Ansehen - Berliner Dom

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Ansehen - Berliner Dom
Oberpfarr - und Domkirche zu Berlin
Prof. Dr. Dorothea Wendebourg, Theologische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin
Sonntag Trinitatis, 30. Mai 2010, 10 Uhr
Predigt über Matthäus 5,1-12
Liebe Gemeinde,
die Seligpreisungen, die ich gerade verlesen habe, gehören zu den großen Worten des Christentums.
Wenige andere sind so bekannt, wenige werden so oft zitiert wie sie. Hier in unserem Dom sind sie
sogar in goldenen Lettern der Kuppel eingeschrieben und bilden, über uns allen schwebend, gleichsam
das Motto, das über unserem christlichen Leben steht.
Aber sind wir uns eigentlich bewusst, was wir da so gern hören und zitieren? Sind die Seligpreisungen
tatsächlich solch goldene Worte, wie sie dort über uns prangen, sind sie so eingängig und
herzerwärmend, wie sie tönen? Welche Anstößigkeit, ja, welches Dynamit in ihnen steckt, lehrt uns der
Philosoph Friedrich Nietzsche, der vor 120 Jahren eine rasende Abrechnung mit der Reich-GottesBotschaft des Neuen Testaments vorbrachte. Was das denn für Menschen seien, die da selig gepriesen
werden, was für ein Gottesreich, das ihnen winken soll? „Ein Hospital-, ein souterrain-Reich, ein GhettoReich.“ Ein Reich, in dem „die Elenden allein die Guten, die Leidenden, Entbehrenden, Kranken,
Hässlichen die Gottseligen“ sind, die Edlen und Starken hingegen die Bösen und Unseligen. Ein Reich
der Sklavenmoral, in dem das Ressentiment gegen Kraft und Stärke, gegen Glück und Stolz, ja, gegen
das Leben selbst zur Maxime geworden ist. Das Reich eines Gottes, der selber nichts anderes ist als ein
„Arme-Leute-Gott, ein Sünder-Gott, ein Krankengott“. Gegen solch ein Programm der Zu-kurzGekommenen muss nach Nietzsche ein Programm der Vitalität und des Selbstbewusstsein treten, ein
Programm, das nicht den sanftmütigen, leidenden, gnadenbedürftigen, sondern den stolzen, gesunden,
starken Menschen seligpreist und das einen herablassenden Gnadengott nicht nötig hat.
Bevor wir fragen, was von unserem Predigttext her zu diesen flammenden Tiraden zu sagen ist, muss
ehrlich eingeräumt werden: Der zum Antichristen gewordene sächsische Pfarrerssohn hatte jedenfalls
auch Formen von Christentum im Auge, die in der Tat abstoßend und lebensfeindlich sind: eine bigotte
Demut, in der sich frommer Hochmut verbirgt, eine penetrante Verliebtheit in die Opferrolle, die nur
die Angst vor Verantwortung und Konflikt kaschiert. Es steht uns wohl an, Nietzsches Kritik an den
Seligpreisungen auch als Spiegel zu betrachten, in dem Deformationen und Gefahren unseres religiösen
Lebens sichtbar werden. Aber spiegeln sich darin die Seligpreisungen selbst? Schauen wir sie uns an!
Fragen wir, welche Menschen hier selig gepriesen werden, und was es heißt, dass diese Menschen selig
gepriesen werden!
„Selig sind, die da geistlich arm sind.“ Wörtlich übersetzt: „Selig sind die Armen im Geist.“ „Arme im
Geist“ – wer ist damit gemeint? Spricht Jesus von mäßig intelligenten, von geistig minderbemittelten
Menschen? So könnte man den Satz verstehen, wenn mit dem Geist, an dem die hier Gepriesenen arm
sein sollen, ihr eigener Geist, ihr Denkvermögen gemeint wäre. Aber andere Texte aus derselben Zeit, in
denen sich dieselbe Formulierung findet, zeigen: Gemeint ist nicht die menschliche Intelligenz, sondern
eine Haltung gegenüber Gott. Darum trifft die uns geläufige Übersetzung „geistlich arm“ den Sinn
genau, denn unser Wort „geistlich“ hat ja einen religiösen Sinn: Es geht um eine religiöse Einstellung.
