Inklusion - Verein Vital eV

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Inklusion - Verein Vital eV
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2016
Organisationen
Informationen
21. Jahrgang
Juni 2016
SENIORENREPORT
Begriffe/Statistik/Zahlen
Behinderung (S. 53)
Behindertenbeauftragter
in Thüringen (S. 62)
Schutzbund der Senioren
(S. 63)
Lebenshilfe (S. 67)
Inklusiononline.net (S. 73)
Kontaktdaten für Menschen mit Behinderungen
(S. 74)
Inklusion
Die Gold-KraemerStiftung (S. 78)
Projekte
„Netzwerkprojekt Inklu­
sionskultur“ (S. 82)
DRK Mobil gGmbH (S. 83)
Inklusion und Barrierefreiheit für Bankkunden
(S. 85)
Tipps
Erfahrungen
Personalisierte Bekleidung (S. 87)
Aus den Seniorenbeiräten (S. 91)
Aktuelles aus dem
Vorstand (S. 101)
Impressum (S. 104)
Fachwissenschaft/Politik
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Inhaltsverzeichnis
Rubrik Fachwissenschaft/Politik
Die Inklusionslüge. Behinderung im flexiblen Kapitalismus
Prof. Uwe Becker
Zu Begriffen im Umfeld von Inklusion
Dr. Jan Steinhaußen
„Das Versprechen vom Ende der Ausgrenzung –
Inklusion, politische Teilhabe und Behinderung
Dr. Jan Steinhaußen
Älter werden, Behindert sein
Prof. Ronald Lutz
Das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen
Schulische Inklusion – eine anspruchsvolle und schwierige Aufgabe
Prof. Bernd Ahrbeck
Zu Widersprüchen schulischer Inklusion
Dr. Jan Steinhaußen
Auf der Straße des Erfolgs: Soziale Arbeit der „Umsorgung“ von Senioren
im deutsch-skandinavischen Vergleich
Dr. Cornelia Heintze
Zur Umsetzung der UNBRK in Thüringen
Frau Riehm / Herr Eberhardt
4
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17
19
30
30
33
49
Rubrik Information
Behinderung in Deutschland und Thüringen
Dr. Jan Steinhaußen
Der Behindertenbeauftragte in Thüringen
53
62
Rubrik Organisationen
Schutzbund der Senioren ist für alle offen – 25 Jahre gelebte Inklusion
Erdmann Schleinitz
„Alt wie ein Baum möchte ich werden …“ – Zur Situation alt gewordener
Menschen mit geistiger Behinderung – Die Lebenshilfe für Menschen
mit geistiger Behinderung – Landesverband Thüringen e. V.
Lebenshilfe Zeitschrift für Inklusiononline.net
Organisationen und Interessenvertretungen von und für Menschen
mit Behinderungen – Kontaktdaten von Landesverbänden und
Interessenvertretungen von und für Menschen mit Behinderungen
63
67
73
74
Projekte
Die Gold-Kraemer-Stiftung – über 40 Jahre Engagement
für eine inklusive Gesellschaft
Gold-Kraemer-Stiftung
Das „Netzwerkprojekt Inklusionskultur“
DRK Mobil gemeinnützige GmbH – ein Beitrag zur inklusiven Gesellschaft
Inklusion und Barrierefreiheit im Alltag – Verbesserungen zum Wohle
der Bankkunden – eine gemeinwohlorientierte Initiative Raymund Haller
Integration und Inklusion durch personalisierte Bekleidung
Kathleen Wachowski
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82
83
85
87
Erfahrungsberichte/Aktuelles aus dem Vorstand
Aus den Seniorenbeiräten
Informationen aus dem Vorstand
Nachruf auf Norbert Pößel
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91
101
103
Sehr geehrte Frau Professorin … ich war jetzt eher durch Zufall auf einen lange zurückliegenden interessanten Vortrag von Ihnen gestoßen ... Ich möchte
auf zwei Einlassungen von Ihnen Bezug nehmen, die mich irritiert haben: Sie
mein(t)en, dass Sie keinen semantischen Unterschied zwischen den Ausdrücken „behinderte Menschen“ und „Menschen mit Behinderungen“ sehen.
Mir erscheint er aber deutlich: Im ersten Fall erzeugt das Attribut eine Totalität auf den Gegenstand. Ein roter Apfel ist eben rot und nicht auch gelb. Im
zweiten Fall „Menschen mit Behinderungen“ ist die Behinderung ein Attribut
von anderen. Ein Apfel mit der Farbe Rot kann eben gelbe und weiße und
schwarze Farbtöne enthalten. Eine ähnliche Reduktion findet man im Begriff
Pflegeheim: Das Wohnen und Leben von Menschen, die einen Pflegebedarf
haben, wird auf die Dimensionen der Pflege, einer Institution und einer hospitalisierten Unterbringung reduziert. Insofern kann ich sehr wohl nachvollziehen, dass sich Menschen nicht auf eine Dimension ihres Lebens reduziert
sehen wollen.
Noch krasser empfinde ich das Beispiel „füttern“, das Ihnen verwendungsfähig erscheint. Dass unterschiedliche Wörter für formal gleiche Vorgänge
bei Mensch und Tier entstanden sind, Tiere fressen und werden gefüttert,
Menschen essen, hängt wahrscheinlich mit der strengen Unterscheidung zwischen Mensch und Tier im abendländischen Denken zusammen. Ich wäre
neugierig, ob es in anderen Kulturkreisen oder in frühen Kulturen diese
sprachliche Unterscheidung gibt. Im abendländischen Denken waren Tiere
„geistlose“ und triebgesteuerte Wesen, die Würde des Menschen wurde mit
seiner Geisteskraft, seinem Denken und seiner Sittlichkeit verbunden. Ein
Mensch frisst, wenn er keine Manieren hat, wenn er seinen Trieben folgt usw.
Menschen werden, das ist die Logik, gefüttert, wenn sie keine Denkkraft und
Sittlichkeit (mehr) besitzen, also Kinder und demenziell erkrankte Menschen.
Ich empfinde diesen Gebrauch als schwer erträglich.
Das Wort „füttern“ assoziiert Massentierhaltung. Das Heim als Ausdruck einer geronnenen Lebensform ähnelt einer solchen „Haltung“ und Abrichtung.
Entscheidend erscheint mir aber vor allem die Verabreichungsintention. Sie
macht Menschen zu Objekten. Es ist m.E. kein geringer Unterschied, ob man
sagt und meint, dass man Menschen füttert oder dass man ihnen Hilfestellung oder Assistenz beim Essen gibt.
Nun könnte man meinen, liebe Frau Fix, dass diese zwei Beispiele noch
keine Praxis generieren oder nicht ganz so ernst zu nehmen sind, weil die
Unterschiede gering seien. Ich denke aber, dass die Sprache mit Bezug auf
Menschen mit einem Pflegebedarf einer System- und konkreter einer Ökonomisierungslogik folgt, die Menschen zu Objekten degradiert, sie in einem
geldwerten Verwertungszusammenhang sieht und Beziehungen beeinflusst.
…
Herzliche Grüße von Jan Steinhaußen
(Auszug aus einem Brief an Frau Prof. Fix)
-3-
Fachwissenschaft/Politik
Inklusion
Die Inklusionslüge.
Behinderung im flexiblen
Kapitalismus
Es ist relativ still geworden um das
Thema Inklusion. Verging in der Zeit
bis zum Sommer 2014 kaum eine
Woche, in der nicht in örtlichen oder
überregionalen Tageszeitungen über
Praxis, Probleme oder Beispiele der
Inklusion berichtet wurde, so findet
sich inzwischen nur noch gelegentlich
die eine oder andere Tagesnachricht
auf der vierten oder fünften Seite.
