Herausforderndes Verhalten bei Menschen mit Demenz

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Herausforderndes Verhalten bei Menschen mit Demenz
PHILOSOPHISCH-THEOLOGISCHE HOCHSCHULE VALLENDAR
Kirchlich und staatlich anerkannte Wissenschaftliche Hochschule in freier Trägerschaft
Pflegewissenschaftliche Fakultät
Herausforderndes Verhalten bei
Menschen mit Demenz
- Antworten der Pflegewissenschaft PTHV
22.11.2010
Prof. Dr. Hermann Brandenburg
Lehrstuhl für Gerontologische Pflege
hbrandenburg@pthv.de
Gliederung
1. Demenz – einige Fakten
2. Herausforderndes Verhalten
3. Rahmenempfehlung des BMG
4. Abschließende Bemerkungen
I.
Demenz
– einige Fakten
Dürers Mutter
geboren 1451,
porträtiert von Albrecht Dürer im
Alter von 63 Jahren
Anna Kaessler
geboren 1869 in Rödelsee/Unterfranken
porträtiert 1970 im
Alter von 100 Jahren
Anteil der über 90-jährigen und über
100-jährigen in Deutschland
(Zunahme zwischen 2000 und 2050 absolut …)
über 90 Jahre
über 100 Jahre
2100000
1047000
501300
2000
114700
44000
10000
2020
2050
Quelle: UN (2002), World Population Ageing 1950-2050
Spezielle Herausforderung:
Demenz
Hohe Belastung für die Pflegende, Ärzte und
Angehörigen
Eine Kernfrage: Welches Versorgungs- und
Betreuungskonzept macht Sinn, ist
umsetzbar?
Demenz und die Verantwortung der
Gesellschaft (Gerechtigkeitsfrage)
Zwei Hauptformen der Demenz
Alzheimerdemenz [60%] (schleichender
Beginn, Gedächtnisstörung, Antrieb fast
immer gestört)
Vaskuläre Demenz [10-15%]
(eher stufenartiger Verlauf,
neurologische Symptome wie
Hemiparesen, Schluckstörungen,
Gangstörungen, Inkontinenz,
Antriebsmangel, Depressivität)
Abklärung der Ursachen
Demenz als Begleiterkrankung einer
Depression
Andere Formen der Demenz, wie z.B.
Lewy-Körperchen-Demenz, Parkinson Demenz, Korsakow-Syndrom
Andere Probleme/Ursachen: Akute
Verwirrtheit (Ernährung, Wasserhaushalt)
Zunahme von Menschen mit
Demenz
Die Zahl der Menschen mit Demenz
wird zunehmen von (zur Zeit: 1,1 -1,4
Millionen) auf ca. 2 Millionen (im Jahre
2050)
Mit zunehmendem Alter steigt der
Anteil an Demenzkranken an – von 5%
bei den 75-79jährigen bis zu 57% bei
den über 95jährigen
Versorgungsituation
2/3 der Menschen mit Demenz werden
zu Hause versorgt
1/3 lebt in stationären Einrichtungen
60% der Bewohner von Pflegeheimen
leiden an Demenz (Problem der
Demenzdiagnostik!)
II.
Herausforderndes Verhalten
Epidemiologie
Verhaltensstörung, Verhaltensauffälligkeit,
Verhaltensprobleme
46%-72% der Bewohner von Pflegeheimen
zeigen diese Phänomene
Am häufigsten: Agitation, Depression,
Angst, Aggression
Perspektivenwechsel
Verhalten hat für denjenigen, der sich
verhält, immer einen Sinn
Herausforderndes Verhalten ist ein
Resultat der Unfähigkeit, „sich verständlich
zu machen“
Herausforderndes Verhalten „ist eine
Reaktion auf eine Welt, die einem nicht
vertrauensvoll und verlässlich ist“
(Jantzen & Schnittka 2001)
Ein neues Verständnis
Verhalten als Herausforderung verstanden
bedeutet einen Perspektivwechsel
Grund für Verhalten ist die Interaktion /
Umwelt
Annahme von unbefriedigten /
fehlinterpretierten Bedürfnissen der
Menschen mit Demenz
Wirkungszusammenhänge von
herausforderndem Verhalten
(King 2005)
Unmittelbare
Ursachen
Mittelbare
Ursachen
Wirkung
Folge
Bewohner:
Stress, Stürze,
Schlafstörung,
etc.
Beziehung
Bewohnerinnen
Umgebung
•Unerfüllte
Bedürfnisse
•Fehlinterpretationen
•Unbehagen
Agitiertheit
Aggressivität
Umhergehen
Vokale
Störungen
usw.
