche Ahnen hat. Arisch ist, wer keine Juden zu Vorfahren hat.“ 83 84 Ebd., 12. Ebd., 13. 175 Die Großmutter hatte keine Juden zu Vorfahren, war aber nicht rein deutsch, weil sie ungarischer Herkunft war. Ungarisch war Hunderttausendmal besser als jüdisch, ja noch anders, ganz anders: ein Unterschied zwischen Himmel und Hölle! Freilich, arisch war nicht so edel wie deutsch. Obschon es bei unserer Großmutter umgekehrt war: in ihrem Fall war das ungarische Blut edler als das deutsche. Sie entstammte einem Aristokratengeschlecht. Wer sich nicht verzählte, konnte auf dem Stammbaum – hoch wie ein Schlossfenster – bis 1467 elf Generationen von adeligen Altvorderen zurückverfolgen.85 National gemischte Ehen gab es nicht nur in der sozialen Elite, sondern auch in den Unterschichten. Z.B. ist da eine Frau Brunhilde Sárközi, eine Figur wie bei Gregor von Rezzori, die Zugeharbeiten im Haus verrichtet, die grotesk gezeichnete Witwe eines Ungarn, der als Deutscher „an der Front“ gefallen ist. Sie ist begriffsstutzig, extrem fleißig und lächerlich in ihrer übereifrigen Verehrung für den „Führer“. Ebenso ist ihr verstorbener Ehemann, der auf dem Weg zur Ostfront aus dem Zug fällt und so posthum als Kriegsheld geehrt wird. Was die Gemeinschaft in der Kleinstadt sozial zusammenhält, ist also nicht vorrangig die nationale Zugehörigkeit, sondern die humanistische Bildung. Im Roman gibt es eine Trennung in Eliten und Nichteliten, deren Schärfe an Bourdieu denken lässt, auch in urbane und ländliche Milieus. Ausserdem sind die schönen und gebildeten Menschen mehrheitlich auch die Guten, die den Verlockungen der Nazipropaganda widerstehen. So finden sich die wohlgesonnene sächsische Bürgerfamilie und die inzwischen ghettoisierte jüdische Ärztefamilie auf der gleichen Seite. Hier genießen die jüdischen Goldschmidt-Kinder mehr Privilegien beim Umgang mit den Kindern aus der Elite als die Kinder des im Dorf geborenen Hausmädchens Fofo: Mit den Kindern von Fofo ließ sich nichts anstellen. Sie waren anders als wir und dazu langweilig. Sie redeten nur sächsisch, in unartikulierten Lauten, während wir in der Familie hochdeutsch sprachen, wie das in der Stadt eben die Sitte war. Wenn wir uns verständigen wollten, mussten wir rumänisch radebrechen. Keiner wollte das.86 Bezeichnenderweise bleibt das Bild der Juden alles in allem stereotyp und schematisch. Die jüdischen Romanfiguren dienen den moralischen Anwandlungen der weiteren Goldschmidt-Familie als Folie, so wie der Antisemitismus der ungebildeten Nazitanten: Die Juden von Fogarasch hießen Hirschhorn und Thierfeld. Oder Schul, Dr. Schul, unser gewesener Hausarzt. Und hießen Glückselich. Ein Jude trug den Namen Alfred Rosenberg. Einer den Namen Bruckental, mit ck und ohne th, 85 86 Ebd., 14. Ebd., 18. 176 schicklicherweise anders geschrieben als Samuel von Brukenthal, der größte Mann, den das sächsische Volk hervorgebracht hatte, und ein Busenfreund der Kaiserin Maria Theresia, wie das Volk stolz munkelte. „Welch Sachse!“ Ja, selbst Goldschmidt nannten sie sich – wie unsereiner. Und hießen sogar Deutsch: Siegfried Deutsch, Brunhilde Deutsch, Florence Deutsch. Deutsch! Was nicht nur die Höhe an Impertinenz war, sondern Schande und Kränkung des Führers, wie die Tanten sich entrüsteten: „Aber es nützt ihnen nichts, auch wenn sie noch so deutsch heißen!“87 Der Ausschluss der Juden aus der Gemeinschaft während des Krieges ist eine Nebenhandlung des Romans, die auch dazu dient, die humanistischen Werte der deutschen Goldschmidt-Familie hervorzuheben. Die Eltern setzen sich tapfer über das rassistische Tabu hinweg; der Vater pflegt demonstrativen Umgang mit Tante Glückselich, deren Tochter nicht mehr ihre alte deutsche Schule besuchen darf.88 Der Erzähler selbst besteht die letzte Probe seiner Initiation, indem er sich ostentativ um die Tochter der Frau Hirschhorn kümmert, die zu dieser Zeit krank im Ghetto liegt. Eine der letzten Szenen zeigt voll romantischen Pathos, wie der Held mit dem jüdischen Mädchen tanzt; sie soll suggerieren, dass Humanität über Krieg und sogar Holocaust triumphieren kann. Schlattners Roman war ein großer Verkaufserfolg und wurde nach seinem Erscheinen von der Kritik dafür gelobt, die NS-Demagogie und den Antisemitismus unumwunden darzustellen, wie sie im Siebenbürgen des Zweiten Weltkriegs um sich griffen. Auch die Darstellung von Fogarasch als multikulturelles Universum wurde positiv aufgenommen, wie es Schlattner mit hintersinnigen Kommentaren und selbstironischen Genreszenen innerhalb einer versunkenen und idealisierten siebenbürgischen Welt gezeichnet hatte. Allerdings war der Erfolg des Autors dadurch getrübt, dass sich eine Kontroverse über seine wenig glorreiche Rolle während der späten 1950er Jahre entspann, als die Kommunisten Intellektuelle mit abweichender Meinung repressierten. Es ging dabei um den sogenannten Kronstadter Schriftstellerprozess, bei dem Schlattner, gebrochen von der Folter in einem Gefängnis der Securitate, der Anklage inkriminierende Aussagen gegen eine Reihe anderer Schriftsteller lieferte. Als im Jahr 2000 sein nächster Roman erschien, „Rote Handschuhe“, interessierte sich die Kritik bereits mehr dafür, was Schlattners Weltsicht und fiktionales Gedächtnis verbarg und nicht dafür, was es enthüllte, nämlich eine Funktion als moralische Kompensation.89 Es bleibt eine offene Frage, inwieweit Schuldgefühle an Schlattners Poetik und dem moralischen Unterton beteiligt sind. An dieser Stelle kann es nur darum gehen, inwieweit das nostalgische soziale Gedächtnis von Schlattners Texten auf solche Hintergründe zurückgeht. Denn die Erinnerungen des gereiften Erzählers in „Der geköpfte Hahn“ geben nicht einfach 87 88 89 Ebd., 17. Ebd. SCHULLER, Wir schämten uns nicht, 1999; SÁNTA-JAKABHÁZI, Örök börtön, 2006. 177 geschehene Ereignisse wieder, wie sie sich ereignet haben.90 Wie ich zu zeigen versuchte, geht es in Schlattners Darstellung eines siebenbürgischen Mikrokosmos vielmehr darum, paternalistische Sozialhierarchien in einer leicht umgewandelten Form wiederzubeleben. So wie in vielen anderen Regionen Ostmitteleuropas, des Balkans und des Baltikums war ethnische Vielfalt und Verflechtung eine der kulturellen Konstanten von Siebenbürgen. Eingekeilt zwischen den kulturellen Metropolen Österreichs, Ungarns und Rumäniens, wurde Siebenbürgen zu einem Austragungsort des Konkurrenzkampfes verschiedener kultureller Eliten. Alle regionalen Literaturkanons machten sich seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert die klare Abgrenzung von Kulturen zur Aufgabe. Diese Kulturen waren jeweils auf die Nation ausgerichtet und eiferten einander nach; die auf Sprache basierende kulturelle Ausgrenzung schuf die Vorstellung, dass Nationalkulturen sauber voneinander getrennt existierten. Eine der anspruchvollsten Forschungsaufgaben war in den vergangenen Jahrzehnten, die regionale Entwicklungsdynamik von Nationalkulturen zu erklären, und zwar in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit ebenso wie in ihren Bezügen zu umfassenderen politischen und gelehrten Diskursen und Entwicklungen. Ich möchte diesen Text als Beitrag mit einer ähnlichen Absicht verstanden wissen.Wie alle aus der Aufklärung hervorgegangenen Sozialwissenschaften unternahm die Landeskunde den ersten Versuch, Gesellschaft und Natur Siebenbürgens in ihrer Komplexität zu erfassen. Aber dieser Versuch schlug fehl. Die Gründe dafür lagen letztendlich in der nationalen Ausrichtung der Wissenschaften während des langen 19. Jahrhunderts. Die siebenbürgischen Gelehrten beschrieben und klassifizierten ihre multinationale Gesellschaft mittels hierarchischer Taxonomien, in denen die Nichteliten als „Wilde“ oder anderswie defizitäre Individuen eingeordnet wurden. Manchmal waren diese Klassifizierungen wohlwollend, wurden aber auch oft missbraucht. In jedem Falle überdauerten sie als Stereotypen; auch heute noch kann man in Siebenbürgen von der vermeintlichen siebenbürgisch-sächsischen Kulturüberlegenheit hören, von der Arroganz und Heißblütigkeit der Magyaren, von der Faulheit der Rumänen und von den exotischen und unbezähmten fahrenden „Zigeunern“. Diese tiefsitzenden Auffassungen haben ihren Ursprung in der aufgeklärten Landeskunde, in deren Entstehungszeit auch die Anfänge der Volksbildung liegen. Der Landeskunde gelang es in einzigartiger Weise, ein Bild der Gesellschaft zu entwerfen, in dem soziale Ungleichheit mit nationalen Unterschieden erklärt wurde. Dieses Bild wurde von anderen Fachdisziplinen aufgegriffen und mutierte schließlich auch zu einem Topos der Erzählliteratur des langen 19. Jahrhunderts. So verstanden, können Landeskunde und Literatur als historisches Archiv des politischen Denkens aufgefasst werden. Das galt besonders für die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, als Gelehrsamkeit und schöne Literatur beidermaßen 90 Ich verwende den Begriff der „erfundenen Tradition“ nach ANDERSON, Erfindung, 1996. 178 versuchten, die Gesellschaft zu bilden und ihre Kritikfähigkeit zu schärfen. Zugleich ist aber auch hochinteressant zu beobachten, wie die Erzählliteratur in politischen Krisen nicht mehr nur ein Repertoire an wissenschaftlichen Erkenntnissen bereitstellte, sondern ihre politische Passivität abwarf, um selbst den Status quo zu kritisieren. Das trifft auf Budai-Deleanus gelehrtes Epos zu, galt aber zweihundert Jahre später immer noch, als im Rumänien der 1980er Jahre Romane nicht nur den Totalitarismus kritisch deuteten, sondern auch Vorstellungen von einer neuen Gesellschaft lancierten. Das waren wunderbare Momente, besonders in Anbetracht der neokonservativen Tendenz der postkommunistischen Zeit und ihres Rückgriffs auf ein paternalistisches Sozialmodell sowie die stärker werdende populistische Definition der kollektiven Identität. Ich habe an dieser Stelle eine doppelte Absicht verfolgt. Zum einen ging es mir darum, die sonst übliche Beschränkung literaturwissenschaftlicher Analysen auf eine einzelne Nationalliteratur zu überwinden, in dem ich die kulturellen Projektionen siebenbürgischer Werke von Autoren unterschiedlicher Abstammung miteinander verglich. Das ist eine sehr anspruchsvolle Aufgabe, weil dazu die verschiedenen literarischen und gelehrten Kanons untersucht werden müssen. Das wiederum brachte mich dazu, mich mit einer weiteren Interferenz zu befassen, nämlich der Verflechtung zwischen Wissenschaft und Literatur, die einem komplexen und dynamischen Wechselprozess unterworfen ist und an dieser Stelle lediglich skizziert werden konnte.91 Es bleibt gleichwohl eine lohnende Aufgabe zu untersuchen, dass nicht allein auf regionaler Ebene sich gelehrte und literarische Prosa daran beteiligten, soziale Hierarchien zu formen und soziale Ungleichheiten darzustellen. Schlussendlich sucht diese Untersuchung Anschluss an die große Debatte über die Fiktionalität von Wissenschaft, besonders der Geisteswissenschaften, wie sie von Hayden White, Paul Ricoeur, Frank Ankersmit, Reinhart Koselleck und anderen herausgestellt wurde; eine Fiktionalität, die in einem Wechselverhältnis steht zu der kreativen Adaption von geistes- und naturwissenschaftlichen Normen in der schönen Literatur. Aus dem Englischen von Andreas R. Hofmann Primär- und Sekundärliteratur Primärliteratur und Quellen BODOR, Ádám: A börtön szaga. Válaszok Balla Zsófia kérdéseire. Egy korábbi rádióinterjú változata [Der Geruch des Gefängnisses. Antworten auf die 91 Zum ungarischen historischen Roman im 19. Jahrhundert HITES, Hungarian Historical Novel, 2006. 179 Fragen von Zsófia Balla. Veränderte Fassung eines früheren Radiointerviews]. Budapest 2001 BODOR, Ádám: Sinistra körzet. Egy regény fejezetei [Sinistra-Bezirk. Kapitel eines Romans]. Budapest 1992; dt. Ausgabe: Schutzgebiet Sinistra. 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Einleitung: Begriffe, Material und Methode Dieser Beitrag handelt von Erzählungen über den Tod in der oralen Tradition zweier Sprachgruppen – der Slowaken und der Deutschen in der Slowakei.1 Obwohl ich mich auf Texte dieser Provenienz konzentriere, analysiere ich daneben auch ungarischsprachiges Material aus der Slowakei, denn ohne dessen Berücksichtigung wäre es nicht möglich, die beiden anderen Überlieferungen historisch oder in ihrer gegenwärtigen Bedeutung einzuordnen. Ich untersuche die Gestalt des Todes als kulturelle Repräsentation, worunter ich eine andauernde und allgemein verbreitete Vorstellung innerhalb der Betrachtungsgruppe verstehe.2 Mein Forschungsgebiet ist die Slowakei des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart, einschließlich gelegentlicher Rückgriffe auf das 19. Jahrhundert, also ein Land, das sich aufgrund seiner Geschichte durch ethnisch-nationale, sprachliche und konfessionelle Heterogenität auszeichnet. Ich bin auf der Suche nach Überlieferungen bei Slowaken und Deutschen, in denen Personifikationen des Todes in Erscheinung treten. Denn die Gestalt des Todes ist ein ausgezeichnetes Beispiel für mannigfaltige Diffusionsund Akkulturationsprozesse. Auf die Repräsentation und Personifizierung des Todes hatte stets die Tatsache Einfluss, dass das Wort „Tod“ in slawischen Sprachen grammatisch weiblich und in germanischen Sprachen grammatisch männlich ist. Dementsprechend ist bei den Slowaken, wie bei den Slawen insgesamt, die Repräsentation des Todes als Frau vorherrschend. Es handelt sich vorwiegend um eine in weißes Tuch gehüllte Frau oder eine Frau im weißen Kleid, mal mit, mal ohne Sense. Dagegen tritt der Tod in deutschsprachigen Regionen meist als Mann auf, als Sensenmann, „kleines Männchen“ oder „Klapperhannes“. In der ungarischen oralen Traditionen erscheint der Tod meistens auch in männlicher 1 Im vorliegenden Material finden sich nur selten Angaben, die es erlauben, die ethnische oder nationale Identität der Erzähler zu bestimmen. Deshalb halte ich es für präziser, über die Forschung in Sprachgruppen und nicht in ethnischen oder nationalkulturellen Grupen zu schreiben. 2 SPERBER, Interpreting, 1993. 186 Gestalt, wobei zu bedenken ist, dass das Ungarische kein grammatisches Genus kennt, also in dieser Hinsicht neutral ist.3 Die Repräsentation des Todes ist jedoch in keinem Sprachgebiet homogen, also nie ausschließlich an eine männliche oder weibliche Figur gebunden. Beispielsweise verzeichnet der Katalog von Legenden über den Tod und Verstorbene aus dem deutschen Sprachgebiet auch die Figur der Tödin, allerdings stammt die Legende mit dieser Figur aus der Grenzregion zwischen dem deutschen und slawischen Sprachgebiet, ist also ein sehr gutes Beispiel für kulturelle Interferenz.4 Die Vorarbeiten für diese Studie haben weitere Nachweise von Interferenzen zwischen deutschem und slowakischem Material erbracht. Darüber hinaus zeigen die slowakische und die deutsche Überlieferung im 20. Jahrhundert interessante Querverbindungen zum ungarischen Material.5 Ich betreibe meine Untersuchung unter dem Gesichtspunkt, ob im slowakischen und deutschen Material zur Repräsentanz des Todes Durchdringungen, Überschneidungen oder der Austausch von Bildern, mithin Interferenzen im Sinne unseres Projekts nachzuweisen sind. Die Spaltung und gleichzeitige Überlappung männlicher und weiblicher Todesbilder und die narrative Thematisierung des Todes stehen dabei im Mittelpunkt. Mein Ziel ist es, Interferenzen der Repräsentation in mehrsprachigen Kommunikationsräumen nachzuweisen. Repräsentation ist dabei im Sinne von Stuart Hall als Versuch zu verstehen, bestimmte Vorstellungen über Objekte von Mensch zu Mensch zu vermitteln. Dies ist ein überraschend komplexer Prozess, bei dem reale oder imaginäre Objekte nicht nur als Vorstellungen, sondern zugleich ihre Bedeutungen vermittelt werden. Mit Stuart Hall gesagt: „Representation is an essential part of the process by which meaning is produced and exchanged between members of a culture.“ 6 Dieser Prozess funktioniert über Sprache, verstanden im weiteren Sinne des Wortes, d.h. als Ensemble von linguistischen Codes, Bildern, Gebärden etc. Die hier untersuchten Vorstellungen von den Figurationen des Todes sind vermutlich mentale Repräsentationen.7 Diese mentalen Vorstellungen, also vielgestaltige Bilder des Todes, werden in Erzählungen, verstanden als öffentliche Repräsentationen,8 geäußert und vermittelt. Es geht mithin um kulturelle Repräsentationen, d.h. um beständige, in der Gruppe allgemein verbreitete Vorstellungen. Gleichzeitig ist die jeweilige Figuration des Todes kulturell 3 MÁCHAL, Nákres 1891, 85‒88. ‒ MOSZYŃSKI, Kultura ludowa, 1967, 701. ‒ GEIGER, Tod, 1936/37. ‒ CHORVÁTHOVÁ u.a., Smrť, 1995. ‒ KOVÁCS, Halál koma, 1979. 4 RÖHRICH/ MÜLLER, Tod, 1967. 5 Ich danke Michaela Ferencová für die Unterstützung bei der Feldforschung in der Marktgemeinde Medzev bei der magyarischen Minderheit und die Aufbereitung des Materials zur ungarischen mündlichen Tradition über die Gestalt des Todes in der Slowakei für dieses Projekt. 6 HALL, Work of Representation, 1997, 15. 7 „The representation may exist inside its user: it is then a mental representation such as a memory, a belief, or an intention.“ SPERBER, Explaining Culture, 1996, 32. 8 „Public representations are usually means of communication between a user and a producer distinct from one another.“ Ebd. 187 codiert; der dabei jeweils verwandte Code, so meine Hypothese, unterscheidet eine Gruppe von der anderen. Das hier untersuchte Material ist demnach gruppenspezifisch: Es geht um Narrationen, die in den jeweiligen Sprachgruppen kursieren. Ob es sich aber tatsächlich um gruppenbezogenes Material handelt, muss erst anhand des empirischen Materials nachgewiesen werden. Ein Problem fällt bei der historischen Überlieferung unmittelbar auf: Die Antologien von Erzählungen in den hier betrachteten Sprachen liefern zwar bestimmte Zusatzinformationen wie z.B. Angaben über Erzähler und Ort, doch sie schweigen sich meist über die soziale, ethnische, sprachkulturelle oder konfessionelle Zugehörigkeit des Erzählers sowie über die Verbreitung der Erzählung in einer bestimmten Gruppe aus. Noch ein weiterer Befund ist charakteristisch für Sammlungen aus dem ausgehenden 19. und dem 20. Jahrhundert: die Sammler gingen oft von der vereinfachten Prämisse aus, dass Erzählungen in slowakischer Sprache slowakischer Herkunft seien und von Slowaken erzählt werden, Erzählungen in deutscher Sprache von Deutschen. Sie wurden als entsprechend als „slowakische“ oder „deutsche“ Märchen etikettiert und publiziert. So kam es zur Verwechslung von Sprachgemeinschaften und ethnischen Gruppen.9 Die Erzählungen über die Gestalt des Todes werden zuerst auf einer abstrakten Ebene untersucht. Die Repräsentationen, verstanden als abstrakte Objekte, haben formale Eigenschaften, die in formalen Beziehungen zueinander auftreten können.10 In diesem Zusammenhang werde ich Motive in den slowakischen und deutschen Erzählungen aus der Slowakei beschreiben. Zudem möchte ich nach möglichen formalen Interferenzen der Erzählungen suchen. Im nächsten Schritt werden mögliche Interferenzen als Schnittstellen kultureller, an verschiedene Gruppen gebundene Systeme gesucht. Dabei steht die Frage im Mittelpunkt, ob die Repräsentationen, also männliche und weibliche Vorstellungen über die Gestalt des Todes, als verschiedene kultureller Codes innerhalb der Gruppen bekannt sind. Gleichzeitig wird untersucht, ob und auf welche Weise solche Unterschiede als gruppenbezogene Differenzen reflektiert werden. 9 Unter ethnischen Gruppen verstehe ich solche, die aufgrund einer Vorstellung ihrer Mitglieder über die (ethnische) Andersartigkeit der eigenen Gruppe („Wir-Gruppe“) von anderen Gruppen konstruiert sind. Für ihre Mitglieder hat die nationalkulturelle Gruppe Bedeutung und Sinn, die von diesen auch wahrgenommen werden. Die Mitglieder der Gruppe verstehen unter ethnischen Unterschieden Phänomene wie Sprache, Territorium, Vorstellungen über die eigene kulturelle Traditionen, über eine gemeinsame Geschichte und Vorfahren. Aber nicht die Unterschiede selbst, sondern ihre Auswahl und Verwendung als ethnische Merkmale, als Grenzen zwischen „wir“ und „den anderen“ führen zur Konstruktion der ethnischen Gruppe. BARTH, Introduction, 1970. ‒ JENKINS, Rethinking Ethnicity, 1998, 52‒73. ‒ KILIÁNOVÁ, Ponímanie, 2009, 23‒26. Das Konzept soll als Prozess verstanden werden, bei dem es um die Identifizierung der „Wir-Gruppe“ im Gegensatz zu den Gruppen „der anderen“ geht. Die nationalkulturelle Gruppe verstehe ich nicht als homogene Gruppierung, deren Mitglieder stets dieselben Ziele und Strategien haben, sondern berücksichtige auch Unterschiede innerhalb einer Gruppe. BRUBAKER, Ethnicity, 2004, 7‒10. 10 SPERBER, Anthropology, 1985. 188 Der zweite Teil der Studie basiert auf ethnographischen Feldforschungen, die eine Kollegin und ich in dem mehrsprachigen Kommunikationsraum der Marktgemeinde Medzev11 durchgeführt haben. Dort leben eine Einwohnermehrheit mit slowakischer und eine Minderheit, die deutsch bzw. die Dialektform mantakisch12 spricht. Daneben sind weitere Minderheiten, u.a. Roma, Ungarn und Tschechen in Medzev beheimatet. Unter Kommunikationsräumen verstehe ich einerseits konkrete Orte und geographische Einheiten, in diesem Fall die Gemeinde Medzev, die als Erhebungsgebiet für meine Fallstudie dient. Darüber hinaus wird dieser geographische Ort auch als sozialer Raum betrachtet, in dem sich Akteure begegnen, kommunizieren und Repräsentationen austauschen. Vermutlich richtet sich die Verwendung einer Sprache in einem mehrsprachigen Gebiet nach bestimmten Regeln. Die Sprache ist kein sozial neutrales Kommunikationsmittel, sondern an eine bestimmte soziale Gruppe als deren kultureller Code gebunden. Deshalb ist die Benutzung einer bestimmten Sprache im öffentlichen Raum als spezifische Botschaft zu verstehen. Welche Sprache verwendet wird, sendet ein wichtiges Signal aus – ist es die einer Minderheits- oder der Mehrheitsbevölkerung, oder sind etwa verschiedene Sprachen vermischt? Die Verwendung ihrer Sprachen im öffentlichen Raum lässt Rückschlüsse auf die gesellschaftliche Hierarchie der betreffenden Gruppen und ihr Zusammenleben im Betrachtungsgebiet zu. In dieser Fallstudie werden Deutsch und Slowakisch vor allem als gruppenspezifische Kommunikationsmittel in einem mehrsprachigen Raum betrachtet. Durch die Sprache werden narrative Repräsentationen über den Tod oder die Tödin vermittelt. Anhand dieser Erzählungen möchte ich Interaktionen zwischen den Gruppen oder ihre Ausbleiben untersuchen. Kultur- und sozialanthropologische Forschungen zeigen, dass Mehrheits- und Minderheitsgruppen in einem sozialen Raum meist hierarchisch angeordnet sind.13 Deshalb gelingt es ihren kulturellen Repräsentationen in unterschiedlichen Graden, in den öffentlichen Raum durchzudringen und aufeinander Einfluss ausüben. In diesem Zusammenhang werde ich in meinem Beitrag zwei Frage stellen: 1. Kennen die Akteure die Vorstellungen der jeweils anderen Gruppe? 2. Werden die unterschiedlichen Vorstellungen von der Gestalt des Todes bei 11 Deutsch Metzenseifen, ungarisch Meczenzéff, in der historischen Region Unterzips, heute Bezirk Košice (Kaschau) und Umgebung. 12 SCHWARZ, Československá vlastivěda,1934, 588f., bezeichnet den örtlichen Dialekt als bairische Mundart. Spätere Autoren wie GEDEON, Besonderheiten, 1961, 61‒68, oder Handbuch, 1985, 1982 stellten in dem Dialekt nicht nur bairische, sondern auch ostmitteldeutsche (schlesische) Anteile fest. Daraus würde hervorgehen, dass die Bewohner vielleicht aus verschiedenen deutschsprachigen Regionen stammten. Nach der örtlichen, volksetymologischen Tradition ist das Wort Mantak von der Frage abgeleitet, die angeblich die mantakischen Geschäftsleute den ungarischen Markthändlern stellten, die sie nicht verstanden: „Bos mant a?“ (Was meint er?). Eine andere Auslegung stützt sich auf das ungarische Wort mondani (sagen). „Mondtak“ heißt „er sagte“ und wird sehr ähnlich ausgesprochen wie „Mantak“. RICHTERKOVARIK, Kultúra, 2003, 325. 13 ERIKSEN, Ethnicity, 1993, 46f. 189 verschiedenen Gruppen überhaupt als differenzierte kulturelle Codes erkannt? Meine Hypothese ist, dass sich die Hierarchie der Gruppen in der Wahrnehmung der Gruppendifferenzen widerspiegelt. Da das Projekt seinen Gegenstand auch in diachroner Perspektive behandelt, fragt es ebenso nach Kontinuitäten wie Diskontinuitäten der Todesvorstellungen innerhalb einer Gruppe und im Austausch zwischen den Gruppen. Ich gehe davon aus, dass kulturelle Codes generell historisch sehr beständig sind. Dennoch ist anzunehmen, dass einige Bestandteile dieser Codes infolge der politischen Geschichte des 20. Jahrhunderts sowie aufgrund sozialer, ökonomischer und kultureller Modernisierungsprozesse verschwunden oder vergessen worden sein können. Der Beitrag verwendet transkribierte mündliche Erzählungen in slowakischer und deutscher Sprache, die auf dem Gebiet der heutigen Slowakei im 20., gelegentlich bereits im 19. Jahrhundert zusammengetragen wurden. Dieses Material wird von Erzählungen ergänzt, die ich selbst bei Feldforschungen in den 1970er bis -90er Jahren in verschiedenen Regionen der Slowakei gesammelt habe. Anschließend werden die Ergebnisse der Feldforschungen zum Thema in der Gemeinde Medzev unter der slowakisch- und deutschsprachigen Bevölkerung sowie die Interferenzen der Repräsentation des Todes zwischen beiden Gruppen vorgestellt. 2. Personifikationen des Todes in slowakischen und deutschen Narrativen in der Slowakei Vorstellungen des Todes als anthropomorphe oder zoomorphe Gestalt wurden innerhalb der slowakischen und deutschen Sprachgruppe in der Slowakei meist über mündliche narrative Genres wie Märchen, Sage, Erinnerungserzählung, Lied, Gedicht oder Spiel tradiert. Selbstverständlich waren auch visuelle Darstellungen an der Formung volkstümlicher Vorstellungen von der Gestalt des Todes beteiligt. Seit dem Mittelalter begegneten Todessymbole in Gestalt Verstorbener, als Schädel mit darunter gekreuzten Knochen, seit dem Spätmittelalter auch als Knochenmann auf Gemälden in Kirchen, in Form von Skulpturen, auf Grabsteinen sowie auf Stichen in Bauernkalendern und anderen Massenpublikationen. Der Knochenmann mit oder ohne Sense, mit Uhr und weiteren Attributen wurde in der Slowakei wie insgesamt in Europa besonders während des Barock, also im 17. Jahrhundert populär.14 Ich konzentriere mich auf aus der mündlichen Überlieferung stammende Erzählungen in slowakischer und deutscher Sprache aus der Slowakei. Nach Lutz Röhrich bilden Erzählungen über den Tod und Verstorbene die größte 14 Ausführlicher KILIÁNOVÁ, Gestalt, 1996, 65‒67. Zu Symbolen des Todes ROSENFELD, Tod, 1972. 190 Einzelgruppe innerhalb der deutschen Sagen.15 Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangen auch meine in verschiedenen Gebieten der Slowakei betriebenen Forschungen.16 Innerhalb der Gesamtheit der Erzählungen vom Sterben und von Verstorbenen bilden Texte über das Erscheinen des personifizierten Todes eine zahlenmäßig kleinere, aber wichtige Gruppe. In der traditionalen Gesellschaft17 wurden Geschichten, in denen ein personifizierter Tod auftrat, bei verschiedenen Gelegenheiten gezählt, etwa bei der gemeinsamen Arbeit, beim geselligen Beisammensein, bei familiären und gesellschaftlichen Anlässen, also in einem recht großen Zuhörerkreis. Durch die häufige Wiederholung derselben Erzählung war sichergestellt, dass diese ebenso vertikal, d.h. generationenübergreifend, wie horizontal, d.h. zwischen verschiedenen sozialen Gruppen und Individuen, weitergegeben wurde. Für die moderne europäische Gesellschaft ist es dagegen typisch, dass das Thema des Lebensendes eher tabuisiert oder zumindest vermieden oder vernachlässigt wird.18 Tendenziell gehört heute das Erzählen vom Sterben und Tod eher in den privaten, intimen Bereich, was ich auch anhand meiner Fallstudie zu Medzev darlegen werde. Unter dem Einfluss von Modernisierung, Säkularisierung und Rationalisierung sind zudem Kenntnisse von traditionellen Vorstellungen wie etwa dämonischen Wesen und Personifizierungen des Todes im Schwinden begriffen. 15 RÖHRICH, Tod, 1980, 183. Zur Volksprosa forschte ich bei der slowakischsprachigen Bevölkerung in der Westslowakei: Gemeinden Nová Bošáca 1972 und 1973, Závod 1990 und 1992, Malé Leváre, Gajary, Moravský Svätý Ján 1991 und 1992; in der Nordwestslowakei: Gemeinde Nová Bystrica 1981‒1987, Kysucké Nové Mesto und Einsiedeleien in der Umgebung 1987 und 1988; in der Ostslowakei: Gemeinde Krivany 1990. 17 Die traditionale, patriarchale, vormoderne Gesellschaft in der Slowakei wandelte sich unter dem Einfluss der ersten Modernisierungswelle, d.h. dem Einfluss der Industrialisierung, der Urbanisierung, der demographischen Revolution und kulturellen Modernisierung, am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Unter kultureller Modernisierung verstehe ich v.a. Säkularisierung, Individualisierung, Rückgang der Bedeutung von Familie, lokaler und anderer Gemeinschaften. Die Slowakei bewahrte bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts ihren ländlichen Charakter, die Mehrheit der Bevölkerung arbeitete in der Landwirtschaft. Auch bis etwa zur Mitte des 20. Jahrhunderts hielten sich auf den Dörfern und in kleineren Städten Bestandteile der traditionellen, vorindustriellen Kultur und Lebensart. Die zweite Modernisierungswelle seit den 1950er Jahren brachte zwar einen Wandel der sozialen Struktur, der Anteil des Agrarsektors ging zurück, während die Anteile von Industrie und Dienstleistungssektor zunahmen. Diese zweite Modernisierungswelle vollzog sich jedoch im sozialistischen Staat, in dem einige Modernisierungsmomente unterdrückt wurden, so etwa die Individualisierung, die persönliche Freiheit, während andere mittels staatlicher Repressionen auch gewaltsam durchgesetzt wurden, beispielsweise die Säkularisierung. MANNOVÁ/ HOLEC, On the Road, 2000. ‒ LIPTÁK, Slovakia, 2000. Zur kulturellen Modernisierung GERHARDS/ HACKENBROCH, Kulturelle Modernisierung, 1997. 18 ARIÈS, Geschichte, 1980. – MOŽNÝ, Moderní rodina, 1990. – VOVELLE, La mort, 1983. 16 191 3. Slowakischsprachige Erzählungen mit Todespersonifikationen aus dem 19. und 20. Jahrhundert Das Material zur Personifikation des Todes in slowakischen Erzählungen ist recht gut in dem Katalog von Jiří Polívka (1858‒1933) dokumentiert, der Erzählungen aus handschriftlichen und publizierten Sammlungen mündlicher Volksprosa vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zum Jahr 1914 verzeichnet.19 Der jüngere Katalog von Viera Gašparíková stellt noch reicheres Material zur Verfügung, weil die Autorin mit einem umfangreicheren Korpus von Texten unterschiedlicher Prosagattungen arbeitete. Zeitlich ist Gašparíkovás Katalog von Aufzeichnungen vor allem aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine gute Ergänzung zu Polívkovs Zusammenstellung.20 Dieses Material wird durch das Verzeichnis von Märchen, Sagen und Glaubenserzählungen über Personifizierungen des Todes ergänzt, das ich selbst in den 1990er Jahren zusammengestellt habe. Darin nahm ich Narrationen auf, das zeitlich vom frühen 19. bis zum ausgehenden 20. Jahrhundert reicht. Außer auf die Sammlungen von Polívka und Gašparíková stützte ich mich auf meine eigenen Feldforschungen sowie auf Aufzeichnungen von mündlichen Erzählungen aus dem 19. und frühen Jahrhundert im Literatur- und Kunstarchiv der Slowakischen Nationalbibliothek sowie im Textarchiv der Gesellschaft für Volkskunde der Slowakei, ferner auf eine detaillierte Auswertung von Druckerzeugnissen aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert. So konnte ich einige unbekannte Erzählungen finden, die in den genannten Katalogen nicht enthalten sind.21 Ich beziehe in meine Untersuchung Material aus dem 19. Jahrhundert ein, um die in Rede stehenden Fragen als Phänomene der mittleren Dauer auch diachron beobachten zu können. Personifikationen des Todes erscheinen in der Slowakei in sechs verschiedenen Märchentypen. Zu den verbreitetsten Märchen gehört die „Gevatterin Tödin“, das nach dem internationalen Index von Antti Aarne und Stith Thompson (im Folgenden AaTh)22 als Märchentyp 332 in vielen europäischen Ländern bekannt ist.23 In der Slowakei wurde das Märchen seit dem frühen 19. Jahrhundert bis zum Ende des 20. Jahrhunderts zehnmal in verschiedenen Varianten erfasst, von denen folgende Variante am weitesten verbreitet ist: 19 POLÍVKA, Súpis, 1923‒1931. Obwohl diese Publikation „Verzeichnis slowakischer Märchen“ heißt, erfasst sie Texte verschiedener Prosagattungen. 20 GAŠPARIKOVÁ, Katalóg, 1991‒1992. 21 KILIÁNOVÁ, Gestalt, 1996, 82‒89. 22 AARNE/ THOMSON, Types, 21961. Von diesem Index liegt eine stark überarbeitete Fassung vor, siehe UTHER, Types, 2004. Jedoch wurden das slowakische Verzeichnis von Gašpariková, Katalóg, 1991‒1992, wie auch das ungarische Verzeichnis der oralen Überlieferung Magyar népmesekatalógus, 1988, sowie SÜVEGH, Mések tipusa, 1982, zit. nach AARNE/ THOMSON, Types, 2 1961 bearbeitet; deshalb richte ich mich nach der älteren Version. 23 In verschiedenen europäischen Ländern kommt die Erzählung jedoch mit einer männlichen oder weiblichen Todesgestalt vor, also „Gevatter Tod“ oder „Gevatterin Tödin“. 192 Ein armer Mann geht aus, um einen Paten für sein neugeborenes Kind zu suchen. Dabei begegnet er einer unbekannten Frau, die verlangt, das Kind zur Taufe zu bringen. Es ist die Tödin, die dem Mann die Gabe schenkt, Kranke zu heilen. Wenn der arme Mann als Wunderheiler zu einem bettlägerigen Kranken kommt und die Tödin am Fußende stehen sieht, weiß er, dass der Kranke genesen wird. Wenn er jedoch die Tödin an seinem Haupt sieht, erkennt er, dass der Kranke sterben wird. Einmal sieht der Heiler die Tödin am Kopfende, doch er möchte den Kranken heilen und lässt das Bett umdrehen. Daraufhin nimmt die Tödin den Heiler mit in ein Zimmer, wo sie ihm verschiedene Lebenskerzen zeigt. Die Kerze des Heilers ist fast vollständig heruntergebrannt. Der Heiler bittet die Tödin, ihn leben zu lassen, aber sie löscht seine Kerze.24 Die große Verbreitung dieser Variante geht sicher auch auf die Tatsache zurück, dass das Märchen in dieser Form in der Sammlung von Pavol Dobšinský (1828‒1885) veröffentlicht wurde.25 Der zweite Märchentyp ist der vom „Schmied und dem Tod“ (AaTh 330A) sowie der damit verwandte Typ vom „Veteran und dem Tod“ (AaTh 330B). In beiden verwandelt sich die Gestalt des Todes oft in den Teufel. Den Typ vom Schmied und dem Tod kennen wir aus sechs Aufzeichnungen vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zu den 1940er Jahren, wobei jeder Text eine andere Variante darstellt. Beispielsweise lautet die Aufzeichnung aus den 1930er Jahren: Ein Schmied schenkt einem Bettler drei Dukaten und erhält von diesem dafür drei Gaben. Diese sind ein Sack Kohle, in dem sich die Kohle in Geld verwandelte, weiters das ewige Leben und eine Zauberkraft: Wer auf einen Birnbaum klettert oder sich auf einen Hocker setzt, der kann dort auf Wunsch des Schmiedes kleben bleiben. Den Schmied wollen Teufel holen, doch er scheucht sie auf einen Birnbaum oder lässt sie sich auf einen Hocker setzen, und dort bleiben sie kleben. Der Schmied wird des Lebens überdrüssig und geht zur Hölle, doch die Teufel lassen ihn nicht ein. Er geht zum Himmel, doch auch dort lässt man ihn nicht ein. Zur Strafe muss er den Tod auf dem 24 GAŠPARIKOVÁ, Katalóg, Teil 1, 1991, Nr. 164, 111f. ‒ KILIÁNOVÁ, Gestalt, 1996, 82f. Dobšinskýs umfassende Märchensammlung erschien in erster Auflage unter dem Titel „Prostonárodnie slovenské povesti“ (Slowakische Volkssagen) 1880‒1883. Das Wort „Sage“ verwandte Dobšinský im Sinne von „Märchen“. Wie viele damalige Sammler überarbeitete Dobšinský die Texte. Seine Sammlung wurde die beliebteste und am weitesten verbreitete in der Slowakei; sie erlebte vom Ende des 19. bis zum Ende des 20. Jahrhundert acht vollständige Auflagen. Eine repräsentative Ausgabe mit Illustrationen von Martin Benka erschien 1958 und mit Illustrationen von Ľudovít Fulla 1966. Siehe unter Titel „Smrť kmotra a zázračný lekár“ (Die Gevatterin Tödin und der Wunderarzt) DOBŠINSKÝ, Prostonárodné slovenské povesti, Bd. 3, 1958, 243‒250. Belege dafür, dass die Respondenten „Gevatterin Tödin“ aus einer Druckfassung kennen, liefert das Forschungsmaterial, z.B. JANÚŠKOVÁ, Výskum, 1972, 15. 25 193 Rücken tragen. Er lockt ihn in eine Nussschale und trägt ihn so. Als er ihn aus der Nussschale herauslässt, nimmt der Tod ihn mit.26 Im Märchentyp AaTh 330B bewahren Scharfsinn, Mut und die erhaltenen Wundergaben einen ausgedienten Soldaten vor dem Tod. Dieser Typ wurde einmal am Ende des 19. Jahrhunderts und fünfmal bis zum Ende der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts in der Slowakei aufgezeichnet. In der Sammlung aus den 1930er Jahren heißt es: Ein Veteran trifft wiederholt einen Bettler und gibt ihm nach und nach drei Dukaten. Zum Dank bekommt er eine Pfeife, die immerfort brennt, Karten, mit denen er immer gewinnt und eine Tasche, in die jeder springt. Er übernachtet in einer Mühle, in der Teufel umgehen. Er schlägt sie beim Kartenspiel und steckt sie in die Tasche. Sie versprechen ihm, nie wieder in der Mühle ihr Unwesen zu treiben. Als der Tod den Veteran mitzunehmen versucht, steckt dieser auch ihn in die Tasche. Als der Veteran dann sterben will, macht er sich auf zum Himmel und zur Hölle, doch nirgends lässt man ihn ein. Am Ende kommt er nur mit Hilfe einer List in den Himmel.27 Verwandte Motive finden sich im Märchentyp AaTh 326 über einen furchtlosen Helden, der Gespenstern begegnet, meistens Teufeln oder Toten, und sie besiegt. Lediglich in einer Aufzeichnung von 1929 erscheint als Gespenst auch der Tod. Die Erzählung lautet folgendermaßen: Ein Herr fordert den dummen Jano [Hans] dazu auf, in einem Spukschloss zu übernachten. Er verspricht ihm seine jüngste Tochter. Um Mitternacht kommen Teufel und Tod ins Schloss. Der Tod will Jano rasieren, aber der rasiert stattdessen den Tod. Der Spuk verschwindet und das Schloss ist erlöst.28 Aus drei Aufzeichnungen aus dem 20. Jahrhundert kennen wir das Märchen als eine Art Exemplum vom Ritter oder Herr und dem Tod. Darin wird erzählt, dass ein Ritter bzw. Herr von seinem Tod erfährt. Er schwingt sich deshalb auf sein Pferd und flüchtet bis ans Ende der Welt. Aber als er dort ankommt, erwartet ihn der Tod bereits. Der Ritter bittet den Tod, sich freikaufen zu dürfen, aber nichts hilft ihm, und der Tod nimmt ihn mit.29 Zu einem anderen Narrationstypus gehört das Märchen, das Dobšinský unter dem Titel „Tetka smrť“ (Die Tante Tödin) veröffentlichte; der Inhalt: 26 27 28 29 GAŠPARIKOVÁ, Katalóg, Teil 1, 1991, Nr. 167, 114. ‒ KILIÁNOVÁ, Gestalt, 1996, 83. GAŠPARIKOVÁ, Katalóg, Teil 1, 1991, Nr. 212, 143f. ‒ KILIÁNOVÁ, Gestalt, 1996, 83f. Ebd., 84. Ebd. 194 Ein ängstliches Mädchen bleibt während der Weihnachtsmesse zu Hause, es ruft jemanden, damit es nicht allein ist. Es kommt eine Alte mit langen dürren Armen, großen Zähnen und großen Augen. Es ist die Tödin, die zuletzt das Mädchen verschlingt.30 Für meine Untersuchung ist die Personifizierung des Todes in „Potrestaná smrť (anjel)“ (Der bestrafte Tod [Ein Engel]) sehr interessant: Der Tod hat Erbarmen mit einer Mutter, die ihn bittet, sie nicht fortzunehmen, da sie kleine Kinder hat. Gott bestraft den Tod, indem er ihn dreißig Jahre ohne Lohn auf dem Land eines Herrn dienen lässt. Nach dem Verbüßen der Schuld kehrt der Tod zu Gott zurück und nimmt auch seinen Herrn mit. Die besondere Bedeutung dieses Textes liegt darin, dass hier statt eines normalerweise in diesem Märchentyp auftretenden Engels der Tod als Mann erscheint, der einem Herrn dient. Von diesem Typ existieren nur zwei Aufzeichnungen vom Anfang des 20. Jahrhunderts.31 Bei näherer Betrachtung fällt auf, dass die Märchen selten eine nähere Beschreibung des personifizierten Todes geben. In den meisten Fällen ist er nicht einmal die Hauptfigur. Zum heißt es in dem Märchen vom „Soldaten und dem Tod“: „Prišla k nemu biela pani, to bola smrť (Es kam zu ihm eine weiße Frau, das war der Tod).“ Eine genauere Beschreibung ist meistens in dem Märchentypus „Die Gevatterin Tödin“ zu finden, in dem der Tod die Hauptfigur der Handlung ist. Als Beispiel sei eine Aufzeichnung vom Beginn des 19. Jahrhunderts angeführt. Ich finde sie deshalb besonders interessant, weil sie den Tod nicht als Frau, sondern als geschlechtsneutrale Knochengestalt beschreibt: [...] viďeu ťenkú, visokú, bjelou plachtou prikritú postavu. [...] pred ňím stojí postava bez plachti. Hlava holá, mesto očí jami ako pesťe, mesto nosa ďjera do hlavi, zubi ako koli, hrdlo ťenkou a dlhou, prsi holje, čistje rebrá, nohi ťenkje ako dve paľice, v dlhej suchej ruke ostrá kosa, a čo sa pohňe, hrkocú kosťi, ako bi sa na hromadu zosipať chcela.32 [[...] er sah eine dünne, große, mit einem weißen Tuch verhüllte Gestalt. [...] vor ihm steht die Gestalt ohne Tuch. Der Kopf ist kahl, anstelle der Augen Höhlen groß wie Fäuste, anstelle der Nase ein Loch im Kopf, Zähne wie Pflöcke, ein dürrer langer Hals, eine bloße Brust, blanke Rippen, die Beine dünn wie zwei Stöcke, in der langen dürren Hand eine scharfe Sense, und 30 DOBŠINSKÝ, Prostonárodné slovenské povesti, Bd. 3, 1958, 69‒72. ‒ KILIÁNOVÁ, Gestalt, 1996, 84. 31 Ebd. 32 Aufzeichnung Ján Čipka 1843/44. Zit. nach POLÍVKA, Súpis, Bd. 4, 1930, 243‒247. 195 wenn sie sich bewegt, klappern die Knochen, als wolle sie zu einem Haufen zusammenfallen]. Wenn der Tod in Märchen beschrieben wird, dann meist als Frau, als weiße Frau, als junge oder alte Frau oder als „alte Tante“. Es existierte jedoch auch eine männliche Gestalt des Todes wie in „Potrestaná smrť“ (Der bestrafte Tod). Daneben gibt es Beschreibungen, die von einer Knochengestalt sprechen, ohne sich eindeutig auf deren Geschlecht festzulegen. Das narrative Bild des Todes ist in den slowakischsprachigen Märchen also vielgestaltig und nicht immer an ein weibliches Wesen gebunden. Um vieles reicher ist die Personifikation des Todes in Sagen und Glaubenserzählungen entwickelt, d.h. in kürzeren, meist einmotivischen Erzählungen. Zu dieser Gruppe zählen auch Ereignis- und Erlebnisberichte. Darin wird von Begegnungen mit dem Tod erzählt, die der Erzähler oder seine Verwandten oder Bekannten erlebten. Der nachfolgende Katalog von Sagen, Glaubenserzählungen und Ereignisund Erlebnisberichten über Personifizierungen des Todes verzeichnet 69 Aufzeichnungen von den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des 20. Jahrhundert, wobei die meisten Aufzeichnungen aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stammen.33 Die Erzählthemen habe ich in folgende Unterthemen gegliedert.34 Die Ziffer bei jedem Unterthema gibt die Zahl der katalogisierten Aufzeichnungen an. A Das Erscheinen des Todes Erscheinungsweisen des Todes 1. Begegnung mit dem personifizierten Tod: 1 2. Begegnung mit der Tödin: 23 3. Begegnung mit dem Tod in tierischer Gestalt: 3 Verhaltensweisen des Todes 9. Erscheinen des Todes als gutes Vorzeichen: 0 10. Tod als Warner (nur Tödin): 5 33 KILIÁNOVÁ, Gestalt, 1996, 84‒89. Die Sammler des 19. und frühen 20. Jahrhunderts befassten sich hauptsächlich mit dem Aufschreiben von Märchen, während sie Sagen und Glaubenerzählungen weitaus seltener erfassten, obwohl diese weit verbreitet waren. Sagen verlangten als sehr kurze und einfache Erzählungen nämlich keine großen Gedächtnisanstrengungen noch besondere Erzählfertigkeiten. Später trugen die Sammler in größerem Umfang auch Sagen, Glaubenserzählungen, Ereignis- und Erlebnisberichte zusammen. 34 Zum detaillierteren Verzeichnis der Quellen zum Katalog siehe KILIÁNOVÁ, Gestalt, 1996, 87‒89. Das Verzeichnis der slowakischen Sagen über den Tod habe ich nach dem deutschen Sagenkatalog MÜLLER/ RÖHRICH, Tod, 1967 ausgearbeitet. Die deutschen Bezeichnungen der Themen und Unterthemen habe ich beibehalten. Der deutsche Katalog führt bis zu 16 Hauptthemen über den Tod und Verstorbene an (Gruppe A bis P), von denen nur Gruppe A das Hauptthema der personifizierten Gestalt des Todes bildet. Die Abstände zwischen den Themen „Erscheinungsweisen des Todes“ und „Verhaltensweisen des Todes“ sind so von Müller und Röhrich gelassen, um Raum für Einschübe und Erweiterungen der Sujets zu lassen; ebd., 348. 196 11. Tod oder Tödin als Todesbote: 0 (vgl. Märchen „Der bestrafte Tod“, „Der Ritter und der Tod“) 12. Tod als Begleiter (nur Tödin): 9 13. Tod als Todbringer (nur Tödin): 6 14. Kampf mit dem Tod: 0 15. Überfahrt des Todes (nur Tödin): 1 16. Tod läßt sich an einem Ort tragen oder fahren (nur Tödin): 18 17. Tod oder Tödin als Teilnehmer an einem Tanz: 0 18. Tod oder Tödin als Überzähliger bei einem Freveltanz: 0 19. Tod oder Tödin als Pate/ Patin: 0 (vgl. Märchen „Gevatterin Tödin“) 20. Tödin als Geliebte, als Kinderwechslerin, Spinnstubenfrau etc.: 2 21. Tod als Belohner oder Strafer: 0 22. Abwehr des Todes (nur Tödin): 1 23. Verbannung des Todes an einen bestimmten Ort: 0 (vgl. Märchen „Der Schmied und der Tod“, „Der Veteran und der Tod“) 24. Land des Todes: 035 Wie man der Übersicht entnehmen kann, erscheint im überwiegenden Teil der gesammelten slowakischen Erzählungen die Tödin. Dem ersten Unterthema konnte nur ein Text zugeordnet werden: Der Tod zeigt sich zwei Totengräbern als Knochenmann. Der eine Totengräber verliert daraufhin aus Angst die Sprache, der zweite ergraut.36 Demgegenüber wird der Tod im ergiebigen zweiten Unterthema entweder als große weiße Frau beschrieben, als große Frau mit einer Laterne oder als junge Frau in Tracht. Die weiße Frau wird immer größer oder geht mit großen Schritten. Die Tödin kann sich auch als Frau in einer altväterlichen Tracht zeigen, als alte hässliche Frau in Tücher gehüllt, die auf einem Stein sitzt und die ihre Tücher hinter sich herschleppt. Oder die Tödin ist eine Gestalt mit Sense. Schließlich erscheint die Tödin auch als junges Mädchen, das sich vergrößert. Nachdem sich die Tödin jemandem gezeigt hat, stirbt der Mensch, einer seiner Verwandten oder Freunde.37 Zum Erscheinungsbild des Todes als Tier gibt es Aufzeichnungen von Erzählungen vom ausgehenden 19. bis zum ausgehenden 20. Jahrhundert. Darin zeigt sich der Tod als kleiner weißer oder schwarzer Hund, als weiße Katze oder weißer Hase. Kurz nach der Begegnung mit dem Tier stirbt ein Mensch.38 35 KILIÁNOVÁ, Gestalt, 1996, 85‒87. Ergänzungen des Verzeichnisses von 2010: 2. Unterthema, eine Erzählung, GAŠPARIKOVÁ, Katalóg, Teil 2, 1992, Nr. 505, 379; 16. Unterthema, zwei Erzählungen, GAŠPARIKOVÁ, Katalóg, Teil 1, 1991, Nr. 129, 88, Nr. 135, 92; 20. Unterthema, eine Erzählung, KILIÁNOVÁ, Výskum, 1981, Nr. 139. Wie schon MÜLLER/ RÖHRICH, Tod, 1967, 346f. anmerkten, ist die Einordnung der Sagen recht schematisch, zumal einige Erzählungen kaum eindeutig einem einzigen Unterthema zugeordnet werden können. 36 KILIÁNOVÁ, Gestalt, 1996, 85. 37 Ebd. 38 Ebd. 197 Der zweite Teil des Katalogs enthält Aufzeichnungen dazu, in welcher Art der Tod eintritt. Recht häufig kommt das Unterthema 10 vor. Dazu gehört die Geschichte, in der ein Mann eine unbekannte Frau trifft, sie höflich begrüßt und im Gegenzug erfährt, wann er sterben wird. Oder die unbekannte Frau schickt ihn nach Hause, da er bald stirbt. Drei Tödinnen singen auf dem Friedhof, ein Buckliger verbessert ihnen das Lied, und dafür befreien sie ihn von seinem Buckel. Ein anderer Buckliger verdirbt ihnen das Lied und bekommt dafür einen zusätzlichen Buckel. Eine arme Frau ruft den Tod, damit er sie holen soll. Als der Tod dann aber tatsächlich kommt, erschrickt sie und bittet ihn, ihr nur den Korb auf den Rücken zu heben.39 Noch zahlreicher sind die Erzählungen zum Unterthema 12, in denen sich der Tod dem Menschen auf seinem Weg zeigt. Die Tödin verwehrt einem jungen Mann den Weg, der vor der Nacht nach Hause zurückkehrt und schlägt ihn. In einer anderen Variante belästigt der Mann unterwegs eine unbekannte Frau, es erweist sich, dass es die Tödin ist, die ihn dafür schlägt oder tötet.40 Im Unterthema 13 tritt wieder einzig die Tödin als Todbringer auf. Beispielsweise sieht ein Kranker, wie die Tödin an seinen Beinen zieht, er sagt dies einem Verwandten und stirbt kurz darauf. Zu Zeiten der Pest oder anderer Epidemien erscheinen drei Tödinnen, die Tödin mit zwei Feen oder drei weiße Frauen. Eine von ihnen ist alt, sie kann mit den anderen nicht Schritt halten, und als Rache verrät sie den Menschen eine Medizin gegen die Epidemie.41 Mit diesen Erzählungen steht auch der Text des Unterthemas 15 in Verbindung. Fährleute bringen drei alte Frauen über den Fluss, die verraten, in welche Dörfer sie gehen wollen. Eine von ihnen hinkt, sie kommt nicht mit den andren mit und verrät dem Fährmann eine Medizin gegen die Krankheit, welche die Tödinnen in die Dörfer bringen.42 Die meisten Erzählungen gehören zum Unterthema 16 über das Tragen oder Fahren des Todes. Die Tödin läßt sich zu einer Hochzeit tragen, und ihr Träger sieht, wie sie den Bräutigam oder einen der Gäste erschlägt. Eine unbekannte Braut (eine Frau in Weiß) oder eine alte Frau setzt sich auf den Wagen eines Fuhrmannes, sie nimmt beim Gastmahl Platz und tötet einen Gast oder den Wirt. Als Gegenleistung für die Fahrt gibt sie dem Fuhrmann ein längeres Leben oder einen guten Rat. Die Tödin springt einem Mann oder einem Mädchen auf den Rücken, der oder das kurz vor Einbruch der Nacht durch das Dorf geht. Der Mann droht der Tödin, dass er sie „ausprobiert“, deshalb springt sie von seinem Rücken und bricht ihm zur Strafe ein Bein. Das Mädchen muss die Tödin über den Fluss tragen, und als es heimkehrt, stirbt es vor Angst. Die Tödin lässt sich tragen und wird immer schwerer. Die Tödin fährt ein Stück mit dem Wagen und 39 40 41 42 Ebd., 85f. Ebd., 86. Ebd. Ebd. 198 verschwindet bei dem Haus am Ziel der Fahrt. Als Belohnung gibt sie dem Fuhrmann ein langes Leben oder einen guten Rat.43 Zum Unterthema 20, bei dem sich die Tödin als Geliebte des Mannes zeigt, finden wir in der Slowakei bisweilen keine Aufzeichnungen in slowakischer Sprache. Es erscheinen jedoch bei der Begegnung zwischen Männern und unbekannten Frauen bzw. Tödinnen erotische Anspielungen dieser Beziehung in mehreren Erzählungen (Unterthema 16, die Tödin „ausprobieren“). Auch die Vertauschung der Tödin mit einem anderen Wesen erscheint in diesen Erzählungen. Die Tödin kommt meist als weiße Frau oder Lucia44, also als weiße Gestalt, die durchs Dorf geht. Sie läßt sich vom Schuster Schuhe machen.45 Schließlich möchte ich noch auf eine Aufzeichnung zum Unterthema 22 hinweisen. Die Tödin kommt zu einer Wöchnerin. Die Frau bittet die Tödin, sie nicht mitzunehmen, da sie ein neugeborenes Kind hat. Sie schlägt der Tödin vor, den kranken Jungen bei den Nachbarn zu holen. Der Junge stirbt und die Frau bleibt am Leben.46 In den Sagen ist die Gestalt des Todes deutlich eingehender charakterisiert als in den Erzählungen. Es dominiert die Vorstellung vom Tod als Frau: als junger oder alter Frau, als unbekannter Frau mit einer Laterne, als Frau in Weiß, als Frau in einer alten Tracht, als Braut, als große Frau, als kleines Mädchen, das sich vergrößert. Der Tod erscheint auch in Gestalt von weißen oder schwarzen Tieren. In den Erzählungen erfährt der Zuhörer vom Auftreten und Verhalten des Todes bzw. der Tödin: Er oder sie erscheint, um anzukündigen, dass in Kürze jemand stirbt; sie geht durch die Welt und belohnt die zuvorkommenden Leute; wer sich ungehörig verhält, wird von ihr bestraft; sie läßt sich führen, auf dem Wagen mitnehmen oder über einen Fluss setzen, um Menschen sterben zu lassen. Gelegentlich erbarmt sich die Tödin der Opfer; einmal kommt sie später, ein andermal nimmt sie ein anderes Opfer mit. Wie in den Märchen, so auch in den Sagen werden Tod und Tödin nicht immer genauer beschrieben. Wenn der Erzähler das Wort „smrť“ (Tod), das im Slowakischen ein Femininum ist, ohne weitere Erläuterung benutzt, muss dies nicht automatisch bedeuten, dass er sich den Tod als Frau vorstellt. Abgesehen von dem von mir selbst erhobenen Material aus den 1970er bis -90er Jahren,47 bringen die aufgezeichneten Erzählungen nur selten zusätzliche 43 Ebd., 86f. Im slowakischen Volksglauben der Slowaken haben die Hexen am Tag der heiligen Lucia (13. Dezember) besondere Macht, und selbst Lucia war die mächtigste Hexe. An diesem Tag gingen in den Dörfern Frauen und junge Mädchen, in weiße Tüchern gehüllt, als „Lucky“ (Luzien) von Haus zu Haus. Sie kehrten die Ecken in den Stuben und sprachen Glückwünsche aus. FEGLOVÁ, Lucia, 1995. 45 KILIÁNOVÁ, Gestalt, 1996, 87. 46 Ebd. 47 Z.B. sammelte ich in den 1980er Jahren in der Gemeinde Nová Bystrica in der kaum industrialisierten Gebiergsregion Kysuce in der Nordwestlslowakei eine umfangreiche Gruppe von 19 Erzählungen über den Tod. In der Gemeinde war die kontinuierliche Weitergabe eines recht stabilen Erzählrepertoires festzustellen. Geschichten um Tod und Verstorbene wurden oft vor 44 199 Informationen, die eine Antwort auf die Frage erlauben, inwiefern die Personifikation des Todes als kulturelle Repräsentation im Betrachtungsgebiet verbreitet war. Nur in einigen Fällen weist das wiederholte Vorkommen desselben Geschichtstypus in einem Gebiet oder innerhalb einer Gruppe von Gemeinden darauf hin, dass es sich wahrscheinlich um eine kulturelle Repräsentation handelt. Das Material zeigt jedoch, dass bestimmte Erzählmotive während des gesamten Zeitraums vom 19. bis zum späten 20. Jahrhundert vorkamen, und belegt damit kontinuierliche Charakterisierungen des Todes in den slowakischen Erzählungen. Diese Erzählmotive müssen also recht weit verbreitet gewesen und an die jeweils nächste Generation weitergegeben worden sein. Auf diesem Wege wurde also auch eine bestimmte Vorstellung von der Gestalt des Todes übermittelt – als meistens weißgekleidete Frau, die einen Menschen holen kommt. Natürlich wurde die mündliche Überlieferung im 19. und 20. Jahrhunders auch durch die Literatur unterstützt und beeinflusst. Dabei spielten die gedruckten Märchensammlungen eine wichtige Rolle. Die slowakische Literatur fand jedoch erst nach dem Fall der österreichisch-ungarischen Monarchie 1918 und nach der Gründung der Tschechoslowakei weite Verbreitung, als in der Slowakei erstmals ein slowakischsprachiges Schulsystem eingeführt wurde. Deshalb ist bis 1918 und natürlich noch darüber hinaus der Einfluss der ungarischsprachigen Literatur auf die orale Tradition in der Slowakei nicht zu unterschätzen, da viele slowakische Schüler ihre schulische Bildung bis zu diesem Zeitpunkt ausschließlich in ungarischer Sprache erhielten. Der Einfluss der ungarischen Literatur und ungarischer Erzähltraditionen ist am Beispiel einer einzelnen Aufzeichnung aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, „Tetka smrť“ (Tante Tödin) aus Dobšinskýs Sammlung festzustellen. Zu diesem Märchen sind keine weiteren Aufzeichnungen in slowakischer Sprache gefunden worden; die Aufzeichnung wird weder im Katalog von Polívka noch in dem von Gašparíková aufgeführt. Allerdings kommt sie im ungarischen Katalog als Typ AaTh 336 und AaTh 336A vor. In ungarischen Erzählungen erscheint der Tod jedoch meist als alter Mann. Im ungarischen Katalog wird behauptet, dass dieser Typ im Ausland nicht bekannt sei.48 Das Material aus der Slowakei aus dem 20. Jahrhundert enthält zwei Beispiele für das Vorkommen der Erzählung AaTh 336, jedoch nicht bei slowakisch, sondern bei ungarisch sprechenden Einwohnern.49 Im 20. Jahrhundert gewannen auch andere Medien Einfluss auf die Vorstellung vom Tod, darunter Film, Radio und natürlich Fernsehen, wie ich noch zeigen möchte. Zuhörern mehrerer Genertationen erzählt, wenn sie auch hauptsächlich zum weiblichen Repertoire gehörten, weniger zu dem der Männer. So konnte ich eine kulturelle Repräsentation der Gestalt Tod-Frau im Betrachtungsgebiet feststellen. KILIÁNOVÁ, Ekológia, 1989, 101f. 48 Magyar népmesekatalógus, Bd. 2, 1988, 169f. 49 „A gonosz anyóka“ (Die böse Großmutter), in: GÉCZI, Ungi némesék, Nr. 72, 348. ‒ „A kislány még a halál“ (Das Mädchen und der Tod), in: TÓTH, Baracai népköltészet, 1994, Nr. 19, 104f. 200 4. Die Gestalt des Todes in deutschsprachigen Erzählungen in der Slowakei Die Narrationen von Tod oder Tödin in deutscher Sprache aus der Slowakei habe ich vor allem Volkserzählungen der Karpatendeutschen entnommen, die Alfred Cammann auf der Grundlage der Sammlung von Alfred Karasek (1902‒1970) und dessen Mitarbeitern herausgegeben hat; daneben verwende ich von mir selbst zusammengetragenes Material.50 Die sogenannte Erzählsammlung Karasek wurde bei Feldforschungen um das Jahr 1930 zusammengetragen. Diese Untersuchungen geschahen vor allem im Gebiet Hauerland (Kremnica/ Kremnitz und Nitrianske Pravno/ Deutsch-Probener Sprachgebiet), in geringerem Umfang auch in anderen deutschsprachigen Gebieten der Slowakei. Dazu kamen eigene Aufzeichnungen Alfred Cammanns (1909‒2008) aus den 1970er und 1980er Jahren in Westdeutschland bei aus der Slowakei ausgesiedelten Deutschen. Cammann besuchte damals außerdem kurzzeitig ehemalige deutsche Gemeinden in der Slowakei und fügte seinem Material ältere publizierte Quellen hinzu.51 Die daraus hervorgegangene Publikation bezieht sich auf vier in der Gegenwart bereits kaum mehr von deutschsprachigen Einwohnern bewohnte Gebiete: das Preßburger Sprachgebiet, das Hauerland, die Oberzips und die Unterzips. Die Sammlung enthält 47 Texte, in denen der personifizierte Tod in Erscheinung tritt.52 Darin sind auch Texte aus Medzev enthalten, allerdings erscheint in nur einem von diesen der Tod als Sensenmann, nämlich in dem Märchen „Der Drachensumpf“. Dieser Erzählung ist der Anfang einer Drachengeschichte in Gedichtform hinzugefügt.53 Die Medzever Texte wurden nicht bei Feldforschungen in Medzev selbst aufgezeichnet; vielmehr hörte Cammann sie bei in die Bundesrepublik übergesiedelten Deutschen, andere erhielt er in Form von in den 1980er Jahren schriftlich festgehaltenen Erzählungen von deutschsprachigen Einwohnern der Gemeinde. Darüber hinaus ziehe ich Josef Hanikas (1900‒1963) Arbeit hinzu. Dieser stützt sich auf Karaseks handschriftliche Sammlung aus dem Gebiet von Kremnica und Nitrianske Pravno; Hanika entnahm der Sammlung 146 Texte über den Tod, allerdings nur in Regestform. Hanika nach enthielt Karaseks Sammlung nicht weniger als 200 Sagen über den Tod, ein zu einem einzigen Sujet überraschend umfangreiches Material.54 Daneben verwende ich Interviews mit Heimatvertriebenen und Flüchtlingen aus der Slowakei, vor allem aus der Zips, einige sogar aus Medzev selbst, die in 50 CAMMANN/ KARASEK, Volkserzählungen, 1981. Genauer dazu CAMMANN/ KARASEK, Volkserzählungen, Teil 1, 1981, 15f. 52 CAMMANN/ KARASEK, Volkserzählungen, Teil 1, 1981, 144‒146, 183f., 222‒224, 316f., 325f., 407, 434, 435, 436; Teil 2, 1981, 52f., 57, 59‒62, 65, 69‒74, 78‒81, 85‒87, 104, 110, 117, 150, 161, 166, 237, 240, 247. 53 Ebd., Teil 1, 1981, 222‒225. 54 HANIKA, Die Tödin, 1954, 171-184. 51 201 den 1950er und -60er Jahren geführt wurden.55 In diesem Material fand ich keine Erwähnung von Personifikationen des Todes, lediglich Informationen zur Totenwache und zu Begräbnissen in der Oberzips (Medzev liegt in der Unterzips).56 Allerdings rezitiert eine Respondentin aus Medzev einen kurzen Ausschnitt aus dem erwähnten Gedicht zur Drachengeschichte, was zeigt, dass dieses Märchen oder diese lokale Sage, sei es in freier Erzählform oder in Versen, wohl sehr bekannt war.57 Insgesamt stehen 47 Texte mit einem oder mehreren Motiven sowie 146 Regesten zur Verfügung, die Hanika anhand der Karasek-Sammlung angefertigt hat. Genremäßig ist dieses Material dem Zaubermärchen, der Legende, der Sage sowie dem Erlebnis- und Ereignisbericht zuzuordnen. Hanika bringt Regeste von zwei längeren Erzählungen, bei denen es sich wahrscheinlich um Märchen handelt, und zwar solche des Typs AaTh 332, in denen die „Gevatterin Tödin“ auftritt und nicht ein männlicher Tod. In der ersten dieser Erzählungen erscheint einem Jüngling die Schönheitstödin. Der Jüngling bittet sie im Scherz, sie solle ihm als Patin dienen, obwohl ist er nicht verheiratet ist und nichtmals ein Mädchen hat. Die Tödin nimmt die Bitte an und sagt, sie werde in einem Jahr wiederkommen, er solle das seiner Marie sagen. Kurz darauf heiratet der Jüngling, und seine Frau heißt in der Tat Marie. Ihm wird ein Sohn geboren. Der Mann fürchtet sich, seiner Frau etwas von der Übereinkunft mit der Tödin zu erzählen, deshalb wird sie nicht zur Taufe geladen. Während der Taufe erscheint jedoch die Tödin, erinnert den Mann an die Übereinkunft, und er lädt die Schönheitstödin zu Tisch. Dafür verzeiht sie ihm, und für das Essen gibt sie ihm Laub von ihrem Baum und Blumen. Einen Teil davon wirft das Ehepaar fort, einen anderen legt Marie in eine Truhe. Nach einer Zeit stellen sie fest, dass sich die trockenen Blätter in goldene verwandelt haben, und aus den Blumen ist ein Wunderheilmittel geworden.58 In der zweiten Erzählung wird recht genau der Märchentyp AaTh 332 „Gevatterin Tödin“ reproduziert. Die Hauptfigur ist jedoch kein „armer Mensch“, sondern ein Lehrer, der angeblich den Vater des Erzählers unterrichtet hat. Der Lehrer wird zum Wunderheiler, denn er hatte als Patin die Tödin. Er lässt das Bett herumdrehen, um die Tödin zu überlisten, doch zur Strafe beißt ihm die Tödin den Kopf ab.59 Zur Sammlung von Cammann und Karasek gehören je drei Zaubermärchen und legendenhafte Märchen, in denen der Tod auftritt. Die Märchen „Betuschka 55 Für die freundliche Überlassung dieses Materials danke ich Elisabeth Fendl vom JohannesKünzig-Institut für ostdeutsche Volkskunde, Freiburg. 56 Tonarchiv, Johannes-Künzig-Institut für ostdeutsche Volkskunde. Band 794, Interview mit Katharina Haas: Vom Sterben und Totenverehrung in Klein-Lomnitz/ Lomnička. Band 1019, Interview mit Rudolf Göllner: Über Totenwache und Begräbnis in Einsiedel an der Göllnitz/ Gelnica. 57 Band 380, Interview mit Frau Frantz, Metzenseifen/Medzev, Mundprobe: Einige Strophen aus einem Gedicht vom „Metzenseifener Drachen“. 58 HANIKA, Tödin, 1954, 178. 59 Ebd. ‒ Siehe auch CAMMANN/ KARASEK, Volkserzählungen, Teil 2, 1981, 247f. 202 [Lischen] und der Tod“ und „Der Tod als Geliebter“ sind interessante Varianten des Typs AaTh 365 (Lenore-Typ).60 In beiden wird von einem Mädchen erzählt, das keinen Geliebten hat und sagt, es werde nun sogar den Tod heiraten. In der ersten Variante kommt an einem Donnerstag ein Mann zu Betuschka, sie folgt ihm und sieht, wie er auf den Friedhof geht. Am folgenden Donnerstag kommt der Mann wieder und fragt sie, was sie gesehen habe. Als sie nicht antworten will, sterben nacheinander ihr Vater, ihre Mutter und schließlich sie selbst. Auf ihrem Grab wächst eine Rose, die ein Königssohn pflückt und auf sein Schloss mitnimmt. In der Nacht verwandelt sich die Rose in ein schönes Mädchen. Der Prinz erblickt und heiratet sie. Doch der Tod verfolgt sie solange weiter, bis ihm Betuschka schließlich auf die Androhung, sie werde ihren Ehemann verlieren, schließlich erzählt, was sie gesehen hat. Die Variante „Der Tod als Geliebter“ ist ähnlich, mit dem Unterschied, dass mitgeteilt wird, was das Mädchen sieht, als sie dem Tod folgt, nämlich dass der Tod in der Kirche Knochen verspeist. In den slowakischen Texten des Märchentyps AaTh 365 (Lenore-Typ) ist der Geliebte des Mädchens nicht der Tod, sondern ein verstorbener Jüngling. Dagegen gibt es im ungarischen Katalog (Typ AaTh 365 und 470B) mehrere Aufzeichnungen eines solchen Märchens, und sie sind auch in Sammlungen ungarischer Erzählungen aus der Slowakei verzeichnet.61 In dem Märchen „Der Drachensumpf“ (Variante des Typs AaTh 300) wird von einem Drachen erzählt, der in Medzev in einem Sumpf lebt. Der fordert jeden Tag ein Mädchen, das er verschlingt. In der Stadt lebt eine alte Schusterwitwe. Sie möchte sterben, „und der Tod, die Sense geschultert, trat ein.