Nicht viel anders ergeht es beispielsweise dem insgeheim in Vorbereitung
befindlichen Freihandelsabkommen
TTIP, dessen skandalöse Intransparenz zwar noch im September 2015
250 Tausend Demonstranten in Berlin zusammengeführt hat, aber mehr
als eine Tagesmeldung war auch das
nicht wert. Als ich im Herbst 2014
mit den abschließenden Kapiteln
meines Buches befasst war, habe ich
bereits diese drohende Verzerrung
der öffentlichen Aufmerksamkeit für
unser Thema befürchtet. Im letzten
Teil des Buches unter dem Titel Inklusionslogiken heißt es: „Die öffent-
liche Aufmerksamkeit für die Sache
der Inklusion droht sukzessive zu
verschleißen, wenn das, was als Inklusion gedacht wird, maßgeblich in
die Metaphorik einer besseren Gesellschaft entrückt wird. Ohne die erforderlichen ökonomischen Ressourcen für dieses Projekt bereitzustellen
und ohne nach den notwendigen
Veränderungen der gesellschaftlich
zentralen Logiken zu fragen, unterliegt dieses Projekt tendenziell der
moralischen Versickerung. Es geht
ihm der zivilgesellschaftliche Atem
aus, zumal neue, ‚frische‘ Themen
das Feld der öffentlich provozierten Aufmerksamkeit besetzen. Dass
beispielsweise die Dramatik der internationalen Flüchtlingsbewegung
mit ihren eher bescheidenen Ausläufern einer Aufnahme von einigen
hunderttausend Menschen 2014 in
Deutschland aus guten Gründen
wochenlang die Medien bestimmt –
und eigentlich eine wesentlich intensivere und nachhaltigere Aufmerksamkeit verdient hat – hat dabei den
beiläufigen Effekt, dass das Thema
Inklusion in die unteren Ränge des
öffentlichen Interesses verbannt wurde, wobei recht betrachtet beide
Themen eine Inklusionsverwandtschaft beinhalten. Dieses Beispiel für
eine ‚Themenkonkurrenz‘ hat auch
eine finanzielle Dimension. Es spiegelt die Finanzierungskonkurrenz innerhalb der Kommunen wieder, die
sich – noch ‚erschöpft‘ vom Konnexitätsstreit über die Übernahme der
Kosten für Inklusionsbestrebungen in
der Regelschule – nun mit erneuten
Anfragen nach Kostenübernahme
konfrontiert sehen.“ (Becker 2015:
171f.)
Wenn sie die Straßenverkehrsordnung, das Strafrecht, das Steueroder Sozialrecht nicht ständig öffentlich thematisiert finden, ist das
nicht sonderlich spektakulär und gewissermaßen unschädlich. Denn das
Recht besteht und setzt täglich seine
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Praxis durch einschlägige Rechtsprechung auch im Stillen. Was aber das
Thema Inklusion anbelangt, so ist
sein Rechtscharakter wesentlich fragiler und unbestimmter und insofern
braucht es die zivilgesellschaftliche
Schubkraft, um sich rechtswirksame Grundlagen zu schaffen. Diese
Fragilität hat mehrere formale und
rechtsmaterielle Gründe.
1. Völkerrecht heißt nicht, dass
das Recht beim Volk ankommt
Die juristische Primär-Quelle, auf die
die Inklusionsdebatte, der Nationale
Aktionsplan und die zahlreichen Landesaktionspläne Bezug nehmen, ist
das am 13. Dezember 2006 durch
die Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedete „Übereinkommen der Vereinten Nationen
über die Rechte von Menschen mit
Behinderung“. Diese sogenannte
Behindertenrechtskonvention (BRK)
ist Ergebnis eines Umdenkungsprozesses. Denn auch in den Vereinten
Nationen wurde Behinderung als ein
eher sozialpolitisches oder gar medizinisches Thema verortet. Folglich
lag das zuständige Ressort in der
Kommission für soziale Entwicklung
oder bei der Weltgesundheitsorganisation (vgl. Degener 2006: 104). Die
Forderung nach einer verbindlichen
Menschenrechtskonvention ist fünf
großen Nichtregierungsorganisationen von Menschen mit Behinderung
zu verdanken, die letztlich dazu führte, dass die Generalversammlung
2002 einen „Ad-hoc-Ausschuss
für ein umfassendes und integrales
Übereinkommen zum Schutz und zur
Förderung der Rechte und Würde von
Menschen mit Behinderung“ (ebd.:
105) einsetzte. Vertreter und Vertreterinnen von NGOs, überwiegend
Organisationen von Menschen mit
Behinderung, wirkten maßgeblich an
der Redaktionsarbeit mit, ganz nach
dem Motto „nothing about us wit-
Politik
Inklusion
hout us“ (ebd.: 110). Folglich ist es,
wie eine ihrer Mitautorinnen meint,
bei dieser Erklärung gelungen, dass
sie nicht „von Stellvertreterprofessionen“, sondern „von Organisationen
der Behindertenbewegung selbst
errungen wurde“ (Degener 2009:
275). Im Kern hat diese Konvention den umfangreichen Katalog der
Menschenrechte, die in der Europäischen Menschenrechtskonvention
Niederschlag gefunden haben, auf
Menschen mit Behinderung zugeschnitten. Sie markiert damit „einen
Wendepunkt zum menschenrechtlichen Modell von Behinderungen“
(Masuch 2011: 246).
Obwohl es damit gelungen ist,
dass der Text entscheidend aus der
Sicht derer verfasst ist, um deren
Recht es in der BRK geht, bleibt es
ein Text der Vereinten Nationen. Er
kommt gewissermaßen von „ganz
oben“. Die BRK erklärt im ersten
ihrer fünfzig Artikel: „Zweck dieses
Übereinkommens ist es, den vollen und gleichberechtigten Genuss
aller Menschenrechte und Grundfreiheiten durch alle Menschen mit
Behinderungen zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten und die
Achtung der ihnen innewohnenden
Würde zu fördern.“ Ihre allgemeinen
Grundsätze werden in Art. 3 entfaltet. Danach geht es unter anderem
um die Autonomie und Freiheit von
Menschen mit Behinderung, um die
Nichtdiskriminierung, um die „volle
und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft“, die Chancengleichheit
und – mit Blick auf die Kinder mit
Behinderung – um die Achtung vor
den sich entwickelnden Fähigkeiten
und „ihres Rechts auf Wahrung ihrer
Identität“.
Entsprechend weit sind auch in der
Behindertenrechtskonvention die gesellschaftlichen und politischen Felder aufgeführt, um deren diskriminierungsfreie Ausgestaltung es geht:
Das betrifft unter anderem die volle
und barrierefreie Teilhabe an allen
Lebensbereichen, das heißt die öffentliche Verkehrs- und Infrastruktur,
die Schulen und die öffentlichen Einrichtungen und Dienste (Art. 9), die
uneingeschränkt gleichberechtigte
Anerkennung von Menschen mit Behinderung als Rechtssubjekte (Art.
12), die persönliche Freiheit und Sicherheit sowie die Freiheit von Folter, Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch (Art. 14-16), den Schutz der
Unversehrtheit der Person (Art. 17),
das Recht auf Freizügigkeit und den
Erwerb oder Wechsel einer Staatsangehörigkeit (Art. 18), die freie Wahl
des Aufenthaltsortes und der Art der
Wohnform (Art 19), das Recht auf
Bildung, insbesondere durch Gewährleistung eines integrativen Bildungssystems auf allen Ebenen (Art.
