Leseprobe - Wilhelm Fink Verlag

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Leseprobe - Wilhelm Fink Verlag
Bettina Full
PASSIO UND BILD
Bettina Full
PASSIO UND BILD
Ästhetische Erfahrung in der
italienischen Lyrik des Mittelalters
und der Renaissance
Wilhelm Fink
Gedruckt mit Unterstützung des
Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort
Umschlagabbildung:
Tibaut, Le Roman de la Poire, um 1260,
Bibliothèque nationale de France, Paris, Ms. fr. 2186, fol. 1v
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© 2015 Wilhelm Fink, Paderborn
(Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn)
Internet: www.fink.de
Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München
Printed in Germany
Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn
ISBN 978-3-7705-5729-5
Für Ingrid und Winfried Full
Vorbemerkung
Die vorliegende Monographie wurde im Oktober 2011 als Habilitationsschrift an
der Fakultät Geistes- und Kulturwissenschaften der Otto-Friedrich-Universität
Bamberg angenommen. Mein größter Dank gilt Karin Westerwelle, die das Entstehen des Buchs durch kritische Lektüre, inspirierendes Gespräch und intellektuelle
Neugier voranbrachte und mir stets in Freundschaft zur Seite stand. Antje Wessels
trug durch Kritik und Denkfreude zur Schärfung vieler Überlegungen bei. Für
mannigfaltige Förderung und Ermutigung über lange Jahre sei Maria Moog-Grünewald herzlich gedankt. Sabine Föllinger bin ich dankbar für Unterstützung und
Rat. Dank sage ich auch der VG Wort, die die Drucklegung durch einen großzügigen Zuschuss ermöglicht hat.
Bamberg, im April 2015
Inhalt
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
I. DAS LIEBESBILD ZWISCHEN MEDITATION UND
LÄUTERUNG. GUITTONES D’AREZZO TRATTATO
D’AMORE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
1. Reprobatio amoris. Spirituelle und poetische Erneuerung
in Guittones rime morali. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Der Liebesgott als Bildfigur in Guittones Trattato d’Amore.
Rationale Erfassung und ethisch-religiöse Abwertung
eines vagen inneren Phänomens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Die Versenkung ins Bild als Annäherung an das göttliche
Unsichtbare. Predigt, Andacht und Meditationspraxis im
13. Jahrhundert. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4. Die trügerisch-falsche Nachahmung des christlichen Unsichtbaren.
Guittones Grenzziehung zwischen weltlicher und religiöser Liebesbildlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.Ambivalente Semantik. Das Frontispiz des Canzoniere palatino. . . . . .
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68
78
II.PHANTASMA UND METAPHER. IMAGINATIVE SEELENBEWEGUNG UND POETISCHE KUNST IN DER LYRIK
GIACOMOS DA LENTINI UND GUIDO GUINIZZELLIS . . . . . . 87
1.Bilder der Liebe im Kontext der Scuola siciliana. Amortheologie oder
aristotelische Imaginationstheorie?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87
2.„Avendo gran disio dipinsi una pintura“. Bildschaffung und Bildbetrachtung als mise en abyme ästhetischer Erfahrung bei Giacomo
da Lentini. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102
3.Rhetorik in Bologna. Boncompagno da Signa und die Theorie der
transumptio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112
4.Das poetische Verfahren der assimilatio in der Lyrik Guido
Guinizzellis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129
10
Inhalt
5.„tenne d’angel sembianza“. Analogisches Denken und figurative
Sprache in Guinizzellis Kanzone „Al cor gentil rimpaira sempre
amore“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141
III. „PER VERTUTE DI NOVA PIETATE“. CAVALCANTIS
VERWANDLUNG DES CHRISTLICHEN COMPASSIOMODELLS. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151
1.Dichtung als „scientia speculativa“?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.Poetologische Grundlagen. Rationale constructio und bildhafte
Veranschaulichung als Konstitutionsbedingungen der figura . . . . . . . .
3.Das theatrale Spiel der Seelenkräfte als Figuration der Liebespassio
und als Spiegelung der Lektüre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.Passionsfrömmigkeit und affektives Mitleid. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5. Compassio und ästhetische Erfahrung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
151
166
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190
199
IV. LIEBESIMAGINATION UND CHRISTLICHES JENSEITS.
BILDREFLEXION ALS THEORIE DER DICHTUNG IN
DANTES VITA NOVA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205
1.Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.Ein Gedächtnisbuch mit Bildern. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.„Apparuit iam beatitudo vestra“. Welches Glück schenkt
die Poesie?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.„una maravigliosa visione“. Eine erfundene Kontemplationsfigur als
Grundlage mnemonischer Bildkomposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.Von der compassio zur sottiglianza. Reflexive Leserrolle und die
Poetik der similitudo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.„disegnava uno angelo sopra certe tavolette“. Das Erinnerungsbild
der Geliebten als Zeichen der Dichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7.Die Überwindung des Phantasmas im ,wahren Bild‘? Die VeronicaIkone und das Ende der Lyrik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
205
211
221
230
250
279
289
V. DICHTUNG ZWISCHEN ÄSTHETISCHER ERFAHRUNG
UND PHILOSOPHISCHER ERKENNTNIS . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295
1. „disegno co la mente il suo bel viso“. Erinnerung, Imagination und
Stil in Petrarcas Rerum vulgarium fragmenta. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295
2. Dichtung als Instrument von Erkenntnisaufstieg und kosmologischer Teilhabe im Florentiner Neuplatonismus. . . . . . . . . . . . . . . 315
Inhalt
11
3. Fascinatio als Theorie ästhetischer Wirkung. Pierre de Ronsards
Les Amours (1552) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328
4. „tal formo a l’aria castel de mio foco“. Erkenntnissuche und Lektüreerfahrung in Giordano Brunos Degli eroici furori. . . . . . . . . . . . . . . . . 342
Farbtafeln. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369
Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393
Einleitung
Die Miniatur, die das vorliegende Buch eröffnet, ist in Blau und Rot, in der Unterlegung und Rahmung der Medaillons mit Gold, kunstvoll schön gemalt. Glanz,
Farben und feine Gestaltung lenken den Blick des Betrachters auf das Zusammenspiel zweier Bildzonen hin. In der unteren Hälfte ist, spiegelbildlich einander zugewandt, ein höfisches Paar zu sehen. Affektgebärden begleiten ein lebhaft-vertrautes
Gespräch, in dem sich, wie das obere Medaillon verdeutlicht, eine gesteigerte affektive Erfahrung ausbildet. Über dem Paar thront, in hieratischer Stilisierung, der
Liebesgott Amor, der erotische Attraktion und Ergriffenheit in ein Bildzeichen
fasst. Der Aufbau des Blattes, das einer um 1260 illuminierten Handschrift von
Messire Tibauts Roman de la Poire entstammt,1 verdeutlicht die künstlerische Möglichkeit, etwas, das im Inneren verborgen ist, figurativ zu veranschaulichen. Es handelt sich, wie die durch Gewand, Gestik und Kolorierung betonte Spiegelung von
Liebendem und Dame in Reminiszenz an den Narzissmythos zeigt,2 um einen
selbstbezüglichen, imaginativen Bildentwurf. In der Miniatur ist die Wertigkeit des
Geistig-Unsichtbaren durch christliche Kompositionsmuster nobilitiert und in
Ambiguität überführt. Die Amorfigur verwischt und überspielt die Grenzen zwischen Fiktion und religiösem Kult. Etablierte Formeln der sakralen Ikonographie –
die Majestas Domini und, im Attribut der sechs Flügel, die Seraphim – werden
zitiert, die erhabene Position über dem Paar ruft Visionsdarstellungen auf, in denen
das Geschaute ebenfalls über dem Erleuchteten ins Bild gesetzt ist. Bogen und Pfeile weisen Amor dagegen der fiktiv-literarischen Welt, dem Roman und der Troubadourlyrik, zu. Die Figuration, wie sie dem Betrachter vor Augen tritt, oszilliert
zwischen mystischer Schau und der Vergegenwärtigung affektiver Passio. Sie stiftet
assoziativ Bezüge zwischen christlicher Transzendenz und jenem sinnlich-spirituellen Raum, wie ihn die höfische Kultur mit der Minne erfunden hat.
In der Vita nova bestimmt Dante das dynamische Wechselspiel, das die Miniatur zur Anschauung bringt, als Signatur der volkssprachlichen Dichtung. Diese sei,
1 Paris, Bibliothèque nationale de France, Ms. fr. 2186, fol. 1v. Zur Konzeption des allegorischen Romans und der Handschrift, die wohl in einem pikardischen oder Pariser Atelier
für einen Auftraggeber im Umfeld des französischen Königshauses illuminiert wurde, vgl.
die Einleitung in: Tibaut, Le Roman de la Poire, publ. par Christiane Marchello-Nizia,
Paris 1984, IX-CVI, sowie Markus Müller, Minnebilder. Französische Minnedarstellungen
des 13. und 14. Jahrhunderts, Köln u.a. 1996, S. 10-13.
2 Verwiesen sei exemplarisch auf den Brunnen des Narziss zu Beginn des Roman de la Rose
oder, für den deutschen Minnesang, auf das sog. Narziss-Lied Heinrichs von Morungen,
„Mir ist geschehen als einem kindelîne“.
