Wellenschläge. Kulturelle Interferenzen im östlichen Mitteleuropa

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Wellenschläge. Kulturelle Interferenzen im östlichen Mitteleuropa
Wellenschläge. Kulturelle
Mitteleuropa
des langen 20. Jahrhunderts
Hg. v. Ute Raßloff
Interferenzen
im
östlichen
Inhalt
Vorwort
8
Winfried Eberhard
Langfristige Strukturen Ostmitteleuropas als Vorraussetzung für kulturelle Interferenzen.
Eine historische Einführung
9
Anna Veronika Wendland
Galizien als Referenzraum kultureller Interferenz
1. Kulturelle Interferenz und ihre Räume:
Problemstellungen und Diskussionen
1.1 Die Begriffe
1.2 Galizien
1.3 Interferenzräume zwischen Modediskurs, politischer
Kontroverse und wissenschaftlicher Begründung
1.4 Wer spricht im Interferenzraum – und wer macht ihn? Das galizische Beispiel
2. Interferenz, Mobilisierung, Urbanität: Die Rolle des städtischen Raumes
2.1 Interferenz auf dem Land und in der Stadt
2.2 Die Bedeutung der urbanen Erfahrung: Lemberg im 20. Jahrhundert
2.3 Galizien – ein Sonderfall?
3. Zeitlosigkeit vs. Historizität
3.1. Historische Präfigurationen des Interferenzraums Galizien
3.2 Interferenz und Konflikt – Konflikt als Interferenz
3.3 Interferenz und Segregation in der Zwischenkriegszeit
3.4 Die Transformation der urbanen Raumbilder
4. Postkoloniale Ansätze und Interferenz
4.1 Kulturelle Differenzen und Hierarchien
4.2 Macht und Recht
4.3 Kulturelle Essentialisierung und Selbstindigenisierung
vs. ökonomische Integration
4.4 Gewalt
5. Schlussbemerkung
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Lenka Řezníková
Suche nach Differenzen als Interferenzprozess. Praktiken der nationalen
Abgrenzung in Prag um 1900
1. Multiethnisch oder multikulturell?
2. Aspekte der Imaginierung Prags um 1900
3. Lust auf Unterschiede?
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4. Das Wesen interethnischer Differenzen: Konstruktionscharakter,
Relativität, Nichtrepräsentativität
5. Modellbildende Räume der Konstruktion von Unterschieden:
Historiographie und Ethik
6. Topik der sozialen Differenz
7. Die Ethnisierung der Sprache
8. Tres faciunt collegium
9. Weitere Typen von Differenz
10. Differenz und Grenzziehung
11. Sprachgrenze als Modell?
12. Die Metapher der Kreuzung
13. Die Tschechen – pragmatische Perspektive – funktionale Grenze
14. Grenzüberschreitung als Interferenzprozess
15. Entstehung einer neuen Qualität als Interferenzprozess
16. Am Nullpunkt. Schlussbemerkungen
Borbála Zsuzsanna Török
Die Kunst, provinziell zu sein: Siebenbürgische Landeskunde als Wissenschaft
und literarische Fiktion
1. Einführung
2. Die Wilden im eigenen Land: Darstellungen der regionalen Gesellschaft
in der Landeskunde der Aufklärung
3. Der Wilde als soziale Metapher: „Die Ziganiade“
4. Die nationale Kartierung Siebenbürgens im 19. Jahrhundert
5. Von der realen zur symbolischen Verortung: Siebenbürgen
als Land des Dracula
6. „Totale Verrücktheit“: Die Erosion der nationalen Taxonomie
während des Kommunismus
7. Der Schock des Alten: Neugestaltung der nationalen
Verortung nach dem Zusammenbruch des Kommunismus
Gabriela Kiliánová
Tod und Tödin in Medzev. Interferenzen der kulturellen Repräsentation in
einem mehrsprachigen Kommunikationsraum
1. Einleitung: Begriffe, Material und Methode
2. Personifikationen des Todes in slowakischen und deutschen
Narrativen in der Slowakei
3. Slowakischsprachige Erzählungen mit Todespersonifikationen
aus dem 19. und 20. Jahrhundert
4. Die Gestalt des Todes in deutschsprachigen
Erzählungen in der Slowakei
5. Vergleich der slowakisch- und der deutschsprachigen
Überlieferung aus dem 20. Jahrhundert
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6. Medzev
7. Feldforschung in Medzev
8. Die Stadt als mehrsprachiger Raum
9. Die kulturelle Repräsentation der Gestalt des Todes in Medzev
10. Die Personifikation des Todes in der slowakischsprachigen Gruppe
11. Die Personifikation des Todes in der deutschsprachigen Gruppe
12. Die kulturelle Repräsentation des Todes bei Slowaken und Mantaken
in Medzev
13. Schlussbemerkung
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Laura Hegedüs
Grenz(ver)handlungen und Grenz(er)findungen im
Kontaktraum Burgenland und Westungarn –
Repräsentationen eines Raumes
1. Zur Einführung
2. Auf der anderen Seite
2.1 Nachdenken über Grenzen und Grenzzeichen
2.2 Grenzen – Von der Be-grenzung eines Begriffs
3. Geographische, politische und sozio-kulturelle Verschränkungen
einer Grenzregion: Burgenland und Westungarn als Kontaktraum
4. Grenzen verhandeln – Grenzen überschreiten.
Theoretische Grundlagen
4.1 Soziologische Zugänge
4.2 Semantisch-semiotischer Hintergrund
4.3 Narrative Entwürfe von Grenzen
4.4 Das Subjekt als Vermittler zwischen sozialem und erzähltem Raum
5. Grenzverschränkungen im erzählerischen Raum:
Vier Grenzerzählungen
5.1 Grenzverschiebung und Sprachwechsel – Helene Flöss: Brüchige Ufer
5.2 Grenzüberwindung und Verlusterfahrung – Agota Kristof: Das große Heft
5.3 Grenzüberschreitung und Identitätswechsel –
Terézia Mora: Seltsame Materie
5.4 Grenzverletzung und Verbrechen – Gerhard Roth: Der See
6. Fazit – Literarische Grenzverhandlungen.
Der Kontaktraum als Interferferenzraum
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Matteo Colombi
Vom klassischen zum plastischen Karst.
Darstellungswege in einem kulturellen Interferenzraum
1. Karstlandschaft
1.1 Klassischer Karst
1.2 Plastischer Karst
2. Repräsentation I: Geschichtsschreibung
2.1. Fokus-Karst
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2.1.1 Chronologie des Narrativs
2.1.2 Struktur des Narrativs
2.2 Kraken-Karst
3. Karstuntergrund I: Interkultureller und transkultureller Karst
4. Repräsentation II: Reisetexte
4.1 Nebeneinander-Karst
4.2 Gegeneinander-Miteinander-Karst
4.3 Ineinander-Karst?
5. Karstuntergrund II: Ciao-fanti-Karst
6. Repräsentation III: fiktionale Literatur
6.1 Einzelgänger-Karst
6.2 Heimat-Karst
7. Interferenzkarst (Fazit)
Andreas R. Hofmann
Neuer Besuch bei alten Nachbarn. Ein Essay
über das Metastereotyp in der Geschichte des Posener Gebiets
1. Einleitung
2. Das Stereotyp als Material einer deutsch-polnischen
Beziehungs- und Verflechtungsgeschichte
3. Anfänge der deutsch-polnischen Stereotypisierung und der unsichtbare Dritte
4. Die Nationalisierung des Stereotyps
5. Exkurs: Gibt es ein visuelles Stereotyp?
Die Stereotypisierung von Bildern und Realien
6. Was bleibt – ein Witz?
Das Stereotyp als Phänomen der histoire lentement rhythmée
7. Fazit
Ute Raßloff
Bier oder Käse?. Transformationen des Karpatenräubers Juraj Jánošík
als Symptome kultureller Interferenz
1. Jánošík als transnationaler Erinnerungsort
2. Der westliche Karpatenraum als kultureller Interferenzraum
3. Identitäten, Codes, Interferenzen, Topoi
4. Jánošík historisch
5. Ebenen der Interferenz im Topos Jánošík
6. Legendenbildung – Jánošík als interferenzieller Code
in Bild und Wort
7. Der slowakische Jánošík im 19. Jahrhundert. Subversion und Integration –
ein Gesetzloser wird zum Volks- und Nationalhelden
8. Der tschechische Jánošík – Aneignung der Slowakei,
Exotisierung, ethnische Codierung
9. Tschechisch-slowakischer Jánošík und die Avantgarde.
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Nationale Codierung in Wort und Bild
10. Popularisierung durch den tschechoslowakischen Film
11. Der polnische Janosik: Die Frauen und das Verderben
12. Spaltungen: Entweder – oder
13. Übersetzung, Transgression: Sowohl – als auch
14. Kooperation – Eine wahre Geschichte
15. Alternation und Interferenz
16. Zusammenfassung: Interferenz als Zeichenprozess
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6
Vorwort
Dieses Material entstand als Ergebnis des Projekts „Reflexion kultureller
Interferenzräume. Ostmitteleuropa im 20. Jahrhundert“, das von 2007 bis 2010 am
Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas
(GWZO) in Leipzig angesiedelt war. Es wurde durch das Bundesministerium für
Bildung und Forschung im Rahmen des Programms „Geisteswissenschaften im
gesellschaftlichen Dialog“ unter dem Themenschwerpunkt „Europa – Kulturelle
und soziale Bestimmungen Europas und des Europäischen“ gefördert.
Leitgedanke der Untersuchungen war die Frage, wie Akteure mit der in
Ostmitteleuropa
langfristig
gewachsenen
sprachlichen,
ethnischen,
nationalkulturellen und konfessionellen Pluralität im 20. Jahrhundert vor Ort
umgingen, als diese Strukturfaktoren dramatischen Veränderungen ausgesetzt
waren. Die international zusammengesetzte und interdisziplinär arbeitende
Forschergruppe entschied sich gezielt für solche Orte auf der Landkarte – Dörfer,
Städte, Regionen und Grenzgebiete –, deren Geschichte und Kultur sich mit
homogenisierenden Kulturmodellen nicht angemessen beschreiben lassen. Die
Gruppe untersuchte Literatur, orale Traditionen und visuelle Artefakte als
Medien, in denen sich kulturelle Interferenzen auf der Zeichenebene
niederschlagen.
Die in den Einzelstudien analysierten mannigfaltigen Identitätsprozesse
werden unter der Metapher der kulturellen Interferenz zusammengeführt. Damit
sind vielfältige Überlagerungen, Durchdringungen und wechselseitige
Beeinflussungen von symbolischen Ordnungen, Verhaltens- und Wertesystemen
oder einfach von diversen Zugehörigkeiten gemeint. Im Zeitalter von Migration
und Globalisierung sind Konstellationen der kulturellen Interferenz allerorts und
in wachsendem Maße zu beobachten. Aufgrund seiner langfristigen kulturellen
Pluralitätsstrukturen erweist sich aber gerade Ostmitteleuropa als ein besonders
geeignetes Untersuchungsfeld für dieses Phänomen.
Leipzig, im Dezember 2012
Ute Raßloff
8
Winfried Eberhard
Langfristige Strukturen Ostmitteleuropas als Vorraussetzung
für kulturelle Interferenzen. Eine historische Einführung
Ostmitteleuropa ist nach heutigem wissenschaftlichen Verständnis eine
Geschichtsregion, d.h. eine aus historischen Beobachtungen und Vergleichen
konstruierte
Region
Europas
mit
lang
wirkenden
gemeinsamen
Strukturmerkmalen und -problemen. Gegenüber der Vorstellung, eine solche
Konstruktion sei interessengeleitet, willkürlich oder gar fiktional, ist zunächst zu
betonen, dass Geschichtswissenschaft und Geschichtsschreibung wie auch andere
Wissenschaften in ihren Deutungen und Ergebnissen immer und
erkenntnistheoretisch unausweichlich (Re-)Konstruktionen darstellen, wie man
seit den Auseinandersetzungen um Historismus und Hermeneutik weiß. Damit ist
selbstverständlich auch die Geschichtsregion eine Konstruktion, besser gesagt: ein
Deutungsmodell. Um nicht Fiktion oder politisches Plädoyer zu werden, ist dieses
Modell wissenschaftlich sachlich und plausibel zu begründen. Damit ist es zwar
beabsichtigt kritisierbar und falsifizierbar. Es vermeidet aber als
wissenschaftliches, durch sachlich belegbare Vergleiche gewonnenes Modell,
dass es durch Interessen und Politik vorgegeben und damit manipulierbar wird,
wie etwa die mythifizierten Geschichtskonstruktionen der Nationalbewegungen1
oder die interessengeleiteten Mitteleuropakonzeptionen2 der ersten Hälfte des 20.
Jahrhunderts.
Überdies sind es keineswegs geographische Grenzen und auch nicht politische
Reichsbildungen und Imperien, sondern eben „nur“ die erwähnten historisch
gewachsenen, gemeinsamen Strukturfaktoren mit ihren weitreichenden
Konsequenzen, die das östliche Mitteleuropa zwischen Ostsee und Adria als
Geschichtsregion konstituieren.3 Dieser Ostmitteleuropa-Begriff und dieses
strukturale Verständnis sind inzwischen mehrfach begründet und entfaltet worden,
gerade auch für das Forschungsprogramm des GWZO.4 Entwickelt wurde dieser
wissenschaftliche Ostmitteleuropabegriff vor allem durch die struktural
vergleichenden Analysen und Entwürfe von Oskar Halecki, Werner Conze, Klaus
Zernack und Jenő Szücs.5 Es geht dabei um eine an konkreten, geschichtlich
1
ZACH, Balkan, 2004, 327 und 339.
Vgl. Anm. 4.
3
LE RIDER, Mitteleuropa, 1994, 7; KREFT, Das östliche Mitteleuropa, 1996, 6. – Zum
Verständnis des Begriffs der Geschichtsregion STROHMEYER, Historische Komparatistik, 1999;
TROEBST, Vom spatial turn zum regional turn?, 2007.
4
EBERHARD, Ostmitteleuropa, 2003, 73–80; DERS, Ostmitteleuropa, 2007; Geschichte und
Kultur Ostmitteleuropas, 1998; BAHLCKE, Ostmitteleuropa, 1999.
5
HALECKI, The Limits and Divisions of European History, 1950; CONZE, Ostmitteleuropa,
1992; ZERNACK, Osteuropa, 1977; SZŰCS, Die drei historischen Regionen Europas, 1990. Diese
2
9
gewordenen Strukturen beobachtete Geschichtsregion, nicht um eine abstrakte
Modellvorstellung
wie
etwa
das
Zentrum-Peripherie-Modell
der
Modernisierungstheorie. Dabei ist allerdings zu beachten, dass die historischen
Strukturen – eben weil sie historisch sind – nicht als essentialistisch und
unwandelbar zu betrachten sind. Vielmehr sind auch jeweils epochenspezifische
neue Strukturen und das Zurücktreten von alten zu beachten – bei aller Konstanz
von anderen.6 Ja, theoretisch und begriffsnotwendig kann eine Geschichtsregion
auch ihr Ende finden.
Der vorliegende Band greift mit seinem Thema der kulturellen Interferenzen
und Interferenzräume wesentliche Strukturfaktoren Ostmitteleuropas auf und zielt
gleichsam ins Zentrum des Begriffs. Denn für kulturelle Transfers und
Interaktionen, Durchdringungen und Verflechtungen bietet das östliche
Mitteleuropa ein herausragendes Untersuchungsfeld7 von – bei allem Wandel
einzelner Faktoren – bemerkenswerter Konstanz vom Mittelalter bis ins 20.
Jahrhundert. Seine Kulturkontakte und -transfers richteten sich dabei
grundsätzlich in alle Himmelsrichtungen.8 In ihrer Verflechtungsvielfalt und –
dichte sowie in deren zeitlicher Kontinuität übertrifft diese Region die Alpen und
Pyrenäen und sogar den Mittelmeerraum. So konnte Krista Zach, jedenfalls mit
Blick auf den Süden Ostmitteleuropas, zu Recht feststellen:
Keine andere Region in Europa weist seit dem Hochmittelalter und bis heute
noch eine ähnliche Vielfalt der Kulturalität in Sprache, Ethnikum oder
Konfession und der siedlungsbedingten Streuung wie Verschränkung der
Kulturen auf. Vielfalt und Verschränkung bilden, historisch betrachtet, die
Dominanten in der Kulturgeschichte des östlichen und südöstlichen Europa.9
Auf einige historische Grundlagen von solchen Überlappungen
Verschränkungen sollen sich die folgenden Überlegungen beschränken.
und
Einen der auffälligsten strukturbildenden Faktoren Ostmitteleuropas, der auch
dem Nichthistoriker meist unmittelbar einsichtig ist, bildet sein ethnischer
Pluralismus.10 Gerade weil der Begriff des Ethnischen so unmittelbar
einleuchtend erscheint, ist jedoch gegen Missverständnisse zu betonen, was oben
Verwissenschaftlichung setzte sich dezidiert ab vom politisch instrumentalisierten Verständnis
Mitteleuropas in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: LE RIDER, Mitteleuropa, 1994, 121–147;
Mitteleuropa-Konzeptionen, 1995.
6
ZERNACK, Nordosteuropa, 1993, 21.
7
NIENDORF, Mehr als eine Addition von Nationalhistoriographien, 2000, 102 f. postuliert als
Aufgabe des Faches Osteuropäische Geschichte, die vielfältigen Verflechtungen in der Geschichte
dieser Region aufzugreifen und zu analysieren, und zwar mit dem Ziel einer Modell- und
Theoriebildung interethnischer Prozesse.
8
Ebd., 9 („Kontakt- und Durchdringungszone“); DERS., Osteuropa, 1977, 33–41;
Westmitteleuropa – Ostmitteleuropa, 1992, 15–16.
9
ZACH, Balkan, 2004, 326.
10
NIENDORF, 2000, 102. – Zu den länderübergreifenden ethnischen Gruppen: Studienhandbuch
östliches Europa I, 1999, 449–490.
10
schon zu den historischen Strukturen und zur Geschichtsregion gesagt wurde: Er
ist nicht essentialistisch aufzufassen, sondern sprachlich-kulturell bestimmt. Das
bedeutet, dass das Ethnos ein wandelbares Phänomen ist und sich durch
Kulturtransferprozesse und sprachliche Assimilation verändern kann. Meist ist das
ethnische Merkmal einer Bevölkerungsgruppe auch gesellschaftlich geprägt oder
verstärkt, so dass soziale Mobilität auch eine ethnische Mobilität (Veränderung)
zur Folge haben kann. Überdies ist zu vermeiden, dass Ethnien – wie es seit dem
18. Jahrhundert üblich war – unter dem Paradigma von Fortschritt und
Modernisierung nach zivilisatorischem Gefälle eingeordnet und gewertet werden.
Der ethnische Pluralismus Ostmitteleuropas wurde zunächst11 vor allem durch
den Prozess des Landesausbaus im 13. Jahrhundert grundgelegt, als die Fürsten
und Könige Polens, Böhmens und Ungarns sowie der deutsche Orden zur
Ressourcensteigerung Siedler und Mönche aus dem westlichen Mitteleuropa
anwarben, wo die Möglichkeiten der Binnenkolonisation dem demographischen
Aufschwung nicht mehr entsprechen konnten.12 Die – im Allgemeinen deutschen
– Neusiedler brachten neue Agrar- und Bergbautechniken und neue Verfahren der
Anlage und Organisation von Dorf- und Stadtsiedlungen mit und erhielten als
Anreiz neue Freiheiten und ihr eigenes Recht, das ius teutonicum13, das aber in
der Folge vielfach auch auf slawische Siedlungen übertragen wurde und eine
gewisse gemeindliche Selbstverwaltung erlaubte. Dies erbrachte in etwa 150
Jahren im Ergebnis erstens eine rasche Modernisierung östlich von Elbe und
Oder, Böhmerwald und Leitha und eine zweite, entscheidende Stufe des
kulturellen Ausgleichs mit dem westlichen Mitteleuropa.14 Zweitens prägte nun
nicht nur die ethnische Pluralität (zunächst meist Dualität) die Länder
Ostmitteleuropas, sondern darüber hinaus erhielten manche zuvor kaum besiedelte
Regionen, wie die Ränder Böhmens und Mährens oder Teile Schlesiens und
Siebenbürgens, ein ganz deutschsprachiges Gepräge.
11
Abgesehen von einer gewissen Zuwanderung von Adeligen und Mönchen schon im 10./11.
Jahrhundert im Gefolge einer ersten Stufe kultureller Angleichung durch die Integration der
Zentralländer Ostmitteleuropas in die lateinische Christenheit um die Jahrtausendwende.
12
Als historische Grundlage des östlichen Mitteleuropa sieht LE RIDER, Mitteleuropa, 1994, 26
die mittelalterliche Ostsiedlung. – Zu Landesausbau und Siedlungsbewegung des 12. bis 14.
Jahrhunderts CONZE, Ostmitteleuropa, 1992, 58–104; KUHN, Vergleichende Untersuchungen,
1973; Die deutsche Ostsiedlung des Mittelalters, 1975; dieser Konferenzband signalisierte eine
Wende von der Sicht der „deutschen Ostkolonisation“ zur vergleichenden Wahrnehmung eines
europäischen Landesausbaus. Der heute vorherrschende Begriff „Landesausbau“ betont die
Initiative der einheimischen Fürsten und Adeligen bei der Besiedlung. – SEIBT, Die deutsche
Siedlung, 1983; HIGOUNET, Die deutsche Ostsiedlung, 1990; PISKORSKI, Die mittelalterliche
Ostsiedlung, 1997; DERS., The Historiography, 1999. – Die aktuelle Sichtweise vermittelt LÜBKE,
Das östliche Europa, 2004, 333–364; zur ethnischen Vielfalt in Landesausbau und Besiedlung ebd.
365–376; HARDT, Von der Subsistenzwirtschaft zur marktorientierten Produktion, 2008. – Sehr
gute Zusammenfassung der Gesamtentwicklung des Landesausbaus in Ostmitteleuropa bei
GÜNDISCH, Deutsche, 1999, 456–459.
13
Zum Begriff LÜBKE, Das östliche Europa, 2004, 360 f.
14
LE RIDER, Mitteleuropa, 1994, 26; SZÜCS, Die drei historischen Regionen Europas, 1990, 47–
49; DRALLE, Die Deutschen, 1991, 43–102.
11
So kamen schon seit dem 12. Jahrhundert bäuerliche Siedler aus Österreich in
die wenig erschlossenen Regionen Südböhmens und Südmährens, oder aus der
Oberpfalz und dem Egerland nach Nordwestböhmen. Im 13. Jahrhundert wurden
Nordostböhmen und Nordmähren von der Mark Meißen und der Oberlausitz aus
besiedelt, der Böhmerwald aus Bayern und der Oberpfalz und das Egertal aus
Franken und Sachsen. Sprachinseln entstanden in und um die Bergbaustädte Iglau
und Kuttenberg, um Olmütz und Ungarisch Hradisch (Südostmähren). Die
Neuanlage und der Ausbau von Städten und deren Umorganisation zu neuem
Recht (ius teutonicum) förderte in Böhmen insbesondere König Přemysl
Ottokar II. durch Werbung und Privilegierung von Siedlern aus der deutschen
Nachbarschaft.15 Die deutsche Kaufmannsiedlung in Prag war bereits im 12.
Jahrhundert von Herzog Soběslav mit eigenen Freiheiten ausgestattet worden und
wurde nach weiterem deutschem Zuzug maßgeblich für die Stadtwerdung Prags.16
In Polen wurde die ländliche Besiedlung durch deutsche Zuwanderer vor
allem im Westen organisiert, in Schlesien und Großpolen. Im Übrigen waren hier
Fremde – Deutsche, Flamen, Italiener – insbesondere an der Neuanlage und organisation von Städten beteiligt.17
In das Reich der Stephanskrone war Siebenbürgen bereits in der ersten Hälfte
des 11. Jahrhunderts einbezogen. Hier in den südöstlichen Grenzgebieten wurden
dann seit dem 12. Jahrhundert zur militärischen Sicherung „hospites“
(Gastsiedler) angesiedelt18 – so vor allem, neben den Széklern („schwarze
Ungarn“), Deutsche, die sogenannten Sachsen, die 1224 von König Andreas in
einer Goldenen Bulle bedeutende Selbstverwaltungsprivilegien erhielten. Weitere
deutsche Siedler folgten nach dem Abzug der Mongolen im 13. Jahrhundert, so
dass die entstehenden handels- und gewerbestarken Städte, die sich in einem Bund
zusammenschlossen, im Wesentlichen deutsch geprägt waren. Mit den Széklern,
dem ungarischen Adel und den Gebieten und Städten der Sachsen entstand in
Siebenbürgen so eine spezifische ethnische Gemengelage, die überdies
topographisch ganz unübersichtlich verschränkt war.19 Eine politische
Überlagerung und Überlappung ergab sich außerdem aus der Notwendigkeit des
Zusammenhandelns der im 15. Jahrhundert gebildeten „Universitas“ der drei
genannten
„Nationen“20,
etwa zur Türkenabwehr oder in
den
15
HOENSCH, Geschichte Böhmens, 1992, 98–102; SEIBT, Die deutsche Ostsiedlung, 1983;
SCHLESINGER, Die böhmischen Länder, 1963.
16
LÜBKE, Das östliche Europa, 2004, 366; LEDVINKA/PEŠEK, Praha, 2000, 80–82.
17
BOGUCKA, Das alte Polen, 1983, 47; HOENSCH, Geschichte Polens, 1990, 42–45; LÜBKE, Das
östliche Europa, 2004, 362–364.
18
ZSOLDOS, Le Royaume de Hongrie, 2003, 68 f.; zu Siebenbürgen LÜBKE, Das östliche
Europa, 2004, 375.
19
Zur Entwicklung Siebenbürgens ROTH, Siebenbürgen, 1999; DERS., Kleine Geschichte, 1999;
GÜNDISCH, Siebenbürgen, 1998; BAUMGÄRTNER, Welt im Aufbruch, 2008. – Zu den Städten
GÜNDISCH, Das Patriziat, 1993; ROTH, Hermannstadt, 2006.
20
ZACH, Nation und Konfession, 2004, 21 und 30–33. – Zur politischen Situation in der
Frühneuzeit DIES., Fürst, Landtag und Stände, 2004, 49–69.
12
Konfessionskonflikten. Neben diesen privilegierten Gemeinschaften gehörten
zum ethnischen Ensemble Siebenbürgens auch die (orthodoxen) rumänischen
(walachischen) Hirten und Bauern, die jedoch politisch nicht repräsentiert waren
und erst um 1700 durch eine Union mit Rom teilweise zu gesellschaftlicher
Anerkennung und sozialem Aufstieg gelangten.21
In der Epoche des mittelalterlichen Landesausbaus war den ungarischen
Königen insbesondere am Ausbau und an der Förderung des Städtewesens
gelegen. So entwickelten auch in Oberungarn und der Zips, der heutigen
Slowakei, deutsche „hospites“ – zur Grenzsicherung im Nordosten des Reiches
angesiedelt – seit dem 12. Jahrhundert ein dichtes Städtenetz und den Bergbau.
Obwohl seit dem 15. Jahrhundert auch Slowaken in diesen, ähnlich wie in
Siebenbürgen, mit weitreichenden Selbstverwaltungsprivilegien ausgestatteten
Städten Aufnahme fanden, blieb das Stadtbürgertum doch deutsch geprägt, die
Landbevölkerung weitgehend slowakisch, in der Zips auch deutsch – neben dem
ungarischen Adel, dem sich der slowakische assimiliert hatte.22 Damit ergab sich
in Oberungarn eine mit Siebenbürgen vergleichbare Überlagerung der ethnischen
und gesellschaftlichen Gruppierung. Dies vor dem 19.Jh. als nationalen Gegensatz
begreifen zu wollen, wäre jedoch verfehlt; Sprache diente hier wie sonst in
Ostmitteleuropa als Ausdruck ständischer Unterschiede; oder anders: Die Sprache
trennte gesellschaftliche Gruppen, hier den ungarischen Adel vom deutschen
Bürgertum und den slowakischen Bauern.23
Im Hinblick auf die ethnisch-sozialen Überschichtungen und Probleme in der
weiteren Geschichte Ostmitteleuropas vor allem auch im 19./20. Jahrhundert ist
aber schließlich vor allem auf die gesellschaftliche Bedeutung der neuen Siedler
in der Epoche des Landesausbaus hinzuweisen. Die Zugewanderten wurden
nämlich infolge ihres technisch-organisatorischen Erfahrungswissens und ihrer
besonderen Freiheiten nicht nur in dörflichen Bereichen, sondern auch in den
neugegründeten oder zu neuem Recht umorganisierten Städten, in denen sie meist
den Handel oder den Bergbau beherrschten, vielfach zur gesellschaftlichen
Oberschicht – wie etwa in Prag, Brünn, Olmütz, Lemberg, Posen, Krakau, Buda
und anderen ungarischen königlichen Freistädten, in den Städten Oberungarns und
Siebenbürgens oder in und um die mährische Bergbaustadt Iglau.24 Diese
ethnisch-soziale Grenze führte in den Städten bereits im Spätmittelalter teilweise
zu gesellschaftlichen Spannungen und verschob sich schon damals, aber auch im
16. Jahrhundert allmählich nach oben, indem die slawische Bevölkerung aus
sozialem Aufstieg auch zu politischer Partizipation gelangte.25 Der ethnische
21
GYÁRFAS, Die Union, 2007, 137–156; BITAY, Die Rumänen, 2007.
PUTTKAMER, Slowakei/Oberungarn, 1999, 379 f.
23
HELMEDACH, Slowenien, 1999, 389.
24
Zur ethnischen Vielfalt in Polen-Litauen um 1500, zumal auch in den Städten, und ihrer
Veränderung grundlegend: SAMSONOWICZ, La diversité ethnique, 1995. – In Krakau durften im
13. Jahrhundert keine Polen als Bürger aufgenommen werden, um die ländliche Siedlung nicht zu
schwächen: LÜBKE, Das östliche Europa, 2004, 362–364.
25
Zu den Konflikten SAMSONOWICZ, La diversité ethnique, 1995, 10 und 13; LÜBKE, Das
östliche Europa, 2004, 370–374. – Ein deutliches Beispiel für den sozialen Aufstieg der
22
13
Dualismus wirkte sich aber nicht immer nur in akuten Konflikten aus, wie im
hussitischen
revolutionären
Prag
1419/20,
sondern
auch
in
Assimilationsprozessen wie etwa in der Polonisierung der Deutschen in Krakau
und anderen Städten im 15./16. Jahrhundert.26 Im Allgemeinen aber blieb die
ethnische Pluralität in Ostmitteleuropa grundsätzlich prägend bis ins 20.
Jahrhundert. Sie wurde in der Frühneuzeit nicht als nationaler Gegensatz, sondern
eher als sozialer, gelegentlich auch als konfessioneller Unterschied empfunden.
Erst seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter den modernen Vorzeichen
nationaler Loyalitäts- und Identitätsforderungen steigerte sich ethnische Pluralität
oder Dualität zum dauerhaften Konfliktverhältnis.27
Ethnische Vielfalt war jedoch nicht nur ein Ergebnis der Siedlerwerbung im
Landesausbau, sondern auch der mittelalterlichen Expansion der
ostmitteleuropäischen Königreiche, so vor allem Ungarns und Polens, aber auch
der österreichischen Länder. Diese Expansion war allerdings immer auch mit
Landesausbau und so mit Zuzug fremder Siedler verbunden.
In das Reich der Stephanskrone wurden – nach Siebenbürgen in der ersten
Hälfte des 11. Jahrhunderts – bereits im 12. Jahrhundert Slawonien, Kroatien und
Dalmatien einbezogen (bis 1918), womit das slawische Ethnicum des Reiches
neben den Slowaken Oberungarns bedeutend verstärkt wurde.28
Auch im heutigen Slowenien und in Istrien waren es Expansionsprozesse, die
seit der slawischen Einwanderung um 600 in mehreren Stufen die Region ethnisch
pluralisierten. Zunächst wurde dieses Gebiet Ende des 8. Jahrhunderts in das
Frankenreich eingegliedert, das seine Südostgrenze durch von außen eingesetzte
Grafen kontrollieren ließ und unter den Ottonen durch Marken sicherte (Mark
Krain, Windische Mark). Gefördert durch die Sicherheit unter der Herrschaft des
ostfränkischen Reiches siedelten sich in Istrien in der Folge weitere Slawen aus
den fränkisch-bayrisch beherrschten Nachbarregionen an. Die Mark Krain und die
Windische Mark kamen im 13. Jahrhundert an die Grafen von Görz, im 14.
Jahrhundert dann zusammen mit Kärnten auf Dauer an die Habsburger, die ihre
Herrschaft bis an die Adria erweiterten (Grafschaft Duino) und allmählich, 1518
auch endgültig, Görz einbezogen. Auch Triest hatte sich gegen das ausgreifende
slawischen Stadtbevölkerung in Konkurrenz zur deutschen Führungsschicht bildet Prag im 14. bis
Anfang des 15. Jahrhunderts: MEZNÍK, Praha, 1990, 49–174. – Zu den Begegnungen von Slawen
und Deutschen durch den Landesausbau, zu dessen Wirkungen sowie zu den Fragen der
ethnischen Integration und Segregation bietet WÜNSCH, Deutsche und Slawen, 2008, 54–64, 91–
101, 115–117 und 124–128 einen sehr guten aktuellen und interpretierenden Forschungsüberblick.
26
SAMSONOWICZ, La diversité ethnique, 1995, 14. f.; DERS., Gesellschaftliche Pluralität, 2000;
BELZYT, Krakau und Prag, 2003, 59–80 und 106–118.
27
HROCH, Das Europa der Nationen, 2005; ZERNACK, Problem der nationalen Identität, 1994;
DRALLE, Die Deutschen, 1991, 177–219; Loyalitäten, 2004, hier insbesondere die Beiträge von
Martin SCHULZE WESSEL, 1–22 über „Loyalität“ als geschichtlichen Grundbegriff, von Peter
HASLINGER, 45–60, über Loyalität in Grenzregionen am Beispiel der Südslowakei sowie von
Sabine BAMBERGER-STEMMANN, 69–86, über nationale Minderheiten und ihr Loyalitätsproblem;
Juden zwischen Deutschen und Tschechen, 2006; KŘEN, Konfliktgemeinschaft, 1996.
28
ZSOLDOS, Le Royaume de Hongrie, 2003, 46 f. (Karpatenbecken), 61–68 (Kroatien).
14
Venedig schon 1382 Habsburg unterstellt. Um 1500 gehörte der ganze
slowenische Siedlungsbereich – mit Ausnahme der Gebiete Venedigs – zum
Habsburgerreich. – Bis Ende des 12. Jahrhunderts war die Mark Krain als
slowenisches Bauernland nur in der Herrschaftsschicht des (teilweise
assimilierten) Adels und der hohen Geistlichkeit (große bischöfliche Herrschaften
von Freising und Brixen) deutschsprachig. Seit der ersten Hälfte des 13.
Jahrhunderts jedoch entstanden im Zuge des damaligen Landesausbaus auch
neugegründete Städte mit deutschem Bürgertum, wie etwa in der Hauptstadt
Laibach. Ländliche deutsche Besiedlung entwickelte sich im 14. Jahrhundert als
zusammenhängende Region nur in der Gottschee. Im frühmittelalterlich
slawischen Kärnten verschob sich durch den – auch bäuerlichen – Landesausbau
die deutsch-slowenische Sprachgrenze weit nach Süden; jenseits dieser Grenze
sprachen nur der Adel und das im Landesausbau entstandene Stadtbürgertum
deutsch.29 Diese Sprachgrenze blieb bis ins 19. Jahrhundert bestehen und wurde
durch deutschen Neuzuzug im Laufe der Industrialisierung noch verstärkt. – In
Istrien lagen die Städte und ihre Selbstverwaltung seit dem Frühmittelalter,
gesteigert noch durch die Expansion Venedigs im Westen und Süden Istriens, in
der Hand der romanischen (italienischen) Bevölkerung, während die
Dorfgemeinden ähnlich wie in Krain von Slawen geprägt waren. Diese ethnischsoziale Trennung zwischen Stadt und Land begründete im 19./20. Jahrhundert
spezifische nationale Konflikte.30 Die Region des heutigen westlichen Slowenien
und Triests ist somit infolge langfristiger historischer Prozesse durch eine
komplexe ethnische und ethnisch-soziale Gemengelage charakterisiert. Überdies
war sie in habsburgischer Zeit auch in der Länder- und Verwaltungsgliederung
zerteilt; und seit Kaiser Karl VI. Triest zum Freihafen erhoben hatte, um das
Habsburgerreich an den Seehandel anzuschließen, und hier sich die „Orientalische
Kompanie“ niedergelassen hatte, erhielt diese Stadt ein noch stärkeres,
ökonomisch-kommerziell bedingtes, multiethnisches Gepräge etwa durch
Griechen und andere Levantiner.
Nach der deutschen Siedlungsmigration im Zuge des Landesausbaus der
polnischen Herzogtümer im 13. Jahrhundert entfaltete eine spätere Welle
polnischer Ostsiedlung im 14.–16. Jahrhundert ihre besondere, langfristige
Wirkung für die ethnische Pluralisierung und Durchmischung. Auch sie ging von
Expansion aus, nachdem Kasimir d. Gr. zwischen 1340 und 1366 Rotreußen
(Ruthenien) erobert hatte, das „regnum Galiciae et Lodomeriae“ (Land HaliczWolhynien/Vladimir). Mit den Ruthenen und dem westlichen Rest des
ehemaligen Kiever Reiches wurde eine ostslawische orthodoxe Bevölkerung in
das Königreich Polen inkorporiert. Damit sowie mit der bald folgenden polnischlitauischen Union wurde die spätere jagiellonische Konzeption eines ethnisch und
konfessionell gemischten Reiches grundgelegt, die mit der piastischen, nach
Westen gerichteten Politik eines national und konfessionell einheitlichen Staates
29
30
HELMEDACH, Slowenien, 1999, 388 f.
FERLUGA, Istrien, 1991, 703.
15
brach, aber auf Integration des multiethnischen Mosaiks unter einem starken
Königtum zielte.31 Schon im 13. Jahrhundert war überdies Bevölkerung aus dem
Westen angesiedelt und das Städtenetz ausgebaut worden.32 Im 14. Jahrhundert
initiierten die polnischen Könige nun einen neuen Landesausbau durch eine
polnische Ostsiedlung, die bis ins 16. Jahrhundert anhielt.33 Es kamen Polen aus
Kleinpolen, Deutsche aus Schlesien, dazu Italiener (Genuesen), Armenier und
Juden, und mit dem Magdeburger Recht wurden Städte neuen Typs gegründet
(Lemberg 1352)34, überdies katholische Klöster, und am Sitz des orthodoxen
Metropoliten Halicz auch ein katholisches Erzbistum (1414 nach Lemberg
verlegt). So entstand eine ethnisch und konfessionell sehr starke Gemengelage
und Vernetzung. Der ruthenische orthodoxe Adel, dem polnischen katholischen
seit 1430 rechtlich gleichgestellt, vollzog seit dem 15. Jahrhundert eine rasche
Akkulturation durch vor allem gesellschaftlich motivierte und von der seit Ende
des 14. Jahrhunderts organisierten Mission unterstützte Übertritte zur katholischen
Kirche sowie durch eine sprachlich-kulturelle Polonisierung.35 Ruthenisch und
orthodox blieben die Bauern und wenige Städter. Zumal die Städte waren um
1500 äußerst multiethnisch geprägt: Deutsche und Italiener stellten die
Führungsschicht, und außer Ruthenen und Polen lebten hier in privilegierten
Rechtsbereichen vor allem die im Handel engagierten Armenier und Juden.
Zwischen den Privilegierten und den Ruthenen entstanden schon damals sozialethnische Konflikte.36 Die Verschränkungen ethnisch-sprachlicher, sozialer und
konfessioneller Gruppierungen und Prägungen wurden dann jedoch erst im 20.
Jahrhundert zum Anlass von dauerhafteren und vor allem wechselnden
Konflikten, nicht zuletzt infolge der polnischen Assimilationspolitik der
Zwischenkriegszeit.37
Eine weitere ethnische Pluralisierung durch Ostexpansion erfuhr das
polnische Reich in der erwähnten Union mit Litauen (1385) nach der Taufe von
dessen Fürsten Władysław Jagiełło. Durch Aufnahme in die Wappenverbände
polnischer Adelsgeschlechter, durch Zugang zu den Staatsämtern und
Gleichstellung des Adels – auch des orthodoxen ruthenischen – mit dem
polnischen, mit dem er freilich erst seit 1563 wirklich gleichberechtigt war,38
31
HOENSCH, Geschichte Polens, 1990, 55 und 57 f.; BOGUCKA, Das alte Polen, 1983, 89.;
BÖMELBURG, Das polnische Geschichtsdenken, 2002; zu der an einem multiethnischen und
multikonfessionellen Reichsdenken ausgerichteten modernen „Jagiellonenidee“ DERS., Zwischen
imperialer Geschichte und Ostmitteleuropa, 2007.
32
WÜNSCH, Galizien, 1999, 165.
33
WÜNSCH, Ostsiedlung, 1999; LÜBKE, „Germania Slavica“, 2007; JANECZEK, Ethnische
Gruppenbildungen, 2003, hier auch zum königlichen Preußen und allgemein zur ethnischen
Pluralisierung Polens.
34
In Lemberg lebten aber bereits in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts neben Ruthenen
auch Polen, Deutsche und Juden: LÜBKE, Das östliche Europa, 2004, 367 f.
35
LÜBKE, „Germania Slavica“, 2007, 188.
36
SAMSONOWICZ, La diversité ethnique, 1995, 7, 9 f. und 13.
37
BARDACH, De la nation politique à la nation ethnique, 1995, 26–28.
38
Die Gleichberechtigung mit der polnischen Szlachta galt aber in der Realität nur für
Konvertiten: LÜBKE, „Germania Slavica“, 2007, 187 f.
16
assimilierte sich der litauische Adel bis ins 16. Jahrhundert allmählich an die
polnische Sprache und Kultur.39 Und die Union wurde 1569 sogar staatsrechtlich
intensiviert. Aber im 19. Jahrhundert „erwachten“ die ethnischen Litauer und
erstrebten schließlich im 20. Jahrhundert eine eigene Nation – in Ablehnung der
Konzeption eines plurinationalen Staates der Litauer, Polen und Weißrussen.40
Eine vor allem ökonomisch und kommerziell gewichtige Expansion gelang
Polen schließlich 1454, als sich das westliche Deutschordensland mit seinen
bedeutenden Städten der Krone Polen als „Königliches Preußen“ inkorporierte.
Neben adeligen und bäuerlichen Polen auf dem Land sowie bürgerlichen am Rand
der Städte waren diese politisch und gesellschaftlich ganz deutsch geprägt.41
Konflikte entstanden hier wie in Großpolen („Provinz Posen“) – im preußischen
Teilungsgebiet Polens – erst mit der aggressiven Assimilations- und
Besiedlungspolitik Preußens im 19. Jahrhundert und in der Zwischenkriegszeit
des 20. Jahrhunderts.42
Neben den deutschen Neusiedlern bildeten vor allem die Juden seit der Epoche
des Landesausbaus einen weiteren Faktor der ethnischen Pluralisierung
Ostmitteleuropas.43 Bereits zuvor hatten zwar die Juden in ostmitteleuropäischen
Städten wie Prag oder Breslau oder als hospites in Ungarn ihre besonderen
Siedlungen. Aber erst der Landesausbau nach den Mongoleneinfällen motivierte
auch die gezielte Anwerbung von Juden für die neuen oder erweiterten Städte. So
suchten vor allem die österreichischen, ungarischen, böhmischen und polnischen
Herrscher sie seit dem 13. Jahrhundert mit dem Angebot größerer Freiheit und
Absicherung anzulocken. Und sie fanden dort, dauerhaft vor allem in Polen, seit
der Diskriminierung in Frankreich und den Verfolgungen und Vertreibungen in
deutschen Reichsstädten und Territorien seit dem 14. Jahrhundert bessere
Lebensmöglichkeiten. Die Könige Přemysl Ottokar II. von Böhmen (1254),
Béla IV. von Ungarn (1291), Boleslav der Fromme (1264) und insbesondere
Kasimir der Große von Polen (1334, 1367 für Rotreußen, 1388 für Litauen)
erteilten den Juden Schutz- und Selbstverwaltungsprivilegien; in Polen erhielten
sie auch Handelsfreiheit sowie eine eigene Stadt (Kazimierz) an der
Königsresidenz Krakau.
In Polen-Litauen konnten sich die Juden am kontinuierlichsten entfalten.
Zumal auch in die neu erschlossenen Länder Litauen und Rotreußen zogen
zahlreiche Juden aus deutschen Regionen und beherrschten dort nun im 15.
Jahrhundert in den städtischen Zentren den Handel nach Polen. Der Zuzug
vermehrte die Judengemeinden in Polen-Litauen in diesem Jahrhundert enorm.
Daher sind gerade damals soziale Spannungen, mehrfache Rechtseinschränkungen
39
BARDACH, De la nation politique à la nation ethnique, 1995, 23.
Ebd., 23–25.
41
SAMSONOWICZ, La diversité ethnique, 1995, 7–9.
42
GÜNDISCH, Deutsche, 1999, 460 f.
43
SAMSONOWICZ, La diversité ethnique, 1995, 10 f.; PETERSEN, Judengemeinde, 2003; LÜBKE,
Das östliche Europa, 2004, 368 f.; PUTTKAMER, Slowakei, 1999, 380; BOECKH/ GLASS/
TUCHTENHAGEN, Juden, 1999.
40
17
und partielle Vertreibungen zu beobachten. Anfang des 16. Jahrhunderts erfuhren
die polnischen und litauischen Judengemeinden jedoch erneuten Zuzug durch
sephardische Juden, die 1492 aus Spanien vertrieben worden waren. Im 16.
Jahrhundert kulminierte auch die Entwicklung der jüdischen Selbstverwaltung im
Kahal, einem obersten, für das ganze Krongebiet zuständigen Judenrat als
Interessenvertretung gegenüber den Obrigkeiten und als innerjüdische
Regelungsinstanz in religiösen, sozialen und wirtschaftlichen Fragen. Die aus den
deutschen Ländern Zugewanderten assimilierten sich sprachlich nicht an das
Polnische, sondern entwickelten als Umgangssprache das Jiddische. Sie lebten in
Polen-Litauen nicht nur in den Städten, sondern auch auf dem Land als
Handwerker, Gasthaus- und Mühlenpächter und Verwalter von Adelsgütern.
Konflikte mit den Bauern blieben dabei nicht aus. Einen erheblichen Einbruch
erfuhr die Rechtssicherheit und Prosperität der Juden Mitte des 17. Jahrhunderts
durch schwere Pogrome im Zusammenhang mit den Kosakenaufständen. Erst
danach und als Reaktion darauf entstand das neue „Ostjudentum“ mit seiner
religiösen Hinwendung zu Kabbala, Messianismus und Chassidismus und der
Ausbildung des „Schtetl“ als Kleinhandelszentrum mit Hausierern und
Schankwirtschaften.
In Böhmen, wo Karl IV. die Juden noch besonders gefördert hatte, ihre
Position aber danach bis Anfang des 16. Jahrhunderts durch gelegentliche
Pogrome und Vertreibungen aus den Städten immer wieder gefährdet war, blieb
die Stellung Prags als Zentrum der böhmischen Juden dennoch ganz
herausragend. Um 1600 lebten hier noch etwa die Hälfte aller böhmischen Juden.
Aber auch in böhmischen und mährischen Kleinstädten und Dörfern hatten sich –
wohl durch die genannten Vertreibungen – Judengemeinden gebildet, die hier
unter der Protektion des Adels vor allem vom Kleinhandel mit Textilien lebten.
Durch Flüchtlinge aus Polen und aus Wien erhielten die böhmischen und
mährischen Judengemeinden im 17. Jahrhundert noch Verstärkung. Bis zum
Toleranzpatent Kaiser Josephs II. (1781/82) mussten sie unter Karl VI. und Maria
Theresia allerdings zunehmende rechtliche und wirtschaftliche Einschränkungen
hinnehmen.
In Ungarn bildeten sich im Mittelalter Judengemeinden wie anderswo
ebenfalls in den Städten, wo sie auch gelegentlich unter Vertreibungen zu leiden
hatten. Aber das Wachstum der jüdischen Bevölkerung ist hier vor allem im 16.
Jahrhundert zu beobachten. Am sichersten war ihr Status in Siebenbürgen und im
osmanischen Ungarn, wo die neu zugewanderten Sepharden in Buda eine
bedeutende Gemeinde bildeten. Außerdem bestand in Preßburg eine große
jüdische Gemeinde. Weitere Einwanderungen erfolgten im 17./18. Jahrhundert
aus Mähren und Polen, seit den Teilungen Polens dann insbesondere aus Galizien,
zumal auch in die überwiegend deutschen Städte Oberungarns.
Als bereits im Mittelalter relevante ethnische Gruppe sind schließlich noch
die Armenier zu erwähnen. Sie bildeten als reiche Kaufleute vor allem für den
Orienthandel autonome Gemeinden sowohl in den Städten des ruthenischen
Landes Halicz (Galizien) – hervorzuheben ist hier Lemberg – als auch seit dem
17. Jahrhundert in Siebenbürgen. Die städtischen Obrigkeiten waren ihnen in
18
Polen zwar nicht gerade wohlgesonnen. Dennoch wurden ihre Gemeinden
zahlreicher und dehnten sich bis nach Kleinpolen aus.44
Die Grundlegung der ethnischen Pluralität Ostmitteleuropas ist ganz deutlich aus
den Interessen des mittelalterlichen Landesausbaus zu erklären. Für die
Nachhaltigkeit und Prägekraft dieser Pluralität als ostmitteleuropäische Struktur
der longue durée45 bis in die Konflikte des 20. Jahrhunderts hinein, damit ebenso
für den Emanzipationsdruck gegen herrschende Ethnien seit dem 19. Jahrhundert,
aber auch für die Erinnerungskultur der ostmitteleuropäischen Nationen sind
jedoch zwei weitere Momente von entscheidender Bedeutung: Erstens folgten
dem Landesausbau des Mittelalters weitere Migrationswellen in der Frühneuzeit.
Sie steigerten und verstetigten die Multiethnizität oder eine bereits vorhandene
ethnische Gruppe, so etwa die Deutschen in Ungarn oder Böhmen,46 aber auch die
Juden, auf deren Zuwanderungen in der Frühneuzeit bereits hingewiesen wurde.
Zweitens verstärkten die Expansionen und Grenzverschiebungen der Imperien
ganz wesentlich die ethnische Durchmischung, nicht zuletzt auch als Auslöser für
die genannten neuen Migrationswellen. Insbesondere das Habsburgerreich spielte
hierbei schon frühzeitig für viele Regionen eine ganz herausragende Rolle. Auf
das Osmanische Reich, das für die ethnische Pluralität eine besondere Behandlung
verdienen würde, soll hier aber nicht eingegangen werden, da die in diesem Band
behandelten Regionen nicht unter seine Herrschaft fielen.
Die Rolle der Imperien (ein spezielles Strukturproblem Ostmitteleuropas), die –
neben der Belastung für die Identitätsbildung und -kontinuität ihrer Teilländer
oder deren kolonialer Provinzialisierung – den Rahmen und die Bedingungen
ausformten für eine Verstärkung, Verlagerung und Überschichtung der ethnischen
Pluralität, soll hier zunächst skizziert werden.47
Durch die imperiale Expansion wurden die zusammengesetzten Monarchien
komplexer, und ethnische Pluralität und Interferenzen wurden gesteigert. Neben
und noch vor der Begünstigung von ethnokulturellen Überlagerungen durch
weitere Migrationen wirkte nämlich bereits die schiere Ausbildung und Expansion
von Imperien für die Überwindung alter sprachlicher und kultureller Grenzen und
damit für Kulturkontakte und gegenseitige Beeinflussung, zumal auch in
44
SAMSONOWICZ, La diversité ethnique, 1995, 12 ; ROTH, Armenier, 1999 ; LESNIAK,
Armenier, 2004.
45
Im französischen geschichtswissenschaftlichen Strukturalismus gehören zur Grundstruktur
der „langen Dauer“ nur sehr langfristige, die Geschichte bestimmende Faktoren wie Landschaft
und Klima. Daher ist darauf hinzuweisen, daß auch die ostmitteleuropäische Multiethnizität –
obwohl sich verändernd wie Landschaft und Klima – eine solche langfristige Struktur ausgebildet
hat, die darin zumindest mit der des Klimas und seinen Wechseln vergleichbar ist.
46
GÜNDISCH, Deutsche, 1999, 459 f.
47
Vergangene Größe und Ohnmacht in Ostmitteleuropa, 2007, zeigt die historiographische
Entwicklung in der Bewertung imperialer Erfahrungen; so etwa zur kulturellen Pluralität in der
neuen Habsburg-Forschung (236–238), aber auch zur Wahrnehmung von Beherrschung und
Unterdrückung (238, 263); neuerdings findet sich aber etwa in der slowakischen Historiographie
auch eine positive Wertung der kulturellen Pluralität des Habsburgerreiches (271–273).
19
Grenzgebieten (etwa zwischen Ungarn und Österreich oder zwischen Oberungarn
und Ruthenien/Ukraine). In den letzten Jahren wurden Forschungen zu
Grenzregionen verstärkt48 und dabei Einflüsse, Anpassungsprozesse und
Überlagerungen bis hinab in den Dialektbereich festgestellt (etwa zwischen dem
südmährischen und süd- bis westböhmischen Tschechisch einerseits, dem
Österreichischen und Bayerischen andererseits49). Für kulturelle Interferenzen
sind Grenzräume eines der ertragreichsten Untersuchungsfelder. Der Fall, bei dem
frühneuzeitliche Imperienbildungen durch neue Grenzen alte Kontaktlinien
kappten (wie die preußische Eroberung Schlesiens), war dagegen eher selten. Dies
war den Nationalstaatsbildungen und den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts, aber
auch dem Sowjetimperium vorbehalten, als Grenzen aus Grenzräumen zu
Trennlinien wurden.50 Weil es daher heute reizvoll ist, die einstigen ethnischkulturellen Überlagerungen und Verschränkungen gleichsam archäologisch
auszugraben, kann die Langfristigkeit der allmählichen Formierung dieser
Verschränkungen, wie sie immer noch im Gedächtnis der ostmitteleuropäischen
Länder und Nationen präsent ist, nicht genug betont werden. Die ethnischkulturellen Überlagerungen dürfen freilich nicht romantisiert werden, sondern ihr
Konfliktpotential ist stets mitzuberücksichtigen.
Abgesehen von der Überlagerung alter Grenzen ist bei der Rolle der Imperien
für die ethnische Pluralisierung zu bedenken, dass die imperiale
Zusammenfassung ganz unterschiedlicher historischer Länder vor allem auch der
horizontalen und vertikalen Mobilität neue Möglichkeiten und Impulse bot.
Dabei ist zunächst auf die Mobilität von Standeseliten hinzuweisen, die von
außen kamen. Trotz ihrer quantitativen Begrenzung stellten sie keineswegs eine
quantité négligeable dar, sondern gehörten zur Führungsschicht und bestimmten
so die ethnische und sprachlich-kulturelle Orientierung entscheidend mit. Dies
war bereits bei der Expansion Polens nach Rotreußen oder bei der Union Polens
mit Litauen zu beobachten gewesen. Das gilt ebenso etwa für den neuen Adel in
den böhmischen Ländern, der nach 1620 auf Grund der Konfiskationen im Zuge
der Rekatholisierung aus Österreich, dem Reich, Italien, Spanien und den
Niederlanden nach Böhmen und Mähren kam, hier ansässig wurde und zu
umfangreichem Güterbesitz gelangte. Noch erheblich gesteigert wurde dieser
Zuzug fremder Adelsfamilien nach den gegen Wallenstein und seine Anhänger
1634 verhängten Strafkonfiskationen, die zu einer zweiten Welle der
Umverteilung von Grund und Boden führten. Auch Heiratsverbindungen mit
ausländischem Hochadel trugen zur Europäisierung der böhmischen und
mährischen Adelsfamilien bei.51 Neben den Adel traten als multiethnische
Standeselite in den meisten Ländern, zumal in den habsburgischen, die hohe
48
HLAVÁČEK, Der böhmisch-sächsische Grenzraum, 2007; Grenze im Kopf, 1999 (mit Lit.);
Grenzen in Ostmitteleuropa, 2000; FOHLOVÁ, Das „Grenzgebiet“, 2008.
49
ŠRÁMEK, Zur Stabilität der deutschen Mundarten, 2006; DERS., Spezifika des tschechischdeutschen Sprachkontaktes, 2003; DERS., Zur Wortgeographie, 1998.
50
WÜNSCH, Grenzen, 1999, 15 und 16.
51
RICHTER, Die böhmischen Länder, 1974, 353–361; HOENSCH, Geschichte Böhmens, 1992,
232–233.
20
Geistlichkeit und die zahlreichen Niederlassungen der neuen Orden in der Epoche
der Rekatholisierung, die vielfach mit Deutschen, Niederländern, Schotten,
Italienern und Spaniern besiedelt wurden. Dazu kamen die für die Imperien und
ihre Mobilitätsangebote wichtigen Funktionseliten der Universitätsgelehrten,
Kaufleute und Bergbauexperten. Das Heer von Verwaltungsbeamten und Militärs,
Geistlichen und Intellektuellen, die vom Zentrum etwa des Habsburgerreiches in
die peripheren Länder kamen oder entsandt wurden, war ein weiteres Reservoir
der Mobilität, in den böhmischen Ländern schon im 17. Jahrhundert, danach die
Lehrer im Zuge der habsburgischen Schulreformen des 18. Jahrhunderts.
Ein breiteres Phänomen in der imperialen Länderzusammenfassung bildeten die
Migrationen aus ökonomischen Gründen. Eine die vorhandene ethnische
Pluralität verstärkende Rolle spielte im werdenden Habsburgerreich schon die
neue deutsche Zuwanderung in Nord- und Westböhmen im Zuge des Anfang des
16. Jahrhunderts aufblühenden Silberbergbaus und der sich besonders seit der
zweiten Jahrhunderthälfte ausbreitenden Leinen-, Tuch- und Glasproduktion52, die
Ende des 17. und Anfang des 18. Jahrhunderts zur Entstehung von Manufakturen
und des Verlagswesens führte.53 Diese Gewerbeentwicklung in den
Grenzlandschaften Böhmens (Böhmerwald, Erz- und Riesengebirge) löste seit
dem 16. Jahrhundert einen neuen Zuzug von Deutschen aus. Ein Zehntel aller vor
1945 bestehenden Siedlungen in Böhmen wurde zwischen 1650 und 1750
gegründet.54 Dies dürfte ganz überwiegend auf die deutsche Zuwanderung in die
Gewerbeentwicklungsgebiete zurückzuführen sein. In Nord- und Westböhmen
verschob sich so in der Frühneuzeit die deutsche Sprachgrenze allmählich, so dass
sie in etwa wieder den Stand aus der Zeit vor den Hussitenkriegen erreichte.55
In Ungarn erhielt – nach der Zurückdrängung der Osmanen – die Anwerbung
von Neusiedlern für die „Neoaquistica“, die rückeroberten Gebiete, im 18.
Jahrhundert bis in die Zeit Maria Theresias besondere Bedeutung. Zunächst waren
es Serben, aber auch Böhmen, dann vor allem Deutsche („Donauschwaben“), die
auf Gütern von Magnaten und Bischöfen sowie durch die Monarchie insbesondere
in den Gebieten der Militärgrenze Südungarns, im ungarischen Mittelgebirge, in
Slawonien und Syrmien, in der Batschka und im Banat angesiedelt wurden.56
Ebenfalls unter Maria Theresia verstärkten die „Transmigrationen“ (Ausweisung
von Protestanten aus Innerösterreich) die lutherischen Deutschen in Siebenbürgen.
52
KAŠPAR/ HORÁK, Schlikové, 2009; PITTROFF, Böhmisches Glas, 1987; WOSTRY, Das
Deutschtum Böhmens, 1939, 333–344.
53
RICHTER, Die böhmischen Länder, 1974, 332–334.
54
Ebd., 357.
55
SCHLESINGER, Die böhmischen Länder, 1963, 47.
56
GÜNDISCH, Deutsche, 1999, 459 f. – Zum Prozeß der Neubesiedlung demnächst die
exemplarische Tiefenanalyse durch Norbert SPANNENBERGER: Migration im Habsburgerreich im
18. Jahrhundert. Deutsche Siedler in den süd-transdanubischen Dominien der Fürstenfamilie
Esterházy. Habilitationsschrift Leipzig 2011.
21
Schon im 17. Jahrhundert waren in Siebenbürgen auch Armenier in die Gründung
neuer Handelsstädte integriert worden.57
Nach der Annexion Galiziens (Halicz-Wolhynien und Podolien) samt
Teschens und Teilen Kleinpolens durch die Habsburgermonarchie ergaben sich
für die Politik der „Peuplierung“ neue Möglichkeiten und Notwendigkeiten.58 Mit
dem Ziel der Modernisierung wurden zunächst unter Maria Theresia
vorzugsweise deutsche katholische Kaufleute, Handwerker und Fabrikanten, aber
auch armenische Händler mit gewissen Vergünstigungen und Steuerfreiheiten zur
Niederlassung in der neuen Provinz angeworben. Erst durch Joseph II. wurde die
Ansiedlungspolitik auch auf Bauern erweitert, um gemäß den physiokratischen
Prinzipien in der Landwirtschaft einen Innovationsschub anzustoßen.
Entsprechend der Toleranzpolitik des Kaisers konnten sich nun auch
Nichtkatholiken frei ansiedeln. Neben deutschen Siedlern wanderten Polen,
Ruthenen und Juden aus dem russischen Teilungsgebiet sowie Polen aus dem
polnischen Reststaat ein. Andererseits zogen nun arme „Ostjuden“ aus Galizien –
infolge der Mobilitätsmöglichkeiten im Imperium – sowohl nach Oberungarn als
auch und vor allem nach Wien. Die Besiedlungspolitik wurde auch auf die
Bukowina ausgedehnt, zielte hier aber vorwiegend auf Kolonisten aus der
Moldau. Obwohl die „Peuplierung“ spätestens Anfang des 19. Jahrhunderts
beendet wurde und in absoluten Zahlen nur eine kleine Minderheit erfasst hatte59,
veränderte sie doch qualitativ die Bevölkerungsstruktur Galiziens und der
Bukowina sowohl in den Städten als auch auf dem Land. Einen spezifischen
Akzent erhielt diese Veränderung durch die Einrichtung des Volksschulwesens
mit deutscher Unterrichtssprache und die Durchsetzung von Deutsch als interner
Amtssprache. Auch das Zarenreich und Preußen initiierten ethnische
Veränderungen in ihren Teilgebieten Polens und im Baltikum durch russische
Zuwanderung sowie durch die Begünstigung zusätzlicher Ansiedlung von
Deutschen in Westpreußen und in Großpolen.
Insgesamt zeigt also die Frühneuzeit eine bemerkenswerte Verstärkung der
multiethnischen Struktur vieler Regionen Ostmitteleuropas. Gleichzeitig
beeinflusste die imperiale Macht aber auch die soziale Hierarchie in den
multiethnischen Landschaften. So erhob das habsburgische Imperium
unwillkürlich oder gezielt die Deutschen zu Elite und das Deutsche zur Leitkultur.
Unter den strukturbildenden Faktoren Ostmitteleuropas ist – neben der ethnischen
Pluralität und der Rolle der Imperien – auch die konfessionelle Pluralität für unser
Thema von Bedeutung. Sieht man nur auf Polen und die ehemaligen
habsburgischen Länder, wo die Rekatholisierung seit dem 17. Jahrhundert
nachhaltige Ergebnisse zeitigte, so kann die langdauernde Prägekraft
57
ROTH, Siebenbürgen, 1999, 372.
WÜNSCH, Galizien, 1999, 167 f.; MANER, Galizien, 2007, 49–53.
59
Im 19. Jahrhundert (um 1870) wurde die Zahl der Deutschen unter den etwa 3,5 Millionen
Einwohnern auf 100.000 geschätzt. Sie lebten in 220 Siedlungen, davon fast die Hälfte in
selbständigen deutschen Gemeinden. MANER, Galizien, 2007, 52 u. 146.
58
22
konfessioneller Vielfalt Ostmitteleuropas leicht aus dem Blick geraten. Bedenkt
man jedoch die lange Koexistenz der römisch-katholischen, griechischkatholischen (unierten) und orthodoxen Kirchen im Südosten des historischen
Polen-Litauen (heute West-Ukraine) sowie dasselbe konfessionelle
Zusammenleben einschließlich des Protestantismus im südlichen Ostmitteleuropa
(Ungarn, Siebenbürgen, Rumänien, ehemaliges Jugoslawien), so kann deutlich
werden, dass hier nicht nur die ethnische, sondern auch die konfessionelle Vielfalt
und Verschränkung die Gesamtgeschichte mitbestimmt, ja, die Konfession zum
Teil heute noch oder wieder als nationales Identitätsmerkmal fungiert.60
Das Phänomen der konfessionellen Pluralität der historischen polnischen,
böhmischen und ungarischen Länder sowie der konfessionellen Dualität in den
österreichischen Ländern, die sich gegen katholische Könige durchsetzte, beruht
zum einen auf der politischen, frühparlamentarischen Partizipationsstärke des
Adels und dessen ökonomischer Selbständigkeit aufgrund von Eigengütern ohne
Lehensbindung – zum anderen auf seiner darauf aufbauenden Vorstellung und
Durchsetzung individueller adeliger Freiheit. Die freie Konfessionswahl des
Adels, die auch von den andersgläubigen Standesgenossen nicht angezweifelt
wurde, führte in der Adelsrepublik Polen-Litauen zu vier reformatorischen
Konfessionen. Sie wiesen jedoch weniger ethnische als eher regionale
Schwerpunkte auf.61 Das Luthertum konsolidierte sich vorwiegend im königlichen
Preußen, aber auch beim Adel Großpolens, der auch die Böhmische Brüderunität
aufnahm und protegierte. Den Calvinismus wählten insbesondere die Adeligen
Litauens sowie Kleinpolens, wo sich auch die vom Calvinismus abgespaltenen
Unitarier (Antitrinitarier) etablieren konnten. Ethnische und konfessionelle
Gruppierungen überkreuzten sich somit vor allem im Luthertum.
Während durch Rekatholisierung und adelig-sarmatische Barockkultur62 der
Protestantismus in Polen-Litauen bis ins 18. Jahrhundert bekanntlich fast
verschwand, blieb in Rotreußen (Galizien) die orthodoxe Kirche nicht nur
erhalten, sondern stärkte die ethnische Identität der Ruthenen und akzentuierte
deren Abgrenzung zu den Polen und anderen Ethnien bis ins 20. Jahrhundert,
zumal die orthodoxe Kirche – anders als der orthodoxe Adel – auch nach der
Union von Lublin nicht mit der katholischen gleichberechtigt wurde.63 Die
Hoffnung auf diese Gleichberechtigung zum einen, die Gegenreformation zum
anderen führten dann zur Union von Brest (1596) zwischen orthodoxer und
katholischer Kirche. Allerdings erfüllte sich die damit verbundene Erwartung
eines Integrationsimpulses nicht, sondern es entstand dabei nur eine weitere
konfessionelle Gruppierung, da einige orthodoxe Bischöfe ihre Zustimmung
verweigerten und viele Ruthenen diese „Latinisierung“ ablehnten. Künftig galt die
tolerante Politik der Regierung aber nur noch den Unierten, die nichtunierten
60
ZACH, Der Balkan, 2004, 332 f.; ROTH, Religion und Konfession, 1999, 47; Nationalisierung
der Religion, 2006.
61
SCHRAMM, Der polnische Adel, 1965; SCHMIDT, Auf Felsen gesät, 2000.
62
BOGUCKA, Das alte Polen, 1983, 160 und 178–194; DIES., World of the „Sarmatians“, 1996;
TAZBIR, Sarmaci, 2001.
63
LÜBKE, „Germania Slavica“, 2007, 188 f.
23
Orthodoxen wurden allenfalls geduldet.64 Die Attraktivität der Union wurde auf
diese Weise dennoch nicht gefördert, sondern im Gegenteil dadurch vermindert,
dass die erhoffte und versprochene Gleichstellung der unierten (griechischkatholischen) Bischöfe mit den lateinischen ausblieb. Sowohl in der religiösen
Praxis der Gläubigen als auch in der Architektur und Ausstattung der Kirchen sind
allerdings in der Frühneuzeit manche Synkretismen und Interferenzen zwischen
Katholiken einerseits und Unierten oder Orthodoxen andererseits zu beobachten.65
Die Union zeigte im Ergebnis ambivalente Konsequenzen: Einerseits nahm die
religiöse Kultur der Ruthenen durch die Vermittlung der Unierten Einflüsse des
lateinischen Westens auf, andererseits entwickelte sich die griechisch-katholische
Kirche zum Kern eines eigenen ruthenischen Selbstbewusstseins und damit einer
allmählichen Nationalisierung, während die nichtunierten Orthodoxen zum Tor
für russische Einwirkungen wurden.66 Die Abgrenzung zu den Polen, in deren
Händen die Verwaltung der Provinz weitgehend lag, verband die Formierung
einer ruthenischen Nationalität jedoch im 19. Jahrhundert auch mit einer
besonderen Loyalität gegenüber der österreichischen Monarchie.67 Im Ergebnis ist
festzuhalten, dass langfristige ethnisch-konfessionelle Übereinstimmungen, aber
auch Interferenzen (ruthenisch-orthodox/ruthenisch-uniert) in Polen-Litauen
neben den orthodoxen Regionen des litauischen Reichsteils vor allem in
Rotreußen/Galizien zu verfolgen sind.
Anders als in Polen folgten in Ungarn die konfessionellen Gruppierungen
weitgehend den ethnischen. Während der ungarische Adel mit seinen Gütern
überwiegend für den Calvinismus optierte, nahmen die Deutschen in
Siebenbürgen und den oberungarischen Städten durch die Verbindung ihrer
Geistlichen mit Wittenberg das Luthertum an.68 Mit der Koexistenzordnung der
„Vier rezipierten Religionen“ der Katholiken (Großteil der Székler), Calvinisten,
Lutheraner und Unitarier („Antitrinitarier“) etablierten sich seit 1571 in
Siebenbürgen zwar auf politischer Ebene Konsenszwang und ständische Toleranz.
Für die Siebenbürger Sachsen wurde aber – durch den entschiedenen
konfessionellen Gegensatz zum Calvinismus – das Luthertum zu einem
besonderen Identitäts- und Integrationsfaktor in Abgrenzung zum magyarischen
Adel und zu den orthodoxen Walachen – bis hin zur Nationalisierung der
Konfession in Verbindung zum Deutschen Reich im 20. Jahrhundert.69
Die rumänischen Orthodoxen in Siebenbürgen, die den Metropoliten der
Moldau und der Walachei unterstanden, zählten nicht zu den „rezipierten
64
WÜNSCH, Die religiöse Dimension, 2004, 67.
Ebd.; KERYK, Artists, 2010, 147–155.
66
WÜNSCH, Galizien, 1999, 167 f.; TURIJ, Die griechisch-katholische Kirche, 2007; VULPIUS,
Feind und Opfer, 2007; zu den Konsequenzen der Union auch TAZBIR, Polen, 2000, 89-93. – Zur
jüngsten Entwicklung der griechisch-katholischen Kirche im 20. Jahrhundert: Churches Inbetween, 2008.
67
WÜNSCH, Galizien, 1999, 169.
68
TÓTH, La Réforme, 2003, 260; FATA, Ungarn, 2000, 68–73, 98, 101, 104.
69
ZACH, Nation und Konfession, 2004; FATA, Ungarn, 2000, 97–118.
65
24
Religionen“ und erfuhren im 16. Jahrhundert insbesondere von Seiten der
Calvinisten einen deutlichen Konversionsdruck, der jedoch letztlich erfolglos
blieb. Die rumänisch-orthodoxe Kirche konnte sich im Gegenteil Anfang des 17.
Jahrhunderts wieder stabilisieren, und ihre Priester erhielten größere Freiheiten,
wenn auch keine Gleichberechtigung.70 Auch die ostungarischen Komitate
umfassten eine orthodoxe Bevölkerung – zum Großteil aus Ruthenen –, die nach
dem „langen Türkenkrieg“ infolge Neubesiedlung durch Rumänen und Serben
noch verstärkt wurde.71 Die soziale und rechtliche Gleichstellung erreichten hier
die orthodoxen Geistlichen, die sich seit 1646 mehrheitlich einer Union mit Rom
anschlossen.72 Auch in dem 1691 der Habsburgermonarchie eingegliederten
Siebenbürgen fand sich eine orthodoxe Synode zur Union bereit, die zwischen
1697 und 1701 dann auch vollzogen wurde und die den Geistlichen nun die
gesellschaftliche Gleichberechtigung brachte, obwohl sie sich letztlich der
Oberaufsicht des Erzbischofs von Gran nicht entziehen konnten.73 Neben der so
entstandenen griechisch-katholischen Kirche der Ruthenen und der Rumänen
blieb in Ungarn wie in Polen freilich die griechisch-orthodoxe Kirche erhalten, so
dass durch die Unionen der konfessionelle Pluralismus – nun auch innerhalb der
ethnischen Gruppen – sich noch steigerte. Die griechischen Katholiken der
Rumänen und Ruthenen spielten auch hier wie in Galizien eine bedeutende Rolle
bei der Entstehung ihrer Nationalkulturen, nicht zuletzt wegen des höheren
Bildungsstandes des Klerus im Vergleich mit dem orthodoxen. Im Rumänien der
Zwischenkriegszeit fand sich allerdings die griechisch-katholische Kirche in einer
prekären nationalen Konkurrenz zu der sich als Staatskirche betrachtenden
orthodoxen Kirche.74
Anders als in Siebenbürgen übergriff das Luthertum in Oberungarn die
ethnischen Grenzen, da es in den Städten des mittleren Oberungarn und der Zips
auch von Slowaken angenommen wurde, während umgekehrt deutsche Bauern
großenteils katholisch blieben.75 Die slowakischen Protestanten – ähnlich wie die
tschechischen und auch in Verbindung mit diesen – wurden dann im 19.
Jahrhundert zu wichtigen Akteuren der Nationalbewegung.76 Die konfessionelle
Gemeinsamkeit mit den Deutschen Oberungarns blieb also ethnokulturell und
national gesehen unerheblich.
70
FATA, Ungarn, 2000, 115–118 und 251–253.
Ebd., 228.
72
Ebd., 228–231.
73
Ebd., 280–283; im Einzelnen GYÁRFÁS, Union, 2007. – Zu den Spannungen zwischen den
griechisch-katholischen und den ihre Jurisdiktion betonenden römisch-katholischen Bischöfen im
18. Jahrhundert samt ihren nationalen Implikationen BAHLCKE, Ungarischer Episkopat, 2005,
298–308.
74
MANER, Multikonfessionalität, 2007. – Im Übrigen zu den Entwicklungen der Position der
griechisch-katholischen Kirchen im Zusammenhang mit den Nationsbildungsprozessen die
Beiträge in dem Band: Konfessionelle Identität und Nationsbildung, 2007.
75
PUTTKAMER, Slowakei/ Oberungarn, 1999, 380 f.; FATA, Ungarn, 2000, 68 f., 80 f.
76
HOENSCH, Die Entwicklung der Slowakei, 1995, 118 f. und 123.
71
25
Trotz der Gegenreformation, die der katholischen Kirche in Ungarn wieder
einen Bevölkerungsanteil von fast 50% verschaffte, blieb im gesamten
historischen Ungarn und in besonderem Maße in Siebenbürgen die
multikonfessionelle Struktur – im Unterschied zu Polen und Böhmen-Mähren –
bis ins 20. Jahrhundert erhalten, infolge mehrerer sowohl landespatriotisch als
auch konfessionell motivierter Adelsaufstände vom Anfang des 17. bis Anfang
des 18. Jahrhunderts.77 Die Reformierten (Calvinisten) empfinden sich daher bis
heute als besondere Repräsentanten der magyarischen Nation.78
Eine ethnische Stärkung brachte die Reformation in Ansätzen auch für die
Slowenen durch Gottesdienst und Predigt in der Volkssprache und durch
Bibelübersetzungen, Katechismus und Grammatik und damit die Grundlegung der
Schriftsprache. Insbesondere der Reformator der Südslawen Primus Truber wirkte
hierfür, indem er zwischen 1550 und 1582 protestantische Katechismen und
Übersetzungen des Neuen Testaments in slowenischer Sprache anfertigte, die
durchweg im Herzogtum Württemberg gedruckt wurden. Als Superintendent im
Herzogtum Krain verfasste er auch eine slowenische Kirchenordnung. Ein
entscheidender Einfluss auf die Entwicklung der slowenischen Schriftsprache
kommt aber vor allem der ersten Übersetzung der gesamten Bibel zu, die von
einem Truber-Schüler angefertigt, von den innerösterreichischen Ständen
finanziert und 1584 in Wittenberg gedruckt wurde. Von der Reformation wurden
in Kärnten und Krain jedoch vor allem der Adel und das Stadtbürgertum erfasst,
die slowenischen Bauern allenfalls am Rande. Die Gegenreformation, die
Erzherzog Ferdinand von Innerösterreich um 1600 ganz entschlossen
durchzuführen begann, setzte sich bis 1628 in allen innerösterreichischen Ländern
durch, am raschesten und erfolgreichsten im Herzogtum Krain.79
Im Ergebnis konnte sich die ethnische Identität und Abgrenzung der
Slowenen somit nicht auf die Konfession stützen, obgleich der sprachliche
Entwicklungsschub durch die Reformation nicht unterschätzt werden darf.
In Böhmen und Mähren hatte sich der konfessionelle Pluralismus infolge der
hussitischen Revolution schon seit dem 15. Jahrhundert entwickelt80 und wurde
im 16. Jahrhundert noch ausgeweitet durch die Rezeption des Luthertums in den
deutschsprachigen Regionen und Städten. 81 Der zuvor bestehende Gegensatz
zwischen katholischen Deutschen und mehrheitlich hussitischen Tschechen war
damit aufgelöst. Die protestantischen Ständeaufstände von 1547 und vor allem
1618–1620 wurden vom deutschen ebenso wie vom tschechischen böhmischen
Adel getragen. Infolge der Niederlage des Aufstands am Weißen Berg 1620
77
TÓTH, L’histoire du XVIIe siècle, 2003.
SPANNENBERGER, Ein Phänomen im Grenzraum, 2007, 154; BRANDT, Konfessionelle und
nationale Identität, 2002.
79
Katholische Reform, 1994; WINKELBAUER, Ständefreiheit, 2003, II, 43–55; STROHMEYER,
Konfessionszugehörigkeit, 2006.
80
EBERHARD, Konfessionsbildung und Stände, 1981.
81
EBERHARD, Die deutsche Reformation, 1992.
78
26
konnte jedoch die Gegenreformation nach innerösterreichischem Vorbild das
Land konfessionell vereinheitlichen, obwohl in manchen Grenzregionen zu
Schlesien und Ungarn ein gewisser Kryptoprotestantismus bis ins 18. Jahrhundert
erhalten blieb. Für die Rekatholisierung und katholische Barockkultur spielte im
Übrigen auch der internationale Adel eine bedeutende Rolle, der – wie erwähnt –
die konfiszierten Güter der Protestanten und der Wallenstein-Anhänger aufkaufte.
Obwohl Böhmen und Mähren auch im 19. Jahrhundert fast ganz katholisch
blieben, erreichte die protestantische Vergangenheit durch das historische
Gedächtnis der tschechischen Nationalbewegung – eine longue durée eigener Art
– eine neue Wirkung. Der Prozess der nationalen Identitätsfindung wurde nämlich
in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem auch von Protestanten
angeführt und von der Geschichtskonstruktion František Palackýs inspiriert. So
fand die Nationsbildung in der als nationale Blütezeit gedeuteten Epoche von
Hussitismus, Reformation und Ständestaat ihre spezifische ideologische
Grundlage der historischen Legitimation.82 Trotz neuer evangelischer Kirchen
nach Josefs II. Toleranzpatent und trotz Gründung einer neuen hussitischen
Nationalkirche 1919 bedeutete dies jedoch keine wirkliche Renaissance des
Protestantismus. In Abgrenzung zur habsburgischen katholischen Staatskirche –
insbesondere in der Zeit des Neoabsolutismus des 19. Jahrhunderts – wurden die
antiklerikalen nationalen Tschechen eher nichtkatholisch als protestantisch. Die
als Nationalkirche gedachte Tschechoslowakische Hussitische Kirche blieb bis
heute eine kleine Minderheit, ebenso die Kirchen der Böhmischen Brüder.
In unterschiedlicher Weise hat sich die konfessionelle Pluralität, die sich durch
imperiale Expansion Polens im 14./15. Jahrhundert und der Habsburgermonarchie
im 16.–18. Jahrhundert noch erweitert hatte, in den Ländern Ostmitteleuropas
somit als kulturelle Struktur der longue durée ausgewirkt: als Überschichtung der
ethnischen Gruppierungen oder als deren zusätzliche kulturelle Akzentuierung bis
in die Nationalbewegungen hinein. Die Komplexität der konfessionellen Situation
entfaltet teilweise bis heute ihre Wirkungen, insbesondere bei der Koexistenz von
Orthodoxie und lateinischem sowie griechischem Katholizismus in der Ukraine
und in Rumänien.83
Neben der ethnischen und der konfessionellen Pluralität Ostmitteleuropas
insgesamt wie auch seiner einzelnen Länder und Regionen bestimmte ein dritter,
vom Westen differenter Strukturfaktor die Entwicklung bis ins 19./20.
Jahrhundert: die Relation zwischen Adel und Bürgertum. Im Hoch- und auch noch
82
František Palacký, 1999; Spor o smysl českých dějin, 1997 (eine historiographische
Anthologie der am Thema beteiligten Autoren.) – Zur Geschichtskonstruktion gehörte vor allem,
dass durch die Niederlage der protestantischen Stände am Weißen Berg 1620 die tschechische
Nation in eine Zeit der Finsternis geraten sei, aus der sie erst jetzt durch die nationale
Bewusstseinsbildung neu erwache: MAMATEY, The Battle of White Mountain, 1981; PETRÁŇ, Na
téma mytu, 1993; HOJDA, Náboženská persekuce, 1998.
83
Konfessionelle Identität und Nationsbildung, 2007; ROTH, Religionen und Konfessionen,
1999, 47–49.
27
im Spätmittelalter hatte sich aus den Gefolgschaften der Herrscher, aus der
Konkurrenz um Anhänger bei den häufigen dynastischen Thronrivalitäten, aus
den zahlreichen Abwehrkämpfen (etwa gegen das römisch-deutsche Reich, gegen
Tataren und Osmanen) mit ihrem Kriegerbedarf und den dadurch motivierten
Landschenkungen eine enorme Zunahme adeliger freier Landbesitzer ergeben.
Der hohe Anteil des Adels an der Bevölkerung unterschied Ostmitteleuropa
signifikant vom Westen.84 Da das differenzierende Lehenssystem fehlte, blieb
diese große Masse des Adels zudem relativ amorph; sie war weder nach
Lehensabhängigkeiten noch in Ständekorporationen (außer in den Böhmischen
Ländern seit dem 15. Jahrhundert) gegliedert, sondern bildete in ihrem
Selbstbewusstsein eine Gemeinschaft von prinzipiell Gleichen. Überdies stieg die
breite Adelsschicht der kleinen Landbesitzer vom 13. bis 15. Jahrhundert in das
adelige corpus politicum auf, das heißt zur politischen Partizipation in Reichsund Landtagen, und beherrschte schließlich die regionalen Ebenen der Komitate
bzw. Wojwodschaften oder Kreise.
Die Urbanisierung im Zuge des Landesausbaus des 13. Jahrhunderts und die
politische ebenso wie die ökonomische Potenz der Städte verloren demgegenüber
im Spätmittelalter an durchdringender Kraft. Die durchschnittliche Größe der
Städte blieb geringer als im Westen. Anders als die flandrischen und italienischen
Städte, Nürnberg, Köln oder Lyon erreichten sie in Gewerbe und Handel nie die
Rolle von Exportproduktionsmärkten. Im Übrigen gab es vergleichsweise zu
wenige und zu wenig bedeutende autonome Städte, so dass sie von dem die Landund Reichstage beherrschenden Adel aus der politischen Mitbestimmung in der
communitas regni wieder verdrängt werden konnten. Die „politische Nation“
blieb somit auf den Adel – inklusive der adeligen hohen Geistlichkeit – begrenzt,
neben dem auch keine bürgerliche noblesse de robe aufkam. Dies stellt die
Kehrseite der adeligen absolutismusresistenten Libertät dar, die sich seit dem 13.
Jahrhundert in der Formierung von Landesgemeinden oder Reichsgemeinschaften
(communitas regni oder terrae) als Gegenüber zum Herrscher entwickelt hatte,
um 1500 voll ausgebildet war und in ihrer Partizipationsstärke ein spezifisches
Strukturmerkmal Ostmitteleuropas bildete, das in seiner langen Dauer am ehesten
mit England und Schweden-Finnland zu vergleichen ist. Aus dieser Libertät
folgten auch der konfessionelle Pluralismus der ostmitteleuropäischen
Reformationen und die ihm entsprechenden konfessionellen Koexistenz- und
Toleranzlösungen.85
In den größten Reichen Ostmitteleuropas ist somit um 1500 gegenüber dem
Westen eine umgekehrte quantitative, ökonomische und politische Relation
zwischen Adel und Stadtbürgertum zu beobachten: z.B. 4-5 % Adel in Ungarn,
7-8 % in Polen-Litauen gegenüber 1 % in Westeuropa; 2 % freie Bürger in
Ungarn, 10 % in Frankreich. Infolge der Nachfrage nach Agrarprodukten durch
den urbanisierten Westen Europas und infolge des dementsprechenden und durch
84
SZÜCS, Die drei historischen Regionen Europas, 1990, 50–53.
Ständefreiheit, 1996; Konfessionalisierung, 1999; TAZBIR, Toleranz, 1977; EBERHARD,
Toleranz, 2010.
85
28
die Schwäche der Städte geförderten Desinteresses an Merkantilismus und
Manufaktur – außer in Böhmen86 – wurde Ostmitteleuropa in der Frühneuzeit zur
Agrarperipherie des westlichen Europa. Der Adel, der auf die exportorientierte
Agrarwirtschaft auf seinen Großgütern ausgerichtet war, die er sich im
Spätmittelalter überdies noch vielfach aus dem Krongut angeeignet hatte, bedurfte
der am Ausgang des Mittelalters einsetzenden Schollenbindung seiner Bauern.
Die Konsequenz waren die verbreitete „ostelbische“ Gutswirtschaft und die
bäuerliche Leibeigenschaft.87
Die frühneuzeitliche Konzentration auf die Landwirtschaft und die ländliche
Welt von Adel und Bauern sowie die Zurückdrängung des Stadtbürgertums
zeitigten ihre langfristigen Folgen in der Verspätung der Industrialisierung und
geringen Ausbildung von Kapitalbürgertum und schließlich – in Zusammenhang
damit – in den nationalen Selbstfindungsprozessen, in denen danach zu fragen
war, wer die erstrangigen Repräsentanten der Nation und ihrer Werte seien. Ob
die Länder Ostmitteleuropas im Dorf oder in der modernen Metropole, im Bauer
oder im Bürger ihren nationalen Typus fänden, darüber gab es in den Debatten
über nationale Selbstbilder und Modernisierung bis ins 20. Jahrhundert hinein
ganz unterschiedliche Antworten. So war das tschechische Volk für die Literaten
der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch die bäuerliche Volkskultur geprägt,
der Bauernstand wurde zur Basis der Nation und die „böhmische Hütte“ (chalupa,
chaloupka) zur Metapher des Tschechentums.88 Und die Prager Landesausstellung
Böhmens von 1891 inszenierte in einem speziellen Pavillon die „böhmische
Hütte“ und die bäuerliche Volkskultur, die dann auch von der
Kunstgewerbebewegung am Anfang des 20. Jahrhunderts rezipiert und
akzentuiert wurde.89 Eine ähnliche Idealisierung des bäuerlichen Volkstums
wurde auch für die Slowaken typisch, die noch im Ersten Weltkrieg zu über drei
Fünftel im Agrarsektor tätig waren.90 Wie die Slowaken stützten sich generell die
sogenannten nichthistorischen Nationen – wie etwa die Ruthenen, Litauer oder
Slowenen – in der Nationsbildung auf ihre bäuerliche Grundlage, da ihnen der
eigene Adel als Träger der historischen Kontinuität und als „politische Nation“
entweder fehlte wie bei den Slowenen oder durch Polonisierung, Magyarisierung
oder Germanisierung als Akteur der neuen ethnischen, an der Sprache orientierten
Nation ausfiel, ja gegen den sich diese wenden musste.91 Allerdings wurde der
Adel auch aus der tschechischen Nationalbewegung verdrängt, aus sprachlichen
ebenso wie aus sozialen Gründen.92 Im Unterschied zu den Tschechen und den
genannten nichthistorischen Nationen entwickelte sich dagegen in Polen und
Ungarn die moderne ethnisch-kulturelle Nation aus der vormodernen politischen
Nation des Adels heraus, der hier in der Nationalbewegung die Initiative und
86
87
88
89
90
91
92
HOENSCH, Geschichte Böhmens, 1992, 283–286.
SZÜCS, Die drei historischen Regionen Europas, 1990, 60 f.
HROCH, Na prahu národní existence, 1999, 221–224 und 255–257.
JANATKOVÁ, Modernisierung und Metropole, 2008, 39–42.
HOENSCH, Die Entwicklung der Slowakei, 1995, 119 f. und 122.
BARDACH, De la nation politique à la nation ethnique, 1995, 20–21.
HROCH, Na prahu národní existence, 1999, 253–255.
29
Führung übernahm und bis in die Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts seine
gesellschaftliche Autorität wahren konnte.93
Die ostmitteleuropäischen Nationsbildungsprozesse waren mit der
Notwendigkeit einer dreifachen Emanzipation konfrontiert. Bei der Formierung
der modernen, ethnischen Nation und ihres nationalen Bürgertums mussten sich
erstens insbesondere die nichthistorischen Nationen, aber auch die Tschechen von
der längst polonisierten, magyarisierten oder germanisierten Adelselite
emanzipieren. Darüber hinaus erforderte ihre Nationsbildung zweitens auch die
kulturelle und gesellschaftliche Emanzipation insgesamt vom Einfluss der
(bislang) herrschenden, obgleich oft minoritären Nationalitäten der Polen, Ungarn
oder Deutschen – gleichsam in konkreter Dialektik der historisch gewachsenen
Multiethnizität – , zumindest die Abgrenzung und Verhältnisbestimmung zu „den
anderen“ im Lande bei der nationalen Bewusstseinsbildung.94 Schließlich drittens,
und damit in Zusammenhang, mussten sich die neuen Nationen aus den
imperialen Großreichen emanzipieren. Dies alles zusammen gelang bekanntlich
endgültig erst infolge des Ersten Weltkriegs.
Die neuen Nationalstaaten und ihre Positionierung im europäischen
Mächtesystem hatten für ihre Ausreifung und Stabilisierung nur wenig Zeit, bis
sie in und nach dem Zweiten Weltkrieg erneut einer imperialen Herrschaft
unterworfen wurden, diesmal dem Sowjetimperium, das die Phase der
bürgerlichen Nationsbildung abrupt beendete. Die folgende Epoche zeitigte in
Ostmitteleuropa gewiss ihre strukturbildenden Wirkungen in Wirtschaft und
Gesellschaft. Die angestrebte ökonomische und gesellschaftliche Modernisierung
blieb jedoch stets begrenzt durch ideologische Vorgaben und durch die
Ausrichtung auf das Sowjetimperium. Zwar kamen nun neue soziale Schichten zu
Aufstieg und Partizipation in Gesellschaft und Kultur, und der Einfluss des Adels
(aber auch des traditionellen Bürgertums) war definitiv beendet. Aber soziale
Mobilität aus individueller Leistung wurde nur im Rahmen und unter der
Kontrolle des gegebenen Kollektivs ermöglicht und gesellschaftlich effiziente
Elitenbildung nur in der kommunistischen Partei oder in strikter Loyalität zu ihr.
Zur ökonomischen Modernisierung wurde zwar die Industrialisierung (meist die
Schwerindustrie, aber sektoral mehrfach wechselnd) forciert und die kollektivierte
Landwirtschaft industrialisiert. Aber die modernisierenden Wirkungen waren für
die Volkswirtschaften nicht nur wegen der oft ideologisch gesteuerten und auf
apriori festgelegten Bedarf ausgerichteten Planwirtschaft begrenzt, sondern vor
allem auch durch die imperiale Ausbeutung der Produktion, die quantitativ,
qualitativ und sektoral auf den Bedarf des Imperiums, insbesondere der
Sowjetunion selbst ausgerichtet und daher künstlich gesteuert wurde. Letztlich
wurden so in der Wirkung die Regressionen der Frühneuzeit und die
Verspätungen des 19. Jahrhunderts – in Industrialisierung und eigenständiger
Nationsbildung – erneut bestätigt und verlängert.
93
94
HROCH, Ethnonationalismus, 2004, 21 und 23; DERS., Das Europa der Nationen, 2005, 139.
BARDACH, De la nation politique à la nation ethnique, 1995, 29.
30
Der am längsten wirksame Strukturfaktor der Länder Ostmitteleuropas, die
ethnische Pluralität, wurde im Zweiten Weltkrieg und in der Nachkriegszeit mit
ihren Grenz- und Bevölkerungsverschiebungen, Judenmorden, Aussiedlungen und
Vertreibungen in den meisten Regionen beendet, zumindest weitgehend
abgeschwächt, abgesehen etwa von den Ungarn Siebenbürgens und der
Slowakei.95 Erhalten blieb die Multiethnizität jedoch in der Erinnerungskultur, im
langen Gedächtnis Ostmitteleuropas, das sich vielfach in der Literatur
niederschlägt. Allerdings entstand durch das Sowjetimperium mit der
Zuwanderung russischer Bevölkerung in manchen Ländern eine neue ethnische
Pluralität, besser: Dualität. Insgesamt blieben die horizontale Mobilität und
ethnische Durchmischung jedoch auf weit geringerem Niveau als in den alten
Imperien der Frühneuzeit.
Es ging in diesem Beitrag nicht nur darum, exemplarisch vier historisch
gewachsene strukturbildende Faktoren – Multiethnizität, Rolle der Imperien,
konfessionelle Pluralität, sowie die Relation von Adel und Bürgertum – vor allem
für die in diesem Band behandelten Regionen in ihrer Entstehung zu erläutern und
ihnen damit die nötige geschichtliche Tiefendimension zu geben. Vielmehr ging
es auch darum, sie als langfristige kulturprägende Struktur zu verdeutlichen, die
sich freilich immer wieder gewandelt hat. Diese strukturelle longue durée ebenso
wie ihr Funktionswandel insbesondere im 19./20. Jahrhundert gilt grundsätzlich
für alle vier genannten Faktoren. So spielte etwa die konfessionelle Pluralität
ebenso wie das Gewicht des Adels in den Nationsbildungsprozessen eine
unterschiedliche Rolle; sie ist jedoch bis heute vor allem in den Regionen der
unierten und orthodoxen Kirchen relevant. Offenkundig ist diese sich wandelnde
Langzeitstruktur nicht zuletzt aber in der ethnischen Vielfalt und deren jeweils
neuen oder unterbrochenen Kulturkontakten bis zu den Grenz- und
Bevölkerungsverschiebungen des 20. Jahrhunderts. Verstärkt noch durch die
Funktion der Imperien, bildete sie jedenfalls Voraussetzungen für ethnokulturelle
Überschichtungen und Verschränkungen ebenso wie für Abgrenzungen und
Konflikte, die noch bis heute relevante Wirkungen in Erinnerungskultur und
Mentalität hervorbringen.
Literaturverzeichnis:
BAHLCKE, Joachim: Ostmitteleuropa. In: Studienhandbuch östliches Europa, Bd.
1: Geschichte Ostmittel- und Südosteuropas. Hg. v. Harald ROTH. KölnWeimar-Wien 1999, 59–72
95
BARDACH, ebd. 30 f., weist auf bleibende ethnische Mischungen in manchen Regionen hin.
Allerdings stellten Ethnien keinen gesellschaftlich relevanten Faktor mehr dar.
31
BAHLCKE, Joachim: Ungarischer Episkopat und österreichische Monarchie. Von
einer Partnerschaft zur Konfrontation (1686–1790). Stuttgart 2005
(Forschungen zur Geschichte und Kultur des östlichen Mitteleuropa 23)
BARDACH, Juliusz: De la nation politique à la nation ethnique dans le centre-est de
l’Europe. In: Acta Poloniae Historica Bd. 71 (1995), 17–35
BAUMGÄRTNER, Wilhelm Andreas: Eine Welt im Aufbruch. Die Siebenbürger
Sachsen im Spätmittelalter. Hermannstadt 2008
BELZYT, Leszek: Krakau und Prag zwischen 14. und 17. Jahrhundert. Toruń 2003.
BITAY, Árpád: Die Rumänen Siebenbürgens unter den protestantischen Fürsten
(1606–1691). In: Kirche – Staat – Nation. Eine Geschichte der katholischen
Kirche Siebenbürgens vom Mittelalter bis zum frühen 20. Jahrhundert. Hg. v.
Joachim BAHLCKE und Krista ZACH. München 2007 (Veröffentlichungen des
Instituts für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas,
Wissenschaftliche Reihe 98), 93–116
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jours. Hg. v. István György TÓTH. Budapest 2003, 39–125
Zukunftsvorstellungen und staatliche Planung im Sozialismus. Die
Tschechoslowakei im ostmitteleuropäischen Kontext 1945–1989. Hg. v.
Martin SCHULZE WESSEL und Christiane BRENNER. München 2010 (Bad
Wiesseer Tagungen des Collegium Carolinum 30)
41
Anna Veronika Wendland
Galizien als Referenzraum kultureller Interferenz
1. Kulturelle Interferenz und ihre Räume: Problemstellungen und
Diskussionen
1.1 Die Begriffe
Jede geschichtswissenschaftliche Diskussion um kulturelle Interferenz setzt
voraus, dass es Differenz gibt. Historische Akteure schließen sich als soziale
Wesen zu Gruppen zusammen, was auch bedeutet, dass sie andere, ihnen
vermeintlich oder tatsächlich unähnliche Individuen oder Gruppen von dieser
Vergesellschaftung ausschließen. Ohne dass jedes dieser Merkmale zutreffen
muss, beziehen sie sich dabei in der Regel auf eine gemeinsame Sprache oder auf
geteilte religiöse Vorstellungen, auf gemeinsame historische Erfahrungen und
Erwartungshorizonte. Auf den unklaren Begriff der „kollektiven Identität“ wird
hier in Anlehnung an Lutz Niethammers Kritik „wissenschaftsförmiger“
Identitäts-Formeln bewusst verzichtet.1 Präziser scheint der von den
Sozialpsychologen Henri Tajfel und John Turner vorgeschlagene Begriff der
„sozialen Identität“, der konsequent vom Individuum ausgeht. Soziale Identität ist
demnach das Selbstkonzept eines Individuums, das aus der Kenntnis des
Individuums über seine Teilhabe an einer sozialen Gruppe erwächst. Es regelt sein
Verhältnis zu anderen Menschen und enthält kognitive, bewertende und affektive
Komponenten. Individuen wissen sich einer Gruppe zugehörig, bewerten diese
Zugehörigkeit und verbinden damit bestimmte Emotionen. Sind diese
Bewertungen und Gefühle ausgeprägt positiv, gewinnen die entsprechenden
Gruppen an Kohärenz durch gegenseitige Verpflichtung der Mitglieder.
Gleichzeitig gibt es kategorisierende Vereinbarungen der Gruppenmitglieder
untereinander – sie entscheiden, wer zur Gruppe gehört und wer nicht (ingroup vs
outgroup), sie verhalten sich so, dass sie als Gruppe wahrnehmbar sind
(„Salienz“), und sie teilen Auffassungen über ein gemeinsames Schicksal in der
Vergangenheit und gemeinsame Ziele in der Zukunft. Da die einzelnen Menschen
aber als soziale Wesen in der Regel mehreren Kollektiven unterschiedlicher
Ausdehnung angehören, kommt es immer wieder zu Koexistenzen,
Überschneidungen, hierarchisierenden Einschließungen, aber auch Konflikten
1
NIETHAMMER, Kollektive Identität, 2000, 28‒54, 625.
42
unterschiedlicher sozialer Identitäten.2 Die in diesem Band umschriebene
„kulturelle Interferenz“ vollzieht sich auf diesem Wege in und durch einzelne
Menschen in Kommunikation mit anderen, oft aber auch buchstäblich durch sie
hindurch.
Historische Akteure agieren nicht ort- und raumlos, sondern in ihren
jeweiligen Milieus, Lebensmittelpunkten und Geschichtsregionen. Das
Zugehörigkeitsgefühl zu einer bestimmten räumlichen Einheit bildet häufig eine
affektive Komponente sozialer Identitäten. Daher muss auch die Frage nach den
Räumen kultureller Interferenz gestellt werden. Gibt es besondere Räume, die sich
durch eine signifikante Intensität von Interferenz-Ereignissen auszeichnen? Die
historische und kulturwissenschaftliche Forschung zum Konzept- und
Kulturtransfer, zur Verflechtungsgeschichte und zur „transnationalen“ Geschichte
hat sich insbesondere mit Orten und Räumen auseinandergesetzt, welche
Transfers begünstigen. Insbesondere Grenzgebiete (im nationalen Zeitalter) oder
Transitionszonen (im vornationalen) sind in diesem Zusammenhang von
besonderem Interesse.3 Dazu können Geschichtsregionen gehören wie das
Rheinland oder der Ostrand Ostmitteleuropas (die ehemaligen Ostgebiete PolenLitauens)
mit
ihren
spezifischen
konfessionell-kulturell-politischen
Konstellationen, aber auch Kontaktzonen anderer Art: die osteuropäische frontier
des Mittelalters und der Frühneuzeit an der Steppengrenze, welche eine
Erschließungsgrenze
zwischen
christlich-agrarischen
und
nomadischmuslimischen bzw. nomadisch-animistischen Kulturen war, oder die russische
Erschließungsgrenze in Sibirien und Ostasien4, aber auch innere Peripherien wie
Gebirge oder Küsten. Die Diskussion über „Kulturgrenzen“, Interferenzen – oder
mit den postcolonial studies gesprochen, „hybride“5 Phänomene und „dritte“
Räume, benötigt also Referenzräume. Mit dem Begriff des Referenzraums meine
ich aber nicht nur Kommunikationsräume oder den in der Literaturwissenschaft
geformten third space, sondern auch konkrete Geschichtsregionen. Im
vorliegenden Band konzentrieren sich die Beiträge sogar auf einen geographisch
relativ eng umgrenzten Groß-Referenzraum bzw. die mit ihm korrelierenden
literarischen Wirklichkeitsentwürfe. Dieser ist weitgehend deckungsgleich mit
Peripherien und inneren Peripherien der Habsburgermonarchie und deren
2
TAJFEL/ TURNER, Social identity, 1986; TAJFEL, Human Groups, 1981.
ESPAGNE, Transferts, 1999; WERNER/ ZIMMERMANN Hg., De la comparaison à l’histoire
croisée, 2004; DIES.: Vergleich, 2002; RANDERA, Geteilte Geschichte, 1999; RANDERA/ CONRAD,
Einleitung, 2002; PATEL, Nach der Nationalfixiertheit, 2004.
4
WENDLAND, Randgeschichten?, 2008.
5
Das von Homi Bhabha und anderen popularisierte Konzept der „Hybridität“ ist auch ein
Beispiel für eine besondere Form kultureller Interferenz, in diesem Falle für den Konzepttransfer
über die Grenzen von Disziplinen und Regionen hinweg. „Hybridität“ wanderte von der Biologie
im Gefolge der Evolutionstheorie zur Literaturtheorie Bachtins und von Westeuropa nach
Osteuropa, schließlich wurde der Begriff zurücktransferiert und von den transatlantischen
Kulturwissenschaften popularisiert. Dieser Prozess erfolgte über – allerdings selektive – Rezeption
und Übersetzung von Werken aus der osteuropäischen Formalen Schule und Kultursemiotik; dazu
BAL, Travelling Concepts, 2002.
3
43
Nachfolgestaaten: Ostgalizien, der Karst, die Karpaten, die deutschsprachigen
„Sprachinseln“ in der Slowakei, das Burgenland.
1.2 Galizien
Galizien spielt in diesem Konglomerat aus Peripherien – aus denen Karl Markus
Gauß einmal ein „Buch der Ränder“ synthetisiert hat6 – vermutlich noch einmal
eine Sonderrolle. Als nach den und durch die Teilungen Polens synthetisisch
hergestelltes Kronland eignet es sich als Studienobjekt par excellence für
transregionale bzw. transkulturelle, sogar transnationale Betrachtungen: Galizien
war keine gewachsene, sondern eine durch die Teilungen Polens ab 1772
gemachte – also durch Grenzverschiebungen, Annexion und Militäraktion
generierte Neoregion des anbrechenden nationalen Zeitalters. Darin ist es späteren
Neoregionen vergleichbar, so den ihrerseits in einem alten sprachlich-kulturellen
Interferenzraum gelegenen, von den westlichen Alliierten nach dem Zweiten
Weltkrieg geschaffenen westdeutschen Bundesländern Nordrhein-Westfalen und
Baden-Württemberg. Das Kunstprodukt Galizien musste also als
zusammenhängender Raum erst noch erfunden werden, eine diskursive,
historiografische und politische Operation, auf die noch zurückzukommen sein
wird. Der US-Historiker Larry Wolff geht soweit, von einem Konglomerat aus
Idee und Phantasie zu sprechen, das gleichwohl in der imperialen Provinz – und
gerade in der Provinz – als transnationaler Raum immer mehr an Realitätsgehalt
gewann.7
Zunächst aber zu den konkreten räumlich-historischen Gegebenheiten: Die
Neoprovinz Galizien integrierte eine alte europäische Kontaktzone, nämlich jene
zwischen lateinischer, römisch-katholischer Welt und der Slavia orthodoxa. An
dieser konfessionellen Grenzlinie waren infolge politischer Hegemonie
(Herrschaft römisch-katholischer polnischer Könige und eines römischkatholischen Adels über orthodoxe Untertanen) und
im
Zuge
gegenreformatorischer Angleichungspolitik neue regionale Sonderkonfessionen
entstanden, nämlich die mit Rom unierten Ostkirchen der Ruthenen (Ukrainer)
und Armenier, die ihren angestammten Ritus und ihre kirchenslawische bzw.
armenische Liturgiesprache behielten, aber der vatikanischen Jurisdiktion
unterstanden. Gerade die konfessionelle Lage kann also als besonderes Merkmal
der Geschichtsregion festgehalten werden. Die erst unter habsburgischer
Herrschaft eingeführte neue Konfessionsbezeichnung für die unierte ruthenische
Ostkirche als griechisch-katholische Kirche ist nicht nur symbolischer Ausdruck
einer vorher nicht gekannten rechtlichen Besserstellung gegenüber den römischen
Katholiken, sondern kann auch als nomenklatorischer Hinweis auf diese
besondere Form kultureller Interferenz gelten. Trotz mannigfaltiger Einflüsse des
hegemonialen lateinischen Katholizismus auf die ruthenische Kirche, ihre
6
7
Buch der Ränder, 1992.
WOLFF, Idea, 2010.
44
Verwaltungsstruktur, theologische Inhalte, Bildsprache und Liedgut waren aber
die Lebenswelten, Sprachen, Liturgien, Kirchenarchitekturen, Kalender und
Festtage der römischen und der „griechischen“ Katholiken nach wie vor stark
voneinander unterschieden. Die alte west-ostkirchliche Grenze war in Galizien
zwar administrativ verwischt, lebte aber weiter.8 In Galizien lag darüber hinaus
auch eine linguistische Grenzlinie, nämlich jene zwischen dem west- und dem
ostslawischen Sprachraum, mit den Leitsprachen Polnisch und Ukrainisch und
den – wiederum auf die römischen bzw. byzantinisch-griechischen kirchlichen
Zuordnungen zurückgehenden – unterschiedlichen Schriftsystemen, dem
lateinischen und dem kyrillischen Alphabet. Quer zu diesen Grenzziehungen
befanden sich die deutschen und jüdischen bzw. jiddischsprachigen
Gemeinschaften, die über das gesamte Land verstreut zu finden waren.
Die Provinz entstand also als Ergebnis einer Reihe von territorialen
Neuordnungen am Ostrand Ostmitteleuropas zwischen dem letzten Drittel des 18.
und der Mitte des 19. Jahrhunderts. Ihre Grundbestandteile waren einerseits die
historischen Territorien Kleinpolens und der Stadt Krakau sowie einige kleinere
schlesische Herzogtümer – das war der „lateinische“ Teil, das spätere
Westgalizien bzw. der Oberlandesgerichtsbezirk Krakau. Auf der anderen Seite
stand das eigentliche historische Land Galizien, also das neugeschaffene
„Ostgalizien“, das mit dem Oberlandesgerichtsbezirk Lemberg identisch war.
Ostgalizien – und überhaupt die gesamte Bezeichnung – ging auf ein ostslavisches
Teilfürstentum im Verbund der Kiewer Rus’ zurück: Halyč-Volodymyr
(„Galizien und Lodomerien“) umfasste große Gebiete der heutigen Westukraine
mit den bedeutenden Burgstädten Lemberg (lat. Leopolis/ ukr. L’viv/ poln.
Lwów/ jidd. Lemberik) und Halyč. Es fiel Mitte des 14. Jahrhunderts an das
Königreich Polen, wo es jedoch stets eine gesonderte Verwaltungseinheit blieb,
deren Namensgebung auf die ostslavische und orthodoxe Tradition verwies:
Czerwona Ruś/ Russia Rubra bezeichnete das in deutschsprachigen Quellen als
„Rotreußen“ bezeichnete Gebiet, bzw. in älterer Diktion die „Červenischen
Burgen“ des Mittelalters, eine Gruppe von befestigten Orten, die den westlichsten
Außenposten der Kiewer Rus‘ darstellten. Im der mittelalterlichen polnischen
territorialen Einteilung wurde daraus die sogenannte „ruthenische
Wojewodschaft“ (wojewódzstwo ruskie). Österreichs Anspruch auf die galizischen
Gebiete wurde derweil in der die Teilungen Polens begleitenden
Legitimationspropaganda als „Revindication“, also Rückforderung ehemals
zugehöriger Kronlande dargestellt. Diese schien durch galizisch-ungarische
Heiratsbeziehungen in der Fürstenzeit, welche einen Anspruch der Stephanskrone
auf „Galizien und Lodomerien“ nach sich gezogen hätten, belegbar.9 Die
8
Zur Einführung in die konfessionelle Gemengelage: HIMKA, Religion, 1999.
Ein Überblick zu diesen territorialen Vorgeschichten in WENDLAND, Galizien, 2000.
Innerhalb der Projektgruppe „Mittelalterliche Grenzregionen im Vergleich“ am
Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas an der Universität
Leipzig (GWZO) (Laufzeit 2011‒2013), in der es insbesondere auch um die neuzeitliche
Rezeption der Grenzregion Halyč-Volyn geht, gegenwärtig in Arbeit Marina DMITRIEVA: Das
9
45
österreichische Titulatur reflektiert den Synthesecharakter des Territoriums, wobei
die westgalizischen, kleinpolnischen Territorien in dem Konglomerat zumindest
nicht mehr als polnische Länder erkennbar waren: „Königreich Galizien und
Lodomerien mit den Herzogthümern Krakau, Auschwitz und Zator“. Die
Berührungsängste vieler Polen – insbesondere der demokratisch-revolutionären
Polen des 19. Jahrhunderts – mit diesem Konstrukt, dem Oktroi Galizien, rührten
unter anderem aus dieser Geschichte der Teilungen und der anschließenden
Verschleierung historisch-territorialer Zusammenhänge.10 „Königreich mit…“,
römisch- und griechisch-katholisch, west- und ostslawisch: Galizien war eine
bipolare Neoregion, und die Himmelsrichtungen Osten und Westen markierten die
administrative und auch kulturell-sprachliche Unterteilung. Die beiden
Metropolen Krakau und Lemberg mit ihren unterschiedlichen städtebaulichen
Traditionen und politischen Kulturen standen stellvertretend für diese
Doppelgesichtigkeit Galiziens.
Diese komplexe territorial-historische Gemengelage hat aber dem Mythos
Galizien als einer zusammenhängenden Geschichts- und Kulturregion nichts
anhaben können, oder umgekehrt, sie hat ihn erst geschaffen. Die Renaissance des
Interesses an Galizien, die wir seit den 1990er Jahren beobachten, erfolgte in
einem Bedingungsgefüge aus der politischen Neuordnung (Ost-) Europas und
dem daraus entstehenden Interesse an alten Grenzziehungen, vergessenen bzw.
systematisch denunzierten Zugehörigkeiten und verschwiegenen Erinnerungen.
Das erklärt die vor allem in Österreich, aber auch in Deutschland gesteigerte
Aufmerksamkeit für Galizien und andere ehemalige österreichische Kronländer.
Im Vordergrund stand dabei immer Galiziens kulturelle Pluralität: die
Vielsprachigkeit seiner Bewohner zwischen Polnisch, Ukrainisch, Jiddisch,
Deutsch, die religiöse Vielfalt der christlichen Konfessionen bei einer gleichzeitig
bedeutenden
Stellung
des
Judentums;
Galizien
als
gemeinsame
Literaturlandschaft vieler Sprachen und Gruppen; Galiziens Stellenwert in der
Erinnerungskultur des in Europa fast vollständig vernichteten, in Nordamerika
und Israel aber weiterlebenden aschkenasischen Judentums – und all dies
(vermeintlich) abgebildet und uns überliefert in der beeindruckenden
Textproduktion von Autorinnen und Autoren mit galizischem biografischen
Hintergrund.11
1.3 Interferenzräume zwischen Modediskurs, politischer Kontroverse und
wissenschaftlicher Begründung
Fürstentum Halyč-Volyn im Spiegel der russisch-imperialen, sowjetischen, polnischen und
ukrainischen Archäologie und Kunstgeschichte.
10
Abgesehen davon machte Galizien durchaus auch im polnischen Milieu Karriere, denn es
wurde der Bezugsraum der galizischen polnischen, habsburgloyalen Konservativen und ihrer
historisch-politischen Schule. WOLFF, Idea, 2010, insbesondere Kapitel 5, 188‒230.
11
Galizien, 1988; KASZYŃSKI, Der jüdische Anteil, 1996; DERS., Galizien. Eine literarische
Heimat, 1987; DERS., Mitteleuropa, 2009.
46
Die Verortung von Interferenz oder, je nach Fachrichtung, „transnationaler“ oder
„transkultureller“ Phänomene in speziellen Geschichtsregionen kann gleichzeitig
aufschlussreich und problematisch sein, wie Fachdiskussionen zeigen.12 Das
große Interesse ist auch immer mit der Gefahr der Exotisierung und Idealisierung
verbunden – die Einwanderergesellschaften von heute suchen Antworten auf ihre
Probleme in längst untergegangen territorialen Einheiten, wo die Koexistenz in
Differenz vermeintlich besser funktionierte als heutzutage. Erhellenden
Erkenntnissen aus Lokalstudien zu interkulturellen Beziehungen stehen Zweifel
an Theoriekonjunkturen mit globalem Erklärungsanspruch gegenüber. Leistet
nicht eine Konzentration auf Transkulturalität, Interferenz und im Nachhinein
wahrgenommene (oder solche wahrhaben wollende) Gemeinsamkeiten einer
ungewollten Exotisierung historischer Verhältnisse Vorschub, statt ihnen gerecht
zu werden? Darauf hat Riccardo Nicolosi in seinen – sich ebenfalls mit dem
Habsburgerreich als wichtigem Referenzraum auseinandersetzenden Arbeiten zu
bosnischen kulturellen Identitäten im Kontext des Habsburgerreiches
hingewiesen,13 und das gilt ähnlich auch für Galizien. Im Kontext der UkraineStudien wird gegenwärtig diskutiert, ob und inwieweit man eine transnationale
Geschichte der Ukraine (in der die Geschichtsregion Galizien eine bedeutende
Rolle spielt) jenseits einer Geschichte der Ukrainer schreiben könnte – als
aufeinander bezogene Geschichte von ukrainischen Ukrainern, Polen, Juden,
Russen und anderen Gruppen auf dem Territorium der Ukraine, oder als
Geschichte
transnationaler
Verflechtungen
und
nichtnationaler
Vergesellschaftungen in Religionsgemeinschaften oder Städten.14 Die Ukraine als
Ganzes wird im Westen bereits als „Laboratory of transnational history“15
bezeichnet, während im Lande selbst nach wie vor das nationale Paradigma
dominiert, im Sinne einer nachholenden Geschichtsauffassung nach dem Ende des
sowjetischen pseudo-transnationalen Zwangssystems.16
Fest steht aber, dass Osteuropa in der Diskussion der Kultur- und
Geschichtswissenschaften
um
Transnationalität,
Kulturtransfer,
Translationsforschung oder die Frage nach leitenden travelling concepts in den
Geisteswissenschaften zunehmend als wichtige Region wahrgenommen wird.
Dabei geht es gar nicht so sehr um nachholende Theoriearbeit im Sinne eines
West-Ost-Wissenstransfers nach dem Ende der Diktaturen. Im Mittelpunkt steht
vielmehr
die
Wiederentdeckung
von
spezifisch
osteuropäischen
Herangehensweisen bei der Erforschung oder Konzeptualisierung von
Interkulturalität sowie osteuropäischer Impulse und lange vergessener
12
Als Beispiele seien hier neben der eigenen Projektgruppe „Kulturelle Interferenzen“ am
GWZO (2007-2010) einige einschlägige Forschungsgruppen genannt: Universität Konstanz,
Exzellenzcluster 16 „Kulturelle Grundlagen von Integration“; GWZO, Projektgruppen
„Ostmitteleuropa transnational“ und „Mittelalterliche Grenzregionen im Vergleich“ (2011‒2013);
Universität Wien, Doktoratskolleg Galizien (2007‒2012).
13
NICOLOSI, Dialogische Toleranz?, 2009.
14
WENDLAND, Ukraine transnational, 2011; insgesamt KAPPELER Hg., Ukraine, 2011.
15
A Laboratory, 2009.
16
WENDLAND, Ukraine transnational, 2011.
47
Transferwege von Ost nach West, welche für die Theoriebildung im Westen, d.h.
v.a. in Frankreich oder den USA, von großer Bedeutung waren. Dazu gehört
beispielsweise die westliche Rezeption russischer und tschechischer semiotischer
und linguistischer Schulen. Auf diesem Gebiet hat die Slawistik in letzter Zeit
einigen Forschungsbedarf angemeldet.17
Der Interferenzbegriff wird im Wissenschaftssystem anders verhandelt und
behandelt als im System der politischen Öffentlichkeit, so beispielsweise in den
Kontroversen um die Zukunft moderner Gesellschaften. In den
Einwanderungsländern werden vor allem die politisch-rechtlich-kulturellen
Verfahrensweisen im Umgang mit durch Einwanderung erworbener kultureller
Differenz und (behaupteten) Parallelgesellschaftsbildungen diskutiert – wobei mit
dem problematischen Begriff der Parallelgesellschaft eigentlich die historisch
migrationstypischen Verhaltensweisen und Vergesellschaftungsformen der ersten
drei Generationen von Einwanderern gleich welcher Provenienz gemeint sind.
Eine
historische
Kontextualisierung
der
Entstehung
von
Einwanderergesellschaften oder eine selbstreflexive Beobachtung der damit
verbundenen Kontroversen kommt dabei in der Regel nicht zustande, wie am
Beispiel der Sarrazin-Debatte in Deutschland 2009/10 zu sehen. Diese Debatte
kann genau genommen selbst als Ausweis kultureller Interferenz gelten, denn sie
spiegelt den Diskussions- und Selbstvergewisserungsprozess einer Gesellschaft
über die in ihr vorgefundene kulturelle Differenz wider, welche als
gesellschaftsverändernd wahrgenommen wird. Auch könnte die Geschichte der
Titularnation, um die es in der Debatte vordergründig ging, auch als
Interferenzgeschichte und ihr Territorium als Interferenzraum gelesen werden:
Deutschland hat eine Migrations- und Integrationsgeschichte mit historisch weit
zurückreichenden Traditionen, und es besitzt Geschichtsregionen, in denen
Wanderungsbewegungen und kultureller Austausch immer besonders dicht waren.
In stark polarisierenden Diskussionen haben jedoch solche oft kompliziert
begründeten und hintergründigen Interferenz-Begriffe schon aufgrund der
Gesetzlichkeiten medialer Aufbereitung keine hohe Verbreitung. Sie werden in
jedem Falle verkürzt und je nach Position entweder nur auf wünschenswerte
(nicht: vorgefundene) Effekte interkulturellen Lernens angewendet oder aber
pauschal mit einer unkritischen Idealisierung von Multikulturalität gleichgesetzt.18
17
Was der Referent Boris Buden 2009 auf einer Tagung problematisierte: „The Transnational
Study of Culture – Lost or Found in Translation? Cultural Studies – Sciences humaines –
Kulturwissenschaft(en).“ Tagung des Graduate Center for the Study of Culture (GCSC) der JustusLiebig-Universität Gießen, Rauischholzhausen 28.-30. Oktober 2009; WENDLAND, Russian
Empire, 2008; DIES.: Jenseits der Imperien, 2009; DIES. Cultural Transfer, 2012.
18
Die Debatte um Thilo Sarrazins Bestseller „Deutschland schafft sich ab“ wurde im Kern um
die angeblich kulturell begründbare Integrierbarkeit oder Nichtintegrierbarkeit von
Zuwanderergruppen geführt, im Detail auch um Methodologie und argumentative Traditionen, in
die sich Sarrazin stellte, nämlich biologistische und proto-eugenische Argumentationsmuster.
Dabei kamen die genannten konträren, verkürzten Vorstellungen von Interferenzialität zum
Tragen. Dazu: Sarrazin, 2010; Schwarz, Sarrazin-Debatte, 2010.
48
Die geisteswissenschaftliche Interferenzforschung hingegen bewegt sich viel
näher am naturwissenschaftlichen Vorbild,19 indem sie jedwede Interaktionsform
zwischen kulturell differenten Einheiten beobachtet und dabei kulturelle Differenz
gar nicht wegdiskutieren – oder durch Assimilationsprogramme wegdekretieren –
möchte, sondern eine solche Differenz notwendigerweise voraussetzt. Leitbegriffe
und -konzepte einer solchen Forschung sind idealerweise blind für den Inhalt der
jeweils transferierten, transportierten oder interagierenden Phänomene: die
Kulturtransferforschung konzentriert sich auf die Transformation ihrer
Gegenstände – ob Ideologie, Technologie, Ware oder Kunstströmung, die sich
beim Wandern von Ausgangs- zu Zielgesellschaften einstellt, sie analysiert
Aneignungsleistungen und Spurenverwischungen, von denen die Geschichte
kultureller Transfers voll ist. Die Übersetzungsforschung behandelt die konkreten
Akteure und Verfahren, welche in komplexen sprachlichen und kulturellen
Übersetzungsakten Dinge verändern und in neue Kontexte einschleusen. Auf dem
Feld der Wissenschaftsgeschichte und wissenschaftlichen Theoriegeschichte
gewinnt das Phänomen der travelling concepts zunehmend Bedeutung: Begriffe
und Konzepte überwinden demnach nicht nur kulturell-sprachliche, sondern auch
disziplinäre Grenzen und werden in ihren neuen Kontexten zu
erkenntnisfördernden Innovationsmaschinen. Alle drei Konzepte greifen
ineinander, weil häufig „übersetzende“ historische oder wissenschaftliche Akteure
in kulturellen Interferenzregionen geboren, geprägt und vor allem mehrsprachig
ausgebildet wurden oder auf andere Weise (als Migranten) Erfahrungen
sammelten, die ihrer Übersetzungsaufgabe zugutekamen.20 Was dabei übersetzt,
transferiert und an lokale Gegebenheiten angepasst wurde, ist dabei zweitrangig,
und schon gar nicht ist das Kennzeichen kultureller Vermittlungs- und
Transferprozesse, wie sie uns in Interferenzregionen interessieren,
notwendigerweise die Vermittlung und Grenzverwischung. Mitunter haben
bestimmte Denkweisen und Konzepte sehr erfolgreich Grenzen überwunden,
generieren aber sogleich neue; das Lernen vom Gegner ist eines der großen
Themen der Kulturtransfer- und somit auch der Interferenzforschung. Dabei geht
es den Akteuren häufig weniger um Grenz- als vielmehr um Spurenverwischung,
um die Aneignung des gegnerischen Wissens oder institutionellen Vorbildes in
der eigenen Gesellschaft zu erleichtern.21 Zum Repertoire transnationaler
Wissens- oder Ideologietransfers im 19. und 20. Jahrhundert gehören nicht nur
viele Aspekte der deutsch-französischen Institutionen- und Militärgeschichte,
sondern auch lange unterbelichtete Lern- und Wissenstransferprozesse zwischen
den USA, der Sowjetunion und dem NS-Staat.22 Höchst erfolgreiche europäische
bzw. globale Lern- und Transfergeschichten bieten der Anarchismus genauso wie
19
Dazu auch die Einleitung zu diesem Band.
BAL, Travelling concepts, 2002, 22‒34; WENDLAND, Cultural Transfer, 2012; BACHMANNMEDICK, Cultural turns, 42010, 238‒283, Kapitel „Translational Turn“; HÜCHTKER/ KLIEMS,
Überbringen, 2011.
21
AUST/ SCHÖNPFLUG, Vom Gegner lernen, 2007; Middell, Kulturtransfer, 2000.
22
SCHERRER, „Einholen“, 2007; PATEL, „All of this“, 2007; WIRSCHING, Antibolschewismus,
2007.
20
49
der Antisemitismus, die moderne Nationalidee genauso wie der
Internationalismus, das ökologische Denken genauso wie die Kerntechnik und der
Rüstungswettlauf.23 Genauso bedeutet Interferenz nicht die Abwesenheit von
Konflikt, sondern der Begriff will und muss auch das konflikthafte Interagieren
von Akteuren und den von ihnen produzierten kulturellen Ausdrucksformen
analysieren. Gleichwohl ist letzteren Forschungen weniger Popularisierungserfolg
beschieden, weil im Falle der Konflikt- und Gewalterfahrungen andere Ansätze
mehr Beachtung finden, so die reine Gewaltgeschichte oder Erklärungsansätze,
die auf der Prämisse kultureller Inkompatibilität beruhen: clash of civilizations,
Parallelgesellschaften, neuerdings auch wieder biologistische Metaerklärungen für
kulturelle Differenz. Bedauerlicherweise gehorchen auch überaus integre
Vorhaben den Gesetzen dieses Marktes, wie der Erfolg von Timothy Snyders
„Bloodlands“ belegt: hier wird im Resultat einer durchaus wünschenswerten
Rezentrierung der Geschichte von Kriegs- und Gewalterfahrungen auf vergessene
Opfer im ethnokulturell pluralistischen Hinterland der Weltkriegsfronten dennoch
das Ostmittel- und Osteuropa des 20. Jahrhunderts einmal mehr zum finsteren
(Schlacht-) Keller der europäischen Geschichte, wobei, wie Jörg Baberowski
bemerkt
hat,
die
Interferenz
der
Gewaltakte,
nämlich
ihre
Aufeinanderbezogenheit, nicht nur Aufeinanderfolge, der Stalinschen und NaziVerbrechen in denselben Regionen gerade nicht erklärt wird.24
1.4 Wer spricht im Interferenzraum – und wer macht ihn? Das galizische Beispiel
Wenden wir uns noch einmal der begründeten Skepsis gegenüber
weichzeichnerischen Aspekten im Umgang mit kultureller Interferenz zu. Wenn
wir uns in der Sachbuchliteratur zu Interferenzräumen umblicken, dann scheinen
die auf literarischen Zeugnissen oder Erinnerungsliteraturen basierenden
Aussagen für geschichtswissenschaftliche Untersuchungen oft problematisch,
weil seltsam schwerelos und unverortet, obwohl die konkreten Bedingungen der
Textproduktion, nämlich die politischen, ökonomischen und diskursiven
Machtverhältnisse, uns interessieren sollten.25 Zum Beispiel waren im
Habsburgerreich allein die Sprachwahl des Erinnerungstextes oder die Frage,
wann Texte in welcher Sprache produziert wurden, schon das Ergebnis komplexer
Sprache-Macht-Beziehungen. Diskursgeschichtlich gesprochen ging es darum,
was sagbar und was nicht sagbar war, und auch welche Sprachen in konkreten
historischen Situationen überhaupt – im Wortsinne – salonfähig waren, d.h. im
Rahmen der hegemonialen Hochkulturen sprechbar, niederschreibbar oder
publizierbar. Eine Varietätenvielfalt noch nicht kodifizierter Dialekte in einer
23
LEY, Kleine Geschichte, 2003; BENZ, Protokolle, 2007; TIBI, Public Policy 2008; RADKAU,
Ära, 2011, 14‒37; WENDLAND, Povernennja, 2011.
24
SNYDER, Bloodlands, 2011; BABEROWSKI, In verwüstetem Land, 2011.
25
Einige wichtige Sachbücher über Galizien mit breiterem Adressatenkreis als die
geschichtswissenschaftliche Fachliteratur: POLLACK, Galizien, 2001; DERS.., Kaiser, 2010;
DOHRN, Galizien, 2000.
50
oralen, bäuerlichen Kultur, wie etwa im Falle des (West-) Ukrainischen bis Ende
des 19. Jahrhunderts, oder eine als Jargon abqualifizierte gesprochene und
geschriebene Alltagssprache, wie im Falle des Jiddischen, vermochte diese
Anforderungen schlechter zu erfüllen als die imperiale Schriftsprache Deutsch
sowie die subdominanten Schriftsprachen der regionalen Eliten, Polnisch und
Ungarisch. Die dominierenden Vorstellungen und auch Forschungen über die
Region Galizien als kultureller Interferenzraum beruhen wiederum zu einem
großen Teil auf Selbstzeugnissen und anderweitiger Textproduktion jüdischer
Galizierinnen und Galizier26 oder polnischer Eliten in diesen imperialen oder
regionalen Hegemoniesprachen, während bis ins 20. Jahrhundert die
nichtschriftlichen Äußerungsformen der ukrainisch-, polnisch-, jiddisch- oder
romanisprachigen Unterschichten, welche die überwiegende Mehrheit der
Bevölkerung in Galizien repräsentierten, weitgehend unbeachtet bleiben.
Dies führt uns zu einem Sachverhalt, den im Kontext postkolonialer Kulturund Geschichtswissenschaften nichteuropäischer Gesellschaften die sogenannten
Subaltern Studies zur Diskussion gestellt haben: Es gibt in imperialen und
kolonialen wie nachkolonialen Gesellschaften komplexe Macht- und
Hierarchieverhältnisse von Herrschern und Beherrschten, Kolonisatoren und
Kolonisierten, in welchen „unterdrückte“ (oppressed) Gruppen nicht
gleichbedeutend sind mit „subalternen“: Während die einen sichtbar und fassbar
sind und für sich sprechen können – so die von imperialer Fremdherrschaft
unterdrückten lokalen Eliten – gibt es andere Gruppen, welche überhaupt nicht
zum Sprechen und zur Sprache kommen, sei es, weil beständig andere für sie
sprechen, oder weil ihre Art zu sprechen nicht verstanden wird.27 Die im
indischen Kontext aufgekommene Erforschung subalterner Gruppen fokussiert
vor allem auf Eingeborene, Unterkasten und auf Frauen in diesen Gruppen; zu
fragen ist, ob auch die galizischen Kleinbauern und Landarbeiter (oder marginale
Gruppen wie die Roma) in bestimmten Phasen des 19. und 20. Jahrhunderts als
quasi-unterkastische, subalterne Gruppen anzusehen sind, welche nicht zum
Sprechen und folglich auch nicht zur Sprache kamen. Sie treten uns jedenfalls
nicht als Urheber und Urheberinnen von literarischen Texten entgegen, sondern
häufiger als Vermittler nichtschriftlicher Überlieferung und Subjekte
nichtsprachlicher
Kommunikation.
Sozialbanditismus,
Kleinkriminalität,
Aufstände, Agrarstreiks, auch die kaisertreue konservative Rebellion gegen den
Grundherrn gehören zu diesen reaktiven und aktionistischen Formen des
Sprechens, meist in Reaktion auf eine vermeintliche Verletzung althergebrachter
korporativer Rechte. Oder aber die Bauern sprachen in spezifischen Situationen –
so als Angeklagte oder Zeugen in Strafprozessen –, die eine mehrfache
Übersetzungsleistung verlangten und verlangen. Übersetzen musste man bereits
im Gerichtssaal aus ukrainischen Dialekten ins Deutsche oder Polnische –
Polnisch löste seit Mitte der 1860er Jahre als Amts- und Gerichtssprache in
Galizien das Deutsche ab, d.h. die Protokolle wurden in der Regel in diesen
26
27
HÜCHTKER, „Mythos“, 2002; BECHTEL, „Galizien“, 2004.
SPIVAK, „Can the subaltern speak?“, 2011.
51
Sprachen verfasst, wenn auch das Ukrainische in Ostgalizien als weitere
Amtssprache in Gebrauch war. Heutigen Forschern wiederum obliegt die
Übersetzung des Gesagten der offiziell protokollierten Aussage in das vermutlich
Gemeinte. Bei Begründungsversuchen für gewaltförmigen oder auch anderen
Protest, den die Behörden als Störung der öffentlichen Ordnung oder sogar
Anstiftung zum Umsturz im Namen fremder Mächte interpretierten, ging es den
bäuerlichen Sprechern beispielsweise oft um kryvda (wörtlich „Verletzung“,
gemeint war die Verletzung von Rechtsstatus, Würde oder Integrität von Person,
Familie oder eigener sozialer Gruppe oder Verweigerung von traditionell
zugänglichen Ressourcen), die durch Wiedereinsetzung in alte Rechte geheilt
werden konnte. Darauf aufmerksam zu machen, war Ziel des Protests oder der
„staatsgefährlichen“ Aussage. Der vermeintlich russophile Agitator, der den Zaren
ins Land holen wollte, um die Polen und Juden zu verjagen, war vielleicht
eigentlich nur auf die Wiederherstellung seines Anrechts auf Weide- und
Waldnutzung nach alter Tradition aus, das ihm infolge der Grundentlastung
entzogen worden war.28
Sicherlich gab es auch die Übersetzungsleistung von mit der Region
vertrauten Einheimischen, jener ukrainischen Aktivisten und Literaten, welche die
Situation der Bauern als doppelt durch österreichische imperiale und polnische
regionale Herrschaft Unterdrückte thematisierten. Gleichwohl stammten
wiederum diese Akteure bereits aus dem Inbetween, es waren polyglotte
Aufsteiger und Brückenbauer, die sozial und sprachlich gesehen der Bauernwelt
schon genauso fern standen wie die jüdischen oder polnischen Literaten.
Exemplarisch steht dafür der ukrainische Schriftsteller Ivan Franko, ein Beispiel
für einen interferenziellen Sprecher ohne jüdischen Hintergrund. Er wird heute als
der ukrainische Nationalschriftsteller der Westukraine vereinnahmt, ähnelt aber
hinsichtlich seines Erfahrungshorizonts und seiner Produktionsweise seinen
jüdischen Generationsgenossen: Frankos Familie hat eine gemischte deutschukrainische Vorgeschichte, er machte als sozialer Aufsteiger aus dörflichen
Verhältnissen früh Erfahrungen mit Diskriminierung und Zurücksetzung durch die
Arrivierten; er war mehrsprachig und publizierte auf Ukrainisch, Deutsch und
Polnisch.29 Seine Novellen und Feuilletons aus der Welt der ruthenischen
Tagelöhner, urbanen Handwerker und Arbeiter der Ölindustrie am Beginn des 20.