24), das Recht auf Arbeit (Art. 27),
das Recht auf ein Höchstmaß an
Gesundheit und auf „gerechte und
günstige Arbeitsbedingungen, einschließlich Chancengleichheit und
gleichen Entgelts für gleichwertige
Arbeit“ (Art. 27) und das Recht auf
Teilhabe am politischen, öffentlichen und kulturellen Leben (Art. 2930). Im Schlussteil der Konvention
wird ausdrücklich fixiert, dass die
unterzeichnenden Staaten sich verpflichten, die innerstaatliche Durchführung der Konvention zu überwachen. Mindestens alle vier Jahre ist
ein Bericht über den Stand der Umsetzung vorzulegen, der von einem
unabhängigen, internationalen Ausschuss geprüft werden soll.
„Die BRK wurde […] am 30. März
2007 von Deutschland unterzeichnet und durch ein Ratifizierungsgesetz am 21. Dezember 2008
als innerstaatliches Recht ab dem
26. März 2009 in Kraft gesetzt.“
(Masuch 2011: 245). Dieses sozialund schulpolitisch als sehr zentral bewertete Gesetz wurde „im deutschen
Parlament nicht gerade würdevoll
behandelt“ (Speck 2015). Denn laut
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Protokoll begann die parlamentarische Debatte erst nach 22 Uhr unter
Tagesordnungspunkt 23 und weniger als 50 Abgeordnete fanden sich
noch im Plenarsaal. „Im Gegensatz
zu sämtlichen vorausgegangenen
und nachfolgenden Tagesordnungspunkten wurde auf eine Aussprache
völlig verzichtet. Die vorbereiteten
Reden von Vertretern der verschiedenen Parteien wurden lediglich zu
Protokoll gegeben (Anlage 19)“ und
nach Ablehnung zweier Änderungsanträge wurde das Gesetz einstimmig
beschlossen (Speck 2015). Zu dieser
Debatte muss bezüglich der Schulpolitik, auf die sich ja die Diskussion
eigenartig verkürzt konzentriert hat,
gesagt werden, dass der Deutsche
Bundestag davon ausging „dass der
politisch favorisierte ausschließlich
gemeinsame Unterricht nur dadurch
bewerkstelligt und finanziert werden
kann, dass die Förderschulen abgeschafft werden“. Das war nicht
primär fachlich, sondern finanziell
begründet, denn schulische Inklusion „sollte kostenneutral verwirklicht
werden“ (ebd.).
Das allein zeigt schon an, dass die
BRK erstens auf der Basis einer gewissen politischen Ahnungslosigkeit
übernommen wurde, zumindest
schien es zu beruhigen, dass ein
so „gutes Projekt“ doch keinerlei
Mehrkosten verursacht. Zweitens
war diesbezüglich auch hilfreich,
dass viele Sätze der BRK rechtlich
auch sehr unbestimmt wirken und
insofern auch ihre Umsetzung einen breiten Interpretationskorridor
auftat. Folglich war auch in der Folgezeit bis heute die Auslegung ihres
Verständnisses kontrovers. Das nun
betrifft die Frage nach den aus der
BRK resultierenden, individuell einklagbaren Rechtsansprüchen. Denn
die BRK ist lediglich als ein einfaches
Bundesgesetz in Kraft und hat keinen Verfassungsrang. Das verstärkt
die grundsätzliche Frage, welche
Politik
Inklusion
subjektiven Rechte Menschen mit
Behinderung vor deutschen Gerichten unter Berufung auf diese Behindertenrechtskonvention einklagen
können (vgl. Masuch 2011: 247).
Was heißt denn beispielsweise das
in Artikel 19 verbriefte Recht auf die
freie Wahl des Aufenthaltsortes und
der Wohnform für die Situation einer durch besonders extreme Mietpreissegmentierung bekannte Stadt
wie München. Heißt denn diese freie
Wahl auch, dass man als Mensch
mit Behinderung eine ambulant betreute Wohnform in der Innenstadt
mit einem Quadratmeterpreis von
netto 17,50 Euro in Anspruch nehmen kann? Natürlich nicht, hier
greift letztlich die Hoheit des Kostenträgers und für die Stadt München
gilt, dass sie im Herbst 2014 durch
das „Amt für Soziale Sicherung“ verfügt hat, dass die Mietobergrenze
bei der Erstattung der Unterkunftskosten für eine Person bis zu 50 qm
Wohnfläche bei 610 Euro liegen
darf und damit bei etwa 12 Euro.
Eine Ansiedlung in der Innenstadt ist
folglich für unterstützungsbedürftige
Menschen mit Behinderung finanziell
in der Regel nicht möglich. Nun ist
der Bezug auf die BRK, in der doch
diese freie Wahl des Wohnortes fixiert ist, rechtlich nicht so einfach wie
man denken mag. Denn ein völkerrechtlicher Vertrag verpflichtet zwar
die Staaten, die ihn unterzeichnen,
ihn auch zu befolgen. Aber welche
konkreten Rechtsansprüche für Menschen mit Behinderung aus dem Völkerrechtsvertrag erwachsen, darüber
entscheidet die Klarheit, mit der im
Vertrag diese Rechtsansprüche garantiert werden. Diese Klarheit aber
ist vernebelt. Das heißt: Wenn die
Rechtsgrundlage für konkret justiziable Anwendbarkeit nicht geschaffen wird, dann verbleibt eine „Konvention als völkerrechtlicher Vertrag
gleichsam in der abgesonderten
Sphäre des Internationalen“ (ebd.:
251). Dann klingen Menschenrechtssätze deshalb so schön, weil
sie zu nichts verpflichten und nichts
kosten! So verwundert es denn auch
nicht, dass die Bundesregierung in
einer „Denkschrift“ zum Übereinkommen der Vereinten Nationen auf
diesen Vorbehalt deutlich verwiesen
hat. Dort heißt es:
„Mit der Ratifizierung werden die
Staatsverpflichtungen zur Erreichung
des beschriebenen Ziels, der Verwirklichung aller Menschenrechte
und Grundfreiheiten, begründet.
Diese Staatsverpflichtungen müssen
in innerstaatliches Recht überführt
werden. Subjektive Ansprüche begründet das Übereinkommen nicht.
Sie ergeben sich erst aufgrund innerstaatlicher Regelung.“ (Denkschrift
2008: 48)
Die BRK schlägt aber auch selber
eine Brücke in den Nebel. In Artikel
4 Absatz 2 dehnt sie die Verpflichtung der Staaten zur Verwirklichung
der „wirtschaftlichen, sozialen und
kulturellen Rechte“ von Menschen
mit Behinderung auf eine unbestimmte Zeitachse aus. Es gehe darum, „Maßnahmen“ zu treffen, „um
nach und nach die volle Verwirklichung dieser Rechte zu erreichen“.
„Maßnahmen“, das klingt rechtlich
ebenso unbestimmt, wie „nach und
nach“ zwar eine progressive Entwicklung anzeigt, allerdings ohne
auch nur den geringsten Grad der
zeitlichen Präzision. Die juristisch
Gelehrten diskutieren inzwischen,
inwieweit aus der Geltung der BRK
auch die unmittelbare Anwendung
resultiert, also ob das Völkerrecht
auch im Volk ankommt.
Die als Bundesgesetz in Deutschland
in Geltung stehende BRK zeichnet
sich erstens dadurch aus, dass der
Text an vielen Stellen rechtlich unbestimmt ist, dass er zweitens und
daraus resultierend eine nur fragile
Basis für individuell einklagbares
Recht bildet, dass drittens die BRK
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in Artikel 4 die Verpflichtung zur
Umsetzung nur in Form eines vagen
Progressionsvorbehaltes ausweist und
viertens die Verabschiedung dieses
Gesetzes offenbar unter dem Eindruck vorgenommen wurde, man
könne es ohne Inanspruchnahme
irgendwelcher Mehrkosten beispielsweise schulpolitisch unschädlich in
Angriff nehmen.