14
Einleitung
so hält er in seinem um 1293 verfassten Buch fest, einzig erfunden worden, um von
der Liebe zu sprechen, „dal principio trovato per dire d’amore.“3 In ihren literarhistorischen Anfängen bezieht Dante die italienische Poesie, wie sie im 13. Jahrhundert in der Laienkultur, am Hof Friedrichs II. und im Patriziat der toskanischen
Städte, entsteht, auf provenzalische und nordfranzösische Vorbilder zurück. Dargestellt und vermittelt wird mit der Liebe ein geistiges Phänomen, das sich begrifflicher Aneignung entzieht und so das trobar als Findungskunst initiiert. Im Gegenüber von Trobador und Dame formt sich der Gegenstand der fin’amors, die Freude,
joi, aus, die – ob direkt besungen oder in ihrer Absenz beklagt – im dichterischen
Wort gegenwärtig ist.4 Die Liebe, so Dante, bildete einst den Stoff für gelehrte Dichter. Anders als die „litterati poete“5 trug der erste Minnesänger Reime auf Okzitanisch vor; er schrieb keine Verse auf Latein, da die gepriesene Dame diese Sprache
nicht verstand.6 Durch die Wahl der Volkssprache wird die Qualität jener beglückenden Erfahrung, die im Wechselspiel der Produktion und Rezeption von Poesie
entsteht, genauer bestimmt. Dante zieht eine Grenze zu anderen Modellen von
Spiritualität, referiert das Lateinische in der Vita nova doch auf den Bereich der
Theologie. Im Convivio weist er die lateinische Sprache trotz ihres nuancierten Ausdrucksspektrums zurück, um eine neue Leserschaft und eine neue Art geistiger
Spekulation zu konturieren. Die reflexive Befähigung, die Ethik und die Weisheit,
die das Gastmahl vermitteln will, richten sich auf die Laien aus, zu deren Kreis auch
die Frauen gehören.7 Es ist ein Philosophieren, das nicht von der Dichtung zu trennen ist.8 Kanzonen, die ebenfalls über das Wesen der Liebe reflektieren, werden zur
Lektüre, als immaterielle Speise, dargeboten und dann allegorisch ausgelegt.
3Dante Alighieri, Vita Nuova, a cura di Domenico De Robertis, Milano/Napoli 1980,
XXV,6.
4Vgl. z.B. das sog. Freudenlied Wilhelms: „Molt jauzens, mi prenc en amar / un joi don
plus mi vuiell aizir“1-2, in: Guglielmo IX d’Aquitania, Poesie, ed. critica a cura di Nicolò
Pasero, Modena 1973, S. 213-240.
5Dante, Vita Nuova XXV,3.
6 Vgl. ebd., XXV,6: „E lo primo che cominciò a dire sì come poeta volgare, si mosse però che
volle fare intendere le sue parole a donna, a la quale era malagevole d’intendere li versi latini. E questo è contra coloro che rimano sopra altra matera che amorosa, con ciò sia cosa
che cotale modo di parlare fosse dal principio trovato per dire d’amore.“
7Dante Alighieri, Das Gastmahl. Erstes Buch, übers. von Thomas Ricklin, eingel. und
komm. von Francis Chevenal, it.-dt., Hamburg 1996, I,ix,5. Zu Dantes Aufwertung des
Volgare als Sprache der Philosophie vgl. Ruedi Imbach, Laien in der Philosophie des Mittelalters. Hinweise und Anregungen zu einem vernachlässigten Thema, Amsterdam 1989,
S. 132-142.
8Dante überwindet, was Giorgio Agamben, Stanzen. Das Wort und das Phantasma in der
abendländischen Kultur, übers. von Eva Zwischenbrugger, Zürich/Berlin 2005 (11977),
S. 9-16, als in der Minnelyrik aufgehobene „Spaltung des Wortes“, als Dilemma einer
Entzweiung zwischen Poesie und Philosophie bezeichnet, Hans Blumenberg, Paradigmen
zu einer Metaphorologie, Frankfurt a.M. 1998, S. 7-13, als Defizienz philosophischer Begriffssprache gegenüber den „Bilder[n] und Gebilde[n], […] Konjekturen und Projektionen“ des menschlichen Geistes bestimmt.
Einleitung
15
Dante hat in der Vita nova den geistigen Raum vermessen, den die Dichtung
figuriert und entwirft. Gedankliche Konzeption und formale Struktur bilden, wie
er an der logisch-analytischen Zergliederung von Sonetten und Kanzonen zeigt,
das Gerüst für eine innere Erfahrung, die dem direkten Zugriff der ratio nicht
zugänglich ist. Hinzu kommt eine besondere Sprachbeherrschung, da die Materie,
die Liebe, von den Dichtern die Fähigkeit verlangt, Unsichtbares und Abstraktes,
Fiktives und Erfundenes in Worte zu kleiden, „cose non vere, […] cose le quali non
sono“,9 bildhaft darzustellen. Diese Kunstfertigkeit zeige sich exemplarisch in der
Figur des Liebesgottes Amor, mit der Dante nicht nur an die mittelalterliche Tradition, sondern, im Verweis auf Ovids Amores, auch an die antik-pagane Literatur
anschließt. Amor hat in der Vita nova die Funktion, eine neue Figur zu modellieren, der Dante den Namen Beatrice gibt. Mit Beatrice sind Anmut, Schönheit und
hohe Tugend, vor allem aber, auf der Seite des Liebenden, jene inneren Bildprozesse verbunden, die die Abwesenheit der Geliebten erzeugt. Träume, Visionen, rätseloder wahnhafte Vorstellungen bilden den Stoff, der das Verfassen der Gedichte
anregt und Sonetten und Kanzonen zugrunde liegt. Beatrice wird zu einem reflexiven Bild-Zeichen, das imaginative und spekulative, produktions- und rezeptionsästhetische Elemente verknüpft. Im Convivio wird Dante eine solche Verfügung über
die poetische Rede als genuinen Ausdruck weltlicher Kultur definieren. Die Liebeskanzonen sind ein Brot für die Laien, gemacht aus der groben Gerste bildhaft-figurativer Sprache, die, wie Albertus Magnus schreibt, den Klerikern und Ordensleuten nicht anzubieten ist.10
Der Name Beatrice meint, in christlicher Lesart, diejenige, die glückselig macht.
Ihr Name hält diese Bedeutungsdimension präsent und überschreitet sie, variiert er
doch den vielschichtigen Begriff beatitudo, der im 13. Jahrhundert nicht nur theologisch mit jenseitiger Erlösung, sondern philosophisch mit ethischer Lebensführung und geistig-intellektueller Haltung verbunden ist.11 In einem poetischen
Bild-Zeichen – Beatrice – spiegelt sich die Frage, worin das wahre Glück des
Menschen besteht. Sie wird, auch im Kontext der Rezeption von Aristoteles’ Nikomachischer Ethik, in unterschiedlichen Wissensfeldern diskutiert. In der Antwort
scheiden sich das Erkenntnisinteresse der Philosophie und die Heilsausrichtung
der Theologie. Für Thomas von Aquin, der zwar eine beatitudo imperfecta zugesteht, erfüllt sich die vollkommene Glückseligkeit allein in der visio beatifica Got-
9Dante, Vita Nuova XXV,8.
1 0 Zur Abwertung des Standes und der Rechte der Laien von klerikaler Seite vgl. Imbach,
Laien in der Philosophie des Mittelalters, S. 13-78. Dante wertet, so Imbach, S. 133-140,
einen Topos um, den Albertus in seiner Schrift In Joel enarratio ausgeführt hat. Einen
Passus über Weizen und Gerste kommentierend, weist er den Klerikern den Weizen, d.h.
die „refectio spiritualis“, den Laien aber die raue Gerste zu, d.h. eine Lehre, die auf körperhafte Verbildlichung angewiesen ist.
1 1 Vgl. Otto Hermann Pesch, „Glück, Glückseligkeit – Mittelalter“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie III, hg. von Joachim Ritter, Basel 1974, Sp. 691-696.
16
Einleitung
tes.12 Folgt man hingegen den averroistisch geprägten Thesen etwa des Siger von
Brabant oder des Boethius von Dacien, die der Pariser Bischof Etienne Tempier im
März 1277 als häretische Irrlehren verurteilt, ist das Glück in hohem Maße das
selbstverantwortete Werk des Menschen.13 Beatitudo oder felicitas bezeichnet hier
das irdische Glück, das in der Freude an geistiger Spekulation, der „voluptas speculandi“, der Entfaltung der Vernunft und einer weltbezogenen Ethik besteht.14 Die
zeitgenössische Dichtung tritt mit dieser Entwicklung in engen Dialog. Sie grenzt
sich jedoch zugunsten der imaginativen Bewegung in der sensitiven Seele vom
obersten Ziel der Averroisten, der abstrakten Erkenntnis, ebenso wie von der Jenseitsorientierung der Theologie ab.
Der sinnlich-spirituelle Raum, den Dante, ausgehend von den Trobadors und
unter Einbeziehung von Scuola siciliana und Dolce stil novo, in Beatrice spiegelt und
als genuin für die Dichtung bestimmt, prägt, durch Petrarca weiter differenziert und
vermittelt, die Lyrik bis in die Renaissance. Ein starkes, wirkmächtiges Intermezzo
bildet der Neuplatonismus, der, mit dem Anspruch einer metaphysischen Verortung
des Menschen, die imaginative Grundlegung der Dichtung aufhebt, diese stattdessen
zum Medium arkaner Seinszusammenhänge und kosmologischer Teilhabe macht.
