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Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 1 von 101 WISSENSCHAFTLICHE HAUSARBEIT Erste Staatsprüfung für das Lehramt an Realschulen Thema: Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen vorgelegt von Yvonne Brenner eingereicht bei der Pädagogischen Hochschule Heidelberg Referent: Prof. Dr. Wolf Brixner Koreferent: Dr. phil. Franz Josef Geider Heidelberg, den 20. Juli 2002 Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 2 von 101 Inhaltsverzeichnis Vorwort S. 4 1. Nichts ist unmöglich – Einleitung zum Thema S. 6 2. Auf diese Steine können sie bauen – der Prozess der S. 8 Persönlichkeitsentwicklung 2.1. Das Säuglingsalter S. 9 2.2 Das Kleinkindalter S. 10 2.3. Das Großkindalter S. 11 2.4 Das Jugendalter S. 11 2.4.1. Entwicklung als Stufenfolge nach Gustav Brandt 3. Vertrauen ist der Anfang von allem – S. 12 S. 15 Identitätstheorien der Forschung 3.1. Freud und die Tiefenpsychologie S. 15 3.2. Erikson und das Entwicklungsmodell der Persönlichkeit sowie die Phasen der Identitätsentwicklung S. 19 3.3. Die Selbsttheorie nach Rogers S. 27 3.4. Havighurst und seine Entwicklungsaufgaben S. 29 4. Just be – geschlechtsspezifische Sozialisation in unserer Gesellschaft S. 32 4.1. Ergebnisse kulturvergleichender, psychologischer und biologischer Forschung S. 32 4. 2. Psychologische Basistheorien: S. 32 4.2.1. Die Lerntheorie S. 32 4.2.2. Der Erwerb der Geschlechtsidentität aus der Sicht der kognitiven Entwicklungspsychologie S. 33 4.3. Aspekte geschlechtsspezifischer Sozialisation S. 34 4.4. Frühkindliche Entwicklung und Geschlechtsrollen S. 35 4.5. Wahrnehmung und Geschlecht als Soziale Rolle S. 37 Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 3 von 101 5. Die Freiheit nehm ich mir – die Suche nach der Identität S. 40 5.1. Identitätsaufbau S. 41 5.1.1. Name, Daten, Fakten – die gespeicherte Identität S. 41 5.1.2. Optisches, visuelles Bild – die repräsentative Identität S. 41 5.1.3. Charaktereigenschaften – die „versteckte“ Identität S. 41 5.1.4. Soziales Umfeld – die anerzogene Identität S. 42 5.1.5. Tiefenstruktur – die durch Gene vorbestimmte Identität S. 42 5.1.6. Grafik zum Identitätsaufbau S. 44 6. Entdecke die Möglichkeiten – Frau werden, Frau sein, Frau bleiben ↔ weibliche Identität S. 46 6.1. Frauenbild heute S. 46 6.2. Das Frauenbild im geschichtlichen Vergleich S. 46 6.3. Die Entwicklung des Frauenbildes im letzten Jahrhundert S. 48 6.3.1. Die Emanzipation als Frauenbewegung S. 49 6.3.2. Frauen im Beruf, Frauen in der Politik, Frauen in der Familie S. 49 6.3.3. Alice Schwarzer, die Feministinnen und die Homosexualität 6.3.4. Frau und Mutter als Aufgabe und Lebenswerk S. 51 S. 52 6.3.5. Der Willen, die Möglichkeiten und die Gene als Grundlage der Identitätsentwicklung S. 52 6.3.6. Girl-Power und Partyluder S. 56 6.3.7. „Erlaubt ist, was Spaß macht!“ S. 57 6.3.8. Idole, Vorbilder und der eigene Weg S. 57 6.4. Eriksons Modell und die Identitätsentwicklung heute S. 59 6.6. Ausblick, Rückblick oder einfach Sammlung der Tatsachen S. 64 7. Mich muss man erlebt haben – Biographien jugendlicher S. 65 Realschülerinnen 7.1. Kurzportraits 7.1.1. Anja 14, 11 Jahre S. 66 S. 66 „Das wichtigste in meinem Leben ist mein Pferd!“ 7.1.2. Elena 14, 9 Jahre S. 67 „ Ich würde sehr gerne Schauspielerin werden, aber mir fehlt das Talent dazu.“ Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 4 von 101 7.1.3. Stella 15, 4 Jahre S. 69 „ Meine Freunde beeinflussen mich gar nicht. Ich mache immer, was ich will!“ 7.1.4. Susanne 15, 8 Jahre S. 70 „Mein ältester Bruder ist mein Lieblingsbruder, er fährt mich manchmal ins Kino.“ 7.1.5. Hanna 15, 4 Jahre S. 71 „Punks sind cool, die geben nichts auf die Meinung von anderen.“ 7. 2. Auswertung der Biographien im Bezug auf die Entwicklung der Identität S. 72 8. Geht nicht, gibt’s nicht - Resümee des Gesagten und Ausblick auf die weibliche Identitätsbildung heute S. 76 9. Literaturverzeichnis S. 79 10. Anhang S. 83 Materialband wird gesondert abgegeben. Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 5 von 101 Vorwort Wer bin ich? Wer bin ich? Sie sagen mir oft, ich träte aus meiner Zelle gelassen und heiter und fest wie ein Gutsherr aus seinem Schloss. Wer bin ich? Sie sagen mir oft, ich spräche mit meinen Bewachern freundlich und klar, als hätte ich zu gebieten. Wer bin ich? Sie sagen mir auch, ich trüge die Tage des Unglücks gleichmütig, lächelnd und stolz, wie einer, der Siegen gewohnt ist. Bin ich wirklich das, was andere von mir sagen? Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß? Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig, ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle, hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen, dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe, zitternd vor Zorn über Willkür und kleinlichste Kränkung, umgetrieben vom Warten auf große Dinge, ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne, müde und leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen, matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen. Wer bin ich? Der oder jener? Bin ich heute dieser und morgen ein anderer? Bin ich beides zugleich? Vor Menschen ein Heuchler und vor mir selbst ein verächtlich wehleidiger Schwächling? Oder gleicht, was in mir noch ist, dem geschlagenen Heer, das in Unordnung weicht vor schon gewonnenem Sieg? Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott. Wer bin ich, du kennst mich, dein bin ich Gott. Dietrich Bonhoefer Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 6 von 101 Dieses Gedicht von Bonhoefer ist mir als eines der ersten Schriftstücke zum Thema Identität in die Hände gekommen. Es passt nicht ganz zum Thema meiner Arbeit und dennoch wollte ich es einbringen, weil ich es sehr schön finde und es für mich die Differenz zwischen Selbstbild und Fremdbild sehr deutlich widerspiegelt. In den letzten Monaten habe ich mich nun sehr viel mit dem Thema der Identität und dadurch natürlich auch meiner individuellen Identität auseinandergesetzt. Ich kann nicht genau sagen, ob ich jetzt mehr über mich weiß oder nicht. Sicher ist aber, das sich mein Blickwinkel teilweise verändert hat und es gibt vieles, was mich beschäftigt hat und auch weiterhin beschäftigen wird. Mein Interesse an dem Thema wurde geweckt durch die, wie in meiner Arbeit hoffentlich zu erkennende Tatsache, dass der Mensch eigentlich immer auf der Suche nach seiner Identität ist, es keine klare Antwort gibt und es dadurch alles richtig spannend wird. Mein Dank gilt all denen, die mich während dieser „doppelten Identitätssuche“ begleitet, unterstützt und oftmals auch „ertragen“ haben. Yvonne, die mir mit Kuchen, Kaffee, offenem Ohr und der Korrektur zur Seite stand; Uli, der mit seinem Können und Talent meine Idee in eine tolle Grafik umsetzte; der Realschule Pfedelbach, besonders Herrn Jakob und den Schülerinnen, die ich interviewen durfte; meiner Mitbewohnerin, die mich mehr als einmal genervt ertragen musste; Herrn Brixner für die ‚direkten’ Worte; bestimmten Personen, weil sie mir sagten, das sie an mich glauben und all denen die mir immer wieder zuhörten und mich motivierten. Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 7 von 101 1. Nichts ist unmöglich – Einleitung zum Thema Wer sind sie eigentlich wirklich? von Claus Beckenbach Wenn sie wirklich ganz sich selber wären, also nicht die Verkäuferin Müller, die Ärztin Meier oder der Beamte Schmitt und auch kein Arbeitsloser, der versuchen muss, dauernd einen guten Eindruck zu machen, wer wären sie dann? Sind sie wirklich die Person, von der alle sagen „typisch Fritz, typisch Ilse“? Angenommen, wir melden uns morgen bei Ihnen, um ihre Lebensgeschichte zu schreiben. Dann wissen sie im Voraus, dass Sie das nicht sein werden. Sie, der Bundestagsabgeordnete, der eigentlich lieber Rosen züchtet oder Sie, die Redakteurin, die viel lieber Topflappen häkelt als schreibt. Alle müssen Rücksicht nehmen, müssen diplomatisch sein, müssen vorsichtig sein, müssen sich ihren Vorgesetzten anders darstellen, als sie wirklich sind. Denken sie einmal an den Bundeskanzler, an den Bundestagspräsidenten oder an Ihren Abgeordneten. Wie sind diese Leute wirklich? Wie sind sie, wenn sie wirklich sich selbst wären. Manchmal schimmert sie ja schon durch, die Erinnerung an uns selbst. Und die Frage taucht auf: Sind wir allesamt Lügner? Lügen wir zum Selbstzweck? Wer sind wir wirklich, wenn wir uns selbst wären? Wollen und können wir uns selber sein? Sind wir wirklich nur die Kopie von der Kopie von der Kopie? Also gut. Wer sind Sie wirklich? (Quelle: Wochen –Kurier Heidelberg, 03.07.2002) Vor kurzem hatte ich ein Gespräch mit einem entfernt Bekannten der mir sagte, dass ich jemand anders sein wolle als die, die ich bin. Diese Aussage machte mich etwas nachdenklich. Nicht, weil ich dieser Person Recht geben möchte, sondern weil ich mich dadurch fragte, wer ich den nun eigentlich bin und bedingt daraus auch, wie ich bin und wie mich andere sehen. In dem oben angeführten Zeitungsausschnitt ist es, nach meiner Meinung, schön zu erkennen, dass man vielerlei „Gesichter“ hat und trotzdem “Ich“ sein kann bzw. auch ist. Individualität bekommt man von Geburt an mit auf den Lebensweg, das ist nichts, was sich entwickelt. Niemand sonst auf der Welt besitzt genau die gleiche Individualität wie eine Person. Natürlich kann man jetzt sagen, dass es sich mit der Identität ebenso verhält, doch das sehe ich anders. Identität entwickelt sich, sie entfaltet sich sogar. Eine Identität, über den Personalausweis hinaus, braucht einen langen, lebenslangen Prozess. Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 8 von 101 Es gibt in der Literatur eine große Anzahl verschiedener Formen und Arte der Identität. Nur um ein paar Beispiele zu nennen: Die narrative Identität: Hier ist die Identität die erzählende Antwort auf die Frage: „Wer bin ich?“ zu verstehen. Es ist der soziale Herstellungsprozess jener Bilder und Konzepte, mit denen Menschen sich eine Vorstellung von ihrer Wirklichkeit und von sich selbst machen. (Vgl. Lexikon der Psychologie) Die nationale Identität Stark affektiv besetzte Identifikation mit Werten der eigenen Nation. (Vgl. Lexikon der Psychologie) Die Offline und Online Identität Die Online Identität ist die Selbstdarstellung innerhalb einer virtuellen Realität. Fern ab von der Face-to-Face Kommunikation stellt man sich anders dar (meist verbal) als man wirklich ist. Hierbei kann es um Provokation, Manipulation, Spiel oder Selbstexploration gehen. Die Offline Identität wiederum ist diejenige, im Zusammenhang mit der Online, welche die „übliche“ Identität kennzeichnet. (Vgl. Lexikon der Psychologie) Nach der subjektiven Identität fragt man „Wie bin ich?“, nach der objektiven Identität mit „Wie möchte ich sein?“ und nach der zugeschriebenen Identität mit „Für wen hält man mich?“. (Vgl. Referat M. Brenner, „Identität - was ist das?“) Die Bildung von Identität erfolgt in Abhängigkeit von der Erziehung des Individuums, an seiner Orientierung an anderen (Eltern, Freunden, Stars, Religionen, Politik, usw.) und der durch Gene vorbestimmten Tiefenstruktur. Auf jeden Fall entwickelt sich die Identität durch verschiedene Ereignisse und Umstände individuell. Mit der Frage, in wie weit Identität angeboren bzw. anerzogen ist, werde ich mich in den folgenden Kapiteln befassen. Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 9 von 101 Eine eindeutige und klare Antwort gibt es in der Literatur (noch) nicht, doch einen Weg, einiges besser zu verstehen. Ich bin nicht, was ich sein sollte, ich bin nicht, was ich sein werde und ich bin auch nicht mehr, was ich war. (Erik H. Erikson) 2. Auf diese Steine können sie bauen – der Prozess der Persönlichkeitsentwicklung Die Entwicklungspsychologie der vergangenen Jahre stellte die Frage nach den manigfachen Bedingungen, den Faktoren und Variablen, die an einem menschlichen Entwicklungsprozess beteiligt sind und nach den möglichen Gesetzmäßigkeiten, denen er unterworfen ist. (Vgl. G.Brandt 1975, S.153) Die Entwicklung der Persönlichkeit ist eben, anders als bei der biologischen Entwicklung, nicht nur eine Entfaltung von vorgegebenen Erbanlagen. Es handelt sich um einen Prozess von Reifungs - und Lernvorgängen. Lange war in der deutschen Entwicklungspsychologie der Glaube verbreitet, Persönlichkeitsentwicklung vollziehe sich analog biologischer Wachstums - und Reifungsvorgängen. Heute weiß man, dass diese Vorgänge nur eine bescheidenere Rolle spielen wobei sie natürlich für die Persönlichkeitsentwicklung von Bedeutung sind. So ist zum Beispiel die im ersten Lebensjahr erfolgreiche Reifung der Markscheide im menschlichen Hirn die Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit des Endhirns und damit für die Einleitung von Kontroll- , Denk- und Lernprozessen. Und die Reifung der Hypophyse während der Pubertät, verbunden mit dem Wachstum der Geschlechtsorgane, bildet die Voraussetzung für die Entwicklung oder Steigerung drängender sexueller Bedürfnisse. Diese und viele andere Entwicklungen zeigen, dass sehr wohl die biologische Entwicklung unabdingbar für die Persönlichkeitsentwicklung ist. Analog verlaufen sie aber sicher nicht. Die sogenannte seelische - geistige Reife stellt noch mal eine andere Art von Reife dar. Es handelt sich hierbei um eine gelungene Sozialisation und eine damit erreichte seelisch - geistige Mündigkeit. (Vgl. Brandt 1975, S.154) Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 10 von 101 Brandt geht davon aus, dass diese Reife bzw. Mündigkeit, anders als ein biologischer Reifungsprozess, nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt erreicht wird - evtl. sogar gar nicht. Eine vielseitige Betrachtungsweise für das Geschehen der Persönlichkeitsentwicklung ist also das 'A' und 'O'. Wie die Entfaltung der Intelligenz nach der Theorie von Jean Piaget (1933) nach dem Gesetz der Differenzierung verläuft, so verläuft auch die seelisch - geistige Entwicklung mit zunehmender Differenzierung. Aus dem zunächst dumpfen und diffusen Erleben des neugeborenen Säuglings entwickeln sich allmählich einzelne, auf bestimmte Objekte hin orientierte Empfindungen. Diese Empfindungen werden wiederum zu Bausteinen komplexer Wahrnehmung. (Vgl. Brandt 1975, S. 155) Dies wiederum ist nötig, um schließlich ein differenziertes 'Weltbild' zu bekommen. Im Laufe seiner Entwicklung fixiert sich der Mensch auf bestimmte Gewohnheiten, Attitüden und Urteile. 2.1. Das Säuglingsalter Der neugeborene Säugling besitzt noch kein Ich und kein Über-Ich, er lebt vollkommen unbewusst und Es getrieben. (siehe Freud) Solange er seine Umwelt nicht "be"-greifen kann, endet sein Dasein an seinen leiblichen Grenzen. In dieser Zeit - bis ca. zum Ende des 1. Lebensjahres - ist der junge Mensch vollkommen auf Zuwendung aus seiner Umwelt angewiesen. Langsam bekommt der Säugling Kontrolle über seinen Körper. Er beginnt zu schauen (ca. ab 8. Woche), dann zu greifen (ca. ab 5. Monat) und dann zu kriechen (ca. ab 8. Monat). Gegen Ende des ersten Lebensjahres werden auch bereits die Ansätze der geistig - seelischen Schicht deutlich ⇒ Fähigkeit zum Werkzeugdenken. (Vgl. Brandt 1975, S.104) Die Krisenpunkte in diesem Alter können darin liegen, dass seine körperlichen und seelischen Bedürfnisse nicht befriedigt werden. Wird das Urvertrauen nicht erfüllt, kann es zu Misstrauen (siehe auch Erikson) und Objektverlust kommen. Die Welt wird ganz leer, grau, kalt und lieblos. Ein bekanntes Phänomen dafür, welches sich besonders bei Heimkindern beobachten lässt, ist der Hospitalismus. Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 11 von 101 2.2 Das Kleinkindalter Darunter fällt die Lebenszeit zwischen dem 1. und ca. 6. Lebensjahr. In dieser Zeit schreitet die motorische Entwicklung des Kindes rasch voran. Die Hände werden vorwiegend eingesetzt, um den Lebensraum zu "be"-greifen und zu erobern. Eine weitere wichtige Erfahrung in diesem Stadium ist die willentliche Kontrolle über die Schließmuskulatur. (Vergleiche hierzu auch Freud und Erikson). Zu dieser Zeit ist das Kind noch vollkommen subjektbezogen und kann Kausalzusammenhänge nicht erkennen. Das Kleinkind glaubt noch an die Allmacht der Gedanken und traut ihnen gute und böse Wirkungen zu. (Magisches Denken -> Märchen, imaginäre Freunde, usw.) (Vgl. Brandt 1975, S.166) Die wichtigsten Entwicklungsschritte in dieser Entwicklungsstufe sind folgende: • Spracherwerb • Entwicklung begrifflichen Denkens • Eroberung des Raumes und der Dingwelt • Entwicklung eines Ich - Bewusstseins • Entwicklung des Willens • Übernahme von Rollen • Befähigung zu Gruppenkontakten • Fähigkeit zu "Ernstspielen" und konstruktiven Spielen • psychosexuelle Frühprägung durch Mutter- und Vaterimago und erste sexuelle Neugierfragen (Vgl. Brandt 1975, S. 168) Im Kleinkindalter lernt das Kind sich allmählich als Subjekt zu begreifen und eine eigene Willensbildung aufzubauen. Für Erikson ist dies die Zeit, in der das Kind lernen muss, auf eigenen Füßen zu stehen. "Wenn ihm dies gelingt, wozu es vielfacher Ermutigung und Bestätigung bedarf, dann entwickelt sich in ihm ein Stück innerer Sicherheit und Selbständigkeit." (Erikson 1973, S. 84) Zu Krisen in diesem Entwicklungsalter kann es weiterhin durch mangelnde Liebe und Aufmerksamkeit kommen. (Was eigentlich ein Leben lang so ist.) Die Autonomieentwicklung ist von weiterer krisengeladener Bedeutung. Werden die Selbstbestimmungswünsche des kleinen Menschen unterdrückt, kommt es zu Selbstbewusstseinsstörungen. Bei Erikson ist dies die Phase: der 'Autonomie gegen Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 12 von 101 Scham und Zweifel'. Einen weiteren wichtigen Punkt übernimmt die Identifikation mit den Rollen der Erwachsenen. Prinzipiell unterstützt das ein positives Grundgefühl, kann aber natürlich auch genau das Gegenteil bewirken. 2.3. Das Großkindalter Es kommt zum 'ersten Gestaltwandel' (W. Zeller in Kühne 1993) auf körperlichem Gebiet. Diese sogenannte Latenzzeit (nach Freud) schafft Platz für einen großen Schub in der geistig - seelischen Entwicklung. Zusammenhänge werden nun eher gesehen und begriffen, die Umwelterfassung wird strukturierter, die Fähigkeit zu Beziehungserfassung kristallisiert sich heraus und eine Wendung von der Subjektsteuerung zur Objektsteuerung ist zu erkennen. (Vgl. Brandt 1975, 175) Auch Freuds Ich gewinnt in dieser Phase zunehmend an Bedeutung. Das Kind ist immer mehr fähig, seine Gefühle und Triebe zu beherrschen und eine realistische Auffassung von der Welt greift Platz. Etwas später im Großkindalter (ca. ab 10 Jahren) beginnt ein Abschnitt, den O. Kroh (in Brandt 1975, S. 176) als 'kritischer Realismus' bezeichnet. Das Kind verfügt nun über eine starke Selbstkontrolle, beginnt Erwachsene zu kritisieren und dadurch kommt es zu Auseinandersetzungen und evtl. auch zu Erziehungsproblemen. Der junge Mensch löst sich allmählich aus der Wert - und Normklammer seiner Familie heraus. Bei Erikson erhielt diese Phase den Untertitel "Ich bin, was ich lerne." - nicht umsonst wird diese Zeit zwischen 6 und 12 Jahren als „Lernzeit“ bezeichnet. Leistung beginnt an Wichtigkeit zu gewinnen und dadurch entstehen wieder Probleme. Wer die „Leistungen“ nicht erfüllt, ist nicht wertig genug ⇒ es kommt zu Minderwertigkeitsgefühlen. Interessant ist, dass in dieser Phase der Entwicklung die ersten entwicklungsspezifischen Differenzen zwischen Mädchen und Jungen zu erkennen sind: Mädchen entwickeln sich körperlich und reifemäßig schneller als Jungen. Deshalb schließen sie das Großkindalter auch ca. 1,5 Jahre vor den Jungen ab. (Vgl Brandt 1975, S.178) 2.4 Das Jugendalter Dieses Alter ist voll von kritischen Phasen bzw. Aufgaben für den jungen Menschen. Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 13 von 101 Für Erikson ist es "die sensibelste Phase für die Entwicklung der Identität". Der junge Mensch steckt in einem Körper, der sich zusehends verändert. Die Geschlechtsreife setzt ein und dadurch die biologische Zeugungs - bzw. Gebährfähigkeit. Der Jugendliche steht vor der Entscheidung, wie seine Zukunft beruflich und privat weitergehen soll und der Frage, was er selbst für Erwartungen diesbezüglich an sich stellt. Nun entscheiden nicht mehr nur die Eltern. Zum Einen weil dies der Jugendliche und auch die Eltern im Normalfall nicht mehr wollen und zum Anderen, weil der junge Mensch nun auch „alt genug“ ist, seine Entscheidungen und die damit verbundene Verantwortung selbst zu treffen und zu tragen. Der junge Mensch hat in dieser Phase noch eine große Anlehnung an die Gesellschaft, d.h. er orientiert sich vorwiegend an Vorbildern und Idealen, welche bevorzugt aus dem Medienbereich (Film, Musik, Sport) kommen und weniger aus dem direkten Umfeld (Eltern, Freunde, Verwandte). Starke Stimmungsschwankungen gehören zum Alltag und der eigene Status wird fortwährend in Frage gestellt. Auslöser dafür sind biologische und soziale Faktoren, die wiederum abhängig von der jeweiligen Kultur sind. So sieht sich ein Jugendlicher in unserer europäischen oder in der amerikanischen Kultur einem ganz anderen Anforderungs - und Aufgabenfeld gegenüber als z.B. in der asiatischen oder afrikanischen Kultur. In primitiven Völkern ist das Erreichen des Erwachsenenstadiums mit der Geschlechtsreife und den dort zu erlernenden Kulturtechniken (Jagen, Fischen, Hausbau) erlangt. In der Bundesrepublik Deutschland und unserer Zeit reicht das bei weitem nicht aus. Natürlich gibt es eine gesetzliche Grenze, mit der man offiziell erwachsen ist. Doch die Anforderung heißt: "Wer bist du Mensch und was kannst du, dass du die Berechtigung zum Dasein hast?!" Wir leben in einer Leistungsgesellschaft und dies beeinflusst die Identitätsbildung des jungen Menschen, speziell der jungen Frau, sehr. 2.4.1. Entwicklung als Stufenfolge nach Gustav Brandt Gliedert man den Prozess der Persönlichkeitsentwicklung in Stufen, so wie es Gustav Brandt tut, sehen die Stufenfolgen des Jugendalters wie folgt aus Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 14 von 101 Altersstufe alterspezifische mögliche Probleme und Charakteristika Fehlentwicklungen Vorpubertät Emotionale Phase (vital- und Unangepasstheit, destruktive ♂ 12 –14 personal- Bedürfnisse; ♀ 10,6 – Seelisch bestimmt); ♂ Flegeljahre: Begehen groben Unfugs, aktive Verwahrlosungsprobleme, Auflehnung; Kraftgebaren, Selbst- erste sexuelle Überschätzung; ♀ Negative Phase: Perversionsanzeichen 13 passive Auflehnung, Unruhe, Redeund Bewegungsdrang Pubertät Aufbauphase. Sex. Triebschub, bes. Destruktionshaltung, Über- ♂ 14 -16 bei ♂ genitale Bedürfnisse. Ich- Kompensation von ♀ 13 - 15 Identitätssuche. Statusunsicherheit, Flucht in Selbständigkeitsanspruch, entw. Banden oder neurotische Geistige Auseinandersetzung mit Isolierung, der Tradition oder einfache Onanieschuldgefühle, früher Übernahme von Statussymbolen der Drogenmissbrauch Erwachsenen Nachpubertät Kritische Zwischenphase. Schul- und Arbeitsunlust, bis ca. Beunruhigung und Labilisierung, Arbeitsplatzwechsel, depressive 18 Jahren Ausbildungsprobleme, z.T. als Verstimmung, weitere Reaktion auf gesellschaftliche Isolierung Zwänge Stabilisierungsphase. Zunehmende Retardierung, Unreife, Plan- Ich-Identität, selbständiges Planen, losigkeit, In-den-Tag-leben, Urteilen, Entscheiden, spielerische Einstellung zur Berufsfindung, Integration von Arbeit, Identifikation mit Sexus und Eros, Partnerbeziehungen Idolen, triebhaftes Handeln, Kontaktstörungen Quelle: Psychologie und Psychopathologie für soziale Berufe / Brandt 1975 / S.161 Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 15 von 101 Auch wenn ich bei weitem nicht mit allen Punkten Brandts übereinstimme, da vieles bereits überholt sein müsste bzw. einfach nicht mehr unserer ‚Zeit’ entspricht, so kann ich doch sagen, dass es bestimmte Verlaufbahnen gibt, die wohl unveränderlich zu sein scheinen. Mädchen verhalten sich in der Vorpubertät mit Sicherheit bis heute passiver als Jungs und richten ihre Aggressionen und Unsicherheiten auch eher gegen sich selbst als gegen andere. Doch auch bei jugendlichen Mädchen ist eine immer höhere Bereitschaft zu Gewalt zu verzeichnen. Gerade in dieser Phase sind Mädchen viel anfälliger für Essstörungen, wie zum Beispiel Bulimie oder Magersucht, als gleichaltrige Jungen. Sie können bzw. wollen ihre Unsicherheit nicht nach außen lenken und „finden“ dann sämtliche Probleme an sich selbst. Meist ist es das gesellschaftliche Schönheitsideal, dem sie nicht entsprechen und dem sie natürlich nacheifern – sonst ist man ja nicht liebenswert genug ... Mädchen stehen zwar nicht unter einem so hohen sexuellen Antriebsdruck, aber auch sie spüren eine triebhafte Unruhe in sich und müssen diese ausleben – was meist durch einen gesteigerten Rede- und Bewegungsdrang erfolgt. Ein sehr großer Einschnitt in der weiblichen Pubertät ist das Einsetzen der Periode. Der Körper allgemein verändert sich während der Pubertät stark. Die Brüste und die Hüften bilden sich aus und der Schamhaarbereich wächst. Mit Einsetzen der Blutung ist das Mädchen vollkommen gebärfähig und damit, rein biologische gesehen, eine erwachsenen Frau. Es scheint so, als ob Mädchen immer eher ihre Periode bekommen – nun schon bereits mit zehn Jahren. (Natürlich nicht alle, dies bleibt individuell.) In diesem Alter ist man nach meiner Meinung seelisch und geistig noch lange nicht bereit ein erfülltes Sexleben zu haben und auch nicht, Mutter zu sein. Trotzdem oder gerade deswegen, wird Sexualität heute immer früher gelebt. Um „in“ und „cool“ zu sein, muss man heute auch als Mädchen mit 14 den ersten Geschlechtsverkehr haben. Froh können die Mädchen sein, die von Anfang an über das Selbstbewusstsein und auch die Selbsteinschätzung verfügen, die sie wissen lässt, wann was für sie am Besten ist. Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 16 von 101 In der Zeit der Pubertät bildet sich aber eben nicht nur der Körper zur Reife, sondern auch der Geist und die Seele sollten dies tun. Es ist die Zeit, in der sich die Identität ihren breitesten Weg sucht. Der junge Mensch löst sich nun aus dem „vorgefertigten“ Leben aber seine „Eigenkreation“ ist noch nicht stark und fest, das Fundament noch recht wackelig. Es gibt viele Möglichkeiten aber auch „Unmöglichkeiten“ und die Aufgabe des Jugendlichen ist, sich seinen Weg zu bannen und ein starkes Fundament zu bauen. Und auch wenn der Weg noch so breit ist, so liegen dort doch viele Steine. Aber ein Sprichwort sagt: „Auch aus Steinen, die einem in den Weg gelegt wurden kann man etwas Schönes bauen.“ 3. Vertrauen ist der Anfang von allem – Identitätstheorien der Forschung „Was passiert, wenn man sich mit einer Identität versieht? Man bewaffnet sich. [...] Die Identität ist genauso problematisch wie jede andere Waffe – die Waffe an sich ist nichts, was es zu vergöttern gilt und was nicht zu kritisieren wäre. Eine Waffe ist dazu da, Leute umzubringen , und in diesem Sinne falsch. Nur wissen wir ja auch alle, dass es manchmal unumgänglich ist, sich zu bewaffnen; und auf dieser Ebene würde ich gerne den Begriff der Identität oder das Betonen der Besonderheiten sehen, und auf dieser Ebene kann man auch die Gefahr sehr leicht diskutieren.“ (Diedrichsen / Jacob 1994, S. 53) 3.1. Freud und die Tiefenpsychologie Um die Theorien Eriksons – dem Vater der Identitätsforschung - verstehen zu können, muss man sich zuerst mit der Persönlichkeitstheorie von S. Freud beschäftigen. Der 1856 in Wien geborene Freud war Arzt und beschäftigte sich zunächst mit nervlichen Störungen. Mit seiner Behauptung, Neurosen entstünden aus häufigen sexuellen Problemen, löste Freud in der Öffentlichkeit und unter Gelehrten starken Widerspruch aus. Doch seine Gedanken setzten sich mehr und mehr durch. Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 17 von 101 Basis seiner Theorie war die durch ihn aufgestellte Tiefenpsychologie. Nach Freud teilt sich die Struktur der Persönlichkeit in Es, Ich und Über-Ich auf. Das Es ist der Bereich der Triebe oder der Instinkte. Es ist der älteste Persönlichkeitsbereich des Menschen also auch beim Kind vorhanden. Freud geht von zwei Grundtrieben aus: Den Lebensinstinkten und den Todesinstinkten. Lebensinstinkte sind alle die, welche zur Selbst- und Arterhaltung dienen (Sexualität, Hunger, Durst). Todesinstinkte drängen auf die Vernichtung des Lebens (Aggressionen). Das Es strebt sofortige Befriedigung an, es handelt nach dem Lustprinzip. Menschen, denen es sehr schwer fällt auf etwas zu warten, die einen starken Wunsch oder ein starkes Bedürfnis sofort befriedigen wollen, haben auch ein sehr starkes Es. Das vernunftbezogene Verhalten wird nicht befolgt. Bei Babys und Kleinkindern ist dies schön zu beobachten; sie können nicht auf die Essenszeiten warten sondern wollen bei Hunger gleich etwas essen. Sie könne ihre Triebe noch nicht steuern und kontrollieren. (Kühne 1993, S. 189) Das Ich ist der Bereich der Vernunft. Das Ich handelt nicht nach dem Lustprinzip, sondern nach dem Realitätsprinzip. (Kühne 1993, S.190) „Im Vergleich mit seiner Forschungsarbeit über das Funktionieren des Es und das Unterbewusste beschäftigte sich Freud relativ wenig mit dem Ich. Er zeichnet das Ich als eine schwache Struktur, eine armselige Kreatur, die drei Herren dienen muss – dem Es, der Realität und dem Über-Ich. Das ‚arme’ Ich hat es schwer, deren Ansprüche und Forderungen in Einklang zu bringen. Besondere Bedeutung hat die Beziehung zwischen dem Ich und dem tyrannischen Es.“ (Vgl. Pervin 1981, S. 180) „Man könnte das Verhältnis des Ich zum Es mit dem des Reiters zu seinem Pferd vergleichen. Das Pferd gibt die Energie für die Lokomotion her, der Reiter hat das Vorrecht, das Ziel zu bestimmen, die Bewegung des starken Tieres zu leiten. Aber zwischen Ich und Es ereignet sich allzu häufig der nicht ideale Fall, dass der Reiter das Ross dahin führen muss, wohin es selbst gehen will.“ (Freud, 1966 in Kühne 1993, S. 191) Also ist eine Aufgabe des Ich, die Bedürfnisse des Es mit der Realität in Einklang zu bringen. Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 18 von 101 Das Streben nach Bedürfnisbefriedigung ist normal, dennoch wird ein erwachsener Mensch, der sowohl ein Es als auch ein Ich besitzt, nicht gleich ungeduldig, sondern wartet bis sein Bedürfnis befriedigt werden kann. Bsp.: Ein Lehrer bekommt während seines Unterrichts große Lust, einen Kaffee trinken zu gehen. Seine Vernunft (Ich) sagt ihm aber, dass er dieses Bedürfnis (Es) jetzt nicht befriedigen kann, sondern auf die nächste Pause verschieben muss. Das Über-Ich stellt den inneren, in uns wohnenden Vertreter der traditionellen Werte und Ideale der Gesellschaft dar, das Gewissen. Mit eingeschlossen sind Idealvorstellungen vom eigenen Selbst. Hauptaufgabe des Über-Ich sind einmal die Hemmung von Triebwünschen aus dem Es, dann ein Perfektionsstreben, um dem eigenen Ideal näher zu kommen und schließlich die moralische Beurteilung von Handlungszielen und die mögliche Ersetzung von Triebwünschen durch moralisch höher zu wertende Handlungen. (Vgl. Kühne 1993, S. 191) Menschen, welche stark bemüht sind, ihre Wünsche und Bedürfnisse zu unterdrücken, sich bemühen nichts falsch zu machen und nach gesellschaftlichen Idealen ihr Leben ausrichten haben ein starkes Über-Ich. Daraus kann Perfektionsstreben, übertriebene Gewissenhaftigkeit und Zwanghaftigkeit entsehen. Darüber kann die Lebensfreude verloren gehen. Die Aufgabe des Ich ist es also, zwischen den „Gegnern“ Es (Bereich der Triebkräfte) und Über-Ich (Bereich der zurückhaltender und hemmender Kräfte) im Bereich der äußeren Wirklichkeit (Realität) einen Kompromiss zu finden. Freud geht davon aus, dass jeder Mensch über eine bestimmte Energiemenge verfügt. Anfangs besitzt das Es die gesamte Energie, die dann allmählich an das Ich und Über-Ich weitergegeben wird. Die Energie wird also verlagert, um das Ich und Über-Ich zu bilden. (Vgl. Kühne 1993, S. 192) „Wo Es war, soll Ich werden“ (Freud, 1966). Für Freud sind bei der Entwicklung einer ‚gesunden’ Persönlichkeit besonders die frühen Lebensjahre eines Menschen von besonderer Bedeutung. Eine gesunde Ich – und Über-Ich – Stärke muss sich entwickeln. Die Tiefenpsychologie nimmt an, dass folgende Phasen die kindliche Triebsituation kennzeichnen: Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 19 von 101 Orale Phase Anale Phase Ödipale und phallische Phase Genitale Phase (Pubertät) In der oralen Phase (0 – 1,5 Jahre) nimmt das Kind seine Umwelt hauptsächlich über den Mund in sich auf. Es saugt an Fingern (der Bezugspersonen) und nimmt seine Nahrung ‚saugend’ in sich auf. Der Mund wird zur Quelle der Befriedigung kindlicher Lust. Werden die Bedürfnisse in der oralen Phase nicht ausreichend befriedigt, kann dies auch noch spätere Störungen beim Menschen zur Folge haben. Solche Menschen streben oft nach sofortiger Bedürfnisbefriedigung, wollen immer im Mittelpunkt stehen und überaus häufig Zärtlichkeit erfahren. In der analen Phase (2 – 3 Jahre) beschäftigt sich das Kind mit seinen Ausscheidungsorganen und Ausscheidungen. Das Kind lernt, loszulassen und zu halten. In dieser Phase ist die Reinlichkeitserziehung der Eltern maßgeblich für die Entfaltung einer Persönlichkeit. Ist die Erziehung zu streng und strafend, wird sich der junge Mensch später in vielen Lebensbereichen zurückhaltender zeigen und nicht ungezwungen und frei entfalten. Ödipale und phallische Phase (3 –5 Jahre) ist die Phase, in der sich das Kind im Regelfall mit Interesse dem Gegengeschlecht zuwendet. Dies sind im Normalfall die Eltern. Der gegengeschlechtliche Elternteil tritt in den Mittelpunkt und der gleichgeschlechtliche wird mit einer Art Rivalität bedacht. Das ist aber gleichzeitig mit Schuldgefühlen verbunden und S. Freud nennt es den Ödipuskonflikt. Wird dieser Phase keine weitere Beachtung geschenkt, geht sich meist ‚lautlos’ in die Latenzphase über. (Freud begründet dies mit der Kastrationsdrohung bzw. dem Kastrationskomplex worauf ich allerdings nicht näher eingehen werde.) Mit der Pubertät beginnt dann die genitale Phase. In all den vorangegangenen Phasen war das Kind mehr mit sich selbst, seiner eigenen Person, beschäftigt. Nun kann es zu sexuellen Begegnungen kommen, die Partnerschaft herrscht vor. Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 20 von 101 Voraussetzung für eine reife Sexualität und für eine reife Persönlichkeit ist das Durchlaufen der verschiedenen Phasen der psychosexuellen Entwicklung, ohne dass zu starke Zwänge oder Freiheiten der Eltern ungünstig beeinflussend wirken. Die Entwicklung eines starken Ich steht im Mittelpunkt der Reifung der Persönlichkeit. Ein Ich-starker Mensch hat Vernunft und Willensstärke bei gleichzeitiger Möglichkeit zu Lebens- und Sinnesfreude. (Vgl. Kühne 1993, S.198) 3.2. Erikson und das Entwicklungsmodell der Persönlichkeit sowie die Phasen der Identitätsentwicklung Erikson sieht die Persönlichkeitsentwicklung als psycho-soziale Entwicklung. Sein Phasenmodell hat, wie Anfangs bereits erwähnt, enge Bezüge zu Freuds Persönlichkeitsverständnis. Das epigenetische Prinzip, welches besagt, dass die Entwicklung eines Menschen nach einem Grundplan erfolgt, welcher für alle Menschen gleich ist, bestimmt nach Erikson die Persönlichkeitsentwicklung. Dieser Grundplan ist in einzelne Stufen bzw. Entwicklungsaufgaben gegliedert, welcher das Ziel hat, ein funktionierendes Ganzes entsehen zu lassen. „Dieses Prinzip lässt sich dahin verallgemeinern, dass alles, was wächst, einen Grundplan hat, dem die einzelnen Teile folgen, wobei jeder Teil eine Zeit des Übergewichts durchmacht, bis alle Teil zu einem funktionierenden Ganzen herangewachsen sind.“ ( Erikson 1973, S.57) Die Wechselwirkung zwischen Individuum und Gesellschaft ist Grundlage für die Entwicklung einer Persönlichkeit. Die Anforderungen der Gesellschaft und das Ich müssen sich aufeinander einstellen und aneinander orientieren. Die Persönlichkeit wächst dabei in Abschnitten und in vorbestimmter Abfolge. Das Gefühl, eine Identität zu besitzen, ergibt sich aus der Erfahrung. „Das bewusste Gefühl, eine persönliche Identität zu besitzen, beruht auf zwei gleichzeitigen Beobachtungen: der unmittelbaren Wahrnehmung der eigenen Gleichheit und Kontinuität in der Zeit und der damit verbundenen Wahrnehmung, dass auch andere diese Gleichheit und Kontinuität erkennen. Was wir hier Ich- Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 21 von 101 Identität nennen wollen, meint also mehr als die bloße Tatsache des Existierens, vermittelt durch persönliche Identität; es ist die Ich-Qualität dieser Existenz.“ ( Erikson 1973, S.18) Die Entwicklung der Persönlichkeit vollzieht sich in acht Phasen, in welchen Erikson zum großen Teil mit Freuds Theorie der psychosexuellen Entwicklung übereinstimmt. Die beiden stimmen überein in der Tatsache, dass jede Phase der Entwicklung für das weitere Bilden einer starken Persönlichkeit kritisch ist. Die Familie und die Sozialstruktur in welcher das Individuum lebt, tut ihr übriges dazu. Wie bereits erwähnt, verläuft die Stufenfolge nach dem epigenetischen Prinzip. Die acht Stufen tragen folgende Überschriften: Urvertrauen gegen Misstauen Autonomie gegen Scham und Zweifel Initiative gegen Schuldgefühl Werksinn gegen Minderwertigkeitsgefühl Identität gegen Identitätsdiffusion Intimität gegen Isolierung Generativität gegen Selbst-Absorption Integrität gegen Lebens-Ekel Die drei letzten Stufen beschreibt Erikson als „die drei Stadien des Erwachsenenlebens“ (Vgl. Erikson 1973, S.114), deshalb werde ich ihnen keine große Aufmerksamkeit schenken und mich schwerpunktmäßig auf die fünf ersten Stadien der Kindheit und Jugend, davon vor allem auf die Phasen 4. und 5., konzentrieren. Es ist auf alle Fälle wichtig zu beachten, dass Erikson die Identitätsentwicklung als lebenslangen Prozess sieht. 1. Phase: „Ich bin, was man mir gibt.“ – (Ur)Vertrauen gegen Misstrauen Um einen charakterstarken Menschen zu bilden, muss das Gefühl eines UrVertrauens entstehen. Das Kind, und damit der Mensch, soll spüren, dass er (es) sich auf andere, aber auch auf sich selbst verlassen kann. Fehlt diese wichtige Erfahrung, entsteht Misstrauen. Es kann zu depressiven und schizoiden Persönlichkeitsstrukturen kommen. Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 22 von 101 „Das Ur-Vertrauen ist der Eckstein der gesunden Persönlichkeit.“ (Erikson 1973, S.63) Das Kind ist im ersten Lebensjahr total von seiner Umwelt abhängig. (Physiologische Frühgeburt) Der Säugling nimmt seine Umwelt alleine durch Reflexe und Empfindungen wahr – er ist rezeptiv gegenüber seiner Umwelt. Was Freud als orale Phase benennt, ist bei Erikson die oral-respiratorische bzw. die Einverleibungsphase. Für den Säugling ist der Mund das Zentrum einer ersten allgemeinen Annäherung an das Leben. Er lebt und liebt mit dem Munde und die Mutter lebt und liebt durch ihre Brust. (Vgl. Erikson 1973, S.63) Der Säugling lernt, von der Mutter gegeben zu bekommen, aber auch etwas zu verlangen. Entzieht sich die Bezugsperson dem Kind, können daraus Minderwertigkeitskomplexe, entstehen die zu späteren Ängsten, Verlassenheitsgefühlen und Depressionen führen. Geben und Gegeben bekommen sind die psychosozialen Modalitäten dieser Entwicklungsstufe. (Vgl. Kühne 1993, S.204) 2.Phase: „Ich bin, was ich will.“ – Autonomie gegen Scham und Zweifel Diese Phase beginnt damit, dass das Kind nun seinen Willen durchsetzen will. Wie in Freuds analer Phase beginnt in Eriksons anal-urethraler Phase das Bedürfnis des Kindes, das Festhalten und Loslassen zu üben. Wie auch Freud ist Erikson davon überzeugt, dass eine zu frühe oder zu strenge Sauberkeitserziehung zu schweren persönlichen Schäden führen kann. „Dieses Stadium wird deshalb entscheidend für das Verhältnis zwischen Liebe und Hass, Bereitwilligkeit und Trotz, freier Selbstäußerung und Gedrücktheit. Aus einer Empfindung der Selbstbeherrschung ohne Verlust des Selbstgefühls entsteht ein dauerndes Gefühl von Autonomie und Stolz; aus einer Empfindung muskulären und analen Unvermögens, aus dem Verlust der Selbstkontrolle und dem übermäßigen Eingreifen der Eltern entsteht ein dauerndes Gefühl von Zweifel und Scham. Die Vorbedingung für Autonomie ist ein fest verwurzeltes und überzeugend weitergeführtes frühes Vertrauen.“ (Erikson 1973, S.78) Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 23 von 101 3.Phase: „Ich bin, was ich mir zu werden vorstellen kann.“ – Initiative gegen Schuldgefühl In dieser infantil-genitalen Phase, muss das Kind herausfinden, „was für eine Art von Person es werden will. Und dabei greift es gleich nach den Sternen: es will so werden wie Vater und Mutter, die ihm sehr mächtig und sehr schön, obwohl ganz unvernünftig, gefährlich erscheinen.“ (Erikson 1973, S.87) Erikson glaubt, dass durch den Ödipuskonflikt das Gewissen hervorgeht. „Durch die fortschreitende sensomotorische und kognitive Entwicklung fühlt sich das Kind mächtig, alles Mögliche zu unternehmen, zu erkunden, auszuprobieren – und in der Phantasie noch mehr.“ (Kühne 1993, S.205) Durch genitale Vorstellungen und Spiele kann es zu Schuldgefühlen kommen. Hier ist es wichtig, dass die Eltern ihr Kind unterstützen, einfühlsam aufklären und sein Gewissen nicht übermäßig zu strapazieren. (Vgl. Kühne 1993, S. 205) 4.Phase: „Ich bin, was ich lerne.“ – Werksinn gegen Minderwertigkeitskomplexe Hier treffen wir auf Freuds Latenzphase. Das Kind sublimiert seine ödipalen Wünsche und lernt durch das Herstellen von Gegenständen, Anerkennung zu erlangen. „Jetzt will das Kind, dass man ihm zeigt, wie es sich mit etwas beschäftigen und wie es mit anderen zusammen tätig sein kann.“ (Erikson 1973, S.98) Hier ist es sehr wichtig für Eltern und auch Erzieher/Lehrer, Disziplin und Autorität zu wahren und trotzdem genügend Freiraum zum Entfalten zu geben. Kinder brauchen für eine gesunde Entwicklung, Grenzen an denen sie sich reiben können. Außerdem wollen sie Anregungen für ihre Welt und Sicht der Dinge um sich weiter entwickeln zu können. Es ist eine Tatsache, dass „Kinder in dem Alter sich ganz gern einer milden, aber festen Disziplin fügen, die ihnen die Entdeckung schmackhaft macht, dass man Dinge lernen kann, auf die man von selbst nicht gekommen wäre; die Anziehungskraft dieser Dinge liegt ja gerade darin, dass die nicht das Produkt von Spiel und Phantasie sind, sondern das Produkt von Realität, praktischer Anwendung und Logik.“ (Erikson 1973, S.100) In dieser Phase spielt die Schule und damit der Lehrer eine wichtige Rolle. Aufgabe ist es, eine Lösung zwischen Spiel und Arbeit zu finden, damit die Kinder den Schritt zwischen Kindsein und Reifung in einem angebrachten Tempo und Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 24 von 101 individueller Realität meistern können. Mit dem Spiel macht sich das Kind seine Umwelt zu eigen. Mit der Reifung zum Erwachsenen ändert sich die Spielweise bis zur fast vollständigen Aufgabe. (Erwachsene verarbeiten Geschehnisse nun über Träume und andere Aktivitäten wie z.B. Sport) Nun braucht das Kind bzw. der Jugendliche sinnvolle Aufgaben um sich selbst und seinen Platz in der Gesellschaft zu finden. „Ohne Teilhaben am gesellschaftlichen Lebensprozess in Form von sinnvoller Tätigkeit und angemessener Bezahlung wird Identitätsbildung zu einem zynischen Schwebezustand, den auch ein ›postmodernes Credo‹ nicht zu einem Reich der Freiheit aufwerten kann.“ (Keupp 1997, S.19) Es ist auf jeden Fall sehr wichtig, dass der junge Mensch in dieser Phase Anerkennung seiner Selbst und seines Tun erfährt, sonst kann das Gefühl der Minderwertigkeit und Unzulänglichkeit entstehen. Eltern und Lehrer können das Kind unterstützen, indem sie: • akzeptieren, was das Kind machen kann, • die Arbeitsfreude und den Stolz des Kindes fördern und nicht unnötig kritisieren, • das Identitätsgefühl des Kindes nicht vorzeitig festlegen („kleiner Helfer“) (vgl. Kühne 1993, S.205). Keupp (1993) ist sich sicher, dass Identität und Anerkennung in Abhängigkeit zueinander stehen. Ohne die wichtigen Grundsteine der Liebe und Anerkennung kann es nicht zu einer gesunden Entwicklung eines Individuums kommen. „Fehlende Liebe und fehlende Anerkennung führen zu Frustrationen, die sich steigern können bis zum blinden Hass.“ (I. Hasselbach 1993, S.156 in Keupp 1993) 5. Phase: Identität und Ablehnung gegen Identitätsdiffusion „Mit der Aufnahme guter Beziehungen zur Welt des Schaffens und zu denjenigen, die diese neuen Fertigkeiten lehren und teilen, endet die eigentliche Kindheit. Jetzt beginnt die Jugendzeit. Aber in der Pubertät werden alle Identifizierungen und alle Sicherungen, auf die man sich früher verlassen konnte, erneut in Frage gestellt und zwar wegen des raschen Körperwachstums, das sich nur mit dem in der frühen Kindheit vergleichen lässt und dem sich jetzt die gänzlich neue Eigenschaft der physischen Geschlechtsreife zugesellt.“ (Erikson 1973, S. 106) Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 25 von 101 Nun beginnt die schwerste Phase der menschlichen Identitätsentwicklung (zumindest nach der Theorie). Der junge Mensch muss sich nun nicht nur mit der starken Veränderung seines Körpers, biologischer Sexualfähigkeit und emotionaler Verwirrung auseinandersetzen, sondern auch mit der Tatsache aus dem Ich eine Identität herauszubilden. Der Jugendliche ist bestrebt seine eigene soziale Rolle zu finden und zu festigen. Dabei spielt für ihn auch eine große Rolle wie er in den Augen von anderen erscheint, was diese für ein Bild bzw. welche Meinung sie von ihm haben. (Vgl. Erikson 1973, S. 107) „Die Integration, die nun in der Form der Ich-Identität stattfindet, ist mehr als die Summe der Kindheitsidentifikationen. Sie ist das innere Kapital, das zuvor in den Erfahrungen einander folgender Entwicklungsstufen angesammelt wurde, wenn eine erfolgreiche Identifikation zu einer erfolgreichen Ausrichtung der Grundtriebe des Individuums auf seine Begabung und seine Chance geführt hat.“ (Erikson 1973, S.107) Der Jugendliche begibt sich also in den ‚Kampf’ um sich selbst. Sind alle vorrangegangenen Phasen ‚gut’ abgeschlossen worden, ist eine gute Basis vorhanden. Trotzdem steht er vor einer vollkommen neuen Herausforderung: nun muss der junge Mensch seinen eigenen Weg und seine eigene Meinung finden und festigen. Eine Gefahr in dieser Phase ist die Identitätsdiffusion, was soviel bedeutet wie die Unfähigkeit des Ichs, eine Identität herauszubilden. Dies ist meist eine Folge von Überforderung: Berufswahl, die ersten Partnerschaften und Probleme, Bildung von politischen Idealen, usw. Daraus können dann Verhaltenswirrungen entsehen, die ein Leben lang anhalten. (Entscheidungsunfähigkeit und – unwille, Intoleranz, kriminelle Neigung) 6. Phase: Intimität und Solidarität gegen Isolierung Die sechste Phase, der Eintritt ins Erwachsenenalter, ist die erste der drei Stadien des Erwachsenenalters. Sobald eine gewisse Identitätsfestigung erreicht ist, kommt es auch tatsächliche Intimität mit anderen zustande. Erikson meint dazu: „Man muss sich selbst mehr oder weniger gefunden haben, bevor man fähig ist, sich an jemand anders zu verlieren.