2. Inklusion – Hauptsache billig
Der „Aktionsplan der Landesregierung NRW“ unter dem Titel „Eine
Gesellschaft für alle“, der sich die
Umsetzung dieser BRK auf die Fahnen geschrieben hat, wirkt, wenn
man genauer hinsieht, auch schon
politisch sehr zurückhaltend konkret. Der damalige Arbeitsminister
in NRW, Guntram Schneider, spricht
in diesem Aktionsplan von einem
„Perspektivwechsel“, einem „Leitbildwechsel“, der nur gelingen könne, wenn Inklusion als eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung
begriffen wird, eine „neue Kultur
inklusiven Denkens und Handelns“
zu etablieren (Die Landesregierung
2012). Damit hat er zweifellos Recht.
Das alltägliche und auch allerorten
Prof. Uwe Becker als Referent auf dem Jahresseminar der Landesseniorenvertretung im
November 2015
Politik
Inklusion
sichtbare Miteinander von Menschen mit und ohne Behinderung ist
hierzulande keine Selbstverständlichkeit. Und das zivilgesellschaftliche
Engagement ist eine unverzichtbare
Aufgabe, die politische Maßnahmen
flankiert. Aber welche politischen
Maßnahmen sollen denn nun getroffen werden? Fragt man weiter nach
dem aus diesen Worten des Ministers resultierenden politischen Effekten, so stößt man auf sehr weiche
Äußerungen: Der Aktionsplan soll
„Aufmerksamkeit“ erregen, „Impulse für neue Ideen und Diskussionen“
geben und das „Verständnis und Interesse“ für die „vielen Beeinträchtigungen, mit denen viele Menschen,
Nachbarn und Fremde“ leben,
wecken (ebd.). Woher kommt diese politische Zurückhaltung, ja fast
möchte man sagen, woher kommt
diese „Entpolitisierung“ des Themas, dieses Umschwenken in eine
Art rhetorische Figur des Appells an
die Zivilgesellschaft ohne politische
Konkretion? Der Aktionsplan verbalisiert selber die Grenzen seiner Umsetzung, wenn es heißt: Alle „Maßnahmen des Aktionsplans“ stehen
„unter dem Vorbehalt verfügbarer
Haushaltsmittel“. Welche verfügbaren Haushaltsmittel sollen denn
gemeint sein, wenn der Fiskalpakt
und die grundgesetzlich verankerte
Schuldenbremse für das Land NRW
bedeutet, dass es spätestens im Jahr
2020 keine Neuverschuldung mehr
eingehen darf, in diesem Jahr aber
noch 1,7 Milliarden Neuverschuldung vollzogen hat? Und man muss,
weil die Dinge zusammen gehören,
auch fragen, wie denn das Land
und viele Kommunen hier wirksame
und auch kostenaufwändige Inklusionsakzente setzen wollen, wenn sie
beispielsweise durch die anhaltende Flüchtlingsbewegung unerwartet
hoch mit Ausgaben belastet sind,
die redlicher Weise die Diskussion
erforderlich machen, ob wir nicht
die Regelungen der Schuldenbremse, die 2009 im Bundestag wie auch
mit Zweidrittelmehrheit im Bundesrat
gebilligt wurde, wenigstens vorrübergehend außer Kraft setzen müssen. Hier darf nichts gegeneinander
ausgespielt werden, denn recht betrachtet ist auch die Flüchtlingsfrage
Teil der Inklusionsthematik. Aber das
Ausspielen vollzieht die Kassenlage
vieler Länder und Kommunen und
man muss fragen, wie die Finanzierung für die Gestaltung inklusiver
Wohnquartiere, für die niederschwellige Zugänglichkeit des öffentlichen
Raums, des öffentlichen Nahverkehrs
und der öffentlichen Gebäude und
Einrichtungen gewährleistet werden
kann. Insbesondere Kommunen mit
hohen Kassenkrediten stehen hier
vor immensen Haushaltsfragen.
Man wird aus guten Gründen zu
befürchten haben, dass die gegenwärtige Politik der Austerität – also
der Sparpolitik – diejenigen trifft, die
eh schon von Armut und Rückgang
der Sozialleistungen betroffen sind.
Und man wird mit Sicherheit davon auszugehen haben, dass keine
zusätzlichen Leistungen der öffentlichen Hand, die nicht an anderer
Stelle durch Einsparungen kompensiert werden, zur Wirkung kommen.
Das betrifft auch alle Maßnahmen,
die im Zuge der Umsetzung der UNBehindertenrechtskonvention der öffentlichen Hand erhebliche Investitionen abverlangen müssten.
Ein ausgesprochen skandalöser
Missstand, über den lange Zeit auch
im Zuge des immer noch nicht ausgearbeiteten Bundesteilhabegesetzes
diskutiert wurde, ist zur Enttäuschung
vieler immer noch geltend. Das betrifft im Kern die Zuordnung der
Leistungen für Menschen mit Behinderung zur sogenannten Sozialhilfe.
Ein Leben mit Behinderung erfährt
in unserer Gesellschaft eine Reihe
von materiellen, sozialen, kulturellen
und wirtschaftlichen Nachteilen. Die
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Leistungen der Eingliederungshilfe
dienen diesem Nachteilsausgleich.
Sie werden auf der Rechtsbasis des
Zwölften Sozialgesetzbuches für
Menschen mit Behinderung erstattet
und haben sich innerhalb der letzten
15 Jahre auf eine Summe von jährlich 13,3 Milliarden Euro verdoppelt
(Kosten für die Eingliederungshilfe
explodierten 2014). Der Kostensenkungsdruck wird allerorten von den
Kommunen, Ländern oder überörtlichen Sozialhilfeträgern beklagt. Sie
klagen gegenüber den Leistungserbringern der Behindertenhilfe, letztlich aber gegenüber den Betroffenen
selber. Integration in den Arbeitsmarkt wird dabei angepriesen als
das Rezept, um einerseits Effizienzkalküle der öffentlichen Hand einzulösen und andererseits für eine möglichst große Gruppe von Menschen
mit Behinderung die durch Arbeit
finanzgestärkte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben selbstbestimmt
zu ermöglichen. Wer allerdings als
Mensch mit Behinderung zu diesem
Rezept der Integration in den ersten Arbeitsmarkt greift und wer dabei sogar zu den gut Verdienenden
gehört, erfährt auf ernüchternde Art
und Weise, was Subsidiarität, also
die Verpflichtung zur Selbsthilfe, bedeutet. Denn die Ansprüche auf die
Finanzierung der Eingliederungsleistungen werden mit den Einkommens- und Vermögensverhältnissen
eines Menschen mit Behinderung
und seiner Familie verrechnet. Nach
dem Zwölften Sozialgesetzbuch (§§
82ff) wird detailliert geprüft, welche
Leistungen danach von dem Betroffenen selber zu erbringen sind. Viele Verbände der Leistungserbringer
oder auch der Verein von Juristinnen
und Juristen mit Behinderung fordern
daher, dass die Einkommenstatbestände unabhängig von der Eingliederungshilfe zu betrachten und, anders als die bisherige Regelung des
Sozialrechts es zulässt, zumindest
Politik
Inklusion
weitgehend nicht anzurechnen sind
(vgl. Becker 2014). Folglich wäre
auch die im Zwölften Sozialgesetzbuch am Bedürftigkeitsprinzip orientierte Nachrangigkeit der Leistung
(§ 2) für die Eingliederungshilfe auf
den Prüfstand zu stellen. In der Regel
verbleibt nämlich dem Erwerbstätigen, der Anspruch auf Eingliederungshilfeleistung hat, bei Anrechnung seines Einkommens maximal
nur der doppelte Hartz-IV-Regelsatz
plus Mietaufwendungen als Selbstbehalt, und das erlaubte Sparguthaben wird restriktiv auf maximal 2600
Euro begrenzt (vgl. Hahn 2013: 3).