Die kultische Überhöhung und partizipative Ausrichtung der Poesie, wie sie Marsilio
Ficino einflussreich konzeptualisiert, wird im 16. Jahrhundert, im Kontext konfessioneller Auseinandersetzungen und der Instrumentalisierung göttlich verbürgter
Wahrheit, zurückgenommen. Die Dichtung initiiert, so lässt sich am Beispiel Pierre de Ronsards oder Giordano Brunos zeigen, eine selbstbezügliche, ontologisch
substanzlose Vorstellungsbildung, der sich, in der Aktualisierung von Wissensreferenzen oder im Wirken eines kombinatorisch-kreativen Ingeniums, zugleich reflexive Distanz einschreibt. Das vorliegende Buch unternimmt es, die Eröffnung einer
solchen sich in der Gedichtrezeption ausbildenden Geistigkeit in einzelnen Stationen nachzuzeichnen. Es zeigt, dass die Lyrik eine Form des spekulativ-intellektuel-
12Vgl. Thomas Schwartz, Zwischen Unmittelbarkeit und Vermittlung. Das Gewissen in der
Anthropologie und Ethik des Thomas von Aquin, Münster 2001, S. 161-175.
1 3 Mit These 22 wird die Annahme verurteilt, dass das Glück dem Menschen nicht unmittelbar von Gott eingegeben werden könne, „quod felicitas non potest a Deo immitti inmediate“, mit These 176, „quod felicitas habetur in ista vita et non in alia“, mit These 144,
„quod omne bonum, quod homini possibile est, constitit in virtutibus intellectualibus“.
Den Hintergrund der Auseinandersetzung erhellt die Einleitung von Kurt Flasch, Aufklärung im Mittelalter? Die Verurteilung von 1277. Das Dokument des Bischofs von Paris,
Mainz 1989.
1 4 Zur Bestimmung der „voluptas speculandi“ bei Boethius von Dacien als Genuss an der
Selbstreflexion des Geistes vgl. Maria Corti, La felicità mentale. Nuove prospettive per Cavalcanti e Dante, Torino 1983, S. 56-58, zu Dantes Auseinandersetzung mit der Glücksfrage im Convivio siehe ebd., S. 72-155. Zur Reichweite der Debatte vgl. Nikolaus Largier,
„Das Glück des Menschen. Diskussionen über ,beatitudo‘ und Vernunft in volkssprachlichen Texten des 14. Jahrhunderts“, in: Nach der Verurteilung von 1277. Philosophie und
Theologie an der Universität von Paris im letzten Viertel des 13. Jahrhunderts, hg. von Jan A.
Aertsen u.a., Berlin/New York 2000, S. 827-855. Einleitung
17
len und zugleich affektiv-sehnenden Glücks entwirft, welches man, in moderner
Begrifflichkeit, als ästhetische Erfahrung fassen kann.
Spielräume und Voraussetzungen ästhetischer Erfahrung wurden, in ihren historischen Erscheinungsformen und mit theoriebildendem Anspruch, für die Kunstphilosophie um 1800, für Moderne, Postmoderne oder die Gegenwart, seltener für
Mittelalter und Frühe Neuzeit diskutiert. Wissenschaftsgeschichtlich betrachtet,
markiert die Akzentuierung der Erfahrungsdimension ein Abrücken von der Werkästhetik, tritt nunmehr doch das Interesse an der konstruktiven Leistung des Rezipienten in den Vordergrund.15 Im 20. Jahrhundert ist diese Entwicklung eng mit
der Phänomenologie verbunden, deren Theorie von der Bildung des imaginären
Objekts auf die Wahrnehmung eines Kunstwerks oder auf den Prozess der Lektüre
übertragen worden ist.16 Die Frage nach den Konstitutionsleistungen des Bewusstseins wurde zum Teil durch die programmatische Offenheit moderner Kunst befördert, die die Freiheit des Rezipienten provokativ einfordert, diese in ihrer Faktur
sogar oft bereits voraussetzt.17 In jüngerer Zeit ist der Erfahrungsbegriff, im Horizont einer formalen und inhaltlichen „Entgrenzung der Künste“, generalisierend
hin auf eine „ästhetische Orientierungsweise“ erweitert worden, die sich grundsätzlich auf alle Arten von Gegenständen, Medien und Situationen beziehen kann und,
auch im Zusammenspiel mit der Ästhetisierung der Lebenswelt, „sozial- und kulturtheoretische Konsequenzen“ hat.18
15 Vgl. Georg Maag, „Erfahrung“, in: Ästhetische Grundbegriffe II, hg. von Karlheinz Barck
u.a., Stuttgart 2001, S. 261-275. Einen Einblick in die Diskussion geben die Bände Kolloquium Kunst und Philosophie I. Ästhetische Erfahrung, hg. von Willi Oelmüller/Gottfried
Boehm, Paderborn u.a. 1981; Ästhetische Erfahrung heute, hg. von Jürgen Stöhr, Köln
1996, sowie, für den Bereich der Literatur, Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis, hg. von
Rainer Warning, München 1975; zur Schwierigkeit, ästhetische Erfahrung zu konzeptualisieren, und zu ihrer Relevanz für eine Theorie der Kunst vgl. Kunst und Erfahrung. Beiträge zu einer philosophischen Kontroverse, hg. von Stefan Deines u.a., Berlin 2013.
1 6 Vgl. Roman Ingarden, „Prinzipien einer erkenntnistheoretischen Betrachtung der ästhetischen Erfahrung“, in: ders., Erlebnis, Kunstwerk und Wert, Tübingen 1969, S. 19-27; ders.,
Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, Darmstadt 1968; Jean-Paul Sartre, L’ imaginaire. Psychologie phénoménologique de l’ imagination, Paris 1940, sowie Qu’est-ce que la littérature?, Paris 1948, wo Sartre den Lektürevorgang nach den Maßgaben von Protention und
Retention analysiert und die schöpferische Aktivität von Autor und Leser korreliert: „C’est
l’effort conjugué de l’auteur et du lecteur qui fera surgir cet objet concret et imaginaire
qu’est l’ouvrage de l’esprit“ (S. 50). Ansätze der Phänomenologie greifen Wolfgang Iser,
u.a. in Der Akt des Lesens, München 1976, oder Eckhard Lobsien, Theorie literarischer Illusionsbildung, Stuttgart 1975, auf.
17 Vgl. Umberto Eco, Das offene Kunstwerk, übers. von Günter Memmert, Frankfurt a.M.
5
1990.
18 Vgl. Joachim Küpper/Christoph Menke, „Einleitung“, in: Dimensionen ästhetischer Erfahrung, hg. von dens., Frankfurt a.M. 2003, S. 7-15, hier S. 11, sowie Ästhetische Erfahrung
im Zeichen der Entgrenzung der Künste. Epistemische, ästhetische und religiöse Formen von
Erfahrung im Vergleich, hg. von Gert Mattenklott, Hamburg 2004; Sprachen ästhetischer
Erfahrung, hg. von Gert Mattenklott/Martin Vöhler, Berlin 2006.
18
Einleitung
Ein Fokus der theoriegeleiteten Ansätze liegt auf dem Verhältnis zwischen wahrgenommenem Gegenstand und den Prozessen, die dieser im Rezipienten auslöst
und die wiederum dessen Gestaltwahrnehmung mitbedingen. Objekt und Subjekt
stehen in einer produktiven Wechselbeziehung, in der sich beide, in graduellen
Abstufungen, verändern. Die Bedingungsmöglichkeiten der so entstehenden Figurationen wurden, neben der Phänomenologie, meist von der Subjektphilosophie
hergeleitet, so von Kant, der in der Kritik der Urteilskraft das Ästhetische „als
Gegenstandswahrnehmung des Subjekts sowie als Spiegelung dieses Gegenstandes
in der innere[n] Anschauung der Einbildungskraft“ bestimmt.19 Das abstrakt-konzeptuelle Interesse hat Hans Robert Jauß um die Frage nach der – oft selbstreflexiven – Ausprägung ästhetischer Erfahrung in literarischen Texten erweitert und, an
Beispielen von der Antike bis ins 20. Jahrhundert, deren historische Variabilität
aufgezeigt. Für den Denkhorizont des Mittelalters konstatiert er die „Unbotmäßigkeit“20 der Rezeption von Kunst, Musik und Literatur, sobald sich diese, innerhalb
der christlichen Weltordnung, von der Vergegenwärtigung religiös-spiritueller
Bedeutung entfernt. So verurteilt etwa Bernhard von Clairvaux die Schaulust als
sündhafte Neugier, als curiositas, da sie, so Jauß, „am symbolischen Gegenstand die
sinnenhafte Erscheinung mitgenieße und sich mehr und mehr in ihr verfange.“21
Aus dieser Kritik an einem im Kunstgenuss hervortretenden Selbstgenuss resultierten die meist von theologischer Seite formulierten Vorbehalte gegen die Faszinationskraft von Skulpturen, farbig-schön gemalten Bildern, von antik-paganer oder
weltlich-höfischer Literatur.