“ Er verspricht ihr, sie zu sich zu nehmen, doch sie muss dafür zuerst den Drachen töten. Die Witwe macht eine Strohpuppe und bestreicht sie mit Pech, das ihr Mann ihr hinterlassen hat. Sie zieht der Puppe eine Medzever Tracht an und stellt sie an den Sumpf. Der Drache hält die Puppe für ein neues Opfer und verschlingt sie. Doch das Pech geht in seinem Körper in Flammen auf und verbrennt ihn zu Asche. Anstelle des Sumpfes entsteht ein Marktplatz mit einer Kirche.62 Das kurze legendenartige Märchen „Der schwarze Mann (der Tod)“63 präsentiert das Motiv der Unausweichlichkeit, sich dem Tod unterzuordnen und Gottes Ratschlag anzunehmen. Der Tod, ein schwarzer Mann, nimmt einer Mutter das Kind weg, und sie läuft ihm hinterher, damit er ihr das Kind zurückgebe. Der Weg führt sie schließlich zum Himmelsgarten, doch sie findet ihr Kind nicht. So folgt die Mutter weiter dem Tod, weil ihr Kind nicht in den Himmel gekommen ist. Diese Gestalt des Todes als schwarzen Mann finden wir nicht in den 60 Ebd., Teil 1, 1981, 144‒146, 183f. Magyar népmesekatalógus, Bd. 2, 1988, 176f. ‒ GÉCZI, Ungi népmesék, 1989, Nr. 13, 120f. ‒ TÓTH, Baracai népköltészet, 1994, Nr. 20, 105f. 62 CAMMANN/ KARASEK, Volkserzählungen, Teil 1, 1981, 222‒225. 63 Ebd., 316f. 61 203 slowakischen Texten, doch begegnet sie wiederum in den ungarischen Erzählungen aus der Slowakei.64 Für unsere Zwecke besonders wertvoll ist die Aufzeichnung einer weiteren legendenhaften Erzählung, „Gott und der Tod“, einer Variante des Märchentyps AaTh 759, in dem der Ursprung des Todes erklärt wird: „ Ein Mann ist gestorben. Der ist dann der Tod geworden [...].“65 Weiter entfaltet sich das Geschehen ähnlich wie in dem slowakischen Märchen „Der bestrafte Tod“66: Gott sendet den Tod aus, um eine Mutter vieler Kinder zu holen. Der Tod führt die Anweisung nicht aus und wird dafür damit bestraft, dass er solange in der Welt zu dienen hat, bis er verrät, woher er kommt; erst dann kann er in die andere Welt zurückkehren. An diesem Text ist wichtig, dass ein Verstorbener zum Tod wird. Wie ich u.a. anhand des Materials aus Medzev zeigen werde, ist die Vorstellung von einem Verstorbenen als Todbringer eine weitere wichtige Personifizierung des Todes. In den deutschsprachigen Märchen aus der Slowakei tritt häufiger der Tod als die Tödin auf. Der Tod wird nicht im einzelnen beschrieben, über ihn wird nur gesagt, er sei ein schwarzer Mann, ein Sensenmann oder ein verstorbener Mann. Auch die Tödin wird eher anhand ihres Verhaltens anstatt ihres Aussehens charakterisiert. Beim Typ AaTh 332 „Gevatterin Tödin“ interessant, dass von der Art berichtet wird, wie die Tödin die Hauptfigur umbringt, nämlich indem sie ihm den Kopf abbeißt. Dies ist ein eher seltenes Motiv, da in den meisten Erzählungen die Todesart nicht angeführt ist; meistens wird dies damit umschrieben, dass der Tod oder die Tödin den Menschen mitgenommen habe. Weitere Arten des Tötens werde ich im Abschnitt zu den Sagen anführen. Ähnlich wie in den slowakischen, finden sich auch in deutschen Texten Todesmotive vor allem in Sagen, Glaubenserzählungen, in Erlebnis- und Ereignisberichten. Im der folgenden Liste untergliedere ich die Sagen zur Personifizierung des Todes nach demselben Katalog wie die slowakischen Erzählungen. Ich stütze mich dabei auf 41 publizierte Texten und 146 Regesten.67 Die Nummern zu den einzelnen Unterthemen geben die jeweilige Anzahl der Einträge an: 64 MAGYAR, Torna megyei népmondak, 2001, Nr. 946, 389. Es handelt sich um eine Aufzeichnung aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus der Gemeinde Turňa nad Bodvou (ung. Torna), Bezirk Košice und Umgebung. 65 CAMMANN/ KARASEK, Volkserzählungen, Teil 1, 1981, 325f. 66 Dieses Märchen ist in vielen europäischen Ländern bekannt und geht auf eine christliche Legende zurück. LOX, Tod, 2009, 702. 67 Dabei habe ich Wiederholungen von Erzählungen aus der Sammlung CAMMANN/ KARASEK, Volkserzählungen, 1981 nicht berücksichtigt, ebensowenig die Regesten bei HANIKA, Tödin, 1954, insofern ich diese identifizieren konnte. Deshalb ist die Gesamtzahl der angeführten Texte nicht 41+146=187, sondern nach Ausschluss der wahrscheinlich identischen Texte nur 161. Diese Zahlen sind gewiss nur Annäherungen, sie können jedoch auf die häufigsten narrativen Sujets verweisen. 204 A Das Erscheinen des Todes Erscheinungsweisen des Todes 1. Begegnung mit dem personifizierten Tod: 7 2. Begegnung mit der Tödin: 70 3. Begegnung mit dem Tod in tierischer Gestalt: 1 Verhaltensweisen des Todes 9. Erscheinen des Todes als gutes Vorzeichen: 0 10. Tod als Warner: 2 11. Tod oder Tödin als Todesbote: 0 (vgl. Märchentyp 759 oben) 12. Tod als Begleiter (nur Tödin): 24 13. Tod oder Tödin als Todbringer: 12 14. Kampf mit dem Tod: 0 15. Überfahrt des Todes: 0 16. Tod läßt sich an einem Ort tragen oder fahren: 13 17. Tod oder Tödin als Teilnehmer an einem Tanz: 0 18. Tod oder Tödin als Überzähliger bei einem Freveltanz: 0 19. Tod oder Tödin als Pate/ Patin: 0 (vgl. oben Märchen AaTh 332) 20. Tödin als Geliebte, als Kinderwechslerin, Spinnstubenfrau etc.: 25 21. Tod als Belohner oder Strafer: 7 22. Abwehr des Todes: 0 23. Verbannung des Todes an einen bestimmten Ort: 0 24. Land des Todes: 0 Die Personifizierung des Todes in männlicher Gestalt erscheint in den Narrationen im Vergleich zu anderen Sujets weniger häufig. Der Tod kommt als unbekannter Mann im schwarzen Mantel und Hut, er begleitet die Frauen schweigend. Sie sprechen ihn auf deutsch an, dann versuchen sie es auch auf slowakisch und schließlich auf ungarisch, der unbekannte Mann reagiert jedoch nicht und verschwindet nach einer Weile. Der Tod heißt Mihammer oder Mihawr, da er gesagt habe: „Mittag ham mer!“ Er ist der Mann der Tödin, er sitzt unter ihrem Baum. Er ist auch ein „wilder Mensch im Wald“, der „die Menschen zerreißen“ will.68 Bereits seit Arnold Ipolyi (1823‒1886) Mitte des 19. Jahrhunderts auf das Phänomen aufmerksam gemacht hat, ist bekannt, dass die Tödin zu den zentralen Gestalten in den deutschsprachigen Erzählungen aus der Slowakei gehört und sie darin viel öfter als ein männlich imaginierter Tod erscheint. Ipolyi stellte fest, dass die slawischen Bewohnern den Tod als weibliches Wesen auffassten und neben dem geläufigen femininen Nomen „smrť“ (Tod) auch die Bezeichnung „Morena“ verwandten. Diese Morena war in der slowakischen Volkskultur eine in der örtlichen Tracht gekleidete Strohfigur, die als Symbol des Todes oder des Winters am Palmsonntag oder Ostersonntag aus dem Dorf hinausgetragen und verbrannt 68 CAMMANN/ KARASEK, Volkserzählungen, Teil 2, 1981, 61. – HANIKA, Tödin, 1954, 179f. 205 oder ins Wasser geworfen wurde.69 Ipolyi veröffentlichte eine deutsche Übersetzung des Märchens „Gevatterin Tödin“, das der Sammler Alois Mednyansky in slowakischer Sprache niedergeschrieben hatte.70 In den Volkserzählungen von Cammann und Karasek hat die Tödin viele Gestalten. Sie ist eine weiße weibliche Figur, die ständig größer wird, durch die Luft fliegt oder über den Kirchturm springt. Bei ihrem Erscheinen stirbt jemand. Ihr Reich ist der Friedhof, oder sie hält sich auf einer Linde, einem Nussbaum, einer Eiche oder Weide auf, in einer Höhle oder in einem Berg, wo sie die Lebenslichter verwahrt. Wenn jemand sterben soll, löscht sie sein Licht. Sie hält sich auch auf der Wiese, im Totenwald, bei der Mühle oder in einem Brunnen auf, wo sich auch die ungeborenen Kinder befinden. Als Tod kommt sie mit einer Kiepe in die Häuser, in der sie kleine Häferl trägt, woraufhin das Dorf von einer schweren Krankheit heimgesucht wird. Die Tödin mag keine Kirchenglocken, deshalb erscheint sie erst nach dem letzten Läuten. Stirbt eine Wöchnerin, wird aus ihr eine Tödin.71 Es ist überraschend, dass wir in dieser sehr umfangreichen Sammlung nur eine einzige Erzählung über den Tod in Tiergestalt finden können, in der sich die Tödin in eine Katze verwandelte.72 Beim Unterthema 10 gibt es Sagen über Begegnungen mit dem Tod, wie diejenige mit einer unbekannten Frau, die gutes Verhalten belohnt: Ein Dorfbewohner grüßt die Tödin höflich, die sehr in Eile ist, kurz darauf zieht ein großes Gewitter auf, doch der Dorfbewohner kann ihm entkommen, denn er ist vorgewarnt. Zu diesem Sujet gehört auch eine Erzählung über das Paar Tödin und Tod, das auf dem Friedhof tanzt und in endloser Wiederholung „Montag, Dienstag, Mittwoch“ singt. Ein Buckeliger kommt vorbei und ruft ihnen zu: Donnerstag. Der Tod und die Tödin probieren das ergänzte Lied, der Tanz gelingt ihnen besser, deshalb befreien sie den Buckeligen von seinem Buckel. Ein Geizkragen hofft auch auf eine Belohnung. Er geht auf den Friedhof und fügte ihrem Lied „Freitag“ hinzu. Doch zu einem Lied mit fünf Wörtern lässt sich nicht gut tanzen, und das Todespaar setzt dem Geizkragen den Buckel auf den Rücken. Ein ähnliches Motiv gibt es auch in slowakischen Sagen, doch auf dem Friedhof tanzen nicht Tod und Tödin, sondern mehrere Tödinnen.73 Relativ zahlreich vertreten ist das Unterthema 12, bei dem wiederum nur die Tödin auftritt. Sie begleitet die jungen Burschen, wenn sie sich zu den Mädchen aufmachen. Sie stellt sich ihnen als großes weißes Wesen in den Weg, und die Burschen können nicht weiter. Oder die Burschen treffen die Tödin, wenn sie von den Mädchen zurückkommen, sie erscheint ihnen so groß wie eine Pappel. In einer anderen Erzählung laufen die jungen Burschen pfeifend durch das Dorf. Es erscheint ihnen die „Frau Hulderin“ (d.h. die Tödin), die ganz verärgert ist und ihnen das Pfeifen untersagt. Ähnliches geschieht, als Frauen an einem Donnerstag 69 KLEPÁČOVÁ/ ELSCHEKOVÁ, Morena, 1995. IPOLYI, Beiträge, 1853, 257f. 71 CAMMANN/ KARASEK, Volkserzählungen, Teil 1, 1981, 407, 434. 436; Teil 2, 1981, 57, 60, 65, 69, 79, 104, 237. ‒ HANIKA, Tödin, 1954, 171‒181. 72 Ebd., 180. 73 CAMMANN/ KARASEK, Volkserzählungen, Teil 1, 1981, 435. ‒ HANIKA, Tödin, 1954, 180. 70 206 Wolle spinnen, auch ihnen erscheint die Tödin, denn sie sollen an diesem Tag nicht spinnen. Ähnlich, als die Mädchen am Samstagabend gegen die Sitte durch das Dorf laufen, so zeigt sich ihnen die Tödin.74 Die Sagen zum Unterthema 13 schildern Geschehnisse um die Tödin, die den Tod oder eine Krankheit bringt. Z.B. sieht ein Mann in der Nacht die Tödin, wie sie am Wehr Wäsche wäscht. Am nächsten Tag ertrinkt an dieser Stelle ein Kind. Der Vater der Erzählerin geht um 11 Uhr abends vor die Schwelle seines Hauses. Er sieht drei weiß gekleidete Frauen, die zum Kreuz gehen. Zuerst tanzen sie, dann knieen sie nieder, beten und gehen schließlich zum Friedhof. Kurz darauf sterben im Dorf drei Wöchnerinnen. Die Tödin nähert sich einem Haus, in dem ein Mensch im Sterben liegt. Der Hund spürt sie, er springt sie an und verwehrt ihr den Eintritt. Der Sterbende bittet die Hausherren, den Hund anzubinden, damit die Tödin ihn holen kann.75 In der Sammlung deutscher Sagen gibt es keine Erzählung über die Überfahrt des Todes über einen Fluss (Unterthema 15). Stattdessen finden wir zahlreiche Berichte zum Unterthema 16 über das Tragen des Todes. Männer oder junge Burschen, die in der Nacht herumlaufen und die Tödin stören, müssen sie durch das Dorf, einen Weg entlang oder durch den Wald tragen. Einen jungen Burschen hüllt die Tödin zunächst so in ihre weißen Kleider ein, dass er gar nicht sehen kann, wo er sich befindet. Dann „[hockt] sie sich ihm auf“, und er muss sie sieben Stunden lang durch den Wald tragen. Erst als es ihm gelingt, in die Nähe von Häusern zu kommen, „[lässt] sie von ihm ab“. Daraufhin liegt er lange krank darnieder, und schließlich hinkt er auf einem Bein. Beim Unterthema 16 gibt es lediglich eine Erzählung über das Fahren des Todes: „Mihammer“ erscheint beim Todesbaum einer Gruppe von Leuten, denen eine Kutsche folgt. Einer der Fußgänger fragt den unbekannten Mann, wohin er gehe – zunächst auf deutsch, dann auf slowakisch und schließlich auf Ungarisch, doch er erhält keine Antwort. Dann legt sich Mihammer in die Kutsche. Der Kutscher sieht es, kann jedoch nichts dagegen tun. Er weiß aber, dass Mihammer keine Macht über ihn hat, denn er hat einen Rosenkranz bei sich.76 Eine der interessantesten und vielfältigsten Gruppen bildet das Unterthema 20. Dazu gehören Erzählungen, in denen über die Tödin als Geliebte junger Burschen oder junger Männer erzählt wird, z.B.: Ein Mann hat die Tödin zur Geliebten. Sie ist keine hässliche alte Frau, sondern jung und schön. Er geht mit ihr in den Wald, wo sie in einem Baum lebt. Der Mann stirbt jedoch jung, weil die Tödin seine Geliebte ist. Zu diesem Sujet gehören Erzählungen, in denen der Tod mit anderen dämonischen Wesen verbunden ist. Die Tödin erscheint auch als Mittagsgöttin, am häufigsten einsamen Bauern oder Bäuerinnen in der Mittagsstunde auf dem Feld. Sie „[fällt] auf einen“ drauf, und der Mensch ist auf 74 CAMMANN/ KARASEK, Volkserzählungen, Teil 2, 1981, 70, 72, 87, 166. ‒ HANIKA, Tödin, 1954, 171‒177, 180f. 75 CAMMANN/ KARASEK, Volkserzählungen, Teil 2, 1981, 57, 73. ‒ HANIKA, Tödin, 1954, 171, 173, 176, 178‒180. 76 CAMMANN/ KARASEK, Volkserzählungen, Teil 2, 1981, 62. ‒ HANIKA, Tödin, 1954, 173, 176‒180. 207 der Stelle tot. Am Tag vor dem Heiligabend sehen die Leute eine riesige Frau aus dem Wald ins Dorf schreiten, sie trägt neue, ganz weiße Kleider; es ist die Weihnachtstödin. Am Tag der Heiligen Lucia (13. Dezember) sehen Leute Hexen hinter dem Altar; einmal erscheint mit ihnen gemeinsam die Tödin. Diese tritt auch als Kinderwechslerin auf, die ein Neugeborenes austauschen will. In einigen Sagen findet sich die erneut Geschichte, dass die Tödin eine Wöchnerin aus dem Haus holen will, um sie zu entführen oder sich Zugang zu dem neugeborenen Kind zu verschaffen. Als sich die Frau wehrt, schlägt die Tödin ihr über die Hand, die auf immer steif wird. Ein andermal zeigt sich die Tödin als Spinnfrau, die in ihrer Kammer im Berg goldenes Garn spinnt.77 Das Unterthema 21 fasst Erzählungen zusammen, in denen die Tödin einen Dienst, ein Geschenk oder Hilfe verlangt. So kommt z.B. die Tödin an Heiligabend und erbittet von der Hausfrau Kuchen und Milch. Die Hausfrau lügt, sie habe nichts. Die Tödin bestraft sie, indem sie im folgenden Jahr kein Heu ernten kann; in einer anderen Variante stirbt die Hausfrau. Eine gute Tödin geht zu Weihnachten durchs Dorf und beschenkt die Kinder mit kleinen Kuchen und Obst.78 Hanika fasst verschiedene Personifikationen des Todes zusammen. Seine Feststellung ist unbestreitbar, dass der Tod in den deutschen Sagen aus der Slowakei, genauer gesagt aus dem Hauerland, ganz überwiegend von einem weiblichen Wesen personifiziert wird, das abwechselnd als Tödin, Frau Hulderin, Huldermutter, Hulde oder Holda, Schönheitstödin oder Weihnachtstödin bezeichnet wird. Wesentlich seltener tritt der Tod als unbekannter Mann in Schwarz, als wilder Mann im Wald oder als „Mihammer“ auf. Nur in einigen Sagen erscheint er gemeinsam mit der Tödin als Paar. Der Tod wird nicht detailliert beschrieben, seine Eigenschaften werden nicht im einzelnen aufgeführt.79 In dem deutschen Textkonvolut tritt der Tod sowohl als männliche als auch weibliche Gestalt auf, doch ist die Tödin deutlich häufiger vertreten, wie bereits Hanika feststellte. Dieser führt an, dass in der Zeit bis zur Aussiedlung der Deutschen nach 1945 in der Umgebung von Kremnica und Nitrianske Pravno „jeder Bewohner, auch die Jugend, von ihr [d.h. der Tödin] wußte; jeder ist ihr irgendwie einmal selbst begegnet oder kennt jemanden, der eine Begegnung mit ihr hatte.“80 Ipolyis Hinweise auf die Gestalt der Tödin, wie sie in der selben Region Mitte des 19. Jahrhunderts imaginiert wurde, könnten bedeuten, dass es sich um eine Vorstellung von großer Dauer und Kontinuität handelt, also um eine kulturelle Repräsentation im Sinne meiner Definition. Die empirische Basis für diese Annahme ist jedoch schmal, da anders als aus dem Hauerland aus den 77 CAMMANN/ KARASEK, Volkserzählungen, Teil 2, 1981, 52f., 59, 71, 78, 79, 80, 110. ‒ HANIKA, Tödin, 1954, 172, 175, 177, 181. 78 CAMMANN/ KARASEK, Volkserzählungen, Teil 2, 1981, 61f., 69, 72. ‒ HANIKA, Tödin, 1954, 174. 79 Ebd., 181‒183. 80 Ebd., 171. 208 übrigen deutschsprachigen Gebieten der Slowakei nur sehr wenige Angaben über das Auftreten der Tödin vorliegen. Es ist interessant, dass in den Sagen die Tödin vorherrscht, während in den Märchen der männliche Tod dominiert. Ich vermute, dass sich das durch die größere Nähe der Sagen sowie der Erlebnis- und Ereignisberichte an Glaubensvorstellungen erklären lässt, was von der Ethnologie belegt wurde. In diesen Vorstellungen herrschte nämlich Hanikas Aufzeichnungen nach die Vorstellung einer weiblichen Todesgestalt vor. Dagegen stellt das Märchen als vielmotivischer und längerer Text höhere Anforderungen an das Gedächtnis. Texte dieses Genres wurden innerhalb der deutschsprachigen Bevölkerung auch durch die Lektüre tradiert. Neben der deutschen Literatur waren es mindestens bis 1918 wahrscheinlich auch ungarische Texte,81 in denen die Gestalt des Todes als Mann kanonisiert wurde, und zwar in Anpassung an das grammatikalische Geschlecht der Todes in der deutschen Sprache (während das Ungarische kein grammatisches Genus besitzt).82 Parallelen zwischen deutschen und ungarischen Texten zeigen sich zum Beispiel in den Märchen „Betuschka und der Tod“ oder in „Der Tod als Geliebter“. Andererseits wuchs nach 1918 der Einfluss schriftlich fixierter slowakischer Texte, der seinerseits durch eine starke mündliche Tradition unterstützt wurde. Deshalb überrascht es nicht, dass in dem bekanntesten europäischen Märchen, „Der Gevatter Tod“ (AaTh 332), in der deutschsprachigen Überlieferung in der Slowakei ebenso die Tödin auftritt wie in der slowakischen. 5. Vergleich der slowakisch- und der deutschsprachigen Überlieferung aus dem 20. Jahrhundert Unser Material weist eine große Anzahl von Interferenzen auf abstrakter Ebene auf. In beiden Sammlungen können wir sehr ähnliche Erzählmotive ausmachen, wie auch eine ähnliche Charakteristik der Todesgestalt, dies v.a. in den Sagen. Der Tod oder die Tödin ist in der Regel eine weiße Gestalt, die sich zur Riesenhaftigkeit vergrößern kann; sein oder ihr Kommen kündigt Krankheit oder Tod an. Die Tödin ist mal alt, mal jung und schön. Sie straft und belohnt für schlechtes und gutes Verhalten. Wegen des umfangreichen Materials bieten die deutschen Sagen mehr Details zu Aussehen und Verhalten des Todes. Interferenzen zeigen sich auch in der Verbindung des Todes oder der Tödin mit anderen dämonischen Wesen, was ich für einen komplizierteren Sachverhalt mit Blick auf den Gesamtkomplex der Glaubensvorstellungen halte. Hier zeigt das 81 Zur deutsch-ungarischen und deutsch-slowakischen Zweisprachigkeit oder zur Dreisprachigkeit der deutschen Bevölkerung in der Slowakei ebd., Teil 1, 12f. 82 Karasek betonte, dass „[d]ieses altüberlieferte Erbe [...] von gedruckten Lesestoffen noch nicht wesentlich durchgesetzt“ sei, was allerdings Cammann später in Frage stellte. CAMMANN/ KARASEK, Volkserzählungen, Teil 1, 1981, 47. ‒ Zur Lektüre der Märchen der Brüder Grimm bei der deutschen Bevölkerung in der Slowakei siehe z.B. ebd., Teil 2, 1981, 406f. 209 Material wiederum interessante Übereinstimmungen zur Gestalt des Todes als Lucia und weiße Frau in slowakischen und in deutschen Texten. Die Tödin als Kinderwechslerin, Spinnfrau und Mittagsgöttin tritt wieder nur im umfangreicheren deutschsprachigen Material in Erscheinung; in diesen Gestalten war sie im slowakischen Material entweder nicht vorhanden oder wurde zumindest nicht aufgezeichnet. In den slowakischen und deutschen Märchen finden wir weniger Übereinstimmungen bei den narrativen Motiven wie auch bei der Personifikation des Todes. Während in den slowakischen Märchen der Tod überwiegend eine Frau ist, obwohl auch die Gestalt eines Mannes oder eines geschlechtlich unbestimmten Knochengerippes vorkommen, so finden wir in den deutschen Märchen den Tod eher als Mann personifiziert. Dieser Umstand ist vermutlich dadurch zu erklären, dass die Märchen in slowakischer und deutscher Sprache in Form gedruckter Antologien kanonisiert wurden, die ihrerseits die weitere mündliche Überlieferung beeinflussten. Für das 19. und frühe 20. Jahrhundert gilt, dass wegen der Dominanz des Ungarischen als Bildungs- und Alltagssprache der Vergleich der slowakischen und der deutschen Märchen mit einem tertium comparationis, nämlich den ungarischen Märchen, von Bedeutung ist. In beiden Gruppen sind entsprechende Einflüsse nachzuweisen, wenn auch in verschiedenen Märchentypen. Leider sind aus den Texten des 19. und 20. Jahrhunderts keine Angaben zu gewinnen, inwieweit die Personifikation des Todes als überwiegend weibliches Wesen und weniger als männliche Gestalt bekannt und langfristig in Regionen mit überwiegend deutscher oder slowakischer Bevölkerung verbreitet war. Die Feststellungen Hanikas und Karaseks zur Verbreitung der Gestalt der Tödin bei der deutschsprachigen Bevölkerung gelten lediglich für das Hauerland. Von meinen speziellen Untersuchungen einmal abgesehen, können wir im slowakischen Material auf die dominante kulturelle Repräsentation des Todes als weibliches Wesen nur indirekt schließen, nämlich aufgrund der Materialmenge und des langen Überdauerns von Erzählmotiven. Aus dem zur Verfügung stehenden Material lässt sich auch nicht ermitteln, ob die slowakischen und deutschen Bewohner in der Slowakei die Gestalt des Todes in den jeweils anderen Sprachengruppen kannten und ob ihnen die Unterschiede zwischen der slowakischen und der deutschen Erzähltradition bewusst waren. 6. Medzev Medzev ist eine Gemeinde mit Stadtstatus 46 km südwestlich der ostslowakischen Metropole Košice (Kaschau). Der Ort war seit dem 14. Jahrhundert bekannt und lebte ursprünglich vom Bergbau. Seit dem 18. Jahrhundert entstand in Medzev eine bedeutende Eisenhüttenproduktion, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in einem Industriebetrieb mit 600 bis 700 Beschäftigten konzentriert 210 war.83 Nach 1989 wurde diese Fabrik geschlossen. Gegenwärtig arbeiten ca. 73 % Beschäftigte in örtlichen Dienstleistungsbetrieben, im Forst und in kleinen Betrieben mit bis zu zehn Mitarbeitern, 27 % der Beschäftigten pendeln zur Arbeit, vor allem nach Košice.84 Nach der letzten Volkszählung von 2001 hat Medzev 3667 Einwohner, davon zählen sich 75,4 % zur slowakischen Nationalität, 13,5 % zur deutschen, 6,7 % zur Nationalität der Roma, zur ungarischen Nationalität 1,6 %, zur tschechischen 0,4 %, zur rusynischen 0,04%, sowie 2,36% zu anderen, nicht benannten oder nicht festgestellten Nationalitäten. Der Anteile der Muttersprachen weichen von der Nationalitätenstatistik ab. Slowakisch als Muttersprache gaben 58,7 % der Einwohner an, Romani 18,7 % (!), Deutsch 16 %, Ungarisch 3,5 %, Tschechisch 0,3 %, Rusynisch 0,1 % und andere oder nicht festgestellte Sprachen 2,7 %.85 Die Unterschiede zwischen der subjektiven Zuordnung zu einer Nationalität und den angegebenen Muttersprachen sind in den meisten Fällen recht groß. Sie sind vielleicht aus einer vorsichtigen Haltung der Bevölkerung zu erklären, die aus negativen historischen und mitunter auch gegenwärtigen Erfahrungen resultiert, darunter Angriffe auf die jüdische, ungarische, deutsche und andere Minderheiten nach 1918, Verfolgung der Roma und der jüdischen Minderheit während des Zweiten Weltkrieges, Verfolgung der deutschen und ungarischen Minderheit nach 1945, gegenwärtige verbale und physische Angriffe auf Roma, politische Spannungen zwischen den Vertretern der slowakischen Mehrheitsbevölkerung und denen der ungarischen Minderheit, schließlich latente und offene Konflikte zwischen der Slowakei und Ungarn, die bis in die Gegenwart reichen. Nach Glaubensrichtungen teilte sich die Bevölkerung 2001 so auf: 77,6 % gehörten zur römisch-katholischen Kirche, 0,7 % zur evangelischen Kirche Augsburger Bekenntnisses, 2,2 % zur griechisch-katholischen Kirche, 0,7 % zur reformierten Kirche, 0,6% zu den Zeugen Jehovas, 5,5 % zu anderen Glaubensgemeinschaften, 12,7 % waren ohne Bekenntnis.86 Erst nachdem ich Medzev als Fallstudie für die Untersuchung von Interferenzen zwischen der slowakischen und der deutschen Bevölkerung ausgesucht hatte, stieß ich darauf, dass auch die ungarische Sprache und Tradition wichtig für die Todesvorstellungen an diesem Ort sind. Das war im Vorfeld nicht abzusehen, da die ungarische Minderheit in Medzev eine statistisch sehr kleine Gruppe darstellt. Medzev liegt jedoch in unmittelbarer Nachbarschaft zweier Gemeinden, Jasov (Jossau) und Moldava nad Bodvou (Moldau an der Bodwa), 83 Näheres in Medzev, 1977. Der Name Medzev hatte eine weitere und eine engere Bedeutung. Historisch existierten Nižný und Vyšný Medzev (Unter- und Obermetzenseifen). Diese Gemeinden wurden 1964 unter dem Namen Medzev zusammengeschlossen. Im Jahre 2000 teilte sich die Gemeinde wiederum in Vyšný Medzev und Medzev. Unsere Feldforschung führten wir im heutigen Medzev durch. Zu den Namen der Gemeinden siehe auch RICHTER-KOVARIK, Kultúra, 2003, 323, 338f. 84 Für diese Angaben von 2009 danke ich der Stadtverwaltung von Medzev. 85 Sčítanie, 2001. 86 Ebd.; Umrechnung in Prozent von mir. 211 die bis in die Gegenwart durch einen markanten Anteil einer ungarischen Bevölkerung geprägt sind. Medzev befindet sich damit direkt an der ungarischen Sprachgrenze. Der Einfluss des ungarischsprachigen Umfeldes ist dennoch nicht allein aus der bloßen Nachbarschaft von Deutschen, Slowaken und Ungarn in Vergangenheit und Gegenwart zu erklären. Vielmehr schlagen sich darin kulturelle Prozesse als Folge historischer, politischer, sozialer und wirtschaftlicher Verhältnisse des 19. und frühen 20. Jahrhunderts nieder. In erster Linie hat sich dabei der bis 1918 ungarischsprachige Schulunterricht ausgewirkt. Die Bewohner von Medzev sorgten dafür, dass sich die Sprachkenntisse ihrer Kinder weiter verbesserten, indem sie sie für eine bestimmte Zeit in ein ungarischsprachiges Umfeld gaben. Denn die Medzever mussten das Ungarische bis 1918 nicht nur als Amtssprache beherrschen, sondern auch als wichtiges Kommunikationsmittel für geschäftliche und soziale Kontakte.87 Obwohl Medzev nach 1918 zur Tschechoslowakischen Republik gehörte und das Ungarische aus Schulwesen und Verwaltung verschwand, überdauerte es bei vielen Einwohnern von Medzev dennoch als Zweitsprache. 1938 wurde die Grenze zwischen der Tschechoslowakischen Republik und Ungarn nach Norden verschoben, so dass Medzev bis 1945 zu Ungarn gehörte, was wiederum der Verbreitung des Ungarischen und den Kontakten mit der ungarischen Bevölkerung förderlich war. Die deutsche Minderheit, deren Angehörige sich selbst als „Mantaken“ bezeichnen, nimmt im Vergleich mit den übrigen Minoritäten heute die wichtigste Stellung ein. Nach der Wende von 1989 wurde in Medzev 1991 ein Karpatendeutscher Verein (KDV) gegründet, der Versammlungshaus und Bibliothek besitzt.88 Der Verein hat einen sehr aktiven Chor sowie eine Tanzgruppe; beide treffen sich einmal wöchentlich zu Proben. Er sieht im Erhalt der deutschen Sprache beziehungsweise des Mantakischen sowie der Lieder, Tänze, Trachten und des Brauchtums der deutschen Minderheit seine wichtigste Aufgabe. Deutschkenntnisse sind ein kulturelles Kapital, das eingesetzt werden kann, um eine bessere Arbeit in der Slowakei, in Österreich oder Deutschland zu finden; darüber sind sich die Einwohner von Medzev unabhängig von ihrer jeweiligen Muttersprache einig. In der slowakischen Grundschule wird Deutsch als erste Fremdsprache unterrichtet. Seit dem Jahr 2000 wird in der örtlichen römisch-katholischen Kirche neben der slowakischen auch die deutsche Messe gefeiert. Bei den jährlich im Juli stattfindenden Stadtfeiern präsentiert sich 87 Handel mit Hacken und anderen Eisenwaren mit mehreren Regionen des heutigen Ungarn; dazu MARKUŠ, Motyky, 1966. 88 Nach 1945 gab es für die deutsche Bevölkerung in der Tschechoslowakei keine Möglichkeit, sich in Vereinen zu organisieren. Erst 1969 entstand in Prag der Kulturverband der Bürger deutscher Nationalität der ČSSR mit dem Ziel, die deutsche Vorschul- und Schulbildung sowie deutschsprachige Bücher und Tagespresse zu fördern. In Medzev entstand 1970 eine Zweigstelle dieses Verbandes, die jedoch nur drei Jahre lang bestand und unter politischem Druck aufgelöst wurde. Diese Zweigstelle war die einzige in der gesamten Slowakei. RICHTER-KOVARIK, Kultúra, 2003, 334‒336. 212 Medzev als slowakisch-deutsche Stadt; andere Minderheiten werden zwar einbezogen, aber nicht speziell als im Ort lebende Gruppen.89 Diese hervorgehobene Stellung der deutschen Minderheit geht auch auf die im kollektiven Gedächtnis der Bevölkerung bewahrte Erinnerung zurück, dass die Deutschen in der Marktgemeinde Medzev bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs die absolute Bevölkerungsmehrheit stellten, die sie erst nach 1945 durch die gewaltsame Aussiedlung verloren.90 Soweit Deutsche nach 1945 in der Gemeinde blieben, nahmen sie meist die slowakische Nationalität an, und der Ort wuchs vor allem durch den Zuzug von Menschen dieser Nationalität. Nach 1989 erhielt die deutsche Minderheit starke Unterstützung von den nach Deutschland ausgesiedelten Karpatendeutschen. Die Zahl der Einwohner, die sich zur deutschen Nationalität oder zur deutschen Muttersprache bekannten, begann wieder zu wachsen. Gegenwärtig liegt keine nationale Minderheit in Medzev bei über 20 % Bevölkerungsanteil. Dies ist das nach slowakischem Recht gültige Minimum, ab dem mehrsprachige Beschriftungen eingeführt werden, die Minderheitssprache Amtssprache wird, Schulen in dieser Sprache eingerichtet werden können usw. Im Interview erklärten Mitarbeiter der Stadtverwaltung allerdings wiederholt, sich bereits darauf eingestellt zu haben, im amtlichen Sprachgebrauch neben Slowakisch auch Deutsch und Ungarisch zu verwenden. In der Tat konnte ich bei meinen Aufenthalten in Medzev beobachten, wie die Beamten mit Gemeindemitgliedern in allen drei Sprachen kommunizierten; das Romani wurde bei diesen Gelegenheiten jedoch nicht verwendet. 7. Feldforschung in Medzev Meine Kollegin Michaela Ferencová und ich absolvierten zwischen Februar und Juli 2009 in Medzev drei Feldforschungsaufenthalte von insgesamt 26 Tagen.91 Wir führten halbstrukturierte Interviews, d.h. wir stellten den Respondenten jeweils dieselben Fragen, ließen sie aber frei erzählen. Unsere Fragen bezogen sich auf drei Bereiche. Ersten ging es darum, was über die Gestalt des Todes in der Vergangenheit in Medzev erzählt wurde und gegenwärtig erzählt wird und 89 Falls nicht anders angegeben, stammen alle Angaben aus unserer Feldforschung. Für die Zeit des Sozialismus war bezeichnend, dass sich die landeskundliche Literatur in der Slowakei nicht zur nationalen Zusammensetzung der Bevölkerung in den Gemeinden äußerte; z.B. Medzev, 1977. Über die Zwangsaussiedlung der Bevölkerung von Medzev nach 1945 schrieben vor allem Autoren in der Bundesrepublik Deutschland. Demnach waren mehr als 1000 Menschen aus dieser Gemeinde davon betroffen, also fast die Hälfte der Einwohnerschaft; KAUNER, Metzenseifen, 1986, 10f. 91 Bei unserer Kontaktaufnahme in Medzev waren Bürgermeisterin Valéria Flachbarthová, der Leiter der Stadtverwaltung Ondrej Gedeon und die anderen Mitarbeiter der Stadtverwaltung sehr behilflich. Mit Kontakten zur deutschsprachigen Gruppe half auch die Vorsitzende des KDV, Vilma Bröstlová. Wir danken allen genannten und ungenannten Einwohnern von Medzev für ihre Hilfe sowie den Respondenten für die Interviews. 90 213 welche Erzählungen die Respondenten in slowakischer oder deutscher Sprache kennen. Diese Erzählungen haben wir im weiteren Kontext des Erzählens vom Tod und von Verstorbenen untersucht. Zweitens ging es um die jeweilige individuelle Vorstellung der Respondenten und um die kulturelle Repräsentation des Todes innerhalb ihrer jeweiligen Sprachgruppe. Drittens wollten wir wissen, ob unseren Respondenten etwas über die Gestalt des Todes in einer anderen Sprachgruppe bekannt sei. Michaela Ferencová suchte in Gesprächen mit vier Respondentinnen auch nach Erzählungen in ungarischer Sprache. Die Bevölkerung mit ungarischer Muttersprache stellt in Medzev jedoch eine sehr kleine Minderheit dar, und das gewonnene Material ist sehr begrenzt. Wir führten Gespräche mit individuellen Respondenten wie auch Gruppeninterviews.92 Wegen der fehlenden Übereinstimmung zwischen der subjektiven Zuordnung zu einer Nationalität und einer Muttersprache, die sich wiederum nicht mit der Selbstidentifikation der Mitglieder einer ethnischen Gruppe decken müssen, fragten wir die Respondenten nicht nach ihrer Nationalität, sondern nur nach ihrer Muttersprache und, soweit möglich, nach ihrer Selbstidentifikation z.B. als Mantaken oder Slowaken. Ich schreibe deshalb im Folgenden über die Einwohner als Vertreter von Sprachgruppen. Wir bemühten uns, die Interviews in der jeweiligen Muttersprache des Respondenten zu führen.93 In einigen Fällen gingen jedoch die Respondenten mit deutscher bzw. mantakischer Muttersprache selbst ins Slowakische über, oder das Gespräch verlief abwechselnd in mantakischer, hochdeutscher und slowakischer Sprache. Wir haben bislang mit elf slowakisch sprechenden Respondenten Interviews geführt.94 Dieses Sample umfasst sechs Respondenten, die in anderen Gemeinden der Ost- oder Mittelslowakei mit überwiegend oder ausschließlich slowakischer Bevölkerung aufgewachsen waren. Des weiteren enthält das Sample fünf Respondenten, die selbst in Medzev geboren, deren Eltern jedoch nach 1945 zugezogen sind. Ferner haben wir Interviews mit 27 Respondenten geführt, die in Medzev geboren sind und dort leben, und deren Muttersprache Mantakisch ist.95 Die bisherigen Feldforschungen betrachte ich als erste Sondierung. Ich bin mir auch der quantitativen Disproportion hinsichtlich der Anzahl der Respondenten 92 Bislang konnten insgesamt 19 individuelle Interviews, 17 Interviews mit je zwei Respondenten sowie 5 Gruppeninterviews durchgeführt werden. An einem Gruppeninterview waren drei Arbeitskollegen beteiligt, an drei Gruppeninterviews je vier Verwandte. Das größte Gruppeninterview war das erste Treffen mit dem 15 Mitgliedern des KDV im Februar 2009. Von dieser Gruppe beteiligten sich sieben Respondenten, die übrigen Anwesenden brachten Zustimmung oder Einwände zu den Antworten zum Ausdruck. 93 Ich führte die Interviews mit Mantaken und Slowaken, Michaela Ferencová mit den ungarischen Respondenten. 94 Darunter war ein Mann von über 60 Jahren. Fünf Männer und drei Frauen waren im Alter zwischen 40 und 60 Jahren. Schließlich waren noch zwei Männer der jüngeren Generation im Alter zwischen 20 und 40 Jahren vertreten. 95 Davon gehörten drei Männer und acht Frauen der ältesten Generation an. Aus der mittleren Generation führten wir mit fünf Männern und drei Frauen Interviews, aus der jüngeren Generation mit einem Mann und sechs Frauen. Eine Respondentin gehörte mit unter 20 Jahren zur jüngsten Generation. 214 im Verhältnis zu ihren Sprachgruppen bewusst. Eine qualitative ethnographische Untersuchung setzt jedoch nicht vor allem auf quantitative Indikatoren. Es kommt vielmehr darauf an, von welcher Qualität unsere Gespräche in beiden Gruppen waren. In der Gruppe der deutschsprachigen Respondenten gelangen uns 14 komplexe Gespräche, d.h. die Gespräche umfassten alle drei Fragenbereiche, die in einigen Fällen durch wiederholte Interviews abgedeckt wurden. Außerdem führten wir fünf Teilgespräche, die nur einen oder zwei Fragenbereiche umfassten, sowie acht kurze Gespräche, die nicht einmal einen vollständigen Bereich abdeckten. In der slowakischen Sprachgruppe waren dagegen alle Gespräche komplex, d.h. wir nahmen mit den Respondenten alle drei Fragenbereiche durch. Deshalb können wir das in den beiden Gruppen gewonnene Material als relativ ausgewogen betrachten. Viele Respondenten empfanden die Thematik als sensibel, eher als privat und nicht für die Öffentlichkeit geeignet. Deshalb lehnten einige Respondenten das Interview insgesamt oder die Antwort auf einige unserer Fragen ab. 8. Die Stadt als mehrsprachiger Raum Trotz der demographischen Verschiebungen besonders nach 1939 ist Medzev bis in die Gegenwart ein mehrsprachiger Raum geblieben. Im öffentlichen Raum wird vor allem Slowakisch oder der örtliche ostslowakische Dialekt verwendet. Daneben kann man Mantakisch, als Gruppensprache der Mantaken, ebenso auf den Straßen, in den Läden oder in den Kneipen hören. Ein Fremder wird dagegen in Medzev in der Regel auf slowakisch angesprochen. Die Stellung der deutschen Sprachgruppe als wichtigster Minderheit in der Gemeinde spiegelt sich zum Beispiel im Gebrauch des Deutschen im Gottesdienst wider. Der derzeitige römisch-katholische Priester Miroslav Porvazník, dessen Muttersprache Slowakisch ist, amtiert seit 1993 in der Pfarrei von Medzev96 und hält seit 2000 nach Übereinkunft mit dem KDV Messen in deutscher Sprache. Dabei dient das Deutsche jedoch nur als Liturgiesprache, während die Predigt auf Slowakisch gehalten wird. Meinen Beobachtungen zufolge nehmen 100 bis 120 Personen an den deutschsprachigen Sonntagsgottesdiensten teil, darunter etwa zehn Familien und einige ältere Frauen, offenbar mit ihren Enkeln. Meiner Schätzung nach waren unter den Gottesdienstbesuchern etwa 15 Kinder unter fünfzehn Jahren und etwa 15 Heranwachsende zwischen fünfzehn und zwanzig Jahren. Der Kirchenchor besteht im Kern aus Mitgliedern des KDV. Der slowakische Gottesdienst wurde am selben Sonntag im Februar 2009 von etwa 160 bis 180 Gläubigen besucht. Der Prozentsatz an Familien, Kindern und Jugendlichen war meiner Beobachtung nach höher als beim deutschen Gottesdienst. Auf der Empore sang der Frauenchor „Cecilky“ (Die Cäcilien), in 96 RUŽBARSKÁ, Náš pán farár, 2009, 5. 215 welchem ich mehr jüngere Frauen sehen konnte als im deutschen Chor. Wenn man berücksichtigt, dass an slowakischen Gottesdiensten nicht nur slowakische Bewohner, sondern auch Roma und Ungarn teilnehmen, ist die Zahl der Gläubigen bei den deutschen Gottesdiensten recht hoch. Interessante Einblicke in den mehrsprachigen Raum gewährte das Stadtfest, das als „Dni mesta Medzev“ (Medzever Stadttage) und Bodwataltreffen des KDV am Wochenende vom 11. und 12. Juli 2009 stattfand. Bei der Eröffnungsfeier am Samstag hielt die Bürgermeisterin von Medzev ihre Ansprache sowohl auf slowakisch und auf deutsch. Sie sprach vom deutschen Kulturerbe, welches die Geschichte und Gegenwart der Stadt mitgestaltet habe. Nach ihr sprach der Vorsitzende des 11. Distrikts des KDV, Peter Sorge. Er begann seine Ansprache auf deutsch, im zweiten Teil seiner Rede ging er ins Slowakische über und sprach über die Tätigkeit des KDV. István Zachariaš, Vorsitzender des selbstverwalteten Košicer Landkreises und zugleich Bürgermeister der Nachbarstadt Moldava nad Bodvou, sprach die Anwesenden zunächst auf slowakisch, ungarisch und deutsch an. Seine anschließende Rede trug er auf slowakisch und ungarisch vor, wobei er den ethnischen Reichtum der Region hervorhob, was ein besonderes Geschenk und von großem Wert sei. Es folgte ein Musik- und Tanzprogramm, das von zwei Moderatorinnen in slowakischer und deutscher Sprache präsentiert wurde. Während des Programmes wechselten sich slowakische, tschechische, deutsche und ungarische Chöre sowie slowakische und deutsche Tanzensembles ab. Die Medzever Stadttage endeten am Sonntag mit gemeinsamen deutschen und slowakischen Festgottesdiensten in der Ortskirche. Diese wurden von drei Geistlichen abgehalten, nämlich dem Ortspriester Porvazník, dem gebürtigen Medzever und gegenwärtig als in Nürnberg amtierenden Priester Arpád Bernáth und von Dekan Jozef Sokolský, Priester von Vyšný Medzev. Slowakische und deutsche Kirchenlieder wechselten einander ab. Porvazník trug die Predigt auf slowakisch vor, anschließend hielt Bernáth eine Ansprache auf mantakisch. Unsere Feldforschung zum Sprachgebrauch im öffentlichen Raum zeigt, dass sich Medzev in erster Linie als slowakisch-deutscher Ort präsentiert. Im Gesamtbild fehlt jedoch das Ungarische nicht, das zwar in geringerem Umfang, jedoch auch in der Öffentlichkeit im Gebrauch ist. Diese drei Sprachen, nicht jedoch das Romani werden von den politischen Akteuren u.a. gezielt dazu eingesetzt, den ethnischen Reichtum von Region und Stadt hervorzuheben. 9. Die kulturelle Repräsentation der Gestalt des Todes in Medzev Ziel der Untersuchung in der Marktgemeinde war es herauszufinden, ob eine kulturelle Repräsentation der Gestalt des Todes existiert – das heißt eine antropomorphe oder zoomorphe Personifikation in der slowakischsprachigen und in der deutschsprachigen Gruppe, vielleicht sogar eine gemeinsame Repräsentation. Zugleich untersuchten wir, welche individuelle Repräsentation die Respondenten vom Tod haben und ob sie dessen Gestalt in anderssprachigen 216 Gruppen kennen oder nicht. Deshalb suchten wir in Medzev nach Erzählungen über den Tod, deren Verbreitung auf eine Repräsentation in beiden Gruppen hinweisen könnte. Die Personifizierungen des Tods sind im mündlichen Erzählrepertoire meist Bestandteil eines umfassenderen Komplexes des Erzählens vom Tod und von Verstorbenen. Zu diesem Komplex gehören Themen wie z.B. Todesahnungen oder -ankündigungen sowie ungewöhnliche Todesumstände, merkwürdige Ereignisse bei der Beerdigung, Erscheinungen von Verstorbenen, Kontakte von Toten mit Lebenden im wachen Zustand oder im Schlaf.97 Solche Themen erscheinen auch in Märchen, häufiger noch in Sagen, sowie in Erlebnisund Ereignisberichten. Des weiteren suchten wir in unseren Interviews nach der kulturellen sowie nach der individuellen Repräsentation der Gestalt des Todes. 10. Die Personifikation des Todes in der slowakischsprachigen Gruppe Bei den slowakischsprachigen Respondenten ist ein reiches Repertoire an Erzählungen sowie eine interessante Repräsentation des Todes zu finden. Bis auf eine Respondentin kannten alle Befragten Erlebnis- und Ereignisberichte über den Tod, wobei am häufigsten Erzählungen über Todesvorzeichen anzutreffen sind. Bei einer nahestehenden, im Sterben liegenden Person geschieht es, dass etwas kracht, Gegenstände herunterfallen, Uhren stehenbleiben, ein schwarzer Vogel (ein Kauz oder Rabe) oder ein heller Vogel (eine Taube) herbeifliegt, das Telefon klingelt, doch niemand sich meldet. Auch seltsames Verhalten von Tieren kündigt den Tod an: Der Hund liegt stets bei dem Kranken, oder er läuft herum, er winselt zum Zeitpunkt des Todes, er scharrt Löcher, kurz darauf stirbt jemand. Ein Todesfall in der Familie wird durch Träume angekündigt, wenn z.B. jemand von einer weißen Braut oder von einem schwarzen Pferd träumt. Wenn ein Mensch in der Familie oder in der Gemeinde stirbt, folgt gewöhnlich gleich eine Serie von Sterbefällen. Nach dem Tod kommen die Verstorbenen und verabschieden sich von den Hinterbliebenen, sie erscheinen ihnen im Traum oder im Wachen. Nahezu allen Respondenten ist das Geschehen von der Bestrafung des jungen Burschen bekannt, der in der Nacht auf den Friedhof geht, um seinen Mut zu beweisen. Er soll ein Kreuz in die Grabeserde stecken, dabei bleibt er jedoch mit der Jacke hängen, und vor Angst wird er grau und verstummt. Dieses Geschehnis siedeln die Respondenten in Medzev selbst an. Obwohl die Erzählungen über Todesfälle und Verstorbene sehr zahlreich sind, kennen lediglich vier Respondenten Erlebnisberichte über das Erscheinen des Todes, und diese sind nicht aus erster Hand. Diese Respondenten haben alle ihre Kindheit in slowakischen Gemeinden verbracht. Ihre Narrative imaginieren den Tod meistens als Frau, mit oder ohne Sense, manchmal mit dürren, langen 97 Zu den Themen siehe zum Beispiel den gesamten deutschen Sagenkatalog zu Tod und Toten MÜLLER/ RÖHRICH, Tod, 1967, 352‒387. 217 Fingern. Die Tödin sitzt auf einem Birnbaum, von dort aus springt sie auf die Leute herab. Sie erscheint als vager Schatten ganz in Weiß oder als in schwarzes Tuch gehülltes Knochengerippe. Zwei Respondenten kennen die Geschichte von dem Mann, der zur Strafe die Tödin auf den Schultern tragen muss, oder von dem Kutscher, zu dem sich die Tödin auf den Wagen setzt und ihn zwingt, sie herumzufahren. Außerdem kennen die Respondenten Geschichten, in denen sich anstelle der Tödin eine verstorbene Person zeigt, die einen weiteren Todesfall ankündigt oder den Sterbenden mit sich nimmt. Von den Märchen kennen die Respondenten überwiegend das sehr bekannte „Gevatterin Tödin“, entweder aus einer Druckfassung, meist der DobšinskýSammlung, oder aber aus Juraj Jakubiskos (geb. 1938) Film „Perinbaba“ (Frau Holle) von 1985.98 Keiner der Respondenten hat dieses Märchen in mündlicher Überlieferung gehört oder kann es nacherzählen. Die übrigen Märchen mit der Tödin kennen sie nicht. Drei Respondenten kennen zwar auch ein Märchen bzw. eine lokale Sage über Medzev („Der Drachensumpf“), doch sie wissen nichts von einer Gestalt des Todes darin. Gefragt zu in ihrer Sprachgruppe verbreiteten Todespersonifizierungen, antworten diejenigen Respondenten, die ihre Jugend in slowakischen Gemeinden verbracht haben, dass man bei ihnen vom Tod als einer Frau mit Sense, mit langen Fingern sowie von einem in Schwarz gehüllten Knochengerippe gesprochen habe, oder vom Tod als weißen Schatten, der jedoch ein verstorbener Mensch sei. Nur ein Respondent kann diese Frage nicht beantworten. Niemand kennt aus dem jeweiligen Umfeld den Tod in Gestalt eines Tieres. Auf der anderen Seite sagen die in Medzev geborenen slowakischen Respondenten meist, dass sie aus ihrer Kindheit keine Gestalt des Todes kennen, sie wissen nicht, ob es in Medzev eine solche Vorstellung gegeben habe. Alle slowakischen Respondenten stimmen darin überein, dass ihnen keine Vorstellung von der Gestalt des Todes im heutigen Medzev bekannt sei. Die Respondenten können nichts zu der Frage sagen, welche Vorstellung von der Gestalt des Todes in der deutsch- oder ungarischsprachigen Gruppe existiere. Obwohl mehrere von ihnen Mantakisch und einige Ungarisch beherrschen, haben sie sich nicht damit beschäftigt. Eine breite Skala von Todespersonifizierungen erbringen die Antworten auf die Frage, wie sich der Respondent selbst den Tod vorstelle. Bei den individuellen Vorstellungen erscheinen bei jeweils drei Respondenten Personifizierungen des Todes als weibliches Wesen, gegebenenfalls mit Sense, wie als männliches Wesen mit Sense. Zwei Respondenten stellen sich den Tod allerdings auch als Verstorbenen oder als Geist vor. Die übrigen drei Respondenten haben keine eigene Vorstellung. 98 Perinbaba, Regie Juraj Jakubisko, Märchenfilm, Tschechoslowakei ‒ BRD 1985. In der BRD lief der Film unter dem Titel „Frau Holle“. Seither wurde der Film wiederholt in Kino und TV gezeigt, oft zu Weihnachten. In der Slowakei ist der Film allgemein bekannt. Der Tod ist darin weiblich. 218 11. Die Personifikation des Todes in der deutschsprachigen Gruppe Mehrere der deutschsprachigen Respondenten aller Generationen erwähnen bei den ersten Befragungen, dass man über den Tod weder in der Familien noch in der Öffentlichkeit viel gesprochen habe. Das Thema ist gewissermaßen ein Tabu. Andererseits zeigt die Untersuchung, dass in der Vergangenheit sehr wohl von Tod und Verstorbenen erzählt wurde und sich das bis in die Gegenwart fortsetzt. Diese Art von Erzählungen werden jedoch nicht überall und jedem erzählt. Denn es sind oft intime Erlebnis- und Ereignisberichte, die nur unter Verwandten, guten Bekannten oder Freunden ausgetauscht werden. Das setzt voraus, dass der Erzähler Vertrauen zu den Zuhörern hat, dass er weiß, dass auch ein Bericht von einem ungewöhnlichen Ereignis als glaubwürdig gelten wird. Unsere Untersuchungen lassen erkennen, dass die Todesthematik in Medzev bereits vor Mitte des 20. Jahrhunderts aus der öffentlichen in die Privatsphäre verschoben wurde und sich dieser Prozess in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts fortsetzte. Erzählungen über das Sterben und Verstorbene sind ein produktives Element im Repertoire der Respondenten aller Altersgruppen. 23 von insgesamt 27 Respondenten haben ungewöhnliche Erlebnisse beim Tod von Verwandten und Bekannten gehabt oder können von solchen Ereignissen erzählen, und sie halten sie für real. Dabei bilden Todesvoraussagen die umfangreichste Gruppe, wenn dem Respondenten selbst oder einem Gewährsmann ein nahestehender Mensch erscheint und er kurz darauf erfährt, dass dieser Mensch gestorben ist. Einen bevorstehenden Tod kann auch ein schwarzer Vogel, ein Kauz oder ein Hund ankündigen, der merkwürdig aufjault oder eine Grube scharrt, weiters ein zuknallendes Fenster, ein Gegenstand, der zu Boden fällt, eine stehenbleibende Uhr, ein klingelndes Telefon usw. Einige Erzählungen dieses Bereiches finden sich sowohl bei slowakischen als auch bei deutschen Respondenten. Manchmal handelt es sich sogar um dieselben Erlebnis- und Ereignisberichte. Die zweithäufigste Gruppe bildet das Erscheinen eines Verstorbenen kurz nach seinem Tod, zum Jahrestag des Todes oder zu Allerseelen. Der Tote kommt und bittet um etwas, oder er bedankt sich, er bittet darum, für ihn zu beten, macht eine Vorausage u.a.m. Im diesem Repertoire an Erzählungen gibt es sehr wenige Erlebnis- und Ereignisberichte über das Erscheinen des personifizierten Todes. Lediglich ein Respondent der mittleren Generation will erlebt haben, dass ihm der Tod als unklare Gestalt erschien. Drei Respondentinnen geben Erzählungen zum personifizierten Tod wieder, die sie von älteren Verwandten kennen. Darin tanzen beispielsweise mehrere Tode auf dem Friedhof; zu Zeiten schwerer Krankheiten läuft der Tod mit seiner Frau als Paar umher; und wir finden hier auch Beschreibungen des Tods als schwarze männliche Gestalt mit einer Sense oder als Skelett. Einer Respondentin hat ihre Großmutter erzählt, wie eine alte Verwandte in der Familie starb. Die Sterbende sieht einen fremden Mann kommen, der sie 219 holt und in einer unbekannten Sprache redet. Die Sterbende sagt deshalb zu den Verwandten, die bei ihr wachen: „Der Tod is’ a Slowak.“ Die meisten Respondenten erzählen jedoch, dass nicht der Bruder Tod selbst kommt, um den Sterbenden zu holen, sondern eher ein verstorbener Verwandter, ein Geist. Z.B. sagt eine kranke Mutter zu ihren Kindern, dass ihr Ehemann sie schon holen komme. Den Respondenten ist keine weibliche Gestalt oder die Vorstellung einer Tödin aus mantakischen Erzählungen bekannt. Vier Respondenten aus Medzev können das in der Slowakei und in Deutschland bekannteste Märchen über den Tod nacherzählen, „Der Gevatter Tod“ bzw. „Die Gevatterin Tödin“. Jedoch nur eine Respondentin kennt dieses Märchen von ihrer Großmutter, die es ihr auf mantakisch erzählt hat, nicht ohne die Gestalt des Todes zu beschreiben. Die drei übrigen Respondenten kennen das Märchen aus slowakischen Büchern und aus dem bekannten Film von Juraj Jakubisko, und sie halten es für ein slowakisches Märchen. Eine Respondentin der ältesten Generation erzählt das Märchen „Der Ritter und der Tod“, das sie von ihrem Vater auf mantakisch gehört hat, sowie das Märchen „Der Tod und das Großmütterchen“ (AaTh 1118), das aus ungarischen Aufzeichnungen bekannt ist.99 Ihre Eltern haben ihr dieses Märchen allerdings auf mantakisch erzählt, doch bei der Wiedergabe sagt sie das Schlüsselwort „morgen“ (holnap) auf ungarisch. Den Inhalt des Märchens „Der Ritter und der Tod“ kennt auch eine Respondentin der jüngsten Generation von ihrer Großmutter. Ein weiterer Respondent der ältesten Generation kennt den Inhalt des Märchens „Der Tod und das Großmütterchen“. Die Gestalt des Todes erscheint als Nebenfigur in der lokalen deutschen Sage, die ich im vorigen Abschnitt beschrieben habe. Die lokale Tradition will, dass sich an der Stelle des heutigen Marktplatzes ein Sumpf befand, in dem ein Drachen lebte, der die Bewohner der Stadt auffraß. Weiter stimmt der Plot der Sage mit dem Märchen „Der Drachensumpf“ überein. Peter Gallus (1868‒1927), ein aus Medzev stammender katholischer Priester und Dichter, verfasste auf mantakisch in Versform die Sage vom Drachen und der alten Witwe; diesen Text bezogen spätere Autoren in heimatkundliche Arbeiten ein.100 Gallus’ Gedicht kennen mit zwei Ausnahmen alle befragten Respondenten, die Sage lernen die Kinder in der Schule auf (Hoch-) Deutsch, doch die Lehrerin 99 „Gyere holnap.“ A halál és a vénasszony („Komm morgen.“ Der Tod und das Großmütterchen) in: Magyar népmesekatalógus, Bd. 5, 1982, 337‒339. Für die Slowakei auf ungarisch in GÉCZI, Ungi népmesek, 1994, Nr. 87, 242. Der Tod kommt, um eine alte Frau zu holen, doch die bittet ihn, erst morgen zu kommen. Der Tod schreibt an die Tür „morgen“ (holnap). Als der Tod zurückkommt, zeigt ihm die Frau immer diese Aufschrift. So kommt der Tod eine ganze Woche lang umsonst, schließlich jedoch wischt er die Schrift von der Tür ab und sagt, dass er am nächsten Tag kommen und die Frau wirklich holen wird. Aus lauter Angst versteckt sich die Frau in einem Honigfass und dann in einem Federbett. Gerade als sich die Frau aus den Federn herauswühlt, kommt der Tod, um sie zu holen, und er erschrickt so sehr vor der Frau, die ganz mit Federn eingedeckt ist, dass er flieht und die Frau am Leben lässt. 100 Z.B. E. GEDEON, Geschichte, o.J., 129‒132. ‒ KAUNER, Metzenseifen, 1986, 147‒151. 220 rezitiert ihnen das Gedicht auch auf mantakisch. Der Vers über den Tod lautet wie folgt: An Umt, ta rechteg kömmta Pruda Tud met seina Sengst: Du oame, alte Bitbe, pald piste sein dalöst. Eines Abends kommt er richtig der Bruder Tod mit seiner Sense: Du arme, alte Witwe, bald wirst Du erlöst sein.101 Mehrere Respondenten zitieren die ganze Strophe oder zumindest den Vers „Pruda Tud met seina Sengst“, als wir sie nach der Gestalt des Todes fragen. Auf die Frage dagegen, ob in Medzev bei den Mantaken eine Personifikation des Todes geläufig war, kann nur die Hälfte der Respondenten antworten. Demnach war der Tod ein Mann, ein Sensenmann, ein Knochenmann, eine schwarz verhüllte Gestalt oder ein Mann mit einer schwarzen Kutte über dem kahlen Kopf und mit gefletschten Zähnen. Den Tod in Gestalt eines Tieres konnten wir bei den Mantaken nicht finden. Die andere Hälfte der Respondenten meint, in Medzev sei eine Personifikation des Todes nicht bekannt, beim Sterben eines Menschen erscheine ein Geist, dies sei meist ein nahestehender Verstorbener. Die Frage, ob der Tod bei den Mantaken als Frau personifiziert sein könne, überrascht einige Respondenten, und dies auch dann, wenn wir das Gespräch auf Slowakisch führen, der Tod also ein weibliches Genus hat. Es erscheint ihnen merkwürdig, sich den Tod als weibliche Gestalt vorzustellen. Jedoch erhalten wir ganz andere Antworten auf die Frage, wie sich unsere Respondenten persönlich die Gestalt des Todes vorstellen. Bei dieser sensiblen Frage erhalten wir von vielen Respondenten keine Antwort, nur elf beantworten die Frage. Sechs Respondenten bleiben bei der Vorstellung von einem männlichen Tod. Drei sagen, dass ihrer Meinung nach der Tod sowohl eine Frau als auch ein Mann sein könne, nämlich eine geschlechtlich unbestimmte, verhüllte Person. Zwei Respondenten geben an, dass sie sich den Tod als Frau vorstellen, und zwar als liebenswürdige alte Frau oder als alte Frau ganz in Schwarz. Niemand spricht jedoch von einer individuellen Vorstellung des Todes als Frau in Weiß. Es ist sicherlich wenig überraschend, dass sich die mantakischen Respondenten des Unterschiedes zwischen dem Wort „Tod“ im Deutschen und im Slowakischen bewusst sind, zumal alle auch die slowakische Sprache beherrschen, die meisten sogar fließend. Mehrere Respondenten der mittleren und der jüngsten Generation kennen die Gestalt des Todes aus slowakischen Märchen, und zwar aufgrund ihrer slowakischen Schulbildung,102 vom Lesen der Märchensammmlung Dobšinskýs und aus Jakubiskos Film. Die Gestalt des Todes fällt jedoch nicht unter diejenigen Kategorien von Repräsentationen, die in ihren 101 Ebd., 149. 1944 wurde die deutschsprachige Schule in der gesamten Slowakei abgeschafft. Ab 1945 fand der Grundschulunterricht nur noch auf slowakisch statt. Deutsch wurde erst seit Mitte der 1950er Jahre an der Grundschule in freiwilligen Sprachzirkeln für Schüler der oberen Klassen unterrichtet. RICHTER-KOVARIK, Kultúra, 2003, 328‒330. 102 221 Augen Unterschiede zwischen Mantaken und anderen Gruppen kennzeichnen, d.h. sie betrachten die Gestalt des Todes nicht als gruppendifferenzierendes Merkmal. 12. Die kulturelle Repräsentation des Todes bei Slowaken und Mantaken in Medzev In der Zusammenschau des slowakisch- und deutschsprachigen Materials von Medzev ist festzuhalten, dass die gesammelten Narrationen zur Gestalt des Todes in Form von Märchen, Sagen, Ereignis- und Erlebnisberichten insgesamt nicht sehr umfangreich sind. Aus jüngeren Feldforschungen ist zu schließen, dass dieser Befund eher die Regel als die Ausnahme ist. Es darf nicht vergessen werden, dass es in Medzev in der Mitte des 20. Jahrhunderts einen dramatischen Bevölkerungswechsel gab, der nicht ohne Folgen für die Kontinuität der narrativen Überlieferung und der Repräsentation der Personifizierungen des Todes geblieben sein kann. Ebenso wechselte im Laufe des 20. Jahrhunderts mehrfach die Staats- und Bildungssprache, und auch der Zugang zu Literatur in deutscher, ungarischer oder slowakischer Sprache veränderte sich. Nicht zuletzt erlebt wie alle urbanen Räume, so auch Medzev die bereits vor Mitte des 20. Jahrhunderts einsetzende Verschiebung aller mit dem Tod in Zusammenhang stehenden Phänomene aus der öffentlichen in die Privatsphäre. Von den slowakischen Respondenten können sich vor allem diejenigen über die Gestalt des Todes äußern, die in slowakischen Gemeinden, d.h. überwiegend auf dem Lande aufgewachsen sind. Bei ihnen tritt der Tod als Frau in Erscheinung. Im Gegensatz dazu können aus Medzev selbst stammende slowakische Respondenten der mittleren und jüngeren Generation nichts davon berichten, wie in ihrem Umfeld die Gestalt des Todes imaginiert wird, obwohl sie durchaus Erzählungen aus dem Themenkreis Sterben und Verstorbene wiederzugeben in der Lage sind. Bei den Märchen verhält sich das anders; denn die Respondenten kennen mindestens das Märchen „Die Gevatterin Tödin“ aus der Schule, aus Büchern oder anderen Medien, und zwar unabhängig von ihrem Herkunftsort. Zu einem anderen Ergebnis kommt die bei den mantakischen Respondenten in Medzev durchgeführte Untersuchung, von denen nur eine Minderheit einige Erlebnisberichte kennt, in denen der Tod als Mann oder unbestimmte weiße Person auftritt: Andererseits kennen die Befragten einen relativ umfangreichen Bestand an Erzählungen über Sterbefälle und Tote. Die Mantaken von Medzev verfügen demnach nur über wenige Kenntnisse von Narrationen, in denen der Tod als Mann in Erscheinung tritt. Das ist vermutlich zum einen auf den schon erwähnten Bevölkerungswechsel zurückzuführen, der womöglich eine starke Diskontinutität der narrativen Überlieferung verursacht hat, aber auch auf die Verschiebung der Todesthematik aus der öffentlichen in die Privatsphäre. Dies ist eine Begleiterscheinung von Modernisierungsprozessen, die in Stadt und Dorf in 222 unterschiedlichem Tempo verlaufen. Wie unsere Untersuchung erweist, gab es auch bei der deutschen Bevölkerung von Medzev Erzählungen über einen personifizierten Tod, doch die Kenntnis davon geht verloren. Wenn Respondenten der jüngsten Generation in der Lage sind, solche Geschichten wiederzugeben, hat in diesen Fällen die narrative Überlieferung innerhalb der Familie, also in der Privatsphäre stattgefunden. Die Situation stellt sich anders dar, wenn wir die Gestalt des Todes als Repräsentation verfolgen, wie sie die Respondenten aus ihrer jeweiligen Sprachgruppe kennen sollten. Slowakischen Respondenten, die nicht in Medzev aufwuchsen, ist die Vorstellung vom Tod als einer Frau, seltener als Knochengerippe oder weißer Gestalt (d.h. als verstorbener Mensch) in ihrer Gruppe wohlbekannt. Wenn sie aus Dörfern stammen, in denen es keinen starken Bevölkerungwechsel gab, können sie sich auf eine Kontinuität der Vorstellungen im dortigen Sozium stützen. In Medzev geborene slowakische Respondenten dagegen behaupten, dass es dort solche Vorstellungen nicht gegeben habe. Die Zuwanderung von Slowaken aus anderen Gebieten und die nur zögerliche Entstehung von Sozialkontakten mit der Medzever Bevölkerung wie auch Sprachbarrieren haben es den neuen Bewohnern offenbar erschwert, lokale Repräsentationen des Todes, sei es als der Tod oder als Geist, kennenzulernen. Den Respondenten der deutschsprachigen Gruppe in Medzev ist entweder eine personifizierte Gestalt des Todes nur als Mann, als „der Tod“ bekannt, oder sie sprechen von einem Geist, der einen verstorbenen Mensch personifiziert, in einigen wenigen Fällen schließlich kennen sie überhaupt keine Gruppenrepräsentation des Todes in Medzev. Besonders interessant sind die individuellen Vorstellungen der Respondenten von der Gestalt des Todes, denn sowohl die slowakischen als auch die mantakischen Respondenten imaginieren gleichermaßen männliche und weibliche Wesen. Jedoch überwiegt bei den mantakischen Respondenten das männliche Bild vom Tod. 13. Schlussbemerkung Die narrative Personifikation des Todes und seine kulturelle Repräsentation werden von den slowakisch- oder deutschsprachigen Bewohnern der Slowakei nicht als gruppenspezifische oder gruppendifferenzierende Erscheinungen wahrgenommen. Auf dieser Grundlage ließe sich also auch kein Bild einer WirGruppe versus „die anderen“ konstruieren. Deshalb finde ich die Untersuchung dieser Phänomene und ihrer möglichen Interferenzen aufschlussreich, denn sie befasst sich mit Prozessen der Annäherung, des Sich-Voneinander-Entfernens und der Überlappung, während sie insbesondere feststellt, dass kulturelle Phänomene nicht miteinander interagieren, die keine gruppenidentifizierende Funktion besitzen. 223 Die Todesvorstellungen sind offenkundig primär an die jeweilige Sprache gebunden, genauer an das Genus des Wortes „Tod“, und sie werden v.a. narrativ innerhalb der jeweiligen Sprachgemeinschaft verbreitet. Obwohl im Slowakischen wie in allen slawischen Sprachen der Tod weiblichen Geschlechts und die lange überdauernde Todesvorstellung bei den Slowaken wie generell den Slawen ein weibliches Wesen in Weiß ist, finden wir dennoch in Erzählsammlungen des 19. und 20. Jahrhunderts Beispiele dafür, dass der Tod als Mann, als Knochengerippe mit oder ohne Sense, als Tier oder als geschlechtlich unbestimmtes Wesen imaginiert wird. Unsere Untersuchung konnte keine konkreten Hinweise darauf ermitteln, ob die deutschen Erzählungen aus der Slowakei in dieser Hinsicht die slowakischen beeinflusst haben. Andererseits lässt die in den deutschen Erzählungen aus unserem Betrachtungsgebiet außerordentlich verbreitete Tödin schließen, dass es in dieser Richtung Interferenzen von Erzählmotiven sowie höchstwahrscheinlich auch Interferenzen von Todesvorstellungen zwischen der deutschen Minderheit und der slowakischen Mehrheit gibt. Bei beiden Sprachgruppen ist unbedingt der Einfluss der ungarischen Literatur und mündlichen Tradition zu berücksichtigen. Denn die ungarische Sprache und Kultur waren als Staatssprache und -kultur vor 1918 auf dem Weg über die Schul-, Sprach- und Kulturpolitik in den slowakischen Siedlungsgebieten sehr dominant. Sowohl in slowakischen als auch in deutschen Erzählungen vom Tod, vor allem in Märchen, sind Erzählmotive zu finden, die die jeweilige Gruppe mit der ungarischen Erzähltradition teilt. Bei den Slowaken treten Interferenzen mit dem ungarischsprachigen Kreis von Todesvorstellungen dennoch weniger in Erscheinung. Obwohl z.B. einige slowakische Märchen in unübersehbar enger Verbindung mit ungarischen Erzähltypen stehen, bleibt auch in diesen Fällen die Gestalt des Todes eine Frau. In deutschen Narrationen dagegen konnten ungarische Märchen und Sagen die von Deutschen und Magyaren geteilte Vorstellung des Tods als Mann bestärken. Unsere Fallstudie zu Medzev belegt, dass eine kulturelle Repräsentation, in unserem Fall also spezifische Personifikationen des Todes, an die kontinuierliche Überlieferung innerhalb der lokalen Gemeinschaft im Rahmen sozialer Netzwerke gebunden ist. Durch die Aussiedlung eines großen Teils der deutschen Bevölkerung von Medzev, an deren Stelle slowakische Neusiedler traten, wurde die kontinuierliche Tradierung von Todesvorstellungen bei den Mantaken unterbrochen oder zumindest stark eingeschränkt. Die Folge war, dass sich das vorherige Repertoire an Todesvorstellungen verengte auf Sensenmann, Knochenmann oder eine schwarz verhüllte männliche Gestalt sowie einen Geist, der einen Verstorbenen repräsentiert. Andererseits entstanden in der heterogenen Gruppe der neuen slowakischen Einwohner, die nur allmählich untereinander und mit der alteinsässigen Bevölkerung Kontakte aufbauten, die Bedingungen dafür, dass sich erneut spezifische lokale kulturelle Repräsentationen des Tods in Anlehnung an allgemein in der Slowakei verbreitete Vorstellungen vom Tod etablieren konnten. Die Neusiedler und ihre Nachkommen kennen dagegen meist nicht die ursprüngliche lokale Überlieferung. 