Für diese Menschen ist die Altersarmut also gleich mit garantiert. Aus
dieser Armutsfalle entrinnen nur die
wenigsten Menschen mit Behinderung, aber es ist derzeit offenbar
kein Anzeichen da, diese Situation
infrage zu stellen. Wie gesagt, es
geht um den Kostensenkungsdruck
und der regiert allerorten die öffentliche Hand. Hier eine Lösung zu finden, wäre ein wirklich substantieller
politischer und rechtsbasierter Schritt
zur Inklusion, aber die Tatenlosigkeit
und Zurückhaltung an dieser Stelle
ist ein weiteres Indiz für die Entpolitisierung des Themas.
3. Das schulpolitische Inklusionsdilemma
Von politischer Seite wird dem Vorwurf der Entpolitisierung des Inklusionsprojektes mit dem Hinweis auf
die Schulpolitik begegnet. Zunächst
einmal ist in der Tat auffällig, dass
das Thema Inklusion nahezu reduziert wird auf die Frage der inklusiven Beschulung an Regelschulen. In
eher technischer Manier spricht man
in diesem Kontext auch gerne von
Inklusions- beziehungsweise Exklusionsquoten. Inklusion, so die Logik,
ist dann vollzogen, wenn Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf keine Förder-,
sondern eine Regelschule besuchen. Richtig ist, dass es in Artikel
24 heißt: „Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht von Menschen
mit Behinderungen auf Bildung. Um
dieses Recht ohne Diskriminierung
und auf der Grundlage der Chancengleichheit zu verwirklichen, gewährleisten die Vertragsstaaten ein
integratives Bildungssystem auf allen Ebenen [...]“. Und wenig später
heißt es: „Bei der Verwirklichung dieses Rechts stellen die Vertragsstaaten sicher, dass […] Menschen mit
Behinderungen gleichberechtigt mit
anderen in der Gemeinschaft, in der
sie leben, Zugang zu einem integrativen, hochwertigen, unentgeltlichen
Unterricht an Grundschulen und
weiterführenden Schulen haben.“
Es geht also um die Gewährleistung
eines integrativen oder besser inklusiven Bildungssystems, um das Recht
für jeden Schüler und jede Schülerin zu eröffnen, eine Regelschule mit
inklusivem Knowhow zu besuchen,
die auf ihre Bedarfe eingeht. Denn
es heißt unter der Zielbestimmung
dieses Artikels: Mit dem Ziel, „Menschen mit Behinderungen ihre Persönlichkeit, ihre Begabungen und
Kreativität sowie ihre geistigen und
körperlichen Fähigkeiten voll zur
Entfaltung zu bringen.“ Die inklusive
Beschulung steht unter dem qualitativen Anspruch, dem Genüge zu
leisten und sich damit der Aufgabe
zu widmen, orientiert an den Kindern
und Jugendlichen mit Behinderungen, deren persönliche Begabungen und Kompetenzen optimal zur
Entfaltung zu bringen. Dieser normative Maßstab an die Regelschule
ist der eigentliche Maßstab für die
legitime Rede von einer inklusiven
Beschulung. Hier steht nicht, dass
Schülerinnen und Schülern und den
Eltern, die diesen Anspruch eher in
einer Förderschule eingelöst sehen
und dort die bessere, die chancenreichere, die geschütztere Lernsitua-
-8-
tion vorzufinden meinen, das Recht
abgesprochen werden darf, sich für
diese Schulen zu entscheiden. Mit
Blick auf die bestehende „Qualität“
der inklusiven Regelbeschulung ist
es gegenüber diesen Schülerinnen
und Schülern, ihren Eltern wie auch
dem Lehrpersonal an Förderschulen
borniert, die Entscheidung für eine
Förderschule als eine Exklusionsentscheidung zu etikettieren. Denn die
Abwägung, an welcher Schule die
Persönlichkeit und Kompetenz von
Kindern mit Behinderung optimal
gefördert werden, wird nur dann im
Regelfall für eine Regelschule ausfallen, wenn dort die pädagogischen
Standards, das didaktische Knowhow
sowie die Ressourcenausstattung
deutlich optimiert werden. Erforderlich ist daher eine Orientierung der
föderalen Schulpolitik am pädagogischen Diskurs, der zurecht danach
fragt, was sich an den Schulen und
am Schulsystem ändern muss, damit
Kinder und Jugendliche mit Behinderung ihre Persönlichkeit frei und
umfänglich gefördert zur Entfaltung
bringen können. Eine derartige Ausrichtung der Schulpolitik käme allen
Schülerinnen, Schülern und auch
dem Lehrpersonal zugute.
Die Grabenziehung: Förderschule gleich Exklusion – Regelschule
gleich Inklusion ist völlig schief und
verbietet sich mit Blick auf die Qualität der inklusiven Regelbeschulung.
Die Bertelsmann Stiftung hat Anfang
September ihre aktuelle Studie über
die Qualität des inklusiven Bildungssystems in Deutschland veröffentlicht. Es sind mehrere alarmierende Botschaften, aber um der Kürze
willen, will ich nur auf ein Ergebnis
hinweisen, das ich als „Inklusionstrichter“ bezeichne. Von zehntausend
Kindern mit Förderbedarf gehen
etwa 67 Prozent im Bundesdurchschnitt in eine Kita, nur noch 47 Prozent besuchen eine Regelgrundschule, in die Sekundarstufe I kommen
Politik
Inklusion
hingegen nur noch 29,9 Prozent.
Der überwiegende Teil, nämlich fast
90 Prozent, gelangt auf die Hauptschule, gut zehn Prozent auf Realschulen oder Gymnasien, aber die
wenigsten schaffen den Abschluss
und noch weniger den Weg in eine
Ausbildung (vgl. Bertelmann Stiftung
2015). Es mag sein, so weit ist die
Statistik noch nicht, dass die Zahl
der Kinder und Jugendlichen mit
Förderbedarf, die einen Abschluss
erlangen im Regelschulsystem etwas
höher ist als in den Förderschulen,
dazu kann die Bertelsmann Stiftung
keine validen Aussagen machen.
Was mir hingegen auffällt, ist die Tatsache, dass reihenweise Kinder mit
diesem Bildungsverlauf offensichtlich die Erfahrung machen müssen,
früher oder später aus dem System
gekickt zu werden, nicht zu genügen, nicht durchlaufen zu können,
sondern nach einer gewissen Zeit
die rote Karte erhalten. Spätestens
mit Blick auf die Ausbildung erfahren viele dieser Jugendlichen, dass
das System den Zutritt zur Erwerbsarbeit verweigert. Das ist eine sehr
brutale Form der Inklusion, nämlich
eine mit verzögerten und menschlich
ungemein enttäuschenden und demoralisierenden Exklusionseffekten.
Ausgrenzungstendenzen, die wir eh
schon im dreigliedrigen Schulsystem
haben, in dem viele Hauptschüler
und -schülerinnen erfahren müssen,
dass sie keinen Ausbildungsplatz finden, verschärfen sich hier nochmals
für Jugendliche mit Behinderung.
Wenn Inklusion im Bildungssystem
mehr Aussicht auf Erfolg haben will,
dann brauchen wir deutlich kleinere
Klassen mit fünfzehn und nicht mit
dreißig Schülerinnen und Schülern,
dann brauchen wir permanent Sonderpädagogen als zusätzlich qualifiziertes Personal, die es verstehen,
eine leistungszentrierte Pädagogik
um eine personenkonzentrierte Pädagogik zu ergänzen, und dann ist
die Tatsache, dass Sonderpädagogen ambulant von Schule zu Schule
fahren, um drei, vier oder fünf Stunden pro Klasse die Beschulung vorzunehmen, ein bildungspolitischer
Skandal. Wir brauchen multiprofessionelle Teams, eine neue Form
der Didaktik und Schulgebäude, die
in jeder Hinsicht barrierefrei sind.