Jauß sucht einen Raum der Abweichung von christlich-allegorischen und anagogischen Bezügen zu erfassen, ergänzt um weitere Funktionen, wie, bspw. für die Ritterepik der Chanson de geste, die Eröffnung einer „imaginäre[n] heroischen Welt“
jenseits des Alltags, die entlastend oder gemeinschaftsstiftend wirkt.22 Er setzt sich
damit von Studien ab, die ästhetische Erfahrung im Mittelalter an metaphysisch
begründete Schönheitskonzepte, an die Wahrnehmung des Schönen als eines sichtbaren Ausdrucks unsichtbarer Transzendenz, binden. Die Annahme, so ist kritisch
zu sagen, dass ästhetische Erfahrung nur im Rahmen der vom Schöpfergott vorgegebenen Ordnung möglich sei, „[d]as ästhetische Genießen des mittelalterlichen
Menschen […] in einem Erfassen aller übernatürlichen Beziehungen zwischen dem
Gegenstand und dem Kosmos, im Wahrnehmen eines ontologischen Widerscheins
19 Wolfgang Iser, „Von der Gegenwärtigkeit des Ästhetischen“, in: Dimensionen ästhetischer
Erfahrung, hg. von Joachim Küpper/Christoph Menke, Frankfurt a.M. 2003, S. 176-202,
hier S. 180. Zur Bedeutung von Kants Entwurf ästhetischer Erfahrung für die Neubestimmung der Subjektphilosophie und zur Relativierung von Adornos Definition von
Kunst als Formzusammenhang vgl. im selben Band Dieter Henrich, „Subjektivität als
Prozess und Wandlung in der Kunst der Moderne“, S. 16-36.
20Hans Robert Jauß, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt a.M.
1982, S. 32.
21 Ebd., S. 31.
22 Vgl. ebd., S. 33.
Einleitung
19
der partizipierenden göttlichen virtus im konkreten Gegenstand [besteht]“,23 dürfte
vor allem der einseitigen Quellenauswahl geschuldet sein. Die Belege stammen
meist aus neuplatonisch geprägten theologischen Schriften; referiert werden Mystiker, Viktoriner, Vertreter der Schule von Chartres, aber auch scholastische Positionen wie die des Albertus Magnus oder des Thomas von Aquin.24 Differenzierter, im
teleologischen Ansatz jedoch zu hinterfragen, hat Hans Blumenberg die Bedingungen menschlicher Erfindungskunst als fortschreitende Ablösung von einem christlich-transzendent fundierten Wirklichkeitsbegriff im Horizont mittelalterlicher und
neuzeitlicher Episteme reflektiert. Erst wenn der Wirklichkeit keine vorgängige
Ordnung oder Sinnhaltigkeit mehr zugrunde liegt, wird sie, so Blumenberg, gestaltbar. Wissbegier und uneingeschränkte Neugierde treten an die Stelle theologischer
Begründung von Welt, deren Kontingenz genuin menschliche Schöpfung allererst
denkbar macht: „[D]ie ontologische Voraussetzung für die Möglichkeit der Erwägung, schließlich für den Antrieb und die Lockung, im Spielraum des Unverwirklichten […] das ,originär Menschliche‘ zu setzen, das authentisch ,Neue‘ zu realisieren“, ist „[d]ie Welt als Faktum“.25 Auch Blumenberg leitet seine Thesen maßgeblich
von philosophischen und theologischen Quellen ab, während er literarische Texte in
ihrem Fiktionsgehalt und ihrer rhetorischen und semiologischen Innovationskraft
kaum einbezieht. Beide forschungsgeschichtlichen Perspektiven, gleichgültig, ob sie
eine notwendige religiöse Verweisfunktion mittelalterlicher Ästhetik annehmen
oder einen einschneidenden Epochenumbruch voraussetzen, blenden die im Zeitdiskurs selbst als sündhaft problematisierten Abweichungen – Effekte einer devianten christlich-religiösen Erfahrung – aus. Dabei werden jedoch jene Spannungen
vorschnell aufgehoben, in deren Wirkkreis sich eine kunst- und literarästhetische
Reflexion innerhalb der höfischen und städtisch-laikalen Kultur zu entwickeln
beginnt.
Im Bemühen, die „Unbotmäßigkeit“ ästhetischer Erfahrung in Modalitäten aufzugliedern, hat Jauß unter Rückgriff auf Robert Guiettes Questions de littérature für
das Mittelalter eine „rezeptionstheoretische Skala“ ermittelt, die eine gestufte „Ablö-
23Umberto Eco, Kunst und Schönheit im Mittelalter, übers. von Günter Memmert, München/Wien 1991, S. 31f.
24 Dies gilt insbesondere für Eco, Kunst und Schönheit im Mittelalter, dessen Vereinseitigung
des Problems sich bereits in seinem Buch The Aesthetics of Thomas Aquinas, transl. by
Hugh Bredin, Harvard 1988 (11956, rev. 1976), zeigt, eingeschränkter für die weit gespannte Untersuchung von Edgar De Bruyne, Études d’esthétique médiévale, 2 Bde, rpt.
Paris 1998 (11946). Für einen Überblick vgl. Hans H. Glunz, Die Literarästhetik des europäischen Mittelalters. Wolfram – Rosenroman – Chaucer – Dante, Frankfurt a.M. 1963,
S. 374-395.
25 Hans Blumenberg, „,Nachahmung der Natur‘. Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen“, in: ders., Wirklichkeiten, in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede,
Stuttgart 1986, S. 55-103, hier S. 83; vgl. auch ders., Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt a.M. 1966.
20
Einleitung
sung vom Kultischen“ anzeigt.26 Diese Skala reicht von der kultischen Partizipation
im liturgischen Drama, von Schaubedürfnis und Erbauung im geistlichen Spiel über
Bewunderung und Mitleid in der Chanson de geste, der Lust am Ungelösten und
Dunklen im Roman bis zum Vergnügen an der formalen Variation in der höfischen
Lyrik.27 In jüngerer Zeit wurde die epochenübergreifend relevante Frage, wie sich
ästhetische Erfahrung von religiös-kultischer oder mystischer Erfahrung abgrenzen
lässt und welche Rolle hierfür die erkenntnis- und zeichentheoretische Wertigkeit
des rezipierten Gegenstandes, von Bildern oder Texten, spielt, für unterschiedliche
historische Zusammenhänge untersucht. Als ein Ergebnis ist festzuhalten, dass man
in der Erschließung von geistlich-religiöser und ästhetischer Erfahrung nicht von
scharfen Oppositionen ausgehen kann. Zu beobachten sind vielmehr Phänomene
wechselseitiger Übertragung, Grade der Übergängigkeit und subtile Formen der
Grenzziehung.28 Eine mögliche Kategorie, dennoch solche Grenzen zu denken, ist
die der reflexiven Distanz, die ästhetische Erfahrung nicht nur von unmittelbarem
sinnlichen Erleben oder identifikatorischer imaginärer Belegung, sondern auch von
Modellen kultischer Partizipation unterscheidet.29 Um die Modi reflexiver Distanz
zu erhellen, sind das Bedingungsverhältnis von Gegenstandsfaktur und von dessen
mentaler Repräsentation, die Problematisierung eines sündhaften, durch die imaginatio bedingten Selbstverlusts als Risiko ungeregelter Bildbetrachtung bzw. Lektüre
sowie Möglichkeiten der kognitiven Kontrolle imaginativer und affektiver Erfahrungsräume zu profilieren. Unter dieser Perspektive tragen Studien zu Fiktion und
Fiktionalität in ihrem Potential, epistemisch-diskursive Ordnungen hin auf das Imaginäre zu überschreiten,30 Untersuchungen zur Spezifik der mittelalterlichen Ästhe 26Hans Robert Jauß, „Ästhetische Erfahrung als Zugang zur mittelalterlichen Literatur.
Zur Aktualität der ‚Questions de littérature‘ von Robert Guiette“, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 25, 1975, S. 385-401, hier S. 394.
27 Diese Skala ist – mit weiteren Abstufungen – abgedruckt in ebd., S. 396.
28Vgl. hierzu die Bände Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher
Neuzeit. DFG-Symposion 2006, hg. von Peter Strohschneider, Berlin/New York 2009,
Geistliches in weltlicher und Weltliches in geistlicher Literatur des Mittelalters, hg. von Christoph Huber, Tübingen 2000, sowie, mit Schwerpunkt auf dem theologischen Diskurs,
Religiöse Erfahrung. Historische Modelle in christlicher Tradition, hg. von Walter Haug/
Dietmar Mieth, München 1992.
29Das Verdienst von Hans Robert Jauß, auf die Bedeutung der reflexiven Distanz bei der
Unterscheidung von ästhetischer und kultischer Erfahrung aufmerksam gemacht zu haben, hebt Renate Schlesier in einer Kritik an George Steiners und Hans Ulrich Gumbrechts „kultisch gefärbter Beschwörung von ,Präsenz‘“ hervor, vgl. R.S., „Künstlerische
Kreation und religiöse Erfahrung. Verwendungsgeschichtliche Anmerkungen zum Begriff der Inspiration“, in: Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste.
Epistemische, ästhetische und religiöse Formen von Erfahrung im Vergleich, hg. von Gert
Mattenklott, Hamburg 2004, S. 177-194, hier S. 177f., sowie H.R. Jauß, „Über religiöse
und ästhetische Erfahrung. Zur Debatte um Hans Belting und George Steiner“, in: ders.,
Wege des Verstehens, München 1994, S. 346-377.