224 Die gegenwärtigen Interferenzen zwischen der slowakischen und der deutschen Bevölkerung zeigen sich mehr bei der deutschen Minderheit als bei der slowakischen Mehrheit. Die meisten Medzever Mantaken haben durch die Schulbildung in slowakischer Sprache sowie den Kontakt mit der slowakischen Kultur und Bevölkerung bestimmte Kenntnisse von der slowakischen Erzähltradition und der slowakischen Vorstellung vom Tod als Frau. Umgekehrt fehlt bei der slowakischen Bevölkerung gewöhnlich die Bekanntschaft mit der ursprünglichen lokalen Tradition. Letztlich unterliegen alle Bewohner Medzevs dem Einfluss von Modernisierungsprozessen, die Erzählungen und kulturelle Repräsentation des personifizierten Todes in die Privatsphäre verdrängen und dieses Wissen insgesamt schwinden lassen. Die neuen Bedingungen erfordern den Aufbau von Netzwerken enger Freunde, Verwandter und Bekannter, zu denen ein ausreichendes Vertrauensverhältnis besteht, um solche Erzählungen und Vorstellungen weiterzugeben. Aus dem Slowakischen von Nora Schmidt und Andrea Reynolds Literaturverzeichnis Quellen: Primärliteratur, Antologien von Volksliteratur CAMMANN, Alfred/ KARASEK, Alfred: Volkserzählungen der Karpatendeutschen. Slowakei. Teile 1‒2. Marburg 1981 (Schriftenreihe der Kommission für ostdeutsche Volkskunde in der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde 24‒25) DOBŠINSKÝ, Pavol: Prostonárodnie slovenské povesti [Slowakische Volkssagen]. Bde. 1‒3. Turčiansky Svätý Martin 1880‒1883, Bratislava 1958 GAŠPARÍKOVÁ, Viera: Katalóg slovenskej ľudovej prózy. Pripravené k XI. Medzinárodnému Zjazdu Slavistov v Bratislave 1993 [Katalog der slowakischen Volksprosa, vorbereitet zum XI. Internationalen Slawistenkongress in Bratislava 1993]. Teile 1‒2. Bratislava 1991‒1992 GÉCZI, Lajos: Ungi népmesék és mondák [Volksmärchen und Volkserzählungen aus dem Komitat Ung]. Budapest-Bratislava 1989 (Új magyar népköltési gyűjtemény 23) HANIKA, Josef: Die Tödin. Eine Sagengestalt der Kremnitz-Deutschprobener Sprachinsel. 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Eine Bejahung dieser Frage suggeriert schon der ambivalente Charakter von Grenzen, die nicht nur trennen, sondern auch verbinden, denn jedes Ende birgt zugleich einen Anfang. Nicht zufällig avancierten Grenzregionen zu einem der produktivsten Gegenstände kulturwissenschaftlicher Untersuchungen. So plädierte Karl Schlögel in seinem Buch „Im Raume lesen wir Zeit“ geradezu emphatisch für die Erforschung der Grenzen, denn an ihnen ließen sich „Durchmischungsprozesse, Transferprozesse, Amalgamierungen studieren, aus denen gewöhnlich etwas Neues hervorgeht“1. Auch in diesem Beitrag sollen kulturelle Überlagerungen, Schnittstellen und Verflechtungen aufgespürt werden, die bei Identitätsbildungsprozessen in Grenzregionen zu erwarten sind. Zu ihrer Beschreibung wird die Metapher der Interferenzen verwendet, die in den Geisteswissenschaften bereits Fuß zu fassen beginnt. Beispielsweise wurde in der Linguistik der spezifische Aspekt der Interferenz für die Untersuchung von Sprachkontaktzonen oder von Problemen des Fremdsprachenerwerbs, in der Soziologie für die Beschreibung von Geschlechter-Interferenz fruchtbar gemacht2. Es gibt jedoch kaum einen Beitrag, der die Analyse von Grenzerzählungen und erzählten Grenzen mit der Denkfigur der Interferenz verknüpft hätte. Die nachfolgenden Analysen binden sich an das geografische Gebiet des in Österreich gelegenen Burgendlands und an Westungarn. Dieses Grenzgebiet wird als sozialer Raum verstanden. Gefragt wird nach den Wechselwirkungen zwischen dem physischen Raum, der in diesem Raum stattfindenden sozialen Praxis und den kulturellen und medialen Repräsentationen dieser Praxis. Hierbei rückt der literarische Text als Modellierung des sozialen Raumes insbesondere mit seiner symbolisch-semiotischen Ebene in den Mittelpunkt der Untersuchungen. In diesem Beitrag folgt nach einem einführenden Abschnitt zum Phänomen der Grenze ein kurzer Einblick in die Geographie und Geschichte der in den Blick genommenen Grenzregion. Im vierten Kapitel werden die wichtigsten theoretischen Zugänge zu den narrativen Raumentwürfen aufgezeigt. Um die 1 2 SCHLÖGEL, Im Raume lesen wir die Zeit, 2003, 145. Siehe hierzu: Geschlechter Interferenzen, 2012; MAREIS, Design als Wissenskultur, 2011. 230 231 darin verborgenen Bedeutungsstrukturen aufzudecken werden im Analyseteil dieser Arbeit topographische und metaphorische Grenzen zunächst unabhängig voneinander erkundet, jedoch nicht als voneinander unabhängige Dimensionen begriffen. Das Verständnis ihrer dialektischen Wechselbeziehung soll dazu beitragen, die im erzählten Raum angelegten kulturellen Interferenzen zu identifizieren. Abschließend wird der Versuch unternommen, aus den Analyseergebnissen verallgemeinernde Aussagen über die Referenzialisierbarkeit von Grenz- und Interferenzräumen in literarischen Texten abzuleiten. 2. Auf der anderen Seite 2.1 Nachdenken über Grenzen und Grenzzeichen „Die Grenze ist nicht das, wobei etwas aufhört, sondern, wie die Griechen es erkannten, die Grenze ist jenes, von woher etwas sein Wesen beginnt. […] Raum ist wesenhaft das Eingeräumte, in seine Grenze Eingelassene.“3 In diesem Abschnitt werden zunächst der Schlüsselbegriff „Grenze“, Grenzmetaphern sowie die topographischen Grenzen im Raum erörtert, um darauf aufbauend den Blick auf die Grenze als literarisches Motiv zu richten. Der thematische Hintergrund lädt geradezu ein, sich dem Zentrum der Fragestellung von den Rändern her zu nähern. Um dem ambivalenten Phänomen der Grenze auch nur annähernd gerecht zu werden, soll die Annäherung von einem sichtbaren Grenzzeichen zu den unsichtbaren Grenzen erfolgen – oder anders ausgedrückt von einem konkreten physischen Objekt, einem Grenzstein, hin zum undifferenzierten abstrakten Grenzbegriff. Dieser Zusammenhang sei anhand der hier abgebildete Fotografie einer Grenzmarkierung verdeutlicht (Abb. 1): Sie zeigt zum einen das Jahr 1922, das den Ausgangspunkt dieses Beitrags bildet und zugleich dessen zeitlichen Rahmen festlegt. Er erstreckt sich von den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts. Darüber hinaus ist die Fotografie ein Zeichen, das an dieser Stelle als Impuls für eine semiotische 3 HEIDEGGER, Bauen, Wohnen, Denken, 2004, 149. 231 232 Lesart aufgegriffen wird. Der abgebildete Grenzstein markiert die Staatsgrenze zwischen Österreich und Ungarn nahe Klingenbach. Wie alle Grenzzeichen ist auch dieser Stein mit Inschriften versehen; in diesem Fall mit zwei visuellen Zeichen. Dabei handelt es sich um die Abkürzung des Staates, dessen Landesgrenze er kennzeichnet sowie um eine Jahreszahl. Für die semiotische Interpretation des Verhältnisses zwischen dem physischen Objekt „Grenzstein“ und dessen Bedeutung für die Konzeption von Grenze wird Umberto Ecos4 Zeichenmodell herangezogen. Zur Beschreibung eines Zeichens verwendet Eco die Kategorien Signifikant, Signifikat und Referent. Seiner Klassifikation zufolge entspricht dem Zeichen, dem Signifikanten /Grenzstein/ ein Signifikat „x“ für dessen Entzifferung wiederum unterschiedliche verbale oder visuelle Zeichen – die jeweiligen Interpretanten – zur Verfügung stehen. Analog zu einer von Eco formulierten Frage stellt sich in diesem Fall folgendes Problem: Welches Signifikat hat die Jahreszahl 1922 und die Abkürzung /Ö/ im Kode des Lesers?5 Werden nun die visuellen Zeichen /Ö/ und /1922/ als kleinste bedeutungstragende Elemente (Morpheme) begriffen, die in einer syntagmatischen Beziehung zueinander stehen, dann stellt sich ferner die Frage: Wie kann das Syntagma der Reihe /Ö/ und /1922/ im Kode des Betrachters entziffert werden? Mit anderen Worten: Welche Sinnzuschreibung löst diese syntagmatische Folge im Kode des Betrachters aus? Die Fotografie des Grenzsteins, deren Merkmale mit denen des bezeichneten Gegenstandes korrespondieren, weil das Bild den Stein schlichtweg abbildet, ist zum einen ein ikonografisches Zeichen. Darüber hinaus ist das Bild aber auch ein indexikalisches Zeichen, weil es die Tatsachen eines historischen Ereignisses im Raum bezeugt6 und damit nicht nur das Objekt, sondern den Raum lesbar macht. Und gerade weil das in den Stein Eingravierte dauerhaft, man könnte sagen, ewig ist, kann es als Text – als eine „besondere Realisation eines kulturellen Textes“7 – wie es Lotman formulierte – verstanden werden. An diesen Gedanken knüpft die abschließende Frage an: Wie lässt sich das mit dem Grenzstein verknüpfte Narrativ entziffern?8 Für die nachstehende Betrachtung soll aber weniger die Fotografie als solche im Mittelpunkt stehen, sondern vielmehr ihr Motiv – das abgelichtete physische Objekt, der Grenzstein, der den Raum im sozialen und symbolischen Sinne konstituiert. Die dem Betrachter zur Verfügung stehenden visuellen Zeichen „Ö“ sowie „1922“ erlauben bei näherer Betrachtung zunächst folgende Sinnstiftung: Die Inschrift „1922“ verweist auf ein historisches Ereignis. Sie bezeugt zum einen das Jahr der Grenzverhandlungen und der Errichtung einer neuen politischadministrativen Grenze. Zum anderen evoziert die Zeitangabe die Grenz- und 4 ECO, Zeichen, 1977, 28. Für die Beschreibung von nicht verbalen Zeichen formuliert Eco die Frage „Welches Signifikat hat die Zahl 77 im Kode des Portiers?“ Analog dazu wird nach dem Signifikat der syntagmatischen Beziehung der Abkürzung /Ö/ und der Jahreszahl /1922/ gefragt. 6 ECO, Zeichen, 1977, 60–62. 7 LOTMAN, Text und Funktion, 1977, 151. 8 FEISCHMIDT, Die Verortung der Nation an den Peripherien, 2010, 111. 5 232 233 Gebietsstreitigkeiten vor der Angliederung des Burgenlandes an Österreich im Jahr 1921, und vor allen Dingen erinnert es an das Ende der Geschichte der Habsburger Monarchie9: Nach dem ersten Weltkrieg wurde in den Pariser Vorortverträgen die Neuordnung Zentraleuropas festgeschrieben, wobei die Festlegung der Grenzen für das einstige Österreich-Ungarn in den Verträgen von St. Germain (1919) und Trianon (1920) erfolgte. In dieser Deutung markiert der Grenzstein – im wörtlichen und metaphorischen Sinne – neben der topographischen auch eine zeitliche Grenze. Denn die Inschrift „1922“, die einen indexikalischen Wert „im Sinne einer Spur“10 besitzt, kann symbolisch als das Ende der Doppelmonarchie gelesen werden. Eine solche Lesart erlaubt es, dem Grenzstein den Status eines Kleindenkmals11 zuzugestehen. Denkmäler eröffnen die Möglichkeit eines Diskurses und dienen somit der Sinnstiftung im Prozess der Konstruktion von individueller und kollektiver Identität.12 So besehen kann der Grenzstein mit der eingravierten Jahreszahl „1922“ als visuelles Zeichen gelesen werden, das Teil des kollektiven Gedächtnisses und zugleich Teil der Erinnerungskultur der angrenzenden Staaten ist. Er ist aber auch ein kulturelles Zeichen, weil er das geographische Territorium der Doppelmonarchie zu zwei distinkten nationalen Einheiten umgestaltet und demnach als Objektivierung eines historischen Ereignisses betrachtet werden kann. Dem (physischen) Raum wird durch das Objekt eine spezifische Bedeutung verliehen, und gerade diese Sinnstiftung verwandelt ihn in einen symbolischen Raum.13 Mit Lotman gesagt ist dieser „Text“ (die Inschrift) „bedeutungshaltig, weil er einen bestimmten Sinn hat, der seinen funktionalen Wert determiniert“; und zwar findet am Eingravierten des Grenzsteins eine „Verabsolutierung geschichtliche[r] Erfahrung“14 statt. Das Beispiel des Steins verdeutlicht, dass unterschiedliche Grenzen an ein und demselben Ort zusammenfallen können. Das visuelle Zeichen „1922“ enthüllt zum einen die Mehrdeutigkeit des Grenzzeichens, das erstens die Überschneidung von topographischer und temporaler Grenze und zweitens eine Synthese der topographischen und symbolischen Grenze bezeugt. So verweist es auf die Verkettung von materiellen und symbolischen Eigenschaften15 im Zeichen. Grenzsteine sind Zeichen mit der Signatur des Beständigen und Stabilen. An einem Ort im Raum verankert, markieren sie als dauerhaftes Grenzzeichen einen Punkt, von dem aus der Grenzverlauf rekonstruierbar ist. Und welche Bedeutung 9 MITTERBAUER, Konstruktion von Identität nach 1918, 2007, 20f. Ferner besitzt die Jahreszahl 1922 auch in einem nicht-europäischen Kontext Symbolkraft, denn der Erste Weltkrieg „setzte dem Zeitalter der Dynastien ein Ende. 1922 waren die Habsburger, Hohenzollern, Romanows und Ottomanen abgetreten.“ ANDERSON, Die Erfindung der Nation, 1988, 115. 10 ECO, Zeichen, 1977, 62. 11 STEIDL, Grenzstein-Transformationen, 2008, 105. 12 MITTERBAUER, Konstruktion von Identität nach 1918, 2007, 13f. 13 FEISCHMIDT, Die Verortung der Nation an den Peripherien, 2010, 112f. 14 LOTMAN, Text und Funktion, 1977, 154. 15 LÖW, Raumsoziologie, 2001, 228. 233 234 haben sie darüber hinaus für den Menschen? Anders als diverse künstliche Barrieren und Sperranlagen stellen Grenzsteine kein unüberwindbares Hindernis für den Menschen dar.16 Obwohl allein ihre physische Anwesenheit den Raum unterbricht, sind sie kaum eine Gefahr, sondern eher eine Irritation in der Landschaft oder ein „Knotenpunkt“ im Sinne einer Koordinate. Der Grenzstein kann ebenso als Körper17 im Raum verstanden werden, als ein physisches Objekt, dessen Anwesenheit den unsichtbaren Grenzverlauf aufgrund einer gedachten Achse erst vorstellbar macht: Seine Präsenz gestaltet den Raum zu einem Grenzraum. So betrachtet kann der Grenzstein als Objektivierung einer imaginierten Trennlinie – als das Substantielle gegenüber dem Unbestimmten – begriffen werden. In Anlehnung an Georg Simmels Vorstellung von Grenze, auf die ich weiter unten eingehen werde, lässt sich sagen, dass hier die Grenzlinie die materielle Form des Grenzsteins annimmt. Die Anordnung von Grenzsteinen im Territorium markiert und strukturiert den Raum. Ein solches Herstellen von Räumen, und damit wird die Soziologie des Raums im Sinne von Martina Löw angesprochen, beruht immer auf menschlicher Tätigkeit, dem Handeln18. Der angeordnete Körper „Grenzstein“ ist folglich nicht nur Objekt, sondern auch Produkt des Handelns und somit zu den sozialen Gütern zu zählen. Obzwar die Anordnung von Gütern im Raum zunächst in ihrer materiellen Eigenschaft19 geschieht, lassen sich diese Prozesse nur verstehen, „wenn die symbolischen Eigenschaften der sozialen Güter entziffert werden“20. 2.2 Grenzen – Be-grenzungen eines Begriffs „Ich grenz noch an ein Wort und an ein andres Land, ich grenz, wie wenig auch, an alles immer mehr,“21 Das hier bemühte Zitat ist dem Gedicht „Böhmen liegt am Meer“ von Ingeborg Bachmann entnommen. Ich stelle es meinen Ausführungen voran, beschreibt es doch überaus treffend die Existenz und alltägliche Präsenz von Grenzen und evoziert zugleich die Frage, ob es überhaupt einen Lebensbereich gibt, in dem das Phänomen der Grenze keine Rolle spielt. Wir sind von Grenzen umgeben und fortwährend damit beschäftigt, uns an sie zu halten oder sie zu überwinden, sie zu setzen oder zu ziehen, jemanden in seine Grenzen zu verweisen, auch wenn er seine Grenzen kennt. Grenzen sind sichtbar oder unsichtbar. Sie bestimmen unser Dasein. Sie sind existentiell. 16 STEIDL, Grenzstein-Transformationen, 2008, 105f. Die Bezeichnung des Grenzsteins als „Körper“ folgt an dieser Stelle LÖW, Raumsoziologie, 2001, 153. 18 LÖW, Raumsoziologie, 2001, 131. 19 Ebd., 153. 20 Ebd. 21 BACHMANN, Letzte Gedichte, 1998, 117. 17 234 235 Grenzen spielen sowohl im metaphorischen Sinn, wie sie in Kollokationen und Redewendungen Eingang gefunden haben, als auch in politisch-rechtlicher Hinsicht eine bedeutende Rolle. Im Deutschen umfasst das Wort „Grenze“ unterschiedliche Bedeutungsvarianten, so gehören zu ihrem Wortfeld auch die Substantive: Schranke, Schwelle, Spielraum, Barriere, Rand, Brücke, Übergang, Punkt oder Peripherie. Dagegen werden beispielsweise im Englischen die jeweiligen Konnotationen durch boundary, frontier, border, limit oder margin weitaus exakter zum Ausdruck gebracht. Diese ambivalente Bedeutung des Wortes korrespondiert mit unterschiedlichen Funktionen: Grenzen können etwas abgrenzen und trennen, aber auch etwas eingrenzen und umschließen. Indem sie einerseits Brücken bilden, andererseits Schranken setzen, sind sie beides: Symbol für Zusammengehörigkeit und Identität, aber auch für Differenz und Alterität.22 Die Grenze ist etwas Zwiespältiges und Doppeldeutiges. Ein Verständnis, welches Claudio Magris in seinen Grenzbetrachtungen wie folgt formuliert: Jede Abgrenzung hat mit Unsicherheit zu tun und mit dem Bedürfnis nach Sicherheit. Die Grenze ist eine Notwendigkeit, denn ohne sie, oder besser, ohne begrenzende Unterscheidung, gibt es keine Identität, keine Form, keine Individualität, ja nicht einmal eine reale Existenz […]. Die Grenze bedeutet Wirklichkeit, verleiht Umrisse und Gestalt, bestimmt die Besonderheit der Einzelperson wie des Kollektivs […].23 Wenngleich Grenzen auch dazu bestimmt sind, Halt zu geben und Ordnung zu stiften, ist ihnen diese Eigenheit nicht genuin. Sie sind weder als natürliche Gegebenheiten noch als feste Entitäten zu betrachten, sondern als von Menschen geschaffene Trennlinien; als soziale Relationen, die sich materialisiert haben. Die Menschen projizieren die Grenzen konkret oder metaphorisch in den Raum. Und erst da, wo Menschen auf der anderen Seite stehen, macht Grenze und deren Überschreitung Sinn.24 Dieses Verständnis von Grenze als ein in kontinuierlichen sozialen Prozessen erzeugtes und definiertes Bezugssystem formulierte bereits Georg Simmel. In seiner 1903 erschienenen Abhandlung „Soziologie des Raumes“ heißt es: „Die Grenze ist nicht eine räumliche Tatsache mit soziologischen Wirkungen, sondern eine soziologische Tatsache, die sich räumlich formt.“25 Demnach sind Räume formale Bedingung für Grenzen, aber ohne Grenzen existieren Räume nicht. Räume und Grenzen stehen per se in einem reziproken Verhältnis zueinander und können nur zusammengedacht werden. Mit diesem räumlichen Aspekt ist auch die zeitliche Dimension verknüpft: Die Grenze ist ohne Bezugnahme auf Zeitlichkeit ebenso wenig 22 MAGRIS, Grenzen: tödlich oder sterblich? 1991, 16f.; SCHLÖGEL, Im Raume lesen wir die Zeit, 2003; WALDENFELS, Schwellenerfahrung und Grenzziehung, 1999. 23 MAGRIS, Grenzen: tödlich oder sterblich?, 1991, 16f. 24 POHL, Soziale Grenzen und Spielräume der Macht, 2000, 13. 25 SIMMEL, Soziologie des Raumes, 1995, 141. 235 236 denkbar wie ohne Raumbindung – Aspekte, die sie als veränderbare und dynamische Tatsache greifbar machen. Identität und Differenz, Akzeptanz und Ignoranz, Inklusion und Exklusion sollten daher als relationale, temporäre Handlungen und symbolische Konstrukte, die immer auch Veränderungen ausgesetzt sind, betrachtet werden. Dieses relationale Herstellen von Raum und Grenze wird als ein kontinuierliches und veränderbares Changieren, als ein Pendeln zwischen unterschiedlichen Bedeutungszuschreibungen, als ein Verhandeln und Aushandeln begriffen. Auch literarische Räume entstehen erst durch Prozesse der Sinnzuweisung, wobei die Perspektivenübernahme und der Perspektivenwechsel durch die Akteure, in diesem Fall die handelnden literarischen Figuren, ein Feld von Optionen eröffnet.26 Mein Interesse gilt diesem spezifischen Verhältnis von Raum und Grenze sowie der Art und Weise, wie beider Spiegelverhältnis in literarischen Texten durch Autoren verarbeitet wird, die vermutlich auf recht unterschiedliche Wahrnehmungen und Erfahrungen zurückgreifen. Im Mittelpunkt dieses Beitrags stehen Erzählungen, deren Handlung in der Grenzregion Burgenland/ Westungarn angesiedelt ist. Die Textbeispiele reflektieren sowohl territoriale als auch die metaphorisch-symbolische Grenzen und gestalten diesen Raum zugleich literarisch als einen kulturellen Erinnerungsort27. Für die Analyse von narrativ modellierten Räumen gilt es jedoch neben der Referenz auf sozial hergestellte Räume auch das zu berücksichtigen, was der Naturraum selbst vorgibt. Denn jedes „Besetzen“ von Raum setzt einen Ort voraus, an dem Elemente platziert werden können.28 Darum seien an dieser Stelle assoziativ einige Aspekte des hier in Betracht gezogenen physischen und des topographischen Raumes und seiner gesellschaftlichen Aneignung genannt. Dass für das Aufspüren von Schnittstellen mit dem Burgenland und Westungarn eine Region gewählt wurde, die prädestiniert ist, kulturelle Überlagerungen zu produzieren und zu reproduzieren, liegt freilich in der Wahl des Themas begründet. 3. Geographische, politische und sozio-kulturelle Verschränkungen einer Grenzregion: Burgenland und Westungarn als Kontaktraum Der physische Raum, der den Hintergrund für die anschließend analysierten erzählten Räume bildet, ist das Gebiet zwischen den Flüssen Leitha und Lafnitz, das in mehrfacher Hinsicht ein Grenzraum und zugleich ein Kontaktraum ist. Teil dieses physischen Raums ist der Neusiedler See, der geographisch an der Schnittstelle zweier europäischer Großlandschaften liegt. Im Westen reichen 26 SCHROER, Räume, Orte, Grenzen, 2006, 175; BOLTERAUER, Kakanien – oder was eine Mitteleuropäische Landschaft sein könnte, 2003, 2. 27 ASSMANN, Erinnerungsräume, 1999, 298f. 28 LÖW, Raumsoziologie, 2001, 224f. 236 237 die Alpen in Gestalt des Leitha-Gebirges bis zum See, Richtung Osten erstreckt sich vom See aus das Flachland der Großen Ungarischen Tiefebene. Gerade hier treffen auch unterschiedliche klimatische Bedingungen aufeinander; atlantische Einflüsse überlagern kontinentale und mediterrane Klimafaktoren. Diese Umweltbedingungen bewirkten die Entstehung einer seltenen geographischen Grenzsituation, die letztlich auch zu einer spezifischen Raumwahrnehmung und symbolischen Aneignung der Landschaft führte und darüber hinaus zur Verklärung und Mystifizierung des Neusiedler Sees beitrug.29 Ein häufiges Merkmal von Grenzgebieten – gerade auch für jene der ehemaligen österreichisch-ungarischen Monarchie – ist deren ethnische Pluralität. Auch die zu untersuchende Grenzregion stellt in ethnisch-sprachlicher und konfessioneller Hinsicht eine Kontaktzone dar, die seit dem frühen Mittelalter durch mannigfaltige kulturelle Verflechtungen und Sprachkontakte geprägt ist.30 Diese historisch gewachsenen „kleinräumigen Vermischungen“31 schlossen die Genese homogener Siedlungsgebiete und die Herausbildung von exakten Sprachgrenzen aus, was von vornherein die Deckungsgleichheit von physischem, topographischem und Sprachraum verhinderte und somit dem „klassischen Konzept“ moderner Nationalstaaten mit territorialem Bezug und historischer Beständigkeit entgegenwirkt. Stattdessen führte diese sprachliche und konfessionelle Heterogenität und das Überangebot an kulturellen Symbolen und Wertvorstellungen an der Entstehung einer jeweiligen „national identity“ vorbei zur Ausbildung unterschiedlicher lokal geprägter Identitäten – einer eigenen spezifischen „village ethnicity“32, die sich von der „Nationalkultur“ mitunter deutlich unterschied.33 Historisch gesehen handelt es sich bei dem Burgenland und Westungarn um ein altes Grenzland, eine alte Mark, deren mehrfache Grenzverschiebungen meist auf „historisch-rechtlicher Argumentation“34 basierten. Die Geschichte des Grenzlands lässt sich bis in die Antike zurück verfolgen. Es diente einst dem römischen Imperium als Provinz Pannonien zur Absicherung Italiens und erstreckte sich unter Einschluss des heutigen Grenzraumes im Osten bis an die Donau. Im frühen Mittelalter erreichten die aus dem Osten zuströmenden Steppenvölker und reiternomadische Gruppen den pannonischen Raum, den sie 29 BÉKÉSI, Verklärt und Verachtet, 2007, 40-52. KOCSIS/ WASTL-WALTER, Ungarische und österreichische Volksgruppen im westpannonischen Grenzraum, 1993, 167-223. Neben der Landessprache Ungarisch sind v. a. Deutsch und Kroatisch vertreten. Die Mehrheit der Bevölkerung (3/4) gehört der römischkatholischen Kirche an, etwa 25 % fühlen sich der evangelischen Kirchengemeinde zugehörig. (Ebd., 210 f.); siehe auch: Sprachen und Sprachkontakte im pannonischen Raum, 2005. 31 LEMBERG, Grenzen und Minderheiten, 2000, 161. 32 BAUMGARTNER/ MÜLLNER/ MÜNZ, Vielfalt als Erbe, 1989, 3. 33 ANDERSON, Die Erfindung der Nation, 1988, 14ff.; HASLINGER, Grenzgänger zwischen Nationalkulturen, 1999. 34 LEMBERG, Grenzen und Minderheiten im östlichen Mitteleuropa – Genese und Wechselwirkungen, 2000, 159-181, hier 161. 30 237 238 unter sich aufteilten oder ihn als Durchzugsgebiet nutzten.35 Nach der Machtentfaltung des Fränkischen Reiches gehörte nunmehr auch die Mark Oberpannonien und damit das heutige Burgenland zur neu erworbenen karolingischen Ostmark. Die Genese der Grenzlandschaft verdeutlicht letztlich aber vor allem auch die Siedlungskontinuität in diesem Raum, der insbesondere durch slawische, bayerische, fränkische und magyarische Ansiedler kultiviert wurde.36 In der Mitte des 11. Jahrhunderts begannen magyarische Siedler die mittelalterliche Grenzzone – einen bis dahin menschenarmen Gürtel, den Gyepűelv37 durch die Errichtung von Grenzwächtersiedlungen und ein System von Warten und Befestigungsanlagen auszubauen. Letztlich gründete auf diesem sich von Nord nach Süd, zwischen den Flüssen Leitha und Lafnitz ziehendem Gürtel, dem Gyepű, auch die territoriale Abgrenzung des Königlichen Ungarn, das im Jahre 1538 in die Habsburgermonarchie integriert wurde. Allerdings war es nach der Niederlage gegen das Osmanische Reich im Jahre 1526 in drei getrennte Herrschaftsbereiche – dem östlich ungarischen, dem habsburgischen und den osmanischen – aufgeteilt. Mit dem österreichisch-ungarischen Ausgleich von 1867 wurde das Königreich Ungarn wiederhergestellt. Zu seinem Hoheitsgebiet zählten neben dem nördlichen auch westliche Teile Ungarns, was größtenteils die heutigen Gebiete Slowakei, Burgenland sowie West-Kroatien einschloss. Der Ausgleich konstituierte die k. u. k. Dopperlmonarchie, bewirkte die staatsrechtliche Identität beider Reichhälften und ihre Trennung in Cisleithanien und Transleithanien. Nach diesem Beschluss verdichtete sich die Landesgrenze zwischen beiden Teilen der Monarchie zunehmend zu einer ethnisch-sprachlichen Grenze. Dieses Kriterium der ethnisch-sprachlichen Differenzierung bildete wiederum eine entscheidende Grundlage für den in den Friedensverträgen von St. Germain (1919) und Trianon (1920) festgelegten Grenzverlauf, dessen endgültige Festschreibung in den Jahren 1922/23 erfolgte. Seither besteht das Burgenland, das bis dahin zum Königreich Ungarn gehört hatte, als administrative Einheit und ist damit das jüngste österreichische Bundesland. 38 Nach dem Zweiten Weltkrieg begannen im Jahr 1948 osteuropäische Staaten, so auch Ungarn, entlang dieser alten Grenzmarkierung die stabilste Grenze zwischen zwei politischen Systemen zu errichten. Und eben diese Grenze 35 ERNST, Geschichte des Burgenlandes, 1991; 15-32; HARDT, Pannonien im Spannungsfeld, 2011, 15-28. 36 ERNST, Geschichte des Burgenlandes, 1991; HOENSCH, Jörg K., Ungarn. Geschichte, Politik, Wirtschaft, 1991, 15f. 37 Bestandteil des Kompositums /Gyepűelv/ ist das Wort /Gyep/, das eine noch heute zwar gebräuchliche, aber eher umgangssprachliche bzw. volkstümliche Bezeichnung für das ungarische Wort /rét/ deutsch /Rasen/ bzw. /Wiese/ ist und deutlich die landschaftliche Beschaffenheit des Grenzraumes benennt. 38 HOENSCH, Jörg K., Ungarn. Geschichte, Politik, Wirtschaft. 1991, 19f., 41-43, 67f., 78f. 238 239 zwischen Österreich und Ungarn gilt seit dem 11. September 1989 als Symbol für den Zerfall und die Überwindung des Eisernen Vorhangs.39 Diese vierzig Jahre lang unüberwindbare künstliche Barriere existiert als solche nicht mehr. Doch sie hinterließ Spuren in der Landschaft, hat sie doch einen über Jahrzehnte geschützten Naturraum, ein ökologisches Niemandsland geschaffen. Entlang der Einprägung des elektrischen Grenzzauns, der einst trennte, verbindet die Staaten nunmehr ein grünes Band, das von Nord nach Süd sich durch Europa hindurchzieht.40 Wie ist aber nun dieser topographische Raum mit seinen Repräsentationen, seinen Geschichten, verknüpft? 4. Grenzen verhandeln – Grenzen überschreiten: Theoretische Grundlagen Es sind die in literarischen Texten modellierten kulturellen Repräsentationen des Raums, die es mit diesem Beitrag zu entziffern gilt. Dafür bedarf es aus Sicht der Verfasserin eines methodischen Instrumentariums, welches erlaubt, auch die Grenzen der Einzeldisziplinen zu überschreiten. Einen wesentlichen Hintergrund bildet hierfür die Theorie der Produktion des Raumes von Henri Lefebvre41, die die folgende Argumentation leiten und ihr als übergreifendes Konzept dienen soll. 4.1 Soziologische Zugänge Henri Lefebvre entwickelt in der Theorie der Produktion des Raumes ein triadisches Modell. Ausgehend von der zentralen These, dass (sozialer) Raum ein (soziales) Produkt sei42 gelingt es Lefebvre, die bislang getrennten Vorstellungen von physikalischem (hier physischem) und mentalem Raum durch die Integration in einem Dritten, dem sozialen Raum43, zusammenzuführen. Die drei Dimensionen der „dialektischen Triade“44 beeinflussen sich wechselseitig: Die erste Dimension ist die „räumliche Praxis“, durch die ein materieller Raum entsteht, in den sich produktive Handlungen der Akteure „in 39 HOENSCH, Geschichte Ungarns 1867-1983, 1984, 26-28; GRUBER, Von Deutschwestungarn zum Burgenland, 1991, 11-41.; ERNST, Geschichte des Burgenlandes, 1991, 236-240. 40 Grünes Band Europa. 41 LEFEBVRE, The Production of Space, 1991. 42 LEFEBVRE: „(Social) space is a (social) product.“ 26. 43 LEFEBVRE, The Production of Space, 1991, 11f.; Für Lefebvre stellt der Begriff ‚sozialer Raum‘ einen viel umfassenderen Begriff dar, als dieser von Soziologen üblicherweise verwendet wird (z.B. bei Pierre Bourdieu). Der soziale Raum bezeichnet für ihn den durch soziale Praxis produzierten Raum. 44 SCHMID, Stadt, Raum und Gesellschaft, 2005, 192. 239 240 Form von dauerhaften Objekten und Wirklichkeiten einschreiben“45, was sich als ein „Besetzen“ des Raumes begreifen lässt.46 Die zweite Dimension betrifft die „Repräsentationen des Raumes“. Damit sind jene Diskurse angesprochen, die einen durch Sprache entworfenen Raum produzieren.47 Hier findet die Produktion und zugleich Ordnung (Systematisierung) von Wissen statt. Die Grundlage dafür bilden die Zeichenhaftigkeit von Raumkonzeptionen und ihre Tendenz zu verbalen Zeichensystemen: „Conceptions of space tend, […] towards a system of verbal […] signs.“48 Die hier produzierten Wissensordnungen gelangen zum einen in der räumlichen Praxis zur Anwendung und sind zum anderen eng mit der dritten Dimension, den „Räumen der Repräsentation“ verknüpft. Sie umfassen die komplexen Symbolismen, Imaginationen und Erinnerungen, die in die Repräsentationen des Raumes eingeschrieben sind und die sich in der historischen räumlichen Praxis äußern, so dass auf dieser Ebene die Trennung von Gedachtem und Realem aufgehoben wird. Denn diese Räume überlagern nicht nur den physischen Raum, wobei sie von dessen Objekten symbolischen Gebrauch machen, sie schließen zugleich auch Wissensordnungen vergangener Repräsentationen ein. Lefebvre betont, dass auch sie zur Bildung von mehr oder weniger kohärenten, jedoch nicht zwangsläufig verbal verfassten Zeichen- und Symbolsystemen tendieren.49 Diesen drei räumlichen Begriffen der ersten Reihung ordnet Lefebvre Partizipien zu, die sich auf die Modalität der Produktion von Raum beziehen: Die „räumliche Praxis“ stellt den wahrgenommene Raum dar, die „Repräsentation des Raumes“ verweist auf den konzipierten bzw. gedachten Raum und die „Räume der Repräsentation“ auf jenen Raum, der erlebt wird.50 Diese zweite Gliederung der Triade51 in Wahrgenommenes, Gedachtes und Erlebtes verweist auf Tätigkeiten, die Akteure voraussetzen und nur durch Subjekte geleistet werden können. Mit diesem Schritt vollzieht Lefebvre die Verschränkung der Triade. Er setzt das Subjekt als integratives Moment der wechselseitigen Beziehung zwischen dem Konzipierten und Gelebten, denen das Wahrgenommene bereits vorausgeht. Damit verweist er nicht nur auf die „dialektische Beziehung innerhalb dieser Dreiheit“52, sondern koppelt den Wahrnehmungsraum der räumlichen Praxis an die sinnliche Wahrnehmung des Subjekts bzw. des sozialen Akteurs. So überwindet er einerseits die zweistellige Beziehung von Objekt und Subjekt und zum anderen gelingt ihm eine die 45 Ebd., 210f.. Ebd., 212f.. 47 Ebd., 216. 48 LEFEBVRE, The Production of Space, 1991, 38f. , ENGELKE, Kulturpoetiken des Raumes 2009, 46. 49 LEFEBVRE, The Production of Space, 1991, 39; ENGELKE, Kulturpoetiken des Raumes 2009, 46, SCHMID, Stadt, Raum und Gesellschaft, 2005, 217. 50 LEFEBVRE, The Production of Space, 1991, 40, ENGELKE, Kulturpoetiken des Raumes 2009, 55, SCHMID, Stadt, Raum und Gesellschaft, 2005, 207. 51 Diese wird von Schmid auch als „doppelte Triade“ bezeichnet. 52 Raumtheorie, 2006, 336. 46 240 241 Dynamisierung des sozialen Raumes, dessen Produktion erst durch Kompetenz und Performanz der Akteure gegeben ist.53 Lefebvres Theorie zur Produktion des Raumes lässt sich mit weiteren hier bereits erwähnten raumsoziologischen Ansätzen verknüpfen. Die Ansätze korrespondieren miteinander, weil sie von einem „bedeutungs- und wissensorientierte[n] Kulturbegriff“54 ausgehen und ein relationales Konzept von Raum und dessen Grenze(n) entwerfen. So versteht die Soziologie die Herstellung von Räumen und Grenzen als einen Prozess, der auf einem raumkonstitutiven Handeln und dem Ordnungsaspekt räumlicher Strukturen beruht. Martina Löw betont in ihrer Raumsoziologie, dass Räume nicht natürlich vorhanden sind, sondern erst durch die „relationale (An)Ordnung von Körpern, welche unaufhörlich in Bewegung sind“ 55 hergestellt werden. Die Konstitution von Raum ist demnach ein Prozess, der durch „das Plazieren von sozialen Gütern und Menschen“56 erfolgt. Weiterhin bedarf es einer „Syntheseleistung, das heißt über Wahrnehmungs-, Vorstellungs- oder Erinnerungsprozesse werden Güter und Menschen zu Räumen zusammengefasst.“57 4.2 Semantisch-semiotischer Hintergrund Der Kultursemiotiker Jurij M. Lotman bezeichnet den Grenzbereich als „ein[en] Ort des permanenten Dialogs“58, an dem „kein >>wir<< ohne >>die anderen<< auskommt“59. Dieser Gedanke legt nahe, die Grenze nicht als Ort der Abgrenzung, sondern als einen dynamischen Ort des ständigen Verhandelns und der Übersetzung zu verstehen.60 Solche fließenden und durchlässigen Prozesse von Aneignung und Abkehr werden in mehrsprachigen Grenzregionen besonders evident. Sein kultursemiotisches Raumkonzept bezieht Lotman auf erzählte Räume. Er beschreibt er zum einen kulturelle Systeme, zum anderen entwickelt er eine Erzähltheorie, in der er zeigt, wie Handlungen in Texten nach räumlichen Relationen zu einem Kulturmodell organisiert werden und erst auf diese Weise ein Sinnsystem erzeugen. Er begreift semantisierte Räume in fiktionalen Texten als Reflex einer kulturhistorisch geprägten Deutung von Wirklichkeit. Vor diesem Hintergrund gewinnen die in literarischen Texten konstruierten Raummodelle, die einem spezifischen Kulturtyp eigentümlich sind, ihre 53 ENGELKE, Kulturpoetiken des Raumes 2009, 44-50, Raumtheorie, 2006, 330-340, SCHMID, Stadt, Raum und Gesellschaft, 2005, 210. 54 RECKWITZ, Die Transformation der Kulturtheorien, 2008, 84. 55 LÖW, Raumsoziologie, 2001, 131. 56 Ebd., 158. 57 Ebd., 159. 58 LOTMAN, Die Innenwelt des Denkens, 2010, 190. 59 Ebd., 189. 60 Ebd., 182. 241 242 Bedeutung.61 Der erzählte Raum wird dabei durch räumliche und nichträumliche Anordnungen semantisiert und durch handelnde Figuren und deren Grenzziehungen sowie Grenzüberschreitungen strukturiert. Dieser Annahme zufolge bildet die Grenze ein elementares Strukturmerkmal von Raummodellen. Ausgehend vom Konzept der Grenze entfaltet Lotman einen Ereignisbegriff, der dem Sujetaufbau dient. Demnach tritt ein Ereignis, das immer die „Verletzung irgendeines Verbotes“62 bedeutet, ein, wenn „[...] die Versetzung einer Figur über die Grenze eines semantischen Feldes“63 erfolgt. Für die Analysen nehmen folglich Grenzverhandlungen und Grenzüberschreitungen eine zentrale Position ein, denn einerseits dienen sie der Beschreibung von Handlungssituationen und zum anderen bestimmen sie nicht nur den Fortgang der Erzählung, sondern bewirken damit zugleich die Dynamisierung des Raumes. Die Grenzüberschreitung wird als ein dynamischer Prozess begriffen, denn er schließt die Aktivität von Akteuren ebenso ein wie die Ortsveränderung, weil beide einer bestimmten Zeit bedürfen. Bei der Betrachtung von Grenzen wird der räumliche Aspekt immer schon vom zeitlichen begleitet: „Es ist gerade die Grenze, die eine zeitliche Dimension hat.“64 – so bringt es Wolfgang Müller-Funk auf den Punkt. Diese zeitliche Dimension kann auf einen kurzen Moment reduziert sein, der sich auf das Verweilen auf der Grenze oder auf den punktuellen Augenblick ihres Übertritts beschränkt. Ein Aspekt, der nahe legt, die Grenze nicht ausschließlich als territoriale oder imaginierte Trennungslinie zu begreifen, sondern sie ebenso als einen Punkt oder einen Ort im Raum zu denken, denn: „Vielleicht ist der Punkt ihres Übertritts ihr gesamter Raum.“65 Die Grenze, die überschritten wird, kann ein Ort zwischen zwei Staaten sein, der von Reisenden betreten und durchquert wird, oder eine Brücke, die es gilt hinter sich zu lassen, um ein Ziel zu erreichen. Aber auch der Moment des Sprachwechsels oder das Übertreten einer Schwelle als Übergang zu einem imaginären Raum gehören hierzu. Diese enge Verknüpfung des Konzepts der Grenze mit dem Prozess der Überschreitung einerseits und zugleich die Verwobenheit von Grenzen im imaginierten und im erlebten Raum ist eine Überlegung, die Michel Foucaults Idee von Grenze aufgreift: Die Grenze und die Überschreitung verdanken einander die Dichte ihres Seins: eine Grenze, die nicht überschritten werden könnte, wäre nicht existent; eine Überschreitung, die keine wirkliche Grenze überträte, wäre nur Einbildung.66 61 62 63 64 65 66 LOTMAN, Die Struktur literarischer Texte, 1993, 312f. Ebd., 336. Ebd., 332. MÜLLER-FUNK, Jesenice und Zemplén: Grenzen und Peripherien, 2010, 26. FOUCAULT, Vorrede zur Überschreitung, 2000, 31. Ebd., 32. 242 243 Sowohl der konkrete als auch der imaginiert vollzogene Grenzübertritt von Figuren im erzählten Raum setzen ein Handeln voraus. Weil ein von Handelnden erzeugter Raum gemeint ist, seien diese nun soziale Akteure, Leser, literarische Figuren oder die Stimme des Erzählers, kommen Bedeutungszuschreibungen ins Spiel, welche zu Ab- und Umwandlung des Raumes und dessen Aufteilung führen. Das Wechselspiel von sozialer Raumkonstruktion und literarisch modelliertem Raum bildet eine Konstellation, die das Ineinandergreifen von Realem und Imaginärem verdeutlicht. 4.3 Narrative Entwürfe von Grenzen In diesem Abschnitt ist zu zeigen, wie ein geographischer Schauplatz und die narrativen Entwürfe dieses Raums sich wechselseitig beeinflussen und darum gleichermaßen bei der Analyse von Grenzphänomenen in literarischen Texten berücksichtigt werden müssen. Dass räumliche Praktiken und Repräsentationen des Raumes in einem dialektischen Verhältnis zueinander stehen, wurde von Lefebvre herausgearbeitet und im Abschnitt 4.1 bereits verdeutlicht. Lefebvre betont, dass „Räume der Repräsentation“ den physikalischen bzw. physischen Raum überlagern und von dessen Objekten symbolischen Gebrauch machen: „It overlays physical space, making symbolic use of its objects“.67 Das Wort „Grenze“ erlaubt und ermöglicht erst die Darstellung von Räumen in einer angemessenen Vielschichtigkeit und Abhängigkeit: Es vermag geografische Räume zu strukturieren, historische zu differenzieren, politisch-administrative zu definieren und sprachlich-kulturelle zu regeln. Die genannten Aspekte, die an sich bereits auf materielle, semantische und symbolische Eigenschaften von Grenze(n) verweisen, lassen sich in der „räumlichen Praxis“ – im wahrgenommenen Raum – nicht voneinander trennen. Hier wie auch in den „Repräsentationen des Raumes“ – im gedachten Raum kommt es zu Überlagerungen und Verschränkungen, die gerade im erlebten Raum, in den „Räumen der Repräsentation“ einen metaphorisch-metonymischen Bedeutungswandel und eine Bedeutungserweiterung erfahren. Diese Sinnstiftungen fließen in die Syntheseleistungen der narrativ konstituierten Räume ein. Versteht man den erzählerischen Raum als Text und den „Text als Handlung, […] als eine hierarchisch organisierte intentionale Einheit“68, dann folgt daraus, dass sich insbesondere literarische Texte auf Grund ihrer Komplexität dazu eignen, die vielfältigen Dimensionen von Grenzen zu beschreiben und miteinander in Beziehung zu setzen. Im erzählerischen Raum gelingt es, Grenzen zu definieren und zu setzen, aber auch aufzuheben und fließend zu gestalten, denn Erzähltexte sind „Element[e] einer vielschichtigen Kommunikation.“69 67 68 69 LEFEBVRE, The Production of Space, 1991, 39. STIERLE, Text als Handlung, 213. JANNIDIS, Figur und Person, 2004, 15. 243 244 Demnach besteht ihr Potential nicht in der bloßen Abbildung von Wirklichkeit, sondern im Modellieren komplexer Sinnsysteme. Statt nur über die Außenwelt jenseits des Textrahmens70 zu berichten, tragen sie eine Botschaft, deren Polyvalenz sich erst aus der „Tiefenstruktur“71 des Textes erschließt, wenn auch nur partiell, denn letztlich bleibt der Text ambigue und somit unausdeutbar.72 Insofern sind dem Verstehen literarischer Texte per se Grenzen gesetzt. Überdies bleibt der literarische Text ein „Grenzfall“, weil sich dessen Bedeutung aus der außertextuellen ebenso wie aus der textuellen Realität speist, wodurch sich der Leser im Rezeptionsprozess immer auf einer Gratwanderung zwischen Faktuellem und Imaginärem befindet. Wenn also literarische Texte aufgrund ihres Sinnüberschusses die Fähigkeit besitzen, Möglichkeitsräume zu erschaffen, dann können sie als narrativ konstruierte Räume und ebenso als mehrfach kodierte Zeichensysteme begriffen werden. Ihre Bedeutungsvielfalt und Funktion kommt jedoch erst durch eine symbolische Lektüre zum Tragen, denn gerade der Prozess des Lesens wird von Beutungszuschreibungen und Umkodierungen begleitet.73 4.4 Das Subjekt als Vermittler zwischen sozialem und erzähltem Raum Auf welche Art und Weise werden nun Grenzverflechtungen in literarischen Texten geleistet? In der von Lefebvre dargelegten Konstitution des sozialen Raums ist bereits angelegt, dass es sich stets nur um durch Subjekte hergestellte Räume handeln kann. Der Raum wird ausgehend vom Körper wahrgenommen, erlebt und somit auch produziert und reproduziert. Um den sozialen Raum – wie auch die hier besprochenen Grenzen – als dreistellige Relation zu begreifen, erscheint es notwendig, sich dem Körper zuzuwenden. Mit der Integration des Körpers gelingt es Lefebvre, die Trennung von physischem und mentalem Raum in doppelter Weise aufzuheben, denn einerseits werden der physische, der gedachte und der imaginierte Raum durch den Körper verbunden und andererseits ist der Körper selbst zugleich Subjekt und Objekt (im Raum). Der Körper ist Raum und ist im Raum, und damit auch in der Zeit.74 Darum soll mit diesem Beitrag die Beziehung von topografischer, metaphorischer und narrativer Grenze von den Subjekten ausgehend untersucht werden – den sozialen Akteuren und literarisch konstruierten fiktiven Gestalten. Es sind daher der Autor, der Leser und die literarischen Figuren als Subjekte ins Auge zu fassen. Zur Differenzierung dieser Subjekte sollen drei Ebenen, auf denen sich Kommunikation75 ereignet, unterschieden werden: „Auf der ersten Ebene 70 LOTMAN, Die Struktur literarischer Texte, 1993, 312f. STANZEL, Theorie des Erzählens, 2001, 31ff. 72 CORBINEAU-HOFFMANN, Die Analyse literarischer Texte, 2002, 1-15 u.162-172. 73 LOTMAN, Die Struktur literarischer Texte. München 1993, 59ff. 74 LEFEBVRE, Space,1991, 170f., 294, 405f.; Raumtheorie, 2006, 337, ENGELKE, Kulturpoetiken des Raumes 2009, 55f.; SCHMID, Stadt, Raum und Gesellschaft, 2005, 213f.. 75 NÜNNING, Metzler Lexikon, Literatur- und Kulturtheorie, 2004, 336f.. 71 244 245 kommuniziert ein realer Autor mittels seines Erzählwerks mit einem ebenso realen Leser. Auf der zweiten Ebene kommuniziert ein Erzähler mit der Leserrolle im Text und auf der dritten Ebene kommunizieren die Figuren der Erzählung miteinander.“76 Diese Subjekte können noch so unterschiedlich sein, eines jedoch verbindet sie: Sie handeln. Sie handeln, weil sie kommunizieren. Der Autor wird hierbei als jene Instanz begriffen, die die (symbolische) Sinnstiftung des (physischen) Raumes zunächst vornimmt. In Lefebvreschen Sinne produziert er mit dieser Handlung einen erlebten Raum (Raum der Repräsentation), der mit den Wissensordnungen und kulturellen Symbole des gedachten Raumes (Repräsentationen des Raumes) verbunden ist. Die Lektüre einer Grenzerzählung gründet demnach nicht nur auf einer literarischen Sinnerzeugung, sondern zugleich auf der Symbolisierung des Raumes. Sie erfolgt einerseits durch die Sinnstiftungen des Lesers und wird andererseits durch Textmerkmale gesteuert. Diese steuern die Referenzialisierbarkeit des erzählerischen Raumes, schränken aber zugleich die Deutungsfreiheit ein. Letztlich jedoch entscheidet die Lektüre, ob die Möglichkeiten der Referenz genutzt werden, wobei der Leser seine Schlussfolgerungen im Verlauf einer sprachlichen Handlung, einer imaginären Kommunikation77 zwischen sich, dem Autor und dem ihnen liegenden Text zieht. Damit liegt der Text nicht nur auf der Schwelle zwischen Autor und Leser, sondern ist selbst zugleich eine Schwelle in der Art, dass er sowohl Sprechhandlung und zugleich fiktive Rede ist. Für die folgenden Analysen verstehe ich unter Grenzerzählungen literarische Texte, deren Schauplatz ein Grenzraum ist. Ihr zentrales Thema sind Grenzphänomene, die sich zugleich in den narrativen Strategien widerspiegeln. Auf narrativer Ebene kann die Stimme des Erzählers oder das Handeln der Figuren topographische Grenzen beispielsweise durch das imaginäre Überschreiten zeitlicher Grenzen – wie es im Traum oder in Gedanken geschieht – verbinden, überlagern oder in den Hintergrund treten lassen. Die Analyse der Textbeispiele wird folglich darauf ausgerichtet sein, diesen implizit vorausgesetzten Grenzverschränkungen sowie dem Zusammenspiel der verschiedenen Grenzarten im erzählten Raum nachzugehen und sie zu entziffern. Im polymorphen Charakter der Grenze und in Prozessen ihrer Überschreitung, Veränderung und Überlagerung werden die kulturellen Interferenzen erwartet. 5. Grenzverschränkungen im erzählerischen Raum: Vier Grenzerzählungen Die Verwendung des Motivs der Grenze ist in der Literatur aus Österreich geradezu topisch. Die Autoren, so stellt Wendelin Schmidt-Dengler fest, seien zumeist Grenzgänger, die sich mit ihren Fragen in politische und kulturelle 76 77 JANNIDIS, Figur und Person, 2004, 16. MARTINEZ/ SCHEFFEL, Einführung in die Erzähltheorie, 2007, 17. 245 246 Grenzen einnisten und dabei ihre Grenzerfahrungen in die Sprache zurückprojizieren78. Eine solche in gewisser Weise reziproke Beziehung kann sich in den Biographien der Autoren zeigen und in literarischen Texten artikuliert sein. Diese Eigenheit gilt zweifelsohne auch für andere Literaturen, dennoch ist die Habsburger Monarchie, deren sprachlich-kulturelle Grenzen in ihren Nachfolgestaaten nach 1918 ihre politische Bestätigung fanden, hierfür exemplarisch. Seit diesem Zeitpunkt wird hier die Grenzthematik für die Literatur besonders relevant.79 Für den Kontaktraum Burgenland/ Westungarn ist die Grenzziehung von 1922 von einer so großen gesellschaftlichen Bedeutung, dass sie als Zäsur begriffen wird. Hier setzt auch der zeitliche Rahmen meiner Analysen an, die sich von den historischen Entwicklungen bis in die 1990er Jahre leiten lassen. Maßgeblich für die Textauswahl waren neben dem geographischen Schauplatz auch biographische Kriterien. Untersucht werden Texte von Autoren, die persönlich von der Erfahrung der Grenze geprägt wurden und die in ihren Erzählungen die Grenzwirklichkeit wiederholt verarbeitet haben. Sie zeichnen sich durch eine ausgeprägte Sensibilität für Grenzsymbolik sowie eine differenzierte Betrachtung und Darstellung des Grenzraumes aus. Entweder stammen sie direkt aus dem Grenzgebiet, oder sie haben einen starken biographischen Bezug zur Region Burgenland/ Westungarn, wo sie eine längere Phase ihres Lebens verbrachten. Dieses Kriterium ist entscheidend, da es die jeweilige Perspektive, aus welcher der Grenzraum wahrgenommen wurde, zu beeinflussen vermag: Die ausgewählten Autoren haben ihren Heimatort zum Zeitpunkt des Schreibens aus persönlichen bzw. politischen Gründen verlassen und beschreiben den sozialen Raum aus der Distanz, und zwar in zweierlei Hinsicht: zum einen aus einem zeitlichen Abstand, wobei sie trotzdem noch als Zeitzeugen gelten, und zum anderen aus einem räumlichen Abstand, vornehmlich aus der Außenperspektive. Gefragt wird immer auch nach den Möglichkeiten des Schreibens unter bestimmten historischen, politischen Bedingungen, wobei der geographische Raum eine Konstante bleibt, der aus wechselnden Perspektiven bewertet wird. Verweise auf biografische Fakten haben freilich nicht das Ziel, eventuelle Intentionen nachzuweisen, die der Autor mit seinem Text möglicherweise verfolgt. Die biografischen Faktoren werden nur in dem Maße berücksichtigt, wie sie für die Interpretationen relevant erscheinen, da sie diese beeinflussen und verändern können. Die Textbeispiele wurden chronologisch gemäß der erzählten Zeit, die sich aus den expliziten oder impliziten Zeitangaben zur historischen Zeit erschließt, angeordnet. Diese deckt sich – mit einer Ausnahme, dem Roman von Helene Flöss, weitestgehend auch mit der Veröffentlichung des jeweiligen Werkes. Es 78 SCHMIDT-DENGLER, „Und gehen auch Grenzen noch durch jedes Wort“ (Ingeborg Bachmann). Zum Motiv der Grenze in der österreichischen Literatur des 20. Jahrhunderts, 1999, 223. 79 Ebd.; MITTERBAUER, Konstruktion von Identität, 2007, 7-12. 246 247 folgt nun ein Close-Reading ausgewählter längerer Textpassagen aus drei Romanen sowie einer vollständigen Erzählung aus einem Erzählband. 5.1 Helene Flöss: Grenzverschiebung und Sprachwechsel Das erste Textbeispiel ist dem Roman „Brüchige Ufer“ von Helene Flöss entnommen. Das Werk bildet insofern eine Ausnahme, als es einerseits das jüngste ist – der Roman wurde 2005 publiziert – andererseits sich aber seine Handlung von Beginn des 19. Jahrhunderts bis in die 1990er Jahre des 20. Jahrhunderts erstreckt. Diesbezüglich kann es als eine Art Rahmung verstanden werden, die die anderen Erzählungen umschließt. Auch das Genre unterscheidet den Text von den anderen: Durch seine Erzählweise ermöglicht er einen eher landeskundlich-ethnografischen Blick auf den sozialen Grenzraum. Im Roman wird die Geschichte einer burgenländischen Familie über drei Generationen erzählt. Um Gyula Regner, Hauptfigur und jüngstes Mitglied der Familie, entfalten sich die Biographien der anderen Angehörigen. Alte Fotografien erinnern an Personen, die dabei vor allem durch ihre Kindheitserfahrungen porträtiert werden. Den Impuls für die Erinnerungsarbeit Gyulas gibt seine im Sterben liegende Mutter. Das Denken an den Großvater versetzt ihn in die Vergangenheit und lässt ihn diese aufs Neue durchleben. Im folgenden Textbeispiel wird aus dem Leben des Großvaters Michael Regner berichtet, der zweimal nach Amerika auswanderte und doch wieder in seinen Heimatort zurückkehrte. Die Passage nimmt Bezug auf die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg und beschreibt am Schicksal eines fiktiven Zeitzeugen den gesellschaftlichen Wandel nach der Grenzziehung im Jahr 1922/23. Das Dorf war seit Menschengedenken im Frieden heimisch, daran gewöhnt, die armseligen Tage zu ertragen, die langen stummen Winter auszuhalten […] Von den Regeln des Weltenlaufes wussten sie nichts. Auch von den Regeln des Kaisers hatten sie nichts gewusst und immer nur alles erlitten. Und dann hieß es, den Kaiser in Wien gäbe es gar nicht mehr, den König von Ungarn auch nicht, und sie selbst würden auch nicht mehr zu Ungarn gehören. Und wohin, sagte keiner. Die Pfarrer und die übrigen Gebildeten redeten von der erlösten ungarischen Nation und davon, dass es bald eine neue Grenze geben würde zwischen dem eigenen Volk und den büdös swáb. Keiner der Dörfler wusste, was diese Reden zu bedeuten hatten und welche Fährnis diese ganze Aufregung versprach. […] Hätte einer Michael Regner gefragt, was er denn sei, Deutscher oder Ungar, er hätte seinen Hut ein Stück zur Seite geschoben und sich darunter ein wenig verlegen gekratzt. Ungar hätte er wahrscheinlich geantwortet. Vielleicht hätte er aber auch gesagt: „Mir redn do deitsch“, und der Frager hätte es sich aussuchen können.“80 80 FLÖSS, Brüchige Ufer, 2005, 43f.. 247 248 Der Darstellung des Dorfes ist zu entnehmen, dass sich der Handlungsort in einem ländlichen Gebiet, in einer äußerst peripheren Lage befindet. Der auktoriale Erzähler berichtet vom Alltag der Dorfbewohner und erfasst deren Lebenswelt als eine von ökonomischen Nöten, Resignation, tiefem Misstrauen und der Unkenntnis über gegenwärtige politisch-rechtliche Entscheidungen und historische Veränderungen geprägte Wirklichkeit. Halbwissen und Spekulationen wirken einer Identifikation entgegen und spiegeln den Grenzzustand der Figur – jenes „Weder-Noch“, jenen Zustand in der Schwebe, der ihm keine eindeutige Zuordnung erlaubt, denn er fühlt sich nicht als das Eine und auch nicht als das Andere. Vielmehr verdeutlicht seine Reaktion eine Form der Unsicherheit, die sich aus der Unwissenheit über historische Ereignisse und aktuelle politische Vorgänge speist. Es ist wohl jene Unwissenheit, in der auch der Grund für die Handlungsunfähigkeit der Dorfbewohner liegen mag. Aber selbst dieses Nicht-Handeln ist schon eine Form des Handelns, aus der eine kollektive Machtlosigkeit erwächst. Ein Umstand, der die Dorfbewohner zwingt, das alltägliche Dasein „auszuhalten“ und das Leben perspektivlos zu ertragen. Sie fühlen sich der Geschichte als Marionetten ausgeliefert und weisen jede Verantwortung von sich, denn sie empfinden keinerlei Rechte. Die Unwissenheit der Dorfgemeinschaft könnte als eine kollektive Machtlosigkeit gedeutet werden, wenn es heißt: „Von den Regeln des Weltenlaufes wussten sie nichts“ und sie haben „immer nur alles erlitten“. Dieser Gedanke des Duldens, des Akzeptierens und Tolerierens referiert einerseits auf die Tatsache, dass es bis 1918 in Ungarn, das heißt im heutigen Burgenland, kein allgemeines Wahlrecht (Männerwahlrecht) gab. Wodurch die Mehrheit der bäuerlichen Landbevölkerung von der politischen Partizipation, die einer politischen Elite vorbehalten war, ausgeschlossen blieb. Andererseits verweist es auf das alte gottgegebene Legitimitätsprinzip der HabsburgerMonarchie, das im Titel des letzten Herrschers, Franz Joseph I., dem Kaiser von Österreich und Apostolischen König von Ungarn, seinen Ausdruck fand.81 Der fiktive Grenzraum wird mit faktualen Elementen durch Bezugnahme auf einen konkreten historischen Diskurs semantisiert: Es geht um das Ende und die Auflösung der k. u. k. Doppelmonarchie, um die Bildung und Legitimierung ihrer Nachfolgestaaten nach nationalstaatlichen Prinzipien, einschließlich der Gründung des Burgenlandes. Diese Bezüge konstituieren im Text eine ethnischsprachliche Trennlinie zwischen „dem eigenen Volk“ und den „büdös swáb“. Die Bezeichnung der Schwaben, die zu den ersten Siedlern der Region gehörten, wird auf Ungarisch mit einem negativ konnotierten Bild des Schwaben verknüpft: „büdös swáb“, heißt auf Deutsch „stinkender Schwabe“. Dieses Schimpfwort steht in Opposition zur emotionalen Konnotation von „der erlösten ungarischen Nation“ und dient explizit der Bewusstmachung einer konstruierten Alterität. Auf der anderen Seite erzeugt die syntaktische Nähe der Zuschreibungen „büdös swáb“ und „der erlösten ungarischen Nation“ den Eindruck eines spöttischen Belächelns, vermittelt durch die Stimme des 81 ANDERSON, Die Erfindung der Nation, 1988, 27-30. 248 249 Erzählers. Überdies führt diese Aussage zur Annahmen, dass erst die Herstellung der Staatsgrenze Differenz erzeugte, oder eben eine Form von Interferenz zwischen der deutschen und der ungarischen Bevölkerung. Das heißt, der Prozess der Abgrenzung verändert die Wahrnehmung der Akteure und stiftet gleichzeitig Identität: Der Nachbar wird plötzlich als der Andere, der Fremde wahrgenommen. Vormals fließende Übergänge zwischen sprachlich unterschiedlichen sozialen Gruppen, hier der Dorfgemeinschaften, werden nach der politischen Grenzziehung zu einer erfahrbaren, wahrnehmbaren und klar definierten Trennlinie, deren Legitimität nunmehr staatsrechtlich bestimmt ist. Die Identität stiftende Wirkung der Grenzziehung wird auch im Nachdenken des Großvaters deutlich, der mit Unsicherheit auf die Entscheidungsfrage eines imaginierten Dritten antwortet: Einerseits nämlich bekennt er sich zur ungarischen Nation, anderseits aber zur deutschen Sprache. Und weil er sich nicht so recht entscheiden kann oder will, verortet er sich zwischen beiden, wenn es heißt: „der Frager hätte es sich aussuchen können“. Der Erzähler fordert damit den Leser auf, aus diesen Sinnoptionen selbst auszuwählen. Aber es bleibt nur ein Gedankenspiel im Konjunktiv, denn nach seiner politischen Einstellung und Meinung wurde er ja nicht befragt. Die Perspektive des auktorialen Erzählers korrespondiert mit der Wahrnehmung und Reflexion des Großvaters. Sie verdeutlicht, dass er sich der sozialen Gruppe der Dorfbewohner zugehörig fühlt, wodurch seine individuellen Erinnerungen stellvertretend für das kollektive Gedächtnis lesbar werden. Außerdem zeigt es, auf welche Weise die Konstruktion von personaler Identität mit der einer Gemeinschaft verbunden ist. Die Textpassage veranschaulicht zudem, dass die Semantisierung der Grenzregion von unterschiedlichen Referenzbezügen bestimmt wird. Um eine fiktive Wirklichkeit des Grenzraumes zu konstruieren, wird selektiv vor allem auf den historischen und sozialen Diskurs Bezug genommen. Die Grenze wird sowohl in geographisch-konkreter als auch in symbolischer Hinsicht thematisiert. Neben ihrer Funktion als Staatsgrenze generiert sie soziale und gesellschaftliche Machtverhältnisse durch An(Ordnung) von Wissen und spiegelt zugleich den zeitgenössischen Machtdiskurs. Des weiteren wird verdeutlicht, dass die Herstellung einer topographischen Grenze eine neue Wahrnehmung bestehender und latent erfahrener Unterschiede bewirkt und die Ausdifferenzierung von Identität bestimmt. 5.2 Agota Kristof: Grenzüberwindung und Verlusterfahrung Das zweite Textbeispiel zeichnet ein gänzlich anderes Bild von der Grenzregion. Der Auszug ist dem Roman „Das große Heft“ von Agota Kristof entnommen. Der Roman stellt das erste Buch einer Romantrilogie dar und ist zugleich auch das erste Buch der Autorin. Erschienen ist der Band 1986 auf Französisch und ein Jahr später in deutschsprachiger Ausgabe. Agota Kristof ist 1956 aus Ungarn in die Schweiz geflohen, lernte ein wenig Französisch und schrieb diesen 249 250 Welterfolg, der seither in 38 Sprachen übersetzt wurde, mit Hilfe eines Wörterbuches. Auffallend an diesem Werk ist die Sprache, die sich durch Einfachheit auszeichnet: es sind kurze, unpathetische, auf das Wesentliche reduzierte Sätze. Ungewöhnlich ist auch seine Nicht-Referenzialisierbarkeit, womit es sich deutlich vom vorhergehenden Erzähltext unterscheidet. Es ist Krieg. Eine kleine Stadt an einer Grenze bildet den Schauplatz der Handlung. Erzählt wird die Geschichte namenloser Zwillinge, die zum Schutz vor Bombardierung bei der Großmutter untergebracht werden. Das Haus der Großmutter ist das letzte Haus im Ort. Unweit davon befinden sich der Militärstützpunkt und die Grenze zu einem anderen Land. Der Roman erzählt die Chronik einer Kriegskindheit aus der Perspektive der beiden Jungen, die über das Kriegsgeschehen ein Tagebuch führen. In diesem „großen Heft“ halten die Zwillinge alles fest, was sie erleben. Sie schreiben Aufsätze, wie sie es nennen, und nach Korrektur übertragen sie alles in jenes „große Heft“. Ihre Distanz zur Kriegs-Wirklichkeit ist Ausgangspunkt für ihr Schreiben, wofür sie eine einfache Regel haben: Der Aufsatz muß wahr sein. Wir müssen beschreiben, was ist, was wir sehen, was wir hören, was wir machen. […] Die Wörter die die Gefühle definieren, sind sehr unbestimmt, es ist besser man vermeidet sie und hält sich an die Beschreibung der Dinge, der Menschen und von sich selbst, das heißt an die getreue Beschreibung der Tatsache.“82 Neben dem Schreiben, also ihrem literarischen Projekt, widmen sie sich ihrer körperlichen und geistigen Erziehung und verrichten diverse Übungen. Diese Handlungen könnten als Strategien gegen die emotionale Kälte und Bindungslosigkeit gelesen werden und insofern eine Art Schutzmaßnahme darstellen. Mit den erzwungenen Körpergrenzen symbolisieren die Figuren ihre Abgrenzung zur Außenwelt, die sie herstellen, beispielsweise: „Zur Abhärtung des Körpers und des Geistes“ und „Übungen in Blindheit und Taubheit“ oder in „Grausamkeit“. So trainieren sie sich systematisch Empfindungen bis auf ein existentielles Minimum weg. Sie befreien sich von den das nackte Überleben verstörenden Gefühlen wie Schmerz, Trauer, Hunger, Angst oder Liebe, bis sie fähig sind, im wörtlichen Sinne über Leichen zu gehen, was mit den folgenden Textpassagen illustriert sei: - Seit Jahren haben Sie nichts von sich hören lassen. Er zeigt uns seine Hände. Er hat keine Fingernägel mehr. Sie sind an der Wurzel ausgerissen worden: - Ich komme aus dem Gefängnis. Man hat mich gefoltert. - Warum? 