Und wir brauchen schließlich einen
öffentlich geförderten Ausbildungsund Arbeitsmarkt, der denjenigen,
die den Schritt in das Erwerbsleben
vollziehen möchten, auch die Chance dazu bietet. Das ist ein Teil der
inklusionspolitischen Wahrheit, die
es deutlich zu benennen gilt. Ihre
Verschleierung ist eine Variante der
Inklusionslüge. Inklusion ist nicht der
Einschluss in bestehende Systeme,
die ihre Beharrungskraft permanent
unter Beweis stellen, sondern Inklusion bedeutet der Zusammenschluss
von Vielfalt, der das System auffordert, sich von Grund auf zu ändern.
4. Exklusion – Inklusion. Eine
Semantik mit Schieflage
Die Auseinandersetzung über die
Inklusion zeichnet sich nicht gerade
durch eindeutige Klarheit aus, und
der Eindruck ist nicht von der Hand
zu weisen, dass sich ihr Verlauf auch
als Weg von der „Unkenntnis zur Unkenntlichkeit“ charakterisieren lässt
(Hinz 2014: 15). Das hat sicher eine
praktische, handlungsbezogene Dimension. Denn Antworten auf die
Fragen wann, durch welche Verordnung, Gesetzgebung und auf welcher
finanziellen Basis Schritte der Inklusion vollzogen sind, sind keineswegs
einhellig beantwortet und teilweise
heftig umstritten. Es wäre aber ein
Missverständnis, diese strittigen Aspekte und Unklarheiten lediglich auf
einer handlungsbezogenen Ebene zu
verorten. Nicht nur wann Inklusion
vollzogen ist, sondern auch, was Inklusion überhaupt bedeutet, was also
die theoretischen Grundannahmen
-9-
der Rede von der Inklusion sind, ist in
der Regel nicht geklärt.
Schon die Übersetzung des Begriffs
bietet ein naheliegendes räumliches
Verständnis von Inklusion als gesellschaftlichen „Einschluss“ oder, moderater formuliert, als gesellschaftliche Einbindung an. Den Gegensatz
dazu stellt dann der Zustand der
Exklusion dar, der gesellschaftliche
Ausschluss. Der räumlichen Vorstellung von einem Drinnen und Draußen entsprechen auch die Logiken
der Rede von der Gesellschaft, die
den Prozess der Inklusion betreiben
soll oder wie die damalige Arbeitsministerin Ursula von der Leyen im
Nationalen Aktionsplan formuliert:
„Wir wollen in einer Gesellschaft
leben, in der alle Menschen mitmachen können.“ (Unser Weg 2011:
3) Diese Formulierungen vermitteln
eine gewisse Dramatik, als stünden
Menschen mit Behinderung jenseits
gesellschaftlicher Teilhabe, als ginge
es nun darum, ihnen endlich durch
die Einbindung in das Regelschulsystem oder in den ersten Arbeitsmarkt diese Teilhabe zu vermitteln.
Inklusion ist dann identisch mit der
„einschließenden Teilhabe“ an den
bestehenden Institutionen, den gesellschaftlich sozialisierenden Instanzen und ihren kulturellen Praktiken.
Insofern muss gefragt werden, ob
der Gebrauch von Begriffen wie
„Teilhabe“ oder „Chancengleichheit“ in diesem Diskurs nicht allzu
oft einer gewissen Naivität und Kritikabstinenz unterliegt, ohne diese
Begriffe auch nur ansatzweise inhaltlich geschärft zu reflektieren.
Die theoretischen Grundannahmen
der in der Praxisdiskussion üblichen
Semantik von „Inklusion und Exklusion“ scheinen aber keineswegs
konsequent geklärt und durchdacht
zu sein. Es muss auch theoretisch
Rechenschaft darüber gegeben werden, was denn die inhaltlichen Kriterien für die Definition von Exklu-
Politik
Inklusion
sion und Inklusion sind. Wenn man
schon meint, eine solche Grenzziehung bestimmen zu können, dann
ist auch die Frage zu beantworten,
wo sie denn „verläuft“, diese Grenze
zwischen „Drinnen“ und „Draußen“.
Weder ist dieses Kons­trukt legitimiert, noch ist geklärt, wem diesbezüglich die Klärungskompetenz in
Sachen Grenzziehung zusteht. Also,
wer ist wann und aufgrund welcher
Maßstäbe überhaupt legitimiert zu
definieren, dass Menschen aus der
Gesellschaft „exkludiert“ oder auch
nicht mehr „exkludiert“ sind? Die
meist kreisförmig visualisierte Vorstellung von Gesellschaft, in der die
Punkte außerhalb des Kreises die Exkludierten darstellen, bewirkt, dass
„Exklusionen“ oder besser Ausgrenzungen im „Innenkreis“ der Gesellschaft keiner Thematisierung mehr
bedürfen. Die Gesellschaft schottet
sich so auf elegante Weise von der
kritischen Wahrnehmung der in ihr
produzierten Prozesse der Ausgrenzung ab. Anders gesagt: Das hier
transportierte Gesellschaftsbild lässt
völlig außer Acht, welche Brüche,
Ungleichheiten und sozialen Verwerfungen schon jetzt „innerhalb“ dieser
Gesellschaft produziert werden. Sie
tritt in diesem Bild als „unproblematische Einheit“ auf, was nichts anderes
produziert als ihre eigene Mystifizierung (Kronauer 2010: 20). Inklusion
wird dann quasi zum sakralen Akt
der Vergesellschaftung, und die „Zugehörigkeit“ zur „Gemeinde“ der
Inkludierten verkommt zur inhaltsleeren Metapher für Teilhabe und
Wohlfahrt. Die Unzulässigkeit dieser
Identifikation ist vielfach belegt: So
bedeutet Inklusion beispielsweise im
Regelschulsystem noch längst nicht,
eine schulische Schlüsselqualifikation zu erlangen, die aber für die
gesellschaftliche Teilhabe immer
wieder als das zwingend zu passierende Eintrittstor beschrieben wird.
Und die Teilnahme am Arbeitsmarkt
führt noch längst nicht zu einem Leben jenseits von Armut oder Angewiesenheit auf Sozialleistungen und
ist auch nicht stetig garantiert. Letztlich kann der „Vollzug von Inklusion“
in Erfahrungen von Ausgrenzung
umschlagen, wenn die Leistungsanforderungen im System den individuellen Fähigkeiten nicht entsprechen.
Inklusion hebt eben nicht die gesellschaftlichen Selektions- und Sanktionsmechanismen auf (vgl. Wansing
2012: 393). Erschreckend war für
mich vor einigen Wochen die Schilderung eines an schwerer Psychose
erkrankten Mannes, der im Rahmen
einer Diskussionsveranstaltung erklärte, dass das Schlimmste, was ihm widerfahren könnte, die Einordnung in
das Erwerbsfähigkeitsraster des SGB
II wäre. Und er schilderte weiter, dass
einer seiner besten und ebenfalls unter einer Psychose leidenden Freunde
vom Rechtskreis des SGB XII in den
Status der Erwerbsfähigkeit in die Zuständigkeit des SGB II geraten sei. Er
habe dem Druck der aufgenommenen Arbeit nicht standgehalten und
nach wenigen Monaten durch einen
schweren Krankheitsrückfall bedingt
Suizid begangen.
Wenn man also schon im dichotomen Bild von „Drinnen“ und „Draußen“ verbleiben will, dann wäre jene
Gesellschaft derer, die „drinnen“ sind
und zur Teilhabe einladen, kritisch
danach zu befragen, ob ihr Innenleben so gastfreundlich und attraktiv ist, dass man dieser Einladung
gerne folgt. Es besteht die Gefahr,
den „Raum der Inklusion“ nicht mehr
kritisch mit Blick auf seine Ausgrenzungsdynamik zu inspizieren. Allein
die Zugehörigkeit zu diesem Raum
herzustellen, ist schon ein Akt der
guten Tat, ohne kritisch zu sichten,
welche normativen und auch ausgrenzenden Dynamiken sich hinter
diesem Inklusionsvollzug verbergen.