30Vgl. Fiktion und Fiktionalität in den Literaturen des Mittelalters. Jan-Dirk Müller zum
65. Geburtstag, hg. von Ursula Peters/Rainer Warning, München 2009, für unseren Zu-
Einleitung
21
tik und zur Rolle der artes-Referenzen in der Literatur,31 zu Meditationstechniken,
Lesevorschriften und Spielarten religiöser und weltlicher Lektürepraxis32 dazu bei,
das Spektrum von ästhetischer Erfahrung im Mittelalter differenzierter in den Blick
zu nehmen. Zu zeigen ist, inwieweit man – im Kontext vielschichtiger Prozesse der
Säkularisierung33 und der gelehrten Laienkultur – von einer Ausdifferenzierung von
Literatur und Kunst als einem eigenständigen Wissensbereich sprechen kann.
Die frühe Lyrik Italiens bietet aufgrund ihrer kulturgeschichtlichen und epistemologischen Voraussetzungen vielschichtige Antworten hinsichtlich des skizzierten Fragehorizonts. Sie entsteht zu einer Zeit, als sich, in Sizilien am Hof des Stauferkaisers Friedrichs II. und im Patriziat der toskanischen Städte, ein neuer Stand
von gebildeten Laien, oft Juristen und Notare, ausbildet. In die Poesie, wie sie mit
der Scuola siciliana in den 1230er Jahren einsetzt, dann ab etwa 1260 im Dolce stil
novo eine weitere intellektuell anspruchsvolle Ausprägung erfährt, fließt die Kenntnis neuer Wissensbereiche ein. Nicht in oberflächlicher Amalgamierung, sondern
in grundlegender Durchdringung beziehen sich die Dichter auf die aristotelischen
Schriften und auf averroistische Positionen. Sie greifen innovative rhetorische Konzepte auf, die in Traktaten der ars dictaminis im Umfeld der Rechtsstudien, vor
allem an der Universität Bologna, entwickelt werden. Sie adaptieren scholastische
Disputationstechniken und rationale Konstruktionsverfahren, wie sie das Instrumentarium der Logik und Dialektik zur Verfügung stellt. Ins Zentrum der poetischen Reflexion tritt das Verhältnis von menschlicher Findungs- und Erfindungskunst und Textrezeption. Konzeption und Ausarbeitung der Gedichte antizipieren
und steuern den Lektürevorgang, da die hochartifizielle Faktur eines Sonetts oder
einer Kanzone für den Leser nicht auszublenden, sondern spekulativ nachzuvollziesammenhang v.a. den Aufsatz von Rainer Warning, „Fiktion und Transgression“, ebd.,
S. 31-55, sowie Literarische Interessenbildung im Mittelalter. DFG-Symposion 1991, hg. von
Joachim Heinzle, Stuttgart/Weimar 1993.
31Vgl. Das fremde Schöne. Dimensionen des Ästhetischen in der Literatur des Mittelalters, hg.
von Manuel Braun/Christopher Young, Berlin/New York 2007; Interartifizialität. Die
Diskussion der Künste in der mittelalterlichen Literatur, hg. von Susanne Bürkle/Ursula Peters, Berlin 2009.
32 Zum Diskussionsstand vgl. mit weiterführender Literatur Mireille Schnyder, „Kunst der
Vergegenwärtigung und gefährliche Präsenz. Zum Verhältnis von religiösen und weltlichen Lesekonzepten“, in: Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. DFG-Symposion 2006, hg. von Peter Strohschneider, Berlin/New York 2009,
S. 427-452; zur Bedeutung sinnlich-imaginativer Erfahrung bei der Schriftlektüre und
zur Einsicht in deren rhetorische Grundlage vgl. Niklaus Largier, „Die Applikation der
Sinne. Mittelalterliche Ästhetik als Phänomenologie rhetorischer Effekte“, in: Das fremde
Schöne. Dimensionen des Ästhetischen in der Literatur des Mittelalters, hg. von Manuel
Braun/Christopher Young, Berlin/New York 2007, S. 43-60.
33Für die Komplexität des Säkularisierungsbegriffs und das mit diesem verbundene Paradigma der Durchdringung sakraler und weltlicher Denkmuster, wie sie auch an Ambiguitäten der Semantik und Metaphorik ablesbar ist, vgl. Susanne Köbele/Bruno Quast, „Perspektiven einer mediävistischen Säkularisierungsdebatte. Zur Einführung“, in: Literarische Säkularisierung im Mittelalter, hg. von dens., Berlin 2014, S. 9-20.
22
Einleitung
hen ist. Die rhetorische Grundlage und die logisch-dialektische Struktur eines
Gedichts haben, so die Erkenntnis und Absicht der Dichter, Einfluss auf die kognitiven und imaginativen Prozesse, die sich während der Lektüre vollziehen. Die Wirkung komplexer Sprachgebilde – darauf wird textimmanent, aber auch in Tenzonen, im Austausch von Sonetten oder, so in Dantes Vita nova, in kommentierenden
Prosapartien aufmerksam gemacht – ist durch die erkenntnistheoretische Wertigkeit der Zeichen, semantische Ambiguität, trügerische, da falsch konstruierte Syllogismen sowie eine die Formen christlicher Spiritualität täuschend nachahmende
Bildlichkeit mitbedingt. Die Dichtung bestätigt, so ließe sich zugespitzt formulieren, intentional die von theologischer Seite vorgebrachte Kritik, sie sei schöne Lüge,
da die poetisch-figurative Sprache Sinne und Geist verführe, nicht aber auf eine tiefere Wahrheit bzw. das göttliche Unsichtbare hin referenzialisierbar sei.34
Der erkenntnistheoretisch prekäre Status der Poesie spiegelt sich in dem unsichtbaren Phänomen, das im Fokus der frühen volkssprachlichen Lyrik steht. Es ist die
Liebe als spirituell-geistige Kraft, die in neuplatonisch-christlicher Tradition die
Annäherung an Gott ermöglicht, das Ich aber auch auf sich selbst zurückwerfen
und so von der Transzendenz abschneiden kann. In ihrem die Integrität des Subjekts gefährdenden Potential und im Raster der Pathologie – als Verwirrung und
Verirrung des Geistes, Verlust von Rationalität und den Einzelnen isolierende
Macht – wird die Liebe in zahlreichen medizinischen Traktaten des 12. und 13.
Jahrhunderts analysiert.35 Grund des schweren Leidens, das den Liebenden ergreift
und ihn in die Nähe des Todes bringt, ist die Fixierung auf ein mentales Bild. In
dieser Erklärung stehen höfische Erzählliteratur und Dichtung mit medizinischen
und naturphilosophischen Schriften in engem Dialog. Ein bekanntes Zeugnis für
das Zusammenspiel von Liebesaffektion und innerer Bilderzeugung ist die Definition, die Andreas Capellanus in De amore von der Liebe gibt: „amor est passio
quaedam innata procedens ex visione et immoderata cogitatione formae alterius
sexus“36. Die Liebe, von der die Lyrik handelt und durch die sie ihre Kontur
gewinnt, richtet sich nicht auf ein sinnliches Objekt, etwa die geliebte Dame. Sie
referiert vielmehr auf ein Vorstellungsbild und ist hierin, wie Giorgio Agamben
schreibt, als „wesentlich phantasmatische[r] Vorgang [bestimmt], der Einbildung
und Erinnerung dazu treibt, nimmermüde um ein Bild zu kreisen, das im Innersten des Menschen gemalt oder reflektiert ist.“37 Das imaginative Bild dient, so ver 34Zum Vorwurf der Lüge als Wertungskriterium in dem sich im 14. Jahrhundert verstärkenden „Streit um die Dichtung“ vgl. mit Verweisen auf frühere Zeugnisse Christoph J.
Steppich, ‚Numine afflatur‘. Die Inspiration des Dichters im Denken der Renaissance, Wiesbaden 2002, S. 29-45, zum grundsätzlichen Vorbehalt der Scholastik gegenüber der Poesie vgl. Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Tübingen/
Basel 111993, S. 230f.
35 Vgl. exemplarisch Mary Frances Wack, Lovesickness in the Middle Ages. The ,Viaticum‘ and
Its Commentaries, Philadelphia 1990.
36 Andreas Capellanus, De amore, libri tres, Text nach der Ausgabe von E. Trojel übers. und
mit Anm. und einem Nachwort versehen von Fritz Peter Knapp, Berlin u.a. 2006, I,i,1.
37Agamben, Stanzen, S. 137.
Einleitung
23
deutlicht Agamben am Beispiel des altfranzösischen Roman de la Rose, der Selbstbespiegelung des Ichs und ist mit künstlerischen Gestaltungsprozessen verknüpft.