Pflegende:
Stress,
burn-out,
Frustration
Andere:
Höhere
Kosten /
Aufwand
Bedürfnisorientiertes
Verhaltensmodell bei Demenz
(Kolanowski 1999)
Hintergrundfaktoren
•Neurologischer Status
(Gedächtnis, Merkfähigkeit,
Sprache, Sensorik)
•Gesundheitsstatus
(Funktionsfähigkeit, Ethnizität,
Familienstand, Bildung, Beruf)
•Psychosoziale Variablen
(Persönlichkeit, Stressreaktion
etc.)
Nahe Faktoren
•Physiologische Bedürfnisse
(Hunger, Durst, Unwohlsein)
•Psychosoziale Bedürfnisse
Affekt, Emotionen
•Physikalische Umgebung
(Licht, Geräusche, Wärme,
Wohnalltag, Stationsbetrieb)
•Soziale Umgebung
Personalausstattung.
Umgebung, Präsenz anderer
Grundlegende Zielorientierung für
die Pflege
Fokus nicht auf die Defizite, sondern auf
das Erleben und die Reaktionen auf die
Erkrankung
Sorgeparadigma statt
Heilungsparadigma
Hauptaufgabe der Pflege ist der Erhalt
des Personseins (Kitwood)
Praktischer Umgang
(nach: Schwerdt & Tschainer 2002, 268 ff.)
Statt „störendes“ besser „herausforderndes
Verhalten“
Statt permanenter Korrektur stärkerer Einblick
in subjektive Befindlichkeit und Vertrauensbasis
Gratwanderung zwischen Zulassen und Lenken
Umsichtiger Schutz und sorgfältige Aufsicht
Eine kleine Übung
Ziel: Mögliche Ursachen und Gründe
für herausforderndes Verhalten
erkennen
Einige Probleme
„Er stellt ständig dieselbe Frage“
„Sie sagt Dinge, die einfach nicht
wahr sind“
„Er schreit mich an und wird wütend“
Der erste Schritt: Warum …
Gibt es Anzeichen einer körperlichen
Erkrankung?
Vitalfunktionen, Darmtätigkeit, Urin,
Blutzucker, Medikamente
Notwendigkeit einer ärztlichen
Untersuchung im Vorfeld der Demenz/
neurologisch abgeklärte Demenzdiagnostik
Was könnte dahinter stecken?
Fragen werden wiederholt – z.B. weil:
Die Antwort vergessen wurde
Ein imaginäres Bild sich immer und immer im
Kopf herumdreht und als Frage formuliert wird
Die Frage selbst vergessen wurde
Was könnte dahinter stecken?
Offensichtlich falsche Dinge werden
behauptet, z.B. weil:
Konzepte und Bilder im Kopf sich vermischen,
für den Betroffenen undeutlich werden, die Zeit
nicht mehr richtig strukturiert wird.
Was könnte dahinter stecken?
Schreien und aggressives Verhalten,
z.B. weil:
Die Situation vom Betroffenen falsch beurteilt
und verkannt wird
Logische Denkprozesse nicht funktionieren, die
Perspektive der anderen nicht verstanden wird
Zeitdruck besteht, weil (pflegende) Angehörige
auch noch mit anderen Dingen beschäftigt sind
Ein Kommunikationsmodell
(Powell 2000)
Schritt A: Vermeide Konfrontation
Menschen mit Demenz ständig auf Fehler hinzuweisen
bringt gar nichts, schafft eher eine schlechte
Atmosphäre. Besser ist eine unverbindliche Reaktion,
z.B. „Ach, wirklich?“ oder „Ich weiß nicht“; Diskussionen
sind zu vermeiden, absichtliche Falschinformationen aber
auch.
Ein Kommunikationsmodell
(Powell 2000)
Schritt B: Handle zweckmäßig
Man kann praktisch handeln, konstruktiv nach
Lösungen suchen.
Ein Kommunikationsmodell
(Powell 2000)
Schritt C: Formuliere die Gefühle
des Klienten, spende Trost (falls
die Person ängstlich und
aufgeregt ist)
Sagen Sie, was Sie glauben, was der Kranke
fühlt; das kann der Person helfen, sich zu
beruhigen
III.