82 KRISTOF, Das große Heft, 1987, 29f.. 250 251 - Ich weiß nicht. Wegen nichts. Ich bin politisch verdächtig. Ich kann meinen Beruf nicht ausüben. Ich werde ständig bewacht. Man durchsucht regelmäßig meine Wohnung. Für mich ist es unmöglich, in diesem Land zu leben. Wir sagen: - Sie wollen über die Grenze. Er sagt: - Ja, Ihr lebt doch hier, bestimmt kennt ihr, wißt ihr … - Ja, wir kennen, wir wissen. Die Grenze ist unpassierbar. Vater senkt den Kopf, betrachtet einen Augenblick seine Hände, sagt dann: - Es gibt bestimmt eine Lücke. Es gibt bestimmt eine Möglichkeit, durchzukommen. - Wenn Sie Ihr Leben aufs Spiel setzen, ja. - Lieber sterbe ich, als daß ich hierbleibe.83 Der Vater, der wegen seiner Tätigkeit als Kriegskorrespondent nach seiner Rückkehr zur Gefängnisstrafe verurteilt wird, kann nach seiner Freilassung die Denunziation der herrschenden Macht nicht länger ertragen. Unfähig unter den totalitären Bedingungen der neuen Regierung zu existieren, sieht er sich gezwungen, seine Heimat zu verlassen. Die Semantisierung des Raumes entsteht durch die subjektive Wahrnehmung der Zwillinge und die Äußerungen des Vaters. Es wird deutlich, dass seine Vorstellungen nicht dem hegemonialen Diskurs entsprechen. Dem Verhältnis des Subjekts zum Raum wird durch konnotative Emotionalisierung und Bewertung Ausdruck verliehen, wobei die Konstruktion von Zugehörigkeit und Loyalität mit Bezugnahme zum Machtdiskurs hergestellt wird. Negative Erinnerungen des Vaters werden zudem durch den Anblick seiner Hände signalisiert. Er lässt sich von seinem Entschluss trotz Warnungen nicht abbringen. Also überlegen die Zwillinge sich einen Plan und bereiten den Grenzübertritt für den nächsten Tag vor: Die Patrouille entfernt sich. Wir sagen: - Los, Vater. Wir haben zwanzig Minuten, bis die nächste Patrouille kommt. Vater nimmt die beiden Bretter unter die Arme, er geht vor, er legt eines der Bretter an die Barriere, er klettert. Wir legen uns bäuchlings hinter den großen Baum, wir halten uns mit den Händen die Ohren zu, wir machen den Mund auf. Es gibt eine Explosion. Wir rennen mit den beiden andern Brettern und dem Stoffbeutel zum Stacheldraht. Unser Vater liegt an der zweiten Barriere. Ja, es gibt eine Möglichkeit, über die Grenze zu gehen: wenn man jemand vor sich hergehen läßt. 83 KRISTOF, Das große Heft, 1987, 136f.. 251 252 Den Stoffbeutel packend, in die Fußspuren tretend, dann über den leblosen Körper steigend, geht einer von uns hinüber in das andere Land. Derjenige, der zurückbleibt, kehrt in Großmutters Haus zurück.84 Räumliches Handeln und sicheres Auftreten der Protagonisten verdeutlichen ihr exaktes Wissen und ihre Bewertungen. Der Grenzraum ist ihre vertraute Lebenswelt. Sie wissen um die Fluchtmöglichkeiten und Risiken der Grenzüberschreitung. Das Lexem „Stacheldraht“ referiert auf eine unüberwindbare Grenze zwischen zwei unterschiedlichen politischen Systemen, wodurch nur sehr vermittelt auf den „Eisernen Vorhang“ verwiesen wird. Die Bewertung der Flucht als eigene Chance zeigt sich in der Handlung des Jungen, der die markierte Wegstrecke nutzt, um zu fliehen. Emotionslosigkeit und eine mitleidlose Distanz zum Leben stellt diese Handlung dar und unterstreicht die existentielle Bedeutung der Grenze für die Figuren. Die Grenzüberschreitung thematisiert Verlusterfahrung in vielfacher Hinsicht. Es ist der Verlust des Vaters, die Trennung vom Bruder und der Weggang aus der Heimat. Zur Darstellung von Emigration, Entwurzelung und Identitätsverlust bedient sich die Autorin des literarischen Motivs der Zwillinge, das einerseits auf die Spaltung des Subjekts und andererseits auf die doppelte Identität verweist. Folglich wird die Semantisierung des Raumes hier durch die Beschreibung der Grenzüberschreitung als Identität stiftender Akt vorgenommen. In diesen Textpassagen finden sich mehrere autobiographische Faktoren, auf die kurz verwiesen sei: Agota Kristof kam mit vierzehn ins Internat und wurde so von ihren beiden Brüdern getrennt. Von ihrem Vater, der im Gefängnis saß, hatte sie Jahre nichts gehört, die Mutter arbeitete in einer anderen Stadt. Mit 21 Jahren floh sie 1956 nach Niederschlagung des Aufstandes aus ihrer Heimatstadt Köszeg in die französische Schweiz, wo sie mit über 50 Jahren ihr erstes Buch schrieb. Ihre objektive Schreibweise eignete sie sich beim Verfassen von Hörspielen an, dabei lernte sie, sich streng an das Sichtbare und Hörbare zu halten. Gerade mit dieser kargen und reduzierten Sprache werden Grenzen gesetzt – eine spezifische narrative Strategie, welche die Begrenztheit von Äußerungen und somit die Grenzen von Sprache erfahrbar macht. Zugleich wird damit die ästhetische Distanz auf der Ebene des Erzählens fortgeführt, wobei das Gestaltungsmittel und die Grenzthematik subtil aufeinander abgestimmt werden. Was hat mich veranlasst, diesen Roman auszuwählen, und wie gelingt es, die Handlung in Westungarn zu verorten? Zweifellos liegt die Spezifik des Textes auch in dessen Anonymität, da weder Ort noch Person namentlich benannt sind und auch keine Jahreszahlen erwähnt werden; vieles bleibt in der Schwebe. Hierdurch aber erlangt der Text eine universelle Dimension und Vielschichtigkeit. Und gerade weil er eine Raumbeschreibung entwirft, die nicht referentiell ist, wird dem Leser ein ungewöhnlicher Freiraum zur symbolischen und allegorischen Lektüre und Entzifferung geboten, um die Figuren, deren 84 Ebd., 141. 252 253 Handeln und den Raum mit Sinn zu erfüllen. Zugleich aber erlaubt der Text eine Lesart, die die Beschreibung eines Grenzgebietes unter Kriegsbedingungen erwartet. Die Bedeutungszuweisung kann erstens auf einer referentiellen Ebene erfolgen. Das heißt, durch die Identifikation eines Handlungsortes, nämlich Westungarn, und einer konkreten historischen Zeit, also des Zweiten Weltkrieges und der Nachkriegszeit. Allerdings gelingt diese Semantisierung nur durch Investition historischer, geographischer und politischer Kenntnisse sowie durch die Deutung der in den Textelementen angelegten topographischen Muster. Und zweitens nehme ich in diesem Fall auf die Selbstaussage der Autorin Bezug, um den geographischen Schauplatz einzugrenzen. Mehrfach wurde sie zu ihrem Roman befragt. Sie äußerte hierzu, dass ihre Romane in ihrer Heimatstadt, der Grenzstadt Köszeg angesiedelt sind und dass sie die Schauplätze beim Schreiben sehr genau vor sich sieht. Deutlich wird an dieser Grenzerzählung ein konkretes Problem: Wie ist zu verfahren, wenn es nicht gelingt, den physischen Raum zu „enttarnen“ bzw. dieser nur unter Berücksichtigung der Aussage des empirischen Autors zu kontextualisieren ist. Indem sich dieser Text jeglicher Wertung entzieht, demonstriert er zugleich die Auseinandersetzung mit der Grenzproblematik als eine universelle Schwierigkeit und Herausforderung. Dieser Text entzieht sich jeglicher Zuordnung – zwar erlauben die lexikalischen Einheiten wie „Stacheldraht“ und „politische Verfolgung“ die Verortung der Handlung im Umfeld einer Systemgrenze – aber um welche es sich handelt, bleibt vollkommen offen. Es könnte jene zwischen Mexiko und den USA ebenso wie irgendeine entlang des Eisernen Vorhangs sein – doch nicht zwangläufig die zwischen Ungarn und Österreich. 5.3 Terézia Mora: Grenzüberschreitung und Identitätswechsel85 Es ist naheliegend, dass mit dem zentralen Thema der Grenze die Motive der Flucht und des Schmuggels als Form von Grenzhandlung und Grenzübergang eng verknüpft sind. In der Erzählung „Der See“ aus dem Erzählband „Seltsame Materie“ von Terézia Mora86 wird beides in unterschiedlicher Weise thematisiert. Zum einen geht es um die Überwindung einer konkreten geographischen Grenze, zum anderen um das Überschreiten persönlicher Grenzen. Ebenso verhält es sich mit der Darstellung von Flucht. Einerseits ist die Handlung, also die konkret vollzogene Flucht im erzählten Raum87 gemeint. 85 Dieser Abschnitt ist eine überarbeitete Fassung des Beitrags „Grenzen erfahren – Grenzen erhandeln –Grenzen erschreiben“; siehe HEGEDÜS, Grenzen erfahren, 2011. 86 Terézia Mora, eigentlich Terézia Kriedemann, wurde 1971 in der ungarischen Grenzstadt Sopron geboren. Sie lebt seit 1990 in Berlin, wo sie als Schriftstellerin, Übersetzerin aus dem Ungarischen und Drehbuchautorin tätig ist. Ihr Debüt, für das sie mehrfach ausgezeichnet wurde, ist der Erzählband Seltsame Materie. Er ist 1999 erschienen und umfasst zehn Geschichten, die allesamt im ungarisch-österreichischen Grenzgebiet angesiedelt sind, wie es der Klappentext dem Leser suggeriert. 87 WÜRZBACH, Erzählter Raum, 2001, 105-129. 253 254 Andererseits aber auch die imaginierte Flucht, bei der Bewusstseinsgrenzen des „Denkbaren und Undenkbaren“88 im Traum durchschritten werden. Diesbezüglich können für die Analyse folgende Fragen abgeleitet werden: Wer ist auf der Flucht, vor wem und weshalb? Oder aus der anderen Perspektive besehen: Wer schmuggelt unter welchen formalen Bedingungen wen und warum? Wie werden die Landschaft und die Atmosphäre des Grenzraumes dargestellt und beschrieben? Ferner, welche Wirkung haben die räumlichen Bedingungen auf die Wahrnehmung und das Bewusstsein der literarischen Figuren? Des Weiteren: Inwiefern wird Mehrfachidentität dargestellt und werden dabei überhaupt soziale Differenzen bzw. Konflikte thematisiert? Und schließlich ist auch zu fragen, wie die Figuren mit ihren Erinnerungen und Erfahrungen umgehen und ob sich hieraus Rückschlüsse über das kulturelle Gedächtnis des Grenzraumes ableiten lassen. „Der See“ wird aus der Perspektive eines jungen Mädchens erzählt. Schauplatz der Handlung ist ein Bauernhaus in einem Grenzdorf, das unmittelbar an einem See89 liegt. Die Geschichte ereignet sich zu Weihnachten und handelt vom plötzlichen Eintreffen eines Fremden, eines Flüchtlings, der auf Drängen der Mutter vom Großvater über die Grenze gebracht werden soll. Obwohl Orte und Personen namenlos bleiben, werden der Grenzraum und der See durch mehrere indirekte Referenzen soweit näher bestimmt, dass als Handlungsort vom Neusiedler See und dessen östlichem Ufer ausgegangen werden kann. Das Dorf am See ist ein Grenzdorf. Es liegt an der äußersten Peripherie des Landes an einem angrenzenden „Drüben“, welches zugleich von einer doppelten Grenze, der Staats- und der Binnengrenze, eingeschlossen ist. Ebenso ist das Haus der Familie in peripherer Lage situiert, und auch der Hof selbst ist an zwei Seiten durch eine Mauer von der dörflichen Umgebung und dem „stinkenden kleinen Krebsbach“90 abgetrennt: „Unser Haus ist das unterste im Dorf, das letzte Ende, wie man es nennt, in die engste Stelle zwischen Hügel und See gequetscht. Der Bach hinter uns ist nach Krebsen benannt, die es hier lange nicht mehr gibt, er umfließt unsere Mauer und biegt kurz darauf ab zum See.“91 Dennoch werden diese alles umschließenden und allgegenwärtigen Grenzen vom See durchbrochen, der in seiner topologischen Verbindungsfunktion dem Grenzraum einen fließenden dynamischen Charakter verleiht, den Raum in Bewegung setzt und so einen Gegenpol zur stabilen, starren künstlichen Trennlinie darstellt. Der Bach ist die Verbindung zum See und der See der Übergang zur anderen Seite. Überdies enthält diese Textstelle eine indirekte Referenz auf ein konkretes Toponym: Der Bach, der nach Krebsen benannt ist, verweist auf den Ort Kroisbach, der – abgeleitet vom Gewässernamen „Krebsbach“ – etymologisch 88 ESSBACH, Anthropologische Überlegungen zum Begriff der Grenze in der Soziologie, 1999, 94. 89 Die Wiederholung des unbestimmten Artikels signalisiert die topographische Unbestimmtheit der Geschichte, die auf jegliche Toponymie verzichtet. Ebenso könnte die Geschichte – entgegen des paratextuellen Hinweises – in einem anderen Grenzraum verortet sein. 90 MORA, Seltsame Materie, 1999, 55. 91 Ebd. 254 255 auf die ursprünglich slawische Bezeichnung „rak(v)nica“ zurückgeht92, die sich auch im Ungarischen Kompositum Fertőrákos (ungarisch „rák“ bedeutet deutsch „Krebs“) wiederfindet. „Rak“ ist zudem auch die slowakische Bezeichnung für Krebs. Diese Übersetzungen zeigen, wie sich auf lexikalischer Ebene, im Wort selbst, der Interferenzraum spiegelt. Denn die Überschneidungen im deutschen und ungarischen Ortsnamen lassen überdies erkennen, dass es sich hier um einen historischen Raum handeln muss, der gleichzeitig oder abwechselnd von deutschen, slawischen und ungarischen Gemeinschaften besiedelt wurde und deshalb als ein kultureller Interferenzraum benannt werden kann. Es ist jenes Grenzdorf am See, das während der Grenzöffnung 1989 eine zentrale Rolle spielte und heute einen Erinnerungsort93 darstellt. Im erzählten Raum stellen das Dorf und der See an einer geographischen Grenze einen Gegenraum, ein Heterotopos94 dar, denn er ist ein andersartiger Raum, der – von einer Binnengrenze abgetrennt – außerhalb der anderen Orte liegt, diese zwar repräsentiert, aber zugleich in ihr Gegenteil verkehrt. Das Dorf ist ein Ort, der „[…] in Verbindung und dennoch im Widerspruch zu allen anderen Orten […]“95 steht und somit ein heterotoper Ort ist, weil er „[…] ein System der Öffnung und Abschließung […]“96 erzeugt, das den Raum gleichsam isoliert aber auch einen Zugang – den Zutritt durch Passierscheine – ermöglicht. Unter diesem Aspekt ließen sich Grenzräume generell als Heterotopien denken, weil hier eine Ordnung suspendiert, neutralisiert und die andere nicht etabliert ist.97 Oder sind Grenzräume doch vielmehr Durchgangsorte, „Nicht-Orte“98, an dem die Körper in dynamischer unauflöslicher Relation zueinander stehen, und deshalb eher provisorische Transiträume, in denen „Worte und Bilder“99 zirkulieren, so dass sie nicht über ein Gedächtnis und eine eigene Identität verfügen? In der Erzählung „Der See“ finden sich beide Konzepte wieder, denn einerseits erscheint das Dorf am See als Gegenort, anderseits aber agieren die Figuren – ortsgebunden und verankert in der Zeit – indem sie erinnernd auf ihre Raumerfahrungen zugreifen, diese (re)produzieren, wodurch sie dem Raum Sinn verleihen und sich den „Nicht-Ort“ anzueignen versuchen. Um im Folgenden die unterschiedlichen Facetten von Flucht zu veranschaulichen, möchte ich die eingangs formulierte Leitfrage noch einmal aufgreifen: Wer schmuggelt wen, warum, wann und wie? Unter diesem Aspekt 92 Trummer, Slawische Steiermark, 1996. In Sopronpuszta befinden sich zum Gedenken an das Paneuropäische Picknick mehrere Denkmäler und Skulpturen. 94 FOUCAULT, Von anderen Räumen, 2006, 320. 95 Ebd., 320. 96 Ebd., 325. 97 Ebd., 320-322. 98 AUGÉ, Orte und Nicht-Orte, 1994, 90-135. Augé führt Foucault Ansatz weiter und entwirft seine Konzeption der „Nicht-Orte“, die er jedoch im Unterschied zu Foucaults Gegenorten nicht als isoliert und abgetrennt betrachtet, sondern dem ein dynamisch-relativistisches Verständnis von sozialen Räumen zugrunde legt. Raumtheorie, 2006, 295. 99 AUGÉ, Orte und Nicht-Orte, 1994, 127. 93 255 256 will ich auf jene Charaktere der Erzählung eingehen, die über das Motiv der Flucht miteinander verbunden sind und in einer wechselseitigen Beziehung zueinander stehen. Nach meiner Lesart sind das der Großvater, der Fremde und das Mädchen. Die folgenden Textpassagen sollen illustrieren, wie die IchErzählerin über diese Verkettung reflektiert. Wer aber ist eigentlich dieser Fremde? Er weiß nicht, wo er hier gelandet ist. Er begreift erst nach einiger Zeit, daß sich diese mehlbestäubten Menschen immer noch im falschen Land befinden. Oder vielmehr: daß er selbst sich im falschen Land befindet. […] Er stottert erschrocken in seinen fremden Sprachen, die er alle nicht beherrscht, bis er schließlich durcheinanderkommt und verstummt. Er starrt uns nur noch an. Sein verschwommener grauer Wolfsblick. Lange Stille.100 Er will, wie alle, zum See. „Jemand hat ihm gesagt, er brauche nur dem Bach bis zur Mündung zu folgen, dann sei er am Ziel. Nur daß der Bach zu früh zu Ende war.“101 Die Ich-Erzählerin übernimmt die Perspektive des Fremden und beschreibt seine Gedanken, die zunächst auf ein Ausgeliefertsein und Verwirrung hindeuten. In der Eingangsszene wurde er als mittellos dargestellt, der bis auf seinen Körper, bis auf das nackte Leben, reduziert ist: „[…] er hat doch nichts mehr. Noch nicht einmal einen zweiten Schuh. Diese Gauner, die ihn den Bach haben runterlaufen lassen, haben ihm alles weggenommen.“102 – außer seinem Goldzahn und dem Ehering, wobei er sich auf den von der Mutter angebotenen Tauschhandel einlässt und bereit ist, auch diese Dinge wegzugeben. Er hat alles verloren und aufgegeben und hofft, dafür die Freiheit zu gewinnen. Mit der Beschreibung dieser Figur wird Verlusterfahrung zugleich auf mehreren Ebenen thematisiert: neben dem Verlust von Besitz und Eigentum geht es auch um den Verlust von Identität sowie um Trennung, was im Weggeben des Eheringes symbolisiert wird. Auch der temporäre Verlust der Sprache drückt innere Zerrissenheit und Verzweiflung aus. Der Fremde kann nur noch phonetische Laute hervorbringen, sich nicht einmal mehr artikulieren, was bis zur Sprachlosigkeit führt. Und dennoch, er ist zwar sprachlos, aber nicht tatenlos, denn er handelt: „Er will, wie alle, zum See“, der ihm die Flucht über die Grenze ermöglichen soll und durch den er auf die andere Seite zu gelangen hofft. Aber nur der Großvater kennt den Weg dorthin. Der Großvater, der von Beruf eigentlich Fischer ist, „[…] legt seit sechzig Jahren seine Angeln und Reusen im Schilf aus“.103 Aber nun haben sich die Zeiten geändert: 100 101 102 103 MORA, Seltsame Materie, 1999, 55f.. Ebd., 56. Ebd., 53. MORA, Seltsame Materie, 1999, 56. 256 257 Seitdem Vater nicht mehr bäckt, bringt Großvater wieder Fremde nach drüben. Er folgt mit ihnen dem versteckten Bachlauf durch den Schilfgürtel. In Hörweite des offenen Wassers läßt er sie allein. Er zeigt ihnen einen Stern, dem sie folgen sollen bis ins Wasser und dann tauchen, solange es geht, bis es von einer Welle zur nächsten schließlich drüben ist. Großvater hat den Weg nicht vergessen, obwohl er ihn lange nicht mehr gegangen ist. Jahrzehntelang kam kaum jemand von außerhalb bis zu diesem Dorf. Die Passierscheine hatten einen grünen Streifen für Kinder, einen roten für Erwachsene, er lief quer über die Vorderseite, strich alles durch, als wäre es ungültig. Aber sie waren gültig, die Ausweise, und obwohl uns die Grenzhüter als Dorfbewohner kannten, kontrollierten sie sie jedes Mal. Anfangs, erzählt Vater, schlitzten sie selbst den Fischen aus Großvaters Fang die Bäuche auf, wer weiß, was sie da finden wollten. Großvater zog immer alleine ins Schilf und sprach nie, mit niemandem, und wenn, dann hatte er einen Akzent. Großvaters Muttersprache wird auch jenseits des offenen Wassers gesprochen. Das machte ihn verdächtig. Man schlitzte seine Fische auf und fand nichts. Nur aufgeplatzte Galle. Aber das ist schon lange her, wer weiß, ob es stimmt. Großvater schweigt dazu. Der Weg bis zum Dorf ist seit einiger Zeit wieder frei. Die Grenzhüter haben sich zurückgezogen, unsichtbar in die Wiesen, ins Moor, und es kommen immer mehr ausweislose Fremde über die Mauer zu unserer Backstube geklettert. Alles ist hier Grenze, die Fremden könnten auch über die Wiesen gehen, über Land, aber sie wollen nur Großvater und den See, für alle und von allen Seiten gleich undurchschaubar und gefährlich, tierlaut in der Nacht, durch den man wie Lurche, wie die Aale hindurchschlüpfen kann.“104 In dieser längeren Textpassage wird auf mehreren Zeitebenen erzählt, wobei selektiv erinnerte Erlebnisse miteinander verflochten sind. Während die Erzählerin den Großvater charakterisiert, vermittelt sie auch zahlreiche Facetten der Grenze, indem sie über Erinnerungen des Vaters reflektiert sowie über politische Veränderungen und Alltagspraktiken berichtet. Die Erzählerin benennt zunächst die Beweggründe für die illegale Tätigkeit des Großvaters, hinter welcher offensichtlich ein finanzieller Grund steht. Denn früher, so geht aus einer anderen Textstelle hervor, konnte der Vater durch seine Nebentätigkeit als Bäcker das Einkommen der Familie etwas aufbessern, aber seit er an Tuberkulose erkrankt ist, kaufen die Dorfbewohner sein Brot nicht mehr. Diese verlorene Einnahmequelle veranlasst den Großvater, wieder Fremde zur Grenze zu bringen. Die äußeren Lebensumstände, das Finanzielle, zwingen ihn zur Tat und die Erkrankung des Vaters legitimiert unter moralischem Aspekt letztlich seine illegale Tätigkeit – so scheint es zunächst. Denn später erfährt der Leser den wahren Grund: 104 Ebd., 57f.. 257 258 Er tut es nicht für die Fremden. Die Fremden bedeuten ihm nichts. Er tut es auch nicht für Vater, denn er mag Vater nicht. Er spricht nicht mit ihm. Er bringt sie für uns hinüber, für meine Brüder und mich. Und für unsere Mutter, die nicht seine leibliche Tochter ist. Deren Vater auch nach drüben geschwommen oder ertrunken ist.105 Die Erzählerin reflektiert, dass es dem Großvater keineswegs um Bereicherung an materiellen Gütern geht. Obwohl er den Tauschhandel der Mutter stillschweigend akzeptiert, hat dieser Tausch für ihn einen anderen Wert. Seine Handlung zeigt, dass er die gegenwärtige Situation als Provisorium betrachtet und verdeutlicht ferner seinen Glauben an die Freiheit – wenn schon nicht an die eigene, so doch an die der kommenden Generation. Neben den Handlungsmöglichkeiten in einer Grenzsituation wird auch über unterschiedliche individuelle Wertvorstellungen reflektiert. Die Erzählerstimme vermittelt das sehr subtil und unaufdringlich ohne zu moralisieren oder über jemanden zu urteilen. Überdies enthält die Aussage auch ein zukunftsweisendes Moment, denn sie nimmt symbolisch die Grenzöffnung von 1989 vorweg. Fest steht jedoch: Geschmuggelt und geflohen wird nachts. Auf welchem Fluchtweg aber der Großvater die Fremden zur Grenze bringt, bleibt sein Geheimnis, denn der Bachlauf ist versteckt und nur er kennt den Weg zur Grenze, den er aber verschweigt: „Unsichtbar die Grenze. Großvater verrät nicht, wo sie ist.“106 Die Aussage: „Großvater hat den Weg nicht vergessen, obwohl er ihn lange nicht mehr gegangen ist.“ legt die Annahme nahe, dass er schon vor der Grenzziehung in der Region gelebt hat. Zudem referiert sie implizit auf die Grenzverschiebungen nach 1920, auf jene politische Entscheidung, die dazu führte, dass die Einwohner über Nacht, ohne den Ort gewechselt zu haben, plötzlich der anderen Seite, ja möglicherweise der falschen Seite zugehörten. Die Resonanz dieser künstlichen Grenzziehung lässt sich besonders an der Figur des Großvaters ablesen. Sein Wissen über den Raum, seine detaillierten Ortskenntnisse, beruhen demnach auf einer starken lokalen Identität, seinen Erfahrungen im Grenzraum und seiner Erinnerung. Er verlässt sich auf sein Gedächtnis und findet in der Dunkelheit mühelos, sozusagen „blind“ den im Schilf versteckten unsichtbaren Weg zur Grenze. Das wissentliche Verschweigen des Weges und der versierte Umgang mit dem Raum verdeutlichen, welches Feld an Optionen das Wissen eröffnet, dessen Macht im Raum Grenzen überschreitet, weil es Spielräume erschließt. Der Großvater wendet bei seinen Grenzgängen jene „stabilen Taktiken“ an, mit denen er problemlos staatliche Kontrollen umgeht und sich subtil dem „Netz[e] der Überwachung“107 entzieht.108 Den Flüchtlingen aber gibt er einen Stern mit auf den Weg als Garant 105 106 107 108 MORA, Seltsame Materie, 1999, 69. Ebd., 66. CERTEAU DE, Kunst des Handelns, 1988, 186. Ebd., 183-187; FOUCAULT, Short Cuts, 2004, 77f.. 258 259 und Orientierungshilfe. Dieser Stern, vielmehr Weihnachtsstern, leuchtet als biblisches Symbol den Fremden den Weg. Wie sich das Leben im Grenzgebiet auf den Alltag der Dorfbewohner auswirkte, beschreibt die Protagonistin im nächsten Abschnitt. Dazu wechselt sie die Zeitebenen durch mehrere Rückblenden. Diese sind durch Tempuswechsel vom Präsens ins Präteritum gekennzeichnet, was auf erlebte Ereignisse in der Vergangenheit und deren Konsequenzen für die Gegenwart, etwa die Motivation des Großvaters, Fremde über die Grenze zu schmuggeln, verweist. Dass das Dorf über viele Jahre nur mit einem Passierschein zugänglich war, bedeutete für die Dorfbewohner an einer doppelten Grenze zu leben, denn die Region war durch diese zwar eine durchlässige, aber dennoch stark kontrollierte Binnengrenze, durch Zutrittsverbot109 vom Hinterland partiell getrennt und somit teilweise isoliert. Außerdem enthält diese Textstelle die implizite Mitteilung, dass jene Grenze in ihrer Funktion als Staatsgrenze eine stark bewachte war und das Indiz, dass es sich dabei sowohl um eine politische Systemgrenze als auch um eine Sprachgrenze handelte. Das wiederum verweist auf eine konkrete osteuropäische Grenze zum Westen, das heißt auf den „Eisernen Vorhang“ zwischen Österreich und Ungarn. Verifiziert wird dies durch den Neusiedler See, den einzigen an einer System- und Sprachgrenze gelegenen europäischen See. Der erzählte Grenzraum erlangt auf diese Weise eine historische und politische Bedeutung, was ihn bewertet und zugleich strukturiert. Im nächsten Abschnitt wechselt die Ich-Erzählerin erneut die Perspektive und reflektiert aus dem Blickwinkel des Vaters über gegenseitige Wahrnehmungen und Deutungen der Figuren. Die übertriebenen Kontrollen und Erniedrigungen durch die Grenzwächter im Umgang mit dem Großvater, den sie wegen seines fremden Akzentes verdächtigten, machen die soziale Konstruktion von Differenz sichtbar. Die Ausgliederung erfolgt in zweifacher Hinsicht: Zum einen wird dem Großvater die Glaubwürdigkeit als Fischer aberkannt, indem er als illegaler Schmuggler verdächtigt wird, worauf sich die Aussage, dass man ihm die Fische aufschlitzte bezieht. Zum anderen wird er aufgrund der phonetischen Abweichung in seiner Aussprache als Fremder als einer, der sich von der jeweiligen Sprachgemeinschaft unterscheidet, wahrgenommen. Der Akzent seiner Muttersprache, die eindeutig negativ konnotiert ist, macht ihn unterschwellig zum Systemgegner und somit zum potentiellen Feind, was mit der Aussage: „Großvaters Muttersprache wird auch jenseits des offenen Wassers gesprochen. Das machte ihn verdächtig“ verdeutlicht wird. Diese Bezüge konstituieren im Text eine ethnisch-sprachliche Trennlinie zwischen dem vermeintlich „Eigenen“ und „Fremden“. Andererseits wird auch mit dem Klischee der Sprachbeherrschung gespielt und zugleich auf die Kontingenz ethnozentrischer Fremdzuschreibung mittels der Kategorie „Sprache“ verwiesen. Das führt zur Annahme, dass erst die Herstellung der Staatsgrenze Differenz erzeugte, woraus sich verallgemeinernd schlussfolgern lässt, dass der Prozess der 109 KOCSIS / WASTL-WALTER, Ungarische und österreichische Volksgruppen im westpannonischen Grenzraum, 1993, 198. 259 260 Abgrenzung die Wahrnehmung der Akteure verändert und gleichzeitig Identität stiftet. Beim Großvater zeigt sich die Identität im Alleingang, das heißt, in der partiellen Isolation und in der selbst gewählten Sprachlosigkeit, denn „Großvater zog immer alleine ins Schilf und sprach nie, mit niemandem“. Da er weder die Landessprache noch seine Muttersprache benutzt, positioniert er sich folglich zwischen den Sprachen. Dieses Dazwischen-Sein äußert sich im Schweigen. Des Großvaters Sprachbewusstsein, die Weigerung sich zu entscheiden, kann als eine Haltung des „Sowohl-als auch“ oder aber des „Weder-noch“ gelesen werden. Sie zeigt einerseits eine Grenzhandlung, weil es die Grenzgänge des Großvaters als Fluchthelfer spiegelt und verdeutlicht die stillschweigende Auseinandersetzung mit mindestens zwei semiotischen Systemen: Die Figur, die in diesem Moment sich selbst in einer Grenzsituation wiederfindet, erscheint hier als eine „doppelt kodierte“ Figur, sie ist selbst als Interferenzraum beschreibbar. Dennoch ist die bewusste Sprachverweigerung des Großvaters ambivalent, denn sie könnte als Vorkehrung gedeutet werden, um nicht aufzufallen, aber auch als eine Form von Widerstand oder eben Resignation. Zudem dient diese Figur als Projektionsfläche für eine Vielzahl von Symbolen: Als Fischer hüllt er sich immerfort in Schweigen. Er ist „stumm wie ein Fisch“, der zu Heiligabend über einen unsichtbaren Weg selbstlos Fliehende in die Freiheit führt. Hier werden mit dem Motiv des Fischers und des Fisches zum einen menschliche Eigenschaften wie Verschwiegenheit, Wachsamkeit und Beherrschung symbolisiert. Zum anderen ist der Fisch das Symbol Christi und gilt als Attribut von Heiligen. Die Grenzgänge des Großvaters könnten in dieser Hinsicht als Gleichnis zum Apostel Petrus und zur Deutung der Apostel als Menschenfischer110 gelesen werden. Im letzten Abschnitt wechselt die Erzählerin mehrfach die Zeitebenen. Indem sie über erlebte Ereignisse reflektiert, nimmt sie zugleich Bezug auf die Gegenwart und leitet daraus Schlussfolgerungen für zukünftiges Geschehen ab. Deutlich wird das etwa am Tempuswechsel ins Präsens sowie durch die Präposition „seit“, die zeitlich den Beginn einer noch nicht abgeschlossenen Phase markiert. Die Erzählerin berichtet von einem ungehinderten freien Zugang zum Dorf, was zur Annahme führt, dass der einst streng kontrollierte Grenzraum nun durchlässiger, offener geworden ist. Wenn in der Erzählgegenwart von einer nach hinten offenen Grenzregion gesprochen wird und der Leser davon ausgeht, dass die Geschichte in Westungarn situiert ist, was sich aus den erwähnten impliziten Referenzen ableiten lässt, könnte sich diese Textstelle ebenso auf ein konkretes historisches Ereignis beziehen, nämlich auf die Grenzöffnung von 1989 und den Fall des Eisernen Vorhangs. Mit der Semantisierung der Standorte wird folglich nicht nur ein geschichtlicher Handlungsraum hergestellt, sondern auch eine Bewertung impliziert. Die weniger scharf bewachte Grenze aber erhöht die Fluchtchancen und eröffnet neue Fluchtmöglichkeiten für die „ausweislosen Fremden“. Eine latente Bedrohung angesichts einer möglichen 110 BIEDERMANN, Knaurs Lexikon der Symbole. 2000, 142-145; Evangelium nach Lukas (5,111) und Matthäus (4,18-22). 260 261 Überfremdung scheint von diesen in steigender Zahl ankommenden nicht identifizierbaren Flüchtlingen auszugehen. Für sie bedeuten der See und ein ortskundiger Fluchthelfer eine Gelegenheit zu entkommen. Sie kommen mit einem festen Willen und einem konkreten Ziel, denn sie wissen, dass sich der Großvater als zuverlässiger Fluchthelfer betätigt. Das veranlasst sie, nicht die anderen, weniger gefährlichen Fluchtwege zu benutzen, sondern sich freiwillig der Ungewissheit des Sees auszusetzen. Der See, der sich direkt im Grenzraum befindet, ist eine geschlossene und zugleich offene Grenze, denn er vereint das Getrennte, indem er beide Seiten miteinander verbindet. Unter Berücksichtigung der bereits erwähnten indirekten Raumbezüge deutet diese topographische Angabe – wenn auch nur vermittelt – wiederholt auf den Neusiedler See hin. Den See beschreibt die Erzählerin als etwas Unberechenbares und Undurchsichtiges, durch das man bei Dunkelheit geräuschlos, also „tierlaut in der Nacht“ entfliehen kann. Auf der Erzählebene spiegelt die Landschaft die Wahrnehmungen und Deutungen der Figuren wider, wobei die Atmosphäre des Sees mit der Charakterisierung der Grenzwächter korrespondiert und in gewisser Weise auch das politische System beschreibt. Deutlich wird das etwa in der Verwendung negativ konnotierter Adjektive wie „unsichtbar“, „gefährlich“ oder „undurchschaubar“, mit denen dieser Grenz- und Interferenzraum deutlich als etwas negativ Erlebtes wahrgenommen wird. Eine Erzählweise, die in ähnlicher Form auch in der Darstellung eines Traumes wiederkehrt, über den die Hauptfigur einen inneren Monolog führt und der ihre Gefühlswelt und ihre Gedanken beschreibt: Ich öffne die Augen nicht. Ich öffne sie nicht. Ich gleite durch junges Schilf. Ich bin leicht wie ein Kind, mein Körper ist ein Boot. Die schwachen Halme legen sich unter mich, schneiden mich, streicheln mich. Langsam, scharf sickert das Wasser von unten durch. Bald ist es geschafft. Ich lasse mich ins Untrinkbare gleiten. Es soll mich hinübertragen bis morgen früh. […] Ich liege auf dem Rücken, bewege meine eiskalten Finger, das Wasser des Sees, das glatt unter mir liegt, ein graues Laken, und ich flüstere: Ich bin tot.111 Diese Episode, die sich auf dem Dachboden des Hauses ereignet, schildert den Bewusstseinszustand der Figur so, wie er in der Phantasie oder im Traum erlebt wird. Auch hier handelt es sich um eine Grenzüberschreitung, aber in anderer Gestalt: Im Traum überschreitet die Erzählerin beinahe die Grenze, doch ihre imaginierte Flucht missglückt. Der in Gedanken erprobte Grenzübertritt wird zu einem existentiellen Ereignis. Träumend versucht sie dem tristen Grenzalltag zu entfliehen, wobei sich der im Unterbewusstsein erdachte Fluchtweg als ein Angsttraum erweist, denn die Erzählerin sieht sich als Wasserleiche davon schwimmen. Somit erscheint ihr Sehnsuchtsraum als ein utopischer. Vereint mit dem See mündet ihre Vision von „der anderen Seite“ in den Tod. Im Medium des Wassers, das tiefenpsychologisch für das Unbewusste steht, Quelle des 111 MORA, Seltsame Materie, 1999, 64. 261 262 Ursprungs und Element der Auflösung, wird die Erzählfigur an die Schnittstelle von Leben und Tod versetzt. Ihre imaginierte Grenzüberschreitung wandelt sich gleichsam zu einer Schwellenerfahrung. Obwohl im Wasser sich die topographische Grenze auflöst und in Gestalt des See zu einem dynamischen Ganzen formt, kann es den entgrenzten Körper nicht hinübertragen. Mit dem Motiv vom schönen Wassertod, das in leicht abgewandelter Form an die Figur der Ophelia112 anknüpft, rückt die Figur der Erzählerin an die Schwelle des Todes als einzig möglichen Ausweg. Auch dies ist ein Nicht-Ort oder ein Niemandsort, denn das Subjekt ist weder auf der „falschen“ noch auf der „anderen“ Seite im ersehnten „Drüben“.113 Doch gerade mit dieser Gedankenreise erfolgt die Überlagerung der konkreten und metaphorischen Grenze und somit die Verschränkung von realem und erzähltem Raum. Auf der Erzählebene gelingt es durch diese imaginierte Flucht, die Rolle des Grenzgängers und des Flüchtlings zu verbinden. Dank einer Perspektivenübernahme spiegelt sich sowohl die Figur des Großvaters als auch die des Fremden in der Gedankenreise der Protagonistin, die in einer Doppelrolle agiert. Zum einen ist sie die Erzählinstanz, die zwischen dem Großvater und dem Fremden vermittelt, deren Gedanken transferiert; zum anderen ist sie die Hauptfigur, die sich selbst als eine Grenzgängerin im Transitraum definiert. Den See konstituiert sie somit als einen Raum der Erinnerung. Die narrative Struktur des erzählten Raumes wird bestimmt durch das Setzen von topographischen und metaphorischen Grenzen, die aufgrund ihres amorphen Charakters nicht immer eindeutig klassifizierbar sind, sondern sich stattdessen verschieben, überlagern und wechselseitig beeinflussen. Mit dieser erzählerischen Gestaltung gelingt es der Autorin, das Motiv der Grenzüberschreitung auf thematischer, metaphorischer und narrativer Ebene zu verbinden. Damit lässt sich die Erzählung als anschauliches Beispiel für die Verknüpfung von sozialem Raum (im Sinne Löws) und erzähltem Raum (im Sinne Lotmans) bewerten. Die Textauszüge demonstrieren den unterschiedlichen Umgang der literarischen Figuren mit dem Phänomen der Grenzüberschreitung: Sie werden porträtiert als Fluchthelfer, Flüchtlinge oder Kleinkriminelle. Überdies verdeutlichen sie, inwiefern ihre Flucht von der jeweiligen Intention und Motivation bestimmt wird und demnach in Funktion und Gestalt variieren kann: So ließe sich etwa von einer „illegalen Flucht“ des Fremden, einer „partiellen Flucht“ des Großvaters und einer „imaginierten Flucht“ der Erzählerin sprechen. Flucht und Grenzüberschreitung könnten ebenso als existentielle Grenzerfahrungen in einer Diktatur gelesen werden. Obwohl Flucht und Beihilfe zur Flucht juristisch eine Straftat bilden, geschieht das 112 Das auf William Shakespeare zurückgehende Ophelia-Mythos könnte zudem durch die poetische Figurenrede: „Die schwachen Halme legen sich unter mich, schneiden mich, streicheln mich.“ als eine intermediale Referenz zur Darstellung „Ophelia“ des Malers Sir John Everett Millais gelesen werden. Überdies kehrt die Figur Ophelia als Motiv in der Erzählung: „Der Fall Ophelia“, für die Terézia Mora 1999 den Ingeborg-Bachmann-Preis erhielt, wieder. MORA, Seltsame Materie, 1999, 113-129. 113 WALDENFELS, Schwellenerfahrung, 1999, 151-153; AUGÉ, Orte und Nicht-Orte, 1994, 127. 262 263 Überschreiten dieser Grenze um der Freiheit willen – und erfährt hierdurch eine positive Konnotation. Aus den bisherigen Darstellungen glaubt man schlussfolgern zu können, dass diese Grenzregion doch bloß ein düsteres, melancholisches Gebiet, bloß eine Provinz im Osten sei. Dass aber die periphere Lage durchaus spannend sein kann, soll das abschließende Beispiel zeigen. 5.4 Gerhard Roth: Grenzverletzung und Verbrechen Im Jahr 1995 erschien der Roman „Der See“ von Gerhard Roth und löste prompt eine gewisse Aufregung in der Öffentlichkeit aus, denn er war von politischer Brisanz. Der Roman, dem der Autor den Untertitel „Im Land der Mörder“ gab, ist im Stil eines Kriminalromans verfasst, der ein atmosphärisch eher dunkles Bild von der Grenzregion zeichnet. Roth beschreibt das politische und gesellschaftliche Klima Österreichs als ein gewalttätiges und reaktionäres, wobei er die dabei oft herrschende Gleichgültigkeit besonders kritisiert. Handlungsort ist der Neusiedler See und dessen Umgebung. Der Protagonist, Paul Eck, wird von seinem Vater, den er das letzte Mal vor dreißig Jahren gesehen hat, zum Segeln eingeladen. Zu einer Begegnung kommt es aber nicht, denn am Tag seines Eintreffens verschwindet der Vater spurlos. Paul stellt genauere Nachforschungen an, um den Vermissten zu finden. Als Vertreter für Arzneimittel begibt er sich mit einer Adressliste von Ärzten auf die Suche nach ihm. Schon bald muss er feststellen, dass er sehr wenig vom Leben seines Vaters weiß. So erfährt er zunächst aus der Zeitung: […] dass es Gerüchte gebe, Eck habe illegale Geschäfte gemacht. So sei sein Name mehrmals bei Waffentransaktionen gefallen. Als „unvergessen“ wurde sein „Glanzstück“ bezeichnet; 1956 sei es ihm gelungen, den Fürsten Esterhazy beim sogenannten „Ungarnaufstand“ aus dem Gefängnis in Budapest mit einem Rettungswagen nach Österreich zu schmuggeln.“114 Obwohl es hier zunächst um „positive Kriminalität“ geht, deutet die Verwicklung des Vaters in Waffenhandel und Menschenschmuggel das zentrale Thema des Romans an, der die Grenzüberschreitung eben nicht mehr jenseits von Moral und Gewissen thematisiert. Sie bildet außerdem einen Hauptstrang der Handlung, der schließlich zur Aufklärung der Fälle und zum Auffinden des Vaters führt. Erzähltechnisch wird das mit einer Motivkette eingelöst, die dem erzählten Grenzraum historische und politische Bedeutung zuschreibt und ihn dadurch bewertet und zugleich strukturiert. In welcher Art das geschieht, sollen die ausgewählten Textpassagen illustrieren: 114 ROTH, Der See, 1998, 86. 263 264 Er bog in die Uferstraße ein. Hinter einer Steinmauer, die umgeben war von Weingärten, lag der Serbenfriedhof. Im Ersten Weltkrieg, hatte ihm sein Vater erzählt, war in Frauenkirchen ein Lager für gefangene serbische Soldaten errichtet worden. Bei einer Typhusepidemie waren Hunderte von ihnen gestorben. Eck hatte auf dem Friedhof mit Robert oft Indianer gespielt.115 Der Protagonist bereist als Pharmavertreter das Seegebiet und verbindet seine eigentliche Tätigkeit mit der Suche nach dem Vater. Als Vertreter ist er jemand, der sich nur auf der Durchreise befindet, sich also nur vorübergehend an Orten aufhält. Aber auf diese Weise gelangt er an die Orte seiner Kindheit, die Erinnerungen wachrufen. Nur für einen Moment verlässt Paul seine Wegstrecke, doch damit verleiht er dem erzählten Raum eine neue Dimension. Der zweifach begrenzte serbische Friedhof ruft als Erinnerungsort im Gedächtnis der Figur unterschiedliche Zeitschichten auf: Die fiktive Überwindung der Friedhofsmauer, der konkreten Begrenzung eines Gedenkortes, ruft Erinnerungen wach. Der Erzähler denkt an den Vater, der ihm mündlich historisches Wissen überliefert hatte, und er denkt an seinen Jugendfreund Robert, mit dem er seine Kindheit verlebte. Hier, am Ort des Erzählens, gewinnt der erzählte Ort eine neue Bedeutung. Der auktoriale Erzähler konstituiert mit der Verräumlichung der Erinnerung sowohl einen Gedächtnisraum als auch einen Wissensraum, wodurch sich der konkrete Ort zum symbolischen Ort wandelt. Die folgenden Textbeispiele sind in ihrem Stil charakteristisch für den Roman dergestalt, dass die Hauptfigur wie durch eine Kamera auf den erzählten Raum blickt, wobei sich die Aufnahmen zu Filmsequenzen aneinanderreihen. Vom Seegebiet wird mit dieser Montage eine kognitive Karte erstellt, und gleichzeitig werden die Akteure porträtiert. Ein Feuerwehrmann klebte die Ankündigung für ein Sommerfest auf ein Benetton-Plakat, das die blutige Hose, T-Shirt und Stiefel eines gefallenen bosnischen Soldaten zeigte.116 Der Erzähler beschreibt, wie die immer wieder neue Aktualisierung einer Plakatwand zur palimpsestartigen Ablagerung von Wissen führt. Diese Szene nimmt außerdem Bezug auf einen konkreten öffentlichen Diskurs, nämlich die Werbekampagne der Firma Benetton, die in Deutschland, Frankreich und Italien verboten wurde. Diese brisante Angelegenheit wird einfach überklebt, sie wird von neuen, in diesem Fall sehr banalen Bedeutungsschichten überdeckt, doch der Leser wird damit auf mögliche Tiefenschichten des Wissens aufmerksam gemacht, die auch wieder zu Tage treten können. Das Auslöschen oder besser gesagt das Leerräumen steht auch in der nächsten Szene im Vordergrund: 115 116 Ebd., 90. Ebd., 90f.. 264 265 Am Ufer erschien ein großes Holzgebäude. Die Balken waren geschlossen, auf einem Schild stand Segelschule. Weiter hinten drei leere Gebäude mit zerbrochenen Fensterscheiben, das halbfertige Seerestaurant und das Hotel. Robert sagte, daß sie als Quartier für Bosnier und Kosovo-Albaner gedient hatten, die vor dem Jugoslawien-Krieg geflohen waren, aber in der Hauptsaison sollten keine Flüchtlinge um den See gesehen werden.117 Die visuelle Wahrnehmung der Plakate und der verlassenen Gebäude stellt eine zeitliche Relation zur Vergangenheit her. Das heißt, mit der Kennzeichnung der Standorte, die auf ein bestimmtes Ereignis verweisen, wird nicht nur ein geschichtlicher Handlungsraum erzeugt, sondern auch eine Bewertung impliziert. Die Aktualisierung der Plakatwand und die Transformation der Gebäude verdeutlichen somit die Kontingenz und Wandelbarkeit des Raumes und könnten daher auch als Strategien gegen das Vergessen gelesen werden. Eine andere Form der Konstruktion und Repräsentation von Erinnerung durch Bewegung und soziales Handeln im Raum illustriert die nächste Episode: Paul Eck erhofft sich von den Arztbesuchen vor allem Hinweise zum Verbleib seines Vaters. Ein ehemaliger Stabsarzt erwartet ihn in seiner Praxis. In der Mitte des Raumes hat der alte Arzt auf einem umgebauten Billardtisch die Schlacht von Königgrätz mit einer Formation von Zinnsoldaten nachgestellt. Plötzlich hört er auf, die Figuren zu verschieben und sagt: „Sie mögen Zinnsoldaten?“, fragte er, als er Ecks Blick bemerkte. „Im Augenblick ist die Schlacht von Königgrätz dargestellt … Hier die Österreicher … Da die Preußen – Benedek, Sie wissen!“ […] „Sehen Sie […] es ist wichtig, mit den neuesten Waffen ausgerüstet zu sein – … Das wissen auch die Kroaten und … unter uns gesagt – sie zahlen jeden Preis dafür. Ihr Vater machte mit ihnen Deckgeschäfte, mehr will ich darüber nicht verraten.“118 Mit der Simulation von Königgrätz wird symbolisch an ein zentrales historisches Ereignis erinnert und im fiktiven Erleben emotional konnotiert. Interaktionen und Äußerungen stellen in dieser Szene eine zeitliche Relation zur Gegenwart her und verschränken zwei Zeitschichten miteinander, wodurch der Eindruck entsteht, der Raum werde durchlässig und entfalte eine Tiefenstruktur.. Die Motivkette, von der ich anfangs sprach, ordnet auf einer semantischen Isotopiereihe das Thema Jugoslawienkrieg an. Zum einen wird dabei auf das historische Ereignis verwiesen, zum anderen bewusst mit dem Stereotyp „Balkan“ gespielt. Jene serbisch-bosnisch-albanisch-kroatischen Verflechtungen führen zur Auflösung der Mordfälle und zum Auffinden des Vaters. Jedoch ist es nicht wie erwartet der Kommissar, sondern der Journalist Gartner, der sich 117 118 Ebd., 152. Ebd., 177f.. 265 266 ausführlich mit dem Fall beschäftigt hat, die einzelnen Fakten zusammenführt und aus den Tatsachen seine Schlussfolgerung zieht: „Ich denke, der Fall hat etwas mit illegalen Waffengeschäften zu tun“, sagte der Journalist. Kriegsgut wird über Ungarn nach Serbien geschmuggelt – so viel steht fest … Ich denke auch, daß Eck am professionellen Menschenschmuggel beteiligt ist …“119 „Ich habe mir überlegt, was es mit den Toten für eine Bewandtnis haben könnte … Sie könnten Verbindungsmänner zu Ihrem Vater gewesen sein. Der Tourist, ein Deutscher, war Fuhrunternehmer. Und er lieferte in den Balkan …“ […] „Das Ganze funktioniert nur […] wenn es Verbindungen gibt: zur Polizei, zum Zoll …“120 Die Grenzüberschreitungen in Gerhard Roths Roman „Der See“ machen Schluss mit der Verklärung von Grenzenübertritten, mit der Sehnsucht nach Grenzüberschreitungen. Es ist, als sollten dem spielerischen und experimentellen Umgang mit Grenzen durch soziales Handeln dort Grenzen gesetzt werden, wo ihre Überschreitung weniger juristisch als vielmehr moralisch als nicht mehr legitim erscheint. Standen in den zuvor analysierten Texten die Nöte, Gefahren und Risiken des Grenzüberschreitens im Mittelpunkt, spricht aus Roths Roman die Aufforderung, Grenzen zu respektieren, sich freiwillig Grenzen zu setzen. Bei aller Lust an der Transgression – eine Welt ohne Grenzen funktioniert nicht. 6. Literarische Interferenzraum Grenzverhandlungen: Der Kontaktraum als „Die Semiotik, insbesondere Juri Lotman, hatte im literarischen Text die Modellierung des sozialen Raums gesehen,“121 unterstreicht Vittoria Borsò. Das Ineinandergreifen der topographischen und metaphorischen Grenze im sozialen Raum bildete auch für diesen Beitrag die Ausgangskonstellation für die Beschreibung der Grenzverschränkungen auf narrativer Ebene. Hierzu bedarf es aber auch gemeinsamer „semiotischer Systeme“122, die das Interagieren der Akteure ermöglichen, die eine Deutungs- und Handlungsfreiheit erlauben und deshalb unterschiedliche Sinnzuschreibungen und Interpretationen bewirken. Interferenzen basieren demzufolge auf verschiedenen Deutungsmustern und Wissensordnungen ihrer Akteure, auf deren vielfältigen Sinnstiftungen sowie einer potentiellen Überlagerung und Durchdringung, durch welche soziale 119 120 121 122 Ebd., 168. Ebd., 216f.. BORSÒ, Grenzen, Schwellen und andere Orte, 2004, 21. LOTMAN, Die Struktur literarischer Texte, 1993, 61ff. 266 267 Prozesse und Interaktionen als „kulturelle Interferenzen“ in Erscheinung treten können und sich in künstlerischen Texten manifestieren.123 Die diskutierten Passagen aus den Grenzerzählungen können gleichsam als Antworten der Autoren auf die spezifische Situation in diesem sozialen Raum betrachtet werden. Mehr als deutlich wurde, dass es eines Raumes und dessen Grenze(n) als Handlungsort bedarf: Dieser kann ein „Ort der Krisis“ – ein dramatischer bzw. verbotener Ort sein, der von Grenzgängern verletzt werden und an dem sich das Schicksal der literarischen Figuren vollenden kann.124 Auffallend ist die Korrespondenz zwischen historischen Brüchen und Grenzverletzungen. Offenbar generieren gesellschaftliche Transformationsprozesse die Auseinandersetzung mit bestehenden Grenzen, indem sie von Figuren hinterfragt werden. Neben der Darstellung von Grenzsituationen veranschaulichen die literarischen Texte zum einen die Kennzeichnung und Konstruktion der Grenzregion als Transitraum, als einen Ort, an dem sich illegale Grenzverletzer und legale Grenzgänger aufhalten und diesen als Durchzugsgebiet benutzen. Darüber hinaus zeigen sie aber auch die Bedeutung des sozialen Raumes als Gedächtnisraum, Erinnerungsraum, Wissensraum oder gar Gewissensraum, lenkt doch die literarische Darstellung der Grenzregion auf die Probleme, die nach dem Ende zweier Totalitarismen entstanden sind wie Transformationsprozesse, Flüchtlingsströme oder Kleinkriminalität. Eine Konstellation wie diese kann die Subjekte – reale wie auch literarische – in ihren Verhaltensweisen irritieren, sie zur Grenzüberschreitung motivieren, eine Verhandlung und den temporären Aufenthalt in einem „Zwischenraum“ herbeiführen oder deren Handeln verhindern. Mit Blick auf die in den Einzelanalysen diskutierten literarischen Raumentwürfe des Grenzraumes Burgenland/Westungarn kann dieser als Kontaktraum und zugleich als „kultureller Interferenzraum“ begriffen werden. Literaturverzeichnis Belletristik BACHMANN, Ingeborg: Letzte, unveröffentlichte Gedichte, Entwürfe und Fassungen. Hg. v. Hans HÖLLER. Frankfurt am Main 1998 FLÖSS, Helene: Brüchige Ufer. Innsbruck-Wien 2005 123 124 RECKWITZ, Die Transformation der Kulturtheorien, 2008, 634f. SCHMIDT-DENGLER, „Und gehen auch Grenzen noch durch jedes Wort“, 1999, 225. 267 268 KRISTOF, Agota: Das große Heft. Hamburg 1987 [franz. 1986]. MORA, Terézia: Seltsame Materie. Reinbek b. Hamburg 1999. ROTH, Gerhard: Der See. Frankfurt am Main 1998. Wissenschaftliche Literatur ANDERSON, Benedict: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. Frankfurt am Main 1988. ASSMANN, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. 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Dieser Streifzug wird zweimal unterbrochen, um in den Untergrund zu gehen, in die Höhlen und unterirdischen Flüsse unserer Vorstellungen über den Karst. Der erste Abstieg hat einen wissenschaftlich-theoretischen Charakter, der zweite stellt eine subjektive Betrachtung dar. Das Verhältnis zwischen Oberfläche und Untergrund bildet den Dreh- und Angelpunkt der Karstwelt und ist die Triebkraft dieser Arbeit. 1. Karstlandschaft 1.1 Klassischer Karst Das Wort Karst (italienisch carso, kroatisch krš, slowenisch kras) ist ein geologischer Begriff für eine „durch Wasser ausgelaugte, an der Oberfläche meist kahle Gebirgslandschaft aus Kalkstein“1, die an mehreren Orten der Welt zu finden ist – beispielsweise in verschiedenen europäischen Ländern, in Indien und Australien. Das Hauptmerkmal der Karstgebiete ist die Porosität und Durchlässigkeit des Bodens: Das Wasser versickert durch den Karstboden und bildet ein System von unterirdischen Höhlen und Wasserströmen, während die Oberfläche der Karstregionen recht trocken, karg und steinig bleibt.2 Das bekannteste Karstgebiet ist jenes, aus dem auch die Bezeichnung Karst selbst stammt: das heutige Grenzgebiet zwischen Italien und Slowenien an der Nordostadria, eine Hochebene, die sich an der Triester Bucht hinter der Stadt Triest befindet: „Der Karst ist einer der wenigen Erhöhungstypen, die nach einer Region, nach einer Landschaft benannt sind.“3 Diese Region bzw. Landschaft befindet sich grosso modo zwischen der Stadt Görz im Norden, dem Vipavatal im Osten, Istrien im Süden und der Adria im Westen. Neben Görz sind Postojna im Osten und Triest im Südwesten die wichtigsten Zentren, die den Karst umrahmen. 1 Duden, 1978, 1430. MORITSCH, Das nahe Triester Hinterland, 1969, 17–19. Zur Etymologie des Wortes Karst, das auf eine präindoeuropäische Wurzel zurückgeht, die „Stein“ bedeutet und sich in vielen indoeuropäischen Sprachen bewahrt und autonom entwickelt hat, siehe KRANJC, Uvod, 1999, 12 f. 3 KRANJC, Uvod, 1999, 12. 2 274 275 Ein (kleinerer) Teil dieses Gebiets gehört heute zu Italien und liegt in dessen Region Friuli-Venezia Giulia (Friaul-Julisch Venetien), während der (größere) slowenische Teil zu den Gebieten Primorska (Küstenland) und Kranjska (Krain) gehört (Abb. 1). Der Name der Kalksteinlandschaft hinter Triest wurde zum geologischen Fachterminus, weil österreichisch-ungarische Geologen dieses Gebiet intensiv untersucht haben – unter anderem Jovan Cvijić, der 1893 eine wichtige Studie unter dem Titel „Das Karstphänomen“ veröffentlichte.4 In seinem Werk definierte Cvijić den Karst hinter Triest als den Prototyp einer geologischen Landschaft, die nicht nur im nördlichen Teil der Adriaküste zu finden ist, sondern auch an der gesamten Ostadria, in weiteren ostmittel- und südosteuropäischen Gebieten sowie in anderen Teilen der Welt.5 Um den „Ur-Karst“ an der nordöstlichen Adria von allen anderen Karstgebieten zu unterscheiden, bezeichnet man ihn heute in der Geologie als „klassischen Karst“.6 1.2 Plastischer Karst Die Bezeichnung „klassisch“ soll Ausgangspunkt für die folgenden Überlegungen zum Karst als Interferenzraum sein. Was klassisch ist, ist in der Regel auch maßgebend und vorbildlich. Nun, der nordostadriatische Karst wurde nicht nur zum Prototyp bestimmter Kalksteingebiete, sondern auch jener Orte, die man gern als Grenzregionen bezeichnet: Der Karst hinter Triest befindet sich an der Schnittstelle germanischer, romanischer und slawischer Sprachgebiete, war des Öfteren verschiedenen Herrschafts- und Besitzansprüchen ausgesetzt und selten unter einer einzigen politischen Macht vereint. Dies führte zur Entstehung eines komplexen Kulturgeflechts, das sich bis heute im Spannungsfeld zwischen Verschmelzung, Koexistenz und Abgrenzung des vermeintlich Eigenen und Fremden bewegt. Die meisten kulturellen Repräsentationen des Karsts setzen sich mit dessen kulturellen Interaktionen auseinander und behandeln dieses Gebiet – ohne das Wort zu verwenden – als einen Interferenzraum. Dabei beziehen sie sich implizit oder explizit mehr oder weniger konsequent auf bestimmte Konzeptualisierungen von Identität und Differenz bzw. des Eigenen und Fremden.7 Diese Konzeptualisierungen fungieren als strukturierende, 4 CVIJIĆ, Das Karstphänomen, Wien, 1893. KRANJC, Uvod, 1999, 12. Andere Geologen hatten in den 1850er Jahren bereits darauf aufmerksam gemacht, dass auch weite Teile Istriens und Dalmatiens als Karstgebiete zu bezeichnen sind. Kranjc zufolge wurde das Gebiet hinter Triest als erstes wissenschaftlich untersucht, weil es die Hafenstadt der Habsburger mit dem Rest ihrer Domäne verband und somit strategisch günstig gelegen war (ebd.). 6 Ebd., 11. 7 Ich übernehme hier Stuart Halls Definition von Repräsentation, auf die sich auch Gabriela Kiliánová im vorliegenden Band beruft: „Representation is an essential part of the process by which meaning is produced and exchanged between members of a culture. It does involve the use 5 275 276 modellbildende Kulturmuster für verschiedene Karstbilder. Solche Muster sollen im Folgenden am Beispiel zeitgenössischer Texte aus den 1990er und 2000er Jahren herausgearbeitet werden. Die Karsterkundungen lassen sich drei unterschiedlichen Repräsentationsbereichen zuordnen – der Geschichtsschreibung (Kapitel 2.), der Reiseliteratur (Kapitel 4.) und der fiktionalen Literatur (Kapitel 6.). Dabei soll gezeigt werden, wie kulturelle Repräsentationen verschiedener Art den klassischen Karst plastisch ‚meißeln‘ und wie dieses Gebiet in den jeweiligen Bildern als Interferenzraum anders ‚posiert‘. 2. Repräsentation I: Geschichtsschreibung Das Augenmerk der Analyse gilt der italienischen und slowenischen Historiographie, d.h. der Geschichtsschreibung der Länder, zu denen der Karst heute politisch gehört. Es werden zunächst zwei Studien analysiert, die ein umfassendes Bild der Geschichte des Karsts bieten: der Bericht der SlowenischItalienischen Historisch-Kulturellen Kommission „Slovene-Italian Relations 1880–1956“ (2000) und der Aufsatz „Na Krasu od pozne antike do današnjih dni“ (Auf dem Karst von der Spätantike bis heute) von Branko Marušič (1999). Während es sich bei Letzterem um eine Fallstudie über die Geschichte des Karsts vom 5. Jahrhundert bis heute handelt, widmet sich Ersterer einem für den Karst historisch sehr wechselhaften Zeitraum und stellt dieses Gebiet in seinem regionalen Kontext dar. „Slovene-Italian Relations 1880–1956“ ist als eine besonders interessante Quelle zu betrachten, weil sie das Produkt eines bilateralen Wissenschaftsgremiums ist: die Slowenisch-Italienische Kommission wurde 1993 von den Regierungen beider Länder gegründet mit dem Ziel, „to elucidate problems of the past“.8 Sie bestand aus vierzehn Fachexperten, je sieben für Italien und Slowenien, die während ihrer siebenjährigen Tätigkeit eine kurze Geschichte der italienisch-slowenischen Verhältnisse zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert im Adriaraum verfassten. Die Kommission definiert den untersuchten Zeitraum als die Epoche, die sich „from the beginning of the national and political differentiation of the border area to the immediate consequences of delimitation according to the London Memorandum“ erstreckt.9 of language, of signs and images which stand for or represent things.“ (HALL, Representation, 1997, 15. H. i. O.). 8 So Dimitrij Rupel, damaliger slowenischer Außenminister, in seiner Einleitung zum Bericht Slovene-Italian Historical and Cultural Commission, Slovene-Italian Relations, 2001, 4. Alle Zitate aus dem Bericht sind der Webseite „Dokumenti iz zamejstva“ entnommen. 9 Slovene-Italian Historical and Cultural Commission, Slovene-Italian Relations, 2001, 3. – Das Londoner Memorandum legte 1954 die Grenzen zwischen Italien und Jugoslawien fest. Beide Länder erkannten sie offiziell erst 1975 mit dem Abkommen von Osimo an. Dimitrij Rupel betont, dass die Zeit zwischen 1880 und 1956 für die Nordostadria besonders schwierig und reich an „historical controversies“ gewesen sei: „The work […] took a long time, since the researchers had to reach a consensus about issues which had been disputable until then and which are still 276 277 Marušič’ „Na Krasu od pozne antike do današnjih dni“ stellt meines Wissens den einzigen wissenschaftlichen Überblick über die Karstgeschichte vom frühen Mittelalter bis zur Unabhängigkeit Sloweniens dar. Der Beitrag ist 1999 im Sammelband „Kras. Pokrajna, življenje, ljudje“ (Kras. Landschaft, Leben, Menschen) erschienen, einer multidisziplinären Publikation des slowenischen „Inštitut za raziskovanje krasa“ (Institut für Karstforschung) in Postojna. Dieser Sammelband untersucht den Karst nicht nur aus historischer, sondern auch aus geographischer, ethnologischer, kunst- und literaturwissenschaftlicher Perspektive und ist wie der Bericht der Slowenisch-Italienischen Kommission als wissenschaftliche Arbeit konzipiert worden, die gleichzeitig als Zusammenfassung des Forschungsstands für ein breites (gebildetes) Publikum dienen soll. Sowohl der Bericht der Slowenisch-Italienischen Kommission als auch die Fallstudie von Marušič bieten ein zwar vielseitiges, gleichzeitig aber auch klar positioniertes Narrativ über die Geschichte des Karsts als Grenzraum und systematisieren die Entwicklung der germanisch-romanisch-slawischen Beziehungen in diesem Gebiet. Inhalt und chronologische Gliederung dieses „Karstnarrativs“ sollen im Folgenden zunächst einführend zusammengefasst und anschließend als ein kulturelles Konstrukt untersucht werden, als eine bestimmte Interpretation von Geschichte bzw. eine ‚Karstplastik‘, die einem bestimmten Kulturmuster unterliegt. 2.1. Fokus-Karst 2.1.1 Chronologie des Narrativs Mittelalter und Neuzeit: Marušič betont, dass der Karst bereits seit dem Mittelalter ein politisch geteiltes Gebiet war, in dem sich sprachlich-ethnische und gesellschaftliche Trennungslinien überlagerten: Po odhodu Longobardov v severno Italijo so se pričeli na njih ozemlje naseljevati Slovani, zlasti od konca 6. stoletja naprej. Slovanska kolonizacija je bila tolikšna, da so uspeli asimilirati staroselsko prebivalstvo tudi na Krasu. [Nachdem die Langobarden nach Norditalien weitergezogen waren, begannen die Slawen dieses Gebiet zu besiedeln, insbesondere seit dem Ende des 6. Jahrhunderts. Die slawische Kolonisierung war so gewaltig, dass es den Slawen gelang, die einheimische Bevölkerung auch im Karst zu assimilieren.]10 sensitive“, ebd., 4. Nach der Veröffentlichung des Berichts löste sich die Kommission auf – noch bevor sie ihre Untersuchung auf die italienisch-slowenischen Beziehungen in anderen Zeiträumen hätte ausweiten können. 10 MARUŠIČ, Na Krasu, 1999, 164. Sofern nicht anders angegeben stammen alle Übersetzungen vom Verfasser. 277 278 Die slawische bzw. slawisierte Bevölkerung des Karsts konnte sich jedoch nur kurze Zeit unabhängig verwalten: Zunächst nahmen die Franken den Karst unter ihre Obhut, später wurde das Gebiet zwischen den Lehngütern verschiedener Adeliger aufgeteilt, die überwiegend germanisch- bzw. italienischsprachig waren.11 Obwohl die Habsburger im 16. Jahrhundert fast den gesamten Karst unter ihrer Herrschaft vereinigten, blieb die Region auf ihre verschiedenen Kronländer aufgeteilt, sodass die einzelnen Karstgebiete nur einen relativ losen Kontakt zueinander hatten.12 Erst der Aufstieg von Triest als Hafen des habsburgischen Staates führte im 18.