Jahrhunderts waren mitunter die einzige kritische Informationsquelle der
polnisch- und deutschsprachigen Leserschaft zur sozialen Lage der Ruthenen bzw.
des sich bildenden galizischen Subproletariats. Solche gebildeten, politisch
aktiven Brückenbauer hatten jedoch überdies oft auch noch andere Motive, die für
manche Unschärfen bei der Übersetzung führten. Sie waren glühende Verfechter
einer Hebung und Zivilisierung der eigenen Bevölkerung, was auch bedeutete,
dass sie traditionale Wertesysteme, Konsumgewohnheiten und Sprachregelungen,
28
Zu den sprachlichen und symbolischen Formen öffentlich demonstrierter und sozial
motivierter Russophilie WENDLAND, Die Russophilen, 2001, 178‒193, 489‒513.
29
SIMONEK, Möglichkeiten, 2003; HRYCAK, Prorok, 2006.
52
die sie zu übersetzen hatten, unter Umständen nicht teilten, nicht (mehr)
verstanden und nicht billigten.
Das Ergebnis dieser Divergenz von wenigen Sprechenden und vielen
Nichtsprechenden in Galizien ist eine gewisse Schieflage bei der Wahrnehmung
der Geschichtsregion. Die aufgrund der objektiv günstigeren Quellenlage
vorgefundenen Zeugnisse werden von heutigen Lesern als Standard
wahrgenommen, der für die Region als Ganzes steht. Diese Zeugnisse werden
einerseits als exotisch wahrgenommen, weil sie häufig dem fremdgewordenen
jüdischen Kontext und der sehr fern erscheinenden galizischen Armutsökonomie
entstammen. Andererseits werden sie als nah empfunden: Sie erscheinen
hinsichtlich der sozialen Stellung seiner Urheber, des ihnen zugrundeliegenden
Bildungsstandards und der Erzählkonventionen dem Eigenen ähnlich.
Gleichzeitig waren es tatsächlich die jüdischen Autorinnen und Autoren,
welche sich in ihren Erfahrungsräumen tagtäglich mit Differenz und Interferenz
auseinandersetzen mussten: Sie erfuhren Marginalisierung und religiöse
Diskriminierung genauso wie Erfolgserlebnisse im Laufe ihrer Bildungs- und
Karrierewege im Zeichen der Akkulturation, welche wiederum die polyglotten
Sprech-, Denk- und Schreibwelten der jüdischen Bürger zwischen jiddischem
Substrat und deutschem wie polnischen Superstrat, später auch deutscher bzw.
polnischer Erstsprachigkeit erst hervorbrachte. Folglich waren jüdische Autoren
und Autorinnen besonders sensibel für Fragen der Sprache, des Zusammenlebens
der Nationalitäten, für die Situation von Marginalisierten und Minderheiten in
ihrem Verhältnis zu den Herrschenden und den Mehrheiten, kurz – für
Interferenzformen.
In einem Aufsatz von 200230 hat Dietlind Hüchtker die Galizien-Literatur aus
drei Jahrhunderten gesichtet, die vor allem aus solchen Selbstzeugnissen oder
Erinnerungen sowie Reiseberichten besteht. Sie analysiert diese mehrheitlich
deutschsprachigen Texte als Schichtungen eines seit der Aufklärung allmählich
aufgebauten „Mythos Galizien“ und legt eine chronologische Abfolge von
Überlieferungsschichten frei – vom aufklärerischen Reformdiskurs, der sich vor
allem mit sozialen und hygienischen Fragen auseinandersetzt, zur
Galizienbelletristik des 19. Jahrhunderts bis hin zur Erinnerungsliteratur über die
verlorenen Kindheitsorte und die durch den NS-Massenmord vernichteten
sozialen Zusammenhänge nach 1918 und 1945. Hüchtker betont, offensichtlich
inspiriert von der postkolonialen Literaturtheorie, die subversiven Aspekte des
galizischen (vorwiegend: galizisch-jüdischen) Interkulturalitätsmythos. Demnach
diente die Rückschau auf vergangene soziale Verhältnisse und interkulturelle
Begegnungen nicht, wie vordergründig vermutet, der Essentialisierung von eben
vorgefundener, typisch galizischer idealer kultureller Pluralität. Es handelte sich
auch nicht um pauschale Modernekritik, wenn auch die Modernisierungsfolgen an
der agrarischen Peripherie ein großes Thema dieser Literatur waren. Vielmehr
bedeutete dieser Rückgriff in seiner jeweiligen Epoche eine Infragestellung,
mitunter Ironisierung bestehender Machtverhältnisse aus der Erfahrung der
30
HÜCHTKER, „Mythos“, 2002.
53
Marginalisierten – allerdings fast durchgängig, ohne die Kritik auf die
Geschlechterverhältnisse auszudehnen.
Diese spezifische Konstellation der Textproduktion hat das heutige Bild
Galiziens als eines Landes kultureller Interferenz erst produziert: wir finden viele
Quellen in dominanten und weniger davon in nichtdominanten Sprachen; wir
beobachten ein Geflecht von Sprechenden und Nichtsprechenden,
beziehungsweise von Sprechenden, die Macht besitzen, und anderen, die sich
selbst in einer prekären Situation zwischen Dominanz und Nichtdominanz
befinden und darüber reflektieren. Dazu kommt ein weiterer Aspekt: Auch
spezifische Erwartungshorizonte auf der Seite der Rezipienten haben mit zur
Erschaffung Galiziens als typischem Interferenzraum der Kultur(en), „am
Schnittpunkt der Kulturen“, „at the crosscurrents of culture“31 beigetragen. Solche
Erwartungshorizonte wurden in Deutschland und Österreich durch bestimmte
historisch-biografische Motivationen abgesteckt: das spezifische Interesse in den
nachgeborenen Generationen der Täternationen am ausgelöschten osteuropäischen
Judentum. Dieses Interesse steht durchaus in einer älteren Tradition. Das in der
Galizien-Rezeption des 19. Jahrhunderts bedeutende Genre des Reiseberichts,
dem nicht nur die Erfassung unbekannter Gegenden, sondern auch die Sehnsucht
nach Fremdheit und fremden Gegenden als Motiv zugrundeliegt, legt eine weitere
Vermutung nahe. Denkbar ist, dass nach 1945 die oben bereits erwähnte
spezifische Textproduktion weniger im Sinne Hüchtkers als subversive Sicht auf
eigene Verhältnisse gesehen wurde, sondern nur deshalb so begierig aufgesogen
wurde, weil sie sich vorzüglich in eine bereits bestehende Sichtweise einpassen
ließ: nämlich die diskursive Auslagerung von Interferenzereignissen und den
damit einhergehenden Verunsicherungen an die – vorzugsweise kakanischosteuropäische – Peripherie.
Statt Kulturkonfrontation und -kontakt also mit den Herrschaftspraktiken und
Umgangsweisen eigener historischer Akteure, beispielsweise in den
westdeutschen Ländern, zu verknüpfen – wie es der britische Historiker David
Blackbourn am Beispiel des saarländischen Marpingen in der Kulturkampfzeit
oder der ostfriesischen Nordseeküste seit den 1830er Jahren gezeigt hat32 –
vermutete man die Andersheit in zeitlich und räumlich abgeschiedenen Gegenden.
Nicht in Frankfurt am Main, in Hamburg, im Leipzig Mendelssohns oder auch der
agrarischen Welt der westfälischen oder nordhessischen Landjuden wurde das
Judentum aufgesucht, was geheißen hätte, vor der eigenen Haustür und bei den
eigenen Nachbarn zu suchen, mit allen daraus sich ergebenden historischen
Verantwortlichkeiten. Stattdessen wurde die Jüdischkeit mit dem galizischen
Schtetl assoziiert. Die Austauschformen zwischen galizischen Juden und
Nichtjuden hingegen verblieben dabei zumeist im Dunkeln, obwohl die jüdische
Kultur Osteuropas – mit sicht- und hörbaren Folgen in Sprache, Alltags-, Ess-,
31
So die Titel zweier einschlägiger Galizien-Sammelbände: FÄSSLER/ HELD/ SAWATZKI Hg.,
Lemberg, 1995; CZAPLICKA, Lviv, 2002.
32
BLACKBOURN, Marpingen, 1993; DERS., Eroberung, 2007.
54
Musik- oder synagogaler Baukultur – in jahrhundertelangem Austausch mit der
christlichen Umwelt entstand.33
Diese Sichtweise auf Galizien als Interferenzraum ist auch wahrnehmbar in
der Geschichte seiner Re-Touristifizierung nach dem Zusammenbruch der
Sowjetunion. Gerade in der bemühten Suche nach der vorbildlich interkulturellen
Geschichtsregion ging dabei die oben beschriebene Sensibilität für kulturelle
Differenz und Begegnung, die bezeichnend für die jüdische Rezeption ist,
verloren. In der Anfangszeit der Wiederentdeckung neuer Destinationen gab es
immer wieder Bildungs- und Studienreisen auf den Spuren des alten Galizien,
welche ins heutige Lemberg führten, aber eigentlich – und ausschließlich – nach
dem jüdischen Lemberg suchten, als sei dieses wie ein Getto abtrennbar von den
anderen galizischen Kulturen. Seltsam fern blieb dabei das schon über ein halbes
Jahrhundert alte sowjetische und postsowjetische Lemberg-L’viv, in dem es bis
zur Emigrationswelle der 1990er Jahre immer noch mehr Juden – sowjetische
Juden – gab als in deutschen Großstädten vergleichbarer Größe! Fern blieben die
heutigen Bewohner, die zur überwiegenden Zahl nicht in den historischen
Gemäuern oder Jugendstil-Bürgerhäusern der Kernstadt, sondern in
sozialistischen Plattenbauten wohnen. Auch das real existierende Lemberg-Lwów
vor 1939 bleibt bis heute oft kaum erschlossen. Dieses Lemberg besaß tatsächlich
eine bedeutende jüdische Gemeinde und ein pluralistisches, in polnischer und
jiddischer Sprache sich artikultierendes jüdisches kulturelles Leben.34 Aber es war
deswegen keine „jüdische“ Stadt, schon gar kein Schtetl, und auch kein
Infrastrukturcontainer zur Austragung von Nationalitätenkonflikten, in denen ab
und zu auch Polen und Ukrainer als Pogromisten auftauchten, sondern in erster
Linie eine europäische Großstadt, und auch in der zunehmend intoleranter
werdenden Zwischenkriegszeit immer noch eine pulsierende Kultur- und vor
allem Wissenschaftsstadt. Polnische Lemberger Wissenschaftler wie der
Mathematiker Stefan Banach oder der Mikrobiologe und Wissenschaftstheoretiker
Ludwig Fleck, der als Jude die deutsche Herrschaft in Galizien nur überlebte, weil
die Besatzer sein Wissen für ihre Zwecke ausbeuten wollten, stehen für dieses
Galizien der Moderne.35 Wer wiederum dem Alltag dieses modernen Lembergs
als Einsteiger literarisch auf die Spur kommen möchte, kann beispielsweise in den
33
Aufschlussreich hier die Beiträge zur Tagung „Urban Jewish Heritage and History in East
Central Europe“, Center for Urban History of East Central Europe, L’viv, 26.10.2008‒28.10.2008;
BROWN, Biography, 2004, 52‒133.
34
Zur jüdischen Moderne in Lemberg EIDHERR/ HINRICHS, Vom Shtetl, 2007. Vom Ansatz her
vorbildlich und solchen Tendenzen gegenläufig ist der Ausstellungskatalog, aus dem auch der
genannte Beitrag stammt: SIMON/ STRATENWERTH/ HINRICHS Hg., Lemberg, 2007. – Meine
Überlegungen zur Touristifizierung Lembergs beruhen auf persönlichen Eindrücken, welche ich
während meiner langjährigen Aufenthalte in L’viv im Kontakt mit deutschsprachigen Touristen,
Gaststudierenden sowie Anbietern solcher Reisen machen konnte.
35
Die Texte Flecks, welche nicht zuletzt auch aus der Erfahrung der transdiszipliniären
Diskussion im Kontext der „Lemberger Moderne“ (Sylwia Werner) und aus der Erfahrung der
wissenschaftlichen Zwangsarbeit unter KZ-Bedingungen entstanden, wurden in der Nachkriegszeit
zur Pflichtlektüre der Wissenschaftstheorie: FLECK, Denkstile, 2011; WERNER, Lemberger
Moderne, 2011.
55
– im Original polnischsprachigen – Erinnerungsbüchern von Stanisław Lem oder
Józef Wittlin fündig werden, die dem Lemberg der urbanen Erfahrungen, dem
Lemberg der Stadtparks, der Bahnhöfe und der Schulschwänzer einige schöne
Betrachtungen widmen.36
Die genannten Kontroversen und Zweifel legen einen post-emphatischen und
durchaus skeptischen Umgang mit Räumen kultureller Verflechtung nahe. Das
bedeutet auch Skepsis gegenüber jener kakanisch-nostalgischen Interpretation, die
eine imperial generierte und garantierte, positiv konnotierte kulturelle Vielfalt
gegen die angeblich erst später folgende nationale Integration und kulturelle
Gleichschaftung von Gesellschaften setzt. Heute wird in der ost- und
ostmitteleuropäischen Geschichte ohne solche Wertungen eher danach gefragt, ob
es die in die Zeit vor 1918 – oder vor 1939 – gedachten Formen von
Grenzüberschreitung so je gegeben hat, und ob es „Formen der […] Begrenzung
gibt, die sich nicht von vorneherein negativ auf gesellschaftliches und kulturelles
Miteinander auswirken“.37 Zweifelsfrei weisen Ost- und Ostmitteleuropa Zonen
besonderer Dichte von Kulturkontakten auf ‒ das betrifft vor allem die
Sprachkontakte und die weitverbreitete Polyglossie. Gleichwohl richtet sich der
Blick nun auch auf jene Interferenzformen, in denen Grenzziehungen oder sogar
Konflikte auch als Regulationsmechanismen funktionieren. Damit rückt man ab
von den legendären „verwischten Grenzen“ als einzig zulässiger Definition von
Interaktion – verwischte und unterlaufene Grenzen, die Joseph Roth in Lemberg
noch in den 1920er Jahren gesehen zu haben meint, also in einer Zeit, als sich die
städtischen Öffentlichkeiten schon auf dem Wege rapider sozioethnischer und
sprachlicher Segregation befanden.38
2. Interferenz, Mobilisierung, Urbanität: Die Rolle des städtischen
Raumes
2.1 Interferenz auf dem Land und in der Stadt
Auch Vorstellungen von vorgeblich besonders transkulturellen Identitäten und
Verhaltensmustern, die Teil moderner Autostereotype (so der Juden oder der
Bosnier) geworden seien, werden zunehmend differenziert. Wohnumgebungen
und Lebenswelten, auch die situativ unterschiedliche Wahl einer sozialen Identität
aus einer Menge von möglichen Varianten waren ein bedeutender Faktor für die
Ausformung transkultureller Beziehungen. Die Nachbarschaft und räumliche
Nähe im Dorf konnte zwischen ruthenischen Bauern und traditionell lebenden
galizischen Juden, die als Handwerker oder Schankwirte bestimmte soziale Rollen
36
WITTLIN, Mein Lemberg, 1994; LEM, Das hohe Schloß, 1974.
Kulturgrenzen im transnationalen Kontext, 2009.
38
ROTH, Lemberg, 1924; dazu WENDLAND, Stadtgeschichtskulturen, 2009; DIES., Nachbarn,
2002.
37
56
in der Agrargesellschaft bekleideten, spezifische (übrigens auch sprachliche)
Gemeinsamkeiten und gemeinsame Interessen stiften. Hingegen mag zwischen
dörflichen Schtetl-Juden und polyglotten, liberalen Lemberger jüdischen
Bildungsbürgern nicht nur sprachlich, sondern auch hinsichtlich des religiösen
Bekenntnisses viel Trennendes gelegen haben. Eines der wenigen literarischen
Zeugnisse, welches dieses Phänomen sehr konsequent, d.h. unter seltener
Berücksichtigung
des
ruthenischen
Elementes,
zum
plot-bildenden
Gestaltungsprinzip machten, ist die Romantrilogie „Funken im Abgrund“ von
Soma Morgenstern,39 in der die kulturelle Grenze eher zwischen traditionalem
Land und in die Moderne vorstoßender Großstadt, zwischen polnischen
staatspolitischen
Mehrheitsund
ruthenisch-jüdischen
lokalen
Minderheitsinteressen verläuft als einfach zwischen Ruthenen, Polen und Juden.
Als Liebespaar finden sich hier mehr allegorisch als historisch korrekt der
wiedergeborene, ins Erbe seines Großvaters kommende Jude und das ukrainische
Dorfmädchen zusammen, das dem Freund zuliebe zum Judentum konvertiert.
Gleichzeitig kann man aber auch dieses Werk durchaus als quasi-roth’sche Idylle
verstehen – das „Idyll“ erscheint auch im Titel des zweiten Bandes.
Kontrapunktisch wird es als Zwischenkriegs-Utopie knapp an oder in den
„Abgrund“, also bewusst ins Ostpolen der 1920er Jahre und nicht ins kakanische
Galizien versetzt, obwohl es sich natürlich um dieselbe Region handelt.
Aber vielleicht wollte Morgenstein einen späten Funken aus dem
habsburgischen Erbe schlagen. Es war eine österreichische Erfahrung, dass Juden
und Ruthenen, die von den Unterdrückten Unterdrückten, als die treuesten
Untertanen des Wiener Kaisers galten, während die nationalen Ambitionen der
Polen, großdeutschen Patrioten, Tschechen und Ungarn, die sich ja als die ersten
Opfer der Völkergefängnisse verstanden, die dynastische Reichsidee und die
traditionalen dörflichen Lebenswelten unter Druck setzten. Aber auch die
Ruthenen lagen im Trend dieser Mobilisierung durch (oder mit) Segregation. An
der Schwelle des 20. Jahrhunderts begann auch in den mehrheitlich ukrainischen
oder auch jüdischen Dörfern Ostgaliziens die über Zeitungen, Vereine, nationale
Läden und Schulen und Kirchenbruderschaften laufende Genese der
Nationalgesellschaft gewachsene vertrauensvolle Alltagsverbindungen allmählich
zu verändern und zu zerlegen, auch wenn solche Prozesse in der ukrainischen
Gruppe wesentlich später zu beobachten sind als unter Polen, Tschechen,
Slowenen oder Ungarn.
Ganz abgesehen von der einen oder anderen literarischen Verdichtung lässt
sich jedoch mit einiger Sicherheit feststellen, dass vornationale Transkulturalität
sich in Galizien zum einen über die Teilhabe verschiedener Gruppen an einer
universalen urbanen Hochkultur vollzog – zunächst der deutschsprachigen
Stadtkultur, später auch der sich immer stärker durchsetzenden
polnischsprachigen. Im zweiten Falle interferierten soziale Gruppen durch soziale
Praxis, räumliche Nähe und geteilte Lebenserfahrungen – bei gleichzeitiger
Bewusstheit und Akzeptanz von Grenzen, in diesem Falle der fast
39
MORGENSTERN, Funken, 1996.
57
undurchlässigen konfessionellen Trennlinie. So gesehen waren die galizischen
Jüdinnen und Juden nicht „transkultureller“ als ihre ruthenischen
Kommunikationspartner, sondern die Beziehung zwischen den beiden Gruppen
war es.
2.2 Die Bedeutung der urbanen Erfahrung: Lemberg im 20. Jahrhundert
Galiziens Geschichte und Nachgeschichte bietet aber auch viele Hinweise auf
Formen der Auseinandersetzung von Menschen mit dem im 20. Jahrhundert
erfahrenen rapiden Wandel von Lebenswelten zwischen Stadt und Land und den
dadurch generierten Verwerfungen. Diese waren konstitutiv für die Entstehung
von transkulturellen Beziehungen und die Produktion neuartiger Interferenzen.
Nur endete diese Geschichte des galizischen Interferenzraums ganz und gar nicht
mit der Geschichte Galiziens als administrativer Einheit. Auch ist sie kein
galizisches Spezifikum, sondern genauso als Teil einer größeren europäischen, ja
globalen Entwicklung begreifbar zu machen. Um diese Beobachtung soll es in den
folgenden Abschnitten gehen.
Der gebürtige jüdische Galizier Alexander Granach, der im Deutschland der
Weimarer Republik Schauspielkarriere machte, beschreibt seine Ankunft in
Lemberg, der ersten Großstadt seines Lebens, als Kontrastprogramm zur Kindheit
auf dem südostgalizischen Dorf: Bahnhofshektik, Menschenmengen, riesige
Neubauten, das Unterkommen bei Verwandten, die harte und mies bezahlte Arbeit
als Bäcker in der „Arrival City“40. Diesen Erfahrungen der Fremdheit und der
Überschüttung mit neuartigen Sinneseindrücken wird als Epiphanie der erste
Besuch im (jiddischen) Theater – ebenfalls ein überwältigender Sinneseindruck –
gegenübergestellt.41 Solche und ähnliche Fremdheitserfahrungen machten in der
Generation Granachs und danach Millionen von Menschen in Osteuropa bzw. aus
Osteuropa, sie sind typisch für die Migrationsmuster und Migrantengeschichten,
die Doug Saunders jüngst auf allen Kontinenten sowie in den historischen
Einwandererstädten Paris, London, Chicago und Toronto ausmachte, in denen
seinerzeit
„der
Westen
ankam“.
Saunders
identifiziert
solche
Migrationsbewegungen, die zumeist vom Land in die Großstadt führen, als das
Lebenselixier moderner urbaner Gesellschaften.42 Bestimmte Muster wie die
primäre Erfahrung von Fremdheit, Armut, Kriminalität; die harte Arbeit, der
Pragmatismus und der Erfindergeist der Migranten mit dem Ziel des sozialen
Aufstiegs, die Rolle der lokalen Migrantengemeinde als erste Zuflucht sind
typisch für Land-Stadt-Migrationserfahrungen, wie sie auch im Galizien des 19.
und 20. Jahrhunderts gemacht wurden.
Diese Beobachtung gilt auch über die Epochengrenzen des Zeitalters der
Weltkriege hinweg, also auch für Zeiten, als Galizien als solches schon längst der
40
41
42
SAUNDERS, Arrival City, 2001.
GRANACH, Da geht ein Mensch, 52005.
SAUNDERS, Arrival City, 2011, insbesondere 130‒160.
58
Vergangenheit angehörte und die ehemaligen galizischen Ruthenen als
sowjetische Ukrainer die Großstädte eroberten. Für die galizische Moderne der
Zwischenkriegszeit kann trotz aller Skepsis gegenüber den grenzenlos
„verwischten Grenzen“ Joseph Roth als Kronzeuge herangezogen werden – und
zwar nicht als Galizien-Mythologe, wie man es nach Lektüre seiner Romane
vermuten könnte. Vielmehr äußerte er sich auch als Beobachter aus dem
„Dazwischen“, der er selbst als gebürtiger Galizier und Korrespondent der
„Frankfurter Zeitung“ war. Seine journalistischen Aufzeichnungen von 1924 sind
ein einziges Zeugnis der Ambivalenz – auf der Ebene des Beobachters zwischen
eigener Empathie zu den Subalternen und erworbenem kolonialen Blick auf die
Eingeborenen, auf der Ebene der Beobachtung zwischen Fremdheit und
Einebnung der Fremdheit, zwischen ewigem Verharren und pragmatischer,
vorwärtsstrebender „Tendenz ins Weite“:
Alle leben eigentlich von der einzigen produktiven Klasse: den Bauern. Die
sind fromm, abergläubisch, furchtsam. Sie leben in scheuer Ehrfurcht vor dem
Priester und haben einen maßlosen Respekt vor der „Stadt“, aus der die
seltsamen Fuhrwerke kommen, die ohne Pferde fahren, die Beamten, die
Juden, die Herrschaften, Ärzte, Ingenieure, Geometer, Elektrizität, genannt:
Elektryka; die Stadt, in die man die Töchter schickt, auf dass sie
Dienstmädchen werden und Prostituierte; die Stadt, in der die Gerichte sind,
die schlauen Advokaten, vor denen man sich hüten muss, die gerechten
Richter in den Talaren hinter den metallenen Kreuzen unter dem bunten Bild
des Heilands, in dessen heiligen Namen der Mensch verurteilt wird zu
Monaten und zu Jahren und auch zum Tode durch den Strang; die Stadt, die
man ernährt, damit man von ihr leben kann, damit man in ihr bunte
Kopftücher kaufe und Schürzen, die Stadt, in der die „Kommissionen“, die
Verordnungen, die Paragraphen, die Zeitungen ausbrechen. So war’s, als der
Kaiser Franz Joseph regierte, und so ist es heute. Es sind andere Uniformen,
andere Adler, andere Abzeichen. Aber die wesentlichen Dinge ändern sich
nicht.43
Die Stadt mobilisiert, vereinfacht, vermenschlicht, und es scheint, dass diese
Eigenschaften mit ihren kosmopolitischen Neigungen zusammenhängt. Die
Tendenz ins Weite ist immer gleichzeitig ein Wille zur selbstverständlichen
Sachlichkeit. Man kann nicht feierlich sein, wenn man vielfältig ist. Sakrales
selbst wird hier populär. Die großen, alten Kirchen treten aus der Reserve
ihres heiligen Zwecks und mischen sich unter das Volk. Und das Volk ist
gläubig.44
43
44
ROTH, Leute und Gegend, 1924, 281f.
ROTH, Lemberg, die Stadt, 1924, S. 288.
59
Und das Volk? „Die Kiewer sind schon verrückt, leben übereinander, wie die
Hühner im Stall.“45 Dieses Zitat über den rural-urbanen clash of civilizations
stammt aus dem ostgalizischen Dorf Ostrivec’– dem Nachbardorf der Granachs
übrigens – und wird in der Familie meines Mannes tradiert. Seine Großmutter,
Varvara Osadčuk, geborene Sykora, die als Tochter landloser Bauern in der Nähe
von Kolomyja aufwuchs und als junges Mädchen im Haus des lokalen polnischen
Grundbesitzers die Böden schrubbte, lernte kurz vor dem Zweiten Weltkrieg von
ihrem Mann Illja, der aus einer wohlhabenden Bauernfamilie stammte, lesen und
schreiben – um mit dem Soldaten der polnischen Armee per Feldpost
korrespondieren zu können. Sie war jünger als Granach, könnte aber eine
Generationsgenossin von Soma Morgensterns Romanhelden sein. Tatsächlich
werden auch einige Erinnerungen über die traditionale Rolle der wenigen
jüdischen Familien im Dorf (ihre soziale Rolle als Inhaber der Schankwirtschaft,
die ukrainisch-jiddische Zweisprachigkeit, Flurnamen, die auf jüdische
Vorbesitzer hindeuten) in der Familie tradiert. Varvara selbst war keine klassische
Großstadtmigrantin. Sie wechselte zwar mehrmals die Staatsbürgerschaft, aber nie
ihren Wohnort. Der österreichischen folgte die polnische und dann die
sowjetische Staatsbürgerschaft, letztere zunächst ohne Pass, denn bis Ende der
1960er Jahre hatten Dorfbewohner kein Recht auf Freizügigkeit innerhalb der
Sowjetunion und folglich auch keine Papiere, in denen eine neue
Meldebescheinigung hätte eingetragen werden können. Den arrival vollzogen
hingegen Varvaras drei Söhne, die dem Dorf Ende der 1950er Jahre unter mehr
oder weniger abenteuerlichen Begleitumständen den Rücken kehrten und Karriere
in den sowjetukrainischen Großstädten Odessa und Kiew machten. Söhnen und
Enkeln zuliebe begab sich Varvara ab und zu auf temporäre Migration und
verbrachte mehrere Wochen am Stück in der Großstadt.
Der innerfamiliär kolportierte Ausspruch, der aus dem sowjetischen PostGalizien stammt, steht für zwei Entwicklungen: Zum einen illustriert er, dass die
Konfrontation mit neuen Lebensweisen, die immer zur kulturellen Interferenz
gehört, zwar häufig, aber nicht notwendig infolge einer Bewegung der Individuen
selbst geschehen muss. Zum anderen steht er für eine prinzipielle Haltung der
Subalternen in Konfrontation mit der Welt der Dominanten, in die sie – die einen
unvermittelt, die anderen schrittweise – hineingezogen wurden.
Konfrontation mit neuen Lebensweisen und somit kulturelle Interferenz kann
durch eigene Mobilität erzeugt werden, aber auch durch das Wandern von
Grenzen über Individuen hinweg. In Varvaras Fall war dies die Grenzverlagerung
zwischen imperial-österreichischen Grenzen, polnischen der Zwischenkriegszeit
und sowjetisch-polnischen der Nachkriegszeit. Die Region (Ost-) Galizien
wechselte ihre Ausrichtung auf Zentren und Subzentren mehrmals, aus Wien und
später Warschau wurden schließlich – nachdem die neue Staatsgrenze den Ostvom Westteil des alten Galizien getrennt hatte – Kiew und das noch fernere
45
Varvara Osadčuk, geb. Sykora (1905–1982), Ostrivec, Rajon Horodenka, Oblast’ IvanoFrankivs’k (ehem. Stanislau/ poln. Stanisławów/ ukr. Stanyslaviv), über die sowjetische Großstadt
(um 1975). Quelle: Interview mit Roman Osadchuk, Leipzig, 15.9.2010.
60
Moskau. Die Region aber verblieb in ihrer Position als Grenzland: Was einmal die
nordöstliche imperiale Provinz und dann die südöstliche Peripherie eines
polnischen National- und Zentralstaates gewesen war, wurde nun zur besonders
sorgfältig überwachten und auch gewaltsam gemaßregelten äußersten SüdwestPeripherie der Sowjetunion. In der Anfangszeit bis Mitte der 1950er Jahre ist
diese Beschreibung wörtlich zu nehmen, handelte es sich doch um ein Gebiet, in
dem es immer noch bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen sowjetischen
Sicherheitsorganen und nationalistischen ukrainischen Partisanen gab, in dem
Verhaftungen, Deportationen in den GULag und politische Pressionen aller Art an
der Tagesordnung waren. Auch die ökonomische Position des ehemaligen
Ostgalizien als vorwiegend agrarische Provinz blieb zunächst erhalten.
Gleichzeitig jedoch passierte nach der sowjetischen gewaltsamen Befriedung in
den städtischen Zentren etwas für die Region tatsächlich Neues: die Ankunft der
industriellen Moderne in Gestalt neu angesiedelter großer Industriebetriebe und
der dadurch ausgelösten Migrationsprozesse. Aus galizischen Bauern wurden nun
Arbeiter und Fachleute für Elektrotechnik, Maschinenbau und Erdölverarbeitung
– bis auf letztere hatten solche Industrien in Galizien vorher nie eine
nennenswerte Rolle gespielt. Joseph Roth hätte sich wohl nicht träumen lassen,
dass in Galizien zwischen der elektryka und der Elektroindustrie, zwischen den
Dienstboten und den Ingenieuren letztlich nur vier Jahrzehnte lagen, die
Lebensspanne einer guten Generation.
Im Zuge dieser Prozesse, die hier nur in ihren groben Umrissen skizziert
werden, veränderten die galizischen Städte ihr Gesicht. Junge Ukrainer aus der
galizischen Provinz erkannten in der Stadt ihre Chance, nachdem die diffuse
Aussicht auf eine mit der Waffe zu erkämpfende staatliche Unabhängigkeit der
Ukraine sich endgültig als Illusion erwiesen hatte und die zwangskollektivierte
Landwirtschaft keinerlei ökonomischen Anreiz mehr zum Verbleiben im Dorf bot.
Industriearbeit, Berufsausbildung oder Studium in der Stadt, das galt nun als die
Formel für den Aufstieg, freilich unter den Bedingungen des Sowjetstaates. Diese
Verlockungen wurden von der neuen Macht – insbesondere der poststalinistischen – auch bewusst eingesetzt, um die ideologisch und sprachlich von
den Machthabern differente Bevölkerung zu gewinnen. Gleichzeitig erschien auch
eine ganz neue Schicht von Akteuren in Galizien: die russischsprachigen Ukrainer
und Russen aus der Dnjepr-Ukraine und anderen sowjetischen Regionen. Es
handelte sich um Menschen, die seit zwei Generationen sowjetisch sozialisiert
waren und oft bereits aus einer Großstadt stammten. Sie gehörten zur technischen
Intelligenz oder waren Angehörige der administrativen und militärischen
Nomenklatura; ihre Aufgabe war es, die neuerworbene Region zu entwickeln und
an das neue Mutterland, die Sowjetukraine, anzuschließen – wieder einmal eine
zivilisatorische Mission, wie sie in Galizien schon häufig vollzogen worden war.
In Lemberg trafen diese moskali (wörtlich „Moskowiter“), wie sie genannt
wurden, auf die galizischen Ukrainer, die neu in der Stadt waren, und in der
Umgebung auf eine vor allem in agrarischen Berufen arbeitende Bevölkerung, die
allen Repressionen zum Trotz ihrer traditionellen Religiosität anhing. Kulturelle
Pluralität hörte also in Galizien, speziell in der Stadt Lemberg, nach der
61
Vertreibung der Polen und der Ermordung der Juden nicht auf, sondern sie wurde
neu zusammengesetzt. In jedem Falle – ob österreichische, polnische oder
sowjetische Phase – hatten sich die Region und ihre Bewohner sich nicht nur mit
einer vorgefundenen Pluralität der Sprachen und Weltsichten zu arrangieren,
sondern auch mit dem ordnenden, rekonfigurierenden, norm- und
sprachstandardsetzenden Eingriff eines politischen Machtzentrums.
Der Ausspruch von den sonderbaren Wohn-Gewohnheiten der Großstädter
steht auch für historische Auseinandersetzungsformen mit der großstädtischen
Moderne, wie sie uns auch viel früher, in der Erinnerungsliteratur über und von
Land-Stadt-Migranten in Galizien seit dem Ende des 19. Jh. überliefert werden.
Vor 1914, aber auch noch später war für jüdische wie ruthenisch-ukrainische
Migranten in der Regel die Kronlandhauptstadt Lemberg die erste Station einer
Konfrontation mit einer fremden urbanen Welt, der unter Umständen andere
Stationen bis nach New York oder in den Schwerindustriegürtel des
amerikanischen Mittleren Westens folgten. Zunächst bedeutete die Wanderung in
die Großstadt eine Konfrontation mit fremden Wohn-, Arbeits- und
Konsumwelten und mit neuen Lebensrhythmen. Im sowjetukrainischen Falle war
das eine Auseinandersetzung mit neuen Formen des Wohnungsbaus und neuen
Arbeitswelten, der für Millionen von Menschen mit dörflichem Hintergrund
relevant wurde. Was Varvara Osadčuk über Kiew sagte, das sagten zur selben Zeit
viele im galizischen Dorf gebliebene Alte über die Lebenswelt ihrer Kinder und
Kindeskinder im neuen sowjetischen Lemberg-L’viv. Denn nicht so sehr Kiew als
vielmehr die alte Regionalmetropole war die erste und vornehmliche Anlaufstelle
für die in der Sowjetzeit mobilisierten galizischen Dorfbewohner. Diese Kinder
nahmen beim Sprung in die Stadt etliche Lebensgewohnheiten mit, die auch die
Stadt transformierten. Davon zeugen bestimmte Charakteristika des Alltagslebens
und der Sozialbeziehungen in den Plattenbausiedlungen, und aus diesem Kontext
stammen auch die Diskussionen über die Ruralisierung der sowjetischen
Großstädte. Aber viel stärker transformierte die Stadt ihre Neubewohner selbst.
Sowjetische Ausbildungsstätten und neuangesiedelte Industrien bestimmten nun
die Lebensrhythmen, Lebensträume und Selbstverständnisse.46
Im sowjetischen Lemberg waren es Industriearbeit oder staatliche Berufs- und
Hochschulausbildung,
das
hochstandardisierte
Wohnen
in
der
Plattenbauperipherie oder im Wohnheim, die das konfrontative Neue und
Andersartige ausmachten, mit dem man sich arrangieren musste und aus dem man
auch mannigfaltige Vorteile zog. Andere Erinnerungen und Verhaltensmuster
gingen derweil verloren. Im Lemberg der Jahrhundertwende erschien den
ukrainisch-ruthenischen halyčany und jüdischen galitsyanern das konfrontative
Neue in Gestalt der jüngst fertiggestellten oder im Bau befindlichen
repräsentativen Bauprojekte, welche den europäischen Anspruch und die
habsburgisch-imperiale Prägung ihrer Erbauer widerspiegelten – Fernbahnhof,
Stadttheater, Landesausstellungsgelände, Landtagsgebäude, Mietshauskomplexe;
einer der bekanntesten (aber einer der besseren) wurde übrigens auch in der
46
BODNAR, Mihracija, 2007; DIES., L’vivs’ki seljane, 2012; Risch, The Ukrainian West, 2011.
62
Stadttopographie (wie in anderen polnischen Großstädten) als nowy świat, Neue
Welt, ausgewiesen.
Sowohl die Lemberger Migranten um 1900 als auch jene der 1950er und
1960er Jahre waren mit einer ungewohnten Sprachsituation konfrontiert: Während
im 19. und frühen 20. Jahrhundert in den Dörfern und Schtetlech die orale Kultur
des Alltags-Ukrainischen und -Jiddischen dominierte (die erst von städtischen
Intellektuellen in die Produktion von Hochliteratur überführt wurde), war die
Sprache Lembergs selbst in den griechisch-katholischen ruthenischen Familien
das Polnische, bei älteren und gebildeten Stadtbürgern auch das Deutsche. Die
Ankunft in der Hauptstadt bedeutete für die vormaligen Landbewohner auch eine
vorher ungekannte Konfrontation mit hochkulturellen sprachlichen Rastern, ob in
Schulen, Hochschulen, Verwaltungen oder in Vereinen und Medien. Das war für
einen ukrainischsprachigen Migranten nicht nur das Polnische oder Deutsche,
sondern auch die sich von den Dialekten stark unterscheidende ukrainische
Schriftsprache. Die vielfältigen Reflexions- und Aneignungsleistungen der
Betroffenen in dieser neuen Sprachumgebung sind ein beherrschendes Thema in
der galizischen Erinnerungsliteratur.
Dasselbe gilt aber auch für eine Zeit, in der Galizien für tot erklärt war und
kulturelle Interferenz kein Thema mehr zu sein schien. Doch die Neu-Städter und
Zuwanderer in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Junge Ukrainerinnen und
Ukrainer, die nach dem Zweiten Weltkrieg nach Lemberg und in andere
Großstädte einwanderten, landeten vor der Ära des neuen Städtebaus erst einmal
in den Wohnungen und Häusern der vertriebenen Polen und der ermordeten
Juden. Sie lernten repräsentative Gebäude kennen, welche nun die sowjetischen
Verwaltungs-, Lehr- und Kulturinstitutionen beherbergten, deren Formensprache
aber von der anderen imperialen Herkunft der Provinz sprach. Bestimmte
Sprachregelungen, Konsumweisen, aber auch Bilder und Bücher hatten den Krieg
in den städtischen ukrainischen Familien überstanden. Oft werden solche
visuellen und habituellen Phänomene als „Palympsest“ bezeichnet: als Ergebnis
eines Überschreibungsprozesses, das gleichwohl eine vorhergehende kulturelle
Schreibschicht, oder deren mehrere, noch ahnen lässt. Die Nähe der polnischen
Grenze ermöglichte zudem einen, wenn auch begrenzten, Austausch mit
polnischen Besuchern, die modische Kleidung und westliche Schallplatten als
Handelsgut mitbrachten. All das floss in die Stadtkultur der Nachkriegszeit ein,
welche die Migranten als neu und anders empfanden und doch begierig
aufsogen.47 Hinzu kam die Konfrontation mit der russischsprachigen Welt der aus
dem Osten neu Hinzugekommenen. Diese Russischsprachigen besetzten zunächst
die Schaltstellen in Verwaltung und Wirtschaft, wurden aber bereits in der
Chruščev-Ära durch nachrückende ukrainische Funktionäre und neu ausgebildete
Spezialisten bald in ihrer dominierenden Stellung abgelöst. Die in den 1960er
Jahren sich allmählich vollziehende sprachliche Ukrainisierung der Stadt erfasste
auch die vorher einsprachig-russischen Bevölkerungsteile. Im Ergebnis
beobachten wir neue Interferenzformen, die sich in unterschiedlichem Maße im
47
RISCH, Ukrainian West, 2011, 53‒115.
63
städtischen Alltag, in Konsummustern oder auch in den – von den sowjetischen
Behörden misstrauisch beäugten und mitunter auch verfolgten – urbanen Sub- und
Jugendkulturen manifestierte. So überlagerten sich schließlich in der Subkultur
ererbte galizische Sprachbesonderheiten und Traditionen, das Echo der begehrten,
weltweit hegemonialen westlichen Popkulturen sowie allgemein-sowjetische, in
russischer Sprache artikulierte gegenkulturelle Trends.
2.3 Galizien – ein Sonderfall?
Kulturelle Interferenz – im Sinne eines Aufeinandertreffens, Sich-Verstärkens-,
Sich-Aufhebens von kulturellen Einflüssen, aber auch (wie in der linguistischen
Definition der kulturellen Interferenz) von kulturellen Missverständnissen und
Übersetzungsfehlern – ergab sich also nicht a priori aus einer besonderen,
Galizien-typischen ethnisch-konfessionellen Zusammensetzung, sondern vor
allem aus sozialer und räumlicher Mobilisierung im 19. und 20. Jahrhundert.
Fremdheitserfahrungen und Anpassungs- und Aneignungsprozesse zu ihrer
Überwindung wurden weniger durch die polyethnische Gesellschaft als solche
generiert: Diese gab es vor 1939 auch auf dem Lande, wo die vielfältigen
ökonomisch-sozialen Konfliktlagen sich häufig mit ethnisch-kulturellen
Zuschreibungen deckten. Gleichwohl wurden sie dort mit dem bewährten
Instrumentarium der Gewohnheiten und Traditionen verstehbar, erklärbar,
handhabbar gemacht. Wer mit dieser Umgebung brach, der musste auch mit dem
Verlust dieser Berechenbarkeit, mit der Aufgabe der Einbettung in gewachsene
familiäre und soziale Kontexte bezahlen – auch dies ein großes Thema in
schriftlichen Zeugnissen über Galizien, auch jenen, die sich mit
Migrationserfahrungen nach dem Ende Galiziens als administrativer Einheit
auseinandersetzten. So ergab sich die wirkliche Fremdheitserfahrung erst durch
den Ausgang des Individuums aus seiner gewohnten Lebenswelt, gründete er nun
auf eigener Entscheidung oder auf von außen auferlegten Zwängen. Und dieses
Erlebnis war nicht auf die Geschichte Galiziens im engeren Sinne – also die Zeit
vor 1918 – beschränkt, sondern war in der Geschichtsregion eine Konstante des
gesamten 20. Jahrhunderts.
Mit Blick auf die menschlichen Differenz- und Kontingenzerfahrungen in der
anbrechenden Moderne war Galizien jedoch kein besonderer Schauplatz, sondern
Mit-Schauplatz eines gesamteuropäischen Prozesses, der im 19. Jahrhundert
einsetzte und im 20. größtenteils vollendet wurde. Zeitversetzt erfassten ähnliche
Phänomene der Modernekonfrontation die Bewohner ländlicher Räume vom
französischen Zentralmassiv über das Saarland bis zu den ostfriesischen
Kolonisationsgebieten, in den Einzugsgebieten von Berlin, Warschau und Lodz
genauso wie jenen Moskaus und Jaroslavl’s; in den Schwerindustriebezirken in
Lothringen, an der Ruhr, im Donbas-Dnjepr-Raum. Wenn die preußischen
Militärs und Ingenieure in den Watten und Marschen um das spätere
Wilhelmshaven der Landschaft und ihren Bewohnern ihr Regelwerk, ihre
monumentalen Bauwerke, ihre Sprache und ihre militärisch-ökonomischen
64
Bedürfnisse auferlegten,48 war dies ein nicht weniger massives kulturelles
Interferenzereignis als die Durchsetzung der österreichischen, später polnischen
und sowjetisch-russischen Verwaltungsstrukturen und Wirtschaftsordnungen im
ostgalizischen Dorf. Wenn der Bismarck-Staat und seine Lokalbehörden mit den
religiösen Vorstellungen und sozialen Befindlichkeiten katholischer
Nebenerwerbslandwirte und Bergarbeiter zusammenprallten und diese dann
entsprechende Abwehr- oder Vermeidungsstrategien entwickelten, war dies eine
nicht minder heftige Konfrontation und Interferenzerfahrung, als wenn die
religiöse Vorstellungswelt eines jüdischen Rekruten aus dem Ansiedlungsrayon
auf die gewaltförmige Normdurchsetzung in der zaristischen Armee traf. Ein
gewichtiger Unterschied allerdings bestand darin, dass das „Zeitalter der
Extreme“ (Hobsbawm)49 zwischen 1914 und 1946 für die osteuropäischen
Referenzregionen unserer Überlegungen eine ungleich dichtere Abfolge von
gewalttätigen Herrschaftswechseln bereithielt. Auf die Bedeutung solcher
Gewalterfahrungen für die Galizier komme ich unten noch einmal zurück.
3. Zeitlosigkeit vs. Historizität
3.1. Historische Präfigurationen des Interferenzraums Galizien
In Joseph Roths Galizien-Reportagen der 1920er Jahre klang die Zeitlosigkeit
oder das ewig Verharrende selbst in der galizischen Moderne an; Dietlind
Hüchtker zufolge ist die Positionierung Galiziens als besonders herausgehobener
ost-westlicher Interferenzraum „wie eine klassische Mythologie zeit- und
raumlos“, ohne überprüfbaren Ursprung diskursiv naturalisiert worden.50 Dieser
Aussage kann aus geschichtswissenschaftlicher Sicht durchaus widersprochen
werden, denn die historisch-faktischen Ursprünge dieser Fremd- und
Selbstzuschreibungen sind ganz unmythologisch und in der polnischen wie
ukrainischen (wenn auch nicht der deutschsprachigen) Erinnerungskultur über
Galizien tatsächlich als historische Zusammenhänge präsent.
Diese Ursprünge der ostmitteleuropäischen Galizien-Mythologie – die aber
genaugenommen auch andere östliche Grenzgebiete des historischen Polen
umfasst – liegen historisch noch vor der habsburgischen Geschichte der Provinz.
Sie gründen in den durch die politischen Machtverhältnisse und die
Zugriffsmöglichkeiten auf damalige globale Ressourcen bestimmten
voraufklärerischen Konzeptionen europäischer Grenzräume des Christentums.
Solche Konzeptionen eines christlichen antemurale, welche vorgängige Motive
der römisch-imperialen Barbarengrenze übernahm, sind für Polen-Litauen gut
48
49
50
BLACKBOURN, Eroberung, 2007.
HOBSBAWM, Zeitalter der Extreme, 72004.
HÜCHTKER, „Mythos“, 2002.
65
belegt.51 Allerdings war diese Vormauer durchaus nicht hermetisch. Über
Jahrhunderte hatte das galizische Städtenetz eine bedeutsame ökonomischkommunikative Funktion im polnischen Orient-Fernhandel, der stark von
jüdischen und armenischen Kaufleuten geprägt war. Auf der anderen Seite kam
Lemberg eine historischen Funktion als Knotenpunkt sozial-rechtlich-politischer
Okzidentalisierung im östlichen Grenzland des Königreichs Polen zu: Stadtrecht
des deutschen Magdeburger Typus und die daraus sich ergebende korporative
Gliederung und Machtverteilung in der Stadt waren hier vorbildlich ausgeprägt
und strahlten auf die gesamte Region aus. Die frühe, vornationale Konsolidierung
nichtdominanter christlicher Gruppen wie der Ruthenen und Armenier geht unter
anderem auf diese verfassungsgeschichtlichen Besonderheiten zurück; aber auch
die jüdische Gemeinschaft hatte in diesem Stadtsystem, gesichert durch
königliche Privilegien, trotz der von Kirche und Patriziat ausgehenden Pressionen
ihren festen Platz. Im Grunde handelt es sich hier um einen jener Fälle, in denen –
verrechtlichte – Grenzziehungen zur Stabilisierung von Gemeinwesen beitrugen
und gleichzeitig den Rahmen schufen, in dem sich die kulturellen Interferenzen
des vornationalen Zeitalters ausbilden konnten.52
Frühneuzeitliche Lemberger Stadtmythologien verweisen darauf: Die
galizische Metropole rühmte sich ihres Rufes als politisch-militärische civitas
semper fidelis, die stets treue Bürgerfestung der Rzeczpospolita in den Kosakenund Schwedenkriegen des 16. bis 18. Jahrhunderts. Es wird überliefert, dass in
dieser Zeit polnische römisch-katholische, ruthenische und armenische orthodoxe
(später unierte) und auch jüdische Bürgerwehren mit Piken und Musketen
bewaffnet die Stadtmauer bemannten.53 Eine immer wieder zitierte Überlieferung
solcher wehrhafter Urbanität im vornationalen Zeitalter der Leopolis triplex
(gemeint ist damit die Dreieinigkeit der christlichen Konfessionen)54 ist die
Verweigerung der Herausgabe der Lemberger Juden an die kosakischen Belagerer
unter dem ukrainischen Hetman Bohdan Chmel’nyc’kyj Mitte des 17.
Jahrhunderts, welche dank einer finanziellen Abfindung durch die Stadt und das
Lemberger Erzbistum von ihren Forderungen abließen. Auch wenn die Geschichte
dieses Verhandlungsprozesses in Wirklichkeit viel komplexer war – dies ist die
mythologische Kristallisation im Stadtgedächtnis.55
3.2 Interferenz und Konflikt – Konflikt als Interferenz
Wie also die in der Vormoderne und in vor-ethnischen urbanen Identitäten
wurzelnde Interkulturalität der Region auf quellensicherer Grundlage steht, so tun
51
WENDLAND, Semper fidelis, 2002; HEIN-KIRCHER, Antemurale, 2006.
Winfried EBERHARDT in diesem Band; KAPRAL, Nacional’ni hromady, 2003.
53
WENDLAND, Semper fidelis, 2002.
54
Diese Bezeichnung geht auf den polnischen Historiker Bartłomej Zimorowicz (1597‒1677)
zurück: ZIMOROVYČ, Potrijnyj L’viv, 2002.
55
WENDLAND, Semper fidelis, 2002; PAPÉE, Historia, 1924, 117‒154; SERCZYK, Na płonącej
Ukrainie, 1999, 149‒157. MELAMED, Evrei, 1994.
52
66
dies auch die Konfliktträchtigkeit und der rapide Wandel der galizischen
gesellschaftlichen Verhältnisse, die einer Idealisierung und Affirmation der
Verhältnisse eigentlich gar nicht zuträglich sind. Konflikt war in Galizien aber
auch immer Interferenz: mobilisierte Gemeinschaften kommen sich ins Gehege,
weil die Ressourcen neu verteilt werden müssen, und in diesem Prozess lernen sie
voneinander. Werfen wir einen Blick in die Parlamentsprotokolle, Gerichtsakten
und Zeitungskorrespondenzen aus der Region zwischen der 1848er-Revolution
und dem Ersten Weltkrieg, so treffen wir auf kollektive und individuelle Akteure,
die pointiert und zäh ihre sozialen, ökonomischen und kulturellen Besitzstände
und Ziele gegen Ansprüche des österreichischen Staates wie gegen die Ansprüche
konkurrierender Gruppen verteidigen – ob dies nun der polnische Adel im
Zeitalter der Grundentlastung und der Demokratisierung der polnischen
Bewegung war oder die neuen sozialen Aufsteiger aus den jüdischen und
ruthenischen Milieus, die sich an den Universitäten, in den Behörden, in den
Professionen mit polnischen Konkurrenten auseinandersetzen mussten. Wir
treffen ab den 1860er Jahren ein ungeheures Maß an sozialer Mobilisierung,
bäuerlicher Selbstermächtigung und Selbsthilfeinitiative an, das so gar nicht in die
galizischen Klischees einer in der Vergangenheit verharrenden und angeblich nur
deshalb transnationalen Feudalgesellschaft passen will. Seit dem letzten Drittel
des 19. Jahrhunderts haben wir es mit prozessierenden und streikenden Bauern zu
tun, mit jüdisch-ruthenischen Wahlplattformen, mit Lesevereinsgründerinnen und
-gründern, mit hochengagierten Parlamentariern, mit Frauenorganisationen,
Gewerbeausstellungsorganisatoren, jüdischen Mäzenen und wahlkämpfenden
Schullehrern und Provinzpfarrern, die hergebrachte Vorstellungen von einem
Land im Windschatten der Moderne infragestellen.56 Das Lernen vom politischen
Gegner, auch das Imitieren von Mobilisierungsformen oder kulturellen Mustern,
die man für maßgeblich hielt, waren dabei von großer Bedeutung. So waren
Symbolpolitik, politische Kulturen oder Zielsetzungen der galizischen Polen und
Ukrainer oft auf das Engste aufeinander bezogen.57
Auch die berüchtigten, im Westen Österreichs und in Zentraleuropa als solche
bezeichneten „galizischen Verhältnisse“ waren im Grunde weniger Ergebnis einer
feudal-kolonialen Stagnation als vielmehr Konsequenz der – mitunter brachial
verlaufenden – Integration Galiziens in eine gesamtösterreichische politische und
ökonomische Sphäre. Somit gehörte der politische Konflikt, der mit Bestechung,
Polizeigewalt, bewaffnetem Widerstand gegen diese einherging, zur galizischen
Moderne genauso wie die Ersetzung der bäuerlichen Heimarbeitsproduktion durch
die auf den Eisenbahnlinien hereinströmenden Billigwaren aus anderen
Kronländern und dem Ausland – zu einer Zeit, als sich in manchen Regionen
Galiziens junge Aktivisten überhaupt erst aufmachten, um eine Bestandsaufnahme
der verschwindenden traditionalen materiellen Kultur zu machen.
Auch die allmähliche Segregation der immer komplexer werdenden und sich
medial differenzierenden öffentlichen Sphären, in denen der Sprachwahl bald die
56
57
Zur Bedeutung der Parlamentarisierung in diesem Zusammenhang BINDER, Galizien, 2005.
WENDLAND, Macht und Medien, [im Druck].
67
Ineinssetzung von Sprachgebrauch und ethnischer Zuschreibung folgte, sind Teil
dieser Modernegeschichte. Lasen die Lemberger Städter um 1850 nur eine
Zeitung, nämlich das amtliche Verlautbarungsorgan „Lemberger Zeitung/ Gazeta
Lwowska“, gab es seit den 1880er Jahren eine Vielzahl (nach politischer
Ausrichtung
unterschiedene)
polnische,
jüdische,
ruthenische
Tagespresseprodukte, die ihre Leser wiederum ungleich stärker mit der
galizischen Provinz vernetzten, als dies im vornationalen Zeitalter möglich
gewesen war. Mitten in diesem beispielhaften Prozess der Bildung nationaler
Kommunikationszusammenhänge wurden aber auch gleichzeitig die
Voraussetzungen für die Grenzüberschreitung geschaffen. Es lasen, schrieben und
kommunizierten eben nicht alle Polen, Ruthenen, Juden, Deutsche nur in und mit
ihrer eigenen Gruppe, sondern eifrig über deren Grenzen hinweg – anders sind die
damals üblichen, ausgedehnten Leserbriefpolemiken, Artikel, Gegen-Artikel,
Gegen-Gegen-Artikel und das unablässige gegenseitige Kommentieren überhaupt
nicht denkbar. Konflikt und Kommunikation waren dabei zwei Seiten derselben
Medaille galizischer Interferenzen. Die Betonung des Kontakts ohne
Konfrontation kam eigentlich erst im Nachhinein nach Galizien – massiv erst
nach seinem Untergang als Verwaltungseinheit im Ersten und seiner Vernichtung
als Aggregat kulturell differenter Sozialmilieus nach dem Zweiten Weltkrieg. Die
Zeitgenossen, die uns in den nicht-literarischen Quellen ansprechen, sahen ihre
Region viel unprätentiöser und nüchterner; für sie war auch die Analyse der
galizischen Armutsökonomie nicht der Anlass zu einer Essentialisierung und
Exotisierung der Armut und des Schmutzes, sondern der Ausgangspunkt zum
Raisonnieren – oder auch produktivem Streiten – über eine Entwicklungsregion
mit großem Potenzial.58
3.3 Interferenz und Segregation in der Zwischenkriegszeit
Dieser streitbare Grundkonsens wurde nach 1918 – und nach dem Verschwinden
Galiziens als administrativer Einheit – insofern ausgehöhlt, als nun nicht mehr
regionale Akteure mit einem relativ fernen Zentrum die Prämissen der
Entwicklung ihres Kronlandes diskutierten, sondern ein relativ nahes Zentrum –
Warschau – der nunmehr südöstlichen Peripherie seinen Takt vorgab.
Insbesondere in den dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts wandelte sich
auch der Blick des neuen Zentrums auf die Peripherie. Als Voraussetzung für eine
erfolgreiche Integration der Peripherieregion galt jetzt nicht mehr – wie noch in
den Visionen Piłsudskis – die allmähliche Integration der disparaten Traditionen
unterschiedlicher Geschichtsregionen, so auch jener Galiziens, in die neue
Republik Polen, sondern die Nivellierung und schrittweise Assimilierung. In jene
Zeit fiel eine der glanzvollsten Epochen galizisch-Lemberger Stadtkultur, welche
sich dem Provinzialisierungsdruck entgegenstemmte, aber auch eine neue Phase
von nie gekannter Entsolidarisierung und Segregation im politischen Alltag, die
58
WENDLAND, Eindeutige Bilder, 2009; HÜCHTKER, „Mythos“, 2002.
68
zunehmend in die Ausschließung bestimmter Bevölkerungsgruppen (Juden,
Ukrainer) von politischer und gesellschaftlicher Teilhabe mündeten und die
Präfiguration für die anschließenden gewaltförmigen Umwälzungen herstellten.59
Die Entwicklungen in der Stadt sind dabei vor dem Hintergrund einer allgemeinen
Umwälzung in der gesamten südostpolnischen Region zu sehen. In den 1930er
Jahren wurde physische Gewalt in Friedenszeiten ein häufiger Begleiter des
zwischennationalen politischen Alltags. Diese Gewalt ging von Polen und
Ukrainern, von staatlichen wie nichtstaatlichen Akteuren aus. Ihre
Veralltäglichung war sicherlich ein Qualitätssprung im Vergleich zur
österreichischen Zeit – das Jahrzehnt vor 1914 ausgenommen, als solche
Vorkommnisse noch als bedauerliche und entsprechend skandalisierte Ausnahme
wahrgenommen wurden. Die politischen Morde ukrainischer Ultranationalisten,
die Unterdrückungspolitik Warschaus gegen ukrainische und belarussische
Oppositionelle bis hin zur Inhaftierung und Deportation in Lager, die Polizei- und
Militärgewalt bei der Niederschlagung passiven Widerstandes auf den Dörfern,
die Verunsicherung durch den Aufstieg NS-Deutschlands und der Stabilisierung
der stalinistischen Sowjetunion produzierten eine Atmosphäre der Unsicherheit
und der zunehmenden Militarisierung des Alltags. Das weitere Umland Lembergs
war auch das Grenzvorland der neuen, als gefährdet und gefährlich empfundenen
sowjetischen Grenze, über die sowjetukrainische Propaganda und kommunistische
Partisanen einsickerten; Sicherheit durch militärische Ausbildung von Zivilisten,
Aufrüstung der gefährdeten Regionen, verschärfte Kontrolle und schließlich
Ausschaltung von Bedrohungsfaktoren – beispielsweise lästiger ukrainischer
Agitatoren – war das beherrschende Thema jener Jahre.60 Hier können allerdings
auch Parallelen zur Vorkriegszeit des Ersten Weltkriegs gezogen werden, als die
österreichischen Behörden ebenfalls Galizien als Herd der Unruhe und
Unsicherheit betrachteten und Ängste vor Infiltration und Spionage im Grenzland
zum Russischen Reich schürten. Die Angst vor dem Kontrollverlust hat also
schon ältere Wurzeln und wurde nicht erst im Zwischenkriegspolen erfunden.
3.4 Die Transformation der urbanen Raumbilder
Schleichend vollzog sich auch ein Funktionswechsel der Regional- und
Verwaltungsmetropole Lemberg zu einem faktisch und diskursiv befestigten
Vorposten Polens im feindlichen nichtpolnischen Grenzgebiet. Schon lange vor
1914 hatte es, je nach kultureller Gemeinschaft, in Lemberg verschiedene
Visionen des städtischen Raumes gegeben, die aber durchaus „interferierten“, d.h.
an entscheidenden Stellen einander überlappten. Aus polnischer Sicht war
Lemberg eine polnische Stadt mit einigen bunten, die Polonität aber nicht
ernsthaft in Frage stellenden Einsprengseln, die ihre Besonderheit markierten und
meist als kulturelle Bereicherung – polnische Einheit in kultureller Vielfalt –
59
60
WENDLAND, Nachbarn, 2002.
SCHENKE, Nationalstaat, 2004.
69
dargestellt wurden; „nationale“ Konflikte um Raumverfügung und städtische
Ressourcen wurden aus dieser Sicht lange Zeit noch als Störung einer bewährten
Ordnung und Werk einiger weniger Außenseiter und Krawallmacher gesehen.
Gleichwohl blickte man bang auf die große nichtpolnische Provinz im Hinterland
der Stadt: Aus dieser Perspektive war Lemberg eine Insel, aber eine vorerst
glückliche Insel. Aus ukrainischer Sicht war nicht die Stadt, die beanspruchte
historische Metropole, eine Insel, aber die eigene Existenz in der Stadt wurde als
inselhaft wahrgenommen. Es gab keine ruthenischen Viertel – so gesehen war die
ruthenische Stadtbevölkerung unsichtbar, denn sie verteilte sich überall in der
Stadt, die Eingesessenen waren überdies sprachlich stark akkulturiert an die
polnische Umgebung. Die Zugewanderten, die Dienstleute und Vorstadtarbeiter
(und natürlich auch die Roth’schen Prostituierten) blieben stumm und ohne
Wahlrecht. Aber es gab überaus gut sichtbare und weichbildprägende
Kristallisationspunkte der Ruthenischkeit Lembergs, von denen seit der
Etablierung eines ukrainischen Vereins- und Publikationswesens sichtbare und
unsichtbare Verbindungen bis weit ins Land reichten. Die Raumvision der
Ukrainer von L’viv war somit eher der zentrale Ort, der endlich wieder in ein
eigenes, ukrainisches, Recht eingesetzt wurde. Jedoch, das ist wichtig
festzustellen, gab es einige urbane Landmarken, die auf ruthenischen Inseln lagen,
aber für Lemberg als Gesamtorganismus genauso wichtig waren wie für die
Teilgruppe der ruthenischen Städter. Dazu gehörte der St.-Jura-Berg mit dem
griechisch-katholischen Metropolitensitz und das mittelalterliche ruthenische
Viertel mit dem Korniak-Turm aus der Renaissance, während das nach 1948 neu
hinzugekommene, mit Unterstützung der Zentralregierung ruthenisch
umdefinierte Gebiet rund um das ruthenische Nationalhaus61 und die ruthenische
Stadtkirche nicht in das Gesamtraumbild einging. Die Skyline Lembergs, die in
unzähligen Visualisierungen zitiert wird, war tatsächlich (christlich-)
transkulturell: Dominikanerkuppel, Armenische Kirche, Rathausturm, Lateinische
Kathedrale, Korniak-Turm, mit den Höhenmarken Schlossberg und Juraberg. Die
Lemberger Synagogen konnten nicht zu dieser Skyline der Sakralbauten gehören,
weil sie aufgrund der diskriminierenden historischen Bauvorschriften wesentlich
niedriger waren – sie waren wahrnehmbar, aber nicht salient. Der Lemberger
Schlossberg war für lange Zeit multikonnotiert: hier koexistierten die Raumbilder
„ruthenischer Stadtgründungsort“, „Ort des polnischen Neuanfangs“ (der Ort des
Kasimir-Schlosses und Machtzentrum der polnischen Neugründung der Stadt im
14. Jahrhundert), sowie „polnisch-patriotische Pilgerstätte“, seit dort 1869 der
Lubliner-Unions-Gedenkhügel aufgeschüttet worden war. Letztere Aktion war ein
relativ früher polnischer Eingriff in die gefühlte Parität, der Versuch, einen
kulturell uneindeutigen oder eben paritätischen Erinnerungsort mit polnischer
Gewichtung zu vereindeutigen, was heftige Proteste der galizischen Ruthenen
nach sich zog.62 Insofern ergibt sich ein interessantes Vergleichs-, aber auch
Gegenbild zu den Inszenierungen „deutscher“ und „polnischer“ Stadträume in
61
62
WENDLAND, Macht, [im Druck].
PROKOPOVYCH, Kopiec, 2006; DERS. Habsburg Lemberg, 2009.
70
Posen vor 1918.63 Die Juden wiederum hatten sichtbare, durch die spezifische
Dichte an jüdischen religiösen und sozialen Institutionen sowie an Ladenschildern
und Aufschriften in hebräischen Lettern erkennbare Wohnbezirke. Diese waren
aber nicht abgeschottet, und es waren viele nichtjüdische Elemente und auch
Bewohner in sie verwoben, abgesehen von der Durchlässigkeit für Auswärts- und
Aufwärtsbewegungen jüdischer Städter, die in die renommierten „polnischen“,
katholisch dominierten Bürgerviertel umzogen.
Soweit die urbane Raumsituation am Vorabend des ersten Weltkrieges. Die
Kriegsund
Bürgerkriegsereignisse,
auf
deren
Verlauf
und
Brutalisierungswirkungen hier im Einzelnen nicht eingegangen werden kann,64
brachten jedoch eine für alle Stadtbewohner wahrnehmbare Umwertung der
Räume: Im November 1918, während der ukrainisch-polnischen Kämpfe um die
Stadt, bedeutete der Aufenthalt im falschen Viertel oder die Zurechnung zur
falschen Gemeinschaft Gefahr für Leib und Leben, und auch lange Jahre danach
wurde der städtische Raum in der Kriegserinnerung deformiert und neu
zusammengesetzt.65 In der Zwischenkriegszeit sorgte die Militarisierung des
Straßenbildes, die öffentliche Inszenierung der Erinnerung an den polnischukrainischen (und auch polnisch-sowjetischen) Krieg für eine Neuanordnung
urbaner Raumbilder. Lemberger Nichtpolen, vorwiegend Ukrainer (bzw., was für
die Zuordnung oft schon ausreichte, Griechisch-Katholische) und Juden, waren
aus diesen Repräsentationsformen qua abweichender historischer Erinnerungen,
nämlich jene an die militärische Niederlage und an den von den polnischen
Siegern 1918 inszenierten Judenpogrom, ausgeschlossen. Staat und Gesellschaft
wurden als Veranstaltung der katholischen Polen, aber nicht der Bürger Polens
angesehen. Lokale Auseinandersetzungen zwischen Studierenden an der
Universität, Ghettobänke, pogromähnliche Ausschreitungen gegen nichtpolnische
Läden am Rande von nationaldemokratischen Demonstrationen waren die urbane
Begleitmusik dieser Jahre der Angst – wie gesagt, in durchaus paradoxer
Überlagerung (auch das ist Interferenz) mit frappierenden kulturellen und
wissenschaftlichen Errungenschaften, die sich zur gleichen Zeit in der Stadt Bahn
brachen, dem Festhalten an aus österreichischen Zeiten ererbten urbanen
Freizeitformen und Konsumweisen in Kaffeehäusern, Ballsälen und Theatern,
oder der Aneignung neuer Konsummuster in Kinos, Jazzlokalen und
Sportarenen.66
4. Postkoloniale Ansätze und Interferenz
63
64
65
66
Dazu der Beitrag von Andreas R. HOFMANN in diesem Band.
Dazu umfassend MICK, Kriegserfahrungen, 2010.
WENDLAND, Nachbarn, 2002.
WENDLAND, Post-Austrian Lemberg, 2003; MICK, Kriegserfahrungen, 2010.
71
In den vorhergehenden Abschnitten habe ich versucht, die verschiedenen
Erscheinungsformen kultureller Interferenz sowohl im historischen Galizien als
auch in seinen Nachfolgeterritorien zu skizzieren. Dabei habe ich der Erfahrung
der sozialen und räumlichen Mobilisierung, der Rolle der Stadt und auch dem
konflikthaften Ereignis wichtige Funktionen zugesprochen und in zweifacher
Hinsicht meiner Skepsis Ausdruck gegeben: einerseits gegenüber allzu
emphatischen Sichtweisen von kultureller Interferenz oder „Hybridität“,
andererseits gegenüber einer Essentialisierung Galiziens als eines historisch und
geografisch einzigartigen Referenzraumes kultureller Interferenz. Galizien ist
ohne Zweifel ein faszinierendes Beispiel, aber weder sind Interferenzerfahrungen
am Ostrand Ostmitteleuropas an die administrative Einheit Galizien in ihrer
historischen Existenz als habsburgisches Kronland und seine spezifischen
historischen Akteure gebunden, noch ist Galizien innerhalb Europas eine
Ausnahmeregion. Vielmehr sind emphatische und essentialisierende Sichtweisen
oder auch Selbstsichten galizischer kultureller Interferenz ihrerseits als historischpolitische Phänomene der (meist im Nachhinein) rezipierenden Gesellschaften
analysierbar.
Gleichwohl gibt es einen Anlass, der nach den Exkursen ins polnische und
sowjetische Post-Galizien die Rückkehr zum eigentlichen, dem habsburgischen
Galizien gerechtfertigt erscheinen lässt. Denn viele der in diesem Beitrag
geäußerten Überlegungen können auch im Zusammenhang der kritischen
Diskussion um koloniale, quasi-, halb- oder postkoloniale Verhältnisse des
Habsburgerreiches und seiner Nachfolgestaaten gesehen werden. In diesem
Abschnitt möchte ich daher am Beispiel Galiziens abschließend einige
Themenfelder ausweisen, bei deren Erforschung sich postkoloniale Methoden der
historischen Analyse fruchtbar machen lassen.67 Einige in den vorigen
Abschnitten angesprochene Beispiele und Beobachtungen lassen sich auch diesen
Themenfeldern zuordnen. Machtverhältnisse und Diskurse an den Peripherien
Österreich-Ungarns könnten so angemessen beschrieben und die
Vergleichsmöglichkeiten zu anderen imperialen Peripherien offengehalten werden
– auch dies wäre ein Beitrag zu meinem Anliegen der historischen und
analytischen Kontextualisierung Galiziens als eines wichtigen kulturellen
Interferenzraumes unter anderen. Allerdings ist dabei zu beachten, dass die
historischen Akteure unserer imperialen Peripherie, auch wenn sie sich als indigen
verstanden und inszenierten, sich nicht wie die indigenen Emanzipatoren der
überseeischen Kolonialgesellschaften auf eine prinzipielle kulturelle
Andersartigkeit bezogen. Vielmehr beriefen sie sich auf dieselben Wertesysteme
wie die imperialen Hegemonen: Fortschritt, Bildung, Entwicklung, Europäizität,
häufig auch christliche Werte. Kritik an den quasi kolonialen Verhältnissen wurde
meist in eine Kritik an der Verteilung ökonomischer und politischer Ressourcen
gekleidet. Der Vorwurf an das Zentrum lautete dann, dass der Weg der Peripherie
67
Der folgende Abschnitt baut in wesentlichen Punkten auf einem andernorts veröffentlichten
kurzen Text auf, Wendland, Galizien postcolonial? Imperiales Differenzmanagement,
mikrokoloniale Beziehungen und Strategien kultureller Essentialisierung (2013).
72
nach Europa blockiert werde, wie Klemens Kaps in seiner Untersuchung
galizischer Wirtschaftsdiskurse zeigt.68
Gleichwohl scheint mir eine postkoloniale Perspektivierung für unsere
Fragestellung sinnvoll, weil sie die Machtbedingtheit kultureller Interferenz
besonders offenlegt. Dabei geht es nicht um kulturelle Überformung durch
vornational-dynastische bzw. –ständische oder moderne imperiale Herrschaft
allein, wie sie umfassend in der Geschichte Ostmitteleuropas als einer Geschichte
von polykulturellen Königreichen und Imperien, insbesondere des
österreichischen,
angesprochen
wird.69
Vielmehr
hat
auch
die
Geschichtsforschung über das Habsburgerreich sich mit postkolonialen
Theorieangeboten auseinandergesetzt, weil sie neue Erkenntnisse über lokale und
mikrohistorische Machtverhältnisse, aber auch über Konfliktlagen versprechen.
Interessant werden hier
- die Beziehungen zwischen Herrschenden verschiedener Ordnungen bzw.
Reichweiten und Beherrschten;
- die Rolle ökonomischer Integration im imperialen Verband und
zunehmend auch in eine global vernetzte Wirtschaft;
- die Bedeutung der oben angesprochenen, in den Quellen kaum zu Wort
kommenden Subalternen;
- die Rolle von gewaltförmiger Interaktion;
- schließlich die Rolle von reaktiver Selbstessenzialisierung der
Beherrschten, die auch als Interferenzereignis gelesen werden kann.
Die Referenzräume Galizien und Bosnien spielen in einer postkolonial
inspirierten Perspektive auf die Aushandlung und Regulierung kultureller
Differenz im Habsburgerreich eine besonders herausgehobene Rolle. Gleichzeitig
sind sie interessante Sonderfälle imperialer Herrschaftsausübung. Galizien und
Bosnien waren keine Kolonien im Sinne der klassischen Definition, da die
österreichische Hegemonialmacht hier – mit Ausnahmen, auf die
zurückzukommen sein wird – nicht auf Unterwerfung und rechtliche Segregation
zum Zwecke ökonomischer Ausbeutung, sondern eher auf die Nivellierung von
ökonomisch-politischen Unterschieden und Durchsetzung einer allgemeinen
Staatsbürgerschaft zielte. Andererseits finden wir in den beiden Provinzen viele
Verfahrensformen, die ohne Zweifel Kolonialverhältnissen sehr ähneln.
Gleichzeitig waren diese Verfahren von großer Bedeutung für die Konstitution
kultureller und auch politischer Interferenzen zwischen Herrschenden und
Beherrschten verschiedener Kategorien. Am Beispiel Galiziens kann dies gezeigt
werden.
4.1 Kulturelle Differenzen und Hierarchien
68
Dazu KAPS, Von Waren, 2009. – Dazu wie zu allen folgenden Überlegungen WENDLAND,
Imperiale Blicke, 2010; FEICHTINGER/ PRUTSCH/ CSÁKY Hg., Habsburg, 2003.
69
Dazu der Beitrag von Winfried EBERHARD in diesem Band.
73
Kulturelle Hierarchien wurden in Österreich-Ungarn auf unterschiedliche Weise
hergestellt – durch rechtliche Vorkehrungen wie die Sprachengesetzgebung, das
Wahlrecht oder bestimmte symbolische Repräsentationsformen. Eine nicht zu
unterschätzende Rolle spielte aber auch das kulturelle Sendungsbewusstsein der
Hegemonialkultur, das auf Seiten der Provinzbewohner und ihrer Eliten zu
Wahrnehmungen kultureller Inferiorität führte. Die lokalen Eliten, welche oft
ihrerseits imperiale Bildungswege und Karrieren beschritten, arbeiteten diese
Erfahrung in ihre Strategien zur Entwicklung ihrer Heimatregion ein.
Eine gewichtige Rolle bei der Herstellung kulturellen Sendungsbewusstsein
auf Seiten der Hegemonialkultur spielten die Reise- und Berichtsaktivitäten der
imperialen Spezialisten, die zwecks Erkundung und Erfassung in die
neuerworbenen Provinzen entsandt wurden – in Galizien finden wir solche
Quellen seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, in Bosnien entsprechend im letzten
Drittel des 19. Jahrhunderts. Finanzfachleute, Kleriker, Geographen,
Naturwissenschaftler, Industrielle und Ingenieure kommunizierten ein Bild
rückständiger, aber entwicklungsfähiger (zu „hebender“) Provinzen in die
Metropole. Diese konnte sich erst jetzt in einer neuen Rolle als
Modernisierungsmotor etablieren – auf ökonomisch-technischer Grundlage alleine
war dies zuvor nicht recht gelungen, lag doch Wiens ökonomisches Herzland
außerhalb der Grenzen der dominierenden Nation, nämlich in Böhmen. Diese
Tatsache hatte vorher ökonomisch grundierten Überlegenheitsgefühlen der
Metropole stets enge Grenzen gesetzt. Galizien und Bosnien mit ihren als
mittelalterlich empfundenen Feudalstrukturen und den als extrem rückständig, fast
schon als Wilde dargestellten Bauernbevölkerungen gaben hingegen neue
Projektionsflächen
für
die
Inszenierung
einer
sozialreformerischen
zivilisatorischen Mission ab.
Im Gegenzug enstanden reaktive Strategien des Umgangs mit Inferiorität in
den als unterlegen und reformbedürftig klassifizierten lokalen Gesellschaften. Die
lokalen Eliten, in Galizien also vorwiegend die polnischen Eliten, suchten dieses
Rückständigkeitsurteil zu entkräften oder wiesen der imperialen Herrschaft eine
Mitschuld an den Verhältnissen zu. Parallel rief man mit Blick auf die inneren
Verhältnisse der Provinz zu eigenen Reform- und Arbeitsanstrengungen auf.
Dieser permanente Selbstansporn zur Reform wurde für Galizien in der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts symptomatisch. Das Konzept der „organischen
Arbeit“ (praca organiczna) und die Kontroversen um die nędza Galicji, das in
ganz Österreich sprichwörtlich gewordene „Elend Galiziens“70 entstammen
diesem Kontext. Solche Kontroversen wurden auch als Diskussionen um von
Fremden auferlegte Selbstbilder geführt. Zu radikalen Selbstkritikern wurde
jedoch vorgeworfen, der Selbstkolonisierung Vorschub zu leisten, indem sie der
westlichen Schmähkritik der sogenannten „polnischen Wirtschaft“ Argumente
lieferten. Parallel entstanden neue Formen der Selbstvergewisserung, die bei
allem Stolz über das Erreichte implizit oder explizit immer auf den
70
SZCZEPANOWSKI, Nędza, 1888.
74
Rückstandsvorwurf hin ausgerichtet waren, so anlässlich der galizischen
Gewerbe- und Landesausstellungen.71
Dass die von oben kommende mission civilisatrice sich aber auch innerhalb
der eroberten Gesellschaften als Selbstzivilisierungsmission etablierte, ist ein
interessanter Aspekt der österreichischen Imperialgeschichte, der seine
Entsprechung auch in anderen europäischen und außereuropäischen Ländern
findet. Den wirklich nachhaltigen erzieherischen Angriff auf die Bauernkulturen
Galiziens und ihre anarchischen, gewaltförmigen, sexualisierten Aspekte führten
nämlich nicht die staatlichen Disziplinierungsorgane Schule, Gericht und Armee,
sondern die polnischen und ruthenischen Volksaufklärer und Volksaufklärerinnen,
welche die agrarischen Unterschichten mit dem Ziel der Kulturnationsbildung
transformieren wollten. Hier interferierte das von den lokalen Eliten propagierte
alleuropäische Konzept einer zivilisierten Hochkultur und des dazugehörigen
Bildungskanons mit den vorgefundenen Gegebenheiten einer weitgehend auf
oraler Überlieferung beruhenden und darüber hinaus politisch marginalisierten
bäuerlichen Gesellschaft. Wenn also patriotische, oder wie sie selbst zu sagen
pflegten svidomi („bewusste“, d.h. mit (National-) Bewusstsein ausgestattete)
ruthenische Wahlkämpfer, zumeist Pfarrer und Lehrer oder deren Söhne und
Töchter, die Prinzipienlosigkeit ihrer Bauern geißelten, dann galt ihr Kampf nicht
nur der allfälligen Bestechung durch polnische Grundbesitzer, die ruthenische
Wahlmänner mit „Wahlwurst“, „Wahlschnaps“ und anderen Vergünstigungen
gefügig machten. Es ging auch nicht nur um die reichsweit berüchtigten
„galizischen Wahlen“, die außerhalb des Kronlandes wegen Manipulationen und
Ausschreitungen als Normabweichung im zivilisierten österreichischen
Politikbetrieb skandalisiert wurden. Vielmehr stand der politische Kampf für
Standhaftigkeit, gegen Korruption und für Transparenz auch im Kontext der
lokalen Kampagnen gegen die traditionalen Lebenswelten. Alkoholmissbrauch,
Völlerei bei Feierlichkeiten, Ausschweifungen auf der Pilgerfahrt und andere
kleine Fluchten aus dem harten Alltag der Subsistenzbauern und Landarbeiter
wurden nun als antiaufklärerisch, der nationalen Sache schädlich, gar als Verrat
angeprangert.72 Solche Verhaltensweisen wollten die Volksaufklärer und
„nationalbewussten“ Mitglieder der bäuerlichen Führungsschichten durch neue
Geselligkeitsformen in Lese- und Abstinenzvereinen korrigieren, um die
Entwicklung hin zu Formen europäischer, „deutscher“ Kultiviertheit in Gang zu
setzen.
In diesem Kontext waren „Galizien“, „galizisch“ eher Reizworte für einen
reformbedürftigen Gesellschaftszustand, kein Erinnerungsort oder eine
Raummetapher für Interkulturalität. Allenfalls beim historischen Rückgriff der
Ukrainer auf vermeintlich bessere Zustände des Mittelalters, als die Ruthenen
71
WENDLAND, Eindeutige Bilder, 2009; zum Rückstandsstereotyp der „polnischen Wirtschaft“,
das analog zum österreichischen Galizienstereotyp vor allem in Preußen verbreitet war und auch
die Diskussion um Galizien mit beeinflusste: BÖMELBURG, „Polnische Wirtschaft“, 1998; dazu
auch der Beitrag von Andreas R. HOFMANN in diesem Band.
72
Zur zivilisatorischen Offensive von Volksaufklärern und Hochkulturprojekten allgemein
MITZMAN, Offensive, 1988.
75
noch ein Volk mit eigenen Adelseliten, starken Fürsten und eigenen
Territorialgrenzen gewesen seien, war Galizien positiv konnotiert. Grundsätzlich
waren aber im 19. und frühen 20. Jahrhundert die Bezeichnungen „Galizien“,
„galizisch“ negativ belastet, vor allem im Deutschen. Auch im Jiddischen war der
galitsyaner das Schlitzohr oder der Hinterwäldler aus dem Osten. Im Polnischen
trug Galicja lange Zeit den Makel des eingangs erwähnten imperialen Oktrois,
auch wenn die zugehörigen Territorien allesamt als historisch zu Polen gehörig
beansprucht wurden. Die Ausdehnung der ostslawischen Territorialbezeichung
nach Westen, auf historisch urpolnische Gebiete, wurde jedoch als Degradierung
und Vernichtung gewachsener Traditionen empfunden. Trotz der beachtlichen
Erfolge bei der allmählichen Herausbildung einer positiv konnotierten galizischen
„Idee“ der dynastisch überwölbten Einheit in Vielfalt73 gerade in polnischkonservativen und habsburgloyalen Kreisen überwog am Ende die semiotische
Hypothek „Galiziens“.
Dies hat wesentlich zur raschen und ersatzlosen Auflösung der
Verwaltungseinheit (Ost-) Galizien in der Zweiten Republik beigetragen. Die
ostgalizischen Territorien wurden in einer nomenklatorischen Umkehrreaktion zur
Großregion Małopolska Wschodnia („Ost-Kleinpolen“) zusammengefasst,
ansonsten sah die administrative Unterteilung in Wojewodschaften eine
Benennung von Subregionen nach ihren jeweiligen Hauptstädten vor. „Galizien“
lebte administrativ nur noch einmal als „Distrikt Galizien“ des NSGeneralgouvernements auf, was nicht gerade zur Aufwertung des Begriffs
beigetragen hat. Vor 1945 blieben die Ruthenen bzw. Ukrainer dem GalizienBegriff und territorialen Konzept treu, weil sie als einzige Bevölkerungsgruppe
eine autochthone historische Erinnerung daran knüpften. In der sowjetischen
Ukraine nach 1945 war von Galizien allenfalls im Flüsterton die Rede, während
die offizielle Propaganda die Territorialbezeichnung nur noch im Zusammenhang
mit der „SS-Division Galizien“ verwendete und so zu ihrer nachhaltigen
Diskreditierung beitrug.
Auch der habsburgisch-offiziöse Galizienbegriff, der ursprünglich gar nicht
den Makel der kulturellen Inferiorität trug, war deswegen noch kein
Erfolgsausweis einer Interferenz etwa der (dominanten) kaiserlichen Diplomatie
und der (marginalisierten) ruthenischen historischen Erinnerung. Was hier
vordergründig die territorialen Interessen der Oberherrschaft und der underdogs
zusammenspannte, war keine langsam sich entfaltende Übernahme einer
Nomenklatur und Füllung mit neuer Bedeutung. Eine solche liegt in einem
anderen Falle vor, nämlich in der späteren Erfolgsgeschichte der
Territorialbezeichung Ukraïna in der Geschichtsregion, in deren Ergebnis aus
Galizien (Halyčyna) die heutige Westukraine (Zachidna Ukraïna) wurde. Ihr liegt
zum ersten eine lange Vorgeschichte grenzüberschreitender inter-imperialer
Kommunikation der österreichischen und russländischen Ukrainer zugrunde, zum
zweiten das territoriale Faktenschaffen durch die sowjetische Annexion 1939 und
die Ordnung von Jalta. Im habsburgischen Falle ging es jedoch weniger um eine
73
WOLFF, Idea of Galicia, 2010, 13-62, 188-230.
76
über Generationen hinweg vollzogene Einwurzelung einer Bezeichnung bei
gleichzeitiger Veränderung ihrer Bedeutungsreichweite, als vielmehr um die,
wenn auch auf wackligen Beinen stehende dynastische Legitimierung einer
Annexion. Vor allem ging es um die Auslöschung polnischer territorialer und
somit auch staatsrechtlicher Traditionen. Die Rechtsnachfolger Österreichs auf
galizischem Territorium – erst die Zweite Republik Polen und später die
Sowjetunion – lernten hier vom Gegner insofern, als die Tabuisierung von
Territorialbezeichnungen und ausgeklügelte Umbenennungspolitiken von der
Großregion bis auf die Ebene der Orts- und Straßennamen seit 1918 zum
Standardrepertoire des nationalizing74 bzw. sovietizing state gehörten. Dass
Galizien (Galicja) heute selbst in Polen eher mit positiven Merkmalen assoziiert
wird, ist den tiefgreifenden Transformationen und Umdeutungen im letzten Drittel
des 20. Jahrhunderts zu verdanken – sozusagen jenseits des Abgrunds. Nach ihrer
fast totalen Vernichtung im Zweiten Weltkrieg wurden nun die vorher als
Belastung angesehenen komplizierten polykulturellen Verhältnisse umfassend neu
bewertet, ihre Vernichtung im Nachhinein als Verlust gedeutet. Darüber hinaus
steht Galicja im heutigen Polen, insbesondere in der Krakauer Gegend, für eine
längst versunkene austriakisch-polnische Spielart bürgerlicher Wohlanständigkeit
– und für die regionstypischen kulinarischen Öffentlichkeiten und Produkte
zwischen Konditorei, Kaffeehaus und Theater, die so manchem Markennamen mit
galizischem Attribut ihr Gepräge geben sollen.
4.2 Macht und Recht
In der postkolonialen Analyse wird „Mikrokolonialismus“ als ein Geflecht von
gestaffelten Herrschaftsverhältnissen zwischen imperialem Hegemon, lokalen
Eliten sowie anderen nichtdominanten und subalternen Gruppen beschrieben. In
solchen Verhältnissen kann die unterworfene lokale Elite gleichzeitig im
Verhältnis zu den lokalen Bevölkerungen in der Position des Unterdrückers
verharren. Ihre Position kann sich durch die imperiale Oberherrschaft aber auch
verändern, ohne dass die Elitenfunktion in Frage gestellt wird; andere
nichtdominante Gruppen können zur Beherrschung des Territoriums vom
Hegemon gegen lokale Eliten eingesetzt werden. Die jeweiligen Mikro-Rechtsund Machtverhältnisse sind also nicht einfach als Funktion kolonialer
Unterdrückungspolitik zwischen Eroberern und Eroberten zu fassen, sondern
müssen am jeweiligen Mikro-Verhältnis analysiert werden. Analog bietet auch die
Verwaltungspraxis an der habsburgischen Peripherie Einblicke in das lokale
Management kultureller und politischer Differenz. Was früher als divide et impera
vereinfacht und unterschätzt wurde, entpuppt sich bei genauer Betrachtung lokaler
Verhältnisse als komplexe Verschachtelung von Herrschaftsverhältnissen und
Techniker der Machtdelegierung. Lokale Eliten und nichtdominante Gruppen
wurden vom Hegemon auf verschiedene Weise in den Verwaltungsprozess
74
Brubaker, National minorities, nationalizing states, 1993.
77
einbezogen bzw. von ihm ausgeschlossen, oder sie wurden dem tagespolitischtaktischen Bedarf entsprechend instrumentalisiert oder subsidiert. Das
österreichisch-polnisch-ruthenisch-jüdische Verhältnis in Galizien kann so
gewinnbringend beschrieben werden, und viele Entwicklungen innerhalb
nichtdominanter Gruppen werden besser verstehbar. Nicht nur steht der
Kaiserstaat als Förderer hinter den frühen Regungen der westukrainischen
Nationalbewegung – auch die Polen könnten sich ihm mit Blick auf ihre eigene
Staatsbildungsgeschichte
verpflichtet
fühlen.
Die
polnisch-galizische
Auftragsverwaltung des Kronlandes ab 1867 kann als Probelauf polnischer
Staatlichkeit in einem der Teilungsgebiete angesehen werden: Etablierung der
polnischen Amtssprache und eines kompletten polnischen Bildungssystems von
der Volksschule bis zur Universität, Bereitstellung von politischem,
wissenschaftlichen und administrativen Personal, Aggregation parlamentarischbürokratischer Erfahrung sowie kulturellen wie symbolischen Kapitals stehen auf
der Habenseite dieser habsburgisch-polnischen Protostaatsgeschichte in Galizien.
In engem Zusammenhang damit steht die Genese ganzer sozialer Schichten und
Denkschulen loyalistisch-konservativer Polonität durch imperiale Erfahrung, die
für die Alternative „organische Arbeit“ vs. demokratisches Aufstandspathos im
polnischen politischen Denken stand.
Ähnliches gilt für die Ruthenen/ Ukrainer. Ihre Nationsbildungsgeschichte –
als Geschichte der Sprachstandardisierung, als Bildungsgeschichte, als politische
Mobilisierungsgeschichte inklusive der binären Entwicklung russo- und
ukrainophiler Strömungen kann ohne eine sorgfältige Berücksichtigung des
doppelten Hegemonialverhältnisses mit ferner und naher Herrschaft nicht
geschrieben werden. Auf beiden Bühnen – jener des Kaiserstaates und des
Reichsrates in Wien und jener des „polnischen“ Lemberg und des galizischen
Landtages machten die Ukrainer Politik, je nach Lage appellierte man an die eine
oder andere Instanz oder kämpfte mit wechselnden Verbündeten, z.B. mit anderen
Nichtdominanten wie den Juden oder den Tschechen, um Partizipation.
Wesentliche Impulse für die nationale Integration der galizischen Ukrainer gingen
gerade von der phasenweisen Kooperation zwischen imperialer Staatsgewalt und
ruthenischen Interessengruppen aus. Allgemeine galizische Phänomene wie die
Entwicklung von Sprachkontakten und Polyglossie sind ohne den Blick auf die
zugrundeliegenden, sich gegenseitig überlagernden Machtverhältnisse (Imperium
mit Universalsprache Deutsch, lokale Macht mit Regionalsprache Polnisch,
nichtdominante
Gruppe
mit
ruthenisch-russoruthenisch-ukrainischen
Sprachvarietäten) nicht zu verstehen.75
Auch ein lohnendes Thema für Lokalstudien mikrokolonialer Beziehungen,
welche wiederum Interferenzereignisse nach sich ziehen, ist die Geschichte der
Verrechtlichung Galiziens. Damit meine ich die allmähliche Durchsetzung und
phasenweise auch die Wiederinfragestellung von juristischen, reichsweit
normierten Verfahrensformen zur Klärung von Interessenkonflikten. Deren gab es
75
PTASHNYK, Societal multilingualism, 2007; DIES., Sprachenpolitik, 2009; FELLERER,
Mehrsprachigkeit, 2005; MOSER, „Jazyčije“, 2004.
78
viele in der agrarischen Welt nach 1848: Die Neuordnung der Agrar- und
Untertansverhältnisse, die im Zuge der Grundentlastung auflaufenden
Streitigkeiten um Servituten, um Zugehörigkeit von Flurstücken zu Gemeinde-,
Guts- oder Bauernland, aber auch die oft daraus entstehenden quasi-politischen
Gerichtsverfahren wegen „Beleidigung“ und „Störung der öffentlichen Ruhe“
fallen in diese Kategorie.76 Der wachsende Bedarf an juristischem Personal für
Gerichte und moderne Leistungsverwaltungen machte auch vor der agrarischen
ruthenischen Gesellschaft nicht halt. Das Jurastudium und der Anwaltsberuf war
einer der großen Aufstiegswege ruthenischer Bauernsöhne aus der traditionalen
Welt des Dorfes; auch in der polnischen Gesellschaft war die Juristenprofession
von großer Bedeutung für die Elitentransformation und die Formierung von
neuartigen politischen Agenden.77 Das hohe Sozialprestige des Juristen bei den
Ruthenen, das an jenes der traditionellen Elite, des griechisch-katholischen
Klerus, bald heranreichte, stammt aus jener Zeit. Ein anderer Aspekt dieses
Verrechtlichungsprozesses ist die quantitative Zunahme von Gerichtsverfahren
und die später allen Galiziern, egal welcher Herkunft, stereotypisch nachgesagte
Prozessiersucht. Später wiederum bildeten sich neue Formen von
Konfliktentscheidung in Galizien, die den Rechtsweg ignorierten und teilweise
gewaltförmig waren: Agrarstreiks und ihre polizeiliche Disziplinierung, später die
als „Pazifizierung“ (pacyfikacja) bezeichnete militärische Durchsetzung der
polnischen staatlichen Hoheit in den ukrainischen Dörfern Ostgaliziens und die
terroristischen Aktionen nationalistischer Ukrainer der 1930er Jahre. Die
letztgenannten Konfliktformen entstanden nicht zuletzt infolge einer Aushöhlung
und Delegitimierung verrechtlichter, auf Gewaltverzicht basierender
Konfliktlösungsformen im Umfeld des Ersten Weltkrieges.
4.3 Kulturelle Essentialisierung und Selbstindigenisierung vs. ökonomische
Integration
Kolonialgeschichtliche Vergleichsperspektiven ergeben sich auch hinsichtlich
bestimmter Verfahrensweisen mit kultureller Differenz, die oben bereits zur
Sprache kamen. Die Bildungs- und Kultivierungsoffensive stellte die nondominant group der Ruthenen vor ein Dilemma. Die Anstrengungen der
gebildeten Volksaufklärer zur Schaffung einer in Galizien gleichberechtigten
Kulturnation waren auf einen hochkulturell-urbanen Referenzrahmen
ausgerichtet. So gesehen war die ruthenische Idee von Sprachstandardisierung,
Verschriftlichung,
Entwicklung
von
Hochliteratur
sowie
Genese
nationalsprachlicher wissenschaftlicher und publizistischer Öffentlichkeiten ein
Interferenzereignis, denn es basiert auf der Ausrichtung einer vorgefundenen
traditionalen Kultur auf transeuropäische kulturelle Muster. Auf der anderen Seite
76
ROSDOLSKY, Untertan, 1992; STAUTER-HALSTED, Nation, 2001; STRUVE, Bauern, 2005;
WENDLAND, Russophile, 2001.
77
KRAFT, Europa, 2002.
79
ließ sich aber der identitäre Kern, auf den die Nationalbewegten rekurrierten,
nicht leicht an diese Generallinie anpassen. Dieser Kern läßt sich als ruthenischer
Anspruch auf Anciennität, Indigenität und Autochthonie in Ostgalizien
beschreiben.
Jedwede
Argumentationslinie
hinsichtlich
politischer
Gleichberechtigung basierte auf der Grundannahme, dass die ostslawische
Bevölkerung Ostgaliziens die immer schon ansässige sei, die seit dem Mittelalter
sukzessive aus ihren vorher eingenommenen Macht- und Rechtspositionen
verdrängt wurde. Polen, Juden und aus den deutschösterreichischen und
böhmischen Ländern stammende Bürger Galiziens waren in dieser Sicht lediglich
Zuwanderer. Dieses Beharren auf dem Eingeborenenstatus – also sozusagen die
programmatische Verneinung jedweder Interferenz – ging mit einer
Essentialisierung der ostslawischen Bauernkultur einher. Ironischerweise setzte
diese gerade zu einer Zeit ein, als Bildungsoffensive, Land-Stadt-Migration,
Polyglossie, Einzug der Geldwirtschaft und der überregionalen Markt- und
Verkehrsbeziehungen die Bauernkultur bereits massiv transformierten. Die Folge
war eine spezifische Form ruthenischer Selbstinszenierung und -exotisierung als
traditionales, Originalität beanspruchendes Element Galiziens, das auf
ethnographischen Ausstellungen und in Bestrebungen zur Förderung und
Erhaltung der bäuerlichen Kultur und bäuerlicher Produktionsverfahren zur
Geltung kam.78 Der aufkommende Tourismus und das aus der Krise und Kritik
der Stadt als Lebensform um 1900 erwachsene Interesse an traditionalem
Anderssein leisteten dieser Entwicklung weiteren Vorschub. Im gesamten
Habsburgerreich beobachten wir zur selben Zeit solche Prozesse der
Touristifizierung und Essentialisierung des Volkstümlichen, das aber gleichzeitig
in die industriellen Verwertungsketten der Habsburgermonarchie eingepasst
wurde. Standardvorgaben für die Heimindustrie, Verwendung neuer Werkstoffe
und Propagierung von Kunsthandwerk als Ware und regionales Exportgut spielten
dabei eine wichtige Rolle. Festzuhalten bleibt, dass hier die behauptete kulturelle
Essenz und eine realisierte kulturell-ökonomische Interferenz immer
zusammengehörten.79
Auf einer anderen Ebene jedoch kam es in derselben historischen Situation
bereits zu erheblichen, auch sprachlich-kulturellen, Interferenzen zwischen
Ruthenen/ Ukrainern und ihren galizischen Mitbürgern sowie Impulsgebern von
außerhalb des Kronlandes: Während auf den Gewerbeausstellungen Ethno-Kunst
gezeigt wurde, schufen ukrainisch- und polnischsprachige Autoren bereits
fiktionale und nichtfiktionale Texte, die sich mit den Problemen des modernen,
urbanen Menschseins oder mit der Zerrissenheit des Individuums angesichts des
Zusammenpralls traditionaler Welten und der industriellen Moderne
beschäftigten. Sie schöpften dabei aus denselben Quellen, publizierten in den
78
WENDLAND, Eindeutige Bilder, 2009.
Siehe dazu die Diskussion um „Orientalismus“ in Ostmitteleuropa, „Selbstorientalisierung“
von bestimmten Gruppen und kunsthandwerkliche Selbstinszenierungen: GRUNERT,
[Tagungsbericht], 2010.
79
80
Sprachen des jeweils Anderen (z.B. Ivan Franko) und rezipierten die
anderssprachige Literaturproduktion.80
Die nationalpopulistische Selbstindigenisierung endete durchaus nicht 1918
und auch nicht 1939. Sie erwies sich in der sowjetischen Zeit, während der
zweiten oder eigentlich dritten imperialen Periode der Ukrainer, als
anschlussfähig für sowjetukrainische (und in der Stalinzeit xenophobe)
Inszenierungen von „Volk“ und sozialistischer Volkstümlichkeit. Somit steht sie
am Anfang einer langen Entwicklungslinie der bis zum heutigen Tage noch nicht
erledigten Folklorisierung und Selbstfolklorisierung der ukrainischen Kultur(en),
die in nur scheinbarem Gegensatz zur Industrialisierungs- und
Urbanisierungsgeschichte der Ukraine steht – ungeachtet der wichtigen Tatsache,
dass an dieser Geschichte wesentlich auch nichtukrainische (u.a. russische und
jüdische) Bevölkerungen teilhatten. Aus der letztgenannten Fragestellung ergeben
sich mehrere transnationale Vergleichsperspektiven, so die Frage nach der Rolle
des ukrainischen/ ruthenischen Faktors in der polnischen, aber auch russischen
Ethnographie und Folkloristik und bei der Definition polnischer bzw. russischer
Indigenitäts- und Originalitätsansprüche in der slawischen Welt.81 Darüber hinaus
ist die Vergleichsperspektive zu anderen Essentialisierungs- und
Musealisierungsformen „bäuerlicher“ oder indigener Tradition im Kontext von
Nationsbildungsprozessen zu nennen, die nicht notwendig imperial überformt sein
mussten. Beispiele für die (Freilicht-) Musealisierung von Agrartraditionen bieten
Skandinavien, Böhmen und die deutschen Länder, Beispiele für die Apotheose
des Indigenen viele postkoloniale Gesellschaften des 20. und 21. Jahrhunderts in
Asien, Afrika und Lateinamerika. Auch die aktuelle Forschung zur Geschichte
sozialer und ökologischer Bewegungen in den westlichen Metropolen verweist
auf die Bedeutung von Repräsentationen der Indigenität und Unberührtheit
traditionaler Gesellschaften im Zeitalter der dritten Globalisierung.82 Wie im
Galizien des 19. Jahrhunderts haben solche kulturellen Repräsentationen oft nur
wenig mit den Realitäten der idealisierten, vorgeblich traditionalen Gesellschaften
zu tun, und wie damals werden sie auch hier und heute als Folie zur Kritik
bestehender Herrschaftsverhältnisse eingesetzt.
4.4 Gewalt
Kriegs- und Gewalterfahrungen sind ein konstitutiver Bestandteil von Kolonialund Imperialgeschichten. Erst in jüngster Zeit hat die Forschung zum
Habsburgerreich begonnen, solche Erfahrungen in vergleichender Perspektive zu
betrachten; so gesehen könnten sie auch Antworten auf die Frage nach den
konflikthaften Aspekten kultureller Interferenz an imperialen Peripherien geben.
80
81
82
SIMONEK, Möglichkeiten, 2003; DERS. Hg., Versperrte Tore, 2006; DERS., Ivan Franko, 1997.
SCHWITIN, Ruthenische Folklore, 2013; auch STÜBNER, Nationalismus, 2009.
RADKAU, Ära, 2011, 124‒164, 255‒363.
81
Zu Beginn des Ersten Weltkriegs kam es in den frontnahen Regionen des
österreichischem Staatsgebiets oder in eroberten Gebieten zu Formen von
staatlicher und nichtstaatlicher Gewaltausübung, die kolonialer asymmetrischer
Kriegsführung ähnelten, insbesondere was die Einbeziehung von Zivilisten in
Kriegshandlungen angeht. Der gewaltförmigen Machtausübung gingen
psychologisch-kognitive und diskursive Operationen voraus, welche die
betroffenen Bevölkerungen als minderwertig oder politisch unzuverlässig aus dem
Kreis der zivilisierten (d.h. europäischen) Menschheit ausgliederte. Solche
Zuordnungen erleichterten bei Kriegsausbruch die Ausschließung ganzer
Bevölkerungsgruppen aus dem Geltungsbereich reichsweit bzw. völkerrechtlich
gültiger Standards. Von diesem Umschlagen diskursiver in rechtliche Inferiorität
waren im Spätsommer und Herbst 1914 vor allem Ruthenen, Juden und Serben
betroffen. Ihnen wurden wahlweise Illoyalität, pro-russische Sympathien und
Teilnahme an Spionageaktivitäten zum Vorwurf gemacht. Im Falle Galiziens
hatten der Entzug von Rechten und die kollektive Feinderklärung ihren Ursprung
in früher liegenden Illoyalitätsvermutungen, welche in der Literatur über Galizien
und die dortigen Nationalitätenkonflikte eine gewichtige Rolle spielten; an deren
Produktion wiederum waren miteinander in Reaktion und Gegenreaktion
verflochtene ukrainische, polnische, jüdische und deutschösterreichische Akteure
beteiligt, ganz zu schweigen von den gegenseitigen Denunziationen, die 1914
einen Höhepunkt erreichten. In der akuten Konfliktsituation diente die
Illoyalitätsvermutung dem Militär, aber auch zivilen Mobs zur Rechtfertigung von
Pogromaktionen sowie Massenmorden und -deportationen, denen vor allem
ruthenische Staatsbürger Österreichs zu Tausenden zum Opfer fielen.83
Dies sind, knapp skizziert, einige der möglichen Fragen und Antworten unter
einer kritisch eingenommen postkolonialen Perspektive auf die Geschichte der
Habsburgermonarchie und ihrer Peripherie Galizien als Geschichte von – häufig
konflikthaften – Interferenzereignissen. Der Schwerpunkt liegt hier bewusst nicht
auf den durch imperiale Überformung generierten neuen kulturellen Formen, die
unter dem Schlagwort der „Hybridität“ zu einem prominenten Gegenstand der
postcolonial studies wurden. Als Stärke des postkolonialen Ansatzes wird aus
historischer Sicht vielmehr die Analyse spezifischer Machtverhältnisse,
Sehgewohnheiten und Selbstsichten verstanden, welche zwangsläufig mit
Grenzziehungen, Aus- und Einschließungsvorgängen zwischen Eigenem,
Anderem und „Dazwischen“ einhergingen.
Eine literaturwissenschaftliche Sicht mag mit der Gewichtung der Faktoren
anders verfahren und vermutlich den Einschließungsprozessen mehr Bedeutung
zumessen als den Grenzziehungen. Einschließungen waren aber auch in der
politischen Sphäre über lange Zeiten hinweg von integrativer Kraft – so die
Partizipation der Polen an imperialer Macht im Falle der Auftragsverwaltung und
Autonomisierung Galiziens, die auf einen Machtgewinn der polnischen Eliten
hinauslief. Auf der anderen Seite konnte diese Einschließung (einer Gruppe von
Eroberten durch die Oberherren) an anderen Stellen Integration unmöglich
83
SCHEER, Zwischen Front, 2009; WENDLAND, Die Russophilen, 2001, 540‒566.
82
machen – so im Falle der Eigendynamiken, welche die österreichisch-polnische
regionale Machtbalance auf Seiten der Ruthenen auslöste. Grenzziehungen
konnten nach innen stabilisierend und integrierend wirken – so im Falle der
ruthenisch-ukrainischen Nationsbildung. Mitunter waren sie, wie die galizischen
Erfahrungen zweier Weltkriege zeigen, für die von der Grenzziehung Betroffenen
lebensgefährlich. Unter Berücksichtigung von Praktiken der Grenzziehung und
Gewaltausübung kann der imperiale Umgang mit kultureller Differenz – aber
auch der Umgang der Beherrschten miteinander – in seiner gesamten Bandbreite
erfasst werden, von den lange erfolgreichen Modellen der Delegierung und
Teilung von Herrschaft bis hin zum Totalversagen bewährter Handhabungsformen
von Andersheit unter den Bedingungen des modernen Krieges.
5. Schlussbemerkung
Nehmen wir abschließend noch einmal Dietlind Hüchtkers aus der vergleichenden
Grenzlandforschung inspirierten Aufruf auf, nämlich mit Baud und Schendel84 die
Frage zu stellen, was eigentlich die Peripherien mit ihren Zentren anstellen,
anstatt immer wieder die Sicht- und Zugriffsweisen des Zentrums auf die
Peripherie durchzudeklinieren. Wenn man also folglich nicht das Handeln des
Zentrums, sondern vielmehr die Interaktion zentraler und peripherer Akteure in
den Mittelpunkt der historischen Grenzlandforschung stellt, dann heißt dies
erstens, die Literaturproduktion des Grenzlandes, welche vor allem in den
Sprachen der Zentren bzw. Subzentren vorliegt, auf ihre eigenen Intentionen hin
zu befragen, statt sie auf die Intentionen und Zuschreibungen der Metropolen (und
ihrer diskursiven Nachfolger) hin zu interpretieren. Mit Blick auf letztere wird
nach den heutigen Motiven des Interesses an der jüdischen Erfahrung zu fragen
sein – also auch den Motoren heutiger Galizien-Moden. Mit Blick auf erstere
sollte umgekehrt auch nach den Implikationen dieses jüdischen
Erfahrungshintergrundes in vielen literarischen Quellen gesucht werden. Deren
Produzenten haben offensichtlich aufgrund ihrer Minderheitenposition (und des
sich daraus ergebenden vitalen Interesses an transnationalen Garanten von
Minderheitenrechten
wie
dem
österreichischen
Kaiserstaat),
ihrer
Bildungsgeschichte, ihrer Erfahrung des parallelen Spracherwerbs und oft auch
des Bruchs mit der angestammten Lebenswelt eine weit größere Sensibilität für
kulturelle Interferenzereignisse vor kakanischem Hintergrund entwickelt, als dies
polnische oder ukrainische Textproduzenten taten. Das bedeutet jedoch nicht, dass
polnische und ukrainische Produzenten in dieser Hinsicht stumm blieben. Wir
können also auch die nichtjüdischen, insbesondere die ukrainischen
Textproduzenten daraufhin befragen, was sie im Einzelfalle mit ihren
wechselnden Zentren anstellten, d.h. mit welchen Intentionen sie welches Bild
von Galizien und von sich selbst produzierten. Die Selbstessentialisierung der
84
BAUD/ SCHENDEL, Toward a Comparative History, 1997, 235.
83
vermeintlich Indigenen als Reaktion auf äußeren Druck wurde bereits erwähnt;
viel weniger beachtet wurden bis heute die Strategien der Aneignung und
Anpassung an vorgefundene kulturelle Muster und ihre sukzessive
Transformation. Vor allem kann festgestellt werden, dass Galizien als
Referenzraum kultureller Interferenz weder 1918 endgültig unterging noch
1939‒1944, auch wenn spezifische, lange Zeit für diesen Raum als typisch
angesehene Interferenzformen tatsächlich die extremen Gewalteinwirkungen des
Zeitalters der Extreme nicht überlebten. Vielleicht kann man präziser davon
sprechen, dass dieser Interferenzraum beständig rekonfiguriert wurde, aber als
solcher nicht an sein Ende gekommen ist. Daher sollten uns besonders die
Auswirkungen der sozialen und räumlichen Mobilisierungswellen des gesamten
20. Jahrhunderts interessieren. Die Erfahrung der Stadt, die Genese einer
westukrainischen, auf europäische Kontexte verweisenden Moderne kurz vor
1914 und in der Zwischenkriegszeit, und schließlich die sowjetukrainische
Erfahrung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bieten hier nach meinem
Dafürhalten Raum genug für neue Entdeckungen, sei es in der
Literaturwissenschaft, sei es bei der Untersuchung zu Einzelproblemen der
Urbanisierung vor und nach dem Zweiten Weltkrieg. Auch heute sprechen
Galizierinnen und Galizier zu uns – und natürlich rekurrieren sie auf den
Erwartungshorizont der Metropolen, spielen mit den galizischen Mythologien,
kämmen sie gegen den Strich und legen ihre sowjetische und postsowjetische
Erfahrung darüber. Die Werke von Taras Prochasko, Oleksandr Irvanec’ und Jurij
Andruchovyč stehen für diese Sicht der Dinge und, wie im Falle der jüdischen
Erfahrung des 19. Jahrhunderts, für subversive Transformationen der
vorgefundenen Macht- und Sprachverhältnisse.
Galizien wurde als „Idee“ (Wolff), als besonderes Land kultureller
Interferenzen in einem langen Prozess erst gemacht. An seiner Herstellung
beteiligt waren Akteure außerhalb und innerhalb der Geschichtsregion, zu Zeiten
ihrer rechtlich-administrativen Existenz oder auch erst im unmittelbaren oder sehr
späten Nachhinein, wie die reiche Rezeptionsgeschichte und auch die bis in die
Jetztzeit reichende Geschichte der vielen positiven und negativen
Galizienklischees nahelegt. Konflikt, Konfrontation, Gewalt waren ebenso Teil
dieses Interferenzraumes wie die im Alltag gelebte Toleranz, die Idee der
Übernationalität, das Lernen voneinander, und die gegenseitige Überlagerung und
Überschreibung der Zeichen in Sprache, Musik, Kunststil oder Konsumkultur.
Galizien ist, so gesehen, zweifellos eine besondere und faszinierende Region, und
seine Geschichte als Interferenzraum reicht viel weiter und viel näher an uns
selbst heran, als gemeinhin angenommen wird. Es ist aber kein historisches
Unikat. Wenn wir von Galizien sprechen, sollten wir immer wieder das
komparatistische Interesse mit Blick auf das – oben angesprochene – restliche
(und westliche) Europa herausfordern. Aus geschichtswissenschaftlicher Sicht
wird dies aufschlussreicher sein, als eine einzelne osteuropäische
Geschichtsregion als das Land der verwischten Grenzen diskursiv zu verewigen.
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92
Lenka Řezníková
Suche nach Differenzen als Interferenzprozess. Praktiken der
nationalen Abgrenzung in Prag um 1900
Sehr geringe Unterschiede begründen manchmal
sehr große Verschiedenheiten.1
(Marie von Ebner-Eschenbach)
1. Multiethnisch oder multikulturell?
Eine der zentralen Konstituenten des heutigen kulturellen Gedächtnisses von Prag
ist der Topos seiner ethnischen und kulturellen Heterogenität. Der Gedanke, dass
die ökonomische, soziale und geistige Topographie der Stadt historisch von
verschiedenen Ethnien, Konfessionen und Kulturen gestaltet wurde, entfaltete sich
als prägender kulturstiftender Faktor besonders intensiv nach dem Umbruch von
1989. Die Vorstellung von Prag als einem Raum, der sich im Laufe von
Jahrhunderten durch eine hybride Verflechtung heterogener kultureller Elemente
konstituierte, wurde neuerdings in strategischer Opposition gegenüber den
homogenisierenden
diskursiven
Praktiken
des
vorausgegangenen
staatssozialistischen Regimes in Dienst genommen. Sie adaptierte die bekannte
Metapher des melting pot, die unter den veränderten Verhältnissen manchmal
auch auf die weitere, je nach Bedarf mal als habsburgischer Staatenverband, mal
als Mittel- oder Ostmitteleuropa definierte Region angewandt werden konnte. Die
Rekonstruktion des Gedächtnisses, die von der Betonung des Nationalen zur
Rhetorik des Pluralismus überging, spielte sich nach 1989/90 in ganz
Zentraleuropa ab und begleitete eine tiefgreifende Transformation der kulturellen
Identität der Region.2
Im Prager Fall stellte man sich Multiethnizität und Multikulturalität ganz
überwiegend in Form einer Triade vor: Das multiethnische Prag wurde als eine
heterogene Tripolis dreier Völker, der Tschechen, der Deutschen und der Juden,
wahrgenommen und inszeniert: „Hunderte von Jahren hindurch war Prag […]
eine Stadt, in welcher drei Völker, Tschechen, Deutsche und Juden, Seite an Seite
in kultureller Symbiose lebten,“3 hielt gleich zu Anfang der neunziger Jahre
Václav Havel fest, der in der Zeit nach dem November 1989 wahrscheinlich
einflussreichste tschechische Intellektuelle.4 Eine Abkehr von der mononationalen
Interpretation der böhmischen Geschichte, welche diese praktisch mit der
1
2
3
4
EBNER-ESCHENBACH, Aphorismen, 1893, 55.
Transnationale Gedächtnisorte, 2002.
HAVEL, Geleitwort, 1992, 12.
Ähnlich auch andere vormalige Dissidenten, z.B. GRUŠA/ KRISEOVÁ/ PITHART, Prag, 1993.
94
Geschichte des tschechischen Volkes gleichsetzte, formulierte appellativ zu
Anfang der neunziger Jahre auch der erste Vorsitzende der damals gegründeten
Deutsch-Tschechoslowakischen Historikerkommission Jan Křen mit der
programmatischen Äußerung, dass „ohne den deutschen und jüdischen Beitrag die
Geschichte dieses Landes schlicht nicht geschrieben werden“ könne.5 Diese
Vorstellung wurde rasch zu einem zentralen Prager Narrativ. Das historische
Miteinander von Tschechen, Deutschen und Juden wurde als emplotment und
Interpretativ der böhmischen Kulturgeschichte wiederentdeckt. Es stimmte mit
dem Diskurs der Pluralität überein und sollte die proklamierten demokratischen
Traditionen des Landes wie der gesamten Region belegen.
Dieser Aufgabe stellte sich seit Anfang der neunziger Jahre auch eine Reihe
von Institutionen, die sich zu dem multikulturellen Vermächtnis der Region
bekannten. Zu den Ersten zählte bezeichnenderweise die Franz-KafkaGesellschaft (Společnost Franze Kafky, Prag), die gleich 1990 entstand und sich
zum Ziel setzte, „[...] das Bewusstsein für die Bedeutung der kulturellen Pluralität
der mitteleuropäischen Region wiederzubeleben, in der Jahrhunderte lang
Tschechen, Deutsche und Juden gemeinsam lebten.“6
Der Mythos der Prager Tripolis gewann an der Wende vom 19. zum 20.
Jahrhundert seine stärksten Bindungswirkungen. Gerade das Prag Rainer Maria
Rilkes (1875–1926) und Franz Kafkas (1883–1924) wurde überaus häufig als
Raum des multikulturellen Zusammenlebens und der interkulturellen Polemik der
drei Ethnien oder Nationen konnotiert. Der Topos vom trinationalen Prag erlangte
hohe gesellschaftliche Virulenz und wurde auch in der zeitgenössischen
tschechischen Belletristik in spezifischer Weise widergespiegelt.7 Dennoch ist
grundsätzlichen Fragen nicht auszuweichen, die sich umso stärker aufdrängen,
desto selbstverständlicher eine solche Interpretation scheinen will.
Es ist nicht zu bezweifeln, dass im soziokulturellen Raum Prags über
Jahrhunderte hinweg Angehörige verschiedener Völker lebten. Neben den
kleineren Gruppen, wie z.B. den Slowaken, von denen um 1900 in Prag und in
seinen Vororten etwa 1300 lebten, den Russen, Franzosen oder Italienern, deren
Anzahl sich allenfalls im zwei- oder dreistelligen Bereich bewegte,8 waren es
eben die Tschechen, Deutschen und Juden, aus denen das Gros der Prager
Bevölkerung bestand. Im Jahr 1900 bekannten sich annäherungsweise 30.000
Einwohner zur deutschen Umgangssprache und zum jüdischen Glauben etwa
20.000 Personen, bei einer Gesamteinwohnerzahl von ca. 400.000.9 Es handelte
sich also um nicht zu vernachlässigende Bevölkerungsanteile. Doch reicht allein
diese Tatsache zur Stützung der These, Prag habe einen plurikulturellen Charakter
gehabt?
5
HOJDA/ PEŠEK , Česko-Německá mezivládní komise, 1993.
Die offizielle Homepage der Franz-Kafka-Gesellschaft unter URL: www.franzkafka-soc.cz
(5.1.2010).
7
URBAN, Lord Mord, 2008; KOHOUT, Hvězdná hodina,1995.
8
KOŘALKA, Národnostní poměry v Praze, 2002, 49.
9
Tabellen zur demographischen Statistik bei COHEN, Politics of Ethnic Survival, 1981,
Kapitel: The Demographic Realities, 86–139.
6
95
Die Termini Multiethnizität und Multikulturalität gehen häufig Hand in Hand,
sie bilden gewissermaßen ein automatisiertes Begriffspaar. Lässt sich jedoch so
selbstverständlich ethnische oder nationale Heterogenität mit kultureller
Heterogenität identifizieren und voraussetzen, dass dort, wo verschiedene Ethnien
zusammenkommen,
ganz
automatisch
auch
verschiedene
Kulturen
aufeinandertreffen? Wenn wir einmal die weiteren Minderheiten außen vor lassen,
die in wesentlich geringeren Anteilen vertreten waren, – bestanden denn zwischen
Tschechen, Deutschen und Juden derart prinzipielle Unterschiede, dass wir vom
Zusammentreffen, vom Dialog oder von der Konkurrenz ihrer Kulturen sprechen
können?
Gewiss wäre die Vorstellung einer monolithischen Prager Kultur ganz falsch
und irreführend. Die Struktur der modernen urbanen Gesellschaft war höchst
differenziert, und ebenso differenziert war die urbane Kultur.10 Handelte es sich
dabei aber wirklich um interethnische Unterschiede, welche die kulturelle Vielfalt
der urbanen Agglomeration auf dem Weg in die Moderne begründeten? Die so
lauthals verkündete Multikulturalität Prags, die sich auf das Zusammenleben von
Tschechen, Deutschen und Juden beruft, wird – bezeichnenderweise – oft
lediglich behauptet, aber keineswegs gezeigt oder nachgewiesen. Sie fungiert
gewissermaßen als Axiom, nach dessen Relevanz nicht mehr gefragt wird. Was
für Unterschiede sind es aber, deren Persistenz affirmativ bestätigt wird? „In der
Presse, in offiziellen Akten und Statistiken wurden die deutsch-tschechischen
Differenzen sorgfältig dokumentiert,“11 schreibt z.B. Vera Schneider. Bestimmt
zeigen die Belege ein Bewusstsein der deutsch-tschechischen Alterität. War
jedoch jene Alterität, welche Tschechen und Deutsche als verschiedene
Ganzheiten identifizierte, auf den konkreten Unterschieden gegründet, oder war
vielmehr die verzweifelte Suche und Konstruktion von Unterschiedlichkeiten eine
sekundäre Erscheinung des Bewusstseins dieser Alterität?
Wenn wir nach den konkreten Unterschieden fragen, finden wir in den Texten
der Jahrhundertwende überraschend wenig. So als ob die Argumentation sich
stellenweise im Zirkelschluss bewegte: Tschechen und Deutsche unterscheiden
sich voneinander dadurch, dass die einen Tschechen und die anderen Deutsche
sind. Diese eigentümliche Unausgewogenheit zwischen der Betonung von
Alterität und dem Fehlen konkreter Unterschiede führt selbstverständlich zur
Frage nach Wesen und Inhalt des Begriffs des (kulturellen) Unterschiedes als
solchem. Zumal es gerade das Konzept des Unterschieds ist, das Anstoß und
Schema dafür liefert, wie wir über den Charakter von Konflikten einerseits und
denjenigen kulturellen Wandels oder kulturellen Transfers andererseits
nachdenken, und das auch dem Verständnis eines bestimmten Raums als
multikulturell zugrundeliegt.
Gewiss ist der Begriff des Unterschieds allein bereits deshalb problematisch,
weil er keinen rein ontologischen, sondern einen erkenntnistheoretischen Status
besitzt. Die Wahrnehmung von Unterschieden ist eine Funktion des Bewusstseins,
10
11
CSÁKY, Ethnisch-Kulturelle Heterogentät, 2001.
SCHNEIDER, Wachposten und Grenzgänger, 2009, 198.
96
und wird also von Charakter und Struktur des Bewusstseins bedingt. Wenn wir
Kultur im semiotischen Sinne als Zeichensystem begreifen, hat die Identifizierung
des Unterschieds dabei auch semiotische Geltung: Das Erkennen von Differenzen
ist ein semiotischer Akt, bei dem Entitäten unterschiedliche Zeichen zugewiesen
werden, die dann im jeweiligen Kontext und im Lichte dieser Zeichen als
unterschiedlich erscheinen. Diese Zeichen werden zwar von dem Beobachter
wiederum als authentische Eigenschaften dieser Objekte wahrgenommen, ihrem
Wesen nach sind sie jedoch vor allem kognitive Schemata, die zur Organisation
von Erfahrung, Wissen und Gedächtnis in der Gesellschaft beitragen und die
soziales Handeln motivieren oder legitimieren. Was als Unterschied identifiziert
und arbiträr anerkannt wird, und welche Entitäten (d.h. welche Art von Entitäten)
überhaupt Gegenstand eines in eine Differenzierung einmündenden Vergleichs
sind, das wird also durch die diskursive Formation bestimmt, in der sich diese
Identifizierung vollzieht.12
Dennoch oder vielmehr gerade deshalb kann der Diskurs der Unterschiede
hohe Aussagekraft besitzen. Freilich trifft er nicht primär eine Aussage über
Charakter und Umfang der thematisierten Unterschiedlichkeiten, sondern vor
allem über den Charakter der Gesellschaft, welche die Unterschiede artikuliert.
Von einer solchen epistemologischen Position aus kann der Unterschied
natürlich kaum ein präzises Instrument der historischen Analyse sein. Er kann
dagegen sehr wohl zu ihrem Gegenstand werden. Genau das ist die Absicht dieser
Untersuchung. Im Hinblick darauf, was über den diskursiven und
konstruktivistischen Charakter von Unterschieden und Unterschiedlichkeiten
gesagt wurde, wird in diesem Beitrag nicht gefragt, was ein (kultureller)
Unterschied sei und welche Unterschiede im Prag der Jahrhundertwende zwischen
Tschechen, Deutschen, Juden (und gegebenenfalls weiteren Nationalitäten)
bestanden, sondern wie das Konzept des kulturellen Unterschieds in der
Gesellschaft funktionierte und auf welche sozialen und diskursiven Mechanismen
es sich stützte, welche Arten von Unterschieden thematisiert wurden und welche
Funktion es hatte, Unterschiede zu identifizieren. In Bezug auf das Prag der
Jahrhundertwende wird es also besonders darum gehen, welchen Anteil der
Diskurs der Unterschiede an der Wahrnehmung und mentalen Organisation dieses
physischen und sozialen urbanen Raums hatte.
2. Aspekte der Imaginierung Prags um 1900
Die Stadt als Raum und als spezifische soziokulturelle Institution ist und war auch
um die vorletzte Jahrhundertwende keine bloße neutrale Kulisse, nicht nur ein
Schauplatz verschiedener sozialer Handlungen. Sie war mit kulturellen
12
Zur Problematik des diskursiven Charakters des Unterschieds siehe z.B. BUTLER, Gender
Trouble, 1990; BUTLER, Bodies That Matter, 1993. – Judith Butler betrachtet die Problematik zwar
anhand von genderbezogenen Unterschieden, das Konzept als solches lässt sich jedoch
allgemeiner anwenden.
97
Bedeutungen aufgeladen, welche dieses Handeln vielfach im vorhinein festlegten.
Die Stadt war Bestandteil einer Reihe von kohärenten Zeichensystemen, somit
hing ihre Entzifferung davon ab, über welche Zugangscodes die jeweiligen
Akteure verfügten und welcher Code in welcher Situation angewandt wurde. Die
Art und Weise, in der Prag in verschiedenen Kontexten imaginiert wurde, war von
einer Anzahl von Aspekten abhängig, die sich wechselseitig durchdrangen und
vielschichtige Bedeutungsmatrizen schufen. In diesem Sinne waren im Kontext
des Prag der Jahrhundertwende wohl die folgenden drei Aspekte die wichtigsten:
Erstens war die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert deutlich von der
politischen Differenzierung innerhalb der nationalen Gemeinschaften
gekennzeichnet. Auf der einen Seite gewann der nationalistische Diskurs an
Radikalität und Stärke. Die Spannungen zwischen den tschechischen und
deutschen Bewohnern Prags eskalierten seit den 1880er Jahren von verbalen
Invektiven und Beleidigungen hin zu gewaltsamen Zwischenfällen, wie z.B. der
bekannten „Kuchelbader Schlacht“, bei der im Sommer 1883 in der
Sommerfrische Chuchle/ Kuchelbad unweit Prag deutsche Studenten und
Tschechen aneinandergerieten. Die „Straßenkrawalle“, die in den neunziger
Jahren und nach 1900 folgten (besonders der sog. „Dezembersturm“ während der
Badeni-Krise von 1897 und die Straßenunruhen der Jahre 1905 und 1908) waren
auch von gewaltsamen Ausschreitungen gegen die jüdische Bevölkerung
begleitet. Auf der anderen Seite wurde allerdings auch die nationale Idee,
komplementär zum Prozess der Nationalisierung, problematisiert, marginalisiert
und deaktualisiert, und es trat zutage, dass die Idee einer einheitlichen politischen
Nation Rost ansetzte und bereits kein selbstverständlicher Wert der politischen
Mobilisierung mehr war. Damit korrespondierte auch eine Differenzierung der
politischen Szene. Während sich damals auf der einen Seite die nationalen
Parteien radikalisierten, bildeten sich auf der anderen neue Parteien (agrarische,
sozialistische, bäuerliche etc.), die ihre Programme auf der Grundlage
sozioökonomischer und nicht nationaler Kategorien formulierten. Ein Teil der
Gesellschaft distanzierte sich vom Pathos der nationalen Propaganda und wandte
sich anderen gesellschaftlichen Themen zu, die auch andere Identitätstypen zum
Gegenstand machten. Hinweise auf die Problematik des deutsch-tschechischen
Zusammenlebens wurden so automatisch zu einem besonderen Instrument im
Machtkampf zwischen den politischen Gruppierungen innerhalb der jeweiligen
nationalen Gesellschaften, und die Thematisierung der deutsch-tschechischen
Beziehungen war nicht zwangsläufig eine Kommunikation mit der anderen
nationalen Gesellschaft, sondern eine Polemik mit anderen Richtungen innerhalb
der eigenen nationalen Repräsentanz.
Zweitens sah die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert die große urbanistische
Metamorphose Prags zu einer modernen Metropole. Diesen Prozess begleiteten
Maßnahmen und Veränderungen wie die Industrialisierung der Vorstädte und die
Zerstörung der traditionellen ländlichen Umgebung, die Assanierung der
jüdischen Stadt, die Regulierung der Moldau und anderes mehr, die wiederum
eine starke Begeisterung für das alte, „malerische“ Prag auslösten und Traditionen
und Symbole der lokalen, nationalen und transnationalen Kultur zum Thema
98
werden ließen. Die mit der Modernisierung der Stadt einhergehende
Massenzuwanderung veränderte die nationale/ ethnische Zusammensetzung Prags
sehr deutlich, denn die Migranten aus dem böhmischen Binnenland stellten die
überwältigende Mehrheit der Zuzügler und verstärkten merklich das tschechische
Gepräge der Stadt.
Drittens waren die Jahrzehnte um 1900 eine Zeit der allgemeinen
Modernisierung der Medien, die Bilder und Imaginationen von Prag vermittelten.
Die Fotografie erlebte ihre erste große Konjunktur und die Kinematographie ihre
Anfänge; beide hatten große Anteile an der Codierung Prags. Zugleich machte die
Literatur eine tiefgreifende Metamorphose durch; mit dem Aufkommen der
literarischen Moderne um 1900 veränderte sie merklich ihre Gestalt und zeichnete
so auch ein neues Bild von Prag. Nicht zuletzt verweist auch der Mythos der
Dreivölkerstadt auf das Feld der Literatur, denn er bildete sich vor allem im
Kontakt mit der Literaturgeschichte des Prags der Jahrhundertwende und der
Ersten Tschechoslowakischen Republik aus.13 Auch deshalb konzentriert sich
diese Studie vor allem auf den damaligen literarischen Diskurs, und sie wird die
Artikulationsformen der kulturellen Unterschiede besonders anhand
zeitgenössischer Texte der tschechischen und deutschen Belletristik untersuchen.
Die drei Veränderungsprozesse der Nationalisierung und Pluralisierung der
nationalen Gesellschaften, der Metamorphose Prags zur Großstadt und der
Modernisierung der Medien überschneiden sich in den Modellen der
Repräsentation Prags. In bestimmter Hinsicht war die Großstadt sicher ein für die
Thematisierung interethnischer Differenzen besonders geeignetes Terrain, jedoch
überlappten sich ethnische Kategorien zugleich mit weiteren Schichten der
Urbanität. Das Bild Prags und die Relevanz der interethnischen Differenzen
änderten sich so in Abhängigkeit von situativ wandelbaren Parametern der
Interpretationen des Stadtraums.
3. Lust auf Unterschiede?
Nicht zufällig wird das 19. Jahrhundert manchmal als „Jahrhundert der
Differenzen“ oder „Jahrhundert der Alteritäten“ etikettiert. Eine charakteristische,
zuvor unbekannte Vorliebe für das Auffinden von Unterschieden, eine geradezu
obsessive Sensibilität für Alteritäten aller Art ging einher mit einer Reihe
zeitgleicher Prozesse, die gewöhnlich mit den Begriffen Modernität oder
Modernisierung assoziiert werden und die ebenso wenig aus dem 19. Jahrhundert
wegzudenken sind: Zum einen wurde das Konzept der modernen Nation und die
damit verbundene weitreichende Transformation kollektiver Identitäten
durchgesetzt, die in einem neuartigen Ausmaß und in veränderten
Zusammenhängen die Technik des Othering aktivierten. Zum andern erlebten
Geographie, Naturkunde, Ethnographie und das Reisen einen exponentiellen
13
TRAMER, Dreivölkerstadt Prag, 1961; BROD, Streitbares Leben,1960.
99
Zuwachs, die Mobilität weiterer Bevölkerungsschichten wuchs infolge der
steigenden Arbeitsmigration, nicht zuletzt kam der Tourismus auf. Alle das bot
immer mehr Gelegenheiten, bei denen es zur Begegnung und Konfrontation mit
dem Neuen und Fremden kam. Es stimulierte und vertiefte das Nachdenken über
kulturelle Vielfalt und machte empfänglich für die Wahrnehmung von
(kulturellen) Unterschieden.14
Alle diese Trends offenbarten sich zuvörderst in der Stadt, dem mythischen
Ort der Moderne.15 Die Stadt bot auf der einen Seite Nivellierungs- und
Assimilationsprozessen Raum, auf der anderen Seite aber auch der
Schichtenbildung und der Produktion von Differenzen.16 Bezeichnenderweise
wurde nicht zuletzt das Problem der Differenz und der Differenzierung als
eigenständiges Konzept der Sozialforschung gerade von dem Stadtsoziologen
Georg
Simmel
(1858–1918)
formuliert.17
Seine
soziologische
Entwicklungstheorie fußte genau auf dem Konzept der Differenzierung, und der
Unterschied als Strukturmerkmal und Resultat sozialer Entwicklung wurde für ihn
zum Schlüssel für die Deutung der modernen Gesellschaft überhaupt.18 Simmels
gnomische Sentenz „der Mensch ist ein Unterschiedswesen“19 bedeutete freilich
nicht nur, dass Menschen unterschiedlich sind, sondern auch, dass Menschen
unterscheiden. Im Unterscheiden erkannte Simmel die mentale Operation, mittels
derer Unterschiede identifiziert werden.
Einerseits kamen im Verlauf der Modernisierung gewisse Unterschiede zum
Verschwinden, andererseits jedoch wuchs das Bedürfnis, Unterschiede
aufzuspüren. Den Umstand, dass diese besondere Vorliebe für Alteritäten
grundsätzliche Bedeutung auch solchen Unterschieden zuschrieb, die unter
anderen sozialen und historischen Verhältnissen kaum wahrnehmbar oder
praktisch bedeutungslos gewesen wären, belegte auch Simmels Zeitgenosse
Sigmund Freud (1856–1939) als er den „Narzissmus der kleinen Unterschiede“
als eines der pathogenen Elemente der menschlichen Mentalität identifizierte:
[...] dass gerade die kleinen Unterschiede bei sonstiger Ähnlichkeit die
Gefühle von Fremdheit und Feindseligkeit [...] bergründen. Es wäre
14
BARTH, Fremdheit und Alterität, 2008.
