1 Aufgaben LDe12 ⇒ 10 Schüler Montag, 04.01.2010 2. + 3. Stunde

Transcription

1 Aufgaben LDe12 ⇒ 10 Schüler Montag, 04.01.2010 2. + 3. Stunde
Aufgaben LDe12

Montag, 04.01.2010
Dienstag, 05.01.2010
10 Schüler
2. + 3. Stunde
3. Stunde
Die Schüler bearbeiten die Aufgaben selbständig und in angemessener schriftlicher Form.
1. Lesen Sie die Texte 1 bis 4 und untersuchen Sie wie in den Texten der Begriff „Inventur“
verstanden wird.
Klären Sie den Begriff Inventur.
1.1 Ermitteln Sie die Situation und die innere Verfassung des schreibenden Ichs und die
Ergebnisse der Bestandsaufnahme in den Texten.
1.2 Welche Schlussfolgerungen aus den Inventuren ziehen Sie.
2. Interpretieren Sie einen der Prosatexte.
Text 1
Johannes Bobrowski (1917-1965): Die ersten beiden Sätze für ein Deutschlandbuch
5
10
15
20
25
Als die ersten Nachrichten von den Massenmorden an Juden in die Stadt gelangten und
jedermann meinte, sie seien übertrieben, so schlimm könne es ja wohl nicht sein, und
jeder dennoch ganz genau wusste, dass sich das alles tatsächlich so verhielt, dass keine
noch so ungeheuren Zahlen, keine noch so grässlichen Methoden und raffinierten
Techniken, von denen man hörte, übertrieben waren, dass wirklich alles so sein musste,
weil es gar nicht anders sein konnte, und dass es längst nicht mehr die Zeit war, davon zu
reden, ob es nicht doch noch andere, mildere, menschlichere Verfahren gegeben hätte,
Ausweisungen ja wohl nicht mehr, jetzt im Kriege, aber doch garantierte Reservationen,
mit Eigenverwaltung und so weiter, als das völlige Schweigen an der Reihe war, als man
sich selber schon hinweggeschwiegen hatte, wer weiß wovon und wer weiß wohin, gegen
nichts mehr einen Widerspruch aufsteigen spürte, nur so daherredete, zwischen einem
nachlässig stilisierten Witz und dem feierlich-feuchten Gefühl, in einem Schicksalskampf
von mythischem Rang einbezogen zu sein, wider Willen, zugegeben, als es so weit war
mit denen, die frei herumliefen in Deutschland und frei herumlebten, unter den
erschwerten Bedingungen des Krieges, zugegeben, als sie so weit gekommen waren – was
nichts heißen soll, denn so weit waren sie ja dann wohl schon seit je gewesen, wenn es
jetzt so gut klappte, als es also war wie schon immer, als das so war, läuteten die Glocken
– für gar nichts Besonderes: die Hochzeit eines Hirnverletzten, dem man in Anbetracht
seiner militärischen Auszeichnungen diesen Wunsch nicht hatte abschlagen können, eines
garnisonsverwendungsfähig geschriebenen, aber für die nächsten Jahre vorerst
beurlaubten Oberleutnants der Pioniere, mit einer Krankenschwester namens Erika, die ihn
im Sanatorium vom Fensterkreuz, an dem er sich aufgeknüpft, mit eigner Hand
abgeschnitten hatte und die er am Abend der Hochzeit noch erwürgte, in einem sogar
vermuteten Anfall von Geistesgestörtheit, was nichts heißt, denn geistesgestört zu sein war
ohnehin sein behördlicher Zustand gewesen seither, das heißt seit zwei Jahren, seit seiner
Verletzung.
Das eine also seit zwei Jahren, das andere seit wann?
(v. 1964)
1
2. Günter Eich (1907-1972)
Inventur
Das ist meine Mütze,
dies ist mein Mantel,
Hier mein Rasierzeug
Im Beutel aus Leinen.
so dient es als Kissen
nachts meinem Kopf.
Die Pappe hier liegt
Zwischen mir und der Erde.
Konservenbüchse:
Mein Teller, mein Becher
Ich hab in das Weißblech
den Namen geritzt.
Die Bleistiftmine
lieb ich am meisten:
Tags schreibt sie mir Verse,
Die nachts ich erdacht.
Geritzt hier mit diesem
kostbaren Nagel,
den vor begehrlichen
Augen ich berge.
Dies ist mein Notizbuch,
dies meine Zeltbahn,
dies ist mein Handtuch,
Dies ist mein Zwirn.
Im Brotbeutel sind
Ein Paar wollene Socken
Und einiges, was ich
Niemand verrate.
(e 1945/46)
3. Heiner Müller (1929-1995) Das Eiserne Kreuz
5
10
15
20
25
Im April 1945 beschloß in Stargard in Mecklenburg ein Papierhändler, seine Frau, seine
vierzehnjährige Tochter und sich selbst zu erschießen. Er hatte durch Kunden von Hitlers
Hochzeit und Selbstmord gehört.
Im Ersten Weltkrieg Reserveoffizier, besaß er noch einen Revolver, auch zehn Schuß
Munition.
Als seine Frau mit dem Abendessen aus der Küche kam, stand er am Tisch und