So erblickt der Liebende zu Beginn des Rosenromans in einer Quelle, im Spiegel des
Wassers, einen Rosenstock, daran die eine Rosenknospe, Symbol der Geliebten. In
zwei Kristallen in der Tiefe, in denen wiederum das Reich Amors gespiegelt ist,
erkennt er sein eigenes Augenpaar. Die Quelle im Garten des Liebesgottes, in deren
Widerschein sich die Suche des Amant und mit ihr die Romanhandlung allegorisch bricht, ist mit dem Quell des Narziss assoziiert. Gegen Ende des Buchs tritt
die Faszination am Bild in der Erzählung von Pygmalion erneut hervor. Pygmalion, der sich mit Narziss vergleicht, hinterfragt Wirklichkeitsstatus und Wahrheitsgehalt des Vorstellungsbildes, das in künstlerischer Modellierung, in einer Statue,
Form und Gestalt annimmt. Nachdem Venus die Statue belebt hat, erscheint ihm
die dem Stein entrückte Geliebte als „fantosme“, als Hexerei und Trug.38
In der Wahl ihres Gegenstandes, dem Sprechen über die Liebe, ordnet sich die
sizilianische und stilnovistische Lyrik einem verstärkt seit dem 13. Jahrhundert in
Theologie, Philosophie und Medizin zu beobachtenden Interesse an der erkenntnistheoretischen Qualität imaginativer Bilder ein.39 Die Aufwertung der Phantasmata,
aber auch die Vorbehalte gegen sie sind maßgeblich durch die Wiederentdeckung
von Aristoteles’ De anima bedingt. Die Annahme, dass ohne Vorstellungsbilder keine Erkenntnis möglich und von einer gestuften, doch notwendigen Verbindung
zwischen Sinneswahrnehmungen, Imagination und abstrahierendem Intellekt auszugehen sei, regt differenzierte Spekulationen über die Wertigkeit mentaler Bilder
und ihre Entstehungsvoraussetzungen an. Die naturphilosophische Erklärung ist
auch gegenüber religiösen Modellen zu situieren, berührt sie doch einen zentralen
Bereich christlicher Spiritualität, das visionäre Sehen. In ihrer Bedingung, der Sehnsucht der Seele nach Gott, weist die visio der Mystik auf eine in Platonismus und
Neuplatonismus angelegte Engführung von Liebesstreben und Ideen- bzw. Gottesschau zurück. Das innere Sehen wird durch Meditation und Kontemplation befördert und geht häufig von einer materiellen Grundlage, von gemalten Bildern, aus.
Innerhalb der Theologie wird, in durchaus konträren Positionen, die Interdependenz von geistigem Sehen und Miniaturen, Zeichnungen oder Fresken diskutiert,
dabei die Frage aufgeworfen, ob und inwiefern ein solches Bild auf die Transzendenz
verweisen und damit als Initiationsmedium spiritueller Erhebung und als Weg zum
Unsichtbaren gedeutet werden kann.40 Für diese Debatten spielen die Entstehung
38 Vgl. ebd., S. 109-121.
39 Siehe hierzu das Kapitel „Wort und Phantasma. Die Theorie des Phantasmas in der Liebesdichtung des 13. Jahrhunderts“, in: ebd., S. 107-207.
40 Zu den Konzepten sowie den Debatten über die Rolle, erkenntnistheoretische Wertigkeit
und Interdependenz geistig-spiritueller und materieller Bilder in der mittelalterlichen
Theologie vgl. The Mind’s Eye. Art and Theological Argument in the Middle Ages, ed. by
Jeffrey F. Hamburger/Anne-Marie Bouché, Princeton 2006; vgl. auch Herbert L. Kessler,
Spiritual Seeing. Picturing God’s Invisibility in Medieval Art, Philadelphia 2000; Jeffrey H.
Hamburger, The Visual and the Visionary. Art and Female Spirituality in Late Medieval
Germany, New York 1998.
24
Einleitung
des privaten Andachtsbilds in der Tafelmalerei, das stille Gebet unter Verwendung
handlich-kleiner illuminierter oder illustrierter Bücher sowie, allgemein, die in der
Laienkultur bedeutsame Bildfrömmigkeit eine nicht zu vernachlässigende Rolle.41
Für die Selbstreflexion der Lyrik, das Zusammenspiel von Textfaktur und Lektüreerfahrung, ist die Frage relevant, inwiefern die Qualität mentaler Bilder – werden diese auf religiös-illuminative Schau zurückgeführt oder aber vermögenspsychologisch erklärt – durch die semiotische Wertigkeit des Mediums, das ihre
Entstehung anregt, bestimmt wird. Die Dichtung des 13. Jahrhunderts schließt
hierin nicht nur an zeitgenössische Diskussionen, sondern generell an die christliche Tradition an, in der das geistige Sehen weniger von gemalten Bildern als von
sakralen Texten, insbesondere der Bibel, seinen Ausgang nimmt. In zeichentheoretischer Perspektive reflektiert bereits Augustinus die Schwierigkeit, von der Unsagbarkeit Gottes zu sprechen oder eine zutiefst spirituelle Erfahrung durch rhetorische Mittel zu vergegenwärtigen. Unter der Voraussetzung, dass es nur über die
‚körperbezogenen Ansichten‘ der Sprache möglich sei, eine geistige Bedeutung
zum Ausdruck zu bringen, warnt er davor, auf der Ebene der sinnlich-bildhaften
Zeichen zu verbleiben. Werden die ,körpergebundenen Bilder‘ nicht hin auf eine
spirituelle Wahrheit überschritten, gibt sich der Mensch der fruitio, dem Selbstgenuss an den Dingen hin.42 Dieses Argument nimmt die Scholastik in abstrakterer
Form auf. So diskutiert Thomas von Aquin in der Summa theologiae das Problem,
dass die Theologie, da alle Erkenntnis von den Sinnen ihren Anfang nehme, auf
metaphorisches Sprechen angewiesen sei. Die bildhafte Rede, etwa der Bibel, vermöge es, das Geistig-Unsichtbare dem menschlichen Erkennen zugänglich zu
machen: „Est autem naturale homini ut per sensibilia ad intelligibilia veniat: quia
omnis nostra cognitio a sensu initium habet. Unde convenienter in sacra Scriptura
traduntur nobis spiritualia sub metaphoris corporalium.“43 Anders verhalte es sich
mit der figurativen Sprache der Dichtkunst, sei diese durch die ihr eigene Wahrheitsdefizienz doch dem rationalen Zugriff entzogen und daher nicht auf das Göttliche hin referentialisierbar: „[…] sicut poetica non capiuntur a ratione humana
propter defectum veritatis qui est in eis, ita etiam ratio humana perfecte capere non
potest divina propter excedentem ipsorum veritatem. Et ideo utrobique opus est
repraesentatione per sensibiles figuras.“44 Die Grenzen zwischen theologischem
und poetischem Zeichengebrauch werden jedoch fließend, wenn die Texte – und
in illuminierten Handschriften die sie begleitenden Miniaturen45 – allegorische
41 Vgl. Hans Belting, Das Bild und sein Publikum im Mittelalter. Form und Funktion früher
Bildtafeln der Passion, Berlin 21995.
42Vgl. Winfried Wehle, „,Concupiscentia signorum‘. Über ästhetische Erfahrung von Zeichen – Augustin, Dante, Petrarca“, in: Religiöse Erfahrung. Historische Modelle in christlicher Tradition, hg. von Walter Haug/Dietmar Mieth, München 1992, S. 247-273, hier
S. 254-258.
43 Thomas von Aquin, Summa theologiae I, q. 1 a. 9.
44 Ebd., I-II, q. 101 a. 2 ad 2.
45 Zu diesem Überschneidungsbereich vgl. mit zahlreichen Abbildungen Müller, Minnebilder.
Einleitung
25
Bildmuster und topisch gewordene Vergleiche imitieren. Prägnant tritt diese Überblendung hervor, wenn Amor als hieratische Figur – gemalt nach dem Modell der
Majestas Domini und mit den sechs Flügeln des Seraphim – den Moment des Verliebens zur Anschauung bringt oder, in der Lyrik, die für das Marienlob konstitutive Bildlichkeit des Hohenlieds auf die Geliebte übertragen wird.
Die Konzentration auf das Bild, seine mentale Entstehung, erkenntnistheoretische Wertigkeit und sprachliche Vermittlung bzw. Erzeugung führt den poetischen
Diskurs mit Mystik, Scholastik und aristotelischer Philosophie, aber auch mit der
Tradition und neueren Theoremen der Rhetorik eng.46 Die Spekulation darüber,
ob und unter welchen Bedingungen die Erkenntnisvollzüge der Seele auf Gotteserfahrung, die Selbstreflexion des Geistes oder aber auf eine deviante imaginative
Erfahrungsdimension gerichtet sind, verbindet sich mit zeichentheoretischen
Überlegungen zum Status bildhafter Rede. Der Eigenbereich der Lyrik wird erschlossen, indem im Sprechen über die Liebe die epistemologische Qualität innerer Bilder
und die Referenz der mit ihnen verbundenen Vorstellungsräume diskutiert werden.
Um Abstraktes oder Unsichtbares darstellbar zu machen, greifen die Dichter auch
auf tradierte Figurationen zurück, die christlichen Anschauungsformen nahe stehen. So tritt Amor, mit religiösen Attributen versehen, als Allegorie poetischer Verfahren auf, so ersetzt das Bild der Geliebten das Bild Gottes im Herzen, so wird die
Wirkung der Liebe als allegorisches Seelendrama mit den Protagonisten Amor,
Herz und Seele zur Darstellung gebracht und in seiner Wirkung auf den Leser mit
der Wirkung des Passionsgeschehens parallelisiert. Die Gestaltung solcher reflexiver Bild-Zeichen ist in den Gedichten häufig in der Metaphorik der Malerei aufgerufen, die rhetorischen Verfahren, meist Vergleich und Metapher, die das Unsichtbare, nicht begrifflich Fassbare konturieren, sind als konstruktive Leistung des
Sprechers herausgestellt. Der Vorgang der Bildbildung ist dann auf einer Metaebene erneut aufgegriffen: Wie der Liebende, das lyrische Ich, auf das Bild schaut, so
vollzieht sich der Bildbildungsprozess im Rezipienten, der, bei der Lektüre des
Sonetts oder der Kanzone, die textimmanent reflektierte Bildentstehung und Bildbetrachtung wiederholt. In den Gedichten erscheinen so gleich einer mise en abyme – einer Figur der Verdoppelung und Selbstreflexion, die die Struktur des Werks
und den Künstler bei der Arbeit wie in einem Spiegel zeigt47 – das poietische Vermögen und die Wirkung, die, als dessen Resultat, der Text auf den Leser hat.