MÜLLER, Die Großstadt, 1988.
16
CSÁKY, Die Stadt in der Moderne, 2008, 103.
17
In seiner frühen Untersuchung „Über sociale Differenzierung“ (1890) betrachtet Georg
Simmel Differenzierung und Modernisierung als wechselseitig abhängige Prozesse. Er sieht die
sog. primitiven Gesellschaften als wenig differenziert an, dagegen die modernen Gesellschaften als
solche mit einem hohen Grad der Differenzierung; SIMMEL, Gesamtausgabe, 1989.
18
Auch bei zwei weiteren Klassikern der Soziologie der Jahrhundertwende figuriert das
Konzept der Differenzierung, allerdings mit unterschiedlicher Akzentsetzung – der Arbeitsteilung
bei Émile Durkheim und Wertdifferenzierung bei Max Weber. Von diesen Ansätzen aus wurde
das Konzept zu einem konstitutiven Element weiterer Disziplinen, z.B. in der Linguistik Ferdinand
de Saussures.
19
SIMMEL, Gesamtausgabe, 1989, 137.
15
100
verlockend, dieser Idee nachzugehen und aus diesem ‚Narzissmus der kleinen
Unterschiede‘ die Feindseligkeit abzuleiten [...].20
In den Intentionen des „Zeitalters der Unterschiede“ wurde also ein
offensichtlicher Unterschied zwischen der Differenz als soziale Tatsache und als
sozialer Akt erkannt, und gewissermaßen ein konstruktivistisches Moment in der
Erkennung und Operationalisierung von Unterschieden identifiziert. Auf diese
beiden Phänomene, auf das Konfliktpotential der kleinen Unterschiede und die
diskursive Sinnbildung von Unterschieden im Allgemeinen, verweist auch der
Prager Diskurs der Jahrhundertwende.
Der gesamte Diskurs über die ethnische Heterogenität Prags war von dem
politischen Axiom der ethnischen Binarität geprägt und dadurch in seiner
potentiellen Vielfalt reduziert. Binäre Oppositionen, d.h. semantisch zugespitzte
Paare vom Typus Metropole/ Kolonie, Zentrum/ Peripherie, Mann/ Frau, ich/ der
andere usw., waren (und sind allgemein) ein produktives Denkschema für die
Thematisierung von Unterschieden und Unterschiedlichkeiten. Eine Folge der
binären Denkökonomie, die in gewissem Sinne eine anthropologische Konstante
ist, die sich aber nach Auffassung Heinz Gorrs im 19. Jahrhundert unter dem
Einfluss der Denkschemata des Historismus merklich stabilisierte,21 war die
deutliche Neigung, Andersartigkeit auf Alterität zu reduzieren. Zugleich mit
dieser Reduktion trat eine bedeutsame semantische Verschiebung auf:
Mannigfaltigkeit, die in ihrem Wesen als etwas Positives konnotiert war („der
allwissende Gott schuf auch nicht zwei einander völlig gleiche Sandkörner“),22
verwandelte sich in einen Gegensatz. In dieser Weise wurde auch die nationale
Polarität Tschechen versus Deutsche diskursiv zugespitzt. Der Deutsche bzw.
Tscheche war in dieser Logik nicht nur jemand anderer, sondern der Andere
(alter). Die Andersartigkeit, die auch für andere in Prag vertretene Nationalitäten
noch Raum in dem binär errichteten Nationalitätsdiskurs gelassen hätte, wurde
hier reduziert. Während Tschechen und Deutsche ihre Identität unter den
Bedingungen Böhmens im Kern gerade in wechselseitiger Opposition
herausbildeten, war die Beziehung zu den übrigen Nationalitäten ihrem Wesen
nach in diesem Sinne nicht identitätsbildend. Die deutsch-tschechische Alterität
war also eine besondere Beziehung zwischen zwei Subjekten, auf deren
Grundlage diese Subjekte komplementäre Zeichen und Bestandteile ihrer Identität
konstituierten. Und innerhalb dieses Prozesses hatten auch die Mechanismen und
Prozesse des inventing of differences ihren Stellenwert.
Wenn wir beispielsweise die Situation der eventuellen kulturellen Differenz
zwischen Tschechen, Deutschen (und Juden) mit derjenigen der Migranten vom
Land vergleichen, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts nach Prag kamen, wird
20
FREUD, Das Tabu der Virginität, 1988, 540. – Siehe auch FREUD, Eine Kindheitserinnerung
des Leonardo da Vinci, 1999 [1910], 197: „Die Intoleranz der Massen äußert sich
merkwürdigerweise gegen kleine Unterschiede stärker als gegen fundamentale Differenzen.“
21
GORR, Paris als interkultureller Raum, 2000, 22.
22
PALACKÝ, Dějiny národu českého, 1848, 10. – In Palackýs deutschsprachiger Ausgabe
desselben Buches „Geschichte Böhmens“ (1836) sind die zitierten Passagen nicht enthalten.
101
offenbar, dass das Potential für reale kulturelle Interferenzen, wie sie auf der
Ebene von Ethnizität bzw. Nationalität definierbar gewesen wären, entschieden
geringer oder genauer gesagt anderer Art war. Insofern die Neuzuwanderer ein
völlig anderes soziokulturelles Milieu repräsentierten, brachten sie andere
Gewohnheiten und Vorstellungen mit und wurden in Prag mit einem völlig neuen
Lebensstil, Arbeitsrhythmus, anderen Wohnformen usw. konfrontiert. Dagegen
lebten Tschechen und Deutsche in der Stadt schon Jahrhunderte lang als
Nachbarn, und dieser lange Zeitraum hatte eventuelle kulturelle Unterschiede
nivelliert. Ethnizität war kein Kriterium, an dem sich die Struktur der Stadt
historisch ausgerichtet hätte. In ethnischer, nationaler, konfessioneller und anderer
Hinsicht durchdrangen sich die verschiedenen Bevölkerungsgruppen gegenseitig.
Die Lebensweise, Ernährungs- und Kleidungsgewohnheiten, die Werteskala – all
das war Tschechen, Deutschen (und Juden) im Prag der Jahrhundertwende
gemeinsam.
4. Das Wesen interethnischer Differenzen: Konstruktionscharakter,
Relativität, Nichtrepräsentativität
Es sei eine bekannte und häufig zitierte Passage aus der Prag-Retrospektive Egon
Erwin Kischs (1885–1948) angeführt:
Mit der halben Million Tschechen der Stadt pflog der Deutsche keinen
außergeschäftlichen Verkehr. Niemals zündete er sich mit einem Streichholz
des Tschechischen Schulengründungs-Vereins seine Zigarre an, ebenso wenig
ein Tscheche die seinige mit einem Streichholz aus einem Schächtelchen des
Deutschen Schulvereins. Kein Deutscher erschien jemals im tschechischen
Bürgerklub, kein Tscheche im Deutschen Casino. Selbst die
Instrumentalkonzerte waren einsprachig, einsprachig die Schwimmanstalten,
die Parks, die Spielplätze, die meisten Restaurants, Kaffehäuser und
Geschäfte. Korso der Tschechen war die Ferdinandstraße, Korso der
Deutschen „der Graben“.23
Modellhaft arbeitet der Text mit der Vorstellung einer tiefen nationalen Alterität,
und die ganze Textpassage wirkt wie ein Katalog der Unterschiede. Es ist aber
mindestens fraglich, inwieweit das artikulierte Alteritätsbewusstsein direkt auf
Unterschieden fußt. Vielmehr bringt der Text den Umstand zur Sprache, dass die
Prager Deutschen rauchten, ihre Zigaretten mit Zündhölzern anmachten,
Vereinshäuser und Cafés aufsuchten und schwimmen gingen, während die
Tschechen – genau dasselbe taten. Somit werden hier nicht kulturelle
Unterschiede verbalisiert, sondern umgekehrt kulturelle Parallelen und Analogien.
Diese Analogien werden allerdings so inszeniert, dass sie den Eindruck von
Differenzen hervorrufen.
23
KISCH, Marktplatz der Sensationen, 1962 [1942], 76.
102
Aufgrund ihrer fortgeschrittenen Assimilation unterschied sich auch die
Bevölkerung jüdischer Herkunft nur durch eine sehr geringe Anzahl von
Kennzeichen, die diskursiv operationalisierbar wurden. Manche wohlhabenden
jüdischen Familien hatten das Ghetto verlassen, lange bevor die restriktiven
Niederlassungsbestimmungen aufgehoben wurden, und allmählich lockerte sich
auch die traditionelle konfessionelle Identität. Um die Jahrhundertwende hatten
davon in vielen Familien nur ein Teil der religiösen Rituale und die wichtigsten
Feiern überlebt. Dennoch oder vielleicht gerade deshalb wurde eine Vorstellung
der jüdischen Andersartigkeit mittels anderer Konstrukte suggeriert und von der
konfessionellen auf die formbare und imaginäre Eben der Rasse verlagert.
Der Mangel an Unterschiedlichkeiten zwischen Tschechen, Deutschen und
Juden im Prag der Jahrhundertwende fiel bereits Gary B. Cohen auf, der zu dem
Schluss kam, dass für das damalige kommunale und soziale Gemeinwesen soziale
und möglicherweise konfessionelle Unterschiede größere Bedeutung besaßen als
ethnische.24 Dieser These pflichteten auch Pieter Judson und Jeremy King bei,25
deren großzügige Anschauung offenbar auch von ihrer amerikanischen
Perspektive beeinflusst ist.
Wie Sander Gilman in seiner Studie über die Größe der „großen“ jüdischen
Nase gezeigt hat, ist es in der Tat methodisch sehr umstritten, wie die absolute
Größe von Unterschieden zu messen sei, also etwas, was von der Perspektive und
der Wahl des Maßstabs abhängt.26 Der Prager Diskurs der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts scheint dennoch René Girards mimetische Konflikttheorie zu
bestätigen, der zufolge keineswegs kulturelle Unterschiede, sondern im Gegenteil
gemeinsame Schnittmengen, soziale Anknüpfungspunkte und parallele Interessen
Probleme provozieren. Dieser spezifische „Zusammenhang von Konflikt und
fehlender Differenz“27 kam in den Repräsentationen des Prag der
Jahrhundertwende sehr deutlich zum Ausdruck. Beispielsweise bemerkte Viktor
Dyk (1877–1931) in seinem Roman „Prosinec“ (Dezember, 1906) ironisch, dass
noch 1897, nur wenige Monate bevor die tschechisch-deutschen Unruhen
ausbrachen, zwischen den Tschechen und Deutschen in Prag ein einziger,
winziger Unterschied bestand, und zwar, dass die Tschechen riefen „ať žije
dědic!“ („es lebe der Kronprinz!“), während die Deutschen die genaue
Aussprache nicht trafen und riefen „ať šije dědic!“ (etwa: „es nähe der
Kronprinz!“). „Eine kleine Differenz“, schrieb Dyk, „ein strittiger Buchstabe!“28
Auch der vorzeitig verstorbene, aber sehr bedeutende Publizist Hubert
Gordon Schauer (1862–1892) dachte Mitte der achtziger Jahre des 19.
Jahrhunderts über das Problem in seinen allgemeinen Zusammenhängen nach. In
24
COHEN, Politics of Ethnic Survival, 1981, 136.
JUDSON, Inventing Germans, 1993; KING, Budweisers, 2003. – Dazu ebenfalls ČAPKOVÁ,
Tschechisch, Deutsch, Jüdisch, 2006, 73.
26
GILMAN, Die jüdische Nase, 2005.
27
PALAVER , Girards mimetische Theorie, 22004, 96. – Palaver setzt sich hier kritisch (S. 94)
mit Samuel Huntingtons These über den „Kampf der Kulturen“ (HUNTINGTON, Der Kampf der
Kulturen, 1996) auseinander.
28
DYK, Prosinec, 1906, 42.
25
103
einem seiner paradigmatischen Artikel über das Wesen des deutsch-tschechischen
Zusammenlebens stellte er sich genau die Frage, wie es denn möglich sei, dass in
einer Zeit, da die moderne Entwicklung die Unterschiede zwischen den Völkern
verwische, sich zugleich die Nationalisierung des Denkens vertiefe. Eine Antwort
auf dieses „Paradoxon“ fand er in der universellen biologischen These Charles
Darwins, dass nämlich der unbarmherzigste Kampf ums Überleben in der Regel
zwischen den sich am nächsten stehenden Tierarten ausbreche.29
Die diskursive Formierung des Prager soziokulturellen Raums zeigte sehr
deutliche Indizien jenes „faktischen“ Defizits, das es auf der einen Seite
unmöglich machte, das Tschechische, Deutsche (und Jüdische) in Prag klar zu
unterscheiden, zugleich aber diese Unterscheidung forderte und vorantrieb. Das
Fehlen greifbarer Differenzen aktivierte intuitive Praktiken der Konstruktion und
Suggestion von Unterschieden, die sich ungeachtet ihres problematischen
diskursiven Ursprungs und strittiger „Größe“ als gesellschaftlich höchst relevant
erweisen konnten.
Damit soll keineswegs gesagt sein, dass Kultur primär oder gar ausschließlich
auf der Ebene des Alltags, der materiellen Kultur oder des Lebensstils definiert
werde, und dass sich beim Fehlen von Unterschieden auf diesen Gebieten nicht
von verschiedenen Kulturen bzw. von der Verschiedenartigkeit der Kulturen
sprechen lasse. Kultur als System von Zeichen und symbolischen Beziehungen ist
eine wesentlich komplexere Kategorie. Die Differenz ist nämlich selbst ein
Zeichen und verweist auf ein bestimmtes semiotisches System, innerhalb dessen
sie relevant ist. Selbstverständlich verweist die Thematisierung interethnischer
Differenzen also auf einen ethnischen bzw. nationalen Diskurs. Allein dieser
ermöglicht (als ein sinnstiftender Bezugsrahmen) einem solchen Typus von
Differenz, sich zu konstituieren und in Erscheinung zu treten.
Der Zwang zum Denken in nationalen Kategorien, der mit sich brachte,
interethnische Differenzen zu thematisieren, wird auch in dem wenig konkreten
und in vielfacher Hinsicht nicht konkretisierbaren Charakter einiger der
angesprochenen deutsch-tschechischen Differenzen deutlich. Weder stand hinter
diesen Manifestationen eine „reale“ Verschiedenartigkeit, noch auch nur eine
annähernde Vorstellung davon, worin die angenommene oder vermeintliche
Verschiedenartigkeit denn nun bestehe. Wie mühsam es damals war, die
thematisierten Differenzen auch nur zu artikulieren, wie sehr sie von Intuition und
situativem Kontext abhingen, das lässt sich z.B. anhand eines der
meistdiskutierten tschechischen Romane des Jahrhundertwende illustrieren, des
bereits erwähnten „Studentenromans“ „Prosinec“ von Viktor Dyk. Sein Autor
arbeitet mit einem sehr begrenzten Repertoire an Differenzen, und zwar schon
deshalb, weil der deutsch-tschechische Konflikt für ihn nur eine Folie bildet, auf
der er innertschechische Themen ausbreitet. Selbstverständlich wird dabei auch
die Sprachdifferenz angesprochen, die wir bereits erwähnt haben und auf die wir
noch genauer zu sprechen kommen werden. Die sprachliche Verschiedenheit wird
hier jedoch mit der Vorstellung einer tiefergehenden Differenz verknüpft, durch
29
SCHAUER, O podmínkách české literatury, 1889/90, 170.
104
die ein in mehrfacher Hinsicht symptomatischer Bezugsrahmen des Romans
aufgebaut wird, in dem sich eine der Hauptfiguren, ein junger tschechischer
Intellektueller, die rhetorische Frage stellt, wer „sich heute dessen bewusst ist,
dass wir eigentlich alle deutsch denken.“30
Mit der Frage nach dem Einfluss der Germanisierungspraktiken auf die
tschechische Mentalität wird hier das Problem der sprachlichen Bedingtheit des
Denkens aufgeworfen. Dabei wird der Einfluss einer Kultur auf die andere
postuliert, der auf der Ebene des Denkens mit Hilfe der Sprache erfolgt. Die
Sprache figuriert als Medium des Denkens, und zwar eines national spezifischen
Denkens. So wird die Sprache implizit zum Instrument einer eventuellen
Veränderung des Denkens, vor allem im Sinne seiner „Entnationalisierung“.
Ähnlich wie bei Kisch geht es auch bei Dyk darum, eine Differenz zwischen
„uns“ und „ihnen“ zu suggerieren, die in diesem Fall durch die Opposition
zwischen einer tschechischen und einer deutschen Denkweise vertreten wird.
Allerdings wird diese Differenz zugleich postuliert und negiert. Zwar wird hier
implizit zwischen der tschechischen und der deutschen Denkweise unterschieden,
zugleich wird jedoch explizit festgestellt, dass es diese angenommene, erwartete,
gleichsam selbstverständliche Differenz gar nicht gibt: Tschechen und Deutsche
denken deutsch. Die Differenz manifestiert sich hier also eher als eine
verschwundene, bloß historische. Einstmals existierte sie, aber sie wurde durch
die Germanisierung verwischt.
Abgesehen davon, dass diese Differenz zwischen der deutschen und der
tschechischen Denkweise eigentlich nicht mehr aktuell war und deshalb im Prag
der Jahrhundertwende gar nicht mehr zwischen Tschechen und Deutschen stehen
und ihren Konflikt beleuchten konnte, handelt es sich gleichzeitig um eine
inhaltlich sehr vage formulierte Differenz. Nirgendwo ist definiert oder
ausdrücklich gesagt, was es eigentlich bedeutet, deutsch oder tschechisch zu
denken und worin sich die deutsche Denkweise von der tschechischen
unterscheidet. Auch hier wird symptomatischerweise die Differenz also nicht in
einem Bereich thematisiert, der sich konkretisieren, visualisieren oder definieren
ließe, sondern irgendwo in spekulativen, sich einer exakten Beschreibung
entziehenden Denkstrukturen. Offensichtlich wird hier intuitiv eine kulturelle
Opposition angenommen, es fehlt aber am analytischen Apparat für einen
exakteren begrifflichen Umgang damit. Die Existenz zweier unterschiedlicher
Denkkulturen wird einfach behauptet, aber nicht bewiesen. Die Wahrnehmung
oder zumindest Verbalisierung von Differenz, und fügen wir an dieser Stelle auch
noch die sich daraus ergebende Interferenz hinzu, wird also nur auf eine höchst
spekulative und unklare Weise realisiert.
Diese symptomatische Nichtfasslichkeit wird ebenso wie der weitgehend
intuitive Charakter der Differenzen in einer ganzen Anzahl von Texten der
Jahrhundertwende inszeniert. Beispielsweise zeichnet Rainer Maria Rilkes
Erzählung „Die Geschwister“ aus dem Dyptichon „Zwei Prager Geschichten“ von
1899 eine Szene, in der der junge, deutschsprachige Ernst Land bei der Suche
30
DYK, Konec Hackenschmidův, 1904, 51.
105
nach einer Mietwohnung in einer ruhigen Straße auf der Kleinseite am
Hauseingang vor der tschechischen Hauswirtin Rosálka steht:
Er gefiel ihr nicht, das wußte sie im Augenblick. Er war ihr »zu deutsch«. Das
empfand sie dann und wann einem Menschen gegenüber, obwohl sie nicht
wußte, was diesen Eindruck hervorrief, kaum, ob es ein Zuviel oder ein
Mangel war.31
Hier wird die deutsch-tschechische Alterität in den Vordergrund gerückt,
repräsentiert von zwei Akteuren, deren verschiedene nationale Zugehörigkeit
benannt wird. Die deutsch-tschechische Alterität ist markant und erheischt
Aufmerksamkeit: Land ist Deutscher, Rosálka ist Tschechin. Im Prinzip handelt
es sich jedoch um eine sekundäre Alterität. Die an dieser Stelle aufgebaute
zentrale semantische Differenz ist diejenige zwischen einer Figur, die deutsch
wirkt, und einer Figur, die „zu“ deutsch wirkt.
Rilke entwirft hier keine oberflächliche, strategische deutsch-tschechische
Alterität, sondern er siedelt den potenziellen Konflikt jenseits der Kategorie der
Ethnizität an. Den Konflikt definiert er nicht apodiktisch als unausweichliches
Risiko des Zusammenlebens, sondern er zeigt, dass er von dem individuellen Maß
interethnischer Toleranz abhängig war.
Ob der Unterschied zwischen dem Deutschen und dem „Allzu-Deutschen“
nun groß oder klein war und worin er eigentlich bestand, wird schlichtweg nicht
konkretisiert, und selbst die Protagonistin ist nicht in der Lage, ein Kriterium für
diese Unterscheidung zu benennen, denn sie weiß nicht, „was diesen Eindruck
hervorrief“. Der hier suggerierte Unterschied ist somit undefinierbar: Ein
Differenz wird impliziert, aber als etwas Nichtrepräsentierbares. Zugleich ist
jedoch dieses Nichtrepräsentierbare gesellschaftlich relevant, denn es bestimmt
das Maß von Sympathie und Antipathie, das wiederum das soziale Verhalten
lenkt. Trotz seiner Unbestimmtheit findet es also eine soziale Resonanz und ist
somit imstande, bestimmte gesellschaftliche Funktionen zu erfüllen. Die Logik
von Rilkes Referenz lässt ahnen, dass das, was den Eindruck der Verschiedenheit
hervorruft, nicht die Verschiedenheit selbst ist, sondern die diskursive Situation,
in der sich der Sprecher, der Beobachter oder einfach das Subjekt befindet und die
a priori eine Differenz voraussetzt.
Den situativen Charakter und die Pragmatik einer Anzahl von Alteritäten,
welche die Unterschiede zwischen den Bewohnern Prags keineswegs
reflektierten, sondern überhaupt erst schufen, zeigt im Prager Diskurs letztendlich
auch eine ganze Reihe weiterer Beispiele an, die nichts mit nationalen Kategorien
zu tun hatten. Für die kommunalen Verwaltungsorgane war z.B. von großer
Wichtigkeit, zwischen den ansässigen Bewohnern zu unterscheiden, d.h.
denjenigen, die in Prag das Heimatrecht besaßen, und den Immigranten, welche
dieses Recht in Prag eben nicht besaßen, denn das berührte die heikle Frage der
städtischen Finanzen. Wenn Prag jemandem den Status des Gemeindemitgliedes
31
RILKE , Geschwister, 1899/2005, 117.
106
erteilte, nahm die Stadt damit bedeutende Verpflichtungen auf sich, besonders im
Hinblick auf die Armenfürsorge. Nach dem Heimatgesetz von 1863, das bis 1901
gültig blieb, durfte jede Gemeinde entscheiden, ob und wen sie in ihren Verband
aufnahm, und von diesem Recht machte sie im wohlverstandenen Eigeninteresse
Gebrauch. So wurde im rechtlichen Status der Einwohner Prags künstlich ein
Unterschied definiert, der den ökonomischen Interessen der Stadtverwaltung
diente und der situationsabhängig auf die damaligen Migrationsprozesse reagierte.
Die Aufhebung dieser Bestimmung an der Schwelle zum 20. Jahrhundert zeigt
zugleich, dass sich die Maßnahme in Anbetracht der wachsenden Einwanderung
nicht durchhalten ließ und dass mit dem Verschwinden der Lage, die zu ihr Anlass
gegeben hatte, auch der Unterschied selbst verschwand.
5. Modellbildende Räume der Konstruktion von Unterschieden:
Historiographie und Ethik
Der Diskurs der deutsch-tschechischen Alterität bildete sich also in Prag um 1900
unter einer gewissen Absenz von konkreten Differenzen heraus. Der stark
nationalisierte Diskurs der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte aber
bestimmte Strategien, um solche Unterschiede zu suggerieren, zu generieren oder
sie durch andere Formen der Distanznahme zu ersetzen. Es war v.a. der Bereich
der Erinnerungskultur, der einen interpretativen Raum zur Konstruktion
kultureller Unterschiede bereitstellte, und darüber hinaus ein formbares und
spekulatives Feld der nationalen Charakteristik, das zum Teil ebenfalls in der
Vergangenheit angesiedelt war. Gerade in der Vergangenheit wurden die
wesentlichen deutsch-tschechischen Kulturdifferenzen gesucht und gefunden:
Wenn wir zunächst einmal die Sprache beiseitelassen, wurden an Unterschieden
zwischen Tschechen und Deutschen bereits für das frühe Mittelalter insbesondere
solche der Art, sich zu kleiden, sich bei Hofe zu benehmen und solche der
kollektiven ethischen Werte angesprochen. Das auseinanderdriftende historische
Gedächtnis Prags wurde zum einen zum Reservoir von Differenzen, zum anderen
zugleich ein Ort der Differenz.
Die Gegenwart zweier Ethnika, die jeweils für sich die Anerkennung ihrer
Autochthonie in Prag beanspruchten, war in der langen Geschichte ihres
Zusammenlebens eine stets latente Konfliktursache. Bereits eines der ältesten
tschechischen literarischen Textdenkmäler, die Reimchronik des sog. Dalimil vom
Anfang des 14. Jahrhunderts, ist bekannt für ihren antideutschen Zungenschlag
und den Versuch, systematisch zwischen einem einheimischen tschechischen und
einem fremden deutschen Bevölkerungsanteil im Lande zu unterscheiden.
Dennoch war die normative Aufteilung nach dem nationalen Kriterium, wie sie
sich schrittweise in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchsetzte, in Prag
nicht so selbstverständlich, und viele Einwohner Prags wussten nicht, ob sie sich
107
für Deutsche oder Tschechen halten sollten.32 Insoweit hier kulturelle
Unterschiede existierten, die auf der Ebene von Ethnizität bzw. Nationalität
definiert werden konnten, waren sie entweder irrelevant, d.h. es wurde ihnen
keine paradigmatische Bedeutung zugewiesen, oder sie wurden nicht als nationale
bzw. ethnische Unterschiede gesehen. Allerdings stärkte die fortschreitende
Nationalisierung das Postulat einer Nationalkultur. Und genau da traten die
Denkmechanismen der Unterscheidung und Abgrenzung in Aktion. Im Prager Fall
war dies jedoch keineswegs einfach.
Dem Spannungsverhältnis zwischen dem Zwang zur Unterscheidung
einerseits und dem Mangel an relevanten Unterscheidungskriterien und faktischen
Unterschieden andererseits verlieh bereits 1862 der Professor für österreichische
Geschichte an der Prager Universität Antonín Gindely (1829–1892) Worte:
„Schon bald kommt die Zeit, in der wir – wenn wir zu atmen wünschen – angeben
müssen, ob wir tschechische oder deutsche Luft haben wollen […].“33 Die
Unterscheidung in tschechisch und deutsch erschien ihm aus Prager Perspektive
absurd. Wie sollte denn Luft zu unterscheiden sein? Wie das Tschechische und
das Deutsche in Prag? Nach Gindelys Auffassung sollte das nationale Raster einer
Masse übergestülpt werden, die damit nichts gemein hatte und sich historisch
gemäß anderer Kategorien und Prinzipien gebildet hatte.
Die Vorstellung kultureller Alterität wurde also zum Bestandteil der
nationalen Mythologie paradoxerweise just in einer Zeit, in der sie sich in den
markantesten Feldern, d.h. in der ganz gewöhnlichen Praxis des Alltags,
eigentlich auf keinerlei wesentliche kulturelle Unterschiede stützen konnte, so
dass sie aus Sicht der überlebenden Traditionen von Land und Dynastie ein eng
verwachsenes Ganzes zu durchschneiden schien.
Der der Konstruktion von Unterschiedlichkeiten offenstehende Raum war
also vor allem die Vergangenheit. Bereits die fundierende Deutung der
böhmischen Geschichte, die romantische Interpretation František Palackýs (1798–
1876), beruhte auf der Vorstellung eines diametralen Gegensatzes, nämlich auf
dem Gegensatz der feudalen Ordnung der alten Germanen und der
demokratischen Ordnung der alten Slawen, was wesentliche Differenzen im
nationalen Wertesystem der beiden Ethnika implizierte. Während noch Palacký
diese beiden Prinzipien in einer dialektischen Beziehung sah, welche die
böhmische Geschichte in Bewegung versetzt und ihr zugleich Sinn verliehen
habe, verstärkte sich im nationalisierenden Diskurs der zweiten Jahrhunderthälfte
zusehends die Vorstellung, dass gesellschaftliche Stabilität normativ mit einer
mononationalen Gesellschaft gleichbedeutend und Multiethnizität als Ursprung
notwendiger und unausweichlicher Konflikte zu betrachten sei. Schon Palackýs
jüngerer Kollege Václav Vladivoj Tomek (1818–1905) kritisierte die
Stadtbaupolitik der Přemysliden, da sie in ihrem Bemühen um die
Stadtentwicklung neuen, besonders aus deutschen Gebieten stammenden Siedlern
Privilegien erteilten: „Niemals dachten diese Herrscher an das Unglück, das die
32
33
COHEN, Politics of Ethnic Survival, 1981, 45.
Dějiny Univerzity Karlovy, 1997, 306.
108
ungeordnete Vermischung der Bevölkerung im Laufe der Zeit mit sich bringen
musste [...].“34
So wie sich der deutsch-tschechische Antagonismus immer deutlicher
abzeichnete, so traten auch die ihn legitimierenden nationalen Stereotype klarer in
Erscheinung. Hier standen sich auf der einen Seite die Idee vom slawischen
Freisinn und Edelmut, die angeblich dem uralten demokratischen Geist des
slawischen Rechtes entsprachen, auf der anderen die Vorstellung von
germanischer Arroganz und Streben nach einer hierarchischen Organisation der
Gesellschaft gegenüber. Aus der umgekehrten nationalen Perspektive wurden die
disziplinierten und arbeitsamen Germanen den sentimentalen und ineffektiven
Slawen entgegengesetzt.35 Die moralisierende Konnotation dieser Differenzen
durch Wendungen wie: „Es ist nicht die deutsche Sitte […]“36 oder umgekehrt „du
kennst nicht den eigennützigen Charakter der Deutschen […]“37 gab diesem
Antagonismus das Dekorum eines Ringens um höhere Werte. Sie verlieh der
aktiven Auseinandersetzung die Weihen einer höheren moralischen
Verpflichtung, es ging dabei um nichts Geringeres als den Konflikt disparater
Moralsysteme. Was auch immer sich eigentlich hinter diesen sprachlichen
Wendungen verbarg, die diskursive Wirkung ihres Kontextes jedenfalls
verschleierte den problematischen Status der Differenz selbst. So folgte z.B. auf
das Zitat Karl Hans Strobls (1877–1946) „es ist nicht die deutsche Sitte“ als
Objekt der Ausschließung: „sich über seine Liebe zu unterhalten“. Er nimmt an
dieser Stelle Anstoß daran, dass die Tschechen sich in Liebesdingen mitteilen,
also offen über Angelegenheiten sprechen, die im intimen Kreise verbleiben
sollten. Mit der Wendung „es ist nicht die deutsche Sitte“ verallgemeinert er den
vermeintlichen kulturellen und sittlichen Gegensatz zwischen Deutschen und
Tschechen. Alois Jirásek (1851–1930), einer der kanonischen tschechischen
Autoren der Jahrhundertwende, sah dies freilich bezeichnenderweise gerade
umgekehrt. Er teilte mit Strobel die Auffassung, es sei nicht schicklich, über
Herzensangelegenheiten zu sprechen, dieses sittliche Manko jedoch schrieb er
vermittels einer seiner paradigmatischen Figuren den Deutschen zu. Es ist in
diesem Falle umgekehrt ein tschechisches Mädchen, das im Einklang mit dem
diesmal tschechischen Moralkodex tugendsam schweigt.38 Auch dieses
vielsagende
Beispiel
illustriert
den
ideologischen
Zuschnitt
und
Konstruktionscharakter der in der Literatur inszenierten Gegensätze. Mehr als
eine reale Differenz manifestiert es die parallele Entwicklung der beiden
nationalen Diskurse, und ähnlich wie die zitierte Passage aus Kisch’ „Marktplatz
der Sensationen“ bezeugt es, dass die beiden Gesellschaften realiter diejenigen
moralischen Werte teilten, die sie sich gegenseitig absprachen.
34
35
36
37
38
Ebd.
ROBERTSON, National Stereotypes, 1989, 117.
MAUTHNER, Der letzte Deutsche, 1919 [1887], 67.
CHOCHOLOUŠEK, Palceřík, 1900 [1847], 108.
JIRÁSEK, Do tři hlasů, 1951 [1890].
109
Solche normativen Stereotypen ethischer Differenz begegnen in der
tschechischen Literatur nicht zufällig besonders im Genre des historischen
Romans.39 Es ist offenkundig, dass die für jedwede Interpretation offene
Vergangenheit und die wenig konkrete, der Imagination freies Spiel lassende
Schilderung des Nationalcharakters ideale Felder waren, um Verschiedenheiten
entdecken zu können. Entschieden weniger Rückhalt fand der Diskurs der
deutsch-tschechischen Differenz in der Gegenwart und in der alltäglichen,
konkreten Realität des Zusammenlebens, wie sie alle vor Augen hatten und in der
die Unterschiede zwischen Prager Deutschen und Prager Tschechen recht
geringfügig ausfielen. Ein sehr überzeugendes Argument dafür ist der Befund,
dass in den zeitgenössischen Texten die Kategorie des kulturellen
Missverständnisses ganz und gar durch Abwesenheit glänzt: Tschechen und
Deutsche verstanden einander anscheinend auf kultureller Ebene uneingeschränkt
oder hatten zumindest nicht den gegenteiligen Eindruck. Kulturelle
Missverständnisse als Quelle des Komischen hätten dabei, wären sie denn
thematisiert worden, ein dankbares Objekt für zahlreiche Anekdoten abgegeben,
wie z.B. das bekannte Missverständnis aus der Revolution von 1848/49, als die
mährischen Weinbauern den Begriff der Pressefreiheit auf „Weinpresse“ bezogen
und meinten, es gehe um Steuererleichterungen für die Weinkelterei.
Selbstverständlich handelte es sich dabei nicht in erster Linie um ein sprachliches
Missverständnis, allein schon deshalb, weil es sich nach Feststellung Miroslav
Hrochs40 um deutschsprachige Weinbauern handelte, sondern um die
Unvereinbarkeit kultureller Codes und Denkhorizonte. Diese Art von
Missverständnissen, die eine relevante kulturelle Verschiedenartigkeit zwischen
dem tschechischen und dem deutschen Ethnikon implizierten, werden wir in den
Texten aus der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert vergeblich suchen.
Das Fehlen kultureller Missverständnisse könnte selbstverständlich als Beleg
dafür interpretiert werden, dass sich die beiden nationalen Gesellschaften
voneinander abgrenzten, da sie schlicht allein aus Mangel an Kontakten nicht die
kulturellen Unterschiede z.B. in der intimen Privatsphäre des Familienlebens der
anderen Nationalität erkennen konnten und nicht mit einer andersartigen
kulturellen Praxis konfrontiert wurden. Andererseits kann diese Fehlstelle aber auf
den Umstand deuten, dass Deutsche und Tschechen einfach keine klar
voneinander unterschiedenen kulturellen Systeme repräsentierten. Die Intentionen
einer Vielzahl von Texten der Jahrhundertwende, die über Kontakte zwischen den
beiden Nationalitäten, keineswegs aber über kulturelle Missverständnisse
reflektieren, sprechen eher für die zweite Auslegung. Auch die nationale
Propaganda war eher darum bemüht, den Eindruck zu wecken, man habe die
andere Nation bestens studiert, und man sei sich über ihre (meist negativ)
interpretierten Ziele, Absichten und Intentionen völlig im Klaren.
39
BOROVÁ, Obraz Němců, 1997; SCHAMSCHULA, Das Bild des Deutschen, 1980; MAIDL, Obraz
německy mluvících postav, 1998.
40
HROCH, Rozhovor, 2010 [2001].
110
Die erwähnten nationalen Stereotype, die wie gesagt besonders im
historischen Bereich operationalisiert und zu moralischen Aussagen erhöht
wurden, waren freilich in vielem älteren Datums und gingen bis auf die frühsten
Phasen des nationalen Diskurses zurück. Um die Jahrhundertwende wirkten sie
schon sehr differenziert und fanden nur in einem bestimmten nationalistischen
Kontext gesellschaftliche Resonanz. Ein Teil der Gesellschaft war sich ihrer
ideologischen Bedingtheit bewusst und grenzte sich dagegen ab, sie weiter zu
pflegen und zu hegen. Der Schriftsteller Vilém Mrštík (1863–1912) z.B.
polemisierte ausdrücklich gegen die stereotype deutsch-tschechische Alterität in
seinem bekannten Pamphlet gegen die Assanierung und radikale urbanistische
Modernisierung Prags, das 1897 unter dem Titel „Bestia triumphans“ erschien:
„[C]o se to u vás děje? Kdo to vše způsobil? - To jistě zase ti vaši Němci!“
Studem a v křečích kroutí se péro, když přes hranice vysvětlovati má: ne
Němci, že to jsou, ale naši vlastní lidé, nepřítel všech nepřátel nejhorší,
poněvadž – a to vysvědčení Němcům není možno upřít – dokud Němci byli v
čele naší obce, takové surovosti páchány nebyly!
„[W]as passiert hier bei euch? Wer hat das alles veranlasst? – Doch wohl
wieder eure Deutschen!“ Vor Scham sträubt sich die Feder, wenn sie über die
Grenzen hinweg bekennen soll: nicht die Deutschen, sondern unsere eigenen
Leute, der von allen Feinden schlimmste Feind, denn – und dieses Bekenntnis
zugunsten der Deutschen lässt sich nicht verweigern – solange die Deutschen
die Führung unserer Gemeinde innehatten, wurden solche Barbareien nicht
begangen!41
Die Tatsache, dass die Mobilisierungsfunktion der Stereotypen, die gerade auf der
Konstruktion national-ethischer Differenzen beruhte, zur Jahrhundertwende bei
einem Teil der Gesellschaft an Wirksamkeit verlor, wird auch von dem großen
Diskurs der literarischen Moderne belegt, der sich um den Charakter und die
künstlerische Bedeutung eines bestimmten literarischen Genres entwickelte,
nämlich der historischen Belletristik. Mit dem Antritt einer neuen Generation von
Schriftstellern wurde gerade dieser literarische Bereich, der nationale Stereotypen
tradierte und auch noch zuspitzte, um 1890 herum zur Zielscheibe der Kritik. Die
sich formierende literarische Moderne warf ihm eine Anzahl von Mängeln und
Versäumnissen vor, vor allem eben das hohle patriotische Pathos, mit dem der
historische Roman seine historisierenden Ingredienzien einer bestehenden
nationalen Matrix anpasste. Sie kritisierte den unhaltbaren zweckgerichteten
Schematismus und die national-ethische Stigmatisierung historischer Gestalten,
die in der damals aktuellen Prosa und im Mund zeitgenössischer Persönlichkeiten
völlig absurd und lächerlich klänge.42 Die Wahrnehmung der deutsch41
42
MRŠTÍK, Bestia triumphans, o.J [1897], 3.
ŘEZNÍKOVÁ, Moderna a historizmus, 2004.
111
tschechischen Stereotype wurde also differenzierter und zeigte an, dass innerhalb
der jeweiligen nationalen Gesellschaft Unterschiede aufbrachen.
6. Topik der sozialen Differenz
Teils historischen, teils Konstruktionscharakter besaß eine weitere, damals oft
artikulierte Differenz, die zwischen Tschechen und Deutschen aufgrund ihrer
sozialen Stellung und ökonomischen Potenz unterschied. Diese soziale Differenz
wurde in der Dichotomie „reiche Deutsche“ versus „arme Tschechen“ zum
Ausdruck gebracht. Egon Erwin Kisch spitzte sie im Rückblick journalistisch
übertreibend zu:
Das deutsche Prag! Das waren fast ausschließlich Großbürger […]; in ihrem
Kreis verkehrten Professoren, höhere Offiziere und Staatsbeamte. Ein
deutsches Proletariat gab es kaum.43
Diese Differenz wurde vor allem in der deutschsprachigen Literatur
angesprochen, wo sie in einer Vielzahl von Texten offenbar ohne jede
ideologische Intention, also als etwas völlig Selbstverständliches inszeniert wurde.
Kischs getretener tschechischer Flößer, Hauschners schwindsüchtiger
Schriftsetzer aus der tschechischen Arbeiterschaft oder Brods berühmtes
tschechisches Dienstmädchen sind Figuren, die ganz selbstverständlich als
paradigmatische Typen des Prager Tschechen dienen. Diese und weitere Autoren
verwenden den Stereotyp ganz unreflektiert, es ist für sie ein selbstverständlicher
Handlungsgenerator und Schüssel zur Besetzung der dramatis personae. Der
Schematismus ist hier nicht unbedingt ein Instrument der nationalen Propaganda,
und die damit arbeitenden Texte sind in einigen Fällen durchaus von einer
gewissen protschechischen Sympathie geprägt. Umso mehr zeigt freilich diese
topische Konstante, wie fest sie in den zeitgenössischen Denkstrukturen der
Prager deutschen Autoren verankert ist.
Dabei ist auch bemerkenswert, in welcher Weise sich umgekehrt die deutsche
Literatur im Sinne dieses Schemas das eigene Proletariat zurechtlegte: Die
arrivierten deutschen Mittel- und Oberschichten nahmen anscheinend die eigenen
Armen gar nicht erst wahr: „Ein deutsches Proletariat gab es kaum.“ 44 Dabei
machten Lohnarbeiter und Tagelöhner nach der Volkszählung von 1910 mehr als
zwanzig Prozent der deutschen Bevölkerung aus.45 Gary B. Cohen führt dies
darauf zurück, dass diese deutschen Armen nicht in den Vierteln mit der größten
deutschen Bevölkerungskonzentration lebten, nämlich in der Prager Alt- und
Neustadt, sondern „irgendwo weit draußen“ in den industriellen Vorstädten.
Daher die eigentümliche räumliche Distanz, die zugleich eine soziale Distanz
43
44
45
KISCH, Marktplatz der Sensationen, 1962 [1942], 75f.
Ebd., 76.
COHEN, Politics of Ethnic Survival, 1981, 121f.
112
markierte: Die armen deutschen Bevölkerungsschichten passten einfach nicht in
das vorgegebene soziale Schema, und den deutschen Autoren fielen offenkundig
keine Narrative ein, in denen – mit der gelegentlichen Ausnahme des armen
Studenten – ein proletarischer Held Platz gefunden hätte.
Die historischen Wurzeln dieses Schemas hatten der o.g. historischen
Interpretation zufolge noch eine weitere Ebene, nämlich die sprachliche. Bis in
das 17. Jahrhundert, in gewissem Sinne sogar bis in das Mittelalter reichte die
soziale Stratifikation der Sprachen in Böhmen zurück,46 und das ethnosoziale
Schema lässt sich auch als eine antiquierte Version dieser historischen
Stratifikation deuten. Die deutsche Sprache funktionierte darin als Mittel sozialer
Anerkennung und gesellschaftlichen Aufstiegs. Bis zum 19. Jahrhundert handelte
es sich aber nicht um eine soziale Stratifikation der Ethnika, sondern eine solche
der Sprachen.47 Auf diese Weise wurde die anfängliche soziale Stratifikation der
Sprachen unter dem Einfluss der ethnischen Nationalisierung in eine
sozioökonomische Stratifikation der Nationalitäten transformiert. Im Kern
unterlag dieses Schema einem zweifachen Irrtum. Es setzte erstens voraus, dass
die deutschsprachigen Eigentümer bedeutender Unternehmen und Immobilien
zugleich ethnische Deutsche waren, und zudem stellte zweitens der Aufstieg des
tschechischen Industrieunternehmertums und Finanzwesens das einstige deutsche
Übergewicht (sei es nun in sprachlichem oder ethnischem Sinne) in Frage.
7. Die Ethnisierung der Sprache
So erschien um die Jahrhundertwende die Sprache in der Tat als der einzige reale
Unterschied. Denn diese wurde als die „sichtbarste Verschiedenheit zwischen
Tschechen und Deutschen in Prag“ gesehen.48 Aber auch die Sprache erfüllte die
Rolle des Unterscheidungsmerkmals keineswegs vollständig und restlos. Die
nationale Identifikation anhand der Sprache wurde durch den Umstand nicht
gerade erleichtert, dass ein Teil der tschechischen Gesellschaft seit dem
ausgehenden 18. Jahrhundert infolge der Wiener Sprachenpolitik germanisiert
oder bilingual war und je nach aktuellem sozialen Kontext zwischen den beiden
Sprachen hin- und herwanderte, ohne sie mit ethnischen oder nationalen
Kategorien in Verbindung zu bringen.
Die deutsch-tschechische Zweisprachigkeit vereinfachte einerseits das
deutsch-tschechische Zusammenleben in der Praxis, zugleich erschwerte sie aber
eine strikte nationale/ ethnische Abgrenzung, indem sie das Sprachkriterium in
46
SKÁLA, Prager Deutsch, 1966, 88.
Fritz Mauthner bestätigte diese noch für die Zeit seiner Prager Kindheit, d.h. die 1850er/60er
Jahre, allerdings mit einer Einschränkung, die diese einfache Stratifikation schon problematisierte:
„Das Tschechische war in meiner ersten Jugend – wenn man von den bewußten Förderern des
Slawentums in den Städten absieht – die verachtete Bauernsprache; vermeintlich bessere Stände
schämten sich ihres slawischen Idioms […].“ MAUTHNER, Prager Jugendjahre, 1969 [1918], 118.
48
BENEŠ, Historické kořeny, 2002, 18–19.
47
113
Frage stellte. Sogar in der Familie des „Vaters der modernen tschechischen
Nation“, des Historikers František Palacký, wurde bekanntlich bis weit in die
zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts deutsch gesprochen.
Es ist allerdings offenkundig, dass sich mit dem Aufbau des tschechischen
Schulwesens nach der Jahrhundertmitte die Situation änderte und die Sprache in
der Folge immer deutlicher und eindeutiger als Kennzeichen der ethnischen
Zugehörigkeit wahrgenommen wurde, und zwar nicht mehr nur programmatisch,
als Appell, sondern auch real, als Feststellung. Diese Verschiebung lässt sich am
literarischen Diskurs nachvollziehen, der eine spezifische Transformation im
Nachdenken über die Prager Bilingualität widerspiegelt. Die Verschiebung ist
bereits sehr gut sichtbar beim Vergleich von Texten Jan Nerudas (1834–1891)mit
denen seiner jüngeren literarischen Kollegen Ignát Herrmann (1854–1935), Josef
Laichter (1864–1949) oder auch Viktor Dyk.
Gerade Neruda gilt als der bedeutendste literarische „Dokumentarist“ Prags
im 19. Jahrhundert. Seine „Povídky malostranské“ (Kleinseitner Geschichten)
gehören zu seinen bekanntesten Texten über die Stadt. Diese Retrospektiven auf
die Lebenswelt der Prager Kleinseite aus der Zeit von Nerudas Jugend sind
ungefähr in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts angesiedelt. Geschrieben
wurden sie aber durchweg in der zweiten Hälfte der sechziger und in den
siebziger Jahren, also noch bevor die nationalen Konflikte in den achtziger und
neunziger Jahren zu eskalieren begannen. Auf den ersten Blick überrascht es sehr,
wie häufig in Nerudas Texten die Präsenz des Deutschen in Prag demonstriert
wird:
Du, Poldi, hörst, […] krupici kup tady u toho nového, můžem to zkusit.49
[Du, Poldi, hörst, […] die Graupen kauf da bei dem Neuen, wir wollen es
einmal versuchen.]50
Solche Verweise auf die Zweisprachigkeit der Bewohner der Kleinseite finden
sich in Nerudas Geschichte viele, und durchweg haben sie einen komischen
Effekt. So fällt etwa im Gespräch der Studenten die Bemerkung:
První moje modlitební kniha vám byla německá. Já ale neuměl tenkrát ještě
ani slova německy – po celý rok jsem se z ní modlil ‚Gebet für schwangere
Frauen‘ a nestalo se mně pranic.51
[Übrigens, mein erstes Gebetbuch war deutsch. Damals konnte ich aber noch
kein einziges Wort deutsch. Das ganze Jahr betete ich daraus das ‚Gebet für
schwangere Frauen‘ [Orig. deutsch], und es geschah mir gar nichts.]52
49
50
51
52
NERUDA, Povídky malostranské, 1970, 126.
NERUDA, Kleinseitner Geschichten, 2005, 183.
NERUDA, Povídky malostranské, 1970, 108.
NERUDA, Kleinseitner Geschichten, 2005, 153.
114
Eine andere Figur sagt an anderer Stelle:
„Tenkrát jsem četl německy psaného Robinsona, ‚Insel, myslel jsem, že je to totéž co
53
‚Inslicht‘, a přece se mě to líbilo.“
[Damals las ich den auf deutsch geschriebenen Robinson; „Insel“, dachte ich,
sei dasselbe wie „Inslitt“, und doch hat es mir gefallen.]“54
Die häufigen Hinweise auf die deutsche Sprache bedeuten allerdings noch nicht
automatisch, dass es dabei um Prager Deutsche geht. Die sich der deutschen
Sprache bedienen, sind hier keine Deutschen, sondern Beamte, Mietshausbesitzer
und ihre Familien (besonders Töchter), Studenten oder einfach studierte Leute. In
der gesamten Sammlung der „Kleinseitner Geschichten“ tritt nur eine einzige
Figur auf, die sich vorbehaltlos als ethnischer Deutscher identifizieren lässt: „Herr
Šimr, ein Deutscher aus Schluckenau“55. Unter den Bedingungen des stark
germanisierten Prags der Jahrhundertmitte war schließlich auch ein deutscher
Name kein eindeutiger Indikator für eine deutsche ethnische oder nationale
Zugehörigkeit:
Páni Uhmühlové, synové pana Uhmela, městského písaře, vnukové pana
Uměla, barvíře56
[Die Gebrüder Uhmühl, Söhne des Stadtschreibers Uhmel und Enkel des
Färbermeisters Uměl]57
Abgesehen davon, dass das Deutsche bei Neruda nicht automatisch eine deutsche
ethnische oder nationale Zugehörigkeit anzeigt, gibt es hier noch einen Aspekt,
der in Bezug auf die Prager deutsch-tschechische Realität hervorzuheben ist, und
zwar die jeweilige Motivation, Deutsch zu lernen. Man lernt nämlich keineswegs
in erster Linie Deutsch, um sich mit seinem deutschen Nachbarn verständigen zu
können, sondern weil es die Sprache der zentralen Verwaltung ist. Die hier von
Neruda inszenierte Zweisprachigkeit ist also nicht primär eine Gegebenheit des
interethnischen Zusammenlebens, sondern eines von außerhalb Prags
herrührenden Zwangs.
Beim Vergleich dieser Belege mit den später entstandenen Texten jüngerer
Autoren offenbart sich eine merkliche Verschiebung: Die Sprachen gewinnen
allmählich einen deutlicher ethnischen Charakter, und dies wird besonders an den
auf das Deutsche bezogenen Belegstellen sichtbar: Als Sprecher des Deutschen
53
NERUDA, Povídky malostranské, 1970, 41.
NERUDA, Kleinseitner Geschichten, 2005, 58. – Die Varianten Inslicht, Inslitt oder Inselt
bedeuten Talg.
55
Ebd., 123.
56
NERUDA, Povídky malostranské, 1970, 100.
57
NERUDA, Kleinseitner Geschichten, 140.
54
115
treten nicht mehr in erster Linie ethnische Tschechen in Erscheinung, die sich aus
sekundären Gründen dieser Sprache bedienen, sondern es handelt sich nunmehr
ausdrücklich um Deutsche. Gebildete Tschechen beherrschen selbstverständlich
weiterhin das Deutsche (z.B. beweisen Dyks Figuren ihre Bildung häufig durch
Zitate aus den deutschen Klassikern im Original), wenn aber nun Tschechen
deutsch sprechen, dann wie erwähnt entweder als Zitat, oder in der
Kommunikation mit Deutschen. Denn nunmehr, gegen Ende des Jahrhunderts,
besteht für die Tschechen bereits nicht mehr die Notwendigkeit, im Umgang mit
den Behörden oder aus unvollkommener Kenntnis des Tschechischen ihr Deutsch
zu aktivieren, sondern sie tun dies aufgrund der Multiethnizität der Stadt. Dabei
werden die Tschechen in der Regel als zweisprachig vorgestellt, während in den
zeitgenössischen Darstellungen die Deutschen normalerweise kein oder doch nur
sehr wenig tschechisch sprechen. Darin unterscheiden sich tschechische und
deutsche Darstellungen nicht. (Der Vollständigkeit halber sei ergänzt, dass in den
patriotischen historischen Romanen, besonders wenn sie in der Hussitenzeit oder
in der Zeit des Kuttenberger Dekrets spielen, die Unkenntnis der deutschen
Sprache bei den Tschechen programmatisch inszeniert wird. Sie benötigen das
Deutsche einfach nicht, und wenn in den historischen Romanen gebildete
Tschechen auftreten, so sprechen sie Latein.)58
Dieser Entwicklung entsprachen schließlich auch die Veränderungen in der
Auffassung und Vorbringung des Sprachproblems: Am Anfang des 19.
Jahrhunderts sahen die Akteure der tschechischen Wiedergeburt das Problem
noch vor allem darin, dass die Tschechen nicht tschechisch, sondern deutsch
sprachen. Es war damals nicht die Anwesenheit der Deutschen, welche
grundsätzlich ihre Ordnungsvorstellung störte, sondern die mangelhafte Kenntnis
der tschechischen Sprache bei den eigenen Landsleuten. In diesem Geiste wurde
eine Reihe von Sprachapologien geschrieben, welche die sprachlich
„unaufgeklärten“ Tschechen anprangerten und sich über ihr sehr schlechtes
Tschechisch lustig machten.59 Gegen Ende des Jahrhunderts hatte sich die Lage
jedoch geändert: Das Problem waren nicht mehr deutsch sprechende Tschechen,
sondern Deutsche, die durch ihre Anwesenheit in Prag (und überhaupt in
Böhmen) dem Postulat ethnischer Homogenität eines mehrheitlich tschechischen
Raumes entgegenstanden.
Diese semantische Verschiebung vom Beamten (soziale Kategorie) zum
Deutschen (ethnische Kategorie) als Träger der deutschen Sprache zeigt die
Ethnisierung der Sprache an; zugleich werden die Textbelege für den Gebrauch
des Deutschen in Prag immer seltener. Während bei Neruda diese Bezüge noch
eines der stilistischen Hauptelemente des Textes sind, reduzieren sich bei dem
58
So verhält es sich z.B. in dem satirischen metahistorischen Roman „Nový epochální výlet
pana Broučka“ (Neuer epochaler Ausflug des Herrn Brouček) von Svatopluk Čech, wo ein
Alttscheche des 15. Jahrhunderts eifert: „Die Sprache des Böhmischen Landes ist die uns teure
Sprache des Heiligen Wenzel. [...] Die an Zahl bescheidenen Deutschen sind später Zugezogene,
und an ihnen war es, die Sprache des Volkes zu lernen, das sie gastfreundlich aufnahm.“ ČECH,
Nový epochální výlet, 1960 [1889], 98.
59
Siehe z.B. JUNGMANN, Dvojí rozmlouvání, 1948 [1806].
116
allgemein als seinem literarischen Fortsetzer angesehenen Ignát Herrmann die
Hinweise auf das Deutsche spürbar. Sämtliche Alltagsbeschreibungen in
Herrmanns großen Prager Romanen kommen praktisch völlig ohne einschlägige
Verweise aus. Noch auffälliger ist das quasi völlige Fehlen von Hinweisen auf die
deutsche Bevölkerung in Prag in Josef Laichters großem Gesellschaftsroman „Za
pravdou“ (1892; dt. „Wahrheitssucher“, 1906), zumal der Roman von den
stürmischen Ereignissen der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts handelt, die von
deutschen Autoren wie Karl Hans Strobl, Robert Hohlbaum (1886–1955) oder
Julius Kraus gerade vor allem als deutsch-tschechische, also nationale Konflikte
ausgelegt wurden.
Laichter schildert diese wie auch die Ereignisse um den Fall der BadeniRegierung als Auseinandersetzung der Tschechen mit der Wiener
Zentralregierung und als Konfrontation zwischen einzelnen politischen
Strömungen innerhalb der tschechischen nationalen Gesellschaft; die lokale
deutsch-tschechische Dimension tritt demgegenüber deutlich in den Hintergrund.
Das „Andere“, wogegen sich in Laichters Darstellung die tschechische Bewegung
abgrenzt, ist also nicht die deutsche Einwohnerschaft Prags noch das deutsche
Volk als solches, sondern Wien und die Dynastie. Diesem Verständnis der
Unruhen der 1890er Jahre entspricht dann natürlich auch die begrenzte Zahl der
Hinweise auf die Prager Deutschen.
Hieran wird deutlich, dass seit der Emanzipation des tschechischen
Schulwesens in den 1860er Jahren in den letzten beiden Jahrzehnten des 19.
Jahrhunderts Generationen heranwuchsen, die ihre Schulausbildung in
tschechischer Sprache durchliefen. Zusammen mit der Tschechisierung der
Verwaltung und der Aufteilung der Prager Universität in eine tschechische und
eine deutsche reduzierte sich somit auch die Häufigkeit der Situationen, in denen
die deutsche Sprache unerlässlich war. Der Gebrauch des Deutschen war bereits
nur dann erforderlich, wenn ein ausschließlich Deutschsprachiger an dem
Gespräch teilnahm, und der relative Anteil von Deutschsprachigen an der
Gesamtzahl der Prager Bevölkerung war gegen Ende des Jahrhunderts merklich
zurückgegangen.
Diese semantische Ethnisierung der Sprache, also ein Prozess, bei dem die
Sprache von einer kulturellen (oder kulturell aneigbaren) Kategorie zu einer
ethnischen Kategorie wurde, war von bestimmten sekundären diskursiven Zeichen
und Thematisierungen begleitet, welche die ethnische Bedingtheit und damit die
kulturelle Nicht-Aneigbarkeit einiger Aspekte von Sprache betonten. Hierzu
gehörten in erster Linie Akzent, Satzmelodie und Aussprache.
Verständlicherweise wurden diese Aspekte auch in älteren Texten
angesprochen,60 gegen Ende des Jahrhunderts wurden sie jedoch zu einem
ausgeprägten Topos. Der Akzent trat nunmehr als Zeichen in Erscheinung, das
60
Z.B. CHOCHOLOUŠEK, Palceřík, 1900 [1847], 8: „‚Wer weiß, wer weiß,‘ äußerte sich wie in
Gedanken Herr Heinrich Kuenring in ziemlich reinem Tschechisch, obgleich am Tonfall gleich der
Deutsche zu erkennen war [...].“
117
sich nur schlecht lernen lässt und das somit den Sprecher bei der Kommunikation
„verrät“:
Slabý úsměv jevil se na tváři všech, neboť paní Giovannina pronesla tu větu
po francouzsku, tak strašným italským přízvukem, že bylo těžko zůstati
docela vážným61
[Ein leichtes Lächeln überflog alle. Frau Giovannini hatte diesen Satz
französisch gesprochen, aber ihr italienischer Akzent war so fürchterlich, dass
man schwer ernst bleiben konnte.]62
Bei Rilke:
„Oh bitte, entschuldigen Sie“, sagte sie jetzt deutsch mit ein wenig
slawischem Tonfall [...].63
Ähnlich an etlichen Stellen bei Jirásek:
Na konšelově tvrdé němčině bylo znát, že je Němec.64
[An dem harten Deutsch des Ratsherrn war zu erkennen, dass er Deutscher
war.]
Die Ethnisierung von Akzent, Intonation und Aussprache war eines der
Instrumente, mit denen das Konzept der Sprachnation in einer Situation der
überwiegenden kulturellen Bilingualität durchgesetzt wurde. Die Sprache
etablierte sich also infolgedessen (wieder) als wichtigstes und sichtbarstes
Kriterium einer ethnischen Aufgliederung. So wird sie auch von Pieter Judson und
Jeremy King in ihren Arbeiten zur böhmischen Geschichte interpretiert. Die
Sprache war während der gemeinsamen Geschichte von Tschechen und
Deutschen
in
den
böhmischen
Ländern
stets
ein
latentes
Unterscheidungsmerkmal, aber im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde sie
umfassend mit politischer Bedeutung aufgeladen. Die in früheren Zeiten
landläufige Multilingualität wurde nunmehr als Problem begriffen, da sie zu der
nationalistischen Doktrin „ein Volk – ein Staat – eine Sprache“ in Widerspruch
geriet.
61
62
63
64
ZEYER, Jan Maria Plojhar, 2001 [1891], 9.
ZEYER, Jan Maria Plojhar, 1908, 7.
RILKE, Die Geschwister, 2005 [1899], 210.
JIRÁSEK, Mezi proudy, 1952 [1888], 12.
118
8. Tres faciunt collegium
Die Angabe der Umgangssprache war folglich gegen Ende des Jahrhunderts nach
mehrheitlicher Auffassung eine Bestätigung der nationalen Zugehörigkeit; die
meisten Menschen erklärten sich um 1900 tatsächlich Identität anhand der
Sprache.65 Diese selbstverständliche Gleichsetzung von Sprachkompetenz und
nationaler Identität ging aber nicht problemlos vonstatten. Die tschechischen
Nationalisten machten den Behörden den Vorwurf, dass alle Personen gezielt als
Deutsche eingestuft würden, die einfach nur deutsch konnten, und dass das
Kriterium der Umgangssprache mit der Absicht eingeführt worden war, Kosmetik
am schwindenden Prozentsatz der Deutschen an der Prager Bevölkerung zu
betreiben. Abgesehen von der zweckgerichteten, politisch motivierten
Problematisierung des Sprachkriteriums gab es aber auch ganz konkrete
Einzelfälle, die belegten, dass Sprache nicht der einzige, noch der primäre
identitätsbegründende Faktor war. Die Inkongruenz von Sprachkompetenz und
nationaler Identität zeigt anschaulich das bekannte Beispiel Franz Kafkas, der bei
der Volkszählung von 1910 als Umgangssprache Deutsch angab, während die
übrigen Mitglieder seiner Familie Tschechisch verzeichneten. Wie Marek Nekula
Kafkas Fallbeispiel resümiert, kollidierte hier die sprachlich konfrontative
nationale Autoprojektion und „die damit von außen aufgezwungene monolinguale
Identität“ mit der starken identitätsstiftenden Tradition des zweisprachigen
Bohemismus.66
Tatsächlich hatten nicht zufällig gerade die Prager jüdischer Herkunft
Probleme mit der Gleichsetzung von Sprachkompetenz und ethnischer bzw.
nationaler Identität. Neben dem binären deutsch-tschechischen Diskurs erhob sich
an der Jahrhundertwende auch die besondere Frage der jüdischen Identität, die
gerade in dieser Zeit in einer diskursiven Situation spürbar wurde, die Jacques Le
Rider als Krise kennzeichnet.67 Diese Frage hing einerseits mit der jüdischen
Assimilation zusammen, mit dem Zerfall der traditionellen Gemeinschaft und der
Aufhebung der konfessionellen Absonderung, was aber andererseits mit dem
anschwellenden Antisemitismus konfrontiert wurde, der den Assimilationsprozess
prinzipiell in Zweifel zog.
Die Prager Statistiken aus dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts setzten wie
selbstverständlich voraus, dass die Juden, die hier lediglich als konfessionelle
Kategorie aufgeführt waren, sich bei der Frage zur Umgangssprache entweder
zum Deutschen bekannten, das ihnen seit den Zeiten Maria Theresias und Josephs
II. de jure vorgeschrieben war, oder aber zum Tschechischen, das für sie in der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sprachlich zur Alternative wurde. Diese
Praxis des „entweder – oder“ zwang die Juden de facto zugleich dazu, sich für
eine nationale Loyalität zu entscheiden: Im Koordinatensystem der
Jahrhundertwende bedeutete ein Bekenntnis zur deutschen Umgangssprache auch,
65
66
67
KOŘALKA, Národnostní poměry, 2002, 40; NEKULA, Jazyky Franze Kafky, 2003, 430.
Ebd., 438.
LE RIDER, Das Ende der Illusion, 1990.
119
sich zur deutschen nationalen Loyalität zu bekennen, dito war die tschechische
Umgangssprache gleichbedeutend mit der tschechischen nationalen Loyalität.
Eine dritte Möglichkeit war von Amts wegen nicht vorgesehen.
Die Selbstverständlichkeit dieser Praxis gab allerdings seit dem Ausgang der
1890er Jahre Anlass zu Zweifeln und zu Erwägungen über die tatsächliche
Bedeutung und das Wesen der kollektiven Identität der jüdischen Bevölkerung.
So machten die sich in der angespannten politischen Lage verschärfenden
Erscheinungsformen des Antisemitismus deutlich, dass die Bekundung einer
nationalen Loyalität seitens der Juden den archetypischen Modellen ihrer
Exklusion keinen Abbruch tat.
Den prinzipiellen Widerspruch zwischen diesen beiden Phänomenen, dem
Druck hin zur nationalen Identifikation einerseits und den Exklusionspraktiken
andererseits, setzte Julius Kraus 1908 in seinem vergessenen Roman „Prag“ in
Szene. Vor dem Hintergrund der deutsch-tschechischen Auseinandersetzungen
der achtziger und neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts pointierte er seine Prager
Geschichte zur Illustration dessen, dass die Position der Juden in der gegebenen
binären (deutsch-tschechischen) Konfiguration ausweglos war. Diese Situation
führte er paradigmatisch anhand zweier jüdischer Kaufleute vor, von denen der
eine leidet, weil er sich zur deutschen Sprache bekannt hat, während der andere
leidet, obwohl er sich zur tschechischen Sprache bekannt hat. Obwohl sie
anscheinend unterschiedliche Entscheidungen getroffen haben, befinden sie sich
doch beide in einer ähnlich schwierigen Lage: Beider Läden werden während der
Straßenunruhen geplündert, woraus der Autor (ähnlich wie auch Theodor Herzl,
1860–1904) den logischen Schluss zieht, dass der deutsch-tschechische
Bezugsrahmen aufgegeben und neue Systemparameter aufgestellt werden müssen.
Die Frage der jüdischen Identität wurde von verschiedenen Autoren
unterschiedlich beantwortet. Dabei ist allerdings offenkundig, dass die Frage an
sich sehr virulent war, vielfach diskutiert wurde und zur Suche nach einer
Antwort zwang. Jedenfalls war die „objektive Gegebenheit“ einer kollektiven
Identität als Problem ausgemacht, und zumindest indirekt kamen dabei Aspekte
eines modernen Identitätsbegriffs ins Spiel, der den Konstruktionscharakter von
Identität bloßlegte.
9. Weitere Typen von Differenz
Auch weitere Unterscheidungskriterien wie etwa die von der Konfession oder der
Rasse, die im Diskurs um 1900 artikuliert wurden, waren alles andere als
eindeutig. Die Gleichsetzung von Konfession und nationaler Identität war unter
dem Einfluss langwieriger historischer Interferenzprozesse und aus der
prinzipiellen Nichtkorrelation mehr als fraglich.68 Der Zusammenhang von
Nationalität und Konfession wurde deshalb im Laufe der zweiten Hälfte des 19.
68
Hierzu EBERHARD, Die deutsche Reformation in Böhmen, 1992.
120
und im frühen 20. Jahrhundert in vielfacher Hinsicht diskursiv eher
problematisiert als verkündet. Modellhaft z.B. im großen historischen Roman
„Praha a Řím“ (Prag und Rom, 1872) von Josef Svátek (1835 –1897), der die
Verflechtung von der konfessionellen und der nationalen Identität in Prag der
frühen Neuzeit illustriert. Wie problematisch die Gleichsetzung von ethnischnationalen und konfessionellen Kategorien war, zeigte sich etwa bei den Juden
hinsichtlich der Auflösung ihrer traditionellen konfessionellen Identität. In ihrem
Fall wurde die Rolle des Konfessionskriteriums von einer physiologisch kodierten
Rassen-Distinktion übernommen, die komplementär zum Prozess der jüdischen
Assimilation an Stärke gewann. Den Umstand, dass die konfessionelle in eine
Rassendistinktion transformiert wurde, sprach auch Auguste Hauschner (1850–
1924) an:
„Was macht unseren Glauben eigentlich so verhaßt, Herr Doktor?“
„Unser Glaube,“ der Doktor lächelte ein wenig, „trägt wohl am wenigsten die
Schuld an unserer Unbeliebtheit. [...] im letzten Grund ist es ein Instinkt, aus
dem heraus die andere Rasse uns so feindlich ist. [...]“69
Die Rassenkategorien, die auf den Körper verwiesen und die Rhetorik des
Physiologischen operationalisierten, wurden mit Hilfe visueller Stereotype und
Erwartungen artikuliert.70 Diese Erwartungen blieben aber auch hier oft vage, die
implizierten Unterschiede wurden nicht konkretisiert. So unterstellte Jirásek
beispielsweise bei der Figur einer jungen Jüdin ganz selbstverständlich, dass ihre
jüdischen Gesichtszüge erkannt werden können, ohne sie freilich zu spezifizieren:
„Doch ihr Gesicht, wenngleich anmutig, verbarg dennoch nicht, welcher Herkunft
es war“.71
Auch diese physiologisch semantisierten Distinktionen hatten dabei einen
begrenzten Geltungsbereich und funktionierten in Abhängigkeit von anderen
kulturellen Faktoren. So stattete z.B. selbst der jüdische Autor Max Brod (1884–
1968) in der Zwischenkriegszeit seinen jüdischen Helden mit dem dunklen Teint
und der dunklen Haarfarbe aus, die nach der Beobachtung von Sanders Gilman
traditionell im antisemitischen Diskurs figurierten. Im Grunde tritt dieses Element
in der Prager Literatur jedoch fast nie in Erscheinung, ähnlich wie etwa der
berühmte Topos der jüdischen Nase, der in der zeitgenössischen (zumindest in der
nichttrivialen) Prager Literatur fast nie vorkommt. Auch die Interpretation der
Physiognomie nach ästhetischen Kategorien war letztlich kulturell arbiträr und
konnte von der rein narrativen Absicht des jeweiligen Textes abhängen.
Beispielsweise ist in Francis Marion Crawfords (1854–1909) Roman „The Witch
of Prague“ (1891) die jüdische Physiognomie einer der Figuren im Vergleich mit
dem Mainstream des nichtjüdischen master narrative ästhetisch positiv
69
70
71
HAUSCHNER, Die Familie Lowositz, 1910, 52.
GILMAN, Jewish Frontiers, 2003.
JIRÁSEK, Mezi proudy, 1952 [1888], 162.
121
semantisiert.72 In vielen Kontexten wurden physiologisch verstandene
Distinktionen thematisiert, die sich aber als unzureichend oder unzuverlässig
erwiesen.
Auch hier geht es demnach um „kleine Unterschiede“, die Andersartigkeit
implizierten, aber kein ausreichendes Unterscheidungspotenzial aufwiesen.
Daraus entsprang das Bedürfnis, zur Unterscheidung künstliche, sekundäre
Zeichen einzusetzen: die gelben Aufnäher an der Kleidung von Juden, die Kappen
deutscher Studenten, die Abzeichen der verschiedenen studentischen
Korporationen, Vereine, Institutionen, die gemeinsam mit dem Diskurs der
Nationalfarben, -hymnen und weiterer Attribute ein semantisches Gesamtsystem
von Identifikatoren schufen, die die Unterschiede de facto stellvertretend
ersetzten.
Antijüdische bzw. antisemitische Stereotype entstanden aus einer langen
historischen Tradition und waren im Prinzip keine Erfindung des ausgehenden 19.
Jahrhunderts. Der Antisemitismus der Jahrhundertwende griff diese Tradition
jedoch auf und re-definierte sie im neuen Differenzdiskurs. Übrigens ist auch das
Aufkommen des Begriffes „Antisemitismus“ selbst, der gerade Ende des 19.
Jahrhunderts in Gebrauch kam und den älteren Begriff „Judenhass“ ersetzte, als
Bestandteil dieses umfassenden Reflexionsprozesses zu betrachten.73
Mit der notwendigen Neudefinition von Differenz stellte sich aber die Frage
nach der objektiven Bedeutung und universellen Relevanz von Unterschieden. Die
Einsicht, dass die großen nationalen Konflikte im Grunde auf banale, wenn nicht
überhaupt erdachte Unterschiede zurückgingen, mündete bei einigen Autoren der
Jahrhundertwende in die Problematisierung oder Negation der nationalen
Ideologie als solcher und ließ sie fragen, was eigentlich die Triebkraft der sog.
nationalen Konflikte sei oder was sich hinter diesen verberge.
Das multiethnische Zusammenleben motivierte also einerseits dazu, den
tatsächlichen Umfang interethnischer Differenzen theoretisch zu hinterfragen,
andererseits aber setzte der nationalistische Diskurs solche Unterschiede voraus
und aktivierte auf diesen fußende Denkmodelle. Die Konstruktion von
Unterschieden und ihre Problematisierung entwickelten sich komplementär
zueinander. Der Diskurs der interethnischen Differenz war also merklich
ambivalent: Er ging a priori von Unterschieden aus und arbeitete mit einem
Konzept von Differenz, zugleich jedoch machte er deren Relativität und
ideologische Bedingtheit bewusst.
10. Differenz und Grenzziehung
Ob nun für den jeweiligen Autor galt, dass er affirmativ in Gestalt von
Unterschieden dachte, oder ob er das Denken über Unterschiede problematisierte,
72
73
CRAWFORD, Die Hexe von Prag, 1929.
Ausführlicher hierzu z.B. MIKULÁŠEK, Antisemitismus, 2000.
122
der Begriff des Unterschieds als solcher war untrennbar von und allgegenwärtig in
dem zeitgenössischen sozialen Diskurs. In einer Situation ethnischer
Heterogenität bestimmte er nicht allein das soziale Handeln, sondern er war auch
für die mentale Organisation des ethnisch heterogenen Raums mitverantwortlich.
Die Praktiken der Suche und Identifizierung bzw. Konstruktion von
Differenzen waren ein eigenständiger Bestandteil der Modellierung des Bilds von
der multiethnischen Stadt, zergliederten diese und hatten Anteil an der Erstellung
ihrer kognitiven Karte. In ihrer räumlichen Dimension verhielten sie sich
weitgehend komplementär zu den Praktiken der Abgrenzung. Sie definierten
getrennte Sphären und Kompetenzen, modellierten national definierte Zonen und
einzelne topographische Stützpunkte, welche die nationalen Gruppen für sich in
Anspruch nahmen. Die nationalen Kategorien gaben den städtischen Mikroarealen
einen neuen autoritativen Sinn, begründeten ihre nationale Lesart und
hierarchisierten sie gemäß einer strategischen und auf Sicherheit orientierten
Bedeutung, die ihnen innerhalb des interethnischen Diskurses arbiträr
zugeschrieben wurde. Indem sie den einzelnen Nationalitäten soziale und
territoriale Sphären zuwiesen, legten sie gewissermaßen Grenzen fest, sei es im
topographischen oder im gesellschaftlich-metaphorischen Sinne. Durch das
Erkennen von Differenz(en) war das Denken darauf orientiert, die Grenze zu
installieren, und umgekehrt implizierte eine installierte, internalisierte Grenze eine
Alterität, suggerierte eine Differenz. Im Vergleich zum Konzept des Unterschieds
besaß die Semantik der Grenze eine deutlichere räumliche Dimension und war in
diesem Sinne eine sozusagen räumliche Projektion oder eine räumliche
Inszenierung von Verschiedenheit.
Ähnlich wie der Differenzbegriff trat auch der Begriff der Grenze im Zuge
der Formierung des modernen Nationalstaats in eine neue Phase.74 Im Diskurs des
späten 19. Jahrhunderts erfuhr er einen lebhaften Aufschwung und wurde in einer
ganzen Reihe von Wissenschaftsdisziplinen zu einem wichtigen Thema. Nicht nur
Geographie und Staatswissenschaften, sondern bezeichnenderweise auch
Soziologie und Psychologie nahmen den Grenzbegriff in ihren terminologischen
Katalog auf. Bereits aus dieser Fächerkombination wird ersichtlich, dass die
Institution der Grenze an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in mindestens
dreierlei Weise gesehen wurde: in räumlicher, sozialer und psychologischer.
Grenze funktionierte als soziale Institution und zugleich als Denkkategorie. Die
Häufigkeit des Gebrauchs des Begriffs, seine Virulenz im zeitgenössischen
wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskurs zeigen eine erhöhte Sensibilität
im Hinblick auf die Möglichkeiten und Modelle der Konstituierung, Verschiebung
und Überschreitung von Grenzen und der Schaffung von Distanz an. Der
Grenzbegriff wurde im Laufe eben des 19. Jahrhunderts territorialisiert und
deutlich nationalisiert. Auf diese explizite Territorialisierung wurde die soziale
Mentalität durch die nationale Ideologie mit der Doktrin ausgerichtet: ein Volk –
ein Staat, d.h. ein Territorium. Andererseits aber wurde der Grenzbegriff zugleich
entterritorialisiert, am markantesten gerade in der zeitgenössischen Soziologie,
74
LUFT, „Alte Grenzen“ und Kulturgeographie, 2000; MEDICK, Grenzziehungen, 1995, 215.
123
und zwar vor allem in der Raumsoziologie, präziser in der Stadtsoziologie, in der
er zu einem Instrument der Interpretation von sozialer Interaktion wurde.75
Die Topik der Grenze zog sich übrigens während der Jahrhundertwende durch
den gesamten Makrodiskurs zu Mitteleuropa. Dieses wurde nämlich als ein
spezifischer Grenzraum gesehen („Übergangseuropa“, „Grenzeuropa“,
„Kulturgrenzgebiet“)76, in dem sich jeweils zwei – auf verschiedenen Ebenen
definierte – oppositionelle Entitäten trafen und überlappten: zwei geographische
Systeme (das westliche bergige und das östliche Flachland); zwei Klimazonen
(die westlich-ozeanische und die östlich-kontinentale); zwei Ökosysteme (das
pontische und das baltische); schließlich zwei verschiedene Kulturtypen (der
westlich-urbane und der östlich-rurale).
Für den Diskurs über Prag als mitteleuropäische Stadt hatte in diesem Kontext
die Vorstellung besondere Bedeutung, dass Mitteleuropa die Grenze zwischen
zwei Kultursystemen bilde. Bei der Abgrenzung der westlichen als einer urbanen
von der östlichen als einer ruralen Kultur diente eben die Stadt als eines der
zentralen Unterscheidungsmerkmale, genauer gesagt der Entwicklungsstand der
Städte und die Dichte des Städtenetzes. Die Institution der Stadt selbst wurde als
ein spezifisches Objekt des Transfers und ein Ort der Differenz begriffen.
Während der gesamten zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte sich die
tschechische Nationalhistoriographie mit der Tatsache auseinanderzusetzen, dass
nach dem Stand der historischen Forschung die Städte in den böhmischen
Ländern ein deutscher Kulturimport waren, ebenso wie das Stadtrecht, an dem
sich die mittelalterlichen Städte in Böhmen ausrichteten. Der Begriff der
„deutschen Kolonisation“, der diese Interpretation zum Ausdruck brachte, kam
bezeichnenderweise an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert im
historiographischen Diskurs in Gebrauch, also in einer Zeit, in der sich nationale
Kategorien in der Geschichtsschreibung systemisch Geltung verschafften.77
Offenbar ist es in diesem Zusammenhang nicht als bloßer Zufall zu sehen, dass
die Rolandstatue auf einem Pfeiler der Prager Karlsbrücke, die ähnlich wie viele
andere Rolandssäulen in europäischen Städten das (deutsche) Stadtrecht
symbolisierte, in der tschechischen Volksüberlieferung zur Verkörperung des
legendären tschechischen Ritters Bruncvík uminterpretiert wurde, des Helden
einer Sage über den Ursprung des Löwen im böhmischen Wappen.
Gerade an der Gestalt des Roland/ Bruncvík kann die semantische Divergenz
des tschechischen und deutschen kulturellen Gedächtnisses in Prag
veranschaulicht werden, die u.a. die Verdoppelung der kulturellen Bedeutung
bestimmter Zonen, Orte und Artefakte mit sich brachte. Als er Kisch’ Pragroman
„Der Mädchenhirt“ (1914), in dem das bewusste Objekt als „Roland“ bezeichnet
wird, ins Tschechische übertrug, änderte der Übersetzer 1922 den kulturellen
Code und benutzte die Bezeichnung „Bruncvík“. Als „Roland“ war die Skulptur
für die tschechischen Leser ein unverständliches, zudem offenbar auch
75
76
77
FÖLLMER, Grenzen und urbane Modernität, 2006.
HANSLIK, Kulturgeographie, 1909, 4.
Ausführlich vgl. LEŚNIEWSKA, Kolonizacja niemiecka, 2004.
124
ideologisch problematisches Artefakt, nämlich ein Hinweis auf den Einfluss der
deutschen Kultur.
An dieser Stelle sollte ergänzt werden, dass die semantische Struktur unter
den Bedingungen der Multiethnizität in langfristiger Perspektive (longue durée)
und im Hinblick auf den universellen Umlauf von Topoi noch einen Grad
komplizierter war. Der Roland/ Bruncvík kann hier wieder als ein Modellbeispiel
dienen. Denn die Volksüberlieferung hatte den Roland paradoxerweise durch den
Löwen der Herzöge von Braunschweig ersetzt, über den seit dem Mittelalter eine
Sage kursierte, deren Sujet mit der böhmischen Wappenlegende übereinstimmte.78
Die Prozesse der Semiose waren also offenbar weder eindeutig noch geradlinig,
und die nationale Umdefinierung eines bestimmten urbanen Raumes oder
Artefakts ging nicht immer auf einen unzweifelhaft der eigenen Nationalkultur
zugehörigen Inhalt zurück. Es wird jedoch deutlich, dass das Konzept des
deutschen Stadtrechts dem tschechischen Milieu fernstand und der Roland, sei es
durch gezielte Manipulation oder unbewusst, aus ihrem Denkhorizont herausfiel
und durch einen anderen Code ersetzt wurde, der innerhalb des tschechischen
historischen Narrativs einen klar abgrenzbaren Raum besaß.
Der Begriff der Kolonisation wurde somit zum ideologischen Mittelpunkt, an
dem tschechisches und deutsches kulturelles Gedächtnis voneinander abwichen.
Die tschechische Geschichtsschreibung stellte zwar nicht in Abrede, dass die
deutsche Kolonisation für die Urbanisierung des mittelalterlichen Böhmen und die
Geschichte Prags einen Wendepunkt darstellte, doch sie weigerte sich, die
deutschen Verdienste um die kulturelle Entwicklung des Landes absolut zu
setzen. Sie räumte ein, dass in Böhmen bis zum 13. Jahrhundert keine Städte
gegründet wurden,79 betonte aber umso mehr den romanischen Ursprung der Stadt
als Institution.80 Auch die Tschechen sahen die Stadt als Kennzeichen einer
bestimmten Kultur. Als Bezugskategorie diente ihnen jedoch nicht Deutschland,
sondern „der Westen“ allgemein. Z.B. sagt in einem literarischen Text Miloš
Martens (1883–1917), eines wichtigen Vertreters der jungen tschechischen
Literatur des beginnenden 20. Jahrhunderts, ein Franzose (was symptomatisch
war und der Logik dieser Denkweise entsprang) – in Prag: „Ich habe in die Augen
Ihrer Stadt geschaut [...], der ersten Stadt des heimatlichen Westens, die mich
nach den in der Ferne verbrachten Jahren aufnahm.“81 Was wiederum auf die
Grenzposition Prags (die „erste“ Stadt des heimatlichen Westens) hinweist.
Seiner inneren Struktur nach verfügte Prag freilich über keine greifbaren, in
den Raum übertragbare ethnische Grenzen. Eine ethnisch mehr oder minder
homogene deutsche Siedlung wird nur für eine kurze Zeit im Frühmittelalter
angenommen, aus der die Bezeichnung „deutsche Straße“ überliefert ist. Die alte
deutsche Niederlassung, die um diese Örtlichkeit herum angelegt war, verlor aber
78
BAUMANN, Lateinische Quellen, 1973.
WINTER, Zlatá doba, 1913.
80
WINTER, Kulturní obraz, 1890, 4.
81
MARTEN, Nad městem, 1924 [1917], 23. Der Text wurde bereits vor dem Krieg konzipiert,
aber erst nach dem vorzeitigen Tod des Autors veröffentlicht.
79
125
bereits im hohen Mittelalter ihre (ohnehin eher imaginäre) ethnische Homogenität.
Wahrscheinlich nahm sie weitere Anteile einer Bevölkerung fremden, besonders
italienischen Ursprungs auf, aber auch slawische Einwohner. Bei der späteren
Stadtentwicklung etablierte v.a. die Einrichtung des jüdischen Ghettos sozial
wirksame räumliche Grenzen. Zwischen den einzelnen ethnischen Gruppen
bildeten sich keine klaren Grenzen. Das darf angenommen werden, obwohl
genaue Belege über die Aufnahme von Fremden oder die mögliche Existenz
saisonaler Kolonien welscher (d.h. aus den romanischen Ländern stammender)
Steinmetze und anderer Handwerkergemeinschaften in Prag für die ältere Zeit
fehlen. Insoweit damals überhaupt die innere Vielfalt Prags ein Thema war, so
ging es nicht primär um seine Ethnien, als vielmehr um die Heterogenität der
verschiedenen Stadtteile, besonders der Alt- und der Neustadt, die gewissermaßen
eine Konkurrenzbeziehung pflegten.
Gerade die Verwaltungsgrenzen zwischen den einzelnen Prager Städten
gliederten den Raum in kommunal, nicht aber ethnisch oder national relevante
Einheiten.82 Diese mit den Stadtmauern übereinstimmenden Grenzen, die formal
erst im Verlauf des 20. Jahrhunderts verschwanden, wurden durch den jeweils
unterschiedlichen Gründungstypus und durch die unterschiedlichen Funktionen
der einzelnen Viertel errichtet. Vom Standpunkt der städtischen Politik des
Mittelalters, die zur Autarkie neigte, hatten sie – im Unterschied zu ethnischen
Grenzen – eine eindeutige funktionale Motivation. Die Kleinseite und der
Hradschin profilierten sich primär in engeren ökonomischen und sozialen
Verhältnissen zur Prager Burg, während die Alt- und die Neustadt zum
eigentlichen urbanen Kern Prags wurden, zum Zentrum von Gewerbe und Handel.
Die so gebildeten Grenzen beförderten ihrerseits den unterschiedlichen Habitus
der einzelnen Prager Städte. Auch hierbei handelte es sich um einen Diskurs der
Unterschiede, die allerdings nicht in nationalen, sondern in administrativkommunalen Kategorien gefasst waren.
Umso auffälliger war die im 19. Jahrhundert um sich greifende Neigung, Prag
nach dem nationalen Code zu lesen. Die Suche nach der Grenze war hierbei
sicherlich eine Folge der räumlichen Praktiken des Nationalismus. Zugleich aber
war die Abgrenzung ein verbreiteter Trend des 19. Jahrhunderts, und nationale
Kriterien waren nur ein Typ der Bemessung von Unterschieden. So spricht
beispielsweise Richard Sennett von der allgemeinen Tendenz der urbanen
Gesellschaft zur räumlichen Differenzierung und Segmentierung, die sich im
Laufe des 19. Jahrhunderts vertiefte. Einer fortschreitenden Segmentierung
unterlagen z.B. auch Haus und Wohnung, die neu aufgeteilt wurden, wodurch
funktionell individualisierte Räume wie Schlafzimmer, Wohnzimmer oder
Kinderzimmer entstanden.83 Einerseits schwanden einige traditionelle Grenzen:
Durch die Schleifung der Stadtmauern entgrenzte sich übrigens gerade an der
Jahrhundertwende das Städtische an sich. Andererseits wurden demgegenüber
neue Grenzen aufgebaut, so z.B. solche zwischen den Nationalitäten.
82
83
JANÁČEK, Hranice mezi Pražany, 1965, 262.
SENNETT, Civitas, 1994, 46.
126
11. Sprachgrenze als Modell?
Die Absicht der Grenzziehung zwischen Tschechisch und Deutsch wurde
paradigmatisch besonders von Literaten verfolgt, die entweder aus der Region der
Sprachgrenze nach Prag gekommen waren oder aus deutschen Gebieten jenseits
davon. Es handelte sich also um Autoren, die entweder eigene Erfahrungen mit
der Sprachgrenze hatten oder die die Sprache der Bevölkerungsmehrheit, das
Tschechische, nicht beherrschten. 84 Gerade bei solchen Autoren wie Viktor Dyk
oder Alois Jirásek auf der einen und Karl Hans Strobl oder Robert Hohlbaum auf
der anderen Seite lässt sich der stärkste Drang ausmachen, Tschechen und
Deutsche in Prag nach nationalen Kriterien als zwei eigenständige Entitäten
voneinander zu sondern. Dieser Befund lässt sich auch so interpretieren, dass
diese Autoren die Institution der ethnischen Grenze in ihrem soziopolitischen
Denken nachhaltiger internalisiert hatten als die Prager Autoren, und die Idee der
Grenze funktionierte bei ihnen (möglicherweise nur unterbewusst) als
Ordnungskategorie in einem ethnisch gemischten Raum.
Die Sprachgrenze begann um die Mitte des 19. Jahrhunderts, sich in der
Habsburgermonarchie als Begriff und Instrument der österreichischen
Kartographie zu etablieren, wie Robert Luft feststellt.85 Gegen Ende des
Jahrhunderts wurde sie bereits weitgehend als soziales Faktum begriffen. Damit
ist natürlich nicht der konkrete Grenzverlauf gemeint (dieser verschob und änderte
sich in Teilbereichen ständig), sondern die Kategorie der Sprachgrenze als
Institution. In nationaler Hinsicht war trotz des pathetischen Beharrens auf dem
„böhmischen Staatsrecht“ der tschechischen Politik die ethnische Sprachgrenze
als Topos wichtiger als die Landesgrenze, und zumindest bis zur
tschechoslowakischen Staatsgründung wurde sie auch häufiger thematisiert und
literarisch modelliert. Die ethnische bzw. sprachliche Grenze war offenbar eine
stärker emotional wirksame Kategorie mit einer prägnanteren Topographie. So
behandelten sie etwa der zitierte Roman „Konec Hackenschmidův“, Antal Stašeks
epischer Roman „Na rozhraní“ (An der Grenze, 1908) oder auch Alois Jirásek in
seiner Prosa, etwa in dem schon erwähnten Roman „Na Ostrově“ oder in der
Erzählung „Do Němec“ (Ins Deutsche, 1889). Nach „Deutschenland“ bedeutete
dabei keineswegs über die Staats- oder Landesgrenze, sondern nur in das Gebiet
von Broumov (Braunau), das zu Böhmen gehörte, aber jenseits der Sprachgrenze
84
Auf diesen Zusammenhang verweist z.B. eine Passage bei Viktor Dyk, der 1925 über seinen
Geburtsort berichtet:„Weit reichte der Blick vom Mělníker Felsen [...]. Weite Felder, tschechische
Felder. Und doch war nicht weit von uns Liběchov [Liboch] mit einem Standbild des Kaisers, des
Germanisierers. Wir waren zwar in der Mitte Böhmens, aber dennoch im Grenzgebiet: Nie verließ
mich dieses beunruhigende Gefühl aus meiner Knabenzeit.“ DYK, Mělnik, 1934 [1925], 21–22.
85
LUFT, „Alte Grenzen“ und Kulturgeographie, 2000, 124f.
127
in einem Gebiet mit deutscher Mehrheit lag.86 Auf deutscher Seite reflektierte
Fritz Mauthner (1849–1923) über das ethnische Grenzgebiet und das dortige
Zusammenleben literarisch in seinen böhmischen Novellen; er stammte ähnlich
wie Jirásek, Stašek und Dyk aus einer Region in der symptomatischen Nähe der
Sprachgrenze, aus Hořice (Horschitz) im nordöstlichen Böhmen.
In der Belletristik der Jahrhundertwende wird diese Grenze oft als eine
zwischen den Dörfern verlaufende Linie dargestellt, die eindeutig und
selbstverständlich den tschechischen vom deutschen Raum scheidet:
Tohle je poslední česká ves. Teď už budou Němci. […] Teď teprve nastávala
cizina. Také krajina stávala se chmurnější.87
Das ist das letzte tschechische Dorf. Jetzt kommen schon die Deutschen. [...]
Da fing die Fremde erst recht an. Auch die Landschaft wurde düsterer.
Doch auch hinter der Grenze leben beispielsweise in den Texten Jiráseks
Angehörige von Minderheiten, allerdings in dem Bewusstsein, dass sie sich hinter
der ethnischen Grenze befinden.
Das Bewusstsein der Grenze hat sichtlichen Einfluss auf die Wahrnehmung
der Landschaft, nicht nur in dem zitierten Text Jiráseks, sondern überhaupt in
einem Großteil der Grenzliteratur.88 Im Anschluss an Ernst Gombrich89 könnten
wir darin einen Beleg für die These sehen, dass die Kunst nicht mimetisch die
Wirklichkeit imitiert, sondern eine Konfiguration internalisierter Denkkategorien
ist, hier also der Idee der Grenze, die sie auch auf Erscheinungen projiziert, die
mit ihr selbst nicht direkt und notwendig zusammenhängen. Der Umstand, dass
das Zusammenleben von Tschechen und Deutschen in Prag als Problem bevorzugt
von solchen Autoren thematisiert wurde, die eine persönliche Erfahrung mit der
Sprachgrenze hatten, kann so begriffen werden als Nachweis der imaginativen
Kraft dieser eidetischen Kategorie, die als Modell funktionieren und im
nationalistischen Koordinatensystem normbildend für die Organisation ethnischer
Heterogenität wirken konnte.
Etliche Vorgänge im Prag der Jahrhundertwende folgten dem Prinzip der
Separation einschließlich der konkreten räumlichen Trennung, wie sie auch längs
der Sprachgrenze zu beobachten war. Ungefähr seit den 1880er Jahren
entwickelte sich in den deutschsprachigen Gebieten ein spezifischer Diskurs der
sog. „geschlossenen Gebiete“, der den Zweck verfolgte, der Institution der Grenze
administrative Geltung zu verschaffen und die nationalen Unterregionen
voneinander zu separieren.
86
JIRÁSEK, Z mých pamětí, 1980 [1911], 91. – Ähnlich auch z.B. SVĚTLÁ, Kříž u potoka, 1994
[1899], 17–18.
87
JIRÁSEK, Do Němec, 1951 [1889], 38.
88
SMOLEJ, Die Literatur und die Grenze, 2006.
89
GOMBRICH, Kunst und Illusion, 1978, besonders 83–113 (Kap. Wahrheit und Konvention).
128
In Prag kam das Modell einer territorialen Trennung zumindest in partiellen
Verortungen sowie in der symbolischen Besetzung von angeblich deutschen oder
tschechischen Orten zur Geltung. Am Ende des Jahrhunderts wurden daher in
auffälliger deutsch-tschechischer Parallelität Versuche unternommen, eine
nationale Topographie zu entwickeln. Das vielleicht markanteste Beispiel dafür
war die nationale Codierung jener langen Allee, die als eine der
Hauptverkehrsadern Prags den unteren Teil des heutigen Wenzelsplatzes quert
und in der einen Richtung zur Moldau, in der anderen zum Pulvertor führt. Die
Richtung zum Pulvertor, Am Graben genannt, geriet in den Ruf eines deutschen
Korsos, der Alleeteil zum Fluss dagegen, an dessen Ende das tschechische
Nationaltheater stand und der Ferdinandstraße hieß (die heutige Národní třída,
Nationalstraße), galt als tschechischer Korso.90
Auch hier wird die Bedeutung einer imaginativen und virtuellen, dabei aber
sozial wirksamen Grenze deutlich. Diese Form von Distanznahme bestand in der
Etablierung scharf abgegrenzter Interaktionsräume innerhalb der Makroebene der
Stadt. In diesen Räumen spielten sich dann auch die heftigen deutschtschechischen Konflikte ab, an denen charakteristischerweise vor allem Studenten
und Angehörige der sozialen Unterschichten teilnahmen.
12. Die Metapher der Kreuzung
Die Topik der Grenze und der Segregation war einer Art locus communis des
Prager Diskurses. Insbesondere in tschechischen Kreisen setzte sich parallel dazu
die allerdings semantisch abweichende Metapher der Kreuzung durch. Der
semantische Unterschied zwischen den Konzepten der Grenze und der Kreuzung
zeigte auch die unterschiedlichen Denkfiguren und -richtungen an, welche die
Auffassungen von Multiethnizität und Heterogenität auf deutscher und
tschechischer Seite konfigurierten.
Während die Grenzmetapher die Multiethnizität Prags auf binäre
Oppositionen reduzierte (Deutsche – Tschechen, West – Ost), bezog die
Kreuzungsmetapher auch die Präsenz und den kulturellen Einfluss weiterer
Gruppen ein. Als Kreuzung semantisierte beispielsweise Miloš Marten Prag in
seinem fiktiven historisch-philosophischen Dialog „Nad městem“ (Über der Stadt,
publiziert 1917), wo er Prag als „Stadt der Abenteurer“ beschreibt, die hierher
„aus allen vier Himmelsrichtungen“ kamen.91 Bestimmend war hier nicht die
Polarität West – Ost, wie dies für die Grenzmetapher galt, sondern die Semantik
der vier Himmelsrichtungen. An Marten knüpfte später auch z.B. auch Jiřina
Popelová (1904–1985) an, eine tschechische Philosophin und Schülerin von
90
Zur Nationalisierung der Prager Topographie vgl. z.B. NEKULA, Pražské mosty, 2006. Auch
z.B. die Zweiteilung der Prager Universität besaß eine Dimension der räumlichen Abgrenzung
(vgl. GOLL, Rozdělení pražské univerzity, 1908). Das trifft ebenfalls auf eine Reihe von
Separierungspraktiken zu, wie sie E.E. Kisch beschrieb (siehe Anmerkung 23).
91
MARTEN, Nad městem, 1924 [1917], 24.
129
Benedetto Croce (1866–1952), die in einem anderen, ebenso in Dialogform
aufgebauten Text in der Replik eines der Akteure über den Sinn der tschechischen
Geschichte schrieb:
Die Architektur Prags ist eine besondere Trigonometrie der Geschichte. Als
würdest du, egal wohin du schaust, die Schnittpunkte historischer Kräfte
geradezu anfassen, die sich an dieser Kreuzung von Ost und West, Nord und
Süd treffen. […]92 Der Sinn unserer Geschichte war durch viele Umstände
und durch unsere ganze historische Entwicklung bestimmt. Dies war vor
allem unsere Lage am Kreuzungspunkt des Weltgeschehens.93
Sowohl Popelová als auch Marten gestalten ihre geschichtsphilosophischen
Überlegungen als Gespräche, und beide wählen als Geschehensort dieser
Gespräche einen Punkt über der Stadt, von dem die Diskussionsteilnehmer Prag
quasi aus der Höhe beobachten können. Im Fall Martens diskutieren zwei Freunde
über den Sinn der tschechischen Geschichte, ein Tscheche und ein Franzose, auf
der Terrasse eines Patrizierhauses oben auf dem Hradschin. Auch in dieser
Verortung des Beobachters, die für Marten wie auch für andere Autoren wie etwa
Julius Zeyer und Zikmund Winter (1846-1912) typisch war, bestand einer der
diskursiven Unterschiede zwischen der deutschen und der tschechischen PragImagologie. Für die tschechischen Autoren waren Prag und Nation homolog. Prag
war der Mittelpunkt des nationalen Diskurses, eine Geschichtsachse, ein
territoriales Zentrum. Das kollektive Gedächtnis Prags war zugleich das
historische Gedächtnis der Nation. Im deutschen Diskurs funktionierte eine solche
Identifizierung nicht. Wenn in der deutschsprachigen Belletristik jemand Prag von
oben beobachtet (etwa vom Hradschin aus, wie z.B. bei Auguste Hauschner),
sieht er unter sich einen Fluss, Dächer, Gebäude, Marktplätze und Straßen. In
einem tschechischsprachigen Text sieht er dagegen bezeichnenderweise eine
„Trigonometrie der Geschichte“.
Die Ursachen dieser Verschiedenheit waren wohl die soziale Situation der
Deutschen als Minderheit und die ganz andere Lage der Tschechen als Mehrheit.
Um auf die These über den Raum als soziales Konstrukt zurückzukommen: Wenn
die soziale Lage verschieden war, so waren auch deren räumliche Projektionen
unterschiedlich. Die Deutschen setzten sich viel häufiger mit der Problematik des
deutsch-tschechischen Zusammenlebens auseinander als die Tschechen, denn sie
sahen sich als Minderheit viel stärker mit der deutsch-tschechischen Koexistenz
konfrontiert als die Tschechen. Deshalb reduzierten die deutschsprachigen
Literaten die Multiethnizität Prags auf ein binäres tschechisch-deutsches Problem,
während die tschechischen Autoren Prag in bestimmten geschichtlichen Epochen
weitaus kosmopolitischer modellierten. Dennoch erhoben die tschechischen
Autoren implizit einen Alleinanspruch. Dieser wurde häufig wie beiläufig oder
unreflektiert artikuliert. Die tschechischen Texte bestreiten selten explizit die
92
93
POPELOVÁ, Rozjímání, 1947, 10.
Ebd., 17f.
130
deutsche Präsenz und den deutschen Anspruch auf Prag, dagegen schweigen sie
einfach von den Prager Deutschen, so als ob sie sich ihrer Präsenz nicht einmal
bewusst wären, als ob sie nicht relevant wäre; vielmehr interessieren sie sich
programmatisch für andere Fragen.
Ein anschauliches Beispiel hierfür liefert ein Vergleich der bereits zitierten
Romane Karl Hans Strobls „Die Vaclavbude“ (1902) und Viktor Dyks „Prosinec“
(1906). Beide spielen in der Zeit der deutsch-tschechischen Straßenkrawalle in
Prag nach dem Sturz der Badeni-Regierung im Dezember 1897. Dyks Roman
wird deshalb manchmal als das tschechische Pendant zu Strobl gesehen. Zwischen
den beiden Büchern besteht jedoch eine bedeutende Differenz: Während sich
Strobl auf die Straßenkämpfe als nationalen Konflikt konzentriert, bieten
dieselben Geschehnisse Dyk in erster Linie Gelegenheit zu beobachten, wie
kollektive Bewegungen entstehen und funktionieren, wie irrational das Verhalten
der Masse ist – also das, was Dyk selbst als „Psychologie des Sturmes“
bezeichnet. Es geht ihm somit nicht um einen binär aufgefassten nationalen
Konflikt zwischen Deutschen und Tschechen, sondern um den Konflikt als
solchen, und der Roman kann auch als Reaktion auf das vielzitierte Werk Gustave
Le Bons (1841–1931) „Psychologie der Massen“ von 1895 gelesen werden, das
im Jahre 1897 ins Tschechische übersetzt wurde.94 Die Perspektiven von Strobl
und Dyk differieren also in charakteristischer Weise.
13. Die Tschechen – pragmatische Perspektive – funktionale Grenze
Wie es scheint, war also die Absteckung von Unterschieden und Grenzen
zwischen den Nationen ein wichtiger zeitgenössischer Denkmechanismus.
Besonders galt das für deutsche nationalistische Milieus, aus deren Perspektive
Grenzen eine wichtige defensive Funktion hatten. Die tschechische Prager
Literatur thematisierte im Vergleich zu ihrem deutschen Pendant viel ausgeprägter
als die nationale die funktionale Gliederung der Stadt, auffällig häufig kam die
Sprache auf die historisch bedeutenden Stadtteilgrenzen, die nicht nur als
Mentalitätsgrenzen semantisiert wurden (was übrigens auch in der deutschen
Prager Literatur vorkam), sondern besonders auch als Grenzen des Handelns, der
Ausführung praktischer Verrichtungen, als Grenzen im kommunalen System.
So thematisierte z.B. der bereits mehrfach erwähnte Ignát Herrmann die
Schwierigkeiten, die die Wasserversorgung des unteren Teils von Vinohrady
(Weinberge) machte. Der nächstgelegene Brunnen befand sich in der Neustadt,
aber rechtlich besaßen die Vinohrader keinen Anspruch auf das Neustädter
Wasser. Solange sie sich dennoch aus der Neustadt mit Wasser versorgten, kam es
immer wieder zu kleinen Zwischenfällen und Provokationen seitens der
Neustädter. Ähnlich stellte Herrmann die sog. alimentäre Linie (die Akvise) oder
die Grenzfunktion der Brücken dar, die von der Einrichtung des Brückenzoll noch
94
LE BON, Duše davu, 1895.
131
stärker unterstrichen wurde.95 Die Brücke, die Alimentationslinie, die Entfernung,
das waren die faktischen Grenzen, die im kommunalen Raum wirksam waren.
Diese waren in der Stadt physisch gegenwärtig; sie zwangen dazu, Strategien zum
Umgang mit ihnen zu finden, sie entweder illegal zu umgehen oder legal zu
bezwingen, und in dieser Gestalt waren sie auch Gegenstand der Reflexion.
Einer der Gründe, aus denen sich in der tschechischen Literatur die diskursive
Praxis der ethnischen Abgrenzung nicht in demselben Maße durchsetzte wie in
der deutschen, war gerade die unterschiedliche quantitative Position beider
Gruppen und die dadurch unterschiedlich wahrgenommene und unterschiedlich
strukturierte soziale Interaktion mit der Stadt. Die offenkundige Mehrheitsposition
erlaubte den Tschechen, die Deutschen pauschal zu marginalisieren. Sie machte es
überflüssig, national definierte Mikroräume der Stadt auszumessen. Durch den
Mythos des slawischen Prag war die Stadt als Ganzes besetzt, und dadurch
entfielen die Gründe, sie ethnisch aufzugliedern. „Prag ist heute eine tschechische
Stadt, so sehr, dass sie tschechischer wohl nur in der Hussitenzeit war und direkt
danach“, schrieb z.B. 1903 die große tschechische Enzyklopädie „Ottův slovník
naučný“.96 Der entgegengesetzte, zur selben Zeit aufgekommene deutsche Mythos
war ausschließlich auf die Geschichte orientiert. Er ging von der These aus, dass
Prag eine alte deutsche Stadt und überhaupt die gesamte städtische Kultur der
böhmischen Länder als Errungenschaft der deutschen Kolonisation vom Ursprung
her deutsch sei. Für die Gegenwart folgten daraus alternative
Abgrenzungsstrategien.
Die Grenztopik spielte im Pragdiskurs der Jahrhundertwende eine
herausragende Rolle. Abgrenzung, Vermessung und Unterscheidung waren
virulente diskursive Praktiken mit starker sozialer Funktion. Übrigens wusste
bereits Georg Simmel, dass „die Grenze nicht eine räumliche Tatsache mit
soziologischen Wirkungen ist, sondern eine soziologische Tatsache, die sich
räumlich formt.“97 Als eine derartige soziale Institution besaß die Vorstellung von
Grenzen zwischen Tschechen und Deutschen drei Funktionen: eine normative,
eine regulative und eine kognitive. Die Grenze als internalisierte soziale
Institution regulierte die Beziehung zu den symbolischen Orten und normierte das
kulturelle Gedächtnis. Nicht zuletzt half sie, Orte und Gedächtnis überhaupt zu
identifizieren. Als kognitive Institution verlieh sie neuen Erfahrungen Sinn,
ermöglichte, Prag als bi- bzw. trinationale Stadt zu interpretieren und stellte den
Akteuren
der
Jahrhundertwende
einen
weitgehend
verlässlichen
Orientierungspunkt in den komplizierten und neurotischen sozialen Räumen der
Moderne und der modernen Großstadt zur Verfügung. All das ändert nichts an der
Tatsache, dass diese Grenzen spezifische kulturelle Konstrukte waren, genauso
wie die Unterschiede, auf die sie sich stützten.
95
96
97
HERRMANN, Bodří Pražané, 1922, [1886–1894], 282.
Praha [Prag], in: Ottův slovník naučný 20, 1903, 488.
SIMMEL, Soziologie des Raums, 1903, 141.
132
14. Grenzüberschreitung als Interferenzprozess
In dieser bedrohten binären Welt fehlte allerdings der Raum zur Thematisierung
von Erscheinungen, welche die heutige wissenschaftliche Terminologie als
Transfer, Austausch oder Interferenzen bezeichnet. Mehr Beispiele bietet der
zeitgenössische Diskurs zum Thema der Grenzüberschreitung, weil die Separation
weniger kompakt war, als die Nationalisten postulierten. Doch auch wenn die
Deutschen und Tschechen die „Grenze“ überschritten, persönliche Freundschaften
schlossen und einen gesellschaftlichen Verkehr pflegten, wurden dabei
Austauschprozesse nicht automatisch aktiviert, gerade weil es keine relevanten
Unterschiede gab. Erst die Identifizierung von Unterschieden in einem
bestimmten Diskurs ermöglicht aber, davon zu sprechen, dass innerhalb dieses
Diskurses ein Transfer stattfindet.. Unterschiede sind die Voraussetzung für
Transfer und wechselseitige Beeinflussung. Identische Entitäten können sich
logischerweise wechselseitig nichts übermitteln. Daraus folgt, dass der Mangel an
Unterschieden im Prager Diskus um 1900 auch einen Mangel an der
Repräsentationen von Interferenzen zur Konsequenz hatte.
Darstellungen, die solche Prozesse thematisierten, die wir heute als kulturelle
Interferenz bezeichnen würden, war die Zeit der Jahrhundertwende nicht
sonderlich gewogen. Beispielsweise revidierte man auch das ältere, zu seiner
Entstehungszeit kanonische Geschichtskonzept Palackýs, das eine solche
Dialektik der Unterschiede operationalisierte. Die Koexistenz der beiden Nationen
präsentierte Palacký als Quelle historischer Innovation und als Motor von
Veränderung. Aus der Perspektive der zeitgenössischen hegelianischen Dialektik
entstand durch die Mischung von zwei unterschiedlichen Elementen (des
Deutschen und des Slawischen) eine neue, dritte Qualität – das Böhmische.
In den Quellen wurden die Austauschprozesse im Vergleich mit Prozessen der
Segregation und Ausgrenzung zwar auffallend selten reflektiert. Wenn, dann
treten diese Überschreitungsprozesse aber doch auf einigen Ebenen in
Erscheinung, vom banalen Transfer einer einzelnen Kenntnis oder Erfahrung bis
hin zu tiefgreifenden geistigen Prozessen. Die Art der Beschreibung bzw. die
analytische Gründlichkeit, mit welcher der jeweilige Prozess betrachtet wurde,
hing ganz offenkundig vom diskursiven Kontext, eventuell sogar vom
literarischen Genre ab. Solche Referenzen unterstützten aber paradoxerweise die
Kultur des Unterscheidens, sie waren eine – unter Umständen auch nicht
beabsichtigte – Technik der Produktion von Unterschieden. So stellt sich z.B. die
Frage, was eigentlich die im historischen Roman „Mistr Kampanus“ (1909) von
Zikmund Winter reflektierte Tatsache bedeutet, dass die Tschechen im 17.
Jahrhundert die Kartoffel von den Deutschen übernommen haben. Einerseits geht
es gewiss um eine Aussage über Transferprozesse. Zugleich wird aber durch diese
Austauschvorstellung eine Alterität von Subjekten konstruiert, denn sie setzt
voraus, dass es zwei unterschiedliche Subjekte gibt: das eine, das die Kartoffeln
kennt, und das andere, das die Kartoffeln nicht kennt. Der Unterschied zwischen
diesen beiden Subjekten besteht gerade in ihrem jeweils umgekehrten Verhältnis
133
zu diesem Gebrauchsgut. Die Abgrenzung von Subjekten voneinander ist
einerseits die Voraussetzung des Transfers, andererseits ist der Transfer aber
zugleich ein Mittel der Identifikation von Unterschieden und der Konstruktion
von Alterität. Ausgrenzung wie auch Grenzüberschreitung sind durch das
gemeinsame Konstrukt der Grenze eng miteinander verbunden. Die
Alteritätsvorstellung ist beiden immanent – allerdings mit unterschiedlicher
Akzentsetzung.
15. Entstehung einer neuen Qualität als Interferenzprozess
Es gibt aber natürlich noch eine weitere Ebene der Reflexion der Prozesse, die
von der Situation der Pluri- bzw. Multiethnizität stimuliert werden: Die
Multiethnizität wird in einigen Texten aus der Zeit um 1900 auch als Umstand
betrachtet, der eine neue Qualität produziert – auf der Makroebene Mitteleuropas
ebenso wie auf der Mikroebene der Stadt oder des Stadtviertels. Wie erwähnt,
wurde Mitteleuropa im damaligen geographischen wie auch im historischkulturellen Diskurs als eine Region eigener Art definiert: „Westeuropäisches
Relief und osteuropäisches Klima und organisches Leben liegen hier übereinander
und verschränken sich,“98 schrieb Erwin Hanslik. Die Vorstellung von Berührung,
Durchdringung und Vermischung von Elementen unterschiedlicher Provenienz
war für die Wahrnehmung dieser Region um die Jahrhundertwende konstitutiv.
Überlegungen über solche Interferenzprozesse, welche die kulturelle
Heterogenität als Ausgangspunkt einer qualitativ neuen Wirklichkeit sahen, treten
allerdings auf der böhmischen Landes- oder der Prager Lokalebene relativ selten
in Erscheinung. Dennoch gab es einzelne Reflexionen dieser Art. So führte z.B.
Fritz Mauthner sein Interesse für Sprache sowie seine Sprachphilosophie
insgesamt auf die Erfahrung mit der raumgeprägten und raumprägenden
Mehrsprachlichkeit zurück.99 Durch die Erfahrung der Multilingualität und
Multiethnizität wurden, so die zeitgenössischen Texte, einige theoretische
Überlegungen katalysiert, die im monoethnischen Raum nicht „so
selbstverständlich“ entstehen konnten. Meist waren sie aber in ihrer reflektierten
Gestalt von memoirenartigem Charakter. So schrieb ähnlich wie Mauthner auch
der gebürtige Prager Max Brod, das Leben um 1900 stellte die Bewohner „schon
durch das Problem der beiden Sprachen vor Entscheidungen in Fragen der Kultur,
die den Bewohnern eines einsprachigen Milieus erspart bleiben.“100
Heterogenität kann also einen Schlüssel zum Verständnis eines Gedankens,
eines Autors, eines sozialen Mechanismus etc. liefern. Solche Referenzen waren
98
HANSLIK, Biała, 1909, 2.
MAUTHNER, Prager Jugendjahre, 1969 [1918], 48: „Ich habe vorhin darauf hingewiesen, daß
ich als Jude im zweisprachigen Böhmen wie «prädestiniert» war [...], der Sprache meine
Aufmerksamkeit zuzuwenden [...] Jawohl, ein Sprachphilosoph konnte unter solchen
psychologischen Einflüssen heranwachsen.“
100
BROD, Streitbares Leben, 1969 [1960], 9.
99
134
aber eher ungewöhnlich. Ganz im Gegenteil, der Diskurs der Jahrhundertwende
wurde nicht nur in Böhmen, sondern europaweit von dem Kult der Unklarheit und
Unverständlichkeit beherrscht. Daraus resultierte z.B. auch die häufige
Imagination der Stadt als Labyrinth. Die Epoche um 1900 wurde auf der Ebene
der Werte wie auch auf der Ebene der Identitäten generell als eine Grenz- oder
Übergangsepoche diagnostiziert, und die Denkfigur der Grenze diente mit all der
semantischen Ambivalenz des Begriffes als Orientierungshilfe oder kognitives
Schema in der komplizierten Welt der Moderne.
16. Am Nullpunkt. Schlussbemerkungen
Die kulturellen Interaktionsprozesse, die an der Gestaltung und Wandlung des
Prager Habitus teilhatten und aus dem Bestehen oder Erleben von Alterität
hervorgingen, sind als langfristige historische Prozesse zu betrachten, die sich
unter übergreifenden Rahmenbedingungen vollzogen. Darum können sie vom
frühen Mittelalter an in den Kategorien der longue durée beobachtet werden.
Wenn wir in diesem Sinne auch die Interaktionen auf der Ebene ethnischer oder
nationalen Entitäten als Interferenzprozesse verstehen, dann ist zu
berücksichtigen, dass die Unterschiede zwischen Ethnien oder Nationen, auf
denen eventuelle Interferenzprozesse basieren könnten, in vielerlei Hinsicht selbst
Produkte sozial eingebetteter intellektueller Operationen waren, die mit der
Herausbildung und Durchsetzung kollektiver Identitäten zusammenhingen. Sie
gingen dem Bewusstsein des Andersseins also nicht voraus, sondern sie
resultierten aus ihm. Die Unterschiede waren demzufolge nicht die unmittelbare
Ursache für die Herausbildung der nationalen Identität, sondern in vielen
Hinsichten paradoxerweise ihre Konsequenz. Diese Konstruiertheit der
Differenzen lässt sich paradigmatisch gerade am Beispiel jener Zeit
demonstrieren, in der der Diskurs der ethnischen Alterität eskalierte, jene Zeit, da
die nationale Ideologie eine ethnische Alterität voraussetzte und sie gleichzeitig
mit diskursiven Mitteln produzierte.
Rein definitorisch setzt der Begriff der Interferenz die Existenz zweier oder
mehrerer Entitäten voraus, zwischen denen Interaktionsprozesse stattfinden
können. Wie diese Entitäten bestimmt werden, auf Grund welcher Kriterien sie
sich unterscheiden und welche Unterschiede zwischen ihnen thematisiert werden,
hängt jedoch von historisch wandelbaren diskursiven Prämissen ab.
Ungeachtet des gnoseologisch problematischen Charakters von Differenzen
als Instrumenten kultursoziologischer Analyse sind jedoch Differenzen und
Prozesse, die aus dem Konzept der Alterität hervorgehen, ein wesentliches
soziales Faktum insofern, als sie bedeutende gesellschaftliche Konsequenzen
zeitigen. Der diskursive Charakter der Differenzen verlangt es, den Blick gerade
auf die Mechanismen der Produktion, der Thematisierung und des
gesellschaftlichen Funktionierens von Alterität zu richten.
135
Erklärt man kulturelle Interferenzen mit der Metapher zweier (oder mehrerer)
ins Wasser geworfener Steine, um die sich in Kreisen „kulturelle“ Wellen
ausbreiten, um sich schließlich gegenseitig zu durchdringen und miteinander eine
qualitativ neue „Kräuselung“ zu erzeugen, dann muss man für das Prag an der
Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert diese Metapher spezifizieren. Die Tschechen
und die Deutschen waren keine zwei ins Wasser geworfenen Steine, die sich
einander beeinflussende kulturelle Wellen geschlagen hätten. Eher bildeten sie
gemeinsam jene kulturelle Wasseroberfläche, in die plötzlich wie ein Stein die
Nationalideologie hineingeworfen wurde, welche die geruhsame, wohl latent
heterogene, aber immer noch ziemlich indifferente Gesellschaft ordentlich
aufwühlte, wobei sie auf eine durchaus resistente Böhmen-Identität stieß. Diese
neue Nationalideologie aktivierte ein Prinzip, mit dem die Gesellschaft historisch
nicht gerechnet hatte und setzte neue Prozesse sozialer Grenzziehungen in Gang.
Unter dem Aspekt kultureller Interferenzprozesse gesehen handelte es sich
also um eine Art Nullpunkt, wo nicht Teilprozesse eines kulturellen Austausches
von primärer Bedeutung waren, sondern vor allem der Prozess einer
komplementären „Alterisation“ der Gesellschaft, ein Ausdifferenzierungsprozess
also, der zur Herausbildung verschiedener Nationalgesellschaften und ihrer
jeweiligen kulturellen Gedächtnisse führte, die freilich in der weiteren
Entwicklung dem Diskurs der Interferenzen ein neues Potential eröffneten. Und
unter diesen spezifischen Umständen und mit diesen begrifflichen Nuancierungen
ist auch die proklamierte Prager Multikulturalität zu verstehen.
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143
Borbála Zsuzsanna Török
Die Kunst, provinziell zu sein: Siebenbürgische Landeskunde
als Wissenschaft und literarische Fiktion1
[Suchten wir nach einer Lösung, so sollte noch der Geist des Ortes
angesprochen sein. Schauen wir uns z.B. die ältesten Städte Siebenbürgens
an. Seit ihre Bewohner ausgewandert sind, herrscht zwischen ihren Wänden
Unordnung, Zerfall und Verderben. Wo ist die Pedanterie und der Fleiß der
Zigeuner hin? Von den Hauswänden fällt der Putz, Seiche fließt auf den mit
Kopfsteinpflaster bedeckten Gassen, die hübschen Innenhöfe werden von
Schweinen aufgewühlt. Auf einmal erscheint aber ein neuer Eisenzaun,
ungeschickt groß und stilbrechend, doch man hat die Konturen der alten
Bastei aus Blech hinausgeschnitten und darin eingeschweißt. Der fremde
Bewohner erwacht, wird neugierig auf die Vergangenheit der Stadt, beginnt
sie als eigene anzusehen und verziert die Plätze, baut den Uhrenturm den alten
Holzschnitten entsprechend neu auf, restauriert die mit Dach versehene
Stiege, nimmt die Kirche und den Friedhof wieder in Besitz.]
Zsolt Láng, Kesselgulasch2
1. Einführung
Dieses von dem zeitgenössischen siebenbürgischen Schriftsteller Zsolt Láng (geb.
1958) stammende Zitat evoziert den kulturellen Raum Siebenbürgen und stellt
dessen ethnokulturelle Klischees zugleich scherzhaft in Frage. Die verschiedenen
ethnischen Etikettierungen werden von ihren Referenten gelöst und bisweilen in
eine neue Ordnung eingefügt. Der Leser muss aus Attributen herauslesen, wer
hier wer ist. Die „Zigeuner“ des Textes sind städtisch, ordentlich und pedantisch,
und die Erwartung des unvorbereiteten Lesers wird durch die Umkehrung der
bekannten Klischees irritiert. Damit lädt uns Láng ein, über die Veränderbarkeit
traditioneller ethnischer Charakterologien nachzudenken. Das ist eine
grundsätzlich optimistische Botschaft: Im historischen Prozess ist das Projekt der
Zivilisation unabschließbar und integrativ – auch für die sozial Ausgeschlossenen.
Die verlassenen Siedlungen der ehemals wohlhabenden Siebenbürger Sachsen
1
Diese Studie ist die überarbeitete und erweiterte Fassung eines früheren Aufsatzes, der zuerst
auf englisch veröffentlicht wurde (TÖRÖK, Locating Transylvanians, 2012). Für gedankliche und
materielle Unterstützung danke ich den Mitgliedern des Projektes „Reflexion kultureller
Interferenzräume. Beispiele aus Ostmitteleuropa im 20. Jahrhundert“ am GWZO der Universität
Leipzig sowie dem Zukunftskolleg an der Universität Konstanz.
2
LÁNG, A kondér = Kesselgulasch, 2006, 65.
144
laden neue Bewohner aus den ärmsten der siebenbürgischen Unterschichten ein,
die alte Architektur und sogar die alte Geschichte neu zu beleben und dieser eine
neue Deutung zu geben.
Mein Beitrag befasst sich mit der Behandlung der Multiethnizität in der
Erzählliteratur Siebenbürgens. Das Thema wurde unlängst in der „History of
Literary Cultures in East-Central Europe“ diskutiert. Dieses Sammelwerk stellt
einen einzigartigen Versuch dar, die divergierenden Traditionen der modernen
Literatur vom späten achtzehnten bis zum Ende des zwanzigsten Jahrhunderts in
einem einzigen interpretativen Rahmen zu betrachten. Studien mit einer breiteren
vergleichenden Spannweite fokussieren traditionell entweder auf kürzere
historische Epochen wie z.B. die Spätromantik oder die Zwischenkriegszeit.3 Wie
Mitherausgeber John Neubauer bemerkt, sind weder die historischen noch die
sozialen Repräsentationen des Subjekts „wahrheitsgetreue“ Darstellungen ‒
ebensowenig wie die ähnlich voreingenommenen Nationalhistoriographien, ‒
vielmehr enthüllen sie „conflicting perceptions and desires oft the [ethnic]
communities that generated them“.4 Die Herausforderung einer umfassenden
Literaturgeschichte der Provinz besteht neben deren linguistischer Diversität vor
allem in den verschiedenen historischen und soziologischen Interessen von
Autoren mit unterschiedlichem nationalen Hintergrund. Eine umfassende
Darstellung sollte verschiedene Zeitebenen teleskopartig ineinanderschieben und
„superimpose upon each other various ethnic perceptions of space“.5 Dies bleibt
eine ungelöste Aufgabe, obwohl Siebenbürgen einen Ruf als multiethnische
Provinz genießt. Trotz vieler sozialer und historischer Untersuchungen gab es
bislang überraschend wenige Versuche, die parallelen nationalen Literaturen der
Region in ihrer wechselseitigen Dynamik oder, um einen gängigen Begriff zu
benutzen, in ihrer Verflechtung zu fassen.6
Eine längere geschichtliche Perspektive erlaubt eine differenziertere Sicht auf
Nationalität als kulturelles Konstrukt und politisches Programm seit dem späten
18. bis zum 20. Jahrhundert. Diese Geschichte schließt in Osteuropa
Kommunismus und kalten Krieg und noch die darauffolgenden Jahrzehnte ein.
Ein genauerer Blick auf die Literatur- und Wissenschaftstradition Siebenbürgens
bringt wertvolle Einsichten in die Dynamik sich überschneidender Wissensfelder,
die in der Zeit der späten Aufklärung aufkamen, im Zeitalter des Nationalismus
ausreiften und im 20. Jahrhundert in eine Krise gerieten.7 Mein Beitrag
beschäftigt sich mit zwei kognitiven Feldern, welche die regionale Gesellschaft in
der Moderne abbildeten. Das eine ist die literarische Prosa; ich werde ohne
3
History of the Literary Cultures, 2004‒2007. Einen vergleichenden Überblick bietet Das Bild
des anderen, 1998; zur wechselseitigen ungarisch-rumänischen Wahrnehmung KŐPECZI,
Nemzetképkutatás, 1995, 37; MITU/ MITU, Magyaren, 1998, 67‒83.
4
NEUBAUER u.a., Transylvania’s Literary Cultures, 2006, 256.
5
Ebd.
6
Zum Begriff der „verflochtenen Geschichte“ ESPAGNE/ WERNER, Construction, 1987; in
Bezug auf die Historiographie Siebenbürgens JANOWSKI/ IORDACHI/ TRENCSÉNYI, Why Bother,
2005.
7
NEUBAUER, Introduction, 2007, 346.
145
Anspruch auf Vollständigkeit rumänische, ungarische und siebenbürgischsächsische Beispiele einbeziehen. Das zweite Gebiet ist die für die deutschen
Leser vertraute Landeskunde (ung. honismeret), eine der ältesten
wissenschaftlichen Disziplinen der Moderne. Beide entstanden dank der
Bildungsanstrengungen der späten Aufklärung, welche die Basis der modernen
Sozialwissenschaften und Literatur in den siebenbürgischen Landessprachen
bildete. Es ist nicht verwunderlich, dass prominente Schriftsteller der Region oft
gleichzeitig auch bekannte Landeskundler waren – heute würde man sie als
Historiker, Linguisten und Ethnographen bezeichnen ‒ und die damals neue
deskriptive Statistik ihres „Vaterlandes“ Siebenbürgen betrieben.
Ich habe bereits an anderer Stelle über die Landeskunde Siebenbürgens als
Wissenschaftsdisziplin der Aufklärung geschrieben.8 Bisher wurde sie in
Rumänien und Ungarn als Wissensbereich mit eigenständiger Tradition kaum
analysiert, tatsächlich aber waren gelehrte Werke zum Vaterland im langen 19.
Jahrhundert sehr populär. In den deutschsprachigen Gebieten Europas, also auch
im Fürstentum Siebenbürgen lieferte die Landeskunde die erste umfassende
Darstellung der regionalen Gesellschaft, die zur Basis für künftige kanonisierte
nationale Narrative wurde und ein reiches Reservoir für Identitätskonstruktionen
bildete. Regionalliteratur und Landeskunde wiesen in der Aufklärung viele
Gemeinsamkeiten hinsichtlich des social mapping auf, umso mehr, als beide
Genres stabile Entsprechungen zwischen Ethnizität, Religion, sozialer Klasse und
Moral etablierten.9 Als ich landeskundliche Darstellungen im Lichte der
literarischen Prosa und umgekehrt zu lesen begann, wurde mir die langwährende
Osmose durch die Grenzen verschiedener kognitiver Felder (Fiktion und
Wissenschaft) hindurch bewusst. In diesem Lichte erkannte ich, wie die
literarische Prosa über die Bevölkerung in Siebenbürgen stilisierte Bilder und
Allegorien des sozialen Umfeldes kreierte, die auf die Beschreibungen der
Landeskunde zurückverfolgt werden können. Solch eine Entleihung von
Narrativen und sozialen Klassifikationen war besonders am Ende des 18. und im
19. Jahrhundert offensichtlich, zur Entstehungszeit der nationalsprachlichen
Erzählgenres, als die Autoren von wissenschaftlichen Abhandlungen und
literarischen Werken oft identisch waren. Derartige Entleihungen werden bis in
unsere Tage vorgenommen; sie bewahren damit eine Archäologie sozialer
Visionen und Traditionen in einem Zeitalter radikaler Transformation.
Zunächst werde ich die Besonderheiten des Blicks10 der aufklärerischen
Landeskunde in Siebenbürgen am Ende des 18. Jahrhunderts vorstellen. Ähnlich
wie im Fall der Staatenkunde diente hier das wissenschaftliche Bestreben nach
Kategorisierung und Narration sozialer Differenzen dem pragmatischen Ziel der
Gouvernementalität.11 Die Landeskunde entwarf ein hierarchisiertes Bild der
8
TÖRÖK, Learned Societies, 2009; TÖRÖK, Patriotic Scholarship, 2010; TÖRÖK, Ethnicity,
2011.
9
WOLFF, Inventing, 1994; TODOROVA, Imagining, 1997; daneben besonders auch Creating the
Other, 2003.
10
BÖDEKER, On the Origins, 2001.
11
VÁ́ RI, Functions, 2003, 39.
146
regionalen Gesellschaft, in dem den verschiedenen „Nationalitäten“ und
Konfessionen gemäß dem ihnen unterstellten Fortschrittlichkeitsgrad bestimmte
Rollen zugewiesen wurden. In dieser Hierarchie rangierten deutsche und
ungarische Eliten an der Spitze, während Rumänen („Wallachen“), Juden und vor
allem Roma als unzivilisierte Wilde dargestellt wurden. Diese Hierarchie wurde
fortan wissenschaftlichen oder literarischen Erzählungen von der regionalen
Gesellschaft zugrundegelegt, und zwar bis zum Ausgang eines sehr langen 19.
Jahrhunderts, den ich hier an das Ende des Zweiten Weltkrieges legen möchte.
Literarische Fiktion und Wissenschaft zu trennen, ist für Schriften aus dem
18. und frühen 19. Jahrhundert nicht immer eine leichte Aufgabe. Wie auch
andernorts in Ost- und Mitteleuropa, waren in Siebenbürgen die Grenzen
zwischen den Genres nicht klar gezogen. Eine weitere Gemeinsamkeit war der
epistemologische Anspruch, den sich die Autoren im Selbstverständnis ihrer
„kulturellen Mission“ stellten, d.h. die Aufgabe, kritische Fähigkeiten zu
entwickeln, historisches Bewusstsein zu stimulieren und das jeweilige nationale
Lesepublikum zu vergrößern. Im zweiten Abschnitt werde ich diese
Durchdringungen anhand von Ion Budai-Deleanus (ca. 1760‒1820) „Ţiganiada“
(Ziganiade) illustrieren.12 Dieses herausragende Stück führte auch einige der
Figuren der späteren Populärliteratur Siebenbürgens ein: den unzivilisierten
rumänischen (Klein-) Bauern und den „wilden“ (weil staatenlosen) Roma.
Im 19. Jahrhundert wurde die Landeskunde in national ausgerichtete
Traditionen in den Sozial- und Geisteswissenschaften zergliedert, die in
sprachlich getrennten Gelehrtengesellschaften institutionalisiert waren. Der
Verein für Siebenbürgische Landeskunde (1842‒1947, in Deutschland 1962 neu
gegründet als Arbeitskreis für Siebenbürgische Landeskunde e.V. Heidelberg), die
ungarische Siebenbürgische Museumsgesellschaft (Erdélyi Múzeum Egyesület,
1857‒1949, neugegründet 1990) und die Siebenbürgische Vereinigung für
Rumänische Literatur und Kultur des Rumänischen Volkes (Asociația
Transilvană pentru Literatura Română şi Cultura Poporului Român, ASTRA,
1861‒1950, neugegründet 1990) förderten konkurrierende und sich gegenseitig
ausschließende nationale Narrative über Geschichte und Gesellschaft
Siebenbürgens. Der Grund dieses Spannungsverhältnisses kann durch den faktisch
national bestimmten Gegenstandsbereich der Landeskunde selbst erklärt werden,
aber auch durch ihre patriarchale Sozialtaxonomie, in der den sozialen Eliten die
zivilisatorische Rolle zugeschrieben und die übrigen Gruppen zu Objekten der
Zivilisierung gemacht wurden.
Ohne dieses Spannungsverhältnis sind die diskursiven Positionen der späteren
national orientierten Autoren nicht zu verstehen. Beispiele aus der
Literaturtradition des 19. Jahrhunderts, die bis in die Zeit nach dem Zweiten
Weltkrieg reichen, illustrieren im nächsten Abschnitt die Stabilität der
traditionellen Weltsicht. Die narrative Literatur dieser Zeit konnte kritisch sein,
wie die des rumänischen Romanciers Liviu Rebreanu (1885‒1944), der das
Tableau einer ethnisch fragmentierten Gesellschaft im Siebenbürgen des Ersten
12
BUDAI-DELEANU, Ţiganiada, 1875‒1877 [1999].
147
Weltkriegs entwarf. Sie konnte aber auch apologetisch sein, wie die Romane
Heinrich Zillichs (1898‒1988), in der Zwischenkriegszeit zur Verteidigung der
siebenbürgisch-sächsischen Kulturhegemonie und zur Rechtfertigung deutscher
imperialistischer Ansprüche in der Region geschrieben. Die Literatur sorgte für
eine immer stärkere Ausdifferenzierung des Bildes von den ethnosozialen
Hierarchien der Provinz, sie überwand das Paradigma der kulturellen Hierarchie
aber nicht, wie im dritten Abschnitt über die siebenbürgische Landeskunde und
Prosa im langen 19. Jahrhundert dargelegt. Ein besonderer Abschnitt wird den
wissenschaftlichen Hintergrund der populären Erzählung von Dracula
untersuchen und darlegen, dass Bram Stokers (1847‒1912) Logik der
„Orientalisierung“ von Europas geographischen Rändern den landeskundlichen
Projektionen des ethnisch „Anderen“ ähnelte und dieser Autor sichtlich Ansätze
der regionalen Wissenschaft bei der Beschreibung Siebenbürgens als
metaphorischen Raum benutzte.
Besonders in der realistischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts
bedeuteten solche Kategorisierungen die symbolische Aneignung von Territorien
oder Sprachräumen über politische Grenzen hinweg. Die genannten Hierarchien
waren überraschend dauerhaft und wurden erst durch die kommunistischen
gesellschaftspolitischen Systeme und ihre Sozialpolitik unterlaufen. In den 1970er
und 1980er Jahren hatte die literarische Fiktion eine Vorreiterrolle bei der
Darstellung der tiefgreifenden Umformung der Gesellschaft und ihrer Weltsicht,
während die politisch angepassten Geschichts- und Sozialwissenschaften beflissen
den Nationalkommunismus legitimierten. Die Landeskunde hörte offiziell auf zu
bestehen, als alle siebenbürgischen Gelehrtengesellschaften, die die regionalen
Wissenschaften förderten, im sozialistischen Rumänien aufgelöst wurden.