“ (Baacke, 1994, S.181) In dieser Zeit beginnt der junge Erwachsene sich die Berufswelt anzueignen, startet mit dem Studium, der Partnerfindung und der Familiengründung. Läuft in dieser Phase etwas schief, kann Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 26 von 101 es zu formalen zwischenmenschlichen Beziehungen oder gar zu Distanzierung und Isolation kommen. (Vgl. Erikson 19973, S. 110) 7. Phase: Generativität gegen Selbstabsorption Für die siebte Stufe, die Fähigkeit zur Generativität (Interesse an der Gründung und Erziehung einer neuen Generation), ist die gelungene Intimität Voraussetzung. Die Alternative dazu wäre, künstlerisch etwas zu schaffen. Sollte sowohl das eine als auch das andere nicht stattfinden, leidet der Mensch an Desinteresse der Weitergabe von sozialen und kulturellen Traditionen. (Vgl. Erikson 1973, S. 114) 8. Phase: Integrität gegen Verzweiflung und Lebensekel In der letzten der acht Phasen, sie entspricht dem reifen Erwachsenenalter, kann der Mensch entweder das Gefühl der Integrität genießen oder er kann verzweifelt sein und Angst vor dem Tode haben. Erikson beschreibt die Phase als „Annahme seines einen und einzigen Lebenszyklus und der Menschen, die ihm notwendig da sein mussten und durch keinen anderen ersetzt werden können.“ (Erikson 1973, S. 118) Erfolge und Niederlagen, Krankheit und Gesundheit müssen nun gleichmäßig bestanden werden, sonst tritt ein Lebensekel ein als Zweifel an der Fähigkeit, dem eigenen Leben einen vernünftigen und hinreichenden Sinn zu geben. Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 27 von 101 A B C D E I Psychosoziale Umkreis der Krise Vertrauen gg. Psychosoziale Psychosexuelle Beziehungsperson Sozialordnung Modalitäten Phasen Mutter Kosmische Gegeben – Oral-respiratorisch, Ordnung bekommen, sensorische Geben kinästhetisch Misstrauen Elemente der (Einverleibungsmodi) II Autonomie gg. Eltern Scham und „Gesetz der Halten Anal-urethral, Ordnung“ (Festhalten), Muskulär Lassen (Retentiv- (Loslassen) eliminierend) Tun Infantil-genital, Zweifel III Initiative gg. Familienzelle Ideale Leitbilder Schuldgefühl IV Werksinn gg. (Drauflosgehen), Lokomotorisch Wohngegend, Minderwertigkeits- Schule „Tun als ob“ (Eindringend, (= Spielen) einschließend) Technologische Etwas Latenzzeit Elemente „Richtiges“ Gefühl machen, etwas mit anderen zusammen machen V Identität und „eigene“ Ideologischen Wer bin ich? Ablehnung gg. Gruppen, „die Perspektiven (wer bin ich Identitätsdiffusion Anderen“, nicht?), das Ich Führer-Vorbild in der Pubertät Gesellschaft VI VII Intimität und Freunde, sexuelle Arbeits- und Solidarität gg. Partner, Rivalen, Isolierung Mitarbeiter Generativität gg. Gemeinsame Zeitströmungen in Schaffen, Selbstabsorption Arbeit, Erziehung und Versorgen Zusammenleben Tradition Sich im anderen Genialität Rivalitätsordnungen verlieren und finden in der Ehe VIII Integrität gg. Verzweiflung „Die Weisheit Sein, was man Menschheit“, geworden ist; „Menschen um seine eigene meiner Art“ Vergänglichkeit wissen (Quelle: Oerter / Dreher, 1995, S. 323) Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 28 von 101 Die thematische Konstellation der einzelnen Entwicklungsphasen ergibt sich aus der Zuordnung der Kategorien: Die Bewältigung der verschiedenen Krisen (A) findet im Kontext von Beziehungen bzw. in einem sozialen Raum statt (B). Jede Bewältigungsthematik korrespondiert mit Elementen der Sozialordnung (C) und psychosozialen Modalitäten (D). Die Zuordnung der psychosozialen Phasen zu den psychosexuellen Phasen der Freudschen Theorie (E) betont den Zusammenhang zwischen biologischen und psychosozialen Grundlagen der Persönlichkeitsentwicklung. (Oerter / Dreher, 1995, S. 323 / 324) Abschließend noch Eriksons Definition der Identität: „Ich habe mir diese Frage mehr als einmal gestellt, während ich das wieder las, was ich über die Identität geschrieben habe und ich beeile mich zu erklären, dass ich in diesem Buch keine eindeutige Erklärung dafür geben werde. Je mehr man über diesen Gegenstand schreibt, desto mehr wird das Wort zu einem Ausdruck für etwas, das ebenso unergründlich wie allgemeingegenwärtig ist. Man kann ihn nur untersuchen, indem man eine Unentbehrlichkeit in verschiedenen Zusammenhängen feststellt.“ (Erikson 1970, S.7) 3.3. Die Selbsttheorie nach Rogers Rogers stimmt nicht wie Erikson mit Freud überein, sondern steht im Widerspruch zu ihm. 1977 sagte er: „Ich habe wenig für die ziemlich weit verbreitete Vorstellung übrig, dass der Mensch im Grund irrational ist, und dass seine Triebe auf Zerstörung seiner selbst und anderer angelegt sind, wenn sie nicht kontrolliert werden. Des Menschen Verhalten ist ungemein rational; es bewegt sich in subtiler und geordneter Komplexität auf die Ziele zu, die sein Organismus zu erreichen bemüht ist.“ (aus Kühne 1993, S.207) Trotz allem wurde Rogers anfangs vom tiefenpsychologischen Gedanken beeinflusst. (Um etwas wirklich ablehnen zu können, muss man es auch verstanden haben.) Rogers schuf seine Selbsttheorie, und vor allem sein daraus abgeleitetes Therapieverfahren ist bekannt. Die Selbsttheorie geht davon aus, dass das sogenannt Selbst bzw. die Wahrnehmung die jemand von sich selbst hat, im Mittelpunkt der Betrachtung steht. Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 29 von 101 Einem Menschen, so Rogers, geht es in erster Linie um die Befriedigung seiner Grundbedürfnisse und gleich danach dem Bewahren seiner Person. Er ist bestrebt, seine Eigenarten zu entfalten, dies nennt Rogers Selbstaktualisierung. Normalerweise wird jeder Mensch zunehmend selbständiger, unabhängiger und entwickelt eine ihm eigene und gemäße Form des Lebens. Geschieht dies nicht, gelingt also die Selbstaktualisierung nicht, kommt es in der Regel zu Verhaltensstörungen. (vgl. Kühne 1993, S.207) Jeder Mensch hat ein persönliches Wahrnehmungsfeld, das letzten Endes nur er alleine kennt. Dieses wird geprägt von ständigen Sinneseindrücken, Erfahrungen und Wahrnehmungen des einzelnen. Viele dieser Eindrücke werden nicht bewusst, sondern unterbewusst wahrgenommen. Ausschlaggebend dafür sind wiederum die persönlichen Erfahrungen des einzelnen. Die Wirklichkeit verstehen wir oft nur unter bewusst wahrgenommenen Eindrücken, das Unterbewusste wird möglicherweise als Wahrnehmungstäuschung erfasst. Natürlich muss man sich bewusst sein, dass jeder Mensch ein unterschiedliches Wahrnehmungsfeld hat. So wird auch dieselbe Tat bzw. dasselbe Erlebnis unterschiedlich aufgenommen werden. So kann es einem Lehrer passieren, dass er 25 verschiedene ‚Wahrheiten’ erzählt und er dadurch auch 25 verschiedene Reaktionen hervorrufen kann, obwohl objektiv gesehen alle Schüler das gleiche gehört haben. Deshalb ist es für ein gesundes, wirkungsvolles und wirklichkeitsorientiertes Verhalten des jungen Menschen nötig, dass das persönliche oder subjektive Verhalten nicht zu sehr von der ‚Wirklichkeit’ abschwankt. (Natürlich ebenso für einen Erwachsenen.) Darum ist es wichtig, dass man, um Wahrnehmungsstörungen zu vermeiden, seine Wahrnehmung mit derer anderer vergleicht. Natürlich nimmt ein Mensch, neben den ganzen äußeren Einflüssen, auch sich selbst in einer gewissen Art und Weise war. „Die Selbstwahrnehmung wird bei einem Kinde im Laufe der Zeit immer deutlicher und das Selbst hebt sich immer mehr von den übrigen Dingen der kindlichen Welt ab.“ (vgl. Kühne 1993, S.208) Dadurch entwickelt ein Kind immer mehr die eigene Persönlichkeit. Es bekommt eine Vorstellung von seinem Selbst. Es unterscheidet sich von seiner Umwelt und findet sein Selbstbild. Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 30 von 101 Kinder die häufig Misserfolge erleben, laufen Gefahr, ein negatives Selbstbild und dadurch Minderwertigkeitsgefühle zu bekommen. Die Folgen sind Angst vor Misserfolgen und die Tatsache, dass dieser Mensch sich im Leben allgemein nicht viel zutraut. Es kann aber auch zum umgekehrten Fall kommen: ein Kind, das zu sehr im Mittelpunkt steht, dessen Taten alle als Erfolge gekrönt werden, kann ein unrealistisch positives Selbstbild bekommen. Die größte Gefahr von psychischen Störungen besteht nach Rogers darin, dass ein Mensch wichtige Erfahrungen leugnet und unterdrückt – sowohl die bewussten als auch die unterbewussten – um sein Selbstbild nicht zu gefährden. Durch diese Leugnung kann das Selbstbild immer starrer und losgelöster von der Wirklichkeit werden. Dadurch entstehen zwangsläufig Spannungen zwischen der Vorstellung des eigenen Sein und den gemachten Erfahrungen. Also ist es wichtig – besonders für den jungen Menschen – gegenüber neuen Erfahrungen offen zu sein. So sollte das Ergebnis einer guten Entwicklung der Persönlichkeit ein positives Selbstkonzept sein das den Menschen dazu befähigt, mit Selbstvertrauen an die Probleme der Umwelt und Gesellschaft heranzutreten, andere zu akzeptieren und Toleranz zu zeigen sowie die gemachten Erfahrungen zu beurteilen und zu verwerten. (Vgl. Kühne 1993, S. 209) 3.4. Havighurst und seine Entwicklungsaufgaben Havighurst vertritt weniger einer abgeschlossene Theorie zur Identitätsentwicklung, sondern eher eine Theorie zur Persönlichkeitsentwicklung. Trotzdem oder gerade deswegen möchte ich auch seine Merkmale anführen. Für Havighurst steht die Auseinandersetzung mit Aufgaben, um dadurch Fähigkeiten und Merkmale zu erlagen, im Vordergrund. Der Mensch wird durch das Eintreten von verschiedenen Faktoren mit deren Bewältigung bzw. Auseinandersetzung konfrontiert. Diese Faktoren sind nach Havighurst folgende: biologische Veränderung des Körpers / physische Reifeprozesse Sie sind die Basis für Entwicklungsaufgaben, die weitgehend universell sind und von einer Kultur zur anderen geringe Variationen aufweisen; so regt zum Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 31 von 101 Beispiel der Beginn der Pubertät Aktivitäten an, neue Beziehungen zu Gleichaltrigen des anderen Geschlechts aufzunehmen. Anforderungen der Kultur / Kultureller Druck bzw. Erwartungen der Gesellschaft Sie begründen die kulturelle Relativität spezieller Entwicklungsaufgaben. Ein Aspekt, der dabei zum Tragen kommt, ist der Einfluss altersbezogener Normen im Sinne eines sozialen Zeitrasters, an dem Anforderungen gemessen werden (z.B. wann bestimmte Kulturtechniken erlernt werden, wann Verantwortung für bestimmte Tätigkeiten und Aufgaben übernommen werden). Der Zeitfaktor schließt ferner den historischen Wandel von Entwicklungsaufgaben ein, d.h. spezifische Aufgaben verändern sich über Personengruppen (Kohorten) hinweg (z.B. Dauer der Ausbildung, selbstverantwortliche Lebensführung und die daraus entsethenden Anforderungen). persönliche Erwartungen und Wertvorstellungen / individuelle Zielsetzung Havighurst sieht individuelle Ziele und Werte als Teil des Selbst, das im Laufe der Lebensspanne ausgebildet und zur treibenden Kraft für die aktive Gestaltung von Entwicklung wird. Neben interindividuell vergleichbaren Zielen, die beispielsweise auf biologischen oder sozialen Prozessen beruhen, treten ideosynkratische Ziele in Erscheinung. Sie werden in individuell gesetzten Entwicklungsaufgaben manifest. Dabei stellt sich dann die Frage, ob Entwicklungsaufgaben, die mit individuellen Zielen in Konflikt stehen, einen konstruktiven Beitrag zur Entwicklung leisten können. (Vgl. Oerter / Dreher, 1995, S. 327) So kann man sagen, dass die Entwicklung der Persönlichkeit durch die Bearbeitung von Anforderungen geprägt bzw. gebildet wird. Dabei ist die Bewältigung der einzelnen Aufgaben ausschlageben für die Biographie des Menschen. Dafür verantwortlich sind natürlich der Mensch an sich, aber auch die jeweilige Umwelt und die Anzahl der Aufgaben. Bei einer Überforderung kann es zu Misserfolgen kommen, die zu Persönlichkeitsstörungen führen. So ist es verständlich, dass eine Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 32 von 101 optimale Mischung von Aufgaben und Lösungsmöglichkeiten (durch bereits gemachte Erfahrungen) vorliegt. Havighurst teilt seine Entwicklungsaufgaben verschiedenen Entwicklungsperioden zu. Dies sind folgende Perioden: Frühe Kindheit (0 – 2 Jahre) Kindheit (2 – 4 Jahre) Schulübergang und frühes Schulalter (5 –7 Jahre) Mittleres Schulalter (6 – 12 Jahre) Adoleszenz (13 – 17 Jahre) Jugend (18 – 22 Jahre) Frühes Erwachsenenalter (23 – 30 Jahre) Mittleres Erwachsenenalter (31 – 50 Jahre) Spätes Erwachsenenalter (51 und älter) Wichtig für mich ist die Entwicklungsperiode der Adoleszenz. Ihr werden folgende Entwicklungsaufgaben zugeschrieben: Neuere und reifere Beziehungen zu Altersgenossen beiderlei Geschlechts aufzubauen Übernahme der männlichen /weiblichen Geschlechterrolle Akzeptieren der eigenen körperlichen Erscheinung und effektive Nutzung des Körpers Emotionale Unabhängigkeit von den Eltern und von anderen Erwachsenen Vorbereitung auf Ehe und Familienleben Vorbereitung auf eine berufliche Karriere Werte und ein ethisches System erlangen, das als Leitfaden für Verhalten dient – Entwicklung einer Ideologie Sozial verantwortliches Verhalten erstreben (aus: Oerter /Dreher, 1995, S.328) Man darf aber nicht davon ausgehen, dass jede Entwicklungsaufgabe eine abgeschlossene Einheit darstellt, sondern es gibt eine Trennung zwischen zeitliche begrenzten Aufgaben (z.B. Erwerb von grundlegenden Kulturtechniken) und Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 33 von 101 Aufgaben, die sich über mehrere Perioden der Lebensspanne erstrecken (z.B. Aufbau von Beziehungen zu Gleichaltrigen). (Vgl. Oerter / Dreher, 1995, S. 327) Die Entwicklungsaufgabe verbindet also Individuum und Umwelt, indem sie die kulturellen Anforderungen mit individueller Leistungsfähigkeit in Beziehung setzt, sie räumt dabei dem Individuum eine aktive Rolle bei der Gestaltung der Entwicklung ein. (Vgl. Oerter / Montada, 1995, S. 121) 4. Just be – geschlechtsspezifische Sozialisation in unserer Gesellschaft 4.1. Ergebnisse kulturvergleichender, psychologischer und biologischer Forschung Für die große Mehrzahl der bestehenden Geschlechterunterschiede konnten keine biologischen Ursachen nachgewiesen werden. Es gibt also keinen angeborenen Geschlechtscharakter. (Vgl. Reinalter, Skript 1996) "Wir werden nicht als Männer / Frauen geboren!" (Ursula Scheu, 1997, Titel) Wie wird man zum Mann bzw. zur Frau? 4. 2. Psychologische Basistheorien: 4.2.1. Die Lerntheorie: Erwerb der Geschlechterrolle durch differentielle Verstärkung: Kinder lernen geschlechtstypisches Verhalten, weil Jungen für männliches, Mädchen für weibliches Verhalten belohnt werden. Geschlechtsuntypisches Verhalten wird ignoriert oder bestraft. (Vgl. Reinalter 1996) Bsp.: Ein Junge, der sich mit Make up und Wimperntusche schminkt, wird dafür verpönt, wenn nicht sogar bestraft. Wenn ein Mädchen dies tut, wird es dafür gelobt und bewundert, wie hübsch es aussieht. (Sofern dieser Schminkversuch nicht absolut daneben geht.) Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 34 von 101 Erwerb der Geschlechterrollen durch Lernen am Modell: Beim Erwerb der Geschlechterrolle ist das Lernen durch Imitation von großer Bedeutung. Das Kind identifiziert sich mit gleichgeschlechtlichen Modellen, zu denen es eine gefühlsmäßige Beziehung hat und ahmt diese nach. (Vgl. Reinalter 1996) So eifern Mädchen ihren Müttern, großen Schwestern, Tanten oder ähnlichem nach und die Jungs umgekehrt den Vätern, Brüdern und Onkeln. Selten will ein Junge wie die Mutter oder eine Tochter wie der Vater werden. Somit wird auch geschlechtstypisches Verhalten übernommen. "Wir werden nicht als Frau / Mann geboren sondern dazu gemacht!" (U. Scheu 1997, Buchtitel) 4.2.2. Der Erwerb der Geschlechtsidentität aus der Sicht der kognitiven Entwicklungspsychologie Bis zum ca. 2. Lebensjahr ordnet sich das Kind nicht bewusst einem Geschlecht zu. Es kommt von der Mutter, ist also 'wie' sie. Im 3. Lebensjahr kennen die Kinder die Geschlechtsbezeichnungen und können sich auch selbst einem Geschlecht zuordnen: " Ich bin ein Mädchen / Junge." Bis zum 5. Lebensjahr lernen sie, andere aufgrund sichtbarer Anhaltspunkte (Kleidung, Frisur) richtig als männlich oder weiblich zu bezeichnen. Es ist jedoch noch kein Begriff von der Unveränderlichkeit des Geschlechts vorhanden. Weil Männer größer und kräftiger sind, entwickeln die Kinder ein Stereotyp von der männlichen Überlegenheit. Dies gilt für jede Kultur (Universalitätsthese). Ab dem 5. Lebensjahr ist beim Kind die Objektkonstanz vorhanden - Einsicht in die physische Konstanz des eigenen Körpers - Stabile kognitive Selbstkategorisierung als Junge oder Mädchen: "Ich bin und bleibe ein Mädchen / Junge". = Geschlechtsidentität Das Kind erwirbt nun durch Identifikation und Lernen am Modell aktiv und aus eigener Motivation seine Geschlechtsrolle (aktive Selbstsozialisation). Um die noch unsichere Geschlechtsidentität zu festigen, wird das eigene Geschlecht positiver beurteilt als das andere. Ca. ab dem 7. Lebensjahr werden die Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 35 von 101 Geschlechtsstereotype sehr rigide vertreten. Ab 11/12 Jahren relativiert sich dies wieder. (Quelle: L. Kohlberg in F. Reinalter, Skript 1996) 4.3. Aspekte geschlechtsspezifischer Sozialisation Geschlechtsspezifische Verhaltenserwartungen von Eltern/Erwachsene an Säuglinge/Kleinkinder. - 2/3 der werdenden Eltern ist das Geschlecht ihres Kindes nicht gleichgültig; 50 % wollen einen Jungen, 25 % ein Mädchen. - Nach der Entbindung waren 56 % der Mütter glücklich, 44 % enttäuscht, wenn es eine Tochter war, wohingegen 93 % glücklich und 3 % enttäuscht waren, wenn es ein Sohn war. Fast die Hälfte der Mädchen beginnt ihr Leben als Enttäuschung für ihre Mütter und das soll in der Folgezeit keinen Einfluss haben? (Quelle: Geo: Kindheit und Jugend 1994) Das Zuteilen der klassischen Geschlechterrollen beginnt mit der Geburt eines Kindes. Schon allein der Name genügt bei einem Erwachsenen, um ein Baby entsprechend seines (scheinbaren) Geschlechts zuzuordnen bzw. es dementsprechend zu behandeln. Wenn jemand das Kind „Lukas“ nennt, wird ihm zum Spielen ein Auto angeboten. Nennt man dasselbe Kind „Natalie“ ist der fremde Erwachsene geneigt, dem Kind eine Puppe zu reichen. Dieses klassische Experiment mit dem 'Baby X' offenbart Altbekanntes: Kaum sind die lieben Kleinen auf der Welt, lenken Erwachsene Kindervergnügen und -verhalten in geschlechtstypische Bahnen und dies schon lange, bevor Kinder begreifen, was Jungen und Mädchen unterscheidet, bevor sie sich selbst einordnen und entsprechend handeln. (siehe "Erwerb der Geschlechtsidentität") Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 36 von 101 4.4. Frühkindliche Entwicklung und Geschlechtsrollen „Aus der Forschung ist bekannt, dass schon Kindergartenkinder auf einen Säugling unterschiedlich reagieren und ihm spezifische Eigenschaften zuschreiben, je nach dem ob ihnen dieser Säugling als Mädchen oder als Junge vorgestellt wird.“ (Quelle: M. Verlinden in Reinalter, Skript 1996) Die Reaktion auf das Verhalten eines Jungen: "Du bist/handelst ... wie ein Mädchen" ist in der Regel eine negative Kritik, die den Jungen dazu motivieren soll, sein Verhalten schleunigst zu ändern. "Das tut ein Junge nicht (so etwas tun nur Mädchen)" zeigt den Kindern schon sehr früh an, dass es sehr verschiedene Bewertungsmaßstäbe für Verhalten gibt und dass zwischen männlichem und weiblichem Verhalten unterschieden wird. "Du bist/handelst ... wie ein Junge" an ein Mädchen gerichtet signalisiert eine ambivalente Haltung aus Bewunderung und Kritik und beinhaltet auch die Botschaft, dass das Mädchen damit neue Räume betritt, die ihm „eigentlich“ nicht zustehen. Heutzutage wird dieses Verhalten bei Mädchen aber immer mehr gefördert, da auch Mädchen selbstbewusst und stark sein sollen und diese Eigenschaft doch noch hauptsächlich den Jungs zugeschrieben wird. (Vgl. Reinalter 1996) Mädchen wollen auch oft sein wie die Jungs, dabei geht es den Mädchen bei diesem Wunsch um die Zugänge zu ansonsten den Jungen vorbehaltenen Themen und Räumen, um Erlaubnisse und Freiheiten, die den Mädchen lange verwehrt blieben. Allerdings werden diese Räume immer kleiner und begrenzter. Wenn ein Junge "so sein will, wie ein Mädchen", dann löst dies auch heute noch oft Befremden und (heftige) Abwehr aus. Für die weiblichen Seiten des Mannes gibt es auch im Sprachgebrauch keine (wenig) positive Formulierungen, dagegen jede Menge abwertender (Bsp.: Tunte, Memme, Mädchen, usw.). In der frühen Phase der Kindheit (siehe Kapitel 2.2.2.) wird die Geschlechtsidentität ausgebildet und fest verankert. Rollenbilder und -erwartungen prägen die Entwicklung hier sehr nachhaltig. Dies bedeutet also, dass Kinder Geschlecht so leben wie sie es erleben. Ein Mädchen, welches die Frau als unterwürfig, erlebt wird sich dieses Bild einprägen und leben. Außer es kommt zum Fall der doppelten Negation, was bedeutet, dass das Mädchen alles, was es für typisch weiblich hält, Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 37 von 101 ablehnt und genau andersherum handelt. In unserer Gesellschaft werden wir aber kaum noch auf ein so einseitiges Rollenbild stoßen, denn selbst wenn sich die Mutter noch extrem hausfräulich und unterwürfig verhalten sollte, gibt es genug andere Vorbilder, welche auch Einfluss haben (Erzieherinnen, Lehrerinnen, Mütter von Freunden, usw.). Geschlechtsdifferenzierung ist hier deshalb auch besonders wichtig und bedeutet die Reflektion der eigenen Rollenerwartung und ihrer Wiedergabe im pädagogischen Handeln und gleichzeitig eine bewusste Öffnung starrer Fixierung durch Wort und Tat in Materialangebot, Sprache, Umgang, Raumgestaltung, etc. Es muss nicht alles starr männlich oder weiblich sein, aber es sollten trotzdem Freiräume für Geschlechter bestehen. Denn so wichtig die Emanzipation auch ist, so wichtig ist auch die Zuordnung und das Zugehörigkeitsgefühl zu einem Geschlecht. Wenn auch die Chancengleichheit besteht und von enormer Wichtigkeit sowie durch kein Argument zu entfernen ist, so ist es doch auch Tatsache, dass Männer und Frauen total unterschiedlich sind!! Geschlechtsspezifische Unterschiede sind im Bereich der kognitiven und verbalen Fähigkeiten nachweisbar, auch hinsichtlich Aggressivität und räumlichen Fähigkeiten gibt es festgestellte Unterschiede. Jedoch nach Metaanalysen sind diese Unterschiede nur zu 1-5 % ausschließlich vom Geschlecht abhängig, der Großteil der Unterschiede lässt sich damit nicht nachweisen. Der sogenannte "kleine Unterschied" hat sich damit in den vergangenen Jahren als wenig haltbar erwiesen. (Vgl. Scheu 1977, S.) Ursula Scheu (1977) betont darüber hinaus, dass Untersuchungen über Geschlechtsdifferenz meist frühestens im Alter von sechs Monaten durchgeführt werden. (Warum, kann ich leider nicht sagen.) Bis zu diesem Zeitpunkt hat jedoch schon vieles an unterschiedlicher Umgangsweise mit Kindern ihr Verhalten geprägt. Scheu zitiert Untersuchungen, aus denen hervorgeht, dass Mädchen: - kürzer gestillt werden und ihnen beim Trinken weniger Pausen zugestanden werden - weniger körperliche Stimulation in bezug auf Bewegungsfreiheiten und -möglichkeiten erhalten Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 38 von 101 - sprachlich im Gegensatz zu Jungen eher auf eigene Laute zurückgeworfen werden, während Jungen neue verbale und akustische Anregungen geboten werden - sehr viel früher zur Sauberkeit erzogen werden - viel früher Selbständigkeit (z.B. Anziehen und Essen) von ihnen verlangt wird - ihre Expansionsmöglichkeiten schon im Kleinkindalter eingeschränkt werden Bevor die Kinder in den Kindergarten komme, ist schon vieles im Hinblick auf Geschlechterdifferenzierung passiert. 