Nehmen wir die Diskussion über die
konstant hohe Quote der Langzeit-
-10-
arbeitslosigkeit, die immer wieder
begleitet wird von der Appellstruktur,
wir müssen diesen Menschen wieder
Chancen auf gesellschaftliche Teilhabe, also Inklusionsbrücken bauen, weil sie ausgegrenzt sind. Richtig
daran ist: Langzeitarbeitslose sind
einerseits von der Arbeitswelt ausgegrenzt, sie sind Menschen ohne
Arbeit. Andererseits besteht ihre
Zugehörigkeit zur Arbeitswelt gerade in dieser negativen und defizitären Definition. Sie sind Menschen
ohne Arbeit. Sie gelten als beschäftigungsfähig, müssen ihre Arbeitsbereitschaft stetig unter Beweis stellen, haben Auflagen der Agentur
für Arbeit zu erfüllen und beziehen
schließlich eine Transferleistung, die
ersatzweise bis zur Integration in
Arbeit sozialrechtlich gewährt wird.
Und schließlich: Das Niveau dieser
Grundsicherung, so wird immer wieder politisch argumentiert, soll den
Anreiz zur Arbeitsaufnahme sichern.
Auf diese Weise werden Menschen
in Arbeitslosigkeit bürokratisch, materiell und disziplinierend an die
Welt der Arbeit gebunden, ohne ihr
wirklich anzugehören. Die Paradoxie
dieser „Teilhabe“ an der Arbeitswelt
basiert auf ihrer Ausgrenzung, sie ist
ausgrenzende Teilhabe.
Die innere „Verbundenheit“ der Arbeitslosen mit dem Arbeitsmarkt,
das „Teilhaben“ von Arbeitslosen
am Arbeitsmarkt ist zugleich negativ
bestimmt durch diesen Markt selber.
Die Arbeitslosigkeit ist bei vielen Betroffenen auch Resultat eines sich
dynamisch ändernden Arbeitsmarktes, der steigende Flexibilität, hohe
Mobilität und zunehmend höher
qualifizierte Bildungsabschlüsse zu
seinen Zugangsbedingungen erklärt. Der Arbeitsmarkt selber, sein
Anforderungsprofil und seine Leistungsverdichtung schaffen Arbeitslosigkeit. Dafür ist das Krankheitsbild
des „Burnout“ ein um sich greifendes Indiz, und nicht selten schaffen
Politik
Inklusion
die davon Betroffenen nicht mehr die
Wiedereingliederung in das Erwerbsleben und landen irgendwann in der
prekären Situation der Erwerbsminderungsrente. Zugespitzt formuliert:
Das „Wesen dieser Arbeit“ produziert
„Wesen ohne Arbeit“.
Arbeit und Bildung sind zwar Faktoren, die wesentlich über Zugang
zu und Verbleib in gesellschaftlicher
Partizipation entscheiden, aber das
gilt für beide Richtungen: Wenn Bildungsabschlüsse wie bei rund sechs
Prozent der Schuljahresabgänge nicht
erfolgen oder aber nur mit einem unqualifizierten Hauptschulabschluss
enden, wenn die Erwerbsbiografie
zwischen geringfügiger Beschäftigung, Stadien der Arbeitslosigkeit
und dem Wiedereinstieg im Niedriglohnsegment dauerhaft variiert, dann
erweist sich die pure Teilhabe an Bildung und an Arbeit gerade nicht als
Faktor, der vor Ausgrenzung bewahrt.
Und nicht nur das. Es ist zu bilanzieren, dass diese gesellschaftlichen Instanzen der Teilhabe nicht nur nicht
vor Ausgrenzung schützen, sondern
selber selektierend, klassifizierend
und letztlich ausgrenzend wirken. Es
gibt auch Dynamiken ausgrenzender
Teilhabe. Es gibt Institutionen der vermeintlichen „Inklusion“, die „Exklusion“ im erwähnten eingeschränkten
und theoretisch fragwürdigen Sinne
bewirken. Und es sind genau diese
„exkludierenden Effekte“ jener Institutionen, die gelegentlich auch von
Inklusionsbefürwortern nicht ausreichend realisiert und thematisiert werden.
5. Die Inklusionslügen – Plädoyer für die inklusionspolitische
Wahrheit
Mit dem Titel „Die Inklusionslüge“
geht es mir nicht um einen moralischen Angriff, sondern angelehnt an
Hannah Arendt richtet sich dieses
Buch zunächst gegen eine massive
Verschleierung der inklusionspoliti-
schen Wahrheit. Und diese Wahrheit
ist zunächst einmal finanzieller Natur. „Inklusion“ ist ein gesellschaftliches Projekt, das wertvoll und daher
auch kostenintensiv ist. Wenn in der
Schulpolitik wirklich Rahmenbedingungen geschaffen werden sollen,
die sich an den Zielvorstellungen
des Artikel 24 der BRK orientieren,
dann heißt das schulpolitisch betrachtet, das Ganze neu denken und
gestalten: Eine veränderte räumliche Infrastruktur, wesentlich kleinere
Klassen von eher 15 statt 30 Kindern, permanente Gestaltung des
Unterrichts durch eine pädagogische und eine sonderpädagogische
Kraft, Supervision für die Lehrkräfte,
Entwicklung neuer Curricula, Veränderung der Studiengänge und
schließlich auch der Bruch mit dem
dreigliedrigen Schulsystem und seiner Ausdifferenzierung bereits nach
der vierten Klasse. Das betrifft finanzielle Ansprüche an die Kassen von
Bund, Ländern und Kommunen. Es
ist allerdings nirgends zu erkennen,
dass diese Ressourcen überhaupt
ansatzweise zur Verfügung gestellt
werden. Im Gegenteil: Wir müssen
befürchten, dass während in Berlin
die schwarze Null als Erfolg eiserener Sparpolitik gefeiert wird, Sozialleistungen auch für Menschen mit
Behinderung eher auf dem Prüfstand
stehen und die Einsparungsfantasien
der Sozialhilfeträger wie man dem
Kostendruck entrinnen kann weiter
intensiv bemüht werden.
Und insofern unterstelle ich zweitens,
dass bei dem Thema Inklusion viele
Kostenträger eher daran denken,
wie die öffentlichen Ausgaben noch
mehr als bisher reduzierbar sind und
wie man auch die ökonomischen
Verwertungsreserven von Menschen
mit Behinderung fortan abschöpfen
kann. Das wird aber nicht offen gesagt und insofern ist auch das eine
Art Lüge, die sich hinter sehr viel gut
klingendem Popanz verbirgt.
-11-
Schließlich und sehr grundsätzlich ist
aber auch die gemeinhin verbreitete Vorstellung von „Inklusion“ sehr
selbstgefällig und insofern verlogen,
wenn sie unterstellt, wir könnten
von intakten gesellschaftlichen „Innenräumen“ sprechen, in die nun
alle „einzuladen“ sind. Diese gesellschaftlichen „Innenräume“ sind
allerdings alles andere als gastlich.
Sie sind, wie der Arbeitsmarkt zeigt,
sogar ausgesprochen brutal, konkurrenz- und leistungszentriert. Sie
stehen unter der Regentschaft eines
flexiblen Kapitalismus, der die flexiblen Anpassungsleistungen an den
Markt permanent als Bringschuld der
Beschäftigten definiert. Und er hat es
dabei verstanden, an gute Werte wie
Autonomie, Souveränität und Freiheit
anzuknüpfen und sie für die eigenen
Interessen dienstbar zu machen. Die
Fähigkeit, flexibel zu sein, feiert den
Status einer anthropologischen Primärtugend. Ihre Entfaltung wirkt wie
die selbstverständliche Einlösung
menschlicher Daseinsbestimmung.