Während der 1962 als Arbeitskreis für Siebenbürgische Landeskunde in
Heidelberg und Gundelsheim am Neckar neu gegründete Landeskundeverein in
der Emigration fortbestand, konnten seine rumänischen und ungarischen Pendants
erst nach 1989 wiederbelebt werden. Stellt man die spätavantgardistische Literatur
dieser Zeit den traditionellen Texte der Landeskunde und des honismeret
gegenüber, wird der ästhetische und politische Bruch zwischen den neuen
Autoren und jenen des alten Regimes besonders auffällig.
Die nationale Stoßrichtung der Geistes- und Sozialwissenschaften wurde nach
dem Fall des Kommunismus ernsthaft in Frage gestellt und relativiert. Wie
spiegelte sich das in der Literatur wider? Interessanterweise waren
siebenbürgische Romane anscheinend schon vor den 1990er Jahren dabei, die
sozialen Klischees hinter sich zu lassen. Sie bezogen sich auf die Umbrüche des
20. Jahrhunderts, die Verschiebung der politischen Grenzen, durch die
Siebenbürgen nach dem Ersten Weltkrieg von Ungarn an Rumänien überging, die
politische Reorientierung in der Zwischenkriegszeit, den Rechts- und
Linksextremismus, die Verfolgungen und Leiden während des Zweiten
Weltkriegs und schließlich die Zerstörung der alten patriarchalen Welt
Siebenbürgens in der sowjetkommunistischen Nachkriegszeit. Die Emigration
nationaler und religiöser Minderheiten, allen voran von Deutschen und Juden, ließ
Skepsis gegenüber der Stabilität nationaler Identität aufkommen.
148
Die besten literarischen Werke dieser Zeit setzten auch die teleologischen
Geschichtsvisionen der Aufklärung außer Kraft. Hatten Autoren des 18. und
frühen 19. Jahrhunderts wie Budai-Deleanu noch geglaubt, dass soziale
Ungleichheiten durch den zivilisatorischen Fortschritt womöglich verschwinden
würden, so ist diese Hoffnung in der Prosa der 1980er und frühen 1990er Jahre
erloschen. Im letzten Abschnitt werde ich anhand des Romans „Sinistra körzet“
(Der Sinistra-Bezirk) von Ádám Bodor (geb. 1936) zeigen, wie eine
posthistorische Gesellschaft dargestellt wird. In diesem Buch ist der alte
Bildungseifer dem Skeptizismus gewichen, und die nationalen Merkmale sind
entweder zu blassen Erinnerungen an die Vergangenheit oder zu nur noch
schlecht funktionierenden Codes geworden.13
Die Unveränderlichkeit von Nationalität infrage zu stellen und auf ihr Wesen
als kulturelles und politisches Konstrukt zu verweisen, wird zu einem wichtigen
Merkmal der historischen und metafiktionalen Prosa des früheren Ostblock nach
1989,14 auch in Siebenbürgen. Diese Haltung geht Hand in Hand mit der
Integration der Region in die internationale Wissenschaftslandschaft. Allerdings
kamen in dieser Zeit nationale Standpunkte ebenso wie paternalistische nationale
Hierarchien wieder zum Vorschein. Letztere sind besonders deutlich in dem
inzwischen zur Trilogie ausgewachsenen nostalgischen Heimatroman „Der
geköpfte Hahn“ von Eginald Schlattner (geb. 1933), der das Thema des letzten
Abschnittes sein wird.
2. Die Wilden im eigenen Land: Darstellungen der regionalen
Gesellschaft in der Landeskunde der Aufklärung
Nachdem das Fürstentum Siebenbürgen gegen Ende des 17. Jahrhunderts von
osmanischer Oberhoheit befreit und der Habsburgermonarchie einverleibt worden
war, behielt es seinen Sonderstatus. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts blieb
Siebenbürgen unter der ständisch-korporativen Kontrolle des magyarischem
Adels, der ungarischsprachigen Szekler und der Siebenbürger Sachsen. Diese
sogenannten „adligen Nationen“ waren ethnolinguistisch und konfessionell
definiert. Die siebenbürgischen Bauern standen unabhängig von ihrem
sprachlichen und konfessionellen Hintergrund in der gesellschaftlichen Hierarchie
ganz unten, besaßen keine korporativen politischen Rechte und waren oft sogar
Leibeigene. Die aufgeklärten Reformen der Habsburger Herrscher des 18.
Jahrhunderts zielten deshalb darauf ab, die Lage zu verbessern, vor allem
diejenige der griechisch-orthodoxen und griechisch-katholischen Rumänen. Die
Reformen verfolgten im Allgemeinen das Ziel, in der ökonomisch an den Rand
13
BODOR, Sinistra körzet; 1992; dt. hier nach der Ausgabe BODOR, Schutzgebiet Sinistra, 1994.
Die Aufhebung der traditionellen kollektiven Identität infolge von historischen Traumata oder
Emigration ist auch Thema vieler siebenbürgisch-sächsischer Autoren, z.B. SCHLESAK,
Vaterlandstage, 1986; es findet sich auch in URSU, Asediul Vienei, 2007.
14
LUKIĆ, Recent historical novels, 2006.
149
gedrängten Provinz den Lebensstandard zu heben und die Volksbildung zu
verbessern.
Als um 1790 die theresianischen und josephischen Reformen an ihr Ende
kamen, wurden erstmals auch in Siebenbürgen die Umrisse einer gelehrten
Geselligkeit sichtbar; Freimaurerzirkel, Lesegesellschaften und gelehrte
Zeitschriften förderten das Aufkommen von deutsch- (also siebenbürgischsächisch-), magyarisch- und rumänischsprachigen Öffentlichkeiten. In den
Publikationen verbanden sich wissenschaftliche Unternehmungen mit viel
patriotischem Eifer. Diese Presse war im konkretesten Sinn des Wortes
provinziell: Sie opponierte gegen die kulturelle Dominanz der österreichischen
Metropole, befürwortete die empirische Materialsammlung im Sinne des
Universalgelehrtentums und mittels regionaler Gelehrtennetzwerke, sprach sich
vorsichtig für Aufklärung und Fortschritt aus und verteidigte die regionalen
Privilegien und korporativen Rechte.15
Ein Wesenszug der siebenbürgischen gelehrten Öffentlichkeit, darin anderen
östlichen Regionen der Habsburgermonarchie ähnlich, war ihre sprachliche
Aufgliederung. Das Fürstentum zeichnete sich durch große soziale
Vielgestaltigkeit aus, in der die Unterschiede zwischen Eliten und
unterprivilegierten Schichten durch ethnokulturelle und konfessionelle
Trennlinien und konfligierende politische Loyalitäten verschärft wurden. Die
Provinz war gleichsam Satellit gleich mehrerer kultureller Metropolen, nämlich
der Reichshauptstadt Wien, des aufsteigenden Kultur- und Verwaltungszentrums
Pest und der deutschen Universitätsstädte Jena, Dresden, Weimar und Göttingen,
in denen die protestantische Jugend aus Siebenbürgen ihre akademische
Ausbildung erhielt. Angehende Akademiker aus Siebenbürgen studierten die v.a.
auf den Rechtswissenschaften und der Geschichte aufbauenden deutschen
Staatswissenschaften bei berühmten Professoren wie August Ludwig Schlözer
(1735‒1809). Daraus gingen zahlreiche Publikationen zur Statistik, Geschichte
und anderen „nützlichen“ Fächern in Form von Handbüchern und gelehrten
Journalen hervor. Es enstand ein neuer Gelehrtentypus, der sich mit den
brennendsten Forschungsfragen seiner Zeit befasste und sich patriotisch für die
Wohlfart seiner Heimat engagierte. Diese Intellektuellen machten sich eine
Haltung zueigen, die aus dem Europa der Aufklärung bekannt war, nämlich eine
kritische Einschätzung der „Verbesserung“ ihres Vaterlandes und seiner
Einwohner, die sie mit den zivilisierten und wohlgebildeten Gesellschaften
verglichen, die sie während ihrer akademischen Wanderschaft kennengelernt
hatten. Solche Vergleiche mündeten oft in sprießende ethnokulturelle (bzw.
nationale) Stereotype bei der Klassifizierung der eigenen siebenbürgischen
Gesellschaft. Was dem politisch sensibilisierten Leser von heute als krasse
Herausstellung des „Fremden“ und „Anderen“ vorkommt, war in der Tat nicht nur
typisch für Schmähschriften von außerhalb der Region, sondern wurde auch von
aus der Region selbst stammenden Wissenschaftlern im Ergebnis ihres Vergleichs
15
ROCHE, Le siècle, 1989; BROCKLISS, Calvet’s Web, 2002; zeitgenössisch dazu NEUGEBOREN,
Über die Lage, 1790.
150
der Verhältnisse und politischen Traditionen Siebenbürgens mit anderen Regionen
so formuliert.16
Die deskriptive Statistik war ebenso wie ihre regionale Variante, die
Landeskunde, Teil der Staatswissenschaften und eine praxisorientierte, auf Lehre
und Verwaltung ausgerichtete Disziplin. Ihr Ziel war die systematische
Beschreibung des Staates oder einer seiner politisch-administrativen Einheiten.
Sie ging von der Erfassung geographischer Gegebenheiten aus, schloss detaillierte
Beschreibungen der Bevölkerung („Land und Leute“) ein und erfasste die
gesetzlichen, administrativen, ökonomischen, militärischen und kulturellen
Gegebenheiten des Staatsgebiets.17 Charakteristisch für diese Darstellungsform
war die Klassifikation der lokalen Gesellschaft nach Sprache, Religion, ethnischer
Abstammung, nach Sitten und Gebräuchen sowie nach ihrer Zivilisationsstufe.
Bei Statistiken der Aufklärung fällt die Kategorisierung der Bevölkerung anhand
ihres Bildungsniveaus und ihrer sogenannten „Stufe der Cultur“ auf. In den
Staatswissenschaften der Habsburgermonarchie überdauerten zudem ältere
Formen von ethnokultureller Charakterologie, die eine der Quellen der nationalen
Stereotypie war.18
Ein solches Klassifikationssystem wurde vor allem von Martin Schwartner
(1759‒1823) aufgestellt, Professor für Diplomatie an der Universität von Pest.
Ähnlich wie August Ludwig Schlözer, Professor für Geschichte und Statistik in
Göttingen, verwandte Schwartner die vergleichende Methode der
Völkerbeschreibung oder Ethnographie, um eine hierarchische Taxonomie der
Völker und ethnisch definierter Kulturen zu entwerfen.19 Schwartner gliederte das
Volk des Königreichs Ungarn nach der Sprache. Demnach waren Ungarn,
Slawen, Deutsche und „Wallachen“ (d.h. Rumänen) seine statistisch signifikanten
„Hauptnationen“, die von den kleineren „Nebenvölkern“ zu unterscheiden waren,
wie Armeniern, „Zigeunern“, Juden, Makedoniern und anderen.20 Das Wort
„Nation“ wurde hier im Sinne einer Statusgruppe verwendet, die nicht nur durch
ihre Konfession und Stellung im politischen System, sondern vor allem durch
gemeinsame Sprache, Geschichte und ihren vermeintlichen Zivilisationsgrad
definiert war. Das kulturelle Niveau wurde in Abhängigkeit von der Eignung der
Nationalsprache für die wissenschaftliche Kommunikation bestimmt. Dieses
hierarchische Modell beeinflusste die späteren Nationalhistoriographien der
Region ebenso wie die gelehrte und künstlerische Tätigkeit insgesamt; die
deutschsprachige Expertengesellschaft hob es in den Rang eines
Deutungsmusters.21
Innerhalb der ersten Kategorie gebührt den sogenannten alten oder
ursprünglichen Ungarn ein Ehrenplatz, wenn auch Schwartner einräumt, dass ihre
16
BALÁZS, A Magyar jozefinisták, 1963; POÓR, Schlözer, 1989; über die Genese der
kollektiven Identität der Siebenbürger Rumänen MITU, National Identity, 2001.
17
LINDENFELD, Practical Imagination, 1997, 39f.; BÖDEKER, On the Origins, 172.
18
Wie Vári feststellt, war dies keine neue Erfindung: VÁRI, Functions, 2003.
19
TÖRÖK, Ethnizität, [im Druck].
20
SCHWARTNER, Statistik, 1809‒1811.
21
Ebd., Bd. 1, 103.
151
genaue Anzahl mangels Sprachenstatistiken nicht angegeben werden könne. Dies
sind die ungarisch sprechenden „Asiaten“, die unter ihrem Stammesfürsten Arpad
das Karpatenbecken besiedelten. In ihrem Bild vereinen sich die diametral
entgegengesetzten Charakteristika der asiatischen Nomaden und der
„Staatsklugheit“, die darin besteht, sesshaft zu werden und einen Staat zu
gründen. Die Deutschen sind eine weitere „Hauptnation“. Die Siebenbürger
Sachsen und die deutsch-lutherischen Bewohner der Zips werden dem
historiographischen Stereotyp entsprechend als fleißig und fromm hingestellt;
selbst ein angeblicher „Kosmopolitismus“ wird ihnen zugesprochen, wie er ihrer
Rolle als Kolonisatoren und Zivilisatoren „von Amerika bis Indien“ zugrunde
gelegen habe.22
Die Wallachen waren Schwartner zufolge zwar zahlreich, aber nach der
Wertehierarchie der Aufklärung besaßen sie keinen besonderen Einfluss auf die
Geschicke des Landes. Das Bevölkerungswachstum der Rumänen und der Slawen
erscheint im Vergleich mit der geringeren Reproduktion von Deutschen und
Ungarn als bedrohlich. Ihre angebliche Abstammung von den Zigeunern sieht
Schwartner allerdings mit Skepsis, denn dafür gebe es keinen historischen
Beweis, zumal bekannt sei, wie abschätzig Deutsche und Ungarn ihre Moralität
einschätzten. Demnach seien „Mässigkeit verbunden mit Arbeitscheu,
Duldsamkeit verbunden mit Rachbegierde, und Aberglauben ohne gesunde Moral,
[…] die Haupttugenden und Laster, dieses in der Geschichte der Menschheit aber
auch in der ungarischen Statistik nicht unwichtigen Volkes.“23
Unter den „Nebenvölkern“ sind Juden (denen Kaiser Joseph II. kurz zuvor die
Bürgerrechte zuerkannt hatte) und Zigeuner im selben Abschnitt aufgeführt. Das
mochte durch ihre damalige nomadische Lebensform begründet sein, obwohl es
unter Joseph II. Versuche gab, sie sesshaft zu machen. Während der deutsche
Handel mit Respekt betrachtet wird, erfahren die Juden bemerkenswerterweise
nur Geringschätzung als Menschen, die „nicht säen und nicht spinnen, und deren
fast einziges Gewerbe, der Handel, besonders das Hausieren auf den Dörfern,
ist.“24 Der Geldverleih ist ein weiteres allgemeines Charakteristikum beider
Gruppen, obwohl Schwartner bemerkt, dass der Mangel an Bildung die Zigeuner
empfänglicher für christliche Werte mache, während die Juden an ihrem
„unsinnigen Aberglauben“ festhielten.25 Andererseits verfährt Schwartner
durchaus gemäß der historiographischen Konvention, wenn er die Zigeuner auch
als die edlen Wilden des Landes darstellt.26
Das zentrale Merkmal der wissenschaftlichen Modernisierung in der
Habsburgermonarchie war in dieser Zeit der Wechsel vom Lateinischen zu den
Landessprachen, die nicht nur für die Volksbildung, sondern generell für die
Verbreitung von Wissen wichtig wurden. Die deutschsprachige Wissenschaft
22
23
24
25
26
Ebd., 94.
Ebd., 99.
Ebd., 103f.
Ebd.
Ebd., 106.
152
spielte dabei eine wichtige Rolle; einerseits war sie anerkannte Bildungsnorm,
andererseits aber Instrument einer regierungsamtlichen Politik. Die
„Siebenbürgische Quartalschrift“ war das erste gelehrte Journal, das sich der
„Vaterlandskunde“ der Region widmete. Bereits der Leitartikel der ersten
Ausgabe kategorisierte die Nationalitäten der Provinz nach Maßgabe ihrer
Zivilisationsstufe. Die Wallachen befinden sich wiederum am unteren Ende dieser
kulturellen Taxonomie; denn obwohl sie vermeintlich edler, nämlich römischer
Abstammung seien, galten sie doch aufgrund ihres sozialen und politischen Status
in Siebenbürgen als unkultiviert:
Die Hälfte der Einwohner des Landes sind die Walachen, eine Nation, die auf
der untersten Stufe der Cultur steht: Gelehrsamkeit und Wissenschaften werden
von ihnen nicht mal vermisset; und ihre Sprache wird so lange noch jeder fremden
Cultur den Eingang verwehren, bis sich geschickte Männer genug unter ihnen
erheben, die mit Einsicht und Wahl die gemeinnützigen Schriften anderer
gebildeten Nationen in ihre Sprache übertragen, und durch den Weg der Schulen
unter ihnen verbreiten. Wehr ihre Popen etwa für ihre Gelehrten halten wollte,
würde sich, wenigstens in der Regel, sehr irren.27
Mit den „zwei ungarischen Stämmen“, den Magyaren und den Szeklern, verhielt
es sich etwas schwieriger. Die Magyaren konnten zwar auf eine ruhmreiche
mittelalterliche Scholastik zurückblicken, doch die endlosen verlustreichen
Türkenkriege, innere Konflikte und religiöse Auseinandersetzungen hätten zum
Niedergang von „Geschmack“ und „Gelehrsamkeit“ geführt. Die meisten
europäischen Länder hatten längst ihre jeweilige Nationalsprache als
Wissenschaftssprache adaptiert, so dass die Magyaren, die am humanistischen
Latein festhielten, auch in dieser Hinsicht ins Hintertreffen gerieten. Schließlich
geht der Text auf die siebenbürgisch-sächsischen Intellektuellen ein, die durch
Sprache, Religion und Kultur über die politischen Grenzen hinweg „ihre
Zeitgenossen in dem beständigen Fortschritte mit der Aufklärung und dem
Geschmacke Deutschlandes erhielten“.28 Ebenso positiv fielen die Urteile der
Gelehrten Michael Lebrecht (1757‒1807) und Lucas Joseph Marienburg
(1770‒1821) aus, die die Siebenbürger Sachsen in ähnlich vorteilhafter Weise
beschrieben und dabei ihre Wirtschaft, ihren Fleiß, ihre reichen Dörfer und
blühende Stadtkultur hervorhoben.29
Die siebenbürgisch-sächsische Landeskunde war produktiver und strebte
danach, alle Völker auf der Landkarte des „Vaterlandes“ zu integrieren, indem sie
den Austausch zwischen ungarischen und sächsischen Wissenschaftlern pflegte.
Ein solches nationenübergreifendes Interesse hatte im honismeret der Magyaren
keinen Platz. Ihren nationalen Fokus teilte dieser mit der Praxis der rumänischen
Şcoala Ardeleanǎ, der Transsilvanischen Schule; beide regten Untersuchungen
zur jeweiligen nationalen Geschichte und Sprache an. Der magyarische
27
28
29
NEUGEBOREN, Über die Lage, 1790, 1.
Ebd., 24.
LEBRECHT, Über den National-Character, 1792; MARIENBURG, Geographie, 1813.
153
honismeret drängte auf Selbstbehauptung gegenüber den als kulturell
fortschrittlicher und politisch überlegen wahrgenommenen Siebenbürger Sachsen.
Meines Wissens gibt es kein rumänisches Äquivalent für „Landeskunde“ bzw.
honismeret.
3. Der Wilde als soziale Metapher: „Die Ziganiade“
Ion Budai-Deleanu, ein prominentes Mitglied der Transsilvanischen Schule und
Mitautor der ersten Petition für die politische Emanzipation der Rumänen in
Siebenbürgen („Supplex Libellus Valachorum“, 1791), war auch einer der ersten
Schriftsteller, welche diese neuen wissenschaftlichen Konzepte in die Literatur
übertrugen. In seinen Werken gibt es zahlreiche Bezüge auf zeitgenössische
Statistik, Historiographie, Philologie und aufklärerische Anthropologie. Sein
Hauptwerk, „Ţiganiada sau Tabãra ţiganilor“ (Die Ziganiade oder das
Zigeunerlager), ist eine philosophische Reflexion über die glückliche
Gesellschaft, die beste politische Ordnung und den idealen Herrscher. Es ist
zudem ein didaktisches Werk, das die Notwendigkeit von Bildung und
Aufklärung der Massen als Voraussetzung für politische Mündigkeit predigt –
Themen, die länderübergreifend in der damaligen politischen Literatur präsent
waren und bei der zeitgenössischen rumänischen Elite einen hohen Stellenwert
besaßen.
Ähnlich wie Staatswissenschaften und Landeskunde vermitteln BudaiDeleanus Schriften eine hierarchische Weltsicht, in der Roma und rumänische
Bauern am unteren Ende der Gesellschaft rangieren. Nationalität ist ein
Kennzeichnen für den Grad von Bildung und Kultur, jedoch ist im Gegensatz zu
seinen ungarischen und deutschen Zeitgenossen Deleanus Ansatz ursprünglich
subversiv. Während jene den Status quo befürworten, betont dieser die
Möglichkeit von sozialer Mobilität durch Bildung und Aufklärung. Er kritisiert
auch die Eliten seines Landes, die ihren Status missbrauchen, indem sie ihn von
anachronistischen Privilegien und nicht von Bildung ableiten.30
Das Pseudoepos „Ţiganiada“, geschrieben im Jahr 1800, aber erst 1875‒1877
veröffentlicht, folgt demselben politisch-aufklärerischen Ansatz. Diese ironischkomisch-satirische Dichtung ist eine Allegorie der siebenbürgischen Gesellschaft
und ihrer Narretei. Die Figuren der Roma und ihr chaotisches, unvorhersehbares
Verhalten kontrastiert Budai-Deleanu mit seinen Vorstellungen vom idealen Staat.
Als Anhänger der Aufklärung sieht er Ignoranz als Brutstätte für Chaos und
soziale Konflikte. Der einzige Ausweg besteht in Weltwissen und
Selbsterkenntnis:
Apoi zică cine ştie,
Eu cu mândru Solomon oi zice:
30
BUDAI-DELEANU, Trei viteji, 1928.
154
Toate-s deşerte şi nebunie! ...
Căci numa de-acel aste ferice
Care pe sine-a cunoaşte-începe
Şi firea lucrurilor percepe. 31
[Wer auch immer seinen Willen bekundet
Dem sage ich mit dem weisen Salomon:
Alles ist vergeblich und närrisch! …
Denn nur derjenige ist glücklich
Der sich selbst zu kennen lernt
Und die Natur der Dinge versteht.]
Die Geschichte ist im 15. Jahrhundert angesiedelt, während der Herrschaft des
Fürsten der Wallachei Vlad Ţepeş („der Pfähler“, i.e. Vlad III. Drăculea, ca.
1431‒1476), welcher der späteren Dracula-Legende als historisches Vorbild
diente. Der Herrscher entsendet die undisziplinierten Zigeuner in eine Schlacht
gegen die Osmanen. Er bewaffnet sie und verspricht, sie nach dem Kampf auf
eigenem Land anzusiedeln. Die Zigeuner bereiten sich auf den Kampf vor, aber
nach diversen Abenteuern, Anwendung von Magie, Enttäuschungen und Verrat
zerstreuen sie sich schließlich, ohne ihr Ziel erreicht zu haben. Das Werk folgt
den Konventionen des Heroisch-Komischen oder des Pseudoepos, indem es sich
dessen gehobenen Stil mit häufigen Verweisen auf Homer, Vergil, Milton usw.
zueigen macht; anstelle von Helden lässt Budai-Deleanu Antihelden auftreten. Die
Zigeuner als Antihelden sind eine Allegorie der jungen siebenbürgischrumänischen Nation, und ihre politischen Bestrebungen sind das satirische Abbild
der Unfähigkeit der Rumänen, eine zielgerichtete Politik zu betreiben.32
Das Epos ist auch eine Parodie auf falsche Gelehrsamkeit – es wartet mit frei
erfundenen Fakten auf, mit denen banale Dinge ausgeschmückt werden. Die
Einführung legt die pseudofeierliche Tonlage des Werks fest. Unter dem Namen
Leonachi Dianeu, einem Anagramm von Ion Deleanu, richtet der Erzähler einen
fiktiven Brief an Mitru Perea (alias Petru Maior, ein gebildeter Zeitgenosse BudaiDeleanus):
Eu socotesc că ţiganii noştri sunt foarte bine zugrăviţi în povestea aceasta (...).
Însă ţi bagă samă bine, căci toată povestea mi se pare că-i numa o alegorie in
multe lucruri, unde prin ţigani să înţeleg ş’alţii carii tocma aşa au făcut şi fac,
ca şi ţiganii oarecând. 33
[Ich denke, unsere Zigeuner werden in dieser Geschichte sehr lebensecht
porträtiert (…). Bedenken Sie jedoch bitte, dass meiner Meinung nach diese
31
BUDAI-DELEANU, Ţiganiada, 1875‒1877/ 1999, Lied I, 68f.
PETRESCU, Ion Budai-Deleanu, 1974.
33
„Epistolie închinãtoare. Cãtrã Mitru Pèrea, vestit cântãreţ!“ [Widmungsbriefe. An Mitru
Pèrea, den angesehenen Dichter], in: Budai-Deleanu, Ţiganiada, 1875‒1877/ 1999, 61‒64, 63.
32
155
ganze Geschichte vielerorts nur eine Allegorie ist, in der in den Zigeunern alle
anderen Menschen zu sehen sind, die sich verhalten haben wie die Zigeuner
und es immer noch tun.]
Die Erzählung durchziehen Verweise auf zeitgenössische historische,
geographische und philologische Debatten über die Herkunft der Roma bzw. der
Rumänen. Auch zahlreiche Annotationen zu den Sitten und Bräuchen der Roma
und Rumänen machen aus dem Epos eine wahrhafte Landeskunde. Die Fußnoten
kommentieren und widersprechen den Aussagen des Haupttextes, und jeder
Kommentator hat sein eigenes Gesicht. Daher ist die Gesamtwirkung des Werkes,
als würde dieses gemeinsam von einer Gruppe lebhaft debattierender, aber
halbgebildeter Individuen gelesen – der scherzhafte Verweis auf aufklärerische
Geselligkeitsformen ist unverkennbar. Budai-Deleanu beschreibt damit auch die
gelehrte Öffentlichkeit seiner Heimatprovinz, wobei er eher ihre
Unzulänglichkeiten als ihre Qualitäten betont.
Die von dem Gelehrten Mitru Perea verfassten souveränen Kritiken bilden
eine herausragende Ausnahme. Wie in Vorwegnahme der Unwissenheit des
Lesers in solch gehobenen Dingen, erklären sie in aller Gelassenheit die
klassische Poetik und die dramatischen Konventionen des Werkes. Perea erklärt
auch die alltagssprachlichen Ausdrücke, so dass man sich das zeitgenössische
Publikum der „Ţiganiada“, d.h. die rumänische Intelligenz, recht gut vorstellen
kann. Die übrigen Kommentatoren dagegen sind von merklich gemischter
Herkunft, vertreten heterogene Weltsichten und geben oft Binsenweisheiten und
Allgemeinplätze zum Besten.
Die Erzählung fußt auf den Ähnlichkeiten in der Geschichte der Roma und
der Rumänen, wie sie von den zeitgenössischen Gelehrten gesehen wurden.
Deleanu selbst war einer der wichtigsten Protagonisten der Theorie von der
römischen Abstammung der Rumänen, und seine Zigeunerfiguren stattete er mit
einer ebenso prestigeösen Herkunft aus, die entweder im Ägypten der Pharaonen
oder bei Gestalten aus der indischen Mythologie liegt. Diese vornehme Herkunft,
wie sie in dem Epos zugleich behauptet und persifliert wird, bildet einen grellen
Kontrast zu ihrer gegenwärtigen erbarmenswerten Lage und ihren unzivilisierten
Sitten.34 Sie sind eine amorphe Masse, die prärational und nicht in der Lage ist,
eine geeignete soziopolitische Gestalt anzunehmen, die vielmehr von Vlad Ţepeş
gezwungen werden muss, Glück und Selbstachtung zu finden. Der Weg zu
gesellschaftlicher Verbesserung wird also nicht spontan beschritten, sondern in
Ausführung einer regierungsamtlichen Anordnung:
Căci Vlad-Vodă locuri de moşie
Le dedusă cu ceastă-învoială,
Ce de-acuma şi dânşii să fie
Oameni ca ş’alţii cu rânduială,
Iar ei mult să sfătuiea-între sine
34
Ebd., 61.
156
Cum s’ar tocmi trebile mai bine. 35
[Wojewode Vlad gab ihnen Land
Gegen Ausführung seines Befehls [nämlich gegen die Türken zu kämpfen],
So dass von dann an sie wie andere Menschen
eine soziale Ordnung haben mögen,
Und sie fuhren zu debattieren fort,
Wie das am besten zu erreichen sei.]
Drãghici, der Zigeunerhäuptling, erklärt die Gefahren der Uneinigkeit und des
Mangels an „Gemeinschaft“ und „Gemeinsinn“, wie es die Sachsen nennen. Man
vergleiche die Beschreibung der Roma als edle Wilde in der zeitgenössischen
Statistik:
Es sind dieselben aber in Ungern ebenso wie überall wo ihnen Gottes Sonne
leuchtet wilde Zöglinge der blossen Natur die sich größten theils bis auf den
heutigen Tag weder durch die Religion des Ortes wo sie wohnen und zu der
sie sich leichtsinnig und ohne Bedenken sogleich bekennen weder durch die
Nachbarschaft und durch den Umgang mit den Landeseinwohnern weder
durch mannigfaltige Policey Verordnungen noch durch die Furcht vor dem
Galgen und den Martern des Hungers wnd der Verachtung habe umformen
lassen.36
Die politischen Dispute der Zigeunerfiguren parodieren die realen
zeitgenössischen Debatten, ob diese nun im Siebenbürgischen Landtag oder in
den gelehrten Abhandlungen zur politischen Philosophie geführt wurden. Da ist
z.B. der Abgesandte Baroreu, dessen Name sich mit dem Romawort baro
(mächtiger, großer, wichtiger Mann) oder auch dem ungarischen báró (Baron)
assoziieren lässt; er behauptet, dass nichts besser die Anarchie abwende als die
Monarchie.37 Eine andere Figur, Slobozan (abgeleitet vom rumänischen slobozie
für Freiheit) verteidigt dagegen die Republik und meint, die Monarchie sei der
Nährboden des Despotismus.38 Der Monarch kümmere sich nicht um das Wohl
des Volkes, und der als nemeşi bezeichnete Adel (hergeleitet von ungarisch nemes
‒ Adliger), sei nur auf seine Privilegien bedacht, zahle keine Steuern und verachte
das niedere Volk, obwohl viele seiner Angehörigen selbst oft aus ihm
abstammten.39
Offensichtlich hat sich Budai-Deleanu von der zeitgenössischen Klimatheorie
anregen lassen, die davon ausging, dass jede Gesellschaft eine Regierungsform
benötige, die ihrem Charakter, ihrem natürlichen und kulturellen Umfeld wie auch
35
36
37
38
39
BUDAI-DELEANU, Ţiganiada, 1875‒1877/ 1999, Lied I, Strophe 30, 181.
SCHWARTNER, Statistik, 1809‒1811, Bd. 1, 150.
BUDAI-DELEANU, Ţiganiada, 1875‒1877/ 1999, Lied X, Strophe 60, 328.
Ebd., Lied X, Strophe 101, 338.
Ebd., Lied X, Strophe108, 340.
157
der von ihr erreichten Stufe des Fortschritts entspreche. Bei Budai-Deleanu
erscheint die konstitutionelle Monarchie oder wahlweise die Despotie als
geeigneter für eine Gesellschaft in einem sehr frühen Entwicklungsstadium, weil
sie diese organisieren könne, während eine Republik eine reifere,
selbstbewusstere und höher entwickelte Gesellschaft erfordere. Das Epos geht
schließlich ohne Happy End aus und bestätigt so die Worte des Häuptlings
Drãghici vom Anfang: Nämlich mit einer Engführung des Schicksals der Roma
(will sagen der Rumänen) mit den in der Diaspora lebenden Juden ‒ ganz wie es
auch Schwartner tut.40
4. Die nationale Kartierung Siebenbürgens im 19. Jahrhundert
Die wissenschaftlichen und literarischen Genres sind an der Wende vom 18. zum
19. Jahrhundert nicht klar voneinander getrennt. „Ţiganiada“ liefert ein Beispiel,
wie sich eine wissenschaftliche Abhandlung in die Gestalt eines literarischen
Werkes kleiden ließ. Da litteratura im Verständnis der Zeit auch die
Geisteswissenschaften abdeckte, standen folglich auch die in dieser Epoche
aufkommenden historiae litterariae ihrem Themenumfang nach der Landeskunde
nahe. Der „Conspectus reipublicae litterariae in Hungaria“ (1785) von Pál
Wallaszky (1742‒1824), „A magyar literatúra esmérete“ (Das Wissen von der
ungarischen Literatur, 1808) von Sámuel Pápay (1770‒1827) oder die „Istoria
pentru începutul românilor in Dachia“ (Geschichte von den Anfängen der
Rumänen in Dakien, 1812) von Petru Maior (ca. 1756‒1821) nahmen
philosophische, historische oder andere deskriptiv-gelehrte Schriften in sich auf.
Doch im Laufe des 19. Jahrhunderts bildeten sich diese umfassenden Gebiete von
Gelehrsamkeit in klar voneinander abgegrenzte Fachdisziplinen um, während die
Belletristik fortan zu „imaginative literature written in the vernacular“ wurde.41
Der ungarische Literaturhistoriker János Horváth (1878‒1961) sollte diesen
Prozess als „Verengung des literarischen Geistes“ beschreiben, im Verlaufe derer
sich der Fokus von der politischen Diskussion auf die Landessprache verschob,
was durch die stetig wachsende Bedeutung von „nationalem Gehalt“ und
Ästhetisierung der Belletristik deutlich wurde.42
Der Wunsch, eine umfassende Völkerschau Siebenbürgens zu bieten, trat für
magyarische, rumänische und deutsche Schriftsteller bei der Hinwendung zu ihren
jeweiligen nationalen Gemeinschaften in den Hintergrund. Denn das 19.
Jahrhundert war die Zeit der nationalen Bewegungen; Wissenschaft und Literatur
waren damit beschäftigt, volkstümliche Erzählungen der Nation oder im
siebenbürgischen Falle der nationalen Gruppe zu entwerfen. Am Vorabend der
Revolution von 1848 bildeten in den größeren siebenbürgischen Städten
40
Ebd., Lied I, Strophe 38, Fußnote 1, 77.
NEUBAUER, Introduction, 2007, 346.
42
János HORVÁTH: A magyar irodalom fejlódéstörténete [Geschichte der Entwicklung der
ungarischen Literatur]. Budapest 1976, 46‒48, zit. n. NEUBAUER, Narrowing Scopes, 2007, 384.
41
158
Siebenbürger Sachsen, Ungarn und Rumänen getrennte Netzwerke, und diese
nationale Spaltung blieb bestehen, obwohl sich die bürgerliche Öffentlichkeit in
der zweiten Jahrhunderthälfte immer weiter ausdifferenzierte. Nach der
ungarischen Staatsbildung von 1867 spielte eine große Rolle, die Autonomie von
Kirche und Unterricht unter geistlicher Führung aufrechtzuerhalten, da gerade in
Siebenbürgen linguistische und konfessionelle Grenzen ungefähr mit denen der
drei großen Nationalitäten des Landes übereinstimmten. Die nationale Spaltung
war auch an den Aktivitäten der drei größten gelehrten Gesellschaften
Siebenbürgens erkennbar. Ihre anfänglichen Statuten ebenso wie ihre ostentative
Offenheit für alle sozialen Klassen richteten sich zwar an eine regionale oder
sogar an eine europäische Öffentlichkeit, doch in Wahrheit sprachen sie für ein
exklusiv nationales Publikum.
Der Verein für Siebenbürgische Landeskunde und die Siebenbürgische
Museumsgesellschaft waren Ergebnisse der deutschen und magyarischen
Bestrebungen, die Wissenschaft in der Provinz zu institutionalisieren und zu
modernisieren. Diese Initiativen gingen bis in das 18. Jahrhundert zurück,
erreichten das Realisierungsstadium aber erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts,
als die ständische Loyalität von der Identifizierung mit der Nation als
Kulturgemeinschaft allmählich an den Rand gedrängt wurde. Die neuen
Institutionen pflegten die Erkundung eines siebenbürgischen Vaterlandes, das
immer mehr als Heimatregion der jeweiligen nationalen Gemeinschaft aufgefasst
wurde. Allerdings erwies sich eine lupenreine Abgrenzung der Kulturen in der
vielsprachigen Region als unmöglich. Die Konstruktion von ethnisch definierten
Kulturgemeinschaften verstärkte darüber hinaus die Neigung, den vermeintlichen
eigenen Rang in einer imaginären Hierarchie kultureller Errungenschaften kritisch
mit den anderen zu vergleichen.43
Der Landeskundeverein war nicht nur die inoffizielle Akademie der
Wissenschaften der Siebenbürger Sachsen, sondern auch ein Versammlungsort
ihrer intellektuellen, geistlichen und politischen Elite. Er kooperierte mit
deutschen und österreichischen Akademien zu Fragen der siebenbürgischsächsischen Geschichte, Ethnographie und Linguistik. Neben Grundlagenwerken
zu Statistik, Geschichte, Folklore, Linguistik usw. publizierte er auch stark
nationalistisch gefärbte politische Streitschriften. Sein dritter Präsident, der
Bischof und Historiker Friedrich Teutsch (1852‒1933), verteidigte diese Position
mit der Behauptung, die Landeskunde diene auch der „Entwicklung unseres
nationalen Bewußtseins“.44
Die magyarische gelehrte Gesellschaft spezialisierte sich um die
Jahrhundertwende immer mehr und widmete sich gleichermaßen der Forschung
und der Popularisierung. Ihre Jahresversammlungen vor sehr großem Publikum
bedienten sich einer gleichermaßen kämpferischen Rhetorik. Bei einem
öffentlichen Vortrag in Târgu Mures/ Marosvásárhely vertrat Sekretär Lajos
43
TÓTH, I., Az erdélyi román nacionalizmus, 1998; VERDERY, Transylvanian Villagers, 1983.
TEUTSCH, Unsere Geschichtsschreibung, 1889, 643. Zu den siebenbürgischen Aspekten der
rumänisch-ungarischen Nationalcharakterologie vgl. KÖPECZI, Nemzetképkutatás, 1995.
44
159
Schilling 1906 beispielsweise die Auffassung, der Staat habe die Pflicht, den
Verein tatkräftig zu unterstützen, um die Magyaren im „Wettbewerb der
Nationen“ zu fördern: „Unser Museum kann seine moderne Zweckbestimmung
nur durch gemeinsame Anstrengung von Staat und Gesellschaft erfüllen […].
Unsere führende magyarische Rasse würde nicht erröten müssen, dass einige
wenige Sachsen ohne Staatsunterstützung ein Museum haben aufbauen können,
das uns in vielerlei Hinsicht voraus ist.“45
Auch die Literatur passte sich den antagonistischen nationalen Positionen an.
Wohlgemerkt ignorierte sie den „Anderen“ nicht völlig, vielmehr war er fortan
stets derjenige, der bedrohlich am Rande des eigenen nationalen Gesichtsfeldes
lauerte. Seine Gestalt behielt die schon aus der Landeskunde der Aufklärung
bekannten Merkmale: der magyarische (Klein-) Adlige, der ungebildete
walachische Bauer, der in sich ruhende sächsische Bürger, der wilde Zigeuner und
der fremdartige und materialistische Jude.46 Sogar noch als die gesellschaftlichen
Umwälzungen begonnen hatten, der Prosa des Fin de Siècle ihren Stempel
aufzudrücken, gingen die Schriftsteller den altbekannten Stereotypen der
Landeskunde nicht aus dem Weg, sobald es um die Charakterisierung der eigenen
Landsleute ging. Selbst die Romane der Zwischenkriegszeit hinterfragten die
nationalen Trennlinien nicht, sondern stellten sie noch stärker heraus. Denn die
nationale Frage wurde mit der Auflösung der Habsburgermonarchie am Ende des
Ersten Weltkriegs zur besonders problematischen Minderheitenfrage, als
Siebenbürgen rumänisches Staatsgebiet wurde.
Gesteigerte Aufmerksamkeit für die eigene nationale Identität und den als
feindlich wahrgenommenen kollektiven „Anderen“ prägte die Atmosphäre in der
Literatur, so etwa in Dezső Szabós (1879‒1945) Roman „Az elsodort falu“ (Das
fortgeschwemmte Dorf, 1919) oder in Heinrich Zillichs „Zwischen Grenzen und
Zeiten“ von 1936. Beide Romane bieten ein Panoptikum ländlicher und
städtischer Typen, bei Szabó einschließlich diverser Figuren des magyarischen
kleinadligen Landbesitzers und des korrupten jüdischen Händlers. Zillichs Welt
bietet eine noch größere Auswahl an nationalen Figuren, die getreu der
zivilisatorischen Hierarchie aufgereiht werden. Seine Hauptfigur, Lutz Rheindt,
ist der Sohn eines Zuckerfabrikbesitzers in dem siebenbürgisch-sächsischen Dorf
Brenndorf (rum. Bod/ ung. Botfalu) und gehört dem städtischen Handwerkertum
an. Seine Mutter ist die Tochter eines lutherischen Pfarrers aus der geschäftigen
Handelsstadt Kronstadt (rum. Braşov). Magd und Fahrer sind Magyaren. Die
übrigen Magyaren sind Staatsbeamte – die typische Laufbahn des magyarischen
Edelmannes. Einer ihrer Ehefrauen, einer assimilierten Banater Schwäbin, wird
unterstellt, sie sei eigentlich eine „Zigeunerin“. Sachsen und Juden stellen die
freien Berufe und die Dorfelite. Als soziale Aufsteiger werden die Juden von den
Sachsen zugleich verachtet und beneidet. Ganz unten in der sozialen Hierarchie
befinden sich die rumänischen Bauern. Zillichs Panorama gibt durchaus das
tatsächliche siebenbürgische Sozialgefälle seiner Zeit wieder, doch in seiner
45
46
SCHILLING, Az Erdélyi Nemzeti Múzeumról, 1908, 9–11.
Besonders MITU/ MITU, Magyaren, 1998, 67‒83.
160
nationalen Haltung reproduziert sein Roman die überkommenen nationalen
Stereotype. Die Deutschen sind die einzigen „Kulturbringer“ in den wilden
Randgebieten des Ostens, geschmäht von einem ungerechten und korrupten
ungarischen Staat, inmitten einer Masse von feindlich gesonnenen und allzu
kinderreichen Rumänen.47
Die siebenbürgische Erzählliteratur der Jahrhundertwende und der
Zwischenkriegszeit hält die Stärke der konkurrierenden und einander immer
feindlicher werdenden Nationalismen für eine unumstößliche Tatsache. Sie führt
vor, wie zum sozialen Außenseiter wird, wer die nationalen Grenzen
überschreitet; so etwa die subtilen psychologischen Portraits in den Romanen
Liviu Rebreanus.48 Sein Roman „Pădurea spânzuraţilor“ (Wald der Gehängten,
1922) beschreibt das psychologische Drama des Apostol Bologa, eines
rumänischen Kleinstadtintellektuellen und rangniederen Offiziers der
österreichisch-ungarischen Armee. Bologas Nationalgefühl gerät immer mehr in
Konflikt mit seiner dienstgemäßen Loyalität zu seinen deutschen und
magyarischen Vorgesetzten, die als gefühlskalte und abgehobene Figuren
entworfen werden. Die Spannung wächst, als er seine Verlobte verliert, die
kokette Tochter eines Dorfnotars, die ihn für eine bessere Partie sitzen lässt,
nämlich einen magyarischen Offizier. Bologa findet schließlich seine wahre
Liebe, das Bauernmädchen Ilona, das weder ganz magyarisch noch ganz
rumänisch ist. Ilona und ihr Vater stehen ganz unten in der sozialen Hierarchie
und werden zu Bologas Ersatzfamilie, seinem einzigen Beistand in seiner inneren
Zerrissenheit.
Nicht wie bei Zillich ein ausgeprägter Ethnozentrismus, sondern die Stabilität
der nationalen Grenzen ist das wichtigste Thema eines weiteren bekannten
siebenbürgischen Romanautors, des Ungarn Károly Kós (1883‒1977). Als
exponierter Verfechter der Zwischenkriegsideologie des „Transsilvanismus“
vertrat
Kós
Regionalismus
und
ein
„kulturelles
Magyarentum“
(kultúrmagyarság), d.h. die von den politischen Grenzen unabhängige Definition
der Nation über ihre Kultur. Dieser Ansatz schätzte die Besonderheiten des
Regionalen und Lokalen und brachte die ethnokulturelle Vielfalt Siebenbürgens in
Stellung gegen das aggressive nationbuilding des jungen rumänischen Staates:
„[…] das kulturelle Schöpfertum, aber auch der siebenbürgische Mensch dieses
wunderbar einzigartigen Landes hat zwei Eigenschaften, eine davon magyarisch,
rumänisch oder deutsch, die andere aber siebenbürgisch. Das ist die Quadratur des
Kreises, die den Siebenbürgener und Siebenbürgen für jeden von außen
unbegreiflich macht.“49 Der Transsilvanismus pries die Koexistenz der
rumänischen, ungarischen und deutschen Nationalkulturen, befürwortete
ansonsten aber homogene nationale Gemeinschaften. Der von Kós verfasste
programmatische Aufsatz der Bewegung „Erdély. Kultúrtörténeti vázlat“
(Siebenbürgen. Kulturgeschichtlicher Abriss) spricht sich für einen
47
48
49
KONRADT, Identität, 1998, 239f.
REBREANU, Pădurea spânzuraţilor, 1922.
KÓS, Kiáltó szó, 1921.
161
demokratischen Multikulturalismus aus, der auf starken und unabhängigen
Kulturen der einzelnen Nationalitäten aufgebaut war, sowohl als politisches
Projekt wie auch als historisches Faktum.50 Der Aufsatz spricht die Konflikte in
der Geschichte Siebenbürgens vom späten Mittelalter über die Revolution von
1848/49 bis zur Magyarisierungspolitik des Königreichs Ungarn nach dem
Ausgleich von 1867 an. Er versucht, die Perspektiven der drei großen
Nationalhistoriographien miteinander zu verbinden, darüber hinaus aber auch die
Geschichte der kleinen Leute zu erzählen.51 Kós geht so weit zu behaupten, dass
weder die Vereinigung mit Ungarn von 1848 noch der Anschluss an Rumänien
1919 Zustimmung bei den einfachen Rumänen, Sachsen oder Magyaren gefunden
hätten, sondern nur bei den politischen Eliten.
Gyula Szekfű (1883‒1955), der einflussreichste Historiker im Ungarn der
Zwischenkriegszeit, hielt Kós’ Absicht für „eine gesunde Reaktion“ auf den
politischen Status quo, aber er kritisierte, dass Kós’ Insistieren auf einer „Politik
des Transsilvanismus“, die auf der „organischen, inneren Verbindung“ zwischen
rumänischen, deutschen und ungarischen regionalen Traditionen fußen sollte, den
historischen Beweis schuldig bleibe.52 Karl Kurt Klein (1897‒1971), Professor für
Germanistik an der Universität Jassy (Iași) und Herausgeber des Bulletin des
Landeskundevereins, zeigte ebenfalls verhaltene Sympathien für den Geist des
Transsilvanismus, der sich besonders im Vergleich mit der nationalistischen
Voreingenommenheit der Historiker im Königreich Ungarn vor und in Rumänien
nach dem Ersten Weltkrieg positiv ausnahm.53 Die These von der Einzigartigkeit
Siebenbürgens rührte in der Zwischenkriegszeit mehr aus dem ungarischen
Zeitgeist und wurde weniger als wissenschaftliche Argumentation akzeptiert.
Gleichwohl regte der Transsilvanismus eine Reihe wichtiger Werke der Lyrik und
Prosa magyarischer, deutscher und rumänischer Autoren an.
5. Von der realen zur symbolischen Verortung: Siebenbürgen als Land
des Dracula
Bis jetzt stellte dieser Überblick aus der Region selbst stammende Perspektiven
vor. Jedoch hatte um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert Siebenbürgen auch
durch auswärts geschriebene literarische Werke internationale Bekanntheit
erlangt. Der Dracula-Roman Bram Stokers von 1897 ist nur das berühmteste
Werk unter weiteren; allerdings erlebte er seinen internationalen Durchbruch erst
Jahrzehnte später durch das noch junge Medium des Films. Auch die Ergebnisse
der von einheimischen Gelehrten betriebenen ethnologischen Forschung über
50
51
52
53
KÓS, Erdély, 1929, 88.
Auch BALOGH, Die Siebenbürger Deutschen, 1998, 300.
SZEKFÜ, Kós Károly Erdélye, 1930.
KLEIN, Karl Kós, 1931, 77.
162
Volkserzählungen und -bräuche der traditionellen ländlichen Gesellschaften
Osteuropas wurden übersetzt und so einem westeuropäischen, insbesondere
französischen und britischen Publikum zugänglich gemacht. Auf dieses übten
Regionen wie Siebenbürgen vor allem durch ihre Exotik einen besonderen Reiz
aus. Dracula ist die berühmteste Figur, mittels derer die Provinz als politische,
zivilisatorische und sogar ontologische Grenzregion literarisch gestaltet wurde, als
Region physischer und psychologischer Transgression. Wie die Sekundärliteratur
über Dracula gezeigt hat, wurde Siebenbürgen („Transsilvanien“) ebenso wie Orte
des Balkans in der westlichen Vorstellungswelt zum Raum des „Anderen“
schlechthin.54
Die politischen Motive hinter der Stereotypisierung Siebenbürgens im Sinne
des Orientalismus sind an anderer Stelle dargelegt worden und sprengen den
Rahmen dieses Beitrages. Für mein Anliegen ist die Frage interessanter, auf
welche Art und Weise literarische Fiktionen wie die Dracula-Geschichten die
landeskundliche Forschung über die Region für ihre Effekte adaptierten. In Bram
Stokers Roman wird eine solche Verbindung gleich zu Beginn hergestellt, als der
Erzähler Jonathan Harker nach seinem ersten Treffen mit Graf Dracula eigene
landeskundliche Studien anstellt. Harker verschafft sich Informationen über
Siebenbürgens Bevölkerung, Geographie, Geschichte, Sitten und Gebräuche auf
die denkbar konventionellste Art: in der Bibliothek des British Museum. Das
imaginäre Schloss des Grafen befindet sich tatsächlich in einem realen
geographischen Raum, einer Grenzregion zwischen Siebenbürgen und anderen
„Staaten“. Allerdings erhält der Leser erste Fingerzeige darauf, dass diese Region
einige ungewöhnliche, um nicht zu sagen beunruhigende Merkmale aufweist
(„one of the wildest and least known portions of Europe“).55 Die darauffolgende
Passage zur Bevölkerung könnte allerdings dem Gedankengut der Landeskunde
entnommen worden sein:
In the population of Transylvania there are four distinct nationalities: Saxons
in the South, and mixed with them the Wallachs, who are the descendants of
the Dacians; Magyars in the West, and Szekelys in the East and North. I am
going among the latter, who claim to be descended from Attila and the Huns.
This may be so, for when the Magyars conquered the country in the eleventh
century they found the Huns settled in it.56
Szekler und Magyaren treten als soziale Kaste (aristokratischer Hintergrund) wie
auch als Rasse auf (hunnische Abstammung). Diese soziale Zuordnung ist
Bestandteil der verfremdenden und exotisierenden Darstellungsweise.
Andererseits entspricht sie einem historischen Klischee und ist ein Standard der
54
Aus der umfangreichen Literatur zum Thema beispielsweise GIBSON, Dracula, 2006;
CAZACU, Histoire, 1988.
55
STOKER, Dracula, (Chapter 1 Jonathan Harker's Journal), 1975, 9.
56
Ebd., 10.
163
magyarischen Selbstidentifikation seit der Aufklärung.57 Offensichtlich
verschwendet Stoker nicht viel Überlegung an die zeitgenössischen gelehrten
Diskussionen in Ungarn, mit deren Thesen er völlig eklektisch umgeht, sofern sie
die Abstammung der Magyaren, Rumänen oder Szekler betreffen.
Wissenschaftliche Genauigkeit ist seine Sache nicht; vielmehr wählt er die
exotischsten Merkmale für seine Erzählung aus: „I read that every known
superstition in the world is gathered into the horseshoe of the Carpathians, as if it
were the centre of some sort of imaginative whirlpool.“58
Spannung wird erzielt durch eine allmähliche Steigerung des Exotischen und
Bizarren, des Abstoßenden und Schockierenden, ganz nach der Rezeptur des
Schauer- und Horrorgenres, der gothic novel. Wir befinden uns immer noch in der
Exposition der eigentlichen Geschichte, doch Stoker hat bereits die subtile, von
der Landeskunde sorgfältig errichtete Hierarchie der Völker umgeworfen.
Ethnographische Vielfalt ist hier allerdings nur ein nachgeordnetes Detail, das
allein den Eindruck von Chaos im Vergleich mit den gesitteten bürgerlichen
Gesellschaften verstärken soll, damit also den Kontrast zwischen einem rassisch
begriffenen „Wir“ (nämlich den rationalen Bewohnern der Zivilisation) und den
„Anderen“. Letztere, d.h. Draculas Geschlecht, wird sich nicht nur als andere
Rasse erweisen, sondern als Kreuzung von Menschlichem und Unmenschlichem:
We Szekelys have a right to be proud, for in our veins flows the blood of
many brave races who fought as the lion fights, for lordship. Here, in the
whirlpool of European races, the Ugric tribe bore down from Iceland the
fighting spirit which Thor and Wodin gave them, which their Berserkers
displayed to such fell intent on the seaboards of Europe, aye, and of Asia and
Africa too, till the peoples thought that the werewolves themselves had come.
Here, too, when they came, they found the Huns, whose warlike fury had
swept the earth like a living flame, till the dying peoples held that in their
veins ran the blood of those old witches, who, expelled from Scythia had
mated with the devils in the desert. Fools, fools! What devil or what witch
was ever so great as Attila, whose blood is in these veins?59
Die Familiengeschichte des Grafen gerät zu einem Gemisch aus allerlei
historischen Ingredenzien, zu denen auch die exotischen und blutrünstigen
Gestalten der ethnologischen Narration gehören. Deren Funktion ist es, auf ein
anderes, noch verstörenderes Detail hinzulenken: das transgressive Verhalten des
Grafen Dracula, der niemand anderes ist als die Reinkarnation des historischen
Wallachenfürsten Vlad Ţepeş in Gestalt des Vampirs. Diese zentrale Figur der
rumänischen Geschichte wird in Ion Budai-Deleanus „Ţiganiada“ als politischer
57
SCHWARTNER, Statistik, 1809‒1811, Bd. 1, 1. Es ist nicht unbedeutend, das Stokers
Informationsquelle vor Ort in Ungarn und Siebenbürgen der im Roman namentlich genannte
Orientalist Ármin Vámbéry war, ein entschiedener Vertreter der Theorie von der asiatischen
Herkunft der Ungarn.
58
STOKER, Dracula, (Chapter 1 Jonathan Harker's Journal), 1975 [1897], 10.
59
STOKER, Dracula, (Chapter 3 Jonathan Harker's Journal Continued), 1975 [1897], 33.
164
Wegweiser der Rumänen entworfen ‒ wie anders porträtiert ihn doch Stoker ein
Jahrhundert später. Der politische Kontext wird zu einer bloßen Folie, auf der die
Gewalt eine Erklärung findet, die offenbar nicht nur eine individuelle Eigenschaft,
sondern ein Merkmal von Draculas „Rasse“ ist.
Der Chronotopos des Romans wäre ohne die exotischen Gestalten der
„Zigeuner“ unvollständig. Deren Beschreibung geht ebenfalls von dem
klassischen Vorbild der Ethnographie der Aufklärung aus:
A band of Szgany have come to the castle, and are encamped in the courtyard.
These are gipsies. […] There are thousands of them in Hungary and
Transylvania, who are almost outside all law. They attach themselves as a rule
to some great noble or boyar, and call themselves by his name. They are
fearless and without religion, save superstition, and they talk only their own
varieties of the Romany tongue.60
Wiederum sind sie nicht einfach nur Wilde. Denn sie stellen eine Verbindung
zwischen Realem und Fantastischem her, da sie Draculas Leibwächter sind und
ihn von seinem Schloss nach London befördern:
Last night the Count left me early, and locked himself into his own room. As
soon as I dared I ran up the winding stair, and looked out of the window,
which opened South. I thought I would watch for the Count, for there is
something going on. The Szgany are quartered somewhere in the castle and
are doing work of some kind. I know it, for now and then, I hear a far-away
muffled sound as of mattock and spade, and, whatever it is, it must be the end
of some ruthless villainy.61
6. „Totale Verrücktheit“: Die Erosion der nationalen Taxonomie
während des Kommunismus
Ob wohlwollend oder feindselig gegenüber dem „Anderen“ in der Gesellschaft,
die Literatur des nationalen Zeitalters postulierte klar definierte Grenzen zwischen
den Nationalitäten. Mobile Grenzüberschreiter wie Frauen, Juden und Roma
wurden als unliebsame und dunkle Gestalten entworfen. Sie bedrohten die prekäre
Balance der Provinzgesellschaft und die sozialen und politischen Ansichten, auf
denen diese aufgebaut war. Das alte Regime und seine Werte lösten sich jedoch
am Ende des Zweiten Weltkrieges und mit der Installierung des Kommunismus,
der Gewalt der stalinistischen Säuberungen, der Vernichtung der alten sozialen
Eliten und der Nationalisierung in den 1950er Jahren auf.
60
61
STOKER, Dracula, (Chapter 4 Jonathan Harker's Journal Continued), 1975 [1897], 43-44.
Ebd., 46.
165
Der Literaturhistoriker Endre Bojtár nannte den Ostblock ein
„kommunistisches Gefängnis“, dessen Kultur in der Lage war, gemeinsame Werte
zu schaffen, manchmal durch Widerstand gegen die offizielle Kulturpolitik,
manchmal durch Benutzung der Slogans, die „die Gemeinschaft der den
Kommunismus aufbauenden Menschen“ verherrlichten.62 Diese Werte traten im
Rumänien der 1960er und 1970er Jahre in der Literatur in Erscheinung, und bis zu
einem gewissen Maße auch in der Wissenschaft, als sie von einem
vorübergehenden politischen Tauwetter profitieren konnten, bevor die freie
Meinungsäußerung in den 1980er Jahren erneut brutal unterdrückt wurde. Eine
Reihe von Periodika wie der im siebenbürgischen Cluj/ Klausenburg erscheinende
dreisprachige „Echinox“ oder die deutschsprachige Monatszeitschrift für
Literatur, die in Bukarest unter dem Titel „Neue Literatur“ erschien, und
Verlagshäuser wie Kriterion und Dacia erleichterten literarische Übersetzungen,
Kommunikation und Wechselwirkung über die Grenzen hinweg. Eine wichtige
Rolle im kulturellen Austausch über den Eisernen Vorhang spielten die
Radiosender Free Europe, Deutsche Welle und Voice of America sowie einige
Radiosender der etwas freieren Nachbarländer Ungarn und Jugoslawien, die auch
in Rumänien empfangen werden konnten, z.B. die ungarischen Sender Kossuth
und Petőfi. Ádám Bodor erinnert sich in einem Interview über den Zeitgeist:
Kolozsváron a hatvanas években a fiatalság esténként megtöltötte a korzót, a
Mátyás király tér négy oldala a társadalmi rétegek szerint oszlott meg, a
nyugati és a déli oldal volt a diákoké, végig a Deák Ferenc utcán, le egészen a
Román Operáig. Itt magyar, román és német szót egyaránt lehetett hallani –
akárcsak a piacon, a boltokban vagy a hangversenytermek előcsarnokában.
[…] Az én eszmélésem egy ilyen többnemzetiségű környezetben történt, ahol
a válaszfalak és mezsgyék nem ellenfelek, legfönntebb vetélytársak vagy
inkább partnerek között húzódtak. Ez a másséág nyilvánossága volt, a
különbőzőség nyílt vállalása. Miközben nem keveredtünk egymással, mégis
öszetartoztunk, mintha az öröklött történelmi emlékek dacára élt volna
bennünk valami közös transzilván öntudat, a közös örökség féltése: azok a
nmezedékek még kölcsönösen tisztelni tudták egymást63
[Im Kolozsvár [Cluj/ Klausenburg] der 1960er Jahre pflegten die jungen
Leute am Abend auf dem Korso zu sein, die vier Seiten des Mathias-Platzes
waren zwischen den sozialen Schichten aufgeteilt; die West- und die Südseite
gehörten den Schülern und Studenten, die Ferenc-Deák-Straße hinunter bis
zur Rumänischen Oper. Hier konnte man ungarisch, rumänisch und deutsch
sprechen hören, genauso wie auf dem Markt, in den Geschäften oder in den
Eingangshallen der Konzertsäle. […] Ich war in einer solchen multinationalen
Umgebung aufgewachsen; hier verliefen die Trennmauern und Feldraine nicht
zwischen Gegnern, sondern meist zwischen Konkurrenten oder Partnern. Das
62
63
BOJTÁR, Pitfalls, 2007.
BODOR, A Börtön szaga, 15.
166
war die öffentliche Natur des Andersseins, das selbstverständliche Hinnehmen
des Andersseins. Zwar hatten wir keinen Kontakt miteinander, aber wir
gehörten doch zueinander, so als lebte in uns trotz der ererbten historischen
Ressentiments ein gemeinsames siebenbürgisches Bewusstsein, die Sorge um
das gemeinsame Erbe; diese Generationen pflegten einander noch zu
respektieren.
Rückblickend war die Entspannung dieser Phase trügerisch, denn tatsächlich war
sie nur ein Vorspiel der Diktatur der 1980er Jahre. Bodor findet das Bild des
Ostwinds aus dem Sowjetreich für die Spannung, die zwischen den gegenläufigen
politischen Kräften bestand:
Ezzel párhuzamosan az is igaz, hogy Erdélyben, mint Európa egyik
jellegzetes peremvidékén, másvalami is érződött: a Kárpátok szorosain át
olykor besüvített a keleti síkságok egy-egy rideg fuvallata, nemegyszer a
sarkkörön túli birodalom dermesztő hidege. Vidékenként más és más volt a táj
képe, és néhol már fenyegető komorsággal jelentkezett Kelet-Európa
elesettsége, kiszolgáltatottsága, igénytelensége és szegénysége. Egyúttal olyan
közállapotoknak a kezdeményei, amelyek a romlás egy bizonyos további
szakaszában már elviselik a diktatúrát.64
[Zugleich ist es wahr, dass man in Siebenbürgen als einem typischen
europäischen Grenzgebiet noch etwas anderes spüren konnte: Ab und an blies
ein heulender kalter Wind von den östlichen Ebenen durch die Karpatenpässe
hinein, manchmal die klirrende Kälte des Reiches von jenseits des
Polarkreises. Die Landschaft bot je nach Region ein anderes Aussehen, und
stellenweise kam bereits mit drohender Unerbittlichkeit das Elend, die
Hilflosigkeit, die Kargheit und Armut Osteuropas zum Vorschein. (Damals
waren) auch die Anfänge eines Zustandes, die in einem bestimmten Stadium
des Zerfalls sogar die Diktatur hinnehmen können.]
Die Literatur der Nachkriegsgeneration spiegelte in Form und Inhalt die Spannung
dieser Dynamik gegensätzlicher politischer Kräfte wider. Einerseits besaß sie die
wenn auch begrenzte Freiheit, Erinnerungen an den Krieg und den gewaltsamen
Regimewechsel danach zum Thema zu machen. Tatsächlich waren Demütigung,
Folter und Psychoterror in den kommunistischen Gefängnissen nicht nur
symbolischer Ausdruck des Alltags im Ostblock, sondern auch die sehr reale
Erfahrung vieler Schriftsteller aus Bodors Generation. Anders als bei der
„Vergangenheitsbewältung“ in Westdeutschland nach 1968 gab es im Osten keine
Möglichkeit, die jüngste Vergangenheit aufzuarbeiten. Unter den Vorgaben einer
strengen Zensur entwickelte die Literatur im Inland eine äsopische Sprache, um
ähnliche Themen zu behandeln. Die Erzählungen des in Siebenbürgen geborenen
Alexandru Ivasiuk (1933‒1977) sind beispielsweise historische Parabeln über eine
64
Ebd., 17.
167
machiavellische politische Ordnung65 oder Beschreibungen und Analysen reiner
physischer Gewalt.66
Wie in dem im Stil des magischen Realismus gehaltenen Roman des aus
Siebenbürgen stammenden Dumitru Radu Popescu (geb. 1935) „Vîntoare regala“
(Königliche Jagd, 1973) greifen die Autoren auf Surrealismus, das Absurde und
Groteske zurück, um die tabuisierten Verbrechen des stalinistischen Regimes in
Erinnerung zu rufen. Die Figur des Untoten wird so zur Metapher für den Spuk
der Vergangenheit. Popescus Roman, den der Verlag Kriterion ins Deutsche und
Ungarische übersetzen ließ, beginnt als eine in den 1970er Jahren angesiedelte
Kriminalgeschichte. Der Erzähler beabsichtigt, die Todesumständes seines Vaters
Horia Dunărinţu in den 1950er Jahren zu klären. Rasch schlägt der Roman jedoch
in einen Bericht voller Halluzinationen und absurder Handlungsorte um ‒ jemand
findet den Schädel des Ermordeten im Bauch eines toten Pferdes; voller untoter
Figuren ‒ ein falscher Zeuge im Schauprozess Dunărinţus stirbt und erwacht
siebenmal wieder zum Leben; und voller multipler Realitäten ‒ Menschen, auf die
der Erzähler trifft, sind eigentlich zwei Wochen zuvor ermordet worden. Die
Zentralfigur des Horia Dunărinţu, eines friedlichen Normalbürgers, wird dadurch
zum Verbrecher, dass sie auf den Regeln des Rechtsstaates besteht; gerade das
bringt Dunărinţu in Konflikt mit dem Machtapparat aus „Volk und Partei und
Regierung“.67 Wie schon in Stokers Transsilvanien, beruht der Chronotopos in
Popescus Roman darauf, dass der konkrete geographische Raum (hier das Dorf
Cîmpuleţ) in den Bereich der Fantasie und des Volksglaubens an Untote übergeht
(„Baba Sevastiţa in Branişte, die sagt, es gäbe nicht lebendige und tote Leute,
sondern bloß Leute, die auf der Erde, und solche, die unter der Erde leben,
erzählte in den Dörfern der Toten, die unter dem Friedhof sind, hätten die, die dort
ähnlich wie wir hier leben, Ieremias Seele nicht aufnehmen wollen“)68. Die
semiotische Funktion des Phantastischen ist es hier jedoch nicht, wie bei Stoker
den Raum zu exotisieren oder zu verfremden. Seine Funktion ist allegorisch: Sie
steht für die durch das Regime tabuisierte historische Erinnerung und symbolisiert
politischen Protest, darin Budai-Deleanus Pseudoepos nicht unähnlich. Eine
Allegorie dieser Scheinwelt ist die des Zirkus. Die Zirkusdirektorin ist Richterin
bei Dunărinţus Scheinprozess, ihre Haupteigenschaft ist die Unbeständigkeit und
Täuschung:
Sie taugt nicht zur Direktorin, […] und zwar, weil sie keine Künstlerin ist, sie
ist Managerin, und wie eine Pokerspielerin, die sie ja auch ist, setzt sie alles
auf eine Karte. Sie baut nicht auf, sie riskiert. Und es kommt vor, daß sie
Glück hat, und dann sagen manche, sie sei phänomenal, und geben ihr noch
eine Prämie und organisieren eine Auslandstournee für sie und ihre Truppe.
Und auch dort wickelt sie ein, wen sie nur kann, legt sich selbst oder, weil sie
65
66
67
68
IVASIUC, Corn de vȋnặtoare, 1972.
IVASIUC, Vorhalle, 1968.
Hier zit. nach der dt. Ausgabe POPESCU, Königliche Jagd, 1973/ 1977, 36.
Ebd., 33.
168
älter geworden ist, andere, frischere Frauenzimmer mit wem es nötig ist ins
Bett – Zirkusdirektoren oder Zeitungssschreiberchen. […] Hol sie der Teufel,
die Gauklerin, daß sie im Zirkus riskiert, ist kein so großer Schaden. Aber
diese Sau hat auch Politik getrieben, sie war Assessorin und war eine zeitlang
in alle Angelegenheiten von Cîmpuleţ verwickelt, für das sie von Turnuvechi
aus verantwortete. Und sie hat auch dort riskiert: Sie spielte mit dem Leben
mancher, als spiele sie Poker.69
In der Diktatur historische Zeit und Identität verlieren, in soziales Chaos
versinken – „totale Verrücktheit“70 –, das waren seit den späten 1960er Jahren
Leitmotive der siebenbürgisch-sächsischen Literatur, wie Edith Konrad
feststellt.71 So verlieren die Figuren von Dieter Schlesaks „Vaterlandstage und die
Kunst des Verschwindens“ (1986), die zuerst mit den Nazionalsozialisten, dann
mit dem kommunistischen Regime Kompromisse schließen und schließlich nach
Deutschland emigrieren, nicht nur ihre Geschichte und Identität, sondern auch
ihre Heimat. Schlesak beschreibt sie als nachapokalyptische Wanderer, die in
ihren Köpfen hartnäckig ihre Selbstbilder mit sich schleppen, ebenso wie die des
„Anderen“:
Edle Pflichterfüllung, Leben hingeben in EHRE, Zähnezusammenbeißen,
während der Rumäne, der Zigeuner gar, dies nicht kann, ja, gar nicht will,
nimmt Reißaus. Rettet sein kleines Leben. Stirbt nicht gern für ETWAS, auch
wenns „Reich“ ist. Letzte Menschen sinds, Liederliche, die dann wortlos und
wertlos verrecken, ganz ohne Aufgaben.72
Der Roman „Grenzsteine“ von Franz Hodjak (Erstveröffentlichung 1995)
beschreibt die karnevaleske Absurdität und das Chaos der posthistorischen
Gesellschaft am Ende des Ceauşescu-Regimes. Hodjak thematisiert Emigration
und Heimatverlust der Siebenbürger Sachsen. In dieser Bachtinschen Welt der
surrealen sozialen Subversion und Transgression wird die historische
Selbstidentifikation sinnlos, da es keine Zukunft in der Heimat gibt. Nachdem
sich die Hauptfigur, Harald Frank, zur Emigration entschlossen hat und für ein
Visum nach Bukarest gereist ist, bricht in dem mit den Zelten der Visaanträger
belegten Garten der deutschen Botschaft eine Revolution aus. Von diesem
Moment an verwandelt sich der Raum in ein Niemandsland des sozialen Chaos.
Fortan rufen die Einwohner des Botschaftsgartens diesen zum „Zeltstaat“ aus,
geleitet von einem „blonde[n] Zigeuner, der, wie er erklärte, der Nachkomme
eines Barons sei“.73
Ein ähnlicher Hang zu Groteske, zum Absurden und zum phantastischen
69
70
71
72
73
Ebd., 92f.
HODJAK, Grenzsteine, 1995, 96.
KONRADT, Identität, 1998.
SCHLESAK, Vaterlandstage, 1986, 65.
HODJAK, Grenzsteine, 1995, 22.
169
Einsatz von Märchenfiguren ist in Ádám Bodors „Sinistra körzet“ (SinistraBezirk) zu finden, veröffentlicht erst in den 1990er Jahren in Ungarn. Wie der
Untertitel „Egy regény fejezetei“ (Kapitel eines Romans) andeutet, modifizierte
Bodor zuvor geschriebene Kurzgeschichten so, dass sie nunmehr im
Zusammenhang als Roman gelesen werden können. Das Buch sorgte bei der
Kritik für ebenso große Verwirrung wie Faszination.74 Die fiktive Landkarte von
Bodors „Bezirk“ wurde als Parabel der durch das totalitäre Regime verursachten
Schäden an Mensch und Umwelt gelobt. Besonders der Vergleich mit Andrej
Tarkovskijs Film „Stalker“ (1979) klassifizierte das Buch als ein unverkennbares
Produkt des Kalten Krieges.75
Wie die Semiotik des Titels suggeriert (sinistra bedeutet sowohl „links“ als
auch „finster“ und „unheimlich“), ist der „Sinistra-Bezirk“ eine Antiheimat, das
Buch ein Antiheimatroman. Die meisten der Figuren sind interniert oder werden
in das Lager verschickt (Oberst Coca Mavrodin aus der Dobrudscha), sind Fremde
oder Spione (Andrej Bodor, der kommt, um seinen internierten Sohn zu suchen).
Die vertraute Landschaft ist zu einem Militärcamp heruntergekommen, ihre
Höhlen sind verschwunden, die Mine ist nun ein Futterplatz für regierungseigene
Bären usw. Als Andrej bei seiner Ankunft in Sinistra ausspricht: „hier wird mein
Leben zur Erfüllung kommen“, erinnert das an romantische Heimatverbundenheit,
nur wird dieses Gefühl anschließend durch Banalität, nackte Gefahr und Andrejs
traurige Laufbahn in der Zone ad absurdum geführt. Er muss die Drecksarbeit für
seine Vorgesetzten erledigen und sogar einen Menschen töten, schließlich
entkommt er im Kühlwagen eines türkisch-deutschen Schmugglers.
Auf gleichsam klassizistische Art sind die Namen der Figuren von einer
archetypischen Aura umgeben, die durch ungewöhnliche Zusammensetzungen
erzeugt wird. Einige der Namen tragen Attribute wie in der epischen Dichtung, sie
gewinnen dadurch mythische Tiefe und historische Resonanz. Einige Namen
deuten auf hybride Identitäten hin, weil Vor- und Nachname auf je
unterschiedliche nationale Herkunft verweisen. So könnte Béla Bundasian,
Andrejs Pflegesohn, halb armenisch, halb ungarisch sein, Aranka Westin, „die alte
Mähre“, eine weitere Geliebte Andrejs, womöglich halb ungarisch, halb deutsch,
oder gar französisch-hugenottisch, Géza Hutira und Bebe Tescovina, das
Mädchen mit den rot glühenden Augen, haben beide ruthenisch-rumänisch
klingende Familiennahmen; Doktor Olinek, der übelriechende Bärenhüter, hat
womöglich tschechische oder slowakische Vorfahren, während der Name der
frommen Elvira Spiridon, Andrejs Geliebte mit dem „samtenen Hintern“, auf eine
griechische Herkunft deutet und ironischerweise einen Schutzheiligen bezeichnet.
Dieses Babel der Namen ist auch eines der Sprachen und Nationalitäten, da
rumänisch, ukrainisch, ungarisch, deutsch sowie der Zipser Dialekt und rusinisch
alle in der Zone gesprochen werden. In eine weitere, noch ungewöhnlichere
Kategorie fallen Eigennamen und Bezeichnungen von Objekten und Tieren.
74
MÁRTON, Az elátkozott perepmvídék, 1992; als Beispiel für die umfangreiche Kritik und
Sekundärliteratur zu Bodor in Ungarn vgl. Tapasztalatcsere [Erfahrungsaustausch], 2005.
75
ÁCS, Az erdő, 1992; Tapasztalatcsere [Erfahrungsaustausch], 2005.
170
Solche Namen tragen subalterne Beamte oder Offiziere in ausführenden
Funktionen wie etwa Oberst Puiu Borcan (Borcan bedeutet Marmeladenglas),
dessen schwarzer Regenschirm nach seinem Tod umherzufliegen beginnt wie eine
überdimensionierte Fledermaus; ein Spion namens „roter Hahn“, oder die „grauen
Gänseriche“ Mavrodins, zwanzig Informanten in grauen Anzügen. Die Bergjäger
werden lakonisch als „eitle Hirsche“ bezeichnet.
Eine dritte Kategorie von Namen betreibt historische Wortspiele mit
Oxymora. Einem Vornamen mit historischer Patina wird ein eher gewöhnlicher
Nachname beigesellt, so etwa im Falle von Musztafa Mukkerman, dem
heimatlosen, übergewichtigen, homosexuellen Trucker, dessen Nachname deutsch
klingt. Connie Illafeld alias Cornelia Illarion, die tragische Liebe des Béla
Bundasian, ist von russisch-adliger Herkunft. Oberst Coca Mavrodin, alias Izolda
Mavrodin, der Ersatz für den verstorbenen Oberst Borcan, kombiniert in äußerst
bizarrer Weise den Namen des deutschen Isolde-Mythos mit einem Ortsnamen
aus der Dobrudscha in Südostrumänien, einer Region, die tatsächlich für ihre
stalinistischen Internierungslager berüchtigt war. Die Benennung der
Albinozwillinge Hamza Petrika ist wohl am außergewöhnlichsten, denn Hamza ist
der Name eines osmanischen Paschas, den Vlad Ţepeş pfählen ließ. Als ihre Liebe
zu Doktor Olinek unerwidert bleibt, pfählen sich die schwulen Zwillinge selbst; so
persifliert ihr Akt die schauerliche historische Begebenheit.
Die Anthropologie von Sinistra bildet nicht nur einen diametralen Gegensatz
zur Utopie der Aufklärung, sie verhöhnt auch die kanonisierten Vorstellungen
über die nationalen Gemeinschaften Siebenbürgens. Im Gegensatz zu der
traditionell stets auf eine bestimmte Nationalität fokussierten Regionalliteratur
gibt es im „Sinistra-Bezirk“ keine Nationalität, die im Mittelpunkt steht. Die
gemischte Herkunft der Figuren stellt die Utopie ethnokultureller Homogenität in
Frage. Statt mit koexistierenden, aber deutlich voneinander geschiedenen
Nationalitäten, als die die kommunistische Propaganda die ethnische
Heterogenität Rumäniens sehen wollte, füllt Bodor den Raum mit Mischlingen
und exotischen Minderheiten von den Peripherien: mit Ukrainern, Türken,
Ruthenen, Zipser Deutschen, Serben und Armeniern. Sinistra ist kein Ort
nationaler Pluralität, sondern eher eine Parabel über die Zerstörung kollektiver
wie individueller Identität. Als Antiheimat duldet Sinistra keine Kontinuität,
Tradition oder regionale Abstammung. Da den Figuren jedes historische
Bewusstsein fehlt, existiert das Problem nicht, die eigene Identität auf eine
nationale Vergangenheit beziehen zu müssen. Aus dem Fehlen von Vergangenheit
rührt ein Fehlen von Zukunft ‒ wer sich in Sinistra aufhält, plant keine
Veränderung seines Lebens. Nur einmal ist von einem Aufstand die Rede, und
dieser bleibt eine unbedeutende Episode gegen Ende des Romans und wird ohne
Probleme niedergeschlagen. Die Figuren besitzen keine Energie für ihre
Handlungen, ganz zu schweigen von zielbewussten Motiven. Sie haben keinen
Einfluss auf die Ereignisse. Auf der Ebene des Metanarrativs sind sie
geschichtslos. Die Ahistorizität ist ein weiteres starkes Motiv, das Sinistra
kennzeichnet und das auf die Unerschütterlichkeit des Regimes hinweist.
171
Die Darstellung der Machtstruktur in „Sinistra-Bezirk“ und der Figuren ist
eine Allegorie der totalitären Regime des 20. Jahrhunderts. Orwellsche Motive
beschreiben das System: Omnipräsenz, totale Kontrolle, Überwachung durch den
Big Brother, Mittäterschaft der Kirche, Ausspionieren, Verschwörung, Bären
unter staatlichem Schutz, von Beamten zerstörte Stromkabel, Verbot der
Güterakkumulation, Unberechenbarkeit des Lebens. Fast alle, die Hauptfigur
eingeschlossen, leben auf vertrautem Fuße mit der Macht und sind bereit,
willfährig zu sein, sogar zu töten, als Gegenleistung für einen Job, einen Pass oder
nur, um in Ruhe gelassen zu werden. Die zunächst als Wilde beschriebenen
Figuren sind ebenfalls durch das Regime geprägt. Als literarische Figuren zeugen
sie von den Auswirkungen des Kommunismus.
Die chronotopischen Aspekte von Bodors Roman erweitern den Horizont der
historischen Interpretation über die letzten Jahrzehnte des Kalten Krieges hinaus.
„Sinistra-Bezirk“ erinnert sehr an die von Larry Wolff beschriebene „Erfindung
Osteuropas“ als einer symbolischen Wildnis, wie sie in westlichen Reiseberichten
seit der Aufklärung betrieben wurde. Wie Ádám Bodor Wirklichkeit und Fiktion
mischt, erinnert an die „synthetic association of lands, which drew upon fact and
fiction“, an die Techniken der Exotisierung, die für Schriften philosophierender
Reisender über die Peripherien des zivilisierten Europa charakteristisch sind.76 In
„Sinistra-Bezirk“ hallen alle früheren Darstellungen Siebenbürgens nach, aber der
Roman treibt sie bis zum Äußersten. Allerdings moralisiert der Text nicht, der
Gegensatz zu Budai-Deleanu und der nachaufklärerischen Literatur könnte nicht
größer sein. Sinistra ist ein Gefängnis elender Ausgestoßener mit zweifelhafter
oder hybrider Identität an der Grenze zwischen Wirklichkeit und Märchen.
Dracula lässt grüßen.
7. Der Schock des Alten: Neugestaltung der nationalen Verortung
nach dem Zusammenbruch des Kommunismus
Nach dem Ende der politischen Zensur veränderte sich die literarische Landschaft
des vormaligen Ostblocks dramatisch. Die komplexe Vielfalt der Literatur und die
bitteren Kontroversen, die damals über die Funktion von Schriftstellern und ihrer
Werke während der totalitären Regime geführt wurden, können hier nicht
dargelegt werden, ebensowenig wie die literarische Heimkehr von Schriftstellern
aus dem Exil.77 Tatsache ist, dass nach dem Zusammenbruch des Kommunismus
allegorische Dystopien in der Literatur aus der Mode kamen. Der Wegfall der
Zensur eröffnete dem Dokumentargenre noch unbekannte Spielräume, und
Memoiren und vorher verbotene Werke vieler Exilschriftsteller wurden zu
Bestsellern. Innerhalb dieser unübersichtlichen Literaturlandschaft gelangten
rechtsgerichtete Autoren der 1930er und 40er Jahre zu ungeahnter Popularität,
76
77
WOLFF, Inventing, 1994, 356.
NEUBAUER, Introduction, Chapter V., 2007, 473f.
172
darunter Schriftsteller der ungarischen faschistischen Pfeilkreuzlerbewegung,
Angehörige der rumänischen Eisernen Legion, Anhänger des Präsidenten des
slowakischen Marionettenregimes Josef Tiso, der faschistischen Ustaša
nahestehende Autoren ‒ diese Reihe könnte beliebig fortgesetzt werden. Der
triumphale Erfolg der Romane des siebenbürgisch-ungarischen Autors Albert
Wass (1908‒1998) oder des Rumänen Horia Vintilă (1915‒1992) passte zu dem
Wiederaufleben des Rechtsnationalismus in Ostmittel- und Südosteuropa.78 Dieser
durchschlagende Erfolg des Nationalismus mag manchen liberal eingestellten
Leser überrascht haben, doch er bestätigte die skeptische Vorhersage Endre
Bojtárs, derzufolge nach dem Fall des Kommunismus das einfache Volk aus der
Literatur des vormaligen Ostblocks verschwinden und die „allgemeinen
Erfahrungen“ durch eine Wiederbelebung des Nationalismus ersetzt würden.79
Mit dem Exodus von Deutschen und Juden (teilweise auch von Ungarn und
Rumänen!) in der Nachkriegszeit kam das Thema der nationalen Vielfalt im
nostalgischen Heimatroman Siebenbürgens wieder auf, so etwa in Attila Váris
(geb. 1946) „Cselédfarsang“ (Karneval der Diener, 2001) oder Eginald
Schlattners Bestseller „Der geköpfte Hahn“.80 Anders als die o.g., unterschwellig
antihumanistischen und antiidealistischen Werke, will Schlattner die Erinnerung
an ein vergangenes Umfeld konservieren bzw. wieder herstellen: „Die Erinnerung
ist das Paradies, aus dem dich niemand vertreiben kann.“81
Der Roman stellt so etwas wie Schlattners persönliche Landeskunde dar. Die
Erzählweise ist die des traditionellen Bildungsromans. Der allwissende Erzähler
kommentiert das Geschehen, indem er Randbemerkungen zu Geographie,
Geschichte der Nationalitäten, selbst zu Geschichtsschreibung und zum Alltag
seiner Figuren in der multiethnischen Kleinstadt Fogarasch (rum. Fogaraş, ung.
Fogaras) macht.
Die Zeit verläuft auf zwei Ebenen. Zum einen die historische Zeit, wie sie von
dem Erzähler vorgestellt wird; sie verläuft kontinuierlich bis zum alles
entscheidenden Wendepunkt, nämlich dem 23. August 1944. An diesem Tag
entließ der rumänische König Michael die mit NS-Deutschland verbündete
Regierung des General Antonescu, den er verhaften ließ. Rumänien kündigte sein
Bündnis mit Deutschland und den Achsenmächten auf und stellte sich auf die
Seite der heranrückenden Roten Armee. Die Erzählung bricht an diesem Punkt ab.
Genausowenig wird von der Zeit nach dem Wendepunkt berichtet, dem Beginn
der Machtübernahme der Kommunisten in Rumänien.
Inmitten der großen Geschichte erfahren wir von den kleinen, alltäglichen
Angelegenheiten des siebenbürgischen Ortes Fogarasch, gefiltert durch die
78
Eine hervorragende vergleichende Untersuchung der rechtsgerichteten Ideologie dieses
Autors, der im Siebenbürgen der Zwischenkriegszeit zu schreiben begann und nach dem Zweiten
Weltkrieg ins Exil in die USA ging und dort starb, bietet ÁGOSTON, A kisajátított tér, 2007.
79
BOJTÁR, Pitfalls, 2007.
80
Dieser Roman erschien erstmals 1998 in Wien, und seine Popularität v.a. bei den deutschen
Lesern übertrifft alle zuvor genannten Autoren. Gegenwärtig ist die neunte Auflage in
Vorbereitung.
81
SCHLATTNER, Der geköpfte Hahn, 1998, 9.
173
Jugenderinnerungen des Erzählers aus der wohlhabenden deutschen Mittelschicht.
Während des Zweiten Weltkriegs erfährt er seine Initiation in die Welt der
Erwachsenen: seinen Einzug in die Hitlerjugend, seine innere Zerissenheit
zwischen regionaler – patriachaler, patriotischer und religiöser – Identität und
Naziideologie und deren Entlarvung als leere Hülle und die Rückkehr zum
Lutheranismus durch die Entscheidung, sich konfirmieren zu lassen. Mit der
Abiturfeier, die ausgerechnet auf den Tag der politischen Wende fällt, findet diese
kleine Geschichte einen glücklichen Ausklang, indem der Junge sich aus den
Fängen der Naziideologie befreit. Zugleich beseitigt der junge Held seinen
Gegenspieler, einen früheren Freund, der sich zu einem fanatischen Nazi
gewandelt hat, und gewinnt das Herz der vornehmen Ortsschönheit Alfa Sigrid.
Das zweite und tatsächliche Ende der Erzählung tritt später in der Nacht ein, als
deutsche Flugzeuge Rumänien angreifen und die deutschen Landsleute in
Fogarasch bombadieren, wobei auch der Erzähler einen Märtyrertod findet.
Diese Verlusterfahrung leitet den Blick des fortan auktorialen Erzählers auf
die Gesellschaft. Der Blick ist nostalgisch und sentimental, er verbindet sich mit
der Sehnsucht nach der friedlichen Koexistenz der nationalen Kulturen
Siebenbürgens und ihrer wechselseitigen Bereicherung – geschildert als das
verlorene Paradies. In diesem idyllischen Universum kennt jeder seinen Platz, es
ist eine wohlgeordnete Hierarchie, zu der nicht nur die jüdische städtische
Mittelschicht, sondern auch das pittoreske Zigeunerlager am Rande der Stadt
gehört. Deshalb gleicht der Tonfall weder dem des hochmütigen und
selbstbewussten aufgeklärten Bildungsbürgertums, noch dem des tragischen
Pathos der Nationalisten des 19. Jahrhunderts, sondern er ist eher ein Tonfall
nostalgischer Ironie der abgesetzten herrschenden Klasse. So liefern die
Deutschen nicht als einzige ein kulturelles Vorbild, vielmehr können sie ihrerseits
auch einmal die Rumänen nachahmen, auch wenn es dabei nur um so
gewöhnliche Dinge wie Feierbräuche geht:
Tanztee ist laut Sprach-Brockhaus die Übersetzung von thé dansant. Er
beginnt um vier, fünf Uhr und klingt vor Mitternacht aus. Wir hier in
Fogarasch hatten diese gehobene Form der Geselligkeit den rumänischen
Lyzealschülern abgeguckt: Sie pflegten den ceai dansant, so der Name bei
ihnen, mit südlicher Lust und lateinischer Grandezza, wenn auch unter der
Aufsicht von mindestens zwei Müttern, die die Töchter nicht aus den Augen
ließen.82
So erscheint Siebenbürgen als bukolischer, polykultureller Himmel, mit dem
deutschen Patriziat an oberster Stelle, das sich erfolgreich Angehörige der
ungarischen und rumänischen Aristokratie von jenseits der Karpaten einverleibt
hat und über kosmopolitische städtische Tugenden verfügt. In sozialer und
mentaler Hinsicht unterscheiden sich die Nazianhänger deutlich. Darunter fallen
die dümmlichen Tanten, die ärmer und weniger gut gebildet sind als der Rest der
82
Ebd., 8.
174
Familie; der Onkel, der jedem Rock nachjagt; vor allem aber Angehörige der
ungebildeten Unterschicht, die darin den Kommunisten gleichen. Die Darstellung
der Nazis als Dummköpfe oder subalterne Sozialparasiten kommt beispielsweise
in der ungewollten Ironie der kleinen Schwester zum Tragen, die die subtilen
Mechanismen der Verstellung in der Öffentlichkeit nicht verstehen kann: „Eines
Mittags brachte die kleine Schwester ein modernes Tischgebet aus dem
Kindergarten mit: ‚Hände falten, Köpfchen senken und an Adolf Hitler
denken‘.“83
Das ist die eigentliche Aussage von Schlattners Roman und zugleich der
Unterschied zur Ideologie der Transsilvanisten in der Zwischenkriegszeit, dass
nämlich die wirkliche soziale Kluft innerhalb des alten Regimes zwischen den
kulturell aufgeschlossenen sozialen Eliten verlief, zu denen manchmal auch Juden
gehörten, und den Nichteliten. Der Erzähler geht auf ironische Distanz zur
faschistischen Forderung rassischer Reinheit, wenn er über die Herkunft des
Vaters spricht:
Der Großvater hieß Goldschmidt, H. H. I. G. Goldschmidt, und stammte von
Schirkanyen bei Fogarasch. Er war ein Siebenbürger Sachse, „achthundert
Jahre alt!“. Und somit erwiesenermaßen rein deutsch auf fünfundzwanzig
Generationen zurück. Da er wegen des Namens Goldschmidt oft für einen
Juden gehalten wurde, stak der Ahnenpaß ostentativ in der Brusttasche der
Marinenuniform, so daß jedermann den braunen Leineneinband und das
Hakenkreuz erkennen konnte. Im Ahnenpaß stand zu lesen: „Der Inhaber
dieses Ahnenpasses ist rein deutschblütig!“ Schwarz auf weiß. Die
Eintragungen gestempelt und gesiegelt vom Evangelischen Pfarramt
Schirkanyen. So – und nur so – konnte man dazumal Goldschmidt heißen.
Unser Vater fragte: „Warum willst du unbedingt ein Deutscher sein? Wo man
in Fogarasch keinen Schritt tun kann, ohne in mehreren Sprachen zu grüßen?
Dies alles wird ein böses Ende nehmen!“ Der Großvater erwiderte
ungehalten: „Ich bin ein alter k.u.k. Österreicher. Und du bist ein Defätist,
Felix!“84
Ebenso ironisch wird die Abstammung der Großmutter behandelt:
Anders als mit dem Großvater war es rassisch um die Großmutter bestellt. Ihr
Ahnenpaß war dunkelgrau. Der Einband war bloß mit einer Siegesrune geziert
– nicht mit dem Hakenkreuz. Sie wurde als arisch geführt, was wir Buben mit
arabisch verwechselten. Dabei dachten wir an Hadschihalef Omar und waren
erfreut, ihn in der Verwandtschaft zu wissen, mit seinen elf Schnurrbarthaaren
auf der Oberlippe, fünf links und sechs rechts.
In der Gebrauchsanweisung des Ahnenpasses war zu lesen: „rein deutsch ist,
wer nur deutsche Ahnen hat. Arisch ist, wer keine Juden zu Vorfahren hat.“
83
84
Ebd., 12.
Ebd., 13.
175
Die Großmutter hatte keine Juden zu Vorfahren, war aber nicht rein deutsch,
weil sie ungarischer Herkunft war. Ungarisch war Hunderttausendmal besser
als jüdisch, ja noch anders, ganz anders: ein Unterschied zwischen Himmel
und Hölle!
Freilich, arisch war nicht so edel wie deutsch. Obschon es bei unserer
Großmutter umgekehrt war: in ihrem Fall war das ungarische Blut edler als
das deutsche. Sie entstammte einem Aristokratengeschlecht. Wer sich nicht
verzählte, konnte auf dem Stammbaum – hoch wie ein Schlossfenster – bis
1467 elf Generationen von adeligen Altvorderen zurückverfolgen.85
National gemischte Ehen gab es nicht nur in der sozialen Elite, sondern auch in
den Unterschichten. Z.B. ist da eine Frau Brunhilde Sárközi, eine Figur wie bei
Gregor von Rezzori, die Zugeharbeiten im Haus verrichtet, die grotesk
gezeichnete Witwe eines Ungarn, der als Deutscher „an der Front“ gefallen ist.
Sie ist begriffsstutzig, extrem fleißig und lächerlich in ihrer übereifrigen
Verehrung für den „Führer“. Ebenso ist ihr verstorbener Ehemann, der auf dem
Weg zur Ostfront aus dem Zug fällt und so posthum als Kriegsheld geehrt wird.
Was die Gemeinschaft in der Kleinstadt sozial zusammenhält, ist also nicht
vorrangig die nationale Zugehörigkeit, sondern die humanistische Bildung. Im
Roman gibt es eine Trennung in Eliten und Nichteliten, deren Schärfe an
Bourdieu denken lässt, auch in urbane und ländliche Milieus. Ausserdem sind die
schönen und gebildeten Menschen mehrheitlich auch die Guten, die den
Verlockungen der Nazipropaganda widerstehen. So finden sich die
wohlgesonnene sächsische Bürgerfamilie und die inzwischen ghettoisierte
jüdische Ärztefamilie auf der gleichen Seite. Hier genießen die jüdischen
Goldschmidt-Kinder mehr Privilegien beim Umgang mit den Kindern aus der
Elite als die Kinder des im Dorf geborenen Hausmädchens Fofo:
Mit den Kindern von Fofo ließ sich nichts anstellen. Sie waren anders als wir
und dazu langweilig. Sie redeten nur sächsisch, in unartikulierten Lauten,
während wir in der Familie hochdeutsch sprachen, wie das in der Stadt eben
die Sitte war. Wenn wir uns verständigen wollten, mussten wir rumänisch
radebrechen. Keiner wollte das.86
Bezeichnenderweise bleibt das Bild der Juden alles in allem stereotyp und
schematisch. Die jüdischen Romanfiguren dienen den moralischen Anwandlungen
der weiteren Goldschmidt-Familie als Folie, so wie der Antisemitismus der
ungebildeten Nazitanten:
Die Juden von Fogarasch hießen Hirschhorn und Thierfeld. Oder Schul, Dr.
Schul, unser gewesener Hausarzt. Und hießen Glückselich. Ein Jude trug den
Namen Alfred Rosenberg. Einer den Namen Bruckental, mit ck und ohne th,
85
86
Ebd., 14.
Ebd., 18.
176
schicklicherweise anders geschrieben als Samuel von Brukenthal, der größte
Mann, den das sächsische Volk hervorgebracht hatte, und ein Busenfreund
der Kaiserin Maria Theresia, wie das Volk stolz munkelte. „Welch Sachse!“
Ja, selbst Goldschmidt nannten sie sich – wie unsereiner. Und hießen sogar
Deutsch: Siegfried Deutsch, Brunhilde Deutsch, Florence Deutsch. Deutsch!
Was nicht nur die Höhe an Impertinenz war, sondern Schande und Kränkung
des Führers, wie die Tanten sich entrüsteten: „Aber es nützt ihnen nichts, auch
wenn sie noch so deutsch heißen!“87
Der Ausschluss der Juden aus der Gemeinschaft während des Krieges ist eine
Nebenhandlung des Romans, die auch dazu dient, die humanistischen Werte der
deutschen Goldschmidt-Familie hervorzuheben. Die Eltern setzen sich tapfer über
das rassistische Tabu hinweg; der Vater pflegt demonstrativen Umgang mit Tante
Glückselich, deren Tochter nicht mehr ihre alte deutsche Schule besuchen darf.88
Der Erzähler selbst besteht die letzte Probe seiner Initiation, indem er sich
ostentativ um die Tochter der Frau Hirschhorn kümmert, die zu dieser Zeit krank
im Ghetto liegt. Eine der letzten Szenen zeigt voll romantischen Pathos, wie der
Held mit dem jüdischen Mädchen tanzt; sie soll suggerieren, dass Humanität über
Krieg und sogar Holocaust triumphieren kann.
Schlattners Roman war ein großer Verkaufserfolg und wurde nach seinem
Erscheinen von der Kritik dafür gelobt, die NS-Demagogie und den
Antisemitismus unumwunden darzustellen, wie sie im Siebenbürgen des Zweiten
Weltkriegs um sich griffen. Auch die Darstellung von Fogarasch als
multikulturelles Universum wurde positiv aufgenommen, wie es Schlattner mit
hintersinnigen Kommentaren und selbstironischen Genreszenen innerhalb einer
versunkenen und idealisierten siebenbürgischen Welt gezeichnet hatte. Allerdings
war der Erfolg des Autors dadurch getrübt, dass sich eine Kontroverse über seine
wenig glorreiche Rolle während der späten 1950er Jahre entspann, als die
Kommunisten Intellektuelle mit abweichender Meinung repressierten. Es ging
dabei um den sogenannten Kronstadter Schriftstellerprozess, bei dem Schlattner,
gebrochen von der Folter in einem Gefängnis der Securitate, der Anklage
inkriminierende Aussagen gegen eine Reihe anderer Schriftsteller lieferte. Als im
Jahr 2000 sein nächster Roman erschien, „Rote Handschuhe“, interessierte sich
die Kritik bereits mehr dafür, was Schlattners Weltsicht und fiktionales
Gedächtnis verbarg und nicht dafür, was es enthüllte, nämlich eine Funktion als
moralische Kompensation.89 Es bleibt eine offene Frage, inwieweit Schuldgefühle
an Schlattners Poetik und dem moralischen Unterton beteiligt sind. An dieser
Stelle kann es nur darum gehen, inwieweit das nostalgische soziale Gedächtnis
von Schlattners Texten auf solche Hintergründe zurückgeht. Denn die
Erinnerungen des gereiften Erzählers in „Der geköpfte Hahn“ geben nicht einfach
87
88
89
Ebd., 17.
Ebd.
SCHULLER, Wir schämten uns nicht, 1999; SÁNTA-JAKABHÁZI, Örök börtön, 2006.
177
geschehene Ereignisse wieder, wie sie sich ereignet haben.90 Wie ich zu zeigen
versuchte, geht es in Schlattners Darstellung eines siebenbürgischen
Mikrokosmos vielmehr darum, paternalistische Sozialhierarchien in einer leicht
umgewandelten Form wiederzubeleben.
So wie in vielen anderen Regionen Ostmitteleuropas, des Balkans und des
Baltikums war ethnische Vielfalt und Verflechtung eine der kulturellen
Konstanten von Siebenbürgen. Eingekeilt zwischen den kulturellen Metropolen
Österreichs, Ungarns und Rumäniens, wurde Siebenbürgen zu einem
Austragungsort des Konkurrenzkampfes verschiedener kultureller Eliten. Alle
regionalen Literaturkanons machten sich seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert
die klare Abgrenzung von Kulturen zur Aufgabe. Diese Kulturen waren jeweils
auf die Nation ausgerichtet und eiferten einander nach; die auf Sprache basierende
kulturelle Ausgrenzung schuf die Vorstellung, dass Nationalkulturen sauber
voneinander getrennt existierten. Eine der anspruchvollsten Forschungsaufgaben
war in den vergangenen Jahrzehnten, die regionale Entwicklungsdynamik von
Nationalkulturen zu erklären, und zwar in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit
ebenso wie in ihren Bezügen zu umfassenderen politischen und gelehrten
Diskursen und Entwicklungen.
Ich möchte diesen Text als Beitrag mit einer ähnlichen Absicht verstanden
wissen.Wie alle aus der Aufklärung hervorgegangenen Sozialwissenschaften
unternahm die Landeskunde den ersten Versuch, Gesellschaft und Natur
Siebenbürgens in ihrer Komplexität zu erfassen. Aber dieser Versuch schlug fehl.
Die Gründe dafür lagen letztendlich in der nationalen Ausrichtung der
Wissenschaften während des langen 19. Jahrhunderts. Die siebenbürgischen
Gelehrten beschrieben und klassifizierten ihre multinationale Gesellschaft mittels
hierarchischer Taxonomien, in denen die Nichteliten als „Wilde“ oder anderswie
defizitäre Individuen eingeordnet wurden. Manchmal waren diese
Klassifizierungen wohlwollend, wurden aber auch oft missbraucht. In jedem Falle
überdauerten sie als Stereotypen; auch heute noch kann man in Siebenbürgen von
der vermeintlichen siebenbürgisch-sächsischen Kulturüberlegenheit hören, von
der Arroganz und Heißblütigkeit der Magyaren, von der Faulheit der Rumänen
und von den exotischen und unbezähmten fahrenden „Zigeunern“. Diese
tiefsitzenden Auffassungen haben ihren Ursprung in der aufgeklärten
Landeskunde, in deren Entstehungszeit auch die Anfänge der Volksbildung
liegen. Der Landeskunde gelang es in einzigartiger Weise, ein Bild der
Gesellschaft zu entwerfen, in dem soziale Ungleichheit mit nationalen
Unterschieden erklärt wurde. Dieses Bild wurde von anderen Fachdisziplinen
aufgegriffen und mutierte schließlich auch zu einem Topos der Erzählliteratur des
langen 19. Jahrhunderts.
So verstanden, können Landeskunde und Literatur als historisches Archiv des
politischen Denkens aufgefasst werden. Das galt besonders für die Wende vom
18. zum 19. Jahrhundert, als Gelehrsamkeit und schöne Literatur beidermaßen
90
Ich verwende den Begriff der „erfundenen Tradition“ nach ANDERSON, Erfindung, 1996.
178
versuchten, die Gesellschaft zu bilden und ihre Kritikfähigkeit zu schärfen.
Zugleich ist aber auch hochinteressant zu beobachten, wie die Erzählliteratur in
politischen Krisen nicht mehr nur ein Repertoire an wissenschaftlichen
Erkenntnissen bereitstellte, sondern ihre politische Passivität abwarf, um selbst
den Status quo zu kritisieren. Das trifft auf Budai-Deleanus gelehrtes Epos zu, galt
aber zweihundert Jahre später immer noch, als im Rumänien der 1980er Jahre
Romane nicht nur den Totalitarismus kritisch deuteten, sondern auch
Vorstellungen von einer neuen Gesellschaft lancierten. Das waren wunderbare
Momente, besonders in Anbetracht der neokonservativen Tendenz der
postkommunistischen Zeit und ihres Rückgriffs auf ein paternalistisches
Sozialmodell sowie die stärker werdende populistische Definition der kollektiven
Identität.
Ich habe an dieser Stelle eine doppelte Absicht verfolgt. Zum einen ging es
mir darum, die sonst übliche Beschränkung literaturwissenschaftlicher Analysen
auf eine einzelne Nationalliteratur zu überwinden, in dem ich die kulturellen
Projektionen siebenbürgischer Werke von Autoren unterschiedlicher
Abstammung miteinander verglich. Das ist eine sehr anspruchsvolle Aufgabe,
weil dazu die verschiedenen literarischen und gelehrten Kanons untersucht
werden müssen. Das wiederum brachte mich dazu, mich mit einer weiteren
Interferenz zu befassen, nämlich der Verflechtung zwischen Wissenschaft und
Literatur, die einem komplexen und dynamischen Wechselprozess unterworfen ist
und an dieser Stelle lediglich skizziert werden konnte.91 Es bleibt gleichwohl eine
lohnende Aufgabe zu untersuchen, dass nicht allein auf regionaler Ebene sich
gelehrte und literarische Prosa daran beteiligten, soziale Hierarchien zu formen
und soziale Ungleichheiten darzustellen. Schlussendlich sucht diese Untersuchung
Anschluss an die große Debatte über die Fiktionalität von Wissenschaft,
besonders der Geisteswissenschaften, wie sie von Hayden White, Paul Ricoeur,
Frank Ankersmit, Reinhart Koselleck und anderen herausgestellt wurde; eine
Fiktionalität, die in einem Wechselverhältnis steht zu der kreativen Adaption von
geistes- und naturwissenschaftlichen Normen in der schönen Literatur.
Aus dem Englischen von Andreas R. Hofmann
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Gabriela Kiliánová
Tod und Tödin in Medzev. Interferenzen der kulturellen
Repräsentation in einem mehrsprachigen
Kommunikationsraum
1. Einleitung: Begriffe, Material und Methode
Dieser Beitrag handelt von Erzählungen über den Tod in der oralen Tradition
zweier Sprachgruppen – der Slowaken und der Deutschen in der Slowakei.1
Obwohl ich mich auf Texte dieser Provenienz konzentriere, analysiere ich
daneben auch ungarischsprachiges Material aus der Slowakei, denn ohne dessen
Berücksichtigung wäre es nicht möglich, die beiden anderen Überlieferungen
historisch oder in ihrer gegenwärtigen Bedeutung einzuordnen.
Ich untersuche die Gestalt des Todes als kulturelle Repräsentation, worunter
ich eine andauernde und allgemein verbreitete Vorstellung innerhalb der
Betrachtungsgruppe verstehe.2 Mein Forschungsgebiet ist die Slowakei des 20.
Jahrhunderts und der Gegenwart, einschließlich gelegentlicher Rückgriffe auf das
19. Jahrhundert, also ein Land, das sich aufgrund seiner Geschichte durch
ethnisch-nationale, sprachliche und konfessionelle Heterogenität auszeichnet. Ich
bin auf der Suche nach Überlieferungen bei Slowaken und Deutschen, in denen
Personifikationen des Todes in Erscheinung treten. Denn die Gestalt des Todes ist
ein
ausgezeichnetes
Beispiel
für
mannigfaltige
Diffusionsund
Akkulturationsprozesse.
Auf die Repräsentation und Personifizierung des Todes hatte stets die
Tatsache Einfluss, dass das Wort „Tod“ in slawischen Sprachen grammatisch
weiblich und in germanischen Sprachen grammatisch männlich ist.
Dementsprechend ist bei den Slowaken, wie bei den Slawen insgesamt, die
Repräsentation des Todes als Frau vorherrschend. Es handelt sich vorwiegend um
eine in weißes Tuch gehüllte Frau oder eine Frau im weißen Kleid, mal mit, mal
ohne Sense. Dagegen tritt der Tod in deutschsprachigen Regionen meist als Mann
auf, als Sensenmann, „kleines Männchen“ oder „Klapperhannes“. In der
ungarischen oralen Traditionen erscheint der Tod meistens auch in männlicher
1
Im vorliegenden Material finden sich nur selten Angaben, die es erlauben, die ethnische oder
nationale Identität der Erzähler zu bestimmen. Deshalb halte ich es für präziser, über die
Forschung in Sprachgruppen und nicht in ethnischen oder nationalkulturellen Grupen zu
schreiben.
2
SPERBER, Interpreting, 1993.
186
Gestalt, wobei zu bedenken ist, dass das Ungarische kein grammatisches Genus
kennt, also in dieser Hinsicht neutral ist.3
Die Repräsentation des Todes ist jedoch in keinem Sprachgebiet homogen,
also nie ausschließlich an eine männliche oder weibliche Figur gebunden.
Beispielsweise verzeichnet der Katalog von Legenden über den Tod und
Verstorbene aus dem deutschen Sprachgebiet auch die Figur der Tödin, allerdings
stammt die Legende mit dieser Figur aus der Grenzregion zwischen dem
deutschen und slawischen Sprachgebiet, ist also ein sehr gutes Beispiel für
kulturelle Interferenz.4 Die Vorarbeiten für diese Studie haben weitere Nachweise
von Interferenzen zwischen deutschem und slowakischem Material erbracht.
Darüber hinaus zeigen die slowakische und die deutsche Überlieferung im 20.
Jahrhundert interessante Querverbindungen zum ungarischen Material.5
Ich betreibe meine Untersuchung unter dem Gesichtspunkt, ob im
slowakischen und deutschen Material zur Repräsentanz des Todes
Durchdringungen, Überschneidungen oder der Austausch von Bildern, mithin
Interferenzen im Sinne unseres Projekts nachzuweisen sind. Die Spaltung und
gleichzeitige Überlappung männlicher und weiblicher Todesbilder und die
narrative Thematisierung des Todes stehen dabei im Mittelpunkt.
Mein Ziel ist es, Interferenzen der Repräsentation in mehrsprachigen
Kommunikationsräumen nachzuweisen. Repräsentation ist dabei im Sinne von
Stuart Hall als Versuch zu verstehen, bestimmte Vorstellungen über Objekte von
Mensch zu Mensch zu vermitteln. Dies ist ein überraschend komplexer Prozess,
bei dem reale oder imaginäre Objekte nicht nur als Vorstellungen, sondern
zugleich ihre Bedeutungen vermittelt werden. Mit Stuart Hall gesagt:
„Representation is an essential part of the process by which meaning is produced
and exchanged between members of a culture.“ 6 Dieser Prozess funktioniert über
Sprache, verstanden im weiteren Sinne des Wortes, d.h. als Ensemble von
linguistischen Codes, Bildern, Gebärden etc.
Die hier untersuchten Vorstellungen von den Figurationen des Todes sind
vermutlich mentale Repräsentationen.7 Diese mentalen Vorstellungen, also
vielgestaltige Bilder des Todes, werden in Erzählungen, verstanden als öffentliche
Repräsentationen,8 geäußert und vermittelt. Es geht mithin um kulturelle
Repräsentationen, d.h. um beständige, in der Gruppe allgemein verbreitete
Vorstellungen. Gleichzeitig ist die jeweilige Figuration des Todes kulturell
3
MÁCHAL, Nákres 1891, 85‒88. ‒ MOSZYŃSKI, Kultura ludowa, 1967, 701. ‒ GEIGER, Tod,
1936/37. ‒ CHORVÁTHOVÁ u.a., Smrť, 1995. ‒ KOVÁCS, Halál koma, 1979.
4
RÖHRICH/ MÜLLER, Tod, 1967.
5
Ich danke Michaela Ferencová für die Unterstützung bei der Feldforschung in der
Marktgemeinde Medzev bei der magyarischen Minderheit und die Aufbereitung des Materials zur
ungarischen mündlichen Tradition über die Gestalt des Todes in der Slowakei für dieses Projekt.
6
HALL, Work of Representation, 1997, 15.
7
„The representation may exist inside its user: it is then a mental representation such as a
memory, a belief, or an intention.“ SPERBER, Explaining Culture, 1996, 32.
8
„Public representations are usually means of communication between a user and a producer
distinct from one another.“ Ebd.
187
codiert; der dabei jeweils verwandte Code, so meine Hypothese, unterscheidet
eine Gruppe von der anderen.
Das hier untersuchte Material ist demnach gruppenspezifisch: Es geht um
Narrationen, die in den jeweiligen Sprachgruppen kursieren. Ob es sich aber
tatsächlich um gruppenbezogenes Material handelt, muss erst anhand des
empirischen Materials nachgewiesen werden. Ein Problem fällt bei der
historischen Überlieferung unmittelbar auf: Die Antologien von Erzählungen in
den hier betrachteten Sprachen liefern zwar bestimmte Zusatzinformationen wie
z.B. Angaben über Erzähler und Ort, doch sie schweigen sich meist über die
soziale, ethnische, sprachkulturelle oder konfessionelle Zugehörigkeit des
Erzählers sowie über die Verbreitung der Erzählung in einer bestimmten Gruppe
aus. Noch ein weiterer Befund ist charakteristisch für Sammlungen aus dem
ausgehenden 19. und dem 20. Jahrhundert: die Sammler gingen oft von der
vereinfachten Prämisse aus, dass Erzählungen in slowakischer Sprache
slowakischer Herkunft seien und von Slowaken erzählt werden, Erzählungen in
deutscher Sprache von Deutschen. Sie wurden als entsprechend als „slowakische“
oder „deutsche“ Märchen etikettiert und publiziert. So kam es zur Verwechslung
von Sprachgemeinschaften und ethnischen Gruppen.9
Die Erzählungen über die Gestalt des Todes werden zuerst auf einer
abstrakten Ebene untersucht. Die Repräsentationen, verstanden als abstrakte
Objekte, haben formale Eigenschaften, die in formalen Beziehungen zueinander
auftreten können.10 In diesem Zusammenhang werde ich Motive in den
slowakischen und deutschen Erzählungen aus der Slowakei beschreiben. Zudem
möchte ich nach möglichen formalen Interferenzen der Erzählungen suchen.
Im nächsten Schritt werden mögliche Interferenzen als Schnittstellen
kultureller, an verschiedene Gruppen gebundene Systeme gesucht. Dabei steht die
Frage im Mittelpunkt, ob die Repräsentationen, also männliche und weibliche
Vorstellungen über die Gestalt des Todes, als verschiedene kultureller Codes
innerhalb der Gruppen bekannt sind. Gleichzeitig wird untersucht, ob und auf
welche Weise solche Unterschiede als gruppenbezogene Differenzen reflektiert
werden.
9
Unter ethnischen Gruppen verstehe ich solche, die aufgrund einer Vorstellung ihrer
Mitglieder über die (ethnische) Andersartigkeit der eigenen Gruppe („Wir-Gruppe“) von anderen
Gruppen konstruiert sind. Für ihre Mitglieder hat die nationalkulturelle Gruppe Bedeutung und
Sinn, die von diesen auch wahrgenommen werden. Die Mitglieder der Gruppe verstehen unter
ethnischen Unterschieden Phänomene wie Sprache, Territorium, Vorstellungen über die eigene
kulturelle Traditionen, über eine gemeinsame Geschichte und Vorfahren. Aber nicht die
Unterschiede selbst, sondern ihre Auswahl und Verwendung als ethnische Merkmale, als Grenzen
zwischen „wir“ und „den anderen“ führen zur Konstruktion der ethnischen Gruppe. BARTH,
Introduction, 1970. ‒ JENKINS, Rethinking Ethnicity, 1998, 52‒73. ‒ KILIÁNOVÁ, Ponímanie,
2009, 23‒26. Das Konzept soll als Prozess verstanden werden, bei dem es um die Identifizierung
der „Wir-Gruppe“ im Gegensatz zu den Gruppen „der anderen“ geht. Die nationalkulturelle
Gruppe verstehe ich nicht als homogene Gruppierung, deren Mitglieder stets dieselben Ziele und
Strategien haben, sondern berücksichtige auch Unterschiede innerhalb einer Gruppe. BRUBAKER,
Ethnicity, 2004, 7‒10.
10
SPERBER, Anthropology, 1985.
188
Der zweite Teil der Studie basiert auf ethnographischen Feldforschungen, die
eine Kollegin und ich in dem mehrsprachigen Kommunikationsraum der
Marktgemeinde
Medzev11
durchgeführt
haben.
Dort
leben
eine
Einwohnermehrheit mit slowakischer und eine Minderheit, die deutsch bzw. die
Dialektform mantakisch12 spricht. Daneben sind weitere Minderheiten, u.a. Roma,
Ungarn und Tschechen in Medzev beheimatet.
Unter Kommunikationsräumen verstehe ich einerseits konkrete Orte und
geographische Einheiten, in diesem Fall die Gemeinde Medzev, die als
Erhebungsgebiet für meine Fallstudie dient. Darüber hinaus wird dieser
geographische Ort auch als sozialer Raum betrachtet, in dem sich Akteure
begegnen, kommunizieren und Repräsentationen austauschen.
Vermutlich richtet sich die Verwendung einer Sprache in einem
mehrsprachigen Gebiet nach bestimmten Regeln. Die Sprache ist kein sozial
neutrales Kommunikationsmittel, sondern an eine bestimmte soziale Gruppe als
deren kultureller Code gebunden. Deshalb ist die Benutzung einer bestimmten
Sprache im öffentlichen Raum als spezifische Botschaft zu verstehen. Welche
Sprache verwendet wird, sendet ein wichtiges Signal aus – ist es die einer
Minderheits- oder der Mehrheitsbevölkerung, oder sind etwa verschiedene
Sprachen vermischt? Die Verwendung ihrer Sprachen im öffentlichen Raum lässt
Rückschlüsse auf die gesellschaftliche Hierarchie der betreffenden Gruppen und
ihr Zusammenleben im Betrachtungsgebiet zu.
In dieser Fallstudie werden Deutsch und Slowakisch vor allem als
gruppenspezifische Kommunikationsmittel in einem mehrsprachigen Raum
betrachtet. Durch die Sprache werden narrative Repräsentationen über den Tod
oder die Tödin vermittelt. Anhand dieser Erzählungen möchte ich Interaktionen
zwischen den Gruppen oder ihre Ausbleiben untersuchen.
Kultur- und sozialanthropologische Forschungen zeigen, dass Mehrheits- und
Minderheitsgruppen in einem sozialen Raum meist hierarchisch angeordnet
sind.13 Deshalb gelingt es ihren kulturellen Repräsentationen in unterschiedlichen
Graden, in den öffentlichen Raum durchzudringen und aufeinander Einfluss
ausüben. In diesem Zusammenhang werde ich in meinem Beitrag zwei Frage
stellen: 1. Kennen die Akteure die Vorstellungen der jeweils anderen Gruppe? 2.
Werden die unterschiedlichen Vorstellungen von der Gestalt des Todes bei
11
Deutsch Metzenseifen, ungarisch Meczenzéff, in der historischen Region Unterzips, heute
Bezirk Košice (Kaschau) und Umgebung.
12
SCHWARZ, Československá vlastivěda,1934, 588f., bezeichnet den örtlichen Dialekt als
bairische Mundart. Spätere Autoren wie GEDEON, Besonderheiten, 1961, 61‒68, oder Handbuch,
1985, 1982 stellten in dem Dialekt nicht nur bairische, sondern auch ostmitteldeutsche
(schlesische) Anteile fest. Daraus würde hervorgehen, dass die Bewohner vielleicht aus
verschiedenen deutschsprachigen Regionen stammten. Nach der örtlichen, volksetymologischen
Tradition ist das Wort Mantak von der Frage abgeleitet, die angeblich die mantakischen
Geschäftsleute den ungarischen Markthändlern stellten, die sie nicht verstanden: „Bos mant a?“
(Was meint er?). Eine andere Auslegung stützt sich auf das ungarische Wort mondani (sagen).
„Mondtak“ heißt „er sagte“ und wird sehr ähnlich ausgesprochen wie „Mantak“. RICHTERKOVARIK, Kultúra, 2003, 325.
13
ERIKSEN, Ethnicity, 1993, 46f.
189
verschiedenen Gruppen überhaupt als differenzierte kulturelle Codes erkannt?
Meine Hypothese ist, dass sich die Hierarchie der Gruppen in der Wahrnehmung
der Gruppendifferenzen widerspiegelt.
Da das Projekt seinen Gegenstand auch in diachroner Perspektive behandelt,
fragt es ebenso nach Kontinuitäten wie Diskontinuitäten der Todesvorstellungen
innerhalb einer Gruppe und im Austausch zwischen den Gruppen. Ich gehe davon
aus, dass kulturelle Codes generell historisch sehr beständig sind. Dennoch ist
anzunehmen, dass einige Bestandteile dieser Codes infolge der politischen
Geschichte des 20. Jahrhunderts sowie aufgrund sozialer, ökonomischer und
kultureller Modernisierungsprozesse verschwunden oder vergessen worden sein
können.
Der Beitrag verwendet transkribierte mündliche Erzählungen in slowakischer
und deutscher Sprache, die auf dem Gebiet der heutigen Slowakei im 20.,
gelegentlich bereits im 19. Jahrhundert zusammengetragen wurden. Dieses
Material wird von Erzählungen ergänzt, die ich selbst bei Feldforschungen in den
1970er bis -90er Jahren in verschiedenen Regionen der Slowakei gesammelt habe.
Anschließend werden die Ergebnisse der Feldforschungen zum Thema in der
Gemeinde Medzev unter der slowakisch- und deutschsprachigen Bevölkerung
sowie die Interferenzen der Repräsentation des Todes zwischen beiden Gruppen
vorgestellt.
2. Personifikationen des Todes in slowakischen und deutschen
Narrativen in der Slowakei
Vorstellungen des Todes als anthropomorphe oder zoomorphe Gestalt wurden
innerhalb der slowakischen und deutschen Sprachgruppe in der Slowakei meist
über mündliche narrative Genres wie Märchen, Sage, Erinnerungserzählung, Lied,
Gedicht oder Spiel tradiert. Selbstverständlich waren auch visuelle Darstellungen
an der Formung volkstümlicher Vorstellungen von der Gestalt des Todes beteiligt.
Seit dem Mittelalter begegneten Todessymbole in Gestalt Verstorbener, als
Schädel mit darunter gekreuzten Knochen, seit dem Spätmittelalter auch als
Knochenmann auf Gemälden in Kirchen, in Form von Skulpturen, auf
Grabsteinen sowie auf Stichen in Bauernkalendern und anderen
Massenpublikationen. Der Knochenmann mit oder ohne Sense, mit Uhr und
weiteren Attributen wurde in der Slowakei wie insgesamt in Europa besonders
während des Barock, also im 17. Jahrhundert populär.14
Ich konzentriere mich auf aus der mündlichen Überlieferung stammende
Erzählungen in slowakischer und deutscher Sprache aus der Slowakei. Nach Lutz
Röhrich bilden Erzählungen über den Tod und Verstorbene die größte
14
Ausführlicher KILIÁNOVÁ, Gestalt, 1996, 65‒67. Zu Symbolen des Todes ROSENFELD, Tod,
1972.
190
Einzelgruppe innerhalb der deutschen Sagen.15 Zu einem ähnlichen Ergebnis
gelangen auch meine in verschiedenen Gebieten der Slowakei betriebenen
Forschungen.16 Innerhalb der Gesamtheit der Erzählungen vom Sterben und von
Verstorbenen bilden Texte über das Erscheinen des personifizierten Todes eine
zahlenmäßig kleinere, aber wichtige Gruppe.
In der traditionalen Gesellschaft17 wurden Geschichten, in denen ein
personifizierter Tod auftrat, bei verschiedenen Gelegenheiten gezählt, etwa bei
der gemeinsamen Arbeit, beim geselligen Beisammensein, bei familiären und
gesellschaftlichen Anlässen, also in einem recht großen Zuhörerkreis. Durch die
häufige Wiederholung derselben Erzählung war sichergestellt, dass diese ebenso
vertikal, d.h. generationenübergreifend, wie horizontal, d.h. zwischen
verschiedenen sozialen Gruppen und Individuen, weitergegeben wurde. Für die
moderne europäische Gesellschaft ist es dagegen typisch, dass das Thema des
Lebensendes eher tabuisiert oder zumindest vermieden oder vernachlässigt wird.18
Tendenziell gehört heute das Erzählen vom Sterben und Tod eher in den privaten,
intimen Bereich, was ich auch anhand meiner Fallstudie zu Medzev darlegen
werde. Unter dem Einfluss von Modernisierung, Säkularisierung und
Rationalisierung sind zudem Kenntnisse von traditionellen Vorstellungen wie
etwa dämonischen Wesen und Personifizierungen des Todes im Schwinden
begriffen.
15
RÖHRICH, Tod, 1980, 183.
Zur Volksprosa forschte ich bei der slowakischsprachigen Bevölkerung in der Westslowakei:
Gemeinden Nová Bošáca 1972 und 1973, Závod 1990 und 1992, Malé Leváre, Gajary, Moravský
Svätý Ján 1991 und 1992; in der Nordwestslowakei: Gemeinde Nová Bystrica 1981‒1987,
Kysucké Nové Mesto und Einsiedeleien in der Umgebung 1987 und 1988; in der Ostslowakei:
Gemeinde Krivany 1990.
17
Die traditionale, patriarchale, vormoderne Gesellschaft in der Slowakei wandelte sich unter
dem Einfluss der ersten Modernisierungswelle, d.h. dem Einfluss der Industrialisierung, der
Urbanisierung, der demographischen Revolution und kulturellen Modernisierung, am Ende des 19.
und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Unter kultureller Modernisierung verstehe ich v.a.
Säkularisierung, Individualisierung, Rückgang der Bedeutung von Familie, lokaler und anderer
Gemeinschaften. Die Slowakei bewahrte bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts ihren ländlichen
Charakter, die Mehrheit der Bevölkerung arbeitete in der Landwirtschaft. Auch bis etwa zur Mitte
des 20. Jahrhunderts hielten sich auf den Dörfern und in kleineren Städten Bestandteile der
traditionellen, vorindustriellen Kultur und Lebensart. Die zweite Modernisierungswelle seit den
1950er Jahren brachte zwar einen Wandel der sozialen Struktur, der Anteil des Agrarsektors ging
zurück, während die Anteile von Industrie und Dienstleistungssektor zunahmen. Diese zweite
Modernisierungswelle vollzog sich jedoch im sozialistischen Staat, in dem einige
Modernisierungsmomente unterdrückt wurden, so etwa die Individualisierung, die persönliche
Freiheit, während andere mittels staatlicher Repressionen auch gewaltsam durchgesetzt wurden,
beispielsweise die Säkularisierung. MANNOVÁ/ HOLEC, On the Road, 2000. ‒ LIPTÁK, Slovakia,
2000. Zur kulturellen Modernisierung GERHARDS/ HACKENBROCH, Kulturelle Modernisierung,
1997.
18
ARIÈS, Geschichte, 1980. – MOŽNÝ, Moderní rodina, 1990. – VOVELLE, La mort, 1983.
16
191
3. Slowakischsprachige Erzählungen mit Todespersonifikationen aus
dem 19. und 20. Jahrhundert
Das Material zur Personifikation des Todes in slowakischen Erzählungen ist recht
gut in dem Katalog von Jiří Polívka (1858‒1933) dokumentiert, der Erzählungen
aus handschriftlichen und publizierten Sammlungen mündlicher Volksprosa vom
Beginn des 19. Jahrhunderts bis zum Jahr 1914 verzeichnet.19 Der jüngere
Katalog von Viera Gašparíková stellt noch reicheres Material zur Verfügung, weil
die Autorin mit einem umfangreicheren Korpus von Texten unterschiedlicher
Prosagattungen arbeitete. Zeitlich ist Gašparíkovás Katalog von Aufzeichnungen
vor allem aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine gute Ergänzung zu
Polívkovs Zusammenstellung.20
Dieses Material wird durch das Verzeichnis von Märchen, Sagen und
Glaubenserzählungen über Personifizierungen des Todes ergänzt, das ich selbst in
den 1990er Jahren zusammengestellt habe. Darin nahm ich Narrationen auf, das
zeitlich vom frühen 19. bis zum ausgehenden 20. Jahrhundert reicht. Außer auf
die Sammlungen von Polívka und Gašparíková stützte ich mich auf meine eigenen
Feldforschungen sowie auf Aufzeichnungen von mündlichen Erzählungen aus
dem 19. und frühen Jahrhundert im Literatur- und Kunstarchiv der Slowakischen
Nationalbibliothek sowie im Textarchiv der Gesellschaft für Volkskunde der
Slowakei, ferner auf eine detaillierte Auswertung von Druckerzeugnissen aus dem
19. und frühen 20. Jahrhundert. So konnte ich einige unbekannte Erzählungen
finden, die in den genannten Katalogen nicht enthalten sind.21 Ich beziehe in
meine Untersuchung Material aus dem 19. Jahrhundert ein, um die in Rede
stehenden Fragen als Phänomene der mittleren Dauer auch diachron beobachten
zu können.
Personifikationen des Todes erscheinen in der Slowakei in sechs
verschiedenen Märchentypen. Zu den verbreitetsten Märchen gehört die
„Gevatterin Tödin“, das nach dem internationalen Index von Antti Aarne und
Stith Thompson (im Folgenden AaTh)22 als Märchentyp 332 in vielen
europäischen Ländern bekannt ist.23 In der Slowakei wurde das Märchen seit dem
frühen 19. Jahrhundert bis zum Ende des 20. Jahrhunderts zehnmal in
verschiedenen Varianten erfasst, von denen folgende Variante am weitesten
verbreitet ist:
19
POLÍVKA, Súpis, 1923‒1931. Obwohl diese Publikation „Verzeichnis slowakischer Märchen“
heißt, erfasst sie Texte verschiedener Prosagattungen.
20
GAŠPARIKOVÁ, Katalóg, 1991‒1992.
21
KILIÁNOVÁ, Gestalt, 1996, 82‒89.
22
AARNE/ THOMSON, Types, 21961. Von diesem Index liegt eine stark überarbeitete Fassung
vor, siehe UTHER, Types, 2004. Jedoch wurden das slowakische Verzeichnis von Gašpariková,
Katalóg, 1991‒1992, wie auch das ungarische Verzeichnis der oralen Überlieferung Magyar
népmesekatalógus, 1988, sowie SÜVEGH, Mések tipusa, 1982, zit. nach AARNE/ THOMSON, Types,
2
1961 bearbeitet; deshalb richte ich mich nach der älteren Version.
23
In verschiedenen europäischen Ländern kommt die Erzählung jedoch mit einer männlichen
oder weiblichen Todesgestalt vor, also „Gevatter Tod“ oder „Gevatterin Tödin“.
192
Ein armer Mann geht aus, um einen Paten für sein neugeborenes Kind zu
suchen. Dabei begegnet er einer unbekannten Frau, die verlangt, das Kind zur
Taufe zu bringen. Es ist die Tödin, die dem Mann die Gabe schenkt, Kranke
zu heilen. Wenn der arme Mann als Wunderheiler zu einem bettlägerigen
Kranken kommt und die Tödin am Fußende stehen sieht, weiß er, dass der
Kranke genesen wird. Wenn er jedoch die Tödin an seinem Haupt sieht,
erkennt er, dass der Kranke sterben wird. Einmal sieht der Heiler die Tödin
am Kopfende, doch er möchte den Kranken heilen und lässt das Bett
umdrehen. Daraufhin nimmt die Tödin den Heiler mit in ein Zimmer, wo sie
ihm verschiedene Lebenskerzen zeigt. Die Kerze des Heilers ist fast
vollständig heruntergebrannt. Der Heiler bittet die Tödin, ihn leben zu lassen,
aber sie löscht seine Kerze.24
Die große Verbreitung dieser Variante geht sicher auch auf die Tatsache zurück,
dass das Märchen in dieser Form in der Sammlung von Pavol Dobšinský
(1828‒1885) veröffentlicht wurde.25
Der zweite Märchentyp ist der vom „Schmied und dem Tod“ (AaTh 330A)
sowie der damit verwandte Typ vom „Veteran und dem Tod“ (AaTh 330B). In
beiden verwandelt sich die Gestalt des Todes oft in den Teufel. Den Typ vom
Schmied und dem Tod kennen wir aus sechs Aufzeichnungen vom Ende des 19.
Jahrhunderts bis zu den 1940er Jahren, wobei jeder Text eine andere Variante
darstellt. Beispielsweise lautet die Aufzeichnung aus den 1930er Jahren:
Ein Schmied schenkt einem Bettler drei Dukaten und erhält von diesem dafür
drei Gaben. Diese sind ein Sack Kohle, in dem sich die Kohle in Geld
verwandelte, weiters das ewige Leben und eine Zauberkraft: Wer auf einen
Birnbaum klettert oder sich auf einen Hocker setzt, der kann dort auf Wunsch
des Schmiedes kleben bleiben. Den Schmied wollen Teufel holen, doch er
scheucht sie auf einen Birnbaum oder lässt sie sich auf einen Hocker setzen,
und dort bleiben sie kleben. Der Schmied wird des Lebens überdrüssig und
geht zur Hölle, doch die Teufel lassen ihn nicht ein. Er geht zum Himmel,
doch auch dort lässt man ihn nicht ein. Zur Strafe muss er den Tod auf dem
24
GAŠPARIKOVÁ, Katalóg, Teil 1, 1991, Nr. 164, 111f. ‒ KILIÁNOVÁ, Gestalt, 1996, 82f.
Dobšinskýs umfassende Märchensammlung erschien in erster Auflage unter dem Titel
„Prostonárodnie slovenské povesti“ (Slowakische Volkssagen) 1880‒1883. Das Wort „Sage“
verwandte Dobšinský im Sinne von „Märchen“. Wie viele damalige Sammler überarbeitete
Dobšinský die Texte. Seine Sammlung wurde die beliebteste und am weitesten verbreitete in der
Slowakei; sie erlebte vom Ende des 19. bis zum Ende des 20. Jahrhundert acht vollständige
Auflagen. Eine repräsentative Ausgabe mit Illustrationen von Martin Benka erschien 1958 und mit
Illustrationen von Ľudovít Fulla 1966. Siehe unter Titel „Smrť kmotra a zázračný lekár“ (Die
Gevatterin Tödin und der Wunderarzt) DOBŠINSKÝ, Prostonárodné slovenské povesti, Bd. 3, 1958,
243‒250. Belege dafür, dass die Respondenten „Gevatterin Tödin“ aus einer Druckfassung
kennen, liefert das Forschungsmaterial, z.B. JANÚŠKOVÁ, Výskum, 1972, 15.
25
193
Rücken tragen. Er lockt ihn in eine Nussschale und trägt ihn so. Als er ihn aus
der Nussschale herauslässt, nimmt der Tod ihn mit.26
Im Märchentyp AaTh 330B bewahren Scharfsinn, Mut und die erhaltenen
Wundergaben einen ausgedienten Soldaten vor dem Tod. Dieser Typ wurde
einmal am Ende des 19. Jahrhunderts und fünfmal bis zum Ende der dreißiger
Jahre des 20. Jahrhunderts in der Slowakei aufgezeichnet. In der Sammlung aus
den 1930er Jahren heißt es:
Ein Veteran trifft wiederholt einen Bettler und gibt ihm nach und nach drei
Dukaten. Zum Dank bekommt er eine Pfeife, die immerfort brennt, Karten,
mit denen er immer gewinnt und eine Tasche, in die jeder springt. Er
übernachtet in einer Mühle, in der Teufel umgehen. Er schlägt sie beim
Kartenspiel und steckt sie in die Tasche. Sie versprechen ihm, nie wieder in
der Mühle ihr Unwesen zu treiben. Als der Tod den Veteran mitzunehmen
versucht, steckt dieser auch ihn in die Tasche. Als der Veteran dann sterben
will, macht er sich auf zum Himmel und zur Hölle, doch nirgends lässt man
ihn ein. Am Ende kommt er nur mit Hilfe einer List in den Himmel.27
Verwandte Motive finden sich im Märchentyp AaTh 326 über einen furchtlosen
Helden, der Gespenstern begegnet, meistens Teufeln oder Toten, und sie besiegt.