4.5. Wahrnehmung und Geschlecht als Soziale Rolle Aus der Wahrnehmungspsychologie ist bekannt, dass Wahrnehmung sehr subjektiv ist und gewissen Gesetzmäßigkeiten folgt. Wir haben quasi Raster entwickelt und erworben, die uns helfen, die Flut der Sinneseindrücke, die unentwegt auf uns einwirken, zu bearbeiten und zu verstehen. Diese Raster wirken so stark, dass Eindrücke, die nicht ins Bild passen solange übergangen oder verfremdet/angepasst werden, solange, bis diese Eindrücke "unübersehbar" geworden sind und wir neue Wahrnehmungskategorien entwickeln. Kinder haben zunächst eine offenen Wahrnehmung und ordnen Erlebnisse und Eindrücke oft in für uns nicht mehr nachvollziehbare Zusammenhänge ein, haben aber andererseits das starke Bedürfnis, Kategorien zu bilden. Diese Kategorien sind zunächst sehr rigide: Kinder haben aufgrund der für sie oft nicht zu verstehenden Komplexität das Bestreben, die Dinge "einzuordnen". Dies gilt genauso für die Geschlechtsrollen, deren Unterscheidungsmerkmale sich die Kinder im Vorschulalter aneignen. Obwohl sie die biologische Geschlechtszugehörigkeit oft nicht erkennen können, können Kinder bereits im Kindergartenalter sehr klar zwischen 'Mann' und 'Frau' unterscheiden. (Grabrucker, M. 1985 in Reinalter, Skript 1996) Die Merkmale entnehmen Kinder den Medien wie Büchern, Fernsehen, Radio sowie der an sie selbst gerichteten Erwartungen. Die alltägliche Lebenserfahrung bietet Kindern zwar auch noch andere Bilder und Erlebnisse, sie werden jedoch selten Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 39 von 101 benannt und stehen den sehr eindeutigen Botschaften plakativer Aussagen gegenüber. So werden zum Beispiel abweichende Beobachtungen wie: "Du Mama, ich habe gesehen wie Frau X in der Autowerkstatt ein Auto repariert hat!"; damit abgetan: "Das kann nicht sein, da arbeiten nur Männer. Frauen machen so etwas nicht.“ So etwas ist nach wie vor weit verbreitet, aber nicht mehr als haltbare Wahrheit tragbar. (Vgl. Reinalter 1996) Im Alltag lernen Kinder, Geschlechtskategorien meist unreflektiert zu übernehmen. Dies gilt auch für die Übername klassisch weiblicher Rollen oder Tätigkeiten von Jungen oder Männern. Verschiedene Studien haben ergeben, dass die nachweislichen Unterschiede nicht durch die Biologie erklärbar sind. Die zwingende Vorstellung der Zweigeschlechtlichkeit und der daraus resultierenden Unterschiede aufgrund chromosomaler oder genetischer Determination ist nicht haltbar. (Vgl. Bilden, H. 1991) Geschlecht ist daher als Soziale Kategorie zu begreifen und wird zum weitaus größten Teil erlernt bzw. es handelt sich in Wirklichkeit um ein soziales Zuweisungsgeschlecht. (Die Unterschiede sind nicht angeboren oder vererbt!) Geschlechtsspezifische Unterschiede, wie wir sie wahrnehmen können und wie sie von Untersuchungen auch immer wieder belegt werden, widersprechen diesem Ansatz nicht. (Vgl. Reinalter 1996) Baby X Studien (derselbe Säugling wird der Versuchsgruppe einmal als männlich, dann als weiblich vorgestellt) zeigen: Schon gegenüber Säuglingen gibt es Erwartungen, Verhaltensinterpretationen und Interaktionsformen, die mit dem angenommenen Geschlecht des Kindes variieren. (Sidorovicz & Lunney, 1980 / Wallston & O'Leary, 1981 in Bilden, Helga 1991) Geschlechtssysteme wie unsere patriarchale Kultur bedienen sich des Geschlechts als Kategorie zur Hierarchisierung: männlich = oben, dominant, besser, positiv,... weiblich = unten, untergeordnet, schlechter, negativ, ... (Schaef, A.Wilson, 1985) Entsprechend dieser gesellschaftlichen Zuweisung, Abwehrung und Verdeckung weiblicher Arbeit und Sexualität blenden Mädchen ihre eigenen Stärken, Fähigkeiten, Interessen und Bedürfnisse bei sich selbst und bei anderen Frauen und Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 40 von 101 Mädchen aus und entwerfen ein widerspruchfreies, gesellschaftlich toleriertes Bild von sich selbst, um sich in der gesellschaftlichen Normalität - im Gegensatz zur gesellschaftlichen Realität - zu verorten. (Vgl. Reinalter 1996) Dies klingt im Zeitalter der Emanzipation etwas weit hergeholt, doch betrachtet man die Rolle der Frau in der heutigen Gesellschaft genauer, merkt man, dass dieses „Verhaltensschema“ doch noch weit verbreitet bzw. tief eingeprägt ist. An dieser Stelle möchte ich kurz auf die Interviews hinweisen: obwohl alle befragten Mädchen eindeutig mit "Nein" auf die Frage, ob sie lieber ein Junge sein wollten antworteten, so waren sie sich doch auch alle einig, dass Männer mehr Chancen auf einen guten Beruf sowie einen besseren Stand in der Gesellschaft haben. Ich selber denke, dass dies nicht ganz der Realität entspricht. Wir Frauen haben die gleichen Chancen wie Männer, wir müssen nur etwas härter dafür arbeiten. Doch in Deutschland stehen Frauen (fast) alle Türen offen. Ich will nicht behaupten, dass es keine Schwierigkeiten für Frauen gibt und auch noch etliche vehemente Gegner „frei herumlaufen“ – nicht umsonst muss es eine gesetzliche Frauenquote geben - , dennoch steigen die Chancen und immer mehr Türen öffnen sich. Was nach wie vor leider auch eine traurige Tatsache ist, ist, dass die Bezahlung für die gleiche getätigte Arbeit geschlechtsabhängig differenziert. Durchschnittliche Bruttoverdienste in Deutschland Produzierendes Gewerbe Gegenstand der Einheit 1999 2000 2001 Std. 37, 9 38, 2 38, 1 - männlich Std. 38 38, 3 38, 2 - weiblich Std. 37 37, 4 37, 3 13, 94 13, 98 14, 23 Nachweisung Bezahlte Wochenstunden der Arbeiter Bruttostundenverdienste EUR der Arbeiter - männlich EUR 14, 43 14, 46 14, 73 - weiblich EUR 10, 97 10, 95 11, 11 Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 41 von 101 Bruttowochenverdienste EUR 529 534 542 der Arbeiter - männlich EUR 551 554 562 - weiblich EUR 406 409 414 3 404 3 414 3 511 Bruttomonatsverdienste EUR der Angestellten - männlich EUR 3 699 3 730 3 826 - weiblich EUR 2 602 2 607 2 689 Quelle: Statistisches Bundesamt Deutschland, aktualisiert am 25.06.2002 Diese Zahlen sprechen leider sehr stark für sich. Nur nochmals zum Vergleich: Ein männlicher Arbeiter verdiente 2001 pro Woche noch 148 € mehr als eine weibliche Arbeiterin. Ein männlicher Angestellter verdiente 2001 pro Monat sogar 1 137 € mehr. Das erschreckende daran ist, dass die Differenz auch noch gestiegen ist. 1999 verdiente ein männlicher Angestellter 1 097 € mehr als eine Angestellte. Traurige Zahlen, die klarmachen, dass von einer echten Chancengleichheit noch lange nicht gesprochen werden kann. 5. Die Freiheit nehm ich mir – die Suche nach der Identität Alle reden heute von Identität, doch sucht man in der Literatur nach einer eindeutigen Antwort, findet man diese nicht. Noch vor ein paar Jahren war der Begriff noch kaum zu finden bzw. einfach nicht vertraut. Heute beschäftigt Identität alle. Sie bestimmt den medialen und politischen Diskurs, man findet Artikel über die „Identität der Kaninchenzüchter“ (siehe Keupp 1997), religiöse Gruppen bieten Wochenenden zur „Identitätsfindung“ und der politische Raum erfindet die „Identity politics“. Überall im Alltag begegnet uns der Identitätsbegriff. Daraus leitet Brunner die „Identität als Inflationsbegriff Nr. 1“ ab. (1987, S.63) Doch was heißt das? Ist Identität wirklich inflationär? Ist die Identität wirklich ein Begriff, der sich selbständig halten kann? An dieser Stelle möchte ich die Identität nach meiner Vorstellung aufteilen: Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 42 von 101 5.1. Identitätsaufbau 5.1.1. Name, Daten, Fakten – die gespeicherte Identität Fragt man einen Fremden auf der Straße: „Wer bist du?“, wird man als Antwort den Namen dieser Person bekommen. Bei weiteren Fragen vervollständigt sich das Bild um Alter, Familienstand, Beruf, Wohnort, usw. Das sind Fakten, die uns in der Gesellschaft als Individuum kennzeichnen. Müssen wir uns identifizieren tun wir das mit unserem Personalausweis, bereisen wir ferne Länder brauchen wir zur Identifikation einen Reisepass. Wir sind mit Daten gespeichert, bekommen eine persönliche Nummer und sind dadurch eine „individuelle“ Person, wir haben eine Identität. Durch diese Identität ist uns ein Leben in der Gesellschaft gesichert. Wir sind gespeichert und dadurch ‚leben’ wir im System. Dieser Beweis unserer Identität wird unterstützt durch ein Passfoto, welches die Möglichkeit gibt, uns visuell zu identifizieren. 5.1.2. Optisches, visuelles Bild – die repräsentative Identität Unsere äußere Erscheinung ist eine weitere Form der Identität. Einerseits werden wird über unser Aussehen, wie es von der Natur gegeben wurde, identifiziert (die Form unseres Körpers, des Gesichts, die Größe, die Farbe der Haare und der Augen sowie unverkennbare Merkmale). Das sind Zeichen, über die uns die Außenwelt erkennt und uns unserem Namen und (meistens) unserem Geschlecht zuteilt. Durch unseren Kleidungsstiel haben wir die Möglichkeit, uns einer Gruppe anzuschließen (Punks, Grufties, Snobs, usw.) oder uns individuell zu kennzeichnen. Über kosmetische Maßnahmen (Make up, Frisur, Schmuck) kann man sich selbst, wie beliebt, unterstreichen und repräsentiert damit sich Selbst und, ob bewusst oder unbewusst, seine individuellen Identität. 5.1.3. Charaktereigenschaften – die „versteckte“ Identität Fragt mich eine mir vertraute Person: „Wer bist du?“, werde ich verdutzt lachend meinen Namen sagen. Doch dann muss man über diese Frage nachdenken. Wer bin ich eigentlich?! Bin ich all die oben angeführten Tatsachen? Natürlich bin ich das, aber nicht nur. Ich bin ein Individuum, das sich durch Fakten und optische Aspekte Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 43 von 101 nach außen zu erkennen zeigt, aber ich bin auch ein Mensch, der sich durch Charaktereigenschaften auszeichnet. Menschen, die mich kennen, werden mich über Eigenschaften identifizieren, weniger über Fakten. Diese individuellen Charaktereigenschaften sind nach außen nicht sichtbar und damit für den Großteil Menschen auch nicht zugänglich und dennoch machen sie sicherlich einen größeren Teil zum Bilden der Identität aus. 5.1.4. Soziales Umfeld – die anerzogene Identität Als Neugeborenes und Kleinkind identifiziert man sich über seine Mutter, später über die Familie und noch später über das Umfeld bis man im Anfangsstadium der Adoleszenz beginnt, sich selbst zu finden und dabei versucht darauf zu verzichten, sich über andere zu definieren. (Wobei dies ein als scheinbar unmögliches Unterfangen erscheint.) Dieser Prozess ist sehr schwierig und meiner Meinung nach dauert er ein Leben lang. Allerdings findet der Schwerpunkt definitiv in der Pubertät statt. Der junge Mensch ist nicht mehr gewillt, sich über seine Familie zu identifizieren. Hier kommen eher noch Freunde in Frage, doch der Wunsch nach Selbständigkeit ist groß und der Drang, diese durchzusetzen, bestimmt die Entwicklung. Trotz oder gerade wegen dieser Entwicklung ist ein Teil unserer Identität anerzogen. Unser Verhalten auf Alltagssituationen, unser Umgang mit Menschen, unsere Einstellung zur Politik und Umwelt bekommen wir durch die Familie, die Schule und Peergroups vermittelt. Um so älter wir sind, um so mehr sind wir fähig zu filtern. Doch ein Großteil wird angenommen. Wie unsere Familie uns erzieht ist maßgeblich an der Entwicklung der Identität beteiligt. 5.1.5. Tiefenstruktur – die durch Gene vorbestimmte Identität Das ist der wohl am schwersten zugängliche, am wenigsten nachweisbare und doch der tiefste Punkt der Identität. Ohne die uns vorgegebene Struktur, die wir bei unserer Zeugung mitbekommen haben, wären alle anderen Schichten der Identität nicht in ihrer Form eine Tatsache. Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 44 von 101 Die Tiefenstruktur lässt sich auch ein Leben lang nicht mehr verändern. Sie ist fest in ihrer Form und durch alle anderen Einflüsse nicht veränderbar. An diesen Kern hängt sich alle Entwicklung, um zu einer Vollendung zu werden. Die äußere Hülle ist ständig variierbar, also total flexibel, doch so näher man an den Kern kommt, um so fester wird die Struktur. Die uns mitgegebenen Gene sind unveränderbar und ausschlaggebend für vieles in unserem Leben. Als Beweis für diese Theorie möchte ich die Minessotta - Studie anführen. In dieser Studie wurden eineiige Zwillingspaare, welche gleich nach der Geburt getrennt wurden und nach Jahrzehnten wieder zusammenfanden, auf ihre Gewohnheiten, Charaktereigenschaften und Lebenseinstellungen verglichen. Trotz unterschiedlichsten Sozialisationen wiesen die Personen bzw. die Zwillingspaare überraschend große Übereinstimmungen auf. Angefangen bei der Vorliebe für Kleidungsstiele und der Art den Bart zu tragen, über Verhaltens- und Charakterschemata bis hin zum Kettenrauchen und des Lieblingstieres. (Vgl. Biologie heute S II, S. 82) Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 45 von 101 5.1.6. Grafik zum Identitätsaufbau Mit dieser Grafik möchte ich nochmals meine Vorstellung vom Aufbau der Identität anschaulich machen. Der rote Kern der „Identitätskugel“ ist für mich die in 5.1.5. genannte Tiefenstruktur. Dieser Kern ist, wie bereits erwähnt, fest und lässt sich nicht verändern. Die darauffolgende grüne Schicht stellt für mich das soziale Umfeld bzw. die anerzogene Identität dar (vgl. 5.1.4.). Diese Teilschichten sind relativ fest und dick und dennoch kann man sie austauschen bzw. weitere hinzufügen. Diese Schicht – wie alle folgenden Schichten – bilden keine durchgehende Fläche, denn auch über Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 46 von 101 Jahre gemachte Erfahrungen, anerzogene Verhaltensmuster können mit viel Konsequenz und Durchhaltevermögen abgewöhnt bzw. verändert werden und außerdem handelt es sich ja um sehr viele verschiedene Erfahrungen. Die nun folgende blaue Schicht, die Charaktereigenschaften (vgl. 5.1.3.) sind etwas dünner als die grünen Schichten aber haben fast die gleichen Eigenschaften. Auch sie sind recht fest und doch austauschbar und zu ergänzen. Noch zu erwähnen ist, dass der Übergang zwischen anerzogenen Verhaltensweisen und Charaktereigenschaften sehr dünn ist und manchmal sogar identisch. Ich trenne es trotzdem, weil ich glaube, dass eine Eigenschaft wie z.B. Geiz eher unter Kontrolle bzw. veränderbar ist als z.B. die Grundlegende – eben von Kindesbeinen an angeeignete – Einstellung zur Moral- und Wertvorstellung. Meine Vorstellung ist, dass sich auf diese Schichten weitere, immer dünnere Schichten der Identität legen. Diese Schichten entstehen durch Erfahrungen und Erlebnisse. Das optische Bild (vgl. 5.1.2.) und die gespeicherte Identität (vgl. 5.1.1.) stelle ich mir wie einen Mantel über der „Identitätskugel“ vor. Dieser Mantel ist für alle sichtbar und nötig für die Kugel. (Sie bietet Schutz und wahrt ein Bild.) Wer bis zum Kern vordringen will, muss sich mit der individuellen Identität beschäftigen. Um die Vorstellung abzurunden, ein letztes Bild: Wie man die Kugel sieht, liegt immer daran, in welchem Licht man sie betrachtet bzw. ob sie vom Nebel verhüllt, mit Schnee bedeckt oder von der Sonne angeschienen wird. Damit will ich sagen, dass selbst ein - und dieselbe „Identitätskugel“ mit ihrem individuellen Mantel sich noch immer situationsbedingt scheinbar verändern kann. Eine Person ist in ihrem familiären Umfeld dieselbe wie in ihrem beruflichen und trotzdem ist sie anders, weil sie sich anders verhält und weil sie andere Augen sehen. Identität ist immer in Bewegung, sie „dreht“ sich ständig und wird sich, bis zum Schluss, nie vollständig abschließen. Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 47 von 101 6. Entdecke die Möglichkeiten – Frau werden, Frau sein, Frau bleiben ↔ weibliche Identität Was ist heute die Frau in unserer Gesellschaft? Gibt es wirklich noch diesen großen Unterschied zwischen Mann und Frau? Was ist mit all dem Girl-Power und den Zickenkarrieren?! Aus meiner Sicht würde ich sagen, dass all die geschlechtsspezifischen Unterteilungen total verschoben sind. Es gibt nicht mehr die typisch weibliche und typische männliche Rolle wie vielleicht sogar noch vor zwanzig Jahren. Natürlich war zu diesem Zeitpunkt die Veränderung schon in vollem Gange – sie ist es immer noch, aber die Grundvoraussetzungen ändern sich ständig. 6.1. Frauenbild heute Meiner Meinung nach ist das Hauptproblem für junge Frauen das, was gleichermaßen ihr größtes Glück ist: es gibt keine eindeutige Frauenrolle mehr!!! Die Frau gehört schon lange nicht mehr „hinter den Herd“ und ist alleine für die Erziehung der Kinder zuständig, aber sie darf hinter den Herd und die Kinder erziehen, genauso wie es der Mann darf. Frau sein bedeutet nicht mehr Einseitigkeit, Frau sein ist Vielseitigkeit. Dies fing nicht mit dem Beginn der neunziger Jahre an, sondern war ein langsamer Prozess, der sich, bedingt durch die globale Entwicklung, schleichend und stetig vollzog und vollzieht. 6.2. Das Frauenbild im geschichtlichen Vergleich Frauen waren schon immer genauso „fähig“ wie Männer, doch durften sie es oft nicht sein und dies wurde durch die körperliche Überlegenheit der Männer und das „primitiv halten“ der Bevölkerung unterstützt. Trotzdem gab es schon immer Frauen, die selbst in der absoluten „männlichen“ Zeit Karriere machten, z.B. Kleopatra, die Amazonen, Marie Curie, Rosa Luxemburg und viele mehr. Frauen waren nach meiner Meinung schon immer genauso weit entwickelt wie Männer (wenn nicht sogar weiter), hatten aber nicht immer die Möglichkeit dies Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 48 von 101 auszuleben. Dafür ist und war lange Zeit die „Moral“ der Gesellschaft schuld. Den „Anfang des Übels“ lege ich in die Zeit der großen Philosophen wie z.B. Aristoteles, der nichts von der Meinung der Frauen hielt und dem, meiner Meinung nach, gewichtigsten Grund: die Bibel. Um nur ein paar Stellen anzuführen: Im Alten Testament: 1. Moses 2, 18 und 22 18 Und Gott der Herr sprach: Es ist nicht gut, dass der Mensch alleine sei; ich will ihm eine Gehilfin machen, die um ihn sei. 22 Und Gott der Herr baute ein Weib aus der Rippe, die er von dem Menschen nahm, und brachte sie zu ihm. ⇒ durch den Sündenfall ruft Eva die Verbannung aus dem Paradies hervor und macht die Frau dadurch schuldig an der Menschheit. (Bei Augustinus die sogenannte Erbsünde.) Oder im Neuen Testament: 1.Korinther 11, 8 und 9 8 Denn der Mann ist nicht geschaffen von der Frau, sondern die Frau von dem Manne. 9 Und der Mann ist nicht geschaffen um der Frau willen, sondern die Frau um des Mannes willen. Epheser 5, 22 und 23 22 Ihr Frauen, ordnet euch euren Männern unter wie dem Herren. 23 Denn der Mann ist das Haupt der Frau, wie auch Christus das Haupt der Gemeinde ist, die er als sein Leib erlöst hat. Der heilige Hieronymus stellte sogar die Behauptung auf, das alles Übel auf Erden durch die Frau verursacht wird. (Vgl. R. Druck, Dipl. Arbeit 1993) (Aber: ohne die Frau wäre die Schöpfung mit Adam und Eva zu Ende.) Da die Menschen über Jahrhunderte so gut wie nichts anderes zum Maßstab als die Bibel hatten und ihre Bildung bzw. das (Staats)System oftmals keine eigenen, revolutionären Gedanken zuließ, war es Wahrheit und Gesetz. (Wobei ich hier anführen möchte, dass ich die grundsätzliche Wahrheit der Bibel keinesfalls in Frage stelle! ) So war die Frau also dem Manne Untertan bzw. sein Wort hatte Recht und ihres nicht. Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 49 von 101 Doch schon immer gab es Frauen, die sich gegen dieses System zur Wehr setzten und versuchten, ihre eigene Freiheit zu erreichen. Wenn nicht mit dem System, dann gegen es bzw. es wurde mit seinen ‚eigenen Waffen’ geschlagen. So gab es über Jahrhunderte hinweg mehrere Frauen, die erfolgreiche Männer waren, manchmal sogar ohne, dass der Schwindel aufflog. Dazu gehört natürlich viel Mut und Intelligenz, um das Ganze umzusetzen, was wiederum ein Beweis mehr für die Theorie ist, dass Frauen ebenso viel können wie Männer. Beispiele von Frauen, die sich erfolgreich als Männer ausgegeben haben: Ca. Mitte des neunten Jahrhunderts gab es die Päpstin Johanna bzw. den Papst Johannes. Mary Read, die zu Beginn des 18. Jahrhunderts als Pirat lebte; Hannah Snell, „ein Soldat und Seemann“ in der britischen Marine; eine Frau aus dem 19. Jahrhundert, deren wirklicher Name unbekannt ist, die aber unter dem Namen ‚James Berry’ bis zum Rang eines Generalinspektors der britischen Krankenhausverwaltung aufstieg; Loreta Janeta Velaquez, die unter dem Namen ‚Harry Buford’ im amerikanischen Bürgerkrieg in der Schlacht am Bull Run für die Südstaaten kämpfte. Das jüngste Beispiel ist Teresinha Gomez aus Lissabon, die achtzehn Jahre lang erfolgreich vorgab, ein Mann zu sein; als hochdekorierter Soldat stieg sie in der portugiesischen Armee bis zum Rang eines Generals auf und wurde erst 1994 „enttarnt“, als sie aufgrund einer Anklage wegen finanziellen Betrugs festgenommen wurde und sich einer Leibesvisitation durch die Polizei unterziehen lassen musste. (aus „Die Päpstin“ von Donna W. Cross, 1996, S.566) 6.3. Die Entwicklung des Frauenbildes im letzten Jahrhundert Nun will ich mich schwerpunktmäßig den vergangenen ca. 60 Jahren zuwenden, die auch (noch) von Bedeutung sind für die Entwicklung der Identität heutiger jugendlicher Mädchen. Vorneweg ist klarzustellen, dass ich mich hauptsächlich auf unsere Gesellschaft (westliche Kultur) konzentrieren werde und anderen Gesellschaftsformen allerhöchstens als Beispiel anfügen werde. Mit der Einführung des allgemeinen Wahlrechtes auch für Frauen, in Deutschland 1919, ca. 50 Jahre nach dem allgemeinen Wahlrecht für die Männer (vgl. Meyers Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 50 von 101 großes Taschenlexikon, 1999), bekam die Frau ein großes Stück mehr politische und dadurch auch gesellschaftliche Autonomie. Ich glaube, dass sich durch die beiden großen Weltkriege, vor allem durch den Zweiten, viel in der Entwicklung der weiblichen Emanzipation getan hat. Die Frau hatte in den meisten Fällen nicht mehr die Möglichkeit, selbst wenn sie wollte, sich über einen Mann zu definieren, es war oftmals niemand da, der sagte, „wo es lang geht“. Die Frauen waren auf sich selbst gestellt und bewiesen einmal mehr, sich selbst und der Gesellschaft, dass sie „ihren Mann“ stehen konnten. Die Trümmerfrauen sind das beste Beispiel dafür; ohne sie wäre Deutschland nicht so schnell wieder „auf die Beine“ gekommen. 6.3.1. Die Emanzipation als Frauenbewegung Emanzipation, das lateinische Wort für „Freilassung“, ist wohl in den vergangenen Jahren zu einem DER Schlagwörter unserer Gesellschaft geworden. (Ebenso wie der Bergriff ‚Identität’.) Im römischen Recht galt Emanzipation als die Entlassung eines Sohnes aus der väterlichen Gewalt (vgl. Meyers großes Taschenlexikon, 1999), im Lexikon wird Emanzipation als die Befreiung von Individuen oder Gruppen aus rechtlicher, politisch-sozialer, psychischer oder geistiger Abhängigkeit beschrieben. Der Emanzipationsbegriff wird in Deutschland aber in einem Atemzug mit der Frauenbewegung genannt und meistens mit dem Feminismus verwechselt bzw. „über einen Kamm geschert“. Bleiben wir bei der Emanzipation im Zuge der Frauenbewegung, so ist sie seit ca. der Hälfte des 20. Jh. als individuelle Fähigkeit zur kritischen Urteilsbildung und relativen eigenverantwortlichen Lebensgestaltung der Frauen zu verstehen. Diese Bewegung würde zeitlich übereinstimmen mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und somit meine These vom ‚offiziellen Beginn’ der Veränderung der Weiblichkeit unterstützen. 