°Jahrhundert zu einer Intensivierung der Kontakte sowohl der Karstteile untereinander als auch mit der Außenwelt.13 1719 deklarierte Kaiser Karl VI. Triest, bislang eine kleine romanischsprachige Fischerstadt, zum Freihafen, und seine Nachfahren Maria Theresia und Joseph II. verwandelten die Stadt in ein imperiales Emporium, das zum Ziel einer imposanten Einwanderungswelle aus allen Ländern der Donaumonarchie und aus anderen europäischen Gebieten wurde. Das wirtschaftliche Wachstum Triests und die Modernisierungsprozesse innerhalb der Habsburger Monarchie beeinflussten die Situation des Karsts sehr stark: Okrepila sta se prevozništvo in posredovalna trgovina, ustvarjala se je predelovalna industrija v Trstu in večjih centrih zaledja. Državna merkantilistična prizadevanja so samodejno vplivala tudi na razvoj kmetijstva, Karst ni bil izvzet iz državnih gospodarskih načrtovanj. Osemnajsto stoletje, zlasti njegova druga polovica, je bolj kot prehodno prinašalo velike spremembe ne le v gospodarstvu (merkantilizem, fiziokratizem, postopno mehčanje fevdalnega sistema), pač pa tudi v upravi (notranje upravnepolitične preureditve, uvajanje katastra in urejanje davčne zakonodaje), v vojski (vpeljava naborov), v cerkvi, v kulturi (uvajanje šolskega sistema) in v drugih družbenih dejavnostih.14 [Es verstärkten sich das Fuhrwesen und der Vermittlungsmarkt, es formierte sich die Verarbeitungsindustrie in Triest und in den größten Zentren seines Hinterlands. Die merkantilistischen Bestrebungen des Staates beeinflussten zwangsläufig auch die Entwicklung der Landwirtschaft, der Karst wurde von den staatlichen Wirtschaftsplänen nicht ausgenommen. Das 19. Jahrhundert, insbesondere dessen zweite Hälfte, brachte mehr als vorläufig große Veränderungen nicht nur in der Wirtschaft (Merkantilismus, Physiokratismus, allmähliche Abschwächung des feudalen Systems) mit sich, sondern auch in der Verwaltung (interne administrativ-politische Neugestaltung, Einführung 11 12 13 14 Ebd., 164–169. Ebd., 170–174. Ebd., 174 f. Ebd. 278 279 des Katasters und Ordnung der Steuergesetzgebung), beim Militär (Einführung der Musterung), in der Kirche, der Kultur (Einführung des Schulsystems) und anderen gesellschaftlichen Tätigkeitsbereichen.] Die sprachlich-ethnische Trennung zwischen Karstbevölkerung und Adel blieb bei allen Veränderungen allerdings konstant: „Posesti na Krasu so imeli baroni Rossettiji […], baroni Paradeiser […], grofje Lanthieri in drugi“15 (Besitztümer auf dem Karst hatten die Barone Rossetti […], die Barone Paradeiser […], die Grafen Lanthieri und andere). Marušič zufolge bedienten sich die Adeligen in geschäftlichen Angelegenheiten jedoch auch der slowenischen Sprache, wie man zeitgenössischen Quellen entnehmen könne.16 19. Jahrhundert (bis 1918): Sowohl Marušič als auch der Bericht der SlowenischItalienischen Kommission bezeichnen das 19. Jahrhundert als das Zeitalter der fortschreitenden Modernisierung des Karsts, die sowohl Prozesse politischer und gesellschaftlicher Zentralisierung und Homogenisierung als auch Vorgänge von Ausdifferenzierung und Heterogenisierung auslöste. Die Länderreform des Habsburger Reiches trennte die Wege von Ost- und Westkarst: Letzterer wurde in die neu entstandene Reichsverwaltungseinheit Küstenland einverleibt, während Ersterer der Zentralverwaltung des Kronlands Krain in Ljubljana (Laibach) unterstellt wurde. Das Küstenland, das sich von den Julischen Alpen im Norden bis nach Pula (Pola) im Süden erstreckte, wurde zwar von einem einzigen Statthalter regiert, bestand aber – als Einzelfall in ganz Cisleithanien – nicht aus einem, sondern aus drei Kronländern, die jeweils über einen eigenen Landtag verfügten: aus der Gefürsteten Grafschaft Görz und Gradisca, der reichsunmittelbaren Stadt Triest und der Markgrafschaft Istrien. Teile des Karstgebiets befanden sich in jedem der drei Kronländer: der größte Teil im Kronland Görz, ein wesentlich kleinerer Teil in Triest und die Südspitze um das Dorf Dolina in Istrien. Die drei Kronländer des Küstenlands unterschieden sich sowohl hinsichtlich ihrer sprachlich-ethnischen Zusammensetzung als auch ihrer politischen Lage. In Bezug auf Erstere stellt der Bericht fest: In all three parts of the Austrian littoral […] Slovenes and Italians were living side by side. In the County of Gorizia the national delimitation was the most clear along the dividing line running in the direction north-south. Gorizia was the only ethnically mixed town […]. In Trieste the majority population was Italian while in the surroundings the Slovene population prevailed. In this case the size of the Slovene population also increased. Slovenes lived in northern parts of Istria, mostly in the surroundings of coastal towns in which Italians prevailed [in Mittel- und Südistrien lebte außer der 15 16 Ebd., 173. Ebd. 279 280 italienischsprachigen auch eine zahlenmäßig starke kroatischsprachige Bevölkerung – Anm. M. C.].17 Die ethnisch gemischten Kronländer des Küstenlands wurden, so der Bericht, genau wie jedes andere Gebiet der Habsburger Monarchie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend durch den Nationenkampf geprägt: In the second half of 19th century, the multinational Habsburg Monarchy was not able to give life to a political system whose state structure would completely reflect its multinational society. Therefore it was tormented by the national issue which the Monarchy could not resolve. The Slovene-Italian conflict is a part of the Habsburg national issue, which was affected by the processes of modernisation and economic changes which permeated all Central Europe as well as the area along the Adriatic. Slovene-Italian relations are marked […] by the dispute between Italians, who advocated the preservation of the politico-national and socio-economic state of possession, and Slovenes, who endeavoured to change the existing situation. The issue became even more complex due to […] the proclamation of the Kingdom of Italy.18 Die gewaltigste Auseinandersetzung betraf die Sprache, denn die Verfassung Cisleithaniens gestand jeder landesüblichen Sprache des österreichischen Teils der Monarchie das Recht zu, als Schul-, Amts- und Kultursprache geschützt und gefördert zu werden. Erkannte Wien Deutsch, Italienisch, Kroatisch und Slowenisch als landesübliche Sprachen des Küstenlands an19, verweigerte sich ein großer Teil der italienischen Öffentlichkeit, den slawischen Sprachen Landesüblichkeit zuzubilligen. Nur in Görz kam es zu einer relativ guten Zusammenarbeit zwischen den sprachlich-ethnischen Gruppen, und das Slowenische konnte sich sowohl in den Ämtern als auch in der öffentlichen Schule etablieren.20 Verfeindete Nationalismen fanden auch im Kronland Krain Verbreitung, in dem die Slowenen die Mehrheit der ländlichen Bevölkerung ausmachten, während die Städte stark deutschsprachig waren und die Deutschen die wirtschaftlich, gesellschaftlich und kulturell stärkere Gruppe bildeten. Die nationalistischen Konflikte beeinflussten nach Marušič die Lebensbedingungen sowohl im küstenländischen als auch im Krainer Teil des Karsts. Da die Bevölkerung des Karsts „slovenskega rodu“ (slowenischer Abstammung) war und Deutsche und Italiener nur „v večjih središčih so kot uredniki, trgovci ali obrtniki živeli“ (in den größten Zentren als Beamte, Händler oder Handwerker lebten), entwickelte sich hier ein starker antiitalienischer bzw. 17 Slovene-Italian Historical and Cultural Commission, Slovene-Italian Relations, 2001, 7. Ebd., 6. 19 Kroatisch gilt allerdings nur im Kronland Istrien als landesübliche Sprache, da keine autochthone kroatischsprachige Gruppe in den Kronländern Triest und Görz lebte. 20 Slovene-Italian Historical and Cultural Commission, Slovene-Italian Relations, 2001, 7, 9. 18 280 281 antideutscher slowenischer Nationalismus, der mehr oder weniger viel Spielraum besaß – je nachdem, wie die Machtverhältnisse und die politische Lage in den jeweiligen Kronländern ausfielen.21 Der Nationenkampf an der Nordostadria gipfelte im Ersten Weltkrieg. Stellte er bislang einen internen Konflikt um die Position der eigenen Nation innerhalb der nordadriatischen Region und der gesamten Habsburger Monarchie dar, verwandelte er sich während des Kriegs und der Friedensverhandlungen in eine internationale Auseinandersetzung.22 Der Karst wurde zum geographischen Epizentrum dieses Konflikts – zunächst als Kriegsfront zwischen der Habsburger Monarchie und dem Königreich Italien, später als eine ertrotzte Grenze zwischen Letzterem und dem 1918 gegründeten Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen.23 1918–1945: Der Bericht der Slowenisch-Italienischen Kommission präsentiert Zwischenkriegszeit und Zweiten Weltkrieg an der Nordostadria als Jahrzehnte der Gewalt, in denen aggressiver Nationalismus und Imperialismus die Geschichte der Region bestimmten. Das gesamte österreichische Küstenland und Westkrain fielen nach dem Ersten Weltkrieg dem Königreich Italien zu und konstituierten dessen neue Region Julisch Venetien, in der sich der gesamte Karst befand. Die italienischen Institutionen taten sich von Anfang an schwer, mit der sprachlichethnischen Vielfältigkeit dieses Gebiets umzugehen.24 Es war allerdings erst die Machtübernahme des Faschismus, die zur systematischen Unterdrückung der nationalen Minderheiten Italiens führte. Der Staat versuchte, die Kroaten und Slowenen Julisch Venetiens zu entnationalisieren, zu assimilieren oder zur Auswanderung zu zwingen.25 Der Faschismus nahm in Julisch Venetien „an antiSlavic attitude combined with antibolshevism“ an, was in der italienischen Öffentlichkeit viel Beifall erntete.26 Der Plan einer vollständigen Italianisierung Julisch Venetiens konnte allerdings nicht umgesetzt werden. Die faschistische Politik fügte den Kroaten und Slowenen, insbesondere deren wirtschaftlicher und kultureller Elite, große Schäden zu, konnte aber die südslawischen Sprachen und Kulturen in Julisch Venetien nicht vernichten.27 Die Slowenen organisierten sich in einer aktiven Widerstandsbewegung: „[they] decided to respond to violence 21 MARUŠIČ, Na Krasu, 1999, 176–182, Zitat 176. Das deutsch-slowenische Verhältnis im Krainer Karstteil wird in der vorliegenden Untersuchung nur am Rande betrachtet, da die deutsche Präsenz im Karst mit dem Untergang der Habsburger Monarchie extrem sank, wohingegen die italienisch-slowenischen Interferenzen im Karst (vor allem in dessen westlichem Teil) bis heute aktuell sind. Auch die kroatisch-italienischen bzw. kroatisch-slowenischen Interferenzen in Istrien seien nur am Rande erwähnt: Sie sind zwar bis in die Gegenwart lebendig geblieben, betreffen das Gebiet des klassischen Karsts aber nicht direkt und werden hier nur dann berücksichtigt, wenn sie für dessen Geschichte von Relevanz sind. 22 Slovene-Italian Historical and Cultural Commission, Slovene-Italian Relations, 2001, 10 f. 23 MARUŠIČ, Na Krasu, 1999, 182 f. 24 Slovene-Italian Historical and Cultural Commission, Slovene-Italian Relations, 2001, 12–14. 25 Ebd., 13–16. 26 Ebd., 13. Viele Slowenen aus Julisch Venetien unterstützten hingegen den Sozialismus. 27 Ebd., 16. 281 282 with violence. They resorted to demonstrative and terrorist methods, which provoked severe repression.“28 Marušič erinnert unter anderem an Angriffe der Widerstandskämpfer gegen Schulgebäude und einzelne Staatsbeamte im Karst.29 Italienische Faschisten und slowenische sowie kroatische Widerstandskämpfer bekriegten sich im Karst bis in den Zweiten Weltkrieg hinein, als sich auch deutsche Nazis am Kampf beteiligten. Es gelang den slowenischen und in Istrien auch den kroatischen Partisanen, gegen Ende des Krieges weite Teile des Karsts zu kontrollieren. Die Höhlen, die man im Italienischen als foibe bezeichnet, verwendeten sie für „summary executions“30 ihrer Feinde. Dem Bericht der Slowenisch-Italienischen Kommission zufolge warfen die Partisanen einige Hundert Gefangene in die foibe: „mostly Italians, and also the Slovenes who opposed the Yugoslav communist political plan“.31 Grund für diese Gewalttat sei eine Kombination aus spontanem Racheakt und politischem Kalkül gewesen: „The initial impulse was instigated by the revolutionary movement which was changed into a political regime, and transformed the charge of national and ideological intolerance between the partisans into violence at the national level.“32 1945–1991: Nach dem Krieg wurde der Karst wieder geteilt, diesmal im Zusammenhang mit der Zweiteilung Europas im Kalten Krieg. Bereits am Ende des Zweiten Weltkriegs fielen der Krainer Karst und ein großer Teil des ehemaligen küstenländischen Karsts an Jugoslawien als Teil dessen föderaler Republik Slowenien, während Görz samt kleinen Teilen des Görzer Karsts italienisch wurde. Das Gebiet um Triest, eine enge Landstrecke, die von der Gemeinde Duino-Aurisina (Devin-Nabrežina) nördlich der Stadt bis nach Cittanova (Novigrad) in Nordistrien reichte, wurde zum Freien Territorium von Triest deklariert und zunächst in zwei Verwaltungszonen geteilt: Im Norden (sog. Zone A um Triest) verwalteten es die Alliierten, im Süden (sog. Zone B in Nordistrien) die Jugoslawen. Obwohl sowohl Italien als auch Jugoslawien auf diese Region einen territorialen Anspruch erhoben, sollte das Freie Territorium nach dem Abkommen zwischen den Siegermächten aufgrund seiner ethnisch gemischten Bevölkerung unabhängig werden. Es gab nämlich sowohl eine slowenische Minderheit in der Zone A, deren Karstteil vorwiegend slowenischsprachig war,33 als auch eine italienische Minderheit in der Zone B, wo Jugoslawen in die „previously more or less exclusively Italian cities“ einzogen.34 Gesetzlich besaßen beide Gruppen sprachlich-kulturelle Minderheitsrechte. In der Zone A wurden sie unter angloamerikanischer Verwaltung gewissermaßen 28 29 30 31 32 33 34 Ebd., 17. MARUŠIČ, Na Krasu, 1999, 185 f. Slovene-Italian Historical and Cultural Commission, Slovene-Italian Relations, 2001, 24. Ebd. Ebd. MARUŠIČ, Na Krasu, 1999, 188. Slovene-Italian Historical and Cultural Commission, Slovene-Italian Relations, 2001, 30. 282 283 respektiert,35 während die Jugoslawen in der Zone B versuchten, „to force Italians – also by way of intimidation and violence – to consent to the annexation to Yugoslavia“36. Dies brachte viele Italiener dazu, aus der Zone B nach Triest oder in andere Ortschaften Italiens auszuwandern, insbesondere nach 1954, als die Alliierten Italien die Zone A überließen, während die Jugoslawen in der Zone B verblieben.37 Die italienischen Auswanderer aus Istrien „joined the crowd of essentially Italian refugees from Croatian Istria and Dalmatia, which were under Croatian sovereignty (200,000 to 300,000 refugees according to the new estimates)“38. Ein großer Teil dieser Einwanderer ließ sich nicht nur in der Stadt, sondern auch im vorwiegend slowenisch bewohnten italienischen Karst nieder und „narodnoste spremembe kraških slovenskih naselij so spremenile tudi njih gospodarstvo in socialno podobo“ (die ethnischen Veränderungen der slowenischen Karstsiedlungen änderten auch deren wirtschaftliche und soziale Struktur).39 Der Bericht der Slowenisch-Italienischen Kommission betrachtet die Zweiteilung des Karsts und die Übersiedlung der istrischen Italiener als freilich tragische Folge der Gewalttaten der Nazifaschisten und der Spaltungspolitik des Kalten Krieges; dennoch wird in der Studie auch betont, dass die (Karst-) Grenze zwischen Italien und Jugoslawien für jene Zeitverhältnisse recht offen und dynamisch war: As soon as the Treaty of Peace was concluded, Italy and Yugoslavia, despite the unsolved problems, started to establish ever closer contacts, so that in the late sixties the border between them was considered to be the most open border between two European countries with different social systems. The credit for this goes mostly to both minorities. Consequently, after decades of heated discussions, and despite periodic deadlocks, the neighbouring nations finally found their way towards promoting fruitful cooperation.40 Marušič bestätigt den Bericht, indem er anmerkt, dass sich der slowenische Teil des Karsts in der Nachkriegszeit touristisch weiterentwickelte und sich der Lebensstandard erhöhte: povečal se je turistični pomen in visoko se je dvignila kulturna (na primer skrb za kraško kulturno dediščino) in civilizacijska raven življenja prebivalcev Krasa (izgradnja kraškega vodovoda).41 35 36 37 38 39 40 41 Ebd., 27 f. Ebd., 29. Ebd., 25–27. Ebd., 30. MARUŠIČ, Na Krasu, 1999, 188 f. Slovene-Italian Historical and Cultural Commission, Slovene-Italian Relations, 2001, 31. MARUŠIČ, Na Krasu, 1999, 189. 283 284 [Die Bedeutung des Tourismus nahm zu und das kulturelle und zivilisatorische Lebensniveau erhöhte sich stark, z. B. was die Pflege des Kulturerbes und den Bau von Wasserleitungen anbelangt.] Seit 1991: Marušič’ knappe Anmerkungen bezüglich der Zeit nach 1991, als Slowenien die Unabhängigkeit von Jugoslawien erlangte, beschränken sich darauf, die traditionelle Grenzrolle des Karsts noch einmal zu betonen: Pravzaprav se je že okrepila njegova obmejna lega (od leta 1991 meji na dve državi, Italijo in Hrvaško) in z gradnjo avtomobilskih cest […] se je (in še se bo) okrepila njegova prometna naloga.42 [Seine Rolle als Grenze hat sich im Grunde verstärkt (seit 1991 grenzt er an zwei Staaten, Italien und Kroatien). Mit dem Bau der Autobahnen […] hat sich seine Rolle als Transitraum bereits gefestigt und das wird sie noch mehr tun.] 2.1.2 Struktur des Narrativs Sowohl die Slowenisch-Italienische Historische Kommission als auch Marušič erläutern die Geschichte des Grenzlands Karst anhand eines Interpretationsmusters, das sich im Wesentlichen durch folgende Äquivalenz ausdrücken lässt: Italiener (bzw. Deutsche) = Stadt versus Slowenen (bzw. Kroaten) = Land. Die Slowenisch-Italienische Kommission reflektiert und relativiert die historiographische Relevanz dieser Äquivalenz, bestätigt diese aber im Grunde auch als wichtigen Fokus der italienisch-slowenischen Verhältnisse. The characteristic feature of Italian and Slovene settlements on the Austrian littoral consisted in Slovenes forming mostly the rural population, and Italians mostly the urban population. This phenomenon is not to be considered as absolute. One should not forget the Italian rural areas in Istria and the County of Gorizia, the so-called East Friuli, as well as the Slovene population in the towns of Trieste and Gorizia which grew in number as already mentioned. Although a too strongly marked distinction between the urban and the rural reality should be avoided, the relation between the city and the country was in fact one of the basic focal points of political struggle on the Littoral (the Primorska); it introduced a mixture of national and social elements to the Slovene-Italian conflict, thus impeding its settlement. The focal point of the relation between the town and the country was at the same time the centre of the ongoing political and historiographic debate on the real national image of the Littoral. The Slovene side considered that the town belonged to the country, since rural areas should preserve their intact original identity of the given environment, free from cultural and social processes, and since the 42 Ebd. 284 285 national image of towns was considered to have been a consequence of assimilation processes which impoverished the Slovene nation. Slovenes suffered the loss of national identity in the process of assimilation after several decades of still painful and dramatic experience which should not be repeated. The Italian side rejected this by referring to the principle of national affiliation as the consequence of a free cultural and moral choice, and not of an ethnic-linguistic origin. According to the Italian interpretation of the relation between the town and the country, the cultural and civilian tradition of towns should create the image and the character of the surrounding territory. Such a different formulation later stirred up the conflict about the concept of an ethnic border and about the significance of statistics on the nationality of the population in border areas, which – according to Slovenes – were presumably distorted by the presence of mainly Italian urban centres.43 Die kategorische Gegenüberstellung von Stadt und Land, die die italienischslowenische politische und historiographische Auseinandersetzung charakterisiert, wird von der Historikerin Marta Verginella in ihrem Aufsatz „,Stadt‘ und ,Land‘. Paradigma einer ethnozentrischen Lesart“ (2007) als zu pauschal kritisiert: In der politischen Geschichte Julisch Venetiens, […] wird das Wortpaar Stadt/ Land gebraucht, als sei es ein Paradigma, das in der Lage wäre, Differenz nicht nur ökonomischer Art zwischen den zwei geographisch aneinandergrenzenden Wirklichkeiten nachzuweisen, sondern vor allem einer dualistischen Darstellung des Raumes in kultureller und ethnischer Hinsicht Gültigkeit zu verschaffen und eine scharfe Demarkationslinie zwischen italienischer und slawischer Welt zu ziehen.44 Verginella merkt an, dass die Historiker der Slowenisch-Italienischen Kommission an die Existenz einer relativ beständigen Demarkationslinie zwischen Italienern und Slowenen bzw. Stadt und Land zu glauben scheinen, obwohl sie dieser Linie keine „absolute Gültigkeit“ beimessen.45 Der Bericht der Kommission liest sich nach Verginella „wie eine Verflechtung zweier nationaler Meistererzählungen über nationale ,Peripherien‘. Man scheint sich einig zu sein, dass die ,authentische Physiognomie‘ Julisch Venetiens als historisches Produkt der ,überwiegend italienischen‘ Städte und des ,großteils slowenischen Landes‘ zu interpretieren sei“46. Eine solche dualistische Darstellung der Geschichte führt Verginella zufolge zu einer starken Vereinfachung der historischen Lage der Region und dient alten ethnozentrischen Denkmustern, nach denen Stadt, Land 43 Slovene-Italian Historical and Cultural Commission, Slovene-Italian Relations, 2001, 7 f. Hervorhebungen M. C. 44 VERGINELLA, Paradigma, 2007, 45. H. i. O. 45 Ebd., 45. 46 Ebd., 46. 285 286 und Nation keine historisierbaren Sachzusammenhänge bilden, sondern kulturelle Konstanten. Verginella hinterfragt den argumentativen Fokus des Berichts der Slowenisch-Italienischen Kommission am Beispiel der italienischen Politik und Geschichtsschreibung über die Nordostadria, dem zufolge die Stadtkultur der Landkultur überlegen sei.47 Diese Position greife auf alte historiographische Schemata zurück: Verginella erwähnt z.B. den Historiker Ernesto Sestan, der in seiner Studie „Venezia Giulia. Lineamenti di una storia etnica e culturale“ (Julisch Venetien. Grundzüge einer ethnischen und Kulturgeschichte, 1947)48 die italienischen Einwohner der istrischen Städte als „Teil der Avantgarde der europäischen Zivilisation“ und die slawischen Bauern als unzivilisierte Menschen „weit entfernt von jeder geistigen Tätigkeit“ bezeichnete.49 Sestan verstand sich eigentlich als Demokrat und plädierte für die Berücksichtigung der Rechte von Slowenen und Kroaten im italienischen Staat. Dennoch hatte er keine Zweifel an der Existenz eines deutlichen kulturellen Unterschieds zwischen der Stadtkultur der zivilisierten Italiener und der Landkultur der barbarischen Slawen. Verginella erinnert daran, dass dieser Ausgangspunkt dem nationalkulturellen Überlegenheitspostulat des italienischen Faschismus nahe steht, obwohl Sestan im Unterschied zu den Faschisten Imperialismus und Entnationalisierung der Südslawen nicht befürwortet, sondern eine versöhnliche, aber zugleich paternalistische Haltung gegenüber Kroaten und Slowenen einnimmt. Verginellas Kritik kann auf die slowenische Geschichtsschreibung ausgedehnt werden, da diese ihrerseits traditionell die Überlegenheit des Landes gegenüber der Stadt behauptet und sich als genauso ideologisch wie die von der italienischen Geschichtsschreibung vertretene umgekehrte Sicht erweist. Die slowenische ProLand-Position kann politisch als antibürgerliche marxistische Prägung der slowenischen Wissenschaft im sozialistischen Nachkriegsjugoslawien gedeutet werden, aber sie lässt sich auch mit einem älteren nationalkulturellen Diskurs in Verbindung bringen, d.h. mit der Stilisierung der slovenkost (Slowenität) als „pristen stik z naravo“ (echtes Verhältnis zur Natur).50 Dem Kulturwissenschaftler Peter Stankovič zufolge profiliert sich die slowenische Kultur traditionell als natur- und landnah, wie man am Beispiel von Literatur, Malerei und Film zeigen kann, die einen starken Akzent auf das slowenische Land und die slowenische Bauernwelt setzen.51 Der Glauben an ein privilegiertes Verhältnis zur Natur sei so 47 Verginella wählt die italienische und nicht die slowenische Geschichtsschreibung, um das historiographische Stadt-Land-Paradigma zu dekonstruieren, weil dieses „in der internationalen Forschungslandschaft“ auch aus sprachlichen Gründen „die meiste Aufmerksamkeit“ findet (VERGINELLA, Paradigma, 2007, 46). 48 SESTAN, Venezia Giulia, 1947. 49 Zitiert aus VERGINELLA, Paradigma, 2007, 52. 50 STANKOVIČ, Rdeči trakovi, 2005, 84. Stankovičs Überlegungen beziehen sich auf die slowenischen Partisanenfilme, sind jedoch auf die historiographische Auffassung des Stadt-LandVerhältnisses durchaus anwendbar. 51 Stankovič erwähnt folgende Beispiele: für die Literatur „Cvetje v jeseni“ (Blumen im Herbst), eine povest (lange Erzählung oder kurzer Roman) Ivan Tavčars (1917), die eine 286 287 stark in der slowenischen Kultur verankert, dass er seine Wurzeln sogar in die Sprachwissenschaft geschlagen habe, wie Stankovič anhand eines Zitats des Sprachwissenschaftlers Janez Gradišnik veranschaulicht: „Das Slowenische kann eine lebendige Sprache nur in dem Maße sein, in dem es aus dem Wortschatz schöpft, den ,unsere‘ Bauern schufen“52. Verginella setzt sich in ihrem Aufsatz nicht explizit mit der slowenischen Geschichtsschreibung auseinander, aber ihre Einwände gegen die kollektive Arbeit der italienisch-slowenischen Kommission deuten darauf hin, dass sie beiden historiographischen Traditionen vorwirft, einem „obsolete[n], von einer vorbestimmten kulturellen Substanz ausgehende[n] Kulturverständnis“ zu folgen, das zu einer Essentialisierungen und prinzipiellen Gegenüberstellung von Stadt und Land verleite.53 Diesem Kulturkonzept fehle das Bewusstsein der historischen Konstruiertheit von Kulturen, die keine Substanzen, sondern mobile, „von Menschen erwogene Sinnnetzwerke“ bilden.54 Verginella beruft sich am Ende ihres Aufsatzes auf die Kritik am Ethnozentrismus der Historiographie, die zunächst von Cultural und Postcolonial Studies und später seitens historischer Anthropologie und Kulturgeschichte geübt wurde, und spricht sich für eine Reflexion der kulturellen Differenzen zwischen Italienern und Slawen an der Nordostadria aus, die ihren Entstehungskontext historisieren würde.55 Die zeitgenössische Geschichtsschreibung solle zeigen, wie die Gegenüberstellung von italienischer Stadtwelt und slowenischer Landwelt im 19. Jahrhundert zu einem ideologischen Paradigma geworden sei, das das nationalistische Verständnis von Geschichte bis heute fundiere. 2.2 Kraken-Karst Verginella hat ihr Vorhaben in mehreren Studien umgesetzt, u.a. in „La campagna triestina“ (Das Triester Land, 2003) und „Città e campagna nel tramonto asburgico: un villaggio al confine fra Istria e Slovenia“ (Stadt und Land am Ende der Habsburger Monarchie. Ein Dorf an der Grenze zwischen Istrien und Slowenien, 1990), in denen sie sich mit dem näheren Triester Karst beschäftigte. Ausgangspunkt beider Aufsätze ist die Vorgeschichte des modernen Triest-KarstVerhältnisses, das bereits im Mittelalter und in der Neuzeit nicht besonders positiv war und im 19. und 20. Jahrhundert großen Veränderungen unterlag, die mitunter Liebesgeschichte auf dem Land beschreibt; für die Malerei das Werk France Kraljs, das sich mit dem Leben der Bauern auseinandersetzt; für den Film die ersten beiden slowenischen abendfüllenden Spielfilme „V kraljestvu zlatoroga“ (In Goldhorns Königreich, 1931) und „Triglavske strmine“ (Triglavs Steilhänge, 1932), welche die slowenische Berglandschaft thematisieren, STANKOVIČ, Rdeči trakovi, 2005, 84 f. – Zu Tavčar und der Tradition des Bauernromans in Slowenien siehe auch HLADNIK, Strategien, 2009, 71–88. 52 STANKOVIČ, Rdeči trakovi, 2005, 84. 53 VERGINELLA, Paradigma, 2007, 60. 54 Ebd. 55 Ebd. 287 288 auch zum offenen Konflikt und zur Nationalisierung beider Räume führten. Dabei hebt Verginella besonders hervor, dass die Entstehung dieses nationalen StadtLand-Konflikts weder eine konsequente und stabile Spaltung bewirkte noch die volle Komplexität der kulturellen Verflechtungen in der Region erschöpfen konnte. Verginella erinnert wie Marušič daran, dass sich der Karst im Mittelalter und in der Neuzeit außerhalb der Gerichtsbarkeit Triests unter der Herrschaft verschiedener adliger Familien befand. Dies bewirkte, dass die Beziehungen zwischen der Stadt und ihrem Umland bis zum 18. Jahrhundert, d.h. bis zur Verwandlung Triests in eine Großhafenstadt, recht lose waren. Sie bestanden aufgrund der Tatsache, dass die Triester Patrizier einige Landgüter in unmittelbarer Nähe von Triest besaßen, auf denen sie bestimmte Produkte für den Stadtverbrauch (Wein, Öl, Brot usw.) herstellen ließen. Ansonsten waren die Honoratioren an der Verwaltung ihres Besitztums im Karst relativ desinteressiert und verpassten in der späten Neuzeit die Gelegenheit, ihre Güter marktwirtschaftlich zu verwerten.56 Zur politisch-administrativen Trennung kam die kirchliche Spaltung: Die meisten Karstdörfer der Triester Umgebung wurden von Bistümern mit Landbesitz in Görz und Krain verwaltet. Diese Kluft zwischen Triest und seinem Umland konnte durch die Verwaltungsreform der Habsburgermonarchie im 18. und 19. Jahrhundert nicht wirklich verringert werden, da der Triester Karst (mit Ausnahme der Stadtvororte) von Görz und in seinem äußersten Südteil von Koper verwaltet wurde. Verginella bestätigt die Anmerkung von Marušič, dass der Aufstieg Triests als moderner Reichshafen, Emporium der Monarchie und industrielles Zentrum Stadt und Land einander näherbrachte, aber sie betont, dass die „forte frammentazione amministrativa ed ecclesiastica“ (starke kirchliche und Verwaltungsfragmentierung) den Ursprung zentripetaler Verbindungen bildet, die bis 1900 mit der wirtschaftlichen Anziehung des wichtigsten urbanen Zentrums der Region – Triest – nicht im Einklang standen.57 Das Weiterbestehen des „modello policentrico, prodotto della società di antico regime“ (polyzentrischen Modells, Produkt der Gesellschaft des ancient régime) bestimmte die „capacità di resistenza della campagna triestina di fronte alla modernizzazione della città“ (Widerstandsfähigkeit des Triester Umlands gegenüber der Stadt).58 Überdies entwickelten sich die neuen Beziehungen zwischen dem modern werdenden Triest und dem Karst in Richtung einer gewissen Asymmetrie zuungunsten des Karsts. Das Stadtleben beruhte auf dem Seehandel sowie auf dem Handel mit der Habsburger Monarchie und ganz Europa – das waren Bereiche, in denen der Karst nur als Transitraum eine Rolle spielte. Die Triester Behörden und Unternehmen interessierten sich dementsprechend für den Aufbau neuer Verkehrswege und nahmen die Karstbevölkerung vor allem dann wahr, wenn es darum ging, billige Arbeitskräfte für die Bauarbeiten zu rekrutieren. Auch diesbezüglich war die Stadt 56 57 58 VERGINELLA, La campagna triestina, 2003, 470–472. Ebd., 462. Ebd. 288 289 von ihrem Umland relativ unabhängig: Aufgrund der starken Einwanderungsquoten konnte man direkt in Triest zahlreiche Arbeitssuchende für die Errichtung des Straßen- und Eisenbahnnetzes auf dem Karst finden, die nicht unbedingt aus diesem Gebiet stammten.59 Der einzige Bereich, in dem die Stadt tatsächlich stark von ihrem Umland abhängig blieb, war die Belieferung mit bestimmten Produkten, meist Nahrungsmitteln, die traditionell von der Karstbevölkerung in der Stadt verkauft wurden. Nichtsdestoweniger boten Eisenbahn, Hafen und Fabriken den Karstbewohnern neue Arbeitsgelegenheiten, die zu einem großen gesellschaftlichen Wandel im Karst führten. Arbeitstätigkeiten in der Stadt und für die Stadt wurden anfänglich parallel zum Ackerbau als Nebenberufe ausgeübt, sodass im 19. Jahrhundert die Figur des „Bauern-Arbeiters“ im Karst Verbreitung fand.60 Als das Verhältnis zwischen Karsteinwohnern und anbaufähigem Karstland zu Beginn des 20. Jahrhunderts sein relatives Gleichgewicht verlor, wurden viele Bauern-Arbeiter allerdings zu reinen Arbeitern und zogen oft in die Stadt, da sie auf dem Land keine Beschäftigung mehr finden konnten. Viele ländliche Vororte der Stadt verwandelten sich somit im Zuge der gewaltigen Zunahme der Stadtbevölkerung allmählich in Arbeiterviertel: „Ai primi del Novecento l’inurbamento diventa una scelta reale fra condizione contadina e condizione urbana“ (Am Anfang des 20. Jahrhunderts bedeutet die Migration in die Stadt eine endgültige Entscheidung entweder für das Bauern- oder das Stadtleben).61 Dennoch hielten viele Arbeiter noch Kontakt zu ihrem Dorf und einige wohnten nach wie vor auf dem Land. Gerade diese Verbindung erwies sich nach Verginella als große kulturelle Herausforderung für den Karst. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts behielt das Triester Umland „i connotati di una società tradizionale, ,centrata sulla coesione rassicurante dei legami familiari, caratterizzata da una precoce età al matrimonio, da una forte natalità e da un’incidenza molto ridotta delle nascite illegittime‘“ (die Merkmale einer traditionellen Gesellschaft‚ ,die auf der Geborgenheit durch Familienzusammenhalt basierte und sich durch frühe Eheschließungen, eine hohe Geburtenrate und wenig uneheliche Kinder unter den Neugeborenen auszeichnete‘).62 Die Arbeiter vollzogen in der Stadt allerdings einen Mentalitätswechsel: Sie begannen individualistischer zu denken, heirateten später und waren „indifferenti sia alla gestione collettivistica dei beni comunali sia al controllo ecclesiastico“ (gleichgültig sowohl gegenüber der kollektiven Verwaltung des Gemeindebesitzes als auch der kirchlichen Kontrolle) im Dorf.63 Diese kulturelle Wende löste komplexe gesellschaftliche Prozesse aus, die Verginella am Beispiel der Geschichte des Karstdorfs Dolina untersucht hat. Hier 59 60 61 62 Ebd., 463. Ebd., 472. Ebd., 464. Ebd. Das Zitat im Zitat stammt aus BRESCHI/ KALC/ NAVARRA, La nascita di una città, 2001, 167. 63 VERGINELLA, Città e campagna, 1990, 188. 289 290 reagierte die Dorfelite auf das Eindringen der modernen Stadt- und Arbeiterkultur auf zweierlei Weise: Die Kirche appellierte an die Werte der katholischen Moral, während sich die Obersten der Gemeinde, meist wohlhabende Bauern, auf die Verantwortung gegenüber der Dorfgemeinschaft und auf die Arbeitsethik beriefen. Beide Institutionen polemisierten gegen die Stadt, die als ein Ort der Verderbnis oder zumindest der nachlässigen Moral betrachtet wurde; dennoch bedienten sie sich in ihrem „Kulturkampf“ der typisch bürgerlichen Institution des Vereins. Um die Kohäsion und das Spezifikum der ländlichen Kultur zu verstärken, wurden mehrere Organisationen gegründet: Es entstanden landwirtschaftliche Vereine wie die „Kmetijska in vrtnarska družba za Trst in okolico“ (Bauern- und Winzergesellschaft für Triest und Umgebung) und Freizeitvereine wie die katholische „Dekliška Marijina družba“ (Mädchengesellschaft der Heiligen Marie)64, in der junge Mädchen auf Ehe, Mutterschaft und Haushalt vorbereitet wurden. Außerdem wurden Gemeindeverordnungen verabschiedet, die den negativen Einfluss der Stadt konterkarieren sollten: Die Dorfgemeinde Dolina verbot die Eröffnung neuer Gaststätten, weil „molti operai consum[avan]o parte o l’interezza dello stipendio settimanale nelle osterie poste lungo la strada che collega Trieste con Dolina“ (viele Arbeiter ihren Wochenlohn in den Kneipen entlang der Straße zwischen Triest und Dolina teils oder ganz ausgaben)65. Verginella merkt an, dass diese kulturelle Verteidigung der Spezifizität des Landes gegen die Stadt sehr ambivalente Züge trägt, weil sie sich letztendlich gerade an bürgerlichen Werten orientiert, wie es am Beispiel der Frauenerziehung besonders deutlich wird: „Le autorità locali […] cercano di imporre di fatto una ,responsabilità borghese‘ mediata dalle donne“ (Die lokalen Behörden […] versuchten in der Tat, eine von den Frauen vermittelte ‚bürgerliche Verantwortlichkeit‘ durchzusetzen]66. Für die jungen Frauen der „Dekliška Marijina družba“ erachtete man lediglich den häuslichen Raum als geeignet. Die Arbeit auf dem Land, an der in einer traditionellen Landgemeinschaft auch die Frauen teilnahmen, war für sie nicht mehr vorgesehen.67 In ähnlicher Weise widerspiegeln die politischen Maßnahmen der Gemeinde, z.B. gegen die Eröffnung neuer Gaststätten, eine bestimmte bürgerliche männliche Moral und politische Praxis der Stadtbehörden. Das Land bekämpfte die Stadt durch die stille Übernahme ihrer Kultur. 64 Ebd., 212–218; VERGINELLA, Marta, La campagna triestina, 2003, 475. VERGINELLA, Città e campagna, 1990, 217. 66 Ebd., 218. 67 Ebd., 216. Die Frauen vom Karst begannen Ende des 19. Jahrhunderts auch in der Stadt zu arbeiten, wo sie verschiedene Landprodukte (Brot, Milch, Blumen) verkauften, um Geld zu verdienen. Letzteres wurde allerdings Ende des 19. Jahrhunderts vornehmlich von den Männern im Hafen und in den Fabriken der Stadt verdient, sodass sich die Frauen seit dieser Zeit wieder auf die Landarbeit konzentrieren mussten, welche die von Bauern zu Arbeitern gewordenen Männer nicht mehr verrichteten (VERGINELLA, Città e campagna, 1990, 188). Diese Funktion der Frauen als Teil des Arbeitslebens des Dorfes stand allerdings im Konflikt mit der Verbreitung des bürgerlichen Familienmodells auf dem Land. 65 290 291 Der Nationalkonflikt zwischen Italienern und Slowenen baute Verginella zufolge auf der bereits existierenden Spaltung zwischen Karst und Triest und auf deren Ambivalenz auf: Nella seconda metà dell’Ottocento l’omogeneità etnica del territorio triestino, popolato quasi esclusivamente dagli sloveni, agisce da forte fattore coagulante di fronte al processo di urbanizzazione. Il processo della nazionalizzazione della società slovena coinvolge intensamente tutta la campagna triestina che dagli anni Sessanta dell’Ottocento in modo sempre più attivo conduce la sua lotta contro il mondo urbano e industriale che attacca la sua produzione, ma anche i suoi costumi e la sua lingua. L’identificazione nazionale della campagna triestina dà un senso alla conflittualità economica e culturale tra Trieste e il suo entroterra.68 [In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fungierte die ethnische Homogenität des Triester Umlands, das fast nur von Slowenen bevölkert war, als Aggregationsfaktor gegenüber dem Urbanisierungsprozess. Die Nationalisierung der slowenischen Gesellschaft betraf das ganze Triester Umland sehr stark. Dieses führte ab den 1860er Jahren einen zunehmend aktiven Kampf gegen die urbane und industrielle Welt, die nicht nur die Landwirtschaft, sondern auch Sitten und Sprache bedrohte. Die nationale Identifikation des Triester Umlandes [mit dem Slowenentum] ermöglicht es dessen Einwohnern, die wirtschaftliche und kulturelle Spannung zwischen Triest und seinem Hinterland einzuordnen. Wirtschaftliche, religiöse, moralische und andere Unterschiede zwischen Stadt und Land wurden durch die nationale Differenz überlagert, die in jedem gesellschaftlichen Bereich zum wichtigsten kulturellen Deutungs- und Handlungsmuster avancierte. Denn die meisten Einwohner des Triester Karsts, deren Mutter- und Hauptumgangssprache überwiegend das Slowenische war, konnten sich einerseits mit dem Land und andererseits mit der slowenischen Nation leichter identifizieren als mit anderen Identitätsprofilen. Das Binom Karst/ Slowenen war außerdem flexibel genug, um sich verschiedenen Situationen anzupassen. Die Arbeiter, die vom Land in die Stadt gezogen waren und ihren Lebensstil geändert hatten, konnten sich über die gemeinsame Muttersprache und nationale Zugehörigkeit immer noch mit dem Karst verbunden fühlen. Gleichzeitig ermöglichte die stille Übernahme bestimmter bürgerlicher Lebensvorstellungen eine neue Selbstwahrnehmung der Dorfbewohner, die sich gewisse Merkmale der modernen Gesellschaft aneigneten, indem sie diese mit der Tradition kombinierten, anstatt mit ihr radikal zu brechen.69 68 VERGINELLA, La campagna triestina, 2003, 464. Eine wichtige Ergänzung dieser Argumente wäre die Berücksichtigung des Triester slowenischsprachigen Klein- und Großbürgertums, das am Ende des 19. Jahrhunderts eine unübersehbare Größe darstellte. Die slowenischsprachige Mittel- und Oberschicht der Stadt war 69 291 292 Verginellas Studien über den Karst historisieren das nordostadriatische nationale Paradigma, das die Italiener der Stadt und die Slowenen dem Land gleichstellt, und deuten es als Konstrukt, das die Interaktion verschiedener Prozesse diskursiv organisiert und zugleich performativ steuert. Obwohl dieses Konstrukt auf den ersten Blick als bündig und kohärent erscheint, birgt es bewegliche und widersprüchliche Interferenzen, deren Feststellung und Erläuterung für Verginella eine entscheidende Aufgabe der Historiographie bilden. In Anlehnung an Clifford Geertz bezeichnet die Historikerin am Ende ihres Aufsatzes über Stadt und Land die Kulturen als Kraken: Sie bewegen sich zwar „durch die Synergie ihrer fließend miteinander in Einklang gebrachten Teile insgesamt als Ganzes“, aber sie vermögen es, „durch getrennte Bewegungen einzelner Teile Richtungsänderungen zustande zu bringen“.70 Die ganze Bewegung des „Kraken-Karsts“ im 19. und 20. Jahrhundert ergibt sich aus der Interaktion (Interferenz) seiner zahlreichen Fangarme, zu denen u.a. die Industrialisierung und Modernisierung der Wirtschaft, die Zentralisierung und zugleich Vervielfältigung der Gesellschaft sowie der Ethnien- und Nationenkampf zählen. Letzterer bildet nicht den einzigen Fangarm des Karsts, wie das nationale Denkmuster suggeriert, sondern einen – wenngleich wichtigen – von mehreren in der Geschichte des Karstgebiets, der die Bewegung der anderen Fangarme nicht immer zu steuern vermag. Bei Verginellas Kraken-Karst handelt es sich um eine Darstellung des plastischen Karsts, die alternativ zum Fokus-Karst von Marušič und der Slowenisch-Italienischen Kommission steht, weil sie dessen zentrale Perspektive hinterfragt und nicht nach einem vermeintlichen Brennpunkt der Karstgeschichte sucht, sondern nach dem, was sich diesem zentral(isierend)en Standpunkt entzieht. 3. Karstuntergrund I: Interkultureller und transkultureller Karst Die Unterschiede zwischen Verginellas Bild vom Kraken-Karst und dem FokusKarst in den historischen Repräsentationen von Marušič und der SlowenischItalienischen Kommission lassen sich in den Kontext der gegenwärtigen wissenschaftlichen Auseinandersetzungen über die Konzeptualisierung von Kultur stellen. Diese Diskussion soll im Folgenden kurz zusammengefasst werden, um die Genealogie der historiographischen Karstbilder von Verginella sowie von Marušič und der Slowenisch-Italienischen Kommission zu rekonstruieren. Als zentraler Aspekt der Debatte wird hier die Gegenüberstellung von Interkulturalität und Transkulturalität71 betrachtet, oder – mit anderen Worten – von klassischer nicht selten selbst ländlicher Herkunft und unterhielt komplexe Verbindungen zum Triester Karst, bei denen der Nationalismus eine vereinende Rolle über die lebensweltlichen und sozialen Unterschiede hinweg übernehmen konnte. Zum slowenischen Triester Bürgertum siehe z.B. PIRJEVEC, Introduzione alla storia culturale, 1982 und CATTARUZZA, Nationalitätenkonflikte in Triest, 1988, 720. 70 VERGINELLA, Paradigma, 2007, 60. 71 WELSCH, Transkulturalität, 2000, 327-351. 292 293 Interkulturalität und kritischer Multikulturalität72 bzw. klassischer 73 Multikulturalität und doch innovativer Interkulturalität sowie jeder anderen Konzeptualisierung dessen, was sich jenseits „vorübergehender Multikulturalität“ befindet.74 Obwohl die Terminologie der gesamten Diskussion instabil ist, kann man innerhalb dieser ein relativ beständiges Spannungsfeld feststellen zwischen Ansätzen, die die Existenz fester Unterschiede zwischen Kulturen betonen, und Herangehensweisen, die die Möglichkeit von Kulturvermengung und transformation in den Vordergrund stellen. Es ist kein Zufall, dass sich Verginellas Kraken-Bild auf den Anthropologen Clifford Geertz bezieht, denn die Anthropologie ist eine jener Wissenschaften gewesen, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Revidierung unseres Kulturkonzepts angestoßen haben.75 Die Anthropologin Matilde Callari Galli betrachtet in ihrem Aufsatz „I percorsi della complessità umana“ (Die Wege der menschlichen Komplexität, 1998) die Entstehungsgeschichte des Begriffs der Interkulturalität als Produkt des ethnozentrischen Paradigmas.76 Die traditionelle Definition von Interkulturalität setzt die Existenz eindeutig getrennter und unterschiedlicher Kulturen voraus, die eventuell zur Interaktion gelangen: Die Entwicklung der Idee, dass die Kultur als ein [geschlossenes] Bedeutungssystem betrachtet werden musste, verstärkte die Auffassung der Welt als eine Menge von in sich geschlossenen Kulturen. […] Als Gesamtheit geteilter Bedeutungen muss sie [eine Kultur] als von den anderen Kulturen stark getrennt betrachtet werden. Diese haben wiederum eigene Bedeutungen und eine eigene holistische Logik.77 Es ist das Beharren auf der klaren Unterscheidbarkeit von Kulturen sowie auf deren universalisierender (holistischer) Valenz, was laut Callari Galli als ethnozentrisch zu bezeichnen ist. Dabei sahen die Anthropologen und Ethnologen ihre interkulturellen Analysen in der Regel als ein wirksames Mittel, um das Verständnis von anderen Kulturen zu vertiefen und keineswegs als Zeichen der Ablehnung bzw. Missbilligung des Anderen: „Aus politischer Perspektive hat sie [die Interkulturalität] den Kampf gegen den im Europa der 1920er und 1930er Jahre öffentlich behaupteten Rassismus ermöglicht. Zugleich hat Interkulturalität dazu angespornt, die Betonung der Unterschiede, einschließlich der extremsten, nicht zu vernachlässigen.“78 Trotz ihres Engagements für kulturelle Anerkennung trug Interkulturalität teilweise aber dazu bei, den kulturellen Status quo zu verteidigen. Sie „entsprach der politischen Ordnung einer Welt, die ihre ‚absolute‘ 72 BENNETT, Cultura e differenza, 2006, 22-25. ISAR, Una „deontologia interculturale“, 2006, 68 f. 74 CHAMBERS, La casa degli spettri, 2006, 41 f. Chambers scheint „vorübergehend“ (transitorio) im Sinne von „nicht strukturell“ und „nicht grundsätzlich“ zu verwenden. 75 BACHMANN-MEDICK, Kulturanthropologie, 2008. 76 CALLARI GALLI, I percorsi, 1998, 194. 77 Ebd. 78 Ebd., 193. 73 293 294 Hierarchie zwar aufgeben musste, aber eine ‚relative‘ bewahren wollte. Das ungleiche [kulturelle] Verhältnis, das in der Wirtschaft und der Politik affirmiert und verteidigt wurde, ermöglichte es, die verschiedenen Kulturen durch eine interkulturelle Beziehung erst ab jenem Zeitpunkt zu verbinden […], als sie dem Westen begegneten“79. Die erste große Herausforderung für das traditionelle interkulturelle Denken ist nach Callari Galli die Feststellung gewesen, dass die verschiedenen Kulturen in der modernen Welt keinen jeweils eigenen Ort besitzen. Man kann nicht mehr behaupten, dass ein bestimmter Ort durch eine einzige spezifische Kultur geprägt ist. Migration, Kolonialismus und technische Entwicklung haben zur Verbreitung multikultureller Orte geführt, deren kulturelle Dynamik zum Forschungsgegenstand der Anthropologie und Ethnologie geworden ist. Dabei scheinen diese Disziplinen die Multikulturalität mit ähnlichen Zielen zu erforschen, wie sie sie bei der Untersuchung von Interkulturalität im Visier haben. Nach dem Philosophen Wolfgang Welsch suchen sie „nach Chancen der Toleranz, Verständigung, Akzeptanz und Konfliktvermeidung oder Konflikttherapie“80 und stellen dabei keineswegs in Frage, dass sich verschiedene Kulturen prinzipiell voneinander trennen lassen. Insofern bildet Multikulturalität Welsch zufolge einen Sonderfall von Interkulturalität und geht von deren Kulturmuster aus: „Es geht von der Existenz klar unterschiedener, in sich homogener Kulturen aus – nur jetzt innerhalb ein und derselben staatlichen Gemeinschaft.“81 Die inter- und multikulturelle82 Idee der Geschlossenheit und Abgegrenztheit der einzelnen Kulturen sei in den letzten Jahrzehnten allerdings bezweifelt worden: Die kulturelle „Gesamtheit“ scheint heute eher eine narrative Strategie zu sein als eine empirische Wahrheit, die objektiv anwesend ist. Die Mehrstimmigkeit, die Polyphonie ersetzt den Monolog, und wenn die Anthropologen weiter von Kultur sprechen wollen, müssen sie es mit dem Bewusstsein tun, dass die Kulturen nicht als ganzheitliche analytische Einheiten betrachtet werden können, sondern Risse und Aufsplitterung aufweisen. Sie müssen die Fluidität und Dynamizität der Kulturen beachten und die Tatsache berücksichtigen, dass die kulturellen Veränderungen in Echtzeit geschehen. Sie müssen ihre Explosionen und 83 Wiederzusammenfügung verfolgen […]. 79 Ebd., 194. WELSCH, Netzdesign der Kulturen, 2001. 81 Ebd. 82 In Anbetracht der Tatsache, dass die Multikulturalität eine Ableitung des interkulturellen Denkens darstellt, soll im Folgenden der Einfachheit halber nur von Interkulturalität gesprochen werden. 83 CALLARI GALLI, I percorsi, 1998, 195. 80 294 295 Callari Galli gibt dieser neuen, ,fluideren‘ und dynamischeren Konzeptualisierung von Kulturen als offene Konstrukte keinen speziellen Namen. In Anlehnung an verschiedene Kulturtheoretiker spricht sie von Globalisierung, Bifokalität des Globalen und Glokalen, Ethnographie ohne Ethnos, translated people und Kontamination, ohne diese Begriffe in einer vereinigenden Bezeichnung zusammenzuführen.84 Im deutschsprachigen Raum hat sich das Konzept der Transkulturalität als Oberbegriff etabliert, der den von den neuen Kulturstudien angestrebten fluiden Ansatz definieren soll. Welsch, einer der wichtigsten Verfechter der Transkulturalität, ist der Auffassung, dass „die Misere der Interkulturalität in der Tatsache verborgen [liegt], dass sie noch immer von einer insel- bzw. kugelartigen Verfassung der Kulturen ausgeht“85. Wie Callari Galli beanstandet er die Unzulänglichkeit des Begriffs von Kultur als geschlossenem System: Kulturen sind intern durch eine Pluralisierung möglicher Identitäten gekennzeichnet und weisen extern grenzüberschreitende Konturen auf. […] Der traditionelle Kulturbegriff scheitert heute an der inneren Differenziertheit und Komplexität der modernen Kulturen. Moderne Kulturen sind durch eine Vielzahl unterschiedlicher Lebensformen und Lebensstile gekennzeichnet. Welsch geht davon aus, dass es „nicht nur kein strikt Eigenes, sondern auch kein strikt Fremdes mehr gäbe“, weil die verschiedenen kulturellen Lebensformen und -stile im ständigen Kontakt und Austausch sind. Man kann zwischen dem Eigenen und dem Fremden zwar noch „unstrikt“ unterscheiden, dennoch gilt der Unterschied immer als provisorisch, weil sich das Kulturschema, auf dem er beruht, durch den intensiven Kulturtransfer rasch verändern kann. Der Transkulturalitätsbegriff wird von Welsch als jene kulturpolitische Haltung befürwortet, die vor den Herausforderungen unserer Zeit nicht zurückweicht: Wenn ein Individuum durch unterschiedliche kulturelle Anteile geprägt ist, wird es zur Aufgabe der Identitätsbildung, solche transkulturellen Komponenten miteinander zu verbinden. Nur transkulturelle Übergangsfähigkeit wird uns auf Dauer noch Identität und so etwas wie Autonomie und Souveränität verbürgen können. […] Hass gegenüber Fremdem ist (wie insbesondere von psychoanalytischer Seite mehrfach dargelegt wurde) projizierter Selbsthass. Man lehnt stellvertretend etwas ab, was man in sich selbst trägt, aber nicht zulassen will, was man intern 84 Ebd., 193-219. WELSCH, Netzdesign der Kulturen, 2001. Zu Welschs Theorie der Transversalität und Transkulturalität siehe WELSCH, Unsere postmoderne Moderne, 1993, 295–328; WELSCH, Transkulturalität, 2000, 327–351. – Zu der im deutschsprachigen Raum geführten Debatte über Inter- und Transkulturalität siehe HANSEN, Interkulturalität, 2000. Hansen nimmt Welsch gegenüber eine teilweise kritische Position ein. 85 295 296 verdrängt und extern bekämpft. Umgekehrt bildet die Anerkennung innerer Fremdheitsanteile eine Voraussetzung für die Akzeptanz äußerer Fremdheit. Welsch und andere Theoretiker der Transkulturalität beziehen ihre Theorien insbesondere auf die Gegenwart: Die Lebensformen enden nicht mehr an den Grenzen der Nationalkulturen, sondern überschreiten diese und finden sich ebenso in anderen Kulturen. Die neuartigen Verflechtungen sind eine Folge von Migrationsprozessen sowie von weltweiten materiellen und immateriellen Kommunikationssystemen (internationaler Verkehr und Datennetze) und von ökonomischen Interdependenzen,86 Menschen, Waren, Dienstleistungen, Informationen und Zeichen sind in großen Wanderungsbewegungen auf der gesamten Erdoberfläche und im All unterwegs.87 Der Postkolonialität-Theoretiker Homi Bhabha äußerte in „The Location of Culture“ (1994), dass nicht nur die Gegenwart, sondern auch die Vergangenheit der menschlichen Geschichte als transkulturell bezeichnet werden kann. Selbst im Zeitalter der Nationalismen, als man die Welt in Kultur und Barbarei bzw. in verschiedene distinkte Kulturen trennen wollte, war das Verhältnis zwischen dem Eigenen und dem Fremden der Kulturen einerseits schon sehr intensiv und andererseits recht unfest in seinen Konturen. Bhabha beruft sich auf die Auto- und Heterostereotype, die sowohl die Kolonisatoren als auch die Kolonisierten schufen. Sie bilden mehrdeutige und auch widersprüchliche Repräsentationscluster. Die Kolonisierten sind für die Kolonisatoren gleichzeitig „gute“ und „grausame“ Wilde, sie gelten als unzivilisiert, aber auch als verantwortungsvolle Arbeiter, deren Arbeitsethik eventuell zuverlässiger als die der Europäer ist. Sie werden einerseits als sexbesessen und andererseits als unschuldig angesehen. Im Grunde fungiert die negative Seite ihrer Darstellung als das befürchtete Fremde im Eigenen, mit den Worten von Welsch als das, „was man in sich selbst trägt, aber nicht zulassen will“. Dagegen bilden ihre positiven Seiten das erwünschte Eigene im Fremden, das, was die Kolonisatoren beanspruchen zu sein bzw. gerne wären. Dasselbe zweideutige Spiel zwischen dem Eigenen und dem Fremden kann man auch bei den Stereotypen finden, welche die Kolonisierten über sich selbst und die Kolonisatoren produzieren.88 Bhabhas Auffassung nach lässt sich also in jeder Zeit und in jeder Kultur eine grundsätzliche Ambivalenz im kulturellen Verhältnis von Eigenem und Fremdem feststellen, die aus wechselseitigen Projektionen von Identität und Differenz entsteht.89 86 Dieses und die vorstehenden drei Zitate WELSCH, Netzdesign der Kulturen, 2001. BRONFEN/ MARIUS, Hybride Kulturen, 1997, 1. 88 Zu Stereotypentheorie und -forschung siehe auch Andreas R. Hoffmanns Aufsatz in diesem Band. 89 BHABHA, The Location, 1994, 66-84. 87 296 297 Die ambivalente Modellierung des Zusammenhangs von Eigenem und Fremdem in der Kultur ist nach Bhabha nicht beliebig, sondern sie entspricht den Machtverhältnissen in einem bestimmten Kontext. Die Mächtigen versuchen, kulturelle Bilder von sich selbst und den weniger Mächtigen bzw. Unterworfenen und Unterdrückten zu schaffen, welche die jeweiligen Positionen in der Hierarchie legitimieren. Dieses Streben nach Hegemonie wird durch den Widerstand der Unterdrückten konterkariert. Dabei stellen allerdings die Mächtigen ihre Höherwertigkeit selbst auch in Frage. Bhabha spricht von einer Selbstlegitimierungsangst, in der die Mächtigen immer wieder die Geschichte der eigenen kulturellen Überlegenheit erzählen, weil sie durch den Zweifel an ihr beunruhigt sind sowie durch die Furcht, im Vergleich zu den Subalternen nicht einmal gleichwertig, sondern sogar minderwertig zu sein. Eine ähnliche Ambivalenz gegenüber den Herrschern kann man auch in der Widerstandskultur der Subalternen feststellen. In vielen Fällen, so Bhabha, wird die Hegemonie der Machthaber weder durch das Innen stark bezweifelt noch durch das Außen offensiv konterkariert. Sie wird leise verschoben und relativiert, durch Praktiken wie kulturelle Mimikry, in der man sich an das Andere zwar zu assimilieren scheint, aber die andere Kultur zugleich verändert und an die eigenen Bedürfnisse anpasst. Selbst die klare Ablehnung einer anderen Kultur ist für Bhabha als zweideutig zu betrachten: Man beharrt zwar auf der eigenen Identität, aber in der Tat verwandelt man sie „leise“ durch die Annahme von Merkmalen des hegemonischen Anderen. Mimikry und kulturelle „Wir-Bilder“, die auf der Oberfläche selbstbewusst erscheinen, aber eigentlich Unsicherheit verbergen, sind laut Bhabha der Grund dafür, dass man zwischen dem Eigenen und dem Fremden nur provisorisch unterscheiden kann. Die jeweiligen Zuschreibungen beider Pole können sich relativ leicht vermengen.90 Die neuen Ansätze, die u.a. Anthropologie und postkoloniale Studien der Kulturforschung boten, sind von der Ostmitteleuropaforschung nicht unbeachtet geblieben. Wichtige Monographien wie Larry Wolffs „Inventing Eastern Europe. The Map of Civilization on the Mind of the Enlightenment“ (1996) und Marija Todorovas „Imagining the Balkans“ (1997) haben gezeigt, dass sich Westeuropa bestimmte Bilder von Ostmittel- bzw. Südosteuropa zurechtgelegt hat, die einerseits die zivilisatorische Überlegenheit des Eigenen behaupten und andererseits eine gewisse Angst vor der Rückständigkeit bzw. Barbarei nicht nur des Anderen, sondern auch von sich selbst verraten. Überdies hat die österreichische Forschung über die Habsburgermonarchie mit wichtigen Sammelbänden wie „Kakanien Revisited“ (2002) und „Habsburg Postcolonial“ (2003) die komplexen Kulturverhandlungen innerhalb der Habsburger Monarchie untersucht und gezeigt, wie sich hier verschiedene Konstruktionsprozesse des Eigenen und Fremden überlagerten. Johannes Feichtinger, einer der Herausgeber von „Habsburg Postkolonial“, fasst die kulturelle Lage in der Donaumonarchie wie folgt zusammen: 90 Ebd., 85-92. 297 298 Die symbolische Abgrenzung „kultureller Monaden“ war das Mittel, durch das sich nationalkulturelle „Authentizität“ konstruieren ließ. Hierbei war auch noch der Rückgriff auf eine gemeinsame (selektiv ausgewählte) Vergangenheit behilflich. Mit der Herstellung solcher Ordnungen versuchte man jedenfalls, die zusehends als Chaos verstandene Komplexität vielschichtiger, aber konfliktbeladener ethnisch-kultureller Verhältnisse in den Griff zu bekommen. […] Ungeachtet dieser künstlichen Aufwertung und Verfestigung von Differenzen war die soziale Praxis im ausgehenden 19. Jahrhundert in Zentraleuropa von einer ethnischen, kulturellen und konfessionellen Vielfalt geprägt. […] Somit stand v. a. der urbane Mitteleuropäer (war er zugewandert oder einheimisch) auch im Spannungsfeld vielfältiger kultureller Codes und Gedächtnisse. […] Die Erfahrung von Pluralismus hatte jedoch ambivalente Auswirkungen: Zum einen dürfte er zwar schöpferisches Argumentieren stimuliert haben, zum anderen waren hier auch infolge der Verunsicherungen, die durch die verwirrende Vielfalt der Kulturen hervorgerufen wurden, Spannungen, Krisen und Konflikte präsent.91 Innerhalb des ostmitteleuropabezogenen transkulturellen wissenschaftlichen Gedankenrahmens positioniert sich auch Verginella, wenn sie veranschaulicht, dass der Triester Karst eine Krakenwelt mit vielen Fangarmen ist, die sich in ihrer Auseinandersetzung mit den herrschenden Machtverhältnissen fluid, dynamisch und ambivalent bewegen. Mit ihren Studien erweitert Verginella Feichtingers Perspektive, nach der „v.a. der urbane Mitteleuropäer“ eher als die Menschen vom Land mit der Komplexität der habsburgischen Welt konfrontiert war. Die Historikerin zeigt, dass Modernisierung und Nationalisierung der Gesellschaft im 19. Jahrhundert dazu führen, dass sich Triest als vorwiegend italienischsprachiges urbanes Zentrum in der wirtschaftlich, gesellschaftlich und politisch stärkeren Position gegenüber dem überwiegend slowenischsprachigen Karst befindet. Dieser fühlt sich von der Vorherrschaft der Stadt bedroht, stellt sich ihr als „kulturelle Monade“ gegenüber und versucht seine Stärke zu behaupten, indem er seine angeblich positive Verschiedenheit betont, d.h. seine slowenische landverbundene traditionstreue Sittenreinheit gegen die italienische städtische moralische Verdorbenheit. Diese Verurteilung der Stadt koexistiert allerdings mit der Übernahme mehrerer Elemente der urbanen Kultur: des modernen Vereinwesens, der bürgerlichen Arbeits- und Familienethik, der Sittenüberwachung von Seiten der Behörden. Dieser Kulturtransfer, dieses im Sinne Feichtingers „schöpferische Argumentieren“ mit der Stadt zeigt, dass die sich als slowenisch deklarierenden Akteure des Triester Landgebiets die Kultur des Triester Bürgertums zumindest teilweise schätzten, obwohl dieses sich am Ende des 19. Jahrhunderts in beträchtlichem Maße mit der italienischen Kultur identifiziert. Diese unausgesprochene Anerkennung koexistiert wiederum mit der Verurteilung der Stadt und der italienischen Kultur einerseits als eindringend91 FEICHTINGER, Habsburg (Post-)Colonial, 2003, 23-25. 298 299 zerstörerisch, andererseits als dekadent. Das Fremde wird also zum Eigenen und bleibt zugleich das Fremde. Die eigene Position gegenüber der Stadt wird gleichzeitig als über- und als unterlegen wahrgenommen. Während Verginellas Ansatz die Geschichte des Karsts und dessen kulturelle Interferenzen als mobile Konstrukte transkulturell hinterfragt, in denen sich das Eigene und das Fremde vermischen, bildet die Interkulturalität das Denkmuster sowohl des Berichts der Slowenisch-Italienischen Kommission als auch der Studie von Marušič. Hier werden Italiener(tum) und Slowenen(tum) sowie Deutsch(tum) und Kroaten(tum) an der Nordostadria als feste Größen behandelt. Zwischen ihnen finde zwar ein Austausch statt, ihre Begegnung verursache zwar Interferenzen verschiedener Art, und die distinkten Identitäten der Gruppen, also das, was ihnen eigen bzw. fremd ist (die Stadt oder das Land), werden z.T. relativiert – aber im Grunde postuliert man diese Identitäten, anstatt sie als ein historisches Produkt zu dekonstruieren. Der Bericht der Slowenisch-Italienischen Kommission und die Studien von Marušič und Verginella zeigen einerseits die Unterschiede zwischen interkultureller und transkultureller Herangehensweise, andererseits veranschaulichen sie, dass es sich bei ihnen um angrenzende Modi der Repräsentation von kultureller Vielfalt handelt. Sie können sich demselben Gegenstand widmen und ihn dabei sogar ähnlich darstellen, denn alle genannten Texte weisen im Grunde auf ein und dieselbe Verflechtung wirtschaftlicher, gesellschaftlicher, politischer und anderer Faktoren an der Nordostadria hin. Der Unterschied besteht darin, dass die historischen Repräsentationen des Berichts und der Studien von Marušič einen stabilen Strukturkern in ihrem Narrativ der nordadriatischen Geschichte aufweisen, und zwar den Fokus auf die Äquivalenz Italiener (bzw. Deutsche) = Stadt versus Slowenen (bzw. Kroaten) = Land. Auf diese Äquivalenz kann die Dynamik des ganzen Geschehens immer wieder zurückgeführt werden. Verginella hingegen betrachtet diese Äquivalenz als instabil und offen. Ihre Elemente seien Konstrukte mit einer kulturellen Bedeutung, die keinen festen Kern aufweist, sondern sich auch radikal ändern kann. Die interkulturelle Herangehensweise an den Karst beabsichtigt ebenso wie die transkulturelle, die kulturelle Vielfalt des Karstgebiets zu repräsentieren und sie gegen Vereinfachungen zu schützen. Dennoch tun es beide von unterschiedlichen Standpunkten aus. Die Interkulturalität betont das Bestehen von Identitäten, die als Existenzvoraussetzung für (relativ stabile) Differenzen betrachtet werden. Die Transkulturalität hebt dagegen die Rolle von Differenzen als Anlass zu (relativ instabilen) Identitäten hervor.92 Die Betonung einerseits von Kontinuitäten und andererseits von Diskontinuitäten in der Wahrnehmung des Eigenen und Fremden prägt den Unterschied zwischen beiden Ansätzen. Die zeitgenössische geschichtswissenschaftliche Repräsentation des Karsts positioniert sich im Spannungsfeld zwischen diesen Polen. Sie besteht aus Texten, die entweder das Kontinuierliche/ Eigene oder das Diskontinuierliche/ Fremde 92 BRONFEN/ MARIUS, Hybride Kulturen, 1997, 7 f. 299 300 betonen. Dabei übersehen weder die ,interkulturelle‘ noch die ,transkulturelle‘ Geschichtsschreibung den jeweils anderen Aspekt, sie gehen jedoch mit unterschiedlichen Haltungen an ihn heran: Erstere scheint für die Anerkennung lang existierender Identitäten trotz der Wirkung von Transformationsprozessen zu plädieren, Letztere will diese Identitäten hinterfragen. Interkulturalität misstraut dem radikalen Wandel, Transkulturalität dem unveränderlichen Stillstand. 4. Repräsentation II: Reisetexte Der Karst hat eine lange Tradition als Durchzugsgebiet, die sich mit dessen Übergangsposition zwischen der italienischen Halbinsel und Mittel-, Ostmittelund Südosteuropa erklären lässt.93 Er wurde seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch zum Urlaubsort (Sommerfrische der Triester, Alpinismus) und ist bis heute ein touristisches Ziel geblieben (siehe Marušič), obwohl die politischen Umbrüche des 20. Jahrhunderts seine Entwicklung als Urlaubs- und generell als Reiseort immer wieder verhindert haben. Nach der Unabhängigkeit Sloweniens und dessen Beitritt zur EU hat man sowohl auf der italienischen als auch auf der slowenischen Seite der Grenze versucht, das Verkehrswesen und die touristischen Infrastrukturen auszubauen sowie das Urlaubsimage des Karsts zu verstärken. Man kann die vielen Reisetexte über den Karst, die seit den 1990er Jahren veröffentlicht wurden, als Mittel bzw. Folge dieser Aufwertung des Karstgebiets als Transit- und Urlaubsort betrachten. Im Folgenden werden drei dieser Texte analysiert: 1. der Reiseführer „Küstenland-Karst A–Z. Handbuch für Reisende und Geschäftsleute“ von Julij Titl, 2. das Internetprojekt „Touristisches Informationsportal Karst“ und 3. der Essay und das Kochbuch „Der Karst, Kras, Il Carso. Die Landschaft. Die Menschen. Die Küche. Der Wein“ von Christoph Wagner und Peter Kelih. Bereits anhand der Titel kann man feststellen, dass diese Texte sich in Medium und Genre unterscheiden; der zweite stellt einen Webseiteninhalt dar, der aus verschiedenen Texten zusammengefügt wurde, während es sich bei dem ersten und dritten um einen alphabetisch geordneten Reiseführer bzw. einen kulturgeschichtlichen Essay samt Interviews und Kochrezepten handelt. Ein anderes Unterscheidungsmerkmal bildet das angestrebte Publikum, das im Fall von Handbuch und Informationsportal allgemein aus Touristen und Geschäftsleuten besteht, während der Essay eher gut gebildete Reisende anspricht, die viel Wert auf reflektierte Esskultur legen. Den drei Texten ist bei allen Unterschieden jedoch gemeinsam, dass sie einen ähnlichen pragmatischen Zweck verfolgen: Sie sind für Leser konzipiert, die sich vermutlich nicht gut im Karst auskennen bzw. besser auskennen möchten, und sie versuchen, dieses Gebiet als Reiseziel attraktiv zu machen. Inwiefern spielen in diesen Texten die Grenzposition des Karsts, seine kulturelle Vielfalt und seine Interferenzen eine Rolle, um die Region als besuchenswert darzustellen? Geht es 93 Siehe die vielen Reiseberichte in WIESER, Karst, 1997 und OLOF/ OKUKA, Traumreisen und Grenzermessungen, 1995. 