Lediglich in einer Aufzeichnung von 1929 erscheint als Gespenst auch der Tod.
Die Erzählung lautet folgendermaßen:
Ein Herr fordert den dummen Jano [Hans] dazu auf, in einem Spukschloss zu
übernachten. Er verspricht ihm seine jüngste Tochter. Um Mitternacht
kommen Teufel und Tod ins Schloss. Der Tod will Jano rasieren, aber der
rasiert stattdessen den Tod. Der Spuk verschwindet und das Schloss ist
erlöst.28
Aus drei Aufzeichnungen aus dem 20. Jahrhundert kennen wir das Märchen als
eine Art Exemplum vom Ritter oder Herr und dem Tod. Darin wird erzählt, dass
ein Ritter bzw. Herr von seinem Tod erfährt. Er schwingt sich deshalb auf sein
Pferd und flüchtet bis ans Ende der Welt. Aber als er dort ankommt, erwartet ihn
der Tod bereits. Der Ritter bittet den Tod, sich freikaufen zu dürfen, aber nichts
hilft ihm, und der Tod nimmt ihn mit.29
Zu einem anderen Narrationstypus gehört das Märchen, das Dobšinský unter
dem Titel „Tetka smrť“ (Die Tante Tödin) veröffentlichte; der Inhalt:
26
27
28
29
GAŠPARIKOVÁ, Katalóg, Teil 1, 1991, Nr. 167, 114. ‒ KILIÁNOVÁ, Gestalt, 1996, 83.
GAŠPARIKOVÁ, Katalóg, Teil 1, 1991, Nr. 212, 143f. ‒ KILIÁNOVÁ, Gestalt, 1996, 83f.
Ebd., 84.
Ebd.
194
Ein ängstliches Mädchen bleibt während der Weihnachtsmesse zu Hause, es
ruft jemanden, damit es nicht allein ist. Es kommt eine Alte mit langen dürren
Armen, großen Zähnen und großen Augen. Es ist die Tödin, die zuletzt das
Mädchen verschlingt.30
Für meine Untersuchung ist die Personifizierung des Todes in „Potrestaná smrť
(anjel)“ (Der bestrafte Tod [Ein Engel]) sehr interessant:
Der Tod hat Erbarmen mit einer Mutter, die ihn bittet, sie nicht fortzunehmen,
da sie kleine Kinder hat. Gott bestraft den Tod, indem er ihn dreißig Jahre
ohne Lohn auf dem Land eines Herrn dienen lässt. Nach dem Verbüßen der
Schuld kehrt der Tod zu Gott zurück und nimmt auch seinen Herrn mit.
Die besondere Bedeutung dieses Textes liegt darin, dass hier statt eines
normalerweise in diesem Märchentyp auftretenden Engels der Tod als Mann
erscheint, der einem Herrn dient. Von diesem Typ existieren nur zwei
Aufzeichnungen vom Anfang des 20. Jahrhunderts.31
Bei näherer Betrachtung fällt auf, dass die Märchen selten eine nähere
Beschreibung des personifizierten Todes geben. In den meisten Fällen ist er nicht
einmal die Hauptfigur. Zum heißt es in dem Märchen vom „Soldaten und dem
Tod“: „Prišla k nemu biela pani, to bola smrť (Es kam zu ihm eine weiße Frau,
das war der Tod).“ Eine genauere Beschreibung ist meistens in dem
Märchentypus „Die Gevatterin Tödin“ zu finden, in dem der Tod die Hauptfigur
der Handlung ist. Als Beispiel sei eine Aufzeichnung vom Beginn des 19.
Jahrhunderts angeführt. Ich finde sie deshalb besonders interessant, weil sie den
Tod nicht als Frau, sondern als geschlechtsneutrale Knochengestalt beschreibt:
[...] viďeu ťenkú, visokú, bjelou plachtou prikritú postavu. [...] pred ňím stojí
postava bez plachti. Hlava holá, mesto očí jami ako pesťe, mesto nosa ďjera
do hlavi, zubi ako koli, hrdlo ťenkou a dlhou, prsi holje, čistje rebrá, nohi
ťenkje ako dve paľice, v dlhej suchej ruke ostrá kosa, a čo sa pohňe, hrkocú
kosťi, ako bi sa na hromadu zosipať chcela.32
[[...] er sah eine dünne, große, mit einem weißen Tuch verhüllte Gestalt. [...]
vor ihm steht die Gestalt ohne Tuch. Der Kopf ist kahl, anstelle der Augen
Höhlen groß wie Fäuste, anstelle der Nase ein Loch im Kopf, Zähne wie
Pflöcke, ein dürrer langer Hals, eine bloße Brust, blanke Rippen, die Beine
dünn wie zwei Stöcke, in der langen dürren Hand eine scharfe Sense, und
30
DOBŠINSKÝ, Prostonárodné slovenské povesti, Bd. 3, 1958, 69‒72. ‒ KILIÁNOVÁ, Gestalt,
1996, 84.
31
Ebd.
32
Aufzeichnung Ján Čipka 1843/44. Zit. nach POLÍVKA, Súpis, Bd. 4, 1930, 243‒247.
195
wenn sie sich bewegt, klappern die Knochen, als wolle sie zu einem Haufen
zusammenfallen].
Wenn der Tod in Märchen beschrieben wird, dann meist als Frau, als weiße Frau,
als junge oder alte Frau oder als „alte Tante“. Es existierte jedoch auch eine
männliche Gestalt des Todes wie in „Potrestaná smrť“ (Der bestrafte Tod).
Daneben gibt es Beschreibungen, die von einer Knochengestalt sprechen, ohne
sich eindeutig auf deren Geschlecht festzulegen. Das narrative Bild des Todes ist
in den slowakischsprachigen Märchen also vielgestaltig und nicht immer an ein
weibliches Wesen gebunden.
Um vieles reicher ist die Personifikation des Todes in Sagen und
Glaubenserzählungen entwickelt, d.h. in kürzeren, meist einmotivischen
Erzählungen. Zu dieser Gruppe zählen auch Ereignis- und Erlebnisberichte. Darin
wird von Begegnungen mit dem Tod erzählt, die der Erzähler oder seine
Verwandten oder Bekannten erlebten.
Der nachfolgende Katalog von Sagen, Glaubenserzählungen und Ereignisund Erlebnisberichten über Personifizierungen des Todes verzeichnet 69
Aufzeichnungen von den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des 20.
Jahrhundert, wobei die meisten Aufzeichnungen aus der zweiten Hälfte des 20.
Jahrhunderts stammen.33 Die Erzählthemen habe ich in folgende Unterthemen
gegliedert.34 Die Ziffer bei jedem Unterthema gibt die Zahl der katalogisierten
Aufzeichnungen an.
A Das Erscheinen des Todes
Erscheinungsweisen des Todes
1. Begegnung mit dem personifizierten Tod: 1
2. Begegnung mit der Tödin: 23
3. Begegnung mit dem Tod in tierischer Gestalt: 3
Verhaltensweisen des Todes
9. Erscheinen des Todes als gutes Vorzeichen: 0
10. Tod als Warner (nur Tödin): 5
33
KILIÁNOVÁ, Gestalt, 1996, 84‒89. Die Sammler des 19. und frühen 20. Jahrhunderts
befassten sich hauptsächlich mit dem Aufschreiben von Märchen, während sie Sagen und
Glaubenerzählungen weitaus seltener erfassten, obwohl diese weit verbreitet waren. Sagen
verlangten als sehr kurze und einfache Erzählungen nämlich keine großen
Gedächtnisanstrengungen noch besondere Erzählfertigkeiten. Später trugen die Sammler in
größerem Umfang auch Sagen, Glaubenserzählungen, Ereignis- und Erlebnisberichte zusammen.
34
Zum detaillierteren Verzeichnis der Quellen zum Katalog siehe KILIÁNOVÁ, Gestalt, 1996,
87‒89. Das Verzeichnis der slowakischen Sagen über den Tod habe ich nach dem deutschen
Sagenkatalog MÜLLER/ RÖHRICH, Tod, 1967 ausgearbeitet. Die deutschen Bezeichnungen der
Themen und Unterthemen habe ich beibehalten. Der deutsche Katalog führt bis zu 16
Hauptthemen über den Tod und Verstorbene an (Gruppe A bis P), von denen nur Gruppe A das
Hauptthema der personifizierten Gestalt des Todes bildet. Die Abstände zwischen den Themen
„Erscheinungsweisen des Todes“ und „Verhaltensweisen des Todes“ sind so von Müller und
Röhrich gelassen, um Raum für Einschübe und Erweiterungen der Sujets zu lassen; ebd., 348.
196
11. Tod oder Tödin als Todesbote: 0 (vgl. Märchen „Der bestrafte Tod“,
„Der Ritter und der Tod“)
12. Tod als Begleiter (nur Tödin): 9
13. Tod als Todbringer (nur Tödin): 6
14. Kampf mit dem Tod: 0
15. Überfahrt des Todes (nur Tödin): 1
16. Tod läßt sich an einem Ort tragen oder fahren (nur Tödin): 18
17. Tod oder Tödin als Teilnehmer an einem Tanz: 0
18. Tod oder Tödin als Überzähliger bei einem Freveltanz: 0
19. Tod oder Tödin als Pate/ Patin: 0 (vgl. Märchen „Gevatterin Tödin“)
20. Tödin als Geliebte, als Kinderwechslerin, Spinnstubenfrau etc.: 2
21. Tod als Belohner oder Strafer: 0
22. Abwehr des Todes (nur Tödin): 1
23. Verbannung des Todes an einen bestimmten Ort: 0
(vgl. Märchen „Der Schmied und der Tod“, „Der Veteran und der Tod“)
24. Land des Todes: 035
Wie man der Übersicht entnehmen kann, erscheint im überwiegenden Teil der
gesammelten slowakischen Erzählungen die Tödin. Dem ersten Unterthema
konnte nur ein Text zugeordnet werden: Der Tod zeigt sich zwei Totengräbern als
Knochenmann. Der eine Totengräber verliert daraufhin aus Angst die Sprache, der
zweite ergraut.36
Demgegenüber wird der Tod im ergiebigen zweiten Unterthema entweder als
große weiße Frau beschrieben, als große Frau mit einer Laterne oder als junge
Frau in Tracht. Die weiße Frau wird immer größer oder geht mit großen Schritten.
Die Tödin kann sich auch als Frau in einer altväterlichen Tracht zeigen, als alte
hässliche Frau in Tücher gehüllt, die auf einem Stein sitzt und die ihre Tücher
hinter sich herschleppt. Oder die Tödin ist eine Gestalt mit Sense. Schließlich
erscheint die Tödin auch als junges Mädchen, das sich vergrößert. Nachdem sich
die Tödin jemandem gezeigt hat, stirbt der Mensch, einer seiner Verwandten oder
Freunde.37
Zum Erscheinungsbild des Todes als Tier gibt es Aufzeichnungen von
Erzählungen vom ausgehenden 19. bis zum ausgehenden 20. Jahrhundert. Darin
zeigt sich der Tod als kleiner weißer oder schwarzer Hund, als weiße Katze oder
weißer Hase. Kurz nach der Begegnung mit dem Tier stirbt ein Mensch.38
35
KILIÁNOVÁ, Gestalt, 1996, 85‒87. Ergänzungen des Verzeichnisses von 2010: 2. Unterthema,
eine Erzählung, GAŠPARIKOVÁ, Katalóg, Teil 2, 1992, Nr. 505, 379; 16. Unterthema, zwei
Erzählungen, GAŠPARIKOVÁ, Katalóg, Teil 1, 1991, Nr. 129, 88, Nr. 135, 92; 20. Unterthema, eine
Erzählung, KILIÁNOVÁ, Výskum, 1981, Nr. 139. Wie schon MÜLLER/ RÖHRICH, Tod, 1967, 346f.
anmerkten, ist die Einordnung der Sagen recht schematisch, zumal einige Erzählungen kaum
eindeutig einem einzigen Unterthema zugeordnet werden können.
36
KILIÁNOVÁ, Gestalt, 1996, 85.
37
Ebd.
38
Ebd.
197
Der zweite Teil des Katalogs enthält Aufzeichnungen dazu, in welcher Art der
Tod eintritt. Recht häufig kommt das Unterthema 10 vor. Dazu gehört die
Geschichte, in der ein Mann eine unbekannte Frau trifft, sie höflich begrüßt und
im Gegenzug erfährt, wann er sterben wird. Oder die unbekannte Frau schickt ihn
nach Hause, da er bald stirbt. Drei Tödinnen singen auf dem Friedhof, ein
Buckliger verbessert ihnen das Lied, und dafür befreien sie ihn von seinem
Buckel. Ein anderer Buckliger verdirbt ihnen das Lied und bekommt dafür einen
zusätzlichen Buckel. Eine arme Frau ruft den Tod, damit er sie holen soll. Als der
Tod dann aber tatsächlich kommt, erschrickt sie und bittet ihn, ihr nur den Korb
auf den Rücken zu heben.39
Noch zahlreicher sind die Erzählungen zum Unterthema 12, in denen sich der
Tod dem Menschen auf seinem Weg zeigt. Die Tödin verwehrt einem jungen
Mann den Weg, der vor der Nacht nach Hause zurückkehrt und schlägt ihn. In
einer anderen Variante belästigt der Mann unterwegs eine unbekannte Frau, es
erweist sich, dass es die Tödin ist, die ihn dafür schlägt oder tötet.40
Im Unterthema 13 tritt wieder einzig die Tödin als Todbringer auf.
Beispielsweise sieht ein Kranker, wie die Tödin an seinen Beinen zieht, er sagt
dies einem Verwandten und stirbt kurz darauf. Zu Zeiten der Pest oder anderer
Epidemien erscheinen drei Tödinnen, die Tödin mit zwei Feen oder drei weiße
Frauen. Eine von ihnen ist alt, sie kann mit den anderen nicht Schritt halten, und
als Rache verrät sie den Menschen eine Medizin gegen die Epidemie.41
Mit diesen Erzählungen steht auch der Text des Unterthemas 15 in
Verbindung. Fährleute bringen drei alte Frauen über den Fluss, die verraten, in
welche Dörfer sie gehen wollen. Eine von ihnen hinkt, sie kommt nicht mit den
andren mit und verrät dem Fährmann eine Medizin gegen die Krankheit, welche
die Tödinnen in die Dörfer bringen.42
Die meisten Erzählungen gehören zum Unterthema 16 über das Tragen oder
Fahren des Todes. Die Tödin läßt sich zu einer Hochzeit tragen, und ihr Träger
sieht, wie sie den Bräutigam oder einen der Gäste erschlägt. Eine unbekannte
Braut (eine Frau in Weiß) oder eine alte Frau setzt sich auf den Wagen eines
Fuhrmannes, sie nimmt beim Gastmahl Platz und tötet einen Gast oder den Wirt.
Als Gegenleistung für die Fahrt gibt sie dem Fuhrmann ein längeres Leben oder
einen guten Rat. Die Tödin springt einem Mann oder einem Mädchen auf den
Rücken, der oder das kurz vor Einbruch der Nacht durch das Dorf geht. Der Mann
droht der Tödin, dass er sie „ausprobiert“, deshalb springt sie von seinem Rücken
und bricht ihm zur Strafe ein Bein. Das Mädchen muss die Tödin über den Fluss
tragen, und als es heimkehrt, stirbt es vor Angst. Die Tödin lässt sich tragen und
wird immer schwerer. Die Tödin fährt ein Stück mit dem Wagen und
39
40
41
42
Ebd., 85f.
Ebd., 86.
Ebd.
Ebd.
198
verschwindet bei dem Haus am Ziel der Fahrt. Als Belohnung gibt sie dem
Fuhrmann ein langes Leben oder einen guten Rat.43
Zum Unterthema 20, bei dem sich die Tödin als Geliebte des Mannes zeigt,
finden wir in der Slowakei bisweilen keine Aufzeichnungen in slowakischer
Sprache. Es erscheinen jedoch bei der Begegnung zwischen Männern und
unbekannten Frauen bzw. Tödinnen erotische Anspielungen dieser Beziehung in
mehreren Erzählungen (Unterthema 16, die Tödin „ausprobieren“). Auch die
Vertauschung der Tödin mit einem anderen Wesen erscheint in diesen
Erzählungen. Die Tödin kommt meist als weiße Frau oder Lucia44, also als weiße
Gestalt, die durchs Dorf geht. Sie läßt sich vom Schuster Schuhe machen.45
Schließlich möchte ich noch auf eine Aufzeichnung zum Unterthema 22
hinweisen. Die Tödin kommt zu einer Wöchnerin. Die Frau bittet die Tödin, sie
nicht mitzunehmen, da sie ein neugeborenes Kind hat. Sie schlägt der Tödin vor,
den kranken Jungen bei den Nachbarn zu holen. Der Junge stirbt und die Frau
bleibt am Leben.46
In den Sagen ist die Gestalt des Todes deutlich eingehender charakterisiert
als in den Erzählungen. Es dominiert die Vorstellung vom Tod als Frau: als
junger oder alter Frau, als unbekannter Frau mit einer Laterne, als Frau in
Weiß, als Frau in einer alten Tracht, als Braut, als große Frau, als kleines
Mädchen, das sich vergrößert. Der Tod erscheint auch in Gestalt von weißen
oder schwarzen Tieren. In den Erzählungen erfährt der Zuhörer vom Auftreten
und Verhalten des Todes bzw. der Tödin: Er oder sie erscheint, um
anzukündigen, dass in Kürze jemand stirbt; sie geht durch die Welt und belohnt
die zuvorkommenden Leute; wer sich ungehörig verhält, wird von ihr bestraft;
sie läßt sich führen, auf dem Wagen mitnehmen oder über einen Fluss setzen,
um Menschen sterben zu lassen. Gelegentlich erbarmt sich die Tödin der
Opfer; einmal kommt sie später, ein andermal nimmt sie ein anderes Opfer mit.
Wie in den Märchen, so auch in den Sagen werden Tod und Tödin nicht
immer genauer beschrieben. Wenn der Erzähler das Wort „smrť“ (Tod), das im
Slowakischen ein Femininum ist, ohne weitere Erläuterung benutzt, muss dies
nicht automatisch bedeuten, dass er sich den Tod als Frau vorstellt.
Abgesehen von dem von mir selbst erhobenen Material aus den 1970er bis
-90er Jahren,47 bringen die aufgezeichneten Erzählungen nur selten zusätzliche
43
Ebd., 86f.
Im slowakischen Volksglauben der Slowaken haben die Hexen am Tag der heiligen Lucia
(13. Dezember) besondere Macht, und selbst Lucia war die mächtigste Hexe. An diesem Tag
gingen in den Dörfern Frauen und junge Mädchen, in weiße Tüchern gehüllt, als „Lucky“ (Luzien)
von Haus zu Haus. Sie kehrten die Ecken in den Stuben und sprachen Glückwünsche aus.
FEGLOVÁ, Lucia, 1995.
45
KILIÁNOVÁ, Gestalt, 1996, 87.
46
Ebd.
47
Z.B. sammelte ich in den 1980er Jahren in der Gemeinde Nová Bystrica in der kaum
industrialisierten Gebiergsregion Kysuce in der Nordwestlslowakei eine umfangreiche Gruppe von
19 Erzählungen über den Tod. In der Gemeinde war die kontinuierliche Weitergabe eines recht
stabilen Erzählrepertoires festzustellen. Geschichten um Tod und Verstorbene wurden oft vor
44
199
Informationen, die eine Antwort auf die Frage erlauben, inwiefern die
Personifikation des Todes als kulturelle Repräsentation im Betrachtungsgebiet
verbreitet war. Nur in einigen Fällen weist das wiederholte Vorkommen desselben
Geschichtstypus in einem Gebiet oder innerhalb einer Gruppe von Gemeinden
darauf hin, dass es sich wahrscheinlich um eine kulturelle Repräsentation handelt.
Das Material zeigt jedoch, dass bestimmte Erzählmotive während des
gesamten Zeitraums vom 19. bis zum späten 20. Jahrhundert vorkamen, und
belegt damit kontinuierliche Charakterisierungen des Todes in den slowakischen
Erzählungen. Diese Erzählmotive müssen also recht weit verbreitet gewesen und
an die jeweils nächste Generation weitergegeben worden sein. Auf diesem Wege
wurde also auch eine bestimmte Vorstellung von der Gestalt des Todes
übermittelt – als meistens weißgekleidete Frau, die einen Menschen holen kommt.
Natürlich wurde die mündliche Überlieferung im 19. und 20. Jahrhunders auch
durch die Literatur unterstützt und beeinflusst. Dabei spielten die gedruckten
Märchensammlungen eine wichtige Rolle. Die slowakische Literatur fand jedoch
erst nach dem Fall der österreichisch-ungarischen Monarchie 1918 und nach der
Gründung der Tschechoslowakei weite Verbreitung, als in der Slowakei erstmals
ein slowakischsprachiges Schulsystem eingeführt wurde. Deshalb ist bis 1918 und
natürlich noch darüber hinaus der Einfluss der ungarischsprachigen Literatur auf
die orale Tradition in der Slowakei nicht zu unterschätzen, da viele slowakische
Schüler ihre schulische Bildung bis zu diesem Zeitpunkt ausschließlich in
ungarischer Sprache erhielten. Der Einfluss der ungarischen Literatur und
ungarischer Erzähltraditionen ist am Beispiel einer einzelnen Aufzeichnung aus
der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, „Tetka smrť“ (Tante Tödin) aus
Dobšinskýs Sammlung festzustellen. Zu diesem Märchen sind keine weiteren
Aufzeichnungen in slowakischer Sprache gefunden worden; die Aufzeichnung
wird weder im Katalog von Polívka noch in dem von Gašparíková aufgeführt.
Allerdings kommt sie im ungarischen Katalog als Typ AaTh 336 und AaTh 336A
vor. In ungarischen Erzählungen erscheint der Tod jedoch meist als alter Mann.
Im ungarischen Katalog wird behauptet, dass dieser Typ im Ausland nicht
bekannt sei.48
Das Material aus der Slowakei aus dem 20. Jahrhundert enthält zwei Beispiele
für das Vorkommen der Erzählung AaTh 336, jedoch nicht bei slowakisch,
sondern bei ungarisch sprechenden Einwohnern.49
Im 20. Jahrhundert gewannen auch andere Medien Einfluss auf die
Vorstellung vom Tod, darunter Film, Radio und natürlich Fernsehen, wie ich noch
zeigen möchte.
Zuhörern mehrerer Genertationen erzählt, wenn sie auch hauptsächlich zum weiblichen Repertoire
gehörten, weniger zu dem der Männer. So konnte ich eine kulturelle Repräsentation der Gestalt
Tod-Frau im Betrachtungsgebiet feststellen. KILIÁNOVÁ, Ekológia, 1989, 101f.
48
Magyar népmesekatalógus, Bd. 2, 1988, 169f.
49
„A gonosz anyóka“ (Die böse Großmutter), in: GÉCZI, Ungi némesék, Nr. 72, 348. ‒
„A kislány még a halál“ (Das Mädchen und der Tod), in: TÓTH, Baracai népköltészet, 1994, Nr.
19, 104f.
200
4. Die Gestalt des Todes in deutschsprachigen Erzählungen in der
Slowakei
Die Narrationen von Tod oder Tödin in deutscher Sprache aus der Slowakei habe
ich vor allem Volkserzählungen der Karpatendeutschen entnommen, die Alfred
Cammann auf der Grundlage der Sammlung von Alfred Karasek (1902‒1970) und
dessen Mitarbeitern herausgegeben hat; daneben verwende ich von mir selbst
zusammengetragenes Material.50 Die sogenannte Erzählsammlung Karasek wurde
bei Feldforschungen um das Jahr 1930 zusammengetragen. Diese Untersuchungen
geschahen vor allem im Gebiet Hauerland (Kremnica/ Kremnitz und Nitrianske
Pravno/ Deutsch-Probener Sprachgebiet), in geringerem Umfang auch in anderen
deutschsprachigen Gebieten der Slowakei. Dazu kamen eigene Aufzeichnungen
Alfred Cammanns (1909‒2008) aus den 1970er und 1980er Jahren in
Westdeutschland bei aus der Slowakei ausgesiedelten Deutschen. Cammann
besuchte damals außerdem kurzzeitig ehemalige deutsche Gemeinden in der
Slowakei und fügte seinem Material ältere publizierte Quellen hinzu.51
Die daraus hervorgegangene Publikation bezieht sich auf vier in der
Gegenwart bereits kaum mehr von deutschsprachigen Einwohnern bewohnte
Gebiete: das Preßburger Sprachgebiet, das Hauerland, die Oberzips und die
Unterzips. Die Sammlung enthält 47 Texte, in denen der personifizierte Tod in
Erscheinung tritt.52 Darin sind auch Texte aus Medzev enthalten, allerdings
erscheint in nur einem von diesen der Tod als Sensenmann, nämlich in dem
Märchen „Der Drachensumpf“. Dieser Erzählung ist der Anfang einer
Drachengeschichte in Gedichtform hinzugefügt.53 Die Medzever Texte wurden
nicht bei Feldforschungen in Medzev selbst aufgezeichnet; vielmehr hörte
Cammann sie bei in die Bundesrepublik übergesiedelten Deutschen, andere erhielt
er in Form von in den 1980er Jahren schriftlich festgehaltenen Erzählungen von
deutschsprachigen Einwohnern der Gemeinde.
Darüber hinaus ziehe ich Josef Hanikas (1900‒1963) Arbeit hinzu. Dieser
stützt sich auf Karaseks handschriftliche Sammlung aus dem Gebiet von
Kremnica und Nitrianske Pravno; Hanika entnahm der Sammlung 146 Texte über
den Tod, allerdings nur in Regestform. Hanika nach enthielt Karaseks Sammlung
nicht weniger als 200 Sagen über den Tod, ein zu einem einzigen Sujet
überraschend umfangreiches Material.54
Daneben verwende ich Interviews mit Heimatvertriebenen und Flüchtlingen
aus der Slowakei, vor allem aus der Zips, einige sogar aus Medzev selbst, die in
50
CAMMANN/ KARASEK, Volkserzählungen, 1981.
Genauer dazu CAMMANN/ KARASEK, Volkserzählungen, Teil 1, 1981, 15f.
52
CAMMANN/ KARASEK, Volkserzählungen, Teil 1, 1981, 144‒146, 183f., 222‒224, 316f.,
325f., 407, 434, 435, 436; Teil 2, 1981, 52f., 57, 59‒62, 65, 69‒74, 78‒81, 85‒87, 104, 110, 117,
150, 161, 166, 237, 240, 247.
53
Ebd., Teil 1, 1981, 222‒225.
54
HANIKA, Die Tödin, 1954, 171-184.
51
201
den 1950er und -60er Jahren geführt wurden.55 In diesem Material fand ich keine
Erwähnung von Personifikationen des Todes, lediglich Informationen zur
Totenwache und zu Begräbnissen in der Oberzips (Medzev liegt in der
Unterzips).56 Allerdings rezitiert eine Respondentin aus Medzev einen kurzen
Ausschnitt aus dem erwähnten Gedicht zur Drachengeschichte, was zeigt, dass
dieses Märchen oder diese lokale Sage, sei es in freier Erzählform oder in Versen,
wohl sehr bekannt war.57
Insgesamt stehen 47 Texte mit einem oder mehreren Motiven sowie 146
Regesten zur Verfügung, die Hanika anhand der Karasek-Sammlung angefertigt
hat. Genremäßig ist dieses Material dem Zaubermärchen, der Legende, der Sage
sowie dem Erlebnis- und Ereignisbericht zuzuordnen. Hanika bringt Regeste von
zwei längeren Erzählungen, bei denen es sich wahrscheinlich um Märchen
handelt, und zwar solche des Typs AaTh 332, in denen die „Gevatterin Tödin“
auftritt und nicht ein männlicher Tod.
In der ersten dieser Erzählungen erscheint einem Jüngling die
Schönheitstödin. Der Jüngling bittet sie im Scherz, sie solle ihm als Patin dienen,
obwohl ist er nicht verheiratet ist und nichtmals ein Mädchen hat. Die Tödin
nimmt die Bitte an und sagt, sie werde in einem Jahr wiederkommen, er solle das
seiner Marie sagen. Kurz darauf heiratet der Jüngling, und seine Frau heißt in der
Tat Marie. Ihm wird ein Sohn geboren. Der Mann fürchtet sich, seiner Frau etwas
von der Übereinkunft mit der Tödin zu erzählen, deshalb wird sie nicht zur Taufe
geladen. Während der Taufe erscheint jedoch die Tödin, erinnert den Mann an die
Übereinkunft, und er lädt die Schönheitstödin zu Tisch. Dafür verzeiht sie ihm,
und für das Essen gibt sie ihm Laub von ihrem Baum und Blumen. Einen Teil
davon wirft das Ehepaar fort, einen anderen legt Marie in eine Truhe. Nach einer
Zeit stellen sie fest, dass sich die trockenen Blätter in goldene verwandelt haben,
und aus den Blumen ist ein Wunderheilmittel geworden.58
In der zweiten Erzählung wird recht genau der Märchentyp AaTh 332
„Gevatterin Tödin“ reproduziert. Die Hauptfigur ist jedoch kein „armer Mensch“,
sondern ein Lehrer, der angeblich den Vater des Erzählers unterrichtet hat. Der
Lehrer wird zum Wunderheiler, denn er hatte als Patin die Tödin. Er lässt das Bett
herumdrehen, um die Tödin zu überlisten, doch zur Strafe beißt ihm die Tödin den
Kopf ab.59
Zur Sammlung von Cammann und Karasek gehören je drei Zaubermärchen
und legendenhafte Märchen, in denen der Tod auftritt. Die Märchen „Betuschka
55
Für die freundliche Überlassung dieses Materials danke ich Elisabeth Fendl vom JohannesKünzig-Institut für ostdeutsche Volkskunde, Freiburg.
56
Tonarchiv, Johannes-Künzig-Institut für ostdeutsche Volkskunde. Band 794, Interview mit
Katharina Haas: Vom Sterben und Totenverehrung in Klein-Lomnitz/ Lomnička. Band 1019,
Interview mit Rudolf Göllner: Über Totenwache und Begräbnis in Einsiedel an der Göllnitz/
Gelnica.
57
Band 380, Interview mit Frau Frantz, Metzenseifen/Medzev, Mundprobe: Einige Strophen
aus einem Gedicht vom „Metzenseifener Drachen“.
58
HANIKA, Tödin, 1954, 178.
59
Ebd. ‒ Siehe auch CAMMANN/ KARASEK, Volkserzählungen, Teil 2, 1981, 247f.
202
[Lischen] und der Tod“ und „Der Tod als Geliebter“ sind interessante Varianten
des Typs AaTh 365 (Lenore-Typ).60 In beiden wird von einem Mädchen erzählt,
das keinen Geliebten hat und sagt, es werde nun sogar den Tod heiraten. In der
ersten Variante kommt an einem Donnerstag ein Mann zu Betuschka, sie folgt
ihm und sieht, wie er auf den Friedhof geht. Am folgenden Donnerstag kommt der
Mann wieder und fragt sie, was sie gesehen habe. Als sie nicht antworten will,
sterben nacheinander ihr Vater, ihre Mutter und schließlich sie selbst. Auf ihrem
Grab wächst eine Rose, die ein Königssohn pflückt und auf sein Schloss
mitnimmt. In der Nacht verwandelt sich die Rose in ein schönes Mädchen. Der
Prinz erblickt und heiratet sie. Doch der Tod verfolgt sie solange weiter, bis ihm
Betuschka schließlich auf die Androhung, sie werde ihren Ehemann verlieren,
schließlich erzählt, was sie gesehen hat. Die Variante „Der Tod als Geliebter“ ist
ähnlich, mit dem Unterschied, dass mitgeteilt wird, was das Mädchen sieht, als sie
dem Tod folgt, nämlich dass der Tod in der Kirche Knochen verspeist.
In den slowakischen Texten des Märchentyps AaTh 365 (Lenore-Typ) ist der
Geliebte des Mädchens nicht der Tod, sondern ein verstorbener Jüngling.
Dagegen gibt es im ungarischen Katalog (Typ AaTh 365 und 470B) mehrere
Aufzeichnungen eines solchen Märchens, und sie sind auch in Sammlungen
ungarischer Erzählungen aus der Slowakei verzeichnet.61
In dem Märchen „Der Drachensumpf“ (Variante des Typs AaTh 300) wird
von einem Drachen erzählt, der in Medzev in einem Sumpf lebt. Der fordert jeden
Tag ein Mädchen, das er verschlingt. In der Stadt lebt eine alte Schusterwitwe. Sie
möchte sterben, „und der Tod, die Sense geschultert, trat ein.“ Er verspricht ihr,
sie zu sich zu nehmen, doch sie muss dafür zuerst den Drachen töten. Die Witwe
macht eine Strohpuppe und bestreicht sie mit Pech, das ihr Mann ihr hinterlassen
hat. Sie zieht der Puppe eine Medzever Tracht an und stellt sie an den Sumpf. Der
Drache hält die Puppe für ein neues Opfer und verschlingt sie. Doch das Pech
geht in seinem Körper in Flammen auf und verbrennt ihn zu Asche. Anstelle des
Sumpfes entsteht ein Marktplatz mit einer Kirche.62
Das kurze legendenartige Märchen „Der schwarze Mann (der Tod)“63
präsentiert das Motiv der Unausweichlichkeit, sich dem Tod unterzuordnen und
Gottes Ratschlag anzunehmen. Der Tod, ein schwarzer Mann, nimmt einer Mutter
das Kind weg, und sie läuft ihm hinterher, damit er ihr das Kind zurückgebe. Der
Weg führt sie schließlich zum Himmelsgarten, doch sie findet ihr Kind nicht. So
folgt die Mutter weiter dem Tod, weil ihr Kind nicht in den Himmel gekommen
ist. Diese Gestalt des Todes als schwarzen Mann finden wir nicht in den
60
Ebd., Teil 1, 1981, 144‒146, 183f.
Magyar népmesekatalógus, Bd. 2, 1988, 176f. ‒ GÉCZI, Ungi népmesék, 1989, Nr. 13, 120f. ‒
TÓTH, Baracai népköltészet, 1994, Nr. 20, 105f.
62
CAMMANN/ KARASEK, Volkserzählungen, Teil 1, 1981, 222‒225.
63
Ebd., 316f.
61
203
slowakischen Texten, doch begegnet sie wiederum in den ungarischen
Erzählungen aus der Slowakei.64
Für unsere Zwecke besonders wertvoll ist die Aufzeichnung einer weiteren
legendenhaften Erzählung, „Gott und der Tod“, einer Variante des Märchentyps
AaTh 759, in dem der Ursprung des Todes erklärt wird: „ Ein Mann ist gestorben.
Der ist dann der Tod geworden [...].“65 Weiter entfaltet sich das Geschehen
ähnlich wie in dem slowakischen Märchen „Der bestrafte Tod“66: Gott sendet den
Tod aus, um eine Mutter vieler Kinder zu holen. Der Tod führt die Anweisung
nicht aus und wird dafür damit bestraft, dass er solange in der Welt zu dienen hat,
bis er verrät, woher er kommt; erst dann kann er in die andere Welt zurückkehren.
An diesem Text ist wichtig, dass ein Verstorbener zum Tod wird. Wie ich u.a.
anhand des Materials aus Medzev zeigen werde, ist die Vorstellung von einem
Verstorbenen als Todbringer eine weitere wichtige Personifizierung des Todes.
In den deutschsprachigen Märchen aus der Slowakei tritt häufiger der Tod als
die Tödin auf. Der Tod wird nicht im einzelnen beschrieben, über ihn wird nur
gesagt, er sei ein schwarzer Mann, ein Sensenmann oder ein verstorbener Mann.
Auch die Tödin wird eher anhand ihres Verhaltens anstatt ihres Aussehens
charakterisiert. Beim Typ AaTh 332 „Gevatterin Tödin“ interessant, dass von der
Art berichtet wird, wie die Tödin die Hauptfigur umbringt, nämlich indem sie ihm
den Kopf abbeißt. Dies ist ein eher seltenes Motiv, da in den meisten Erzählungen
die Todesart nicht angeführt ist; meistens wird dies damit umschrieben, dass der
Tod oder die Tödin den Menschen mitgenommen habe. Weitere Arten des Tötens
werde ich im Abschnitt zu den Sagen anführen.
Ähnlich wie in den slowakischen, finden sich auch in deutschen Texten
Todesmotive vor allem in Sagen, Glaubenserzählungen, in Erlebnis- und
Ereignisberichten. Im der folgenden Liste untergliedere ich die Sagen zur
Personifizierung des Todes nach demselben Katalog wie die slowakischen
Erzählungen. Ich stütze mich dabei auf 41 publizierte Texten und 146 Regesten.67
Die Nummern zu den einzelnen Unterthemen geben die jeweilige Anzahl der
Einträge an:
64
MAGYAR, Torna megyei népmondak, 2001, Nr. 946, 389. Es handelt sich um eine
Aufzeichnung aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus der Gemeinde Turňa nad Bodvou
(ung. Torna), Bezirk Košice und Umgebung.
65
CAMMANN/ KARASEK, Volkserzählungen, Teil 1, 1981, 325f.
66
Dieses Märchen ist in vielen europäischen Ländern bekannt und geht auf eine christliche
Legende zurück. LOX, Tod, 2009, 702.
67
Dabei habe ich Wiederholungen von Erzählungen aus der Sammlung CAMMANN/ KARASEK,
Volkserzählungen, 1981 nicht berücksichtigt, ebensowenig die Regesten bei HANIKA, Tödin, 1954,
insofern ich diese identifizieren konnte. Deshalb ist die Gesamtzahl der angeführten Texte nicht
41+146=187, sondern nach Ausschluss der wahrscheinlich identischen Texte nur 161. Diese
Zahlen sind gewiss nur Annäherungen, sie können jedoch auf die häufigsten narrativen Sujets
verweisen.
204
A Das Erscheinen des Todes
Erscheinungsweisen des Todes
1. Begegnung mit dem personifizierten Tod: 7
2. Begegnung mit der Tödin: 70
3. Begegnung mit dem Tod in tierischer Gestalt: 1
Verhaltensweisen des Todes
9. Erscheinen des Todes als gutes Vorzeichen: 0
10. Tod als Warner: 2
11. Tod oder Tödin als Todesbote: 0 (vgl. Märchentyp 759 oben)
12. Tod als Begleiter (nur Tödin): 24
13. Tod oder Tödin als Todbringer: 12
14. Kampf mit dem Tod: 0
15. Überfahrt des Todes: 0
16. Tod läßt sich an einem Ort tragen oder fahren: 13
17. Tod oder Tödin als Teilnehmer an einem Tanz: 0
18. Tod oder Tödin als Überzähliger bei einem Freveltanz: 0
19. Tod oder Tödin als Pate/ Patin: 0 (vgl. oben Märchen AaTh 332)
20. Tödin als Geliebte, als Kinderwechslerin, Spinnstubenfrau etc.: 25
21. Tod als Belohner oder Strafer: 7
22. Abwehr des Todes: 0
23. Verbannung des Todes an einen bestimmten Ort: 0
24. Land des Todes: 0
Die Personifizierung des Todes in männlicher Gestalt erscheint in den Narrationen
im Vergleich zu anderen Sujets weniger häufig. Der Tod kommt als unbekannter
Mann im schwarzen Mantel und Hut, er begleitet die Frauen schweigend. Sie
sprechen ihn auf deutsch an, dann versuchen sie es auch auf slowakisch und
schließlich auf ungarisch, der unbekannte Mann reagiert jedoch nicht und
verschwindet nach einer Weile. Der Tod heißt Mihammer oder Mihawr, da er
gesagt habe: „Mittag ham mer!“ Er ist der Mann der Tödin, er sitzt unter ihrem
Baum. Er ist auch ein „wilder Mensch im Wald“, der „die Menschen zerreißen“
will.68
Bereits seit Arnold Ipolyi (1823‒1886) Mitte des 19. Jahrhunderts auf das
Phänomen aufmerksam gemacht hat, ist bekannt, dass die Tödin zu den zentralen
Gestalten in den deutschsprachigen Erzählungen aus der Slowakei gehört und sie
darin viel öfter als ein männlich imaginierter Tod erscheint. Ipolyi stellte fest, dass
die slawischen Bewohnern den Tod als weibliches Wesen auffassten und neben
dem geläufigen femininen Nomen „smrť“ (Tod) auch die Bezeichnung „Morena“
verwandten. Diese Morena war in der slowakischen Volkskultur eine in der
örtlichen Tracht gekleidete Strohfigur, die als Symbol des Todes oder des Winters
am Palmsonntag oder Ostersonntag aus dem Dorf hinausgetragen und verbrannt
68
CAMMANN/ KARASEK, Volkserzählungen, Teil 2, 1981, 61. – HANIKA, Tödin, 1954, 179f.
205
oder ins Wasser geworfen wurde.69 Ipolyi veröffentlichte eine deutsche
Übersetzung des Märchens „Gevatterin Tödin“, das der Sammler Alois
Mednyansky in slowakischer Sprache niedergeschrieben hatte.70
In den Volkserzählungen von Cammann und Karasek hat die Tödin viele
Gestalten. Sie ist eine weiße weibliche Figur, die ständig größer wird, durch die
Luft fliegt oder über den Kirchturm springt. Bei ihrem Erscheinen stirbt jemand.
Ihr Reich ist der Friedhof, oder sie hält sich auf einer Linde, einem Nussbaum,
einer Eiche oder Weide auf, in einer Höhle oder in einem Berg, wo sie die
Lebenslichter verwahrt. Wenn jemand sterben soll, löscht sie sein Licht. Sie hält
sich auch auf der Wiese, im Totenwald, bei der Mühle oder in einem Brunnen auf,
wo sich auch die ungeborenen Kinder befinden. Als Tod kommt sie mit einer
Kiepe in die Häuser, in der sie kleine Häferl trägt, woraufhin das Dorf von einer
schweren Krankheit heimgesucht wird. Die Tödin mag keine Kirchenglocken,
deshalb erscheint sie erst nach dem letzten Läuten. Stirbt eine Wöchnerin, wird
aus ihr eine Tödin.71 Es ist überraschend, dass wir in dieser sehr umfangreichen
Sammlung nur eine einzige Erzählung über den Tod in Tiergestalt finden können,
in der sich die Tödin in eine Katze verwandelte.72
Beim Unterthema 10 gibt es Sagen über Begegnungen mit dem Tod, wie
diejenige mit einer unbekannten Frau, die gutes Verhalten belohnt: Ein
Dorfbewohner grüßt die Tödin höflich, die sehr in Eile ist, kurz darauf zieht ein
großes Gewitter auf, doch der Dorfbewohner kann ihm entkommen, denn er ist
vorgewarnt. Zu diesem Sujet gehört auch eine Erzählung über das Paar Tödin und
Tod, das auf dem Friedhof tanzt und in endloser Wiederholung „Montag,
Dienstag, Mittwoch“ singt. Ein Buckeliger kommt vorbei und ruft ihnen zu:
Donnerstag. Der Tod und die Tödin probieren das ergänzte Lied, der Tanz gelingt
ihnen besser, deshalb befreien sie den Buckeligen von seinem Buckel. Ein
Geizkragen hofft auch auf eine Belohnung. Er geht auf den Friedhof und fügte
ihrem Lied „Freitag“ hinzu. Doch zu einem Lied mit fünf Wörtern lässt sich nicht
gut tanzen, und das Todespaar setzt dem Geizkragen den Buckel auf den Rücken.
Ein ähnliches Motiv gibt es auch in slowakischen Sagen, doch auf dem Friedhof
tanzen nicht Tod und Tödin, sondern mehrere Tödinnen.73
Relativ zahlreich vertreten ist das Unterthema 12, bei dem wiederum nur die
Tödin auftritt. Sie begleitet die jungen Burschen, wenn sie sich zu den Mädchen
aufmachen. Sie stellt sich ihnen als großes weißes Wesen in den Weg, und die
Burschen können nicht weiter. Oder die Burschen treffen die Tödin, wenn sie von
den Mädchen zurückkommen, sie erscheint ihnen so groß wie eine Pappel. In
einer anderen Erzählung laufen die jungen Burschen pfeifend durch das Dorf. Es
erscheint ihnen die „Frau Hulderin“ (d.h. die Tödin), die ganz verärgert ist und
ihnen das Pfeifen untersagt. Ähnliches geschieht, als Frauen an einem Donnerstag
69
KLEPÁČOVÁ/ ELSCHEKOVÁ, Morena, 1995.
IPOLYI, Beiträge, 1853, 257f.
71
CAMMANN/ KARASEK, Volkserzählungen, Teil 1, 1981, 407, 434. 436; Teil 2, 1981, 57, 60,
65, 69, 79, 104, 237. ‒ HANIKA, Tödin, 1954, 171‒181.
72
Ebd., 180.
73
CAMMANN/ KARASEK, Volkserzählungen, Teil 1, 1981, 435. ‒ HANIKA, Tödin, 1954, 180.
70
206
Wolle spinnen, auch ihnen erscheint die Tödin, denn sie sollen an diesem Tag
nicht spinnen. Ähnlich, als die Mädchen am Samstagabend gegen die Sitte durch
das Dorf laufen, so zeigt sich ihnen die Tödin.74
Die Sagen zum Unterthema 13 schildern Geschehnisse um die Tödin, die den
Tod oder eine Krankheit bringt. Z.B. sieht ein Mann in der Nacht die Tödin, wie
sie am Wehr Wäsche wäscht. Am nächsten Tag ertrinkt an dieser Stelle ein Kind.
Der Vater der Erzählerin geht um 11 Uhr abends vor die Schwelle seines Hauses.
Er sieht drei weiß gekleidete Frauen, die zum Kreuz gehen. Zuerst tanzen sie,
dann knieen sie nieder, beten und gehen schließlich zum Friedhof. Kurz darauf
sterben im Dorf drei Wöchnerinnen. Die Tödin nähert sich einem Haus, in dem
ein Mensch im Sterben liegt. Der Hund spürt sie, er springt sie an und verwehrt
ihr den Eintritt. Der Sterbende bittet die Hausherren, den Hund anzubinden, damit
die Tödin ihn holen kann.75
In der Sammlung deutscher Sagen gibt es keine Erzählung über die Überfahrt
des Todes über einen Fluss (Unterthema 15). Stattdessen finden wir zahlreiche
Berichte zum Unterthema 16 über das Tragen des Todes. Männer oder junge
Burschen, die in der Nacht herumlaufen und die Tödin stören, müssen sie durch
das Dorf, einen Weg entlang oder durch den Wald tragen. Einen jungen Burschen
hüllt die Tödin zunächst so in ihre weißen Kleider ein, dass er gar nicht sehen
kann, wo er sich befindet. Dann „[hockt] sie sich ihm auf“, und er muss sie sieben
Stunden lang durch den Wald tragen. Erst als es ihm gelingt, in die Nähe von
Häusern zu kommen, „[lässt] sie von ihm ab“. Daraufhin liegt er lange krank
darnieder, und schließlich hinkt er auf einem Bein. Beim Unterthema 16 gibt es
lediglich eine Erzählung über das Fahren des Todes: „Mihammer“ erscheint beim
Todesbaum einer Gruppe von Leuten, denen eine Kutsche folgt. Einer der
Fußgänger fragt den unbekannten Mann, wohin er gehe – zunächst auf deutsch,
dann auf slowakisch und schließlich auf Ungarisch, doch er erhält keine Antwort.
Dann legt sich Mihammer in die Kutsche. Der Kutscher sieht es, kann jedoch
nichts dagegen tun. Er weiß aber, dass Mihammer keine Macht über ihn hat, denn
er hat einen Rosenkranz bei sich.76
Eine der interessantesten und vielfältigsten Gruppen bildet das Unterthema
20. Dazu gehören Erzählungen, in denen über die Tödin als Geliebte junger
Burschen oder junger Männer erzählt wird, z.B.: Ein Mann hat die Tödin zur
Geliebten. Sie ist keine hässliche alte Frau, sondern jung und schön. Er geht mit
ihr in den Wald, wo sie in einem Baum lebt. Der Mann stirbt jedoch jung, weil die
Tödin seine Geliebte ist. Zu diesem Sujet gehören Erzählungen, in denen der Tod
mit anderen dämonischen Wesen verbunden ist. Die Tödin erscheint auch als
Mittagsgöttin, am häufigsten einsamen Bauern oder Bäuerinnen in der
Mittagsstunde auf dem Feld. Sie „[fällt] auf einen“ drauf, und der Mensch ist auf
74
CAMMANN/ KARASEK, Volkserzählungen, Teil 2, 1981, 70, 72, 87, 166. ‒ HANIKA, Tödin,
1954, 171‒177, 180f.
75
CAMMANN/ KARASEK, Volkserzählungen, Teil 2, 1981, 57, 73. ‒ HANIKA, Tödin, 1954, 171,
173, 176, 178‒180.
76
CAMMANN/ KARASEK, Volkserzählungen, Teil 2, 1981, 62. ‒ HANIKA, Tödin, 1954, 173,
176‒180.
207
der Stelle tot. Am Tag vor dem Heiligabend sehen die Leute eine riesige Frau aus
dem Wald ins Dorf schreiten, sie trägt neue, ganz weiße Kleider; es ist die
Weihnachtstödin. Am Tag der Heiligen Lucia (13. Dezember) sehen Leute Hexen
hinter dem Altar; einmal erscheint mit ihnen gemeinsam die Tödin. Diese tritt
auch als Kinderwechslerin auf, die ein Neugeborenes austauschen will. In einigen
Sagen findet sich die erneut Geschichte, dass die Tödin eine Wöchnerin aus dem
Haus holen will, um sie zu entführen oder sich Zugang zu dem neugeborenen
Kind zu verschaffen. Als sich die Frau wehrt, schlägt die Tödin ihr über die Hand,
die auf immer steif wird. Ein andermal zeigt sich die Tödin als Spinnfrau, die in
ihrer Kammer im Berg goldenes Garn spinnt.77
Das Unterthema 21 fasst Erzählungen zusammen, in denen die Tödin einen
Dienst, ein Geschenk oder Hilfe verlangt. So kommt z.B. die Tödin an
Heiligabend und erbittet von der Hausfrau Kuchen und Milch. Die Hausfrau lügt,
sie habe nichts. Die Tödin bestraft sie, indem sie im folgenden Jahr kein Heu
ernten kann; in einer anderen Variante stirbt die Hausfrau. Eine gute Tödin geht
zu Weihnachten durchs Dorf und beschenkt die Kinder mit kleinen Kuchen und
Obst.78
Hanika fasst verschiedene Personifikationen des Todes zusammen. Seine
Feststellung ist unbestreitbar, dass der Tod in den deutschen Sagen aus der
Slowakei, genauer gesagt aus dem Hauerland, ganz überwiegend von einem
weiblichen Wesen personifiziert wird, das abwechselnd als Tödin, Frau Hulderin,
Huldermutter, Hulde oder Holda, Schönheitstödin oder Weihnachtstödin
bezeichnet wird. Wesentlich seltener tritt der Tod als unbekannter Mann in
Schwarz, als wilder Mann im Wald oder als „Mihammer“ auf. Nur in einigen
Sagen erscheint er gemeinsam mit der Tödin als Paar. Der Tod wird nicht
detailliert beschrieben, seine Eigenschaften werden nicht im einzelnen
aufgeführt.79
In dem deutschen Textkonvolut tritt der Tod sowohl als männliche als auch
weibliche Gestalt auf, doch ist die Tödin deutlich häufiger vertreten, wie bereits
Hanika feststellte. Dieser führt an, dass in der Zeit bis zur Aussiedlung der
Deutschen nach 1945 in der Umgebung von Kremnica und Nitrianske Pravno
„jeder Bewohner, auch die Jugend, von ihr [d.h. der Tödin] wußte; jeder ist ihr
irgendwie einmal selbst begegnet oder kennt jemanden, der eine Begegnung mit
ihr hatte.“80 Ipolyis Hinweise auf die Gestalt der Tödin, wie sie in der selben
Region Mitte des 19. Jahrhunderts imaginiert wurde, könnten bedeuten, dass es
sich um eine Vorstellung von großer Dauer und Kontinuität handelt, also um eine
kulturelle Repräsentation im Sinne meiner Definition. Die empirische Basis für
diese Annahme ist jedoch schmal, da anders als aus dem Hauerland aus den
77
CAMMANN/ KARASEK, Volkserzählungen, Teil 2, 1981, 52f., 59, 71, 78, 79, 80, 110. ‒
HANIKA, Tödin, 1954, 172, 175, 177, 181.
78
CAMMANN/ KARASEK, Volkserzählungen, Teil 2, 1981, 61f., 69, 72. ‒ HANIKA, Tödin, 1954,
174.
79
Ebd., 181‒183.
80
Ebd., 171.
208
übrigen deutschsprachigen Gebieten der Slowakei nur sehr wenige Angaben über
das Auftreten der Tödin vorliegen.
Es ist interessant, dass in den Sagen die Tödin vorherrscht, während in den
Märchen der männliche Tod dominiert. Ich vermute, dass sich das durch die
größere Nähe der Sagen sowie der Erlebnis- und Ereignisberichte an
Glaubensvorstellungen erklären lässt, was von der Ethnologie belegt wurde. In
diesen Vorstellungen herrschte nämlich Hanikas Aufzeichnungen nach die
Vorstellung einer weiblichen Todesgestalt vor. Dagegen stellt das Märchen als
vielmotivischer und längerer Text höhere Anforderungen an das Gedächtnis.
Texte dieses Genres wurden innerhalb der deutschsprachigen Bevölkerung auch
durch die Lektüre tradiert. Neben der deutschen Literatur waren es mindestens bis
1918 wahrscheinlich auch ungarische Texte,81 in denen die Gestalt des Todes als
Mann kanonisiert wurde, und zwar in Anpassung an das grammatikalische
Geschlecht der Todes in der deutschen Sprache (während das Ungarische kein
grammatisches Genus besitzt).82 Parallelen zwischen deutschen und ungarischen
Texten zeigen sich zum Beispiel in den Märchen „Betuschka und der Tod“ oder in
„Der Tod als Geliebter“.
Andererseits wuchs nach 1918 der Einfluss schriftlich fixierter slowakischer
Texte, der seinerseits durch eine starke mündliche Tradition unterstützt wurde.
Deshalb überrascht es nicht, dass in dem bekanntesten europäischen Märchen,
„Der Gevatter Tod“ (AaTh 332), in der deutschsprachigen Überlieferung in der
Slowakei ebenso die Tödin auftritt wie in der slowakischen.
5. Vergleich der slowakisch- und der deutschsprachigen Überlieferung
aus dem 20. Jahrhundert
Unser Material weist eine große Anzahl von Interferenzen auf abstrakter Ebene
auf. In beiden Sammlungen können wir sehr ähnliche Erzählmotive ausmachen,
wie auch eine ähnliche Charakteristik der Todesgestalt, dies v.a. in den Sagen.
Der Tod oder die Tödin ist in der Regel eine weiße Gestalt, die sich zur
Riesenhaftigkeit vergrößern kann; sein oder ihr Kommen kündigt Krankheit oder
Tod an. Die Tödin ist mal alt, mal jung und schön. Sie straft und belohnt für
schlechtes und gutes Verhalten. Wegen des umfangreichen Materials bieten die
deutschen Sagen mehr Details zu Aussehen und Verhalten des Todes.
Interferenzen zeigen sich auch in der Verbindung des Todes oder der Tödin mit
anderen dämonischen Wesen, was ich für einen komplizierteren Sachverhalt mit
Blick auf den Gesamtkomplex der Glaubensvorstellungen halte. Hier zeigt das
81
Zur deutsch-ungarischen und deutsch-slowakischen Zweisprachigkeit oder zur
Dreisprachigkeit der deutschen Bevölkerung in der Slowakei ebd., Teil 1, 12f.
82
Karasek betonte, dass „[d]ieses altüberlieferte Erbe [...] von gedruckten Lesestoffen noch
nicht wesentlich durchgesetzt“ sei, was allerdings Cammann später in Frage stellte. CAMMANN/
KARASEK, Volkserzählungen, Teil 1, 1981, 47. ‒ Zur Lektüre der Märchen der Brüder Grimm bei
der deutschen Bevölkerung in der Slowakei siehe z.B. ebd., Teil 2, 1981, 406f.
209
Material wiederum interessante Übereinstimmungen zur Gestalt des Todes als
Lucia und weiße Frau in slowakischen und in deutschen Texten. Die Tödin als
Kinderwechslerin, Spinnfrau und Mittagsgöttin tritt wieder nur im
umfangreicheren deutschsprachigen Material in Erscheinung; in diesen Gestalten
war sie im slowakischen Material entweder nicht vorhanden oder wurde
zumindest nicht aufgezeichnet.
In den slowakischen und deutschen Märchen finden wir weniger
Übereinstimmungen bei den narrativen Motiven wie auch bei der Personifikation
des Todes. Während in den slowakischen Märchen der Tod überwiegend eine
Frau ist, obwohl auch die Gestalt eines Mannes oder eines geschlechtlich
unbestimmten Knochengerippes vorkommen, so finden wir in den deutschen
Märchen den Tod eher als Mann personifiziert. Dieser Umstand ist vermutlich
dadurch zu erklären, dass die Märchen in slowakischer und deutscher Sprache in
Form gedruckter Antologien kanonisiert wurden, die ihrerseits die weitere
mündliche Überlieferung beeinflussten.
Für das 19. und frühe 20. Jahrhundert gilt, dass wegen der Dominanz des
Ungarischen als Bildungs- und Alltagssprache der Vergleich der slowakischen
und der deutschen Märchen mit einem tertium comparationis, nämlich den
ungarischen Märchen, von Bedeutung ist. In beiden Gruppen sind entsprechende
Einflüsse nachzuweisen, wenn auch in verschiedenen Märchentypen.
Leider sind aus den Texten des 19. und 20. Jahrhunderts keine Angaben zu
gewinnen, inwieweit die Personifikation des Todes als überwiegend weibliches
Wesen und weniger als männliche Gestalt bekannt und langfristig in Regionen mit
überwiegend deutscher oder slowakischer Bevölkerung verbreitet war. Die
Feststellungen Hanikas und Karaseks zur Verbreitung der Gestalt der Tödin bei
der deutschsprachigen Bevölkerung gelten lediglich für das Hauerland. Von
meinen speziellen Untersuchungen einmal abgesehen, können wir im
slowakischen Material auf die dominante kulturelle Repräsentation des Todes als
weibliches Wesen nur indirekt schließen, nämlich aufgrund der Materialmenge
und des langen Überdauerns von Erzählmotiven.
Aus dem zur Verfügung stehenden Material lässt sich auch nicht ermitteln, ob
die slowakischen und deutschen Bewohner in der Slowakei die Gestalt des Todes
in den jeweils anderen Sprachengruppen kannten und ob ihnen die Unterschiede
zwischen der slowakischen und der deutschen Erzähltradition bewusst waren.
6. Medzev
Medzev ist eine Gemeinde mit Stadtstatus 46 km südwestlich der ostslowakischen
Metropole Košice (Kaschau). Der Ort war seit dem 14. Jahrhundert bekannt und
lebte ursprünglich vom Bergbau. Seit dem 18. Jahrhundert entstand in Medzev
eine bedeutende Eisenhüttenproduktion, die in der zweiten Hälfte des 20.
Jahrhunderts in einem Industriebetrieb mit 600 bis 700 Beschäftigten konzentriert
210
war.83 Nach 1989 wurde diese Fabrik geschlossen. Gegenwärtig arbeiten ca. 73 %
Beschäftigte in örtlichen Dienstleistungsbetrieben, im Forst und in kleinen
Betrieben mit bis zu zehn Mitarbeitern, 27 % der Beschäftigten pendeln zur
Arbeit, vor allem nach Košice.84
Nach der letzten Volkszählung von 2001 hat Medzev 3667 Einwohner, davon
zählen sich 75,4 % zur slowakischen Nationalität, 13,5 % zur deutschen, 6,7 %
zur Nationalität der Roma, zur ungarischen Nationalität 1,6 %, zur tschechischen
0,4 %, zur rusynischen 0,04%, sowie 2,36% zu anderen, nicht benannten oder
nicht festgestellten Nationalitäten. Der Anteile der Muttersprachen weichen von
der Nationalitätenstatistik ab. Slowakisch als Muttersprache gaben 58,7 % der
Einwohner an, Romani 18,7 % (!), Deutsch 16 %, Ungarisch 3,5 %, Tschechisch
0,3 %, Rusynisch 0,1 % und andere oder nicht festgestellte Sprachen 2,7 %.85
Die Unterschiede zwischen der subjektiven Zuordnung zu einer Nationalität
und den angegebenen Muttersprachen sind in den meisten Fällen recht groß. Sie
sind vielleicht aus einer vorsichtigen Haltung der Bevölkerung zu erklären, die
aus negativen historischen und mitunter auch gegenwärtigen Erfahrungen
resultiert, darunter Angriffe auf die jüdische, ungarische, deutsche und andere
Minderheiten nach 1918, Verfolgung der Roma und der jüdischen Minderheit
während des Zweiten Weltkrieges, Verfolgung der deutschen und ungarischen
Minderheit nach 1945, gegenwärtige verbale und physische Angriffe auf Roma,
politische Spannungen zwischen den Vertretern der slowakischen
Mehrheitsbevölkerung und denen der ungarischen Minderheit, schließlich latente
und offene Konflikte zwischen der Slowakei und Ungarn, die bis in die
Gegenwart reichen.
Nach Glaubensrichtungen teilte sich die Bevölkerung 2001 so auf: 77,6 %
gehörten zur römisch-katholischen Kirche, 0,7 % zur evangelischen Kirche
Augsburger Bekenntnisses, 2,2 % zur griechisch-katholischen Kirche, 0,7 % zur
reformierten Kirche, 0,6% zu den Zeugen Jehovas, 5,5 % zu anderen
Glaubensgemeinschaften, 12,7 % waren ohne Bekenntnis.86
Erst nachdem ich Medzev als Fallstudie für die Untersuchung von
Interferenzen zwischen der slowakischen und der deutschen Bevölkerung
ausgesucht hatte, stieß ich darauf, dass auch die ungarische Sprache und Tradition
wichtig für die Todesvorstellungen an diesem Ort sind. Das war im Vorfeld nicht
abzusehen, da die ungarische Minderheit in Medzev eine statistisch sehr kleine
Gruppe darstellt. Medzev liegt jedoch in unmittelbarer Nachbarschaft zweier
Gemeinden, Jasov (Jossau) und Moldava nad Bodvou (Moldau an der Bodwa),
83
Näheres in Medzev, 1977. Der Name Medzev hatte eine weitere und eine engere Bedeutung.
Historisch existierten Nižný und Vyšný Medzev (Unter- und Obermetzenseifen). Diese
Gemeinden wurden 1964 unter dem Namen Medzev zusammengeschlossen. Im Jahre 2000 teilte
sich die Gemeinde wiederum in Vyšný Medzev und Medzev. Unsere Feldforschung führten wir im
heutigen Medzev durch. Zu den Namen der Gemeinden siehe auch RICHTER-KOVARIK, Kultúra,
2003, 323, 338f.
84
Für diese Angaben von 2009 danke ich der Stadtverwaltung von Medzev.
85
Sčítanie, 2001.
86
Ebd.; Umrechnung in Prozent von mir.
211
die bis in die Gegenwart durch einen markanten Anteil einer ungarischen
Bevölkerung geprägt sind. Medzev befindet sich damit direkt an der ungarischen
Sprachgrenze.
Der Einfluss des ungarischsprachigen Umfeldes ist dennoch nicht allein aus
der bloßen Nachbarschaft von Deutschen, Slowaken und Ungarn in
Vergangenheit und Gegenwart zu erklären. Vielmehr schlagen sich darin
kulturelle Prozesse als Folge historischer, politischer, sozialer und wirtschaftlicher
Verhältnisse des 19. und frühen 20. Jahrhunderts nieder. In erster Linie hat sich
dabei der bis 1918 ungarischsprachige Schulunterricht ausgewirkt. Die Bewohner
von Medzev sorgten dafür, dass sich die Sprachkenntisse ihrer Kinder weiter
verbesserten, indem sie sie für eine bestimmte Zeit in ein ungarischsprachiges
Umfeld gaben. Denn die Medzever mussten das Ungarische bis 1918 nicht nur als
Amtssprache beherrschen, sondern auch als wichtiges Kommunikationsmittel für
geschäftliche und soziale Kontakte.87
Obwohl Medzev nach 1918 zur Tschechoslowakischen Republik gehörte und
das Ungarische aus Schulwesen und Verwaltung verschwand, überdauerte es bei
vielen Einwohnern von Medzev dennoch als Zweitsprache. 1938 wurde die
Grenze zwischen der Tschechoslowakischen Republik und Ungarn nach Norden
verschoben, so dass Medzev bis 1945 zu Ungarn gehörte, was wiederum der
Verbreitung des Ungarischen und den Kontakten mit der ungarischen
Bevölkerung förderlich war.
Die deutsche Minderheit, deren Angehörige sich selbst als „Mantaken“
bezeichnen, nimmt im Vergleich mit den übrigen Minoritäten heute die wichtigste
Stellung ein. Nach der Wende von 1989 wurde in Medzev 1991 ein
Karpatendeutscher Verein (KDV) gegründet, der Versammlungshaus und
Bibliothek besitzt.88 Der Verein hat einen sehr aktiven Chor sowie eine
Tanzgruppe; beide treffen sich einmal wöchentlich zu Proben. Er sieht im Erhalt
der deutschen Sprache beziehungsweise des Mantakischen sowie der Lieder,
Tänze, Trachten und des Brauchtums der deutschen Minderheit seine wichtigste
Aufgabe. Deutschkenntnisse sind ein kulturelles Kapital, das eingesetzt werden
kann, um eine bessere Arbeit in der Slowakei, in Österreich oder Deutschland zu
finden; darüber sind sich die Einwohner von Medzev unabhängig von ihrer
jeweiligen Muttersprache einig. In der slowakischen Grundschule wird Deutsch
als erste Fremdsprache unterrichtet. Seit dem Jahr 2000 wird in der örtlichen
römisch-katholischen Kirche neben der slowakischen auch die deutsche Messe
gefeiert. Bei den jährlich im Juli stattfindenden Stadtfeiern präsentiert sich
87
Handel mit Hacken und anderen Eisenwaren mit mehreren Regionen des heutigen Ungarn;
dazu MARKUŠ, Motyky, 1966.
88
Nach 1945 gab es für die deutsche Bevölkerung in der Tschechoslowakei keine Möglichkeit,
sich in Vereinen zu organisieren. Erst 1969 entstand in Prag der Kulturverband der Bürger
deutscher Nationalität der ČSSR mit dem Ziel, die deutsche Vorschul- und Schulbildung sowie
deutschsprachige Bücher und Tagespresse zu fördern. In Medzev entstand 1970 eine Zweigstelle
dieses Verbandes, die jedoch nur drei Jahre lang bestand und unter politischem Druck aufgelöst
wurde. Diese Zweigstelle war die einzige in der gesamten Slowakei. RICHTER-KOVARIK, Kultúra,
2003, 334‒336.
212
Medzev als slowakisch-deutsche Stadt; andere Minderheiten werden zwar
einbezogen, aber nicht speziell als im Ort lebende Gruppen.89
Diese hervorgehobene Stellung der deutschen Minderheit geht auch auf die
im kollektiven Gedächtnis der Bevölkerung bewahrte Erinnerung zurück, dass die
Deutschen in der Marktgemeinde Medzev bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs
die absolute Bevölkerungsmehrheit stellten, die sie erst nach 1945 durch die
gewaltsame Aussiedlung verloren.90 Soweit Deutsche nach 1945 in der Gemeinde
blieben, nahmen sie meist die slowakische Nationalität an, und der Ort wuchs vor
allem durch den Zuzug von Menschen dieser Nationalität. Nach 1989 erhielt die
deutsche Minderheit starke Unterstützung von den nach Deutschland
ausgesiedelten Karpatendeutschen. Die Zahl der Einwohner, die sich zur
deutschen Nationalität oder zur deutschen Muttersprache bekannten, begann
wieder zu wachsen.
Gegenwärtig liegt keine nationale Minderheit in Medzev bei über 20 %
Bevölkerungsanteil. Dies ist das nach slowakischem Recht gültige Minimum, ab
dem mehrsprachige Beschriftungen eingeführt werden, die Minderheitssprache
Amtssprache wird, Schulen in dieser Sprache eingerichtet werden können usw. Im
Interview erklärten Mitarbeiter der Stadtverwaltung allerdings wiederholt, sich
bereits darauf eingestellt zu haben, im amtlichen Sprachgebrauch neben
Slowakisch auch Deutsch und Ungarisch zu verwenden. In der Tat konnte ich bei
meinen Aufenthalten in Medzev beobachten, wie die Beamten mit
Gemeindemitgliedern in allen drei Sprachen kommunizierten; das Romani wurde
bei diesen Gelegenheiten jedoch nicht verwendet.
7. Feldforschung in Medzev
Meine Kollegin Michaela Ferencová und ich absolvierten zwischen Februar und
Juli 2009 in Medzev drei Feldforschungsaufenthalte von insgesamt 26 Tagen.91
Wir führten halbstrukturierte Interviews, d.h. wir stellten den Respondenten
jeweils dieselben Fragen, ließen sie aber frei erzählen. Unsere Fragen bezogen
sich auf drei Bereiche. Ersten ging es darum, was über die Gestalt des Todes in
der Vergangenheit in Medzev erzählt wurde und gegenwärtig erzählt wird und
89
Falls nicht anders angegeben, stammen alle Angaben aus unserer Feldforschung.
Für die Zeit des Sozialismus war bezeichnend, dass sich die landeskundliche Literatur in der
Slowakei nicht zur nationalen Zusammensetzung der Bevölkerung in den Gemeinden äußerte; z.B.
Medzev, 1977. Über die Zwangsaussiedlung der Bevölkerung von Medzev nach 1945 schrieben
vor allem Autoren in der Bundesrepublik Deutschland. Demnach waren mehr als 1000 Menschen
aus dieser Gemeinde davon betroffen, also fast die Hälfte der Einwohnerschaft; KAUNER,
Metzenseifen, 1986, 10f.
91
Bei unserer Kontaktaufnahme in Medzev waren Bürgermeisterin Valéria Flachbarthová, der
Leiter der Stadtverwaltung Ondrej Gedeon und die anderen Mitarbeiter der Stadtverwaltung sehr
behilflich. Mit Kontakten zur deutschsprachigen Gruppe half auch die Vorsitzende des KDV,
Vilma Bröstlová. Wir danken allen genannten und ungenannten Einwohnern von Medzev für ihre
Hilfe sowie den Respondenten für die Interviews.
90
213
welche Erzählungen die Respondenten in slowakischer oder deutscher Sprache
kennen. Diese Erzählungen haben wir im weiteren Kontext des Erzählens vom
Tod und von Verstorbenen untersucht. Zweitens ging es um die jeweilige
individuelle Vorstellung der Respondenten und um die kulturelle Repräsentation
des Todes innerhalb ihrer jeweiligen Sprachgruppe. Drittens wollten wir wissen,
ob unseren Respondenten etwas über die Gestalt des Todes in einer anderen
Sprachgruppe bekannt sei. Michaela Ferencová suchte in Gesprächen mit vier
Respondentinnen auch nach Erzählungen in ungarischer Sprache. Die
Bevölkerung mit ungarischer Muttersprache stellt in Medzev jedoch eine sehr
kleine Minderheit dar, und das gewonnene Material ist sehr begrenzt.
Wir führten Gespräche mit individuellen Respondenten wie auch
Gruppeninterviews.92 Wegen der fehlenden Übereinstimmung zwischen der
subjektiven Zuordnung zu einer Nationalität und einer Muttersprache, die sich
wiederum nicht mit der Selbstidentifikation der Mitglieder einer ethnischen
Gruppe decken müssen, fragten wir die Respondenten nicht nach ihrer
Nationalität, sondern nur nach ihrer Muttersprache und, soweit möglich, nach
ihrer Selbstidentifikation z.B. als Mantaken oder Slowaken. Ich schreibe deshalb
im Folgenden über die Einwohner als Vertreter von Sprachgruppen. Wir
bemühten uns, die Interviews in der jeweiligen Muttersprache des Respondenten
zu führen.93 In einigen Fällen gingen jedoch die Respondenten mit deutscher bzw.
mantakischer Muttersprache selbst ins Slowakische über, oder das Gespräch
verlief abwechselnd in mantakischer, hochdeutscher und slowakischer Sprache.
Wir haben bislang mit elf slowakisch sprechenden Respondenten Interviews
geführt.94 Dieses Sample umfasst sechs Respondenten, die in anderen Gemeinden
der Ost- oder Mittelslowakei mit überwiegend oder ausschließlich slowakischer
Bevölkerung aufgewachsen waren. Des weiteren enthält das Sample fünf
Respondenten, die selbst in Medzev geboren, deren Eltern jedoch nach 1945
zugezogen sind. Ferner haben wir Interviews mit 27 Respondenten geführt, die in
Medzev geboren sind und dort leben, und deren Muttersprache Mantakisch ist.95
Die bisherigen Feldforschungen betrachte ich als erste Sondierung. Ich bin mir
auch der quantitativen Disproportion hinsichtlich der Anzahl der Respondenten
92
Bislang konnten insgesamt 19 individuelle Interviews, 17 Interviews mit je zwei
Respondenten sowie 5 Gruppeninterviews durchgeführt werden. An einem Gruppeninterview
waren drei Arbeitskollegen beteiligt, an drei Gruppeninterviews je vier Verwandte. Das größte
Gruppeninterview war das erste Treffen mit dem 15 Mitgliedern des KDV im Februar 2009. Von
dieser Gruppe beteiligten sich sieben Respondenten, die übrigen Anwesenden brachten
Zustimmung oder Einwände zu den Antworten zum Ausdruck.
93
Ich führte die Interviews mit Mantaken und Slowaken, Michaela Ferencová mit den
ungarischen Respondenten.
94
Darunter war ein Mann von über 60 Jahren. Fünf Männer und drei Frauen waren im Alter
zwischen 40 und 60 Jahren. Schließlich waren noch zwei Männer der jüngeren Generation im
Alter zwischen 20 und 40 Jahren vertreten.
95
Davon gehörten drei Männer und acht Frauen der ältesten Generation an. Aus der mittleren
Generation führten wir mit fünf Männern und drei Frauen Interviews, aus der jüngeren Generation
mit einem Mann und sechs Frauen. Eine Respondentin gehörte mit unter 20 Jahren zur jüngsten
Generation.
214
im Verhältnis zu ihren Sprachgruppen bewusst. Eine qualitative ethnographische
Untersuchung setzt jedoch nicht vor allem auf quantitative Indikatoren. Es kommt
vielmehr darauf an, von welcher Qualität unsere Gespräche in beiden Gruppen
waren.
In der Gruppe der deutschsprachigen Respondenten gelangen uns 14
komplexe Gespräche, d.h. die Gespräche umfassten alle drei Fragenbereiche, die
in einigen Fällen durch wiederholte Interviews abgedeckt wurden. Außerdem
führten wir fünf Teilgespräche, die nur einen oder zwei Fragenbereiche
umfassten, sowie acht kurze Gespräche, die nicht einmal einen vollständigen
Bereich abdeckten. In der slowakischen Sprachgruppe waren dagegen alle
Gespräche komplex, d.h. wir nahmen mit den Respondenten alle drei
Fragenbereiche durch. Deshalb können wir das in den beiden Gruppen gewonnene
Material als relativ ausgewogen betrachten. Viele Respondenten empfanden die
Thematik als sensibel, eher als privat und nicht für die Öffentlichkeit geeignet.
Deshalb lehnten einige Respondenten das Interview insgesamt oder die Antwort
auf einige unserer Fragen ab.
8. Die Stadt als mehrsprachiger Raum
Trotz der demographischen Verschiebungen besonders nach 1939 ist Medzev bis
in die Gegenwart ein mehrsprachiger Raum geblieben. Im öffentlichen Raum wird
vor allem Slowakisch oder der örtliche ostslowakische Dialekt verwendet.
Daneben kann man Mantakisch, als Gruppensprache der Mantaken, ebenso auf
den Straßen, in den Läden oder in den Kneipen hören. Ein Fremder wird dagegen
in Medzev in der Regel auf slowakisch angesprochen.
Die Stellung der deutschen Sprachgruppe als wichtigster Minderheit in der
Gemeinde spiegelt sich zum Beispiel im Gebrauch des Deutschen im Gottesdienst
wider. Der derzeitige römisch-katholische Priester Miroslav Porvazník, dessen
Muttersprache Slowakisch ist, amtiert seit 1993 in der Pfarrei von Medzev96 und
hält seit 2000 nach Übereinkunft mit dem KDV Messen in deutscher Sprache.
Dabei dient das Deutsche jedoch nur als Liturgiesprache, während die Predigt auf
Slowakisch gehalten wird. Meinen Beobachtungen zufolge nehmen 100 bis 120
Personen an den deutschsprachigen Sonntagsgottesdiensten teil, darunter etwa
zehn Familien und einige ältere Frauen, offenbar mit ihren Enkeln. Meiner
Schätzung nach waren unter den Gottesdienstbesuchern etwa 15 Kinder unter
fünfzehn Jahren und etwa 15 Heranwachsende zwischen fünfzehn und zwanzig
Jahren. Der Kirchenchor besteht im Kern aus Mitgliedern des KDV.
Der slowakische Gottesdienst wurde am selben Sonntag im Februar 2009 von
etwa 160 bis 180 Gläubigen besucht. Der Prozentsatz an Familien, Kindern und
Jugendlichen war meiner Beobachtung nach höher als beim deutschen
Gottesdienst. Auf der Empore sang der Frauenchor „Cecilky“ (Die Cäcilien), in
96
RUŽBARSKÁ, Náš pán farár, 2009, 5.
215
welchem ich mehr jüngere Frauen sehen konnte als im deutschen Chor. Wenn
man berücksichtigt, dass an slowakischen Gottesdiensten nicht nur slowakische
Bewohner, sondern auch Roma und Ungarn teilnehmen, ist die Zahl der
Gläubigen bei den deutschen Gottesdiensten recht hoch.
Interessante Einblicke in den mehrsprachigen Raum gewährte das Stadtfest,
das als „Dni mesta Medzev“ (Medzever Stadttage) und Bodwataltreffen des KDV
am Wochenende vom 11. und 12. Juli 2009 stattfand. Bei der Eröffnungsfeier am
Samstag hielt die Bürgermeisterin von Medzev ihre Ansprache sowohl auf
slowakisch und auf deutsch. Sie sprach vom deutschen Kulturerbe, welches die
Geschichte und Gegenwart der Stadt mitgestaltet habe. Nach ihr sprach der
Vorsitzende des 11. Distrikts des KDV, Peter Sorge. Er begann seine Ansprache
auf deutsch, im zweiten Teil seiner Rede ging er ins Slowakische über und sprach
über die Tätigkeit des KDV. István Zachariaš, Vorsitzender des selbstverwalteten
Košicer Landkreises und zugleich Bürgermeister der Nachbarstadt Moldava nad
Bodvou, sprach die Anwesenden zunächst auf slowakisch, ungarisch und deutsch
an. Seine anschließende Rede trug er auf slowakisch und ungarisch vor, wobei er
den ethnischen Reichtum der Region hervorhob, was ein besonderes Geschenk
und von großem Wert sei. Es folgte ein Musik- und Tanzprogramm, das von zwei
Moderatorinnen in slowakischer und deutscher Sprache präsentiert wurde.
Während des Programmes wechselten sich slowakische, tschechische, deutsche
und ungarische Chöre sowie slowakische und deutsche Tanzensembles ab. Die
Medzever Stadttage endeten am Sonntag mit gemeinsamen deutschen und
slowakischen Festgottesdiensten in der Ortskirche. Diese wurden von drei
Geistlichen abgehalten, nämlich dem Ortspriester Porvazník, dem gebürtigen
Medzever und gegenwärtig als in Nürnberg amtierenden Priester Arpád Bernáth
und von Dekan Jozef Sokolský, Priester von Vyšný Medzev. Slowakische und
deutsche Kirchenlieder wechselten einander ab. Porvazník trug die Predigt auf
slowakisch vor, anschließend hielt Bernáth eine Ansprache auf mantakisch.
Unsere Feldforschung zum Sprachgebrauch im öffentlichen Raum zeigt, dass
sich Medzev in erster Linie als slowakisch-deutscher Ort präsentiert. Im
Gesamtbild fehlt jedoch das Ungarische nicht, das zwar in geringerem Umfang,
jedoch auch in der Öffentlichkeit im Gebrauch ist. Diese drei Sprachen, nicht
jedoch das Romani werden von den politischen Akteuren u.a. gezielt dazu
eingesetzt, den ethnischen Reichtum von Region und Stadt hervorzuheben.
9. Die kulturelle Repräsentation der Gestalt des Todes in Medzev
Ziel der Untersuchung in der Marktgemeinde war es herauszufinden, ob eine
kulturelle Repräsentation der Gestalt des Todes existiert – das heißt eine
antropomorphe oder zoomorphe Personifikation in der slowakischsprachigen und
in der deutschsprachigen Gruppe, vielleicht sogar eine gemeinsame
Repräsentation. Zugleich untersuchten wir, welche individuelle Repräsentation
die Respondenten vom Tod haben und ob sie dessen Gestalt in anderssprachigen
216
Gruppen kennen oder nicht. Deshalb suchten wir in Medzev nach Erzählungen
über den Tod, deren Verbreitung auf eine Repräsentation in beiden Gruppen
hinweisen könnte. Die Personifizierungen des Tods sind im mündlichen
Erzählrepertoire meist Bestandteil eines umfassenderen Komplexes des Erzählens
vom Tod und von Verstorbenen. Zu diesem Komplex gehören Themen wie z.B.
Todesahnungen oder -ankündigungen sowie ungewöhnliche Todesumstände,
merkwürdige Ereignisse bei der Beerdigung, Erscheinungen von Verstorbenen,
Kontakte von Toten mit Lebenden im wachen Zustand oder im Schlaf.97 Solche
Themen erscheinen auch in Märchen, häufiger noch in Sagen, sowie in Erlebnisund Ereignisberichten. Des weiteren suchten wir in unseren Interviews nach der
kulturellen sowie nach der individuellen Repräsentation der Gestalt des Todes.
10. Die Personifikation des Todes in der slowakischsprachigen
Gruppe
Bei den slowakischsprachigen Respondenten ist ein reiches Repertoire an
Erzählungen sowie eine interessante Repräsentation des Todes zu finden. Bis auf
eine Respondentin kannten alle Befragten Erlebnis- und Ereignisberichte über den
Tod, wobei am häufigsten Erzählungen über Todesvorzeichen anzutreffen sind.
Bei einer nahestehenden, im Sterben liegenden Person geschieht es, dass etwas
kracht, Gegenstände herunterfallen, Uhren stehenbleiben, ein schwarzer Vogel
(ein Kauz oder Rabe) oder ein heller Vogel (eine Taube) herbeifliegt, das Telefon
klingelt, doch niemand sich meldet. Auch seltsames Verhalten von Tieren kündigt
den Tod an: Der Hund liegt stets bei dem Kranken, oder er läuft herum, er winselt
zum Zeitpunkt des Todes, er scharrt Löcher, kurz darauf stirbt jemand. Ein
Todesfall in der Familie wird durch Träume angekündigt, wenn z.B. jemand von
einer weißen Braut oder von einem schwarzen Pferd träumt. Wenn ein Mensch in
der Familie oder in der Gemeinde stirbt, folgt gewöhnlich gleich eine Serie von
Sterbefällen. Nach dem Tod kommen die Verstorbenen und verabschieden sich
von den Hinterbliebenen, sie erscheinen ihnen im Traum oder im Wachen.
Nahezu allen Respondenten ist das Geschehen von der Bestrafung des jungen
Burschen bekannt, der in der Nacht auf den Friedhof geht, um seinen Mut zu
beweisen. Er soll ein Kreuz in die Grabeserde stecken, dabei bleibt er jedoch mit
der Jacke hängen, und vor Angst wird er grau und verstummt. Dieses Geschehnis
siedeln die Respondenten in Medzev selbst an.
Obwohl die Erzählungen über Todesfälle und Verstorbene sehr zahlreich sind,
kennen lediglich vier Respondenten Erlebnisberichte über das Erscheinen des
Todes, und diese sind nicht aus erster Hand. Diese Respondenten haben alle ihre
Kindheit in slowakischen Gemeinden verbracht. Ihre Narrative imaginieren den
Tod meistens als Frau, mit oder ohne Sense, manchmal mit dürren, langen
97
Zu den Themen siehe zum Beispiel den gesamten deutschen Sagenkatalog zu Tod und Toten
MÜLLER/ RÖHRICH, Tod, 1967, 352‒387.
217
Fingern. Die Tödin sitzt auf einem Birnbaum, von dort aus springt sie auf die
Leute herab. Sie erscheint als vager Schatten ganz in Weiß oder als in schwarzes
Tuch gehülltes Knochengerippe. Zwei Respondenten kennen die Geschichte von
dem Mann, der zur Strafe die Tödin auf den Schultern tragen muss, oder von dem
Kutscher, zu dem sich die Tödin auf den Wagen setzt und ihn zwingt, sie
herumzufahren. Außerdem kennen die Respondenten Geschichten, in denen sich
anstelle der Tödin eine verstorbene Person zeigt, die einen weiteren Todesfall
ankündigt oder den Sterbenden mit sich nimmt.
Von den Märchen kennen die Respondenten überwiegend das sehr bekannte
„Gevatterin Tödin“, entweder aus einer Druckfassung, meist der DobšinskýSammlung, oder aber aus Juraj Jakubiskos (geb. 1938) Film „Perinbaba“ (Frau
Holle) von 1985.98 Keiner der Respondenten hat dieses Märchen in mündlicher
Überlieferung gehört oder kann es nacherzählen. Die übrigen Märchen mit der
Tödin kennen sie nicht. Drei Respondenten kennen zwar auch ein Märchen bzw.
eine lokale Sage über Medzev („Der Drachensumpf“), doch sie wissen nichts von
einer Gestalt des Todes darin.
Gefragt zu in ihrer Sprachgruppe verbreiteten Todespersonifizierungen,
antworten diejenigen Respondenten, die ihre Jugend in slowakischen Gemeinden
verbracht haben, dass man bei ihnen vom Tod als einer Frau mit Sense, mit langen
Fingern sowie von einem in Schwarz gehüllten Knochengerippe gesprochen habe,
oder vom Tod als weißen Schatten, der jedoch ein verstorbener Mensch sei. Nur
ein Respondent kann diese Frage nicht beantworten. Niemand kennt aus dem
jeweiligen Umfeld den Tod in Gestalt eines Tieres. Auf der anderen Seite sagen
die in Medzev geborenen slowakischen Respondenten meist, dass sie aus ihrer
Kindheit keine Gestalt des Todes kennen, sie wissen nicht, ob es in Medzev eine
solche Vorstellung gegeben habe. Alle slowakischen Respondenten stimmen darin
überein, dass ihnen keine Vorstellung von der Gestalt des Todes im heutigen
Medzev bekannt sei.
Die Respondenten können nichts zu der Frage sagen, welche Vorstellung von
der Gestalt des Todes in der deutsch- oder ungarischsprachigen Gruppe existiere.
Obwohl mehrere von ihnen Mantakisch und einige Ungarisch beherrschen, haben
sie sich nicht damit beschäftigt.
Eine breite Skala von Todespersonifizierungen erbringen die Antworten auf
die Frage, wie sich der Respondent selbst den Tod vorstelle. Bei den individuellen
Vorstellungen erscheinen bei jeweils drei Respondenten Personifizierungen des
Todes als weibliches Wesen, gegebenenfalls mit Sense, wie als männliches Wesen
mit Sense. Zwei Respondenten stellen sich den Tod allerdings auch als
Verstorbenen oder als Geist vor. Die übrigen drei Respondenten haben keine
eigene Vorstellung.
98
Perinbaba, Regie Juraj Jakubisko, Märchenfilm, Tschechoslowakei ‒ BRD 1985. In der BRD
lief der Film unter dem Titel „Frau Holle“. Seither wurde der Film wiederholt in Kino und TV
gezeigt, oft zu Weihnachten. In der Slowakei ist der Film allgemein bekannt. Der Tod ist darin
weiblich.
218
11. Die Personifikation des Todes in der deutschsprachigen Gruppe
Mehrere der deutschsprachigen Respondenten aller Generationen erwähnen bei
den ersten Befragungen, dass man über den Tod weder in der Familien noch in
der Öffentlichkeit viel gesprochen habe. Das Thema ist gewissermaßen ein Tabu.
Andererseits zeigt die Untersuchung, dass in der Vergangenheit sehr wohl von
Tod und Verstorbenen erzählt wurde und sich das bis in die Gegenwart fortsetzt.
Diese Art von Erzählungen werden jedoch nicht überall und jedem erzählt. Denn
es sind oft intime Erlebnis- und Ereignisberichte, die nur unter Verwandten, guten
Bekannten oder Freunden ausgetauscht werden. Das setzt voraus, dass der
Erzähler Vertrauen zu den Zuhörern hat, dass er weiß, dass auch ein Bericht von
einem ungewöhnlichen Ereignis als glaubwürdig gelten wird. Unsere
Untersuchungen lassen erkennen, dass die Todesthematik in Medzev bereits vor
Mitte des 20. Jahrhunderts aus der öffentlichen in die Privatsphäre verschoben
wurde und sich dieser Prozess in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
fortsetzte.
Erzählungen über das Sterben und Verstorbene sind ein produktives Element
im Repertoire der Respondenten aller Altersgruppen. 23 von insgesamt 27
Respondenten haben ungewöhnliche Erlebnisse beim Tod von Verwandten und
Bekannten gehabt oder können von solchen Ereignissen erzählen, und sie halten
sie für real. Dabei bilden Todesvoraussagen die umfangreichste Gruppe, wenn
dem Respondenten selbst oder einem Gewährsmann ein nahestehender Mensch
erscheint und er kurz darauf erfährt, dass dieser Mensch gestorben ist. Einen
bevorstehenden Tod kann auch ein schwarzer Vogel, ein Kauz oder ein Hund
ankündigen, der merkwürdig aufjault oder eine Grube scharrt, weiters ein
zuknallendes Fenster, ein Gegenstand, der zu Boden fällt, eine stehenbleibende
Uhr, ein klingelndes Telefon usw. Einige Erzählungen dieses Bereiches finden
sich sowohl bei slowakischen als auch bei deutschen Respondenten. Manchmal
handelt es sich sogar um dieselben Erlebnis- und Ereignisberichte.
Die zweithäufigste Gruppe bildet das Erscheinen eines Verstorbenen kurz
nach seinem Tod, zum Jahrestag des Todes oder zu Allerseelen. Der Tote kommt
und bittet um etwas, oder er bedankt sich, er bittet darum, für ihn zu beten, macht
eine Vorausage u.a.m.
Im diesem Repertoire an Erzählungen gibt es sehr wenige Erlebnis- und
Ereignisberichte über das Erscheinen des personifizierten Todes. Lediglich ein
Respondent der mittleren Generation will erlebt haben, dass ihm der Tod als
unklare Gestalt erschien. Drei Respondentinnen geben Erzählungen zum
personifizierten Tod wieder, die sie von älteren Verwandten kennen. Darin tanzen
beispielsweise mehrere Tode auf dem Friedhof; zu Zeiten schwerer Krankheiten
läuft der Tod mit seiner Frau als Paar umher; und wir finden hier auch
Beschreibungen des Tods als schwarze männliche Gestalt mit einer Sense oder als
Skelett. Einer Respondentin hat ihre Großmutter erzählt, wie eine alte Verwandte
in der Familie starb. Die Sterbende sieht einen fremden Mann kommen, der sie
219
holt und in einer unbekannten Sprache redet. Die Sterbende sagt deshalb zu den
Verwandten, die bei ihr wachen: „Der Tod is’ a Slowak.“ Die meisten
Respondenten erzählen jedoch, dass nicht der Bruder Tod selbst kommt, um den
Sterbenden zu holen, sondern eher ein verstorbener Verwandter, ein Geist. Z.B.
sagt eine kranke Mutter zu ihren Kindern, dass ihr Ehemann sie schon holen
komme. Den Respondenten ist keine weibliche Gestalt oder die Vorstellung einer
Tödin aus mantakischen Erzählungen bekannt.
Vier Respondenten aus Medzev können das in der Slowakei und in
Deutschland bekannteste Märchen über den Tod nacherzählen, „Der Gevatter
Tod“ bzw. „Die Gevatterin Tödin“. Jedoch nur eine Respondentin kennt dieses
Märchen von ihrer Großmutter, die es ihr auf mantakisch erzählt hat, nicht ohne
die Gestalt des Todes zu beschreiben. Die drei übrigen Respondenten kennen das
Märchen aus slowakischen Büchern und aus dem bekannten Film von Juraj
Jakubisko, und sie halten es für ein slowakisches Märchen. Eine Respondentin der
ältesten Generation erzählt das Märchen „Der Ritter und der Tod“, das sie von
ihrem Vater auf mantakisch gehört hat, sowie das Märchen „Der Tod und das
Großmütterchen“ (AaTh 1118), das aus ungarischen Aufzeichnungen bekannt
ist.99 Ihre Eltern haben ihr dieses Märchen allerdings auf mantakisch erzählt, doch
bei der Wiedergabe sagt sie das Schlüsselwort „morgen“ (holnap) auf ungarisch.
Den Inhalt des Märchens „Der Ritter und der Tod“ kennt auch eine Respondentin
der jüngsten Generation von ihrer Großmutter. Ein weiterer Respondent der
ältesten Generation kennt den Inhalt des Märchens „Der Tod und das
Großmütterchen“.
Die Gestalt des Todes erscheint als Nebenfigur in der lokalen deutschen Sage,
die ich im vorigen Abschnitt beschrieben habe. Die lokale Tradition will, dass
sich an der Stelle des heutigen Marktplatzes ein Sumpf befand, in dem ein
Drachen lebte, der die Bewohner der Stadt auffraß. Weiter stimmt der Plot der
Sage mit dem Märchen „Der Drachensumpf“ überein.
Peter Gallus (1868‒1927), ein aus Medzev stammender katholischer Priester
und Dichter, verfasste auf mantakisch in Versform die Sage vom Drachen und der
alten Witwe; diesen Text bezogen spätere Autoren in heimatkundliche Arbeiten
ein.100 Gallus’ Gedicht kennen mit zwei Ausnahmen alle befragten Respondenten,
die Sage lernen die Kinder in der Schule auf (Hoch-) Deutsch, doch die Lehrerin
99
„Gyere holnap.“ A halál és a vénasszony („Komm morgen.“ Der Tod und das
Großmütterchen) in: Magyar népmesekatalógus, Bd. 5, 1982, 337‒339. Für die Slowakei auf
ungarisch in GÉCZI, Ungi népmesek, 1994, Nr. 87, 242. Der Tod kommt, um eine alte Frau zu
holen, doch die bittet ihn, erst morgen zu kommen. Der Tod schreibt an die Tür „morgen“
(holnap). Als der Tod zurückkommt, zeigt ihm die Frau immer diese Aufschrift. So kommt der
Tod eine ganze Woche lang umsonst, schließlich jedoch wischt er die Schrift von der Tür ab und
sagt, dass er am nächsten Tag kommen und die Frau wirklich holen wird. Aus lauter Angst
versteckt sich die Frau in einem Honigfass und dann in einem Federbett. Gerade als sich die Frau
aus den Federn herauswühlt, kommt der Tod, um sie zu holen, und er erschrickt so sehr vor der
Frau, die ganz mit Federn eingedeckt ist, dass er flieht und die Frau am Leben lässt.
100
Z.B. E. GEDEON, Geschichte, o.J., 129‒132. ‒ KAUNER, Metzenseifen, 1986, 147‒151.
220
rezitiert ihnen das Gedicht auch auf mantakisch. Der Vers über den Tod lautet wie
folgt:
An Umt, ta rechteg kömmta
Pruda Tud met seina Sengst:
Du oame, alte Bitbe,
pald piste sein dalöst.
Eines Abends kommt er richtig
der Bruder Tod mit seiner Sense:
Du arme, alte Witwe,
bald wirst Du erlöst sein.101
Mehrere Respondenten zitieren die ganze Strophe oder zumindest den Vers
„Pruda Tud met seina Sengst“, als wir sie nach der Gestalt des Todes fragen. Auf
die Frage dagegen, ob in Medzev bei den Mantaken eine Personifikation des
Todes geläufig war, kann nur die Hälfte der Respondenten antworten. Demnach
war der Tod ein Mann, ein Sensenmann, ein Knochenmann, eine schwarz
verhüllte Gestalt oder ein Mann mit einer schwarzen Kutte über dem kahlen Kopf
und mit gefletschten Zähnen. Den Tod in Gestalt eines Tieres konnten wir bei den
Mantaken nicht finden. Die andere Hälfte der Respondenten meint, in Medzev sei
eine Personifikation des Todes nicht bekannt, beim Sterben eines Menschen
erscheine ein Geist, dies sei meist ein nahestehender Verstorbener.
Die Frage, ob der Tod bei den Mantaken als Frau personifiziert sein könne,
überrascht einige Respondenten, und dies auch dann, wenn wir das Gespräch auf
Slowakisch führen, der Tod also ein weibliches Genus hat. Es erscheint ihnen
merkwürdig, sich den Tod als weibliche Gestalt vorzustellen.
Jedoch erhalten wir ganz andere Antworten auf die Frage, wie sich unsere
Respondenten persönlich die Gestalt des Todes vorstellen. Bei dieser sensiblen
Frage erhalten wir von vielen Respondenten keine Antwort, nur elf beantworten
die Frage. Sechs Respondenten bleiben bei der Vorstellung von einem männlichen
Tod. Drei sagen, dass ihrer Meinung nach der Tod sowohl eine Frau als auch ein
Mann sein könne, nämlich eine geschlechtlich unbestimmte, verhüllte Person.
Zwei Respondenten geben an, dass sie sich den Tod als Frau vorstellen, und zwar
als liebenswürdige alte Frau oder als alte Frau ganz in Schwarz. Niemand spricht
jedoch von einer individuellen Vorstellung des Todes als Frau in Weiß.
Es ist sicherlich wenig überraschend, dass sich die mantakischen
Respondenten des Unterschiedes zwischen dem Wort „Tod“ im Deutschen und im
Slowakischen bewusst sind, zumal alle auch die slowakische Sprache
beherrschen, die meisten sogar fließend. Mehrere Respondenten der mittleren und
der jüngsten Generation kennen die Gestalt des Todes aus slowakischen Märchen,
und zwar aufgrund ihrer slowakischen Schulbildung,102 vom Lesen der
Märchensammmlung Dobšinskýs und aus Jakubiskos Film. Die Gestalt des Todes
fällt jedoch nicht unter diejenigen Kategorien von Repräsentationen, die in ihren
101
Ebd., 149.
1944 wurde die deutschsprachige Schule in der gesamten Slowakei abgeschafft. Ab 1945
fand der Grundschulunterricht nur noch auf slowakisch statt. Deutsch wurde erst seit Mitte der
1950er Jahre an der Grundschule in freiwilligen Sprachzirkeln für Schüler der oberen Klassen
unterrichtet. RICHTER-KOVARIK, Kultúra, 2003, 328‒330.
102
221
Augen Unterschiede zwischen Mantaken und anderen Gruppen kennzeichnen,
d.h. sie betrachten die Gestalt des Todes nicht als gruppendifferenzierendes
Merkmal.
12. Die kulturelle Repräsentation des Todes bei Slowaken und
Mantaken in Medzev
In der Zusammenschau des slowakisch- und deutschsprachigen Materials von
Medzev ist festzuhalten, dass die gesammelten Narrationen zur Gestalt des Todes
in Form von Märchen, Sagen, Ereignis- und Erlebnisberichten insgesamt nicht
sehr umfangreich sind. Aus jüngeren Feldforschungen ist zu schließen, dass dieser
Befund eher die Regel als die Ausnahme ist. Es darf nicht vergessen werden, dass
es in Medzev in der Mitte des 20. Jahrhunderts einen dramatischen
Bevölkerungswechsel gab, der nicht ohne Folgen für die Kontinuität der
narrativen Überlieferung und der Repräsentation der Personifizierungen des Todes
geblieben sein kann. Ebenso wechselte im Laufe des 20. Jahrhunderts mehrfach
die Staats- und Bildungssprache, und auch der Zugang zu Literatur in deutscher,
ungarischer oder slowakischer Sprache veränderte sich. Nicht zuletzt erlebt wie
alle urbanen Räume, so auch Medzev die bereits vor Mitte des 20. Jahrhunderts
einsetzende Verschiebung aller mit dem Tod in Zusammenhang stehenden
Phänomene aus der öffentlichen in die Privatsphäre.
Von den slowakischen Respondenten können sich vor allem diejenigen über
die Gestalt des Todes äußern, die in slowakischen Gemeinden, d.h. überwiegend
auf dem Lande aufgewachsen sind. Bei ihnen tritt der Tod als Frau in
Erscheinung. Im Gegensatz dazu können aus Medzev selbst stammende
slowakische Respondenten der mittleren und jüngeren Generation nichts davon
berichten, wie in ihrem Umfeld die Gestalt des Todes imaginiert wird, obwohl sie
durchaus Erzählungen aus dem Themenkreis Sterben und Verstorbene
wiederzugeben in der Lage sind. Bei den Märchen verhält sich das anders; denn
die Respondenten kennen mindestens das Märchen „Die Gevatterin Tödin“ aus
der Schule, aus Büchern oder anderen Medien, und zwar unabhängig von ihrem
Herkunftsort.
Zu einem anderen Ergebnis kommt die bei den mantakischen Respondenten
in Medzev durchgeführte Untersuchung, von denen nur eine Minderheit einige
Erlebnisberichte kennt, in denen der Tod als Mann oder unbestimmte weiße
Person auftritt: Andererseits kennen die Befragten einen relativ umfangreichen
Bestand an Erzählungen über Sterbefälle und Tote. Die Mantaken von Medzev
verfügen demnach nur über wenige Kenntnisse von Narrationen, in denen der Tod
als Mann in Erscheinung tritt. Das ist vermutlich zum einen auf den schon
erwähnten Bevölkerungswechsel zurückzuführen, der womöglich eine starke
Diskontinutität der narrativen Überlieferung verursacht hat, aber auch auf die
Verschiebung der Todesthematik aus der öffentlichen in die Privatsphäre. Dies ist
eine Begleiterscheinung von Modernisierungsprozessen, die in Stadt und Dorf in
222
unterschiedlichem Tempo verlaufen. Wie unsere Untersuchung erweist, gab es
auch bei der deutschen Bevölkerung von Medzev Erzählungen über einen
personifizierten Tod, doch die Kenntnis davon geht verloren. Wenn Respondenten
der jüngsten Generation in der Lage sind, solche Geschichten wiederzugeben, hat
in diesen Fällen die narrative Überlieferung innerhalb der Familie, also in der
Privatsphäre stattgefunden.
Die Situation stellt sich anders dar, wenn wir die Gestalt des Todes als
Repräsentation verfolgen, wie sie die Respondenten aus ihrer jeweiligen
Sprachgruppe kennen sollten. Slowakischen Respondenten, die nicht in Medzev
aufwuchsen, ist die Vorstellung vom Tod als einer Frau, seltener als
Knochengerippe oder weißer Gestalt (d.h. als verstorbener Mensch) in ihrer
Gruppe wohlbekannt. Wenn sie aus Dörfern stammen, in denen es keinen starken
Bevölkerungwechsel gab, können sie sich auf eine Kontinuität der Vorstellungen
im dortigen Sozium stützen. In Medzev geborene slowakische Respondenten
dagegen behaupten, dass es dort solche Vorstellungen nicht gegeben habe. Die
Zuwanderung von Slowaken aus anderen Gebieten und die nur zögerliche
Entstehung von Sozialkontakten mit der Medzever Bevölkerung wie auch
Sprachbarrieren haben es den neuen Bewohnern offenbar erschwert, lokale
Repräsentationen des Todes, sei es als der Tod oder als Geist, kennenzulernen.
Den Respondenten der deutschsprachigen Gruppe in Medzev ist entweder
eine personifizierte Gestalt des Todes nur als Mann, als „der Tod“ bekannt, oder
sie sprechen von einem Geist, der einen verstorbenen Mensch personifiziert, in
einigen wenigen Fällen schließlich kennen sie überhaupt keine
Gruppenrepräsentation des Todes in Medzev.
Besonders interessant sind die individuellen Vorstellungen der Respondenten
von der Gestalt des Todes, denn sowohl die slowakischen als auch die
mantakischen Respondenten imaginieren gleichermaßen männliche und weibliche
Wesen. Jedoch überwiegt bei den mantakischen Respondenten das männliche Bild
vom Tod.
13. Schlussbemerkung
Die narrative Personifikation des Todes und seine kulturelle Repräsentation
werden von den slowakisch- oder deutschsprachigen Bewohnern der Slowakei
nicht als gruppenspezifische oder gruppendifferenzierende Erscheinungen
wahrgenommen. Auf dieser Grundlage ließe sich also auch kein Bild einer WirGruppe versus „die anderen“ konstruieren. Deshalb finde ich die Untersuchung
dieser Phänomene und ihrer möglichen Interferenzen aufschlussreich, denn sie
befasst sich mit Prozessen der Annäherung, des Sich-Voneinander-Entfernens und
der Überlappung, während sie insbesondere feststellt, dass kulturelle Phänomene
nicht miteinander interagieren, die keine gruppenidentifizierende Funktion
besitzen.
223
Die Todesvorstellungen sind offenkundig primär an die jeweilige Sprache
gebunden, genauer an das Genus des Wortes „Tod“, und sie werden v.a. narrativ
innerhalb der jeweiligen Sprachgemeinschaft verbreitet. Obwohl im Slowakischen
wie in allen slawischen Sprachen der Tod weiblichen Geschlechts und die lange
überdauernde Todesvorstellung bei den Slowaken wie generell den Slawen ein
weibliches Wesen in Weiß ist, finden wir dennoch in Erzählsammlungen des 19.
und 20. Jahrhunderts Beispiele dafür, dass der Tod als Mann, als Knochengerippe
mit oder ohne Sense, als Tier oder als geschlechtlich unbestimmtes Wesen
imaginiert wird. Unsere Untersuchung konnte keine konkreten Hinweise darauf
ermitteln, ob die deutschen Erzählungen aus der Slowakei in dieser Hinsicht die
slowakischen beeinflusst haben. Andererseits lässt die in den deutschen
Erzählungen aus unserem Betrachtungsgebiet außerordentlich verbreitete Tödin
schließen, dass es in dieser Richtung Interferenzen von Erzählmotiven sowie
höchstwahrscheinlich auch Interferenzen von Todesvorstellungen zwischen der
deutschen Minderheit und der slowakischen Mehrheit gibt.
Bei beiden Sprachgruppen ist unbedingt der Einfluss der ungarischen
Literatur und mündlichen Tradition zu berücksichtigen. Denn die ungarische
Sprache und Kultur waren als Staatssprache und -kultur vor 1918 auf dem Weg
über die Schul-, Sprach- und Kulturpolitik in den slowakischen Siedlungsgebieten
sehr dominant. Sowohl in slowakischen als auch in deutschen Erzählungen vom
Tod, vor allem in Märchen, sind Erzählmotive zu finden, die die jeweilige Gruppe
mit der ungarischen Erzähltradition teilt. Bei den Slowaken treten Interferenzen
mit dem ungarischsprachigen Kreis von Todesvorstellungen dennoch weniger in
Erscheinung. Obwohl z.B. einige slowakische Märchen in unübersehbar enger
Verbindung mit ungarischen Erzähltypen stehen, bleibt auch in diesen Fällen die
Gestalt des Todes eine Frau. In deutschen Narrationen dagegen konnten
ungarische Märchen und Sagen die von Deutschen und Magyaren geteilte
Vorstellung des Tods als Mann bestärken.
Unsere Fallstudie zu Medzev belegt, dass eine kulturelle Repräsentation, in
unserem Fall also spezifische Personifikationen des Todes, an die kontinuierliche
Überlieferung innerhalb der lokalen Gemeinschaft im Rahmen sozialer Netzwerke
gebunden ist. Durch die Aussiedlung eines großen Teils der deutschen
Bevölkerung von Medzev, an deren Stelle slowakische Neusiedler traten, wurde
die kontinuierliche Tradierung von Todesvorstellungen bei den Mantaken
unterbrochen oder zumindest stark eingeschränkt. Die Folge war, dass sich das
vorherige Repertoire an Todesvorstellungen verengte auf Sensenmann,
Knochenmann oder eine schwarz verhüllte männliche Gestalt sowie einen Geist,
der einen Verstorbenen repräsentiert. Andererseits entstanden in der heterogenen
Gruppe der neuen slowakischen Einwohner, die nur allmählich untereinander und
mit der alteinsässigen Bevölkerung Kontakte aufbauten, die Bedingungen dafür,
dass sich erneut spezifische lokale kulturelle Repräsentationen des Tods in
Anlehnung an allgemein in der Slowakei verbreitete Vorstellungen vom Tod
etablieren konnten. Die Neusiedler und ihre Nachkommen kennen dagegen meist
nicht die ursprüngliche lokale Überlieferung.
224
Die gegenwärtigen Interferenzen zwischen der slowakischen und der
deutschen Bevölkerung zeigen sich mehr bei der deutschen Minderheit als bei der
slowakischen Mehrheit. Die meisten Medzever Mantaken haben durch die
Schulbildung in slowakischer Sprache sowie den Kontakt mit der slowakischen
Kultur und Bevölkerung bestimmte Kenntnisse von der slowakischen
Erzähltradition und der slowakischen Vorstellung vom Tod als Frau. Umgekehrt
fehlt bei der slowakischen Bevölkerung gewöhnlich die Bekanntschaft mit der
ursprünglichen lokalen Tradition. Letztlich unterliegen alle Bewohner Medzevs
dem Einfluss von Modernisierungsprozessen, die Erzählungen und kulturelle
Repräsentation des personifizierten Todes in die Privatsphäre verdrängen und
dieses Wissen insgesamt schwinden lassen. Die neuen Bedingungen erfordern den
Aufbau von Netzwerken enger Freunde, Verwandter und Bekannter, zu denen ein
ausreichendes Vertrauensverhältnis besteht, um solche Erzählungen und
Vorstellungen weiterzugeben.
Aus dem Slowakischen von Nora Schmidt und Andrea Reynolds
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228
229
230
Laura Hegedüs
Grenz(ver)handlungen und Grenz(er)findungen im
Kontaktraum Burgenland und Westungarn –
Repräsentationen eines Raumes
1. Zur Einführung
Ist es nicht gerade die Grenze, die sich zur Beschreibung von kultureller
Interferenz besonders eignet? Eine Bejahung dieser Frage suggeriert schon der
ambivalente Charakter von Grenzen, die nicht nur trennen, sondern auch
verbinden, denn jedes Ende birgt zugleich einen Anfang.
Nicht zufällig avancierten Grenzregionen zu einem der produktivsten
Gegenstände kulturwissenschaftlicher Untersuchungen. So plädierte Karl
Schlögel in seinem Buch „Im Raume lesen wir Zeit“ geradezu emphatisch für
die
Erforschung
der
Grenzen,
denn
an
ihnen
ließen
sich
„Durchmischungsprozesse, Transferprozesse, Amalgamierungen studieren, aus
denen gewöhnlich etwas Neues hervorgeht“1. Auch in diesem Beitrag sollen
kulturelle Überlagerungen, Schnittstellen und Verflechtungen aufgespürt
werden, die bei Identitätsbildungsprozessen in Grenzregionen zu erwarten sind.
Zu ihrer Beschreibung wird die Metapher der Interferenzen verwendet, die in
den Geisteswissenschaften bereits Fuß zu fassen beginnt. Beispielsweise wurde
in der Linguistik der spezifische Aspekt der Interferenz für die Untersuchung
von Sprachkontaktzonen oder von Problemen des Fremdsprachenerwerbs, in der
Soziologie für die Beschreibung von Geschlechter-Interferenz fruchtbar
gemacht2. Es gibt jedoch kaum einen Beitrag, der die Analyse von
Grenzerzählungen und erzählten Grenzen mit der Denkfigur der Interferenz
verknüpft hätte.
Die nachfolgenden Analysen binden sich an das geografische Gebiet des in
Österreich gelegenen Burgendlands und an Westungarn. Dieses Grenzgebiet
wird als sozialer Raum verstanden. Gefragt wird nach den Wechselwirkungen
zwischen dem physischen Raum, der in diesem Raum stattfindenden sozialen
Praxis und den kulturellen und medialen Repräsentationen dieser Praxis. Hierbei
rückt der literarische Text als Modellierung des sozialen Raumes insbesondere
mit seiner symbolisch-semiotischen Ebene in den Mittelpunkt der
Untersuchungen.
In diesem Beitrag folgt nach einem einführenden Abschnitt zum Phänomen
der Grenze ein kurzer Einblick in die Geographie und Geschichte der in den
Blick genommenen Grenzregion. Im vierten Kapitel werden die wichtigsten
theoretischen Zugänge zu den narrativen Raumentwürfen aufgezeigt. Um die
1
2
SCHLÖGEL, Im Raume lesen wir die Zeit, 2003, 145.
Siehe hierzu: Geschlechter Interferenzen, 2012; MAREIS, Design als Wissenskultur, 2011.
230
231
darin verborgenen Bedeutungsstrukturen aufzudecken werden im Analyseteil
dieser Arbeit topographische und metaphorische Grenzen zunächst unabhängig
voneinander erkundet, jedoch nicht als voneinander unabhängige Dimensionen
begriffen. Das Verständnis ihrer dialektischen Wechselbeziehung soll dazu
beitragen, die im erzählten Raum angelegten kulturellen Interferenzen zu
identifizieren. Abschließend wird der Versuch unternommen, aus den
Analyseergebnissen
verallgemeinernde
Aussagen
über
die
Referenzialisierbarkeit von Grenz- und Interferenzräumen in literarischen Texten
abzuleiten.
2. Auf der anderen Seite
2.1 Nachdenken über Grenzen und Grenzzeichen
„Die Grenze ist nicht das, wobei etwas
aufhört, sondern, wie die Griechen es
erkannten, die Grenze ist jenes, von woher
etwas sein Wesen beginnt. […] Raum ist
wesenhaft das Eingeräumte, in seine Grenze
Eingelassene.“3
In diesem Abschnitt werden zunächst der
Schlüsselbegriff „Grenze“, Grenzmetaphern
sowie die topographischen Grenzen im
Raum erörtert, um darauf aufbauend den
Blick auf die Grenze als literarisches Motiv
zu richten. Der thematische Hintergrund lädt
geradezu ein, sich dem Zentrum der
Fragestellung von den Rändern her zu
nähern. Um dem ambivalenten Phänomen der Grenze auch nur annähernd
gerecht zu werden, soll die Annäherung von einem sichtbaren Grenzzeichen zu
den unsichtbaren Grenzen erfolgen – oder anders ausgedrückt von einem
konkreten physischen Objekt, einem Grenzstein, hin zum undifferenzierten
abstrakten Grenzbegriff.
Dieser Zusammenhang sei anhand der hier abgebildete Fotografie einer
Grenzmarkierung verdeutlicht (Abb. 1): Sie zeigt zum einen das Jahr 1922, das
den Ausgangspunkt dieses Beitrags bildet und zugleich dessen zeitlichen
Rahmen festlegt. Er erstreckt sich von den zwanziger Jahren des vergangenen
Jahrhunderts bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts. Darüber hinaus ist die
Fotografie ein Zeichen, das an dieser Stelle als Impuls für eine semiotische
3
HEIDEGGER, Bauen, Wohnen, Denken, 2004, 149.
231
232
Lesart aufgegriffen wird. Der abgebildete Grenzstein markiert die Staatsgrenze
zwischen Österreich und Ungarn nahe Klingenbach. Wie alle Grenzzeichen ist
auch dieser Stein mit Inschriften versehen; in diesem Fall mit zwei visuellen
Zeichen. Dabei handelt es sich um die Abkürzung des Staates, dessen
Landesgrenze er kennzeichnet sowie um eine Jahreszahl.
Für die semiotische Interpretation des Verhältnisses zwischen dem
physischen Objekt „Grenzstein“ und dessen Bedeutung für die Konzeption von
Grenze wird Umberto Ecos4 Zeichenmodell herangezogen. Zur Beschreibung
eines Zeichens verwendet Eco die Kategorien Signifikant, Signifikat und
Referent. Seiner Klassifikation zufolge entspricht dem Zeichen, dem
Signifikanten /Grenzstein/ ein Signifikat „x“ für dessen Entzifferung wiederum
unterschiedliche verbale oder visuelle Zeichen – die jeweiligen Interpretanten –
zur Verfügung stehen. Analog zu einer von Eco formulierten Frage stellt sich in
diesem Fall folgendes Problem: Welches Signifikat hat die Jahreszahl 1922 und
die Abkürzung /Ö/ im Kode des Lesers?5 Werden nun die visuellen Zeichen /Ö/
und /1922/ als kleinste bedeutungstragende Elemente (Morpheme) begriffen, die
in einer syntagmatischen Beziehung zueinander stehen, dann stellt sich ferner die
Frage: Wie kann das Syntagma der Reihe /Ö/ und /1922/ im Kode des
Betrachters entziffert werden? Mit anderen Worten: Welche Sinnzuschreibung
löst diese syntagmatische Folge im Kode des Betrachters aus?
Die Fotografie des Grenzsteins, deren Merkmale mit denen des bezeichneten
Gegenstandes korrespondieren, weil das Bild den Stein schlichtweg abbildet, ist
zum einen ein ikonografisches Zeichen. Darüber hinaus ist das Bild aber auch
ein indexikalisches Zeichen, weil es die Tatsachen eines historischen Ereignisses
im Raum bezeugt6 und damit nicht nur das Objekt, sondern den Raum lesbar
macht. Und gerade weil das in den Stein Eingravierte dauerhaft, man könnte
sagen, ewig ist, kann es als Text – als eine „besondere Realisation eines
kulturellen Textes“7 – wie es Lotman formulierte – verstanden werden. An
diesen Gedanken knüpft die abschließende Frage an: Wie lässt sich das mit dem
Grenzstein verknüpfte Narrativ entziffern?8
Für die nachstehende Betrachtung soll aber weniger die Fotografie als solche
im Mittelpunkt stehen, sondern vielmehr ihr Motiv – das abgelichtete physische
Objekt, der Grenzstein, der den Raum im sozialen und symbolischen Sinne
konstituiert. Die dem Betrachter zur Verfügung stehenden visuellen Zeichen „Ö“
sowie „1922“ erlauben bei näherer Betrachtung zunächst folgende Sinnstiftung:
Die Inschrift „1922“ verweist auf ein historisches Ereignis. Sie bezeugt zum
einen das Jahr der Grenzverhandlungen und der Errichtung einer neuen politischadministrativen Grenze. Zum anderen evoziert die Zeitangabe die Grenz- und
4
ECO, Zeichen, 1977, 28.
Für die Beschreibung von nicht verbalen Zeichen formuliert Eco die Frage „Welches
Signifikat hat die Zahl 77 im Kode des Portiers?“ Analog dazu wird nach dem Signifikat der
syntagmatischen Beziehung der Abkürzung /Ö/ und der Jahreszahl /1922/ gefragt.
6
ECO, Zeichen, 1977, 60–62.
7
LOTMAN, Text und Funktion, 1977, 151.
8
FEISCHMIDT, Die Verortung der Nation an den Peripherien, 2010, 111.
5
232
233
Gebietsstreitigkeiten vor der Angliederung des Burgenlandes an Österreich im
Jahr 1921, und vor allen Dingen erinnert es an das Ende der Geschichte der
Habsburger Monarchie9: Nach dem ersten Weltkrieg wurde in den Pariser
Vorortverträgen die Neuordnung Zentraleuropas festgeschrieben, wobei die
Festlegung der Grenzen für das einstige Österreich-Ungarn in den Verträgen von
St. Germain (1919) und Trianon (1920) erfolgte. In dieser Deutung markiert der
Grenzstein – im wörtlichen und metaphorischen Sinne – neben der
topographischen auch eine zeitliche Grenze. Denn die Inschrift „1922“, die einen
indexikalischen Wert „im Sinne einer Spur“10 besitzt, kann symbolisch als das
Ende der Doppelmonarchie gelesen werden. Eine solche Lesart erlaubt es, dem
Grenzstein den Status eines Kleindenkmals11 zuzugestehen. Denkmäler eröffnen
die Möglichkeit eines Diskurses und dienen somit der Sinnstiftung im Prozess
der Konstruktion von individueller und kollektiver Identität.12 So besehen kann
der Grenzstein mit der eingravierten Jahreszahl „1922“ als visuelles Zeichen
gelesen werden, das Teil des kollektiven Gedächtnisses und zugleich Teil der
Erinnerungskultur der angrenzenden Staaten ist. Er ist aber auch ein kulturelles
Zeichen, weil er das geographische Territorium der Doppelmonarchie zu zwei
distinkten nationalen Einheiten umgestaltet und demnach als Objektivierung
eines historischen Ereignisses betrachtet werden kann. Dem (physischen) Raum
wird durch das Objekt eine spezifische Bedeutung verliehen, und gerade diese
Sinnstiftung verwandelt ihn in einen symbolischen Raum.13 Mit Lotman gesagt
ist dieser „Text“ (die Inschrift) „bedeutungshaltig, weil er einen bestimmten Sinn
hat, der seinen funktionalen Wert determiniert“; und zwar findet am
Eingravierten des Grenzsteins eine „Verabsolutierung geschichtliche[r]
Erfahrung“14 statt.
Das Beispiel des Steins verdeutlicht, dass unterschiedliche Grenzen an ein
und demselben Ort zusammenfallen können. Das visuelle Zeichen „1922“
enthüllt zum einen die Mehrdeutigkeit des Grenzzeichens, das erstens die
Überschneidung von topographischer und temporaler Grenze und zweitens eine
Synthese der topographischen und symbolischen Grenze bezeugt. So verweist es
auf die Verkettung von materiellen und symbolischen Eigenschaften15 im
Zeichen.
Grenzsteine sind Zeichen mit der Signatur des Beständigen und Stabilen. An
einem Ort im Raum verankert, markieren sie als dauerhaftes Grenzzeichen einen
Punkt, von dem aus der Grenzverlauf rekonstruierbar ist. Und welche Bedeutung
9
MITTERBAUER, Konstruktion von Identität nach 1918, 2007, 20f. Ferner besitzt die Jahreszahl
1922 auch in einem nicht-europäischen Kontext Symbolkraft, denn der Erste Weltkrieg „setzte
dem Zeitalter der Dynastien ein Ende. 1922 waren die Habsburger, Hohenzollern, Romanows und
Ottomanen abgetreten.“ ANDERSON, Die Erfindung der Nation, 1988, 115.
10
ECO, Zeichen, 1977, 62.
11
STEIDL, Grenzstein-Transformationen, 2008, 105.
12
MITTERBAUER, Konstruktion von Identität nach 1918, 2007, 13f.
13
FEISCHMIDT, Die Verortung der Nation an den Peripherien, 2010, 112f.
14
LOTMAN, Text und Funktion, 1977, 154.
15
LÖW, Raumsoziologie, 2001, 228.
233
234
haben sie darüber hinaus für den Menschen? Anders als diverse künstliche
Barrieren und Sperranlagen stellen Grenzsteine kein unüberwindbares Hindernis
für den Menschen dar.16 Obwohl allein ihre physische Anwesenheit den Raum
unterbricht, sind sie kaum eine Gefahr, sondern eher eine Irritation in der
Landschaft oder ein „Knotenpunkt“ im Sinne einer Koordinate. Der Grenzstein
kann ebenso als Körper17 im Raum verstanden werden, als ein physisches
Objekt, dessen Anwesenheit den unsichtbaren Grenzverlauf aufgrund einer
gedachten Achse erst vorstellbar macht: Seine Präsenz gestaltet den Raum zu
einem Grenzraum. So betrachtet kann der Grenzstein als Objektivierung einer
imaginierten Trennlinie – als das Substantielle gegenüber dem Unbestimmten –
begriffen werden. In Anlehnung an Georg Simmels Vorstellung von Grenze, auf
die ich weiter unten eingehen werde, lässt sich sagen, dass hier die Grenzlinie die
materielle Form des Grenzsteins annimmt. Die Anordnung von Grenzsteinen im
Territorium markiert und strukturiert den Raum. Ein solches Herstellen von
Räumen, und damit wird die Soziologie des Raums im Sinne von Martina Löw
angesprochen, beruht immer auf menschlicher Tätigkeit, dem Handeln18. Der
angeordnete Körper „Grenzstein“ ist folglich nicht nur Objekt, sondern auch
Produkt des Handelns und somit zu den sozialen Gütern zu zählen. Obzwar die
Anordnung von Gütern im Raum zunächst in ihrer materiellen Eigenschaft19
geschieht, lassen sich diese Prozesse nur verstehen, „wenn die symbolischen
Eigenschaften der sozialen Güter entziffert werden“20.
2.2 Grenzen – Be-grenzungen eines Begriffs
„Ich grenz noch an ein Wort und an ein andres Land,
ich grenz, wie wenig auch, an alles immer mehr,“21
Das hier bemühte Zitat ist dem Gedicht „Böhmen liegt am Meer“ von Ingeborg
Bachmann entnommen. Ich stelle es meinen Ausführungen voran, beschreibt es
doch überaus treffend die Existenz und alltägliche Präsenz von Grenzen und
evoziert zugleich die Frage, ob es überhaupt einen Lebensbereich gibt, in dem
das Phänomen der Grenze keine Rolle spielt. Wir sind von Grenzen umgeben
und fortwährend damit beschäftigt, uns an sie zu halten oder sie zu überwinden,
sie zu setzen oder zu ziehen, jemanden in seine Grenzen zu verweisen, auch
wenn er seine Grenzen kennt. Grenzen sind sichtbar oder unsichtbar. Sie
bestimmen unser Dasein. Sie sind existentiell.
16
STEIDL, Grenzstein-Transformationen, 2008, 105f.
Die Bezeichnung des Grenzsteins als „Körper“ folgt an dieser Stelle LÖW, Raumsoziologie,
2001, 153.
18
LÖW, Raumsoziologie, 2001, 131.
19
Ebd., 153.
20
Ebd.
21
BACHMANN, Letzte Gedichte, 1998, 117.
17
234
235
Grenzen spielen sowohl im metaphorischen Sinn, wie sie in Kollokationen
und Redewendungen Eingang gefunden haben, als auch in politisch-rechtlicher
Hinsicht eine bedeutende Rolle. Im Deutschen umfasst das Wort „Grenze“
unterschiedliche Bedeutungsvarianten, so gehören zu ihrem Wortfeld auch die
Substantive: Schranke, Schwelle, Spielraum, Barriere, Rand, Brücke, Übergang,
Punkt oder Peripherie. Dagegen werden beispielsweise im Englischen die
jeweiligen Konnotationen durch boundary, frontier, border, limit oder margin
weitaus exakter zum Ausdruck gebracht. Diese ambivalente Bedeutung des
Wortes korrespondiert mit unterschiedlichen Funktionen: Grenzen können etwas
abgrenzen und trennen, aber auch etwas eingrenzen und umschließen. Indem sie
einerseits Brücken bilden, andererseits Schranken setzen, sind sie beides:
Symbol für Zusammengehörigkeit und Identität, aber auch für Differenz und
Alterität.22 Die Grenze ist etwas Zwiespältiges und Doppeldeutiges. Ein
Verständnis, welches Claudio Magris in seinen Grenzbetrachtungen wie folgt
formuliert:
Jede Abgrenzung hat mit Unsicherheit zu tun und mit dem Bedürfnis nach
Sicherheit. Die Grenze ist eine Notwendigkeit, denn ohne sie, oder besser,
ohne begrenzende Unterscheidung, gibt es keine Identität, keine Form, keine
Individualität, ja nicht einmal eine reale Existenz […]. Die Grenze bedeutet
Wirklichkeit, verleiht Umrisse und Gestalt, bestimmt die Besonderheit der
Einzelperson wie des Kollektivs […].23
Wenngleich Grenzen auch dazu bestimmt sind, Halt zu geben und Ordnung zu
stiften, ist ihnen diese Eigenheit nicht genuin. Sie sind weder als natürliche
Gegebenheiten noch als feste Entitäten zu betrachten, sondern als von Menschen
geschaffene Trennlinien; als soziale Relationen, die sich materialisiert haben.
Die Menschen projizieren die Grenzen konkret oder metaphorisch in den Raum.
Und erst da, wo Menschen auf der anderen Seite stehen, macht Grenze und deren
Überschreitung Sinn.24 Dieses Verständnis von Grenze als ein in
kontinuierlichen sozialen Prozessen erzeugtes und definiertes Bezugssystem
formulierte bereits Georg Simmel. In seiner 1903 erschienenen Abhandlung
„Soziologie des Raumes“ heißt es: „Die Grenze ist nicht eine räumliche Tatsache
mit soziologischen Wirkungen, sondern eine soziologische Tatsache, die sich
räumlich formt.“25 Demnach sind Räume formale Bedingung für Grenzen, aber
ohne Grenzen existieren Räume nicht. Räume und Grenzen stehen per se in
einem reziproken Verhältnis zueinander und können nur zusammengedacht
werden. Mit diesem räumlichen Aspekt ist auch die zeitliche Dimension
verknüpft: Die Grenze ist ohne Bezugnahme auf Zeitlichkeit ebenso wenig
22
MAGRIS, Grenzen: tödlich oder sterblich? 1991, 16f.; SCHLÖGEL, Im Raume lesen wir die
Zeit, 2003; WALDENFELS, Schwellenerfahrung und Grenzziehung, 1999.
23
MAGRIS, Grenzen: tödlich oder sterblich?, 1991, 16f.
24
POHL, Soziale Grenzen und Spielräume der Macht, 2000, 13.
25
SIMMEL, Soziologie des Raumes, 1995, 141.
235
236
denkbar wie ohne Raumbindung – Aspekte, die sie als veränderbare und
dynamische Tatsache greifbar machen. Identität und Differenz, Akzeptanz und
Ignoranz, Inklusion und Exklusion sollten daher als relationale, temporäre
Handlungen und symbolische Konstrukte, die immer auch Veränderungen
ausgesetzt sind, betrachtet werden. Dieses relationale Herstellen von Raum und
Grenze wird als ein kontinuierliches und veränderbares Changieren, als ein
Pendeln zwischen unterschiedlichen Bedeutungszuschreibungen, als ein
Verhandeln und Aushandeln begriffen.
Auch literarische Räume entstehen erst durch Prozesse der Sinnzuweisung,
wobei die Perspektivenübernahme und der Perspektivenwechsel durch die
Akteure, in diesem Fall die handelnden literarischen Figuren, ein Feld von
Optionen eröffnet.26 Mein Interesse gilt diesem spezifischen Verhältnis von
Raum und Grenze sowie der Art und Weise, wie beider Spiegelverhältnis in
literarischen Texten durch Autoren verarbeitet wird, die vermutlich auf recht
unterschiedliche Wahrnehmungen und Erfahrungen zurückgreifen. Im
Mittelpunkt dieses Beitrags stehen Erzählungen, deren Handlung in der
Grenzregion Burgenland/ Westungarn angesiedelt ist. Die Textbeispiele
reflektieren sowohl territoriale als auch die metaphorisch-symbolische Grenzen
und gestalten diesen Raum zugleich literarisch als einen kulturellen
Erinnerungsort27.
Für die Analyse von narrativ modellierten Räumen gilt es jedoch neben der
Referenz auf sozial hergestellte Räume auch das zu berücksichtigen, was der
Naturraum selbst vorgibt. Denn jedes „Besetzen“ von Raum setzt einen Ort
voraus, an dem Elemente platziert werden können.28 Darum seien an dieser
Stelle assoziativ einige Aspekte des hier in Betracht gezogenen physischen und
des topographischen Raumes und seiner gesellschaftlichen Aneignung genannt.
Dass für das Aufspüren von Schnittstellen mit dem Burgenland und Westungarn
eine Region gewählt wurde, die prädestiniert ist, kulturelle Überlagerungen zu
produzieren und zu reproduzieren, liegt freilich in der Wahl des Themas
begründet.
3. Geographische, politische und sozio-kulturelle Verschränkungen
einer Grenzregion: Burgenland und Westungarn als Kontaktraum
Der physische Raum, der den Hintergrund für die anschließend analysierten
erzählten Räume bildet, ist das Gebiet zwischen den Flüssen Leitha und Lafnitz,
das in mehrfacher Hinsicht ein Grenzraum und zugleich ein Kontaktraum ist.
Teil dieses physischen Raums ist der Neusiedler See, der geographisch an
der Schnittstelle zweier europäischer Großlandschaften liegt. Im Westen reichen
26
SCHROER, Räume, Orte, Grenzen, 2006, 175; BOLTERAUER, Kakanien – oder was eine
Mitteleuropäische Landschaft sein könnte, 2003, 2.
27
ASSMANN, Erinnerungsräume, 1999, 298f.
28
LÖW, Raumsoziologie, 2001, 224f.
236
237
die Alpen in Gestalt des Leitha-Gebirges bis zum See, Richtung Osten erstreckt
sich vom See aus das Flachland der Großen Ungarischen Tiefebene. Gerade hier
treffen auch unterschiedliche klimatische Bedingungen aufeinander; atlantische
Einflüsse überlagern kontinentale und mediterrane Klimafaktoren. Diese
Umweltbedingungen bewirkten die Entstehung einer seltenen geographischen
Grenzsituation, die letztlich auch zu einer spezifischen Raumwahrnehmung und
symbolischen Aneignung der Landschaft führte und darüber hinaus zur
Verklärung und Mystifizierung des Neusiedler Sees beitrug.29
Ein häufiges Merkmal von Grenzgebieten – gerade auch für jene der
ehemaligen österreichisch-ungarischen Monarchie – ist deren ethnische
Pluralität. Auch die zu untersuchende Grenzregion stellt in ethnisch-sprachlicher
und konfessioneller Hinsicht eine Kontaktzone dar, die seit dem frühen
Mittelalter durch mannigfaltige kulturelle Verflechtungen und Sprachkontakte
geprägt ist.30 Diese historisch gewachsenen „kleinräumigen Vermischungen“31
schlossen die Genese homogener Siedlungsgebiete und die Herausbildung von
exakten Sprachgrenzen aus, was von vornherein die Deckungsgleichheit von
physischem, topographischem und Sprachraum verhinderte und somit dem
„klassischen Konzept“ moderner Nationalstaaten mit territorialem Bezug und
historischer Beständigkeit entgegenwirkt. Stattdessen führte diese sprachliche
und konfessionelle Heterogenität und das Überangebot an kulturellen Symbolen
und Wertvorstellungen an der Entstehung einer jeweiligen „national identity“
vorbei zur Ausbildung unterschiedlicher lokal geprägter Identitäten – einer
eigenen spezifischen „village ethnicity“32, die sich von der „Nationalkultur“
mitunter deutlich unterschied.33
Historisch gesehen handelt es sich bei dem Burgenland und Westungarn um
ein altes Grenzland, eine alte Mark, deren mehrfache Grenzverschiebungen meist
auf „historisch-rechtlicher Argumentation“34 basierten. Die Geschichte des
Grenzlands lässt sich bis in die Antike zurück verfolgen. Es diente einst dem
römischen Imperium als Provinz Pannonien zur Absicherung Italiens und
erstreckte sich unter Einschluss des heutigen Grenzraumes im Osten bis an die
Donau. Im frühen Mittelalter erreichten die aus dem Osten zuströmenden
Steppenvölker und reiternomadische Gruppen den pannonischen Raum, den sie
29
BÉKÉSI, Verklärt und Verachtet, 2007, 40-52.
KOCSIS/ WASTL-WALTER, Ungarische und österreichische Volksgruppen im
westpannonischen Grenzraum, 1993, 167-223. Neben der Landessprache Ungarisch sind v. a.