Um dieses Bedingungsverhältnis zu erfassen, setzt das Buch mit einer zeitgenössischen Kritik an der Liebeslyrik ein, wie sie Guittone d’Arezzo in dem Sonettkranz
Trattato d’Amore unternimmt. Im Dialog mit dem Leser, zu Beginn als „caro ami 46 Vgl. zu den Konzepten und der Interrelation von mentalen, materiellen und sprachlichen
Bildern, von Erkenntnistheorie und medialer Repräsentation sowie den entsprechenden
interdisziplinären mediävistischen Forschungsperspektiven Haiko Wandhoff, „Zur Bildlichkeit mittelalterlicher Texte. Einführung“, in: Das Mittelalter 13, 2008, S. 3-18, sowie,
zur Theorie bildhaften Ausdrucks, Ulrich Krewitt, Metapher und tropische Rede in der
Auffassung des Mittelalters, Ratingen u.a. 1971.
47 Vgl. Lucien Dällenbach, Le Récit spéculaire. Essai sur la mise en abyme, Paris 1977.
26
Einleitung
co“ apostrophiert, wird die Bildfigur Amors, die allegorisch für die säkulare Dichtung und die höfische Minnetradition steht, analytisch zergliedert und als sündhafte Verblendung bestimmt. Unterschiedliche Modelle des Zusammenspiels von
Zeichentheorie, imaginativer und rhetorischer Bildproduktion und ihrer Wirkung
auf den Rezipienten beleuchten die folgenden Kapitel, in denen die Dichtungskonzeption von Giacomo da Lentini, Guido Guinizzelli, Guido Cavalcanti und
Dante unter Einbeziehung der jeweils relevanten Wissenshorizonte und Referenzbereiche vorgestellt wird. Ein abschließendes Kapitel zeigt den Innovations- und
Durchsetzungsgrad der poetischen Selbstreflexion, wie sie sich im 13. Jahrhundert
ausgebildet hat, im Ausblick auf die Renaissance. Während Petrarca die imaginative Grundlegung im Canzoniere weiter verstärkt und sie an die europäische Lyrik
vermittelt, ersetzt die philosophische Konzeption Marsilio Ficinos das Vergnügen
an der Schaffung nichtig-illusionärer Bilder durch Einsicht in arkane Wahrheiten.
Im historischen Horizont einer verunsicherten, von konfessionellen Auseinandersetzungen geprägten Welt profilieren Autoren des 16. Jahrhunderts die Differenzkategorie der Lyrik neu. Pierre de Ronsard entwirft in dem 1552 publizierten
Sonettzyklus Les Amours eine Erfahrungsdimension, die, dem Blick des Ichs auf das
Porträt der Dame parallel, als fascinatio, als magische Verzauberung vorgestellt ist,
schreibt den Gedichten jedoch zugleich gelehrte, den Bann der Vorstellungsbilder
distanzierende Wissensreferenzen ein. Giordano Bruno vergegenwärtigt in dem
1585 in London gedruckten Dialog Degli eroici furori in Sonetten und Impresen
ein das begehrte Objekt ersehnendes, jedoch nie erreichendes Bewusstsein, das zur
emblematischen Figur eines unendlichen Erkenntnisstrebens wird. In den komplexen Sprach- und Bildzeichen, die das Wirken der Liebe im Inneren repräsentieren
und deren Deutungsmöglichkeiten unterschiedliche Gesprächspartner diskutieren,
eröffnet Brunos Philosophie erneut jenen Möglichkeitsraum spekulativ-imaginativer Geistigkeit, den Dante in das einprägsame Bild-Zeichen Beatrice gefasst hat.
I. Das Liebesbild zwischen
Meditation und Läuterung
Guittones d’Arezzo Trattato d’Amore
1. Reprobatio amoris. Spirituelle und poetische Erneuerung
in Guittones rime morali
Von Guittone d’Arezzo ist ein umfangreiches Werk überliefert, das etwa 50 Kanzonen, an die 230 Sonette, einzelne Ballate und zahlreiche Briefe in Vers und Prosa
umfasst und eine für die literarische Kultur des 13. Jahrhunderts nicht zu unterschätzende Bedeutung hat.1 Von vielen Zeitgenossen, die dem „mastro aretino“
auch in Gedichten ihre Reverenz erweisen, wird Guittone für sein technisches
Können sowie als Mittler und Erneuerer der provenzalischen und sizilianischen
Lyrik und der höfischen Minnelehre geschätzt. Durchdacht in die eigenen Gedichte integrierte Zitate und Anspielungen belegen Guittones genaue Kenntnis der
okzitanischen und der altfranzösischen Literatur.2 Guittone gilt als toskanischer
Vertreter des trobar clus, einer frühen Ausprägung hermetischer Dichtung, die sich
durch seltene Reime, Wortspiele, Gedankenreichtum und eine bewusst dunkle
Rede definiert. Der gedrängt-dichte, schwer lesbare Stil und der innovative, experimentelle Umgang mit Metrik, Reim und Rhythmus sind formale Besonderheiten
einer Poesie, die tradierte Liebeskonzepte und ihre literarischen Repräsentationsformen verwandelt, das Genre für politische Inhalte öffnet und es in hohem Maße
christlich-moralischer Unterweisung dienstbar macht.
Für die weitere Entwicklung der italienischen Lyrik ist Guittone zum einen
durch die serielle Koppelung von einzelnen Gedichten, also die Komposition von
thematischen und narrativen Zyklen, wegweisend geworden, vor allem aber durch
den in seinem Werk vollzogenen Übergang von der poetischen Darstellung profaner Liebesleidenschaft zur Darstellung christlicher Askese und ethischer Didaxe.
Aus der Konfrontation der vom Sprecher scharf gegeneinander abgegrenzten Referenzsysteme, von weltlichem Liebesbegehren und Gottessuche, resultiert eine
Zweiteilung der Dichtung, die die rime d’amore des Guittone d’Arezzo von den
rime morali des Frate Guittone abhebt. In der Abfolge von Liebe und Läuterung, in
der Verschränkung von lyrischem und theologischem Diskurs konturiert sich eine
1Zur zeitgenössischen Wertschätzung und der auch durch die Briefpartner bezeugten Bedeutung Guittones zwischen 1255 und 1280 vgl. Mario Marti, „Ritratto e fortuna di Guittone d’Arezzo“, in: ders., Realismo dantesco e altri studi, Milano/Napoli 1961, S. 126-155.
2Vgl. Luciano Rossi, „Guittone, i trovatori e i trovieri“, in: Guittone d’Arezzo nel settimo
Centenario della morte. Atti del Convegno internazionale di Arezzo (22-24 aprile 1994), a
cura di Michelangelo Picone, Firenze 1995, S. 11-31.
28
I. Das Liebesbild zwischen Meditation und Läuterung
spirituelle Autobiographie. Diese Anlage, die in ihrem Bezug auf die existentielle
Situation und das persönliche Schicksal eines historischen Sprechers Vorbilder in
den vidas der Trobadors, insbesondere bei Folquet de Marselha findet,3 scheint in
lebensweltlichem Bezug die conversio Guittones um das Jahr 1265, seinen Eintritt
in den Orden der Milites Beatae Virginis Mariae, einer volkstümlich Frati Gaudenti genannten Bruderschaft, widerzuspiegeln.4 Textimmanent präsentiert sie sich,
unter anderem durch Rekurs auf Augustinus’ Confessiones und den Wandel vom
unerlöst-diesseitigen homo vetus zum homo novus, als Zeugnis einer reuevollen Weltabkehr und der Hinwendung auf Gott.5
Die Konzeption eines einschneidenden geistigen Umbruchs leitet die Zusammenstellung der Gedichte, wie sie in den für die Überlieferung Guittones relevanten Manuskripten vorliegt. So wird die überlegene Stellung der rime ascetiche e
morali im Codex Laurenziano-Rediano 9 bereits dadurch hervorgehoben, dass die
Texte nicht der chronologischen Ordnung des spirituellen Erneuerungsweges folgen. Hier stehen die Liebessonette in der Abfolge der Stücke keineswegs, wie dies
der autobiographische Entwurf nahelegte, gleich am Anfang, sondern an einer späteren Position; sie bilden – und dies vor allem in der Wahrnehmung des Lesers –
eine Retrospektive auf eine überwundene Form der Poesie.6 Im Codex Banco Rari
3Das im 13. Jahrhundert zunehmende Bedürfnis nach einer historisierenden Biographie
des zuvor eher abstrakt bleibenden lyrischen Ichs untersucht Maria Luisa Meneghetti, Il
pubblico dei trovatori. La ricezione della poesia cortese fino al XIV secolo, Torino 1992,
S. 177-208.
4 Die karge Quellenlage zu Guittones Ordensbruderschaft ist ausgewertet bei Claude Margueron, Recherches sur Guittone d’Arezzo. Sa vie, son époque, sa culture, Paris 1966, S. 6979.