Rahmenempfehlung zum Umgang
bei Menschen mit Demenz
BMG-Rahmenempfehlung (2006)
Bewertung der vorhandenen Literatur
Expertendiskurs
Entwurf: Rahmenempfehlung zum
Umgang mit herausfordernden Verhalten
in der stationären Altenhilfe
Studienlage
Keine eindeutigen Ergebnisse über
Wirkungen bestimmter Maßnahmen
Studien zu multisensorischen
Interventionen häufig nicht vergleichbar
(Begriffe, Designs, Instrumente)
Fast keine Studien in Deutschland
Empfehlungen:
Pflegerische Maßnehmen
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
Verstehende Diagnostik
Einsatz von Assessments
Validierung als grundsätzliche Haltung
Erinnerungspflege
Berührung, Basale Stimulation, Snoezelen
Bewegungsförderung
Pflegerisches Handeln bei akuten
psychiatrischen Krisen
Trotz unbefriedigender
Forschungslage gilt:
Diese Verfahren haben einen positiven
Einfluss auf Gefühle, Zufriedenheit,
Wohlbefinden, letztlich das Verhalten der
Menschen mit Demenz!
Empfehlung 1:
Verstehende Diagnostik
Perspektive des Menschen mit Demenz im
Mittelpunkt
Nutzung vielfältiger erklärender Aspekte
(Strukturmodell)
Regelmäßige Fallbesprechungen
(interdisziplinär)
Einbeziehung von Menschen mit Demenz
und ihrer Angehörigen
Fallbeispiel
Frau A.
Bedürfnisorientiertes
Verhaltensmodell bei Demenz
(Kolanowski 1999)
Hintergrundfaktoren
•Motorik
(Kontrakturen, Skelettmuskulatur
Atrophiert)
•Sprache
(Spricht nicht mehr)
•Sensorik
(reagiert nicht auf Licht und
Sinnesreize, grauer Star)
•Demographie
(83 Jahre, verwitwet,
war Opernsängerin,
hat Angehörige)
Nahe Faktoren
•Physiologische Bedürfnisse
(Geräusche und Töne, wirkt
unmutig )
•Psychosoziale Bedürfnisse
(Frau A. sucht Kontakt)
•Physikalische Umgebung
(2 Std. am Vormittag/ Nachmittag
Im Gemeinschaftsraum, 2-Bett-Zi.)
•Soziale Umgebung
Besuch durch Tochter (4x wö. f.
1,5 Std.)
Fallbeispiel
Beschreibung des Verhaltens „Schreien“
Verstehenshypothese zum Verhalten
Pflegeziele und Pflegemaßnahmen
Fazit
Verstehende Diagnostik führt zu einem
biographieorientierten Verständnis des
Verhaltens
Das NDB-Modell bietet eine Strukturhilfe
zur „Erklärung“ des Verhaltens
Statt Schreien - Singen
Notwendig sind …
(vgl. Bartholomeycik 2010)
Raum und Zeit für Fallbesprechungen
Anerkennung von Verhaltensweisen, die
zur Lebensqualität von Menschen mit
Demenz gehören
Lösungen für die Frage, wie bei
Pflegenden und Angehörigen Empathie
geweckt werden kann
Weiterhin ist wichtig …
Flexible Gestaltung der Alltags- und
Pflegeroutinen
Nutzen des Milieuansatzes
Bewegungsraum und Bewegungsfreiheit
Und darüber hinaus …
1. Gesellschaftlichen Dialog über die
Verantwortung
2. Stärkere Beteiligung von Kommunen
(Demenzfreundliche Kommunen)
3. Demenz in der Akutversorgung
(Krankenhaus)
Und …
4. Entlassungsmanagement (mit
Einbindung der Angehörigen)
5. Vernetzung von Haus-und Fachärzten
und Pflegekräften
6. Spezifische Gestaltung der integrierten
Versorgung(Akutversorgung,
Rehabilitation, Pflege)
Das bedeutet:
Eine neue Kultur im Umgang
mit der Demenz
IV.
Abschließende Bemerkungen
Förstl: „Demenzen in Theorie und
Praxis“ (2005)
Der soziale Austausch wurde bei unseren
Vorfahren, noch vor Entstehung der
Sprache, durch gegenseitige Fellpflege
vorgenommen („social grooming“)
Die Kultur einer Gesellschaft zeigt sich
daran, wie wohl sie dem Grundbedürfnis
nach Nähe der Artgenossen dann noch
entsprechen kann, wenn das Fell dünner
wird
Schlussbemerkungen
Demenz ist eine kulturelle
Herausforderung!
Leistungsgesellschaft und
Verantwortung für die Schwächsten
Pflege in geteilter Verantwortung
darauf kommt es an!