Deutsch und Kroatisch vertreten. Die Mehrheit der Bevölkerung (3/4) gehört der römischkatholischen Kirche an, etwa 25 % fühlen sich der evangelischen Kirchengemeinde zugehörig.
(Ebd., 210 f.); siehe auch: Sprachen und Sprachkontakte im pannonischen Raum, 2005.
31
LEMBERG, Grenzen und Minderheiten, 2000, 161.
32
BAUMGARTNER/ MÜLLNER/ MÜNZ, Vielfalt als Erbe, 1989, 3.
33
ANDERSON, Die Erfindung der Nation, 1988, 14ff.; HASLINGER, Grenzgänger zwischen
Nationalkulturen, 1999.
34
LEMBERG, Grenzen und Minderheiten im östlichen Mitteleuropa – Genese und
Wechselwirkungen, 2000, 159-181, hier 161.
30
237
238
unter sich aufteilten oder ihn als Durchzugsgebiet nutzten.35 Nach der
Machtentfaltung des Fränkischen Reiches gehörte nunmehr auch die Mark
Oberpannonien und damit das heutige Burgenland zur neu erworbenen
karolingischen Ostmark. Die Genese der Grenzlandschaft verdeutlicht letztlich
aber vor allem auch die Siedlungskontinuität in diesem Raum, der insbesondere
durch slawische, bayerische, fränkische und magyarische Ansiedler kultiviert
wurde.36
In der Mitte des 11. Jahrhunderts begannen magyarische Siedler die
mittelalterliche Grenzzone – einen bis dahin menschenarmen Gürtel, den
Gyepűelv37 durch die Errichtung von Grenzwächtersiedlungen und ein System
von Warten und Befestigungsanlagen auszubauen. Letztlich gründete auf diesem
sich von Nord nach Süd, zwischen den Flüssen Leitha und Lafnitz ziehendem
Gürtel, dem Gyepű, auch die territoriale Abgrenzung des Königlichen Ungarn,
das im Jahre 1538 in die Habsburgermonarchie integriert wurde. Allerdings war
es nach der Niederlage gegen das Osmanische Reich im Jahre 1526 in drei
getrennte Herrschaftsbereiche – dem östlich ungarischen, dem habsburgischen
und den osmanischen – aufgeteilt. Mit dem österreichisch-ungarischen Ausgleich
von 1867 wurde das Königreich Ungarn wiederhergestellt. Zu seinem
Hoheitsgebiet zählten neben dem nördlichen auch westliche Teile Ungarns, was
größtenteils die heutigen Gebiete Slowakei, Burgenland sowie West-Kroatien
einschloss. Der Ausgleich konstituierte die k. u. k. Dopperlmonarchie, bewirkte
die staatsrechtliche Identität beider Reichhälften und ihre Trennung in
Cisleithanien und Transleithanien. Nach diesem Beschluss verdichtete sich die
Landesgrenze zwischen beiden Teilen der Monarchie zunehmend zu einer
ethnisch-sprachlichen Grenze. Dieses Kriterium der ethnisch-sprachlichen
Differenzierung bildete wiederum eine entscheidende Grundlage für den in den
Friedensverträgen von St. Germain (1919) und Trianon (1920) festgelegten
Grenzverlauf, dessen endgültige Festschreibung in den Jahren 1922/23 erfolgte.
Seither besteht das Burgenland, das bis dahin zum Königreich Ungarn gehört
hatte, als administrative Einheit und ist damit das jüngste österreichische
Bundesland. 38
Nach dem Zweiten Weltkrieg begannen im Jahr 1948 osteuropäische
Staaten, so auch Ungarn, entlang dieser alten Grenzmarkierung die stabilste
Grenze zwischen zwei politischen Systemen zu errichten. Und eben diese Grenze
35
ERNST, Geschichte des Burgenlandes, 1991; 15-32; HARDT, Pannonien im Spannungsfeld,
2011, 15-28.
36
ERNST, Geschichte des Burgenlandes, 1991; HOENSCH, Jörg K., Ungarn. Geschichte, Politik,
Wirtschaft, 1991, 15f.
37
Bestandteil des Kompositums /Gyepűelv/ ist das Wort /Gyep/, das eine noch heute zwar
gebräuchliche, aber eher umgangssprachliche bzw. volkstümliche Bezeichnung für das ungarische
Wort /rét/ deutsch /Rasen/ bzw. /Wiese/ ist und deutlich die landschaftliche Beschaffenheit des
Grenzraumes benennt.
38
HOENSCH, Jörg K., Ungarn. Geschichte, Politik, Wirtschaft. 1991, 19f., 41-43, 67f., 78f.
238
239
zwischen Österreich und Ungarn gilt seit dem 11. September 1989 als Symbol
für den Zerfall und die Überwindung des Eisernen Vorhangs.39
Diese vierzig Jahre lang unüberwindbare künstliche Barriere existiert als
solche nicht mehr. Doch sie hinterließ Spuren in der Landschaft, hat sie doch
einen über Jahrzehnte geschützten Naturraum, ein ökologisches Niemandsland
geschaffen. Entlang der Einprägung des elektrischen Grenzzauns, der einst
trennte, verbindet die Staaten nunmehr ein grünes Band, das von Nord nach Süd
sich durch Europa hindurchzieht.40
Wie ist aber nun dieser topographische Raum mit seinen Repräsentationen,
seinen Geschichten, verknüpft?
4. Grenzen verhandeln – Grenzen überschreiten: Theoretische
Grundlagen
Es sind die in literarischen Texten modellierten kulturellen Repräsentationen des
Raums, die es mit diesem Beitrag zu entziffern gilt. Dafür bedarf es aus Sicht der
Verfasserin eines methodischen Instrumentariums, welches erlaubt, auch die
Grenzen der Einzeldisziplinen zu überschreiten. Einen wesentlichen Hintergrund
bildet hierfür die Theorie der Produktion des Raumes von Henri Lefebvre41, die
die folgende Argumentation leiten und ihr als übergreifendes Konzept dienen
soll.
4.1 Soziologische Zugänge
Henri Lefebvre entwickelt in der Theorie der Produktion des Raumes ein
triadisches Modell. Ausgehend von der zentralen These, dass (sozialer) Raum
ein (soziales) Produkt sei42 gelingt es Lefebvre, die bislang getrennten
Vorstellungen von physikalischem (hier physischem) und mentalem Raum durch
die Integration in einem Dritten, dem sozialen Raum43, zusammenzuführen.
Die drei Dimensionen der „dialektischen Triade“44 beeinflussen sich
wechselseitig: Die erste Dimension ist die „räumliche Praxis“, durch die ein
materieller Raum entsteht, in den sich produktive Handlungen der Akteure „in
39
HOENSCH, Geschichte Ungarns 1867-1983, 1984, 26-28; GRUBER, Von Deutschwestungarn
zum Burgenland, 1991, 11-41.; ERNST, Geschichte des Burgenlandes, 1991, 236-240.
40
Grünes Band Europa.
41
LEFEBVRE, The Production of Space, 1991.
42
LEFEBVRE: „(Social) space is a (social) product.“ 26.
43
LEFEBVRE, The Production of Space, 1991, 11f.; Für Lefebvre stellt der Begriff ‚sozialer
Raum‘ einen viel umfassenderen Begriff dar, als dieser von Soziologen üblicherweise verwendet
wird (z.B. bei Pierre Bourdieu). Der soziale Raum bezeichnet für ihn den durch soziale Praxis
produzierten Raum.
44
SCHMID, Stadt, Raum und Gesellschaft, 2005, 192.
239
240
Form von dauerhaften Objekten und Wirklichkeiten einschreiben“45, was sich als
ein „Besetzen“ des Raumes begreifen lässt.46 Die zweite Dimension betrifft die
„Repräsentationen des Raumes“. Damit sind jene Diskurse angesprochen, die
einen durch Sprache entworfenen Raum produzieren.47 Hier findet die
Produktion und zugleich Ordnung (Systematisierung) von Wissen statt. Die
Grundlage dafür bilden die Zeichenhaftigkeit von Raumkonzeptionen und ihre
Tendenz zu verbalen Zeichensystemen: „Conceptions of space tend, […]
towards a system of verbal […] signs.“48 Die hier produzierten
Wissensordnungen gelangen zum einen in der räumlichen Praxis zur Anwendung
und sind zum anderen eng mit der dritten Dimension, den „Räumen der
Repräsentation“ verknüpft. Sie umfassen die komplexen Symbolismen,
Imaginationen und Erinnerungen, die in die Repräsentationen des Raumes
eingeschrieben sind und die sich in der historischen räumlichen Praxis äußern, so
dass auf dieser Ebene die Trennung von Gedachtem und Realem aufgehoben
wird. Denn diese Räume überlagern nicht nur den physischen Raum, wobei sie
von dessen Objekten symbolischen Gebrauch machen, sie schließen zugleich
auch Wissensordnungen vergangener Repräsentationen ein. Lefebvre betont,
dass auch sie zur Bildung von mehr oder weniger kohärenten, jedoch nicht
zwangsläufig verbal verfassten Zeichen- und Symbolsystemen tendieren.49
Diesen drei räumlichen Begriffen der ersten Reihung ordnet Lefebvre
Partizipien zu, die sich auf die Modalität der Produktion von Raum beziehen:
Die „räumliche Praxis“ stellt den wahrgenommene Raum dar, die
„Repräsentation des Raumes“ verweist auf den konzipierten bzw. gedachten
Raum und die „Räume der Repräsentation“ auf jenen Raum, der erlebt wird.50
Diese zweite Gliederung der Triade51 in Wahrgenommenes, Gedachtes und
Erlebtes verweist auf Tätigkeiten, die Akteure voraussetzen und nur durch
Subjekte geleistet werden können. Mit diesem Schritt vollzieht Lefebvre die
Verschränkung der Triade. Er setzt das Subjekt als integratives Moment der
wechselseitigen Beziehung zwischen dem Konzipierten und Gelebten, denen das
Wahrgenommene bereits vorausgeht. Damit verweist er nicht nur auf die
„dialektische Beziehung innerhalb dieser Dreiheit“52, sondern koppelt den
Wahrnehmungsraum der räumlichen Praxis an die sinnliche Wahrnehmung des
Subjekts bzw. des sozialen Akteurs. So überwindet er einerseits die zweistellige
Beziehung von Objekt und Subjekt und zum anderen gelingt ihm eine die
45
Ebd., 210f..
Ebd., 212f..
47
Ebd., 216.
48
LEFEBVRE, The Production of Space, 1991, 38f. , ENGELKE, Kulturpoetiken des Raumes
2009, 46.
49
LEFEBVRE, The Production of Space, 1991, 39; ENGELKE, Kulturpoetiken des Raumes 2009,
46, SCHMID, Stadt, Raum und Gesellschaft, 2005, 217.
50
LEFEBVRE, The Production of Space, 1991, 40, ENGELKE, Kulturpoetiken des Raumes 2009,
55, SCHMID, Stadt, Raum und Gesellschaft, 2005, 207.
51
Diese wird von Schmid auch als „doppelte Triade“ bezeichnet.
52
Raumtheorie, 2006, 336.
46
240
241
Dynamisierung des sozialen Raumes, dessen Produktion erst durch Kompetenz
und Performanz der Akteure gegeben ist.53
Lefebvres Theorie zur Produktion des Raumes lässt sich mit weiteren hier
bereits erwähnten raumsoziologischen Ansätzen verknüpfen. Die Ansätze
korrespondieren miteinander, weil sie von einem „bedeutungs- und
wissensorientierte[n] Kulturbegriff“54 ausgehen und ein relationales Konzept von
Raum und dessen Grenze(n) entwerfen.
So versteht die Soziologie die Herstellung von Räumen und Grenzen als
einen Prozess, der auf einem raumkonstitutiven Handeln und dem
Ordnungsaspekt räumlicher Strukturen beruht. Martina Löw betont in ihrer
Raumsoziologie, dass Räume nicht natürlich vorhanden sind, sondern erst durch
die „relationale (An)Ordnung von Körpern, welche unaufhörlich in Bewegung
sind“ 55 hergestellt werden. Die Konstitution von Raum ist demnach ein Prozess,
der durch „das Plazieren von sozialen Gütern und Menschen“56 erfolgt.
Weiterhin bedarf es einer „Syntheseleistung, das heißt über Wahrnehmungs-,
Vorstellungs- oder Erinnerungsprozesse werden Güter und Menschen zu
Räumen zusammengefasst.“57
4.2 Semantisch-semiotischer Hintergrund
Der Kultursemiotiker Jurij M. Lotman bezeichnet den Grenzbereich als „ein[en]
Ort des permanenten Dialogs“58, an dem „kein >>wir<< ohne >>die anderen<<
auskommt“59. Dieser Gedanke legt nahe, die Grenze nicht als Ort der
Abgrenzung, sondern als einen dynamischen Ort des ständigen Verhandelns und
der Übersetzung zu verstehen.60 Solche fließenden und durchlässigen Prozesse
von Aneignung und Abkehr werden in mehrsprachigen Grenzregionen besonders
evident.
Sein kultursemiotisches Raumkonzept bezieht Lotman auf erzählte Räume.
Er beschreibt er zum einen kulturelle Systeme, zum anderen entwickelt er eine
Erzähltheorie, in der er zeigt, wie Handlungen in Texten nach räumlichen
Relationen zu einem Kulturmodell organisiert werden und erst auf diese Weise
ein Sinnsystem erzeugen. Er begreift semantisierte Räume in fiktionalen Texten
als Reflex einer kulturhistorisch geprägten Deutung von Wirklichkeit. Vor
diesem Hintergrund gewinnen die in literarischen Texten konstruierten
Raummodelle, die einem spezifischen Kulturtyp eigentümlich sind, ihre
53
ENGELKE, Kulturpoetiken des Raumes 2009, 44-50, Raumtheorie, 2006, 330-340, SCHMID,
Stadt, Raum und Gesellschaft, 2005, 210.
54
RECKWITZ, Die Transformation der Kulturtheorien, 2008, 84.
55
LÖW, Raumsoziologie, 2001, 131.
56
Ebd., 158.
57
Ebd., 159.
58
LOTMAN, Die Innenwelt des Denkens, 2010, 190.
59
Ebd., 189.
60
Ebd., 182.
241
242
Bedeutung.61 Der erzählte Raum wird dabei durch räumliche und nichträumliche
Anordnungen semantisiert und durch handelnde Figuren und deren
Grenzziehungen sowie Grenzüberschreitungen strukturiert. Dieser Annahme
zufolge bildet die Grenze ein elementares Strukturmerkmal von Raummodellen.
Ausgehend vom Konzept der Grenze entfaltet Lotman einen Ereignisbegriff, der
dem Sujetaufbau dient. Demnach tritt ein Ereignis, das immer die „Verletzung
irgendeines Verbotes“62 bedeutet, ein, wenn „[...] die Versetzung einer Figur
über die Grenze eines semantischen Feldes“63 erfolgt.
Für die Analysen nehmen folglich Grenzverhandlungen und
Grenzüberschreitungen eine zentrale Position ein, denn einerseits dienen sie der
Beschreibung von Handlungssituationen und zum anderen bestimmen sie nicht
nur den Fortgang der Erzählung, sondern bewirken damit zugleich die
Dynamisierung des Raumes. Die Grenzüberschreitung wird als ein dynamischer
Prozess begriffen, denn er schließt die Aktivität von Akteuren ebenso ein wie die
Ortsveränderung, weil beide einer bestimmten Zeit bedürfen. Bei der
Betrachtung von Grenzen wird der räumliche Aspekt immer schon vom
zeitlichen begleitet: „Es ist gerade die Grenze, die eine zeitliche Dimension
hat.“64 – so bringt es Wolfgang Müller-Funk auf den Punkt. Diese zeitliche
Dimension kann auf einen kurzen Moment reduziert sein, der sich auf das
Verweilen auf der Grenze oder auf den punktuellen Augenblick ihres Übertritts
beschränkt. Ein Aspekt, der nahe legt, die Grenze nicht ausschließlich als
territoriale oder imaginierte Trennungslinie zu begreifen, sondern sie ebenso als
einen Punkt oder einen Ort im Raum zu denken, denn: „Vielleicht ist der Punkt
ihres Übertritts ihr gesamter Raum.“65 Die Grenze, die überschritten wird, kann
ein Ort zwischen zwei Staaten sein, der von Reisenden betreten und durchquert
wird, oder eine Brücke, die es gilt hinter sich zu lassen, um ein Ziel zu erreichen.
Aber auch der Moment des Sprachwechsels oder das Übertreten einer Schwelle
als Übergang zu einem imaginären Raum gehören hierzu. Diese enge
Verknüpfung des Konzepts der Grenze mit dem Prozess der Überschreitung
einerseits und zugleich die Verwobenheit von Grenzen im imaginierten und im
erlebten Raum ist eine Überlegung, die Michel Foucaults Idee von Grenze
aufgreift:
Die Grenze und die Überschreitung verdanken einander die Dichte ihres
Seins: eine Grenze, die nicht überschritten werden könnte, wäre nicht
existent; eine Überschreitung, die keine wirkliche Grenze überträte, wäre nur
Einbildung.66
61
62
63
64
65
66
LOTMAN, Die Struktur literarischer Texte, 1993, 312f.
Ebd., 336.
Ebd., 332.
MÜLLER-FUNK, Jesenice und Zemplén: Grenzen und Peripherien, 2010, 26.
FOUCAULT, Vorrede zur Überschreitung, 2000, 31.
Ebd., 32.
242
243
Sowohl der konkrete als auch der imaginiert vollzogene Grenzübertritt von
Figuren im erzählten Raum setzen ein Handeln voraus. Weil ein von Handelnden
erzeugter Raum gemeint ist, seien diese nun soziale Akteure, Leser, literarische
Figuren oder die Stimme des Erzählers, kommen Bedeutungszuschreibungen ins
Spiel, welche zu Ab- und Umwandlung des Raumes und dessen Aufteilung
führen. Das Wechselspiel von sozialer Raumkonstruktion und literarisch
modelliertem Raum bildet eine Konstellation, die das Ineinandergreifen von
Realem und Imaginärem verdeutlicht.
4.3 Narrative Entwürfe von Grenzen
In diesem Abschnitt ist zu zeigen, wie ein geographischer Schauplatz und die
narrativen Entwürfe dieses Raums sich wechselseitig beeinflussen und darum
gleichermaßen bei der Analyse von Grenzphänomenen in literarischen Texten
berücksichtigt werden müssen.
Dass räumliche Praktiken und Repräsentationen des Raumes in einem
dialektischen Verhältnis zueinander stehen, wurde von Lefebvre herausgearbeitet
und im Abschnitt 4.1 bereits verdeutlicht. Lefebvre betont, dass „Räume der
Repräsentation“ den physikalischen bzw. physischen Raum überlagern und von
dessen Objekten symbolischen Gebrauch machen: „It overlays physical space,
making symbolic use of its objects“.67 Das Wort „Grenze“ erlaubt und
ermöglicht erst die Darstellung von Räumen in einer angemessenen
Vielschichtigkeit und Abhängigkeit: Es vermag geografische Räume zu
strukturieren, historische zu differenzieren, politisch-administrative zu definieren
und sprachlich-kulturelle zu regeln. Die genannten Aspekte, die an sich bereits
auf materielle, semantische und symbolische Eigenschaften von Grenze(n)
verweisen, lassen sich in der „räumlichen Praxis“ – im wahrgenommenen Raum
– nicht voneinander trennen. Hier wie auch in den „Repräsentationen des
Raumes“ – im gedachten Raum kommt es zu Überlagerungen und
Verschränkungen, die gerade im erlebten Raum, in den „Räumen der
Repräsentation“ einen metaphorisch-metonymischen Bedeutungswandel und
eine Bedeutungserweiterung erfahren. Diese Sinnstiftungen fließen in die
Syntheseleistungen der narrativ konstituierten Räume ein.
Versteht man den erzählerischen Raum als Text und den „Text als Handlung,
[…] als eine hierarchisch organisierte intentionale Einheit“68, dann folgt daraus,
dass sich insbesondere literarische Texte auf Grund ihrer Komplexität dazu
eignen, die vielfältigen Dimensionen von Grenzen zu beschreiben und
miteinander in Beziehung zu setzen. Im erzählerischen Raum gelingt es, Grenzen
zu definieren und zu setzen, aber auch aufzuheben und fließend zu gestalten,
denn Erzähltexte sind „Element[e] einer vielschichtigen Kommunikation.“69
67
68
69
LEFEBVRE, The Production of Space, 1991, 39.
STIERLE, Text als Handlung, 213.
JANNIDIS, Figur und Person, 2004, 15.
243
244
Demnach besteht ihr Potential nicht in der bloßen Abbildung von Wirklichkeit,
sondern im Modellieren komplexer Sinnsysteme. Statt nur über die Außenwelt
jenseits des Textrahmens70 zu berichten, tragen sie eine Botschaft, deren
Polyvalenz sich erst aus der „Tiefenstruktur“71 des Textes erschließt, wenn auch
nur partiell, denn letztlich bleibt der Text ambigue und somit unausdeutbar.72
Insofern sind dem Verstehen literarischer Texte per se Grenzen gesetzt. Überdies
bleibt der literarische Text ein „Grenzfall“, weil sich dessen Bedeutung aus der
außertextuellen ebenso wie aus der textuellen Realität speist, wodurch sich der
Leser im Rezeptionsprozess immer auf einer Gratwanderung zwischen
Faktuellem und Imaginärem befindet.
Wenn also literarische Texte aufgrund ihres Sinnüberschusses die Fähigkeit
besitzen, Möglichkeitsräume zu erschaffen, dann können sie als narrativ
konstruierte Räume und ebenso als mehrfach kodierte Zeichensysteme begriffen
werden. Ihre Bedeutungsvielfalt und Funktion kommt jedoch erst durch eine
symbolische Lektüre zum Tragen, denn gerade der Prozess des Lesens wird von
Beutungszuschreibungen und Umkodierungen begleitet.73
4.4 Das Subjekt als Vermittler zwischen sozialem und erzähltem Raum
Auf welche Art und Weise werden nun Grenzverflechtungen in literarischen
Texten geleistet? In der von Lefebvre dargelegten Konstitution des sozialen
Raums ist bereits angelegt, dass es sich stets nur um durch Subjekte hergestellte
Räume handeln kann. Der Raum wird ausgehend vom Körper wahrgenommen,
erlebt und somit auch produziert und reproduziert. Um den sozialen Raum – wie
auch die hier besprochenen Grenzen – als dreistellige Relation zu begreifen,
erscheint es notwendig, sich dem Körper zuzuwenden. Mit der Integration des
Körpers gelingt es Lefebvre, die Trennung von physischem und mentalem Raum
in doppelter Weise aufzuheben, denn einerseits werden der physische, der
gedachte und der imaginierte Raum durch den Körper verbunden und
andererseits ist der Körper selbst zugleich Subjekt und Objekt (im Raum). Der
Körper ist Raum und ist im Raum, und damit auch in der Zeit.74 Darum soll mit
diesem Beitrag die Beziehung von topografischer, metaphorischer und narrativer
Grenze von den Subjekten ausgehend untersucht werden – den sozialen
Akteuren und literarisch konstruierten fiktiven Gestalten. Es sind daher der
Autor, der Leser und die literarischen Figuren als Subjekte ins Auge zu fassen.
Zur Differenzierung dieser Subjekte sollen drei Ebenen, auf denen sich
Kommunikation75 ereignet, unterschieden werden: „Auf der ersten Ebene
70
LOTMAN, Die Struktur literarischer Texte, 1993, 312f.
STANZEL, Theorie des Erzählens, 2001, 31ff.
72
CORBINEAU-HOFFMANN, Die Analyse literarischer Texte, 2002, 1-15 u.162-172.
73
LOTMAN, Die Struktur literarischer Texte. München 1993, 59ff.
74
LEFEBVRE, Space,1991, 170f., 294, 405f.; Raumtheorie, 2006, 337, ENGELKE, Kulturpoetiken
des Raumes 2009, 55f.; SCHMID, Stadt, Raum und Gesellschaft, 2005, 213f..
75
NÜNNING, Metzler Lexikon, Literatur- und Kulturtheorie, 2004, 336f..
71
244
245
kommuniziert ein realer Autor mittels seines Erzählwerks mit einem ebenso
realen Leser. Auf der zweiten Ebene kommuniziert ein Erzähler mit der
Leserrolle im Text und auf der dritten Ebene kommunizieren die Figuren der
Erzählung miteinander.“76 Diese Subjekte können noch so unterschiedlich sein,
eines jedoch verbindet sie: Sie handeln. Sie handeln, weil sie kommunizieren.
Der Autor wird hierbei als jene Instanz begriffen, die die (symbolische)
Sinnstiftung des (physischen) Raumes zunächst vornimmt. In Lefebvreschen
Sinne produziert er mit dieser Handlung einen erlebten Raum (Raum der
Repräsentation), der mit den Wissensordnungen und kulturellen Symbole des
gedachten Raumes (Repräsentationen des Raumes) verbunden ist. Die Lektüre
einer Grenzerzählung gründet demnach nicht nur auf einer literarischen
Sinnerzeugung, sondern zugleich auf der Symbolisierung des Raumes. Sie
erfolgt einerseits durch die Sinnstiftungen des Lesers und wird andererseits
durch Textmerkmale gesteuert. Diese steuern die Referenzialisierbarkeit des
erzählerischen Raumes, schränken aber zugleich die Deutungsfreiheit ein.
Letztlich jedoch entscheidet die Lektüre, ob die Möglichkeiten der Referenz
genutzt werden, wobei der Leser seine Schlussfolgerungen im Verlauf einer
sprachlichen Handlung, einer imaginären Kommunikation77 zwischen sich, dem
Autor und dem ihnen liegenden Text zieht.
Damit liegt der Text nicht nur auf der Schwelle zwischen Autor und Leser,
sondern ist selbst zugleich eine Schwelle in der Art, dass er sowohl
Sprechhandlung und zugleich fiktive Rede ist. Für die folgenden Analysen
verstehe ich unter Grenzerzählungen literarische Texte, deren Schauplatz ein
Grenzraum ist. Ihr zentrales Thema sind Grenzphänomene, die sich zugleich in
den narrativen Strategien widerspiegeln.
Auf narrativer Ebene kann die Stimme des Erzählers oder das Handeln der
Figuren topographische Grenzen beispielsweise durch das imaginäre
Überschreiten zeitlicher Grenzen – wie es im Traum oder in Gedanken geschieht
– verbinden, überlagern oder in den Hintergrund treten lassen. Die Analyse der
Textbeispiele wird folglich darauf ausgerichtet sein, diesen implizit
vorausgesetzten Grenzverschränkungen sowie dem Zusammenspiel der
verschiedenen Grenzarten im erzählten Raum nachzugehen und sie zu entziffern.
Im polymorphen Charakter der Grenze und in Prozessen ihrer Überschreitung,
Veränderung und Überlagerung werden die kulturellen Interferenzen erwartet.
5. Grenzverschränkungen im erzählerischen Raum: Vier
Grenzerzählungen
Die Verwendung des Motivs der Grenze ist in der Literatur aus Österreich
geradezu topisch. Die Autoren, so stellt Wendelin Schmidt-Dengler fest, seien
zumeist Grenzgänger, die sich mit ihren Fragen in politische und kulturelle
76
77
JANNIDIS, Figur und Person, 2004, 16.
MARTINEZ/ SCHEFFEL, Einführung in die Erzähltheorie, 2007, 17.
245
246
Grenzen einnisten und dabei ihre Grenzerfahrungen in die Sprache
zurückprojizieren78. Eine solche in gewisser Weise reziproke Beziehung kann
sich in den Biographien der Autoren zeigen und in literarischen Texten
artikuliert sein. Diese Eigenheit gilt zweifelsohne auch für andere Literaturen,
dennoch ist die Habsburger Monarchie, deren sprachlich-kulturelle Grenzen in
ihren Nachfolgestaaten nach 1918 ihre politische Bestätigung fanden, hierfür
exemplarisch. Seit diesem Zeitpunkt wird hier die Grenzthematik für die
Literatur besonders relevant.79 Für den Kontaktraum Burgenland/ Westungarn ist
die Grenzziehung von 1922 von einer so großen gesellschaftlichen Bedeutung,
dass sie als Zäsur begriffen wird. Hier setzt auch der zeitliche Rahmen meiner
Analysen an, die sich von den historischen Entwicklungen bis in die 1990er
Jahre leiten lassen.
Maßgeblich für die Textauswahl waren neben dem geographischen
Schauplatz auch biographische Kriterien. Untersucht werden Texte von Autoren,
die persönlich von der Erfahrung der Grenze geprägt wurden und die in ihren
Erzählungen die Grenzwirklichkeit wiederholt verarbeitet haben. Sie zeichnen
sich durch eine ausgeprägte Sensibilität für Grenzsymbolik sowie eine
differenzierte Betrachtung und Darstellung des Grenzraumes aus. Entweder
stammen sie direkt aus dem Grenzgebiet, oder sie haben einen starken
biographischen Bezug zur Region Burgenland/ Westungarn, wo sie eine längere
Phase ihres Lebens verbrachten. Dieses Kriterium ist entscheidend, da es die
jeweilige Perspektive, aus welcher der Grenzraum wahrgenommen wurde, zu
beeinflussen vermag: Die ausgewählten Autoren haben ihren Heimatort zum
Zeitpunkt des Schreibens aus persönlichen bzw. politischen Gründen verlassen
und beschreiben den sozialen Raum aus der Distanz, und zwar in zweierlei
Hinsicht: zum einen aus einem zeitlichen Abstand, wobei sie trotzdem noch als
Zeitzeugen gelten, und zum anderen aus einem räumlichen Abstand,
vornehmlich aus der Außenperspektive. Gefragt wird immer auch nach den
Möglichkeiten des Schreibens unter bestimmten historischen, politischen
Bedingungen, wobei der geographische Raum eine Konstante bleibt, der aus
wechselnden Perspektiven bewertet wird. Verweise auf biografische Fakten
haben freilich nicht das Ziel, eventuelle Intentionen nachzuweisen, die der Autor
mit seinem Text möglicherweise verfolgt. Die biografischen Faktoren werden
nur in dem Maße berücksichtigt, wie sie für die Interpretationen relevant
erscheinen, da sie diese beeinflussen und verändern können.
Die Textbeispiele wurden chronologisch gemäß der erzählten Zeit, die sich
aus den expliziten oder impliziten Zeitangaben zur historischen Zeit erschließt,
angeordnet. Diese deckt sich – mit einer Ausnahme, dem Roman von Helene
Flöss, weitestgehend auch mit der Veröffentlichung des jeweiligen Werkes. Es
78
SCHMIDT-DENGLER, „Und gehen auch Grenzen noch durch jedes Wort“ (Ingeborg
Bachmann). Zum Motiv der Grenze in der österreichischen Literatur des 20. Jahrhunderts, 1999,
223.
79
Ebd.; MITTERBAUER, Konstruktion von Identität, 2007, 7-12.
246
247
folgt nun ein Close-Reading ausgewählter längerer Textpassagen aus drei
Romanen sowie einer vollständigen Erzählung aus einem Erzählband.
5.1 Helene Flöss: Grenzverschiebung und Sprachwechsel
Das erste Textbeispiel ist dem Roman „Brüchige Ufer“ von Helene Flöss
entnommen. Das Werk bildet insofern eine Ausnahme, als es einerseits das
jüngste ist – der Roman wurde 2005 publiziert – andererseits sich aber seine
Handlung von Beginn des 19. Jahrhunderts bis in die 1990er Jahre des
20. Jahrhunderts erstreckt. Diesbezüglich kann es als eine Art Rahmung
verstanden werden, die die anderen Erzählungen umschließt. Auch das Genre
unterscheidet den Text von den anderen: Durch seine Erzählweise ermöglicht er
einen eher landeskundlich-ethnografischen Blick auf den sozialen Grenzraum.
Im Roman wird die Geschichte einer burgenländischen Familie über drei
Generationen erzählt. Um Gyula Regner, Hauptfigur und jüngstes Mitglied der
Familie, entfalten sich die Biographien der anderen Angehörigen. Alte
Fotografien erinnern an Personen, die dabei vor allem durch ihre
Kindheitserfahrungen porträtiert werden. Den Impuls für die Erinnerungsarbeit
Gyulas gibt seine im Sterben liegende Mutter. Das Denken an den Großvater
versetzt ihn in die Vergangenheit und lässt ihn diese aufs Neue durchleben. Im
folgenden Textbeispiel wird aus dem Leben des Großvaters Michael Regner
berichtet, der zweimal nach Amerika auswanderte und doch wieder in seinen
Heimatort zurückkehrte. Die Passage nimmt Bezug auf die Zeit nach dem Ersten
Weltkrieg und beschreibt am Schicksal eines fiktiven Zeitzeugen den
gesellschaftlichen Wandel nach der Grenzziehung im Jahr 1922/23.
Das Dorf war seit Menschengedenken im Frieden heimisch, daran gewöhnt,
die armseligen Tage zu ertragen, die langen stummen Winter auszuhalten […]
Von den Regeln des Weltenlaufes wussten sie nichts. Auch von den Regeln
des Kaisers hatten sie nichts gewusst und immer nur alles erlitten. Und dann
hieß es, den Kaiser in Wien gäbe es gar nicht mehr, den König von Ungarn
auch nicht, und sie selbst würden auch nicht mehr zu Ungarn gehören. Und
wohin, sagte keiner. Die Pfarrer und die übrigen Gebildeten redeten von der
erlösten ungarischen Nation und davon, dass es bald eine neue Grenze geben
würde zwischen dem eigenen Volk und den büdös swáb. Keiner der Dörfler
wusste, was diese Reden zu bedeuten hatten und welche Fährnis diese ganze
Aufregung versprach. […] Hätte einer Michael Regner gefragt, was er denn
sei, Deutscher oder Ungar, er hätte seinen Hut ein Stück zur Seite geschoben
und sich darunter ein wenig verlegen gekratzt. Ungar hätte er wahrscheinlich
geantwortet. Vielleicht hätte er aber auch gesagt: „Mir redn do deitsch“, und
der Frager hätte es sich aussuchen können.“80
80
FLÖSS, Brüchige Ufer, 2005, 43f..
247
248
Der Darstellung des Dorfes ist zu entnehmen, dass sich der Handlungsort in
einem ländlichen Gebiet, in einer äußerst peripheren Lage befindet. Der
auktoriale Erzähler berichtet vom Alltag der Dorfbewohner und erfasst deren
Lebenswelt als eine von ökonomischen Nöten, Resignation, tiefem Misstrauen
und der Unkenntnis über gegenwärtige politisch-rechtliche Entscheidungen und
historische Veränderungen geprägte Wirklichkeit. Halbwissen und
Spekulationen wirken einer Identifikation entgegen und spiegeln den
Grenzzustand der Figur – jenes „Weder-Noch“, jenen Zustand in der Schwebe,
der ihm keine eindeutige Zuordnung erlaubt, denn er fühlt sich nicht als das Eine
und auch nicht als das Andere. Vielmehr verdeutlicht seine Reaktion eine Form
der Unsicherheit, die sich aus der Unwissenheit über historische Ereignisse und
aktuelle politische Vorgänge speist. Es ist wohl jene Unwissenheit, in der auch
der Grund für die Handlungsunfähigkeit der Dorfbewohner liegen mag. Aber
selbst dieses Nicht-Handeln ist schon eine Form des Handelns, aus der eine
kollektive Machtlosigkeit erwächst. Ein Umstand, der die Dorfbewohner zwingt,
das alltägliche Dasein „auszuhalten“ und das Leben perspektivlos zu ertragen.
Sie fühlen sich der Geschichte als Marionetten ausgeliefert und weisen jede
Verantwortung von sich, denn sie empfinden keinerlei Rechte. Die Unwissenheit
der Dorfgemeinschaft könnte als eine kollektive Machtlosigkeit gedeutet werden,
wenn es heißt: „Von den Regeln des Weltenlaufes wussten sie nichts“ und sie
haben „immer nur alles erlitten“.
Dieser Gedanke des Duldens, des Akzeptierens und Tolerierens referiert
einerseits auf die Tatsache, dass es bis 1918 in Ungarn, das heißt im heutigen
Burgenland, kein allgemeines Wahlrecht (Männerwahlrecht) gab. Wodurch die
Mehrheit der bäuerlichen Landbevölkerung von der politischen Partizipation, die
einer politischen Elite vorbehalten war, ausgeschlossen blieb. Andererseits
verweist es auf das alte gottgegebene Legitimitätsprinzip der HabsburgerMonarchie, das im Titel des letzten Herrschers, Franz Joseph I., dem Kaiser von
Österreich und Apostolischen König von Ungarn, seinen Ausdruck fand.81 Der
fiktive Grenzraum wird mit faktualen Elementen durch Bezugnahme auf einen
konkreten historischen Diskurs semantisiert: Es geht um das Ende und die
Auflösung der k. u. k. Doppelmonarchie, um die Bildung und Legitimierung
ihrer Nachfolgestaaten nach nationalstaatlichen Prinzipien, einschließlich der
Gründung des Burgenlandes. Diese Bezüge konstituieren im Text eine ethnischsprachliche Trennlinie zwischen „dem eigenen Volk“ und den „büdös swáb“.
Die Bezeichnung der Schwaben, die zu den ersten Siedlern der Region gehörten,
wird auf Ungarisch mit einem negativ konnotierten Bild des Schwaben
verknüpft: „büdös swáb“, heißt auf Deutsch „stinkender Schwabe“. Dieses
Schimpfwort steht in Opposition zur emotionalen Konnotation von „der erlösten
ungarischen Nation“ und dient explizit der Bewusstmachung einer konstruierten
Alterität. Auf der anderen Seite erzeugt die syntaktische Nähe der
Zuschreibungen „büdös swáb“ und „der erlösten ungarischen Nation“ den
Eindruck eines spöttischen Belächelns, vermittelt durch die Stimme des
81
ANDERSON, Die Erfindung der Nation, 1988, 27-30.
248
249
Erzählers. Überdies führt diese Aussage zur Annahmen, dass erst die Herstellung
der Staatsgrenze Differenz erzeugte, oder eben eine Form von Interferenz
zwischen der deutschen und der ungarischen Bevölkerung. Das heißt, der
Prozess der Abgrenzung verändert die Wahrnehmung der Akteure und stiftet
gleichzeitig Identität: Der Nachbar wird plötzlich als der Andere, der Fremde
wahrgenommen. Vormals fließende Übergänge zwischen sprachlich
unterschiedlichen sozialen Gruppen, hier der Dorfgemeinschaften, werden nach
der politischen Grenzziehung zu einer erfahrbaren, wahrnehmbaren und klar
definierten Trennlinie, deren Legitimität nunmehr staatsrechtlich bestimmt ist.
Die Identität stiftende Wirkung der Grenzziehung wird auch im Nachdenken des
Großvaters deutlich, der mit Unsicherheit auf die Entscheidungsfrage eines
imaginierten Dritten antwortet: Einerseits nämlich bekennt er sich zur
ungarischen Nation, anderseits aber zur deutschen Sprache. Und weil er sich
nicht so recht entscheiden kann oder will, verortet er sich zwischen beiden, wenn
es heißt: „der Frager hätte es sich aussuchen können“. Der Erzähler fordert damit
den Leser auf, aus diesen Sinnoptionen selbst auszuwählen. Aber es bleibt nur
ein Gedankenspiel im Konjunktiv, denn nach seiner politischen Einstellung und
Meinung wurde er ja nicht befragt.
Die Perspektive des auktorialen Erzählers korrespondiert mit der
Wahrnehmung und Reflexion des Großvaters. Sie verdeutlicht, dass er sich der
sozialen Gruppe der Dorfbewohner zugehörig fühlt, wodurch seine individuellen
Erinnerungen stellvertretend für das kollektive Gedächtnis lesbar werden.
Außerdem zeigt es, auf welche Weise die Konstruktion von personaler Identität
mit der einer Gemeinschaft verbunden ist. Die Textpassage veranschaulicht
zudem, dass die Semantisierung der Grenzregion von unterschiedlichen
Referenzbezügen bestimmt wird. Um eine fiktive Wirklichkeit des Grenzraumes
zu konstruieren, wird selektiv vor allem auf den historischen und sozialen
Diskurs Bezug genommen. Die Grenze wird sowohl in geographisch-konkreter
als auch in symbolischer Hinsicht thematisiert. Neben ihrer Funktion als
Staatsgrenze generiert sie soziale und gesellschaftliche Machtverhältnisse durch
An(Ordnung) von Wissen und spiegelt zugleich den zeitgenössischen
Machtdiskurs. Des weiteren wird verdeutlicht, dass die Herstellung einer
topographischen Grenze eine neue Wahrnehmung bestehender und latent
erfahrener Unterschiede bewirkt und die Ausdifferenzierung von Identität
bestimmt.
5.2 Agota Kristof: Grenzüberwindung und Verlusterfahrung
Das zweite Textbeispiel zeichnet ein gänzlich anderes Bild von der Grenzregion.
Der Auszug ist dem Roman „Das große Heft“ von Agota Kristof entnommen.
Der Roman stellt das erste Buch einer Romantrilogie dar und ist zugleich auch
das erste Buch der Autorin. Erschienen ist der Band 1986 auf Französisch und
ein Jahr später in deutschsprachiger Ausgabe. Agota Kristof ist 1956 aus Ungarn
in die Schweiz geflohen, lernte ein wenig Französisch und schrieb diesen
249
250
Welterfolg, der seither in 38 Sprachen übersetzt wurde, mit Hilfe eines
Wörterbuches. Auffallend an diesem Werk ist die Sprache, die sich durch
Einfachheit auszeichnet: es sind kurze, unpathetische, auf das Wesentliche
reduzierte Sätze. Ungewöhnlich ist auch seine Nicht-Referenzialisierbarkeit,
womit es sich deutlich vom vorhergehenden Erzähltext unterscheidet.
Es ist Krieg. Eine kleine Stadt an einer Grenze bildet den Schauplatz der
Handlung. Erzählt wird die Geschichte namenloser Zwillinge, die zum Schutz
vor Bombardierung bei der Großmutter untergebracht werden. Das Haus der
Großmutter ist das letzte Haus im Ort. Unweit davon befinden sich der
Militärstützpunkt und die Grenze zu einem anderen Land.
Der Roman erzählt die Chronik einer Kriegskindheit aus der Perspektive der
beiden Jungen, die über das Kriegsgeschehen ein Tagebuch führen. In diesem
„großen Heft“ halten die Zwillinge alles fest, was sie erleben. Sie schreiben
Aufsätze, wie sie es nennen, und nach Korrektur übertragen sie alles in jenes
„große Heft“. Ihre Distanz zur Kriegs-Wirklichkeit ist Ausgangspunkt für ihr
Schreiben, wofür sie eine einfache Regel haben:
Der Aufsatz muß wahr sein. Wir müssen beschreiben, was ist, was wir sehen,
was wir hören, was wir machen. […] Die Wörter die die Gefühle definieren,
sind sehr unbestimmt, es ist besser man vermeidet sie und hält sich an die
Beschreibung der Dinge, der Menschen und von sich selbst, das heißt an die
getreue Beschreibung der Tatsache.“82
Neben dem Schreiben, also ihrem literarischen Projekt, widmen sie sich ihrer
körperlichen und geistigen Erziehung und verrichten diverse Übungen. Diese
Handlungen könnten als Strategien gegen die emotionale Kälte und
Bindungslosigkeit gelesen werden und insofern eine Art Schutzmaßnahme
darstellen. Mit den erzwungenen Körpergrenzen symbolisieren die Figuren ihre
Abgrenzung zur Außenwelt, die sie herstellen, beispielsweise: „Zur Abhärtung
des Körpers und des Geistes“ und „Übungen in Blindheit und Taubheit“ oder in
„Grausamkeit“. So trainieren sie sich systematisch Empfindungen bis auf ein
existentielles Minimum weg. Sie befreien sich von den das nackte Überleben
verstörenden Gefühlen wie Schmerz, Trauer, Hunger, Angst oder Liebe, bis sie
fähig sind, im wörtlichen Sinne über Leichen zu gehen, was mit den folgenden
Textpassagen illustriert sei:
- Seit Jahren haben Sie nichts von sich hören lassen.
Er zeigt uns seine Hände. Er hat keine Fingernägel mehr. Sie sind an der
Wurzel ausgerissen worden:
- Ich komme aus dem Gefängnis. Man hat mich gefoltert.
- Warum?
82
KRISTOF, Das große Heft, 1987, 29f..
250
251
- Ich weiß nicht. Wegen nichts. Ich bin politisch verdächtig. Ich kann meinen
Beruf nicht ausüben. Ich werde ständig bewacht. Man durchsucht regelmäßig
meine Wohnung. Für mich ist es unmöglich, in diesem Land zu leben.
Wir sagen:
- Sie wollen über die Grenze.
Er sagt:
- Ja, Ihr lebt doch hier, bestimmt kennt ihr, wißt ihr …
- Ja, wir kennen, wir wissen. Die Grenze ist unpassierbar.
Vater senkt den Kopf, betrachtet einen Augenblick seine Hände, sagt dann:
- Es gibt bestimmt eine Lücke. Es gibt bestimmt eine Möglichkeit,
durchzukommen.
- Wenn Sie Ihr Leben aufs Spiel setzen, ja.
- Lieber sterbe ich, als daß ich hierbleibe.83
Der Vater, der wegen seiner Tätigkeit als Kriegskorrespondent nach seiner
Rückkehr zur Gefängnisstrafe verurteilt wird, kann nach seiner Freilassung die
Denunziation der herrschenden Macht nicht länger ertragen. Unfähig unter den
totalitären Bedingungen der neuen Regierung zu existieren, sieht er sich
gezwungen, seine Heimat zu verlassen.
Die Semantisierung des Raumes entsteht durch die subjektive Wahrnehmung
der Zwillinge und die Äußerungen des Vaters. Es wird deutlich, dass seine
Vorstellungen nicht dem hegemonialen Diskurs entsprechen. Dem Verhältnis des
Subjekts zum Raum wird durch konnotative Emotionalisierung und Bewertung
Ausdruck verliehen, wobei die Konstruktion von Zugehörigkeit und Loyalität
mit Bezugnahme zum Machtdiskurs hergestellt wird. Negative Erinnerungen des
Vaters werden zudem durch den Anblick seiner Hände signalisiert. Er lässt sich
von seinem Entschluss trotz Warnungen nicht abbringen. Also überlegen die
Zwillinge sich einen Plan und bereiten den Grenzübertritt für den nächsten Tag
vor:
Die Patrouille entfernt sich. Wir sagen:
- Los, Vater. Wir haben zwanzig Minuten, bis die nächste Patrouille kommt.
Vater nimmt die beiden Bretter unter die Arme, er geht vor, er legt eines der
Bretter an die Barriere, er klettert.
Wir legen uns bäuchlings hinter den großen Baum, wir halten uns mit den
Händen die Ohren zu, wir machen den Mund auf.
Es gibt eine Explosion.
Wir rennen mit den beiden andern Brettern und dem Stoffbeutel zum
Stacheldraht.
Unser Vater liegt an der zweiten Barriere.
Ja, es gibt eine Möglichkeit, über die Grenze zu gehen: wenn man jemand vor
sich hergehen läßt.
83
KRISTOF, Das große Heft, 1987, 136f..
251
252
Den Stoffbeutel packend, in die Fußspuren tretend, dann über den leblosen
Körper steigend, geht einer von uns hinüber in das andere Land.
Derjenige, der zurückbleibt, kehrt in Großmutters Haus zurück.84
Räumliches Handeln und sicheres Auftreten der Protagonisten verdeutlichen ihr
exaktes Wissen und ihre Bewertungen. Der Grenzraum ist ihre vertraute
Lebenswelt. Sie wissen um die Fluchtmöglichkeiten und Risiken der
Grenzüberschreitung. Das Lexem „Stacheldraht“ referiert auf eine
unüberwindbare Grenze zwischen zwei unterschiedlichen politischen Systemen,
wodurch nur sehr vermittelt auf den „Eisernen Vorhang“ verwiesen wird. Die
Bewertung der Flucht als eigene Chance zeigt sich in der Handlung des Jungen,
der die markierte Wegstrecke nutzt, um zu fliehen. Emotionslosigkeit und eine
mitleidlose Distanz zum Leben stellt diese Handlung dar und unterstreicht die
existentielle Bedeutung der Grenze für die Figuren.
Die Grenzüberschreitung thematisiert Verlusterfahrung in vielfacher
Hinsicht. Es ist der Verlust des Vaters, die Trennung vom Bruder und der
Weggang aus der Heimat. Zur Darstellung von Emigration, Entwurzelung und
Identitätsverlust bedient sich die Autorin des literarischen Motivs der Zwillinge,
das einerseits auf die Spaltung des Subjekts und andererseits auf die doppelte
Identität verweist. Folglich wird die Semantisierung des Raumes hier durch die
Beschreibung der Grenzüberschreitung als Identität stiftender Akt
vorgenommen.
In diesen Textpassagen finden sich mehrere autobiographische Faktoren, auf
die kurz verwiesen sei: Agota Kristof kam mit vierzehn ins Internat und wurde
so von ihren beiden Brüdern getrennt. Von ihrem Vater, der im Gefängnis saß,
hatte sie Jahre nichts gehört, die Mutter arbeitete in einer anderen Stadt. Mit 21
Jahren floh sie 1956 nach Niederschlagung des Aufstandes aus ihrer Heimatstadt
Köszeg in die französische Schweiz, wo sie mit über 50 Jahren ihr erstes Buch
schrieb. Ihre objektive Schreibweise eignete sie sich beim Verfassen von
Hörspielen an, dabei lernte sie, sich streng an das Sichtbare und Hörbare zu
halten. Gerade mit dieser kargen und reduzierten Sprache werden Grenzen
gesetzt – eine spezifische narrative Strategie, welche die Begrenztheit von
Äußerungen und somit die Grenzen von Sprache erfahrbar macht. Zugleich wird
damit die ästhetische Distanz auf der Ebene des Erzählens fortgeführt, wobei das
Gestaltungsmittel und die Grenzthematik subtil aufeinander abgestimmt werden.
Was hat mich veranlasst, diesen Roman auszuwählen, und wie gelingt es, die
Handlung in Westungarn zu verorten? Zweifellos liegt die Spezifik des Textes
auch in dessen Anonymität, da weder Ort noch Person namentlich benannt sind
und auch keine Jahreszahlen erwähnt werden; vieles bleibt in der Schwebe.
Hierdurch aber erlangt der Text eine universelle Dimension und
Vielschichtigkeit. Und gerade weil er eine Raumbeschreibung entwirft, die nicht
referentiell ist, wird dem Leser ein ungewöhnlicher Freiraum zur symbolischen
und allegorischen Lektüre und Entzifferung geboten, um die Figuren, deren
84
Ebd., 141.
252
253
Handeln und den Raum mit Sinn zu erfüllen. Zugleich aber erlaubt der Text eine
Lesart, die die Beschreibung eines Grenzgebietes unter Kriegsbedingungen
erwartet. Die Bedeutungszuweisung kann erstens auf einer referentiellen Ebene
erfolgen. Das heißt, durch die Identifikation eines Handlungsortes, nämlich
Westungarn, und einer konkreten historischen Zeit, also des Zweiten Weltkrieges
und der Nachkriegszeit. Allerdings gelingt diese Semantisierung nur durch
Investition historischer, geographischer und politischer Kenntnisse sowie durch
die Deutung der in den Textelementen angelegten topographischen Muster. Und
zweitens nehme ich in diesem Fall auf die Selbstaussage der Autorin Bezug, um
den geographischen Schauplatz einzugrenzen. Mehrfach wurde sie zu ihrem
Roman befragt. Sie äußerte hierzu, dass ihre Romane in ihrer Heimatstadt, der
Grenzstadt Köszeg angesiedelt sind und dass sie die Schauplätze beim Schreiben
sehr genau vor sich sieht. Deutlich wird an dieser Grenzerzählung ein konkretes
Problem: Wie ist zu verfahren, wenn es nicht gelingt, den physischen Raum zu
„enttarnen“ bzw. dieser nur unter Berücksichtigung der Aussage des empirischen
Autors zu kontextualisieren ist. Indem sich dieser Text jeglicher Wertung
entzieht, demonstriert er zugleich die Auseinandersetzung mit der
Grenzproblematik als eine universelle Schwierigkeit und Herausforderung.
Dieser Text entzieht sich jeglicher Zuordnung – zwar erlauben die lexikalischen
Einheiten wie „Stacheldraht“ und „politische Verfolgung“ die Verortung der
Handlung im Umfeld einer Systemgrenze – aber um welche es sich handelt,
bleibt vollkommen offen. Es könnte jene zwischen Mexiko und den USA ebenso
wie irgendeine entlang des Eisernen Vorhangs sein – doch nicht zwangläufig die
zwischen Ungarn und Österreich.
5.3 Terézia Mora: Grenzüberschreitung und Identitätswechsel85
Es ist naheliegend, dass mit dem zentralen Thema der Grenze die Motive der
Flucht und des Schmuggels als Form von Grenzhandlung und Grenzübergang
eng verknüpft sind. In der Erzählung „Der See“ aus dem Erzählband „Seltsame
Materie“ von Terézia Mora86 wird beides in unterschiedlicher Weise
thematisiert. Zum einen geht es um die Überwindung einer konkreten
geographischen Grenze, zum anderen um das Überschreiten persönlicher
Grenzen. Ebenso verhält es sich mit der Darstellung von Flucht. Einerseits ist die
Handlung, also die konkret vollzogene Flucht im erzählten Raum87 gemeint.
85
Dieser Abschnitt ist eine überarbeitete Fassung des Beitrags „Grenzen erfahren – Grenzen
erhandeln –Grenzen erschreiben“; siehe HEGEDÜS, Grenzen erfahren, 2011.
86
Terézia Mora, eigentlich Terézia Kriedemann, wurde 1971 in der ungarischen Grenzstadt
Sopron geboren. Sie lebt seit 1990 in Berlin, wo sie als Schriftstellerin, Übersetzerin aus dem
Ungarischen und Drehbuchautorin tätig ist. Ihr Debüt, für das sie mehrfach ausgezeichnet wurde,
ist der Erzählband Seltsame Materie. Er ist 1999 erschienen und umfasst zehn Geschichten, die
allesamt im ungarisch-österreichischen Grenzgebiet angesiedelt sind, wie es der Klappentext dem
Leser suggeriert.
87
WÜRZBACH, Erzählter Raum, 2001, 105-129.
253
254
Andererseits aber auch die imaginierte Flucht, bei der Bewusstseinsgrenzen des
„Denkbaren und Undenkbaren“88 im Traum durchschritten werden.
Diesbezüglich können für die Analyse folgende Fragen abgeleitet werden: Wer
ist auf der Flucht, vor wem und weshalb? Oder aus der anderen Perspektive
besehen: Wer schmuggelt unter welchen formalen Bedingungen wen und
warum? Wie werden die Landschaft und die Atmosphäre des Grenzraumes
dargestellt und beschrieben? Ferner, welche Wirkung haben die räumlichen
Bedingungen auf die Wahrnehmung und das Bewusstsein der literarischen
Figuren? Des Weiteren: Inwiefern wird Mehrfachidentität dargestellt und werden
dabei überhaupt soziale Differenzen bzw. Konflikte thematisiert? Und
schließlich ist auch zu fragen, wie die Figuren mit ihren Erinnerungen und
Erfahrungen umgehen und ob sich hieraus Rückschlüsse über das kulturelle
Gedächtnis des Grenzraumes ableiten lassen.
„Der See“ wird aus der Perspektive eines jungen Mädchens erzählt.
Schauplatz der Handlung ist ein Bauernhaus in einem Grenzdorf, das unmittelbar
an einem See89 liegt. Die Geschichte ereignet sich zu Weihnachten und handelt
vom plötzlichen Eintreffen eines Fremden, eines Flüchtlings, der auf Drängen
der Mutter vom Großvater über die Grenze gebracht werden soll. Obwohl Orte
und Personen namenlos bleiben, werden der Grenzraum und der See durch
mehrere indirekte Referenzen soweit näher bestimmt, dass als Handlungsort vom
Neusiedler See und dessen östlichem Ufer ausgegangen werden kann. Das Dorf
am See ist ein Grenzdorf. Es liegt an der äußersten Peripherie des Landes an
einem angrenzenden „Drüben“, welches zugleich von einer doppelten Grenze,
der Staats- und der Binnengrenze, eingeschlossen ist. Ebenso ist das Haus der
Familie in peripherer Lage situiert, und auch der Hof selbst ist an zwei Seiten
durch eine Mauer von der dörflichen Umgebung und dem „stinkenden kleinen
Krebsbach“90 abgetrennt: „Unser Haus ist das unterste im Dorf, das letzte Ende,
wie man es nennt, in die engste Stelle zwischen Hügel und See gequetscht. Der
Bach hinter uns ist nach Krebsen benannt, die es hier lange nicht mehr gibt, er
umfließt unsere Mauer und biegt kurz darauf ab zum See.“91 Dennoch werden
diese alles umschließenden und allgegenwärtigen Grenzen vom See
durchbrochen, der in seiner topologischen Verbindungsfunktion dem Grenzraum
einen fließenden dynamischen Charakter verleiht, den Raum in Bewegung setzt
und so einen Gegenpol zur stabilen, starren künstlichen Trennlinie darstellt. Der
Bach ist die Verbindung zum See und der See der Übergang zur anderen Seite.
Überdies enthält diese Textstelle eine indirekte Referenz auf ein konkretes
Toponym: Der Bach, der nach Krebsen benannt ist, verweist auf den Ort
Kroisbach, der – abgeleitet vom Gewässernamen „Krebsbach“ – etymologisch
88
ESSBACH, Anthropologische Überlegungen zum Begriff der Grenze in der Soziologie, 1999,
94.
89
Die Wiederholung des unbestimmten Artikels signalisiert die topographische Unbestimmtheit
der Geschichte, die auf jegliche Toponymie verzichtet. Ebenso könnte die Geschichte – entgegen
des paratextuellen Hinweises – in einem anderen Grenzraum verortet sein.
90
MORA, Seltsame Materie, 1999, 55.
91
Ebd.
254
255
auf die ursprünglich slawische Bezeichnung „rak(v)nica“ zurückgeht92, die sich
auch im Ungarischen Kompositum Fertőrákos (ungarisch „rák“ bedeutet deutsch
„Krebs“) wiederfindet. „Rak“ ist zudem auch die slowakische Bezeichnung für
Krebs. Diese Übersetzungen zeigen, wie sich auf lexikalischer Ebene, im Wort
selbst, der Interferenzraum spiegelt. Denn die Überschneidungen im deutschen
und ungarischen Ortsnamen lassen überdies erkennen, dass es sich hier um einen
historischen Raum handeln muss, der gleichzeitig oder abwechselnd von
deutschen, slawischen und ungarischen Gemeinschaften besiedelt wurde und
deshalb als ein kultureller Interferenzraum benannt werden kann.
Es ist jenes Grenzdorf am See, das während der Grenzöffnung 1989 eine
zentrale Rolle spielte und heute einen Erinnerungsort93 darstellt.
Im erzählten Raum stellen das Dorf und der See an einer geographischen
Grenze einen Gegenraum, ein Heterotopos94 dar, denn er ist ein andersartiger
Raum, der – von einer Binnengrenze abgetrennt – außerhalb der anderen Orte
liegt, diese zwar repräsentiert, aber zugleich in ihr Gegenteil verkehrt. Das Dorf
ist ein Ort, der „[…] in Verbindung und dennoch im Widerspruch zu allen
anderen Orten […]“95 steht und somit ein heterotoper Ort ist, weil er „[…] ein
System der Öffnung und Abschließung […]“96 erzeugt, das den Raum gleichsam
isoliert aber auch einen Zugang – den Zutritt durch Passierscheine – ermöglicht.
Unter diesem Aspekt ließen sich Grenzräume generell als Heterotopien denken,
weil hier eine Ordnung suspendiert, neutralisiert und die andere nicht etabliert
ist.97 Oder sind Grenzräume doch vielmehr Durchgangsorte, „Nicht-Orte“98, an
dem die Körper in dynamischer unauflöslicher Relation zueinander stehen, und
deshalb eher provisorische Transiträume, in denen „Worte und Bilder“99
zirkulieren, so dass sie nicht über ein Gedächtnis und eine eigene Identität
verfügen? In der Erzählung „Der See“ finden sich beide Konzepte wieder, denn
einerseits erscheint das Dorf am See als Gegenort, anderseits aber agieren die
Figuren – ortsgebunden und verankert in der Zeit – indem sie erinnernd auf ihre
Raumerfahrungen zugreifen, diese (re)produzieren, wodurch sie dem Raum Sinn
verleihen und sich den „Nicht-Ort“ anzueignen versuchen.
Um im Folgenden die unterschiedlichen Facetten von Flucht zu
veranschaulichen, möchte ich die eingangs formulierte Leitfrage noch einmal
aufgreifen: Wer schmuggelt wen, warum, wann und wie? Unter diesem Aspekt
92
Trummer, Slawische Steiermark, 1996.
In Sopronpuszta befinden sich zum Gedenken an das Paneuropäische Picknick mehrere
Denkmäler und Skulpturen.
94
FOUCAULT, Von anderen Räumen, 2006, 320.
95
Ebd., 320.
96
Ebd., 325.
97
Ebd., 320-322.
98
AUGÉ, Orte und Nicht-Orte, 1994, 90-135. Augé führt Foucault Ansatz weiter und entwirft
seine Konzeption der „Nicht-Orte“, die er jedoch im Unterschied zu Foucaults Gegenorten nicht
als isoliert und abgetrennt betrachtet, sondern dem ein dynamisch-relativistisches Verständnis von
sozialen Räumen zugrunde legt. Raumtheorie, 2006, 295.
99
AUGÉ, Orte und Nicht-Orte, 1994, 127.
93
255
256
will ich auf jene Charaktere der Erzählung eingehen, die über das Motiv der
Flucht miteinander verbunden sind und in einer wechselseitigen Beziehung
zueinander stehen. Nach meiner Lesart sind das der Großvater, der Fremde und
das Mädchen. Die folgenden Textpassagen sollen illustrieren, wie die IchErzählerin über diese Verkettung reflektiert.
Wer aber ist eigentlich dieser Fremde?
Er weiß nicht, wo er hier gelandet ist. Er begreift erst nach einiger Zeit, daß
sich diese mehlbestäubten Menschen immer noch im falschen Land befinden.
Oder vielmehr: daß er selbst sich im falschen Land befindet. […] Er stottert
erschrocken in seinen fremden Sprachen, die er alle nicht beherrscht, bis er
schließlich durcheinanderkommt und verstummt. Er starrt uns nur noch an.
Sein verschwommener grauer Wolfsblick. Lange Stille.100
Er will, wie alle, zum See. „Jemand hat ihm gesagt, er brauche nur dem Bach bis
zur Mündung zu folgen, dann sei er am Ziel. Nur daß der Bach zu früh zu Ende
war.“101
Die Ich-Erzählerin übernimmt die Perspektive des Fremden und beschreibt
seine Gedanken, die zunächst auf ein Ausgeliefertsein und Verwirrung
hindeuten. In der Eingangsszene wurde er als mittellos dargestellt, der bis auf
seinen Körper, bis auf das nackte Leben, reduziert ist: „[…] er hat doch nichts
mehr. Noch nicht einmal einen zweiten Schuh. Diese Gauner, die ihn den Bach
haben runterlaufen lassen, haben ihm alles weggenommen.“102 – außer seinem
Goldzahn und dem Ehering, wobei er sich auf den von der Mutter angebotenen
Tauschhandel einlässt und bereit ist, auch diese Dinge wegzugeben. Er hat alles
verloren und aufgegeben und hofft, dafür die Freiheit zu gewinnen. Mit der
Beschreibung dieser Figur wird Verlusterfahrung zugleich auf mehreren Ebenen
thematisiert: neben dem Verlust von Besitz und Eigentum geht es auch um den
Verlust von Identität sowie um Trennung, was im Weggeben des Eheringes
symbolisiert wird. Auch der temporäre Verlust der Sprache drückt innere
Zerrissenheit und Verzweiflung aus. Der Fremde kann nur noch phonetische
Laute hervorbringen, sich nicht einmal mehr artikulieren, was bis zur
Sprachlosigkeit führt. Und dennoch, er ist zwar sprachlos, aber nicht tatenlos,
denn er handelt: „Er will, wie alle, zum See“, der ihm die Flucht über die Grenze
ermöglichen soll und durch den er auf die andere Seite zu gelangen hofft. Aber
nur der Großvater kennt den Weg dorthin.
Der Großvater, der von Beruf eigentlich Fischer ist, „[…] legt seit sechzig
Jahren seine Angeln und Reusen im Schilf aus“.103 Aber nun haben sich die
Zeiten geändert:
100
101
102
103
MORA, Seltsame Materie, 1999, 55f..
Ebd., 56.
Ebd., 53.
MORA, Seltsame Materie, 1999, 56.
256
257
Seitdem Vater nicht mehr bäckt, bringt Großvater wieder Fremde nach
drüben. Er folgt mit ihnen dem versteckten Bachlauf durch den Schilfgürtel.
In Hörweite des offenen Wassers läßt er sie allein. Er zeigt ihnen einen Stern,
dem sie folgen sollen bis ins Wasser und dann tauchen, solange es geht, bis es
von einer Welle zur nächsten schließlich drüben ist. Großvater hat den Weg
nicht vergessen, obwohl er ihn lange nicht mehr gegangen ist.
Jahrzehntelang kam kaum jemand von außerhalb bis zu diesem Dorf. Die
Passierscheine hatten einen grünen Streifen für Kinder, einen roten für
Erwachsene, er lief quer über die Vorderseite, strich alles durch, als wäre es
ungültig. Aber sie waren gültig, die Ausweise, und obwohl uns die Grenzhüter
als Dorfbewohner kannten, kontrollierten sie sie jedes Mal. Anfangs, erzählt
Vater, schlitzten sie selbst den Fischen aus Großvaters Fang die Bäuche auf,
wer weiß, was sie da finden wollten. Großvater zog immer alleine ins Schilf
und sprach nie, mit niemandem, und wenn, dann hatte er einen Akzent.
Großvaters Muttersprache wird auch jenseits des offenen Wassers gesprochen.
Das machte ihn verdächtig. Man schlitzte seine Fische auf und fand nichts. Nur
aufgeplatzte Galle. Aber das ist schon lange her, wer weiß, ob es stimmt.
Großvater schweigt dazu.
Der Weg bis zum Dorf ist seit einiger Zeit wieder frei. Die Grenzhüter haben
sich zurückgezogen, unsichtbar in die Wiesen, ins Moor, und es kommen
immer mehr ausweislose Fremde über die Mauer zu unserer Backstube
geklettert. Alles ist hier Grenze, die Fremden könnten auch über die Wiesen
gehen, über Land, aber sie wollen nur Großvater und den See, für alle und von
allen Seiten gleich undurchschaubar und gefährlich, tierlaut in der Nacht,
durch den man wie Lurche, wie die Aale hindurchschlüpfen kann.“104
In dieser längeren Textpassage wird auf mehreren Zeitebenen erzählt, wobei
selektiv erinnerte Erlebnisse miteinander verflochten sind. Während die
Erzählerin den Großvater charakterisiert, vermittelt sie auch zahlreiche Facetten
der Grenze, indem sie über Erinnerungen des Vaters reflektiert sowie über
politische Veränderungen und Alltagspraktiken berichtet. Die Erzählerin benennt
zunächst die Beweggründe für die illegale Tätigkeit des Großvaters, hinter
welcher offensichtlich ein finanzieller Grund steht. Denn früher, so geht aus
einer anderen Textstelle hervor, konnte der Vater durch seine Nebentätigkeit als
Bäcker das Einkommen der Familie etwas aufbessern, aber seit er an
Tuberkulose erkrankt ist, kaufen die Dorfbewohner sein Brot nicht mehr. Diese
verlorene Einnahmequelle veranlasst den Großvater, wieder Fremde zur Grenze
zu bringen. Die äußeren Lebensumstände, das Finanzielle, zwingen ihn zur Tat
und die Erkrankung des Vaters legitimiert unter moralischem Aspekt letztlich
seine illegale Tätigkeit – so scheint es zunächst. Denn später erfährt der Leser
den wahren Grund:
104
Ebd., 57f..
257
258
Er tut es nicht für die Fremden. Die Fremden bedeuten ihm nichts. Er tut es
auch nicht für Vater, denn er mag Vater nicht. Er spricht nicht mit ihm. Er
bringt sie für uns hinüber, für meine Brüder und mich. Und für unsere Mutter,
die nicht seine leibliche Tochter ist. Deren Vater auch nach drüben
geschwommen oder ertrunken ist.105
Die Erzählerin reflektiert, dass es dem Großvater keineswegs um Bereicherung
an materiellen Gütern geht. Obwohl er den Tauschhandel der Mutter
stillschweigend akzeptiert, hat dieser Tausch für ihn einen anderen Wert. Seine
Handlung zeigt, dass er die gegenwärtige Situation als Provisorium betrachtet
und verdeutlicht ferner seinen Glauben an die Freiheit – wenn schon nicht an die
eigene, so doch an die der kommenden Generation. Neben den
Handlungsmöglichkeiten in einer Grenzsituation wird auch über unterschiedliche
individuelle Wertvorstellungen reflektiert. Die Erzählerstimme vermittelt das
sehr subtil und unaufdringlich ohne zu moralisieren oder über jemanden zu
urteilen. Überdies enthält die Aussage auch ein zukunftsweisendes Moment,
denn sie nimmt symbolisch die Grenzöffnung von 1989 vorweg.
Fest steht jedoch: Geschmuggelt und geflohen wird nachts. Auf welchem
Fluchtweg aber der Großvater die Fremden zur Grenze bringt, bleibt sein
Geheimnis, denn der Bachlauf ist versteckt und nur er kennt den Weg zur
Grenze, den er aber verschweigt: „Unsichtbar die Grenze. Großvater verrät nicht,
wo sie ist.“106
Die Aussage: „Großvater hat den Weg nicht vergessen, obwohl er ihn lange
nicht mehr gegangen ist.“ legt die Annahme nahe, dass er schon vor der
Grenzziehung in der Region gelebt hat. Zudem referiert sie implizit auf die
Grenzverschiebungen nach 1920, auf jene politische Entscheidung, die dazu
führte, dass die Einwohner über Nacht, ohne den Ort gewechselt zu haben,
plötzlich der anderen Seite, ja möglicherweise der falschen Seite zugehörten. Die
Resonanz dieser künstlichen Grenzziehung lässt sich besonders an der Figur des
Großvaters ablesen. Sein Wissen über den Raum, seine detaillierten
Ortskenntnisse, beruhen demnach auf einer starken lokalen Identität, seinen
Erfahrungen im Grenzraum und seiner Erinnerung. Er verlässt sich auf sein
Gedächtnis und findet in der Dunkelheit mühelos, sozusagen „blind“ den im
Schilf versteckten unsichtbaren Weg zur Grenze. Das wissentliche Verschweigen
des Weges und der versierte Umgang mit dem Raum verdeutlichen, welches
Feld an Optionen das Wissen eröffnet, dessen Macht im Raum Grenzen
überschreitet, weil es Spielräume erschließt. Der Großvater wendet bei seinen
Grenzgängen jene „stabilen Taktiken“ an, mit denen er problemlos staatliche
Kontrollen umgeht und sich subtil dem „Netz[e] der Überwachung“107
entzieht.108 Den Flüchtlingen aber gibt er einen Stern mit auf den Weg als Garant
105
106
107
108
MORA, Seltsame Materie, 1999, 69.
Ebd., 66.
CERTEAU DE, Kunst des Handelns, 1988, 186.
Ebd., 183-187; FOUCAULT, Short Cuts, 2004, 77f..
258
259
und Orientierungshilfe. Dieser Stern, vielmehr Weihnachtsstern, leuchtet als
biblisches Symbol den Fremden den Weg.
Wie sich das Leben im Grenzgebiet auf den Alltag der Dorfbewohner
auswirkte, beschreibt die Protagonistin im nächsten Abschnitt. Dazu wechselt sie
die Zeitebenen durch mehrere Rückblenden. Diese sind durch Tempuswechsel
vom Präsens ins Präteritum gekennzeichnet, was auf erlebte Ereignisse in der
Vergangenheit und deren Konsequenzen für die Gegenwart, etwa die Motivation
des Großvaters, Fremde über die Grenze zu schmuggeln, verweist. Dass das Dorf
über viele Jahre nur mit einem Passierschein zugänglich war, bedeutete für die
Dorfbewohner an einer doppelten Grenze zu leben, denn die Region war durch
diese zwar eine durchlässige, aber dennoch stark kontrollierte Binnengrenze,
durch Zutrittsverbot109 vom Hinterland partiell getrennt und somit teilweise
isoliert. Außerdem enthält diese Textstelle die implizite Mitteilung, dass jene
Grenze in ihrer Funktion als Staatsgrenze eine stark bewachte war und das Indiz,
dass es sich dabei sowohl um eine politische Systemgrenze als auch um eine
Sprachgrenze handelte. Das wiederum verweist auf eine konkrete osteuropäische
Grenze zum Westen, das heißt auf den „Eisernen Vorhang“ zwischen Österreich
und Ungarn. Verifiziert wird dies durch den Neusiedler See, den einzigen an
einer System- und Sprachgrenze gelegenen europäischen See. Der erzählte
Grenzraum erlangt auf diese Weise eine historische und politische Bedeutung,
was ihn bewertet und zugleich strukturiert.
Im nächsten Abschnitt wechselt die Ich-Erzählerin erneut die Perspektive
und reflektiert aus dem Blickwinkel des Vaters über gegenseitige
Wahrnehmungen und Deutungen der Figuren. Die übertriebenen Kontrollen und
Erniedrigungen durch die Grenzwächter im Umgang mit dem Großvater, den sie
wegen seines fremden Akzentes verdächtigten, machen die soziale Konstruktion
von Differenz sichtbar. Die Ausgliederung erfolgt in zweifacher Hinsicht: Zum
einen wird dem Großvater die Glaubwürdigkeit als Fischer aberkannt, indem er
als illegaler Schmuggler verdächtigt wird, worauf sich die Aussage, dass man
ihm die Fische aufschlitzte bezieht. Zum anderen wird er aufgrund der
phonetischen Abweichung in seiner Aussprache als Fremder als einer, der sich
von der jeweiligen Sprachgemeinschaft unterscheidet, wahrgenommen. Der
Akzent seiner Muttersprache, die eindeutig negativ konnotiert ist, macht ihn
unterschwellig zum Systemgegner und somit zum potentiellen Feind, was mit
der Aussage: „Großvaters Muttersprache wird auch jenseits des offenen Wassers
gesprochen. Das machte ihn verdächtig“ verdeutlicht wird. Diese Bezüge
konstituieren im Text eine ethnisch-sprachliche Trennlinie zwischen dem
vermeintlich „Eigenen“ und „Fremden“. Andererseits wird auch mit dem
Klischee der Sprachbeherrschung gespielt und zugleich auf die Kontingenz
ethnozentrischer Fremdzuschreibung mittels der Kategorie „Sprache“ verwiesen.
Das führt zur Annahme, dass erst die Herstellung der Staatsgrenze Differenz
erzeugte, woraus sich verallgemeinernd schlussfolgern lässt, dass der Prozess der
109
KOCSIS / WASTL-WALTER, Ungarische und österreichische Volksgruppen im
westpannonischen Grenzraum, 1993, 198.
259
260
Abgrenzung die Wahrnehmung der Akteure verändert und gleichzeitig Identität
stiftet. Beim Großvater zeigt sich die Identität im Alleingang, das heißt, in der
partiellen Isolation und in der selbst gewählten Sprachlosigkeit, denn „Großvater
zog immer alleine ins Schilf und sprach nie, mit niemandem“. Da er weder die
Landessprache noch seine Muttersprache benutzt, positioniert er sich folglich
zwischen den Sprachen. Dieses Dazwischen-Sein äußert sich im Schweigen. Des
Großvaters Sprachbewusstsein, die Weigerung sich zu entscheiden, kann als eine
Haltung des „Sowohl-als auch“ oder aber des „Weder-noch“ gelesen werden. Sie
zeigt einerseits eine Grenzhandlung, weil es die Grenzgänge des Großvaters als
Fluchthelfer spiegelt und verdeutlicht die stillschweigende Auseinandersetzung
mit mindestens zwei semiotischen Systemen: Die Figur, die in diesem Moment
sich selbst in einer Grenzsituation wiederfindet, erscheint hier als eine „doppelt
kodierte“ Figur, sie ist selbst als Interferenzraum beschreibbar. Dennoch ist die
bewusste Sprachverweigerung des Großvaters ambivalent, denn sie könnte als
Vorkehrung gedeutet werden, um nicht aufzufallen, aber auch als eine Form von
Widerstand oder eben Resignation. Zudem dient diese Figur als
Projektionsfläche für eine Vielzahl von Symbolen: Als Fischer hüllt er sich
immerfort in Schweigen. Er ist „stumm wie ein Fisch“, der zu Heiligabend über
einen unsichtbaren Weg selbstlos Fliehende in die Freiheit führt. Hier werden
mit dem Motiv des Fischers und des Fisches zum einen menschliche
Eigenschaften wie Verschwiegenheit, Wachsamkeit und Beherrschung
symbolisiert. Zum anderen ist der Fisch das Symbol Christi und gilt als Attribut
von Heiligen. Die Grenzgänge des Großvaters könnten in dieser Hinsicht als
Gleichnis zum Apostel Petrus und zur Deutung der Apostel als
Menschenfischer110 gelesen werden.
Im letzten Abschnitt wechselt die Erzählerin mehrfach die Zeitebenen.
Indem sie über erlebte Ereignisse reflektiert, nimmt sie zugleich Bezug auf die
Gegenwart und leitet daraus Schlussfolgerungen für zukünftiges Geschehen ab.
Deutlich wird das etwa am Tempuswechsel ins Präsens sowie durch die
Präposition „seit“, die zeitlich den Beginn einer noch nicht abgeschlossenen
Phase markiert. Die Erzählerin berichtet von einem ungehinderten freien Zugang
zum Dorf, was zur Annahme führt, dass der einst streng kontrollierte Grenzraum
nun durchlässiger, offener geworden ist. Wenn in der Erzählgegenwart von einer
nach hinten offenen Grenzregion gesprochen wird und der Leser davon ausgeht,
dass die Geschichte in Westungarn situiert ist, was sich aus den erwähnten
impliziten Referenzen ableiten lässt, könnte sich diese Textstelle ebenso auf ein
konkretes historisches Ereignis beziehen, nämlich auf die Grenzöffnung von
1989 und den Fall des Eisernen Vorhangs. Mit der Semantisierung der Standorte
wird folglich nicht nur ein geschichtlicher Handlungsraum hergestellt, sondern
auch eine Bewertung impliziert. Die weniger scharf bewachte Grenze aber
erhöht die Fluchtchancen und eröffnet neue Fluchtmöglichkeiten für die
„ausweislosen Fremden“. Eine latente Bedrohung angesichts einer möglichen
110
BIEDERMANN, Knaurs Lexikon der Symbole. 2000, 142-145; Evangelium nach Lukas (5,111) und Matthäus (4,18-22).
260
261
Überfremdung scheint von diesen in steigender Zahl ankommenden nicht
identifizierbaren Flüchtlingen auszugehen. Für sie bedeuten der See und ein
ortskundiger Fluchthelfer eine Gelegenheit zu entkommen. Sie kommen mit
einem festen Willen und einem konkreten Ziel, denn sie wissen, dass sich der
Großvater als zuverlässiger Fluchthelfer betätigt. Das veranlasst sie, nicht die
anderen, weniger gefährlichen Fluchtwege zu benutzen, sondern sich freiwillig
der Ungewissheit des Sees auszusetzen. Der See, der sich direkt im Grenzraum
befindet, ist eine geschlossene und zugleich offene Grenze, denn er vereint das
Getrennte, indem er beide Seiten miteinander verbindet. Unter Berücksichtigung
der bereits erwähnten indirekten Raumbezüge deutet diese topographische
Angabe – wenn auch nur vermittelt – wiederholt auf den Neusiedler See hin.
Den See beschreibt die Erzählerin als etwas Unberechenbares und
Undurchsichtiges, durch das man bei Dunkelheit geräuschlos, also „tierlaut in
der Nacht“ entfliehen kann. Auf der Erzählebene spiegelt die Landschaft die
Wahrnehmungen und Deutungen der Figuren wider, wobei die Atmosphäre des
Sees mit der Charakterisierung der Grenzwächter korrespondiert und in gewisser
Weise auch das politische System beschreibt. Deutlich wird das etwa in der
Verwendung negativ konnotierter Adjektive wie „unsichtbar“, „gefährlich“ oder
„undurchschaubar“, mit denen dieser Grenz- und Interferenzraum deutlich als
etwas negativ Erlebtes wahrgenommen wird. Eine Erzählweise, die in ähnlicher
Form auch in der Darstellung eines Traumes wiederkehrt, über den die
Hauptfigur einen inneren Monolog führt und der ihre Gefühlswelt und ihre
Gedanken beschreibt:
Ich öffne die Augen nicht. Ich öffne sie nicht. Ich gleite durch junges Schilf.
Ich bin leicht wie ein Kind, mein Körper ist ein Boot. Die schwachen Halme
legen sich unter mich, schneiden mich, streicheln mich. Langsam, scharf
sickert das Wasser von unten durch. Bald ist es geschafft. Ich lasse mich ins
Untrinkbare gleiten. Es soll mich hinübertragen bis morgen früh. […] Ich
liege auf dem Rücken, bewege meine eiskalten Finger, das Wasser des Sees,
das glatt unter mir liegt, ein graues Laken, und ich flüstere: Ich bin tot.111
Diese Episode, die sich auf dem Dachboden des Hauses ereignet, schildert den
Bewusstseinszustand der Figur so, wie er in der Phantasie oder im Traum erlebt
wird. Auch hier handelt es sich um eine Grenzüberschreitung, aber in anderer
Gestalt: Im Traum überschreitet die Erzählerin beinahe die Grenze, doch ihre
imaginierte Flucht missglückt. Der in Gedanken erprobte Grenzübertritt wird zu
einem existentiellen Ereignis. Träumend versucht sie dem tristen Grenzalltag zu
entfliehen, wobei sich der im Unterbewusstsein erdachte Fluchtweg als ein
Angsttraum erweist, denn die Erzählerin sieht sich als Wasserleiche davon
schwimmen. Somit erscheint ihr Sehnsuchtsraum als ein utopischer. Vereint mit
dem See mündet ihre Vision von „der anderen Seite“ in den Tod. Im Medium
des Wassers, das tiefenpsychologisch für das Unbewusste steht, Quelle des
111
MORA, Seltsame Materie, 1999, 64.
261
262
Ursprungs und Element der Auflösung, wird die Erzählfigur an die Schnittstelle
von Leben und Tod versetzt. Ihre imaginierte Grenzüberschreitung wandelt sich
gleichsam zu einer Schwellenerfahrung. Obwohl im Wasser sich die
topographische Grenze auflöst und in Gestalt des See zu einem dynamischen
Ganzen formt, kann es den entgrenzten Körper nicht hinübertragen. Mit dem
Motiv vom schönen Wassertod, das in leicht abgewandelter Form an die Figur
der Ophelia112 anknüpft, rückt die Figur der Erzählerin an die Schwelle des
Todes als einzig möglichen Ausweg. Auch dies ist ein Nicht-Ort oder ein
Niemandsort, denn das Subjekt ist weder auf der „falschen“ noch auf der
„anderen“ Seite im ersehnten „Drüben“.113 Doch gerade mit dieser
Gedankenreise erfolgt die Überlagerung der konkreten und metaphorischen
Grenze und somit die Verschränkung von realem und erzähltem Raum.
Auf der Erzählebene gelingt es durch diese imaginierte Flucht, die Rolle des
Grenzgängers und des Flüchtlings zu verbinden. Dank einer
Perspektivenübernahme spiegelt sich sowohl die Figur des Großvaters als auch
die des Fremden in der Gedankenreise der Protagonistin, die in einer Doppelrolle
agiert. Zum einen ist sie die Erzählinstanz, die zwischen dem Großvater und dem
Fremden vermittelt, deren Gedanken transferiert; zum anderen ist sie die
Hauptfigur, die sich selbst als eine Grenzgängerin im Transitraum definiert. Den
See konstituiert sie somit als einen Raum der Erinnerung. Die narrative Struktur
des erzählten Raumes wird bestimmt durch das Setzen von topographischen und
metaphorischen Grenzen, die aufgrund ihres amorphen Charakters nicht immer
eindeutig klassifizierbar sind, sondern sich stattdessen verschieben, überlagern
und wechselseitig beeinflussen. Mit dieser erzählerischen Gestaltung gelingt es
der Autorin, das Motiv der Grenzüberschreitung auf thematischer,
metaphorischer und narrativer Ebene zu verbinden.
Damit lässt sich die Erzählung als anschauliches Beispiel für die
Verknüpfung von sozialem Raum (im Sinne Löws) und erzähltem Raum (im
Sinne Lotmans) bewerten. Die Textauszüge demonstrieren den unterschiedlichen
Umgang der literarischen Figuren mit dem Phänomen der Grenzüberschreitung:
Sie werden porträtiert als Fluchthelfer, Flüchtlinge oder Kleinkriminelle.
Überdies verdeutlichen sie, inwiefern ihre Flucht von der jeweiligen Intention
und Motivation bestimmt wird und demnach in Funktion und Gestalt variieren
kann: So ließe sich etwa von einer „illegalen Flucht“ des Fremden, einer
„partiellen Flucht“ des Großvaters und einer „imaginierten Flucht“ der
Erzählerin sprechen. Flucht und Grenzüberschreitung könnten ebenso als
existentielle Grenzerfahrungen in einer Diktatur gelesen werden. Obwohl Flucht
und Beihilfe zur Flucht juristisch eine Straftat bilden, geschieht das
112
Das auf William Shakespeare zurückgehende Ophelia-Mythos könnte zudem durch die
poetische Figurenrede: „Die schwachen Halme legen sich unter mich, schneiden mich, streicheln
mich.“ als eine intermediale Referenz zur Darstellung „Ophelia“ des Malers Sir John Everett
Millais gelesen werden. Überdies kehrt die Figur Ophelia als Motiv in der Erzählung: „Der Fall
Ophelia“, für die Terézia Mora 1999 den Ingeborg-Bachmann-Preis erhielt, wieder. MORA,
Seltsame Materie, 1999, 113-129.
113
WALDENFELS, Schwellenerfahrung, 1999, 151-153; AUGÉ, Orte und Nicht-Orte, 1994, 127.
262
263
Überschreiten dieser Grenze um der Freiheit willen – und erfährt hierdurch eine
positive Konnotation.
Aus den bisherigen Darstellungen glaubt man schlussfolgern zu können, dass
diese Grenzregion doch bloß ein düsteres, melancholisches Gebiet, bloß eine
Provinz im Osten sei. Dass aber die periphere Lage durchaus spannend sein
kann, soll das abschließende Beispiel zeigen.
5.4 Gerhard Roth: Grenzverletzung und Verbrechen
Im Jahr 1995 erschien der Roman „Der See“ von Gerhard Roth und löste prompt
eine gewisse Aufregung in der Öffentlichkeit aus, denn er war von politischer
Brisanz. Der Roman, dem der Autor den Untertitel „Im Land der Mörder“ gab,
ist im Stil eines Kriminalromans verfasst, der ein atmosphärisch eher dunkles
Bild von der Grenzregion zeichnet. Roth beschreibt das politische und
gesellschaftliche Klima Österreichs als ein gewalttätiges und reaktionäres, wobei
er die dabei oft herrschende Gleichgültigkeit besonders kritisiert.
Handlungsort ist der Neusiedler See und dessen Umgebung. Der Protagonist,
Paul Eck, wird von seinem Vater, den er das letzte Mal vor dreißig Jahren
gesehen hat, zum Segeln eingeladen. Zu einer Begegnung kommt es aber nicht,
denn am Tag seines Eintreffens verschwindet der Vater spurlos. Paul stellt
genauere Nachforschungen an, um den Vermissten zu finden. Als Vertreter für
Arzneimittel begibt er sich mit einer Adressliste von Ärzten auf die Suche nach
ihm. Schon bald muss er feststellen, dass er sehr wenig vom Leben seines Vaters
weiß. So erfährt er zunächst aus der Zeitung:
[…] dass es Gerüchte gebe, Eck habe illegale Geschäfte gemacht. So sei sein
Name mehrmals bei Waffentransaktionen gefallen. Als „unvergessen“ wurde
sein „Glanzstück“ bezeichnet; 1956 sei es ihm gelungen, den Fürsten
Esterhazy beim sogenannten „Ungarnaufstand“ aus dem Gefängnis in
Budapest mit einem Rettungswagen nach Österreich zu schmuggeln.“114
Obwohl es hier zunächst um „positive Kriminalität“ geht, deutet die
Verwicklung des Vaters in Waffenhandel und Menschenschmuggel das zentrale
Thema des Romans an, der die Grenzüberschreitung eben nicht mehr jenseits
von Moral und Gewissen thematisiert. Sie bildet außerdem einen Hauptstrang
der Handlung, der schließlich zur Aufklärung der Fälle und zum Auffinden des
Vaters führt. Erzähltechnisch wird das mit einer Motivkette eingelöst, die dem
erzählten Grenzraum historische und politische Bedeutung zuschreibt und ihn
dadurch bewertet und zugleich strukturiert. In welcher Art das geschieht, sollen
die ausgewählten Textpassagen illustrieren:
114
ROTH, Der See, 1998, 86.
263
264
Er bog in die Uferstraße ein. Hinter einer Steinmauer, die umgeben war von
Weingärten, lag der Serbenfriedhof. Im Ersten Weltkrieg, hatte ihm sein Vater
erzählt, war in Frauenkirchen ein Lager für gefangene serbische Soldaten
errichtet worden. Bei einer Typhusepidemie waren Hunderte von ihnen
gestorben. Eck hatte auf dem Friedhof mit Robert oft Indianer gespielt.115
Der Protagonist bereist als Pharmavertreter das Seegebiet und verbindet seine
eigentliche Tätigkeit mit der Suche nach dem Vater. Als Vertreter ist er jemand,
der sich nur auf der Durchreise befindet, sich also nur vorübergehend an Orten
aufhält. Aber auf diese Weise gelangt er an die Orte seiner Kindheit, die
Erinnerungen wachrufen. Nur für einen Moment verlässt Paul seine Wegstrecke,
doch damit verleiht er dem erzählten Raum eine neue Dimension. Der zweifach
begrenzte serbische Friedhof ruft als Erinnerungsort im Gedächtnis der Figur
unterschiedliche Zeitschichten auf: Die fiktive Überwindung der
Friedhofsmauer, der konkreten Begrenzung eines Gedenkortes, ruft
Erinnerungen wach. Der Erzähler denkt an den Vater, der ihm mündlich
historisches Wissen überliefert hatte, und er denkt an seinen Jugendfreund
Robert, mit dem er seine Kindheit verlebte. Hier, am Ort des Erzählens, gewinnt
der erzählte Ort eine neue Bedeutung. Der auktoriale Erzähler konstituiert mit
der Verräumlichung der Erinnerung sowohl einen Gedächtnisraum als auch
einen Wissensraum, wodurch sich der konkrete Ort zum symbolischen Ort
wandelt.
Die folgenden Textbeispiele sind in ihrem Stil charakteristisch für den
Roman dergestalt, dass die Hauptfigur wie durch eine Kamera auf den erzählten
Raum blickt, wobei sich die Aufnahmen zu Filmsequenzen aneinanderreihen.
Vom Seegebiet wird mit dieser Montage eine kognitive Karte erstellt, und
gleichzeitig werden die Akteure porträtiert.
Ein Feuerwehrmann klebte die Ankündigung für ein Sommerfest auf ein
Benetton-Plakat, das die blutige Hose, T-Shirt und Stiefel eines gefallenen
bosnischen Soldaten zeigte.116
Der Erzähler beschreibt, wie die immer wieder neue Aktualisierung einer
Plakatwand zur palimpsestartigen Ablagerung von Wissen führt. Diese Szene
nimmt außerdem Bezug auf einen konkreten öffentlichen Diskurs, nämlich die
Werbekampagne der Firma Benetton, die in Deutschland, Frankreich und Italien
verboten wurde. Diese brisante Angelegenheit wird einfach überklebt, sie wird
von neuen, in diesem Fall sehr banalen Bedeutungsschichten überdeckt, doch der
Leser wird damit auf mögliche Tiefenschichten des Wissens aufmerksam
gemacht, die auch wieder zu Tage treten können.
Das Auslöschen oder besser gesagt das Leerräumen steht auch in der
nächsten Szene im Vordergrund:
115
116
Ebd., 90.
Ebd., 90f..
264
265
Am Ufer erschien ein großes Holzgebäude. Die Balken waren geschlossen,
auf einem Schild stand Segelschule. Weiter hinten drei leere Gebäude mit
zerbrochenen Fensterscheiben, das halbfertige Seerestaurant und das Hotel.
Robert sagte, daß sie als Quartier für Bosnier und Kosovo-Albaner gedient
hatten, die vor dem Jugoslawien-Krieg geflohen waren, aber in der
Hauptsaison sollten keine Flüchtlinge um den See gesehen werden.117
Die visuelle Wahrnehmung der Plakate und der verlassenen Gebäude stellt eine
zeitliche Relation zur Vergangenheit her. Das heißt, mit der Kennzeichnung der
Standorte, die auf ein bestimmtes Ereignis verweisen, wird nicht nur ein
geschichtlicher Handlungsraum erzeugt, sondern auch eine Bewertung
impliziert. Die Aktualisierung der Plakatwand und die Transformation der
Gebäude verdeutlichen somit die Kontingenz und Wandelbarkeit des Raumes
und könnten daher auch als Strategien gegen das Vergessen gelesen werden.
Eine andere Form der Konstruktion und Repräsentation von Erinnerung
durch Bewegung und soziales Handeln im Raum illustriert die nächste Episode:
Paul Eck erhofft sich von den Arztbesuchen vor allem Hinweise zum Verbleib
seines Vaters. Ein ehemaliger Stabsarzt erwartet ihn in seiner Praxis. In der Mitte
des Raumes hat der alte Arzt auf einem umgebauten Billardtisch die Schlacht
von Königgrätz mit einer Formation von Zinnsoldaten nachgestellt. Plötzlich
hört er auf, die Figuren zu verschieben und sagt:
„Sie mögen Zinnsoldaten?“, fragte er, als er Ecks Blick bemerkte. „Im
Augenblick ist die Schlacht von Königgrätz dargestellt … Hier die
Österreicher … Da die Preußen – Benedek, Sie wissen!“ […] „Sehen Sie […]
es ist wichtig, mit den neuesten Waffen ausgerüstet zu sein – … Das wissen
auch die Kroaten und … unter uns gesagt – sie zahlen jeden Preis dafür. Ihr
Vater machte mit ihnen Deckgeschäfte, mehr will ich darüber nicht
verraten.“118
Mit der Simulation von Königgrätz wird symbolisch an ein zentrales historisches
Ereignis erinnert und im fiktiven Erleben emotional konnotiert. Interaktionen
und Äußerungen stellen in dieser Szene eine zeitliche Relation zur Gegenwart
her und verschränken zwei Zeitschichten miteinander, wodurch der Eindruck
entsteht, der Raum werde durchlässig und entfalte eine Tiefenstruktur..
Die Motivkette, von der ich anfangs sprach, ordnet auf einer semantischen
Isotopiereihe das Thema Jugoslawienkrieg an. Zum einen wird dabei auf das
historische Ereignis verwiesen, zum anderen bewusst mit dem Stereotyp
„Balkan“ gespielt. Jene serbisch-bosnisch-albanisch-kroatischen Verflechtungen
führen zur Auflösung der Mordfälle und zum Auffinden des Vaters. Jedoch ist es
nicht wie erwartet der Kommissar, sondern der Journalist Gartner, der sich
117
118
Ebd., 152.
Ebd., 177f..
265
266
ausführlich mit dem Fall beschäftigt hat, die einzelnen Fakten zusammenführt
und aus den Tatsachen seine Schlussfolgerung zieht:
„Ich denke, der Fall hat etwas mit illegalen Waffengeschäften zu tun“, sagte
der Journalist. Kriegsgut wird über Ungarn nach Serbien geschmuggelt – so
viel steht fest … Ich denke auch, daß Eck am professionellen
Menschenschmuggel beteiligt ist …“119 „Ich habe mir überlegt, was es mit
den Toten für eine Bewandtnis haben könnte … Sie könnten
Verbindungsmänner zu Ihrem Vater gewesen sein. Der Tourist, ein
Deutscher, war Fuhrunternehmer. Und er lieferte in den Balkan …“ […] „Das
Ganze funktioniert nur […] wenn es Verbindungen gibt: zur Polizei, zum Zoll
…“120
Die Grenzüberschreitungen in Gerhard Roths Roman „Der See“ machen Schluss
mit der Verklärung von Grenzenübertritten, mit der Sehnsucht nach
Grenzüberschreitungen. Es ist, als sollten dem spielerischen und experimentellen
Umgang mit Grenzen durch soziales Handeln dort Grenzen gesetzt werden, wo
ihre Überschreitung weniger juristisch als vielmehr moralisch als nicht mehr
legitim erscheint. Standen in den zuvor analysierten Texten die Nöte, Gefahren
und Risiken des Grenzüberschreitens im Mittelpunkt, spricht aus Roths Roman
die Aufforderung, Grenzen zu respektieren, sich freiwillig Grenzen zu setzen.
Bei aller Lust an der Transgression – eine Welt ohne Grenzen funktioniert nicht.
6. Literarische
Interferenzraum
Grenzverhandlungen:
Der
Kontaktraum
als
„Die Semiotik, insbesondere Juri Lotman, hatte im literarischen Text die
Modellierung des sozialen Raums gesehen,“121 unterstreicht Vittoria Borsò. Das
Ineinandergreifen der topographischen und metaphorischen Grenze im sozialen
Raum bildete auch für diesen Beitrag die Ausgangskonstellation für die
Beschreibung der Grenzverschränkungen auf narrativer Ebene. Hierzu bedarf es
aber auch gemeinsamer „semiotischer Systeme“122, die das Interagieren der
Akteure ermöglichen, die eine Deutungs- und Handlungsfreiheit erlauben und
deshalb unterschiedliche Sinnzuschreibungen und Interpretationen bewirken.
Interferenzen basieren demzufolge auf verschiedenen Deutungsmustern und
Wissensordnungen ihrer Akteure, auf deren vielfältigen Sinnstiftungen sowie
einer potentiellen Überlagerung und Durchdringung, durch welche soziale
119
120
121
122
Ebd., 168.
Ebd., 216f..
BORSÒ, Grenzen, Schwellen und andere Orte, 2004, 21.
LOTMAN, Die Struktur literarischer Texte, 1993, 61ff.
266
267
Prozesse und Interaktionen als „kulturelle Interferenzen“ in Erscheinung treten
können und sich in künstlerischen Texten manifestieren.123
Die diskutierten Passagen aus den Grenzerzählungen können gleichsam als
Antworten der Autoren auf die spezifische Situation in diesem sozialen Raum
betrachtet werden. Mehr als deutlich wurde, dass es eines Raumes und dessen
Grenze(n) als Handlungsort bedarf: Dieser kann ein „Ort der Krisis“ – ein
dramatischer bzw. verbotener Ort sein, der von Grenzgängern verletzt werden
und an dem sich das Schicksal der literarischen Figuren vollenden kann.124
Auffallend ist die Korrespondenz zwischen historischen Brüchen und
Grenzverletzungen.
Offenbar
generieren
gesellschaftliche
Transformationsprozesse die Auseinandersetzung mit bestehenden Grenzen,
indem sie von Figuren hinterfragt werden.
Neben der Darstellung von Grenzsituationen veranschaulichen die
literarischen Texte zum einen die Kennzeichnung und Konstruktion der
Grenzregion als Transitraum, als einen Ort, an dem sich illegale Grenzverletzer
und legale Grenzgänger aufhalten und diesen als Durchzugsgebiet benutzen.
Darüber hinaus zeigen sie aber auch die Bedeutung des sozialen Raumes als
Gedächtnisraum, Erinnerungsraum, Wissensraum oder gar Gewissensraum, lenkt
doch die literarische Darstellung der Grenzregion auf die Probleme, die nach
dem Ende zweier Totalitarismen entstanden sind wie Transformationsprozesse,
Flüchtlingsströme oder Kleinkriminalität.
Eine Konstellation wie diese kann die Subjekte – reale wie auch literarische
– in ihren Verhaltensweisen irritieren, sie zur Grenzüberschreitung motivieren,
eine Verhandlung und den temporären Aufenthalt in einem „Zwischenraum“
herbeiführen oder deren Handeln verhindern. Mit Blick auf die in den
Einzelanalysen diskutierten literarischen Raumentwürfe des Grenzraumes
Burgenland/Westungarn kann dieser als Kontaktraum und zugleich als
„kultureller Interferenzraum“ begriffen werden.
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273
274
Matteo Colombi
Vom klassischen zum plastischen Karst.
Darstellungswege in einem kulturellen Interferenzraum
Vorbemerkung
Die Struktur dieses Aufsatzes ähnelt einer Wanderung durch den Karst. Man
beginnt mit einem kurzen Überblick über seine Landschaft und setzt mit der
Erkundung dieser Gegend und ihrer kulturellen Repräsentationen fort. Dieser
Streifzug wird zweimal unterbrochen, um in den Untergrund zu gehen, in die
Höhlen und unterirdischen Flüsse unserer Vorstellungen über den Karst. Der
erste Abstieg hat einen wissenschaftlich-theoretischen Charakter, der zweite stellt
eine subjektive Betrachtung dar. Das Verhältnis zwischen Oberfläche und
Untergrund bildet den Dreh- und Angelpunkt der Karstwelt und ist die Triebkraft
dieser Arbeit.
1. Karstlandschaft
1.1 Klassischer Karst
Das Wort Karst (italienisch carso, kroatisch krš, slowenisch kras) ist ein
geologischer Begriff für eine „durch Wasser ausgelaugte, an der Oberfläche meist
kahle Gebirgslandschaft aus Kalkstein“1, die an mehreren Orten der Welt zu
finden ist – beispielsweise in verschiedenen europäischen Ländern, in Indien und
Australien. Das Hauptmerkmal der Karstgebiete ist die Porosität und
Durchlässigkeit des Bodens: Das Wasser versickert durch den Karstboden und
bildet ein System von unterirdischen Höhlen und Wasserströmen, während die
Oberfläche der Karstregionen recht trocken, karg und steinig bleibt.2
Das bekannteste Karstgebiet ist jenes, aus dem auch die Bezeichnung Karst
selbst stammt: das heutige Grenzgebiet zwischen Italien und Slowenien an der
Nordostadria, eine Hochebene, die sich an der Triester Bucht hinter der Stadt
Triest befindet: „Der Karst ist einer der wenigen Erhöhungstypen, die nach einer
Region, nach einer Landschaft benannt sind.“3 Diese Region bzw. Landschaft
befindet sich grosso modo zwischen der Stadt Görz im Norden, dem Vipavatal im
Osten, Istrien im Süden und der Adria im Westen. Neben Görz sind Postojna im
Osten und Triest im Südwesten die wichtigsten Zentren, die den Karst umrahmen.
1
Duden, 1978, 1430.
MORITSCH, Das nahe Triester Hinterland, 1969, 17–19. Zur Etymologie des Wortes Karst,
das auf eine präindoeuropäische Wurzel zurückgeht, die „Stein“ bedeutet und sich in vielen
indoeuropäischen Sprachen bewahrt und autonom entwickelt hat, siehe KRANJC, Uvod, 1999, 12 f.
3
KRANJC, Uvod, 1999, 12.
2
274
275
Ein (kleinerer) Teil dieses Gebiets gehört heute zu Italien und liegt in dessen
Region Friuli-Venezia Giulia (Friaul-Julisch Venetien), während der (größere)
slowenische Teil zu den Gebieten Primorska (Küstenland) und Kranjska (Krain)
gehört (Abb. 1).
Der Name der Kalksteinlandschaft hinter Triest wurde zum geologischen
Fachterminus, weil österreichisch-ungarische Geologen dieses Gebiet intensiv
untersucht haben – unter anderem Jovan Cvijić, der 1893 eine wichtige Studie
unter dem Titel „Das Karstphänomen“ veröffentlichte.4 In seinem Werk definierte
Cvijić den Karst hinter Triest als den Prototyp einer geologischen Landschaft, die
nicht nur im nördlichen Teil der Adriaküste zu finden ist, sondern auch an der
gesamten Ostadria, in weiteren ostmittel- und südosteuropäischen Gebieten sowie
in anderen Teilen der Welt.5 Um den „Ur-Karst“ an der nordöstlichen Adria von
allen anderen Karstgebieten zu unterscheiden, bezeichnet man ihn heute in der
Geologie als „klassischen Karst“.6
1.2 Plastischer Karst
Die Bezeichnung „klassisch“ soll Ausgangspunkt für die folgenden Überlegungen
zum Karst als Interferenzraum sein. Was klassisch ist, ist in der Regel auch
maßgebend und vorbildlich. Nun, der nordostadriatische Karst wurde nicht nur
zum Prototyp bestimmter Kalksteingebiete, sondern auch jener Orte, die man gern
als Grenzregionen bezeichnet: Der Karst hinter Triest befindet sich an der
Schnittstelle germanischer, romanischer und slawischer Sprachgebiete, war des
Öfteren verschiedenen Herrschafts- und Besitzansprüchen ausgesetzt und selten
unter einer einzigen politischen Macht vereint. Dies führte zur Entstehung eines
komplexen Kulturgeflechts, das sich bis heute im Spannungsfeld zwischen
Verschmelzung, Koexistenz und Abgrenzung des vermeintlich Eigenen und
Fremden bewegt. Die meisten kulturellen Repräsentationen des Karsts setzen sich
mit dessen kulturellen Interaktionen auseinander und behandeln dieses Gebiet –
ohne das Wort zu verwenden – als einen Interferenzraum. Dabei beziehen sie sich
implizit oder explizit mehr oder weniger konsequent auf bestimmte
Konzeptualisierungen von Identität und Differenz bzw. des Eigenen und
Fremden.7 Diese Konzeptualisierungen fungieren als strukturierende,
4
CVIJIĆ, Das Karstphänomen, Wien, 1893.
KRANJC, Uvod, 1999, 12. Andere Geologen hatten in den 1850er Jahren bereits darauf
aufmerksam gemacht, dass auch weite Teile Istriens und Dalmatiens als Karstgebiete zu
bezeichnen sind. Kranjc zufolge wurde das Gebiet hinter Triest als erstes wissenschaftlich
untersucht, weil es die Hafenstadt der Habsburger mit dem Rest ihrer Domäne verband und somit
strategisch günstig gelegen war (ebd.).
6
Ebd., 11.
7
Ich übernehme hier Stuart Halls Definition von Repräsentation, auf die sich auch Gabriela
Kiliánová im vorliegenden Band beruft: „Representation is an essential part of the process by
which meaning is produced and exchanged between members of a culture. It does involve the use
5
275
276
modellbildende Kulturmuster für verschiedene Karstbilder. Solche Muster sollen
im Folgenden am Beispiel zeitgenössischer Texte aus den 1990er und 2000er
Jahren herausgearbeitet werden. Die Karsterkundungen lassen sich drei
unterschiedlichen Repräsentationsbereichen zuordnen – der Geschichtsschreibung
(Kapitel 2.), der Reiseliteratur (Kapitel 4.) und der fiktionalen Literatur (Kapitel
6.). Dabei soll gezeigt werden, wie kulturelle Repräsentationen verschiedener Art
den klassischen Karst plastisch ‚meißeln‘ und wie dieses Gebiet in den jeweiligen
Bildern als Interferenzraum anders ‚posiert‘.
2. Repräsentation I: Geschichtsschreibung
Das Augenmerk der Analyse gilt der italienischen und slowenischen
Historiographie, d.h. der Geschichtsschreibung der Länder, zu denen der Karst
heute politisch gehört. Es werden zunächst zwei Studien analysiert, die ein
umfassendes Bild der Geschichte des Karsts bieten: der Bericht der SlowenischItalienischen Historisch-Kulturellen Kommission „Slovene-Italian Relations
1880–1956“ (2000) und der Aufsatz „Na Krasu od pozne antike do današnjih dni“
(Auf dem Karst von der Spätantike bis heute) von Branko Marušič (1999).
Während es sich bei Letzterem um eine Fallstudie über die Geschichte des Karsts
vom 5. Jahrhundert bis heute handelt, widmet sich Ersterer einem für den Karst
historisch sehr wechselhaften Zeitraum und stellt dieses Gebiet in seinem
regionalen Kontext dar.
„Slovene-Italian Relations 1880–1956“ ist als eine besonders interessante
Quelle zu betrachten, weil sie das Produkt eines bilateralen
Wissenschaftsgremiums ist: die Slowenisch-Italienische Kommission wurde 1993
von den Regierungen beider Länder gegründet mit dem Ziel, „to elucidate
problems of the past“.8 Sie bestand aus vierzehn Fachexperten, je sieben für
Italien und Slowenien, die während ihrer siebenjährigen Tätigkeit eine kurze
Geschichte der italienisch-slowenischen Verhältnisse zwischen dem 19. und
20. Jahrhundert im Adriaraum verfassten. Die Kommission definiert den
untersuchten Zeitraum als die Epoche, die sich „from the beginning of the
national and political differentiation of the border area to the immediate
consequences of delimitation according to the London Memorandum“ erstreckt.9
of language, of signs and images which stand for or represent things.“ (HALL, Representation,
1997, 15. H. i. O.).
8
So Dimitrij Rupel, damaliger slowenischer Außenminister, in seiner Einleitung zum Bericht
Slovene-Italian Historical and Cultural Commission, Slovene-Italian Relations, 2001, 4. Alle
Zitate aus dem Bericht sind der Webseite „Dokumenti iz zamejstva“ entnommen.
9
Slovene-Italian Historical and Cultural Commission, Slovene-Italian Relations, 2001, 3. –
Das Londoner Memorandum legte 1954 die Grenzen zwischen Italien und Jugoslawien fest. Beide
Länder erkannten sie offiziell erst 1975 mit dem Abkommen von Osimo an. Dimitrij Rupel betont,
dass die Zeit zwischen 1880 und 1956 für die Nordostadria besonders schwierig und reich an
„historical controversies“ gewesen sei: „The work […] took a long time, since the researchers had
to reach a consensus about issues which had been disputable until then and which are still
276
277
Marušič’ „Na Krasu od pozne antike do današnjih dni“ stellt meines Wissens
den einzigen wissenschaftlichen Überblick über die Karstgeschichte vom frühen
Mittelalter bis zur Unabhängigkeit Sloweniens dar. Der Beitrag ist 1999 im
Sammelband „Kras. Pokrajna, življenje, ljudje“ (Kras. Landschaft, Leben,
Menschen) erschienen, einer multidisziplinären Publikation des slowenischen
„Inštitut za raziskovanje krasa“ (Institut für Karstforschung) in Postojna. Dieser
Sammelband untersucht den Karst nicht nur aus historischer, sondern auch aus
geographischer, ethnologischer, kunst- und literaturwissenschaftlicher Perspektive
und ist wie der Bericht der Slowenisch-Italienischen Kommission als
wissenschaftliche
Arbeit
konzipiert
worden,
die
gleichzeitig
als
Zusammenfassung des Forschungsstands für ein breites (gebildetes) Publikum
dienen soll.
Sowohl der Bericht der Slowenisch-Italienischen Kommission als auch die
Fallstudie von Marušič bieten ein zwar vielseitiges, gleichzeitig aber auch klar
positioniertes Narrativ über die Geschichte des Karsts als Grenzraum und
systematisieren die Entwicklung der germanisch-romanisch-slawischen
Beziehungen in diesem Gebiet. Inhalt und chronologische Gliederung dieses
„Karstnarrativs“ sollen im Folgenden zunächst einführend zusammengefasst und
anschließend als ein kulturelles Konstrukt untersucht werden, als eine bestimmte
Interpretation von Geschichte bzw. eine ‚Karstplastik‘, die einem bestimmten
Kulturmuster unterliegt.
2.1. Fokus-Karst
2.1.1 Chronologie des Narrativs
Mittelalter und Neuzeit: Marušič betont, dass der Karst bereits seit dem Mittelalter
ein politisch geteiltes Gebiet war, in dem sich sprachlich-ethnische und
gesellschaftliche Trennungslinien überlagerten:
Po odhodu Longobardov v severno Italijo so se pričeli na njih ozemlje
naseljevati Slovani, zlasti od konca 6. stoletja naprej. Slovanska kolonizacija
je bila tolikšna, da so uspeli asimilirati staroselsko prebivalstvo tudi na Krasu.
[Nachdem die Langobarden nach Norditalien weitergezogen waren, begannen
die Slawen dieses Gebiet zu besiedeln, insbesondere seit dem Ende des 6.
Jahrhunderts. Die slawische Kolonisierung war so gewaltig, dass es den
Slawen gelang, die einheimische Bevölkerung auch im Karst zu
assimilieren.]10
sensitive“, ebd., 4. Nach der Veröffentlichung des Berichts löste sich die Kommission auf – noch
bevor sie ihre Untersuchung auf die italienisch-slowenischen Beziehungen in anderen Zeiträumen
hätte ausweiten können.
10
MARUŠIČ, Na Krasu, 1999, 164. Sofern nicht anders angegeben stammen alle Übersetzungen
vom Verfasser.
277
278
Die slawische bzw. slawisierte Bevölkerung des Karsts konnte sich jedoch nur
kurze Zeit unabhängig verwalten: Zunächst nahmen die Franken den Karst unter
ihre Obhut, später wurde das Gebiet zwischen den Lehngütern verschiedener
Adeliger aufgeteilt, die überwiegend germanisch- bzw. italienischsprachig
waren.11 Obwohl die Habsburger im 16. Jahrhundert fast den gesamten Karst
unter ihrer Herrschaft vereinigten, blieb die Region auf ihre verschiedenen
Kronländer aufgeteilt, sodass die einzelnen Karstgebiete nur einen relativ losen
Kontakt zueinander hatten.12
Erst der Aufstieg von Triest als Hafen des habsburgischen Staates führte im
18.°Jahrhundert zu einer Intensivierung der Kontakte sowohl der Karstteile
untereinander als auch mit der Außenwelt.13 1719 deklarierte Kaiser Karl VI.
Triest, bislang eine kleine romanischsprachige Fischerstadt, zum Freihafen, und
seine Nachfahren Maria Theresia und Joseph II. verwandelten die Stadt in ein
imperiales Emporium, das zum Ziel einer imposanten Einwanderungswelle aus
allen Ländern der Donaumonarchie und aus anderen europäischen Gebieten
wurde. Das wirtschaftliche Wachstum Triests und die Modernisierungsprozesse
innerhalb der Habsburger Monarchie beeinflussten die Situation des Karsts sehr
stark:
Okrepila sta se prevozništvo in posredovalna trgovina, ustvarjala se je
predelovalna industrija v Trstu in večjih centrih zaledja. Državna
merkantilistična prizadevanja so samodejno vplivala tudi na razvoj kmetijstva,
Karst ni bil izvzet iz državnih gospodarskih načrtovanj. Osemnajsto stoletje,
zlasti njegova druga polovica, je bolj kot prehodno prinašalo velike
spremembe ne le v gospodarstvu (merkantilizem, fiziokratizem, postopno
mehčanje fevdalnega sistema), pač pa tudi v upravi (notranje upravnepolitične
preureditve, uvajanje katastra in urejanje davčne zakonodaje), v vojski
(vpeljava naborov), v cerkvi, v kulturi (uvajanje šolskega sistema) in v drugih
družbenih dejavnostih.14
[Es verstärkten sich das Fuhrwesen und der Vermittlungsmarkt, es formierte
sich die Verarbeitungsindustrie in Triest und in den größten Zentren seines
Hinterlands. Die merkantilistischen Bestrebungen des Staates beeinflussten
zwangsläufig auch die Entwicklung der Landwirtschaft, der Karst wurde von
den staatlichen Wirtschaftsplänen nicht ausgenommen. Das 19. Jahrhundert,
insbesondere dessen zweite Hälfte, brachte mehr als vorläufig große
Veränderungen nicht nur in der Wirtschaft (Merkantilismus, Physiokratismus,
allmähliche Abschwächung des feudalen Systems) mit sich, sondern auch in
der Verwaltung (interne administrativ-politische Neugestaltung, Einführung
11
12
13
14
Ebd., 164–169.
Ebd., 170–174.
Ebd., 174 f.
Ebd.
278
279
des Katasters und Ordnung der Steuergesetzgebung), beim Militär
(Einführung der Musterung), in der Kirche, der Kultur (Einführung des
Schulsystems) und anderen gesellschaftlichen Tätigkeitsbereichen.]
Die sprachlich-ethnische Trennung zwischen Karstbevölkerung und Adel blieb
bei allen Veränderungen allerdings konstant: „Posesti na Krasu so imeli baroni
Rossettiji […], baroni Paradeiser […], grofje Lanthieri in drugi“15 (Besitztümer
auf dem Karst hatten die Barone Rossetti […], die Barone Paradeiser […], die
Grafen Lanthieri und andere). Marušič zufolge bedienten sich die Adeligen in
geschäftlichen Angelegenheiten jedoch auch der slowenischen Sprache, wie man
zeitgenössischen Quellen entnehmen könne.16
19. Jahrhundert (bis 1918): Sowohl Marušič als auch der Bericht der SlowenischItalienischen Kommission bezeichnen das 19. Jahrhundert als das Zeitalter der
fortschreitenden Modernisierung des Karsts, die sowohl Prozesse politischer und
gesellschaftlicher Zentralisierung und Homogenisierung als auch Vorgänge von
Ausdifferenzierung und Heterogenisierung auslöste. Die Länderreform des
Habsburger Reiches trennte die Wege von Ost- und Westkarst: Letzterer wurde in
die neu entstandene Reichsverwaltungseinheit Küstenland einverleibt, während
Ersterer der Zentralverwaltung des Kronlands Krain in Ljubljana (Laibach)
unterstellt wurde.
Das Küstenland, das sich von den Julischen Alpen im Norden bis nach Pula
(Pola) im Süden erstreckte, wurde zwar von einem einzigen Statthalter regiert,
bestand aber – als Einzelfall in ganz Cisleithanien – nicht aus einem, sondern aus
drei Kronländern, die jeweils über einen eigenen Landtag verfügten: aus der
Gefürsteten Grafschaft Görz und Gradisca, der reichsunmittelbaren Stadt Triest
und der Markgrafschaft Istrien. Teile des Karstgebiets befanden sich in jedem der
drei Kronländer: der größte Teil im Kronland Görz, ein wesentlich kleinerer Teil
in Triest und die Südspitze um das Dorf Dolina in Istrien.
Die drei Kronländer des Küstenlands unterschieden sich sowohl hinsichtlich
ihrer sprachlich-ethnischen Zusammensetzung als auch ihrer politischen Lage. In
Bezug auf Erstere stellt der Bericht fest:
In all three parts of the Austrian littoral […] Slovenes and Italians were living
side by side. In the County of Gorizia the national delimitation was the most
clear along the dividing line running in the direction north-south. Gorizia was
the only ethnically mixed town […]. In Trieste the majority population was
Italian while in the surroundings the Slovene population prevailed. In this
case the size of the Slovene population also increased. Slovenes lived in
northern parts of Istria, mostly in the surroundings of coastal towns in which
Italians prevailed [in Mittel- und Südistrien lebte außer der
15
16
Ebd., 173.
Ebd.
279
280
italienischsprachigen auch eine zahlenmäßig starke kroatischsprachige
Bevölkerung – Anm. M. C.].17
Die ethnisch gemischten Kronländer des Küstenlands wurden, so der Bericht,
genau wie jedes andere Gebiet der Habsburger Monarchie in der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts zunehmend durch den Nationenkampf geprägt:
In the second half of 19th century, the multinational Habsburg Monarchy was
not able to give life to a political system whose state structure would
completely reflect its multinational society. Therefore it was tormented by the
national issue which the Monarchy could not resolve. The Slovene-Italian
conflict is a part of the Habsburg national issue, which was affected by the
processes of modernisation and economic changes which permeated all
Central Europe as well as the area along the Adriatic. Slovene-Italian relations
are marked […] by the dispute between Italians, who advocated the
preservation of the politico-national and socio-economic state of possession,
and Slovenes, who endeavoured to change the existing situation. The issue
became even more complex due to […] the proclamation of the Kingdom of
Italy.18
Die gewaltigste Auseinandersetzung betraf die Sprache, denn die Verfassung
Cisleithaniens gestand jeder landesüblichen Sprache des österreichischen Teils der
Monarchie das Recht zu, als Schul-, Amts- und Kultursprache geschützt und
gefördert zu werden. Erkannte Wien Deutsch, Italienisch, Kroatisch und
Slowenisch als landesübliche Sprachen des Küstenlands an19, verweigerte sich ein
großer Teil der italienischen Öffentlichkeit, den slawischen Sprachen
Landesüblichkeit zuzubilligen. Nur in Görz kam es zu einer relativ guten
Zusammenarbeit zwischen den sprachlich-ethnischen Gruppen, und das
Slowenische konnte sich sowohl in den Ämtern als auch in der öffentlichen
Schule etablieren.20 Verfeindete Nationalismen fanden auch im Kronland Krain
Verbreitung, in dem die Slowenen die Mehrheit der ländlichen Bevölkerung
ausmachten, während die Städte stark deutschsprachig waren und die Deutschen
die wirtschaftlich, gesellschaftlich und kulturell stärkere Gruppe bildeten.
Die nationalistischen Konflikte beeinflussten nach Marušič die
Lebensbedingungen sowohl im küstenländischen als auch im Krainer Teil des
Karsts. Da die Bevölkerung des Karsts „slovenskega rodu“ (slowenischer
Abstammung) war und Deutsche und Italiener nur „v večjih središčih so kot
uredniki, trgovci ali obrtniki živeli“ (in den größten Zentren als Beamte, Händler
oder Handwerker lebten), entwickelte sich hier ein starker antiitalienischer bzw.
17
Slovene-Italian Historical and Cultural Commission, Slovene-Italian Relations, 2001, 7.
Ebd., 6.
19
Kroatisch gilt allerdings nur im Kronland Istrien als landesübliche Sprache, da keine
autochthone kroatischsprachige Gruppe in den Kronländern Triest und Görz lebte.
20
Slovene-Italian Historical and Cultural Commission, Slovene-Italian Relations, 2001, 7, 9.
18
280
281
antideutscher slowenischer Nationalismus, der mehr oder weniger viel Spielraum
besaß – je nachdem, wie die Machtverhältnisse und die politische Lage in den
jeweiligen Kronländern ausfielen.21
Der Nationenkampf an der Nordostadria gipfelte im Ersten Weltkrieg. Stellte
er bislang einen internen Konflikt um die Position der eigenen Nation innerhalb
der nordadriatischen Region und der gesamten Habsburger Monarchie dar,
verwandelte er sich während des Kriegs und der Friedensverhandlungen in eine
internationale Auseinandersetzung.22 Der Karst wurde zum geographischen
Epizentrum dieses Konflikts – zunächst als Kriegsfront zwischen der Habsburger
Monarchie und dem Königreich Italien, später als eine ertrotzte Grenze zwischen
Letzterem und dem 1918 gegründeten Königreich der Serben, Kroaten und
Slowenen.23
1918–1945: Der Bericht der Slowenisch-Italienischen Kommission präsentiert
Zwischenkriegszeit und Zweiten Weltkrieg an der Nordostadria als Jahrzehnte der
Gewalt, in denen aggressiver Nationalismus und Imperialismus die Geschichte der
Region bestimmten. Das gesamte österreichische Küstenland und Westkrain
fielen nach dem Ersten Weltkrieg dem Königreich Italien zu und konstituierten
dessen neue Region Julisch Venetien, in der sich der gesamte Karst befand. Die
italienischen Institutionen taten sich von Anfang an schwer, mit der sprachlichethnischen Vielfältigkeit dieses Gebiets umzugehen.24 Es war allerdings erst die
Machtübernahme des Faschismus, die zur systematischen Unterdrückung der
nationalen Minderheiten Italiens führte. Der Staat versuchte, die Kroaten und
Slowenen Julisch Venetiens zu entnationalisieren, zu assimilieren oder zur
Auswanderung zu zwingen.25 Der Faschismus nahm in Julisch Venetien „an antiSlavic attitude combined with antibolshevism“ an, was in der italienischen
Öffentlichkeit viel Beifall erntete.26 Der Plan einer vollständigen Italianisierung
Julisch Venetiens konnte allerdings nicht umgesetzt werden. Die faschistische
Politik fügte den Kroaten und Slowenen, insbesondere deren wirtschaftlicher und
kultureller Elite, große Schäden zu, konnte aber die südslawischen Sprachen und
Kulturen in Julisch Venetien nicht vernichten.27 Die Slowenen organisierten sich
in einer aktiven Widerstandsbewegung: „[they] decided to respond to violence
21
MARUŠIČ, Na Krasu, 1999, 176–182, Zitat 176. Das deutsch-slowenische Verhältnis im
Krainer Karstteil wird in der vorliegenden Untersuchung nur am Rande betrachtet, da die deutsche
Präsenz im Karst mit dem Untergang der Habsburger Monarchie extrem sank, wohingegen die
italienisch-slowenischen Interferenzen im Karst (vor allem in dessen westlichem Teil) bis heute
aktuell sind. Auch die kroatisch-italienischen bzw. kroatisch-slowenischen Interferenzen in Istrien
seien nur am Rande erwähnt: Sie sind zwar bis in die Gegenwart lebendig geblieben, betreffen das
Gebiet des klassischen Karsts aber nicht direkt und werden hier nur dann berücksichtigt, wenn sie
für dessen Geschichte von Relevanz sind.
22
Slovene-Italian Historical and Cultural Commission, Slovene-Italian Relations, 2001, 10 f.
23
MARUŠIČ, Na Krasu, 1999, 182 f.
24
Slovene-Italian Historical and Cultural Commission, Slovene-Italian Relations, 2001, 12–14.
25
Ebd., 13–16.
26
Ebd., 13. Viele Slowenen aus Julisch Venetien unterstützten hingegen den Sozialismus.
27
Ebd., 16.
281
282
with violence. They resorted to demonstrative and terrorist methods, which
provoked severe repression.“28 Marušič erinnert unter anderem an Angriffe der
Widerstandskämpfer gegen Schulgebäude und einzelne Staatsbeamte im Karst.29
Italienische
Faschisten
und
slowenische
sowie
kroatische
Widerstandskämpfer bekriegten sich im Karst bis in den Zweiten Weltkrieg
hinein, als sich auch deutsche Nazis am Kampf beteiligten. Es gelang den
slowenischen und in Istrien auch den kroatischen Partisanen, gegen Ende des
Krieges weite Teile des Karsts zu kontrollieren. Die Höhlen, die man im
Italienischen als foibe bezeichnet, verwendeten sie für „summary executions“30
ihrer Feinde. Dem Bericht der Slowenisch-Italienischen Kommission zufolge
warfen die Partisanen einige Hundert Gefangene in die foibe: „mostly Italians, and
also the Slovenes who opposed the Yugoslav communist political plan“.31 Grund
für diese Gewalttat sei eine Kombination aus spontanem Racheakt und
politischem Kalkül gewesen: „The initial impulse was instigated by the
revolutionary movement which was changed into a political regime, and
transformed the charge of national and ideological intolerance between the
partisans into violence at the national level.“32
1945–1991: Nach dem Krieg wurde der Karst wieder geteilt, diesmal im
Zusammenhang mit der Zweiteilung Europas im Kalten Krieg. Bereits am Ende
des Zweiten Weltkriegs fielen der Krainer Karst und ein großer Teil des
ehemaligen küstenländischen Karsts an Jugoslawien als Teil dessen föderaler
Republik Slowenien, während Görz samt kleinen Teilen des Görzer Karsts
italienisch wurde. Das Gebiet um Triest, eine enge Landstrecke, die von der
Gemeinde Duino-Aurisina (Devin-Nabrežina) nördlich der Stadt bis nach
Cittanova (Novigrad) in Nordistrien reichte, wurde zum Freien Territorium von
Triest deklariert und zunächst in zwei Verwaltungszonen geteilt: Im Norden (sog.
Zone A um Triest) verwalteten es die Alliierten, im Süden (sog. Zone B in
Nordistrien) die Jugoslawen. Obwohl sowohl Italien als auch Jugoslawien auf
diese Region einen territorialen Anspruch erhoben, sollte das Freie Territorium
nach dem Abkommen zwischen den Siegermächten aufgrund seiner ethnisch
gemischten Bevölkerung unabhängig werden. Es gab nämlich sowohl eine
slowenische Minderheit in der Zone A, deren Karstteil vorwiegend
slowenischsprachig war,33 als auch eine italienische Minderheit in der Zone B, wo
Jugoslawen in die „previously more or less exclusively Italian cities“ einzogen.34
Gesetzlich besaßen beide Gruppen sprachlich-kulturelle Minderheitsrechte. In der
Zone A wurden sie unter angloamerikanischer Verwaltung gewissermaßen
28
29
30
31
32
33
34
Ebd., 17.
MARUŠIČ, Na Krasu, 1999, 185 f.
Slovene-Italian Historical and Cultural Commission, Slovene-Italian Relations, 2001, 24.
Ebd.
Ebd.
MARUŠIČ, Na Krasu, 1999, 188.
Slovene-Italian Historical and Cultural Commission, Slovene-Italian Relations, 2001, 30.
282
283
respektiert,35 während die Jugoslawen in der Zone B versuchten, „to force Italians
– also by way of intimidation and violence – to consent to the annexation to
Yugoslavia“36. Dies brachte viele Italiener dazu, aus der Zone B nach Triest oder
in andere Ortschaften Italiens auszuwandern, insbesondere nach 1954, als die
Alliierten Italien die Zone A überließen, während die Jugoslawen in der Zone B
verblieben.37
Die italienischen Auswanderer aus Istrien „joined the crowd of essentially
Italian refugees from Croatian Istria and Dalmatia, which were under Croatian
sovereignty (200,000 to 300,000 refugees according to the new estimates)“38. Ein
großer Teil dieser Einwanderer ließ sich nicht nur in der Stadt, sondern auch im
vorwiegend slowenisch bewohnten italienischen Karst nieder und „narodnoste
spremembe kraških slovenskih naselij so spremenile tudi njih gospodarstvo in
socialno podobo“ (die ethnischen Veränderungen der slowenischen
Karstsiedlungen änderten auch deren wirtschaftliche und soziale Struktur).39
Der Bericht der Slowenisch-Italienischen Kommission betrachtet die
Zweiteilung des Karsts und die Übersiedlung der istrischen Italiener als freilich
tragische Folge der Gewalttaten der Nazifaschisten und der Spaltungspolitik des
Kalten Krieges; dennoch wird in der Studie auch betont, dass die (Karst-) Grenze
zwischen Italien und Jugoslawien für jene Zeitverhältnisse recht offen und
dynamisch war:
As soon as the Treaty of Peace was concluded, Italy and Yugoslavia, despite
the unsolved problems, started to establish ever closer contacts, so that in the
late sixties the border between them was considered to be the most open
border between two European countries with different social systems. The
credit for this goes mostly to both minorities. Consequently, after decades of
heated discussions, and despite periodic deadlocks, the neighbouring nations
finally found their way towards promoting fruitful cooperation.40
Marušič bestätigt den Bericht, indem er anmerkt, dass sich der slowenische Teil
des Karsts in der Nachkriegszeit touristisch weiterentwickelte und sich der
Lebensstandard erhöhte:
povečal se je turistični pomen in visoko se je dvignila kulturna (na primer
skrb za kraško kulturno dediščino) in civilizacijska raven življenja
prebivalcev Krasa (izgradnja kraškega vodovoda).41
35
36
37
38
39
40
41
Ebd., 27 f.
Ebd., 29.
Ebd., 25–27.
Ebd., 30.
MARUŠIČ, Na Krasu, 1999, 188 f.
Slovene-Italian Historical and Cultural Commission, Slovene-Italian Relations, 2001, 31.
MARUŠIČ, Na Krasu, 1999, 189.
283
284
[Die Bedeutung des Tourismus nahm zu und das kulturelle und zivilisatorische
Lebensniveau erhöhte sich stark, z. B. was die Pflege des Kulturerbes und den
Bau von Wasserleitungen anbelangt.]
Seit 1991: Marušič’ knappe Anmerkungen bezüglich der Zeit nach 1991, als
Slowenien die Unabhängigkeit von Jugoslawien erlangte, beschränken sich
darauf, die traditionelle Grenzrolle des Karsts noch einmal zu betonen:
Pravzaprav se je že okrepila njegova obmejna lega (od leta 1991 meji na dve
državi, Italijo in Hrvaško) in z gradnjo avtomobilskih cest […] se je (in še se
bo) okrepila njegova prometna naloga.42
[Seine Rolle als Grenze hat sich im Grunde verstärkt (seit 1991 grenzt er an
zwei Staaten, Italien und Kroatien). Mit dem Bau der Autobahnen […] hat
sich seine Rolle als Transitraum bereits gefestigt und das wird sie noch mehr
tun.]
2.1.2 Struktur des Narrativs
Sowohl die Slowenisch-Italienische Historische Kommission als auch Marušič
erläutern
die
Geschichte
des
Grenzlands
Karst
anhand
eines
Interpretationsmusters, das sich im Wesentlichen durch folgende Äquivalenz
ausdrücken lässt: Italiener (bzw. Deutsche) = Stadt versus Slowenen (bzw.
Kroaten) = Land. Die Slowenisch-Italienische Kommission reflektiert und
relativiert die historiographische Relevanz dieser Äquivalenz, bestätigt diese aber
im Grunde auch als wichtigen Fokus der italienisch-slowenischen Verhältnisse.
The characteristic feature of Italian and Slovene settlements on the Austrian
littoral consisted in Slovenes forming mostly the rural population, and Italians
mostly the urban population. This phenomenon is not to be considered as
absolute. One should not forget the Italian rural areas in Istria and the County
of Gorizia, the so-called East Friuli, as well as the Slovene population in the
towns of Trieste and Gorizia which grew in number as already mentioned.
Although a too strongly marked distinction between the urban and the rural
reality should be avoided, the relation between the city and the country was in
fact one of the basic focal points of political struggle on the Littoral (the
Primorska); it introduced a mixture of national and social elements to the
Slovene-Italian conflict, thus impeding its settlement. The focal point of the
relation between the town and the country was at the same time the centre of
the ongoing political and historiographic debate on the real national image of
the Littoral. The Slovene side considered that the town belonged to the
country, since rural areas should preserve their intact original identity of the
given environment, free from cultural and social processes, and since the
42
Ebd.
284
285
national image of towns was considered to have been a consequence of
assimilation processes which impoverished the Slovene nation. Slovenes
suffered the loss of national identity in the process of assimilation after
several decades of still painful and dramatic experience which should not be
repeated. The Italian side rejected this by referring to the principle of national
affiliation as the consequence of a free cultural and moral choice, and not of
an ethnic-linguistic origin. According to the Italian interpretation of the
relation between the town and the country, the cultural and civilian tradition
of towns should create the image and the character of the surrounding
territory. Such a different formulation later stirred up the conflict about the
concept of an ethnic border and about the significance of statistics on the
nationality of the population in border areas, which – according to Slovenes –
were presumably distorted by the presence of mainly Italian urban centres.43
Die kategorische Gegenüberstellung von Stadt und Land, die die italienischslowenische politische und historiographische Auseinandersetzung charakterisiert,
wird von der Historikerin Marta Verginella in ihrem Aufsatz „,Stadt‘ und ,Land‘.