Um die Einstellung, die sich auf nichts Eigenes stützt, die alles von Gott erwartet. Die geistlich Armen
sind also Menschen, deren Herz der leeren offenen Hand des Bettlers gleicht, offen für Gott, damit er
seine Gabe in diese Herzhand lege. „Wir sind Bettler, das ist wahr“, so lauteten Martin Luthers letzte
Worte auf dem Sterbebett. Genau das ist gemeint.
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Wonach aber halten diese selig gepriesenen Bettler Ausschau, was erwarten sie von Gott? Alles. Alles,
was ihr Leben gut, heil und froh macht. Was die Welt zu einem guten, heilen und frohen Ort macht.
Einem Ort, aus dem Schuld und Not, Tod und Leid vertrieben sind. Die Bibel nennt das: Himmelreich.
Weil es in solchem Kontrast zu unseren irdischen Erfahrungen steht, dass dazu nur das Gegenbild des
Himmels passt. Und sie nennt es: Gottesreich. Weil ein solches Kontrastprogramm nur von Gott selbst
herbeigeführt werden kann. Ja, weil Gott selbst kommen muss, um das Zentrum dieser neuen Welt und
eines jeden Lebens zu sein. Nach solcher neuen, verwandelnden Gottesgegenwart strecken die „geistlich
Armen“ ihr Bettlerherz aus.
Nun sagt, wie wir alle wissen, die Intensität einer Erwartung noch nichts darüber aus, ob das Erwartete
auch eintritt. Jesus aber spricht gerade und nur denen, die nichts tun als mit allen Fasern ihres Herzens
auf Gottes Eingreifen zu warten, zu, sichere Anwärter des Himmelreiches zu sein: „Ihrer ist das
Himmelreich“. Warum gerade und nur ihnen? Weil es zum Wesen des Himmelreiches gehört, dass es
ganz alleine kommt – „Dein Reich komme!“, wie es im Vaterunser schlicht und einfach heißt. Es kommt
so, dass Gott selbst es herbeiführt, frei und ungenötigt, wann und wie er es beschließt. Und so kommt
es zu denen, die sich ganz auf diese Abhängigkeit einlassen, ganz Hoffnung und Vertrauen sind. Darum
preist Jesus diejenigen selig, die „geistlich arm sind.“
Liebe Gemeinde, die Seligpreisung der geistlich Armen ist nicht nur die erste, sondern sie legt den
Grund für alle weiteren. Alles, was folgt, ist in der Perspektive dieses ersten Satzes zu sehen. Alle, die
anschließend selig gepriesen werden, sind Menschen, deren Lebenshaltung eben so aussieht wie die der
Herzens-Bettler vom Beginn. Sie alle leben mit derselben zu Gott ausgestreckten hohlen Herzenshand.
Und ihnen allen sagt Jesus zu, dass sie gerade so Gottes Nähe erfahren werden. Selig, die „reinen
Herzens sind“ – mit ungeteilter Sehnsucht nur auf Gott gerichtet: Ihnen wird Gott von Angesicht zu
Angesicht begegnen. Selig „die Leidtragenden“ oder Trauernden – im Schmerz über das Leid, das sie im
eigenen Leben und in der Welt ringsum erfahren, zutiefst davon niedergedrückt, dass Gott abwesend
scheint: Sie wird Gott selber trösten.
Lassen sich diese drei Seligpreisungen leicht als Entfaltungen der ersten verstehen, scheint das bei den
übrigen nicht so einfach zu sein. Geht es doch in ihnen nicht um eine Haltung gegenüber Gott, sondern
um ein Verhalten gegenüber den Mitmenschen: Selig gepriesen werden die, die ihrem Nächsten
„sanftmütig“ begegnen, die Barmherzigkeit üben, die Frieden stiften, die nach Gerechtigkeit hungern
und dürsten, d.h., sich um ein Leben in Gerechtigkeit mühen. Indessen, was wie eine andere Rubrik
aussieht, erweist sich bei näherem Zusehen doch nur als die Kehrseite der Seligpreisungen, die von der
Haltung zu Gott sprechen: Im Mittelpunkt steht, gepriesen wird auch hier wieder das offene,
rückhaltlos offene Herz.