300 301 dabei um (bewusste oder unbewusste) inter- oder transkulturelle Repräsentationen des Karsts? 4.1 Nebeneinander-Karst Der deutschsprachige slowenische Reiseführer „Küstenland-Karst A–Z. Handbuch für Reisende und Geschäftsleute“ wurde 1993 von Jurij Titl als Teil einer Folge von Reiseführern über die einzelnen slowenischen Regionen herausgegeben. Mit „Küstenland-Karst“ wird hier der südliche Teil Westsloweniens bezeichnet, d.h. die Gegend zwischen Nova Gorica und den Ausläufern der Alpen im Norden und der Grenze zu Kroatien auf der Halbinsel Istrien im Süden.94 Der Reiseführer ist kurz nach Erlangung der politischen Unabhängigkeit Sloweniens erschienen und will dem deutschsprachigen Publikum das neue Land vorstellen. Wie der Titel bereits ankündigt, richtet sich die Veröffentlichung nicht nur an das Freizeitpublikum, sondern auch an wirtschaftliche Akteure. Der geographische Schwerpunkt des Reiseführers entspricht seiner staatsgebundenen Perspektive: Im Text werden nur der Karstteil und die istrische Küste berücksichtigt, die sich innerhalb der slowenischen Grenze befinden. Es wird nur flüchtig erwähnt, dass sich die Bezeichnungen „Karst“ und „Küstenland“ auf geographisch-historische Gebiete beziehen, die in der Gegenwart teilweise in den Nachbarstaaten Italien und Kroatien liegen.95 Dieser staatsorientierte Ansatz schränkt nicht nur den geographischen Betrachtungsraum des Reiseführers ein, sondern auch dessen Inhalt. Im Text wird zwar die Tatsache erwähnt, dass eine italienische Minderheit entlang der slowenischen Küste in Nordistrien lebt, aber es werden nur sehr wenige Worte darüber verloren. Ebenso knapp wird darauf hingewiesen, dass italienische Kultur in der Vergangenheit nicht nur an der Küste, sondern auch im Karst vorhanden war, ohne die Geschichte der italienisch-slowenischen Verhältnisse weiter zu erkunden. Die gegenwärtigen bzw. vergangenen kulturellen Verflechtungen im slowenischen Grenzgebiet werden vom „Handbuch für Reisende und Geschäftsleute“ nebenbei wahrgenommen, eine wesentliche Rolle spielen sie nicht darin. Das Desinteresse des Reiseführers an der kulturellen Interferenzialität von Karst und Küste lässt sich leicht an den von ihm gebotenen Informationen über die Kunst aus der Region feststellen: Bis zum Zweiten Weltkrieg war die Literatur im Küstenland mit der italienischen Kultur verbunden, deren Wirkungskreis hauptsächlich auf die 94 Dieses Gebiet bildet den südlichen Teil der slowenischen Region „Primorska“, die heutzutage Westslowenien umfasst. Historisch bezieht sich diese Bezeichnung auf das ganze habsburgische Küstenland; sie wird auch heute Triest und sein Umland betreffend gebraucht. Siehe das Zitat aus dem Bericht der Slowenisch-Italienischen Kommission im Abschnitt 2.1.1. 95 TITL, Handbuch, 1993, 94 f., 115. 301 302 Küstenstädte beschränkt war. Erst nach 1945 erscheinen vermehrt slowenische Künstler auf der Bildfläche.96 Es folgt ein ganzer Abschnitt über die slowenischen Künstler der Region (Literaten, bildende Künstler, Musiker usw.), während die italienischen Künstler keine Erwähnung finden. An einer anderen Stelle wird darauf hingewiesen, dass die italienische Minderheit Sloweniens eigene Schulen und andere kulturelle Einrichtungen betreibt, aber dem Text ist weder Interesse noch Sympathie gegenüber der Zweisprachigkeit der Region zu entnehmen.97 Das Kulturmuster des „Handbuchs für Reisende und Geschäftsleute“ ist im Grunde interkulturell: Der Text registriert die heutige Anwesenheit zweier Kulturen an der slowenischen Küste – der slowenischen und der italienischen – und erinnert an die vergangene Präsenz der italienischen Kultur im Karst. Dabei geht er davon aus, dass diese beiden Kulturen zwei distinkte Inseln bzw. Kugeln bilden, jede mit eigenen stabilen Kennzeichen. Während die vorher besprochenen interkulturellen Repräsentationen von Anthropologen und Ethnologen auf Kulturvergleich und -austausch beharren, ist der Reiseführer daran nicht interessiert. Die Interferenz zwischen der slowenischen und der italienischen „Kulturkugel“ wird hier als reines Nebeneinander dargestellt: Dem Reiseführer zufolge leben die slowenische Mehrheit und die italienische Minderheit zwar beide am selben Ort, aber ihre Koexistenz führt zu keinem partizipierenden Zusammenleben, weder im Sinne einer gegenseitigen Abschottung noch einer Übernahme von Eigenschaften des Anderen. Einem ähnlichen Muster unterliegt die Darstellung der Vergangenheit der Region: Die italienische Kultur habe den Karst zwar lange geprägt, doch sei sie später durch die slowenische ersetzt worden. Die Frage nach dem Transfer zwischen den beiden Kulturen wird im Reiseführer nicht gestellt. Seinen Autoren scheint eher am Herzen zu liegen, das neu gegründete Slowenien als Staat mit einer starken selbstständigen Identität zu präsentieren – daher der Mangel an Aufmerksamkeit für die italienische Minderheit Sloweniens, die sich zwar innerhalb der Staatsgrenzen befindet, aber nicht als unmittelbar slowenisch betrachtet werden kann. Die Einschränkung auf das staatliche Territorium wird so konsequent durchgehalten, dass der Reiseführer nicht einmal das erwähnt, was durchaus als slowenisch definiert werden könnte, sich aber nicht innerhalb der staatlichen Grenze befindet: die slowenische Minderheit im italienischen Karst. 4.2 Gegeneinander-Miteinander-Karst 96 97 Ebd., 129. Ebd., 71. 302 303 Bei dem „Touristischen Informationsportal Karst“98 handelt es sich um ein grenzüberschreitendes touristisch-wirtschaftliches Projekt der Gemeinden Komen und Duino-Aurisina/ Devin-Nabrežina, wobei Erstere auf der slowenischen und Letztere auf der italienischen Seite des Karsts liegt. Das Portalprojekt wurde von der Europäischen Union im Rahmen eines Programms zur Förderung „regionaler Kompetenzen“ finanziert.99 Gleich die Einleitungsworte auf der Homepage verraten die touristische Ausrichtung des Projekts, wenn sie die natürliche Schönheit der Kalksteinlandschaft und die reichhaltige Karstküche preisen.100 Auf dem Portal wird aber auch Auskunft über die Geschichte des Karsts gegeben, wozu der Begriff „Grenze“ als ein wichtiges Merkmal der Region eingeführt wird: Eine bedeutende Rolle bei der Entstehung und Veränderung der Karstkultur haben neben den mediterranen und friaulischen Einflüssen aus den Nachbarländern auch wichtige historische Ereignisse gespielt, die in der Vergangenheit auf eine grausame Weise das Schicksal der Karstbewohner beeinflussten. Die schlimmsten Narben hinterließen vor allem die ständigen Grenzverschiebungen, die die Karstbewohner verschiedenen Staaten zuordneten. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden sie sogar auf zwei Staaten verteilt. Die künstlich gezogene Grenze hatte einen entscheidenden Einfluss auf die politische, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung des Karstes und seiner Bewohner, die trotz der künstlichen Trennung friedlich miteinander lebten. Heute bietet sich nun wieder die Möglichkeit, den Karst ohne politische Grenzen bzw. als eine Einheit, die eine Brücke zwischen der italienischen und slowenischen Kultur darstellt, anzusehen, in der die Menschen trotz verschiedener Sprachen versuchen, ihr gemeinsames Kulturerbe und die gegebenen Naturschönheiten zu bewahren bzw. weiterzuentwickeln. Gerade das Kulturerbe und die Naturschönheiten geben dem Karst seine Identität.101 Der Karst wird vom Informationsportal nicht nur als geographische, sondern auch als kulturelle Einheit dargestellt, die durch die Politik künstlich getrennt worden war. Die wichtigste Eigenschaft dieser Einheit ist ihre Grenznatur, mit der sie die italienische und slowenische Kultur verbindet. Das wird zu einem Leitmotiv der Karst-Darstellung des Portals. Der Hinweis auf den „Karst ohne politische Grenzen“ kann auch dadurch erklärt werden, dass das Portal 2003 eingerichtet 98 Touristisches Informationsportal Karst. Die Webseite ist in deutscher, englischer, italienischer und slowenischer Sprache verfasst. Die Zitate entstammen der deutschsprachigen Version. 99 „Das Programm ‚Regional Competence‘ bedeutet das elektronische Sammeln und Verwalten von Daten hinsichtlich Wissen, Kompetenzen und Angeboten mittelständischer Unternehmen innerhalb einer Region/ Gemeinde sowie die Veröffentlichung dieser Daten im Internet.“ Projekt Rgional competence, 2001. 100 Touristisches Informationsportal Karst. (Internetquellen) 101 Touristisches Informationsportal Karst. A-Z Allgemein. (Internetquellen) 303 304 wurde, d.h. ein Jahr vor dem EU-Beitritt Sloweniens, der hier implizit als eine wichtige politische Chance für den Karst gesehen wird. Das Informationsportal enthält einen relativ anspruchsvollen landeskundlichen Teil, in dem umfassend erläutert wird, inwiefern das Karstgebiet schon historisch eine Brücke zwischen italienischer und slowenischer Kultur darstellt. Dieser Text verfolgt die ethnischen, politischen und kulturellen Verquickungen der Karstgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart und versucht dabei, die Komplexität der Karstkultur wiederzugeben.102 Sein Narrativ ähnelt in vielen Punkten dem karstgeschichtlichen Überblick von Branko Marušič: Auch im Informationsportal wird beispielsweise betont, dass sich die Slawen in der Region bereits im 6.–7. Jahrhundert ansiedelten, die adligen Familien des Karsts jedoch aus germanischen bzw. romanischen Gebieten stammten.103 Beide erwähnen, dass das erste Wörterbuch aus der Region ein italienisch-slowenisches war.104 Die Entstehung des slowenischen Nationalismus im Karstgebiet seit dem Ende des 19. Jahrhunderts und sein Konflikt mit dem italienischen Nationalismus werden ebenso historisch skizziert.105 Binnenregionale Transferprozesse wie der bürgerliche Tourismus auf dem ländlichen Karst ab ca. 1850106 oder die Niederlassung vieler italienischsprachiger Istrier im italienischen Karst in den 1950er und 1960er Jahren werden im Portal sogar eingehender beschrieben als im Aufsatz von Marušič.107 Insgesamt bemühen sich die Verfasser des Informationsportal um den relativ detailreichen Nachweis, dass sich im Verlauf der Geschichte zwei (mit der deutschen drei) Kulturen im Karst abwechselnd friedlich und gewalttätig begegnet sind. Aus diesem historischen Überblick entsteht ein Bild des Karsts als Gebiet, dessen Identität ohne kulturelle Pluralität nicht vorstellbar ist. Die Bestandteile dieser Identität bzw. – mit den Worten des Portals – das Kulturerbe der Region seien das Ergebnis der Begegnung von italienischer und slowenischer Kultur. Diese habe eine Interferenz gebildet, die ständig zwischen Gegen- und Miteinander geschwankt habe. Daraufhin spricht sich das Informationsportal explizit für die Fortsetzung und Intensivierung des Miteinanders aus und folgt dabei der Logik der interregionalen Förderprogramme der EU, denen ein Versöhnungs- und Verständnisnarrativ zugrunde liegt. Das „Touristische Informationsportal Karst“ bietet insofern eine andere Variante des interkulturellen Denkmusters als das „Handbuch für Reisende und Geschäftsleute“. Dieses präsentiert das slowenische Küstenland als einen 102 Informationen über die regionale Geschichte und Landeskunde findet man auf der Webseite in der Rubrik „A–Z Allgemein“. Zusammen mit der Webseite ist auch eine Publikation entstanden, die sowohl als E-Buch als auch in gedruckter Form veröffentlicht wurde: Der Karst zwischen Štanjel und Duino/ Devin (FAKIN u. a. 2004). Darauf beziehe ich mich in den folgenden Verweisen. 103 FAKIN, Der Karst, 2004, 14. 104 Ebd., 15. 105 Ebd., 17. 106 Ebd. 107 Ebd., 19 f. 304 305 Interferenzraum, in dem sich die kulturelle Interaktion als schiere gegenseitige Wahrnehmung und als Nebeneinanderleben von slowenischer Mehrheit und italienischer Minderheit erweist und beachtet nicht, was sich außerhalb der slowenischen Staatsgrenze im italienischen Karst befindet. Das Informationsportal hingegen betont die grenzüberschreitenden Gegeneinander- und MiteinanderInteraktionen der Kulturen im gesamten Karstgebiet. Dennoch teilen Handbuch und Informationsportal die interkulturelle Überzeugung, dass sich italienische und slowenische Kultur an der Nordostadria prinzipiell auseinanderhalten lassen. 4.3 Ineinander-Karst? Beide Autoren von „Der Karst, Kras, Il Carso. Die Landschaft. Die Menschen. Die Küche. Der Wein“, Christoph Wagner (Texte) und Peter Kelih (Bilder), stammen aus Österreich. Ihr Band stellt eine Mischform verschiedener Genres dar: Text- und Bildbuch sowie Rezeptsammlung und Reisebericht. Letzterer bildet den ersten Teil des Bandes und erzählt vor allem von den Begegnungen mit Wirten bzw. Herstellern typischer Karstprodukte (Wein, Öl, Schinken), mit denen nicht nur über Essen gesprochen wird, sondern auch allgemein über Kultur, Geographie und Geschichte des Karsts. Wagner setzt sich in einem kurzen Kapitel über das Gasthaus „Il pettirosso“ [Das Rotkehlchen] in Santa Croce/ Križ, einem Karstdorf im italienischen Karst, gelegen ca. 10 km nördlich von Triest, mit den italienisch-slowenischen Interferenzen im Karst auseinander: Und als Musik dient das Parlando der Einheimischen an der Bar, an der die Grenzen zwischen italienischem und slowenischem Karst verschwimmen. Da wird aus dem italienischen Ciao und dem slowenischen Fanti (Jungs) auch schon einmal ein babylonisches „Ciao Fanti“: Adieu Jungs.108 Wagners Blick richtet sich im Unterschied zum Informationsportal weniger auf das Historische und mehr auf das Alltägliche der Karstkultur und bietet hier ein Beispiel italienisch-slowenischer Vermischung in der Karstsprache. Dieser entspricht die Begegnung in der Küche, die außer der italienischen und slowenischen kulinarischen Tradition zahlreiche andere Komponenten zusammenführt: Die Küche ist seit je, was man etwas schwammig als mitteleuropäisch bezeichnet, will heißen: slowenisch, italienisch, ungarisch, österreichisch, vielleicht sogar – man denke an den Apfelstrudel – in erster Linie österreichisch. Die Fusi mit Kaiserfleisch sind geschmacklich jedenfalls schon 108 WAGNER/ KELIH, Der Karst, Kras, Il Carso, 2004, 59. 305 306 in beachtlicher Nähe der Wiener Schinkenfleckerl angesiedelt. Und mit den Pignoli im Gänsebrustsalat grüßt der nahe Orient.109 Trotz der Hinweise auf die gelungene kulturelle Vermischung macht der Text auch auf kulturelle Konflikte aufmerksam und gibt dem Leser zu verstehen, dass der Karst keine idyllische Verwirklichung des Miteinanderlebens darstellt: „Österreich […] ist im Karst immer noch hoch angesehen, ganz im Gegensatz zu Italien. Wir alle schauen gen Nordosten. Italien hat uns den Faschismus und immer wieder Chaos und Anarchie gebracht. Österreich, das sind für die meisten von uns einfach gute Erinnerungen. Wir essen ja auch viel lieber österreichisch als italienisch.“110 Diese Worte sollen aus einem Interview mit Edi Kante stammen, einem Slowenen aus Italien, der ein Weingut in Prepotto/ Praprot im Landkreis Triest besitzt. Trotz seiner italienischen Staatsangehörigkeit und Bildung (es wird dem Leser ausdrücklich mitgeteilt, dass Kante in Padua studiert hat) scheint er dem Interview zufolge eher antiitalienisch eingestellt zu sein. In seinen Worten verschiebt sich die Bedeutung der habsburgisch-österreichischen Küche für den Karst: vom kulinarisch-kulturellen Schmelztiegel zum Abgrenzungsfaktor der slowenischen Karsteinwohner gegen die Italiener. Der Essay „Der Karst, Kras, Il Carso“ und das „Touristische Informationsportal Karst“ teilen die Idee vom Karst als Grenzland par excellence: von einem Ort, an dem die ständige Begegnung von Kulturen konstitutiv ist, sei sie durch Gewalt oder durch Frieden charakterisiert. Trotzdem differieren beide Quellen auf zweierlei Weise. Der erste Unterschied betrifft die Darstellung des heutigen Karsts: Das Informationsportal behauptet in seiner Einleitung, dass die heutigen Karsteinwohner „friedlich miteinander“ leben und die vergangenen Bewohner dies auch getan hätten, wenn nicht politische Konflikte von außen eingedrungen wären. In dieser Hinsicht bildet der gegenwärtige Karst „ohne politische Grenzen“ für das Informationsportal eine Art historische Wiedergutmachung nach der Gewalt der Vergangenheit. Der Essay von Wagner und Kelih vermittelt hingegen, dass die Situation im Karst auch heute, in friedlichen Zeiten, eigentlich nicht so konfliktfrei ist. Dieser Text erwähnt nicht nur die versöhnliche kulturelle Interaktion als Merkmal des gegenwärtigen Karstlebens, sondern auch polemische Reibungspunkte: Den Vermischungen der „ciao-fanti-Sprache“ wird Edi Kantes Opposition zwischen österreichischer und italienischer Küche gegenübergestellt, die für eine präzise politisch-geschichtliche Trennung zwischen Slowenen und Italienern steht. Dieses Lenken der Aufmerksamkeit auf die heute noch existierenden kulturellen Spannungen im Karst ist wahrscheinlich darauf zurückzuführen, dass die Autoren von „Der Karst. Kras. Il Carso“ keine Einheimischen, sondern Auswärtige sind und deswegen 109 110 Ebd., 50. Ebd., 80. 306 307 weniger Hemmungen haben, über die noch nicht vernarbten bzw. frischen Wunden der Karstgesellschaft zu berichten. Überdies ist ihr Essay im Unterschied zum Touristischen Informationsportal Karst nicht innerhalb eines interregionalen Förderprogramms der EU entstanden; es hat keine Verpflichtung gegenüber Versöhnungs- bzw. Verständnisnarrativen. Den zweiten Unterschied zwischen Essay und Informationsportal bildet ihr Kulturmuster. Während das Informationsportal interkulturell argumentiert und zwischen italienischer und slowenischer Kultur im Karst grundsätzlich unterscheidet, scheinen Wagner und Kelih in ihrem Essay an mindestens einer Stelle den Karst als transkulturell darzustellen, indem sie den Ausdruck ciao fanti als „babylonische“ Sprachverschmelzung bezeichnen. Dennoch ist es schwer festzustellen, wo genau in diesem Text die Grenze zwischen inter- und transkulturellem Denkmuster verläuft. Denn es wird auch behauptet, dass der Ausdruck mitteleuropäische Küche „etwas schwammig sei“, und dass man besser von „slowenisch[er], italienisch[er], ungarisch[er], österreichisch[er], vielleicht sogar […] in erster Linie österreichisch[er]“ Küche sprechen könne. Bedeutet das, dass die (österreichischen) Autoren die mitteleuropäische Küche doch als eine Gruppe von ,Kugeln‘ betrachten, in der die Kugel namens Österreich größer als alle anderen ist? Und erklären Wagner und Kelih den Ausdruck ciao fanti wirklich als situative Zusammenführung eines italienischen und eines slowenischen Worts innerhalb fluider Kulturprozesse, oder anders formuliert, halten sie Kulturen tatsächlich nicht für prinzipiell trennbare Subjekte, sondern für grundsätzlich offene historische Konstrukte? Oder wird ciao fanti von den Autoren doch als klassischer interkultureller Zusammenstoß zweier Kugeln betrachtet, aus deren separater Ganzheit zwei Elemente entliehen und kombiniert werden? Diese Fragen können nicht wirklich beantwortet werden, weil „Der Karst, Kras, Il Carso“ die Bedeutung der kulturellen Interferenzen im Karst eher andeutet als explizit darauf hinweist. Es lässt sich an diesem Text im Vergleich zu Verginellas historischen Studien weniger leicht feststellen, ob er – auch nur teilweise – aus einem transkulturellen Kulturmuster hervorgeht. Verginella beabsichtigt in ihren Untersuchungen, ein bestimmtes interkulturelles historiographisches Paradigma zu dekonstruieren, deshalb repräsentiert sie die transkulturelle Komplexität, Wechselseitigkeit und Widersprüchlichkeit des kulturellen Austauschs sowohl auf der empirischen Ebene als auch auf der theoretischen Metaebene sehr ausführlich. Das Buch von Wagner und Kelih ist dagegen ein Essay, der ein kultiviertes Publikum unterhaltsam über den Karst informieren möchte und hierfür sein Narrativ aus der kulinarischen Tradition, aus den Erzählungen einiger Karsteinwohner, aus den Legenden, der Geschichte und der Literatur schöpft. Diese Melange drückt sich in schnellen Assoziationen aus, die von der Sprache (ciao fanti) zur Küche (der mitteleuropäischen Tradition) führen. Die Folge der Gedanken und ihre Übergänge werden im Text nicht erläutert, sodass sich nicht feststellen lässt, inwiefern hier Transkulturalität am Werk ist. Nichtsdestotrotz könnte zumindest der knappe Hinweis auf den „babylonischen“ Abschiedsgruß ciao fanti auf eine Perspektive hindeuten, die 307 308 sich von der des Reiseführers und des Informationsportals abhebt. Demnach können Kulturen nicht nur nebeneinander existieren, gegeneinander kämpfen bzw. miteinander leben und sich gegenseitig beeinflussen, sondern sogar ineinanderfließen und dadurch eine neue Kultur entstehen lassen, welche die Ausgangskulturen aufhebt und sie gleichzeitig in etwas Neues münden lässt.111 5. Karstuntergrund II: Ciao-fanti-Karst Ich habe mir das Recht auf Zweifel zugestanden und mich bei zwei Karsteinheimischen, beide Slowenischmuttersprachler, erkundigt, ob man den Abschiedsgruß ciao fanti im Karst tatsächlich verwendet. Meine Informanten bestätigten, dass der Ausdruck bei den aus dem Karst stammenden Triester Slowenen tatsächlich im Gebrauch ist (je nach Dorf mit kleinen morphologischen Varianten). Ich habe außerdem gefragt, ob italienische und slowenische Muttersprachler den Ausdruck gleichermaßen gebrauchen, d.h. ob diese transkulturelle Wortschöpfung allgemein verbreitet ist. Diese Frage wurde von einem Informanten interessanterweise als überflüssig bezeichnet. Er wollte damit auf die Tatsache hinweisen, dass die Italiener aus dem Karst und aus Triest sowohl im Hochitalienischen als auch im Triestinischen kaum slowenische Wörter benutzen, während die Slowenen aus der Gegend viele Italianismen verwenden. Das hat damit zu tun, dass die Slowenen die Sprache der Italiener beherrschen, aber nicht umgekehrt (mit einigen Ausnahmen).112 Die Bedeutung von ciao fanti als transkulturelles Zeichen ist also nicht selbstverständlich. Sie kann bei Wagner und Kelih als babylonisches Beispiel für Transkulturalität gelten, aber meine slowenischen einheimischen Informanten betrachten den Gebrauch dieses Ausdrucks aus interkultureller Perspektive, indem sie zwischen ethnisch-nationalen Gruppen unterscheiden und Hierarchien bilden: Sie, die Slowenen, hätten Wörter aus dem Italienischen übernommen, d.h. sie hätten kulturell offen gehandelt, während die anderen, die Italiener, doch kein Wort aus dem Slowenischen entlehnen würden (die Italiener seien also kulturell verschlossen).113 111 Ein Hinweis auf den Begriff third space wäre hier angebracht und wird wahrscheinlich auch erwartet. Dennoch würde seine Besprechung und Operationalisierung am Beispiel des Ausdrucks ciao fanti den Rahmen dieser Untersuchung sprengen, weil die Einführung des third-spaceBegriffs in die Geisteswissenschaften durch eine komplexe Debatte über seine genaue Bedeutung begleitet wurde, die bei Verwendung des Begriffs nicht unberücksichtigt bleiben kann (siehe BACHMANN-MEDICK, Dritter Raum, 1998 und KLIEMS, Transkulturalität, 2007). 112 VERČ, Ivan, Confine orientale, 2011, 11–13. 113 Das ist übrigens nicht ganz richtig, weil der italienische Dialekt aus Triest slowenische Wörter enthält, z.B. im Ausdruck „che zima!“ (Wie kalt!), in dem zima das slowenische Wort für Winter ist. Dennoch gehe ich nach einer kurzen Umfrage unter Italienischmuttersprachlern davon aus, dass nur wenigen italienischen Muttersprachlern aus der Triester Region bewusst ist, dass es sich bei zima um ein slowenisches Wort handelt. 308 309 Erst eine breiter angelegte Untersuchung könnte bestätigen, inwiefern mein Eindruck gerechtfertigt ist, dass eine interkulturelle Haltung gegenüber kulturellen Interferenzen bei den Karst- und Triesteinwohnern verbreiteter ist als eine transkulturelle. Mir scheint auf jeden Fall, dass die Neigung zur Interkulturalität eine starke Tendenz darstellt, über deren strukturelle Bedingungen nachgedacht werden muss, weil sie nicht nur im Karst verbreitet ist, sondern in zahlreichen anderen Kontexten kultureller Vielfalt. Obwohl die heutigen Geisteswissenschaften die offene, transkulturelle Struktur von Kulturprozessen immer wieder betonen, streben die Menschen weiterhin nach Repräsentationen ihrer Umwelt, in denen klare Zugehörigkeitsgruppen in einer gewissen Hierarchie zu erkennen sind, was die kulturellen Verhältnisse wiederum vereinfacht und fixiert. Wie lässt sich der Umstand bewerten, dass neben einer zunehmenden Etablierung des transkulturellen Denkmusters in der Wissenschaft immer noch eine starke Präsenz der interkulturellen Haltung im Alltagsleben zu vermerken ist? Es handelt sich dabei um einen Widerspruch zwischen Erkenntnisdiskursen und praktiken, dessen Feststellung fast selbstverständlich und nahezu banal erscheinen mag, tatsächlich aber ausschlaggebend für Kulturmechanismen ist. Einerseits plädieren die Wissenschaften für das Erkennen der Komplexität der Welt und behaupten, dass sich nur jemand, der sich auf die kulturelle Vielfältigkeit und die mobile Relativität der Kulturverhältnisse einlässt, auf der Welt zurechtfinden kann. Andererseits scheint es den Menschen intuitiv so vorzukommen, dass lebenswichtige Faktoren wie Selbsterhaltung, Selbstbehauptung, Anerkennung und Solidarität durch (ver)einfach(t)e und feste Strukturen besser garantiert werden können als durch komplexe und flexible Repräsentations- und Handlungsstrategien. Man verlässt sich deshalb auf beruhigende, feste Repräsentationen, auf hierarchische Weltbilder, bis diese bestimmten Akteuren früher oder später als zu eng erscheinen und in Frage gestellt werden. Damit bewegt sich die Kultur zwischen Konstruktion und Dekonstruktion von Ordnung, zwischen Vereinfachung und Komplexität. Sie kann zwar flexibel sein, aber nie genug, um der Vielfältigkeit der Welt und deren Bewohnern reibungslos entgegenzutreten. Für die Neigung der Menschen zur Bildung simplifizierter, eindeutig hierarchisierter und ordnungsstiftender Repräsentationen haben die Kulturanthropologie und die Psychoanalyse sowie andere Wissenschaften umfangreiche theoretische Erklärungen geliefert. Im Grunde deuten sie alle auf die bekannte Feststellung hin, dass die Welt zu groß ist und wir zu klein. Sigmund Freud hat sich bekanntermaßen auf das Problem der menschlichen Selbsterhaltung konzentriert: Das Menschenleben sei ständig den gewaltigen Kräften der Natur (Katastrophen, Krankheit, Tod), dem Lustprinzip (unrealistische Glücksvorstellungen) und dem Todestrieb (Aggressivität gegen andere und sich selbst) ausgesetzt. Die Kultur schaffe eine Art Schutzkappe durch vereinfachte und geordnete Repräsentationen und Praktiken, um das Leben der Menschen innerlich und äußerlich zu stabilisieren. Bei der Theorie Freuds handelt es sich um ein energetisches Kulturmodell: Die Menschen verfügen schlichtweg über zu wenig psychophysische Energie, um Natur- und Triebumstände in ihrer 309 310 tatsächlichen instabilen Komplexität erkennen und erleben zu können.114 Der Philosoph Hans Blumenberg hat darauf hingewiesen, dass der Mensch durch die Kultur geschlossene Strukturen produziert, um dem Absolutismus der rücksichtsund sinnlosen Wirklichkeit die Stirn zu bieten. Vereinfachung wird zum Selbstbehauptungsmittel gegenüber den ungünstigen Weltverhältnissen.115 Der Ethnologe Marc Augé nennt die Neigung der Menschen zu Stabilität ein Bedürfnis nach Anerkennung, d.h. ein Streben nach Würdigung, Bestätigung und Billigung der menschlichen Existenz in Anbetracht der „Unordnung der Ereignisse“ dieser Welt.116 Sich durch Repräsentationen wieder- und anzuerkennen bedeute „wieder das Zentrum der Erde zu werden“ nach dem urgeschichtlichen „ordnungslosen Wandern“ der Menschheit, einem Zustand, in den die Menschen ständig fürchten, zurückversetzt zu werden.117 Augés Argumente erinnern an den ethnologischen und anthropologischen Begriff der primordial solidarity, der uranfänglichen Solidarität innerhalb fester Gruppen, der von Clifford Geertz ausgearbeitet wurde.118 Anerkennung ist ein zentrales Konzept auch im Denken Paul Ricoeurs, dem zufolge Repräsentationen im Wesentlichen narrative Verfahren bilden, d.h. Erzählungen, durch welche die Menschen das Dissonante und Diskontinuierliche der Welt in Konsonanz und Kontinuität überführen.119 Es wurde auch vermutet, dass die Struktur der menschlichen Kultur grundsätzlich mit binären Oppositionen arbeite und dadurch versuche, das Eigene und das Fremde zu trennen und ihr Verhältnis zu regulieren (Lotman und im Allgemeinen die Theoretiker des Strukturalismus).120 Schließlich haben die Cultural Studies, die sich u.a. auf Michel Foucault und Antonio Gramsci beziehen, darauf hingewiesen, dass die Macht von Kulturen, Gruppen und Individuen immer mit der Kontrolle über die Komplexität, d.h. mit einer hegemonialen Haltung, verbunden ist. Diese führe unvermeidlich zu Hierarchien und Reduktionen.121 Dennoch sind all diese Theoretiker auch der Meinung, dass sich die „tatsächliche“ Komplexität der Welt, deren Größe also, in keine feste Struktur zwingen lässt, ungeachtet dessen, ob die menschlichen Erkenntnis- und Erfahrungsprozesse zur simplifizierenden Strukturierung tendieren. Repräsentationen und Praktiken, die auf Vereinfachung basieren, gewinnen zwar ständige Zustimmung, aber sie generieren immer kulturellen Widerstand und führen zu kulturellen Gegendarstellungen und -handlungen. Ich kann hier nicht tiefer auf diese philosophische Diskussion eingehen: Auch auf die Gefahr hin, in meiner knappen Zusammenfassung sehr schematisch zu 114 FREUD, Eine Schwierigkeit, 1917. BLUMENBERG, Die Lesbarkeit, 1981; DERS., Höhlenausgänge, 1989. 116 AUGÉ, Il senso, 1995. 117 Ebd., 135. 118 GEERTZ, Old Societies and New States, 1963; GEERTZ, Oltre i fatti, 1995; CALLARI GALLI/ CERUTI/ PIEVANI, Pensare le diversità, 1998, 178. 119 RICOEUR, Wege der Anerkennung, 2006. MÜLLER-FUNK, Kulturtheorie, 2006, 286–305. 120 LOTMAN, Il metalinguaggio, 2001. 121 MONTROSE, New Historicism, 1992; GROSSBERG, Identity and Cultural Studies, 2010. 115 310 311 wirken,122 habe ich dennoch darauf hingewiesen, weil ich die Bedeutung der Konzepte Inter- und Transkulturalität genau an diese Auseinandersetzung binde. Meines Erachtens wäre es ein Fehler, auf eines von beiden Konzepten zu verzichten. Wenn wir die prinzipielle Frage „Ist unsere Welt an sich inter- oder transkulturell?“ zumindest vorübergehend in Klammern setzen und von der Ebene der Ontologie zu jener der menschlichen Erfahrungsund Wahrnehmungspraktiken wechseln, stellen wir fest, dass sowohl das „Inter-“ als auch das „Trans-Muster“ als Modelle für menschliche Repräsentationen, Haltungen und Handlungen fungieren. Ciao fanti ist nicht das einzige Beispiel aus der Kultur des Karsts, das in Abhängigkeit vom Kulturmuster der Akteure als trans- bzw. interkulturell oder aber als eine ambivalente Mischform beider Modelle betrachtet werden kann. Eine Frage der Perspektive ist z.B. die Erörterung der kulturellen Haltung der Dorfelite von Dolina am Ende des 19. Jahrhunderts, die von Verginella untersucht wurde. Befürwortet die Historikerin einen transkulturellen Blick auf das Verhalten dieser Elite, räumt sie gleichzeitig ein, dass die Dorfoberschicht doch interkulturell zu handeln scheint. Verginella zufolge hielt die Dorfelite die urbane Kultur tatsächlich für das moralisch verdorbene Andere und zog eine klare Linie zwischen ihr und der eigenen ländlichen Kultur.123 Das Dorfestablishment habe einige Diskurse und Praktiken aus der Stadt übernommen „malgrado la loro pretesa di contrastare il mondo cittadino italiano“ (trotz ihres Anspruchs, der italienischen urbanen Welt entgegenzutreten).124 Ohne es explizit zu behaupten, scheint Verginella davon auszugehen, dass dieser Kulturtransfer eher unreflektiert war. Man könnte allerdings darüber spekulieren, inwiefern sich die Dorfelite doch der Annährung an städtische Kulturmerkmale bewusst war: Sie hätte nämlich ihre Affinität zur bürgerlichen Welt mit den Schein ablehnender Interkulturalität lediglich tarnen können, um die Dorfgemeinschaft von der Anziehungskraft der Stadt abzulenken und ihre Führungsposition auf dem Land zu bewahren. Auch in diesem Fall bliebe aber offen, ob die Dorfoberschicht inter- oder transkulturell handelte: Dachten ihre Mitglieder – wie Verginella anhand der Quellen behauptet –, dass die urbane Welt eine andere Kultur darstellt, aus der einige Merkmale für die eigene Kultur übernommen werden können, oder sahen sie im Grunde eine Kontinuität zwischen den kulturellen Strategien, mit denen sich Eliten sowohl in der Stadt als auch auf dem Land an der Macht halten?125 Diese Fragen sind nicht einfach zu 122 Man sollte historisieren und zwischen Denkern der Moderne wie Freud und jenen der Postmoderne wie den cultural-studies-Wissenschaftlern unterscheiden. Man sollte zwischen Modellen unterscheiden, die die strukturelle Prädisposition der Menschen zur vereinfachenden Welterkenntnis und -erfahrung betonen, und Modellen, welche eher die Rolle von Machtstrukturen hervorheben. Man sollte zwischen Denktraditionen differenzieren: Hermeneutik, Strukturalismus, Dekonstruktion und andere poststrukturalistische Ansätze, die gegen die Dekonstruktion polemisieren usw. 123 VERGINELLA, Città e campagna, 1990, 218. 124 Ebd. 125 Auch in diesem Fall könnte man allerdings von Interkulturalität sprechen: Eine Gesellschaftsschicht – sprich die Elite, sei sie städtisch oder dörflich – sieht sich selbst als 311 312 beantworten, zumal es ein Fehler sein könnte, hinter jeder kulturellen Handlung ein kohärentes Kulturmuster zu vermuten: So sehr diese Muster konstitutiv für die Diskurse und Praktiken von Gesellschaft und Individuen sind und so sehr die Wissenschaft versucht sie festzulegen, erweisen sie sich in der Praxis nicht selten als ambivalent. Demzufolge geht es mir in dieser Untersuchung darum zu zeigen, wie die Repräsentationen des Interferenzraums Karst zwischen Inter- und Transkulturalität schwanken. Im Verhältnis zwischen Schwanken und Verankerung in einem bestimmten Kulturmuster besteht ihre Plastik. 6. Repräsentation III: fiktionale Literatur Die fiktionale Literatur der letzten zwanzig Jahre hat einen italienisch- und einen slowenischsprachigen Roman über den Karst hervorgebracht. Sie lassen sich gut miteinander vergleichen, weil sie kulturelle Interferenzen mithilfe verschiedener Kulturmuster repräsentieren: „Franziska“ (1997) von Fulvio Tomizza und „Hiša na Krasu“ (Das Haus auf dem Karst, 2006) von Evelina Umek. Beide erzählen eine Liebesgeschichte, die im Karst ihren Ausgang nimmt. In „Franziska“ verliebt sich ein slowenisches Dorfmädchen während des Ersten Weltkriegs in einen italienischen Offizier aus der Lombardei und unterhält mit ihm in Triest eine Beziehung, die aufgrund kultureller und gesellschaftlicher Unterschiede zwischen den beiden Figuren scheitert. „Hiša na Krasu“ spielt in der heutigen Zeit und handelt von der werdenden Liebe zwischen einem italienisch sozialisierten Slowenen aus dem Triester Karst und einer Slowenin aus Ljubljana, die aus dem slowenischen Karst stammt. Beide Romane schenken dem Karstmilieu, seiner Gesellschaft, seiner Geschichte und seiner Beziehung zu Triest, Italien und Slowenien große Aufmerksamkeit. Dieses Motiv entspricht den Interessen sowohl Tomizzas als auch Umeks, die beide aus der nordostadriatischen Region stammen: Tomizza wurde 1935 nahe des italienisch-kroatischen Dorfes Materada in Nordistrien geboren, er starb 1999 in Triest. Umek wurde 1939 in einer slowenischen Familie in Triest geboren und hat ihr Leben teils in ihrer Heimatstadt und teils in Slowenien verbracht. Beide Autoren haben sich – jeder aus einer anderen Perspektive – für die reziproke Anerkennung und den Kulturaustausch zwischen Italienern, Kroaten und Slowenen engagiert und ihre eigene Identität sowie die ihrer Landsleute in enger Verbindung mit der kulturellen Vielfalt ihrer Herkunftsregion dargestellt.126 „Kultur“ und verteidigt den Kern ihrer Identität, d.h. ihren sozialen Vorrang, vor den gesellschaftlichen Umwälzungen der Modernisierung. 126 Zu Umek, deren Werk vor allem regional bekannt ist, wurde bis auf Zeitungs- bzw. Zeitschriftartikel (u.a. VODOVNIK, Na poti, 2010, 20; GREGORIČ, Nov roman, 2006, 8, nicht viel geschrieben. Verweise auf Umeks Werk in wissenschaftlichen Studien findet man in L. UMEK, Poti tržaškega romana, 2007, 110 und BANDELJ, Sodobna proza, 2010, 14). – Tomizza besitzt zwar einen festen Platz im Kanon der italienischen Literatur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, er erlangte internationale Bekanntheit und ist übersetzt und ausgezeichnet worden; dennoch wurde sein Werk von Literaturkritikern und -wissenschaftlern nicht wirklich intensiv behandelt. Man 312 313 6.1 Einzelgänger-Karst „Franziska“ ist ein historischer Roman, der auf einer historischen Quelle basiert, einem erhalten gebliebenen Liebesbriefwechsel aus der Zwischenkriegszeit. Der Titel ist zugleich der Name der Protagonistin, die am symbolträchtigen 1.1.1900 in einer slowenischen Familie bescheidener Herkunft im Karstdorf Štanjel (it. San Daniele del Carso) geboren wird. Das Genre des historischen Romans ist typisch für Tomizza, der sehr oft intensiv mit historischen Quellen arbeitet. Seine Darstellung der Geschichte ist allerdings nicht mimetisch in der Art des traditionellen realistischen und naturalistischen Romans. Die Literaturwissenschaftlerin Elis Deghenghi Olujić bezeichnet Tomizzas Erzählen als eine Kombination von „narrativa storica“ (historische Narration) und „narrativa della verità“ (Wahrheitsnarration)127, wobei Letztere der Erzählung eine stark auktoriale, modernistisch geprägte existenzielle Metaebene hinzufüge, „eine quälende, schmerzhafte Betrachtung über die Rolle des Menschen in der Geschichte und umgekehrt über die Rolle der Geschichte und deren Wirkung auf das Schicksal der einzelnen Individuen“128 inklusive des Autors. Diese Metaebene entsteht aus einer Erzählweise, bei der die Narration immer wieder unterbrochen wird, um die Arbeit des Autors/ Erzählers an seiner Geschichte und an seinen Quellen offenzulegen. Diese werden als fragmentarische Dokumente der Vergangenheit präsentiert, die nie erschöpfend sein können, selbst dann nicht, wenn sie faktisch exhaustiv sind. Tomizza zufolge bedürfen historische Quellen immer eines Interpreten, um eine Bedeutung zu erlangen, da sie selten über die intimen Gedanken und Emotionen der Individuen Auskunft geben. Sogar Texte wie Liebesbriefwechsel, deren Inhalt private Gefühle fokussiert, verlangen laut Tomizza die Phantasie eines Geschichtenerzählers, denn sie enthalten immer viele Lücken, die lediglich durch spekulative Arbeit geschlossen werden können. Dies führt unweigerlich zur Vermengung von faction und fiction, weil der Autor das imaginiert, was die Quellen nicht sagen.129 Dabei gestaltet Tomizza seine Fiktionalisierung von Geschichte nicht als die unsichtbare Leistung eines allwissenden Erzählers, sondern als offenkundig subjektive Hinwendung eines Autors zu seinem Erzählstoff. Tomizzas Romane sind zwar vorwiegend in der dritten Person geschrieben, aber sie enthalten einige Wechsel zur ersten Person, in denen sich die Erzählstimme als der Autor vorstellt. Tomizza erzählt abwechselnd zum einen quasi homodiegetisch, indem er die Figuren so nah fokussiert, dass sie sich beinahe wie durch eine erlebte Rede ausdrücken können, und zum anderen stark heterodiegetisch, wenn er die Ereignisse bzw. seine Quellen auktorial findet einen bibliographischen Überblick zu ihm in CIMADOR, Bibliografia, 2009. Auf Deutsch u.a. KANDUTH, Fulvio Tomizzas Beitrag, 1978 und STRUTZ/ ZIMA, Fulvio Tomizza und das Thema der Convivenza, 1996. 127 OLUJIĆ, Verità storica, 2001, 22 f. 128 Ebd., 23. 129 Ebd. 313 314 kommentiert, sie hinterfragt bzw. ihre Authentizität bezweifelt. Die Situativität der Erzählung wird außerdem gelegentlich durch Erzählrahmen eingeleitet, in denen der Autor/ Erzähler erklärt, welchen existenziellen Wert der Erzählstoff für ihn hat. Ein solcher Rahmen spielt eine fundamentale Rolle in „Franziska“ und fungiert fast als Anleitung für den Leser. Tomizza lässt im Prolog des Romans einen Ich-Erzähler sprechen, der sich als Autor des Textes vorstellt.130 Dieser erzählt, dass er den Briefwechsel zwischen Franziska und ihrem Geliebten, dem italienischen Offizier Nino, von einem Triester slowenischen Lehrer bekam und sich sehr für die Briefe interessiert, weil sie einen für die Italiener unüblichen Blick auf das Leben der Slowenen in Triest gewähren. Die Figur von Franziska, die im habsburgischen Triest als Eisenbahnbeamtin arbeitet, stellt das Klischee in Frage, alle Slowenen im österreichischen Triest nur Bauern, Handwerker, Arbeiter oder Polizisten gewesen: „C’era dunque un tempo […] nel quale anche a Trieste una ragazza slovena poteva svolgere servizio presso un ente pubblico di primaria rilevanza“ (Es hatte also eine Zeit gegeben […], in der ein slowenisches Mädchen auch in Triest bei einem der wichtigsten Staatsunternehmen Dienst tun konnte).131 Das überraschte den Ich-Erzähler, weil man in der Regel davon ausgeht, dass die Slowenen in Triest auch zur österreichischen Zeit aufgrund des Vorrangs der italienischen Sprache auf fast allen Ebenen der Stadtverwaltung benachteiligt waren: L’amministrazione cacana […] aveva tutt’al più inserito nella gendarmeria non pochi ragazzotti dei rioni periferici e del Carso, i quali, investititi d’autorità e dotati di arma, non riuscivano sempre a farsi rispettare e, quando comminavano una multa, dovevano sorbirsi il motteggio delle stesse parole pronunciate in italiano.132 [Die k. u. k. Verwaltung […] hatte […] eine Anzahl junger Burschen aus dem Umland und vom Karst bei der Gendarmerie aufgenommen, denen es jedoch, trotz Autorität und Waffen, keineswegs immer gelang, sich Respekt zu verschaffen, und wenn sie eine Strafe androhten, mussten sie sich durch die Nachäffung ihres unbeholfenen Italienischen verhöhnen lassen.]133 Die Voreingenommenheit der Triester Italiener gegenüber den Slowenen und ihrer Sprache wurde – so Tomizza in seinem Prolog – nach dem Anschluss von Triest an Italien noch akuter und verfestigte sich zu einer chronischen Intoleranz, die nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die heutige Zeit fortdauert. Der Erzähler zeigt dies anhand eines Vergleichs zwischen Triest und Görz, wo er in den 1930er 130 Obwohl sich dieser Erzähler nicht direkt als „Fulvio Tomizza“ bezeichnet, gibt er Auskünfte über die eigene Person, die eine Identifizierung von implizitem und explizitem Autor ermöglichen. 131 TOMIZZA, Franziska, 1997, 12. Dt. Übers.: DERS., Franziska, 2001, 12. 132 TOMIZZA, Franziska, 1997, 12. 133 TOMIZZA, Franziska, 2001, 12. 314 315 Jahren das Seminar besuchte: Schon damals hatte er beobachtet, dass das Slowenische in Görz besser etabliert war, weil die Slowenen hier anders als in Triest „avevano avuto modo d’insediarsi con negozi ed esercizi in pieno centro“ (in die Lage versetzt worden waren, sich mit jeder Art von Geschäft und Gewerbe mitten im Zentrum niederzulassen).134 Tomizza sei dieser grundsätzliche Unterschied zwischen Görz und Triest noch einmal aufgefallen – kurz bevor er in Besitz von Franziskas Briefen kam –, als er in der Kantine des Görzer Zugbahnhofs zwei Köchinnen gehört habe, die ganz offensichtlich Slowenisch miteinander sprachen: Subito fui portato a considerare che a Trieste, dove la minoranza slovena era più sparsa ma anche più numerosa, mai in luogo pubblico si sarebbe fatto uso della lingua tanto avversata.135 [Plötzlich schoss mir der Gedanke durch den Kopf, dass sich in Triest, wo die slowenische Minderheit weiter verstreut und auch zahlenmäßig viel größer war, niemand an einem öffentlichen Ort dieser Sprache bedienen würde.]136 Der Ich-Erzähler/ Autor findet die Figur von Franziska deswegen spannend, weil eine slowenische Eisenbahnbeamtin in Triest sein Wissen über die Geschichte der Stadt herausfordert. Franziskas Leben könne ihm und seinen Lesern neue Auskünfte darüber geben, wie die Slowenen sowohl vor als auch nach dem Ersten Weltkrieg den Sprach- und gesellschaftlichen Konflikt mit den Italienern im Karst und in Triest erlebten und welche Handlungsmöglichkeiten sie dabei hatten. In der Tat kommt im Roman die Absicht klar zutage, die stereotype Gleichstellung von einerseits Slowenen, Land und bäuerlicher Kultur sowie andererseits Italienern, Stadt und bürgerlicher Kultur in Frage zu stellen. Das Karstbild, das im ersten Teil des Romans als Franziskas Kindheitswelt präsentiert wird, widerspricht dem kulturellen Konstrukt vom ländlich rückständigen Karst und den unzivilisierten Slowenen. Die Erzählstimme bemüht sich hier um ein detailliertes Fresko des Karstraums am Anfang des 20. Jahrhunderts. Dabei beschäftigt sie sich näher mit der Topographie von Franziskas Geburtsdorf Štanjel, mit seiner Gesellschaftsstruktur und mit der des gesamten Karstgebiets. „Franziska“ weicht somit von der Tradition der Triester italienischsprachigen Literatur über den Karst ab, die sich vor allem auf die Landschaft konzentriert und die Einwohner pauschal als zwar naturnahe und kräftige, aber auch rückständige und verschlossene Landleute darstellt.137 134 Tomizza, Franziska, 1997, 10. Dt. Übers.: DERS., Franziska, 2001, 10. TOMIZZA, Franziska, 1997, 10. 136 TOMIZZA, Franziska, 2001, 10. 137 Siehe Scipio Slatapers klassisches Werk über den Karst „Il mio Carso“ (Mein Karst, 1912) und Giani Stuparichs Erzählung „La grotta“ (Die Höhle, 1935). Starke Ähnlichkeiten mit Franziska zeigt hingegen Renato Ferraris Roman „Il gelso dei Fabiani“ (Der Maulbeerbaum der Ferraris, 1975), der eine umfassende Beschreibung der historischen Lage des Karsts um die Mitte des 19. Jahrhunderts bietet. 135 315 316 Tomizzas Roman weist hingegen darauf hin, dass der Karst ein Siedlungsgebiet alter Tradition ist, in dem Dörfer wie Štanjel eine interessante Burgstruktur und andere architektonische Besonderheiten aufweisen, und das reich an Schlossanlagen ist, vgl. z. B. die Festung in Štanjel oder das von dort wenige Kilometer entfernte Schloss in Riffenberg (sl. Rihemberk): A distanza risultava chiaro che il borgo turrito s’infittisse coi suoi diversi ordini di casupole al di sopra della cinta fin quasi al cocuzzolo, dove un margine di vegetazione nascondeva la rocca. A guardarlo invece da sotto la porta, esso non prospettava che i bastioni collegati fra loro da mura merlate e da un paio di imponenti edifici chissà quando e da chi abitati al completo. Ma […] il paese possedeva una particolarità ancora più insolita e forse unica al mondo: il suo campanile si ergeva regolare fino alla torre campanaria, sulla quale si sovrapponeva la cima allungata e un po’ approssimativa di un minareto. Costruzione quasi conclusa in una normale sequenza della nostra storia e finita, forse anche per sfregio, durante un’incursione turca?138 [Aus der Ferne sah man, dass sich der turmbewehrte Ort [Štanjel] mit seinen terrassenartig angeordneten kleinen Häusern oberhalb der Befestigungsmauer immer mehr verdichtete, bis fast zur Hügelkuppe hinauf, wo sich hinter Bäumen und Büschen die Burg verbarg. Von unterhalb des Stadttors her ließen sich jedoch nur die Bastionen ausmachen, untereinander verbunden durch zinnenbekrönte Mauern und ein paar imposante Gebäude, die wer weiß wann und von wem in allen ihren Teilen bewohnt waren. Aber […] der Ort [besaß] eine noch ungewöhnlichere und vielleicht sogar auf der ganzen Welt einmalige Besonderheit: Sein Kirchturm erhob sich ganz normal bis zum Glockenaufsatz, über dem die langgezogene, an ein Minarett erinnernde Spitze emporragte. Ein Bau, der in einer normalen Phase unserer Geschichte begonnen und, vielleicht auch zum Hohn, während einer türkischen Invasion fertiggestellt wurde?]139 Tomizza zeigt zwar am Beispiel von Franziskas Familie und ihrem Umfeld, dass viele Karsteinwohner Bauern und Handwerker sind: Franziskas Vater ist Tischler, ihre Tante Schneiderin, die Nachbarn sind Bauern. Doch auch der Mittelstand ist im Karst vertreten, denn Franziskas Tante bekommt viele Aufträge von Beamten, Offizieren, Apothekern und Ärzten, die in den verschiedenen Karstzentren wohnen. Im Karst ist auch die Aristokratie altansässig, wie Franziska dank ihrer umtriebigen Tante erfährt, der es gelingt, Franziska als Zögling der Baronin Gelda auf das Schloss Riffenberg zu senden. Die Figur der Baronin, einer gebürtigen Slowenin aus der Steiermark, widerspricht dem italienisch-nationalistischen Stereotyp von den halbzivilisierten Slowenen, die nur ihre Muttersprache sprechen: Gelda von Riffenberg beherrscht das Deutsche vollkommen, sie hat ihre 138 139 TOMIZZA, Franziska, 1997, 28 f. TOMIZZA, Franziska, 2001, 29 f. 316 317 Jugend am Wiener Hof verbracht. Eine andere Demystifikation des Stereotyps stellt der Hinweis auf die slowenischen Karstintellektuellen dar: Die kleine Franziska hat nämlich Gelegenheit, Srečko Kosovel, einen der wichtigsten slowenischen Dichter des 20. Jahrhunderts, in seinem Heimatsdorf Tomaj kennenzulernen, als auch er noch ein Kind ist. Trotz seiner aufmerksamen Beobachtung der vielschichtigen Karstgesellschaft scheint auch Tomizza am Diskurs über den Karst als Inbegriff der ländlichen Kultur zumindest partiell teilzunehmen. Im Gegensatz zum italienischen städtisch-nationalistischen Bild preist er allerdings die Karstbauern und -handwerker als Träger einer starken und zähen Lebens- und Arbeitskultur: a quel lembo pietroso sempre cangiante e sempre ridotto, quasi un’increspatura della terra normale, s’intonavano le donne che si affrettavano con gli scarponi verso mercati del guadagno e l’acquisto misurati, i loro mariti calati nelle doline ad affidare il seme a un humus di recente formazione e di breve durata.140 [Zu diesem steinigen, immer sich wandelnden und immer zurückgebliebenen Landstrich, gleichsam nur eine Kräuselung der normalen Erde, passten die Frauen, die in ihren schweren Schuhen Märkten zueilten, die wenig brachten und wenig boten, ihre Männer, die in die Dolinen hinunterstiegen, um den Samen in einen Humus zu legen, der sich erst vor kurzem gebildet hatte und bald wieder verweht sein würde.]141 Der Autor bewundert die unteren Schichten, idealisiert sie aber nicht stark. So stellt er z. B. die Naivität von Franziskas Tante dar, „una solerte operaia sdentata“ [eine fleißige, bereits zahnlose Arbeiterin]142, deren Vornehmtuerei ein wenig peinlich wirkt, wenn sie damit prahlt, dass sie dank ihre Berufs mit den Damen der guten Gesellschaft in Kontakt treten kann. Insgesamt repräsentiert „Franziska“ den Karst als eine Gegend, wo Mentalität und Alltag der Menschen noch stark von der Lebenswelt des Habsburger ancien régime geprägt sind. Die Schichtung der Gesellschaft ist hier noch recht traditionell, und soziale Übergänge sind zwar möglich, aber nur über bestimmte Wege, welche die Stabilität des Systems im Großen und Ganzen nicht gefährden. Die Autorität, auf der diese Welt beruht, ist der Kaiser, zu dem Franziska eine besondere Verbindung hat: Ihre spezielle Geburtsstunde hat ihr nämlich das seltene Privileg der kaiserlichen Patenschaft verschafft, die Kaiser Franz Joseph am ersten Tag des 20. Jahrhunderts jedem Neugeborenen seiner Domäne gewährte. Dank dieser Patenschaft wird der kleinen Franziska Respekt (und Neid) von der Karstgesellschaft entgegen gebracht, und wahrscheinlich akzeptiert es die Baronin Gelda deswegen, sich um ihre Bildung zu kümmern. Dies schließt 140 141 142 TOMIZZA, Franziska, 1997, 41. TOMIZZA, Franziska, 2001, 42 f. TOMIZZA, Franziska, 1997, 41. Dt. Übers: DERS., Franziska, 2001, 43. 317 318 übrigens ein, dass sich Franziska das Deutsche aneignen muss143, denn sie wächst in einem in gewisser Hinsicht noch prämodernen Karst auf, in dem Sprache, Ethnie und Gesellschaft sich nicht nach national(istisch)em Muster, sondern vielmehr nach den Prinzipien der Ständegesellschaft verbinden. Obwohl die Baronin darauf besteht, dass Franziska ihr dialektlastiges Slowenisch verbessert, ist das Deutsche die Sprache, die sie zu lernen hat, weil diese der Kommunikation mit den oberen Schichten der Monarchie dienlich ist. Dieser ancien-régime-Karst wird jedoch als bereits in seiner Abenddämmerung befindlich dargestellt. Als Franziska das Bild ihres alten kaiserlichen Paten zum ersten Mal an einer Wand hängen sieht, ist sie von seinem Alter ziemlich irritiert: Lo fissò restando sorpresa e sempre più delusa. Se lo era figurato grande e forte, guida di tutti i soldati, e lo vedeva troppo vecchio per tenere un bambino a battesimo, anche per fargli da nonno. Incurvito dagli anni, mascherato dal pelo su gran parte del viso, sembrava reggersi dritto per far vedere tutte quelle medaglie al petto mentre lui in cuor suo preferiva andarsene, morire, e per la rabbia che non lo si volesse ascoltare pareva sul punto di abbaiare come un cane.144 [Sie starrte es an, überrascht und mit wachsender Enttäuschung. Groß und stark hatte sie ihn sich vorgestellt, an der Spitze aller Soldaten, und nun sah sie einen Greis, zu alt, um ein Kind aus der Taufe zu heben, ja selbst um ihm ein Großvater zu sein. Von den Jahren gebeugt, das Gesicht zum größten Teil hinter dem Bart verborgen, schien er sich nur aufrecht zu halten, damit man all die Medaillen auf seiner Brust sehen konnte, während er insgeheim lieber davongehen, sterben wollte, und aus Wut darüber, dass man nicht auf ihn hörte, schien er gleich losbellen zu wollen wie ein Hund.]145 Nicht minder veraltet, erbittert und unzeitgemäß ist die Baronin Gelda, die seit Jahrzehnten einsam in ihrem Schloss um ihren Mann trauert, der nach nur einem Jahr Ehe in der Seeschlacht von Lissa (1866) gegen die Italiener starb. Riffenberg erscheint als ein Überbleibsel aus anderen Epochen, es ist in Anlehnung an den Chronotopos der Schlösser und Paläste des gotischen Romans mit einem Quasigespenst ausgestattet. Eines Nachts verfolgt Franziska ihre Mentorin heimlich in einen verlassenen Flügel des Schlosses und beobachtet, wie sie eine Schneiderpuppe in der Uniform des verstorbenen Mannes anbetet, anfleht und küsst: Orrore e pena, ribrezzo e commozione, i più opposti sentimenti si contendevano il cuore della giovane di fronte a quella scena. […] Per cui intuì 143 144 145 TOMIZZA, Franziska, 2001, 48. TOMIZZA, Franziska, 1997, 37 f. TOMIZZA, Franziska, 2001, 38 f. 318 319 che la morte tanto più diventava terribile e tetra quanto più la si voleva mescolare con la fiamma della vita. Ma quando la cara Gelda si levò dal pavimento e, accostatasi al patetico fantoccio, lo abbracciò forte, Franziska indietreggiò e corse via senza curarsi di sollevar rumore.146 [Entsetzen und Mitleid, Abscheu und Rührung, die widersprüchlichsten Gefühle stritten sich im Herzen des Mädchens angesichts dieser Szene. […] Intuitiv erfasste sie, dass der Tod um so schrecklicher und düsterer wurde, je mehr man versuchte, ihn mit der Flamme des Lebens zu vermischen. Aber als die teure Gelda sich vom Boden erhob, zu der pathetischen Marionette ging und sie heftig umarmte, wich Franziska zurück und rannte davon, ohne sich darum zu kümmern, ob sie Lärm machte oder nicht.]147 Durch den Bezug auf morbide literarische Atmosphären gestaltete Tomizza den Karst um die Jahrhundertwende als eine sterbende Welt, die krankhaft das Andenken an die eigene glorreiche Vergangenheit in der Habsburger Monarchie am Leben hält, bis ihr der Erste Weltkrieg den Todesstoß versetzt. Während Baronin Gelda Schloss Riffenberg verlässt und sich in ihre heimatliche Steiermark begibt, zieht Franziska nach Triest – eine Stadt, deren Alltag längst vom Nationenkampf durchdrungen ist. War ihre Kindheit im Karst durch das imperiale Privileg der kaiserlichen Patenschaft geprägt, ist ihr Erwachsenenleben in Triest durch ihre Zugehörigkeit zur slowenischen ethnischen Gruppe gebrandmarkt, die ihr in jedem Lebensbereich Probleme bereitet. In Triest begegnet Franziska zum ersten Mal dem Stadt-Land-Paradigma der italienischen Nationalisten, dem zufolge der slowenische Karst und das italienische Triest zwei gegensätzliche und hierarchisch geordnete Welten darstellen: Tutta la disinvoltura dei triestini italiani, le loro provocazioni, l’impassibile gusto di deridere, si originavano dal vanto di affacciarsi a quello specchio azzurro, privo di delimitazioni nella sua espansione frontale, e si manifestavano ai danni di quanti vi erano approdati dall’interno. Questo discrimine investiva in particolare gli abitanti dell’immediato retroterra […]. Proprio per loro era stato coniato il detto: „Cicio no xe per barca“. Là oltre si stendeva l’Italia, splendente per il paesaggio, la storia, la cultura, le arti, che acuivano l’insofferenza di questi suoi figli che mai ne avevano fatto parte e avevano ostentato la loro ideale appartenenza in faccia ai rigidi occupanti austriaci (considerati ottusi, ritardati), e, più di recente, a quel branco di neoinurbati i quali pretendevano di possedere una loro identità, una lingua, una propria cultura, da far valere nell’auspicabile strappo della comune dominazione.148 146 147 148 TOMIZZA, Franziska, 1997, 56. TOMIZZA, Franziska, 2001, 59 f. TOMIZZA, Franziska, 1997, 73 f. 319 320 [Die ganze Selbstsicherheit der italienischen Triestiner, ihr Provozieren, ihre unerschütterliche Freude am Spott leiteten sich von dem Stolz her, auf diesen blauen, nach hinten zu unbegrenzten Meeresspiegel zu schauen, und äußerten sich auf Kosten derer, die aus dem Landesinnern zugezogen waren. […] Genau für sie war der Spruch geprägt worden: „Cicio no xe per barca.“ („Der Tschitscho taugt nicht fürs Boot.“)149 Dahinter erstreckte sich Italien im Glanz seiner Landschaft, seiner Geschichte und seiner Kultur, und das verschärfte die Unduldsamkeit dieser Landeskinder [der Triester Italiener, M.C.], die zwar nie dazugehört hatten, aber umso mehr ihre ideelle Zugehörigkeit zur Schau trugen: gegenüber den rigiden österreichischen Besatzern (die als dumpf und zurückgeblieben angesehen wurden) und in jüngerer Zeit gegenüber jener Herde von Neuzugezogenen [den Slowenen, M.C.], die behaupteten, eine eigene Identität, Sprache und Kultur zu besitzen, um dafür bei der gemeinsamen Regierung Sonderrechte geltend zu machen“.]150 Bereits die Wortwahl, mit der die Erzählstimme die Weltsicht des Triester italienischen Nationalismus zusammenfasst, zeigt Tomizzas Distanz gegenüber dieser Weltsicht. Die negative Konnotation des Verbs ostentare (in der deutschen Fassung allzu neutral als „zur Schau tragen“ übersetzt) drückt die kritische Distanz der Erzählstimme gegenüber der überheblichen Haltung der Triester Italiener aus. Auch deren Definition der Karstslowenen als „branco di neoinurbati“ (Herde von Neuzugezogenen) klingt sehr arrogant, sodass der Leser den Anspruch der Slowenen, eine eigene Kultur zu haben, als gerechtfertigt wahrnehmen dürfte.151 Tomizzas Erzählstimme in der dritten Person versucht außerdem, die Grundsätze des Stadt-Land-Paradigmas durch einen historischen Exkurs über Triest um die Jahrhundertwende und während des Ersten Weltkriegs zu relativieren. Kurz, aber präzise werden die verwickelten Zusammenhänge von politischer Einstellung, gesellschaftlicher Position und ethnischer Herkunft dargelegt.152 Implizit wendet Tomizza Verginellas Krakenmodell auf Triest an und zeigt, wie die Anhänger der verschiedenen Nationalismen die dynamische Komplexität ihrer Stadt auf einen Konflikt zwischen zwei ethnischen Gruppen reduziert haben, die als vollkommen fremd und unversöhnlich verfeindet erscheinen, obwohl die Grenze zwischen ihnen an sich durchlässig ist. Zu den eifrigsten italienischen Nationalisten gehören nämlich auch verstädterte arme 149 In einer Fußnote präzisiert der Übersetzer, dass der Tschitscho ein „Bewohner des Karstplateaus, das sich von Triest bis Fiume erstreckt“ ist; er bezieht sich hierbei auf eine breitere Karst-Definition, nach der Istrien zum Karst gezählt wird. 150 TOMIZZA, Franziska, 2001, 76 f. 151 Die deutsche Übertragung unterstützt das Hineinversetzen in die Denkweise der Slowenen, indem sie das Verb pretendere nicht mit „sich anmaßen“, sondern mit „behaupten“ übersetzt, d.h. sie lässt die Slowenen von ihrem Standpunkt aus argumentieren, anstatt wie im Original die überhebliche Perspektive der Italiener durch die Sprachwahl weiterzuvermitteln. 152 TOMIZZA, Franziska, 1997, 74–79. Dt. Übers.: DERS., Franziska, 2001, 77–80. 320 321 slowenische Familien aus dem Karst, die aus lauter Angst vor wirtschaftlicher und sozialer Ausgrenzung zu italienischen Nationalisten geworden sind. Ihre feindliche Haltung gegenüber den Slowenen beschreibt Franziska selbst in einem Gespräch auf Italienisch, wobei ihre noch groben und fehlerhaften Sprachkenntnisse einen starken Gegensatz zu der fast gehobenen Sprache der Erzählstimme bilden. Ihre implizite Kritik am italienischen Nationalismus der gewendeten Slowenen wird dadurch explizit: „Gente come è lui ammazzasse noi come è niente. Ma no che possano ancora. E alora voliono scaciare via noi, marsch, tornare in vostro Carso!“ (Leute wie der da [ein antislawischer Amtsdiener des Bahnsitzes in Triest, M.C.] uns am liebsten töten wie nix. Aber jetzt sie nicht können. Und deshalb sie uns wollen jagen fort, marsch, zurück in eure Karst!)153 Tomizza zeigt an Franziskas Erfahrungen, dass der italienische Nationalismus eine Tatsache ist, die jegliche Integration der slowenischen Einwanderer in das Triester Stadtleben unterbindet und dadurch selbst jene Figur des unkultivierten slowenischen Dörflers produziert, die der italienische Nationalismus wiederum als Argument für die Überlegenheit der italienischen Kultur instrumentalisiert. Polemisch weist Tomizza auf den Unternehmergeist hin, welchen die Slowenen seit dem 19. Jahrhundert in Triest bewiesen haben. Diese Umtriebigen verfügten im habsburgischen Küstenland über ein florierendes soziales, wirtschaftliches, politisches, schulisches und kulturelles Netzwerk in slowenischer Sprache, das von der Mehrheit der italienischsprachigen Bevölkerung allerdings nie akzeptiert und vom Faschismus verfolgt und gewaltsam auseinandergerissen wurde. Die slowenischsprachigen Karstbewohner fanden ohne diese gesellschaftlichen Strukturen in der Stadt keine Stützen mehr, die ihnen eine Etablierung in der bürgerlichen Gesellschaft ermöglicht hätten. Die Rolle unkultivierter Burschen vom Lande wurde ihnen vom Nationalismus der italienischen Politik somit aufgezwungen. Franziskas Geschichte veranschaulicht laut Tomizza, wie der italienische faschistische Nationalismus der Zwischenkriegszeit die slowenische Kultur in Julisch Venetien in eine Sackgasse trieb. Franziska versucht sich den Italienern sowohl auf Arbeit als auch in ihrer Beziehung zum geliebten Nino zu assimilieren, aber sie scheitert nicht nur an ihren inneren Zweifeln, sondern letzten Endes vor allem daran, dass ihr Freund und mit ihm die ganze italienische Gesellschaft von ihr die Assimilation verlangen und gleichzeitig nicht daran glauben, dass sie diese erfolgreich vollziehen kann. Nino ist zwar weder Rassist noch überzeugter Nationalist, aber er hat kein Interesse für die slowenische Sprache und Kultur und geht davon aus, dass Franziska sich die italienische Kultur zu eigen machen muss, um ihn zu heiraten. Sie wiederum ist hin und hergerissen zwischen dem Willen, an Ninos bürgerlicher und italienischer Welt teilzuhaben, der Angst, in diesem Vorhaben zu scheitern und dem schlechten Gewissen, ihre eigene Kultur zu verleugnen. Als die Faschisten die Macht ergreifen und die Lage der Slowenen in Julisch Venetien kritisch wird, beginnt die stark verunsicherte Franziska fast krampfhaft an Nino festzuhalten, während 153 TOMIZZA, Franziska, 1997, 103. Dt. Übers.: DERS., Franziska, 2001, 107. 