5 Die Übernahme des augustinischen conversio-Modells durch Guittone als Strukturmodell
der eigenen Dichtung und dessen Einfluss auf Dantes Vita nova und Petrarcas Canzoniere
zeigt Michelangelo Picone, „Guittone e i due tempi del ‚canzoniere‘“, in: Guittone d’Arezzo
nel settimo Centenario della morte. Atti del Convegno internazionale di Arezzo (22-24 aprile
1994), a cura di M.P., Firenze 1995, S. 73-88. Die conversio wird seit dem späten 11. Jahrhundert zu einem zunächst bei geistlichen Autoren etablierten Autorschaftsmodell, so
Christel Meier, „Autorschaft im 12. Jahrhundert. Persönliche Identität und Rollenkonstrukt“, in: Unverwechselbarkeit. Persönliche Identität und Identifikation in der vormodernen Gesellschaft, hg. von Peter von Moos, Köln u.a. 2004, S. 207-266. Als Denkfigur ist
sie, wie Maria Moog-Grünewald, „Conversio. Zu einem ,apokalyptisch‘ figurierten Topos
autobiographischen Schreibens“, in: dies., Was ist Dichtung?, Heidelberg 2008, S. 127-149,
zeigt, Konstituens auch der modernen Autobiographie.
6 Zur durchdachten Komposition des Codex in der Anordnung und im Zusammenspiel der
einzelnen Texte hin auf eine spirituelle Autobiographie vgl. Picone, „Guittone e i due tempi del ‚canzoniere‘“, sowie Olivia Holmes, „‚S’eo varrò quanto valer già soglio‘. The Construction of Authenticity in the ‚Canzoniere‘ of Frate Guittone and Guittone d’Arezzo
(MS Laurenziano-Rediano 9)“, in: Modern Philology 95, 1997, S. 170-199. Die Abfolge der
Texte und damit die Anlage des Werks wechselt in den Codices Laurenziano-Rediano 9
und Vaticano Latino 3793 sowie in der eine narrative Entwicklung und Zyklen rekonstruierenden modernen Editionspraxis. Wichtige Ausgaben sind immer noch Guittone
d’Arezzo, Le Rime, a cura di Francesco Egidi, Bari 1940, und die Zusammenstellung in
REPROBATIO AMORIS
29
217, einem vermutlich Ende des 13. Jahrhunderts in Florenz entstandenen illuminierten Gedichtbuch, wird dem Leser die Trennung in eine höfisch-weltliche und
eine religiöse Referenz der Poesie auch durch die die Texte begleitenden Miniaturen
vor Augen gestellt.7 Jeweils durch das Bild und eine rubrizierte Zeile kenntlich
gemacht, tritt in der Textfolge zuerst der weltliche Liebesdichter Guittone, dann
der geläuterte Fra Guittone auf.8 So wird auf Blatt 2r die unter Guittone d’Arezzo
firmierende Kanzone „A renformare amore e fede e spera“ von einer Miniatur
begleitet, die einen höfisch gekleideten Minnesänger mit einem Psalterium zeigt,
während links von ihm, auf erhöhtem Sitz, die gepriesene Dame erscheint und mit
ihrer Hand auf den Sänger weist; zwischen den beiden Figuren wächst ein Baum
empor, der eine buschige Krone mit kleinen Blüten und Früchten trägt (Abb. 1;
Tafel 1). Dieser Darstellung antwortet kurz darauf, auf Blatt 4v, eine hierzu spiegelbildlich angelegte Miniatur. Sie zeigt nun Fra Guittone, rechts über ihm ist der
göttliche Bereich – Christus Salvator, wie die Fingerhaltung der segnenden Hand
verdeutlicht – zu sehen (Abb. 2; Tafel 2). Auf den Blättern 3r und 7r rückt der
geläuterte Guittone selbst schließlich in eine übergeordnete Position ein, wenn er
im Kreis seiner Mitbrüder, die seinen Worten lauschen, ins Bild gesetzt ist.
Betrachtet man, um besser zu verstehen, welche Bedeutungsfelder mit den Figuren von hoher Dame und Heiland zueinander in Beziehung gesetzt sind, zunächst
die Poesie vor der conversio, wie sie der an Texten Guittones besonders reiche, in der
Abfolge und Relationierung der Gedichte vielleicht schon vom Autor vorgeprägte
Codex Laurenziano-Rediano 9 zusammenstellt, so fällt auf, dass dort wiederholt
ein Sprecher auftritt, der weniger von der Liebe affiziert oder in ihr befangen als
vielmehr ein bewusster Urheber von Täuschung ist. Unter der Perspektive der
Scheinerzeugung führen die Gedichte einen kritischen Dialog mit der höfischen
Minnetradition und ihrem Code, auf dessen Vorgaben der Sprecher in Reden und
Handeln zurückgreift. Für die Wertung der an- und vorgetragenen Liebe ist vor
Poeti del Duecento I,1. Testi arcaici – Scuola siciliana – Poesia cortese, a cura di Gianfranco
Contini, Milano/Napoli 1995, S. 189-255. Lino Leonardis neue Ausgabe Guittone
d’Arezzo, Canzoniere. I sonetti d’amore del codice Laurenziano, Torino 1994, zeichnet in
einer nicht unumstrittenen Auswahl ein eigenes Gedichtbuch nach. Einen Überblick über
die Handschriften und die wichtigsten Editionen gibt Antonello Borra, Guittone d’Arezzo
e le maschere del poeta. La lirica cortese tra ironia e parodia, Ravenna 2000, S. 17-23.
7Zu den Miniaturen vgl. Maria Luisa Meneghetti, „Il corredo decorativo del canzoniere
palatino“, in: I canzonieri della lirica italiana delle origini IV. Studi critici, a cura di Lino
Leonardi, Firenze 2001, S. 393-415, hier S. 409-413. Ein Faksimile bietet der ebenfalls
von Lino Leonardi herausgegebene Band I canzonieri della lirica italiana delle origini III. Il
canzoniere palatino, Biblioteca Nazionale Centrale di Firenze, Banco Rari 217, ex Palatino
418, Firenze 2000.
8 H. Wayne Storey, „Sulle orme di Guittone. I programmi grafico-visivi del codice Banco
Rari 217“, in: Studi vari di lingua e letteratura italiana in onore di Giuseppe Velli I, Milano
2000, S. 93-105, hier S. 97, nimmt an, dass dem ersten Teil des ,Canzoniere palatino‘ eine
Sammlung von Guittones Dichtung vorlag, deren Miniaturen die conversio ebenfalls bereits anhand der Autorfigur Guittone – Fra Guittone ins Bild setzten.
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I. Das Liebesbild zwischen Meditation und Läuterung
Abb. 1 und 2: Guittone d’Arezzo und Fra Guittone, Ende 13. Jh., Biblioteca Nazionale
Centrale di Firenze, Ms. Banco Rari 217, fol. 2r und 4v
allem die rekapitulierende Reflexion relevant, die immer wieder in die Textfolge
eingeschoben ist. Die Rückwendung auf das bereits Gesagte verweist auf eine doppelbödige Valenz der Rede und des Referenzsystems, in dem diese steht, um die
Wahrheitsdefizienz des Sprechens zum Teil offen zu problematisieren. So brandmarkt das Ich in Sonett 12 „Fero dolore e crudel pena e dura“ vom aktuellen Standort aus alle vorherige Rede als Lüge, bezeichnet sich an späterer Stelle, in Sonett 19,
selbst als „enfingitore“1, der das im Horizont höfischer Minne vorgegebene hohe
Liebesideal geschickt zu simulieren und für die Verführung einzusetzen weiß: „faccendo di perfetto amor senbrante“6.9 Das beständige Changieren zwischen Wahrheit und Heuchelei lässt den Leser schon bald an der Aufrichtigkeit des Protagonisten zweifeln, so dass im Nachhinein auch alle vorausgehenden Sonette in einem
anderen Licht erscheinen. Zuerst unverdächtig, wirkt das Sprechen von der Liebe
nun grundsätzlich künstlich und falsch.10 Das Ich gesteht in Intervallen immer
wieder die fehlende Authentizität einer Rede, die im Wechsel von Selbstanklage
und projektiertem Neuanfang doch nie eine Identität von Wort und Sache erreicht,
wobei die Suche nach einer Transparenz der Zeichen eng an die ebenfalls stets
unabgeschlossene Suche nach einem wahrhaftigen Gefühl der Liebe gekoppelt
ist.11 Die rime d’amore sind in dieser Hinsicht eine Kunst der Verstellung, die die
Technik des Fingierens perfekt beherrscht und an ihren äußersten Punkten nur
noch mit Clichés jongliert. Dabei zeichnet die Texte keine sinnentleerte Kombina 9
Concordanze della lingua poetica italiana delle origini I, a cura di D’Arco Silvio Avalle, Milano/Napoli 1992 (im Folgenden abgekürzt CLPIO), L 143 GuAr, c. 107r; vgl. Guittone
d’Arezzo, Canzoniere. I sonetti d’amore del codice Laurenziano, a cura di Lino Leonardi,
Torino 1994, S. 57.
10 Vgl. Lino Leonardi, „Introduzione“, in: Guittone, Canzoniere, XXXVIII-XXXIX.
11 Die in den Liebessonetten immer wieder neu zur Sprache gebrachte Kluft zwischen Schein
und Sein zeigt im Durchgang durch die Texte Holmes, „‚S’eo varrò quanto valer già soglio‘“, S. 186ff.