Denn dasselbe Herz, das ganz zu Gott hin ausgestreckt ist – es ist ebenso ausgestreckt hin zum
Nächsten. In zugewandter Freundlichkeit, wie wir für Sanftmut auch sagen könnten, in tätiger
Barmherzigkeit, im Bemühen, dem anderen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, im Einsatz für den
Frieden. Zusammengefasst in dem Wort, das die Evangelien für all das sonst meist zu verwenden
pflegen: in der Hingabe der Liebe. Die doppelte Bewegung des Herzens aus sich selbst hinaus hat Martin
Luther einmal als ein „Über-sich-Fahren“ und ein „Unter-sich-Fahren“ beschrieben, über sich zu Gott und
unter sich zum Nächsten. Eben diese Doppelbewegung macht das Leben des Christenmenschen aus. Es
ist die Doppelbewegung des Glaubens und der Liebe.
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„Selig sind, die da geistlich arm sind.“ „Selig sind, die da Leid tragen“. „Selig sind die Barmherzigen.“
Usf. Neunmal derselbe Ruf „Selig sind…“. Manche Übersetzer schreiben lieber „Glücklich sind…“. Denn
„selig“ sei ein Wort für den Grabstein und klinge allzu sehr nach dem Jenseits, während Jesus doch
gegenwärtige Menschen im Auge hat. In der Tat, es heißt, dass die geistlich Armen, Leidtragenden,
Barmherzigen selig sind, nicht erst werden. Aber das ist doch nur der halbe Befund. Denn die Bilder, in
denen beschrieben wird, worin die Seligkeit bestehen soll, sind ins Futur gesetzt: „Sie werden getröstet
werden, Barmherzigkeit erlangen, Gott schauen“ usf. Heißt das, Jesus preist gegenwärtige Zeitgenossen
selig, weil sie eines Tages, nach ihrem Tod die große Wende, das heilbringende Kommen Gottes erleben
sollen?
Die Antwort auf diese Frage gibt nicht die Grammatik. Die Antwort gibt der Blick auf den, der die
Seligpreisungen spricht. Denn wer ist es, der hier Trost verheißt, Barmherzigkeit verspricht, Sättigung
in Aussicht stellt? Es ist kein anderer als der, von dem die Evangelien das alles schon erzählen: dass er
Trauernde tröstete, sich der an Leib und Seele Leidenden erbarmte, Hungernde speiste. Wer ist es, der
den geistlich Armen das Gottesreich verheißt? Derselbe, der rief: „Das Himmelreich ist nahe
herbeigekommen.“ Der, in dessen Reden und Handeln die neue Gottesherrschaft schon anbrach: „Das
Gottesreich ist mitten unter euch.“ Worte, die an seine Zeitgenossen damals auf Erden gerichtet waren.
Aber ebenso Worte, die an uns gerichtet sind, uns und die Christen aller Zeiten und Orte. Wo Christus
uns mit seinem Zuspruch tröstet, vergibt und fröhlich macht, wo er mit der Taufe neues Leben schenkt
und uns mit dem Abendmahl immer wieder in die Gemeinschaft mit sich holt – da wird auch für uns
Bettler hier und heute Wirklichkeit: „Selig seid ihr, denn euch gehört das Himmelreich.“
Es ist noch ein Himmelreich auf Erden, ein Himmelreich inmitten dieser wenig himmlischen Welt. Jesus
hat ja nur Einzelne getröstet, geheilt und gespeist, un-endlich viele andere nicht. Und doch – die, die
ihm begegneten und seine Zuwendung erlebten, erfuhren darin den Anfang einer neuen, heilen, von
Gottes Gegenwart erfüllten Welt. Christi Wort und Sakrament heben uns nicht heraus aus den irdischen
Realitäten mit Leid, Schuld und Tod. Und doch – wo sie unser Bettlerherz treffen und füllen, eröffnen
sie uns ein Leben der Zuversicht und Freude, das von Gottes Kraft getragen wird. Ein Leben, das sich
mitteilen will im Dienst der Liebe, sich um Barmherzigkeit, Frieden und Gerechtigkeit müht. Und ein
Leben, das ein Vorschein jener Welt ist, in der Gott, wie es die Offenbarung des Johannes sagt, alle
Trauernden trösten, „aller Tränen abwischen“ wird.