321 322 dieser sich allmählich von ihr distanziert und aufgrund einer Krankheit plötzlich nach Cremona zurückkehrt. Dort lebt er recht einsam und entzieht sich sowohl seiner Liebesbeziehung – da er nicht bereit ist, für sie gegen die Konventionen zu verstoßen – als auch dem Gesellschaftsleben, weil er eine heimliche Abneigung gegen den Faschismus empfindet. Franziska bleibt in Triest als Angestellte bei einem slowenischsprachigen Anwalt und kann sich von den Erinnerungen an Nino erst befreien, als sie während des Zweiten Weltkriegs in den Karst zurückkehrt. Erst in ihrer Heimatregion hat Franziska die Möglichkeit, sich mit dem Verlauf ihres Lebens und ihrer gescheiterten Assimilation auseinanderzusetzen. Sie macht einen Spaziergang bis zum Schloss Riffenberg und stellt vor dem leeren und verlassenen Bau fest, dass ihr bisheriges Leben demjenigen der Baronin Gelda sehr ähnlich war: Wie diese hat Franziska im Schatten einer Liebe gelebt, die sie nicht zu verwirklichen vermochte, zumal ihre Liebe nicht einmal am Tod des Geliebten gescheitert ist wie die Liebe der Baronin, sondern an Ninos Unterwürfigkeit gegenüber den Regeln der Gesellschaft. Die Szene des Spaziergangs basiert auf der Korrespondenz zwischen Franziskas Gemütszustand und den Eigenschaften der sie umgebenden Natur. Franziska reißt ein paar Zweige von einem Strauch und bemerkt dabei, dass dessen Blätter non avevano neanche odore, oltre a quell’asprigno gommoso comune a tutta la pianta; erano belle e basta, pura apparenza infruttuosa, come quasi la totalità del Carso, come il proprio amore esaltato e vano. E parimenti rifiorivano, dopo le nebbie e le gelate, di anno in anno.154 [nicht einmal einen Duft [hatten] außer dem herben, gummiartigen des ganzen Strauchs; sie waren einfach nur schön, reine unfruchtbare Erscheinung, wie fast der ganze Karst – wie ihre eigene Liebe, überschwänglich und nutzlos. Und in gleicher Weise sprossen sie nach den Nebeln und Frösten wieder hervor, Jahr um Jahr.]155 Franziska fühlt, dass ihr Leben und ihre Liebe genauso wie die Natur im Karst trotz aller Hartnäckigkeit zwar kaum fruchtbar waren, aber zumindest Zähigkeit bewiesen haben. Sie stellt also fest, dass ihre Wahrnehmung, Erfahrung und Einstellung der Welt gegenüber immer noch stark von ihrem heimatlichen Karst geprägt sind, von jener Welt, die sie glaubte, hinter sich gelassen zu haben. Bereits auf dem Rückweg von Riffenberg nach Štanjel hat Franziska Gelegenheit, wieder aktiv am hartnäckigen Leben des Karsts teilzunehmen: Sie begegnet Boris, dem Sohn einer ihrer Spielgefährtinnen, der an der Widerstandsbewegung der Partisanen gegen die Faschisten teilnimmt und ihr vorschlägt, den Widerstand als Lehrerin zu unterstützen. Sie nimmt an und beginnt, die Kinder von Štanjel trotz des Sprachverbots der faschistischen Behörden in Slowenisch zu unterrichten. Sie versteckt ihrem Haus sogar eine 154 155 TOMIZZA, Franziska, 1997, 206. TOMIZZA, Franziska, 2001, 209 f. 322 323 Partisanen vor den italienischen Soldaten und belügt diese. Die Wiederbegegnung mit dem Karst ermöglicht Franziska, ihrem Leben einen neuen Sinn zu geben und zu einer selbstbewussten Slowenin zu werden, welche die Kultur ihres Volkes aktiv gegen die Unterdrückung durch die italienischen Faschisten verteidigt.156 Nichtsdestoweniger kann sie sich von ihrer Vergangenheit nicht ganz befreien, wie folgende Auseinandersetzung mit den Partisanen Boris und Armando zeigt: Fu Armando a proferire con misura: „Hanno fatto saltare un camion militare“. „Chi lo ha fatto?“ le uscì detto tra i denti, ricolma soltanto di sdegno. Seguì un silenzio, quindi Boris rispose freddo: „I compagni“. Lei si ripetè livida: „I compagni di chi?“. Il partigiano sollevò le spalle, logico a suo modo: „Miei, suoi, di tutti noi…“. Ma Franziska negò recisamente anche col capo: „Miei, no. Che cosa avevano commesso quei poveretti?“. […] „Siete un ragazzo anche voi, Boris. Ho amato un uomo che quando lo conobbi aveva quasi il doppio dei vostri anni.“ […] „E non lo avete più rivisto? Sta lontano? Vi costa molto dirmi chi era?“ lei affrontò la domanda viso a viso. E si sciolse del tutto. „Era un soldato italiano, della prima guerra. Ecco perché mi sono indignata del vostro attentato. Ed ecco perché mi sento molto più vecchia di quanto vi sembro.“157 [Armando war es, der ruhig erklärte: „Sie haben einen Militärlaster hochgehen lassen“. „Wer hat das getan?“ stieß sie voller Entrüstung zwischen den Zähnen hervor. Es folgte ein Schweigen, schließlich antwortete Boris kühl: „Die Kameraden“, „Die Kameraden von wem?“, fragte sie erneut zurück. Der Partisan zuckte die Achseln und erwiderte, seiner eigenen Logik folgend: „Meine, seine, die von uns allen…“, Aber Franziska schüttelte entschieden den Kopf. „Meine nicht! Was haben diese armen Kerle verbrochen?“. […] „Boris, Ihr seid ja selbst noch ein Kind. Ich habe einen Mann geliebt, der fast doppelt so alt war wie Ihr, als ich ihn kennenlernte.“ […] „Und Ihr habt ihn nicht wiedergesehen? Ist er weit weg? Macht es Euch viel aus, mir zu sagen, wer es war?“ Auge in Auge mit ihm stellte sie sich der Frage. Und sie ging ganz aus sich heraus: „Er war ein italienischer Soldat, aus dem Ersten Weltkrieg. Das ist der Grund, warum ich so entsetzt war über Euer Attentat. Und das ist auch der Grund, warum ich mich viel älter fühle, als ich Euch vorkomme.“]158 Franziska kann nicht dulden, dass man den italienischen Soldaten etwas antut, weil sie in jedem von ihnen Nino sieht. Sie weiß selbst, dass dies ein Trugbild ist: „il nesso subito cresciutole nella mente […] fallace, anacronistico, privo di 156 Die Figur der national und politisch bewussten Slowenin, die sich am Widerstand gegen den Faschismus beteiligt, begegnet auch in der slowenischen Literatur über den Karst, siehe PAHOR, Parnik, 1964 (dt. Geheime Sprachgeschenke, 2009). 157 TOMIZZA, Franziska, 1997, 213–218. 158 TOMIZZA, Franziska, 2001, 216–222. 323 324 fondamento“ (de[r] Bezug, der sofort in ihrem Kopf entstand, trügerisch, anachronistisch und bar jeglicher Grundlage).159 Dennoch kann sie ihre Vergangenheit weder leugnen noch komplett überwinden, obwohl sie ihrem Leben eine neue Richtung gegeben hat. Die Erfahrungen mit Nino konditionieren mitunter Franziskas Beziehungen zu den Männern auch weiterhin. Sie fühlt sich zu Boris hingezogen, aber ein Verhältnis mit ihm scheint ihr wegen der Erinnerung an Nino unmöglich. Franziska kann zwischen ihrem vergangenen und ihrem neuen Leben nur einen Kompromiss aushandeln. Sie hilft den Partisanen im Widerstand gegen die Faschisten, aber sie selbst wird keine Partisanin; sie weigert sich, jedwede Gewaltaktion gegen die Italiener aktiv zu unterstützen. In diesem Sinn bleibt sie eine Figur zwischen den Welten, zwischen dem Karst und Triest, zwischen Habsburger, italienischer und slowenischer Kultur. Einerseits besitzt sie die Fähigkeit, sich in all diese Welten hineinzuversetzen, andererseits ist sie weder imstande, ihre Widersprüche und Antagonismen aufzulösen, noch eine eindeutige und feste Position zugunsten einer dieser Welten einzunehmen. Franziskas Einfühlungsvermögen kann als transkulturelle Fähigkeit bezeichnet werden. Ähnlich transkulturell ist ihr Bewusstsein darüber, dass ihre persönliche Identität zu komplex ist, um von einer der kodifizierten kollektiven Identitäten erfasst zu werden, die in der Triester Region kursieren. Franziska fühlt, erkennt und respektiert ihre gedankliche und emotionale Verbindung mit dem Habsburger Karst ihrer Kindheit und mit Triest vor dem Ersten Weltkrieg, aber sie kann sich auch mit den späten Entwicklungen sowohl der italienischen als auch der slowenischen Kultur zumindest teilweise identifizieren. Die auktoriale Erzählstimme scheint ähnlich transkulturell wie Franziska zu empfinden – sowohl an den Stellen, wo ihr Blick mit dem der Romanprotagonistin verschmilzt, als auch dort, wo der Erzähler seinen Abstand vom Geschehen durch übergeordnetes geschichtliches Wissen und analytische Gedanken betont. Der Karst, Triest und die Figuren, die diese Orte beleben, werden in der Erzählung nie durch eine prinzipielle und eindeutige Gegenüberstellung von Italienern und Slowenen modelliert; vielmehr wird die Konstruktion des Slowenischen und Italienischen als ein beweglicher und instabiler Prozess dargestellt, in dem sich jedes Individuum anders positioniert. Am Thema der persönlichen Differenzen wird ein wichtiger Aspekt in Tomizzas Verständnis von Transkulturalität besonders deutlich – ihre Tragik. Franziskas Offenheit verschiedenen Kulturen gegenüber und ihre Weigerung, sich klaren kollektiven Modellen anzupassen, bringen ihr kein Glück. Trotz einer gewissen Unzufriedenheit scheint ihr ehemaliger Freund Nino mehr Ruhe im Leben zu finden als sie, indem er sich an die Konventionen anpasst und auf eine umständliche Liebe verzichtet. Auf ähnliche Weise quält sich der junge Partisan Boris dank seiner einseitigen antifaschistischen und antiitalienischen Überzeugung deutlich weniger als Franziska, die sich in die italienischen Soldaten hineinversetzen kann. Beide männlichen Figuren, Nino und Boris, handeln interkulturell: Sie sehen zwar den Anderen, sie wissen, dass er einen eigenen 159 TOMIZZA, Franziska, 1997, 213. Dt. Übers.: TOMIZZA, Franziska, 2001, 217. 324 325 Standpunkt hat, sie können sich bis zu einem gewissen Grad auch einen Austausch mit ihm vorstellen, aber von einem bestimmten Punkt an akzeptieren sie die Regeln, die das Eigene bestimmen. Wie Boris lapidar sagt: „Siamo in lotta. Prima o poi doveva accadere.“ (Wir sind im Kampf. Früher oder später musste es geschehen.)160 Diese Haltung scheint den Einwand gegen die Interkulturalität zu rechtfertigen, dass man unter ihrer Ägide gewalttätige Konflikte zwar verschieben, aber nicht auflösen kann. Doch es muss betont werden, dass Tomizza zumindest in „Franziska“ auch die Transkulturalität als keinen gangbaren Weg betrachtet, um die Aporien der Kultur effektiv zu überwinden. Er zeigt in diesem Roman vielmehr, dass auch die transkulturelle Haltung für das Individuum keine Verminderung seiner Leiden bedeutet. Die Gesellschaft orientiert sich bei Tomizza an interkulturellen, wenn nicht sogar monokulturellen Mustern, und Individuen, die sich in ihrem Leben für Transkulturalität entscheiden, werden ausgegrenzt und angefeindet, oder sie können im besten Fall ihre Haltung dissimulieren, aber sie müssen sich ihr Leben lang mit tiefer seelischer Unruhe abfinden. Sie werden Einzelgänger wie Franziska, der die starke kulturelle Trennung zwischen Karst und Triest immer wieder vor Augen geführt und aufgezwungen wird, obwohl sie krampfhaft versucht, die Kluft zwischen dem Karst und Triest, den Slowenen und den Italienern zu überwinden. Einzelgängern wie ihr, „die im Schatten geblieben [sind] und von der Mehrheits- und offiziellen Kultur fast vergessen wurde[n]“161, widmet Tomizza seine solidarisierende Literatur und seine „Geschichte von unten“.162 6.2 Heimat-Karst Evelina Umek hat mit Tomizza das Interesse an bescheidenen Menschen gemeinsam, die nicht oder nur bedingt zu den oberen Schichten der Gesellschaft gehören und nur einen begrenzten Einfluss auf ihre Umwelt haben. Dennoch gestaltet sich die Charakterisierung der ,kleinen Leute‘ bei ihr ganz anders als bei Tomizza. Dieser schildert die Demütigen als zwar klein, in ihrem Alltag aber alles andere als durchschnittlich: Ihrer Sensibilität und ihrem Mut stehen die geringen Handlungsmöglichkeiten in Bezug auf die Herausforderungen der Geschichte gegenüber, und genau aus dieser Konfrontation entsteht die alltägliche Tragik dieser emotional stark erschütterten und oft auch gespalteten Figuren. Im Gegensatz dazu sind Umeks Figuren mäßig oder sogar mittelmäßig. Einige von ihnen sind einfühlsam und gehen mit ihren Problemen mutiger um als andere, dennoch zeichnet sich keine von Umeks Figuren durch innere Größe aus: Sie sind weit entfernt von der geistigen Energie, die Tomizzas Figuren prägt, und sie haben Schwierigkeiten, über ihren Alltag hinauszuwachsen. Umek stellt ihr Leben 160 161 162 TOMIZZA, Franziska, 1997, 213. Dt. Übers.: DERS., Franziska, 2004 [2001], 217. MAROEVIĆ, Dalla parte, 2001, 48. Zitiert in ebd. 325 326 „ziemlich unsentimental [dar], als wäre ihre ganze Aufmerksamkeit auf das Zeigen von Einzelheiten aus dem Leben einfacher Menschen gerichtet“.163 Einen zweiten Unterschied zwischen Tomizza und Umek bildet der Erzählstil. Pflegt Ersterer eine modernistische Schreibweise, in der die Handlungsebene häufig durch andere Erzählebenen oder eine starke Metaebene unterbrochen wird, ist für Letztere ein „Realismus nüchterner objektiver Art, der dank der geruhsam fließenden Erzählung einem breiten Leserkreis zugänglich ist“164 charakteristisch. Die Erzählstimme von Umeks Romanen ist unpersönlich und allwissend, ihr Erzählfluss wird auf keinerlei Art und Weise unterbrochen oder relativiert. Bei Umek gibt es keinen Wechsel der grammatikalischen Person, keine offene Bezugnahme auf die Erzählzeit oder auf das Verhältnis von Autor und Erzählerfunktion. Genauso wenig stößt man auf die Erwähnung und subjektive Auslegung historischer Quellen. Umeks Erzählstimme besitzt die indiskutable Autorität eines traditionellen Erzählers, die aus der Deckungsgleichheit von Erzählperspektive und Wirklichkeit entsteht. Eine der wichtigsten Verlautbarungen von Umeks allwissendem Erzähler ist, dass die ethnische bzw. nationale Identität eine Bereicherung für jedes Individuum darstellt. Sie kann zwar unter Umständen auch als sehr bedrückend empfunden werden, aber wenn man sie verliert, hat man auch „jene Möglichkeit persönlicher Zufriedenheit [verloren], die auf dew Wissen über die eigenen Vorfahren und der Bewahrung der Erinnerungen an sie beruht.“165. Die männliche Hauptfigur in Umeks Roman „Hiša na Krasu“, der Karstslowene Rudi, ist jemand, der seine slowenische Identität zunächst bewusst ablehnt, weil er sich davon unterdrückt fühlt, sie aber später als einen wesentlichen Teil seiner Persönlichkeit akzeptiert und ,revitalisiert‘. Rudi ist im Triester Karst geboren, hat in Triest Ingenieurswesen studiert und arbeitet seit Jahrzehnten in Turin bei Fiat. Nachdem die Beziehung zu seiner Freundin in jungen Jahren gescheitert ist, hat er nicht mehr heiraten wollen, er verbringt seine Zeit meist allein oder mit Arbeitskollegen. Zu seiner Familie hat er seit dem Umzug nach Turin nur ein fernes Verhältnis, und seine Besuche im Triester Karst bleiben sehr spärlich. Nach dem Tod der Schwester muss er allerdings nach Triest fahren, um das alte Elternhaus auf dem Karst zu verkaufen. Diese Reise weckt in ihm Unbehagen, weil er die Welt der Triester Slowenen mit Unduldsamkeit betrachtet: Sie kommen ihm besonders in den kleinen Karstdörfern sehr verschlossen vor, in sich gekehrt und in obsessive Grübeleien über die eigene Geschichte und die Rivalität mit den Italienern versunken. Rudi fühlt sich außerdem von seinen Dorfleuten abgelehnt, weil er in ihren Augen die slowenische Kultur ,verraten‘ und sich den Italienern in Turin assimiliert hat. In der Tat können die Menschen im Dorf kaum akzeptieren, dass er sein Heimathaus verkaufen will – eventuell auch an Italiener, denen die Traditionen des Karsts fremd sind. 163 164 165 CENDA, O izkorinenjosti, 2005, 140. CENDA, Čas prinaša in odnaša, 2006, 173. CENDA, O izkorinenjosti, 2005, 140. 326 327 Doch Rudis Reise nach Triest wird zu einer schicksalhaften Erfahrung. Sie bringt ihm die Versöhnung mit seiner Herkunft, als er in dem noch unverkauften Haus auf dem Karst von einem Filmteam besucht wird, das den Bau und seine Einrichtung für eine Dokumentation filmen will. Zu diesem Team gehört auch Barbara, die weibliche Hauptprotagonistin des Romans, die ursprünglich aus dem slowenischen Karst stammt, aber während ihres Studiums nach Ljubljana umgezogen war. Barbara ist seit kurzer Zeit Witwe, ihr Mann Borut ist bei einem Umfall ums Leben gekommen. Obwohl sie schon lange vor seinem Tod kein gutes Verhältnis mehr zu ihm hatte, weil Borut die Familie wegen seiner Arbeit vernachlässigt hat und Barbara untreu war, kann sie sich mit seinem Tod nicht abfinden. Sie will sich nicht eingestehen, dass ihr Mann ein Egoist war, der sie als Hausfrau und Mutter seines Sohnes ausgenutzt hat. Nicht einmal die Arbeit hilft Barbara, sich abzulenken, denn sie hat eine Stelle beim Fernsehen gefunden, wo Borut früher auch arbeitete, und wird immer wieder mit Erinnerungen an ihren Mann konfrontiert. Barbara und Rudi bilden in gewisser Hinsicht gegensätzliche Figuren, die mit den Wunden der Vergangenheit anders umgehen: Barbara kann nicht umhin, ständig über sie nachzudenken, während Rudi versucht, sie zu verdrängen. Nichtsdestotrotz bietet die Begegnung der Protagonisten – nach einem für Liebesromane üblichen Schema – beiden die Möglichkeit, ihre offenen Rechnungen mit der Vergangenheit zu begleichen. Dabei erweist sich auch die Tatsache als wichtig, dass sie, obwohl beide Slowenen, aus verschiedenen Welten stammen und auch in solchen leben. Rudi gibt Barbara die Möglichkeit, sich von Ljubljana zu trennen und ihre Aufmerksamkeit auf einen neuen Ort zu lenken: Triest samt seinem Karstteil. Barbara ermöglicht Rudi wiederum, sich mit seiner slowenischen Herkunft zu versöhnen, indem sie als Slowenin aus Slowenien von jenen Denkmustern und -zwängen der Triester Slowenen frei ist, die Rudi missfallen.166 Die Liebe zwischen den beiden Protagonisten wird im Einklang mit Umeks nüchternem Stil nicht als hinreißende Leidenschaft geschildert, sondern als die Begegnung zweier nicht mehr junger Menschen, die versuchen, sich das Leben gegenseitig zu erleichtern. Rudis Haltung zur ethnisch-regionalen und -nationalen Herkunft erweist sich als Teil des thematischen Kerns von „Hiša na Krasu“. In der Erzählung wird hervorgehoben, dass Rudi in Turin im multiethnischen Viertel San Salvario wohnt, das […] je postala mesto v mestu, multietnična četrt jo imenujejo, kjer se srečujejo kulture in tradicije s skoraj vseh celin, kjer imajo različne veroizpovedi, katoliška, evangeličanska, judovska, svoje cerkve v mirnem sožitju druga z drugo, kar je dediščina neke strpne preteklosti. Nekateri so se 166 ZIMMERMANN, Trivialliteratur?, 1982, 78 betont die konstitutive Funktion des Sicherkennens in der Struktur des Liebesromans. Dabei hebt er den reziproken Aspekt hervor: Die Geliebten lernen sich gegenseitig kennen. Komplementär dazu steht im Liebesroman der Prozess der Selbsterkennung, den jeder bzw. jede Liebende/ Geliebte im Partner auslöst. 327 328 prav zaradi tega preselili, njega pa je veselilo pokramljati z Egipčanom, Irancem, Senegalcem, Perujcem, kupovati v vseh teh različnih trgovinah in okušati hrano z vseh vetrov.167 [ […] eine Stadt in der Stadt geworden ist, man nennt sie das multiethnische Viertel, wo sich die Kulturen und Traditionen fast aller Kontinente treffen, wo unterschiedliche Glaubensbekenntnisse – das katholische, das evangelische, das jüdische – und die jeweils eigenen Kirchen in einem ruhigem Zusammenleben das miteinander haben, was das Erbe einer toleranten Vergangenheit bildet. Einige sind genau deswegen hierher gezogen, und er hatte sich gefreut, ein wenig mit dem Ägypter, dem Iraner, dem Senegalesen und dem Peruaner zu plaudern, in all den verschiedenen Läden einzukaufen und das Essen von überall zu probieren.] Obwohl die Erzählstimme kurz auf die gesellschaftlichen Probleme des Viertels (Immigration, Intoleranz, Gewalt und Spannungen mit der Polizei) hinweist,168 dient die Beschreibung von San Salvario nicht so sehr der Darstellung der Probleme großstädtischer Banlieus, sondern der Erkundung von Rudis ethnischnationalem Bewusstsein: Ali se sploh počuti še Slovenca? Ne, ni se odrekel svojim koreninam, svoji preteklosti, ni pozabil dogajanja na teh tleh, vendar je gledal na vse to z drugačnega zornega kota. Z drugačnega zornega kota je gledal tudi na vse priseljence iz Severne Afrike, Kitajske, Južne Amerike in Balkana kot Turinčani, ki so v njih videli vsiljivce, kriminalce ali vsaj nepotrebne prišleke. In če je s te oddaljenosti pogledal sebe tam, v tujem mestu, se je zavedel, da se pravzaprav nikoli ni stopil s tamkajšnjim prebivalstvom, ni postal stoodstoten Italijan. Nekaj v njem mu je to branilo, ne da bi se zavedal svojega slovenstva ali ga na kakršenkoli način gojil, ni se zasidral, ni se poročil, ni imel družine, ki bi ga vpela v okolico in ga prisilila, da postane njen del. Lahko je jemal od nje le tisto, kar mu je prijalo, in zavračal, kar mu ni bilo všeč.169 [Fühlt er sich überhaupt noch als Slowene? Nein, er hat auf seine Wurzeln nicht verzichtet, auf seine Vergangenheit, er hat die Geschehnisse auf jenem Boden nicht vergessen, aber er hat das alles aus einem anderen Blickwinkel gesehen. Auch all die Einwanderer aus Nordafrika, China, Lateinamerika und dem Balkan hat er von einem anderen Standpunkt aus betrachtet als die Turiner, die in ihnen Eindringlinge, Verbrecher oder zumindest unnütze Neuankömmlinge sahen. Und wenn er sich selbst aus der Ferne anschaute, in der fremden Stadt, war er sich dessen bewusst, dass er mit der dortigen 167 168 169 UMEK, Hiša na Krasu, 2006, 80. Ebd., 80. Ebd., 102. 328 329 Bevölkerung nie verschmolzen war, er war nicht hundertprozentig Italiener geworden. Etwas in ihm hinderte ihn daran, sich seines Slowenentums nicht bewusst zu sein oder es auf irgendeine Art zu kultivieren, er hatte keine Wurzeln geschlagen, er hatte nicht geheiratet, er hatte keine Familie, die ihn in die Umgebung eingebunden hätte, damit er deren Teil wird. Er konnte von der Umgebung nur das annehmen, was ihm behagte, und das ablehnen, was ihm nicht gefiel.] Die Anziehungskraft von San Salvario auf Rudi beruht auf der Tatsache, dass er sich unter den Italienern teilweise fremd fühlt. Dies ermöglicht ihm, sich mit seinen ebensowenig italienischen Migrantennachbarn zu identifizieren, weil er wie sie in seinem eigenen Lebensmilieu nicht verwurzelt ist. Erst seine Reise auf den Triester Karst und die Liebe zu der Slowenin Barbara bringen ihn zur Wiederentdeckung seiner Heimat und seiner Vergangenheit. Dabei wirkt Barbaras Aufgeschlossenheit gegenüber den Triester Slowenen und ihrem Karst als entscheidender Ansporn für Rudi. Barbara wird in einer Schlüsselszene des Romans im Ethnographischen Museum im Triester Vorort Servola (slowenisch Škedenj/ Ščedna)170 in die Traditionen des hartnäckigen, arbeitsamen Bauernlebens auf dem Triester Karst eingeführt171 und bedauert, nicht viel über dieses Gebiet zu wissen. Dank Barbara schwindet Rudis Unduldsamkeit gegenüber der Selbstzentriertheit vieler seiner Landsleute, bis er schließlich erkennt, dass das Nachgrübeln der Triester Slowenen über sich selbst und ihre Geschichte zwar übertrieben sein mag, aber immerhin ihre enge Verbundenheit mit ihrem Heimatort beweist. Als Rudi fast am Ende des Romans von den Nachbarn zum Abendessen eingeladen wird, stört ihn nicht mehr, dass man bei ihnen die für Slowenen aus Italien typischen Gespräche führt: […] bosta tako […] govorila o politiki, ki jim, ki nam – se je popravil Rudi – ni bila naklonjena. In seveda o preteklosti, ko je bila vas še vas. Vsaka skupnost ima svoje teme, ki se ponavljajo, tudi v Turinu ni nič drugače. Mu bo uspelo spet stkati vezi, ki so ga nekoč povezovale s temi ljudmi? Zavedal se je, da je nekatere sam potrgal, ker se je bal neprestanih očitkov, ker je bil sit manjšinskega občutka manjvrednosti in zaprtosti. Ker se je čutil izkoreninjenega in se ni hotel soočati s svojo izkoreninjenostjo.172 [ […] Sie werden […] so über die Politik reden, die ihnen, die uns – berichtigte sich Rudi – nicht wohlgesinnt ist. Und natürlich über die Vergangenheit, als das Dorf noch ein Dorf war. Jede Gemeinschaft hat ihre Themen, die sich wiederholen, auch in Turin ist es nicht anders. Wird es ihm 170 Škedenj im Slowenischen, Ščedna im slowenischen Dialekt aus Triest. Diese Szene wirkt als Konkretisierung des ethnischen Blicks der Autorin auf die Slowenen aus dem Triester Karst. Zum ethnischen Blick in der Literatur siehe den Beitrag von Zsuzsanna Borbála Török in diesem Band. 172 UMEK, Hiša na Krasu, 2006, 168. 171 329 330 gelingen, die Verbindungen wieder aufzunehmen, die ihn einmal mit diesen Menschen verknüpft haben? Er war sich dessen bewusst, einige selber abgebrochen zu haben, weil er Angst vor unaufhörlichen Vorwürfen hatte, weil er genug vom Minderwertigkeitsgefühl und der Verschlossenheit der Minderheit hatte. Weil er sich entwurzelt fühlte und seiner Entwurzelung nicht gegenüberstehen wollte.] Rudi kommt schließlich zur Überzeugung, dass das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft für ein erfülltes Leben unentbehrlich ist: „Naš, njihov, tuj, samo svoj, mogoče mora vsak pripadati neki skupnosti, se zavzemati za skupno dobro, biti z ljudmi, ki imajo skupne cilije.“ (Unser, ihr, dein, oder nur mein, vielleicht muss jeder irgendeiner Gemeinschaft angehören, sich einsetzen für das gemeinsame Gute, mit Leuten sein, die gemeinsame Ziele haben.)173. Er bleibt zwar der Auffassung, dass man die nicht konstruktive Identitätserstarrung der jeweils eigenen Gemeinschaft kritisieren sollte, aber er ist nicht mehr bereit, auf die eigenen Wurzeln zu verzichten. Mit diesen Überlegungen lässt Umek Rudis ethnisch-nationale Reifung enden. Die unpersönliche Erzählstimme von „Hiša na Krasu“ verzichtet sogar auf ihre emotional eher zurückhaltende Erzählweise und bemerkt emphatisch: Začutil je neizmerno svobodo in najraje bi to svoje občutje izrazil s krikom, ki bi zadonel preko prostora in časa, začutil pa je tudi, da pripada temu prostoru in času. Okrepljen se vrnil domov, resnično domov.174 [Er fühlte eine immense Freiheit und hätte sein Gefühl am liebsten durch einen Schrei ausgedrückt, der durch den Raum und die Zeit ertönte, doch fühlte er auch, dass er diesem Raum und dieser Zeit angehörte. Gestärkt kehrte er heim, wirklich heim.] Gleichzeitig vervollständigt sich auch Rudis éducation sentimentale, indem er sich wünscht, Barbara in seinem Haus an seiner Seite zu haben. „Kdo ve, ali ima Barbara rada rože?“ (Wer weiß, ob Barbara Blumen mag?) lautet der letzte Satz des Romans, während Rudi sich fragt, welche Blumen er im Garten pflanzen soll. Das Bild von Barbara in einer hiša na Krasu ist nicht nur für die Liebesgeschichte von Bedeutung, sondern auch für den Diskurs des Romans über die ethnischnationale Identität. Barbara symbolisiert eine engere Nachbarschaft zwischen Slowenen aus Slowenien und Slowenen aus Italien, denn sie kommt in den italienischen Karst, nicht weil sie an Triest und dessen italienischem Kulturanteil interessiert ist, sondern weil sie die kleine Welt der Slowenen aus Italien bis hin zur Liebe schätzen gelernt hat. Neben Barbara und Rudi bedient sich Umek auch anderer Figuren, um den Karst und seine Probleme zu repräsentieren. Rudis Kindheitsfreund Vanč, ein 173 174 Ebd., 167. Ebd., 169. 330 331 slowenischer Landwirt, der eine Besenwirtschaft betreibt, fasst die Auseinandersetzung zwischen Slowenen und Italienern im Triester Karst wie folgt zusammen: „Zdaj nam je le manjšina, vse drugo hudič jemlje. […] Vedno smo odvečni, razen ko jim strežemo z domačo hrano. Boš videl, kmalu bodo tu kot trop… saj ne vem, katero žival bi navedel.“175 [„Jetzt sind wir nur eine Minderheit [im Karst, M.C.], alles andere holt der Teufel. […] Wir sind immer überflüssig, außer wenn wir sie [die Italiener, M.C.] mit Hausmacherkost bedienen. Du wirst es sehen, bald werden sie da sein wie eine Meute… doch wüsste ich nicht, welches Tier ich nennen sollte.“] Auf Rudis Erwiderung, dass ein anderes Zusammenleben möglich wäre, dass nicht alle Italiener gleich sind und dass Vanč zu pessimistisch denkt, antwortet dieser, dass die Italiener aus Triest sich nie ändern werden und er in seiner Einschätzung nur realistisch ist. Dennoch – oder gerade deswegen – kümmert er sich sofort um die Essens- und Getränkewünsche der italienischen „Meute“, sobald deren Mitglieder zu ihm kommen. In Vanč verschränken sich ethnischnationales Bewusstsein und ländliche Mentalität. Menschen mit einer solchen Haltung beschweren sich zwar über die gesellschaftlichen Strukturen, sind aber im Grunde konservativ, haben wenig Hoffnung auf echte Veränderungen und akzeptieren die Machtverhältnisse mehr oder weniger bewusst, letztendlich respektieren sie sie. Einen anderen Standpunkt über den Karst und seine slowenische Minderheit vertritt die Anthropologin Slavica, die anders als Vanč zur gebildeten Schicht der Triester Slowenen gehört. Als Barbara zugibt, die Dörfer im italienischen Karst kaum zu kennen, bedauert Slavica, dass die Slowenen aus Slowenien und die Slowenen aus Italien kaum Kontakt zueinander haben und dass Letztere „želeli bi si več pozornosti s strani Slovenije“ (sich mehr Aufmerksamkeit von slowenischer Seite wünschten)176. Dabei geht es nicht nur um die Unterstützung der politischen Institutionen, sondern um einen engeren Kontakt zwischen den Menschen auf beiden Seiten der Grenze. Während Vanč Angst davor hat, dass die Italiener die slowenische Minderheit für odvečna (überflüssig) halten, äußert Slavica dieselbe Angst in Bezug auf die Slowenen aus Slowenien: „Včasih mislim, da smo vam odveč; marsikateri Slovenec, ki je prišel sem iz Slovenije je kmalu začel koketirati s Italijani.“ (Manchmal denke ich, dass wir für euch überflüssig sind. Manch ein Slowene, der aus Slowenien hierher gekommen ist, hat kurz darauf angefangen, mit den Italienern zu kokettieren)177. Im Unterschied zu Vanč kann Slavica ihre Verbitterung allerdings auch relativieren: „Oprostite, to je moja manjsinska deformacija, obremenjeni smo s svojo zapostavljenostjo.“ (Entschuldigen Sie, es 175 176 177 Ebd., 123 f. Ebd., 108. Ebd. 331 332 ist meine Minderheitendeformation, wir sind durch unsere Benachteiligung belastet.)178 Die Figur der Anthropologin hat die Funktion, differenzierte Auskünfte über den Triester Karst zu geben: Sie führt Barbara nicht nur in die Denkweise der slowenischen Minderheit ein, sie kann auch komplexer als jede andere Romanfigur erklären, warum man Rudi vorwirft, sein Haus auf dem Karst an Fremde – sogar an Italiener – verkaufen zu wollen. Hinter der ethnischnationalen Spannung verberge sich ein Stadt-Land-Konflikt: Die Italiener, die sich auf dem Karst niederlassen, seien Städter und wüssten nichts über die Traditionen der Karstkultur, die langsam aussterbe. Mit ihr verschwinde auch die Erinnerung an Generationen von Menschen (slowenischer Abstammung), die hart gearbeitet hätten, um den kargen Karst bewohnbar zu machen. Umeks Beharren auf Begriffen und Werten wie Herkunft und Gemeinschaft führt zum interkulturellen Denkmuster zurück. Für diese Autorin gibt es einen Identitätskern, einen Ursprung der Persönlichkeit, der sich über Herkunft und Muttersprache definieren lässt. Man soll darauf beharren, ohne sich vor dem Anderen zu verschließen. Rudis Offenheit gegenüber den Italienern und den Migranten aus San Salvario gilt in „Hiša na Krasu“ zwar als positive Eigenschaft des Protagonisten, doch die Figur wird im Einklang mit dem interkulturellen Kulturmuster des Romans erst dann wirklich reif, als sie ihre Herkunft als Drehund Angelpunkt ihrer Identität akzeptiert. Dies markiert einen wesentlichen Unterschied zwischen Rudi und Tomizzas Figur Franziska, denn Letztere weist eine vielschichtige Identität auf, die kein Zentrum zu haben scheint. Franziska ist zwar als slowenischsprachiges Dorfmädchen im Karst geboren, aber dieser Teil ihrer Identität stellt keinen unantastbaren Kern ihrer Persönlichkeit dar, die sich durch die deutschsprachige habsburgische Erziehung im Schloss Riffenberg und die italienische und slowenische Sozialisierung in der Stadt Triest verändert hat. Weil Franziskas Identität prinzipiell über keinen stabilen Ursprung verfügt, besitzt sie auch keinen geistigen Zufluchtsort, in dessen Geborgenheit sie ihre Identität festigen könnte. Sie ist den Machtverhältnissen innerhalb der Gesellschaft vollständig ausgesetzt, die über den Wert der jeweiligen Teile ihrer Persönlichkeit, ihrer Kultur und ihrer Lebensgeschichte entscheiden. Der Karst erweist sich auch in „Franziska“ als extrem wichtig für die Persönlichkeitsentwicklung der Protagonistin, dies geschieht jedoch auf eine andere Art und Weise als in „Hiša na Krasu“. Als Franziska am Schluss von Tomizzas Roman auf den Karst zurückkehrt, bringt dieser Ort – wie es auch bei Rudi in Umeks Roman der Fall ist – alle Risse in der Identität der Protagonistin zum Vorschein. Es gelingt ihr zwar, ihre geistigen Risse durch das Engagement für die Partisanen zu kitten, dennoch kann sie ihre innere Spaltung nicht vollständig überwinden: Franziska findet sich zwar mit ihrer Vergangenheit ab, verzichtet jedoch zugleich auf ihre persönliche Verwirklichung und lässt sich auf die Liebe zum Partisanen Boris nicht ein. Im Gegensatz dazu scheint Rudi in „Hiša na Krasu“ sowohl sich selbst als auch die Liebe im Karst zu bejahen. Obwohl der Romanschluss die entstehende Beziehung zwischen ihm und Barbara 178 Ebd.. 332 333 relativ zurückhaltend darstellt, betont die Erzählstimme ausdrücklich, dass Rudi sich seine Heimat und somit ein Stück von sich selbst wieder angeeignet hat. Tomizza und Umek unterscheiden sich somit nicht nur hinsichtlich der kulturellen Denkmuster, nach denen sie ihre Figuren und Erzählstimmen konstruiert haben, sie differieren auch stark in ihrer Haltung, die sie gegenüber den jeweiligen Denkmustern einnehmen. Bei Tomizza bildet der transkulturelle, bei Umek der interkulturelle den richtigen Standpunkt, um die kulturelle Vielschichtigkeit der (Karst)Welt darzustellen; der jeweilige Standpunkt wird zum modus vivendi einiger bzw. jeder der Romanfiguren. Transkulturalität führt allerdings bei Tomizza keineswegs zum Glück und löst keine gesellschaftlichen Probleme. Sie hat zwar das Potential, den Weg zu einem offenen und gerechteren Miteinander zu zeigen, aber die gesellschaftlichen Machtverhältnisse, die die Kulturströme mono- bzw. interkulturell hierarchisieren und manipulieren, erweisen sich immer als stärker. Die transkulturelle Franziska ist dazu verurteilt, eine Einzelgängerin wider Willen zu werden. Dagegen stellt Interkulturalität für Umek nicht nur die richtige Ausgangsposition dar, von der aus man die Welt erleben und darstellen soll; sie ist auch in der Praxis erfolgreich, weil sie zum Ausgleich zwischen Eigenem und Fremdem und somit zum Glück führt. 7. Interferenzkarst (Fazit) Die hier berücksichtigten historiographischen, reiseessayistischen und literarischen Quellen zum klassischen Karst zeigen, dass der Hinweis auf die kulturelle Vielfalt eine Konstante seiner plastischen Repräsentationen bildet. Die analysierten Texte unterscheiden sich in Bezug auf ihre Konzeptualisierung von kulturellen Interferenzen, insbesondere von sprachlich-ethnisch-nationalen Interaktionen. Einige Texte behandeln diese Interaktionen interkulturell und betonen die Kontinuität und relative Stabilität der sprachlich-ethnisch-nationalen Identitäten im Karst und an der ganzen Nordostadria. Andere Quellen repräsentieren den Karst aus transkultureller Perspektive und heben die Konstruiertheit sowie die geschichtliche und räumliche Beweglichkeit dieser Identitäten hervor. Die interkulturellen Texte unterscheiden sind voneinander aufgrund ihrer Herangehensweise an die kulturelle Vielfalt des Karsts. Der Reiseführer „Küstenland-Karst A–Z. Handbuch für Reisende und Geschäftsleute“ beschränkt sich auf die bloße Kenntnisnahme kultureller Vielfalt, während das „Touristische Informationsportal Karst“, der Bericht der Slowenisch-Italienischen Historisch-Kulturellen Kommission, der historische Überblick von Marušič und der Roman „Hiša na Krasu“ von Evelina Umek die Dynamik der kulturellen Interferenzen genauer unter die Lupe nehmen. Dabei betonen all diese Texte die Ländlichkeit des Karsts und bauen ihre Narrative auf dem Fokus des slowenischen Landes im Verhältnis zur italienischen Stadt auf. Sie zeigen die Konfliktgeladenheit dieses Verhältnisses, aber sie erinnern auch an Beispiele gelungener Koexistenz sowie eines Kulturtransfers, die aus ihrer Perspektive im künftigen Dialog intensiviert werden sollten. 333 334 Auch die transkulturellen Repräsentationen des Karsts setzen zum Teil jeweils andere Akzente. Verginella betont in ihren geschichtswissenschaftlichen Studien das Erkenntnispotential der transkulturellen Historiographie und plädiert dafür, die engen Verbindungen zwischen Italienern und Triest bzw. Slowenen und Karst nicht als unhinterfragbares nationales Paradigma, sondern als widersprüchliches historisches Konstrukt zu erörtern. Tomizza erweist sich dagegen skeptisch in Bezug auf die realen Möglichkeiten der Transkulturalität, eine gesellschaftlich anerkannte Praxis zu werden. Sein Roman „Franziska“ zeigt, dass die Machtbeziehungen an der Nordostadria transkulturellen Denkweisen und Praktiken im 20. Jahrhundert kaum Etablierungschancen gewährt haben: Wer versucht hat, das nationale Stadt-Land-Paradigma zu umgehen, ist – so lässt sich aus Tomizzas Darstellung folgern – zum Sonderling geworden. Schließlich veranschaulicht der Essay „Der Karst, Kras, Il Carso“ von Wagner und Kelih am Beispiel des „babylonischen ciao fanti“, dass nicht immer eindeutig festgestellt werden kann, ob ein Diskurs über Interferenzen interkulturell oder transkulturell ist. Zum einen stellt sich nicht jeder Autor bzw. jede Autorin die Frage, aufgrund welches Kulturmusters er oder sie kulturelle Vielfalt repräsentiert, zum anderen kann der/ die Betreffende sowohl auf der bewussten als auch auf der unbewussten Ebene zwischen beiden Positionen schwanken. Alles in allem kommt man anhand des analysierten Materials zu dem Schluss, dass kulturelle Interferenzen in den neueren Repräsentationen des Karsts „sowohl von kultureller Reproduktion als auch von kultureller Dynamik“ geprägt sind.179 Erfasst man dieses Verhältnis als interkulturell, dann sucht man nach strategischen Formen kultureller Dynamik innerhalb grundsätzlicher Reproduktionsstrukturen, denkt man hingegen transkulturell, dann hält man Ausschau nach situativen Reproduktionsverfahren im Rahmen sich stets wandelnder Kulturkontexte. Beide Herangehensweisen ermöglichen es jedoch, der „babylonischen“ kulturellen Vielfalt des Karsts durch die Repräsentationsarbeit Bedeutung zu verleihen. In dieser Hinsicht sind sie weniger radikal als Franz Kafkas Betrachtungen über kulturelle Interferenzen in einer kurzen Schrift über den babylonischen Turmbau: Doch verbrachte man die Zeit nicht nur mit Kämpfen, in den Pausen verschönerte man die Stadt, wodurch man allerdings neuen Neid und neue Kämpfe hervorrief. So verging die Zeit der ersten Generation, aber keine der folgenden war anders, nur die Kunstfertigkeit steigerte sich immerfort und damit die Kampfsucht. Dazu kam, daß schon die zweite oder dritte Generation die Sinnlosigkeit des Himmelsturmbaus erkannte, doch war man schon viel zu sehr miteinander verbunden, um die Stadt zu verlassen.180 So sehr inter- und transkulturelle Repräsentationen des Karsts auch differieren können, haben sie doch eines gemeinsam: Das babylonische ciao fanti des Karsts, 179 180 RECKWITZ, Die Transformation, 2000, 643. KAFKA, Das Stadtwappen, o.J. 334 335 das Miteinander von Land und Stadt sowie von Italienern und Slowenen darf in ihnen nicht als sinnlos betrachtet werden, sondern es wird als eine signifikante Plastik dargestellt. Literaturverzeichnis 1. Primärliteratur 1.1 Geschichtsschreibung und geschichtswissenschaftliche Literatur FAKIN, Jasna/ MODIN, Eric: Der Karst zwischen Stanjel und Duino/ Devin. URL: http://vodnik.kras-carso.com/ (17.06.2012) MARUŠIČ, Branko: Na Krasu od pozne antike do današnjih dni [Auf dem Karst von der Spätantike bis heute]. In: Kras. Pokrajna, življenje, ljudje. Hg. von Andrej KRANJC. Ljubljana 1999, 164-189 SESTAN, Ernesto: Venezia Giulia. Lineamenti di storia etnica e culturale [Julisch Venetien. Grundzüge einer ethnischen und Kulturgeschichte]. 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Insofern wählen diese beiden Studien einen von entgegengesetzten Ausgangslagen aus perspektivierten und gerade dadurch komplementären Ansatz. Für das in unserer Monographie vorgeschlagene Konzept der kulturellen Interferenz ist es nämlich von Bedeutung, dass dieses hinsichtlich der historischpolitischen Wertung eines soziokulturellen Neben- oder Miteinanders völlig neutral und empirisch ergebnisoffen ist. Interferenzialität in diesem Sinne ist gerade nicht gleichbedeutend mit einem unreflektiert-harmonisierenden Begriff von Multikulturalität; eine Kritik, die solches unterstellt, verfehlt diesen Ansatz und läuft die eine oder andere weit geöffnete Tür ein. Die traditionell überwiegend negativen Bewertungen der deutsch-polnischen Beziehungen im Posener Gebiet wurden überhaupt erst seit einiger Zeit einer gewissen Revision durch die Forschung unterzogen.3 Posen war bis dato nämlich geradezu das paradigmatische Muster, an dem sich das historische Narrativ einer linearen Verschlechterung der deutsch-polnischen Nationalitätenverhältnisse bis zu ihrer gewaltsamen Eskalation in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickeln ließ. 1 Neben meinen Kolleginnen und Kollegen aus dem Projekt „Kulturelle Interferenzräume“ möchte ich besonders Anna Veronika Wendland und Hans Henning Hahn für die kritische Durchsicht des Manuskripts und zahlreiche wertvolle Hinweise danken. 2 Für die Zwecke dieses Beitrags wird im Folgenden „Posener Gebiet“ anstelle der historisch wechselnden Bezeichnungen der Region nach den Teilungen Polens als „Großherzogtum Posen“ (1815‒1830/48) und als „Provinz Posen“ (1830/48-1918) bevorzugt. Zu der territorialen Entwicklung dieser Verwaltungseinheit sowie der nach 1918 im wiedererrichteten Polen gebildeten „Wojewodschaft Posen“ im Verhältnis zur historischen Region Großpolen siehe im Einzelnen NEUBACH, Großherzogtum, 2002 [1996], 193; CZUBIŃSKI, Wielkopolska, 2000, 5-9. 3 Insbesondere sind zu nennen die gründliche kulturgeschichtliche Studie von SERRIER, Provinz Posen, 2005 [2002] und die lokale Fallstudie von LORENZ, Von Birnbaum, 2005. 343 Diese historische Modellerzählung4, die von der polnischen Nationalhistoriographie seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert entworfen und bis in jüngste Zeiten fortgeschrieben wurde,5 hatte auf der deutschen Seite eine Entsprechung in der apologetisch-legitimierend angelegten „Ostforschung“, deren Wurzeln im völkischen und rassistischen Denken lagen.6 Ähnlich wie die historischen Ostgebiete des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1937 fand auch die polnische Historiographie zum Posener Gebiet nach 1945 einen institutionellen Widerpart, und zwar in der 1950 im Rahmen des HerderForschungsrates gegründeten „Historisch-Landeskundlichen Kommission für Posen und das Deutschtum in Polen“.7 Wenn es einen ursprünglichen polnischen Posenmythos gab, dann den der mit der Bischofsstadt Gnesen in Verbindung gebrachten „Wiege“ der polnischen Nation und der frühsten polnischen Staatlichkeit.8 Als Posen aus sozial- und strukturgeschichtlichen Gründen, die wenig bis gar nichts mit den Vorgängen des Frühmittelalters zu tun hatten, seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zu einem 4 Ich ziehe den Begriff der „Modellerzählung“ der gebräuchlicheren „Meistererzählung“ vor, die m.E. auf einer Fehlinterpretation des ursprünglichen englischen Begriffs beruht: Der master narrative heißt nicht so, weil die modellbildende Urerzählung von einem „Meister“ verfasst wurde oder weil sie „meisterhafte“ Gültigkeit beanspruchen könnte, sondern weil sie ein reproduzierfähiges „Modell“ oder „Muster“ darstellt – der master ist im Gießereiwesen das, was abgeformt und durch Abguss vervielfältigt wird. Dies ist insofern von Bedeutung, als sich beim master narrative nicht unbedingt ein persönlicher Autor nachweisen lässt, dagegen, um im Bild zu bleiben, sehr wohl eine hohle Form, die sich bei gleichbleibenden Konturen immer wieder mit neuen Inhalten befüllen lässt, was doch einen erheblichen Unterschied für jede Diskursanalyse macht. Vgl. dagegen z.B. RÜSEN, Kommunikation in der Geschichte, 1998, 23; MIDDELL/ GIBAS/ HADLER, Sinnstiftung, 2000. 5 Als jüngerer Klassiker dieser Richtung LABUDA, Polska granica, 21974 [11971], darin zum Posener Gebiet 136-140, 146-148 u.ö.; speziell dazu TRZECIAKOWSKI, Walka o polskość, 1964; GRZEŚ/ KOZŁOWSKI/ KRAMSKI, Niemcy, 1976; in jüngerer Zeit immer noch KOZŁOWSKI, Deutsche in Großpolen, 2001 und DERS., Deutsche in der Provinz Posen, 2001; analog auch von deutscher Seite z.B. NEUBACH, Großherzogtum, 2002 [1996]. Noch SERRIER, Provinz Posen, 2005 [2002], 279, spricht vom „Schlachtfeld der Nationalismen des 19. Jahrhunderts“. Für das deutschpolnische Verhältnis insgesamt auch ROSENTHAL, German and Pole, 1976 und HAGEN, Germans, 1980. Rosenthal verfolgt nicht nur einen ausgesprochen teleologischen Ansatz, sondern unterscheidet auch nicht zwischen „Mythos“, „Stereotyp“ und „Klischee“. 6 Die institutionellen und personellen Kontinuitäten der „Ostforschung“ sind erst seit den 1980er Jahren kritisch aufgearbeitet worden; siehe dazu beispielsweise KLESSMANN, Osteuropaforschung, 1985; PISKORSKI, „Deutsche Ostforschung“, 1996; Deutsche Historiker, 1999; WAUKER, ‚Volksgeschichte‘, 2003; PETERSEN, Bevölkerungsökonomie, 2007; UNGER, Ostforschung, 2007. 7 Heute „Kommission für die Geschichte der Deutschen in Polen e.V.“; siehe Informationsund Orientierungsseite der Kommission für die Geschichte der Deutschen in Polen e.V., URL: http://www.deutsche-polen.de/index.php (30.10.2010). Unter den älteren Arbeiten besonders ideologisch LAUBERT, Polenpolitik, o.J. [1920]; LAUBERT, Provinz Posen, o.J. [1939]; derselbe Autor dann wieder zur Stadt Posen in dem Gemeinschaftswerk: Geschichte der Stadt Posen, 1953; dazu kritisch WOJCIECHOWSKI, Z powodu, 1989 [1954]; siehe auch KESSLER, Polen, 2001. 8 Zurückgehend auf die volksetymologische Ableitung aus dem Ortsnamen Gnesen, poln. Gniezno = „Nest“; so bereits bei GALLUS ANONYMUS, Polens Anfänge, 1978, 49. 344 Zentrum der polnischen „organischen Arbeit“ wurde, konnten die nationbuilder der Region gerade um diesen nationalen Mythos herum eine historische Kontinuität konstruieren, die ihren Bestrebungen eine tiefere Sinngebung und Legitimität verschaffte. In den mühseligen und vergeblichen Bemühungen deutscher nationaler Akteure der wilhelminischen Zeit, dem polnischen Geschichtsbild einen ähnlich wirksamen Mythos der deutschen zivilisatorischen Aufbauarbeit seit dem Hochmittelalter entgegenzusetzen, die in der friderizianischen Zeit im Netzedistrikt (seit 1772) und der Provinz Südpreußen (1793–1806) und in der Gegenwart in der Gesamtprovinz ihre konsequente Fortsetzung gefunden habe,9 deutet sich die Wechselseitigkeit nationaler Wahrnehmungsmuster an. Die Grundidee dieses Essays ist, den deutsch-polnischen Wechselbeziehungen am Beispiel des Posener Gebiets anhand der nationalen Stereotypisierung nachzugehen. Das Stereotyp ist als Quelle für eine mehrnationale Beziehungs- und Verflechtungsgeschichte bereits seit etlichen Jahren in den Blick genommen worden. Besonders in Polen gab es in den 1980er und 1990er Jahren eine große Anzahl einschlägiger Publikationen, die polnische und deutsche Auto- und Heterostereotype zum Gegenstand hatten.10 Allerdings kennzeichnet diese Literatur eine oft unzulängliche Konzeptualisierung des Stereotypbegriffs und eine vorwiegend akkumulativ-antiquarische Vorgehensweise.11 Ihr hauptsächliches Manko aber war, dass sie durch ihre thematische Konzentration jeweils auf Auto- oder Heterostereotype die wechselseitige Abhängigkeit nationaler Stereotypisierungsprozesse gar nicht erst erkennen, geschweige denn in das Zentrum ihres Forschungsinteresses stellen konnte. Die in jüngster Zeit vorgelegten Arbeiten zur historischen bzw. interdisziplinären Konzeptualisierung des Stereotyps oder zur 9 Dazu besonders SERRIER, Provinz Posen, 2005 [2002], 147-151 über die „Historische Gesellschaft für die Provinz Posen“ (gegründet 1885); ebd., 155-157 über die „Historische Gesellschaft für den Netzedistrikt zu Bromberg“ (gegründet 1880); SCHUTTE, Königliche Akademie, 2008, 22-28 generell über die geschichtspolitisch relevanten Institutionen und Vereine im ausgehenden 19. Jahrhundert; DYROFF, Erinnerungskultur, 2007, passim. Ferner GRABOWSKI, Nationalismus, 1998. 10 Ohne Anspruch auf Vollständigkeit SZAROTA, Der deutsche Michel, 1998 [1988]; CHAMOT, Polnische Auto- und Heterostereotypen, 1995; ORŁOWSKI, „Polnische Wirtschaft“, 1996; SZAROTA, Niemcy i Polacy, 1996; Polacy i Niemcy, 1991; WRZESIŃSKI, Sąsiad, 1992; Vorurteile, 1994; siehe auch den Forschungsbericht SZAROTA, National Stereotypes, 1995, sowie die Bibliographien von HOFFMANN, Stereotypen, 1986-2008. Ferner die bekannte Sammlung: Deutsche und Polen, 31993 [11992] mit zahlreichen Beiträgen zu einzelnen deutsch-polnischen Stereotypien. Kaum brauchbar dagegen die populärwissenschaftliche Arbeit ZITZEWITZ, Das deutsche Polenbild, 21992 [11991]. 11 Dieser kritische Befund, den bereits JAWORSKI, Osteuropa, 1987, 65, anhand der historischen Stereotypenforschung zu Osteuropa insgesamt festhielt, trifft auch auf große Teile der später entstandenen Forschungsliteratur zu und ist weitgehend heute noch gültig. 345 geschichtsdidaktischen Aufbereitung des Begriffs sind mittlerweile Legion.12 Demgegenüber besteht immer noch ein deutliches Defizit an stringenten empirischen Arbeiten, die den Stereotypbegriff in geeigneter Weise für die empirische Forschung operationalisieren. Dieser Beitrag kann nicht in Anspruch nehmen, auf diesem Gebiet wesentliche empirische Lücken zu schließen; deshalb habe ich ihn bewusst als Essay bezeichnet. Ich möchte dagegen – mit einem Bekenntnis zu einem großzügigen Eklektizismus – anhand ausgewählter Materialien heterogenen Typs aus dem 19. und 20. Jahrhundert einen Ansatz vorstellen, wie der Stereotypbegriff historisch offener konzeptualisiert und für die alltags- und kulturgeschichtliche Forschung fruchtbar gemacht werden könnte. 2. Das Stereotyp als Material einer deutsch-polnischen Beziehungsund Verflechtungsgeschichte Der linguistic turn der vergangenen Jahrzehnte veränderte den Umgang der historischen Forschung mit Sprache in grundlegender Weise. Diese sollte nicht mehr nur als abstraktes Zeichensystem begriffen werden, als weitgehend wirklichkeitsunabhängiger und koinzidenter Code, mit dessen Hilfe wir vermittels der Quellentexte Zugriff auf eine gegenwärtige oder vergangene Realität erhalten. Unter dem Einfluss einer Linguistik, die sich von Ferdinand de Saussures binärem Zeichenmodell löste, setzte sich auch in der poststrukturalistischen Sozial- und Geschichtswissenschaft die Auffassung durch, dass Realität für den Menschen überhaupt nur insoweit existiert, wie sie sprachlich realisiert wird, mithin die Sprache selbst als integraler und nicht nur medialer Bestandteil unserer Realität aufzufassen ist.13 Wenn Realität also nur durch das Medium der Sprache wahrgenommen werden kann, zugleich aber von dieser überhaupt erst konstituiert wird, ist das ein sehr gewichtiges Argument, um die Sprache als solche zum Gegenstand historischer Forschung werden zu lassen. Dabei gehen die neuen Ansätze weit über die traditionelle Ideengeschichte wie auch die neuere Begriffsgeschichte14 hinaus. Denn diese sind beide durch das methodologische Problem 12 In Auswahl: Nationale Mythen und Symbole, 1991; darin besonders JEISMANN, Was bedeuten Stereotypen?, 1991; Deutschlandbilder, 1993; Darstellung anderer Kulturen, 1998; Historische Stereotypenforschung, 1995; ZIEMER, Grenzen der Wahrnehmung, 1999; NITSCHE, Nationale Stereotype, 2001; Stereotyp, Identität, 2002; Stereotyp und Geschichtsmythos, 2005; Nationale Wahrnehmungen, 2007; ORŁOWSKI, Stereotype der „langen Dauer“, 2007; WIPPERMANN, Die Deutschen und der Osten, 2007; Erinnerungsorte, 2008; SZAROTA, Stereotype und Konflikte, 2010 (dies ist eine Sammlung von älteren Aufsätzen). 13 In diesem Sinne z.B. BURKE, Küchenlatein, 1989, 10, zit. bei LANDWEHR, Historische Diskursanalyse, 2008, 49. 14 Im Sinne von: Geschichtliche Grundbegriffe, 1972ff.; die Kritik an der Begriffsgeschichte fasst zusammen LANDWEHR, Historische Diskursanalyse, 2008, 32-35; siehe auch ORŁOWSKI, Stereotype der „langen Dauer“, 2007, 80f. 346 gekennzeichnet, anhand ausgewählter Werke der Höhenkammliteratur die allgemeine Entwicklung politischer, kultureller und theoretischer Denkweisen nachzeichnen zu wollen und dabei doch stets nur die kaum repräsentativen Ideen besonders exponierter Denker der Vergangenheit zu rekapitulieren. Auch die Begriffsgeschichte verbleibt deshalb häufig im sozial abgehobenen Raum wissenschaftlicher und publizistischer Diskurse, die nicht nach ihren konkreten soziokulturellen Entstehungs- und Rezeptionsbedingungen befragt werden. Um den sprachgeschichtlichen Ansatz ernst zu nehmen und für eine alltagsund kulturgeschichtlich orientierte Beziehungsgeschichte benachbarter und miteinander verwobener Nationalkulturen dienstbar zu machen, ist einmal mehr die Frage nach der geeigneten Quellenbasis zu stellen. Diese hat m.E. drei Bedingungen zu erfüllen: 1. Sie soll in synchroner Perspektive einen umfassenden Querschnitt der Gesellschaft abbilden, d.h. nicht nur privilegierte, sich schriftlich artikulierende Oberschichten und Bildungseliten erfassen, sondern auch schriftferne Schichten wie etwa Kleinbürgertum, Arbeiterschaft und einfache Landbevölkerung. 2. Sie soll in diachroner Hinsicht Entwicklungen einer mittleren Dauer sichtbar werden lassen, also Phänomene der histoire lentement rhytmée, um mit Fernand Braudel zu sprechen. Innerhalb der ausgewählten Textkorpora richtet sich das Augenmerk auf solche nicht an bestimmte Textgattungen gebundene sprachliche Entitäten, in denen sich kulturelle Phänomene, Denkweisen, „Mentalitäten“15 von größerer zeitlicher Beständigkeit erkennen lassen, die also anders als der jeweilige Text selbst keine spezifisch zeitgebundene oder gar okkasionelle Erscheinung sind. 3. Die zu untersuchenden sprachlichen Entitäten müssen andererseits so beschaffen sein, dass sie Rückschlüsse auf ihren situativen Kontext, ihre konkreten Realisations- und Rezeptionsbedingungen erlauben. Dieser Kontext sollte vorzugsweise vom alltäglichen Umfeld, der häuslichen Lebenswelt, dem Arbeitsplatz und den kleinen bis mittleren Öffentlichkeiten16 gebildet werden, die von den traditionellen ideengeschichtlichen Zugängen kaum bis gar nicht erfasst werden. Der anscheinende Widerspruch zwischen den unter Punkt 2 und 3 gelisteten Desideraten löst sich darin auf, dass es bei dem in Punkt 3 gemeinten situativen Kontext um iterative Situationen des Alltags geht, anders als bei den an konkrete Einzelanlässe gebundenen Situationen, die den Entstehungs- und Rezeptionskontext der meisten (gattungsspezifischen) Texte bilden. Daraus geht hervor, dass das für die Zwecke unserer Untersuchung zu findende Material auf der Ebene unterhalb des Textes angesiedelt ist und gewissermaßen einen seiner Bausteine bildet. Das bringt uns auch der Lösung des paradoxen Problems näher, wie der Historiker den Alltag und die Denkweisen des sich selbst nur selten schriftlich 15 Der Begriff der „Mentalität“ ist insofern selbst problematisch, als er häufig ohne weiteres an eine Nationalkultur gebunden wird und deshalb selbst Gefahr läuft, Stereotype zu generieren. Aus der Literatur beispielsweise: Mentalitäten-Geschichte, 1987; Europäische Mentalitätsgeschichte, 1993; Mentalitäten – Nationen – Spannungsfelder, 2001. 16 Zu dieser Kategorisierung von Öffentlichkeit weiterführende Anmerkungen und Literaturhinweise bei WENDLAND/ HOFMANN, Stadt und Öffentlichkeit, 2002, 10‒15. 347 artikulierenden Volkes rekonstruieren soll, wenn ihm dazu fast nur Schriftquellen anderer Provenienz zur Verfügung stehen. Die Antwort liegt in einer indirekten Vorgehensweise, wie sie beispielsweise in der Mediävistik und Frühneuzeitforschung längst geläufig, bei den Historikern der neueren und neusten Geschichte aber wegen der täuschenden Überfülle an Quellen für ihren Betrachtungszeitraum noch nicht recht angekommen ist.17 Während der jeweilige Text i.d.R. innerhalb eines privilegierten soziokulturellen Kontextes entsteht und rezipiert wird, gilt für seine sprachlichen Bestandteile, dass sie (mit gewissen Einschränkungen, die aber an dieser Stelle vernachlässigt werden können)18 schichtenübergreifend gebraucht werden und ihre Verbreitung innerhalb ganzer (National-) Kulturen vorausgesetzt werden kann. Die für den hier vorgeschlagenen Zugang zur polnisch-deutschen Beziehungsgeschichte relevante Stereotypie ist genau auf jener mittleren Ebene zwischen, vereinfacht gesprochen, soziokulturell gebundenem Text und semantisch wertneutralem Lexem angesiedelt. Ungeachtet schriftlicher oder mündlicher Realisationsform begegnet uns das Stereotyp als Sprechakt im Sinne John R. Searles.19 Es existiert unabhängig von seiner historischen Überlieferung in einer jeweils spezifischen textgebundenen Form und lässt deshalb den Umkehrschluss auf seine Existenz innerhalb der Gruppe zu, in welcher der überlieferte Text produziert wurde. Die eigentliche Bezugsgruppe des Stereotyps bleibt dabei dennoch die sprachkulturell definierte Kultur, nicht das engere Sozium. Im Sinne Michel Foucaults ist die konkret situationsgebundene Erscheinungsform des Stereotyps die der „Äußerung“, die sich durch Einzigartigkeit und Unwiederholbarkeit auszeichnet. In Bezug auf seine logische und semantische Struktur dagegen bildet es eine „Aussage“, die durch Allgemeinheit und Wiederholbarkeit gekennzeichnet ist und ein diskursives Feld absteckt;20 und nur in diesem Sinne interessiert es in unserem Kontext. Das Stereotyp erfüllt damit die genannten Anforderungen der Iterativität, der alltäglichen Kontextualität und der Universalität innerhalb einer (national-) kulturellen Sprechergemeinschaft. Was das Stereotyp darüber hinaus als Material zur Untersuchung zwischennationaler Wechselbeziehungen in alltags- und kulturgeschichtlicher Perspektive so interessant macht, sind sowohl seine semantische Binnenstruktur als auch seine soziokulturellen und psychosozialen Funktionen. Besonders Erstere wird uns im Folgenden wiederholt als Merkmal kultureller Interferenz 17 Exemplarisch für diese indirekte Vorgehensweise sind die Arbeiten des russischen Mediävisten Aaron Gurevič, z.B. GURJEWITSCH, Weltbild, 1982 [1972]. Zur Selbstartikulation von Unterschichtenangehörigen in den sog. Ego-Dokumenten, die oft aber auch nicht von den Berichterstattern selbst aufgezeichnet sind, beispielsweise: Ego-Dokumente, 1996; ‚Ich‘ in der frühen Neuzeit, 2002. 18 Diese gehören zur Problematik des schichten- und gruppenspezifischen Sprachgebrauchs (Soziolekt, Jargon und Argot), die an dieser Stelle nicht weiterverfolgt werden kann. 19 SEARLE, Speech Acts, 1969. 20 FOUCAULT, Archäologie, 51995 [1969], 126f., 148; siehe auch LANDWEHR, Historische Diskursanalyse, 2008, 70f. 348 beschäftigen, die sich auf dem Wege einer linguistisch informierten Alltags- und Kulturgeschichte auch in der allgemeinen Sozialgeschichte nachvollziehen lässt. Ohne an dieser Stelle die inzwischen sehr umfängliche soziologische, psychologische und sprachwissenschaftliche Stereotypenforschung in ihren Verzweigungen darlegen zu können, seien hier doch diejenigen Aspekte des Stereotyps rekapituliert, die sich m.E. besonders gut für unsere Zwecke operationalisieren lassen. Das Stereotyp sei definiert in seiner besonderen Form des „gruppenspezifischen Stereotyps“21 als eine verallgemeinernde Aussage einer sozialen Gruppe über sich selbst (Autostereotyp) oder über eine andere Gruppe (Heterostereotyp).22 Die Frage, ob diese Aussage stets eine (positive oder negative) moralisch-ethische Wertung einschließen muss, um sie zu einem Stereotyp zu machen, kann hier zunächst unbeantwortet bleiben, weil sie genauer aus dem empirischen Material heraus zu klären sein wird. Wichtiger ist an dieser Stelle der Hinweis, dass sich die stereotypische Aussage stets durch eine binäre Struktur auszeichnet. Denn unabhängig von der konkreten Realisationsform als Auto- oder Heterostereotyp wird die jeweils andere Form zumindest impliziert, d.h. jede stereotypische Aussage über eine Fremdgruppe ist zugleich eine Aussage über die eigene Gruppe und umgekehrt. In seiner umgangssprachlichen Gleichsetzung mit semantisch verwandten Begriffen wie „Klischee“, „Vorurteil“ oder auch „Image“ wird diese Doppelgesichtigkeit des Stereotyps jedoch häufig vergessen. Deshalb möchte ich an dieser Stelle den Begriff des „Metastereotyps“ vorschlagen, um den komplementären Charakter der beiden Aspekte von Stereotypie stärker ins Bewusstsein zu heben. Vor allem die soziologische und sozialpsychologische Forschung hat auf die wichtigen sozialen und kommunikativen Funktionen hingewiesen, die Stereotype im kommunikativen Akt haben.23 Diese Funktionen sind selbstverständlich auch in einem sozial- und kulturgeschichtlichen Zusammenhang von großer Bedeutung und seien deshalb kurz rekapituliert. Die primäre Funktion ist zunächst die der Orientierung in einer sinnlich und kognitiv nicht in ihrer Ganzheit erfassbaren, deshalb unüberschaubar, undurchsichtig und verwirrend erscheinenden Welt. In diese wird durch die Kategorisierung in eine Wir- und eine Fremdgruppe ein orientierungsstiftendes Ordnungsschema eingeführt, das nicht zuletzt dadurch seine Wirkung entfaltet, dass es zwischen diesen Kategorien keinen Platz für ein 21 Vgl. dagegen HAHN, 12 Thesen, 2007, 17f., der ausführt, dass auch nicht auf soziale Gruppen bezogene stereotypische Aussagen auftreten. Es sei hier nur die Frage angerissen, ob es sinnvoll ist, von „Stereotyp“ ohne Gruppenbezug zu sprechen, und ob nicht bei dem von Hahn angeführten Bezug auf Sachen oder Institutionen doch wiederum ein Gruppenbezug impliziert wird. 22 Siehe die sprachwissenschaftliche Definition bei TELUS, Gruppenspezifisches Stereotyp, 2002, 48: „Ein gruppenspezifisches Stereotyp ist eine realisierte Zuordnungsrelation zwischen der Bezeichnung für eine soziale Gruppe und einer oder mehreren Bezeichnungen für kontingente Eigenschaften.“ 23 Klassisch erstmals LIPPMANN, Public Opinion, 1922; zusammenfassend HAHN, Stereotypen in der Geschichte, 1995; HAHN/ HAHN, Plädoyer, 2002; HAHN, 12 Thesen, 2007; sprachwissenschaftlich TELUS, Gruppenspezifisches Stereotyp, 2002. 