reinigte die Waffe. Er trug das Eiserne Kreuz am Rockaufschlag, wie sonst nur an Festtagen.
Der Führer habe den Freitod gewählt, erklärte er auf ihre Frage, und er halte ihm die
treue. Ob sie, seine Ehefrau, bereit sei, ihm auch hierin zu folgen. Bei der Tochter zweifle er
nicht, dass sie einen ehrenvollen Tod durch die Hand ihres Vaters einem ehrenlosen Leben
vorziehe.
Er rief sie. Sie enttäuschte nicht.
Ohne die Antwort der Frau abzuwarten, forderte er beide auf, ihre Mäntel anzuziehen, da er,
um Aufsehen zu vermeiden, sie an einen geeigneten Ort außerhalb der Stadt führen werde.
Sie gehorchten. Er lud danach den Revolver, ließ sich von der Tochter in den Mantel helfen,
schloß die Wohnung ab und warf den Schlüssel durch die Briefkastenöffnung.
Es regnete, als sie durch die verdunkelten Straßen aus der Stadt gingen, der Mann
voraus, ohne sich nach den Frauen umzusehen, die ihm mit Abstand folgten. Er hörte ihre
Schritte auf dem Asphalt.
Nachdem er die Straße verlassen hatte und den Fußweg zum Buchenwald
eingeschlagen hatte, wandte er sich über die Schulter zurück und trieb zur Eile. Bei dem über
der baumlosen Ebene stärker aufkommenden Nachtwind, auf dem regennassen Boden,
machten ihre Schritte kein Geräusch.
Er schrie ihnen zu, sie sollten vorangehen. Ihnen folgend, wusste er nicht: hatte er
Angst, sie könnten ihm davonlaufen, oder wünschte er, selbst davonzulaufen. Es dauerte nicht
lange, und sie waren weit voraus. Als er sie nicht mehr sehen konnte, war ihm klar, dass er zu
viel angst hatte, um einfach wegzulaufen, und er wünschte sehr, sie täten es. Er blieb stehen
und ließ sein Wasser. Den Revolver trug er in der Hosentasche, er spürte ihn kalt durch den
dünnen Stoff. Als er schneller ging, um die Frauen einzuholen, schlug die Waffe bei jedem
2
30
35
40
45
50
55
Schritt an sein Bein. Er ging langsamer. Aber als er in die Tasche griff, um den Revolver
wegzuwerfen, sah er seine Frau und die Tochter. Sie standen mitten auf dem Weg und
warteten auf ihn.
Er hatte es im Wald machen wollen, aber die Gefahr, dass die Schüsse gehört wurden,
war hier nicht größer.
Als er den Revolver in die Hand nahm und entsicherte, fiel die Frau ihm um den Hals,
schluchzend. Sie war schwer, und er hatte Mühe, sie abzuschütteln. Er trat auf die Tochter zu,
die ihn starr ansah, hielt ihr den Revolver an die Schläfe und drückte mit geschlossenen
Augen ab. Er hatte gehofft, der Schuß würde nicht losgehen, aber er hörte ihn und sah, wie
das Mädchen schwankte und fiel.
Die Frau zitterte und schrie. Er mußte sie festhalten. Erst nach dem dritten Schuß
wurde sie still.
Er war allein.
Da war niemand, der ihm befahl, die Mündung des Revolvers an die eigene Schläfe zu
setzen. Die Toten sahen ihn nicht, niemand sah ihn. Das Stück war aus, der Vorhang gefallen.
Er konnte gehen und sich abschminken.
Er steckte den Revolver ein und beugte sich über seine Tochter. Dann fing er an zu
laufen.
Er lief den Weg zurück bis zur Straße und noch ein Stück die Straße entlang, aber
nicht auf die Stadt zu, sondern westwärts. Dann ließ er sich am Straßenrand nieder, den
Rücken an einen Baum gelehnt, und überdachte seine Lage, schweratmend. Er fand, sie war
nicht ohne Hoffnung.
Er musste nur weiterlaufen, immer nach Westen, und die nächsten Ortschaften
meiden. Irgendwo konnte er dann untertauchen, in einer größeren Stadt am besten, unter
fremdem Namen, ein unbekannter Flüchtling, durchschnittlich und arbeitsam.
Er warf den Revolver in den Straßengraben und stand auf. Im Gehen fiel ihm ein, daß
er vergessen hatte, das Eiserne Kreuz wegzuwerfen. Er tat es.
(v 1956)
4. Gottfried Benn (1886-1956): Nur zwei Dinge
Durch so viel Formen geschritten,
durch Ich und Wir und Du
doch alles blieb erlitten
durch die ewige Frage: wozu?
Das ist eine Kinderfrage.
Dir wurde erst spät bewusst,
es gibt nur eines: ertrage
- ob Sinn, ob Sucht, ob Sage –
dein fernbestimmtes: Du musst.
Ob Rossen, ob Schnee, ob Meere,
was alles erblühte, verblich,
es gibt nur zwei Dinge: die Leere
und das gezeichnete Ich.
(e 1953)
Die Rechtschreibung aller Texte folgt den Textvorlagen.
3