Ist das Ganze nun also ein Programm der Sklavenmoral, liebe Gemeinde, ein Lebensentwurf für
Schwache und Habenichtse? Ein Lebensentwurf für Schwache und Habenichtse ist die Bergpredigt in
der Tat. Aber nicht so, dass damit eine Gruppe von Menschen angesprochen wäre, der eine andere, die
der Starken und Reichen, gegenüberstünde. Sondern die Seligpreisung der geistlich Armen, sie ist das
Programm für uns alle. Das Urteil „Wir sind Bettler“ gilt für Reiche und Arme, Mächtige und Machtlose,
Gelehrte und Analphabeten gleichermaßen. Dass Gott ihnen nahekommt, kann keiner von ihnen
machen, mit Wohlstand, Einfluss oder Bildung bewirken – die Gegenwart Gottes können wir alle nur
geschenkt bekommen. Deshalb sitzen wir hier, so unterschiedlich wir sind, alle zusammen; lassen wir
uns gemeinsam das ausgestreckte Herz vom Wort der Liebe Christi und dann im Abendmahl die
ausgestreckte Hand von der Gabe seines Leibes füllen. Und deshalb strecken wir dasselbe Herz und
dieselbe Hand auch nach rechts und links, um den leiblich Armen, Benachteiligten und Leidenden zu
geben, zu helfen und sie zu trösten – in der Kirche und darüber hinaus.
Sklavenseelen, Menschen ohne Selbstbewusstsein sind solche Bettler freilich nicht. Im Gegenteil, solche
Bettler haben das solideste Selbstbewusstsein, das es geben kann: ein Selbstbewusstsein, das sich nicht
auf das schwankende und brüchige Selbst, sondern auf die Gegenwart des verlässlichen Gottes stützt.
Deshalb kann solches Selbstbewusstsein auch halten, wo die glücklichen Umstände und Erfolge uns
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versagt bleiben oder vergehen, auf die sich das Selbstbewusstsein in unserer Gesellschaft herkömmlich
stützt, wo wir nicht oder nicht mehr mit Geld und Anerkennung gesegnet sind, wo die Attraktivität
nachlässt, die Leistungskraft schwindet.
Ja, christliches Selbstbewusstsein vermag sogar durchzuhalten, wo der Glaube in die Verfolgung führt.
Dem gilt die letzte Seligpreisung, die ich bislang übergangen habe. Sie ist dem Evangelisten so wichtig
ist, dass er sie mit eigenen Worten noch einmal wiederholt: „Selig seid ihr, wenn euch die Menschen
um meinetwillen schmähen und verfolgen.“ Um Christi willen schikaniert, benachteiligt, verfolgt zu
werden, scheint uns sehr weit weg, ein bedrückendes Szenario aus der Vergangenheit oder aus anderen
Teilen der Welt. Dass das Bekenntnis zu Christus aber auch bei uns hier und heute teuer sein kann,
stellen unsere neugetauften Gemeindeglieder uns vor Augen – und zeigen damit die bleibende
Aktualität und die bleibende Kraft der letzten Seligpreisung ganz handgreiflich an.
Liebe Gemeinde, es gibt kein überzeugenderes Vorbild für das Selbstbewusstsein der geistlich Armen als
den, der sie seligpries, Jesus selber. Der sich mit schwachen Kindern auf eine Stufe stellte – und mit
Macht die Händler aus dem Tempel trieb; der sich wehrlos schlagen ließ – und dem kaiserlichen
Statthalter stolz die Antwort verweigerte. Und der uns gleich im Sakrament gebrochenen Leibes
begegnet – und sich doch den Huldigungsruf des Hosiannas gefallen läßt.
Amen.
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