349 „Dazwischen“ oder ein „Sowohl-als-auch“ gibt. Stereotypisches Sprechen unterstützt mithin lebensweltliche und soziale Orientierung durch die scheinbare Aufhebung von Ambivalenzen und Kontingenzerfahrungen. Des Weiteren ist die identitätsstiftende Funktion von Stereotypen zu betonen. Es gilt, dass selbst in der Realisationsform des Heterostereotyps stets die Behauptung über die Wir-Gruppe im Zentrum steht, indem die Zuschreibung bestimmter Eigenschaften zu der Fremdgruppe normalerweise die gleichzeitige Zuschreibung der (meist gegenteiligen oder mindestens kontrastierenden) Eigenschaften zur Wir-Gruppe impliziert.24 Stereotypisches Sprechen ist in dieser Hinsicht eine im Sprechakt vollzogene Selbstvergewisserung durch die Zuordnung der eigenen Person zu einem durch gemeinsame Eigenschaften definierten Sozium. Schließlich ist auf die Herstellung von Konsens als weitere Funktion des Stereotyps zu verweisen. Dies geschieht, indem der stereotypische Sprechakt nicht eine Mitteilung im eigentlichen Sinne macht, sondern ein vorher Gewusstes beim Rezipienten voraussetzt, durch dessen erneute Realisierung und Aktualisierung Gemeinsamkeit und Übereinstimmung hergestellt werden. Für die Realisationsform stereotypischer Sprechakte bedeutet dies, dass sie vielfach in elliptischer, also unvollständiger, nicht zu Ende geführter Form auftreten können, weil die Ellipse automatisch vom Rezipienten gedanklich ergänzt und so der erwünschte Konsenseffekt erzielt wird. Eingebettet in eine jeweils spezifische Situation, ist deshalb bereits ein Ausruf wie „Ach, diese Polen!“ oder „Typowy Niemiec!“ (etwa: „Typisch deutsch!“) ein im Sprechakt realisiertes Stereotyp. Hierin deutet sich bereits an, dass Stereotype nicht in einer homogenen, leicht typisier- und identifizierbaren Form auftreten, sondern ausgesprochen unterschiedliche, vielgestaltige Verkleidungen annehmen können. Das hat für die historische Stereotypenforschung den Vorzug, dass quasi die gesamte textliche (und wenigstens ein Teil der bildlichen?)25 Überlieferung der Vergangenheit als Materialbasis zur Verfügung steht, denn das Vorkommen von Stereotypen ist nicht auf bestimmte Textgattungen und kommunikative Situationen beschränkt, sondern bei genauerem Hinsehen nahezu allgegenwärtig. Die Kulturgeschichte und die historisch orientierte Ethnologie waren schon sehr findig darin, entlegene Quellengattungen wie beispielsweise Kochbücher oder gestickte Sinnsprüche auf Wandbehängen in den Blick zu nehmen, um stereotypischen Aussageformen auf die Spur zu kommen.26 Umgekehrt eignen sich aber auch konventionellere Quellenkorpora wie etwa der behördliche Schriftverkehr, amtliche Verlautbarungen und Normen, nicht zuletzt politische Publizistik, Reiseberichte, Memoiren und Autobiographien für die historische Stereotypenforschung. Auch die hehre Wissenschaft ist alles andere als frei von Stereotypie, ja ganze 24 ORŁOWSKI, Stereotype der „langen Dauer“, 2007, 79. Viele der gängigen Untersuchungen von Stereotypen beziehen Karikaturen und ähnliche Bildquellen ein, so etwa SZAROTA, Der deutsche Michel, 1998 [1988] und WRZESIŃSKI, Sąsiad, 1992; aber auch hier frappiert die fehlende Konzeptualisierung des Verhältnisses zwischen bildlicher und sprachlicher Realisierung des Stereotyps. Siehe dazu ausführlich unten, Abschnitt 5. 26 DANGLOVÁ, Stereotypes, 2007; MANNOVÁ, Stereotypen auf dem Teller, 2007. 25 350 Theoriengebäude sind bereits auf quasi axiomatischen, bei genauem Hinsehen aber stereotypischen Vorannahmen aufgebaut worden. 3. Anfänge der deutsch-polnischen Stereotypisierung und der unsichtbare Dritte Das gruppenspezifische Stereotyp setzt in seiner Anwendung auf die eigene und die fremde Nation naturgemäß Kriterien für die Abgrenzung der Wir- und der Fremdgruppe voraus, aus denen sich die politisch-emotionale Gestimmtheit herleitet, die seit dem 19. Jahrhundert auch rückblickend als „Nationalgefühl“ apostrophiert wird. Solche Kriterien sind seit alters her die natürliche Sprache, ihre regionalen Dialekte und Soziolekte, aber auch Unterschiede der Religion, der Sitten und Gebräuche, der Lebens- und Wohnformen sowie der Wirtschaftsweise.27 Wollte man explizite Äußerungen über solche Unterschiede und das sich daraus nach sozial- und sprachpsychologischen Erkenntnissen unvermeidlich ableitende stereotypische Sprechen in eins setzen mit dem Nationalbewusstsein und somit der Existenz von Nationen, dann wäre denen Recht gegeben, die einem essentialistischen Nationsbegriff verhaftet sind, die mithin die Entstehung der Nation an den Anbeginn der Geschichte setzen und meist selbst einen nationalistischen Diskurs pflegen. Wenn man dagegen die Formung der modernen Nation als soziopolitischer Entität erst in der „Sattelzeit“ (Reinhart Koselleck) etwa zwischen der Mitte des 18. und der Mitte des 19. Jahrhunderts ansiedelt und die Nationalbewegungen in weiten Teilen des östlichen Europa sogar noch ein bis zwei Generationen später ihren Anfang nehmen lässt, so ist davon nur soviel zutreffend, dass sich nationale oder nationalkulturelle Stereotypisierungen bereits deutlich früher beobachten lassen, ohne daraus ein „Nationalgefühl“ im modernen Sinne ableiten zu können. Klassische Quellengattungen wie spätmittelalterliche und frühneuzeitliche 27 SCHULZE, Entstehung des nationalen Vorurteils, 1995. Darin zahlreiche Beispiele für die Stereotypisierung fremder Ethnika bereits seit der Antike; im Mittelalter verstärkt seit dem 11./ 12. Jahrhundert. Die Historiographie ist sich uneinig darüber, inwieweit sich aus den Belegen für die Abgrenzung sprachlich-kulturell definierter Wir- und Fremdgruppen Vor- und Frühformen von „Nationalgefühl“ herleiten lassen. Zahlreiche Beispiele dazu finden sich in der mediävistischen nationes-Forschung. Aus politisch-historischen Gründen sind ostmitteleuropäische Historiker signifikant stärker dazu bereit, die Nationsbildung bereits im Mittelalter ansetzen zu lassen; siehe etwa ŠMAHEL, Die nationes, 2002 und die weiteren Beiträge tschechischer und polnischer Autoren im selben Tagungsband (Präsenz des Nationalen, 2002). Ferner: Formen des nationalen Bewußtseins, 1994; Mittelalterliche nationes, 1995; B. ZIENTARA, Frühzeit, 1997 [1985]; PLESZCZYŃSKI, Niemcy, 2008. Zu Polen in der Frühneuzeit MALISZEWSKI, Kształtowanie się, 1991; SALMONOWICZ, Polacy, 1993; KUSBER, Polen, 2001; W. ZIENTARA, Stereotype Meinungen, 2002; allgemein zur frühen Neuzeit auch MAURER, „Nationalcharakter“, 1993; zum deutschfranzösischen Fall im Hochmittelalter JOSTKLEIGREVE, Bild des Anderen, 2008. Für die deutschsprachigen Gruppen in Posen und Westpreußen noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts MÜLLER, Identitätsgeschichte, 2002. 351 Gesandtschafts- und Reiseberichte, unter den Bildquellen insbesondere die Völkertafeln,28 aber auch bebilderte Einblattdrucke aus dem Dreißigjährigen Krieg belegen, dass stereotypisierte bzw. klischeehafte Vorstellungen über fremde Völker damals bereits verbreitet und offenbar so populär waren, dass sie den Autoren und Verlegern als absatzfördernd galten.29 Solche Vorstellungen bezogen sich sowohl auf die unmittelbar benachbarten Nationen, mit denen ein enger wirtschaftlicher und kultureller Austausch bestand, wie auch auf die Völker des europäischen Ostens (der bis ins 18. Jahrhundert allerdings im „Norden“ angesiedelt wurde)30, die nächst den Indianern und Kannibalen in Übersee als Sinnbild des absolut Fremden herhalten mussten, von dem der wohlige Schauer des Exotischen wie des Grauenhaften ausging. Für unser Betrachtungsgebiet setzt etwa der Bericht den Ton, den der Thorner Bürger und Gerichtssekretär Johann Christoph Hornuff (1747–1799) von seiner im Jahr 1787 unternommenen Reise aus seiner Heimatstadt über Großpolen und Schlesien nach Sachsen veröffentlichte. Seine Eindrücke kurz nach der Einfahrt in mittelpolnisches Gebiet schildert er folgendermaßen: Diese, so wie alle übrigen am Ufer der Weichsel liegenden Dörfer sind von Deutschen bewohnt, die vielleicht die Nachkommen einer aus den Niederlanden ausgewanderten Kolonie sind. Sie sprechen unter sich platdeutsch, und werden von den Pohlen nie anders als Holländer genannt. Ihre Wohnungen und ihre Landwirthschaft zeichnen beide sich vor denen der Pohlen vortheilhaft aus; in beiden Stücken aber werden sie, so wie an Frugalität und Fleiß, von den Mennonisten weit übertroffen.31 Nachdem großpolnisches Gebiet erreicht ist, gibt Hornuff folgende Schilderung von Land und Leuten: Des Nachmittags fuhren wir durch eine vortreffliche Ebene, mitten in derselben liegt das schöne Guth Biskupie Papowo (das bischöfliche Papau oder Kirchdorf). Hier war alles recht schön, der Hof ein geschmackvolles Gebäude, die Wirthschafts- und Bauernhäuser nach gleicher Größe und in geraden Linien zu beiden Seiten der Straße fielen sehr gut ins Auge und verriethen einen Besitzer, der Ordnung und Regelmäßigkeit liebt. Dieses Guth gehört dem Kanonikus Dorpowski von Gnesen, welcher damals Präsident des 28 EDER, „Lieben den Adel“, 1979. ZIENTARA, Stereotype Meinungen, 2002; zum deutsch-russischen Fall: Russen und Rußland, 2 1988 [11985] sowie die weiteren Bände aus dem Kopelev-Projekt. Zu den Reiseberichten besonders MAURER, Reiseberichte, 2002. 30 LEMBERG, Entstehung, 1985. 31 HORNUFF, Bemerkungen, 1790, 6f. Weiterführende biographische Daten zu dem Autor ließen sich nicht ermitteln; siehe die Angaben aus dem Deutschen Biographischen Archiv (DBA) unter URL: http://db.saur.de.proxy.nationallizenzen.de/WBIS/basicSearch.jsf (04.10.2010). Zu deutschen Reiseberichten über Polen aus dem 18. Jahrhundert generell auch SZAFARZ, Deutsche Reiseberichte, 1974. 29 352 Tribunals in Peterkau war. Es war schon finster, als wir in Wisoko ankamen, einem schönen Guthe und Dorfe, dem Herrn Zlotnicki (Slotnitzki), reformirter Religion gehörig. Der herrschaftliche Jäger, ein Deutscher, hatte den Krug in Pacht. Hier war alles so verändert gegen vorher, daß wir auf einmal mitten nach Deutschland versetzt zu seyn schienen und sogar erträgliche Abendkost fertig fanden, welches ich darum erwähne, weil es auf einem Dorfe in Pohlen etwas unerhörtes ist. Von hier aus nach Posen sind zwo Meilen.32 Ganz zentrale Elemente der deutsch-polnischen Stereotypie werden unverzüglich realisiert, waren also in der Berichtszeit längst selbstverständlich und verbreitet: Fleiß, Sparsamkeit, Wirtschaftstüchtigkeit, Ordnungsliebe und Organisationssinn hüben, Nachlässigkeit, Mangel an Ordnung und Organisationstalent drüben. Bei näherem Hinsehen jedoch wird klar, dass es sich gar so einfach mit der Stereotypie nun wieder nicht verhält. Zwar sind „Pohlen“ (gemeint ist hier der von der Polnisch-Litauischen Rzeczpospolita nach der ersten Teilung verbliebene Teil, zu dem auch Hornuffs Heimatstadt Thorn gehörte) und Deutschland die durchgehende Folie für eine kontrastierende – binäre – Stereotypisierung. Innerhalb dieser scheint jedoch eine Hierarchisierung der Wirtschaftsgesinnung auf, die sich nach Konfessions- und Religionszugehörigkeit und eben nicht primär nach der Nationalität richtet: An erster Stelle stehen die Mennoniten, danach kommen die (reformierten) Bewohner der sogenannten Holländersiedlungen33, ganz unten stehen die Polen (implizit: die Katholiken). Tatsächlich ist es aber noch vertrackter. Nach der Einfahrt in Großpolen will der Berichterstatter bereits einen grundsätzlichen Kontrast zu Mittelpolen wahrgenommen haben. Die beiden erwähnten Gutsbesitzer sind dem Namen nach Polen, davon der erste ein katholischer Geistlicher, der zweite ein kalvinistischer Adliger, beide aber zeichnen sich durch Tüchtigkeit und Ordnungsliebe im Verständnis des Rationalismus und der klassizistischen Ästhetik aus („Bauernhäuser nach gleicher Größe und in geraden Linien“). Schließlich finden wir implizit noch ein weiteres Stereotyp, das aber nur dem mit dem diskursiven Kontext Vertrauten auffällt: Bei dem gut bewirtschafteten und sich dadurch von der Situation in Polen unterscheidenden Krug wird ausdrücklich unterstrichen, sein Pächter sei Deutscher, womit impliziert ist, dass die aufgrund des Propinationsrechts des polnischen Gutsadels in der Rzeczpospolita in aller Regel an Juden verpachteten Schenken34 eben nicht so gut bewirtschaftet werden. Die Figur des jüdischen Schankpächters war den Zeitgenossen aber so vertraut, dass der Berichterstatter nicht eigens auf sie hinweisen muss. Das anscheinende Polenstereotyp (gute 32 HORNUFF, Bemerkungen, 1790, 17. Niederländische Einwanderer waren als begehrte Spezialisten für Trockenlegung und Gartenbau seit Mitte des 16. Jahrhunderts in Polen angesiedelt worden; darunter befanden sich viele aus konfessionellen Gründen zur Emigration gezwungene Mennoniten (gemäßigte Täufer). Die seit Ende des 16. Jahrhunderts an der Weichselniederung weiter flussaufwärts und längs der Netze angesiedelten Siedler waren meist lutherische Deutsche, auf deren Dörfer aber ebenfalls der Begriff der „Holländersiedlung“ übertragen wurde. 34 Zur jüdischen Schankpacht HAUMANN, Geschichte der Ostjuden, 1999, 62-64 und öfter. 33 353 Bewirtung ist „auf einem Dorfe in Pohlen etwas unerhörtes“) entpuppt sich also in Wahrheit als Judenstereotyp. An diesem ersten Quellenbeispiel lässt sich bereits eine ganze Reihe von Merkmalen der deutsch-polnischen Stereotypie in der großpolnischen Kontaktzone aufzeigen, die zugleich Stolpersteine einer empirischen Untersuchung sein können. Die wichtigsten seien hier in systematischer Absicht genannt und erläutert: 1. Wir erkennen zumindest im Vorlauf unserer eigentlichen Betrachtungszeit beim gruppenspezifischen Stereotyp eine bunte Durchmischung nationaler bzw. nationalkultureller, konfessioneller und sozialer Zuordnungskriterien. Deshalb ist nicht jedes erkennbare gruppenspezifische Stereotyp automatisch ein „nationales“. In der Betonung der Konfessionszugehörigkeit noch am Ende des 18. Jahrhunderts deutet sich ein aus dem konfessionellen Zeitalter überdauernder Primat der religiösen Kategorisierung sozialer Gruppen an. Das Merkmal der Wirtschaftstüchtigkeit bzw. -untüchtigkeit wird noch nicht primär nach nationalen, sondern eben nach konfessionellen Kriterien vergeben, ganz im Sinne der später von Max Weber beschriebenen „protestantischen Ethik“ (welche im Übrigen die neuere Forschung zum Teil selbst als historisches Stereotyp entlarvt hat). Daran lässt sich die Frage anschließen, inwieweit sich im Laufe des 19. Jahrhunderts innerhalb der Stereotypisierung eine Verlagerung dieses Primats auf das nationale oder nationalkulturelle Kriterium beobachten lässt. Umgekehrt ist zu fragen, inwieweit die Religionszugehörigkeit und die damit verbundenen semantischen Konnotationen selbst zu Bestandteilen des nationalen Stereotyps werden. 2. An und für sich eine quellenkritische Banalität, aber im Kontext einer Untersuchung zu den gruppenspezifischen Stereotypen ausdrücklich zu betonen ist der Standpunkt des Autors. Ebensowenig wie bei der Definition der Fremdgruppe ist die Wir-Gruppe a priori auf das nationale Kriterium festgelegt. Vielmehr können dabei unterschiedliche nationale, konfessionelle, kulturelle und soziale (Selbst-) Zuordnungen eine Rolle spielen, darunter auch und gerade solche multiplen Identitäten, die miteinander im Widerstreit liegen. Nicht zuletzt bekommen in diesem Zusammenhang ordnungspolitische Präferenzen und ganz idiosynkratische Anschauungen Geltung: Hornuff mag sich als tüchtiger (vermutlich lutherischer) Bürger deutscher Nationalität verstehen, der als Thorner Stadtbürger zugleich selbst Angehöriger der Rzeczpospolita ist, versagt aber dennoch den polnischen adligen Gutsbesitzern (egal ob Katholiken oder Kalvinisten) nicht seine Anerkennung, wenn ihre Wirtschaftsführung seinen Idealen einer „guten Polizey“ entspricht. 3. Wie fast immer in den ostmitteleuropäischen Kontaktzonen, ist ein binäres Metastereotyp (hier also ein deutsch-polnisches Auto- und Heterostereotyp) reduktionistisch. Unser Textbeispiel zeigt, dass die Juden wenigstens als unsichtbarer Dritter ins Spiel kommen. Das muss aber nicht die Konsequenz 354 haben, das binäre Stereotypmodell gleich als inadäquat aufzugeben. Vielmehr ist genau zu untersuchen, inwieweit die Figur des Dritten der jeweiligen Fremdgruppe zugeordnet wird, inwieweit in unserem Betrachtungsgebiet also die Juden fallweise gewissermaßen als zusätzliches Attribut der polnischen bzw. deutschen Fremdgruppe gesehen werden. Das obige Quellenzitat verdeutlicht, dass vielleicht gerade weil die jüdischen Schankwirte gar nicht unbedingt explizit genannt werden, wenig gastfreundliche oder heruntergekommene (und fast ausschließlich von Juden betriebene!) Schenken im deutschen Heterostereotyp der Polen zu einem Merkmal „des Polnischen“ werden. Das komplexe Verhältnis zwischen idiosynkratischer Position eines Autors und der vorgegebenen, un- oder überpersönlichen nationalen Stereotypisierung sei an einem weiteren, sehr viel bekannteren Beispiel eines deutschen Reiseberichts noch eingehender erläutert. Es handelt sich, wie könnte es anders sein, um den berühmt-berüchtigten Essay Heinrich Heines (1797–1856) „Ueber Polen“, den der noch nicht ganz Fünfundzwanzigjährige im Herbst 1822 nach seiner Reise in das Großherzogtum Posen und seinem von dort aus unternommenen Abstecher nach Kongresspolen verfasste.35 Bei der Fahrt über Land fallen dem Berichterstatter die ärmlichen Dörfer, die Trunksucht der Bauern und ihre Unterwürfigkeit gegenüber den Herren ins Auge – allesamt Konstanten deutscher Polenbilder und stereotype. Interessant ist Heines Hinweis auf den „Einfluß französischer Lehren, die in Polen leichter als irgendwo Eingang finden“.36 An dieser nur anscheinend beiläufigen Bemerkung lässt sich ein wichtiges Merkmal des gruppenspezifischen und besonders des nationalen Stereotyps festmachen. Es ist in der Literatur bereits darauf hingewiesen worden, dass in der binären Struktur des Stereotyps (oder, in der hier vorgeschlagenen Terminologie, des Metastereotyps) dem Autostereotyp Priorität zukommt und das Heterostereotyp als das grundsätzlich „Andere“, „Fremde“ von diesem abgeleitet wird.37 Das erklärt, wieso sich so viele mit dem Heterostereotyp zugeschriebene Eigenschaften in Bezug auf ganz unterschiedliche Nationen gleichen, weil diese eben als Antonyme zu den als konstant angenommenen Eigenschaften der Wir-Gruppe behauptet werden. Ebenso erklärt sich beispielsweise im deutschen Polenstereotyp der hohe Grad an Übereinstimmung mit dem deutschen Franzosenstereotyp.38 Diese eigentümliche Übereinstimmung zweier nicht einmal direkt benachbarter Völker aus der Perspektive einer deutschen stereotypischen Auffassung wird an dieser Stelle durch Heine gewissermaßen rationalisiert, indem er sie als direkte Übernahme französischer Eigenarten durch die Polen behauptet (und damit en passant dem deutschen Polenstereotyp noch ein weiteres Merkmal hinzufügt). Zugleich ist in „Ueber Polen“ ein typisches Merkmal der Entstehungszeit zu erkennen, nämlich eine eigentümliche Gleichsetzung „der Polen“ mit der 35 36 37 38 HEINE, Ueber Polen, 1973 [1823]. Ebd., 59. In diesem Sinne etwa HAHN, 12 Thesen, 2007. PLEITNER, Die ‚vernünftige Nation‘, 2001, 3; HAHN, 12 Thesen, 2007, 22f. 355 polnischen sozialen Elite, die damals praktisch noch exklusiv mit dem landbesitzenden Adel identifiziert wurde. Heine beschreibt die polnischen „Edelleute“ als „gastfrey, stolz, muthig, geschmeidig, falsch (dieses gelbe Steinchen darf nicht fehlen) [sic] reitzbar, enthousiastisch, spielsüchtig, lebenslustig, edelmüthig und übermüthig“,39 wobei an dieser Stelle das nationale nicht von dem sozialen Stereotyp zu trennen ist. Die Gleichsetzung der „polnischen Nation“ mit dem „polnischen Adel“ entspricht, auch dies ist wichtig, einem historisch fundierten polnischen Autostereotyp, das aus der Identifizierung des Adels mit der politischen Nation rührt und das dazu beigetragen hat, dass sich in Polen erst relativ spät ein ethnisches Konzept von Nation entwickelte.40 Heine sieht in der polnischen (Adels-) Kultur eine widersprüchliche Vermengung von Einflüssen aus dem Osten, sprich Russland, dem Land der „Barbarey“, und dem durch seine „Überkultur“ geprägten Westen, sprich Frankreich.41 Auch an diesem Beispiel wird deutlich, dass Auto- und Heterostereotype keineswegs autonome Gebilde sind, die sich innerhalb einer (National-) Kultur bilden, sondern dass die Stereotype benachbarter Nationalkulturen in vielfältiger Weise miteinander verflochten sein können, also Merkmale kultureller Interferentialität tragen. Notwendigerweise ergibt sich daraus, dass auch nicht jeder Bestandteil des Heterostereotyps negativ konnotiert sein, wie umgekehrt das Autostereotyp nicht ausschließlich aus positiv gewerteten Bestandteilen zusammengesetzt sein muss; die emotionale Aufladung des Metastereotyps kann demnach in beide Richtungen gehen. Im Übrigen wäre Heine nicht Heine, würde ihm nicht wenigstens untergründig bewusst, dass er sich in Stereotypen äußert (auch wenn er sie nicht so genannt hätte) und eben keine Tatsachenfeststellungen trifft. So schreibt er in direktem Anschluss an die zuvor zitierte Passage über den polnischen Adel: „Aber ich selbst habe zu oft geeifert gegen unsre Broschürenscribler, die, wenn sie einen Pariser Tanzmeister hüpfen sehen, aus dem Stegreiff die Charakteristik eines Volkes schreiben […].“42 Wegen der für ihren Autor typischen Mischung aus soziologisch genauer Beobachtung, ironischer Sozialkarikatur und stereotypischem Sprechen, nicht zuletzt aber, weil er unseren Schauplatz anschaulich in Szene setzt, seien im Anschluss noch Heines Eindrücke aus der mit der Teilung von 1793 und dann mit den Beschlüssen des Wiener Kongresses 1815 erneut an Preußen gekommenen Provinzhauptstadt Posen wiedergegeben: Von den Bewohnern der preußisch polnischen Städte will ich Ihnen nicht viel schreiben; es ist ein Mischvolk von preußischen Beamten, ausgewanderten Deutschen, Wasserpolen, Polen, Juden, Militair u.s.w. Die preußischen deutschen Beamten fühlen sich von den polnischen Edelleuten nicht eben 39 HEINE, Ueber Polen, 1973 [1823], 62. Zur ursprünglichen Gleichsetzung des Adels mit der „politischen Nation“ Polens insbesondere HAHN, Dichotomie, 1989. 41 HEINE, Ueber Polen, 1973 [1823], 63. 42 Ebd., 62. 40 356 zuvorkommend behandelt. Viele deutsche Beamten werden oft, ohne ihren Willen, nach Polen versetzt, suchen aber sobald als möglich wieder heraus zu kommen; Andere sind von häuslichen Verhältnissen in Polen festgehalten. Unter ihnen finden sich auch solche, die sich darin gefallen, daß sie von Deutschland isolirt sind; die sich bestreben, das bischen Wissenschaftlichkeit, das sich ein Beamter, zum Behuf des Examens, erworben haben mußte, so schnell als möglich wieder aus zu gähnen; die ihre Lebensphilosophie auf eine gute Mahlzeit basirt haben, und die, bey ihrer Kanne schlechten Bieres, geifern gegen die polnischen Edelleute, die alle Tage Ungar-Wein trinken und keine Aktenstöße durch zu arbeiten brauchen. Von dem preußischen Militair, das in dieser Gegend liegt, brauche ich nicht viel zu sagen; dieses ist, wie überall, brav, wacker, höflich, treuherzig und ehrlich. Es wird von dem Polen geachtet, weil dieser selbst soldatischen Sinn hat und der Brave alles Brave schätzt; aber von einem näheren Gefühle ist noch nicht die Rede. Posen, die Hauptstadt des Großherzogthums, hat ein trübsinniges, unerfreuliches Ansehen. Das einzige Anziehende ist, daß sie eine große Menge katholischer Kirchen hat. Aber keine einzige ist schön. Vergebens wallfahrte ich alle Morgen von einer Kirche zur andern, um schöne alte Bilder auf zu suchen. Die alten Gemälde finde ich hier nicht schön, und die einigermaßen schönen sind nicht alt. Die Polen haben die fatale Gewohnheit, ihre Kirchen zu renoviren. Im uralten Dom zu Gnesen, der ehemaligen Hauptstadt Polens, fand ich lauter neue Bilder und neue Verzierungen. […] Der Dom hier in Posen ist neu, hat wenigstens ein neues Ansehen; und folglich gefiel er mir nicht. Neben demselben liegt der Palast des Erzbischofs, der auch zugleich Erzbischof von Gnesen, und folglich zugleich römischer Cardinal ist, und folglich rothe Strümpfe trägt. Er ist ein sehr gebildeter, französisch-urbaner Mann, weißhaarig und klein. Der hohe Clerus in Polen gehört immer zu den vornehmsten adligen Familien; der niedere Clerus gehört zum Plebs, ist roh, unwissend und rauschliebend.43 Die Juden als stets präsente dritte Gruppe treten auch bei Heine in Erscheinung. Er benennt ihre eigentümliche Zwischenstellung innerhalb der polnischen Gesellschaft. In Ermangelung eines historisch geformten Stadtbürgertums haben sie die Funktion des „dritten Standes“44 – so Heine wörtlich, in einer Zeit, in der sich die ständische Hierarchie auch in Ostmitteleuropa sowohl sozial als auch formal-rechtlich bereits in Auflösung befindet. Zugleich spricht er von ihrem „widerwärtigen Äußeren“45 und macht aus seiner Abscheu vor ihnen kein Hehl. Darin wird bereits derselbe Kulturschock sichtbar, der sich noch fast genau einhundert Jahre nach Heine in Alfred Döblins Bericht über seine Polenreise 43 44 45 Ebd., 73f. Ebd., 59. Ebd., 61. 357 niederschlagen sollte.46 Während sich jedoch bei Döblin Abstoßung und von einer nahezu ethnologischen Neugier geprägte Faszination für das ostjüdische Spiegelbild der eigenen religiös-kulturellen Herkunft die Waage halten, frappiert bei Heine ein Widerwille, der auf sein persönliches Identitätsproblem als akkulturierter deutscher Intellektueller jüdischer Abstammung verweist. Noch schlägt dies bei Heine jedoch nicht bis zu jener Variante des jüdischen selbsthasserischen Antisemitismus durch, die erst in der Zeit des ausgeprägten Nationalismus und eines rassistischen Judenhasses um 1900 möglich wurde.47 4. Die Nationalisierung des Stereotyps Die sich im Laufe des 19. und frühen 20. Jahrhunderts ändernden Erhebungskriterien für die Bevölkerungszählungen verdeutlichen auch auf staatlich-behördlicher Ebene die Gewichtungsverschiebung, die sich von Konfession und Religion hin zu sprachkultureller und schließlich nationaler Zugehörigkeit vollzog (Tab. 1). Die auf der Grundlage der Statistiken des 19. Jahrhunderts vorgenommene Gleichsetzung von Polen mit Katholiken bzw. Deutschen mit Protestanten rechtfertigte sich anscheinend dadurch, dass nur eine quantitativ unerhebliche Minderheit der jeweils anderen Konfession angehörte; die sich daraus ergebenden Abweichungen glichen sich in etwa gegenseitig aus. So gab es etwa bei einer Gesamtbevölkerung von 2,1 Millionen vor dem Ersten Weltkrieg lediglich zehn- bis zwölftausend deutsche Katholiken in der Provinz.48 Die in den Quellen durchweg anzutreffende Identifizierung der Polen mit dem Katholizismus und der Deutschen mit dem Protestantismus scheint also gerade in unserem Betrachtungsgebiet durch die Konfessionszusammensetzung besonders gerechtfertigt. Dennoch gehört auch sie insofern oft zur deutsch-polnischen Stereotypie, als die konfessionelle Zuordnung für die Gesamtnation verallgemeinert wurde – was besonders im deutschen Fall ersichtlich den Tatsachen widersprach – und sie kontextuell eingesetzt wurde, um die Wesensverschiedenheit und Unvereinbarkeit von „deutsch“ und „polnisch“ zusätzlich zu betonen. Daraus lässt sich schließen, dass das Nationalitätskriterium das der Konfession im Laufe der Zeit nicht etwa gänzlich verdrängte, sondern dieses hinter jenem verschwand und von ihm integriert wurde, aber jederzeit wieder in den Vordergrund treten konnte, nicht zuletzt eben in stereotypischen Kontexten. So geschah es zwangsläufig, dass der sogenannte Kulturkampf der 46 DÖBLIN, Reise in Polen, 32000 [1926]; Döblin machte während seiner Reise allerdings keinen Abstecher in das Posener Gebiet; denn er war vor allem am „Ostjudentum“ interessiert, das er in den Städten Galiziens und Kongresspolens aufsuchte. 47 Mit Blick auf die eigentümliche Zwischenstellung, in der sich die Posener Deutschen auch später innerhalb des von ihnen selbst diagnostizierten „Ost-West-Gefälles“ wiederfanden, spricht SERRIER, Provinz Posen, 2005 [2002], 102, förmlich von einem „Heinrich-Heine-Syndrom“; zu Heines Reisebericht und seiner empörten Rezeption in Posen ebd., 104-107. 48 KIEC, Die evangelischen Kirchen, 1998, 16. 358 1870er Jahre, in dem Bismarck reichsweit den Einfluss des Katholizismus zurückzudrängen versuchte, in den preußischen Ostprovinzen eine ausgesprochen antipolnische Spitze erhielt und von den Polen als gezielte Strategie der Entnationalisierung wahrgenommen wurde. Diese hatten dafür in Bismarck höchstselbst ihren besten Gewährsmann, denn er behauptete in seinen Memoiren, den Kulturkampf vorwiegend wegen der Polen geführt zu haben,49 und nationalisierte damit ex post seine Motive. Tabelle 1: Entwicklung der konfessionellen und sprachkulturellen Gruppen bzw. Nationalitäten im Posener Gebiet in den Volkszählungen 1816–1938 Jahr Kriteriu m 1815 /16 Einwoh ner in Tsd. Polen bzw. Katholiken Deutsch e bzw. Protestanten 27,6 % Jud en Konfessi 790 66,0 % 6,4 % Konfessi 1467 62,4 % 32,6 % 5,0 % Sprache Sprache 1665 2099 65,2 % 60,9 % 34,8 % 38,4 % a) [1,26] on 1861 on 1882 1910 a) 1938 b National ität 2264 90,3 % 9,3 % ca. 0,3 % a) Zur deutschsprachigen Bevölkerung dazugerechnet. b) Die Wojewodschaft Posen war gegenüber der Provinz Posen um die beim Deutschen Reich verbliebenen westlichen Kreise bzw. Kreisteile verkleinert. Nach: MATELSKI, Mniejszość niemiecka, 1997, 25, 35. Die deutsche Bevölkerung war nicht gleichmäßig über das Gesamtgebiet verteilt, sondern überwog zum einen im Netzedistrikt, zum anderen in den nach 1918 beim Deutschen Reich verbleibenden westlichen Kreisen oder Kreisteilen. Die ersten deutschsprachigen Siedler waren mit dem Landesausbau und den Städtegründungen der großpolnischen Fürsten nach deutschem (Magdeburger) Recht im Laufe des 13. und 14. Jahrhunderts in die Region gekommen, hatten sich aber zu erheblichen Teilen bis gegen Ende der alten Rzeczpospolita sprachlichkulturell an die polnische Umgebung akkulturiert oder auch assimiliert.50 Deutschsprachige Siedlungsinseln hielten sich v.a. in den Städten und aus konfessionellen Gründen, d.h. dort, wo die Reformation Fuß fassen und die 49 BISMARCK, Gedanken und Erinnerungen, o.J. [1898‒1919], 258f. Zur Unterscheidung zwischen „Akkulturation“ und „Assimilation“ z.B. die sehr treffenden Ausführungen bei SCHUTTE, Königliche Akademie, 2008, 6–8; ferner MOLIK, Procesy asymilacyjne, 1999; TRABA, Asymilacja/ akulturacja, 1999. 50 359 polnischsprachige katholische Geistlichkeit nicht mehr ihren Einfluss geltend machen konnte. Die Scheidelinie zwischen der deutschsprachig gebliebenen und der deutschstämmigen polonisierten Bevölkerung verlief in etwa entlang der späteren Grenze zwischen dem Deutschen Reich und der Zweiten Polnischen Republik. Eine deutschsprachige Streusiedlung bestand im 19. Jahrhundert insbesondere noch dort, wo erst im 18. Jahrhundert polnische Gutsbesitzer deutsche Kolonisten angeworben oder der preußische Staat nach 1772 seine Peuplierungspolitik betrieben hatte.51 Durch den überproportionalen Zuzug von Beamten und Militärpersonal kam es im 19. Jahrhundert in den Städten wiederum zu einem Anstieg der deutschen Bevölkerung. Gerade aus dieser Gruppe der neuzugezogenen und vielfach nicht wirklich in der Region verwurzelten deutschen Einwohner rekrutierten sich schließlich viele der radikaleren Akteure der deutschen Nationalbewegung. Wie überall in den deutsch-polnischen Grenzregionen blieben bis zum Vormärz die konfessionellen Trennlinien sehr viel wichtiger als die nationalen.52 Eine standes- und noch nicht nationalitätenpolitische Konfliktlinie verlief damals zwischen der preußischen Verwaltung und dem polnischen Adel, dem der zentralisierende Staat schrittweise seine ständischen Privilegien nahm. Dieser Konflikt berührte zunächst die Interessen der mittleren und unteren Gesellschaftsschichten wenig und wurde deshalb von ihnen kaum beachtet.53 Die Politik der preußischen Regierung war seit den Teilungen insofern entschieden stereotypfördernd, als sie ihre Annexionen nicht zuletzt mit der vermeintlichen „Rückständigkeit“ und „Misswirtschaft“ in den vorher polnischen Territorien legitimierte. Des Preußenkönigs Friedrich II. so abfällige wie pauschale (eben negativ-stereotype) Äußerungen über die Polen waren notorisch, aber das Ressentiment kehrte sich zunächst v.a. gegen den polnischen Adel und Klerus, die als konservativ und innovationsfeindlich galten und sich angeblich den preußischen Modernisierungsbestrebungen entgegenstellten. Dabei wurde unterschlagen, dass gerade die zweite Teilung Polens, an der sich nur Russland und Preußen beteiligten, nicht zuletzt das Ziel verfolgt hatte, die Sanierung der Rzeczpospolita mit Hilfe eines großangelegten Reformprogramms zu verhindern.54 Das im Interesse der Staatsraison zu Propagandazwecken aufgebrachte und verbreitete Stereotyp folgte nur insoweit dem Selbstbild des polnischen Adels als politischer Nation, als Stadtbürger und Bauern gar nicht als politische Akteure eigenen Gewichts wahrgenommen wurden. Auch in diesem Schlüsselmoment zeigt sich die Tatsache, dass sich nationale, soziale und kulturelle Stereotypisierungen zeitlich überlagern und zu verschiedenen Zeiten 51 KESSLER, Polen, 2001, 307f.; zu den in Oberfranken seit 1719 angeworbenen sog. „Bambergern“ auch PARADOWSKA, Bamberger, 1994 [1975]. 52 Diese konnten allerdings auch gewaltsame Konflikte hervorrufen; beispielsweise über das berüchtigte „Thorner Blutgericht“ von 1724 und seine retrospektive nationale Neuinterpretation zuletzt noch THOMSEN, Thorner Tumult, 2009. 53 HAGEN, Germans, 1980, 76-95; MAKOWSKI, Polen, 1999, 54-56. 54 Dazu immer noch MÜLLER, Teilungen Polens, 1984, 43-51; die neuere Literatur dagegen in der polnischen Übersetzung MÜLLER, Rozbiory Polski, 2005 [1984]. 360 allenfalls unterschiedliche Gewichtungen ihres jeweiligen Anteils am Metastereotyp in Erscheinung treten. Es ist nicht ganz klar, ob die deutsche (Stadt-) Bevölkerung des Posener Gebietes die vormärzliche Polenbegeisterung teilte, von der sich besonders in Mittel-, West- und Südwestdeutschland während des polnischen Novemberaufstandes 1830/31 und nach seinem Scheitern große Teile des liberalen Bürgertums mitreißen ließen. Meine Vermutung ist, dass in den vormaligen polnischen Adelsstädten, die nunmehr allmählich zu preußischen Beamtenund Garnisonsstädten mutierten, gerade diejenigen bildungsbürgerlichen Schichten zu schwach waren, die ihre libertären und demokratischen Gesinnungen auf die polnische Freiheitsbewegung projizierten und ein zumindest zeitweise dominantes, positives Polenstereotyp des edlen, patriotischen und freiheitsliebenden Kämpfers schufen.55 Mehr als eine Marginalie ist übrigens, dass sich damals auch das Stereotyp der „schönen Polin“ verfestigte, der als (adelige) Patriotin imaginierten, mutigen Frau, welche die eigentliche Triebkraft hinter der polnischen Nationalbewegung darstelle. Die „schöne Polin“, die auch schon in Heines „Ueber Polen“ figurierte, kam im weiteren Verlauf der Nationalisierung des deutschen Polenstereotyps immer dann zur Geltung, wenn nolens volens der polnischen Nation bestimmte positive Eigenschaften zuerkannt werden mussten, an denen es dem polnischen Mann angeblich mangelte.56 Gerade das Posener Gebiet geriet in den Fokus der ersten nationalen Zuspitzung, die sich im Gefolge des großpolnischen Aufstandsversuchs von 1846, der Revolution von 1848 und der Polendebatte im Paulskirchenparlament ergab. Denn die Auseinandersetzung um die Einladung der polnischen Abgeordneten und die Aufnahme des Großherzogtums in den zu gründenden deutschen Nationalstaat brachten förmlich über Nacht landesweit allen politisch Interessierten zu Bewusstsein, dass es hier um einen Konflikt ging, der sich an dem politisch noch relativ ungewohnten Ideologem des Nationalen entzündete. Das Großherzogtum Posen wurde damals als „Kernland des Polenthums“ entdeckt, wie ein zeitgenössischer politischer Kommentator schrieb: „In allem, was seine Nationalität betrifft, ist der Pole ein für alle Male inkurabel […].“57 Weiterhin spielte jedoch die Konfession eine große Rolle, wie sich an dem Loyalitäts- und Identitätskonflikt erkennen lässt, in dem sich die katholischen Preußen der brandenburgisch-posenschen Grenzkreise wiederfanden, die per königlichem Edikt dem preußischen Staatsgebiet zugeschlagen wurden.58 55 Als Anthologie zeitgenössischer deutscher „Polenlieder“ z.B. Polenlieder, 1982; ferner Dokumente, 1982; ROGUSKI, Dzielny kosynier, 2004; Solidarność 1830, 2005; Polenbegeisterung, 2005. 56 Diese treffende Beobachtung bei ROSENTHAL, German and Pole, 1976, 16f.; siehe auch KOESTLER, „Hut ab“, 1993. 57 FRANTZ, Polen, 1969 [1848], 61, 64. 58 LORENZ, Von Birnbaum, 2005, 82-91; auch MÜLLER, Identitätsgeschichte, 2002; allgemein zur Identitätsproblematik der deutschsprachigen Katholiken BJORK, Neither German Nor Pole, 2008. 361 Unabhängig davon, ob man die entscheidende Zäsur der preußischen Polenpolitik mit dem Revolutionsjahr 1848 oder mit der Reichsgründung von 1871 datiert oder aber, wie Thomas Serrier in seiner kulturgeschichtlichen Studie zum Posener Gebiet, in der dazwischenliegenden Formierungsphase der deutschen und polnischen Nationalbewegungen,59 – fest steht, dass sich auch die Regierungspolitik nach 1848 und verstärkt nach 1871 nationalisierte und damit von dem im Prinzip übernationalen dynastischen Prinzip endgültig verabschiedete. Am Posener Beispiel lässt sich sehr gut zeigen, dass die preußische Politik dabei häufig unter dem Druck von Forderungen seitens der deutschnationalen Vereine und Interessenorganisationen tätig wurde. Diese reagierten ihrerseits auf die polnische Nationalbewegung, deren Institutionen den analogen deutschen Einrichtungen zeitlich vorausgingen und ihnen organisatorisch und nach der Zahl ihrer Mitglieder meist deutlich überlegen waren. Im Posener Gebiet wurde die sogenannte „organische Arbeit“ erfunden, längst bevor die Niederlage des Januaraufstands von 1863/64 auch im russländischen Teilungsgebiet die polnische Nationalbewegung dazu brachte, auf eine pragmatische Linie einzuschwenken, um ihre nationalpolitischen Ziele auf dem Wege von Erziehung, Ausbildung und institutioneller Organisation weiterzuverfolgen. Der berühmte Marcinkowski-Verein (ursprünglich „Gesellschaft zur wissenschaftlichen Hilfe für die Jugend des Großherzogtums Posen“, gegründet 1841) stammte aus dem Vormärz, und die „Posener Gesellschaft der Freunde der Wissenschaften“ (gegründet 1857) ging den entsprechenden deutschen Organisationen um eine volle Generation voraus. Nicht zuletzt das Netz polnischer Gewerbevereine und Genossenschaften war im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts merklich enger geknüpft als das deutsche.60 Der anfängliche soziale Fokus der preußischen Verwaltung wurde im Laufe der Nationalisierung oder genauer Ethnisierung der Regierungspolitik aufgegeben, und damit wurden auch die spezifischen sozialen Stereotype weiter nationalisiert. Die Stereotypisierung als Kernbestandteil der Regierungspropaganda und des administrativen Handelns diente der dauerhaften Legitimierung der Teilungen Polens und der preußischen Herrschaft, indem sich die Obrigkeit als Bringer von Fortschritt und Modernität stilisierte. Damit geriet die preußische Regierung jedoch auf Dauer zwangsläufig in einen Argumentationsnotstand. Denn je länger ihre Herrschaft andauerte, desto weniger konnte sie noch pauschal die Rückständigkeit des Gebiets behaupten, da sie damit schließlich ihr eigenes Versagen hätte einräumen müssen. Deshalb wurde das stereotypische Schlagwort der „polnischen Wirtschaft“, also das deutsche Polenstereotyp schlechthin, im Laufe der Zeit eher auf Galizien und Kongresspolen übertragen, also in den 59 SERRIER, Provinz Posen, 2005 [2002], 34; Serrier sieht den gescheiterten Aufstand von 1863/64 im russländischen Teilungsgebiet als das entscheidende Datum, an dem für die polnische Nationalbewegung klar wurde, dass der preußische Staat die vollständige Einverleibung des Posener Gebiets verfolgte und keine wie auch immer geartete nationale Autonomie zulassen würde. 60 JAWORSKI, Handel und Gewerbe, 1986, 44-48; SCHUTTE, Königliche Akademie, 2008, 22-28. Mit gewissen Modifikationen für das lokale Fallbeispiel LORENZ, Von Birnbaum, 2005, 45-55. 362 Verantwortungsbereich der beiden anderen Teilungsmächte abgewälzt. Zugleich verstärkte sich aber die nationale Stereotypisierung „des Polen“ als eines zu planvoller Arbeit und Organisation nicht befähigten Menschen.61 Vermutlich aus ähnlichen Gründen konnte sich in Preußen-Deutschland auch kein über 1918 hinaus fortwirkendes Stereotyp etablieren, das die Polen des Posener Gebiets in irgendeiner Weise von ihren Landsleuten abgehoben hätte.62 Überhaupt erzwingt die semantische Struktur der Stereotypie geradezu, dass das nationale Heterostereotyp stets pauschal die gesamte nationale Gruppe bezeichnet, während nur das Autostereotyp eine innere Differenzierung nach lokalen, regionalen oder landsmannschaftlichen Kriterien zulässt, d.h. seinerseits nach dem binären Prinzip des Metastereotyps funktionieren kann. In einer Passage eines pseudonym veröffentlichten politisch-publizistischen Werks hielt Józef Ignacy Kraszewski (1812–1887), Vielschreiber und bekannt als Autor historischer Romane, Ende der 1860er Jahre fest, wie sich aus seiner exilpolnischen Außenperspektive der Entwicklungsstand der polnischen Gesellschaft im Posener Gebiet darstellte. Mit Blick auf das polnische Landvolk (lud) schreibt Kraszewski: W spadku po przeszłości został lud mało ukształcony, wybornie udarowany od natury, chciwy postępu, lecz nie zwykły do takiej pracy, jaka nań spadła. Lud ten instynktem w życiu politycznym ledwie poczętym zacnością i wielkimi darami się odznacza; lecz mimo pozornej emancypacji o własnej swej sile daleko iść nie może. Opiekunem jego z jednej strony jest rząd, który w interesie unifikacji (na nią wszystkie chorują) radby germanizować; ksiądz, którego zadaniem przy wierze i czystości obyczajów go utrzymać, na ostatek szlachcic i większy właściciel, dawniej wyłączny reprezentant interesów narodowych, który i dziś ma prawie też same obowiązki, a poczuwa się do powinności dźwignięcia ludu, oświecenia go, obrony. Nie możemy zaprzeczyć, że szlachta po większej części, wedle sił spełnia ten obowiązek; nie możemy zarzucić, by się nie starała zbliżyć do ludu i wyrzekłszy [się] dobrowolnie swego stanowiska przywilejów, nie chciała podzielić ich z tym sprzymierzeńcem w obronie praw narodowości. Ponad ludem z jego łona wyrabiający się stan średni dosyć już jest silny, by o dalszym swym rozwoju i postępie nie wątpił. Tu jedno z głównych jąder pracy, bo mniej zamożna klasa średnia dorabiać się musi i zamożności i wykszałcenia, dwóch dźwigni koniecznych dla zdobycia stanowiska, które zająć powinna. To stanowisko przeważne w części na szlachcie zdobywać przychodzi; stawi ją więc praca w niejakim antagonizmie z nią, chociaż dzisiejszy postęp idei walkę czyni niepostrzeżoną, łagodzi ją i do rozmiarów 61 SERRIER, Provinz Posen, 2005 [2002], 118-127. Vor 1918 bestand zumindest ein Ansatz dazu in der Unterscheidung zwischen den „polnischen Preußen“ in Oberschlesien und in Ostpreußen-Masuren sowie den „preußischen Polen“ eben im Posener Gebiet; so etwa in dem oben schon zitierten Werk von FRANTZ, Polen, 1969 [1848], 61f. Während Erstere als loyale Untertanen der preußischen Monarchie galten, wurden Letztere zum Synonym für Aufrührer und Unruhestifter. 62 363 uczciwego współzawodnictwa ogranicza. Na klasie średniej wiernej idei narodowej, uzdolnionej i nawykłej do trudu, gdy szlachta niełatwo z pracą się godzi, a trwać w niej nie umie, wielkie spoczywają nadzieje. Byleby zadanie swe pojmując, a antagonizmu unikając i walki, stała się, czym być powinna w narodzie – spójnią pomiędzy ludem a szlachtą, obojgu nauczycielem i przykładem pracy a wytrwania. Stan średni także, przychodzący do samopoznania do bytu poważniejszego – czyni zadość obowiązkom.63 [Als Erbe der Vergangenheit blieb das Volk wenig gebildet, von der Natur mit hervorragenden Gaben versehen, den Fortschritt erstrebend, doch nicht der Arbeit gewohnt, die ihm zufällt. Dieses noch kaum mit politischem Instinkt bewehrte Volk zeichnet sich durch Rechtschaffenheit und große Gaben aus; doch trotz scheinbarer Emanzipation kann es aus eigener Kraft nicht weit gelangen. Sein Vormund ist einerseits die Regierung, die es im Interesse der Unifizierung (daran kranken alle [Regierungen]) nur zu gerne germanisieren würde; der Priester, dessen Aufgabe es ist, es im Glauben und der Reinheit der Sitten zu bewahren, zuletzt der Edelmann und größere Grundbesitzer, einst der einzige Repräsentant der nationalen Interessen, der auch heute beinahe dieselben Pflichten hat und sich in der Schuldigkeit sieht, das Volk zu heben, aufzuklären, zu schützen. Wir können nicht widersprechen, dass der Adel zum größeren Teil diese seine Aufgabe nach besten Kräften erfüllt; wir können ihm nicht vorwerfen, dass er sich nicht bemühte, sich dem Volk anzunähern und, unter freiwilligem Verzicht auf die Privilegien seines Standes, sich nicht mit diesem Verbündeten in die Verteidigung der Rechte der Nation teilen wollte. Der sich über das Volk erhebende, aus seinem Schoße sich entwickelnde Mittelstand ist bereits recht stark, so dass er für seinen weiteren Aufstieg und Fortschritt nicht Sorge tragen muss. Hier wird ein Großteil der harten Arbeit verrichtet, denn die weniger vermögende Mittelklasse muss an Wohlstand und Bildung gewinnen, den beiden treibenden Kräften, die ihr zur Erlangung der ihr zukommenden Stellung unerlässlich sind. Sie wird diese Stellung zum Teil dem Adel abringen müssen; so setzt sie die Arbeit also in einen gewissen Gegensatz zu diesem, obgleich der heutige Fortschritt der Idee den Kampf unmerklich macht, ihn mildert und ihn auf das Maß des ehrlichen Wettbewerbs beschränkt. Auf der Mittelklasse, die der nationalen Idee treu, begabt und der Arbeit gewohnt ist, während der Adel nicht leicht der Arbeit sich widmet und in ihr keine Ausdauer besitzt, ruhen große Hoffnungen. Wenn sie nur ihre Aufgabe aufnimmt und Gegensatz und Kampf meidet, so wird sie, was sie in der Nation zu sein hat – ein Bindeglied zwischen Volk und Adel, beider Lehrer und Vorbild an Arbeitsamkeit und Ausdauer. Wenn der Mittelstand dahin gelangt, sich selbst zu einer ernsteren Existenz zu bekennen, wird er seine Pflichten erfüllen.] 63 KRASZEWSKI, Wielkie Księstwo, 2005 [1867], 46f. 364 Kraszewski, der als Unterstützer der polnischen Aufstände von 1830/31 und 1863/64 in Dresden im politischen Exil lebte, resümiert in dieser Textpassage den historischen Entwicklungsmoment der polnischen Nationalbewegung aus einer bestimmten Sicht: Die Abkehr von der Idee, im heroischen Kampf die nationale Freiheit wiederzugewinnen, hin zur Ideologie der „organischen Arbeit“. Seine Überlegungen sind nicht ohne Selbstkritik und realistische Einschätzung der inneren Problemlagen der polnischen Gesellschaft, die immer noch daran laboriert, den historischen Ballast der ständischen Spaltung, der historischen Unfreiheit des Gros der landsässigen Bevölkerung und des ökonomischgewerblichen Entwicklungsrückstands zu überwinden. Die den Posener Bauern stereotypisch zugeschriebenen Eigenschaften bleiben unbestimmt („mit hervorragenden Gaben versehen“), allein es wird deutlich, dass ein positives Autostereotyp sich entlang des Modernisierungsparadigmas („den Fortschritt erstrebend“) von Bildungsbeflissenheit, harter Arbeit, gewerblicher Tüchtigkeit und Pragmatik vor dem Hintergrund der deutschen Gesellschaft formte, wie Kraszewski sie sah. Das Zitat ist darin instruktiv zu zeigen, wie positive Elemente des Heterostereotyps in appelativer Absicht in das Autostereotyp integriert werden können. Auch ist interessant zu beobachten, wie in Kraszewskis differenzierenden Blick auf die Schichtung der polnischen Gesellschaft Momente aus dem hergebrachten deutschen Polenstereotyp einfließen und ebenso in das Autostereotyp integriert werden. Kraszewski, der selbst aus dem niederen Landadel stammte, bezeichnet die szlachta als noch kaum fähig, sich einer Erwerbsarbeit im bürgerlichen Sinne zu unterziehen, sieht sie zugleich aber immer noch als wichtigsten Träger der polnischen Nationalidee (diese Auffassung teilte er u.a. mit Bismarck) und in der Pflicht ihrer historischen Tradition als politischer Nation. Bei Kraszewski steht die Idee der die Standesgrenzen überwindenden nationalen Einheit im Mittelpunkt, die die zentrale Utopie eines jeden Nationalisten ist. Deshalb setzt er große Hoffnungen auf den noch im Entstehen begriffenen, autochthonen polnischen Mittelstand, der – das schwingt im Hinweis auf dessen Mittlerfunktion zwischen Adel und Landvolk sehr deutlich mit – zugleich die sozioökonomischen Funktionen der Juden übernehmen und die nationale Einheit eigentlich erst herstellen soll. In diesem Zusammenhang ist besonders bezeichnend, was Kraszewski zu den Juden selbst zu sagen hat: W warstwach ludności, którą byśmy jak najbardziej spójną i jednolitą widzieć pragnęli – jest jeszcze jedna, którą rzeczywistość wyróżnić każe. Są nią z dawna na tej ziemi osiedleni Izraelici, którzy prawie bez wyłączenia przeszli ku niemieckiemu żywiołowi, wlali się weń i nieprzyjazne Polsce zajęli stanowisko. Jest to dziś faktem, na który radzić nie pora, ubolewać nad nim późno, przyczyn tylko poszukiwać należy. Czy w tym nie ma nieco naszej własnej, dawnej winy, czy Żydzi, jeśli nie odpychani, to nie ciągnięci przez nas, nie musieli powinowactwami wielu, łatwością asymilacji przyrosnąć tam, gdzie ich natura ciągnęła? Rząd znalazł w nich gotowy, przysposobiony już do germanizacji pierwiastek, tym chętniejszy dla siebie, że w Prusach całych, 365 w Berlinie samym inteligencja izraelska pracą, zamożnością, tak ważną grała rolę w świecie finansowym, literackim, artystycznym. Izraelici więc poznańscy mieli już pewną pozycję gotową, podporę we współwyznawcach, kółko, do którego naturalnie wejść woleli, niż mozolnie dobijać się moralnego równouprawnienia z Polakami. Dosyć, mówmy prawdę, niełatwymi do asymilacji. Zanim więc uskarżać się będziemy na ten fakt, uznajmy fatalną jego niemal koniecznością, każda część społeczności ma instynkty konserwatywne i słucha praw powinowactwa wyborowego.64 [Unter den Schichten der Bevölkerung, die wir gern möglichst geschlossen und einheitlich sehen würden, ist eine weitere, welche die Realität zu unterscheiden gebietet. Es sind die in diesem Lande [d.h. im Posener Gebiet] seit langer Zeit ansässigen Israeliten, die fast ohne Ausnahme zur deutschen Bevölkerung übergewechselt und in ihr aufgegangen sind und eine Polen gegenüber ablehnende Haltung einnehmen. Das ist heute eine Tatsache, der abzuhelfen nicht länger die Zeit ist, sich ihrer zu grämen ist es zu spät, allein die Gründe dafür sind zu suchen. Ist darin nicht etwas unserer eigenen, alten Schuld, mussten nicht die Juden, wenn schon von uns nicht fortgestoßen, so doch auch nicht angezogen, sich durch viele Verwandtschaften und die Leichtigkeit der Assimilation dort einwurzeln, wohin sie ihre Natur zog? Die Regierung fand in ihnen ein bereitfertiges, schon zur Germanisierung bereites Element, das ihr umso geneigter war, als in ganz Preußen, zumal in Berlin, die israelitische Intelligenz durch Arbeit und Wohlstand eine so wichtige Rolle in der Welt der Finanzen, Literatur und Kunst spielt. Die Posener Israeliten besaßen also eine vorbereitete Stellung in ihren Glaubensgenossen, einem Kreis, dem sie natürlicherweise sich anzuschließen vorzogen, als sich um die moralische [!] Gleichberechtigung mit den Polen zu bemühen. Welche, sagen wir die Wahrheit, für die Assimilation ziemlich unzugänglich sind. Bevor wir uns also über diese Tatsache beschweren, gestehen wir ihre beinahe schicksalhafte Notwendigkeit ein, jeder Teil der Gesellschaft hat Instinkte der Selbsterhaltung und gehorcht den Gesetzen der Wahlverwandtschaft.] Nach Kraszewskis Ansicht tragen also die Polen eine historische Mitverantwortung dafür, dass die Juden nicht in die polnische Nation und Gesellschaft eingegangen sind, eine in Kraszewskis Augen zwar bedauerliche, aber unumkehrbare Tatsache. Dennoch ist auch sein Entwurf von Judentum und Jüdischkeit grundsätzlich stereotyp. Denn da sich die Juden unterdessen bereitwillig an die deutsche Gesellschaft und Kultur angeglichen hätten, stellten sie innerhalb der Posener Bevölkerung, deren Einheit und Geschlossenheit Kraszewski als Gebot der Stunde sieht, gleich in zweifacher Hinsicht einen Fremdkörper dar, nämlich als Juden und als Deutsche. Wie schon drei Generationen zuvor bei Hornuff finden wir auch hier wieder den Mechanismus, die Juden innerhalb des binär strukturierten Stereotyps der jeweiligen 64 Ebd., 47. 366 Fremdgruppe zuzurechnen – der stereotypische Zwang zur Zweipoligkeit lässt eben keinen Raum für die Unterscheidung einer dritten Gruppe, für ein Dazwischen oder ein Sowohl-als-auch. Für Kraszewski ist die Frage der Assimilation der Juden letztlich keine religiöse, soziale oder kulturelle, sondern eine moralische; die Juden hätten sich eben nicht um die „moralische Gleichberechtigung“ mit den Polen bemüht (womit er deren moralische Überlegenheit gegenüber den landfremden deutschen Kolonisatoren impliziert); vielmehr seien sie ihren sozioökonomischen Interessen und ihrem Verwandtschaftsinstinkt gefolgt. Wie wenig realitätshaltig das Stereotyp auch in diesem Falle ist, wird u.a. daran deutlich, dass der Posener Judenheit gerade erst im Jahre 1848 die Freizügigkeit gewährt worden war, für ihre von Kraszewski behauptete Assimilation an die deutsche Metropole also noch keine rechte Gelegenheit gehabt hatte. Indem Kraszewski zudem diese Assimilation an das Deutschtum damit begründet, dass sie so von der privilegierten Stellung ihrer Glaubensgenossen in Preußen hätten profitieren können, biegt Kraszewski die Geschichte der jüdischen Emanzipation zu Zwecken seiner Argumentation zurecht, verkehrt Ursachen und Wirkungen und spricht eben im Stereotyp, nämlich dem des „reichen Juden“, der immer zugleich auch ein „einflussreicher Jude“ ist, unübertroffen darin, mit Seinesgleichen soziale Netzwerke zu knüpfen. Dagegen hatte die sogenannte „bürgerliche Verbesserung des Judentums“ in Preußen die jüdische Bevölkerung mehrheitlich in eine bestenfalls als ambivalent zu bezeichnende Situation versetzt. Das preußische Emanzipationsedikt von 1812 war zunächst für das Großherzogtum Posen nicht übernommen worden.65 Erst während der Amtszeit des Posener Oberpräsidenten Eduard Flottwell (1786–1865, amtierte 1830–1841) erhielten die Posener Juden seit 1833 die Möglichkeit, die bürgerlichen Rechte zu erwerben, unter der Voraussetzung, sich an die deutsche Sprache und Kultur anzugleichen. Erst 1848 erlangten die jüdischen Bewohner die volle bürgerliche Gleichberechtigung. Auch für die jüdischen Gemeinden war die Naturalisierung attraktiv, weil damit der Erlass ihrer Schulden und ihre Zulassung als Korporationen verbunden war und sie auf diese Weise sogar gegenüber jüdischen Gemeinden in anderen Landesteilen Preußens privilegiert waren. Wenn sich also in der Tat die überwältigende Mehrheit der im Posener Gebiet lebenden Juden bis zu Kraszewskis Zeit und vollends bis zur Jahrhundertwende zur Akkulturation an die deutsche Gesellschaft entschloss, dann deswegen, weil sie als vorwiegend stadtsässige Bevölkerung damit ihr ökonomisches Auskommen sicherte und dem allgemeinen Trend der Modernisierung der Judenheit folgte – der in den deutschsprachigen Gebieten die Aufgabe von jiddischer Sprache und Schrift zugunsten der deutschen nahelegte –, und nicht, weil sie dadurch in den Genuss einer besonderen Privilegierung kam. 65 Hierzu und zum Folgenden HOLECZEK, Judenemanzipation, 1981; JERSCH-WENZEL, Geschichte der jüdischen Bevölkerung, 1989; HAUSTEIN, Assimilation, 2002 [1996], KEMLEIN, Posener Juden, 1997; ÖSTREICH, Des rauen Winters ungeachtet, 1997; speziell zur Stereotypisierung der Juden aus polnischer Sicht MOLIK, Posener Juden, 1998; MAKOWSKI, Siła mitu, 2004. Zur besonderen Stellung der Judenheit als einer „transkulturellen“ Gruppe am galizischen Fallbeispiel besonders auch WENDLAND, in diesem Band. 367 Zugleich mussten die Juden im Zuge der Eskalation der nationalen Auseinandersetzungen zwischen Polen und Deutschen erfahren, dass die nationalen Organisationen beider Seiten sich bis zur Jahrhundertwende in eine ausgeprägt antisemitische Richtung entwickelten und Juden meist expressis verbis von der Mitgliedschaft ausschlossen. Beispielsweise waren in dem 1894 gegründeten Deutschen Ostmarkenverein Juden aus diesem Grund praktisch nicht vertreten. In dieser Situation blieben den Juden mehrere Wahlmöglichkeiten. Ein kleinerer Teil entwickelte einen eigenständigen Nationalismus und schloss sich der zionistischen Bewegung an. Ein weitaus größerer Teil wich dem Druck aus, zog nach Mittel- oder Westdeutschland oder emigrierte gleich nach Übersee, was den überproportionalen Rückgang der jüdischen Bevölkerung des Posener Gebiets bis zur Jahrhundertwende erklärt. Diejenigen, die sich trotz allem zum Bleiben entschlossen, hatten ihrerseits zwei Optionen: Entweder sie entwickelten sich zu „Hyperpatrioten“66, die sich durch den Ausweis einer besonders eifrigen preußisch-deutschen Loyalität ihrer eigenen Stellung in der deutschen Gesellschaft zu versichern suchten; bekanntlich verhalf ihnen das aber keineswegs zur Akzeptanz in deutschnationalen Kreisen. Dennoch wurden die Juden auf diesem Wege als angeblich besonders angepasste Deutsche für die Akteure gerade der in Posen starken, antisemitischen Nationaldemokratie zu besonderen Hassobjekten.67 Zur Anpassung an die Staatsnation in Form der Akkulturation oder besonders der Assimilation gehörte dann selbstverständlich auch, die in ihr verbreiteten Stereotypien zu übernehmen, sie zu internalisieren, um durch ihren aktiven Gebrauch im Sprechakt die eigene (gewählte) Gruppenzugehörigkeit zu signalisieren. Oder aber die Juden entschieden sich für die Neutralität, und diese Position zwischen allen Stühlen war wahrscheinlich die unbequemste, die Juden damals überhaupt für sich wählen konnten. Während also die Posener Juden aus Gründen, deren Darlegung unseren Rahmen sprengen würde, trotz Akkulturation oder sogar Assimilation an die deutsche Kultur doch nie recht in der deutschen Gesellschaft anlangten, wurden sie bereits um die Mitte des 19. Jahrhunderts aus polnischer Perspektive unbedingt als deren Bestandteil wahrgenommen. Wir sehen hier die Anfänge des nationalistischen Antisemitismus, der an die Stelle des religiös fundierten Antijudaismus trat, ohne diesen in der polnischen Kultur jemals ganz zu verdrängen. In gewisser Weise lässt sich sagen, dass die Juden seither selbst endgültig zu einem festen Bestandteil des deutsch-polnischen Metastereotyps 66 MAKOWSKI, Polen, 1999, 58-60. Roman Dmowski (1864-1939), der führende Politiker der polnischen Nationaldemokratie, bezeichnete die Juden in einer seiner bekanntesten Publikationen, den „Gedanken eines modernen Polen“, rundheraus als völlig „fremdes Element“, das nach dem Ruin der polnischen Städte und des Bürgertums dieses ökonomisch ersetzt habe; DMOWSKI, Myśli, 1904, 63. Den polnischen Messianismus erklärten manche, so Dmowski ironisch, durch den engen Kontakt der Polen mit den Juden; während diese jedoch „auserwählt zum Schädigen und Ausbeuten anderer“ seien, seien die Polen, um ihnen darin keine Konkurrenz zu machen, auserwählt dazu, „die Geschädigten zu sein“; ebd., 31. Dieser Text liefert ein Beispiel für die Art politischer Publizistik, in der buchstäblich kein einziger Satz ohne Stereotyp auskommt. 67 368 wurden, indem sie pauschal der jeweiligen Fremdgruppe zugeordnet und so mit zwangsläufig entgegengesetzten Attributen ausgestattet wurden: Während die Juden in polnischer Sicht deswegen latente Gegner (Kraszewski: „eine Polen gegenüber ablehnende Haltung“) darstellten, weil sie der deutschen Gesellschaft angehörten, blieben sie für die Deutschen das – besonders im Falle der Posener Judenheit zunehmend realitätsferne – Sinnbild der Fremdartigkeit und Exotik des Ostens, das um die Wende zum 20. Jahrhundert fließend in die hasserfüllten Projektionen des Rassenantisemitismus auf die sogenannten „Ostjuden“ überging.68 Die Bildung des innerpolnischen Metastereotyps vom polnischen Posener lässt sich insgesamt quasi als spiegelbildliche Parallelgeschichte zur Entwicklung des preußisch-deutschen Polenstereotyps wie auch des deutschen Autostereotyps schreiben, die zugleich ein genauer Gegenentwurf zu der Rede von der „polnischen Wirtschaft“ war.69 Es bedarf schon einer subtilen Argumentation, um bei der Analyse der Selbststereotypisierung des polnischen Poseners im Verhältnis zur realgeschichtlichen Entwicklung nicht in die Falle des kernel-oftruth-Theorems zu geraten, also des „Körnchens Wahrheit“, das angeblich doch vielen Stereotypen eigne.70 Denn es sind vermutlich nicht so sehr die angesprochenen Aspekte der pragmatischen Einstellung und systematischen Aufbauarbeit, die den polnischen Posenern polenweit den Ruf besonders praktisch veranlagter und organisationsbegabter Menschen verschafften, als vielmehr die bewusste Selbststilisierung, die dem Posener Autostereotyp und dem innerpolnischen Heterostereotyp des polnischen Poseners zugrunde lag. Nur insoweit ist an dieser Stelle zumindest eine enge Verzahnung von soziokulturellen Realien und Stereotypisierung anzunehmen. Dabei stellt sich allerdings auch die Frage, inwiefern sich das Autostereotyp hier wie generell möglicherweise im Sinne einer selffulfilling prophecy auswirkt. Ist es so, bleibt das Stereotyp immer noch ein Stereotyp, denn es geht der behaupteten Tatsache zeitlich voraus; anders gesagt, nicht die Wirklichkeit schafft das Stereotyp, sondern dem Stereotyp wohnt ein wirklichkeitsprägendes Potential inne, was nur noch einen weiteren Aspekt der Formung von Realität durch Sprache belegen würde. Festzuhalten ist jedenfalls, dass spätestens um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ein ausgeprägtes großpolnisches Metastereotyp vorhanden war, wie es beispielsweise von Adolf Warschauer (1855–1930), dem Posener Historiker und Archivar und Vorsitzenden der dort ansässigen Historischen Gesellschaft, in einer Anekdote überliefert ist. Als sich Warschauer 1903 zu Archivstudien in Warschau aufhielt, quartierte er sich zur Verbesserung seiner polnischen Sprachkenntnisse in einer von polnischen Adligen 68 Zur Rolle der Juden bei der weiteren Exotisierung und Nostalgisierung des deutschen Bilds des Ostens auch WENDLAND, in diesem Band. 69 Weitere zeitgenössische Textbeispiele aus dem 19. und 20. Jahrhundert besonders in: Etos Wielkopolan, 2005; dazu auch MATELSKI, Großpolener, 2001. 70 Was es aber eben nicht tut. Denn was das Stereotyp erst zum Stereotyp macht, ist die Struktur der Zuschreibung von kontingenten Eigenschaften zu einer Gruppe (s.o. Abschnitt 2), die im logischen Sinne niemals wahr sein kann. 369 frequentierten Pension ein und nahm am dortigen Mittagstisch teil. Folgendes weiß Warschauer in seinen 1926 erschienenen Memoiren über ein bei dieser Gelegenheit stattfindendes Gespräch zu berichten: Sehr unterrichtend war es mir auch, auf einen gewissen Gegensatz in den Anschauungen zwischen den preußischen und den Kongreßpolen zu stoßen. Die letzteren bestritten jenen halb im Scherz, halb im Ernst, daß sie noch als richtige Polen angesprochen werden könnten, da sie, dem Einfluß der preußischen Regierung unterliegend, in ihrem Auftreten und ihrer Lebensführung von der altpolnischen Art abgewichen wären und die preußische angenommen hätten. Die Posener Polen bekämpften dies aufs energischste und wiesen den Vorwurf der Abkehr von ihrem Volkstum weit von sich, hoben aber doch die preußischen Eigenschaften der Sparsamkeit, Ordnung und Pünktlichkeit als vorbildlich hervor, und diejenigen, welche im Heere gedient hatten, sprachen mit Genugtuung über ihre Dienstzeit und über alles, was sie an körperlicher Widerstandsfähigkeit gewonnen und an sittlicher Zucht gelernt hätten.71 Diese Textpassage allein könnte zum Gegenstand einer umfassenden Detailanalyse der verwickelten Beziehungen zwischen Aut