6.3.2. Frauen im Beruf, Frauen in der Politik, Frauen in der Familie Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges also begann sich die Rolle der Frau stetig zu verändern bzw. zu entwickeln. Nicht mehr so langsam und dafür offiziell festigt sich das Bild der Frau in der Gesellschaft und dadurch natürlich auch die Wertigkeit ihres Status. Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 51 von 101 Durch das nicht nur aktive, sondern auch passive Wahlrecht ist es Frauen gestattet, als Politikerinnen zu agieren. Wo es vorher Frauen nur mit allergrößter Mühe und so gut wie unmöglich war, in die Politik zu kommen und dann auch noch etwas zu bewegen, ist es nun, zumindest theoretisch, kein Problem mehr. Kaum vorstellbar, was Rosa Luxemburg (1871 – 1919) geleistet hat und nun im Vergleich z.B. eine Renate Künast, um politisch arbeiten zu können. Es sind noch keine hundert Jahre vergangen und es hat sich sehr viel getan. Seit der ersten Bundestagswahl am 14.08.1949 hatten wir in der Bundesrepublik Deutschland zum Beispiel schon zwei weibliche Bundestagspräsidentinnen. Zum Einen 1972 - 1976 Annemarie Renger und zum Anderen 1988 - 1998 Rita Süssmuth. (Meyers großes Taschenlexikon 1999) Natürlich geht es nicht nur politisch für die Frauen voran, sondern auch beruflich, gesellschaftlich und familiär. Wo 1950 noch die meisten der Frauen als Hausfrau und Mutter tätig waren, so sind heute ca. ¾ aller Frauen zwischen 20 und 40 Jahren berufstätig und teilweise zusätzlich auch noch Hausfrau und Mutter. Gegenstand der Einheit 1999 2000 2001 Erwerbspersonen 1 000 40 508 40 326 40 550 Erwerbstätige 1 000 36 402 36 604 36 816 Dar.: weiblich 1 000 15 744 15 924 16 187 Erwerbslose 1 000 4 106 3 722 3734 Dar.: weiblich 1 000 1 886 1 726 1 680 Nichterwerbspersonen 1 000 41 515 41 834 41 728 Männlich 1 000 17 127 17 404 17 478 Weiblich 1 000 24 388 24 431 24 250 Nachweisung Waren es 1999 noch 63, 8 % weibliche Beschäftigte zwischen 15 und 65 Jahren, so waren es 2001 bereits 64, 9 %. (Quelle: Statistisches Bundesamt Deutschland, aktualisiert am 12.06.2002) Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 52 von 101 Es ist nicht mehr unmöglich am Anfang des 21. Jh., Karriere und Familie unter einen Hut zu bringen, es ist eher schon normal. Frauen sind wie Männer in den unterschiedlichsten Sparten tätig und erfolgreich. So gibt es die Stars und Sternchen der Filmbranche sowohl auf weiblicher als auch auf männlicher Seite, die Musik wird von Frauen wie auch von Männern produziert und vorgetragen, Erfindungen finden ihren Ursprung bei beiderlei Geschlechtern und auch „typische“ Männer- bzw. Frauenberufe werden von beiden ausgeübt. (Z.B. KfzMechanikerin, Feuerwehrfrau, Erzieher, usw.) Natürlich fällt auf, dass es mehr Frauen in ‚typischen’ Männerberufen gibt als umgekehrt. Dies liegt aber daran, dass es weniger typische Frauenberufe gibt als Männerberufe, was durch die Tatsache bedingt ist, dass Frauen über Jahrhunderte gar keine Berufe ausübten außer eben den der Hausfrau und Mutter. (Natürlich nicht zu vergessen, das älteste Gewerbe der Welt: die Prostitution. Dies ist durchaus, bis heute ein Beruf der wohl als „typisch“ weiblich angesehen werden kann. Zu meinem Thema spielt dieser Berufsstand aber nur eine kleine Rolle und ich werde ihn nun weitgehend übergehen, was nichts mit einer Wertung zu tun hat.) Das dies – der Beruf der Hausfrau und Mutter - wiederum nicht als vollwertiger Beruf angesehen wird, zeigt die Tatsache, dass es dafür keine gesetzliche Rente, keine Versicherung und kein besonders hohes gesellschaftliches Ansehen gab und gibt. Es liegt mit Sicherheit aber auch daran, dass Frauen sich einfach immer mehr zutrauen. Heute ist es ja aber auch nicht mehr unmöglich, dass ein Mann zu Hause bleibt und Hausmann ist bzw. sogar alleine seine Kinder erzieht. Dies wäre noch vor Jahren undenkbar bzw. einfach nicht gesellschaftsfähig gewesen. 6.3.3. Alice Schwarzer, die Feministinnen und die Homosexualität Mit dem Aufkommen der Emanzipationswelle kam auch die des Feminismus. Den Feministinnen voran stand die Journalistin Alice Schwarzer. Sie gibt seit 1977 die Frauenzeitschrift „Emma“ heraus, welches für die Feministinnen ein wichtiges und auch ein allgemein bekanntes Blatt ist. Der Feminismus beruht auf der Meinung, dass das Weibliche besser und wertvoller ist als das Männliche und damit die Frauen eigentlich die wahren Herrscher der Gesellschaft sind. Hier möchte ich jetzt auch die partnerschaftliche Beziehungen von Frauen untereinander einbringen. Dass Frauen lesbische Beziehungen führen, ist in unsere Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 53 von 101 Zeit durchaus normal und auch weitgehend gesellschaftliche anerkannt. (Ebenso die schwule Beziehung von Männern.) Natürlich gibt es nach wie vor vehemente Gegner dieser Art von Beziehungen und Schwule und Lesben werden mancherorts noch „schräg“ angesehen und diskriminiert (vorwiegend in ländlicheren Gegenden). Doch in einer Gesellschaft, in der diese Paare bereits vor dem Gesetz getraut werden können, kann man kaum von einer großflächigen Missbilligung sprechen. Es ist noch keine 40 Jahre her, da wäre dies ein Ding der absoluten Unmöglichkeit gewesen, in einer Zeit in der sich junge Menschen das Leben nahmen, weil sie verzweifelt wegen ihrer „falschen“ sexuellen Neigung waren. Heute gibt es schon die Tendenzen dazu, homosexuell zu sein, weil es „in“ ist. Über die Theorie des Feminismus lässt sich meiner Meinung nach streiten, allerdings ist er eine weitere Möglichkeit für Frauen, sich zu orientieren und ein weiterer Zweig in der Entwicklung der Frau bzw. des Weiblichen in unserer Gesellschaft. 6.3.4. Frau und Mutter als Aufgabe und Lebenswerk Neben den Feministinnen gab und gibt es aber nach wie vor jene Frauen, die das weiblich Häusliche streng verteidigen und die ihren Platz an der Seite eines Mannes sehen, mit der Aufgabe seinen Nachwuchs und sein Haus zu versorgen und die sich in dieser Rolle auch aufgehoben und glücklich fühlen. Für diese Frauen (und natürlich auch für die Männer mit dieser Meinung – wovon es vermutlich erheblich mehr gibt als Frauen...) existiert nach wie vor ein klares Frauenbild, was auch weiterhin in der Erziehung deren Kinder zu einer strikten geschlechtsspezifischen Rollenverteilung führt. 6.3.5. Der Wille, die Möglichkeiten und die Gene als Grundlage der Identitätsentwicklung Zwischen diesen beiden Extremen finden wir eine enorm große Bandbreite an weiteren und unterschiedlicheren Einstellungen und Meinungen zum Bild der Frau in unserer Gesellschaft. Sämtliche Möglichkeiten stehen der jungen Frau von heute offen. Keine Universität in der Bundesrepublik kann einer Frau den Zugang bzw. das Studium auf Grund Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 54 von 101 ihres Geschlechts verwehren. Die Bildungsmöglichkeit steht allen – „Männlein und Weiblein“ - zu. Natürlich gibt es nach wie vor Studiengänge, die hauptsächlich von Männern belegt werden – meistens die naturwissenschaftlichen Fächer – doch der Irrglaube, Frauen könnten nicht logisch denken und seien dadurch für diese Berufe bzw. Studiengänge absolut ungeeignet, wurde längst widerlegt. Oft liegt es einfach daran, dass der Mut und der Zuspruch bei den jungen Frauen fehlt, doch mit dem steigenden weiblichen Selbstbewusstsein in unserer Gesellschaft steigen auch die Zahlen derer, die solchen Irrglauben widerlegen. Insgesamt ist heute der Frauenanteil in verschiedenen Stadien der akademischen Laufbahnen sehr hoch bzw. zunehmend: Gegenstand der 1998 1999 2000 Studienanfänger 48, 5 49, 3 49, 2 Studierende 44, 5 45, 3 46, 1 Absolventen 42, 2 43, 5 44, 8 Promotionen 33, 1 33, 4 34, 3 Habilitationen 15, 3 17, 7 18, 4 Hochschulpersonal 50, 4 50, 5 50, 8 24, 2 24, 8 25, 6 28, 9 29, 5 30, 4 Professoren 9, 5 9, 8 10, 5 C4 – Professoren 5, 9 6, 3 6, 5 Bevölkerung 51, 3 51, 2 51, 2 Nachweisung insgesamt Hauptberufliches wissenschaftliches und künstlerisches Personal Wissenschaftliche und künstlerische Mitarbeiter insgesamt (Quelle: Statistisches Bundesamt Deutschland, aktualisiert am 26.11.2001) Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 55 von 101 Alle Angaben zeigen den Frauenanteil in Prozent an. Wenn auch nur eine geringe, so ist doch eine stetige Zunahme des Frauenanteils zu beobachten. Vor wenigen Jahrzehnten war der Weg der jungen Frauen vorprogrammiert. Sie heirateten oder wurden verheiratet und ihre Aufgaben waren die drei großen ‚Ks’: Kinder, Küche, Kirche + Ehemann. Das war so und daran gab es nichts zu rütteln und zu ändern. Einerseits eine furchtbare Vorstellung, die uns heute als der blanke Horror erscheint, die einem keine Möglichkeit zum freien Willen lässt, andererseits eine vorprogrammierte und gesicherte Zukunft, die einen nicht in die Verzweiflung der Planlosigkeit getrieben hat. Für mich bleibt kein Zweifel an der Tatsache, dass wir Frauen es heute besser haben als die Frauen damals und trotzdem kann ich dieser Variante eine gewisse beruhigende und klare Linie nicht ganz und gar abstreiten. Die Frauen der jetzigen Generation sind selbstbewusst und ehrgeizig, konsequent und wählerisch, sie haben ihren eigenen Kopf und ihren eigenen Weg. Frau sein heute bedeutet, ein autonomer Mensch zu sein. Dies hat nicht nur Vorteile, sondern auch Nachteile. Die volle Verantwortung für etwas zu tragen, hat nicht immer nur schöne Seiten, sondern auch harte Aufgaben und eventuell negative Folgen. Dies ist nun nicht mehr alleine Sache der Männer, sondern auch der Frauen. (Noch ist es für Frauen keine Pflicht zur Bundeswehr zu gehen, aber es steht ihnen schon die Möglichkeit offen, dies zu tun. Nach jüngsten Berichten (Quelle: Informationssendung im Fernsehen) scheitern aber viele junge Frauen an der harten Ausbildung der Bundeswehr.) An dieser Stelle liegt meiner Meinung nach der Hauptknackpunkt der eventuell auftretenden Problematik in der individuellen Entwicklung der Identität: Frauen haben mit Sicherheit die gleichen oder zumindest ausgleichende Fähigkeiten wie Männer und es gibt kaum Aufgaben (vorwiegend berufliche), welche man aufgrund seines Geschlechts nicht nicht bewältigen kann. Dennoch haben wir Menschen auch unsere genetischen Voraussetzungen, welche uns stark beeinflussen können. So ist der bei Männern stark ausgeprägte Fortpflanzungstrieb ebenso eine Möglichkeit wie bei Frauen der Mutterinstinkt, um unsere Prioritäten ins Wanken zu bringen oder zu verschieben. Ebenso bin ich mir sicher, dass durch genetische Veranlagung bedingt Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 56 von 101 (fast) jeder Mensch nach Nähe und Zuneigung sucht und Frauen, sogar noch mehr als Männer, nach Schutz und Geborgenheit. Dieser Wunsch auf der einen Seite und der Stand unserer Gesellschaft auf der anderen Seite führen zu einem inneren Konflikt, der zur großen und eventuell unlösbaren Spannung führen kann. Natürlich muss dies nicht sein und es gibt auch positive Beispiele, welche das negative Denken in Frage stellen. Das sind diejenigen Paare, welche eine Beziehung mit Kinder und Karriere beider Elternteile führen. Doch leider kommt es oft zu Spannungen, da diese Mehrfachbelastung von den wenigsten bewältigt werden kann. Dies liegt aber mit Sicherheit nicht alleine an der Mehrfachbelastung an sich, sondern mehr an der Tatsache, dass man heute solche Konflikte nicht mehr austragen muss, weil man nicht mehr (finanziell) aufeinander angewiesen ist. Außerdem herrscht in unserer Gesellschaft ein enormer Egoismus. Jeder ist mit sich selbst beschäftigt und es ist auch nicht von Nöten, sich mit anderen auseinander zu setzen. Der sozialen Aspekt, das seelische Verkümmern, wird wohl nicht (mehr) wahr genommen. Nie zuvor gab es soviel Scheidungen wie in den 90iger Jahren. 1995 wurden 169 400 Ehen in Deutschland geschieden, 1998 waren es bereits 192 438, 2,5 % mehr (4 636) als 1997 und damit auch bisheriger Höchststand der statistischen Scheidungszahlen. (Quelle: Statistisches Bundesamt Deutschland) Funktioniert die Beziehung doch, bleibt manchmal dafür etwas Anderes auf der Strecke. Das kann der Beruf sein oder aber auch die Kinder. Einerseits kann die Frau sich für alles entscheiden, andererseits muss sie sich aber auch entscheiden. Was noch immer vorwiegend der Fall ist, ist, dass die Frau doch noch als die erste Bezugsperson für die Kinder gesehen wird. Dies findet seinen Ursprung mit Sicherheit aber bei den Frauen selbst, die sich auch nicht vorstellen können, sich diese Aufgabe nehmen zu lassen. Mutter zu sein scheint in den meisten Fällen trotz Karriere ein starker Wunsch, der meiner Meinung nach bereits in der Tiefenstruktur der Frau verankert ist. (Siehe Kapitel 5.1.5.) Die andere, immer häufiger gewählte Variante ist die ohne Kinder. Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 57 von 101 In diesem Fall ist der Wille der Frau, Karriere zu machen oder einfach ihr eigenes Leben unbeschwert und frei zu genießen größer als der Wunsch nach Kindern bzw. der „Ruf der biologischen Uhr“ wird durch starken Willen übertönt. 6.3.6. Girl-Power und Partyluder Mit den „Spice Girls“ in den 90iger Jahren kam die Welle des ‚girl powers’ auf. Die Kraft der Mädchen wurde proklamiert: „Mädchen aller Länder vereinigt euch!“ Die ‚Girlies’ wurden kreiert – „sei frech, falle auf, sei ganz du selbst!“ Was die „Spice Girls“ vormachten, machten viele andere nach. Das „Girlie“ wurde zu einer Leitfunktion. Auffallen um jeden Preis, seine eigene Meinung haben und auch öffentlich vertreten, anziehen, was auffällt und gefällt und einfach mit Spaß das eigene Leben nach eigenem Sinn leben. Die „Girlies“ gaben meiner Meinung nach vielen Mädchen in den 90iger Jahren den Mut bzw. einfach die Identifikationsmöglichkeit, um zu sich selbst zu stehen und aus sich heraus zu gehen. Neben den „Girlies“ kamen dann auch die „Zicken“ und die „Luder“. Wo Luder und Zicke doch eigentlich im Ursprung negativ gemeint war, bauen auf diesen Titulierungen heute schon Karrieren auf. Jenny Elvers und Arianne Sommer sind als „Partyluder“ berühmt geworden. Sie nutzen ihr Aussehen und ihre Weiblichkeit voll zu ihrem Vorteil aus. Auf den großen Partys anwesend sein, berühmte Männer als Partner haben reicht aus zum Erlangen von Berühmtheit. Die Karriere von Verona Feldbusch begann nicht anders. Diese Frauen sind sich ihrer Weiblichkeit voll bewusst und auch der Tatsache, dass Frauen an die „Seite von Männer gehören“. Nur habe sie die Gabe und die nötige Intelligenz (eventuell...), um dies zu ihrem Vorteil auszunutzen: berühmt sein ohne Talent, Geld haben, ohne arbeiten zu müssen und sich im Glanz der eigenen Schönheit zu sonnen. Es ist ihnen nicht wichtig, Ruhm und Ehre selbst zu verdienen durch etwas, was sie leisten. Es ist wichtig, im Blitzgewitter der Kameras zu stehen und gut auszusehen. – Alice Schwarzer dreht es allein bei dem Gedanken „den Magen um“. Und zwischen all den „Girlies“, „Zicken“ und „Ludern“ bleibt noch jede Menge Platz für Kreationen, die noch keinen eigenen Namen tragen, aber trotz allem erlaubt sind und gelebt werden. „Erlaubt ist, was Spaß macht!“ Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 58 von 101 6.3.7. „Erlaubt ist, was Spaß macht!“ Wenn ein Mädchen bzw. eine Frau heute ihre Sexualität frei lebt und häufig ihre Sexpartner wechselt, so ist sie keine Schlampe mehr, sondern einfach eine selbstbewusste Frau. Bekommt sie doch die ‚Auszeichnung’ „Schlampe“ verliehen, dann meist von neidischen Frauen (Männer bewerten dies meist positiver bzw. gleichgültiger), die entweder die Leidtragenden sind oder die nicht den Mut haben, selbst so zu leben oder die Beurteilung erfolgt von denen, die eine sehr hohe bzw. konservative Moralvorstellung haben. Aber: „Erlaubt ist, was Spaß macht!“ Die Entwicklung der Möglichkeiten, wie eine Frau zu sein hat bzw. was sie alles darf und machen kann und dadurch natürlich die gesamte Gesellschaftsstruktur an sich, hat sich in den letzten fünfzig Jahren meiner Meinung nach so schnell verändert bzw. vermehrt, dass sie nicht nur von Generation zu Generation verschieden ist, sondern sich selbst während einer Generation mehrmals veränderte. Das macht vieles leichter, weil auch die Mütter (und Väter) der Töchter keine strikte Rollenverteilung erlebt haben, aber es macht es auch schwerer, weil es keine „richtige“ Norm mehr gibt, an die man sich halten kann. Damit will ich sagen, dass Moral und Norm nicht mehr von der Gesellschaft gegeben wird, sondern jeder sich seine eigenen Wert- und Moralvorstellungen „basteln“ und für sich selbst deren Richtigkeit beschließen muss, da es einfach zu viele Möglichkeiten gibt und kaum etwas nicht erlaubt ist. Natürlich gibt es nach wie vor Verhaltensmuster, die von der Gesellschaft nicht gebilligt werden. Dabei handelt es sich aber um Dinge wie Pädophile oder Umweltsünder, aber nicht um Frauen, die Autorennen fahren oder Städte regieren. Menschen, die das noch ablehnen, gibt es natürlich nach wie vor, aber diese bestimmen nicht das Gesamtbild der Gesellschaft und dadurch deren Wertevorstellung. Das sind wiederum Menschen, die entweder noch stark geschlechtsspezifisch erzogen wurden oder Männer, die ihre „Domänen“ bzw. einfach ihre Männlichkeit in Gefahr sehen. 6.3.8. Idole, Vorbilder und der eigene Weg Wo Twiggy in den 70er Jahren ein einzelnes Idol darstellte, das für viele Mädchen der Start in die Magersucht war, finden wir heute Tausende von Twiggys, die sich im Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 59 von 101 Fernsehen, auf Kinoleinwänden und Werbeträgern zeigen. Schlank sein, schön sein und dadurch liebens“wert“ – das ist die Botschaft. Die jungen Frauen von heute sehen sich einer Überschwemmung von „Schönheit“ gegenüber, die ihnen suggeriert, wie sie sein müssen oder zumindest sein sollten. Nicht umsonst ist die Zahl der an Essstörung Leidender heute so hoch. Viele Mädchen, aber auch Jungs, streben nach dem Schönheitsideal, das vermittelt wird. Einerseits entstehen Essstörungen natürlich aus dem Grund, dass sie das Schönheitsideal der schlanken Frau (des durchtrainierten Mannes) erreichen wollen, um dadurch vermeintliche Anerkennung zu erlangen, andererseits entstehen Essstörungen aus Überforderung und Angst vor der Welt und der Zukunft. Junge Frauen sehen sich heute, aufgrund der vielen Möglichkeiten, einer hohen Erwartungshaltung gegenüber. Kann diese Erwartung nicht erfüllt werden bzw. überfordert sie den jungen Menschen, ist es möglich, dass er darauf (unter anderem) mit Essstörungen reagiert. Jugendliche allgemein müssen sich heutzutage größerem Stress aussetzen, da die Möglichkeiten aber auch die Erwartungen an sie viel höher und vielseitiger sind als zuvor. Allgemein ist die Adoleszenz eine Phase mit erhöhtem Erkrankungsrisiko. Die Anforderungen an den Jugendlichen sind hoch, die Regulierbarkeit und oft auch die soziale Unterstützung eher gering, die Psyche ist überfordert und der Körper reagiert (Psychosomatik). Essstörungen ist eine Art der Möglichkeiten. Doch neben Twiggy und den ganzen anderen Twiggys gibt es auch noch andere Vorbilder, die eine gesunde Entwicklung auch positiv beeinflussen können. Dazu möchte ich sagen, dass alle Vorbilder einen positiven Effekt haben können, wenn sie in einer realistischen Form bleiben. „Nur die Menge macht das Gift!“ (Aussage Herr Wirsig, Chemielehrer am Bildungszentrum Bretzfeld.) So kann ein Popstar zum Vorbild werden, weil er für seine Träume gearbeitet hat; eine Teamkollegin, weil sie durch ihr Talent in den Kader gekommen ist; eine Schauspielerin, weil sie sich von der Werbung bis zum Hollywoodfilm hochgearbeitet hat und noch dazu Teakwondo beherrscht; die Punks, weil sie sich nicht dem System unterordnen; die Mutter, weil sie für das Erreichen ihrer Ziele hart arbeitet und trotzdem nicht ihre Familie vernachlässigt und bestimmt noch viele mehr (Die Beispiele sind aus den Interviews mit den Realschülerinnen). Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 60 von 101 Vorbilder und Idole können helfen, über eigene Schwächen hinwegzukommen bzw. zu akzeptieren, dass man welche hat. Durch die Identifikation mit anderen oder eben auch dem Umkehrfall, der Ablehnung anderer Verhaltensweisen und Meinungen, kann sich eine starke individuelle Person herausbilden. Vorbilder können zeigen, dass man sich für etwas einsetzten muss, um Ziele und Träume zu erreichen und zu realisieren. (Siehe auch Kapitel 4..2.1. Lernen am Modell) Solange Vorbilder und Idole nicht über das eigene Leben gesetzt werden, sind sie meist eine sinnvolle Einrichtung auf dem Weg der Identitätsentwicklung. 6.4. Eriksons Modell und die Identitätsentwicklung heute In Kapitel 3.2. habe ich mich mit der Identitätsentwicklung nach Erikson beschäftigt. Sämtliche Theorien der Persönlichkeitsentwicklung – unter anderem auch die von Erikson – sind schon Jahrzehnte alt. Dadurch stellte ich mir die Frage, ob sie denn überhaupt noch aktuell, d.h. unsere heutige Entwicklung anwendbar sind. Ich bin zu dem Entschluss gekommen, dass sie es sind. Ich glaube, dass die meisten Theorien zeitlos und dadurch immer aktuell sind. Um diese Meinung zu unterstreichen, möchte ich dies am Beispiel von Erikson klar machen. Die Wechselwirkung zwischen Individuum und Gesellschaft ist Grundlage für die Entwicklung einer Persönlichkeit! Erikson ging davon aus, dass sich das Gefühl, eine Identität zu besitzen, aus der Erfahrung ergibt. (Vgl. Erikson 1973, S.18) und ich bin mir sicher, dass dies auch heute noch so ist. Es geht nach wie vor nicht nur um die bloße Tatsache der Existenz, sondern auch um die Qualität, den Inhalt des Existierens. Um meine Meinung ganz klar zu machen, werde ich die acht Stufen Eriksons nun übernehmen und auf die weibliche Entwicklung übertragen: 1. Phase: Urvertrauen gegen Misstrauen In dieser Phase befinden sich, nach meiner Meinung, noch keine all zu großen Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen. Natürlich, und hier möchte ich Ursula Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 61 von 101 Scheu erwähnen, werden Mädchen und Jungen mit Sicherheit schon anders behandelt, aber was die Notwendigkeit eines gesunden Vertrauens in seine Umwelt, also das Urvertrauen, betrifft, gibt es mit Sicherheit keine Unterschiede. Beide Geschlechter brauchen diese Vertrauenserfahrungen, um nicht in depressive und schizoide Persönlichkeitsstrukturen zu fallen. Wo Erikson sagt: „Das Ur-Vertrauen ist der Eckstein der gesunden Persönlichkeit.“ (1973, S.63) übertrage ich das (auch) auf die wichtige Erfahrung: „Ich bin ein liebenswertes Mädchen.“ Ganz wichtig in dieser Phase sind die Bezugspersonen bzw. die Bezugsperson. Im Regelfall ist das bei den meisten Kinder erst einmal die Mutter. Aber die Bezugsperson kann auch der Vater sein und ich glaube, dass bereits hier wichtige Erfahrung bezüglich der Wertigkeit des Geschlechts gemacht werden. Nimmt ein Vater seine Tochter an, ohne ihr das Gefühl zu geben, „kein Sohn“ zu sein, entwickelt sie mit Sicherheit ein besseres Selbstvertrauen. 2. Phase: Autonomie gegen Scham und Zweifel „Ein Mädchen tut so etwas nicht!“ – dieser Satz hat sich mit Sicherheit in viele weibliche Gehirne eingebrannt. In der zweiten Phase weißt Erikson darauf hin, wie wichtig es ist, Festhalten und Loslassen zu üben. Erikson und Freud stimmen überein, dass eine zu frühe oder zu strenge Sauberkeitserziehung zu schweren persönlichen Schäden führen kann. Dieses Stadium entscheidet über freie Selbstäußerung und Gedrücktheit, es soll Autonomie und Stolz aus Selbstbeherrschung ohne Verlust des Selbstgefühles entstehen. Aus dem Verlust der Selbstkontrolle entsteht das dauernde Gefühl von Scham und Zweifel. (Vgl. Erikson 1973, S. 78) Und da liegt dann auch der Knackpunkt: Mädchen werden meist viel früher zur Sauberkeit erzogen und ihnen wird auch viel weniger erlaubt, sich mit ihren Ausscheidungen zu beschäftigen. „Ein Mädchen tut so etwas nicht!