Paradigma einer ethnozentrischen Lesart“ (2007) als zu pauschal kritisiert:
In der politischen Geschichte Julisch Venetiens, […] wird das Wortpaar Stadt/
Land gebraucht, als sei es ein Paradigma, das in der Lage wäre, Differenz
nicht nur ökonomischer Art zwischen den zwei geographisch
aneinandergrenzenden Wirklichkeiten nachzuweisen, sondern vor allem einer
dualistischen Darstellung des Raumes in kultureller und ethnischer Hinsicht
Gültigkeit zu verschaffen und eine scharfe Demarkationslinie zwischen
italienischer und slawischer Welt zu ziehen.44
Verginella merkt an, dass die Historiker der Slowenisch-Italienischen
Kommission an die Existenz einer relativ beständigen Demarkationslinie
zwischen Italienern und Slowenen bzw. Stadt und Land zu glauben scheinen,
obwohl sie dieser Linie keine „absolute Gültigkeit“ beimessen.45 Der Bericht der
Kommission liest sich nach Verginella „wie eine Verflechtung zweier nationaler
Meistererzählungen über nationale ,Peripherien‘. Man scheint sich einig zu sein,
dass die ,authentische Physiognomie‘ Julisch Venetiens als historisches Produkt
der ,überwiegend italienischen‘ Städte und des ,großteils slowenischen Landes‘ zu
interpretieren sei“46. Eine solche dualistische Darstellung der Geschichte führt
Verginella zufolge zu einer starken Vereinfachung der historischen Lage der
Region und dient alten ethnozentrischen Denkmustern, nach denen Stadt, Land
43
Slovene-Italian Historical and Cultural Commission, Slovene-Italian Relations, 2001, 7 f.
Hervorhebungen M. C.
44
VERGINELLA, Paradigma, 2007, 45. H. i. O.
45
Ebd., 45.
46
Ebd., 46.
285
286
und Nation keine historisierbaren Sachzusammenhänge bilden, sondern kulturelle
Konstanten.
Verginella hinterfragt den argumentativen Fokus des Berichts der
Slowenisch-Italienischen Kommission am Beispiel der italienischen Politik und
Geschichtsschreibung über die Nordostadria, dem zufolge die Stadtkultur der
Landkultur überlegen sei.47 Diese Position greife auf alte historiographische
Schemata zurück: Verginella erwähnt z.B. den Historiker Ernesto Sestan, der in
seiner Studie „Venezia Giulia. Lineamenti di una storia etnica e culturale“ (Julisch
Venetien. Grundzüge einer ethnischen und Kulturgeschichte, 1947)48 die
italienischen Einwohner der istrischen Städte als „Teil der Avantgarde der
europäischen Zivilisation“ und die slawischen Bauern als unzivilisierte Menschen
„weit entfernt von jeder geistigen Tätigkeit“ bezeichnete.49 Sestan verstand sich
eigentlich als Demokrat und plädierte für die Berücksichtigung der Rechte von
Slowenen und Kroaten im italienischen Staat. Dennoch hatte er keine Zweifel an
der Existenz eines deutlichen kulturellen Unterschieds zwischen der Stadtkultur
der zivilisierten Italiener und der Landkultur der barbarischen Slawen. Verginella
erinnert daran, dass dieser Ausgangspunkt dem nationalkulturellen
Überlegenheitspostulat des italienischen Faschismus nahe steht, obwohl Sestan im
Unterschied zu den Faschisten Imperialismus und Entnationalisierung der
Südslawen nicht befürwortet, sondern eine versöhnliche, aber zugleich
paternalistische Haltung gegenüber Kroaten und Slowenen einnimmt.
Verginellas Kritik kann auf die slowenische Geschichtsschreibung ausgedehnt
werden, da diese ihrerseits traditionell die Überlegenheit des Landes gegenüber
der Stadt behauptet und sich als genauso ideologisch wie die von der italienischen
Geschichtsschreibung vertretene umgekehrte Sicht erweist. Die slowenische ProLand-Position kann politisch als antibürgerliche marxistische Prägung der
slowenischen Wissenschaft im sozialistischen Nachkriegsjugoslawien gedeutet
werden, aber sie lässt sich auch mit einem älteren nationalkulturellen Diskurs in
Verbindung bringen, d.h. mit der Stilisierung der slovenkost (Slowenität) als
„pristen stik z naravo“ (echtes Verhältnis zur Natur).50 Dem Kulturwissenschaftler
Peter Stankovič zufolge profiliert sich die slowenische Kultur traditionell als
natur- und landnah, wie man am Beispiel von Literatur, Malerei und Film zeigen
kann, die einen starken Akzent auf das slowenische Land und die slowenische
Bauernwelt setzen.51 Der Glauben an ein privilegiertes Verhältnis zur Natur sei so
47
Verginella wählt die italienische und nicht die slowenische Geschichtsschreibung, um das
historiographische Stadt-Land-Paradigma zu dekonstruieren, weil dieses „in der internationalen
Forschungslandschaft“ auch aus sprachlichen Gründen „die meiste Aufmerksamkeit“ findet
(VERGINELLA, Paradigma, 2007, 46).
48
SESTAN, Venezia Giulia, 1947.
49
Zitiert aus VERGINELLA, Paradigma, 2007, 52.
50
STANKOVIČ, Rdeči trakovi, 2005, 84. Stankovičs Überlegungen beziehen sich auf die
slowenischen Partisanenfilme, sind jedoch auf die historiographische Auffassung des Stadt-LandVerhältnisses durchaus anwendbar.
51
Stankovič erwähnt folgende Beispiele: für die Literatur „Cvetje v jeseni“ (Blumen im
Herbst), eine povest (lange Erzählung oder kurzer Roman) Ivan Tavčars (1917), die eine
286
287
stark in der slowenischen Kultur verankert, dass er seine Wurzeln sogar in die
Sprachwissenschaft geschlagen habe, wie Stankovič anhand eines Zitats des
Sprachwissenschaftlers Janez Gradišnik veranschaulicht: „Das Slowenische kann
eine lebendige Sprache nur in dem Maße sein, in dem es aus dem Wortschatz
schöpft, den ,unsere‘ Bauern schufen“52.
Verginella setzt sich in ihrem Aufsatz nicht explizit mit der slowenischen
Geschichtsschreibung auseinander, aber ihre Einwände gegen die kollektive
Arbeit der italienisch-slowenischen Kommission deuten darauf hin, dass sie
beiden historiographischen Traditionen vorwirft, einem „obsolete[n], von einer
vorbestimmten kulturellen Substanz ausgehende[n] Kulturverständnis“ zu folgen,
das zu einer Essentialisierungen und prinzipiellen Gegenüberstellung von Stadt
und Land verleite.53 Diesem Kulturkonzept fehle das Bewusstsein der historischen
Konstruiertheit von Kulturen, die keine Substanzen, sondern mobile, „von
Menschen erwogene Sinnnetzwerke“ bilden.54 Verginella beruft sich am Ende
ihres Aufsatzes auf die Kritik am Ethnozentrismus der Historiographie, die
zunächst von Cultural und Postcolonial Studies und später seitens historischer
Anthropologie und Kulturgeschichte geübt wurde, und spricht sich für eine
Reflexion der kulturellen Differenzen zwischen Italienern und Slawen an der
Nordostadria aus, die ihren Entstehungskontext historisieren würde.55 Die
zeitgenössische Geschichtsschreibung solle zeigen, wie die Gegenüberstellung
von italienischer Stadtwelt und slowenischer Landwelt im 19. Jahrhundert zu
einem ideologischen Paradigma geworden sei, das das nationalistische
Verständnis von Geschichte bis heute fundiere.
2.2 Kraken-Karst
Verginella hat ihr Vorhaben in mehreren Studien umgesetzt, u.a. in „La campagna
triestina“ (Das Triester Land, 2003) und „Città e campagna nel tramonto
asburgico: un villaggio al confine fra Istria e Slovenia“ (Stadt und Land am Ende
der Habsburger Monarchie. Ein Dorf an der Grenze zwischen Istrien und
Slowenien, 1990), in denen sie sich mit dem näheren Triester Karst beschäftigte.
Ausgangspunkt beider Aufsätze ist die Vorgeschichte des modernen Triest-KarstVerhältnisses, das bereits im Mittelalter und in der Neuzeit nicht besonders positiv
war und im 19. und 20. Jahrhundert großen Veränderungen unterlag, die mitunter
Liebesgeschichte auf dem Land beschreibt; für die Malerei das Werk France Kraljs, das sich mit
dem Leben der Bauern auseinandersetzt; für den Film die ersten beiden slowenischen
abendfüllenden Spielfilme „V kraljestvu zlatoroga“ (In Goldhorns Königreich, 1931) und
„Triglavske strmine“ (Triglavs Steilhänge, 1932), welche die slowenische Berglandschaft
thematisieren, STANKOVIČ, Rdeči trakovi, 2005, 84 f. – Zu Tavčar und der Tradition des
Bauernromans in Slowenien siehe auch HLADNIK, Strategien, 2009, 71–88.
52
STANKOVIČ, Rdeči trakovi, 2005, 84.
53
VERGINELLA, Paradigma, 2007, 60.
54
Ebd.
55
Ebd.
287
288
auch zum offenen Konflikt und zur Nationalisierung beider Räume führten. Dabei
hebt Verginella besonders hervor, dass die Entstehung dieses nationalen StadtLand-Konflikts weder eine konsequente und stabile Spaltung bewirkte noch die
volle Komplexität der kulturellen Verflechtungen in der Region erschöpfen
konnte.
Verginella erinnert wie Marušič daran, dass sich der Karst im Mittelalter und
in der Neuzeit außerhalb der Gerichtsbarkeit Triests unter der Herrschaft
verschiedener adliger Familien befand. Dies bewirkte, dass die Beziehungen
zwischen der Stadt und ihrem Umland bis zum 18. Jahrhundert, d.h. bis zur
Verwandlung Triests in eine Großhafenstadt, recht lose waren. Sie bestanden
aufgrund der Tatsache, dass die Triester Patrizier einige Landgüter in
unmittelbarer Nähe von Triest besaßen, auf denen sie bestimmte Produkte für den
Stadtverbrauch (Wein, Öl, Brot usw.) herstellen ließen. Ansonsten waren die
Honoratioren an der Verwaltung ihres Besitztums im Karst relativ desinteressiert
und verpassten in der späten Neuzeit die Gelegenheit, ihre Güter
marktwirtschaftlich zu verwerten.56 Zur politisch-administrativen Trennung kam
die kirchliche Spaltung: Die meisten Karstdörfer der Triester Umgebung wurden
von Bistümern mit Landbesitz in Görz und Krain verwaltet. Diese Kluft zwischen
Triest und seinem Umland konnte durch die Verwaltungsreform der
Habsburgermonarchie im 18. und 19. Jahrhundert nicht wirklich verringert
werden, da der Triester Karst (mit Ausnahme der Stadtvororte) von Görz und in
seinem äußersten Südteil von Koper verwaltet wurde.
Verginella bestätigt die Anmerkung von Marušič, dass der Aufstieg Triests als
moderner Reichshafen, Emporium der Monarchie und industrielles Zentrum Stadt
und Land einander näherbrachte, aber sie betont, dass die „forte frammentazione
amministrativa
ed
ecclesiastica“
(starke
kirchliche
und
Verwaltungsfragmentierung) den Ursprung zentripetaler Verbindungen bildet, die
bis 1900 mit der wirtschaftlichen Anziehung des wichtigsten urbanen Zentrums
der Region – Triest – nicht im Einklang standen.57 Das Weiterbestehen des
„modello policentrico, prodotto della società di antico regime“ (polyzentrischen
Modells, Produkt der Gesellschaft des ancient régime) bestimmte die „capacità di
resistenza della campagna triestina di fronte alla modernizzazione della città“
(Widerstandsfähigkeit des Triester Umlands gegenüber der Stadt).58 Überdies
entwickelten sich die neuen Beziehungen zwischen dem modern werdenden Triest
und dem Karst in Richtung einer gewissen Asymmetrie zuungunsten des Karsts.
Das Stadtleben beruhte auf dem Seehandel sowie auf dem Handel mit der
Habsburger Monarchie und ganz Europa – das waren Bereiche, in denen der Karst
nur als Transitraum eine Rolle spielte. Die Triester Behörden und Unternehmen
interessierten sich dementsprechend für den Aufbau neuer Verkehrswege und
nahmen die Karstbevölkerung vor allem dann wahr, wenn es darum ging, billige
Arbeitskräfte für die Bauarbeiten zu rekrutieren. Auch diesbezüglich war die Stadt
56
57
58
VERGINELLA, La campagna triestina, 2003, 470–472.
Ebd., 462.
Ebd.
288
289
von ihrem Umland
relativ unabhängig: Aufgrund
der
starken
Einwanderungsquoten konnte man direkt in Triest zahlreiche Arbeitssuchende für
die Errichtung des Straßen- und Eisenbahnnetzes auf dem Karst finden, die nicht
unbedingt aus diesem Gebiet stammten.59 Der einzige Bereich, in dem die Stadt
tatsächlich stark von ihrem Umland abhängig blieb, war die Belieferung mit
bestimmten Produkten, meist Nahrungsmitteln, die traditionell von der
Karstbevölkerung in der Stadt verkauft wurden.
Nichtsdestoweniger boten Eisenbahn, Hafen und Fabriken den
Karstbewohnern neue Arbeitsgelegenheiten, die zu einem großen
gesellschaftlichen Wandel im Karst führten. Arbeitstätigkeiten in der Stadt und
für die Stadt wurden anfänglich parallel zum Ackerbau als Nebenberufe ausgeübt,
sodass im 19. Jahrhundert die Figur des „Bauern-Arbeiters“ im Karst Verbreitung
fand.60 Als das Verhältnis zwischen Karsteinwohnern und anbaufähigem
Karstland zu Beginn des 20. Jahrhunderts sein relatives Gleichgewicht verlor,
wurden viele Bauern-Arbeiter allerdings zu reinen Arbeitern und zogen oft in die
Stadt, da sie auf dem Land keine Beschäftigung mehr finden konnten. Viele
ländliche Vororte der Stadt verwandelten sich somit im Zuge der gewaltigen
Zunahme der Stadtbevölkerung allmählich in Arbeiterviertel: „Ai primi del
Novecento l’inurbamento diventa una scelta reale fra condizione contadina e
condizione urbana“ (Am Anfang des 20. Jahrhunderts bedeutet die Migration in
die Stadt eine endgültige Entscheidung entweder für das Bauern- oder das
Stadtleben).61 Dennoch hielten viele Arbeiter noch Kontakt zu ihrem Dorf und
einige wohnten nach wie vor auf dem Land. Gerade diese Verbindung erwies sich
nach Verginella als große kulturelle Herausforderung für den Karst. Bis zum Ende
des 19. Jahrhunderts behielt das Triester Umland „i connotati di una società
tradizionale, ,centrata sulla coesione rassicurante dei legami familiari,
caratterizzata da una precoce età al matrimonio, da una forte natalità e da
un’incidenza molto ridotta delle nascite illegittime‘“ (die Merkmale einer
traditionellen
Gesellschaft‚
,die
auf
der
Geborgenheit
durch
Familienzusammenhalt basierte und sich durch frühe Eheschließungen, eine hohe
Geburtenrate und wenig uneheliche Kinder unter den Neugeborenen
auszeichnete‘).62 Die Arbeiter vollzogen in der Stadt allerdings einen
Mentalitätswechsel: Sie begannen individualistischer zu denken, heirateten später
und waren „indifferenti sia alla gestione collettivistica dei beni comunali sia al
controllo ecclesiastico“ (gleichgültig sowohl gegenüber der kollektiven
Verwaltung des Gemeindebesitzes als auch der kirchlichen Kontrolle) im Dorf.63
Diese kulturelle Wende löste komplexe gesellschaftliche Prozesse aus, die
Verginella am Beispiel der Geschichte des Karstdorfs Dolina untersucht hat. Hier
59
60
61
62
Ebd., 463.
Ebd., 472.
Ebd., 464.
Ebd. Das Zitat im Zitat stammt aus BRESCHI/ KALC/ NAVARRA, La nascita di una città, 2001,
167.
63
VERGINELLA, Città e campagna, 1990, 188.
289
290
reagierte die Dorfelite auf das Eindringen der modernen Stadt- und Arbeiterkultur
auf zweierlei Weise: Die Kirche appellierte an die Werte der katholischen Moral,
während sich die Obersten der Gemeinde, meist wohlhabende Bauern, auf die
Verantwortung gegenüber der Dorfgemeinschaft und auf die Arbeitsethik
beriefen. Beide Institutionen polemisierten gegen die Stadt, die als ein Ort der
Verderbnis oder zumindest der nachlässigen Moral betrachtet wurde; dennoch
bedienten sie sich in ihrem „Kulturkampf“ der typisch bürgerlichen Institution des
Vereins. Um die Kohäsion und das Spezifikum der ländlichen Kultur zu
verstärken, wurden mehrere Organisationen gegründet: Es entstanden
landwirtschaftliche Vereine wie die „Kmetijska in vrtnarska družba za Trst in
okolico“ (Bauern- und Winzergesellschaft für Triest und Umgebung) und
Freizeitvereine
wie
die
katholische
„Dekliška
Marijina
družba“
(Mädchengesellschaft der Heiligen Marie)64, in der junge Mädchen auf Ehe,
Mutterschaft und Haushalt vorbereitet wurden. Außerdem wurden
Gemeindeverordnungen verabschiedet, die den negativen Einfluss der Stadt
konterkarieren sollten: Die Dorfgemeinde Dolina verbot die Eröffnung neuer
Gaststätten, weil „molti operai consum[avan]o parte o l’interezza dello stipendio
settimanale nelle osterie poste lungo la strada che collega Trieste con Dolina“
(viele Arbeiter ihren Wochenlohn in den Kneipen entlang der Straße zwischen
Triest und Dolina teils oder ganz ausgaben)65.
Verginella merkt an, dass diese kulturelle Verteidigung der Spezifizität des
Landes gegen die Stadt sehr ambivalente Züge trägt, weil sie sich letztendlich
gerade an bürgerlichen Werten orientiert, wie es am Beispiel der Frauenerziehung
besonders deutlich wird: „Le autorità locali […] cercano di imporre di fatto una
,responsabilità borghese‘ mediata dalle donne“ (Die lokalen Behörden […]
versuchten in der Tat, eine von den Frauen vermittelte ‚bürgerliche
Verantwortlichkeit‘ durchzusetzen]66. Für die jungen Frauen der „Dekliška
Marijina družba“ erachtete man lediglich den häuslichen Raum als geeignet. Die
Arbeit auf dem Land, an der in einer traditionellen Landgemeinschaft auch die
Frauen teilnahmen, war für sie nicht mehr vorgesehen.67 In ähnlicher Weise
widerspiegeln die politischen Maßnahmen der Gemeinde, z.B. gegen die
Eröffnung neuer Gaststätten, eine bestimmte bürgerliche männliche Moral und
politische Praxis der Stadtbehörden. Das Land bekämpfte die Stadt durch die stille
Übernahme ihrer Kultur.
64
Ebd., 212–218; VERGINELLA, Marta, La campagna triestina, 2003, 475.
VERGINELLA, Città e campagna, 1990, 217.
66
Ebd., 218.
67
Ebd., 216. Die Frauen vom Karst begannen Ende des 19. Jahrhunderts auch in der Stadt zu
arbeiten, wo sie verschiedene Landprodukte (Brot, Milch, Blumen) verkauften, um Geld zu
verdienen. Letzteres wurde allerdings Ende des 19. Jahrhunderts vornehmlich von den Männern
im Hafen und in den Fabriken der Stadt verdient, sodass sich die Frauen seit dieser Zeit wieder auf
die Landarbeit konzentrieren mussten, welche die von Bauern zu Arbeitern gewordenen Männer
nicht mehr verrichteten (VERGINELLA, Città e campagna, 1990, 188). Diese Funktion der Frauen
als Teil des Arbeitslebens des Dorfes stand allerdings im Konflikt mit der Verbreitung des
bürgerlichen Familienmodells auf dem Land.
65
290
291
Der Nationalkonflikt zwischen Italienern und Slowenen baute Verginella
zufolge auf der bereits existierenden Spaltung zwischen Karst und Triest und auf
deren Ambivalenz auf:
Nella seconda metà dell’Ottocento l’omogeneità etnica del territorio triestino,
popolato quasi esclusivamente dagli sloveni, agisce da forte fattore coagulante
di fronte al processo di urbanizzazione. Il processo della nazionalizzazione
della società slovena coinvolge intensamente tutta la campagna triestina che
dagli anni Sessanta dell’Ottocento in modo sempre più attivo conduce la sua
lotta contro il mondo urbano e industriale che attacca la sua produzione, ma
anche i suoi costumi e la sua lingua. L’identificazione nazionale della
campagna triestina dà un senso alla conflittualità economica e culturale tra
Trieste e il suo entroterra.68
[In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fungierte die ethnische
Homogenität des Triester Umlands, das fast nur von Slowenen bevölkert war,
als Aggregationsfaktor gegenüber dem Urbanisierungsprozess. Die
Nationalisierung der slowenischen Gesellschaft betraf das ganze Triester
Umland sehr stark. Dieses führte ab den 1860er Jahren einen zunehmend
aktiven Kampf gegen die urbane und industrielle Welt, die nicht nur die
Landwirtschaft, sondern auch Sitten und Sprache bedrohte. Die nationale
Identifikation des Triester Umlandes [mit dem Slowenentum] ermöglicht es
dessen Einwohnern, die wirtschaftliche und kulturelle Spannung zwischen
Triest und seinem Hinterland einzuordnen.
Wirtschaftliche, religiöse, moralische und andere Unterschiede zwischen Stadt
und Land wurden durch die nationale Differenz überlagert, die in jedem
gesellschaftlichen Bereich zum wichtigsten kulturellen Deutungs- und
Handlungsmuster avancierte. Denn die meisten Einwohner des Triester Karsts,
deren Mutter- und Hauptumgangssprache überwiegend das Slowenische war,
konnten sich einerseits mit dem Land und andererseits mit der slowenischen
Nation leichter identifizieren als mit anderen Identitätsprofilen. Das Binom Karst/
Slowenen war außerdem flexibel genug, um sich verschiedenen Situationen
anzupassen. Die Arbeiter, die vom Land in die Stadt gezogen waren und ihren
Lebensstil geändert hatten, konnten sich über die gemeinsame Muttersprache und
nationale Zugehörigkeit immer noch mit dem Karst verbunden fühlen.
Gleichzeitig ermöglichte die stille Übernahme bestimmter bürgerlicher
Lebensvorstellungen eine neue Selbstwahrnehmung der Dorfbewohner, die sich
gewisse Merkmale der modernen Gesellschaft aneigneten, indem sie diese mit der
Tradition kombinierten, anstatt mit ihr radikal zu brechen.69
68
VERGINELLA, La campagna triestina, 2003, 464.
Eine wichtige Ergänzung dieser Argumente wäre die Berücksichtigung des Triester
slowenischsprachigen Klein- und Großbürgertums, das am Ende des 19. Jahrhunderts eine
unübersehbare Größe darstellte. Die slowenischsprachige Mittel- und Oberschicht der Stadt war
69
291
292
Verginellas Studien über den Karst historisieren das nordostadriatische
nationale Paradigma, das die Italiener der Stadt und die Slowenen dem Land
gleichstellt, und deuten es als Konstrukt, das die Interaktion verschiedener
Prozesse diskursiv organisiert und zugleich performativ steuert. Obwohl dieses
Konstrukt auf den ersten Blick als bündig und kohärent erscheint, birgt es
bewegliche und widersprüchliche Interferenzen, deren Feststellung und
Erläuterung für Verginella eine entscheidende Aufgabe der Historiographie
bilden. In Anlehnung an Clifford Geertz bezeichnet die Historikerin am Ende
ihres Aufsatzes über Stadt und Land die Kulturen als Kraken: Sie bewegen sich
zwar „durch die Synergie ihrer fließend miteinander in Einklang gebrachten Teile
insgesamt als Ganzes“, aber sie vermögen es, „durch getrennte Bewegungen
einzelner Teile Richtungsänderungen zustande zu bringen“.70 Die ganze
Bewegung des „Kraken-Karsts“ im 19. und 20. Jahrhundert ergibt sich aus der
Interaktion (Interferenz) seiner zahlreichen Fangarme, zu denen u.a. die
Industrialisierung und Modernisierung der Wirtschaft, die Zentralisierung und
zugleich Vervielfältigung der Gesellschaft sowie der Ethnien- und Nationenkampf
zählen. Letzterer bildet nicht den einzigen Fangarm des Karsts, wie das nationale
Denkmuster suggeriert, sondern einen – wenngleich wichtigen – von mehreren in
der Geschichte des Karstgebiets, der die Bewegung der anderen Fangarme nicht
immer zu steuern vermag. Bei Verginellas Kraken-Karst handelt es sich um eine
Darstellung des plastischen Karsts, die alternativ zum Fokus-Karst von Marušič
und der Slowenisch-Italienischen Kommission steht, weil sie dessen zentrale
Perspektive hinterfragt und nicht nach einem vermeintlichen Brennpunkt der
Karstgeschichte sucht, sondern nach dem, was sich diesem zentral(isierend)en
Standpunkt entzieht.
3. Karstuntergrund I: Interkultureller und transkultureller Karst
Die Unterschiede zwischen Verginellas Bild vom Kraken-Karst und dem FokusKarst in den historischen Repräsentationen von Marušič und der SlowenischItalienischen Kommission lassen sich in den Kontext der gegenwärtigen
wissenschaftlichen Auseinandersetzungen über die Konzeptualisierung von Kultur
stellen. Diese Diskussion soll im Folgenden kurz zusammengefasst werden, um
die Genealogie der historiographischen Karstbilder von Verginella sowie von
Marušič und der Slowenisch-Italienischen Kommission zu rekonstruieren. Als
zentraler Aspekt der Debatte wird hier die Gegenüberstellung von Interkulturalität
und Transkulturalität71 betrachtet, oder – mit anderen Worten – von klassischer
nicht selten selbst ländlicher Herkunft und unterhielt komplexe Verbindungen zum Triester Karst,
bei denen der Nationalismus eine vereinende Rolle über die lebensweltlichen und sozialen
Unterschiede hinweg übernehmen konnte. Zum slowenischen Triester Bürgertum siehe z.B.
PIRJEVEC, Introduzione alla storia culturale, 1982 und CATTARUZZA, Nationalitätenkonflikte in
Triest, 1988, 720.
70
VERGINELLA, Paradigma, 2007, 60.
71
WELSCH, Transkulturalität, 2000, 327-351.
292
293
Interkulturalität
und
kritischer
Multikulturalität72
bzw.
klassischer
73
Multikulturalität und doch innovativer Interkulturalität sowie jeder anderen
Konzeptualisierung dessen, was sich jenseits „vorübergehender Multikulturalität“
befindet.74 Obwohl die Terminologie der gesamten Diskussion instabil ist, kann
man innerhalb dieser ein relativ beständiges Spannungsfeld feststellen zwischen
Ansätzen, die die Existenz fester Unterschiede zwischen Kulturen betonen, und
Herangehensweisen, die die Möglichkeit von Kulturvermengung und transformation in den Vordergrund stellen.
Es ist kein Zufall, dass sich Verginellas Kraken-Bild auf den Anthropologen
Clifford Geertz bezieht, denn die Anthropologie ist eine jener Wissenschaften
gewesen, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Revidierung unseres
Kulturkonzepts angestoßen haben.75 Die Anthropologin Matilde Callari Galli
betrachtet in ihrem Aufsatz „I percorsi della complessità umana“ (Die Wege der
menschlichen Komplexität, 1998) die Entstehungsgeschichte des Begriffs der
Interkulturalität als Produkt des ethnozentrischen Paradigmas.76 Die traditionelle
Definition von Interkulturalität setzt die Existenz eindeutig getrennter und
unterschiedlicher Kulturen voraus, die eventuell zur Interaktion gelangen:
Die Entwicklung der Idee, dass die Kultur als ein [geschlossenes]
Bedeutungssystem betrachtet werden musste, verstärkte die Auffassung der
Welt als eine Menge von in sich geschlossenen Kulturen. […] Als Gesamtheit
geteilter Bedeutungen muss sie [eine Kultur] als von den anderen Kulturen
stark getrennt betrachtet werden. Diese haben wiederum eigene Bedeutungen
und eine eigene holistische Logik.77
Es ist das Beharren auf der klaren Unterscheidbarkeit von Kulturen sowie auf
deren universalisierender (holistischer) Valenz, was laut Callari Galli als
ethnozentrisch zu bezeichnen ist. Dabei sahen die Anthropologen und Ethnologen
ihre interkulturellen Analysen in der Regel als ein wirksames Mittel, um das
Verständnis von anderen Kulturen zu vertiefen und keineswegs als Zeichen der
Ablehnung bzw. Missbilligung des Anderen: „Aus politischer Perspektive hat sie
[die Interkulturalität] den Kampf gegen den im Europa der 1920er und 1930er
Jahre öffentlich behaupteten Rassismus ermöglicht. Zugleich hat Interkulturalität
dazu angespornt, die Betonung der Unterschiede, einschließlich der extremsten,
nicht zu vernachlässigen.“78 Trotz ihres Engagements für kulturelle Anerkennung
trug Interkulturalität teilweise aber dazu bei, den kulturellen Status quo zu
verteidigen. Sie „entsprach der politischen Ordnung einer Welt, die ihre ‚absolute‘
72
BENNETT, Cultura e differenza, 2006, 22-25.
ISAR, Una „deontologia interculturale“, 2006, 68 f.
74
CHAMBERS, La casa degli spettri, 2006, 41 f. Chambers scheint „vorübergehend“ (transitorio)
im Sinne von „nicht strukturell“ und „nicht grundsätzlich“ zu verwenden.
75
BACHMANN-MEDICK, Kulturanthropologie, 2008.
76
CALLARI GALLI, I percorsi, 1998, 194.
77
Ebd.
78
Ebd., 193.
73
293
294
Hierarchie zwar aufgeben musste, aber eine ‚relative‘ bewahren wollte. Das
ungleiche [kulturelle] Verhältnis, das in der Wirtschaft und der Politik affirmiert
und verteidigt wurde, ermöglichte es, die verschiedenen Kulturen durch eine
interkulturelle Beziehung erst ab jenem Zeitpunkt zu verbinden […], als sie dem
Westen begegneten“79.
Die erste große Herausforderung für das traditionelle interkulturelle Denken
ist nach Callari Galli die Feststellung gewesen, dass die verschiedenen Kulturen in
der modernen Welt keinen jeweils eigenen Ort besitzen. Man kann nicht mehr
behaupten, dass ein bestimmter Ort durch eine einzige spezifische Kultur geprägt
ist. Migration, Kolonialismus und technische Entwicklung haben zur Verbreitung
multikultureller
Orte
geführt,
deren
kulturelle
Dynamik
zum
Forschungsgegenstand der Anthropologie und Ethnologie geworden ist. Dabei
scheinen diese Disziplinen die Multikulturalität mit ähnlichen Zielen zu
erforschen, wie sie sie bei der Untersuchung von Interkulturalität im Visier haben.
Nach dem Philosophen Wolfgang Welsch suchen sie „nach Chancen der
Toleranz, Verständigung, Akzeptanz und Konfliktvermeidung oder
Konflikttherapie“80 und stellen dabei keineswegs in Frage, dass sich verschiedene
Kulturen prinzipiell voneinander trennen lassen. Insofern bildet Multikulturalität
Welsch zufolge einen Sonderfall von Interkulturalität und geht von deren
Kulturmuster aus: „Es geht von der Existenz klar unterschiedener, in sich
homogener Kulturen aus – nur jetzt innerhalb ein und derselben staatlichen
Gemeinschaft.“81
Die inter- und multikulturelle82 Idee der Geschlossenheit und Abgegrenztheit
der einzelnen Kulturen sei in den letzten Jahrzehnten allerdings bezweifelt
worden:
Die kulturelle „Gesamtheit“ scheint heute eher eine narrative Strategie zu sein
als eine empirische Wahrheit, die objektiv anwesend ist. Die
Mehrstimmigkeit, die Polyphonie ersetzt den Monolog, und wenn die
Anthropologen weiter von Kultur sprechen wollen, müssen sie es mit dem
Bewusstsein tun, dass die Kulturen nicht als ganzheitliche analytische
Einheiten betrachtet werden können, sondern Risse und Aufsplitterung
aufweisen. Sie müssen die Fluidität und Dynamizität der Kulturen beachten
und die Tatsache berücksichtigen, dass die kulturellen Veränderungen in
Echtzeit
geschehen.
Sie
müssen
ihre
Explosionen
und
83
Wiederzusammenfügung verfolgen […].
79
Ebd., 194.
WELSCH, Netzdesign der Kulturen, 2001.
81
Ebd.
82
In Anbetracht der Tatsache, dass die Multikulturalität eine Ableitung des interkulturellen
Denkens darstellt, soll im Folgenden der Einfachheit halber nur von Interkulturalität gesprochen
werden.
83
CALLARI GALLI, I percorsi, 1998, 195.
80
294
295
Callari Galli gibt dieser neuen, ,fluideren‘ und dynamischeren Konzeptualisierung
von Kulturen als offene Konstrukte keinen speziellen Namen. In Anlehnung an
verschiedene Kulturtheoretiker spricht sie von Globalisierung, Bifokalität des
Globalen und Glokalen, Ethnographie ohne Ethnos, translated people und
Kontamination, ohne diese Begriffe in einer vereinigenden Bezeichnung
zusammenzuführen.84
Im deutschsprachigen Raum hat sich das Konzept der Transkulturalität als
Oberbegriff etabliert, der den von den neuen Kulturstudien angestrebten fluiden
Ansatz definieren soll. Welsch, einer der wichtigsten Verfechter der
Transkulturalität, ist der Auffassung, dass „die Misere der Interkulturalität in der
Tatsache verborgen [liegt], dass sie noch immer von einer insel- bzw.
kugelartigen Verfassung der Kulturen ausgeht“85. Wie Callari Galli beanstandet er
die Unzulänglichkeit des Begriffs von Kultur als geschlossenem System:
Kulturen sind intern durch eine Pluralisierung möglicher Identitäten
gekennzeichnet und weisen extern grenzüberschreitende Konturen auf. […]
Der traditionelle Kulturbegriff scheitert heute an der inneren Differenziertheit
und Komplexität der modernen Kulturen. Moderne Kulturen sind durch eine
Vielzahl unterschiedlicher Lebensformen und Lebensstile gekennzeichnet.
Welsch geht davon aus, dass es „nicht nur kein strikt Eigenes, sondern auch kein
strikt Fremdes mehr gäbe“, weil die verschiedenen kulturellen Lebensformen und
-stile im ständigen Kontakt und Austausch sind. Man kann zwischen dem Eigenen
und dem Fremden zwar noch „unstrikt“ unterscheiden, dennoch gilt der
Unterschied immer als provisorisch, weil sich das Kulturschema, auf dem er
beruht, durch den intensiven Kulturtransfer rasch verändern kann.
Der Transkulturalitätsbegriff wird von Welsch als jene kulturpolitische
Haltung befürwortet, die vor den Herausforderungen unserer Zeit nicht
zurückweicht:
Wenn ein Individuum durch unterschiedliche kulturelle Anteile geprägt ist,
wird es zur Aufgabe der Identitätsbildung, solche transkulturellen
Komponenten
miteinander
zu
verbinden.
Nur
transkulturelle
Übergangsfähigkeit wird uns auf Dauer noch Identität und so etwas wie
Autonomie und Souveränität verbürgen können. […] Hass gegenüber
Fremdem ist (wie insbesondere von psychoanalytischer Seite mehrfach
dargelegt wurde) projizierter Selbsthass. Man lehnt stellvertretend etwas ab,
was man in sich selbst trägt, aber nicht zulassen will, was man intern
84
Ebd., 193-219.
WELSCH, Netzdesign der Kulturen, 2001. Zu Welschs Theorie der Transversalität und
Transkulturalität siehe WELSCH, Unsere postmoderne Moderne, 1993, 295–328; WELSCH,
Transkulturalität, 2000, 327–351. – Zu der im deutschsprachigen Raum geführten Debatte über
Inter- und Transkulturalität siehe HANSEN, Interkulturalität, 2000. Hansen nimmt Welsch
gegenüber eine teilweise kritische Position ein.
85
295
296
verdrängt und extern bekämpft. Umgekehrt bildet die Anerkennung innerer
Fremdheitsanteile eine Voraussetzung für die Akzeptanz äußerer Fremdheit.
Welsch und andere Theoretiker der Transkulturalität beziehen ihre Theorien
insbesondere auf die Gegenwart:
Die Lebensformen enden nicht mehr an den Grenzen der Nationalkulturen,
sondern überschreiten diese und finden sich ebenso in anderen Kulturen. Die
neuartigen Verflechtungen sind eine Folge von Migrationsprozessen sowie
von weltweiten materiellen und immateriellen Kommunikationssystemen
(internationaler Verkehr und Datennetze) und von ökonomischen
Interdependenzen,86 Menschen, Waren, Dienstleistungen, Informationen und
Zeichen sind in großen Wanderungsbewegungen auf der gesamten
Erdoberfläche und im All unterwegs.87
Der Postkolonialität-Theoretiker Homi Bhabha äußerte in „The Location of
Culture“ (1994), dass nicht nur die Gegenwart, sondern auch die Vergangenheit
der menschlichen Geschichte als transkulturell bezeichnet werden kann. Selbst im
Zeitalter der Nationalismen, als man die Welt in Kultur und Barbarei bzw. in
verschiedene distinkte Kulturen trennen wollte, war das Verhältnis zwischen dem
Eigenen und dem Fremden der Kulturen einerseits schon sehr intensiv und
andererseits recht unfest in seinen Konturen. Bhabha beruft sich auf die Auto- und
Heterostereotype, die sowohl die Kolonisatoren als auch die Kolonisierten
schufen.
Sie
bilden
mehrdeutige
und
auch
widersprüchliche
Repräsentationscluster. Die Kolonisierten sind für die Kolonisatoren gleichzeitig
„gute“ und „grausame“ Wilde, sie gelten als unzivilisiert, aber auch als
verantwortungsvolle Arbeiter, deren Arbeitsethik eventuell zuverlässiger als die
der Europäer ist. Sie werden einerseits als sexbesessen und andererseits als
unschuldig angesehen. Im Grunde fungiert die negative Seite ihrer Darstellung als
das befürchtete Fremde im Eigenen, mit den Worten von Welsch als das, „was
man in sich selbst trägt, aber nicht zulassen will“. Dagegen bilden ihre positiven
Seiten das erwünschte Eigene im Fremden, das, was die Kolonisatoren
beanspruchen zu sein bzw. gerne wären. Dasselbe zweideutige Spiel zwischen
dem Eigenen und dem Fremden kann man auch bei den Stereotypen finden,
welche die Kolonisierten über sich selbst und die Kolonisatoren produzieren.88
Bhabhas Auffassung nach lässt sich also in jeder Zeit und in jeder Kultur eine
grundsätzliche Ambivalenz im kulturellen Verhältnis von Eigenem und Fremdem
feststellen, die aus wechselseitigen Projektionen von Identität und Differenz
entsteht.89
86
Dieses und die vorstehenden drei Zitate WELSCH, Netzdesign der Kulturen, 2001.
BRONFEN/ MARIUS, Hybride Kulturen, 1997, 1.
88
Zu Stereotypentheorie und -forschung siehe auch Andreas R. Hoffmanns Aufsatz in diesem
Band.
89
BHABHA, The Location, 1994, 66-84.
87
296
297
Die ambivalente Modellierung des Zusammenhangs von Eigenem und
Fremdem in der Kultur ist nach Bhabha nicht beliebig, sondern sie entspricht den
Machtverhältnissen in einem bestimmten Kontext. Die Mächtigen versuchen,
kulturelle Bilder von sich selbst und den weniger Mächtigen bzw. Unterworfenen
und Unterdrückten zu schaffen, welche die jeweiligen Positionen in der
Hierarchie legitimieren. Dieses Streben nach Hegemonie wird durch den
Widerstand der Unterdrückten konterkariert. Dabei stellen allerdings die
Mächtigen ihre Höherwertigkeit selbst auch in Frage. Bhabha spricht von einer
Selbstlegitimierungsangst, in der die Mächtigen immer wieder die Geschichte der
eigenen kulturellen Überlegenheit erzählen, weil sie durch den Zweifel an ihr
beunruhigt sind sowie durch die Furcht, im Vergleich zu den Subalternen nicht
einmal gleichwertig, sondern sogar minderwertig zu sein. Eine ähnliche
Ambivalenz gegenüber den Herrschern kann man auch in der Widerstandskultur
der Subalternen feststellen. In vielen Fällen, so Bhabha, wird die Hegemonie der
Machthaber weder durch das Innen stark bezweifelt noch durch das Außen
offensiv konterkariert. Sie wird leise verschoben und relativiert, durch Praktiken
wie kulturelle Mimikry, in der man sich an das Andere zwar zu assimilieren
scheint, aber die andere Kultur zugleich verändert und an die eigenen Bedürfnisse
anpasst. Selbst die klare Ablehnung einer anderen Kultur ist für Bhabha als
zweideutig zu betrachten: Man beharrt zwar auf der eigenen Identität, aber in der
Tat verwandelt man sie „leise“ durch die Annahme von Merkmalen des
hegemonischen Anderen. Mimikry und kulturelle „Wir-Bilder“, die auf der
Oberfläche selbstbewusst erscheinen, aber eigentlich Unsicherheit verbergen, sind
laut Bhabha der Grund dafür, dass man zwischen dem Eigenen und dem Fremden
nur provisorisch unterscheiden kann. Die jeweiligen Zuschreibungen beider Pole
können sich relativ leicht vermengen.90
Die neuen Ansätze, die u.a. Anthropologie und postkoloniale Studien der
Kulturforschung boten, sind von der Ostmitteleuropaforschung nicht unbeachtet
geblieben. Wichtige Monographien wie Larry Wolffs „Inventing Eastern Europe.
The Map of Civilization on the Mind of the Enlightenment“ (1996) und Marija
Todorovas „Imagining the Balkans“ (1997) haben gezeigt, dass sich Westeuropa
bestimmte Bilder von Ostmittel- bzw. Südosteuropa zurechtgelegt hat, die
einerseits die zivilisatorische Überlegenheit des Eigenen behaupten und
andererseits eine gewisse Angst vor der Rückständigkeit bzw. Barbarei nicht nur
des Anderen, sondern auch von sich selbst verraten. Überdies hat die
österreichische Forschung über die Habsburgermonarchie mit wichtigen
Sammelbänden wie „Kakanien Revisited“ (2002) und „Habsburg Postcolonial“
(2003) die komplexen Kulturverhandlungen innerhalb der Habsburger Monarchie
untersucht und gezeigt, wie sich hier verschiedene Konstruktionsprozesse des
Eigenen und Fremden überlagerten. Johannes Feichtinger, einer der Herausgeber
von „Habsburg Postkolonial“, fasst die kulturelle Lage in der Donaumonarchie
wie folgt zusammen:
90
Ebd., 85-92.
297
298
Die symbolische Abgrenzung „kultureller Monaden“ war das Mittel, durch
das sich nationalkulturelle „Authentizität“ konstruieren ließ. Hierbei war auch
noch der Rückgriff auf eine gemeinsame (selektiv ausgewählte)
Vergangenheit behilflich. Mit der Herstellung solcher Ordnungen versuchte
man jedenfalls, die zusehends als Chaos verstandene Komplexität
vielschichtiger, aber konfliktbeladener ethnisch-kultureller Verhältnisse in
den Griff zu bekommen. […] Ungeachtet dieser künstlichen Aufwertung und
Verfestigung von Differenzen war die soziale Praxis im ausgehenden 19.
Jahrhundert in Zentraleuropa von einer ethnischen, kulturellen und
konfessionellen Vielfalt geprägt. […] Somit stand v. a. der urbane
Mitteleuropäer (war er zugewandert oder einheimisch) auch im
Spannungsfeld vielfältiger kultureller Codes und Gedächtnisse. […] Die
Erfahrung von Pluralismus hatte jedoch ambivalente Auswirkungen: Zum
einen dürfte er zwar schöpferisches Argumentieren stimuliert haben, zum
anderen waren hier auch infolge der Verunsicherungen, die durch die
verwirrende Vielfalt der Kulturen hervorgerufen wurden, Spannungen, Krisen
und Konflikte präsent.91
Innerhalb des ostmitteleuropabezogenen transkulturellen wissenschaftlichen
Gedankenrahmens positioniert sich auch Verginella, wenn sie veranschaulicht,
dass der Triester Karst eine Krakenwelt mit vielen Fangarmen ist, die sich in ihrer
Auseinandersetzung mit den herrschenden Machtverhältnissen fluid, dynamisch
und ambivalent bewegen. Mit ihren Studien erweitert Verginella Feichtingers
Perspektive, nach der „v.a. der urbane Mitteleuropäer“ eher als die Menschen vom
Land mit der Komplexität der habsburgischen Welt konfrontiert war. Die
Historikerin zeigt, dass Modernisierung und Nationalisierung der Gesellschaft im
19. Jahrhundert dazu führen, dass sich Triest als vorwiegend italienischsprachiges
urbanes Zentrum in der wirtschaftlich, gesellschaftlich und politisch stärkeren
Position gegenüber dem überwiegend slowenischsprachigen Karst befindet.
Dieser fühlt sich von der Vorherrschaft der Stadt bedroht, stellt sich ihr als
„kulturelle Monade“ gegenüber und versucht seine Stärke zu behaupten, indem er
seine angeblich positive Verschiedenheit betont, d.h. seine slowenische
landverbundene traditionstreue Sittenreinheit gegen die italienische städtische
moralische Verdorbenheit. Diese Verurteilung der Stadt koexistiert allerdings mit
der Übernahme mehrerer Elemente der urbanen Kultur: des modernen
Vereinwesens,
der
bürgerlichen
Arbeits- und
Familienethik,
der
Sittenüberwachung von Seiten der Behörden. Dieser Kulturtransfer, dieses im
Sinne Feichtingers „schöpferische Argumentieren“ mit der Stadt zeigt, dass die
sich als slowenisch deklarierenden Akteure des Triester Landgebiets die Kultur
des Triester Bürgertums zumindest teilweise schätzten, obwohl dieses sich am
Ende des 19. Jahrhunderts in beträchtlichem Maße mit der italienischen Kultur
identifiziert. Diese unausgesprochene Anerkennung koexistiert wiederum mit der
Verurteilung der Stadt und der italienischen Kultur einerseits als eindringend91
FEICHTINGER, Habsburg (Post-)Colonial, 2003, 23-25.
298
299
zerstörerisch, andererseits als dekadent. Das Fremde wird also zum Eigenen und
bleibt zugleich das Fremde. Die eigene Position gegenüber der Stadt wird
gleichzeitig als über- und als unterlegen wahrgenommen.
Während Verginellas Ansatz die Geschichte des Karsts und dessen kulturelle
Interferenzen als mobile Konstrukte transkulturell hinterfragt, in denen sich das
Eigene und das Fremde vermischen, bildet die Interkulturalität das Denkmuster
sowohl des Berichts der Slowenisch-Italienischen Kommission als auch der
Studie von Marušič. Hier werden Italiener(tum) und Slowenen(tum) sowie
Deutsch(tum) und Kroaten(tum) an der Nordostadria als feste Größen behandelt.
Zwischen ihnen finde zwar ein Austausch statt, ihre Begegnung verursache zwar
Interferenzen verschiedener Art, und die distinkten Identitäten der Gruppen, also
das, was ihnen eigen bzw. fremd ist (die Stadt oder das Land), werden z.T.
relativiert – aber im Grunde postuliert man diese Identitäten, anstatt sie als ein
historisches Produkt zu dekonstruieren.
Der Bericht der Slowenisch-Italienischen Kommission und die Studien von
Marušič und Verginella zeigen einerseits die Unterschiede zwischen
interkultureller
und
transkultureller
Herangehensweise,
andererseits
veranschaulichen sie, dass es sich bei ihnen um angrenzende Modi der
Repräsentation von kultureller Vielfalt handelt. Sie können sich demselben
Gegenstand widmen und ihn dabei sogar ähnlich darstellen, denn alle genannten
Texte weisen im Grunde auf ein und dieselbe Verflechtung wirtschaftlicher,
gesellschaftlicher, politischer und anderer Faktoren an der Nordostadria hin. Der
Unterschied besteht darin, dass die historischen Repräsentationen des Berichts
und der Studien von Marušič einen stabilen Strukturkern in ihrem Narrativ der
nordadriatischen Geschichte aufweisen, und zwar den Fokus auf die Äquivalenz
Italiener (bzw. Deutsche) = Stadt versus Slowenen (bzw. Kroaten) = Land. Auf
diese Äquivalenz kann die Dynamik des ganzen Geschehens immer wieder
zurückgeführt werden. Verginella hingegen betrachtet diese Äquivalenz als
instabil und offen. Ihre Elemente seien Konstrukte mit einer kulturellen
Bedeutung, die keinen festen Kern aufweist, sondern sich auch radikal ändern
kann.
Die interkulturelle Herangehensweise an den Karst beabsichtigt ebenso wie
die transkulturelle, die kulturelle Vielfalt des Karstgebiets zu repräsentieren und
sie gegen Vereinfachungen zu schützen. Dennoch tun es beide von
unterschiedlichen Standpunkten aus. Die Interkulturalität betont das Bestehen von
Identitäten, die als Existenzvoraussetzung für (relativ stabile) Differenzen
betrachtet werden. Die Transkulturalität hebt dagegen die Rolle von Differenzen
als Anlass zu (relativ instabilen) Identitäten hervor.92 Die Betonung einerseits von
Kontinuitäten und andererseits von Diskontinuitäten in der Wahrnehmung des
Eigenen und Fremden prägt den Unterschied zwischen beiden Ansätzen. Die
zeitgenössische geschichtswissenschaftliche Repräsentation des Karsts
positioniert sich im Spannungsfeld zwischen diesen Polen. Sie besteht aus Texten,
die entweder das Kontinuierliche/ Eigene oder das Diskontinuierliche/ Fremde
92
BRONFEN/ MARIUS, Hybride Kulturen, 1997, 7 f.
299
300
betonen. Dabei übersehen weder die ,interkulturelle‘ noch die ,transkulturelle‘
Geschichtsschreibung den jeweils anderen Aspekt, sie gehen jedoch mit
unterschiedlichen Haltungen an ihn heran: Erstere scheint für die Anerkennung
lang existierender Identitäten trotz der Wirkung von Transformationsprozessen zu
plädieren, Letztere will diese Identitäten hinterfragen. Interkulturalität misstraut
dem radikalen Wandel, Transkulturalität dem unveränderlichen Stillstand.
4. Repräsentation II: Reisetexte
Der Karst hat eine lange Tradition als Durchzugsgebiet, die sich mit dessen
Übergangsposition zwischen der italienischen Halbinsel und Mittel-, Ostmittelund Südosteuropa erklären lässt.93 Er wurde seit der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts auch zum Urlaubsort (Sommerfrische der Triester, Alpinismus)
und ist bis heute ein touristisches Ziel geblieben (siehe Marušič), obwohl die
politischen Umbrüche des 20. Jahrhunderts seine Entwicklung als Urlaubs- und
generell als Reiseort immer wieder verhindert haben. Nach der Unabhängigkeit
Sloweniens und dessen Beitritt zur EU hat man sowohl auf der italienischen als
auch auf der slowenischen Seite der Grenze versucht, das Verkehrswesen und die
touristischen Infrastrukturen auszubauen sowie das Urlaubsimage des Karsts zu
verstärken. Man kann die vielen Reisetexte über den Karst, die seit den 1990er
Jahren veröffentlicht wurden, als Mittel bzw. Folge dieser Aufwertung des
Karstgebiets als Transit- und Urlaubsort betrachten. Im Folgenden werden drei
dieser Texte analysiert: 1. der Reiseführer „Küstenland-Karst A–Z. Handbuch für
Reisende und Geschäftsleute“ von Julij Titl, 2. das Internetprojekt „Touristisches
Informationsportal Karst“ und 3. der Essay und das Kochbuch „Der Karst, Kras, Il
Carso. Die Landschaft. Die Menschen. Die Küche. Der Wein“ von Christoph
Wagner und Peter Kelih. Bereits anhand der Titel kann man feststellen, dass diese
Texte sich in Medium und Genre unterscheiden; der zweite stellt einen
Webseiteninhalt dar, der aus verschiedenen Texten zusammengefügt wurde,
während es sich bei dem ersten und dritten um einen alphabetisch geordneten
Reiseführer bzw. einen kulturgeschichtlichen Essay samt Interviews und
Kochrezepten handelt. Ein anderes Unterscheidungsmerkmal bildet das
angestrebte Publikum, das im Fall von Handbuch und Informationsportal
allgemein aus Touristen und Geschäftsleuten besteht, während der Essay eher gut
gebildete Reisende anspricht, die viel Wert auf reflektierte Esskultur legen. Den
drei Texten ist bei allen Unterschieden jedoch gemeinsam, dass sie einen
ähnlichen pragmatischen Zweck verfolgen: Sie sind für Leser konzipiert, die sich
vermutlich nicht gut im Karst auskennen bzw. besser auskennen möchten, und sie
versuchen, dieses Gebiet als Reiseziel attraktiv zu machen. Inwiefern spielen in
diesen Texten die Grenzposition des Karsts, seine kulturelle Vielfalt und seine
Interferenzen eine Rolle, um die Region als besuchenswert darzustellen? Geht es
93
Siehe die vielen Reiseberichte in WIESER, Karst, 1997 und OLOF/ OKUKA, Traumreisen und
Grenzermessungen, 1995.
300
301
dabei um (bewusste oder unbewusste) inter- oder transkulturelle Repräsentationen
des Karsts?
4.1 Nebeneinander-Karst
Der deutschsprachige slowenische Reiseführer „Küstenland-Karst A–Z.
Handbuch für Reisende und Geschäftsleute“ wurde 1993 von Jurij Titl als Teil
einer Folge von Reiseführern über die einzelnen slowenischen Regionen
herausgegeben. Mit „Küstenland-Karst“ wird hier der südliche Teil
Westsloweniens bezeichnet, d.h. die Gegend zwischen Nova Gorica und den
Ausläufern der Alpen im Norden und der Grenze zu Kroatien auf der Halbinsel
Istrien im Süden.94 Der Reiseführer ist kurz nach Erlangung der politischen
Unabhängigkeit Sloweniens erschienen und will dem deutschsprachigen
Publikum das neue Land vorstellen. Wie der Titel bereits ankündigt, richtet sich
die Veröffentlichung nicht nur an das Freizeitpublikum, sondern auch an
wirtschaftliche Akteure.
Der geographische Schwerpunkt des Reiseführers entspricht seiner
staatsgebundenen Perspektive: Im Text werden nur der Karstteil und die istrische
Küste berücksichtigt, die sich innerhalb der slowenischen Grenze befinden. Es
wird nur flüchtig erwähnt, dass sich die Bezeichnungen „Karst“ und „Küstenland“
auf geographisch-historische Gebiete beziehen, die in der Gegenwart teilweise in
den Nachbarstaaten Italien und Kroatien liegen.95
Dieser staatsorientierte Ansatz schränkt nicht nur den geographischen
Betrachtungsraum des Reiseführers ein, sondern auch dessen Inhalt. Im Text wird
zwar die Tatsache erwähnt, dass eine italienische Minderheit entlang der
slowenischen Küste in Nordistrien lebt, aber es werden nur sehr wenige Worte
darüber verloren. Ebenso knapp wird darauf hingewiesen, dass italienische Kultur
in der Vergangenheit nicht nur an der Küste, sondern auch im Karst vorhanden
war, ohne die Geschichte der italienisch-slowenischen Verhältnisse weiter zu
erkunden. Die gegenwärtigen bzw. vergangenen kulturellen Verflechtungen im
slowenischen Grenzgebiet werden vom „Handbuch für Reisende und
Geschäftsleute“ nebenbei wahrgenommen, eine wesentliche Rolle spielen sie
nicht darin. Das Desinteresse des Reiseführers an der kulturellen Interferenzialität
von Karst und Küste lässt sich leicht an den von ihm gebotenen Informationen
über die Kunst aus der Region feststellen:
Bis zum Zweiten Weltkrieg war die Literatur im Küstenland mit der
italienischen Kultur verbunden, deren Wirkungskreis hauptsächlich auf die
94
Dieses Gebiet bildet den südlichen Teil der slowenischen Region „Primorska“, die heutzutage
Westslowenien umfasst. Historisch bezieht sich diese Bezeichnung auf das ganze habsburgische
Küstenland; sie wird auch heute Triest und sein Umland betreffend gebraucht. Siehe das Zitat aus
dem Bericht der Slowenisch-Italienischen Kommission im Abschnitt 2.1.1.
95
TITL, Handbuch, 1993, 94 f., 115.
301
302
Küstenstädte beschränkt war. Erst nach 1945 erscheinen vermehrt
slowenische Künstler auf der Bildfläche.96
Es folgt ein ganzer Abschnitt über die slowenischen Künstler der Region
(Literaten, bildende Künstler, Musiker usw.), während die italienischen Künstler
keine Erwähnung finden. An einer anderen Stelle wird darauf hingewiesen, dass
die italienische Minderheit Sloweniens eigene Schulen und andere kulturelle
Einrichtungen betreibt, aber dem Text ist weder Interesse noch Sympathie
gegenüber der Zweisprachigkeit der Region zu entnehmen.97
Das Kulturmuster des „Handbuchs für Reisende und Geschäftsleute“ ist im
Grunde interkulturell: Der Text registriert die heutige Anwesenheit zweier
Kulturen an der slowenischen Küste – der slowenischen und der italienischen –
und erinnert an die vergangene Präsenz der italienischen Kultur im Karst. Dabei
geht er davon aus, dass diese beiden Kulturen zwei distinkte Inseln bzw. Kugeln
bilden, jede mit eigenen stabilen Kennzeichen. Während die vorher besprochenen
interkulturellen Repräsentationen von Anthropologen und Ethnologen auf
Kulturvergleich und -austausch beharren, ist der Reiseführer daran nicht
interessiert. Die Interferenz zwischen der slowenischen und der italienischen
„Kulturkugel“ wird hier als reines Nebeneinander dargestellt: Dem Reiseführer
zufolge leben die slowenische Mehrheit und die italienische Minderheit zwar
beide am selben Ort, aber ihre Koexistenz führt zu keinem partizipierenden
Zusammenleben, weder im Sinne einer gegenseitigen Abschottung noch einer
Übernahme von Eigenschaften des Anderen. Einem ähnlichen Muster unterliegt
die Darstellung der Vergangenheit der Region: Die italienische Kultur habe den
Karst zwar lange geprägt, doch sei sie später durch die slowenische ersetzt
worden. Die Frage nach dem Transfer zwischen den beiden Kulturen wird im
Reiseführer nicht gestellt. Seinen Autoren scheint eher am Herzen zu liegen, das
neu gegründete Slowenien als Staat mit einer starken selbstständigen Identität zu
präsentieren – daher der Mangel an Aufmerksamkeit für die italienische
Minderheit Sloweniens, die sich zwar innerhalb der Staatsgrenzen befindet, aber
nicht als unmittelbar slowenisch betrachtet werden kann. Die Einschränkung auf
das staatliche Territorium wird so konsequent durchgehalten, dass der Reiseführer
nicht einmal das erwähnt, was durchaus als slowenisch definiert werden könnte,
sich aber nicht innerhalb der staatlichen Grenze befindet: die slowenische
Minderheit im italienischen Karst.
4.2 Gegeneinander-Miteinander-Karst
96
97
Ebd., 129.
Ebd., 71.
302
303
Bei dem „Touristischen Informationsportal Karst“98 handelt es sich um ein
grenzüberschreitendes touristisch-wirtschaftliches Projekt der Gemeinden Komen
und Duino-Aurisina/ Devin-Nabrežina, wobei Erstere auf der slowenischen und
Letztere auf der italienischen Seite des Karsts liegt. Das Portalprojekt wurde von
der Europäischen Union im Rahmen eines Programms zur Förderung „regionaler
Kompetenzen“ finanziert.99
Gleich die Einleitungsworte auf der Homepage verraten die touristische
Ausrichtung des Projekts, wenn sie die natürliche Schönheit der
Kalksteinlandschaft und die reichhaltige Karstküche preisen.100 Auf dem Portal
wird aber auch Auskunft über die Geschichte des Karsts gegeben, wozu der
Begriff „Grenze“ als ein wichtiges Merkmal der Region eingeführt wird:
Eine bedeutende Rolle bei der Entstehung und Veränderung der Karstkultur
haben neben den mediterranen und friaulischen Einflüssen aus den
Nachbarländern auch wichtige historische Ereignisse gespielt, die in der
Vergangenheit auf eine grausame Weise das Schicksal der Karstbewohner
beeinflussten. Die schlimmsten Narben hinterließen vor allem die ständigen
Grenzverschiebungen, die die Karstbewohner verschiedenen Staaten
zuordneten. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden sie sogar auf zwei Staaten
verteilt. Die künstlich gezogene Grenze hatte einen entscheidenden Einfluss
auf die politische, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung des Karstes und
seiner Bewohner, die trotz der künstlichen Trennung friedlich miteinander
lebten. Heute bietet sich nun wieder die Möglichkeit, den Karst ohne
politische Grenzen bzw. als eine Einheit, die eine Brücke zwischen der
italienischen und slowenischen Kultur darstellt, anzusehen, in der die
Menschen trotz verschiedener Sprachen versuchen, ihr gemeinsames
Kulturerbe und die gegebenen Naturschönheiten zu bewahren bzw.
weiterzuentwickeln. Gerade das Kulturerbe und die Naturschönheiten geben
dem Karst seine Identität.101
Der Karst wird vom Informationsportal nicht nur als geographische, sondern auch
als kulturelle Einheit dargestellt, die durch die Politik künstlich getrennt worden
war. Die wichtigste Eigenschaft dieser Einheit ist ihre Grenznatur, mit der sie die
italienische und slowenische Kultur verbindet. Das wird zu einem Leitmotiv der
Karst-Darstellung des Portals. Der Hinweis auf den „Karst ohne politische
Grenzen“ kann auch dadurch erklärt werden, dass das Portal 2003 eingerichtet
98
Touristisches Informationsportal Karst. Die Webseite ist in deutscher, englischer,
italienischer und slowenischer Sprache verfasst. Die Zitate entstammen der deutschsprachigen
Version.
99
„Das Programm ‚Regional Competence‘ bedeutet das elektronische Sammeln und Verwalten
von Daten hinsichtlich Wissen, Kompetenzen und Angeboten mittelständischer Unternehmen
innerhalb einer Region/ Gemeinde sowie die Veröffentlichung dieser Daten im Internet.“ Projekt
Rgional competence, 2001.
100
Touristisches Informationsportal Karst. (Internetquellen)
101
Touristisches Informationsportal Karst. A-Z Allgemein. (Internetquellen)
303
304
wurde, d.h. ein Jahr vor dem EU-Beitritt Sloweniens, der hier implizit als eine
wichtige politische Chance für den Karst gesehen wird.
Das
Informationsportal
enthält
einen
relativ
anspruchsvollen
landeskundlichen Teil, in dem umfassend erläutert wird, inwiefern das
Karstgebiet schon historisch eine Brücke zwischen italienischer und slowenischer
Kultur darstellt. Dieser Text verfolgt die ethnischen, politischen und kulturellen
Verquickungen der Karstgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart und
versucht dabei, die Komplexität der Karstkultur wiederzugeben.102 Sein Narrativ
ähnelt in vielen Punkten dem karstgeschichtlichen Überblick von Branko
Marušič: Auch im Informationsportal wird beispielsweise betont, dass sich die
Slawen in der Region bereits im 6.–7. Jahrhundert ansiedelten, die adligen
Familien des Karsts jedoch aus germanischen bzw. romanischen Gebieten
stammten.103 Beide erwähnen, dass das erste Wörterbuch aus der Region ein
italienisch-slowenisches war.104 Die Entstehung des slowenischen Nationalismus
im Karstgebiet seit dem Ende des 19. Jahrhunderts und sein Konflikt mit dem
italienischen
Nationalismus
werden
ebenso
historisch
skizziert.105
Binnenregionale Transferprozesse wie der bürgerliche Tourismus auf dem
ländlichen Karst ab ca. 1850106 oder die Niederlassung vieler italienischsprachiger
Istrier im italienischen Karst in den 1950er und 1960er Jahren werden im Portal
sogar eingehender beschrieben als im Aufsatz von Marušič.107 Insgesamt
bemühen sich die Verfasser des Informationsportal um den relativ detailreichen
Nachweis, dass sich im Verlauf der Geschichte zwei (mit der deutschen drei)
Kulturen im Karst abwechselnd friedlich und gewalttätig begegnet sind. Aus
diesem historischen Überblick entsteht ein Bild des Karsts als Gebiet, dessen
Identität ohne kulturelle Pluralität nicht vorstellbar ist. Die Bestandteile dieser
Identität bzw. – mit den Worten des Portals – das Kulturerbe der Region seien das
Ergebnis der Begegnung von italienischer und slowenischer Kultur. Diese habe
eine Interferenz gebildet, die ständig zwischen Gegen- und Miteinander
geschwankt habe. Daraufhin spricht sich das Informationsportal explizit für die
Fortsetzung und Intensivierung des Miteinanders aus und folgt dabei der Logik
der interregionalen Förderprogramme der EU, denen ein Versöhnungs- und
Verständnisnarrativ zugrunde liegt.
Das „Touristische Informationsportal Karst“ bietet insofern eine andere
Variante des interkulturellen Denkmusters als das „Handbuch für Reisende und
Geschäftsleute“. Dieses präsentiert das slowenische Küstenland als einen
102
Informationen über die regionale Geschichte und Landeskunde findet man auf der Webseite
in der Rubrik „A–Z Allgemein“. Zusammen mit der Webseite ist auch eine Publikation
entstanden, die sowohl als E-Buch als auch in gedruckter Form veröffentlicht wurde: Der Karst
zwischen Štanjel und Duino/ Devin (FAKIN u. a. 2004). Darauf beziehe ich mich in den folgenden
Verweisen.
103
FAKIN, Der Karst, 2004, 14.
104
Ebd., 15.
105
Ebd., 17.
106
Ebd.
107
Ebd., 19 f.
304
305
Interferenzraum, in dem sich die kulturelle Interaktion als schiere gegenseitige
Wahrnehmung und als Nebeneinanderleben von slowenischer Mehrheit und
italienischer Minderheit erweist und beachtet nicht, was sich außerhalb der
slowenischen Staatsgrenze im italienischen Karst befindet. Das Informationsportal
hingegen betont die grenzüberschreitenden Gegeneinander- und MiteinanderInteraktionen der Kulturen im gesamten Karstgebiet. Dennoch teilen Handbuch
und Informationsportal die interkulturelle Überzeugung, dass sich italienische und
slowenische Kultur an der Nordostadria prinzipiell auseinanderhalten lassen.
4.3 Ineinander-Karst?
Beide Autoren von „Der Karst, Kras, Il Carso. Die Landschaft. Die Menschen.
Die Küche. Der Wein“, Christoph Wagner (Texte) und Peter Kelih (Bilder),
stammen aus Österreich. Ihr Band stellt eine Mischform verschiedener Genres
dar: Text- und Bildbuch sowie Rezeptsammlung und Reisebericht. Letzterer bildet
den ersten Teil des Bandes und erzählt vor allem von den Begegnungen mit
Wirten bzw. Herstellern typischer Karstprodukte (Wein, Öl, Schinken), mit denen
nicht nur über Essen gesprochen wird, sondern auch allgemein über Kultur,
Geographie und Geschichte des Karsts.
Wagner setzt sich in einem kurzen Kapitel über das Gasthaus „Il pettirosso“
[Das Rotkehlchen] in Santa Croce/ Križ, einem Karstdorf im italienischen Karst,
gelegen ca. 10 km nördlich von Triest, mit den italienisch-slowenischen
Interferenzen im Karst auseinander:
Und als Musik dient das Parlando der Einheimischen an der Bar, an der die
Grenzen zwischen italienischem und slowenischem Karst verschwimmen. Da
wird aus dem italienischen Ciao und dem slowenischen Fanti (Jungs) auch
schon einmal ein babylonisches „Ciao Fanti“: Adieu Jungs.108
Wagners Blick richtet sich im Unterschied zum Informationsportal weniger auf
das Historische und mehr auf das Alltägliche der Karstkultur und bietet hier ein
Beispiel italienisch-slowenischer Vermischung in der Karstsprache. Dieser
entspricht die Begegnung in der Küche, die außer der italienischen und
slowenischen kulinarischen Tradition zahlreiche andere Komponenten
zusammenführt:
Die Küche ist seit je, was man etwas schwammig als mitteleuropäisch
bezeichnet, will heißen: slowenisch, italienisch, ungarisch, österreichisch,
vielleicht sogar – man denke an den Apfelstrudel – in erster Linie
österreichisch. Die Fusi mit Kaiserfleisch sind geschmacklich jedenfalls schon
108
WAGNER/ KELIH, Der Karst, Kras, Il Carso, 2004, 59.
305
306
in beachtlicher Nähe der Wiener Schinkenfleckerl angesiedelt. Und mit den
Pignoli im Gänsebrustsalat grüßt der nahe Orient.109
Trotz der Hinweise auf die gelungene kulturelle Vermischung macht der Text
auch auf kulturelle Konflikte aufmerksam und gibt dem Leser zu verstehen, dass
der Karst keine idyllische Verwirklichung des Miteinanderlebens darstellt:
„Österreich […] ist im Karst immer noch hoch angesehen, ganz im Gegensatz
zu Italien. Wir alle schauen gen Nordosten. Italien hat uns den Faschismus
und immer wieder Chaos und Anarchie gebracht. Österreich, das sind für die
meisten von uns einfach gute Erinnerungen. Wir essen ja auch viel lieber
österreichisch als italienisch.“110
Diese Worte sollen aus einem Interview mit Edi Kante stammen, einem Slowenen
aus Italien, der ein Weingut in Prepotto/ Praprot im Landkreis Triest besitzt. Trotz
seiner italienischen Staatsangehörigkeit und Bildung (es wird dem Leser
ausdrücklich mitgeteilt, dass Kante in Padua studiert hat) scheint er dem Interview
zufolge eher antiitalienisch eingestellt zu sein. In seinen Worten verschiebt sich
die Bedeutung der habsburgisch-österreichischen Küche für den Karst: vom
kulinarisch-kulturellen Schmelztiegel zum Abgrenzungsfaktor der slowenischen
Karsteinwohner gegen die Italiener.
Der Essay „Der Karst, Kras, Il Carso“ und das „Touristische
Informationsportal Karst“ teilen die Idee vom Karst als Grenzland par excellence:
von einem Ort, an dem die ständige Begegnung von Kulturen konstitutiv ist, sei
sie durch Gewalt oder durch Frieden charakterisiert. Trotzdem differieren beide
Quellen auf zweierlei Weise. Der erste Unterschied betrifft die Darstellung des
heutigen Karsts: Das Informationsportal behauptet in seiner Einleitung, dass die
heutigen Karsteinwohner „friedlich miteinander“ leben und die vergangenen
Bewohner dies auch getan hätten, wenn nicht politische Konflikte von außen
eingedrungen wären. In dieser Hinsicht bildet der gegenwärtige Karst „ohne
politische Grenzen“ für das Informationsportal eine Art historische
Wiedergutmachung nach der Gewalt der Vergangenheit. Der Essay von Wagner
und Kelih vermittelt hingegen, dass die Situation im Karst auch heute, in
friedlichen Zeiten, eigentlich nicht so konfliktfrei ist. Dieser Text erwähnt nicht
nur die versöhnliche kulturelle Interaktion als Merkmal des gegenwärtigen
Karstlebens, sondern auch polemische Reibungspunkte: Den Vermischungen der
„ciao-fanti-Sprache“ wird Edi Kantes Opposition zwischen österreichischer und
italienischer Küche gegenübergestellt, die für eine präzise politisch-geschichtliche
Trennung zwischen Slowenen und Italienern steht. Dieses Lenken der
Aufmerksamkeit auf die heute noch existierenden kulturellen Spannungen im
Karst ist wahrscheinlich darauf zurückzuführen, dass die Autoren von „Der Karst.
Kras. Il Carso“ keine Einheimischen, sondern Auswärtige sind und deswegen
109
110
Ebd., 50.
Ebd., 80.
306
307
weniger Hemmungen haben, über die noch nicht vernarbten bzw. frischen
Wunden der Karstgesellschaft zu berichten. Überdies ist ihr Essay im Unterschied
zum Touristischen Informationsportal Karst nicht innerhalb eines interregionalen
Förderprogramms der EU entstanden; es hat keine Verpflichtung gegenüber
Versöhnungs- bzw. Verständnisnarrativen.
Den zweiten Unterschied zwischen Essay und Informationsportal bildet ihr
Kulturmuster. Während das Informationsportal interkulturell argumentiert und
zwischen italienischer und slowenischer Kultur im Karst grundsätzlich
unterscheidet, scheinen Wagner und Kelih in ihrem Essay an mindestens einer
Stelle den Karst als transkulturell darzustellen, indem sie den Ausdruck ciao fanti
als „babylonische“ Sprachverschmelzung bezeichnen.
Dennoch ist es schwer festzustellen, wo genau in diesem Text die Grenze
zwischen inter- und transkulturellem Denkmuster verläuft. Denn es wird auch
behauptet, dass der Ausdruck mitteleuropäische Küche „etwas schwammig sei“,
und dass man besser von „slowenisch[er], italienisch[er], ungarisch[er],
österreichisch[er], vielleicht sogar […] in erster Linie österreichisch[er]“ Küche
sprechen könne. Bedeutet das, dass die (österreichischen) Autoren die
mitteleuropäische Küche doch als eine Gruppe von ,Kugeln‘ betrachten, in der die
Kugel namens Österreich größer als alle anderen ist? Und erklären Wagner und
Kelih den Ausdruck ciao fanti wirklich als situative Zusammenführung eines
italienischen und eines slowenischen Worts innerhalb fluider Kulturprozesse, oder
anders formuliert, halten sie Kulturen tatsächlich nicht für prinzipiell trennbare
Subjekte, sondern für grundsätzlich offene historische Konstrukte? Oder wird ciao
fanti von den Autoren doch als klassischer interkultureller Zusammenstoß zweier
Kugeln betrachtet, aus deren separater Ganzheit zwei Elemente entliehen und
kombiniert werden?
Diese Fragen können nicht wirklich beantwortet werden, weil „Der Karst,
Kras, Il Carso“ die Bedeutung der kulturellen Interferenzen im Karst eher
andeutet als explizit darauf hinweist. Es lässt sich an diesem Text im Vergleich zu
Verginellas historischen Studien weniger leicht feststellen, ob er – auch nur
teilweise – aus einem transkulturellen Kulturmuster hervorgeht. Verginella
beabsichtigt in ihren Untersuchungen, ein bestimmtes interkulturelles
historiographisches Paradigma zu dekonstruieren, deshalb repräsentiert sie die
transkulturelle Komplexität, Wechselseitigkeit und Widersprüchlichkeit des
kulturellen Austauschs sowohl auf der empirischen Ebene als auch auf der
theoretischen Metaebene sehr ausführlich. Das Buch von Wagner und Kelih ist
dagegen ein Essay, der ein kultiviertes Publikum unterhaltsam über den Karst
informieren möchte und hierfür sein Narrativ aus der kulinarischen Tradition, aus
den Erzählungen einiger Karsteinwohner, aus den Legenden, der Geschichte und
der Literatur schöpft. Diese Melange drückt sich in schnellen Assoziationen aus,
die von der Sprache (ciao fanti) zur Küche (der mitteleuropäischen Tradition)
führen. Die Folge der Gedanken und ihre Übergänge werden im Text nicht
erläutert, sodass sich nicht feststellen lässt, inwiefern hier Transkulturalität am
Werk ist. Nichtsdestotrotz könnte zumindest der knappe Hinweis auf den
„babylonischen“ Abschiedsgruß ciao fanti auf eine Perspektive hindeuten, die
307
308
sich von der des Reiseführers und des Informationsportals abhebt. Demnach
können Kulturen nicht nur nebeneinander existieren, gegeneinander kämpfen bzw.
miteinander leben und sich gegenseitig beeinflussen, sondern sogar
ineinanderfließen und dadurch eine neue Kultur entstehen lassen, welche die
Ausgangskulturen aufhebt und sie gleichzeitig in etwas Neues münden lässt.111
5. Karstuntergrund II: Ciao-fanti-Karst
Ich habe mir das Recht auf Zweifel zugestanden und mich bei zwei
Karsteinheimischen, beide Slowenischmuttersprachler, erkundigt, ob man den
Abschiedsgruß ciao fanti im Karst tatsächlich verwendet. Meine Informanten
bestätigten, dass der Ausdruck bei den aus dem Karst stammenden Triester
Slowenen tatsächlich im Gebrauch ist (je nach Dorf mit kleinen morphologischen
Varianten). Ich habe außerdem gefragt, ob italienische und slowenische
Muttersprachler den Ausdruck gleichermaßen gebrauchen, d.h. ob diese
transkulturelle Wortschöpfung allgemein verbreitet ist. Diese Frage wurde von
einem Informanten interessanterweise als überflüssig bezeichnet. Er wollte damit
auf die Tatsache hinweisen, dass die Italiener aus dem Karst und aus Triest
sowohl im Hochitalienischen als auch im Triestinischen kaum slowenische
Wörter benutzen, während die Slowenen aus der Gegend viele Italianismen
verwenden. Das hat damit zu tun, dass die Slowenen die Sprache der Italiener
beherrschen, aber nicht umgekehrt (mit einigen Ausnahmen).112
Die Bedeutung von ciao fanti als transkulturelles Zeichen ist also nicht
selbstverständlich. Sie kann bei Wagner und Kelih als babylonisches Beispiel für
Transkulturalität gelten, aber meine slowenischen einheimischen Informanten
betrachten den Gebrauch dieses Ausdrucks aus interkultureller Perspektive, indem
sie zwischen ethnisch-nationalen Gruppen unterscheiden und Hierarchien bilden:
Sie, die Slowenen, hätten Wörter aus dem Italienischen übernommen, d.h. sie
hätten kulturell offen gehandelt, während die anderen, die Italiener, doch kein
Wort aus dem Slowenischen entlehnen würden (die Italiener seien also kulturell
verschlossen).113
111
Ein Hinweis auf den Begriff third space wäre hier angebracht und wird wahrscheinlich auch
erwartet. Dennoch würde seine Besprechung und Operationalisierung am Beispiel des Ausdrucks
ciao fanti den Rahmen dieser Untersuchung sprengen, weil die Einführung des third-spaceBegriffs in die Geisteswissenschaften durch eine komplexe Debatte über seine genaue Bedeutung
begleitet wurde, die bei Verwendung des Begriffs nicht unberücksichtigt bleiben kann (siehe
BACHMANN-MEDICK, Dritter Raum, 1998 und KLIEMS, Transkulturalität, 2007).
112
VERČ, Ivan, Confine orientale, 2011, 11–13.
113
Das ist übrigens nicht ganz richtig, weil der italienische Dialekt aus Triest slowenische
Wörter enthält, z.B. im Ausdruck „che zima!“ (Wie kalt!), in dem zima das slowenische Wort für
Winter ist. Dennoch gehe ich nach einer kurzen Umfrage unter Italienischmuttersprachlern davon
aus, dass nur wenigen italienischen Muttersprachlern aus der Triester Region bewusst ist, dass es
sich bei zima um ein slowenisches Wort handelt.
308
309
Erst eine breiter angelegte Untersuchung könnte bestätigen, inwiefern mein
Eindruck gerechtfertigt ist, dass eine interkulturelle Haltung gegenüber kulturellen
Interferenzen bei den Karst- und Triesteinwohnern verbreiteter ist als eine
transkulturelle. Mir scheint auf jeden Fall, dass die Neigung zur Interkulturalität
eine starke Tendenz darstellt, über deren strukturelle Bedingungen nachgedacht
werden muss, weil sie nicht nur im Karst verbreitet ist, sondern in zahlreichen
anderen
Kontexten
kultureller
Vielfalt.
Obwohl
die
heutigen
Geisteswissenschaften die offene, transkulturelle Struktur von Kulturprozessen
immer wieder betonen, streben die Menschen weiterhin nach Repräsentationen
ihrer Umwelt, in denen klare Zugehörigkeitsgruppen in einer gewissen Hierarchie
zu erkennen sind, was die kulturellen Verhältnisse wiederum vereinfacht und
fixiert. Wie lässt sich der Umstand bewerten, dass neben einer zunehmenden
Etablierung des transkulturellen Denkmusters in der Wissenschaft immer noch
eine starke Präsenz der interkulturellen Haltung im Alltagsleben zu vermerken ist?
Es handelt sich dabei um einen Widerspruch zwischen Erkenntnisdiskursen und praktiken, dessen Feststellung fast selbstverständlich und nahezu banal erscheinen
mag, tatsächlich aber ausschlaggebend für Kulturmechanismen ist. Einerseits
plädieren die Wissenschaften für das Erkennen der Komplexität der Welt und
behaupten, dass sich nur jemand, der sich auf die kulturelle Vielfältigkeit und die
mobile Relativität der Kulturverhältnisse einlässt, auf der Welt zurechtfinden
kann. Andererseits scheint es den Menschen intuitiv so vorzukommen, dass
lebenswichtige Faktoren wie Selbsterhaltung, Selbstbehauptung, Anerkennung
und Solidarität durch (ver)einfach(t)e und feste Strukturen besser garantiert
werden können als durch komplexe und flexible Repräsentations- und
Handlungsstrategien. Man verlässt sich deshalb auf beruhigende, feste
Repräsentationen, auf hierarchische Weltbilder, bis diese bestimmten Akteuren
früher oder später als zu eng erscheinen und in Frage gestellt werden. Damit
bewegt sich die Kultur zwischen Konstruktion und Dekonstruktion von Ordnung,
zwischen Vereinfachung und Komplexität. Sie kann zwar flexibel sein, aber nie
genug, um der Vielfältigkeit der Welt und deren Bewohnern reibungslos
entgegenzutreten.
Für die Neigung der Menschen zur Bildung simplifizierter, eindeutig
hierarchisierter und
ordnungsstiftender Repräsentationen
haben die
Kulturanthropologie und die Psychoanalyse sowie andere Wissenschaften
umfangreiche theoretische Erklärungen geliefert. Im Grunde deuten sie alle auf
die bekannte Feststellung hin, dass die Welt zu groß ist und wir zu klein. Sigmund
Freud hat sich bekanntermaßen auf das Problem der menschlichen Selbsterhaltung
konzentriert: Das Menschenleben sei ständig den gewaltigen Kräften der Natur
(Katastrophen,
Krankheit,
Tod),
dem
Lustprinzip
(unrealistische
Glücksvorstellungen) und dem Todestrieb (Aggressivität gegen andere und sich
selbst) ausgesetzt. Die Kultur schaffe eine Art Schutzkappe durch vereinfachte
und geordnete Repräsentationen und Praktiken, um das Leben der Menschen
innerlich und äußerlich zu stabilisieren. Bei der Theorie Freuds handelt es sich um
ein energetisches Kulturmodell: Die Menschen verfügen schlichtweg über zu
wenig psychophysische Energie, um Natur- und Triebumstände in ihrer
309
310
tatsächlichen instabilen Komplexität erkennen und erleben zu können.114 Der
Philosoph Hans Blumenberg hat darauf hingewiesen, dass der Mensch durch die
Kultur geschlossene Strukturen produziert, um dem Absolutismus der rücksichtsund sinnlosen Wirklichkeit die Stirn zu bieten. Vereinfachung wird zum
Selbstbehauptungsmittel gegenüber den ungünstigen Weltverhältnissen.115 Der
Ethnologe Marc Augé nennt die Neigung der Menschen zu Stabilität ein
Bedürfnis nach Anerkennung, d.h. ein Streben nach Würdigung, Bestätigung und
Billigung der menschlichen Existenz in Anbetracht der „Unordnung der
Ereignisse“ dieser Welt.116 Sich durch Repräsentationen wieder- und
anzuerkennen bedeute „wieder das Zentrum der Erde zu werden“ nach dem
urgeschichtlichen „ordnungslosen Wandern“ der Menschheit, einem Zustand, in
den die Menschen ständig fürchten, zurückversetzt zu werden.117 Augés
Argumente erinnern an den ethnologischen und anthropologischen Begriff der
primordial solidarity, der uranfänglichen Solidarität innerhalb fester Gruppen, der
von Clifford Geertz ausgearbeitet wurde.118 Anerkennung ist ein zentrales
Konzept auch im Denken Paul Ricoeurs, dem zufolge Repräsentationen im
Wesentlichen narrative Verfahren bilden, d.h. Erzählungen, durch welche die
Menschen das Dissonante und Diskontinuierliche der Welt in Konsonanz und
Kontinuität überführen.119 Es wurde auch vermutet, dass die Struktur der
menschlichen Kultur grundsätzlich mit binären Oppositionen arbeite und dadurch
versuche, das Eigene und das Fremde zu trennen und ihr Verhältnis zu regulieren
(Lotman und im Allgemeinen die Theoretiker des Strukturalismus).120 Schließlich
haben die Cultural Studies, die sich u.a. auf Michel Foucault und Antonio
Gramsci beziehen, darauf hingewiesen, dass die Macht von Kulturen, Gruppen
und Individuen immer mit der Kontrolle über die Komplexität, d.h. mit einer
hegemonialen Haltung, verbunden ist. Diese führe unvermeidlich zu Hierarchien
und Reduktionen.121 Dennoch sind all diese Theoretiker auch der Meinung, dass
sich die „tatsächliche“ Komplexität der Welt, deren Größe also, in keine feste
Struktur zwingen lässt, ungeachtet dessen, ob die menschlichen Erkenntnis- und
Erfahrungsprozesse
zur
simplifizierenden
Strukturierung
tendieren.
Repräsentationen und Praktiken, die auf Vereinfachung basieren, gewinnen zwar
ständige Zustimmung, aber sie generieren immer kulturellen Widerstand und
führen zu kulturellen Gegendarstellungen und -handlungen.
Ich kann hier nicht tiefer auf diese philosophische Diskussion eingehen: Auch
auf die Gefahr hin, in meiner knappen Zusammenfassung sehr schematisch zu
114
FREUD, Eine Schwierigkeit, 1917.
BLUMENBERG, Die Lesbarkeit, 1981; DERS., Höhlenausgänge, 1989.
116
AUGÉ, Il senso, 1995.
117
Ebd., 135.
118
GEERTZ, Old Societies and New States, 1963; GEERTZ, Oltre i fatti, 1995; CALLARI GALLI/
CERUTI/ PIEVANI, Pensare le diversità, 1998, 178.
119
RICOEUR, Wege der Anerkennung, 2006. MÜLLER-FUNK, Kulturtheorie, 2006, 286–305.
120
LOTMAN, Il metalinguaggio, 2001.
121
MONTROSE, New Historicism, 1992; GROSSBERG, Identity and Cultural Studies, 2010.
115
310
311
wirken,122 habe ich dennoch darauf hingewiesen, weil ich die Bedeutung der
Konzepte Inter- und Transkulturalität genau an diese Auseinandersetzung binde.
Meines Erachtens wäre es ein Fehler, auf eines von beiden Konzepten zu
verzichten. Wenn wir die prinzipielle Frage „Ist unsere Welt an sich inter- oder
transkulturell?“ zumindest vorübergehend in Klammern setzen und von der Ebene
der
Ontologie
zu
jener
der
menschlichen
Erfahrungsund
Wahrnehmungspraktiken wechseln, stellen wir fest, dass sowohl das „Inter-“ als
auch das „Trans-Muster“ als Modelle für menschliche Repräsentationen,
Haltungen und Handlungen fungieren. Ciao fanti ist nicht das einzige Beispiel aus
der Kultur des Karsts, das in Abhängigkeit vom Kulturmuster der Akteure als
trans- bzw. interkulturell oder aber als eine ambivalente Mischform beider
Modelle betrachtet werden kann. Eine Frage der Perspektive ist z.B. die
Erörterung der kulturellen Haltung der Dorfelite von Dolina am Ende des
19. Jahrhunderts, die von Verginella untersucht wurde. Befürwortet die
Historikerin einen transkulturellen Blick auf das Verhalten dieser Elite, räumt sie
gleichzeitig ein, dass die Dorfoberschicht doch interkulturell zu handeln scheint.
Verginella zufolge hielt die Dorfelite die urbane Kultur tatsächlich für das
moralisch verdorbene Andere und zog eine klare Linie zwischen ihr und der
eigenen ländlichen Kultur.123 Das Dorfestablishment habe einige Diskurse und
Praktiken aus der Stadt übernommen „malgrado la loro pretesa di contrastare il
mondo cittadino italiano“ (trotz ihres Anspruchs, der italienischen urbanen Welt
entgegenzutreten).124 Ohne es explizit zu behaupten, scheint Verginella davon
auszugehen, dass dieser Kulturtransfer eher unreflektiert war. Man könnte
allerdings darüber spekulieren, inwiefern sich die Dorfelite doch der Annährung
an städtische Kulturmerkmale bewusst war: Sie hätte nämlich ihre Affinität zur
bürgerlichen Welt mit den Schein ablehnender Interkulturalität lediglich tarnen
können, um die Dorfgemeinschaft von der Anziehungskraft der Stadt abzulenken
und ihre Führungsposition auf dem Land zu bewahren. Auch in diesem Fall bliebe
aber offen, ob die Dorfoberschicht inter- oder transkulturell handelte: Dachten
ihre Mitglieder – wie Verginella anhand der Quellen behauptet –, dass die urbane
Welt eine andere Kultur darstellt, aus der einige Merkmale für die eigene Kultur
übernommen werden können, oder sahen sie im Grunde eine Kontinuität
zwischen den kulturellen Strategien, mit denen sich Eliten sowohl in der Stadt als
auch auf dem Land an der Macht halten?125 Diese Fragen sind nicht einfach zu
122
Man sollte historisieren und zwischen Denkern der Moderne wie Freud und jenen der
Postmoderne wie den cultural-studies-Wissenschaftlern unterscheiden. Man sollte zwischen
Modellen unterscheiden, die die strukturelle Prädisposition der Menschen zur vereinfachenden
Welterkenntnis und -erfahrung betonen, und Modellen, welche eher die Rolle von Machtstrukturen
hervorheben. Man sollte zwischen Denktraditionen differenzieren: Hermeneutik, Strukturalismus,
Dekonstruktion und andere poststrukturalistische Ansätze, die gegen die Dekonstruktion
polemisieren usw.
123
VERGINELLA, Città e campagna, 1990, 218.
124
Ebd.
125
Auch in diesem Fall könnte man allerdings von Interkulturalität sprechen: Eine
Gesellschaftsschicht – sprich die Elite, sei sie städtisch oder dörflich – sieht sich selbst als
311
312
beantworten, zumal es ein Fehler sein könnte, hinter jeder kulturellen Handlung
ein kohärentes Kulturmuster zu vermuten: So sehr diese Muster konstitutiv für die
Diskurse und Praktiken von Gesellschaft und Individuen sind und so sehr die
Wissenschaft versucht sie festzulegen, erweisen sie sich in der Praxis nicht selten
als ambivalent. Demzufolge geht es mir in dieser Untersuchung darum zu zeigen,
wie die Repräsentationen des Interferenzraums Karst zwischen Inter- und
Transkulturalität schwanken. Im Verhältnis zwischen Schwanken und
Verankerung in einem bestimmten Kulturmuster besteht ihre Plastik.
6. Repräsentation III: fiktionale Literatur
Die fiktionale Literatur der letzten zwanzig Jahre hat einen italienisch- und einen
slowenischsprachigen Roman über den Karst hervorgebracht. Sie lassen sich gut
miteinander vergleichen, weil sie kulturelle Interferenzen mithilfe verschiedener
Kulturmuster repräsentieren: „Franziska“ (1997) von Fulvio Tomizza und „Hiša
na Krasu“ (Das Haus auf dem Karst, 2006) von Evelina Umek. Beide erzählen
eine Liebesgeschichte, die im Karst ihren Ausgang nimmt. In „Franziska“ verliebt
sich ein slowenisches Dorfmädchen während des Ersten Weltkriegs in einen
italienischen Offizier aus der Lombardei und unterhält mit ihm in Triest eine
Beziehung, die aufgrund kultureller und gesellschaftlicher Unterschiede zwischen
den beiden Figuren scheitert. „Hiša na Krasu“ spielt in der heutigen Zeit und
handelt von der werdenden Liebe zwischen einem italienisch sozialisierten
Slowenen aus dem Triester Karst und einer Slowenin aus Ljubljana, die aus dem
slowenischen Karst stammt. Beide Romane schenken dem Karstmilieu, seiner
Gesellschaft, seiner Geschichte und seiner Beziehung zu Triest, Italien und
Slowenien große Aufmerksamkeit. Dieses Motiv entspricht den Interessen sowohl
Tomizzas als auch Umeks, die beide aus der nordostadriatischen Region
stammen: Tomizza wurde 1935 nahe des italienisch-kroatischen Dorfes Materada
in Nordistrien geboren, er starb 1999 in Triest. Umek wurde 1939 in einer
slowenischen Familie in Triest geboren und hat ihr Leben teils in ihrer
Heimatstadt und teils in Slowenien verbracht. Beide Autoren haben sich – jeder
aus einer anderen Perspektive – für die reziproke Anerkennung und den
Kulturaustausch zwischen Italienern, Kroaten und Slowenen engagiert und ihre
eigene Identität sowie die ihrer Landsleute in enger Verbindung mit der
kulturellen Vielfalt ihrer Herkunftsregion dargestellt.126
„Kultur“ und verteidigt den Kern ihrer Identität, d.h. ihren sozialen Vorrang, vor den
gesellschaftlichen Umwälzungen der Modernisierung.
126
Zu Umek, deren Werk vor allem regional bekannt ist, wurde bis auf Zeitungs- bzw.
Zeitschriftartikel (u.a. VODOVNIK, Na poti, 2010, 20; GREGORIČ, Nov roman, 2006, 8, nicht viel
geschrieben. Verweise auf Umeks Werk in wissenschaftlichen Studien findet man in L. UMEK,
Poti tržaškega romana, 2007, 110 und BANDELJ, Sodobna proza, 2010, 14). – Tomizza besitzt zwar
einen festen Platz im Kanon der italienischen Literatur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, er
erlangte internationale Bekanntheit und ist übersetzt und ausgezeichnet worden; dennoch wurde
sein Werk von Literaturkritikern und -wissenschaftlern nicht wirklich intensiv behandelt. Man
312
313
6.1 Einzelgänger-Karst
„Franziska“ ist ein historischer Roman, der auf einer historischen Quelle basiert,
einem erhalten gebliebenen Liebesbriefwechsel aus der Zwischenkriegszeit. Der
Titel ist zugleich der Name der Protagonistin, die am symbolträchtigen 1.1.1900
in einer slowenischen Familie bescheidener Herkunft im Karstdorf Štanjel (it. San
Daniele del Carso) geboren wird. Das Genre des historischen Romans ist typisch
für Tomizza, der sehr oft intensiv mit historischen Quellen arbeitet. Seine
Darstellung der Geschichte ist allerdings nicht mimetisch in der Art des
traditionellen
realistischen
und
naturalistischen
Romans.
Die
Literaturwissenschaftlerin Elis Deghenghi Olujić bezeichnet Tomizzas Erzählen
als eine Kombination von „narrativa storica“ (historische Narration) und
„narrativa della verità“ (Wahrheitsnarration)127, wobei Letztere der Erzählung eine
stark auktoriale, modernistisch geprägte existenzielle Metaebene hinzufüge, „eine
quälende, schmerzhafte Betrachtung über die Rolle des Menschen in der
Geschichte und umgekehrt über die Rolle der Geschichte und deren Wirkung auf
das Schicksal der einzelnen Individuen“128 inklusive des Autors. Diese Metaebene
entsteht aus einer Erzählweise, bei der die Narration immer wieder unterbrochen
wird, um die Arbeit des Autors/ Erzählers an seiner Geschichte und an seinen
Quellen offenzulegen. Diese werden als fragmentarische Dokumente der
Vergangenheit präsentiert, die nie erschöpfend sein können, selbst dann nicht,
wenn sie faktisch exhaustiv sind. Tomizza zufolge bedürfen historische Quellen
immer eines Interpreten, um eine Bedeutung zu erlangen, da sie selten über die
intimen Gedanken und Emotionen der Individuen Auskunft geben. Sogar Texte
wie Liebesbriefwechsel, deren Inhalt private Gefühle fokussiert, verlangen laut
Tomizza die Phantasie eines Geschichtenerzählers, denn sie enthalten immer viele
Lücken, die lediglich durch spekulative Arbeit geschlossen werden können. Dies
führt unweigerlich zur Vermengung von faction und fiction, weil der Autor das
imaginiert, was die Quellen nicht sagen.129 Dabei gestaltet Tomizza seine
Fiktionalisierung von Geschichte nicht als die unsichtbare Leistung eines
allwissenden Erzählers, sondern als offenkundig subjektive Hinwendung eines
Autors zu seinem Erzählstoff. Tomizzas Romane sind zwar vorwiegend in der
dritten Person geschrieben, aber sie enthalten einige Wechsel zur ersten Person, in
denen sich die Erzählstimme als der Autor vorstellt. Tomizza erzählt abwechselnd
zum einen quasi homodiegetisch, indem er die Figuren so nah fokussiert, dass sie
sich beinahe wie durch eine erlebte Rede ausdrücken können, und zum anderen
stark heterodiegetisch, wenn er die Ereignisse bzw. seine Quellen auktorial
findet einen bibliographischen Überblick zu ihm in CIMADOR, Bibliografia, 2009. Auf Deutsch
u.a. KANDUTH, Fulvio Tomizzas Beitrag, 1978 und STRUTZ/ ZIMA, Fulvio Tomizza und das
Thema der Convivenza, 1996.
127
OLUJIĆ, Verità storica, 2001, 22 f.
128
Ebd., 23.
129
Ebd.
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314
kommentiert, sie hinterfragt bzw. ihre Authentizität bezweifelt. Die Situativität
der Erzählung wird außerdem gelegentlich durch Erzählrahmen eingeleitet, in
denen der Autor/ Erzähler erklärt, welchen existenziellen Wert der Erzählstoff für
ihn hat.
Ein solcher Rahmen spielt eine fundamentale Rolle in „Franziska“ und
fungiert fast als Anleitung für den Leser. Tomizza lässt im Prolog des Romans
einen Ich-Erzähler sprechen, der sich als Autor des Textes vorstellt.130 Dieser
erzählt, dass er den Briefwechsel zwischen Franziska und ihrem Geliebten, dem
italienischen Offizier Nino, von einem Triester slowenischen Lehrer bekam und
sich sehr für die Briefe interessiert, weil sie einen für die Italiener unüblichen
Blick auf das Leben der Slowenen in Triest gewähren. Die Figur von Franziska,
die im habsburgischen Triest als Eisenbahnbeamtin arbeitet, stellt das Klischee in
Frage, alle Slowenen im österreichischen Triest nur Bauern, Handwerker, Arbeiter
oder Polizisten gewesen: „C’era dunque un tempo […] nel quale anche a Trieste
una ragazza slovena poteva svolgere servizio presso un ente pubblico di primaria
rilevanza“ (Es hatte also eine Zeit gegeben […], in der ein slowenisches Mädchen
auch in Triest bei einem der wichtigsten Staatsunternehmen Dienst tun konnte).131
Das überraschte den Ich-Erzähler, weil man in der Regel davon ausgeht, dass die
Slowenen in Triest auch zur österreichischen Zeit aufgrund des Vorrangs der
italienischen Sprache auf fast allen Ebenen der Stadtverwaltung benachteiligt
waren:
L’amministrazione cacana […] aveva tutt’al più inserito nella gendarmeria
non pochi ragazzotti dei rioni periferici e del Carso, i quali, investititi
d’autorità e dotati di arma, non riuscivano sempre a farsi rispettare e, quando
comminavano una multa, dovevano sorbirsi il motteggio delle stesse parole
pronunciate in italiano.132
[Die k. u. k. Verwaltung […] hatte […] eine Anzahl junger Burschen aus dem
Umland und vom Karst bei der Gendarmerie aufgenommen, denen es jedoch,
trotz Autorität und Waffen, keineswegs immer gelang, sich Respekt zu
verschaffen, und wenn sie eine Strafe androhten, mussten sie sich durch die
Nachäffung ihres unbeholfenen Italienischen verhöhnen lassen.]133
Die Voreingenommenheit der Triester Italiener gegenüber den Slowenen und
ihrer Sprache wurde – so Tomizza in seinem Prolog – nach dem Anschluss von
Triest an Italien noch akuter und verfestigte sich zu einer chronischen Intoleranz,
die nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die heutige Zeit fortdauert. Der Erzähler
zeigt dies anhand eines Vergleichs zwischen Triest und Görz, wo er in den 1930er
130
Obwohl sich dieser Erzähler nicht direkt als „Fulvio Tomizza“ bezeichnet, gibt er Auskünfte
über die eigene Person, die eine Identifizierung von implizitem und explizitem Autor ermöglichen.
131
TOMIZZA, Franziska, 1997, 12. Dt. Übers.: DERS., Franziska, 2001, 12.
132
TOMIZZA, Franziska, 1997, 12.
133
TOMIZZA, Franziska, 2001, 12.
314
315
Jahren das Seminar besuchte: Schon damals hatte er beobachtet, dass das
Slowenische in Görz besser etabliert war, weil die Slowenen hier anders als in
Triest „avevano avuto modo d’insediarsi con negozi ed esercizi in pieno centro“
(in die Lage versetzt worden waren, sich mit jeder Art von Geschäft und Gewerbe
mitten im Zentrum niederzulassen).134 Tomizza sei dieser grundsätzliche
Unterschied zwischen Görz und Triest noch einmal aufgefallen – kurz bevor er in
Besitz von Franziskas Briefen kam –, als er in der Kantine des Görzer
Zugbahnhofs zwei Köchinnen gehört habe, die ganz offensichtlich Slowenisch
miteinander sprachen:
Subito fui portato a considerare che a Trieste, dove la minoranza slovena era
più sparsa ma anche più numerosa, mai in luogo pubblico si sarebbe fatto uso
della lingua tanto avversata.135
[Plötzlich schoss mir der Gedanke durch den Kopf, dass sich in Triest, wo die
slowenische Minderheit weiter verstreut und auch zahlenmäßig viel größer
war, niemand an einem öffentlichen Ort dieser Sprache bedienen würde.]136
Der Ich-Erzähler/ Autor findet die Figur von Franziska deswegen spannend, weil
eine slowenische Eisenbahnbeamtin in Triest sein Wissen über die Geschichte der
Stadt herausfordert. Franziskas Leben könne ihm und seinen Lesern neue
Auskünfte darüber geben, wie die Slowenen sowohl vor als auch nach dem Ersten
Weltkrieg den Sprach- und gesellschaftlichen Konflikt mit den Italienern im Karst
und in Triest erlebten und welche Handlungsmöglichkeiten sie dabei hatten. In der
Tat kommt im Roman die Absicht klar zutage, die stereotype Gleichstellung von
einerseits Slowenen, Land und bäuerlicher Kultur sowie andererseits Italienern,
Stadt und bürgerlicher Kultur in Frage zu stellen.
Das Karstbild, das im ersten Teil des Romans als Franziskas Kindheitswelt
präsentiert wird, widerspricht dem kulturellen Konstrukt vom ländlich
rückständigen Karst und den unzivilisierten Slowenen. Die Erzählstimme bemüht
sich hier um ein detailliertes Fresko des Karstraums am Anfang des
20. Jahrhunderts. Dabei beschäftigt sie sich näher mit der Topographie von
Franziskas Geburtsdorf Štanjel, mit seiner Gesellschaftsstruktur und mit der des
gesamten Karstgebiets. „Franziska“ weicht somit von der Tradition der Triester
italienischsprachigen Literatur über den Karst ab, die sich vor allem auf die
Landschaft konzentriert und die Einwohner pauschal als zwar naturnahe und
kräftige, aber auch rückständige und verschlossene Landleute darstellt.137
134
Tomizza, Franziska, 1997, 10. Dt. Übers.: DERS., Franziska, 2001, 10.
TOMIZZA, Franziska, 1997, 10.
136
TOMIZZA, Franziska, 2001, 10.
137
Siehe Scipio Slatapers klassisches Werk über den Karst „Il mio Carso“ (Mein Karst, 1912)
und Giani Stuparichs Erzählung „La grotta“ (Die Höhle, 1935). Starke Ähnlichkeiten mit
Franziska zeigt hingegen Renato Ferraris Roman „Il gelso dei Fabiani“ (Der Maulbeerbaum der
Ferraris, 1975), der eine umfassende Beschreibung der historischen Lage des Karsts um die Mitte
des 19. Jahrhunderts bietet.
135
315
316
Tomizzas Roman weist hingegen darauf hin, dass der Karst ein Siedlungsgebiet
alter Tradition ist, in dem Dörfer wie Štanjel eine interessante Burgstruktur und
andere architektonische Besonderheiten aufweisen, und das reich an
Schlossanlagen ist, vgl. z. B. die Festung in Štanjel oder das von dort wenige
Kilometer entfernte Schloss in Riffenberg (sl. Rihemberk):
A distanza risultava chiaro che il borgo turrito s’infittisse coi suoi diversi
ordini di casupole al di sopra della cinta fin quasi al cocuzzolo, dove un
margine di vegetazione nascondeva la rocca. A guardarlo invece da sotto la
porta, esso non prospettava che i bastioni collegati fra loro da mura merlate e
da un paio di imponenti edifici chissà quando e da chi abitati al completo. Ma
[…] il paese possedeva una particolarità ancora più insolita e forse unica al
mondo: il suo campanile si ergeva regolare fino alla torre campanaria, sulla
quale si sovrapponeva la cima allungata e un po’ approssimativa di un
minareto. Costruzione quasi conclusa in una normale sequenza della nostra
storia e finita, forse anche per sfregio, durante un’incursione turca?138
[Aus der Ferne sah man, dass sich der turmbewehrte Ort [Štanjel] mit seinen
terrassenartig angeordneten kleinen Häusern oberhalb der Befestigungsmauer
immer mehr verdichtete, bis fast zur Hügelkuppe hinauf, wo sich hinter
Bäumen und Büschen die Burg verbarg. Von unterhalb des Stadttors her
ließen sich jedoch nur die Bastionen ausmachen, untereinander verbunden
durch zinnenbekrönte Mauern und ein paar imposante Gebäude, die wer weiß
wann und von wem in allen ihren Teilen bewohnt waren. Aber […] der Ort
[besaß] eine noch ungewöhnlichere und vielleicht sogar auf der ganzen Welt
einmalige Besonderheit: Sein Kirchturm erhob sich ganz normal bis zum
Glockenaufsatz, über dem die langgezogene, an ein Minarett erinnernde
Spitze emporragte. Ein Bau, der in einer normalen Phase unserer Geschichte
begonnen und, vielleicht auch zum Hohn, während einer türkischen Invasion
fertiggestellt wurde?]139
Tomizza zeigt zwar am Beispiel von Franziskas Familie und ihrem Umfeld, dass
viele Karsteinwohner Bauern und Handwerker sind: Franziskas Vater ist Tischler,
ihre Tante Schneiderin, die Nachbarn sind Bauern. Doch auch der Mittelstand ist
im Karst vertreten, denn Franziskas Tante bekommt viele Aufträge von Beamten,
Offizieren, Apothekern und Ärzten, die in den verschiedenen Karstzentren
wohnen. Im Karst ist auch die Aristokratie altansässig, wie Franziska dank ihrer
umtriebigen Tante erfährt, der es gelingt, Franziska als Zögling der Baronin Gelda
auf das Schloss Riffenberg zu senden. Die Figur der Baronin, einer gebürtigen
Slowenin aus der Steiermark, widerspricht dem italienisch-nationalistischen
Stereotyp von den halbzivilisierten Slowenen, die nur ihre Muttersprache
sprechen: Gelda von Riffenberg beherrscht das Deutsche vollkommen, sie hat ihre
138
139
TOMIZZA, Franziska, 1997, 28 f.
TOMIZZA, Franziska, 2001, 29 f.
316
317
Jugend am Wiener Hof verbracht. Eine andere Demystifikation des Stereotyps
stellt der Hinweis auf die slowenischen Karstintellektuellen dar: Die kleine
Franziska hat nämlich Gelegenheit, Srečko Kosovel, einen der wichtigsten
slowenischen Dichter des 20. Jahrhunderts, in seinem Heimatsdorf Tomaj
kennenzulernen, als auch er noch ein Kind ist.
Trotz
seiner
aufmerksamen
Beobachtung
der
vielschichtigen
Karstgesellschaft scheint auch Tomizza am Diskurs über den Karst als Inbegriff
der ländlichen Kultur zumindest partiell teilzunehmen. Im Gegensatz zum
italienischen städtisch-nationalistischen Bild preist er allerdings die Karstbauern
und -handwerker als Träger einer starken und zähen Lebens- und Arbeitskultur:
a quel lembo pietroso sempre cangiante e sempre ridotto, quasi
un’increspatura della terra normale, s’intonavano le donne che si affrettavano
con gli scarponi verso mercati del guadagno e l’acquisto misurati, i loro mariti
calati nelle doline ad affidare il seme a un humus di recente formazione e di
breve durata.140
[Zu diesem steinigen, immer sich wandelnden und immer zurückgebliebenen
Landstrich, gleichsam nur eine Kräuselung der normalen Erde, passten die
Frauen, die in ihren schweren Schuhen Märkten zueilten, die wenig brachten
und wenig boten, ihre Männer, die in die Dolinen hinunterstiegen, um den
Samen in einen Humus zu legen, der sich erst vor kurzem gebildet hatte und
bald wieder verweht sein würde.]141
Der Autor bewundert die unteren Schichten, idealisiert sie aber nicht stark. So
stellt er z. B. die Naivität von Franziskas Tante dar, „una solerte operaia sdentata“
[eine fleißige, bereits zahnlose Arbeiterin]142, deren Vornehmtuerei ein wenig
peinlich wirkt, wenn sie damit prahlt, dass sie dank ihre Berufs mit den Damen
der guten Gesellschaft in Kontakt treten kann.
Insgesamt repräsentiert „Franziska“ den Karst als eine Gegend, wo Mentalität
und Alltag der Menschen noch stark von der Lebenswelt des Habsburger ancien
régime geprägt sind. Die Schichtung der Gesellschaft ist hier noch recht
traditionell, und soziale Übergänge sind zwar möglich, aber nur über bestimmte
Wege, welche die Stabilität des Systems im Großen und Ganzen nicht gefährden.
Die Autorität, auf der diese Welt beruht, ist der Kaiser, zu dem Franziska eine
besondere Verbindung hat: Ihre spezielle Geburtsstunde hat ihr nämlich das
seltene Privileg der kaiserlichen Patenschaft verschafft, die Kaiser Franz Joseph
am ersten Tag des 20. Jahrhunderts jedem Neugeborenen seiner Domäne
gewährte. Dank dieser Patenschaft wird der kleinen Franziska Respekt (und Neid)
von der Karstgesellschaft entgegen gebracht, und wahrscheinlich akzeptiert es die
Baronin Gelda deswegen, sich um ihre Bildung zu kümmern. Dies schließt
140
141
142
TOMIZZA, Franziska, 1997, 41.
TOMIZZA, Franziska, 2001, 42 f.
TOMIZZA, Franziska, 1997, 41. Dt. Übers: DERS., Franziska, 2001, 43.
317
318
übrigens ein, dass sich Franziska das Deutsche aneignen muss143, denn sie wächst
in einem in gewisser Hinsicht noch prämodernen Karst auf, in dem Sprache,
Ethnie und Gesellschaft sich nicht nach national(istisch)em Muster, sondern
vielmehr nach den Prinzipien der Ständegesellschaft verbinden. Obwohl die
Baronin darauf besteht, dass Franziska ihr dialektlastiges Slowenisch verbessert,
ist das Deutsche die Sprache, die sie zu lernen hat, weil diese der Kommunikation
mit den oberen Schichten der Monarchie dienlich ist.
Dieser ancien-régime-Karst wird jedoch als bereits in seiner
Abenddämmerung befindlich dargestellt. Als Franziska das Bild ihres alten
kaiserlichen Paten zum ersten Mal an einer Wand hängen sieht, ist sie von seinem
Alter ziemlich irritiert:
Lo fissò restando sorpresa e sempre più delusa. Se lo era figurato grande e
forte, guida di tutti i soldati, e lo vedeva troppo vecchio per tenere un
bambino a battesimo, anche per fargli da nonno. Incurvito dagli anni,
mascherato dal pelo su gran parte del viso, sembrava reggersi dritto per far
vedere tutte quelle medaglie al petto mentre lui in cuor suo preferiva
andarsene, morire, e per la rabbia che non lo si volesse ascoltare pareva sul
punto di abbaiare come un cane.144
[Sie starrte es an, überrascht und mit wachsender Enttäuschung. Groß und
stark hatte sie ihn sich vorgestellt, an der Spitze aller Soldaten, und nun sah
sie einen Greis, zu alt, um ein Kind aus der Taufe zu heben, ja selbst um ihm
ein Großvater zu sein. Von den Jahren gebeugt, das Gesicht zum größten Teil
hinter dem Bart verborgen, schien er sich nur aufrecht zu halten, damit man
all die Medaillen auf seiner Brust sehen konnte, während er insgeheim lieber
davongehen, sterben wollte, und aus Wut darüber, dass man nicht auf ihn
hörte, schien er gleich losbellen zu wollen wie ein Hund.]145
Nicht minder veraltet, erbittert und unzeitgemäß ist die Baronin Gelda, die seit
Jahrzehnten einsam in ihrem Schloss um ihren Mann trauert, der nach nur einem
Jahr Ehe in der Seeschlacht von Lissa (1866) gegen die Italiener starb. Riffenberg
erscheint als ein Überbleibsel aus anderen Epochen, es ist in Anlehnung an den
Chronotopos der Schlösser und Paläste des gotischen Romans mit einem
Quasigespenst ausgestattet. Eines Nachts verfolgt Franziska ihre Mentorin
heimlich in einen verlassenen Flügel des Schlosses und beobachtet, wie sie eine
Schneiderpuppe in der Uniform des verstorbenen Mannes anbetet, anfleht und
küsst:
Orrore e pena, ribrezzo e commozione, i più opposti sentimenti si
contendevano il cuore della giovane di fronte a quella scena. […] Per cui intuì
143
144
145
TOMIZZA, Franziska, 2001, 48.
TOMIZZA, Franziska, 1997, 37 f.
TOMIZZA, Franziska, 2001, 38 f.
318
319
che la morte tanto più diventava terribile e tetra quanto più la si voleva
mescolare con la fiamma della vita. Ma quando la cara Gelda si levò dal
pavimento e, accostatasi al patetico fantoccio, lo abbracciò forte, Franziska
indietreggiò e corse via senza curarsi di sollevar rumore.146
[Entsetzen und Mitleid, Abscheu und Rührung, die widersprüchlichsten
Gefühle stritten sich im Herzen des Mädchens angesichts dieser Szene. […]
Intuitiv erfasste sie, dass der Tod um so schrecklicher und düsterer wurde, je
mehr man versuchte, ihn mit der Flamme des Lebens zu vermischen. Aber als
die teure Gelda sich vom Boden erhob, zu der pathetischen Marionette ging
und sie heftig umarmte, wich Franziska zurück und rannte davon, ohne sich
darum zu kümmern, ob sie Lärm machte oder nicht.]147
Durch den Bezug auf morbide literarische Atmosphären gestaltete Tomizza den
Karst um die Jahrhundertwende als eine sterbende Welt, die krankhaft das
Andenken an die eigene glorreiche Vergangenheit in der Habsburger Monarchie
am Leben hält, bis ihr der Erste Weltkrieg den Todesstoß versetzt. Während
Baronin Gelda Schloss Riffenberg verlässt und sich in ihre heimatliche Steiermark
begibt, zieht Franziska nach Triest – eine Stadt, deren Alltag längst vom
Nationenkampf durchdrungen ist. War ihre Kindheit im Karst durch das imperiale
Privileg der kaiserlichen Patenschaft geprägt, ist ihr Erwachsenenleben in Triest
durch ihre Zugehörigkeit zur slowenischen ethnischen Gruppe gebrandmarkt, die
ihr in jedem Lebensbereich Probleme bereitet.
In Triest begegnet Franziska zum ersten Mal dem Stadt-Land-Paradigma der
italienischen Nationalisten, dem zufolge der slowenische Karst und das
italienische Triest zwei gegensätzliche und hierarchisch geordnete Welten
darstellen:
Tutta la disinvoltura dei triestini italiani, le loro provocazioni, l’impassibile
gusto di deridere, si originavano dal vanto di affacciarsi a quello specchio
azzurro, privo di delimitazioni nella sua espansione frontale, e si
manifestavano ai danni di quanti vi erano approdati dall’interno. Questo
discrimine investiva in particolare gli abitanti dell’immediato retroterra […].
Proprio per loro era stato coniato il detto: „Cicio no xe per barca“. Là oltre si
stendeva l’Italia, splendente per il paesaggio, la storia, la cultura, le arti, che
acuivano l’insofferenza di questi suoi figli che mai ne avevano fatto parte e
avevano ostentato la loro ideale appartenenza in faccia ai rigidi occupanti
austriaci (considerati ottusi, ritardati), e, più di recente, a quel branco di
neoinurbati i quali pretendevano di possedere una loro identità, una lingua,
una propria cultura, da far valere nell’auspicabile strappo della comune
dominazione.148
146
147
148
TOMIZZA, Franziska, 1997, 56.
TOMIZZA, Franziska, 2001, 59 f.
TOMIZZA, Franziska, 1997, 73 f.
319
320
[Die ganze Selbstsicherheit der italienischen Triestiner, ihr Provozieren, ihre
unerschütterliche Freude am Spott leiteten sich von dem Stolz her, auf diesen
blauen, nach hinten zu unbegrenzten Meeresspiegel zu schauen, und äußerten
sich auf Kosten derer, die aus dem Landesinnern zugezogen waren. […]
Genau für sie war der Spruch geprägt worden: „Cicio no xe per barca.“ („Der
Tschitscho taugt nicht fürs Boot.“)149 Dahinter erstreckte sich Italien im Glanz
seiner Landschaft, seiner Geschichte und seiner Kultur, und das verschärfte
die Unduldsamkeit dieser Landeskinder [der Triester Italiener, M.C.], die
zwar nie dazugehört hatten, aber umso mehr ihre ideelle Zugehörigkeit zur
Schau trugen: gegenüber den rigiden österreichischen Besatzern (die als
dumpf und zurückgeblieben angesehen wurden) und in jüngerer Zeit
gegenüber jener Herde von Neuzugezogenen [den Slowenen, M.C.], die
behaupteten, eine eigene Identität, Sprache und Kultur zu besitzen, um dafür
bei der gemeinsamen Regierung Sonderrechte geltend zu machen“.]150
Bereits die Wortwahl, mit der die Erzählstimme die Weltsicht des Triester
italienischen Nationalismus zusammenfasst, zeigt Tomizzas Distanz gegenüber
dieser Weltsicht. Die negative Konnotation des Verbs ostentare (in der deutschen
Fassung allzu neutral als „zur Schau tragen“ übersetzt) drückt die kritische
Distanz der Erzählstimme gegenüber der überheblichen Haltung der Triester
Italiener aus. Auch deren Definition der Karstslowenen als „branco di
neoinurbati“ (Herde von Neuzugezogenen) klingt sehr arrogant, sodass der Leser
den Anspruch der Slowenen, eine eigene Kultur zu haben, als gerechtfertigt
wahrnehmen dürfte.151
Tomizzas Erzählstimme in der dritten Person versucht außerdem, die
Grundsätze des Stadt-Land-Paradigmas durch einen historischen Exkurs über
Triest um die Jahrhundertwende und während des Ersten Weltkriegs zu
relativieren. Kurz, aber präzise werden die verwickelten Zusammenhänge von
politischer Einstellung, gesellschaftlicher Position und ethnischer Herkunft
dargelegt.152 Implizit wendet Tomizza Verginellas Krakenmodell auf Triest an
und zeigt, wie die Anhänger der verschiedenen Nationalismen die dynamische
Komplexität ihrer Stadt auf einen Konflikt zwischen zwei ethnischen Gruppen
reduziert haben, die als vollkommen fremd und unversöhnlich verfeindet
erscheinen, obwohl die Grenze zwischen ihnen an sich durchlässig ist. Zu den
eifrigsten italienischen Nationalisten gehören nämlich auch verstädterte arme
149
In einer Fußnote präzisiert der Übersetzer, dass der Tschitscho ein „Bewohner des
Karstplateaus, das sich von Triest bis Fiume erstreckt“ ist; er bezieht sich hierbei auf eine breitere
Karst-Definition, nach der Istrien zum Karst gezählt wird.
150
TOMIZZA, Franziska, 2001, 76 f.
151
Die deutsche Übertragung unterstützt das Hineinversetzen in die Denkweise der Slowenen,
indem sie das Verb pretendere nicht mit „sich anmaßen“, sondern mit „behaupten“ übersetzt, d.h.
sie lässt die Slowenen von ihrem Standpunkt aus argumentieren, anstatt wie im Original die
überhebliche Perspektive der Italiener durch die Sprachwahl weiterzuvermitteln.
152
TOMIZZA, Franziska, 1997, 74–79. Dt. Übers.: DERS., Franziska, 2001, 77–80.
320
321
slowenische Familien aus dem Karst, die aus lauter Angst vor wirtschaftlicher und
sozialer Ausgrenzung zu italienischen Nationalisten geworden sind. Ihre
feindliche Haltung gegenüber den Slowenen beschreibt Franziska selbst in einem
Gespräch auf Italienisch, wobei ihre noch groben und fehlerhaften
Sprachkenntnisse einen starken Gegensatz zu der fast gehobenen Sprache der
Erzählstimme bilden. Ihre implizite Kritik am italienischen Nationalismus der
gewendeten Slowenen wird dadurch explizit: „Gente come è lui ammazzasse noi
come è niente. Ma no che possano ancora. E alora voliono scaciare via noi,
marsch, tornare in vostro Carso!“ (Leute wie der da [ein antislawischer
Amtsdiener des Bahnsitzes in Triest, M.C.] uns am liebsten töten wie nix. Aber
jetzt sie nicht können. Und deshalb sie uns wollen jagen fort, marsch, zurück in
eure Karst!)153
Tomizza zeigt an Franziskas Erfahrungen, dass der italienische Nationalismus
eine Tatsache ist, die jegliche Integration der slowenischen Einwanderer in das
Triester Stadtleben unterbindet und dadurch selbst jene Figur des unkultivierten
slowenischen Dörflers produziert, die der italienische Nationalismus wiederum als
Argument für die Überlegenheit der italienischen Kultur instrumentalisiert.
Polemisch weist Tomizza auf den Unternehmergeist hin, welchen die Slowenen
seit dem 19. Jahrhundert in Triest bewiesen haben. Diese Umtriebigen verfügten
im habsburgischen Küstenland über ein florierendes soziales, wirtschaftliches,
politisches, schulisches und kulturelles Netzwerk in slowenischer Sprache, das
von der Mehrheit der italienischsprachigen Bevölkerung allerdings nie akzeptiert
und vom Faschismus verfolgt und gewaltsam auseinandergerissen wurde. Die
slowenischsprachigen Karstbewohner fanden ohne diese gesellschaftlichen
Strukturen in der Stadt keine Stützen mehr, die ihnen eine Etablierung in der
bürgerlichen Gesellschaft ermöglicht hätten. Die Rolle unkultivierter Burschen
vom Lande wurde ihnen vom Nationalismus der italienischen Politik somit
aufgezwungen. Franziskas Geschichte veranschaulicht laut Tomizza, wie der
italienische faschistische Nationalismus der Zwischenkriegszeit die slowenische
Kultur in Julisch Venetien in eine Sackgasse trieb. Franziska versucht sich den
Italienern sowohl auf Arbeit als auch in ihrer Beziehung zum geliebten Nino zu
assimilieren, aber sie scheitert nicht nur an ihren inneren Zweifeln, sondern
letzten Endes vor allem daran, dass ihr Freund und mit ihm die ganze italienische
Gesellschaft von ihr die Assimilation verlangen und gleichzeitig nicht daran
glauben, dass sie diese erfolgreich vollziehen kann. Nino ist zwar weder Rassist
noch überzeugter Nationalist, aber er hat kein Interesse für die slowenische
Sprache und Kultur und geht davon aus, dass Franziska sich die italienische
Kultur zu eigen machen muss, um ihn zu heiraten. Sie wiederum ist hin und
hergerissen zwischen dem Willen, an Ninos bürgerlicher und italienischer Welt
teilzuhaben, der Angst, in diesem Vorhaben zu scheitern und dem schlechten
Gewissen, ihre eigene Kultur zu verleugnen. Als die Faschisten die Macht
ergreifen und die Lage der Slowenen in Julisch Venetien kritisch wird, beginnt die
stark verunsicherte Franziska fast krampfhaft an Nino festzuhalten, während
153
TOMIZZA, Franziska, 1997, 103. Dt. Übers.: DERS., Franziska, 2001, 107.
321
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dieser sich allmählich von ihr distanziert und aufgrund einer Krankheit plötzlich
nach Cremona zurückkehrt. Dort lebt er recht einsam und entzieht sich sowohl
seiner Liebesbeziehung – da er nicht bereit ist, für sie gegen die Konventionen zu
verstoßen – als auch dem Gesellschaftsleben, weil er eine heimliche Abneigung
gegen den Faschismus empfindet. Franziska bleibt in Triest als Angestellte bei
einem slowenischsprachigen Anwalt und kann sich von den Erinnerungen an Nino
erst befreien, als sie während des Zweiten Weltkriegs in den Karst zurückkehrt.
Erst in ihrer Heimatregion hat Franziska die Möglichkeit, sich mit dem
Verlauf ihres Lebens und ihrer gescheiterten Assimilation auseinanderzusetzen.
Sie macht einen Spaziergang bis zum Schloss Riffenberg und stellt vor dem leeren
und verlassenen Bau fest, dass ihr bisheriges Leben demjenigen der Baronin
Gelda sehr ähnlich war: Wie diese hat Franziska im Schatten einer Liebe gelebt,
die sie nicht zu verwirklichen vermochte, zumal ihre Liebe nicht einmal am Tod
des Geliebten gescheitert ist wie die Liebe der Baronin, sondern an Ninos
Unterwürfigkeit gegenüber den Regeln der Gesellschaft. Die Szene des
Spaziergangs basiert auf der Korrespondenz zwischen Franziskas Gemütszustand
und den Eigenschaften der sie umgebenden Natur. Franziska reißt ein paar Zweige
von einem Strauch und bemerkt dabei, dass dessen Blätter
non avevano neanche odore, oltre a quell’asprigno gommoso comune a tutta
la pianta; erano belle e basta, pura apparenza infruttuosa, come quasi la
totalità del Carso, come il proprio amore esaltato e vano. E parimenti
rifiorivano, dopo le nebbie e le gelate, di anno in anno.154
[nicht einmal einen Duft [hatten] außer dem herben, gummiartigen des ganzen
Strauchs; sie waren einfach nur schön, reine unfruchtbare Erscheinung, wie
fast der ganze Karst – wie ihre eigene Liebe, überschwänglich und nutzlos.
Und in gleicher Weise sprossen sie nach den Nebeln und Frösten wieder
hervor, Jahr um Jahr.]155
Franziska fühlt, dass ihr Leben und ihre Liebe genauso wie die Natur im Karst
trotz aller Hartnäckigkeit zwar kaum fruchtbar waren, aber zumindest Zähigkeit
bewiesen haben. Sie stellt also fest, dass ihre Wahrnehmung, Erfahrung und
Einstellung der Welt gegenüber immer noch stark von ihrem heimatlichen Karst
geprägt sind, von jener Welt, die sie glaubte, hinter sich gelassen zu haben.
Bereits auf dem Rückweg von Riffenberg nach Štanjel hat Franziska
Gelegenheit, wieder aktiv am hartnäckigen Leben des Karsts teilzunehmen: Sie
begegnet Boris, dem Sohn einer ihrer Spielgefährtinnen, der an der
Widerstandsbewegung der Partisanen gegen die Faschisten teilnimmt und ihr
vorschlägt, den Widerstand als Lehrerin zu unterstützen. Sie nimmt an und
beginnt, die Kinder von Štanjel trotz des Sprachverbots der faschistischen
Behörden in Slowenisch zu unterrichten. Sie versteckt ihrem Haus sogar eine
154
155
TOMIZZA, Franziska, 1997, 206.
TOMIZZA, Franziska, 2001, 209 f.
322
323
Partisanen vor den italienischen Soldaten und belügt diese. Die Wiederbegegnung
mit dem Karst ermöglicht Franziska, ihrem Leben einen neuen Sinn zu geben und
zu einer selbstbewussten Slowenin zu werden, welche die Kultur ihres Volkes
aktiv gegen die Unterdrückung durch die italienischen Faschisten verteidigt.156
Nichtsdestoweniger kann sie sich von ihrer Vergangenheit nicht ganz befreien,
wie folgende Auseinandersetzung mit den Partisanen Boris und Armando zeigt:
Fu Armando a proferire con misura: „Hanno fatto saltare un camion militare“.
„Chi lo ha fatto?“ le uscì detto tra i denti, ricolma soltanto di sdegno. Seguì un
silenzio, quindi Boris rispose freddo: „I compagni“. Lei si ripetè livida: „I
compagni di chi?“. Il partigiano sollevò le spalle, logico a suo modo: „Miei,
suoi, di tutti noi…“. Ma Franziska negò recisamente anche col capo: „Miei,
no. Che cosa avevano commesso quei poveretti?“. […] „Siete un ragazzo
anche voi, Boris. Ho amato un uomo che quando lo conobbi aveva quasi il
doppio dei vostri anni.“ […] „E non lo avete più rivisto? Sta lontano? Vi costa
molto dirmi chi era?“ lei affrontò la domanda viso a viso. E si sciolse del
tutto. „Era un soldato italiano, della prima guerra. Ecco perché mi sono
indignata del vostro attentato. Ed ecco perché mi sento molto più vecchia di
quanto vi sembro.“157
[Armando war es, der ruhig erklärte: „Sie haben einen Militärlaster
hochgehen lassen“. „Wer hat das getan?“ stieß sie voller Entrüstung zwischen
den Zähnen hervor. Es folgte ein Schweigen, schließlich antwortete Boris
kühl: „Die Kameraden“, „Die Kameraden von wem?“, fragte sie erneut
zurück. Der Partisan zuckte die Achseln und erwiderte, seiner eigenen Logik
folgend: „Meine, seine, die von uns allen…“, Aber Franziska schüttelte
entschieden den Kopf. „Meine nicht! Was haben diese armen Kerle
verbrochen?“. […] „Boris, Ihr seid ja selbst noch ein Kind. Ich habe einen
Mann geliebt, der fast doppelt so alt war wie Ihr, als ich ihn kennenlernte.“
[…] „Und Ihr habt ihn nicht wiedergesehen? Ist er weit weg? Macht es Euch
viel aus, mir zu sagen, wer es war?“ Auge in Auge mit ihm stellte sie sich der
Frage. Und sie ging ganz aus sich heraus: „Er war ein italienischer Soldat, aus
dem Ersten Weltkrieg. Das ist der Grund, warum ich so entsetzt war über
Euer Attentat. Und das ist auch der Grund, warum ich mich viel älter fühle,
als ich Euch vorkomme.“]158
Franziska kann nicht dulden, dass man den italienischen Soldaten etwas antut,
weil sie in jedem von ihnen Nino sieht. Sie weiß selbst, dass dies ein Trugbild ist:
„il nesso subito cresciutole nella mente […] fallace, anacronistico, privo di
156
Die Figur der national und politisch bewussten Slowenin, die sich am Widerstand gegen den
Faschismus beteiligt, begegnet auch in der slowenischen Literatur über den Karst, siehe PAHOR,
Parnik, 1964 (dt. Geheime Sprachgeschenke, 2009).
157
TOMIZZA, Franziska, 1997, 213–218.
158
TOMIZZA, Franziska, 2001, 216–222.
323
324
fondamento“ (de[r] Bezug, der sofort in ihrem Kopf entstand, trügerisch,
anachronistisch und bar jeglicher Grundlage).159 Dennoch kann sie ihre
Vergangenheit weder leugnen noch komplett überwinden, obwohl sie ihrem
Leben eine neue Richtung gegeben hat. Die Erfahrungen mit Nino konditionieren
mitunter Franziskas Beziehungen zu den Männern auch weiterhin. Sie fühlt sich
zu Boris hingezogen, aber ein Verhältnis mit ihm scheint ihr wegen der
Erinnerung an Nino unmöglich. Franziska kann zwischen ihrem vergangenen und
ihrem neuen Leben nur einen Kompromiss aushandeln. Sie hilft den Partisanen im
Widerstand gegen die Faschisten, aber sie selbst wird keine Partisanin; sie weigert
sich, jedwede Gewaltaktion gegen die Italiener aktiv zu unterstützen. In diesem
Sinn bleibt sie eine Figur zwischen den Welten, zwischen dem Karst und Triest,
zwischen Habsburger, italienischer und slowenischer Kultur. Einerseits besitzt sie
die Fähigkeit, sich in all diese Welten hineinzuversetzen, andererseits ist sie
weder imstande, ihre Widersprüche und Antagonismen aufzulösen, noch eine
eindeutige und feste Position zugunsten einer dieser Welten einzunehmen.
Franziskas Einfühlungsvermögen kann als transkulturelle Fähigkeit
bezeichnet werden. Ähnlich transkulturell ist ihr Bewusstsein darüber, dass ihre
persönliche Identität zu komplex ist, um von einer der kodifizierten kollektiven
Identitäten erfasst zu werden, die in der Triester Region kursieren. Franziska fühlt,
erkennt und respektiert ihre gedankliche und emotionale Verbindung mit dem
Habsburger Karst ihrer Kindheit und mit Triest vor dem Ersten Weltkrieg, aber
sie kann sich auch mit den späten Entwicklungen sowohl der italienischen als
auch der slowenischen Kultur zumindest teilweise identifizieren. Die auktoriale
Erzählstimme scheint ähnlich transkulturell wie Franziska zu empfinden – sowohl
an den Stellen, wo ihr Blick mit dem der Romanprotagonistin verschmilzt, als
auch dort, wo der Erzähler seinen Abstand vom Geschehen durch übergeordnetes
geschichtliches Wissen und analytische Gedanken betont. Der Karst, Triest und
die Figuren, die diese Orte beleben, werden in der Erzählung nie durch eine
prinzipielle und eindeutige Gegenüberstellung von Italienern und Slowenen
modelliert; vielmehr wird die Konstruktion des Slowenischen und Italienischen
als ein beweglicher und instabiler Prozess dargestellt, in dem sich jedes
Individuum anders positioniert.
Am Thema der persönlichen Differenzen wird ein wichtiger Aspekt in
Tomizzas Verständnis von Transkulturalität besonders deutlich – ihre Tragik.
Franziskas Offenheit verschiedenen Kulturen gegenüber und ihre Weigerung, sich
klaren kollektiven Modellen anzupassen, bringen ihr kein Glück. Trotz einer
gewissen Unzufriedenheit scheint ihr ehemaliger Freund Nino mehr Ruhe im
Leben zu finden als sie, indem er sich an die Konventionen anpasst und auf eine
umständliche Liebe verzichtet. Auf ähnliche Weise quält sich der junge Partisan
Boris dank seiner einseitigen antifaschistischen und antiitalienischen
Überzeugung deutlich weniger als Franziska, die sich in die italienischen Soldaten
hineinversetzen kann. Beide männlichen Figuren, Nino und Boris, handeln
interkulturell: Sie sehen zwar den Anderen, sie wissen, dass er einen eigenen
159
TOMIZZA, Franziska, 1997, 213. Dt. Übers.: TOMIZZA, Franziska, 2001, 217.
324
325
Standpunkt hat, sie können sich bis zu einem gewissen Grad auch einen
Austausch mit ihm vorstellen, aber von einem bestimmten Punkt an akzeptieren
sie die Regeln, die das Eigene bestimmen. Wie Boris lapidar sagt: „Siamo in lotta.