“ Natürlich ist das auch bei Jungs nicht gerne, aber dort wird es eher toleriert. (Jungs und Dreck gehören ja irgendwie zusammen und Mädchen müssen süß und sauber sein.) Ich glaube schon, dass hier bereits vieles verloren geht, was eine Frau stark machen kann. Und auch wenn unsere Generation schon sehr weit emanzipiert ist und die heutigen Mütter sich selbst für gleichwertig mit den Männern halten, so gibt es Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 62 von 101 keinen ersichtlichen Grund für sie, ihre Töchter nicht doch eher aus dem Schlammloch zu ziehen als ihre Söhne. 3. Phase: Initiative gegen Schuldgefühl Erikson nennt diese Phase auch die infantil-genitale Phase. Infantil bedeutet ja soviel wie etwas, dass der kindlichen Entwicklungsstufe entspricht. Das Genitale ist das, was die Geschlechtsteile betrifft. Zusammengefasst also die Phase, in der sich das Kind mit seinem Geschlecht beschäftigt. Nicht nur die Benennung und Zuteilung zum jeweiligen Geschlecht sondern eben auch direkt die organischen Voraussetzungen. Für Erwachsene ist dies immer schwer zu akzeptieren, dass der Junge mit seinem Penis spielt und das Mädchen mit ihrer Vagina. Der Erwachsene sieht darin den Bezug zum eigenen Sex. Bei Kindern geht es aber um etwas ganz anderes. Es ist die Neugierde und das Interesse. Kinder sind rein und natürlich und haben keine Hintergedanken dabei. Da der Erwachsene dadurch aber wohl oft in seiner Moralvorstellung gestört wird, verbietet er dem Kind dieses entdeckende Spiel. Durch das Verbot ändert sich nicht die Neugierde und das Interesse des Kindes aber seine Einstellung dazu. Schuldgefühle können aufkommen und sich bis hin zum Ekel vor dem eigenen Körper entwickeln. Damit kommen wir wieder ganz schnell zu dem Satz: „Ein Mädchen tut das nicht!“ Auch hier erleben Mädchen oft eine viel strengere und verklemmtere Erziehung sowie Aufklärung als Jungs. Natürlich werden Mädchen heute auch aufgeklärt – tun es nicht die Eltern erledigen dies Freunde, Medien oder das Leben. Doch nach wie vor gilt ein Mädchen das sich mit seinen Geschlechtsteilen beschäftigt eher als „komisch“, „schmutzig“ oder gar „obszön“ als das bei einem Jungen der Fall ist. Also kann man daraus auch schließen, dass ein Mädchen ehre ein gestörtes Verhältnis zu seinem Körper bzw. seiner Sexualität aufbaut als ein Junge. 4. Phase: Werksinn gegen Minderwertigkeitskomplexe In Mittelpunkt dieser Phase steht die Anerkennung und das Austesten der Grenzen. Dieses ist mit Sicherheit für Kinder beiderlei Geschlechts von großer Bedeutung. Lege ich es nun auf die weibliche Identitätsentwicklung, so bedeutet das für mich, dass das junge Mädchen lernen darf, eine Frau und dadurch ein Mensch zu sein. In dieser Phase ist es mit Sicherheit wichtig zu vermitteln, dass Frau sein genauso viel wert hat wie Mann sein. Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 63 von 101 Identität steht in Abhängigkeit zur Anerkennung und umgekehrt, also ist es wichtig Anerkennung als Frau bzw. Mädchen zu bekommen um eine weibliche Identität zu entwickeln. Dies bedeutet also einerseits, dass Mädchen auch positive Erfahrungen in „typisch“ männlichen Bereichen erleben dürfen (Bsp.: Mathematik, Seifenkistenautos, Wettrennen, usw.) sowie der Tatsache, dass das weibliche an sich auch Anerkennung verdient. Wenn Hasselbach (in Keupp 1993) Recht hat, und „fehlende Liebe und Anerkennung zu Frustration führen kann, die sich bis zum blinden Hass steigern kann“, dann würde das im Falle des weiblichen zu einer Ablehnung des eigenen Geschlechts bis hin zum, schlimmstenfalls, Hass gegen Andere oder sich selbst führen können. 5. Phase: Identität gegen Identitätsdiffusion In dieser Phase, der nach Erikson wichtigsten aber auch schwersten Phase der Identitätsentwicklung, muss sich die junge Frau mit dem Entwickeln ihres Körpers und ihrer geistig-seelischen Situation auseinandersetzen. Viele Leute sagen, dass die Pubertät bei Mädchen viel schwieriger sei als bei Junge. Dieser Aussage würde ich bedingt recht geben. Ich bin mir sicher, dass Jungs ebenso Probleme mit der Entwicklung ihres Körpers haben und die Reifung vom Kind zum Erwachsenen auch von ihnen viele schmerzhafte Entscheidungen und Erfahrungen fordert. Dennoch glaube ich, dass Jungs dem ganzen lockerer gegenüberstehen. Zum Einen, weil sich ihre körperliche Entwicklung langsamer vollzieht und zum Anderen, weil sie von der Familie und Gesellschaft mehr unterstützt werden. Außerdem, und das ist wohl der Hauptgrund, tragen Jungen ihre Gefühle und Verwirrungen nicht so sehr nach außen wie die Mädchen dies tun. Mädchen finden sich in dieser Phase, in der sie noch nicht wissen in welche Richtung sie sich orientieren sollen, eine Flutwelle von Vorbildern, Schönheitsidealen und Meinungsbildnern gegenüber. In dieser Phase wird das eigene Ich in Frage gestellt. Alles dreht sich um die Frage: „Wer bin ich, wer bin ich nicht?“ und dies ist dicht gekoppelt mit der Suche nach dem Sinn des Lebens. Auf der weiblichen Schiene betrachtet also die Frage: „Was für eine Frau bin ich, was für eine Frau bin ich nicht?“ Da eine der wesentlichen Aufgaben dieses Stadiums die Festigung der sozialen Rolle, der Vergleich des eigenen Selbstbildes Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 64 von 101 mit der Erscheinung in den Augen anderer und die Verknüpfung früherer Rollen mit neuen Leitbildern ist (vgl. Erikson 1973, S.6 ff) bedeutet dies im angeführten Bezug, dass die soziale Rolle als Frau gefestigt werden muss. Der Vergleich mit anderen und auch die Meinung der anderen über einen selbst spielt bei Mädchen oft eine sehr große Rolle. Prestige wird stark bewertet und das Selbstbild muss – nach außen – perfekt sein. Ist das Mädchen in seiner bisherigen Entwicklung in seiner Weiblichkeit unterstützt bzw. „normal“ behandelt worden, werden in diesem Fall bzw. in diesem Entwicklungsabschnitt weniger Probleme auftreten, als wenn dies nicht der Fall war. Die Identitätsdiffusion, welche als die Gefahr dieses Entwicklungsabschnittes gesehen wird, zeigt sich im Bezug auf die Weiblichkeit in einem breiten Spektrum. Durch die absolut riesige Auswahl an Identifikationsmöglichkeiten bzw. eben an gelebten Möglichkeiten, entsteht ein so breites Spektrum von verschiedenen IchIdentitäten, dass so gut wie nichts mehr unmöglich ist. Dieses zu verarbeiten, eine eigene Ich-Identität herauszubilden ohne der Überforderung zu unterliegen und dadurch in die Diffusion zu kommen, erfordert ein großes Stück Kraft und Selbstvertauen. Soll also die weibliche Identität positiv gebildet werden, muss bereits in der Windel ein positives Gefühl für das Weibliche vermittelt worden sein. (Mehr dazu im Kapitel 8.) 6. Phase: Intimität gegen Isolierung In dieser Phase ist im Normalfall eine gewisse Identitätsfestigung erreicht. Die Frau weiß wo sie steht bzw. wo sie hin will. Sei es jetzt Familie, Beruf oder beides. Auch die partnerschaftliche Beziehung ist geklärt. Auch wenn nicht unbedingt eine Partnerschaft vorhanden ist, so ist doch Intimität vorhanden und möglich. Auch freundschaftliche Beziehungen festigen sich. Funktioniert dies alles nicht, kann es zur Isolation kommen. Dies aber wiederum ist auch abhängig von der Entwicklung der bereits durchlaufenen Stufen. 7. Phase: Generativität gegen Selbstabsorption Diese Phase Eriksons sehe ich, im Bezug auf die Weiblichkeit, ganz klar in dem Wunsch Mutter zu werden bzw. in der Welt etwas zu verändern. Ich kenne keine Frau die nicht das eine oder andere, wenn nicht gar beides, möchte. Ist eine Frau Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 65 von 101 unzufrieden mit ihrer Weiblichkeit, ja sogar unglücklich, wird sie dies auch nicht weitergeben wollen. 8. Phase: Integrität gegen Verzweiflung und Lebensekel „Annahme seines eigenen Lebenszyklus“, sagt Erikson (1973) was das bedeutet: Annahme der Weiblichkeit, Annahme eine Frau zu sein. In diesem letzten Stadium hat die Frau ihren Lebenssinn gefunden – den als Mensch, aber auch speziell den als Frau. Frauen die ihr Frausein nie genießen konnten, werden bis zum Tode mit ihrem Geschlecht hadern. Also kann ich nun wohl abschließend nochmals behaupten, dass Eriksons (und auch die der anderen) Theorie über die Identitätsentwicklung bzw. die der Persönlichkeitsentwicklung, eigentlich zeitlos sind. Das Prinzip stimmt wohl immer, nur das „Arbeitsmaterial“ verändert sich ständig. 6.5. Ausblick, Rückblick oder einfach Sammlung der Tatsachen Zusammenfassend, auch im Hinblick auf Erikson, möchte ich noch mal unterstreichen, dass, trotz weitere vorhandener Schwierigkeiten, sich einiges getan hat in der Entwicklung und Betrachtung der Frau in der Gesellschaft. Ob sich dadurch für die Frau etwas ändert, bleibt in letzter Konsequenz ihr selbst überlassen. Ob sie charakterstark und selbstbewusst genug ist, ihre Meinung und Einstellung zu leben ist nicht mehr abhängig von der Moral der Gesellschaft. Das ist allein ein Vorwand, hinter dem man sich verstecken kann, um seiner eigenen Courage keine Blöße zu geben. Die Möglichkeiten sind für Frauen ebenso offen wie für Männer. Wir dürfen Hosen tragen und Fußball spielen, Karriere machen und den Nobelpreis gewinnen. Wir sind Gewaltverbrecherinnen und leben auf der Straße, betrügen und hintergehen das Staatssystem und fordern vehementer als mancher Mann das Wiedereinführen der Todesstrafe. Wenn wir heute die Zeitung aufschlagen oder das Fernsehen einschalten, begegnen uns nicht nur Männer, sondern ebenso Frauen, die die Welt beschäftigen und verändern. Die Selbstmordattentäter in Israel sind nicht nur Männer, sondern auch Frauen, bei der großen ‚K’-Frage stand Angela Merkel zur Debatte und eine Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 66 von 101 28jährige alleinerziehende Mutter wird von der CDU als Familieministerin aufgestellt. Es hat sich viel getan und es wird sich noch mehr tun. Und so ein ganz klein bisschen werden wir hoffentlich trotzdem immer Frau sein und dieses Geschenk der „Doppeltfähigkeit“ nie verlieren. Denn eigentlich ist es sehr schön, für einen koketten Augenaufschlag die Schultern massiert zu bekommen, beim Betreten eines Raumes die Türe offengehalten zu bekommen und den Reifen nach einer Panne nicht selber wechseln zu müssen... 7. Mich muss man erlebt haben – Biographien jugendlicher Realschülerinnen Die folgenden Kurzbiographien stammen aus Interviews, die ich Ende April und Anfang Mai 2002 in der Realschule Pfedelbach gemacht habe. Aus jetziger Sicht würde ich sagen, dass es keine besonders gute Idee war, Schülerinnen aus nur einer Klasse, einer Ortschaft und noch dazu ähnlichem Milieu zu befragen. Für eine ausreichende Umfrage und dadurch ein klares Bild bzw. eine beispielhafte Meinung, um mit den Antworten auch statistisch arbeiten zu können, reicht dies nämlich bei weitem nicht aus. Trotz allem werde ich diese „Biographien“ mit einbringen und auswerten muss aber dazusagen, dass ich – widersprüchlich zu meinem Titel – die Biographien nicht als Schwerpunkt meiner Arbeit bzw. meiner Meinung bewerten möchte und kann. Zum besseren Verständnis vorab: Bevor ich die Interviews führte, war ich an der Schule, um das Projekt und mich selbst vorzustellen. Nachdem bekannt wurde, dass die Schülerinnen für die Fragen einen Teil ihrer Freizeit opfern müssten, blieben nur noch diese fünf Freiwilligen übrig. Vorneweg bekamen alle fünf einen kleinen Fragebogen, der sich im Anhang als Fragebogen I. befindet. Die Antworten auf diese Fragen werde ich nicht veröffentlichen, da sie teilweise unter den Datenschutz fallen. Ich nutzte sie aber teilweise um aufgrund der gegebenen Aussagen bei den späteren Interviews individuelle Fragen zu stellen Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 67 von 101 Die Vornamen der Schülerinnen habe ich ebenfalls verändert. Das angegebene Alter bezieht sich auf den Zeitpunkt des Interviews. Bei der Niederschrift der Biographien, hab ich mich oft nahe an die wörtliche Aussage der Schülerinnen gehalten. 7.1. Kurzportraits 7.1.1. Anja 14,11Jahre „Das wichtigste in meinem Leben ist mein Pferd!“ Anja lebt mit ihren Eltern und ihrem kleinen Bruder (11 Jahre) direkt in Pfedelbach. Mit ihrem Bruder versteht sie sich soweit ganz gut, wie man sich eben mit fast fünfzehn mit seinem kleinen Bruder versteht. Sie ist stolze Besitzerin eines Pferdes. Allerdings gehört ihr das Pferd nicht alleine, sondern mit ihrer Mutter zusammen. Dieses Pferd ist ihr ein und alles und sie setzt es sogar über die Beziehung zu ihren Freunden. Seit drei Monaten hat sie nun einen Freund, der ungefähr den gleichen Prioritätsstatus wie das Pferd hat. In letzter Zeit hat sie öfter Streit mit ihrem Vater, weil er ihr immer mehr verbietet. Dies liegt wohl daran, dass sie sich sehr verändert hat, seit sie nicht mehr in Öhringen, sondern in Pfedelbach auf die Realschule geht. Früher, als sie noch in Öhringen zur Realschule ging, war sie ein braves Mädchen, das viel gelernt hat, wenig unterwegs war, lange Haare hatte und sich an die Regeln ihrer Eltern hielt. Sie verpflegte ihr Pferd und ging mit ihren Eltern am 1.Mai auf Feste – und sie war damit zufrieden. Eigentlich versteht sie sich mit ihrem Vater schon auch gut, nur in letzter Zeit verbietet er ihr eben so viel und wenn sie nicht hört, kann es sogar Hausarrest geben – was absolut das schlimmste ist. Mit ihrer Mutter hat sie ein sehr gutes Verhältnis. Sie ist für sie schon fast mehr als eine Mutter, sie ist wie eine Schwester, der man alles erzählen kann. Für Anja ist das fast schon peinlich, mit Müttern spricht man doch nicht über alles... Sie nennt ihre Mutter „Mutsch“ und erzählt ihr wirklich alles, außer über ihren Freund, das geht dann doch zu weit. Anja geht zwei bis drei mal in der Woche zum Reiten. Ihr Taschengeld verdient sie mit dem austragen vom „Blättle“. Dann ist sie viel im Skatterpark in Öhringen Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 68 von 101 unterwegs und im Sommer natürlich auch im Freibad – dort kennt sie fast alle. Sie ist so gut wie immer unterwegs und Langeweile kennt sie nicht. Vor fünf Jahren war sie noch ruhig und zurückhaltend und hat sich nicht getraut, auf Menschen zuzugehen. In der Zwischenzeit hat sie viel gelernt und aus jetziger Sicht würde sie sagen, dass ihr Leben früher langweilig war. Aber es war auch irgendwie ok. Jetzt will sie auf jeden Fall „leben“ und so viel wie möglich aus ihrem Leben heraus holen. Später, wenn sie arbeiten muss, hat sie die Zeit dazu nicht mehr. Sie würde gerne mal Journalistin werden, aber das Abitur und das Studium schrecken sie davor ab. Abitur ginge ja gerade noch, aber studieren... Dann doch lieber zur Polizei. Dort möchte sie zwar auch in den gehobenen Dienst, aber Abitur kann man im Notfall auch auf der Polizeischule machen. Nur wie das mit dem Blut funktioniert, da ist sie sich nicht so sicher. (Sie kann kein Blut sehen.) Sicher ist Anja sich darüber, dass sie auch in zehn Jahren kein Geld haben wird – das hat sie nämlich nie. Auf jeden Fall möchte sie sich zu der Zeit Gedanken über Kinder machen, nicht mehr so viel unterwegs sein und viel für ihre Arbeit tun. Am Anfang, so mit 18 Jahren, möchte sie mit ihrem Freund zusammenziehen, wenn sie mal mehrere Kinder hat, möchte sie dann schon ein Haus haben. In eine Großstadt oder gar ins Ausland möchte Anja nicht, Öhringen ist obere Grenze. (Öhringen hat ca. 30 000 Einwohner) Anja sieht sich selbst als stark und offen und denkt auch, dass andere sie so sehen. Sie weiß aber auch, dass sie durch ihre laute, oftmals sehr impulsive Art, andere erschreckt. 7.1.2. Elena 14, 9 Jahre „ Ich würde sehr gerne Schauspielerin werden aber mir fehlt das Talent dazu.“ Elena lebt mit ihren Eltern und drei ihrer sechs Schwestern in einem kleinen Dorf neben Pfedelbach. Vier ihrer Schwestern sind älter und zwei jünger als sie. Zu jeder ihrer Schwestern hat sie ein gutes Verhältnis aber zu jeder ein anderes. Sie hat sozusagen für alle Fälle eine Schwester. Es gibt keine Lieblingsschwester. Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 69 von 101 Momentan ist ihr ihre Nichte sehr wichtig, mit der sie auch viel Zeit verbringt, geht mit ihr spazieren oder spielt mit ihr weil, sie einfach so süß ist. Sich selber sieht sie aber weniger in dem Kind, da es eine ganz andere Kindheit durchlebt, als sie es getan hat. Elena hat ein großes Vorbild, das ist die Schauspielerin Sarah Michelle Gellahar. Sie gefällt ihr deshalb so gut, weil sie selber schon als Kind Schauspielerin werden wollte und Sarah M. Gellahar auch. Außerdem bewundert sie, dass die Schauspielerin sich so hochgearbeitet hat: von der McDonalds – Werbung bis zum Kinofilm. Außerdem hat sie eine tolle Figur und den brauen Gürtel in Taekwondo. Elena hat auch einmal Judo trainiert – sie möchte wieder damit anfangen. Die Schule ist für Elena ein mehr oder weniger notweniges Übel. Schule kostet sehr viel Zeit, vor allem Freizeit für Hausaufgaben und lernen auf Klassenarbeiten. Außerdem beeinflusst sie das soziale Umfeld Schule, obwohl sie von manchen Mitschülern lieber nicht beeinflusst werden möchte. Freunde hat Elena schon, aber nicht so viele und sie ist überzeugt, dass sie sich nicht sonderlich von ihnen beeinflussen lässt. Reden tut sie mit ihren Freunden nicht besonders viel, dazu hat sie ihr Meerschweinchen und ihre Schwestern. Mit ihrer Mutter kommt es ab und zu zum Streit, mit dem Vater gibt es weniger Kontakt. Ihre Eltern sind schon etwas älter, aber Elena findet das nicht schlimm, ganz im Gegenteil, so machen sie nicht einen auf „gut Freund“. In ihrer Freizeit liest sie gerne Schnulzenromane und esoterische Bücher. Mit letzterem beschäftigt sie sich wohl auch etwas ausführlicher. Hexen findet sie toll, sie pendelt, legt Karten, braut Getränke und interessiert sich für Woodozauber. Sie macht das alleine und gehört keinem Kreis an. In den letzten fünf Jahren ist sie nach ihrer Meinung selbstbewusster geworden und sie darf jetzt mehr. Früher war ihr die Grundschullehrerin noch wichtig, heute ist ihre Familie wichtiger. Wenn sie es sich wünschen könnte, wäre sie in zehn Jahren eine gefragte Schauspielerin in Hollywood. Deutschland reicht da nicht aus, es muss schon Amerika sein. Wer es dort geschafft hat, schafft es überall, meint Elena. Sie kann sich überhaupt gut vorstellen in Amerika zu leben, sie findet dieses Land interessant. Sie glaubt, dass die Menschen dort offener sind – sie war noch nie dort. Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 70 von 101 Heiraten und Kinder bekommen möchte sie nicht unbedingt, zumindest nicht schon in zehn Jahren. Erst mal möchte sie ihr Leben selbstständig und frei leben. Sie hält sich selbst für introvertiert und würde gerne mehr auf andere zugehen könne. Außerdem wäre Elena gerne dünner, dann wäre sie auch selbstbewusster, da ist sie sich sicher. Könnte sie sich es sich heraussuchen, ob sie ein Junge oder Mädchen sein könnte, würde sie ein Mädchen bleiben wollten. Jungs werden zu hart erzogen und dürfen keine Gefühle zeigen. Aber, davon ist Elena überzeugt, sie haben Vorteile im Beruf – trotz der Emanzipation. Aber getauscht wird nicht! 7.1.3. Stella 15, 4 Jahre „ Meine Freunde beeinflussen mich gar nicht. Ich mache immer was ich will!“ Stella hat eine Schwester, die 17 Jahre alt ist. Sie verstehen sich, abgesehen von kleinen Streitigkeiten, ziemlich gut. Sie gehen sogar ab und zu zusammen weg und ihre Schwester ist eine Ansprechpartnerin für sie. Auch mit ihren Eltern versteht sich Stella gut. Ihre Familie hat einen sehr starken Einfluss auf sie. Wenn ihre Eltern ihr etwas verbieten oder etwas nicht wollen, macht sie es auch nicht. Und auch wenn ihre Schwester für sie kein bewusstes Vorbild ist, so hat sie doch vieles von ihr übernommen, was sie daran merkt, dass sie viele Parallelen zwischen sich und dem Verhalten ihrer Schwester von vor zwei Jahren ziehen kann. Ihren Freunden hingegen räumt sie kaum die Möglichkeit ein, sie zu beeinflussen. Stella ist sich sicher, dass sie nur das tut, was sie will und nicht das, was ihre Freunde wollen. Außer auf die Meinung ihrer besten Freundin, da legt sie dann ab und zu doch mal Wert darauf, vor allem in Kleidungsfragen. Stella fährt Kunstrad und das schon seit sie fünf Jahre alt ist. Ihr Traum ist es, einmal bei den Deutschen Meisterschaften dabei zu sein. Europameisterin zu werden, so wie ihre Teamkollegin – ihr großes Vorbild, das schafft sie nicht mehr, dazu ist es schon zu spät bzw. sie zu alt. Der Sport beeinflusst ihr Leben sehr. Sie muss sehr oft zum Training, da fällt Zeit weg, die sie nicht mit Freunden verbringen kann. Aber es ist ihr wichtig. Außerdem spielt sie auch noch Geige und verbringt viel Zeit mit lernen. Sie geht gerne in Pfedelbach in die Realschule, all ihre Freunde sind dort und sie schreibt der Schule eine wichtige Aufgabe zu: nur wer gut in der Schule ist, kann Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 71 von 101 auch einen guten Beruf bekommen. Aber an sich, so glaubt Stella, beeinflusst die Schule ihr Leben nicht. Vor fünf Jahren ist sie noch mit ihren Eltern weggegangen, das tut sie heute kaum noch. Stella ist davon überzeugt, dass sie schon immer selbstbewusst war und nun auch noch selbständiger. In zehn Jahren möchte sie gerne verheiratet sein und Kinder haben, weil sie Familie mag. Dazu gehört ein eigenes Haus in Hohenlohe. Vorher möchte sie eine Ausbildung an der Sportschule in Waldenburg machen und danach, sie ist dann ja noch ziemlich jung, nach Stuttgart oder Göppingen auf die Schule für Sport- und Musiklehrer gehen. Was sie heute ist, das hat ihr Umfeld aus ihr gemacht. 7.1.4. Susanne 15, 8 Jahre „Mein ältester Bruder ist mein Lieblingsbruder, er fährt mich manchmal ins Kino.“ Susanne hat vier Geschwister. Eine Schwester und drei Brüder. Einer ihrer Brüder ist jünger als sie, die anderen Geschwister sind alle älter. Ihre Eltern sind geschieden und sie lebt mir einem ihrer Brüder bei ihrem Vater. Ihr kleiner Bruder lebt bei der Mutter, die beiden ältesten Geschwister wohnen bereits alleine. Mit ihrem kleinen Bruder und ihrer Mutter hat sie kaum Kontakt, da sie sich mit ihrer Mutter nicht versteht. Auch das Verhältnis zu ihrer Schwester ist nicht besonders gut. Die beiden sehen sich selten, da die Schwester in Stuttgart wohnt. Wenn sie sich sehen, erzählt ihr Susanne nicht besonders gerne Dinge aus ihrem Leben, da sie sagt, dass ihre Schwester alles an die Mutter weitergibt. Warum sie sich mit ihrer Mutter nicht mehr versteht, hat sie nicht gesagt. In ihrer Freizeit liest sie gerne und auch das Kino wird von ihr gerne besucht. Sie mag Fantasieromane, weil sie sich gerne überlegt und ausmalt, wie es weitergehen könnte und sie kann sich auch vieles gut ausmalen. Außerdem ist es spannend. Dazu passt auch ihre Vorliebe für Horror- und Teeniefilme. Ansonsten macht sie viele Spaziergänge mit ihrem Hund, trifft sich mit Freunden, sieht fern und, um ihr Taschengeld aufzubessern passt, sie auf ein kleines Kind von drei Jahren auf. Außerdem jobbt sie in den Ferien. Das Geld braucht sie, um den Führerschein und die Steuer ihres Motorrades (125er) zu bezahlen. Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 72 von 101 Die Schule nimmt viel Zeit ihres Lebens in Anspruch. Vor allem nach der Schule, die vielen Hausaufgaben. Trotzdem findet Susanne die Schule wichtig und sie geht relativ gerne hin. Das Teamwork in der Schule findet sie gut. Ihre Freundinnen sind Susanne sehr wichtig. Sie sind Ansprechpartner und Meinungsbilder, auch wenn sie ihre Meinung letztendlich selber fällt. Die meisten ihrer Freunde gehen auf eine andere Schule und es sind alles Mädchen. Vor fünf Jahren war ihr Leben noch ganz anders: Ihre Eltern waren noch zusammen und dadurch auch die ganze Familie. Sie war viel weniger selbständig und konnte vieles, was sie heute kann, noch nicht. (Wäsche waschen, kochen) Das alles hat sich durch ihre jetzige Verantwortung verändert. Vielleicht war es vorher besser, aber jetzt ist es auch in Ordnung. Nur Misstrauischer ist sie geworden, sie ist schon zu oft enttäuscht worden. In zehn Jahren wäre sie gerne Tierärztin, obwohl sie sich gerade nicht vorstellen kann, jemals Abitur zu machen, da ihre Noten gerade so schlecht sind. Auf jeden Fall möchte sie etwas mit Tieren machen, weil die treu und ehrlich sind. Außerdem möchte sie einen Freund haben, evtl. heiraten und Kinder bekommen. Identität ist nach ihrer Meinung ihre eigenes Ich, so wie sie ist, wie sie aussieht und was sei tut. Sie ist jemand, weil sie für jemanden anderen sehr wichtig ist. Aber sie ist sich selbst auch wichtig und möchte niemand anderes sein. 7.1.5. Hanna 15, 4 Jahre „Punks sind cool, die geben nichts auf die Meinung von anderen.“ Hanna hat eine ältere Schwester, mit der sie zusammen bei der Mutter lebt, zu der beide kein besonders gutes Verhältnis haben. Der Vater ist ausgezogen. Früher hat sie sehr viel auf die Meinung ihrer Mutter gegeben, heute gar nichts mehr. Hannas Mutter ist nur noch schlecht gelaunt und lässt diese Lauen dann an ihren Töchtern aus. Dies hat die beiden enger zusammengebracht. Der Vater kommt nur noch ab und zu vorbei und dann kauft er ihnen alles, was sie wollen. Das ihre Eltern wieder zusammenkommen will sie nicht, da die beiden sich eh nur streiten und das ja auch keinen Sinn macht. Als ich Hanna frage, ob sie einen Zusammenhang mit ihrem Elternhaus und den Punks sieht, so ist sie sich dessen sofort ganz sicher. Die Punks geben ihr Kraft; Kraft gegen ihre Situation, Kraft die sie von ihren Eltern nicht bekommt. Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 73 von 101 Wie schon erwähnt, ist das Verhältnis zu ihrer Schwester meistens gut. Sie ist ihr Ansprechpartner und manchmal gehen sie auch miteinander weg. Was Hanna nervt, ist die Tatsache, dass ihre Schwester ihr im Umkehrfall nicht alles erzählt. Das hat sie ihr auch schon einmal gesagt, viel gebracht hat es aber nicht. Sie vermutet das es daran liegt, dass sie die jüngere ist und ihre Schwester „zu erwachsen“ ist, um ihr alles zu erzählen. Hanna verbringt viel Zeit im Öhringer Jugendhaus, dem Fiasko. Dort sind überwiegend Jugendliche, die sich der Punkszene zuordnen. Hanna fühlt sich dort sehr wohl. Sie bewundert die Punks, weil sie nichts auf die Meinung von anderen gebe, herumlaufen wie es ihnen gefällt und sich nicht beeinflussen lassen. Sie selber hat aber nicht den Mut dazu, sich ganz als Punk zu geben, dazu ist sie, ihrer Meinung nach, zu beeinflussbar. Mit der politischen Form der Punks, der Anarchie, hat sich Hanna mal etwas beschäftigt, aber es hat sie nicht überzeugt. Den wenigsten im Fiasko geht es um die Politik, es geht eher um die Form des Lebens – unabhängig und frei von der Meinung anderer. Das ist nach ihrer Meinung sowieso die beste Form von Leben: nicht beeinflussen lassen, über Probleme reden und nichts in sich hineinfressen. Das die Schule ihr Leben beeinflusst, dessen ist sie sich sicher aber das sie sich dadurch verändert, glaubt sie nicht. Freunde beeinflussen sie da schon eher. Sie hat zwar ihre eigene Meinung, denkt aber über Kritik ihrer Freunde schon nach. Hanna möchte später einmal im sozialen Bereich tätig sein. Erzieherin oder Sozialarbeiterin. Auf jeden Fall möchte sie in Deutschland bleiben, vielleicht Kinder bekommen und mit ihrem Freund oder Mann zusammenleben. Hanna sagt von sich selbst, dass sie ein toleranter Mensch ist, weil sie ihre Eltern so erzogen haben. Überhaupt hat die Erziehung sie zu dem gemacht, was sie heute ist. Durch die Scheidung ihrer Eltern ist sie aber auch verletzlicher geworden. 7. 2. Auswertung der Biographien im Bezug auf die Entwicklung der Identität Wie bereits Anfangs erwähnt sind die Biographien nicht ausreichend, um darauf eine Theorie bzw. eine gute Arbeit zu basieren. Trotzdem möchte ich sie nicht ganz unkommentiert stehen lassen. Ich war unentschlossen, ob ich sie einzeln oder zusammen auswerten soll. Ich habe mich nun für eine Mischform entschieden. Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 74 von 101 Durch die Tatsache, dass die Mädchen alle aus einer Klasse sind, alle den Schulwechsel von Öhringen nach Pfedelbach mitgemacht haben und alle im gleichen dörflichen Umfeld aufwachsen gibt es, zumindest diesbezüglich, eine große Übereinstimmung in einem Teilgebiet des sozialen Umfeldes. Auch vom Alter her herrscht „Übereinstimmung“. Familiär gesehen und auch was persönliche Erfahrungen angeht, sind die Biographien schon wieder sehr individuell. Das dörfliche Umfeld – Pfedelbach – zählt bestimmt zu den ruhigen Ecken in Deutschland. Natürlich gibt es auch hier Probleme mit Ausländerfeindlichkeit, Drogen und Gewalt, aber es handelt sich mit Sicherheit um keinen sozialen Brennpunkt. Die Mädchen gingen bis vor kurzem noch in Öhringen auf die Realschule. Die Realschule in Pfedelbach ist ganz neu und wurde aufgrund der Überlastung in Öhringen gebaut. In Pfedelbach herrscht eine angenehme Atmosphäre, in einem neuen Schulhaus, mit einem motivierten neuen Lehrerkollegium. Außerdem ist diese neue Schule viel überschaubarer und kleiner als die Öhringer. Ich denke, dass den Mädchen der Wechsel unter anderem auch deswegen so gut gefällt, weil sie nun wieder eher wahrgenommen werden, da sie nicht mehr so viele Schüler sind. So kann auf die Einzelne besser eingegangen werden. Bei allen ist eine positive Einstellung zur neuen Schule zu verspüren. Die „kritische Phase“ der Adoleszenz (nach Erikson), also das Jugendalter ist von allen erreicht und in den Interviews ist auch zu merken, dass die Mädchen um eine „Aufnahme guter Beziehungen zur Welt“ bemüht sind. Sie arbeiten sich von ihrem Elternhaus los und wollen ihr eigenes Leben leben, sie haben klare Vorstellungen wie ihr Leben zu werden hat und sind sich sicher, dass sie ihre Entscheidungen selbst treffen. Ein Unterschied ist zu merken zwischen denen, deren Eltern getrennt leben und denen, die einer „intakten“ Familie angehören. Bei Susanne fällt es mir sehr auf. Sie trägt viel Verantwortung, auch für ihren Vater und kann sich gar nicht mehr, selbst wenn sie wollte, in die elterliche Obhut fallen lassen. Einerseits denke ich, dass sie ein hartes Los hat und andererseits tut ihr die Erfahrung, gebraucht zu werden, sehr gut. Man hat das Gefühl, dass sie sogar irgendwie glücklich darüber ist. (Sie ist jemand, weil sie für jemanden anderen sehr wichtig ist. S. 71) Susanne kann Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 75 von 101 mir auch, ohne groß darüber nachzudenken, Identität definieren. Das heißt für mich, dass sie über ihre eigenen Grenzen hinausschauen kann und sich als Teil eines großen Ganzen sieht. Sie hat ihre soziale Rolle bestimmt noch nicht eindeutig gefunden (und sie ist auch nicht alleine für ihren Vater da), aber sie ist auf dem Weg dahin, sich in der Gesellschaft zurecht zu finden. Sie ist also auf dem Weg der Selbstaktualisierung (Rogers). Das Gegenteil zu Susanne verkörpert Anja. Sie hat keine so große Verantwortung. Ihre „einzige“ größere Verantwortung ist ihr Pferd. Nun möchte ich dies auf keinen Fall schlecht machen, Verantwortung für jedes Lebewesen ist wichtig, doch scheint mir in diesem Falle die Verantwortung geringer. Das Pferd steht in einem Stall, in dem es versorgt wird. Außerdem teilt sich Anja das Pferd mit ihrer Mutter. Anja hängt sehr an ihrer Mutter und hat ein sehr freundschaftliches Verhältnis zu ihren Eltern – keine Verantwortung. Ich glaube, dass ihr viel abgenommen wird. Beim Gespräch mit ihr, kam sie mir zwar selbstbewusst vor, aber es war die trotzig-kindliche Art des Selbstbewusstseins. Sie ist auf dem Weg aus Klischees auszubrechen (Früher, als sie noch in Öhringen zur Realschule ging, war sie ein braves Mädchen, das viel gelernt hat, wenig unterwegs war, lange Haare hatte und sich an die Regeln ihrer Eltern hielt. S. 66) und glaubt trotzdem noch, dass sie alles weiß. Es dreht sich noch alles um sie selbst und die Welt beeinflusst sie nicht, sondern sie die Welt. Ich vermute auch, dass sich aufgrund ihres Freundes gerade auch viel um Fragen der Sexualität und die Entwicklung ihres Körpers dreht. Auch bei Elena ist das Thema Körper sehr wichtig (Außerdem wäre Elena gerne dünner, dann wäre sie auch selbstbewusster, da ist sie sich sicher. S.69). Bei ihr ist es schon soweit, dass sie sich aufgrund der vorgegebenen Idealen nicht mehr wohlfühlt. Sie möchte so dünn sein, wie eine Schauspielerin, davon macht sie sogar ich Selbstbewusstsein abhängig. Es ist ja durchaus normal, dass ihr Körper für die Mädchen von großer Bedeutung ist – bei allen wird er erwähnt, wenn auch in unterschiedlichen Zusammenhängen – aber es ist schon traurig, dass speziell bei Elena bereits diese Abhängigkeit besteht. Sie ist, meiner Meinung nach von diesen fünf diejenige, die am gefährdetsten im Bezug auf Identitätsdiffusion im Sinne von Erikson, ist. Nicht nur weil sie dem Körperkult so zugeneigt scheint, sondern weil sie sich auch so sehr mit Hexen und Übersinnlichem beschäftigt. Sie flüchtet aus der realen Welt in eine Wunschvorstellung von sich selbst, die nie zu erreichen ist. Der Wunsch Schauspielerin zu werden, vervollständigt das ganze noch. Sie greift wohl nach den Sternen um sich selbst im gleichen Moment unsanft auf den Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 76 von 101 Boden zu werfen. Sie möchte soviel (...brauen Gürtel in Teakwondo bzw. Judo... S. 63) aber sie bringt keinen Einsatz, sondern demotiviert sich sofort selbst und glaubt nicht an einen Erfolg. Woran das liegt, möchte ich mir nicht herausnehmen zu deuten, aber ich vermute, dass sie mit der Identitätsdiffusion bzw. der Selbstaktualisierung in Schwierigkeiten kommen wird. Stella hingegen hat in ihrem Leben noch den Sport im Mittelpunkt stehen. Er fühlt ihr Leben weitgehend aus und es bleibt wenig Platz für das „typische“ Verhalten einer 15 jährigen. Doch solange Stella selbst dies nicht als Verlust sieht und sie dadurch auch lernt, sich für ihre Ziele einzusetzen (Ihr Traum ist es, einmal bei den Deutschen Meisterschaften dabei zu sein. S. 69), dann wird sie trotzdem eine gesunde Ich-Identität herausbilden. Auf jeden Fall befindest sie sich noch in einem „frühen“ Stadium der Adoleszenz nach Erikson. Sie beschäftigt sich wohl noch nicht sonderlich mit der Weiblichkeit ihres Körpers und auch die Loslösung von ihrem Eltern ist noch kein großes Thema (Ihre Familie hat einen sehr starken Einfluss auf sie. Wenn ihre Eltern ihr etwas verbieten oder etwas nicht wollen, macht sie es auch nicht. S. 68). Hanna wiederum zeigt eine starke Loslösung von ihrem Elternhaus. Dies ist aber hauptsächlich durch die Scheidung der Eltern und das schlechte Verhältnis zur Mutter bestimmt. Hanna rebelliert und wendet sich den Punks zu. Ich vermute, dass sie eigentlich mehr Zuneigung möchte und auch braucht, als die, die sie bekommt. Da sie aber mit der Situation nicht richtig umgehen kann (was sowieso sehr schwer ist und in diesem Alter bzw. dieser Entwicklungsstufe), weiß sie nicht so recht, wohin mit sich. Ich glaube, dass sie und ihre Schwester sich gegenseitig viel Kraft geben. Trotz der schweren Situation wirkt Hanna auf mich, als ob sie wüsste, was sie will. Sie macht sich viele Gedanken um sich selbst, ihre Zukunft und die Welt. (Hanna möchte später einmal im sozialen Bereich tätig sein. Erzieherin oder Sozialarbeiterin. S.72) Als Fazit sehe ich, dass eigentlich alle einen relativ „normalen“ jugendlichen Werdegang gehen. Die ein oder andere Unebenheit bzw. Steine machen den Weg der Identitätsentwicklung schwer, doch er ist zu begehen. Im Bezug auf meine Meinung zur Identitätsbildung ( Kap. 6) denke ich, dass diese fünf sich zwar schon bewusst sind, dass es die sogenannte Chancengleichheit gibt und dass ihnen die Welt viele Möglichkeiten aber auch Schwierigkeiten bittet, doch sie sind alle noch nicht soweit, dies wirklich auf ihr Leben um zu setzten. Doch das empfinde ich nicht als schlimm. Sie haben noch ihr Leben lang Zeit dafür. Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 77 von 101 8. Geht nicht, gibt’s nicht - Resümee des Gesagten und Ausblick auf die weibliche Identitätsbildung heute Mit der Identitätssuche beginnt der Mensch mit der Suche nach seinem ‚Ich’, nach ‚seinem Selbst’. (Lexikon der Psychologie, CD-Room) Und nun? Nun wissen wir eine Menge Dinge mehr, die wir vorher vielleicht auch schon wussten oder deren wir uns nicht bewusst waren. Fazit ist auf jeden Fall, dass den Frauen so viele Möglichkeiten offen stehen, an denen sie sich orientieren können, die sie ablehnen können oder die sie einfach Tag täglich bewusst und unbewusst aufnehmen. Ich möchte an dieser Stelle gerne einfach einen kleinen Abschnitt mit dem Ausblick bzw. Blickwinkel einer 15 jährigen beschreiben. (Ich nehme mir einfach das Recht heraus, es einigermaßen nachzufühlen.) Es ist Samstag Abend, Nicole gibt ne Party und ich kann nicht hingehen. Meine Eltern wollen ins Theater und ich muss mal wieder den Babysitter für meine beiden jüngeren Brüder spielen.* ätz* Immer das Gleiche, meine Eltern können sich amüsieren und ich darf in die Röhre schauen.. Dafür werde ich aber bestimmt den ganzen Abend telefonieren – mit den wenigen, die nicht zur Party von Nicole gehen werden. Na ja, Bianka ist auch daheim , sie hat Hausarrest, weil sie sich heimlich mit ihrem Freund getroffen hat. Ihre Eltern können Udo nicht leiden, ich auch nicht. Aber das muss Bianka ja selber wissen, ich sag ihr immer, dass er ein Idiot ist, aber sie will es nicht hören. Ich habe keinen Freund mehr. Marco hat mit mir Schluss gemacht, dabei war er die Leibe meines Lebens! Wir waren zwei einhalb Wochen zusammen. Jetzt ist er mit dieser blöden Zicke Katja zusammen – die ist ja auch dünner als ich. Ich möchte auch so aussehen wie Britney Spears, dann würden mich bestimmt alle toll finden und die blöde Katja würde ganz schön dumm schauen. Letzte Woche war ich auf dem Konzert von ‚Westlife“. Es war sooooooo toll und der eine Sänger, Dan, hat mich die ganze Zeit angesehen. Ich weiß, dass er mich toll fand! Aber er ist einfach zu berühmt, um mich anzusprechen. In meinem Herzen fühle ich diese tiefe Verbundenheit zwischen uns und wer weiß, vielleicht eines Tages... Er ist sowieso viel besser als Marco! Im Sommer werde ich die Abschlussprüfung der Realschule machen. Und dann habe ich keine Ahnung, wie es weitergehen soll. Meine Mutter möchte, dass ich aufs Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 78 von 101 Gymnasium gehe, meine Vater möchte, dass ich einen „anständigen“ Beruf lerne. Ich würde gerne Bauzeichnerin werden, auf Schule hab ich eigentlich keine Lust mehr. Aber mit dem Abitur hab ich nachher viel bessere Chancen und wenn ich noch studiere, kann ich sogar selbst Architektin werden und ganz viel Geld verdienen. Dann kann ich auch jedes Jahr in der Karibik Urlaub machen und sogar ein Haus dort kaufen. Ich weiß ja auch nicht... Doch wenn die Terrorristen weiter so schlimme Anschläge verüben, möchte ich glaub lieber nicht mehr wegfliegen. Warum machen die das eigentlich und warum kann das CIA oder das FBI die nicht einfach festnehmen. Mein Onkel Micha sagt immer, dass das alles viel komplexer wäre, als ich es mir vorstellen kann. Was immer auch komplex bedeutet – es klingt zumindest so, als ob es nicht einfach wäre. Mein Onkel Micha ist toll! Er ist Mamas jüngster Bruder und nur 12 Jahre älter als ich. Manchmal nimmt er mich sogar mit, wenn er weg geht. Katja hab ich mal gesagt, dass er mein Freund wäre, als er mich mit seinem schwarzen Audi abgeholt hat. Die hat vielleicht doof geschaut.. Micha meint auf alle Fälle, ich solle Abitur machen und studieren und dann in die Politik gehen – ich hätte Talent zum Reden – um dann etwas in der Wirtschaft zu verändern. Aber Politik interessiert mich nicht. Die sind doch eh alle bestechlich, hört man ja immer in den Nachrichten. Ich weiß ja auch nicht, ich glaube dafür bin ich sowieso nicht mutig genug. Und außerdem will ich ja Kinder und mich auch um sie kümmern können. Aber kochen sollte dann schon mein Mann können, das ist ja absolut überholt, dass das eine Frau machen muss. Meine Mutter sieht das zwar anders, aber ich will ja auch nicht wie meine Mutter werden! Mit ihr kann ich zwar über alles reden, aber manchmal ist sie schon altmodisch. Wie auch immer, wenn ich groß bin, werde ich auf jeden Fall viel Geld haben und ganz toll aussehen! Hoffe ich zumindest... Mit diesem, frei erfundenen, knappen Ausschnitt möchte ich auf die – nach meiner Meinung – Hauptproblematik bzw. Gefahr der Identitätsentwicklung heutiger jugendlicher Mädchen eingehen. Durch die mehrmals angeführter und ausgeführte Menge an Möglichkeiten und die Überflutung an Informationen, die in eine Welt bzw. ein junges Leben hereinbrechen, ist die Jugendliche gezwungen zu selektieren, was sie aufnehmen möchte, was wichtig für sie ist. Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 79 von 101 In der Pubertät ist der junge Mensch zum einen natürlich mit seinem Körper beschäftigt, der sich verändert und erwachsen wird – oft schneller als Geist und Seele. Dazu kommt manchmal, dass diese Veränderung noch dazu gar nicht erwünscht ist. Ein großes Thema ist die Frage nach dem „Sinn des Lebens“ und bedingt dadurch natürlich auch die Frage nach der eigenen Persönlichkeit. „Wer bin ich? Wer will ich sein?“ Beachten wir an dieser Stelle nochmals Erikson: Er nennt diese Phase „Identität gegen Identitätsdiffusion“ (1973, S. 106). Mit der Identitätsdiffusion meint er eine Unfähigkeit des Ichs, eine Identität herauszubilden. Dies geschieht durch Überforderung, ausgelöst durch Entscheidungsprobleme. Der junge Mensch muss sich für einen eigenen Weg, sowohl beruflich, privat, politisch und so weiter entscheiden, suchen und diesen auch gehen. Um so vielfältiger das Angebot, um so schwerer die Entscheidung! So ist es doch klar, dass durch die riesengroße Auswahl an Identitätsmöglichkeiten bzw. – vorbilder die Gefahr einer Identitätsdiffusion noch viel größer zu sein scheint?! Einerseits ist dies sicherlich so, andererseits scheint dies in der Praxis weniger dramatisch auszusehen. Es scheinen nicht weniger oder mehr Jugendlich als Generationen zuvor an der Identitätsdiffusion zu scheitern. Es entwickelt sich alles mit. Nicht nur die Technik, die Medizin, die Mode, das Leben, sondern auch die Gedanken und der Umgang mit der Welt. Es spielen so viele Faktoren zur Bildung einer individuellen Identität eine Rolle, dass sie unmöglich fassbar und erklärbar sein kann. Die persönlichen Eigenarten eines Menschen, seine Einzigartigkeit, bleibt ein ewiger Entwicklungsprozess, der teilweise bereits fest verankert ist und teilweise von der Umwelt und der Person selbst beeinflusst werden kann. Identität zu bilden bzw. zu haben ist ein fortwährender Prozess, der ohne Zweifel passiert und besteht. Identität klar zu definieren, ist wie Wasser mit den Händen festhalten zu wollen! Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 80 von 101 9. Literaturverzeichnis Baacke, D. Die 13 – bis 18jährigen: Eine Einführung in die Probleme des Jugendalters Beltz Verlag 1974 Weinheim und Basel Bast, Christa Weibliche Autonomie und Identität Juventa Verlag 1991 Weinheim und München Beck, Ulrich und Beck-Gernsheim, Elisabeth Riskante Freiheiten Edition suhrkamp 1994 Frankfurt am Main Brandt, Gustav A. Psychologie und Psychopathologie für soziale Berufe Luchterhand Verlag 1975 Brose, Hans-Georg und Hildenbrand, Bruno Vom Ende des Individuums zur Individualität ohne Ende - Biographie und Gesellschaft Leske + Budrich 1988 Opladen Cross, Donna W. Die Päpstin Historischer Roman Aufbau Taschenbuchverlag, Berlin 1996 Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 81 von 101 Erikson, Erik H. Identität und Lebenszyklus surekamp taschenbuch 1973 Frankfurt a. M. Erikson, Erik H. Jugend und Krise – Die Psychodynamik im sozialen Wandel Ernst Klett Verlag 1970 Stuttgart Flaake, Karin und King, Vera Weibliche Adoleszenz – Zur Sozialisation junger Frauen Campus Verlag 1992 Flaake, Karin Geschlechterverhältnisse, geschlechtsspezifische Identität und Adoleszenz Zeitschrift für Sozialforschung und Erziehungssoziologie 1/ 1990 S. 2 – 12 Heinrichs, Gesa Bildung Identität Geschlecht Eine (postfeministische) Einführung Ulrike Helmer Verlag 2001 Keupp, Heiner; Höfer, Renate Identitätsarbeit heute Klassische und aktuelle Perspektiven der Identitätsforschung Suhrkamp Verlag 1997 Frankfurt am Main Kühne, Gewicke, Harder-Kühne, Priester, Sudhues; Tiator Psychologie für Fachschulen und Fachoberschulen Stam – Verlag 1993 Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 82 von 101 Miram, Wolfgang und Scharf, Karl-Heinz Biologie heute S II Schroedel Schulbuchverlag GmbH, 1988 Hannover Nipkow, Karl-Ernst Die Individualität als pädagogisches Problem bei Pestalozzi, Humboldt und Schleiermacher Marburger Pädagogische Studien Band 1 Herausgegeben von Professor Dr. E. Blochmann M.A. Verlag Julius Beltz 1960 Weinheim/Bergstr. Oerter, R. und Dreher, E. Jugendalter in: Oerter, R. und Montada, L. :Entwicklungspsychologie Psychologie Verlags Union 3, 1995 Weinheim Pervin, Lawrence A. Persönlichkeitstheorien UTB für Wissenschaft Ernst Reinhardt Verlag 1993 München Basel Rusch, Heike Suchen nach Identität Kinder zwischen acht und zwölf Grundlagen der Schulpädagogik Schneider Verlag, 1998 Hohengehren Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 83 von 101 Scheu, Ursula Wir werden nicht als Mädchen geboren, wir werden dazu gemacht Fischer Verlag 1997 Shell Jugendstudie Jugend 2000 Leske + Budrich, Opladen 2000 Außerdem: Skript für die Fachschule für Sozialpädagogik Öhringen von F. Reinalter zum Thema: Geschlechtsspezifische Sozialisation 1996 Diplomarbeiten von Brigitte Baucher und Richard Druck zum Thema Frauen in der Werbung jeweils 1993 erarbeitet Das world wide web CD-room Lexikon der Psychologie Spektrum Akademischer Verlag GmbH, Heidelberg 2002 Wochenkurier Heidelberg 22. Jahrgang / Ausgabe Nr. 27 Mittwoch, 3. Juli 2002 Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 84 von 101 10. Anhang Erster Fragebogen Name: Vorname: Geburtsdatum: Geschwister (Anzahl & Alter): Hobbys: Beschreibe kurz, was für dich im Leben wirklich wichtig ist und sofern du Vorbilder hast, bringe diese mit ein: Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 85 von 101 Fragen und Antworten – HANNA 15,4 Jahre Wie ist dein Verhältnis zu deiner Schwester? Ich versteh mich gut mit ihr und geh manchmal mit ihr weg. Probleme werden mit ihr besprochen. Allerdings erzählt ihre Schwester ihr nicht alles im Umkehrfall. Das kotzt Hanna an. Manchmal nimmt sie ihre Probleme auch nicht ernst – Kinderkram. Einmal hatten sie deswegen Streit aber es hat sich nicht geändert. Hanna glaubt, dass das Verhalten ihrer Schwester daran liegt, dass sie schon älter ist und sich dadurch erwachsener fühlt. Wenn du im Internet chattest, was findest du dann gut und was eher blöd? Gut am chat ist, dass man nicht weiß, mit wem man spricht. Sie chattet aber nur selten. Blöd ist, dass manche ihr Aussehen erfinden. Sie hat noch nie jemanden getroffen weil sie Angst hat, jemand „hässlichen“ zu treffen. Sie selber bemüht sich meistens die Wahrheit zu sagen und nichts zu erfinden wie „Blaue Augen, blonde Haare“. Hast du eine Fest Clique im Fiasko1? Keine feste Clique im Fiasko geht aber alleine dort hin, weil sie die meisten dort kennt und sich gut mit ihnen versteht. Ihre Freunde außerhalb des Fiaskos gehen nicht mit, da sie nichts mit Punks anfangen können bzw. nichts von ihnen halten. So hat sie Freunde im Jugendhaus und Freunde im Heimatort. Du sagst, du bewunderst Punks. Könntest du dir vorstellen total in die PunkSzene einzusteigen? Wie stellst du dir das Leben dann vor? (Anarchie) Zieht Vergleiche zu einem Vollpunk. Man müsste sich dazu total umstellen und auf die Meinung der Anderen rein gar nichts geben und sie kann sich nicht vorstellen so frei von Wertung zu sein. Paul ist das! Die meisten im Fiasko sind richtige Punks, die wenigsten sind Mitläufer. Im Fiasko sind die Leute 15 –16. Auch wenn die Leute diese Menschen für komisch halten, 1 Der Name des Jugendzentrums/Jugendhauses in Öhringen Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 86 von 101 lassen sie sich nicht beeinflussen. (Obwohl sie in der Schule und auf der Straße komisch angesehen werden.) Die Punkszene der Erwachsenen und die „originale“, welche von England kommt interessiert sie weniger. Sie hat sich mal etwas mit Anarchie beschäftigt aber es hat sie nicht überzeugt. Sie findet es eben cool, wie die Leute drauf sind, so unabhängig und frei von anderen Meinungen. Der Still und die Musik. Ein Leben in Anarchie kann sie sich vorstellen obwohl sie nicht glaubt, dass die möglich ist. Man kann machen was man will aber es hat auch negative Seiten weil Verbrechen nicht geahndet würden und Frauen ständig vergewaltigt werden. Den Leuten im Fiasko geht es um Musik und ihr Leben vor Ort, nicht um Politik. (Metallica) Was mir gefällt. Wer damit ein Problem hat ist selber schuld. Was ist gut für dich? Nicht beeinflussen lassen, machen was man will, über Probleme reden und nicht in sich hineinfressen. Reden ist die beste Lösung. So wie sie jetzt lebt ist gut für sie. Was denkst du, wie die Schule dein Leben beeinflusst? Schule beeinflusst einen aber dadurch verändert man sich nicht. Lehrer beeinflussen einen, Mitschüler auch. Sie geht gern auf die Realschule in Pfedelbach als auf die in Öhringen. In der neuen Schule herrscht mehr Gemeinschaft, die Lehrer sind weniger und netter und alles ist vertrauter. Es gibt nur zwei Klassen pro Jahrgang. Die Freunde? Freunde beeinflussen einen stark. Ihre Freundin war früher total rechts und hat jetzt einen Freund der gegen rechts ist und ihre Freundin läuft jetzt total mit. Das findet sie blöd. Man muss eine eigene Meinung haben und zu der auch stehen und sich nicht dauernd umentscheiden. Deswegen findet sie ihre Freundin jetzt auch blöd. Beeinflussen lässt sich jeder aber manche mehr und manche weniger. Auch durch Medien. Jeder sollte sein Grundprinzip haben und sich auch andere Meinungen anhören und ab wegen können aber eben nicht gleich umwerfen lassen. Sagt eine Freundin dass etwas was sie tut schlecht ist, holt sie sich dazu auch weitere Meinung ein und ändert sich eventuell, wenn sie es selber auch blöd findet. Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 87 von 101 Deine Familie? Familie kann man das so nicht nennen. Der Vater ist ausgezogen und mit der Mutter haben sie nur Streit. Sie nimmt die Meinung ihrer Mutter nicht mehr an – früher war das anders. Sie lässt ihre schlechte Laune an ihren Kindern aus. Der Vater kommt nur ab und zu und kauft ihnen dann alles um sich wieder einzuschleimen. Das hat sie etwas näher zu ihrer Schwester gebracht – Verschwörung. Das ihre Eltern wieder zusammenkommen will sie nicht. Die streiten sich nur immer, weil sie sich einfach nicht verstehen und das hat ja auch keinen Sinn. Bezug zwischen Punks und Elternhaus? Bestimmt, die Punks geben ihr Kraft. Wie sieht deine Freizeit aus? Babysitten, Kino gehen, Fernsehen schauen, Fiasko gehen – was Bock macht. Babysitten tut sie im Ort bei Zwillingen mit den sie nicht verwandt ist. Die Zwillinge sind zwei Jahre alt. Mit denen besucht sie dann den Kiga weil sie dort noch nicht alleine hingehen. Der Verantwortung fühlt sie sich absolut gewachsen. Sie tut das zwei mal die Woche für je zwei Stunden. Es ist schon anstrengend aber es ist ok und gibt Geld. Den Job hat sie von ihrer Schwester übernommen die durch Schule und Führerschein keine Zeit mehr dafür hat. Was willst du einmal beruflich werden? Sie will nach der Schule Erzieherin werden weil sie das cool findet. Was war vor fünf Jahren anders in deinem Leben? Noch mehr auf ihre Mutter und auf andere gehört. Jedem Trend hinterhergerannt und sich viel mehr beeinflussen lassen. Das tut sie jetzt nicht mehr. Was der oder die sagt ist richtig also finde ich es auch richtig. Wie sieht dein Leben in zehn Jahren aus, was wünscht du dir? Sie glaubt, dass sie sich nicht so sehr verändert. Aber irgendwie schon. Eigene Wohnung, vielleicht Kind. Freund oder Mann, nicht verheiratet aber mit Vater vom Kind zusammen. Beruflich Erzieherin oder Sozialarbeiterin oder im Cappelrain. Ins Ausland will sie nicht sondern hier bleiben. Eventuell eine größere Stadt. (Stuttgart oder Heilbronn.) Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 88 von 101 Was ist Identität und wie ist deine Identität? Was man über sich selber denkt und wie man sich selber vorkommt. Meine Identität ist meine Seele. Es gibt verschiedene Arten davon: verletzlich, treu, empfindlich. Das ist aber nicht das bild was sie nach außen verkörpert. Nach außen erscheint sie stark was sie aber richtig ist aber sehr gerne wäre. Dann wird man besser mit Problemen fertig. Ihr Äußeres ist nicht ihre Identität. Obwohl die Punks auffällig rumlaufen gehört das nicht zur Identität. Sie könnte nicht mit grünen Haaren herumlaufen, dazu fehlt der Mut. Lieber möchte sie ein bisschen auffallen durch das, was sie sagt. Keine Angst davor in eine Schublade gesteckt zu werden aber Menschen werden mehr durch ihre Einstellung bewertet und nicht nach ihrem Aussehen. Was alle machen verbindet – es gibt viel mehr Rechte als Punks in Öhringen und Umgebung. Angst hat sie aber nicht vor denen. Obwohl sie sich auch deshalb nicht so sehr als Punk kleiden möchte um eventuelle Übergriffe zu vermeiden. Was hat dich zu dem gemacht, was du jetzt bist? Erziehung halt auch. Ihre Eltern haben sie zu einem toleranten Menschen erogen. Durch die Scheidung ihrer Eltern ist sie so verletzlich geworden. Wärst du lieber ein Junge? Warum? Nein, kein Junge. Aber so zu Testen wäre es ganz witzig nur um mal zu sehen was die so denken. Aber bei Mädchen ist es mehr verbreite, dass sie Wert auf die Meinung von anderen legen. Mädchen untereinander verstehen sich nicht so gut in ihrer Klasse. Immer nur so zwei drei zusammen, die Jungs kommen alle miteinander klar. Später ist es als Frau in der Gesellschaft leichter. Man kann Männer um den Finger wickeln, wir haben uns ja emanzipiert. Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 89 von 101 Fragen und Antworten – ANJA 14, 11 Jahre Wie ist dein Verhältnis zu deinem Bruder? Soweit ganz gut, er nervt halt manchmal etwas. Warum ist dir dein Pferd so wichtig? (Wichtiger als Freunde.) Weil es einfach immer da ist und sie für ihr Leben gerne reitet und dies auch nie aufgeben würde. Aber ihre Freunde sind nicht weniger wichtig, nur anders wichtig. Das Pferd würde sie allerdings für Freunde nie aufgeben. Wie lange reitest du schon? Eigentlich schon immer. Ihre Mutter reitet auch und deswegen ist sie da hineingewachsen. Bist du alleine für das Pferd verantwortlich? Nein, das Pferd gehört ihr mit ihrer Mutter zusammen und steht in einem Reitstall welcher einer Freundin der Mutter gehört. Mit der Verantwortung für das Pferd übernimmt sie diese und lernt somit auch damit umzugehen. Wie lange bist du schon mit deinem Freund zusammen? Hast du dich seitdem verändert? Sie ist seit drei Monaten mit ihm zusammen und irgendwie hat sie sich auch etwas verändert, da sie viel Zeit mit ihm verbringt und nicht mehr so viel Zeit für Freunde hat. Trotzdem ist sie sie selbst geblieben. Dein Vorbild ist Nicole Uphoff-Becker, warum? Weil sie so toll reiten kann und damit auch die Olympiade gewonnen hat – sie will auch so reiten können. Was denkst du, wie deine Familie dein Leben beeinflusst? Auf ihren Vater hört sie nie weil er ihr immer alles verbietet. Sie hat sich sehr verändert seit sie in der neuen Schule ist. Sie war ruhig, strebsam und brav, hatte lange Harre und jetzt kann sie ziemlich aufdrehen. Lernt nicht mehr Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 90 von 101 viel und brav ist sie auch nicht mehr. Früher hätte sie gesagt, dass sie sich wohl fühlt aber jetzt fühlt sie sich wohler weil sie jetzt nicht mehr so viel verpasst. Aber als sie jung war es ok. Mit ihrem Daddy versteht sie sich aber doch einigermaßen gut. Aber eine besonders gute Autorität ist er nicht. Mit ihrer Mutter versteht sie sich gut. Manchmal streiten sie sich zwar aber nur über Kleinigkeiten. Gehen auch zusammen ausreiten und dann ist sie sogar mehr eine Schwester als eine Mutter weil sie mit ihrer Mutsch über alles reden kann auch wenn es ihr schon manchmal peinlich ist. Es ist peinlich weil es ihre Mutter ist und man erzählt doch nicht alles seiner Mutter. Sie hat sie noch nie so richtig angelogen. Wie sieht deine Freizeit aus? Reiten – zwei bis drei mal die Woche, Blättle austragen und Hausaufgaben erst spät in der Nacht. Viel in Öhringen am Skatter-Park und dort hat sie viele Freunde. Im Hüttle und jetzt im Sommer dann wieder viel im Freibad wie immer da kennt sie auch die meisten. Bei Freundinnen aber eigentlich ist die nie daheim und hat Langeweile. Was ist in deinem Leben anders als vor fünf Jahren? Ruhig und zurückhalten, wenig Freunde weil sie nicht auf Menschen zugehen konnte. Sie hat viel gelernt und aus jetziger Sicht würde sie sagen, dass es langweilig war. Da es das noch nicht, dass sie am ersten Mai zum Beispiel auf eine Party ging und die Nacht durchmacht. Sie hätte mit neun schon viel mehr machen können: Rad fahren, Kino gehen. Jetzt versucht sie das bestmögliche aus ihrem Leben heraus zu holen. Solange sie nicht arbeiten muss und einer Verpflichtung unterliegt. Was denkst du, wie dein Leben in zehn Jahren aussieht? – Was wünscht du dir? Traumberuf: Journalistin. Aber das geht nicht weil sei kein Abitur hat und auf keinen Fall studieren möchte. Ihr andere Traumberuf ist möglich: Polizistin. Nur ist sie nicht sicher ob es zu ihr passt. Sie würde gerne Kommissarin werden aber wenn sei so viele schlimmer Sachen sehen muss und viel Blut, da weiß sie nicht ob sie das durchhält. (Abi auf der Polizeischule) Abi gerade noch so aber studieren hat sie einfach keine Lust. Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 91 von 101 Keine Ahnung. Sie wird nicht viel Geld haben – wie immer. Dann überlegen ob sie Kinder möchte, nicht mehr so viel unterwegs sein und mehr für die Arbeit tun, für die Karriere. Mit dem Freund mit 18 in eine kleine gemütliche Wohnung. Später mit mehreren Kindern wollte sie dann ein Haus. Sie möchte auf dem Land bleiben. Öhringen geht gerade noch, aber Heilbronn oder Stuttgart auf keinen Fall. Ins Ausland möchte sie nicht unbedingt, aber wegen der Sprache. Wenn dann Korsika, das findet sie total toll. Aber doch eher Urlaub. Was ist deiner Meinung nach Identität? (Deine?) Oh Gott.... Keine Ahnung, habe noch nie darüber nachgedacht. Ich weiß halt, wie ich heiße. Der Charakter macht sie aus. Für Freunde ist sie immer da!! Egal ob das dann Ärger gibt oder nicht. Bis zu einer gewissen Grenze opfert sie sich auf. Sie ist schon stark. Wärst du lieber ein Junge? Warum? Manchmal möchte sie ein Junge sein. Die müssen sich nicht mit Frauenproblemen herumschlagen, mit der Pubertät – die haben alles viel leichter. Wenn sie ohne Konsequenzen tauschen könnte würde sie es trotzdem nicht tun. Für ein zwei Tage zum Testen aber nicht für immer, da bleibt sie lieber ein Mädchen, das ist doch besser. Was glaubst du, wie andere dich sehen? Die meisten sagen, dass sie manchmal zu aufgedreht und zu laut ist. Sie hat eben doch einen schwierigen Charakter. Sie rastet ziemlich schnell ausrasten und plötzlich jemanden anschreien. Aber lieber die Meinung sagen als alles in einen hinein zu fressen. Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 92 von 101 Fragen und Antworten Susanne 15, 8 Jahre Du hast drei Brüder. Wie ist dein Verhältnis zu ihnen? Hast du einen Lieblingsbruder? Eltern geschieden, sie bei Vater. Kleiner Bruder bei Mutter. Ein großer Bruder bei Vater, der anderer hat eine eigene Wohnung. Lieblingsbruder ist der älteste weil er sie manchmal ins Kino fährt und ihr bei den Hausaufgaben hilft. Den kleinen Bruder sieht sie kaum weil sie sich mit ihrer Mutter nicht versteht. Wie verstehst du dich mit deiner Schwester? Das Verhältnis zur Schwester ist nicht so gut. Sie sehen sich auch wenig und ihre Schwester erzählt alles der Mutter weiter. Außerdem wohnt ihre Schwester in Stuttgart. Was liest du gerne für Bücher und welche Art von Filmen bevorzugst du? Harry Potter. (Fantasy) weil es spannend ist und sie sich weiter weitere Szenen ausdenkt. Aber es ist eine andere Welt. Im Kino gerne alle Kinofilme. (Horror, Teeny) Wie alt sind die Kinder bei denen du babysittest? Erinnern sie dich manchmal an deine eigene Kindheit? Ein Kind (3 Jahre) Keine Vergleiche, es handelt sich um eine Einzelkind und es hat ziemlich alte Eltern. Sie wollte keine so alten Eltern weil sie ihr Kind einfach anders erziehen. Was denkst du, wie die Schule dein Leben beeinflusst? Zeiteinschränkung!!!!!!!!!!!!!!!!!! Viel Zeit in der Schule und Hausaufgaben. Aber Schule ist wichtig – nicht nur Unterrichtsinhalte sondern auch Teamwork. Deine Freunde? Ansprechpartner, Meinungsbilder. Die anderen beeinflussen ihre Meinung schon aber letztendlich entscheidet sie selbst. Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 93 von 101 Freunde sind mehr außerhalb der Schule und haben ein anderes Umfeld. Nur Mädels. Wie sieht deine Freizeit aus? Viel Spaziergänge mit ihrem Hund, Fernsehen, treffen mit Freunden. Führerschein (125er) machen – Unabhängigkeit. In den Ferien Job für die Steuer ihres Motorrades. Was ist in deinem Leben anders als vor fünf Jahren? Noch auf eine andere Schule gegangen, Eltern waren noch verheiratet und die Familie zusammen. Sie war weniger selbständig – das hat sich durch die Verantwortung jetzt geändert. (Kann z.B. schon Wäsche waschen.) Es ist ok., so wie es ist. Aber früher war sie noch offener, sie ist schon zu oft enttäuscht worden und vertraut nicht mehr so. Was denkst du, wie dein Leben in 10 Jahren aussieht? → Was wünschst du dir? Würde gerne Tierärztin werden aber glaubt nicht daran weil sie sich nicht vorstellen kann Abitur zu machen da ihre schulischen Noten zu schlecht sind Aber auf alle Fälle etwas mit Tieren arbeiten, weil die treu und ehrlich sind. Außerdem mit ihrem Freund zusammenleben, evtl. heiraten, Kinder bekommen aber in Deutschland bleiben. Was ist deiner Meinung nach Identität? „Mein eigenes Ich, so wie ich bin. Wie ich aussehe, was ich tue und so.“ Sie ist jemand, weil sie für jemand anderes sehr wichtig ist. Aber sie ist sich selbst auch wichtig und möchte niemand anderes sein. Wärst du lieber ein Junge? Warum? Nein, außer während ihrer Tage. Auch wenn Männer in der Gesellschaft bevorzugt werden, möchte sie kein Mann sein. (Bundeswehr) Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 94 von 101 Fragen und Antworten Stella 15, 4 Jahre Wie ist dein Verhältnis zu deiner Schwester? Eigentlich gut, ab und zu Streit aber der ist schnell vorbei. Sie gehen auch miteinander weg. Zwei Jahre Abstand. Gesprächspartner. Wenn du im Internet chattest, was findest du dann gut und was eher blöd? Nutz Chat wie Telefon – bereits Bekannte die sie persönlich kennt. Sonst, also bei Unbekannten, wird man eher angelogen. Wie lange fährst du schon Kunstrad? Wie wichtig ist dir dein Sport? Seit sie fünf Jahre alt ist. Ist ihr sehr wichtig, wenn es ausfällt regt sie sich auf. Es ist nicht nur Spaß, sondern auch Ehrgeiz dabei. Deine Teamkollegin ist dein Vorbild. (Europameisterin) Wie ist dein Verhältnis zu ihr? Gut. Zusammen Training aber sie ist mit Kader. Würdest du auch gern Europameisterin werden? Denkst du, dass du es könntest? Vorne mit "dabeifahren" bei den Deutschen Meisterschaften aber nicht mehr möglich Europameisterin zu werden. Sport beeinflusst ihr Leben schon sehr. Sie muss auch oft ins Training und da fällt Zeit weg. Körpergefühl trotzdem fragwürdig. Was denkst du, wie die Schule dein Leben beeinflusst? Wer gut in der Schule ist kann mehr Geld verdienen und einen besseren Beruf ausüben – wichtig für später. Ansonsten beeinflusst die Schule ihr Leben nicht. Sie geht gerne nach Pfedelbach auf die Realschule und hat auch Freunde dort. Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 95 von 101 Deine Freunde? „Gar nicht eigentlich. Weil ich mache was ich will eigentlich. Wenn die sagen ich soll rauchen, dann tue ich es nicht. Meine beste Freundin sagt ihre Meinung aber verurteilt niemand – dann höre ich schon auf sie.“ Klamottenstil ist bei allen ähnlich, nicht weil sie sich gegenseitig beeinflussen, sondern weil der Stil in der Zeit eben so ist. Deine Familie? „Schon stark. Wenn die etwas nicht wollen oder verbieten oder so dann mache ich es halt auch nicht.“ Verhaltensweisen nicht bewusst übernommen. Ihre Schwester ist eigentlich kein Vorbild aber wenn sie vergleicht, wie sie vor zwei Jahren war, dann ist das schon ähnlich aber unterbewusst. Das Verhältnis zu den Eltern ist gut. Wie sieht deine Freizeit aus? Viel Training, Geige spielen, wenig Treffen mit Freunden unter der Woche mehr zum Lernen. Nicht zuviel lernen... Was ist in deinem Leben anders als vor fünf Jahren? „Vor fünf Jahren bin ich noch öfter mit meinen Eltern weggegangen oder so.“ Selbstbewusst war sie schon immer aber nun ist sie auch selbständiger, was sie daran merkt, dass sie nicht mehr wegen den Kleidern ihre Mutter fragt. Was denkst du, wie dein Leben in 10 Jahren aussieht? → Was wünschst du dir? „Das ich meine Ausbildung und meinen Beruf richtig gelernt habe. Ich würd gerne nach Waldenburg auf die Sportschule gehen und dann, weil ich dann ja noch ziemlich jung bin nach Stuttgart oder nach Göppingen auf die Schule für Sport- und Musiklehrer.“ So um den Dreh verheiratet sein, auch Kinder – „weil ich Familie mag“, ein eigenes Haus in Hohenlohe. Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 96 von 101 Was ist deiner Meinung nach Identität? Keine Ahnung. „Wer bist du?“ Dann würde sie ihren Namen sagen und was sie so in ihrer Freizeit macht. Wo sie herkommt. Aber sie ist mehr als diese ‚Eckdaten’. Wie jemand ist, ist auch wichtig. (Charakter) Was hat dich zu dem gemacht, was du jetzt bist? „Mit denen wo ich zusammen hänge.“ Das Umfeld auf jeden Fall aber sie selber auch. „Was ich halt denk und so.“ Wärst du lieber ein Junge? Warum? Nein. „Jungs sind... weiß auch net..“ Was glaubst du, wie andere dich sehen? Es kommt darauf an ob jemand sie leiden kann. Wenn ja, dann sagen sie, dass sie nett ist. Andere könnten glauben sie sei zickig, weil sie sich nichts gefallen lässt und ihre Meinung sagt. Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 97 von 101 Fragen und Antworten Elena 14, 11 Jahre Sarah Michelle Gellahar ist dein Vorbild. Warum gerade sie, es gibt doch auch andere gute Schauspielerinnen? Sie wollte schon als Kind selber Schauspielerin werde. Diese Frau hat sich selbst hochgearbeitet von Werbung (Mc) bis zur Serie und hat auch eine tolle Figur sowie den braunen Gürtel in Teakwondo. Sie selbst war mal in Judo aber nicht lang will aber wieder. Warum glaubst du nicht daran, dass du auch Schauspielerin werden kannst? Hat zwar Talent aber das haben ja viele und man muss ja entdeckt werden. Evtl. Schauspielschule. Was denkst du, wie die Schule dein Leben beeinflusst? Früher nicht so, mit steigendem Lerneinsatz kostet die Schule viel Zeit, auch Freizeit. Soziales Umfeld Schule beeinflusst ihr Leben auch, aber von manchen Mitschülern will sie nicht beeinflusst werden. Deine Freunde? Beeinflussen sie nicht besonders. Sie hört nicht so sehr auf die anderen. Ab und zu über Kleinigkeiten. Mit ausgewählten Freunden hängt sie rum. Sie redet aber mit niemand groß außer mit ihrem Meerschweinchen. Deine Familie? Für alles eine Schwester, Eltern sind schon älter aber es ist auch nicht so schlecht, machen auch nicht auf gut Freund. Mit Mutter kommt es ab und zu zum Streit. Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 98 von 101 Wie sieht deine Freizeit aus? Fußballspielen, lesen, Meerschwein, Bauchmuskeln. Sie liest Schnulzromane und esoterische Bücher. Damit beschäftigt sie sich etwas stärker. Hexen, pendeln, Karten legen, Getränke brauen, Woodo. Das macht sie alleine. Sie glaubt an diese Kraft bzw. Kräfte Was ist in deinem Leben anders als vor fünf Jahren? „Ich bin älter, darf mehr und bin mehr selbstbewusst. Noch in der Grundschule und Lehrerin war wichtig. Jetzt ist die Familie am wichtigsten.“ Was denkst du, wie dein Leben in 10 Jahren aussieht? → Was wünschst du dir? Schauspielkarriere in Hollywood. Deutschland reicht nicht, schon Spielfilme in Amerika. Wenn man da berühmt ist, hat man es geschafft. Sie kann sich auch vorstellen in Amerika zu leben, sie findet dieses Land interessant. Große Unterschiede, freundliche offene Menschen – war aber noch nie dort. Sie möchte nicht unbedingt heiraten und Kinder bekommen. Auf gar keinen Fall in 10 Jahren. Sie möchte ihr Leben selbständig und frei leben. Berühmt sein weil es dafür viel Geld gibt und jeder einen kennt. Keine Actionfilme – keine Leute abballern! Was ist deiner Meinung nach Identität? Wer bist du? „Ein Mädchen das mehr introvertiert ist, was Freunde angeht.“ Sie ist familiengebunden. Das Äußere ist nicht so wichtig zur Identität. Sie verkörpert aber schon das, was sie ist. Sie möchte dünner sein, dann wäre sie ihrer Meinung nach selbstbewusster. Wärst du lieber ein Junge? Warum? Nein! Jungs werden zu hart erzogen und dürfen keine Gefühle zeigen. Beruflich haben Männer aber im Vorteil – trotz Emanzipation. Aber getauscht wird nicht! Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 99 von 101 Slogans • Auf diese Steine können sie bauen (Schwäbisch Hall) • Weil ich es mir wert bin (L `oreal) • Entdecke die Möglichkeiten (Ikea) • Wir machen den Weg frei (Volksbanken und Raiffeisenbanken) • Geht nicht, gibt’s nicht (Praktiker) • Wir geben ihrer Zukunft ein Zuhause (LBS) • Vertrauen ist der Anfang von allem (Dresdner Bank) • Die Freiheit nehm ich mir (VISA) • Weniger ist mehr • Ich bin doch nicht blöd (Media Markt) • Mich muss man erlebt haben (AIDA – das Clubschiff) • Just be (Kalvin Klein) • Nichts ist unmöglich (Toyota) • Sie haben es sich verdient (TUI) Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 100 von 101 Yvonne Brenner Wissenschaftliche Hausarbeit Die Entwicklung von Identität und Individualität als geschlechtsspezifisches Problem, dargestellt an Biographien jugendlicher Realschülerinnen Seite 101 von 101