Prima o poi doveva accadere.“ (Wir sind im Kampf. Früher oder später musste es
geschehen.)160 Diese Haltung scheint den Einwand gegen die Interkulturalität zu
rechtfertigen, dass man unter ihrer Ägide gewalttätige Konflikte zwar
verschieben, aber nicht auflösen kann. Doch es muss betont werden, dass Tomizza
zumindest in „Franziska“ auch die Transkulturalität als keinen gangbaren Weg
betrachtet, um die Aporien der Kultur effektiv zu überwinden. Er zeigt in diesem
Roman vielmehr, dass auch die transkulturelle Haltung für das Individuum keine
Verminderung seiner Leiden bedeutet. Die Gesellschaft orientiert sich bei
Tomizza an interkulturellen, wenn nicht sogar monokulturellen Mustern, und
Individuen, die sich in ihrem Leben für Transkulturalität entscheiden, werden
ausgegrenzt und angefeindet, oder sie können im besten Fall ihre Haltung
dissimulieren, aber sie müssen sich ihr Leben lang mit tiefer seelischer Unruhe
abfinden. Sie werden Einzelgänger wie Franziska, der die starke kulturelle
Trennung zwischen Karst und Triest immer wieder vor Augen geführt und
aufgezwungen wird, obwohl sie krampfhaft versucht, die Kluft zwischen dem
Karst und Triest, den Slowenen und den Italienern zu überwinden. Einzelgängern
wie ihr, „die im Schatten geblieben [sind] und von der Mehrheits- und offiziellen
Kultur fast vergessen wurde[n]“161, widmet Tomizza seine solidarisierende
Literatur und seine „Geschichte von unten“.162
6.2 Heimat-Karst
Evelina Umek hat mit Tomizza das Interesse an bescheidenen Menschen
gemeinsam, die nicht oder nur bedingt zu den oberen Schichten der Gesellschaft
gehören und nur einen begrenzten Einfluss auf ihre Umwelt haben. Dennoch
gestaltet sich die Charakterisierung der ,kleinen Leute‘ bei ihr ganz anders als bei
Tomizza. Dieser schildert die Demütigen als zwar klein, in ihrem Alltag aber alles
andere als durchschnittlich: Ihrer Sensibilität und ihrem Mut stehen die geringen
Handlungsmöglichkeiten in Bezug auf die Herausforderungen der Geschichte
gegenüber, und genau aus dieser Konfrontation entsteht die alltägliche Tragik
dieser emotional stark erschütterten und oft auch gespalteten Figuren. Im
Gegensatz dazu sind Umeks Figuren mäßig oder sogar mittelmäßig. Einige von
ihnen sind einfühlsam und gehen mit ihren Problemen mutiger um als andere,
dennoch zeichnet sich keine von Umeks Figuren durch innere Größe aus: Sie sind
weit entfernt von der geistigen Energie, die Tomizzas Figuren prägt, und sie
haben Schwierigkeiten, über ihren Alltag hinauszuwachsen. Umek stellt ihr Leben
160
161
162
TOMIZZA, Franziska, 1997, 213. Dt. Übers.: DERS., Franziska, 2004 [2001], 217.
MAROEVIĆ, Dalla parte, 2001, 48.
Zitiert in ebd.
325
326
„ziemlich unsentimental [dar], als wäre ihre ganze Aufmerksamkeit auf das
Zeigen von Einzelheiten aus dem Leben einfacher Menschen gerichtet“.163
Einen zweiten Unterschied zwischen Tomizza und Umek bildet der Erzählstil.
Pflegt Ersterer eine modernistische Schreibweise, in der die Handlungsebene
häufig durch andere Erzählebenen oder eine starke Metaebene unterbrochen wird,
ist für Letztere ein „Realismus nüchterner objektiver Art, der dank der geruhsam
fließenden Erzählung einem breiten Leserkreis zugänglich ist“164 charakteristisch.
Die Erzählstimme von Umeks Romanen ist unpersönlich und allwissend, ihr
Erzählfluss wird auf keinerlei Art und Weise unterbrochen oder relativiert. Bei
Umek gibt es keinen Wechsel der grammatikalischen Person, keine offene
Bezugnahme auf die Erzählzeit oder auf das Verhältnis von Autor und
Erzählerfunktion. Genauso wenig stößt man auf die Erwähnung und subjektive
Auslegung historischer Quellen. Umeks Erzählstimme besitzt die indiskutable
Autorität eines traditionellen Erzählers, die aus der Deckungsgleichheit von
Erzählperspektive und Wirklichkeit entsteht.
Eine der wichtigsten Verlautbarungen von Umeks allwissendem Erzähler ist,
dass die ethnische bzw. nationale Identität eine Bereicherung für jedes
Individuum darstellt. Sie kann zwar unter Umständen auch als sehr bedrückend
empfunden werden, aber wenn man sie verliert, hat man auch „jene Möglichkeit
persönlicher Zufriedenheit [verloren], die auf dew Wissen über die eigenen
Vorfahren und der Bewahrung der Erinnerungen an sie beruht.“165. Die männliche
Hauptfigur in Umeks Roman „Hiša na Krasu“, der Karstslowene Rudi, ist jemand,
der seine slowenische Identität zunächst bewusst ablehnt, weil er sich davon
unterdrückt fühlt, sie aber später als einen wesentlichen Teil seiner Persönlichkeit
akzeptiert und ,revitalisiert‘. Rudi ist im Triester Karst geboren, hat in Triest
Ingenieurswesen studiert und arbeitet seit Jahrzehnten in Turin bei Fiat. Nachdem
die Beziehung zu seiner Freundin in jungen Jahren gescheitert ist, hat er nicht
mehr heiraten wollen, er verbringt seine Zeit meist allein oder mit
Arbeitskollegen. Zu seiner Familie hat er seit dem Umzug nach Turin nur ein
fernes Verhältnis, und seine Besuche im Triester Karst bleiben sehr spärlich. Nach
dem Tod der Schwester muss er allerdings nach Triest fahren, um das alte
Elternhaus auf dem Karst zu verkaufen. Diese Reise weckt in ihm Unbehagen,
weil er die Welt der Triester Slowenen mit Unduldsamkeit betrachtet: Sie
kommen ihm besonders in den kleinen Karstdörfern sehr verschlossen vor, in sich
gekehrt und in obsessive Grübeleien über die eigene Geschichte und die Rivalität
mit den Italienern versunken. Rudi fühlt sich außerdem von seinen Dorfleuten
abgelehnt, weil er in ihren Augen die slowenische Kultur ,verraten‘ und sich den
Italienern in Turin assimiliert hat. In der Tat können die Menschen im Dorf kaum
akzeptieren, dass er sein Heimathaus verkaufen will – eventuell auch an Italiener,
denen die Traditionen des Karsts fremd sind.
163
164
165
CENDA, O izkorinenjosti, 2005, 140.
CENDA, Čas prinaša in odnaša, 2006, 173.
CENDA, O izkorinenjosti, 2005, 140.
326
327
Doch Rudis Reise nach Triest wird zu einer schicksalhaften Erfahrung. Sie
bringt ihm die Versöhnung mit seiner Herkunft, als er in dem noch unverkauften
Haus auf dem Karst von einem Filmteam besucht wird, das den Bau und seine
Einrichtung für eine Dokumentation filmen will. Zu diesem Team gehört auch
Barbara, die weibliche Hauptprotagonistin des Romans, die ursprünglich aus dem
slowenischen Karst stammt, aber während ihres Studiums nach Ljubljana
umgezogen war. Barbara ist seit kurzer Zeit Witwe, ihr Mann Borut ist bei einem
Umfall ums Leben gekommen. Obwohl sie schon lange vor seinem Tod kein
gutes Verhältnis mehr zu ihm hatte, weil Borut die Familie wegen seiner Arbeit
vernachlässigt hat und Barbara untreu war, kann sie sich mit seinem Tod nicht
abfinden. Sie will sich nicht eingestehen, dass ihr Mann ein Egoist war, der sie als
Hausfrau und Mutter seines Sohnes ausgenutzt hat. Nicht einmal die Arbeit hilft
Barbara, sich abzulenken, denn sie hat eine Stelle beim Fernsehen gefunden, wo
Borut früher auch arbeitete, und wird immer wieder mit Erinnerungen an ihren
Mann konfrontiert.
Barbara und Rudi bilden in gewisser Hinsicht gegensätzliche Figuren, die mit
den Wunden der Vergangenheit anders umgehen: Barbara kann nicht umhin,
ständig über sie nachzudenken, während Rudi versucht, sie zu verdrängen.
Nichtsdestotrotz bietet die Begegnung der Protagonisten – nach einem für
Liebesromane üblichen Schema – beiden die Möglichkeit, ihre offenen
Rechnungen mit der Vergangenheit zu begleichen. Dabei erweist sich auch die
Tatsache als wichtig, dass sie, obwohl beide Slowenen, aus verschiedenen Welten
stammen und auch in solchen leben. Rudi gibt Barbara die Möglichkeit, sich von
Ljubljana zu trennen und ihre Aufmerksamkeit auf einen neuen Ort zu lenken:
Triest samt seinem Karstteil. Barbara ermöglicht Rudi wiederum, sich mit seiner
slowenischen Herkunft zu versöhnen, indem sie als Slowenin aus Slowenien von
jenen Denkmustern und -zwängen der Triester Slowenen frei ist, die Rudi
missfallen.166 Die Liebe zwischen den beiden Protagonisten wird im Einklang mit
Umeks nüchternem Stil nicht als hinreißende Leidenschaft geschildert, sondern
als die Begegnung zweier nicht mehr junger Menschen, die versuchen, sich das
Leben gegenseitig zu erleichtern.
Rudis Haltung zur ethnisch-regionalen und -nationalen Herkunft erweist sich
als Teil des thematischen Kerns von „Hiša na Krasu“. In der Erzählung wird
hervorgehoben, dass Rudi in Turin im multiethnischen Viertel San Salvario
wohnt, das
[…] je postala mesto v mestu, multietnična četrt jo imenujejo, kjer se
srečujejo kulture in tradicije s skoraj vseh celin, kjer imajo različne
veroizpovedi, katoliška, evangeličanska, judovska, svoje cerkve v mirnem
sožitju druga z drugo, kar je dediščina neke strpne preteklosti. Nekateri so se
166
ZIMMERMANN, Trivialliteratur?, 1982, 78 betont die konstitutive Funktion des Sicherkennens
in der Struktur des Liebesromans. Dabei hebt er den reziproken Aspekt hervor: Die Geliebten
lernen sich gegenseitig kennen. Komplementär dazu steht im Liebesroman der Prozess der
Selbsterkennung, den jeder bzw. jede Liebende/ Geliebte im Partner auslöst.
327
328
prav zaradi tega preselili, njega pa je veselilo pokramljati z Egipčanom,
Irancem, Senegalcem, Perujcem, kupovati v vseh teh različnih trgovinah in
okušati hrano z vseh vetrov.167
[ […] eine Stadt in der Stadt geworden ist, man nennt sie das multiethnische
Viertel, wo sich die Kulturen und Traditionen fast aller Kontinente treffen, wo
unterschiedliche Glaubensbekenntnisse – das katholische, das evangelische,
das jüdische – und die jeweils eigenen Kirchen in einem ruhigem
Zusammenleben das miteinander haben, was das Erbe einer toleranten
Vergangenheit bildet. Einige sind genau deswegen hierher gezogen, und er
hatte sich gefreut, ein wenig mit dem Ägypter, dem Iraner, dem Senegalesen
und dem Peruaner zu plaudern, in all den verschiedenen Läden einzukaufen
und das Essen von überall zu probieren.]
Obwohl die Erzählstimme kurz auf die gesellschaftlichen Probleme des Viertels
(Immigration, Intoleranz, Gewalt und Spannungen mit der Polizei) hinweist,168
dient die Beschreibung von San Salvario nicht so sehr der Darstellung der
Probleme großstädtischer Banlieus, sondern der Erkundung von Rudis ethnischnationalem Bewusstsein:
Ali se sploh počuti še Slovenca? Ne, ni se odrekel svojim koreninam, svoji
preteklosti, ni pozabil dogajanja na teh tleh, vendar je gledal na vse to z
drugačnega zornega kota. Z drugačnega zornega kota je gledal tudi na vse
priseljence iz Severne Afrike, Kitajske, Južne Amerike in Balkana kot
Turinčani, ki so v njih videli vsiljivce, kriminalce ali vsaj nepotrebne prišleke.
In če je s te oddaljenosti pogledal sebe tam, v tujem mestu, se je zavedel, da
se pravzaprav nikoli ni stopil s tamkajšnjim prebivalstvom, ni postal
stoodstoten Italijan. Nekaj v njem mu je to branilo, ne da bi se zavedal
svojega slovenstva ali ga na kakršenkoli način gojil, ni se zasidral, ni se
poročil, ni imel družine, ki bi ga vpela v okolico in ga prisilila, da postane
njen del. Lahko je jemal od nje le tisto, kar mu je prijalo, in zavračal, kar mu
ni bilo všeč.169
[Fühlt er sich überhaupt noch als Slowene? Nein, er hat auf seine Wurzeln
nicht verzichtet, auf seine Vergangenheit, er hat die Geschehnisse auf jenem
Boden nicht vergessen, aber er hat das alles aus einem anderen Blickwinkel
gesehen. Auch all die Einwanderer aus Nordafrika, China, Lateinamerika und
dem Balkan hat er von einem anderen Standpunkt aus betrachtet als die
Turiner, die in ihnen Eindringlinge, Verbrecher oder zumindest unnütze
Neuankömmlinge sahen. Und wenn er sich selbst aus der Ferne anschaute, in
der fremden Stadt, war er sich dessen bewusst, dass er mit der dortigen
167
168
169
UMEK, Hiša na Krasu, 2006, 80.
Ebd., 80.
Ebd., 102.
328
329
Bevölkerung nie verschmolzen war, er war nicht hundertprozentig Italiener
geworden. Etwas in ihm hinderte ihn daran, sich seines Slowenentums nicht
bewusst zu sein oder es auf irgendeine Art zu kultivieren, er hatte keine
Wurzeln geschlagen, er hatte nicht geheiratet, er hatte keine Familie, die ihn
in die Umgebung eingebunden hätte, damit er deren Teil wird. Er konnte von
der Umgebung nur das annehmen, was ihm behagte, und das ablehnen, was
ihm nicht gefiel.]
Die Anziehungskraft von San Salvario auf Rudi beruht auf der Tatsache, dass er
sich unter den Italienern teilweise fremd fühlt. Dies ermöglicht ihm, sich mit
seinen ebensowenig italienischen Migrantennachbarn zu identifizieren, weil er
wie sie in seinem eigenen Lebensmilieu nicht verwurzelt ist. Erst seine Reise auf
den Triester Karst und die Liebe zu der Slowenin Barbara bringen ihn zur
Wiederentdeckung seiner Heimat und seiner Vergangenheit. Dabei wirkt Barbaras
Aufgeschlossenheit gegenüber den Triester Slowenen und ihrem Karst als
entscheidender Ansporn für Rudi. Barbara wird in einer Schlüsselszene des
Romans im Ethnographischen Museum im Triester Vorort Servola (slowenisch
Škedenj/ Ščedna)170 in die Traditionen des hartnäckigen, arbeitsamen
Bauernlebens auf dem Triester Karst eingeführt171 und bedauert, nicht viel über
dieses Gebiet zu wissen. Dank Barbara schwindet Rudis Unduldsamkeit
gegenüber der Selbstzentriertheit vieler seiner Landsleute, bis er schließlich
erkennt, dass das Nachgrübeln der Triester Slowenen über sich selbst und ihre
Geschichte zwar übertrieben sein mag, aber immerhin ihre enge Verbundenheit
mit ihrem Heimatort beweist. Als Rudi fast am Ende des Romans von den
Nachbarn zum Abendessen eingeladen wird, stört ihn nicht mehr, dass man bei
ihnen die für Slowenen aus Italien typischen Gespräche führt:
[…] bosta tako […] govorila o politiki, ki jim, ki nam – se je popravil Rudi –
ni bila naklonjena. In seveda o preteklosti, ko je bila vas še vas. Vsaka
skupnost ima svoje teme, ki se ponavljajo, tudi v Turinu ni nič drugače. Mu
bo uspelo spet stkati vezi, ki so ga nekoč povezovale s temi ljudmi? Zavedal
se je, da je nekatere sam potrgal, ker se je bal neprestanih očitkov, ker je bil
sit manjšinskega občutka manjvrednosti in zaprtosti. Ker se je čutil
izkoreninjenega in se ni hotel soočati s svojo izkoreninjenostjo.172
[ […] Sie werden […] so über die Politik reden, die ihnen, die uns –
berichtigte sich Rudi – nicht wohlgesinnt ist. Und natürlich über die
Vergangenheit, als das Dorf noch ein Dorf war. Jede Gemeinschaft hat ihre
Themen, die sich wiederholen, auch in Turin ist es nicht anders. Wird es ihm
170
Škedenj im Slowenischen, Ščedna im slowenischen Dialekt aus Triest.
Diese Szene wirkt als Konkretisierung des ethnischen Blicks der Autorin auf die Slowenen
aus dem Triester Karst. Zum ethnischen Blick in der Literatur siehe den Beitrag von Zsuzsanna
Borbála Török in diesem Band.
172
UMEK, Hiša na Krasu, 2006, 168.
171
329
330
gelingen, die Verbindungen wieder aufzunehmen, die ihn einmal mit diesen
Menschen verknüpft haben? Er war sich dessen bewusst, einige selber
abgebrochen zu haben, weil er Angst vor unaufhörlichen Vorwürfen hatte,
weil er genug vom Minderwertigkeitsgefühl und der Verschlossenheit der
Minderheit hatte. Weil er sich entwurzelt fühlte und seiner Entwurzelung
nicht gegenüberstehen wollte.]
Rudi kommt schließlich zur Überzeugung, dass das Gefühl der Zugehörigkeit zu
einer Gemeinschaft für ein erfülltes Leben unentbehrlich ist: „Naš, njihov, tuj,
samo svoj, mogoče mora vsak pripadati neki skupnosti, se zavzemati za skupno
dobro, biti z ljudmi, ki imajo skupne cilije.“ (Unser, ihr, dein, oder nur mein,
vielleicht muss jeder irgendeiner Gemeinschaft angehören, sich einsetzen für das
gemeinsame Gute, mit Leuten sein, die gemeinsame Ziele haben.)173. Er bleibt
zwar der Auffassung, dass man die nicht konstruktive Identitätserstarrung der
jeweils eigenen Gemeinschaft kritisieren sollte, aber er ist nicht mehr bereit, auf
die eigenen Wurzeln zu verzichten. Mit diesen Überlegungen lässt Umek Rudis
ethnisch-nationale Reifung enden. Die unpersönliche Erzählstimme von „Hiša na
Krasu“ verzichtet sogar auf ihre emotional eher zurückhaltende Erzählweise und
bemerkt emphatisch:
Začutil je neizmerno svobodo in najraje bi to svoje občutje izrazil s krikom, ki
bi zadonel preko prostora in časa, začutil pa je tudi, da pripada temu prostoru
in času. Okrepljen se vrnil domov, resnično domov.174
[Er fühlte eine immense Freiheit und hätte sein Gefühl am liebsten durch
einen Schrei ausgedrückt, der durch den Raum und die Zeit ertönte, doch
fühlte er auch, dass er diesem Raum und dieser Zeit angehörte. Gestärkt
kehrte er heim, wirklich heim.]
Gleichzeitig vervollständigt sich auch Rudis éducation sentimentale, indem er
sich wünscht, Barbara in seinem Haus an seiner Seite zu haben. „Kdo ve, ali ima
Barbara rada rože?“ (Wer weiß, ob Barbara Blumen mag?) lautet der letzte Satz
des Romans, während Rudi sich fragt, welche Blumen er im Garten pflanzen soll.
Das Bild von Barbara in einer hiša na Krasu ist nicht nur für die Liebesgeschichte
von Bedeutung, sondern auch für den Diskurs des Romans über die ethnischnationale Identität. Barbara symbolisiert eine engere Nachbarschaft zwischen
Slowenen aus Slowenien und Slowenen aus Italien, denn sie kommt in den
italienischen Karst, nicht weil sie an Triest und dessen italienischem Kulturanteil
interessiert ist, sondern weil sie die kleine Welt der Slowenen aus Italien bis hin
zur Liebe schätzen gelernt hat.
Neben Barbara und Rudi bedient sich Umek auch anderer Figuren, um den
Karst und seine Probleme zu repräsentieren. Rudis Kindheitsfreund Vanč, ein
173
174
Ebd., 167.
Ebd., 169.
330
331
slowenischer Landwirt, der eine Besenwirtschaft betreibt, fasst die
Auseinandersetzung zwischen Slowenen und Italienern im Triester Karst wie folgt
zusammen:
„Zdaj nam je le manjšina, vse drugo hudič jemlje. […] Vedno smo odvečni,
razen ko jim strežemo z domačo hrano. Boš videl, kmalu bodo tu kot trop…
saj ne vem, katero žival bi navedel.“175
[„Jetzt sind wir nur eine Minderheit [im Karst, M.C.], alles andere holt der
Teufel. […] Wir sind immer überflüssig, außer wenn wir sie [die Italiener,
M.C.] mit Hausmacherkost bedienen. Du wirst es sehen, bald werden sie da
sein wie eine Meute… doch wüsste ich nicht, welches Tier ich nennen sollte.“]
Auf Rudis Erwiderung, dass ein anderes Zusammenleben möglich wäre, dass
nicht alle Italiener gleich sind und dass Vanč zu pessimistisch denkt, antwortet
dieser, dass die Italiener aus Triest sich nie ändern werden und er in seiner
Einschätzung nur realistisch ist. Dennoch – oder gerade deswegen – kümmert er
sich sofort um die Essens- und Getränkewünsche der italienischen „Meute“,
sobald deren Mitglieder zu ihm kommen. In Vanč verschränken sich ethnischnationales Bewusstsein und ländliche Mentalität. Menschen mit einer solchen
Haltung beschweren sich zwar über die gesellschaftlichen Strukturen, sind aber
im Grunde konservativ, haben wenig Hoffnung auf echte Veränderungen und
akzeptieren die Machtverhältnisse mehr oder weniger bewusst, letztendlich
respektieren sie sie.
Einen anderen Standpunkt über den Karst und seine slowenische Minderheit
vertritt die Anthropologin Slavica, die anders als Vanč zur gebildeten Schicht der
Triester Slowenen gehört. Als Barbara zugibt, die Dörfer im italienischen Karst
kaum zu kennen, bedauert Slavica, dass die Slowenen aus Slowenien und die
Slowenen aus Italien kaum Kontakt zueinander haben und dass Letztere „želeli bi
si več pozornosti s strani Slovenije“ (sich mehr Aufmerksamkeit von slowenischer
Seite wünschten)176. Dabei geht es nicht nur um die Unterstützung der politischen
Institutionen, sondern um einen engeren Kontakt zwischen den Menschen auf
beiden Seiten der Grenze. Während Vanč Angst davor hat, dass die Italiener die
slowenische Minderheit für odvečna (überflüssig) halten, äußert Slavica dieselbe
Angst in Bezug auf die Slowenen aus Slowenien: „Včasih mislim, da smo vam
odveč; marsikateri Slovenec, ki je prišel sem iz Slovenije je kmalu začel koketirati
s Italijani.“ (Manchmal denke ich, dass wir für euch überflüssig sind. Manch ein
Slowene, der aus Slowenien hierher gekommen ist, hat kurz darauf angefangen,
mit den Italienern zu kokettieren)177. Im Unterschied zu Vanč kann Slavica ihre
Verbitterung allerdings auch relativieren: „Oprostite, to je moja manjsinska
deformacija, obremenjeni smo s svojo zapostavljenostjo.“ (Entschuldigen Sie, es
175
176
177
Ebd., 123 f.
Ebd., 108.
Ebd.
331
332
ist meine Minderheitendeformation, wir sind durch unsere Benachteiligung
belastet.)178 Die Figur der Anthropologin hat die Funktion, differenzierte
Auskünfte über den Triester Karst zu geben: Sie führt Barbara nicht nur in die
Denkweise der slowenischen Minderheit ein, sie kann auch komplexer als jede
andere Romanfigur erklären, warum man Rudi vorwirft, sein Haus auf dem Karst
an Fremde – sogar an Italiener – verkaufen zu wollen. Hinter der ethnischnationalen Spannung verberge sich ein Stadt-Land-Konflikt: Die Italiener, die sich
auf dem Karst niederlassen, seien Städter und wüssten nichts über die Traditionen
der Karstkultur, die langsam aussterbe. Mit ihr verschwinde auch die Erinnerung
an Generationen von Menschen (slowenischer Abstammung), die hart gearbeitet
hätten, um den kargen Karst bewohnbar zu machen.
Umeks Beharren auf Begriffen und Werten wie Herkunft und Gemeinschaft
führt zum interkulturellen Denkmuster zurück. Für diese Autorin gibt es einen
Identitätskern, einen Ursprung der Persönlichkeit, der sich über Herkunft und
Muttersprache definieren lässt. Man soll darauf beharren, ohne sich vor dem
Anderen zu verschließen. Rudis Offenheit gegenüber den Italienern und den
Migranten aus San Salvario gilt in „Hiša na Krasu“ zwar als positive Eigenschaft
des Protagonisten, doch die Figur wird im Einklang mit dem interkulturellen
Kulturmuster des Romans erst dann wirklich reif, als sie ihre Herkunft als Drehund Angelpunkt ihrer Identität akzeptiert. Dies markiert einen wesentlichen
Unterschied zwischen Rudi und Tomizzas Figur Franziska, denn Letztere weist
eine vielschichtige Identität auf, die kein Zentrum zu haben scheint. Franziska ist
zwar als slowenischsprachiges Dorfmädchen im Karst geboren, aber dieser Teil
ihrer Identität stellt keinen unantastbaren Kern ihrer Persönlichkeit dar, die sich
durch die deutschsprachige habsburgische Erziehung im Schloss Riffenberg und
die italienische und slowenische Sozialisierung in der Stadt Triest verändert hat.
Weil Franziskas Identität prinzipiell über keinen stabilen Ursprung verfügt, besitzt
sie auch keinen geistigen Zufluchtsort, in dessen Geborgenheit sie ihre Identität
festigen könnte. Sie ist den Machtverhältnissen innerhalb der Gesellschaft
vollständig ausgesetzt, die über den Wert der jeweiligen Teile ihrer
Persönlichkeit, ihrer Kultur und ihrer Lebensgeschichte entscheiden. Der Karst
erweist sich auch in „Franziska“ als extrem wichtig für die
Persönlichkeitsentwicklung der Protagonistin, dies geschieht jedoch auf eine
andere Art und Weise als in „Hiša na Krasu“. Als Franziska am Schluss von
Tomizzas Roman auf den Karst zurückkehrt, bringt dieser Ort – wie es auch bei
Rudi in Umeks Roman der Fall ist – alle Risse in der Identität der Protagonistin
zum Vorschein. Es gelingt ihr zwar, ihre geistigen Risse durch das Engagement
für die Partisanen zu kitten, dennoch kann sie ihre innere Spaltung nicht
vollständig überwinden: Franziska findet sich zwar mit ihrer Vergangenheit ab,
verzichtet jedoch zugleich auf ihre persönliche Verwirklichung und lässt sich auf
die Liebe zum Partisanen Boris nicht ein. Im Gegensatz dazu scheint Rudi in
„Hiša na Krasu“ sowohl sich selbst als auch die Liebe im Karst zu bejahen.
Obwohl der Romanschluss die entstehende Beziehung zwischen ihm und Barbara
178
Ebd..
332
333
relativ zurückhaltend darstellt, betont die Erzählstimme ausdrücklich, dass Rudi
sich seine Heimat und somit ein Stück von sich selbst wieder angeeignet hat.
Tomizza und Umek unterscheiden sich somit nicht nur hinsichtlich der
kulturellen Denkmuster, nach denen sie ihre Figuren und Erzählstimmen
konstruiert haben, sie differieren auch stark in ihrer Haltung, die sie gegenüber
den jeweiligen Denkmustern einnehmen. Bei Tomizza bildet der transkulturelle,
bei Umek der interkulturelle den richtigen Standpunkt, um die kulturelle
Vielschichtigkeit der (Karst)Welt darzustellen; der jeweilige Standpunkt wird zum
modus vivendi einiger bzw. jeder der Romanfiguren. Transkulturalität führt
allerdings bei Tomizza keineswegs zum Glück und löst keine gesellschaftlichen
Probleme. Sie hat zwar das Potential, den Weg zu einem offenen und gerechteren
Miteinander zu zeigen, aber die gesellschaftlichen Machtverhältnisse, die die
Kulturströme mono- bzw. interkulturell hierarchisieren und manipulieren,
erweisen sich immer als stärker. Die transkulturelle Franziska ist dazu verurteilt,
eine Einzelgängerin wider Willen zu werden. Dagegen stellt Interkulturalität für
Umek nicht nur die richtige Ausgangsposition dar, von der aus man die Welt
erleben und darstellen soll; sie ist auch in der Praxis erfolgreich, weil sie zum
Ausgleich zwischen Eigenem und Fremdem und somit zum Glück führt.
7. Interferenzkarst (Fazit)
Die hier berücksichtigten historiographischen, reiseessayistischen und
literarischen Quellen zum klassischen Karst zeigen, dass der Hinweis auf die
kulturelle Vielfalt eine Konstante seiner plastischen Repräsentationen bildet. Die
analysierten Texte unterscheiden sich in Bezug auf ihre Konzeptualisierung von
kulturellen Interferenzen, insbesondere von sprachlich-ethnisch-nationalen
Interaktionen. Einige Texte behandeln diese Interaktionen interkulturell und
betonen die Kontinuität und relative Stabilität der sprachlich-ethnisch-nationalen
Identitäten im Karst und an der ganzen Nordostadria. Andere Quellen
repräsentieren den Karst aus transkultureller Perspektive und heben die
Konstruiertheit sowie die geschichtliche und räumliche Beweglichkeit dieser
Identitäten hervor. Die interkulturellen Texte unterscheiden sind voneinander
aufgrund ihrer Herangehensweise an die kulturelle Vielfalt des Karsts. Der
Reiseführer „Küstenland-Karst A–Z. Handbuch für Reisende und Geschäftsleute“
beschränkt sich auf die bloße Kenntnisnahme kultureller Vielfalt, während das
„Touristische Informationsportal Karst“, der Bericht der Slowenisch-Italienischen
Historisch-Kulturellen Kommission, der historische Überblick von Marušič und
der Roman „Hiša na Krasu“ von Evelina Umek die Dynamik der kulturellen
Interferenzen genauer unter die Lupe nehmen. Dabei betonen all diese Texte die
Ländlichkeit des Karsts und bauen ihre Narrative auf dem Fokus des
slowenischen Landes im Verhältnis zur italienischen Stadt auf. Sie zeigen die
Konfliktgeladenheit dieses Verhältnisses, aber sie erinnern auch an Beispiele
gelungener Koexistenz sowie eines Kulturtransfers, die aus ihrer Perspektive im
künftigen Dialog intensiviert werden sollten.
333
334
Auch die transkulturellen Repräsentationen des Karsts setzen zum Teil jeweils
andere Akzente. Verginella betont in ihren geschichtswissenschaftlichen Studien
das Erkenntnispotential der transkulturellen Historiographie und plädiert dafür,
die engen Verbindungen zwischen Italienern und Triest bzw. Slowenen und Karst
nicht als unhinterfragbares nationales Paradigma, sondern als widersprüchliches
historisches Konstrukt zu erörtern. Tomizza erweist sich dagegen skeptisch in
Bezug auf die realen Möglichkeiten der Transkulturalität, eine gesellschaftlich
anerkannte Praxis zu werden. Sein Roman „Franziska“ zeigt, dass die
Machtbeziehungen an der Nordostadria transkulturellen Denkweisen und
Praktiken im 20. Jahrhundert kaum Etablierungschancen gewährt haben: Wer
versucht hat, das nationale Stadt-Land-Paradigma zu umgehen, ist – so lässt sich
aus Tomizzas Darstellung folgern – zum Sonderling geworden. Schließlich
veranschaulicht der Essay „Der Karst, Kras, Il Carso“ von Wagner und Kelih am
Beispiel des „babylonischen ciao fanti“, dass nicht immer eindeutig festgestellt
werden kann, ob ein Diskurs über Interferenzen interkulturell oder transkulturell
ist. Zum einen stellt sich nicht jeder Autor bzw. jede Autorin die Frage, aufgrund
welches Kulturmusters er oder sie kulturelle Vielfalt repräsentiert, zum anderen
kann der/ die Betreffende sowohl auf der bewussten als auch auf der unbewussten
Ebene zwischen beiden Positionen schwanken.
Alles in allem kommt man anhand des analysierten Materials zu dem Schluss,
dass kulturelle Interferenzen in den neueren Repräsentationen des Karsts „sowohl
von kultureller Reproduktion als auch von kultureller Dynamik“ geprägt sind.179
Erfasst man dieses Verhältnis als interkulturell, dann sucht man nach
strategischen Formen kultureller Dynamik innerhalb grundsätzlicher
Reproduktionsstrukturen, denkt man hingegen transkulturell, dann hält man
Ausschau nach situativen Reproduktionsverfahren im Rahmen sich stets
wandelnder Kulturkontexte. Beide Herangehensweisen ermöglichen es jedoch,
der „babylonischen“ kulturellen Vielfalt des Karsts durch die
Repräsentationsarbeit Bedeutung zu verleihen. In dieser Hinsicht sind sie weniger
radikal als Franz Kafkas Betrachtungen über kulturelle Interferenzen in einer
kurzen Schrift über den babylonischen Turmbau:
Doch verbrachte man die Zeit nicht nur mit Kämpfen, in den Pausen
verschönerte man die Stadt, wodurch man allerdings neuen Neid und neue
Kämpfe hervorrief. So verging die Zeit der ersten Generation, aber keine der
folgenden war anders, nur die Kunstfertigkeit steigerte sich immerfort und
damit die Kampfsucht. Dazu kam, daß schon die zweite oder dritte Generation
die Sinnlosigkeit des Himmelsturmbaus erkannte, doch war man schon viel zu
sehr miteinander verbunden, um die Stadt zu verlassen.180
So sehr inter- und transkulturelle Repräsentationen des Karsts auch differieren
können, haben sie doch eines gemeinsam: Das babylonische ciao fanti des Karsts,
179
180
RECKWITZ, Die Transformation, 2000, 643.
KAFKA, Das Stadtwappen, o.J.
334
335
das Miteinander von Land und Stadt sowie von Italienern und Slowenen darf in
ihnen nicht als sinnlos betrachtet werden, sondern es wird als eine signifikante
Plastik dargestellt.
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340
341
341
342
Andreas R. Hofmann
Neuer Besuch bei alten Nachbarn. Ein Essay über das
Metastereotyp in der Geschichte des Posener Gebiets1
1. Einleitung
Auf den ersten Blick mag das historische Großpolen2 nicht als naheliegender
Gegenstand einer Untersuchung zur kulturellen Interferenz erscheinen. Denn
anders als etwa das litauisch-polnisch-jüdisch-belarussische Regionalzentrum
Wilna oder die in den anderen Texten dieses Bandes vorgestellten (post-)
habsburgischen Kulturkontaktzonen besaß und besitzt die Region ganz und gar
keine Aura der historischen Multikulturalität. Es ist für Posen deshalb kein
Mythos
der
funktionierenden
multiethnischen
und
transkulturellen
Nachbarschaften innerhalb „verwischter Grenzen“ zu diskutieren, wie dies Anna
Veronika Wendland in ihrem Beitrag über Galizien beabsichtigt. Insofern wählen
diese beiden Studien einen von entgegengesetzten Ausgangslagen aus
perspektivierten und gerade dadurch komplementären Ansatz.
Für das in unserer Monographie vorgeschlagene Konzept der kulturellen
Interferenz ist es nämlich von Bedeutung, dass dieses hinsichtlich der historischpolitischen Wertung eines soziokulturellen Neben- oder Miteinanders völlig
neutral und empirisch ergebnisoffen ist. Interferenzialität in diesem Sinne ist
gerade nicht gleichbedeutend mit einem unreflektiert-harmonisierenden Begriff
von Multikulturalität; eine Kritik, die solches unterstellt, verfehlt diesen Ansatz
und läuft die eine oder andere weit geöffnete Tür ein. Die traditionell
überwiegend negativen Bewertungen der deutsch-polnischen Beziehungen im
Posener Gebiet wurden überhaupt erst seit einiger Zeit einer gewissen Revision
durch die Forschung unterzogen.3 Posen war bis dato nämlich geradezu das
paradigmatische Muster, an dem sich das historische Narrativ einer linearen
Verschlechterung der deutsch-polnischen Nationalitätenverhältnisse bis zu ihrer
gewaltsamen Eskalation in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickeln ließ.
1
Neben meinen Kolleginnen und Kollegen aus dem Projekt „Kulturelle Interferenzräume“
möchte ich besonders Anna Veronika Wendland und Hans Henning Hahn für die kritische
Durchsicht des Manuskripts und zahlreiche wertvolle Hinweise danken.
2
Für die Zwecke dieses Beitrags wird im Folgenden „Posener Gebiet“ anstelle der historisch
wechselnden Bezeichnungen der Region nach den Teilungen Polens als „Großherzogtum Posen“
(1815‒1830/48) und als „Provinz Posen“ (1830/48-1918) bevorzugt. Zu der territorialen
Entwicklung dieser Verwaltungseinheit sowie der nach 1918 im wiedererrichteten Polen
gebildeten „Wojewodschaft Posen“ im Verhältnis zur historischen Region Großpolen siehe im
Einzelnen NEUBACH, Großherzogtum, 2002 [1996], 193; CZUBIŃSKI, Wielkopolska, 2000, 5-9.
3
Insbesondere sind zu nennen die gründliche kulturgeschichtliche Studie von SERRIER, Provinz
Posen, 2005 [2002] und die lokale Fallstudie von LORENZ, Von Birnbaum, 2005.
343
Diese
historische
Modellerzählung4,
die
von
der
polnischen
Nationalhistoriographie seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert entworfen und bis
in jüngste Zeiten fortgeschrieben wurde,5 hatte auf der deutschen Seite eine
Entsprechung in der apologetisch-legitimierend angelegten „Ostforschung“, deren
Wurzeln im völkischen und rassistischen Denken lagen.6 Ähnlich wie die
historischen Ostgebiete des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1937 fand
auch die polnische Historiographie zum Posener Gebiet nach 1945 einen
institutionellen Widerpart, und zwar in der 1950 im Rahmen des HerderForschungsrates gegründeten „Historisch-Landeskundlichen Kommission für
Posen und das Deutschtum in Polen“.7
Wenn es einen ursprünglichen polnischen Posenmythos gab, dann den der mit
der Bischofsstadt Gnesen in Verbindung gebrachten „Wiege“ der polnischen
Nation und der frühsten polnischen Staatlichkeit.8 Als Posen aus sozial- und
strukturgeschichtlichen Gründen, die wenig bis gar nichts mit den Vorgängen des
Frühmittelalters zu tun hatten, seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zu einem
4
Ich ziehe den Begriff der „Modellerzählung“ der gebräuchlicheren „Meistererzählung“ vor,
die m.E. auf einer Fehlinterpretation des ursprünglichen englischen Begriffs beruht: Der master
narrative heißt nicht so, weil die modellbildende Urerzählung von einem „Meister“ verfasst wurde
oder weil sie „meisterhafte“ Gültigkeit beanspruchen könnte, sondern weil sie ein
reproduzierfähiges „Modell“ oder „Muster“ darstellt – der master ist im Gießereiwesen das, was
abgeformt und durch Abguss vervielfältigt wird. Dies ist insofern von Bedeutung, als sich beim
master narrative nicht unbedingt ein persönlicher Autor nachweisen lässt, dagegen, um im Bild zu
bleiben, sehr wohl eine hohle Form, die sich bei gleichbleibenden Konturen immer wieder mit
neuen Inhalten befüllen lässt, was doch einen erheblichen Unterschied für jede Diskursanalyse
macht. Vgl. dagegen z.B. RÜSEN, Kommunikation in der Geschichte, 1998, 23; MIDDELL/ GIBAS/
HADLER, Sinnstiftung, 2000.
5
Als jüngerer Klassiker dieser Richtung LABUDA, Polska granica, 21974 [11971], darin zum
Posener Gebiet 136-140, 146-148 u.ö.; speziell dazu TRZECIAKOWSKI, Walka o polskość, 1964;
GRZEŚ/ KOZŁOWSKI/ KRAMSKI, Niemcy, 1976; in jüngerer Zeit immer noch KOZŁOWSKI,
Deutsche in Großpolen, 2001 und DERS., Deutsche in der Provinz Posen, 2001; analog auch von
deutscher Seite z.B. NEUBACH, Großherzogtum, 2002 [1996]. Noch SERRIER, Provinz Posen, 2005
[2002], 279, spricht vom „Schlachtfeld der Nationalismen des 19. Jahrhunderts“. Für das deutschpolnische Verhältnis insgesamt auch ROSENTHAL, German and Pole, 1976 und HAGEN, Germans,
1980. Rosenthal verfolgt nicht nur einen ausgesprochen teleologischen Ansatz, sondern
unterscheidet auch nicht zwischen „Mythos“, „Stereotyp“ und „Klischee“.
6
Die institutionellen und personellen Kontinuitäten der „Ostforschung“ sind erst seit den
1980er Jahren kritisch aufgearbeitet worden; siehe dazu beispielsweise KLESSMANN,
Osteuropaforschung, 1985; PISKORSKI, „Deutsche Ostforschung“, 1996; Deutsche Historiker,
1999; WAUKER, ‚Volksgeschichte‘, 2003; PETERSEN, Bevölkerungsökonomie, 2007; UNGER,
Ostforschung, 2007.
7
Heute „Kommission für die Geschichte der Deutschen in Polen e.V.“; siehe Informationsund Orientierungsseite der Kommission für die Geschichte der Deutschen in Polen e.V., URL:
http://www.deutsche-polen.de/index.php (30.10.2010). Unter den älteren Arbeiten besonders
ideologisch LAUBERT, Polenpolitik, o.J. [1920]; LAUBERT, Provinz Posen, o.J. [1939]; derselbe
Autor dann wieder zur Stadt Posen in dem Gemeinschaftswerk: Geschichte der Stadt Posen, 1953;
dazu kritisch WOJCIECHOWSKI, Z powodu, 1989 [1954]; siehe auch KESSLER, Polen, 2001.
8
Zurückgehend auf die volksetymologische Ableitung aus dem Ortsnamen Gnesen, poln.
Gniezno = „Nest“; so bereits bei GALLUS ANONYMUS, Polens Anfänge, 1978, 49.
344
Zentrum der polnischen „organischen Arbeit“ wurde, konnten die nationbuilder
der Region gerade um diesen nationalen Mythos herum eine historische
Kontinuität konstruieren, die ihren Bestrebungen eine tiefere Sinngebung und
Legitimität verschaffte. In den mühseligen und vergeblichen Bemühungen
deutscher nationaler Akteure der wilhelminischen Zeit, dem polnischen
Geschichtsbild einen ähnlich wirksamen Mythos der deutschen zivilisatorischen
Aufbauarbeit seit dem Hochmittelalter entgegenzusetzen, die in der
friderizianischen Zeit im Netzedistrikt (seit 1772) und der Provinz Südpreußen
(1793–1806) und in der Gegenwart in der Gesamtprovinz ihre konsequente
Fortsetzung gefunden habe,9 deutet sich die Wechselseitigkeit nationaler
Wahrnehmungsmuster an.
Die
Grundidee
dieses
Essays
ist,
den
deutsch-polnischen
Wechselbeziehungen am Beispiel des Posener Gebiets anhand der nationalen
Stereotypisierung nachzugehen. Das Stereotyp ist als Quelle für eine
mehrnationale Beziehungs- und Verflechtungsgeschichte bereits seit etlichen
Jahren in den Blick genommen worden. Besonders in Polen gab es in den 1980er
und 1990er Jahren eine große Anzahl einschlägiger Publikationen, die polnische
und deutsche Auto- und Heterostereotype zum Gegenstand hatten.10 Allerdings
kennzeichnet diese Literatur eine oft unzulängliche Konzeptualisierung des
Stereotypbegriffs
und
eine
vorwiegend
akkumulativ-antiquarische
Vorgehensweise.11 Ihr hauptsächliches Manko aber war, dass sie durch ihre
thematische Konzentration jeweils auf Auto- oder Heterostereotype die
wechselseitige Abhängigkeit nationaler Stereotypisierungsprozesse gar nicht erst
erkennen, geschweige denn in das Zentrum ihres Forschungsinteresses stellen
konnte.
Die in jüngster Zeit vorgelegten Arbeiten zur historischen bzw.
interdisziplinären
Konzeptualisierung
des
Stereotyps
oder
zur
9
Dazu besonders SERRIER, Provinz Posen, 2005 [2002], 147-151 über die „Historische
Gesellschaft für die Provinz Posen“ (gegründet 1885); ebd., 155-157 über die „Historische
Gesellschaft für den Netzedistrikt zu Bromberg“ (gegründet 1880); SCHUTTE, Königliche
Akademie, 2008, 22-28 generell über die geschichtspolitisch relevanten Institutionen und Vereine
im ausgehenden 19. Jahrhundert; DYROFF, Erinnerungskultur, 2007, passim. Ferner GRABOWSKI,
Nationalismus, 1998.
10
Ohne Anspruch auf Vollständigkeit SZAROTA, Der deutsche Michel, 1998 [1988]; CHAMOT,
Polnische Auto- und Heterostereotypen, 1995; ORŁOWSKI, „Polnische Wirtschaft“, 1996;
SZAROTA, Niemcy i Polacy, 1996; Polacy i Niemcy, 1991; WRZESIŃSKI, Sąsiad, 1992; Vorurteile,
1994; siehe auch den Forschungsbericht SZAROTA, National Stereotypes, 1995, sowie die
Bibliographien von HOFFMANN, Stereotypen, 1986-2008. Ferner die bekannte Sammlung:
Deutsche und Polen, 31993 [11992] mit zahlreichen Beiträgen zu einzelnen deutsch-polnischen
Stereotypien. Kaum brauchbar dagegen die populärwissenschaftliche Arbeit ZITZEWITZ, Das
deutsche Polenbild, 21992 [11991].
11
Dieser kritische Befund, den bereits JAWORSKI, Osteuropa, 1987, 65, anhand der historischen
Stereotypenforschung zu Osteuropa insgesamt festhielt, trifft auch auf große Teile der später
entstandenen Forschungsliteratur zu und ist weitgehend heute noch gültig.
345
geschichtsdidaktischen Aufbereitung des Begriffs sind mittlerweile Legion.12
Demgegenüber besteht immer noch ein deutliches Defizit an stringenten
empirischen Arbeiten, die den Stereotypbegriff in geeigneter Weise für die
empirische Forschung operationalisieren. Dieser Beitrag kann nicht in Anspruch
nehmen, auf diesem Gebiet wesentliche empirische Lücken zu schließen; deshalb
habe ich ihn bewusst als Essay bezeichnet. Ich möchte dagegen – mit einem
Bekenntnis zu einem großzügigen Eklektizismus – anhand ausgewählter
Materialien heterogenen Typs aus dem 19. und 20. Jahrhundert einen Ansatz
vorstellen, wie der Stereotypbegriff historisch offener konzeptualisiert und für die
alltags- und kulturgeschichtliche Forschung fruchtbar gemacht werden könnte.
2. Das Stereotyp als Material einer deutsch-polnischen Beziehungsund Verflechtungsgeschichte
Der linguistic turn der vergangenen Jahrzehnte veränderte den Umgang der
historischen Forschung mit Sprache in grundlegender Weise. Diese sollte nicht
mehr nur als abstraktes Zeichensystem begriffen werden, als weitgehend
wirklichkeitsunabhängiger und koinzidenter Code, mit dessen Hilfe wir vermittels
der Quellentexte Zugriff auf eine gegenwärtige oder vergangene Realität erhalten.
Unter dem Einfluss einer Linguistik, die sich von Ferdinand de Saussures binärem
Zeichenmodell löste, setzte sich auch in der poststrukturalistischen Sozial- und
Geschichtswissenschaft die Auffassung durch, dass Realität für den Menschen
überhaupt nur insoweit existiert, wie sie sprachlich realisiert wird, mithin die
Sprache selbst als integraler und nicht nur medialer Bestandteil unserer Realität
aufzufassen ist.13
Wenn Realität also nur durch das Medium der Sprache wahrgenommen
werden kann, zugleich aber von dieser überhaupt erst konstituiert wird, ist das ein
sehr gewichtiges Argument, um die Sprache als solche zum Gegenstand
historischer Forschung werden zu lassen. Dabei gehen die neuen Ansätze weit
über die traditionelle Ideengeschichte wie auch die neuere Begriffsgeschichte14
hinaus. Denn diese sind beide durch das methodologische Problem
12
In Auswahl: Nationale Mythen und Symbole, 1991; darin besonders JEISMANN, Was
bedeuten Stereotypen?, 1991; Deutschlandbilder, 1993; Darstellung anderer Kulturen, 1998;
Historische Stereotypenforschung, 1995; ZIEMER, Grenzen der Wahrnehmung, 1999; NITSCHE,
Nationale Stereotype, 2001; Stereotyp, Identität, 2002; Stereotyp und Geschichtsmythos, 2005;
Nationale Wahrnehmungen, 2007; ORŁOWSKI, Stereotype der „langen Dauer“, 2007;
WIPPERMANN, Die Deutschen und der Osten, 2007; Erinnerungsorte, 2008; SZAROTA, Stereotype
und Konflikte, 2010 (dies ist eine Sammlung von älteren Aufsätzen).
13
In diesem Sinne z.B. BURKE, Küchenlatein, 1989, 10, zit. bei LANDWEHR, Historische
Diskursanalyse, 2008, 49.
14
Im Sinne von: Geschichtliche Grundbegriffe, 1972ff.; die Kritik an der Begriffsgeschichte
fasst zusammen LANDWEHR, Historische Diskursanalyse, 2008, 32-35; siehe auch ORŁOWSKI,
Stereotype der „langen Dauer“, 2007, 80f.
346
gekennzeichnet, anhand ausgewählter Werke der Höhenkammliteratur die
allgemeine Entwicklung politischer, kultureller und theoretischer Denkweisen
nachzeichnen zu wollen und dabei doch stets nur die kaum repräsentativen Ideen
besonders exponierter Denker der Vergangenheit zu rekapitulieren. Auch die
Begriffsgeschichte verbleibt deshalb häufig im sozial abgehobenen Raum
wissenschaftlicher und publizistischer Diskurse, die nicht nach ihren konkreten
soziokulturellen Entstehungs- und Rezeptionsbedingungen befragt werden.
Um den sprachgeschichtlichen Ansatz ernst zu nehmen und für eine alltagsund kulturgeschichtlich orientierte Beziehungsgeschichte benachbarter und
miteinander verwobener Nationalkulturen dienstbar zu machen, ist einmal mehr
die Frage nach der geeigneten Quellenbasis zu stellen. Diese hat m.E. drei
Bedingungen zu erfüllen: 1. Sie soll in synchroner Perspektive einen umfassenden
Querschnitt der Gesellschaft abbilden, d.h. nicht nur privilegierte, sich schriftlich
artikulierende Oberschichten und Bildungseliten erfassen, sondern auch
schriftferne Schichten wie etwa Kleinbürgertum, Arbeiterschaft und einfache
Landbevölkerung. 2. Sie soll in diachroner Hinsicht Entwicklungen einer
mittleren Dauer sichtbar werden lassen, also Phänomene der histoire lentement
rhytmée, um mit Fernand Braudel zu sprechen. Innerhalb der ausgewählten
Textkorpora richtet sich das Augenmerk auf solche nicht an bestimmte
Textgattungen gebundene sprachliche Entitäten, in denen sich kulturelle
Phänomene, Denkweisen, „Mentalitäten“15 von größerer zeitlicher Beständigkeit
erkennen lassen, die also anders als der jeweilige Text selbst keine spezifisch
zeitgebundene oder gar okkasionelle Erscheinung sind. 3. Die zu untersuchenden
sprachlichen Entitäten müssen andererseits so beschaffen sein, dass sie
Rückschlüsse auf ihren situativen Kontext, ihre konkreten Realisations- und
Rezeptionsbedingungen erlauben. Dieser Kontext sollte vorzugsweise vom
alltäglichen Umfeld, der häuslichen Lebenswelt, dem Arbeitsplatz und den
kleinen bis mittleren Öffentlichkeiten16 gebildet werden, die von den
traditionellen ideengeschichtlichen Zugängen kaum bis gar nicht erfasst werden.
Der anscheinende Widerspruch zwischen den unter Punkt 2 und 3 gelisteten
Desideraten löst sich darin auf, dass es bei dem in Punkt 3 gemeinten situativen
Kontext um iterative Situationen des Alltags geht, anders als bei den an konkrete
Einzelanlässe gebundenen Situationen, die den Entstehungs- und
Rezeptionskontext der meisten (gattungsspezifischen) Texte bilden. Daraus geht
hervor, dass das für die Zwecke unserer Untersuchung zu findende Material auf
der Ebene unterhalb des Textes angesiedelt ist und gewissermaßen einen seiner
Bausteine bildet.
Das bringt uns auch der Lösung des paradoxen Problems näher, wie der
Historiker den Alltag und die Denkweisen des sich selbst nur selten schriftlich
15
Der Begriff der „Mentalität“ ist insofern selbst problematisch, als er häufig ohne weiteres an
eine Nationalkultur gebunden wird und deshalb selbst Gefahr läuft, Stereotype zu generieren. Aus
der Literatur beispielsweise: Mentalitäten-Geschichte, 1987; Europäische Mentalitätsgeschichte,
1993; Mentalitäten – Nationen – Spannungsfelder, 2001.
16
Zu dieser Kategorisierung von Öffentlichkeit weiterführende Anmerkungen und
Literaturhinweise bei WENDLAND/ HOFMANN, Stadt und Öffentlichkeit, 2002, 10‒15.
347
artikulierenden Volkes rekonstruieren soll, wenn ihm dazu fast nur Schriftquellen
anderer Provenienz zur Verfügung stehen. Die Antwort liegt in einer indirekten
Vorgehensweise, wie sie beispielsweise in der Mediävistik und
Frühneuzeitforschung längst geläufig, bei den Historikern der neueren und
neusten Geschichte aber wegen der täuschenden Überfülle an Quellen für ihren
Betrachtungszeitraum noch nicht recht angekommen ist.17 Während der jeweilige
Text i.d.R. innerhalb eines privilegierten soziokulturellen Kontextes entsteht und
rezipiert wird, gilt für seine sprachlichen Bestandteile, dass sie (mit gewissen
Einschränkungen, die aber an dieser Stelle vernachlässigt werden können)18
schichtenübergreifend gebraucht werden und ihre Verbreitung innerhalb ganzer
(National-) Kulturen vorausgesetzt werden kann.
Die für den hier vorgeschlagenen Zugang zur polnisch-deutschen
Beziehungsgeschichte relevante Stereotypie ist genau auf jener mittleren Ebene
zwischen, vereinfacht gesprochen, soziokulturell gebundenem Text und
semantisch wertneutralem Lexem angesiedelt. Ungeachtet schriftlicher oder
mündlicher Realisationsform begegnet uns das Stereotyp als Sprechakt im Sinne
John R. Searles.19 Es existiert unabhängig von seiner historischen Überlieferung
in einer jeweils spezifischen textgebundenen Form und lässt deshalb den
Umkehrschluss auf seine Existenz innerhalb der Gruppe zu, in welcher der
überlieferte Text produziert wurde. Die eigentliche Bezugsgruppe des Stereotyps
bleibt dabei dennoch die sprachkulturell definierte Kultur, nicht das engere
Sozium. Im Sinne Michel Foucaults ist die konkret situationsgebundene
Erscheinungsform des Stereotyps die der „Äußerung“, die sich durch
Einzigartigkeit und Unwiederholbarkeit auszeichnet. In Bezug auf seine logische
und semantische Struktur dagegen bildet es eine „Aussage“, die durch
Allgemeinheit und Wiederholbarkeit gekennzeichnet ist und ein diskursives Feld
absteckt;20 und nur in diesem Sinne interessiert es in unserem Kontext. Das
Stereotyp erfüllt damit die genannten Anforderungen der Iterativität, der
alltäglichen Kontextualität und der Universalität innerhalb einer (national-)
kulturellen Sprechergemeinschaft.
Was das Stereotyp darüber hinaus als Material zur Untersuchung
zwischennationaler Wechselbeziehungen in alltags- und kulturgeschichtlicher
Perspektive so interessant macht, sind sowohl seine semantische Binnenstruktur
als auch seine soziokulturellen und psychosozialen Funktionen. Besonders Erstere
wird uns im Folgenden wiederholt als Merkmal kultureller Interferenz
17
Exemplarisch für diese indirekte Vorgehensweise sind die Arbeiten des russischen
Mediävisten Aaron Gurevič, z.B. GURJEWITSCH, Weltbild, 1982 [1972]. Zur Selbstartikulation von
Unterschichtenangehörigen in den sog. Ego-Dokumenten, die oft aber auch nicht von den
Berichterstattern selbst aufgezeichnet sind, beispielsweise: Ego-Dokumente, 1996; ‚Ich‘ in der
frühen Neuzeit, 2002.
18
Diese gehören zur Problematik des schichten- und gruppenspezifischen Sprachgebrauchs
(Soziolekt, Jargon und Argot), die an dieser Stelle nicht weiterverfolgt werden kann.
19
SEARLE, Speech Acts, 1969.
20
FOUCAULT, Archäologie, 51995 [1969], 126f., 148; siehe auch LANDWEHR, Historische
Diskursanalyse, 2008, 70f.
348
beschäftigen, die sich auf dem Wege einer linguistisch informierten Alltags- und
Kulturgeschichte auch in der allgemeinen Sozialgeschichte nachvollziehen lässt.
Ohne an dieser Stelle die inzwischen sehr umfängliche soziologische,
psychologische und sprachwissenschaftliche Stereotypenforschung in ihren
Verzweigungen darlegen zu können, seien hier doch diejenigen Aspekte des
Stereotyps rekapituliert, die sich m.E. besonders gut für unsere Zwecke
operationalisieren lassen.
Das Stereotyp sei definiert in seiner besonderen Form des
„gruppenspezifischen Stereotyps“21 als eine verallgemeinernde Aussage einer
sozialen Gruppe über sich selbst (Autostereotyp) oder über eine andere Gruppe
(Heterostereotyp).22 Die Frage, ob diese Aussage stets eine (positive oder
negative) moralisch-ethische Wertung einschließen muss, um sie zu einem
Stereotyp zu machen, kann hier zunächst unbeantwortet bleiben, weil sie genauer
aus dem empirischen Material heraus zu klären sein wird. Wichtiger ist an dieser
Stelle der Hinweis, dass sich die stereotypische Aussage stets durch eine binäre
Struktur auszeichnet. Denn unabhängig von der konkreten Realisationsform als
Auto- oder Heterostereotyp wird die jeweils andere Form zumindest impliziert,
d.h. jede stereotypische Aussage über eine Fremdgruppe ist zugleich eine Aussage
über die eigene Gruppe und umgekehrt. In seiner umgangssprachlichen
Gleichsetzung mit semantisch verwandten Begriffen wie „Klischee“, „Vorurteil“
oder auch „Image“ wird diese Doppelgesichtigkeit des Stereotyps jedoch häufig
vergessen. Deshalb möchte ich an dieser Stelle den Begriff des „Metastereotyps“
vorschlagen, um den komplementären Charakter der beiden Aspekte von
Stereotypie stärker ins Bewusstsein zu heben.
Vor allem die soziologische und sozialpsychologische Forschung hat auf die
wichtigen sozialen und kommunikativen Funktionen hingewiesen, die Stereotype
im kommunikativen Akt haben.23 Diese Funktionen sind selbstverständlich auch
in einem sozial- und kulturgeschichtlichen Zusammenhang von großer Bedeutung
und seien deshalb kurz rekapituliert. Die primäre Funktion ist zunächst die der
Orientierung in einer sinnlich und kognitiv nicht in ihrer Ganzheit erfassbaren,
deshalb unüberschaubar, undurchsichtig und verwirrend erscheinenden Welt. In
diese wird durch die Kategorisierung in eine Wir- und eine Fremdgruppe ein
orientierungsstiftendes Ordnungsschema eingeführt, das nicht zuletzt dadurch
seine Wirkung entfaltet, dass es zwischen diesen Kategorien keinen Platz für ein
21
Vgl. dagegen HAHN, 12 Thesen, 2007, 17f., der ausführt, dass auch nicht auf soziale Gruppen
bezogene stereotypische Aussagen auftreten. Es sei hier nur die Frage angerissen, ob es sinnvoll
ist, von „Stereotyp“ ohne Gruppenbezug zu sprechen, und ob nicht bei dem von Hahn angeführten
Bezug auf Sachen oder Institutionen doch wiederum ein Gruppenbezug impliziert wird.
22
Siehe die sprachwissenschaftliche Definition bei TELUS, Gruppenspezifisches Stereotyp,
2002, 48: „Ein gruppenspezifisches Stereotyp ist eine realisierte Zuordnungsrelation zwischen der
Bezeichnung für eine soziale Gruppe und einer oder mehreren Bezeichnungen für kontingente
Eigenschaften.“
23
Klassisch erstmals LIPPMANN, Public Opinion, 1922; zusammenfassend HAHN, Stereotypen
in der Geschichte, 1995; HAHN/ HAHN, Plädoyer, 2002; HAHN, 12 Thesen, 2007;
sprachwissenschaftlich TELUS, Gruppenspezifisches Stereotyp, 2002.
349
„Dazwischen“ oder ein „Sowohl-als-auch“ gibt. Stereotypisches Sprechen
unterstützt mithin lebensweltliche und soziale Orientierung durch die scheinbare
Aufhebung von Ambivalenzen und Kontingenzerfahrungen. Des Weiteren ist die
identitätsstiftende Funktion von Stereotypen zu betonen. Es gilt, dass selbst in der
Realisationsform des Heterostereotyps stets die Behauptung über die Wir-Gruppe
im Zentrum steht, indem die Zuschreibung bestimmter Eigenschaften zu der
Fremdgruppe normalerweise die gleichzeitige Zuschreibung der (meist
gegenteiligen oder mindestens kontrastierenden) Eigenschaften zur Wir-Gruppe
impliziert.24 Stereotypisches Sprechen ist in dieser Hinsicht eine im Sprechakt
vollzogene Selbstvergewisserung durch die Zuordnung der eigenen Person zu
einem durch gemeinsame Eigenschaften definierten Sozium. Schließlich ist auf
die Herstellung von Konsens als weitere Funktion des Stereotyps zu verweisen.
Dies geschieht, indem der stereotypische Sprechakt nicht eine Mitteilung im
eigentlichen Sinne macht, sondern ein vorher Gewusstes beim Rezipienten
voraussetzt, durch dessen erneute Realisierung und Aktualisierung
Gemeinsamkeit und Übereinstimmung hergestellt werden. Für die
Realisationsform stereotypischer Sprechakte bedeutet dies, dass sie vielfach in
elliptischer, also unvollständiger, nicht zu Ende geführter Form auftreten können,
weil die Ellipse automatisch vom Rezipienten gedanklich ergänzt und so der
erwünschte Konsenseffekt erzielt wird. Eingebettet in eine jeweils spezifische
Situation, ist deshalb bereits ein Ausruf wie „Ach, diese Polen!“ oder „Typowy
Niemiec!“ (etwa: „Typisch deutsch!“) ein im Sprechakt realisiertes Stereotyp.
Hierin deutet sich bereits an, dass Stereotype nicht in einer homogenen, leicht
typisier- und identifizierbaren Form auftreten, sondern ausgesprochen
unterschiedliche, vielgestaltige Verkleidungen annehmen können. Das hat für die
historische Stereotypenforschung den Vorzug, dass quasi die gesamte textliche
(und wenigstens ein Teil der bildlichen?)25 Überlieferung der Vergangenheit als
Materialbasis zur Verfügung steht, denn das Vorkommen von Stereotypen ist
nicht auf bestimmte Textgattungen und kommunikative Situationen beschränkt,
sondern bei genauerem Hinsehen nahezu allgegenwärtig. Die Kulturgeschichte
und die historisch orientierte Ethnologie waren schon sehr findig darin, entlegene
Quellengattungen wie beispielsweise Kochbücher oder gestickte Sinnsprüche auf
Wandbehängen in den Blick zu nehmen, um stereotypischen Aussageformen auf
die Spur zu kommen.26 Umgekehrt eignen sich aber auch konventionellere
Quellenkorpora wie etwa der behördliche Schriftverkehr, amtliche
Verlautbarungen und Normen, nicht zuletzt politische Publizistik, Reiseberichte,
Memoiren und Autobiographien für die historische Stereotypenforschung. Auch
die hehre Wissenschaft ist alles andere als frei von Stereotypie, ja ganze
24
ORŁOWSKI, Stereotype der „langen Dauer“, 2007, 79.
Viele der gängigen Untersuchungen von Stereotypen beziehen Karikaturen und ähnliche
Bildquellen ein, so etwa SZAROTA, Der deutsche Michel, 1998 [1988] und WRZESIŃSKI, Sąsiad,
1992; aber auch hier frappiert die fehlende Konzeptualisierung des Verhältnisses zwischen
bildlicher und sprachlicher Realisierung des Stereotyps. Siehe dazu ausführlich unten, Abschnitt 5.
26
DANGLOVÁ, Stereotypes, 2007; MANNOVÁ, Stereotypen auf dem Teller, 2007.
25
350
Theoriengebäude sind bereits auf quasi axiomatischen, bei genauem Hinsehen
aber stereotypischen Vorannahmen aufgebaut worden.
3. Anfänge der deutsch-polnischen Stereotypisierung und der
unsichtbare Dritte
Das gruppenspezifische Stereotyp setzt in seiner Anwendung auf die eigene und
die fremde Nation naturgemäß Kriterien für die Abgrenzung der Wir- und der
Fremdgruppe voraus, aus denen sich die politisch-emotionale Gestimmtheit
herleitet, die seit dem 19. Jahrhundert auch rückblickend als „Nationalgefühl“
apostrophiert wird. Solche Kriterien sind seit alters her die natürliche Sprache,
ihre regionalen Dialekte und Soziolekte, aber auch Unterschiede der Religion, der
Sitten und Gebräuche, der Lebens- und Wohnformen sowie der
Wirtschaftsweise.27 Wollte man explizite Äußerungen über solche Unterschiede
und das sich daraus nach sozial- und sprachpsychologischen Erkenntnissen
unvermeidlich ableitende stereotypische Sprechen in eins setzen mit dem
Nationalbewusstsein und somit der Existenz von Nationen, dann wäre denen
Recht gegeben, die einem essentialistischen Nationsbegriff verhaftet sind, die
mithin die Entstehung der Nation an den Anbeginn der Geschichte setzen und
meist selbst einen nationalistischen Diskurs pflegen.
Wenn man dagegen die Formung der modernen Nation als soziopolitischer
Entität erst in der „Sattelzeit“ (Reinhart Koselleck) etwa zwischen der Mitte des
18. und der Mitte des 19. Jahrhunderts ansiedelt und die Nationalbewegungen in
weiten Teilen des östlichen Europa sogar noch ein bis zwei Generationen später
ihren Anfang nehmen lässt, so ist davon nur soviel zutreffend, dass sich nationale
oder nationalkulturelle Stereotypisierungen bereits deutlich früher beobachten
lassen, ohne daraus ein „Nationalgefühl“ im modernen Sinne ableiten zu können.
Klassische Quellengattungen wie spätmittelalterliche und frühneuzeitliche
27
SCHULZE, Entstehung des nationalen Vorurteils, 1995. Darin zahlreiche Beispiele für die
Stereotypisierung fremder Ethnika bereits seit der Antike; im Mittelalter verstärkt seit dem 11./ 12.
Jahrhundert. Die Historiographie ist sich uneinig darüber, inwieweit sich aus den Belegen für die
Abgrenzung sprachlich-kulturell definierter Wir- und Fremdgruppen Vor- und Frühformen von
„Nationalgefühl“ herleiten lassen. Zahlreiche Beispiele dazu finden sich in der mediävistischen
nationes-Forschung. Aus politisch-historischen Gründen sind ostmitteleuropäische Historiker
signifikant stärker dazu bereit, die Nationsbildung bereits im Mittelalter ansetzen zu lassen; siehe
etwa ŠMAHEL, Die nationes, 2002 und die weiteren Beiträge tschechischer und polnischer Autoren
im selben Tagungsband (Präsenz des Nationalen, 2002). Ferner: Formen des nationalen
Bewußtseins, 1994; Mittelalterliche nationes, 1995; B. ZIENTARA, Frühzeit, 1997 [1985];
PLESZCZYŃSKI, Niemcy, 2008. Zu Polen in der Frühneuzeit MALISZEWSKI, Kształtowanie się,
1991; SALMONOWICZ, Polacy, 1993; KUSBER, Polen, 2001; W. ZIENTARA, Stereotype Meinungen,
2002; allgemein zur frühen Neuzeit auch MAURER, „Nationalcharakter“, 1993; zum deutschfranzösischen Fall im Hochmittelalter JOSTKLEIGREVE, Bild des Anderen, 2008. Für die
deutschsprachigen Gruppen in Posen und Westpreußen noch in der ersten Hälfte des 19.
Jahrhunderts MÜLLER, Identitätsgeschichte, 2002.
351
Gesandtschafts- und Reiseberichte, unter den Bildquellen insbesondere die
Völkertafeln,28 aber auch bebilderte Einblattdrucke aus dem Dreißigjährigen
Krieg belegen, dass stereotypisierte bzw. klischeehafte Vorstellungen über fremde
Völker damals bereits verbreitet und offenbar so populär waren, dass sie den
Autoren und Verlegern als absatzfördernd galten.29 Solche Vorstellungen bezogen
sich sowohl auf die unmittelbar benachbarten Nationen, mit denen ein enger
wirtschaftlicher und kultureller Austausch bestand, wie auch auf die Völker des
europäischen Ostens (der bis ins 18. Jahrhundert allerdings im „Norden“
angesiedelt wurde)30, die nächst den Indianern und Kannibalen in Übersee als
Sinnbild des absolut Fremden herhalten mussten, von dem der wohlige Schauer
des Exotischen wie des Grauenhaften ausging.
Für unser Betrachtungsgebiet setzt etwa der Bericht den Ton, den der Thorner
Bürger und Gerichtssekretär Johann Christoph Hornuff (1747–1799) von seiner
im Jahr 1787 unternommenen Reise aus seiner Heimatstadt über Großpolen und
Schlesien nach Sachsen veröffentlichte. Seine Eindrücke kurz nach der Einfahrt in
mittelpolnisches Gebiet schildert er folgendermaßen:
Diese, so wie alle übrigen am Ufer der Weichsel liegenden Dörfer sind von
Deutschen bewohnt, die vielleicht die Nachkommen einer aus den
Niederlanden ausgewanderten Kolonie sind. Sie sprechen unter sich
platdeutsch, und werden von den Pohlen nie anders als Holländer genannt.
Ihre Wohnungen und ihre Landwirthschaft zeichnen beide sich vor denen der
Pohlen vortheilhaft aus; in beiden Stücken aber werden sie, so wie an
Frugalität und Fleiß, von den Mennonisten weit übertroffen.31
Nachdem großpolnisches Gebiet erreicht ist, gibt Hornuff folgende Schilderung
von Land und Leuten:
Des Nachmittags fuhren wir durch eine vortreffliche Ebene, mitten in
derselben liegt das schöne Guth Biskupie Papowo (das bischöfliche Papau
oder Kirchdorf). Hier war alles recht schön, der Hof ein geschmackvolles
Gebäude, die Wirthschafts- und Bauernhäuser nach gleicher Größe und in
geraden Linien zu beiden Seiten der Straße fielen sehr gut ins Auge und
verriethen einen Besitzer, der Ordnung und Regelmäßigkeit liebt. Dieses Guth
gehört dem Kanonikus Dorpowski von Gnesen, welcher damals Präsident des
28
EDER, „Lieben den Adel“, 1979.
ZIENTARA, Stereotype Meinungen, 2002; zum deutsch-russischen Fall: Russen und Rußland,
2
1988 [11985] sowie die weiteren Bände aus dem Kopelev-Projekt. Zu den Reiseberichten
besonders MAURER, Reiseberichte, 2002.
30
LEMBERG, Entstehung, 1985.
31
HORNUFF, Bemerkungen, 1790, 6f. Weiterführende biographische Daten zu dem Autor ließen
sich nicht ermitteln; siehe die Angaben aus dem Deutschen Biographischen Archiv (DBA) unter
URL: http://db.saur.de.proxy.nationallizenzen.de/WBIS/basicSearch.jsf (04.10.2010). Zu
deutschen Reiseberichten über Polen aus dem 18. Jahrhundert generell auch SZAFARZ, Deutsche
Reiseberichte, 1974.
29
352
Tribunals in Peterkau war. Es war schon finster, als wir in Wisoko ankamen,
einem schönen Guthe und Dorfe, dem Herrn Zlotnicki (Slotnitzki), reformirter
Religion gehörig. Der herrschaftliche Jäger, ein Deutscher, hatte den Krug in
Pacht. Hier war alles so verändert gegen vorher, daß wir auf einmal mitten
nach Deutschland versetzt zu seyn schienen und sogar erträgliche Abendkost
fertig fanden, welches ich darum erwähne, weil es auf einem Dorfe in Pohlen
etwas unerhörtes ist. Von hier aus nach Posen sind zwo Meilen.32
Ganz zentrale Elemente der deutsch-polnischen Stereotypie werden unverzüglich
realisiert, waren also in der Berichtszeit längst selbstverständlich und verbreitet:
Fleiß, Sparsamkeit, Wirtschaftstüchtigkeit, Ordnungsliebe und Organisationssinn
hüben, Nachlässigkeit, Mangel an Ordnung und Organisationstalent drüben. Bei
näherem Hinsehen jedoch wird klar, dass es sich gar so einfach mit der
Stereotypie nun wieder nicht verhält. Zwar sind „Pohlen“ (gemeint ist hier der
von der Polnisch-Litauischen Rzeczpospolita nach der ersten Teilung verbliebene
Teil, zu dem auch Hornuffs Heimatstadt Thorn gehörte) und Deutschland die
durchgehende Folie für eine kontrastierende – binäre – Stereotypisierung.
Innerhalb dieser scheint jedoch eine Hierarchisierung der Wirtschaftsgesinnung
auf, die sich nach Konfessions- und Religionszugehörigkeit und eben nicht primär
nach der Nationalität richtet: An erster Stelle stehen die Mennoniten, danach
kommen die (reformierten) Bewohner der sogenannten Holländersiedlungen33,
ganz unten stehen die Polen (implizit: die Katholiken). Tatsächlich ist es aber
noch vertrackter. Nach der Einfahrt in Großpolen will der Berichterstatter bereits
einen grundsätzlichen Kontrast zu Mittelpolen wahrgenommen haben. Die beiden
erwähnten Gutsbesitzer sind dem Namen nach Polen, davon der erste ein
katholischer Geistlicher, der zweite ein kalvinistischer Adliger, beide aber
zeichnen sich durch Tüchtigkeit und Ordnungsliebe im Verständnis des
Rationalismus und der klassizistischen Ästhetik aus („Bauernhäuser nach gleicher
Größe und in geraden Linien“). Schließlich finden wir implizit noch ein weiteres
Stereotyp, das aber nur dem mit dem diskursiven Kontext Vertrauten auffällt: Bei
dem gut bewirtschafteten und sich dadurch von der Situation in Polen
unterscheidenden Krug wird ausdrücklich unterstrichen, sein Pächter sei
Deutscher, womit impliziert ist, dass die aufgrund des Propinationsrechts des
polnischen Gutsadels in der Rzeczpospolita in aller Regel an Juden verpachteten
Schenken34 eben nicht so gut bewirtschaftet werden. Die Figur des jüdischen
Schankpächters war den Zeitgenossen aber so vertraut, dass der Berichterstatter
nicht eigens auf sie hinweisen muss. Das anscheinende Polenstereotyp (gute
32
HORNUFF, Bemerkungen, 1790, 17.
Niederländische Einwanderer waren als begehrte Spezialisten für Trockenlegung und
Gartenbau seit Mitte des 16. Jahrhunderts in Polen angesiedelt worden; darunter befanden sich
viele aus konfessionellen Gründen zur Emigration gezwungene Mennoniten (gemäßigte Täufer).
Die seit Ende des 16. Jahrhunderts an der Weichselniederung weiter flussaufwärts und längs der
Netze angesiedelten Siedler waren meist lutherische Deutsche, auf deren Dörfer aber ebenfalls der
Begriff der „Holländersiedlung“ übertragen wurde.
34
Zur jüdischen Schankpacht HAUMANN, Geschichte der Ostjuden, 1999, 62-64 und öfter.
33
353
Bewirtung ist „auf einem Dorfe in Pohlen etwas unerhörtes“) entpuppt sich also in
Wahrheit als Judenstereotyp.
An diesem ersten Quellenbeispiel lässt sich bereits eine ganze Reihe von
Merkmalen der deutsch-polnischen Stereotypie in der großpolnischen
Kontaktzone aufzeigen, die zugleich Stolpersteine einer empirischen
Untersuchung sein können. Die wichtigsten seien hier in systematischer Absicht
genannt und erläutert:
1. Wir erkennen zumindest im Vorlauf unserer eigentlichen Betrachtungszeit beim
gruppenspezifischen Stereotyp eine bunte Durchmischung nationaler bzw.
nationalkultureller, konfessioneller und sozialer Zuordnungskriterien. Deshalb ist
nicht jedes erkennbare gruppenspezifische Stereotyp automatisch ein „nationales“.
In der Betonung der Konfessionszugehörigkeit noch am Ende des 18.
Jahrhunderts deutet sich ein aus dem konfessionellen Zeitalter überdauernder
Primat der religiösen Kategorisierung sozialer Gruppen an. Das Merkmal der
Wirtschaftstüchtigkeit bzw. -untüchtigkeit wird noch nicht primär nach
nationalen, sondern eben nach konfessionellen Kriterien vergeben, ganz im Sinne
der später von Max Weber beschriebenen „protestantischen Ethik“ (welche im
Übrigen die neuere Forschung zum Teil selbst als historisches Stereotyp entlarvt
hat). Daran lässt sich die Frage anschließen, inwieweit sich im Laufe des 19.
Jahrhunderts innerhalb der Stereotypisierung eine Verlagerung dieses Primats auf
das nationale oder nationalkulturelle Kriterium beobachten lässt. Umgekehrt ist zu
fragen, inwieweit die Religionszugehörigkeit und die damit verbundenen
semantischen Konnotationen selbst zu Bestandteilen des nationalen Stereotyps
werden.
2. An und für sich eine quellenkritische Banalität, aber im Kontext einer
Untersuchung zu den gruppenspezifischen Stereotypen ausdrücklich zu betonen
ist der Standpunkt des Autors. Ebensowenig wie bei der Definition der
Fremdgruppe ist die Wir-Gruppe a priori auf das nationale Kriterium festgelegt.
Vielmehr können dabei unterschiedliche nationale, konfessionelle, kulturelle und
soziale (Selbst-) Zuordnungen eine Rolle spielen, darunter auch und gerade solche
multiplen Identitäten, die miteinander im Widerstreit liegen. Nicht zuletzt
bekommen in diesem Zusammenhang ordnungspolitische Präferenzen und ganz
idiosynkratische Anschauungen Geltung: Hornuff mag sich als tüchtiger
(vermutlich lutherischer) Bürger deutscher Nationalität verstehen, der als Thorner
Stadtbürger zugleich selbst Angehöriger der Rzeczpospolita ist, versagt aber
dennoch den polnischen adligen Gutsbesitzern (egal ob Katholiken oder
Kalvinisten) nicht seine Anerkennung, wenn ihre Wirtschaftsführung seinen
Idealen einer „guten Polizey“ entspricht.
3. Wie fast immer in den ostmitteleuropäischen Kontaktzonen, ist ein binäres
Metastereotyp (hier also ein deutsch-polnisches Auto- und Heterostereotyp)
reduktionistisch. Unser Textbeispiel zeigt, dass die Juden wenigstens als
unsichtbarer Dritter ins Spiel kommen. Das muss aber nicht die Konsequenz
354
haben, das binäre Stereotypmodell gleich als inadäquat aufzugeben. Vielmehr ist
genau zu untersuchen, inwieweit die Figur des Dritten der jeweiligen
Fremdgruppe zugeordnet wird, inwieweit in unserem Betrachtungsgebiet also die
Juden fallweise gewissermaßen als zusätzliches Attribut der polnischen bzw.
deutschen Fremdgruppe gesehen werden. Das obige Quellenzitat verdeutlicht,
dass vielleicht gerade weil die jüdischen Schankwirte gar nicht unbedingt explizit
genannt werden, wenig gastfreundliche oder heruntergekommene (und fast
ausschließlich von Juden betriebene!) Schenken im deutschen Heterostereotyp der
Polen zu einem Merkmal „des Polnischen“ werden.
Das komplexe Verhältnis zwischen idiosynkratischer Position eines Autors und
der vorgegebenen, un- oder überpersönlichen nationalen Stereotypisierung sei an
einem weiteren, sehr viel bekannteren Beispiel eines deutschen Reiseberichts
noch eingehender erläutert. Es handelt sich, wie könnte es anders sein, um den
berühmt-berüchtigten Essay Heinrich Heines (1797–1856) „Ueber Polen“, den der
noch nicht ganz Fünfundzwanzigjährige im Herbst 1822 nach seiner Reise in das
Großherzogtum Posen und seinem von dort aus unternommenen Abstecher nach
Kongresspolen verfasste.35 Bei der Fahrt über Land fallen dem Berichterstatter die
ärmlichen Dörfer, die Trunksucht der Bauern und ihre Unterwürfigkeit gegenüber
den Herren ins Auge – allesamt Konstanten deutscher Polenbilder und stereotype. Interessant ist Heines Hinweis auf den „Einfluß französischer Lehren,
die in Polen leichter als irgendwo Eingang finden“.36 An dieser nur anscheinend
beiläufigen Bemerkung lässt sich ein wichtiges Merkmal des gruppenspezifischen
und besonders des nationalen Stereotyps festmachen. Es ist in der Literatur bereits
darauf hingewiesen worden, dass in der binären Struktur des Stereotyps (oder, in
der hier vorgeschlagenen Terminologie, des Metastereotyps) dem Autostereotyp
Priorität zukommt und das Heterostereotyp als das grundsätzlich „Andere“,
„Fremde“ von diesem abgeleitet wird.37 Das erklärt, wieso sich so viele mit dem
Heterostereotyp zugeschriebene Eigenschaften in Bezug auf ganz unterschiedliche
Nationen gleichen, weil diese eben als Antonyme zu den als konstant
angenommenen Eigenschaften der Wir-Gruppe behauptet werden. Ebenso erklärt
sich beispielsweise im deutschen Polenstereotyp der hohe Grad an
Übereinstimmung mit dem deutschen Franzosenstereotyp.38 Diese eigentümliche
Übereinstimmung zweier nicht einmal direkt benachbarter Völker aus der
Perspektive einer deutschen stereotypischen Auffassung wird an dieser Stelle
durch Heine gewissermaßen rationalisiert, indem er sie als direkte Übernahme
französischer Eigenarten durch die Polen behauptet (und damit en passant dem
deutschen Polenstereotyp noch ein weiteres Merkmal hinzufügt).
Zugleich ist in „Ueber Polen“ ein typisches Merkmal der Entstehungszeit zu
erkennen, nämlich eine eigentümliche Gleichsetzung „der Polen“ mit der
35
36
37
38
HEINE, Ueber Polen, 1973 [1823].
Ebd., 59.
In diesem Sinne etwa HAHN, 12 Thesen, 2007.
PLEITNER, Die ‚vernünftige Nation‘, 2001, 3; HAHN, 12 Thesen, 2007, 22f.
355
polnischen sozialen Elite, die damals praktisch noch exklusiv mit dem
landbesitzenden Adel identifiziert wurde. Heine beschreibt die polnischen
„Edelleute“ als „gastfrey, stolz, muthig, geschmeidig, falsch (dieses gelbe
Steinchen darf nicht fehlen) [sic] reitzbar, enthousiastisch, spielsüchtig,
lebenslustig, edelmüthig und übermüthig“,39 wobei an dieser Stelle das nationale
nicht von dem sozialen Stereotyp zu trennen ist. Die Gleichsetzung der
„polnischen Nation“ mit dem „polnischen Adel“ entspricht, auch dies ist wichtig,
einem historisch fundierten polnischen Autostereotyp, das aus der Identifizierung
des Adels mit der politischen Nation rührt und das dazu beigetragen hat, dass sich
in Polen erst relativ spät ein ethnisches Konzept von Nation entwickelte.40 Heine
sieht in der polnischen (Adels-) Kultur eine widersprüchliche Vermengung von
Einflüssen aus dem Osten, sprich Russland, dem Land der „Barbarey“, und dem
durch seine „Überkultur“ geprägten Westen, sprich Frankreich.41
Auch an diesem Beispiel wird deutlich, dass Auto- und Heterostereotype
keineswegs autonome Gebilde sind, die sich innerhalb einer (National-) Kultur
bilden, sondern dass die Stereotype benachbarter Nationalkulturen in vielfältiger
Weise miteinander verflochten sein können, also Merkmale kultureller
Interferentialität tragen. Notwendigerweise ergibt sich daraus, dass auch nicht
jeder Bestandteil des Heterostereotyps negativ konnotiert sein, wie umgekehrt das
Autostereotyp nicht ausschließlich aus positiv gewerteten Bestandteilen
zusammengesetzt sein muss; die emotionale Aufladung des Metastereotyps kann
demnach in beide Richtungen gehen. Im Übrigen wäre Heine nicht Heine, würde
ihm nicht wenigstens untergründig bewusst, dass er sich in Stereotypen äußert
(auch wenn er sie nicht so genannt hätte) und eben keine Tatsachenfeststellungen
trifft. So schreibt er in direktem Anschluss an die zuvor zitierte Passage über den
polnischen Adel: „Aber ich selbst habe zu oft geeifert gegen unsre
Broschürenscribler, die, wenn sie einen Pariser Tanzmeister hüpfen sehen, aus
dem Stegreiff die Charakteristik eines Volkes schreiben […].“42
Wegen der für ihren Autor typischen Mischung aus soziologisch genauer
Beobachtung, ironischer Sozialkarikatur und stereotypischem Sprechen, nicht
zuletzt aber, weil er unseren Schauplatz anschaulich in Szene setzt, seien im
Anschluss noch Heines Eindrücke aus der mit der Teilung von 1793 und dann mit
den Beschlüssen des Wiener Kongresses 1815 erneut an Preußen gekommenen
Provinzhauptstadt Posen wiedergegeben:
Von den Bewohnern der preußisch polnischen Städte will ich Ihnen nicht viel
schreiben; es ist ein Mischvolk von preußischen Beamten, ausgewanderten
Deutschen, Wasserpolen, Polen, Juden, Militair u.s.w. Die preußischen
deutschen Beamten fühlen sich von den polnischen Edelleuten nicht eben
39
HEINE, Ueber Polen, 1973 [1823], 62.
Zur ursprünglichen Gleichsetzung des Adels mit der „politischen Nation“ Polens
insbesondere HAHN, Dichotomie, 1989.
41
HEINE, Ueber Polen, 1973 [1823], 63.
42
Ebd., 62.
40
356
zuvorkommend behandelt. Viele deutsche Beamten werden oft, ohne ihren
Willen, nach Polen versetzt, suchen aber sobald als möglich wieder heraus zu
kommen; Andere sind von häuslichen Verhältnissen in Polen festgehalten.
Unter ihnen finden sich auch solche, die sich darin gefallen, daß sie von
Deutschland isolirt sind; die sich bestreben, das bischen Wissenschaftlichkeit,
das sich ein Beamter, zum Behuf des Examens, erworben haben mußte, so
schnell als möglich wieder aus zu gähnen; die ihre Lebensphilosophie auf eine
gute Mahlzeit basirt haben, und die, bey ihrer Kanne schlechten Bieres,
geifern gegen die polnischen Edelleute, die alle Tage Ungar-Wein trinken und
keine Aktenstöße durch zu arbeiten brauchen. Von dem preußischen Militair,
das in dieser Gegend liegt, brauche ich nicht viel zu sagen; dieses ist, wie
überall, brav, wacker, höflich, treuherzig und ehrlich. Es wird von dem Polen
geachtet, weil dieser selbst soldatischen Sinn hat und der Brave alles Brave
schätzt; aber von einem näheren Gefühle ist noch nicht die Rede.
Posen, die Hauptstadt des Großherzogthums, hat ein trübsinniges,
unerfreuliches Ansehen. Das einzige Anziehende ist, daß sie eine große
Menge katholischer Kirchen hat. Aber keine einzige ist schön. Vergebens
wallfahrte ich alle Morgen von einer Kirche zur andern, um schöne alte Bilder
auf zu suchen. Die alten Gemälde finde ich hier nicht schön, und die
einigermaßen schönen sind nicht alt. Die Polen haben die fatale Gewohnheit,
ihre Kirchen zu renoviren. Im uralten Dom zu Gnesen, der ehemaligen
Hauptstadt Polens, fand ich lauter neue Bilder und neue Verzierungen. […]
Der Dom hier in Posen ist neu, hat wenigstens ein neues Ansehen; und
folglich gefiel er mir nicht. Neben demselben liegt der Palast des Erzbischofs,
der auch zugleich Erzbischof von Gnesen, und folglich zugleich römischer
Cardinal ist, und folglich rothe Strümpfe trägt. Er ist ein sehr gebildeter,
französisch-urbaner Mann, weißhaarig und klein. Der hohe Clerus in Polen
gehört immer zu den vornehmsten adligen Familien; der niedere Clerus gehört
zum Plebs, ist roh, unwissend und rauschliebend.43
Die Juden als stets präsente dritte Gruppe treten auch bei Heine in Erscheinung.
Er benennt ihre eigentümliche Zwischenstellung innerhalb der polnischen
Gesellschaft. In Ermangelung eines historisch geformten Stadtbürgertums haben
sie die Funktion des „dritten Standes“44 – so Heine wörtlich, in einer Zeit, in der
sich die ständische Hierarchie auch in Ostmitteleuropa sowohl sozial als auch
formal-rechtlich bereits in Auflösung befindet. Zugleich spricht er von ihrem
„widerwärtigen Äußeren“45 und macht aus seiner Abscheu vor ihnen kein Hehl.
Darin wird bereits derselbe Kulturschock sichtbar, der sich noch fast genau
einhundert Jahre nach Heine in Alfred Döblins Bericht über seine Polenreise
43
44
45
Ebd., 73f.
Ebd., 59.
Ebd., 61.
357
niederschlagen sollte.46 Während sich jedoch bei Döblin Abstoßung und von einer
nahezu ethnologischen Neugier geprägte Faszination für das ostjüdische
Spiegelbild der eigenen religiös-kulturellen Herkunft die Waage halten, frappiert
bei Heine ein Widerwille, der auf sein persönliches Identitätsproblem als
akkulturierter deutscher Intellektueller jüdischer Abstammung verweist. Noch
schlägt dies bei Heine jedoch nicht bis zu jener Variante des jüdischen
selbsthasserischen Antisemitismus durch, die erst in der Zeit des ausgeprägten
Nationalismus und eines rassistischen Judenhasses um 1900 möglich wurde.47
4. Die Nationalisierung des Stereotyps
Die sich im Laufe des 19. und frühen 20. Jahrhunderts ändernden
Erhebungskriterien für die Bevölkerungszählungen verdeutlichen auch auf
staatlich-behördlicher Ebene die Gewichtungsverschiebung, die sich von
Konfession und Religion hin zu sprachkultureller und schließlich nationaler
Zugehörigkeit vollzog (Tab. 1). Die auf der Grundlage der Statistiken des 19.
Jahrhunderts vorgenommene Gleichsetzung von Polen mit Katholiken bzw.
Deutschen mit Protestanten rechtfertigte sich anscheinend dadurch, dass nur eine
quantitativ unerhebliche Minderheit der jeweils anderen Konfession angehörte;
die sich daraus ergebenden Abweichungen glichen sich in etwa gegenseitig aus.
So gab es etwa bei einer Gesamtbevölkerung von 2,1 Millionen vor dem Ersten
Weltkrieg lediglich zehn- bis zwölftausend deutsche Katholiken in der Provinz.48
Die in den Quellen durchweg anzutreffende Identifizierung der Polen mit dem
Katholizismus und der Deutschen mit dem Protestantismus scheint also gerade in
unserem Betrachtungsgebiet durch die Konfessionszusammensetzung besonders
gerechtfertigt. Dennoch gehört auch sie insofern oft zur deutsch-polnischen
Stereotypie, als die konfessionelle Zuordnung für die Gesamtnation
verallgemeinert wurde – was besonders im deutschen Fall ersichtlich den
Tatsachen widersprach – und sie kontextuell eingesetzt wurde, um die
Wesensverschiedenheit und Unvereinbarkeit von „deutsch“ und „polnisch“
zusätzlich zu betonen. Daraus lässt sich schließen, dass das Nationalitätskriterium
das der Konfession im Laufe der Zeit nicht etwa gänzlich verdrängte, sondern
dieses hinter jenem verschwand und von ihm integriert wurde, aber jederzeit
wieder in den Vordergrund treten konnte, nicht zuletzt eben in stereotypischen
Kontexten. So geschah es zwangsläufig, dass der sogenannte Kulturkampf der
46
DÖBLIN, Reise in Polen, 32000 [1926]; Döblin machte während seiner Reise allerdings keinen
Abstecher in das Posener Gebiet; denn er war vor allem am „Ostjudentum“ interessiert, das er in
den Städten Galiziens und Kongresspolens aufsuchte.
47
Mit Blick auf die eigentümliche Zwischenstellung, in der sich die Posener Deutschen auch
später innerhalb des von ihnen selbst diagnostizierten „Ost-West-Gefälles“ wiederfanden, spricht
SERRIER, Provinz Posen, 2005 [2002], 102, förmlich von einem „Heinrich-Heine-Syndrom“; zu
Heines Reisebericht und seiner empörten Rezeption in Posen ebd., 104-107.
48
KIEC, Die evangelischen Kirchen, 1998, 16.
358
1870er Jahre, in dem Bismarck reichsweit den Einfluss des Katholizismus
zurückzudrängen versuchte, in den preußischen Ostprovinzen eine ausgesprochen
antipolnische Spitze erhielt und von den Polen als gezielte Strategie der
Entnationalisierung wahrgenommen wurde. Diese hatten dafür in Bismarck
höchstselbst ihren besten Gewährsmann, denn er behauptete in seinen Memoiren,
den Kulturkampf vorwiegend wegen der Polen geführt zu haben,49 und
nationalisierte damit ex post seine Motive.
Tabelle 1: Entwicklung der konfessionellen und sprachkulturellen Gruppen bzw.
Nationalitäten im Posener Gebiet in den Volkszählungen 1816–1938
Jahr
Kriteriu
m
1815
/16
Einwoh
ner in Tsd.
Polen
bzw.
Katholiken
Deutsch
e bzw.
Protestanten
27,6 %
Jud
en
Konfessi
790
66,0 %
6,4 %
Konfessi
1467
62,4 %
32,6 %
5,0 %
Sprache
Sprache
1665
2099
65,2 %
60,9 %
34,8 %
38,4 %
a)
[1,26]
on
1861
on
1882
1910
a)
1938
b
National
ität
2264
90,3 %
9,3 %
ca.
0,3 %
a) Zur deutschsprachigen Bevölkerung dazugerechnet.
b) Die Wojewodschaft Posen war gegenüber der Provinz Posen um die beim
Deutschen Reich verbliebenen westlichen Kreise bzw. Kreisteile verkleinert.
Nach: MATELSKI, Mniejszość niemiecka, 1997, 25, 35.
Die deutsche Bevölkerung war nicht gleichmäßig über das Gesamtgebiet verteilt,
sondern überwog zum einen im Netzedistrikt, zum anderen in den nach 1918 beim
Deutschen Reich verbleibenden westlichen Kreisen oder Kreisteilen. Die ersten
deutschsprachigen Siedler waren mit dem Landesausbau und den
Städtegründungen der großpolnischen Fürsten nach deutschem (Magdeburger)
Recht im Laufe des 13. und 14. Jahrhunderts in die Region gekommen, hatten sich
aber zu erheblichen Teilen bis gegen Ende der alten Rzeczpospolita sprachlichkulturell an die polnische Umgebung akkulturiert oder auch assimiliert.50
Deutschsprachige Siedlungsinseln hielten sich v.a. in den Städten und aus
konfessionellen Gründen, d.h. dort, wo die Reformation Fuß fassen und die
49
BISMARCK, Gedanken und Erinnerungen, o.J. [1898‒1919], 258f.
Zur Unterscheidung zwischen „Akkulturation“ und „Assimilation“ z.B. die sehr treffenden
Ausführungen bei SCHUTTE, Königliche Akademie, 2008, 6–8; ferner MOLIK, Procesy
asymilacyjne, 1999; TRABA, Asymilacja/ akulturacja, 1999.
50
359
polnischsprachige katholische Geistlichkeit nicht mehr ihren Einfluss geltend
machen konnte. Die Scheidelinie zwischen der deutschsprachig gebliebenen und
der deutschstämmigen polonisierten Bevölkerung verlief in etwa entlang der
späteren Grenze zwischen dem Deutschen Reich und der Zweiten Polnischen
Republik. Eine deutschsprachige Streusiedlung bestand im 19. Jahrhundert
insbesondere noch dort, wo erst im 18. Jahrhundert polnische Gutsbesitzer
deutsche Kolonisten angeworben oder der preußische Staat nach 1772 seine
Peuplierungspolitik betrieben hatte.51 Durch den überproportionalen Zuzug von
Beamten und Militärpersonal kam es im 19. Jahrhundert in den Städten wiederum
zu einem Anstieg der deutschen Bevölkerung. Gerade aus dieser Gruppe der
neuzugezogenen und vielfach nicht wirklich in der Region verwurzelten
deutschen Einwohner rekrutierten sich schließlich viele der radikaleren Akteure
der deutschen Nationalbewegung.
Wie überall in den deutsch-polnischen Grenzregionen blieben bis zum
Vormärz die konfessionellen Trennlinien sehr viel wichtiger als die nationalen.52
Eine standes- und noch nicht nationalitätenpolitische Konfliktlinie verlief damals
zwischen der preußischen Verwaltung und dem polnischen Adel, dem der
zentralisierende Staat schrittweise seine ständischen Privilegien nahm. Dieser
Konflikt berührte zunächst die Interessen der mittleren und unteren
Gesellschaftsschichten wenig und wurde deshalb von ihnen kaum beachtet.53 Die
Politik der preußischen Regierung war seit den Teilungen insofern entschieden
stereotypfördernd, als sie ihre Annexionen nicht zuletzt mit der vermeintlichen
„Rückständigkeit“ und „Misswirtschaft“ in den vorher polnischen Territorien
legitimierte. Des Preußenkönigs Friedrich II. so abfällige wie pauschale (eben
negativ-stereotype) Äußerungen über die Polen waren notorisch, aber das
Ressentiment kehrte sich zunächst v.a. gegen den polnischen Adel und Klerus, die
als konservativ und innovationsfeindlich galten und sich angeblich den
preußischen Modernisierungsbestrebungen entgegenstellten. Dabei wurde
unterschlagen, dass gerade die zweite Teilung Polens, an der sich nur Russland
und Preußen beteiligten, nicht zuletzt das Ziel verfolgt hatte, die Sanierung der
Rzeczpospolita mit Hilfe eines großangelegten Reformprogramms zu
verhindern.54 Das im Interesse der Staatsraison zu Propagandazwecken
aufgebrachte und verbreitete Stereotyp folgte nur insoweit dem Selbstbild des
polnischen Adels als politischer Nation, als Stadtbürger und Bauern gar nicht als
politische Akteure eigenen Gewichts wahrgenommen wurden. Auch in diesem
Schlüsselmoment zeigt sich die Tatsache, dass sich nationale, soziale und
kulturelle Stereotypisierungen zeitlich überlagern und zu verschiedenen Zeiten
51
KESSLER, Polen, 2001, 307f.; zu den in Oberfranken seit 1719 angeworbenen sog.
„Bambergern“ auch PARADOWSKA, Bamberger, 1994 [1975].
52
Diese konnten allerdings auch gewaltsame Konflikte hervorrufen; beispielsweise über das
berüchtigte „Thorner Blutgericht“ von 1724 und seine retrospektive nationale Neuinterpretation
zuletzt noch THOMSEN, Thorner Tumult, 2009.
53
HAGEN, Germans, 1980, 76-95; MAKOWSKI, Polen, 1999, 54-56.
54
Dazu immer noch MÜLLER, Teilungen Polens, 1984, 43-51; die neuere Literatur dagegen in
der polnischen Übersetzung MÜLLER, Rozbiory Polski, 2005 [1984].
360
allenfalls unterschiedliche Gewichtungen ihres jeweiligen Anteils am
Metastereotyp in Erscheinung treten.
Es ist nicht ganz klar, ob die deutsche (Stadt-) Bevölkerung des Posener
Gebietes die vormärzliche Polenbegeisterung teilte, von der sich besonders in
Mittel-, West- und Südwestdeutschland während des polnischen
Novemberaufstandes 1830/31 und nach seinem Scheitern große Teile des
liberalen Bürgertums mitreißen ließen. Meine Vermutung ist, dass in den
vormaligen polnischen Adelsstädten, die nunmehr allmählich zu preußischen
Beamtenund
Garnisonsstädten
mutierten,
gerade
diejenigen
bildungsbürgerlichen Schichten zu schwach waren, die ihre libertären und
demokratischen Gesinnungen auf die polnische Freiheitsbewegung projizierten
und ein zumindest zeitweise dominantes, positives Polenstereotyp des edlen,
patriotischen und freiheitsliebenden Kämpfers schufen.55 Mehr als eine
Marginalie ist übrigens, dass sich damals auch das Stereotyp der „schönen Polin“
verfestigte, der als (adelige) Patriotin imaginierten, mutigen Frau, welche die
eigentliche Triebkraft hinter der polnischen Nationalbewegung darstelle. Die
„schöne Polin“, die auch schon in Heines „Ueber Polen“ figurierte, kam im
weiteren Verlauf der Nationalisierung des deutschen Polenstereotyps immer dann
zur Geltung, wenn nolens volens der polnischen Nation bestimmte positive
Eigenschaften zuerkannt werden mussten, an denen es dem polnischen Mann
angeblich mangelte.56
Gerade das Posener Gebiet geriet in den Fokus der ersten nationalen
Zuspitzung, die sich im Gefolge des großpolnischen Aufstandsversuchs von 1846,
der Revolution von 1848 und der Polendebatte im Paulskirchenparlament ergab.
Denn die Auseinandersetzung um die Einladung der polnischen Abgeordneten
und die Aufnahme des Großherzogtums in den zu gründenden deutschen
Nationalstaat brachten förmlich über Nacht landesweit allen politisch
Interessierten zu Bewusstsein, dass es hier um einen Konflikt ging, der sich an
dem politisch noch relativ ungewohnten Ideologem des Nationalen entzündete.
Das Großherzogtum Posen wurde damals als „Kernland des Polenthums“
entdeckt, wie ein zeitgenössischer politischer Kommentator schrieb: „In allem,
was seine Nationalität betrifft, ist der Pole ein für alle Male inkurabel […].“57
Weiterhin spielte jedoch die Konfession eine große Rolle, wie sich an dem
Loyalitäts- und Identitätskonflikt erkennen lässt, in dem sich die katholischen
Preußen der brandenburgisch-posenschen Grenzkreise wiederfanden, die per
königlichem Edikt dem preußischen Staatsgebiet zugeschlagen wurden.58
55
Als Anthologie zeitgenössischer deutscher „Polenlieder“ z.B. Polenlieder, 1982; ferner
Dokumente, 1982; ROGUSKI, Dzielny kosynier, 2004; Solidarność 1830, 2005; Polenbegeisterung,
2005.
56
Diese treffende Beobachtung bei ROSENTHAL, German and Pole, 1976, 16f.; siehe auch
KOESTLER, „Hut ab“, 1993.
57
FRANTZ, Polen, 1969 [1848], 61, 64.
58
LORENZ, Von Birnbaum, 2005, 82-91; auch MÜLLER, Identitätsgeschichte, 2002; allgemein
zur Identitätsproblematik der deutschsprachigen Katholiken BJORK, Neither German Nor Pole,
2008.
361
Unabhängig davon, ob man die entscheidende Zäsur der preußischen
Polenpolitik mit dem Revolutionsjahr 1848 oder mit der Reichsgründung von
1871 datiert oder aber, wie Thomas Serrier in seiner kulturgeschichtlichen Studie
zum Posener Gebiet, in der dazwischenliegenden Formierungsphase der
deutschen und polnischen Nationalbewegungen,59 – fest steht, dass sich auch die
Regierungspolitik nach 1848 und verstärkt nach 1871 nationalisierte und damit
von dem im Prinzip übernationalen dynastischen Prinzip endgültig
verabschiedete. Am Posener Beispiel lässt sich sehr gut zeigen, dass die
preußische Politik dabei häufig unter dem Druck von Forderungen seitens der
deutschnationalen Vereine und Interessenorganisationen tätig wurde. Diese
reagierten ihrerseits auf die polnische Nationalbewegung, deren Institutionen den
analogen deutschen Einrichtungen zeitlich vorausgingen und ihnen
organisatorisch und nach der Zahl ihrer Mitglieder meist deutlich überlegen
waren. Im Posener Gebiet wurde die sogenannte „organische Arbeit“ erfunden,
längst bevor die Niederlage des Januaraufstands von 1863/64 auch im
russländischen Teilungsgebiet die polnische Nationalbewegung dazu brachte, auf
eine pragmatische Linie einzuschwenken, um ihre nationalpolitischen Ziele auf
dem Wege von Erziehung, Ausbildung und institutioneller Organisation
weiterzuverfolgen.
Der
berühmte
Marcinkowski-Verein
(ursprünglich
„Gesellschaft zur wissenschaftlichen Hilfe für die Jugend des Großherzogtums
Posen“, gegründet 1841) stammte aus dem Vormärz, und die „Posener
Gesellschaft der Freunde der Wissenschaften“ (gegründet 1857) ging den
entsprechenden deutschen Organisationen um eine volle Generation voraus. Nicht
zuletzt das Netz polnischer Gewerbevereine und Genossenschaften war im letzten
Drittel des 19. Jahrhunderts merklich enger geknüpft als das deutsche.60
Der anfängliche soziale Fokus der preußischen Verwaltung wurde im Laufe
der Nationalisierung oder genauer Ethnisierung der Regierungspolitik aufgegeben,
und damit wurden auch die spezifischen sozialen Stereotype weiter nationalisiert.
Die Stereotypisierung als Kernbestandteil der Regierungspropaganda und des
administrativen Handelns diente der dauerhaften Legitimierung der Teilungen
Polens und der preußischen Herrschaft, indem sich die Obrigkeit als Bringer von
Fortschritt und Modernität stilisierte. Damit geriet die preußische Regierung
jedoch auf Dauer zwangsläufig in einen Argumentationsnotstand. Denn je länger
ihre Herrschaft andauerte, desto weniger konnte sie noch pauschal die
Rückständigkeit des Gebiets behaupten, da sie damit schließlich ihr eigenes
Versagen hätte einräumen müssen. Deshalb wurde das stereotypische Schlagwort
der „polnischen Wirtschaft“, also das deutsche Polenstereotyp schlechthin, im
Laufe der Zeit eher auf Galizien und Kongresspolen übertragen, also in den
59
SERRIER, Provinz Posen, 2005 [2002], 34; Serrier sieht den gescheiterten Aufstand von
1863/64 im russländischen Teilungsgebiet als das entscheidende Datum, an dem für die polnische
Nationalbewegung klar wurde, dass der preußische Staat die vollständige Einverleibung des
Posener Gebiets verfolgte und keine wie auch immer geartete nationale Autonomie zulassen
würde.
60
JAWORSKI, Handel und Gewerbe, 1986, 44-48; SCHUTTE, Königliche Akademie, 2008, 22-28.
Mit gewissen Modifikationen für das lokale Fallbeispiel LORENZ, Von Birnbaum, 2005, 45-55.
362
Verantwortungsbereich der beiden anderen Teilungsmächte abgewälzt. Zugleich
verstärkte sich aber die nationale Stereotypisierung „des Polen“ als eines zu
planvoller Arbeit und Organisation nicht befähigten Menschen.61 Vermutlich aus
ähnlichen Gründen konnte sich in Preußen-Deutschland auch kein über 1918
hinaus fortwirkendes Stereotyp etablieren, das die Polen des Posener Gebiets in
irgendeiner Weise von ihren Landsleuten abgehoben hätte.62 Überhaupt erzwingt
die semantische Struktur der Stereotypie geradezu, dass das nationale
Heterostereotyp stets pauschal die gesamte nationale Gruppe bezeichnet, während
nur das Autostereotyp eine innere Differenzierung nach lokalen, regionalen oder
landsmannschaftlichen Kriterien zulässt, d.h. seinerseits nach dem binären Prinzip
des Metastereotyps funktionieren kann.
In einer Passage eines pseudonym veröffentlichten politisch-publizistischen
Werks hielt Józef Ignacy Kraszewski (1812–1887), Vielschreiber und bekannt als
Autor historischer Romane, Ende der 1860er Jahre fest, wie sich aus seiner
exilpolnischen Außenperspektive der Entwicklungsstand der polnischen
Gesellschaft im Posener Gebiet darstellte. Mit Blick auf das polnische Landvolk
(lud) schreibt Kraszewski:
W spadku po przeszłości został lud mało ukształcony, wybornie udarowany
od natury, chciwy postępu, lecz nie zwykły do takiej pracy, jaka nań spadła.
Lud ten instynktem w życiu politycznym ledwie poczętym zacnością i
wielkimi darami się odznacza; lecz mimo pozornej emancypacji o własnej
swej sile daleko iść nie może. Opiekunem jego z jednej strony jest rząd, który
w interesie unifikacji (na nią wszystkie chorują) radby germanizować; ksiądz,
którego zadaniem przy wierze i czystości obyczajów go utrzymać, na ostatek
szlachcic i większy właściciel, dawniej wyłączny reprezentant interesów
narodowych, który i dziś ma prawie też same obowiązki, a poczuwa się do
powinności dźwignięcia ludu, oświecenia go, obrony. Nie możemy
zaprzeczyć, że szlachta po większej części, wedle sił spełnia ten obowiązek;
nie możemy zarzucić, by się nie starała zbliżyć do ludu i wyrzekłszy [się]
dobrowolnie swego stanowiska przywilejów, nie chciała podzielić ich z tym
sprzymierzeńcem w obronie praw narodowości.
Ponad ludem z jego łona wyrabiający się stan średni dosyć już jest silny,
by o dalszym swym rozwoju i postępie nie wątpił. Tu jedno z głównych jąder
pracy, bo mniej zamożna klasa średnia dorabiać się musi i zamożności i
wykszałcenia, dwóch dźwigni koniecznych dla zdobycia stanowiska, które
zająć powinna. To stanowisko przeważne w części na szlachcie zdobywać
przychodzi; stawi ją więc praca w niejakim antagonizmie z nią, chociaż
dzisiejszy postęp idei walkę czyni niepostrzeżoną, łagodzi ją i do rozmiarów
61
SERRIER, Provinz Posen, 2005 [2002], 118-127.
Vor 1918 bestand zumindest ein Ansatz dazu in der Unterscheidung zwischen den
„polnischen Preußen“ in Oberschlesien und in Ostpreußen-Masuren sowie den „preußischen
Polen“ eben im Posener Gebiet; so etwa in dem oben schon zitierten Werk von FRANTZ, Polen,
1969 [1848], 61f. Während Erstere als loyale Untertanen der preußischen Monarchie galten,
wurden Letztere zum Synonym für Aufrührer und Unruhestifter.
62
363
uczciwego współzawodnictwa ogranicza. Na klasie średniej wiernej idei
narodowej, uzdolnionej i nawykłej do trudu, gdy szlachta niełatwo z pracą się
godzi, a trwać w niej nie umie, wielkie spoczywają nadzieje. Byleby zadanie
swe pojmując, a antagonizmu unikając i walki, stała się, czym być powinna w
narodzie – spójnią pomiędzy ludem a szlachtą, obojgu nauczycielem i
przykładem pracy a wytrwania. Stan średni także, przychodzący do
samopoznania do bytu poważniejszego – czyni zadość obowiązkom.63
[Als Erbe der Vergangenheit blieb das Volk wenig gebildet, von der Natur mit
hervorragenden Gaben versehen, den Fortschritt erstrebend, doch nicht der
Arbeit gewohnt, die ihm zufällt. Dieses noch kaum mit politischem Instinkt
bewehrte Volk zeichnet sich durch Rechtschaffenheit und große Gaben aus;
doch trotz scheinbarer Emanzipation kann es aus eigener Kraft nicht weit
gelangen. Sein Vormund ist einerseits die Regierung, die es im Interesse der
Unifizierung (daran kranken alle [Regierungen]) nur zu gerne germanisieren
würde; der Priester, dessen Aufgabe es ist, es im Glauben und der Reinheit
der Sitten zu bewahren, zuletzt der Edelmann und größere Grundbesitzer,
einst der einzige Repräsentant der nationalen Interessen, der auch heute
beinahe dieselben Pflichten hat und sich in der Schuldigkeit sieht, das Volk zu
heben, aufzuklären, zu schützen. Wir können nicht widersprechen, dass der
Adel zum größeren Teil diese seine Aufgabe nach besten Kräften erfüllt; wir
können ihm nicht vorwerfen, dass er sich nicht bemühte, sich dem Volk
anzunähern und, unter freiwilligem Verzicht auf die Privilegien seines
Standes, sich nicht mit diesem Verbündeten in die Verteidigung der Rechte
der Nation teilen wollte.
Der sich über das Volk erhebende, aus seinem Schoße sich entwickelnde
Mittelstand ist bereits recht stark, so dass er für seinen weiteren Aufstieg und
Fortschritt nicht Sorge tragen muss. Hier wird ein Großteil der harten Arbeit
verrichtet, denn die weniger vermögende Mittelklasse muss an Wohlstand und
Bildung gewinnen, den beiden treibenden Kräften, die ihr zur Erlangung der
ihr zukommenden Stellung unerlässlich sind. Sie wird diese Stellung zum Teil
dem Adel abringen müssen; so setzt sie die Arbeit also in einen gewissen
Gegensatz zu diesem, obgleich der heutige Fortschritt der Idee den Kampf
unmerklich macht, ihn mildert und ihn auf das Maß des ehrlichen
Wettbewerbs beschränkt. Auf der Mittelklasse, die der nationalen Idee treu,
begabt und der Arbeit gewohnt ist, während der Adel nicht leicht der Arbeit
sich widmet und in ihr keine Ausdauer besitzt, ruhen große Hoffnungen.
Wenn sie nur ihre Aufgabe aufnimmt und Gegensatz und Kampf meidet, so
wird sie, was sie in der Nation zu sein hat – ein Bindeglied zwischen Volk
und Adel, beider Lehrer und Vorbild an Arbeitsamkeit und Ausdauer. Wenn
der Mittelstand dahin gelangt, sich selbst zu einer ernsteren Existenz zu
bekennen, wird er seine Pflichten erfüllen.]
63
KRASZEWSKI, Wielkie Księstwo, 2005 [1867], 46f.
364
Kraszewski, der als Unterstützer der polnischen Aufstände von 1830/31 und
1863/64 in Dresden im politischen Exil lebte, resümiert in dieser Textpassage den
historischen Entwicklungsmoment der polnischen Nationalbewegung aus einer
bestimmten Sicht: Die Abkehr von der Idee, im heroischen Kampf die nationale
Freiheit wiederzugewinnen, hin zur Ideologie der „organischen Arbeit“. Seine
Überlegungen sind nicht ohne Selbstkritik und realistische Einschätzung der
inneren Problemlagen der polnischen Gesellschaft, die immer noch daran
laboriert, den historischen Ballast der ständischen Spaltung, der historischen
Unfreiheit des Gros der landsässigen Bevölkerung und des ökonomischgewerblichen Entwicklungsrückstands zu überwinden. Die den Posener Bauern
stereotypisch zugeschriebenen Eigenschaften bleiben unbestimmt („mit
hervorragenden Gaben versehen“), allein es wird deutlich, dass ein positives
Autostereotyp sich entlang des Modernisierungsparadigmas („den Fortschritt
erstrebend“) von Bildungsbeflissenheit, harter Arbeit, gewerblicher Tüchtigkeit
und Pragmatik vor dem Hintergrund der deutschen Gesellschaft formte, wie
Kraszewski sie sah. Das Zitat ist darin instruktiv zu zeigen, wie positive Elemente
des Heterostereotyps in appelativer Absicht in das Autostereotyp integriert
werden können. Auch ist interessant zu beobachten, wie in Kraszewskis
differenzierenden Blick auf die Schichtung der polnischen Gesellschaft Momente
aus dem hergebrachten deutschen Polenstereotyp einfließen und ebenso in das
Autostereotyp integriert werden. Kraszewski, der selbst aus dem niederen
Landadel stammte, bezeichnet die szlachta als noch kaum fähig, sich einer
Erwerbsarbeit im bürgerlichen Sinne zu unterziehen, sieht sie zugleich aber
immer noch als wichtigsten Träger der polnischen Nationalidee (diese Auffassung
teilte er u.a. mit Bismarck) und in der Pflicht ihrer historischen Tradition als
politischer Nation.
Bei Kraszewski steht die Idee der die Standesgrenzen überwindenden
nationalen Einheit im Mittelpunkt, die die zentrale Utopie eines jeden
Nationalisten ist. Deshalb setzt er große Hoffnungen auf den noch im Entstehen
begriffenen, autochthonen polnischen Mittelstand, der – das schwingt im Hinweis
auf dessen Mittlerfunktion zwischen Adel und Landvolk sehr deutlich mit –
zugleich die sozioökonomischen Funktionen der Juden übernehmen und die
nationale Einheit eigentlich erst herstellen soll. In diesem Zusammenhang ist
besonders bezeichnend, was Kraszewski zu den Juden selbst zu sagen hat:
W warstwach ludności, którą byśmy jak najbardziej spójną i jednolitą widzieć
pragnęli – jest jeszcze jedna, którą rzeczywistość wyróżnić każe. Są nią z
dawna na tej ziemi osiedleni Izraelici, którzy prawie bez wyłączenia przeszli
ku niemieckiemu żywiołowi, wlali się weń i nieprzyjazne Polsce zajęli
stanowisko. Jest to dziś faktem, na który radzić nie pora, ubolewać nad nim
późno, przyczyn tylko poszukiwać należy. Czy w tym nie ma nieco naszej
własnej, dawnej winy, czy Żydzi, jeśli nie odpychani, to nie ciągnięci przez
nas, nie musieli powinowactwami wielu, łatwością asymilacji przyrosnąć tam,
gdzie ich natura ciągnęła? Rząd znalazł w nich gotowy, przysposobiony już
do germanizacji pierwiastek, tym chętniejszy dla siebie, że w Prusach całych,
365
w Berlinie samym inteligencja izraelska pracą, zamożnością, tak ważną grała
rolę w świecie finansowym, literackim, artystycznym. Izraelici więc
poznańscy mieli już pewną pozycję gotową, podporę we współwyznawcach,
kółko, do którego naturalnie wejść woleli, niż mozolnie dobijać się moralnego
równouprawnienia z Polakami. Dosyć, mówmy prawdę, niełatwymi do
asymilacji. Zanim więc uskarżać się będziemy na ten fakt, uznajmy fatalną
jego niemal koniecznością, każda część społeczności ma instynkty
konserwatywne i słucha praw powinowactwa wyborowego.64
[Unter den Schichten der Bevölkerung, die wir gern möglichst geschlossen
und einheitlich sehen würden, ist eine weitere, welche die Realität zu
unterscheiden gebietet. Es sind die in diesem Lande [d.h. im Posener Gebiet]
seit langer Zeit ansässigen Israeliten, die fast ohne Ausnahme zur deutschen
Bevölkerung übergewechselt und in ihr aufgegangen sind und eine Polen
gegenüber ablehnende Haltung einnehmen. Das ist heute eine Tatsache, der
abzuhelfen nicht länger die Zeit ist, sich ihrer zu grämen ist es zu spät, allein
die Gründe dafür sind zu suchen. Ist darin nicht etwas unserer eigenen, alten
Schuld, mussten nicht die Juden, wenn schon von uns nicht fortgestoßen, so
doch auch nicht angezogen, sich durch viele Verwandtschaften und die
Leichtigkeit der Assimilation dort einwurzeln, wohin sie ihre Natur zog? Die
Regierung fand in ihnen ein bereitfertiges, schon zur Germanisierung bereites
Element, das ihr umso geneigter war, als in ganz Preußen, zumal in Berlin, die
israelitische Intelligenz durch Arbeit und Wohlstand eine so wichtige Rolle in
der Welt der Finanzen, Literatur und Kunst spielt. Die Posener Israeliten
besaßen also eine vorbereitete Stellung in ihren Glaubensgenossen, einem
Kreis, dem sie natürlicherweise sich anzuschließen vorzogen, als sich um die
moralische [!] Gleichberechtigung mit den Polen zu bemühen. Welche, sagen
wir die Wahrheit, für die Assimilation ziemlich unzugänglich sind. Bevor wir
uns also über diese Tatsache beschweren, gestehen wir ihre beinahe
schicksalhafte Notwendigkeit ein, jeder Teil der Gesellschaft hat Instinkte der
Selbsterhaltung und gehorcht den Gesetzen der Wahlverwandtschaft.]
Nach Kraszewskis Ansicht tragen also die Polen eine historische
Mitverantwortung dafür, dass die Juden nicht in die polnische Nation und
Gesellschaft eingegangen sind, eine in Kraszewskis Augen zwar bedauerliche,
aber unumkehrbare Tatsache. Dennoch ist auch sein Entwurf von Judentum und
Jüdischkeit grundsätzlich stereotyp. Denn da sich die Juden unterdessen
bereitwillig an die deutsche Gesellschaft und Kultur angeglichen hätten, stellten
sie innerhalb der Posener Bevölkerung, deren Einheit und Geschlossenheit
Kraszewski als Gebot der Stunde sieht, gleich in zweifacher Hinsicht einen
Fremdkörper dar, nämlich als Juden und als Deutsche. Wie schon drei
Generationen zuvor bei Hornuff finden wir auch hier wieder den Mechanismus,
die Juden innerhalb des binär strukturierten Stereotyps der jeweiligen
64
Ebd., 47.
366
Fremdgruppe zuzurechnen – der stereotypische Zwang zur Zweipoligkeit lässt
eben keinen Raum für die Unterscheidung einer dritten Gruppe, für ein
Dazwischen oder ein Sowohl-als-auch. Für Kraszewski ist die Frage der
Assimilation der Juden letztlich keine religiöse, soziale oder kulturelle, sondern
eine moralische; die Juden hätten sich eben nicht um die „moralische
Gleichberechtigung“ mit den Polen bemüht (womit er deren moralische
Überlegenheit gegenüber den landfremden deutschen Kolonisatoren impliziert);
vielmehr seien sie ihren sozioökonomischen Interessen und ihrem
Verwandtschaftsinstinkt gefolgt. Wie wenig realitätshaltig das Stereotyp auch in
diesem Falle ist, wird u.a. daran deutlich, dass der Posener Judenheit gerade erst
im Jahre 1848 die Freizügigkeit gewährt worden war, für ihre von Kraszewski
behauptete Assimilation an die deutsche Metropole also noch keine rechte
Gelegenheit gehabt hatte. Indem Kraszewski zudem diese Assimilation an das
Deutschtum damit begründet, dass sie so von der privilegierten Stellung ihrer
Glaubensgenossen in Preußen hätten profitieren können, biegt Kraszewski die
Geschichte der jüdischen Emanzipation zu Zwecken seiner Argumentation
zurecht, verkehrt Ursachen und Wirkungen und spricht eben im Stereotyp,
nämlich dem des „reichen Juden“, der immer zugleich auch ein „einflussreicher
Jude“ ist, unübertroffen darin, mit Seinesgleichen soziale Netzwerke zu knüpfen.
Dagegen hatte die sogenannte „bürgerliche Verbesserung des Judentums“ in
Preußen die jüdische Bevölkerung mehrheitlich in eine bestenfalls als ambivalent
zu bezeichnende Situation versetzt. Das preußische Emanzipationsedikt von 1812
war zunächst für das Großherzogtum Posen nicht übernommen worden.65 Erst
während der Amtszeit des Posener Oberpräsidenten Eduard Flottwell (1786–1865,
amtierte 1830–1841) erhielten die Posener Juden seit 1833 die Möglichkeit, die
bürgerlichen Rechte zu erwerben, unter der Voraussetzung, sich an die deutsche
Sprache und Kultur anzugleichen. Erst 1848 erlangten die jüdischen Bewohner
die volle bürgerliche Gleichberechtigung. Auch für die jüdischen Gemeinden war
die Naturalisierung attraktiv, weil damit der Erlass ihrer Schulden und ihre
Zulassung als Korporationen verbunden war und sie auf diese Weise sogar
gegenüber jüdischen Gemeinden in anderen Landesteilen Preußens privilegiert
waren. Wenn sich also in der Tat die überwältigende Mehrheit der im Posener
Gebiet lebenden Juden bis zu Kraszewskis Zeit und vollends bis zur
Jahrhundertwende zur Akkulturation an die deutsche Gesellschaft entschloss,
dann deswegen, weil sie als vorwiegend stadtsässige Bevölkerung damit ihr
ökonomisches Auskommen sicherte und dem allgemeinen Trend der
Modernisierung der Judenheit folgte – der in den deutschsprachigen Gebieten die
Aufgabe von jiddischer Sprache und Schrift zugunsten der deutschen nahelegte –,
und nicht, weil sie dadurch in den Genuss einer besonderen Privilegierung kam.
65
Hierzu und zum Folgenden HOLECZEK, Judenemanzipation, 1981; JERSCH-WENZEL,
Geschichte der jüdischen Bevölkerung, 1989; HAUSTEIN, Assimilation, 2002 [1996], KEMLEIN,
Posener Juden, 1997; ÖSTREICH, Des rauen Winters ungeachtet, 1997; speziell zur
Stereotypisierung der Juden aus polnischer Sicht MOLIK, Posener Juden, 1998; MAKOWSKI, Siła
mitu, 2004. Zur besonderen Stellung der Judenheit als einer „transkulturellen“ Gruppe am
galizischen Fallbeispiel besonders auch WENDLAND, in diesem Band.
367
Zugleich mussten die Juden im Zuge der Eskalation der nationalen
Auseinandersetzungen zwischen Polen und Deutschen erfahren, dass die
nationalen Organisationen beider Seiten sich bis zur Jahrhundertwende in eine
ausgeprägt antisemitische Richtung entwickelten und Juden meist expressis verbis
von der Mitgliedschaft ausschlossen. Beispielsweise waren in dem 1894
gegründeten Deutschen Ostmarkenverein Juden aus diesem Grund praktisch nicht
vertreten. In dieser Situation blieben den Juden mehrere Wahlmöglichkeiten. Ein
kleinerer Teil entwickelte einen eigenständigen Nationalismus und schloss sich
der zionistischen Bewegung an. Ein weitaus größerer Teil wich dem Druck aus,
zog nach Mittel- oder Westdeutschland oder emigrierte gleich nach Übersee, was
den überproportionalen Rückgang der jüdischen Bevölkerung des Posener Gebiets
bis zur Jahrhundertwende erklärt. Diejenigen, die sich trotz allem zum Bleiben
entschlossen, hatten ihrerseits zwei Optionen: Entweder sie entwickelten sich zu
„Hyperpatrioten“66, die sich durch den Ausweis einer besonders eifrigen
preußisch-deutschen Loyalität ihrer eigenen Stellung in der deutschen
Gesellschaft zu versichern suchten; bekanntlich verhalf ihnen das aber keineswegs
zur Akzeptanz in deutschnationalen Kreisen. Dennoch wurden die Juden auf
diesem Wege als angeblich besonders angepasste Deutsche für die Akteure gerade
der in Posen starken, antisemitischen Nationaldemokratie zu besonderen
Hassobjekten.67 Zur Anpassung an die Staatsnation in Form der Akkulturation
oder besonders der Assimilation gehörte dann selbstverständlich auch, die in ihr
verbreiteten Stereotypien zu übernehmen, sie zu internalisieren, um durch ihren
aktiven Gebrauch im Sprechakt die eigene (gewählte) Gruppenzugehörigkeit zu
signalisieren. Oder aber die Juden entschieden sich für die Neutralität, und diese
Position zwischen allen Stühlen war wahrscheinlich die unbequemste, die Juden
damals überhaupt für sich wählen konnten.
Während also die Posener Juden aus Gründen, deren Darlegung unseren
Rahmen sprengen würde, trotz Akkulturation oder sogar Assimilation an die
deutsche Kultur doch nie recht in der deutschen Gesellschaft anlangten, wurden
sie bereits um die Mitte des 19. Jahrhunderts aus polnischer Perspektive unbedingt
als deren Bestandteil wahrgenommen. Wir sehen hier die Anfänge des
nationalistischen Antisemitismus, der an die Stelle des religiös fundierten
Antijudaismus trat, ohne diesen in der polnischen Kultur jemals ganz zu
verdrängen. In gewisser Weise lässt sich sagen, dass die Juden seither selbst
endgültig zu einem festen Bestandteil des deutsch-polnischen Metastereotyps
66
MAKOWSKI, Polen, 1999, 58-60.
Roman Dmowski (1864-1939), der führende Politiker der polnischen Nationaldemokratie,
bezeichnete die Juden in einer seiner bekanntesten Publikationen, den „Gedanken eines modernen
Polen“, rundheraus als völlig „fremdes Element“, das nach dem Ruin der polnischen Städte und
des Bürgertums dieses ökonomisch ersetzt habe; DMOWSKI, Myśli, 1904, 63. Den polnischen
Messianismus erklärten manche, so Dmowski ironisch, durch den engen Kontakt der Polen mit
den Juden; während diese jedoch „auserwählt zum Schädigen und Ausbeuten anderer“ seien, seien
die Polen, um ihnen darin keine Konkurrenz zu machen, auserwählt dazu, „die Geschädigten zu
sein“; ebd., 31. Dieser Text liefert ein Beispiel für die Art politischer Publizistik, in der
buchstäblich kein einziger Satz ohne Stereotyp auskommt.
67
368
wurden, indem sie pauschal der jeweiligen Fremdgruppe zugeordnet und so mit
zwangsläufig entgegengesetzten Attributen ausgestattet wurden: Während die
Juden in polnischer Sicht deswegen latente Gegner (Kraszewski: „eine Polen
gegenüber ablehnende Haltung“) darstellten, weil sie der deutschen Gesellschaft
angehörten, blieben sie für die Deutschen das – besonders im Falle der Posener
Judenheit zunehmend realitätsferne – Sinnbild der Fremdartigkeit und Exotik des
Ostens, das um die Wende zum 20. Jahrhundert fließend in die hasserfüllten
Projektionen des Rassenantisemitismus auf die sogenannten „Ostjuden“
überging.68
Die Bildung des innerpolnischen Metastereotyps vom polnischen Posener
lässt sich insgesamt quasi als spiegelbildliche Parallelgeschichte zur Entwicklung
des preußisch-deutschen Polenstereotyps wie auch des deutschen Autostereotyps
schreiben, die zugleich ein genauer Gegenentwurf zu der Rede von der
„polnischen Wirtschaft“ war.69 Es bedarf schon einer subtilen Argumentation, um
bei der Analyse der Selbststereotypisierung des polnischen Poseners im
Verhältnis zur realgeschichtlichen Entwicklung nicht in die Falle des kernel-oftruth-Theorems zu geraten, also des „Körnchens Wahrheit“, das angeblich doch
vielen Stereotypen eigne.70 Denn es sind vermutlich nicht so sehr die
angesprochenen Aspekte der pragmatischen Einstellung und systematischen
Aufbauarbeit, die den polnischen Posenern polenweit den Ruf besonders praktisch
veranlagter und organisationsbegabter Menschen verschafften, als vielmehr die
bewusste Selbststilisierung, die dem Posener Autostereotyp und dem
innerpolnischen Heterostereotyp des polnischen Poseners zugrunde lag. Nur
insoweit ist an dieser Stelle zumindest eine enge Verzahnung von soziokulturellen
Realien und Stereotypisierung anzunehmen.
Dabei stellt sich allerdings auch die Frage, inwiefern sich das Autostereotyp
hier wie generell möglicherweise im Sinne einer selffulfilling prophecy auswirkt.
Ist es so, bleibt das Stereotyp immer noch ein Stereotyp, denn es geht der
behaupteten Tatsache zeitlich voraus; anders gesagt, nicht die Wirklichkeit schafft
das Stereotyp, sondern dem Stereotyp wohnt ein wirklichkeitsprägendes Potential
inne, was nur noch einen weiteren Aspekt der Formung von Realität durch
Sprache belegen würde. Festzuhalten ist jedenfalls, dass spätestens um die Wende
vom 19. zum 20. Jahrhundert ein ausgeprägtes großpolnisches Metastereotyp
vorhanden war, wie es beispielsweise von Adolf Warschauer (1855–1930), dem
Posener Historiker und Archivar und Vorsitzenden der dort ansässigen
Historischen Gesellschaft, in einer Anekdote überliefert ist. Als sich Warschauer
1903 zu Archivstudien in Warschau aufhielt, quartierte er sich zur Verbesserung
seiner polnischen Sprachkenntnisse in einer von polnischen Adligen
68
Zur Rolle der Juden bei der weiteren Exotisierung und Nostalgisierung des deutschen Bilds
des Ostens auch WENDLAND, in diesem Band.
69
Weitere zeitgenössische Textbeispiele aus dem 19. und 20. Jahrhundert besonders in: Etos
Wielkopolan, 2005; dazu auch MATELSKI, Großpolener, 2001.
70
Was es aber eben nicht tut. Denn was das Stereotyp erst zum Stereotyp macht, ist die Struktur
der Zuschreibung von kontingenten Eigenschaften zu einer Gruppe (s.o. Abschnitt 2), die im
logischen Sinne niemals wahr sein kann.
369
frequentierten Pension ein und nahm am dortigen Mittagstisch teil. Folgendes
weiß Warschauer in seinen 1926 erschienenen Memoiren über ein bei dieser
Gelegenheit stattfindendes Gespräch zu berichten:
Sehr unterrichtend war es mir auch, auf einen gewissen Gegensatz in den
Anschauungen zwischen den preußischen und den Kongreßpolen zu stoßen.
Die letzteren bestritten jenen halb im Scherz, halb im Ernst, daß sie noch als
richtige Polen angesprochen werden könnten, da sie, dem Einfluß der
preußischen Regierung unterliegend, in ihrem Auftreten und ihrer
Lebensführung von der altpolnischen Art abgewichen wären und die
preußische angenommen hätten. Die Posener Polen bekämpften dies aufs
energischste und wiesen den Vorwurf der Abkehr von ihrem Volkstum weit
von sich, hoben aber doch die preußischen Eigenschaften der Sparsamkeit,
Ordnung und Pünktlichkeit als vorbildlich hervor, und diejenigen, welche im
Heere gedient hatten, sprachen mit Genugtuung über ihre Dienstzeit und über
alles, was sie an körperlicher Widerstandsfähigkeit gewonnen und an sittlicher
Zucht gelernt hätten.71
Diese Textpassage allein könnte zum Gegenstand einer umfassenden
Detailanalyse der verwickelten Beziehungen zwischen Aut