Die gestaltende Sogkraft, die dieses
zivilisatorische Leitwort in den letzten
gut zwanzig Jahren gewonnen hat,
wäre ohne den Charme verheißender
Lebensentfaltung im flexiblen Dasein
nicht denkbar gewesen (vgl. Boltanski/Chiapello 2006: 124; Negt
2001: 172f.). Mit steigenden Mobilitäts- und Flexibilitätsansprüchen,
Verdichtung von Arbeit, sinkendem
Lohnniveau besonders bei Berufseinsteigerinnen und -einsteigern,
Minderung der Rentenleistung bei
gleichzeitiger Verlängerung der Lebensarbeitszeit, setzt diese Form des
flexiblen Kapitalismus ungebremst
seine Erfolgsstory durch. Viele Menschen haben in diesem Raum bereits
ihre „Aufenthaltslizenz“ eingebüßt
oder halten den Bedingungen kaum
mehr stand. Es muss daher auch und
vor allem darum gehen, diese Ausgrenzungsdynamik einmal wirklich
und ehrlich zu bilanzieren und ihre
Politik
Inklusion
Ursachen zu beseitigen. Da gehe
ich, wenn ich recht sehe, konform
sowohl mit Behindertenverbänden
als auch Gewerkschaften.
Wenn Artikel 1 der BRK betont, dass
„Wechselwirkungen mit verschiedenen Barrieren“ Menschen mit Behinderungen „an der vollen, wirksamen
und gleichberechtigten Teilhabe an
der Gesellschaft hindern können“,
dann muss inklusionspolitisch auch
diskutiert werden, welche Barrieren
von jener ökonomischen Logik aufgebaut und zementiert werden. Denn
sie redet nicht mehr vom Menschen,
sondern von Humanressourcen oder
Humankapital, sie transformiert Sozialstaatlichkeit in Investitionskalkulationen und sie bindet den Maßstab zur Bewertung des Einzelnen
an das Maß seiner ökonomischen
Zweckerfüllung, deren Zauberwort
Erwerbsarbeit lautet. Wenn es den
Protagonisten der UN-Behindertenrechtskonvention radikaler gelänge,
die soziale Ausgrenzung dieser Logik nicht nur aufzuzeigen, sondern
sie auch zu durchbrechen, dann
hätte sie eine inklusive Stoßkraft mit
ökonomisch irritierendem Richtungswechsel. Denn sie käme nicht nur einer Reihe von Menschen mit Behinderung zugute, die ihr gelingendes
Leben weder mit der Sozialisation im
dreigliedrigen Schulsystem assoziieren, noch ihr Sinngebungspotenzial
in der Arbeitswelt suchen, sondern
sie würde darüber hinaus auch eine
neue Wertekultur als Inklusionsmaxime einfordern, die allen gesellschaftlichen Subjekten gilt, Menschen mit und ohne Behinderung.
Menschenwürde wäre nicht länger
an Produktivität gebunden und Arbeitslosigkeit nicht als Humandefizit
erklärt. In dieser Inklusionslogik ist
konsequenterweise die Differenzierung zwischen Erwerbsfähigkeit
und Erwerbsunfähigkeit wegen ihrer
diskreditierenden Normierung und
Deklassierung zu streichen. Prekäre
Beschäftigung im Niedriglohnbereich wäre ebenso wie Altersarmut
als wirtschaftsethisches Tabu an den
Pranger zu stellen. So geriete das
Projekt der Inklusion tatsächlich auf
einen passierbaren Weg ins utopische Gelände.
Denn diese Logik der Inklusion „pervertiert“ die Verhältnisse, wörtlich
übersetzt, sie „kehrt sie um“ und
stürzt die Dominanz einer Ökonomie, die massive Ungleichheit, Diskriminierung, Armut und Ausgrenzung produziert, vom Thron ihrer
kontrollierenden Regentschaft. Diese
inklusive Dimension, die maßgeblich, aber nicht allein von Menschen
mit Behinderung ausginge, würde
das Gesicht dieser Gesellschaft auf
eine provokant renitente Weise verändern. Dann wäre Inklusion nicht
jenes fehl verstandene Projekt, bei
dem Menschen mit Behinderung von
der Gesellschaft in die Gesellschaft
eingebunden werden, sondern es
vollzöge sich etwas mit der Gesellschaft, weil Inklusion etwas ist, was
Menschen mit Behinderung an der
Gesellschaft praktizieren. Das ist
vielleicht nur eine Utopie, aber doch
wenigstens eine, die diese Bezeich-
-12-
nung verdient, die Verhältnisse radikal in Frage stellt und der „Inklusion“ die Provokation bewahrt, die ihr,
recht verstanden, zu eigen ist.
Prof. Dr. Uwe Becker
Evangelische Fachhochschule
Bochum
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Zu Begriffen im Umfeld
von Inklusion
Exklusion (Ausschluss)
bedeutet Ausgrenzung. Sie bezeichnet eine Tatsache, dass jemand (aus
unterschiedlichen Gründen und oft
gegen seinen Willen) von einem
Vorhaben, einer Versammlung, aus
seiner Familie, aus sozialen Zusammenhängen oder Ähnlichem ausgeschlossen (exkludiert) wird. Eine
exklusive Gruppe von Menschen
möchte – oft aus Gründen des
Herrschafts- und Machterhalts, aus
Misstrauen oder aus anderen Reputationsgründen – unter sich, d. h.
exklusiv bleiben, womit eine gewisse
Abwertung bis hin zur Diskriminierung derer, die ausgeschlossen werden, einhergeht. Im weiteren Sinne
wurde der Begriff Exklusion nicht nur
auf gruppendynamische, sondern
auch auf gesellschaftliche Prozesse
bezogen. Er meint dort den nachhaltigen Ausschluss einzelner sozialer
Akteure oder ganzer und z. T. großer
Gruppen aus einer Allgemeinheit,
die das gesellschaftlich Übliche und
soziale Teilhabestandards repräsentiert. Dieser Ausschluss kann sich für
die Exkludierten durch den Verlust
von Grund- oder Menschenrechten,
Teilhabemöglichkeiten, geringen Bildungschancen, mit geringen Subsistenzmitteln u. ä. verbinden.
Solche Formen der sozialen und politischen Ausgrenzung hat es in allen
Gesellschaften gegeben: Sklaven
besaßen keine Persönlichkeitsrechte, Frauen wurden unterdrückt, bestimmte Menschen galten als geächtet und vogelfrei, wurden verketzert
und verteufelt, Schwule und Lesben
wurden strafrechtlich verfolgt usw.
usf. Und nach wie vor gibt es in vielen Gesellschaften für bestimmte soziale Gruppen und Minderheiten bis
in die Gegenwart massive Teilhabebeschränkungen.
Der moderne Diskurs über die Exkludierten und Exklusionsgefährdeten
hatte nicht bei der Gruppe der Menschen mit Behinderungen seinen
Ausgangspunkt, sondern bei den
Wende- und Modernisierungsverlierern, den Arbeitslosen und Armutsgefährdeten, den „Überflüssigen“.
Der Exklusionsbegriff, den Luhmann,
Foucault u. a. einführten, wurde Anfang der 90er Jahre als Allzweckwort, wie Robert Castel anmerkte,
für Langzeitarbeitslose, Jugendliche
aus den französischen Vorstädten,
Obdachlose u.a. verwendet, wobei
für soziale Randgruppen auch andere Begriffe zirkulierten: die „Überflüssigen“, soziale Randgruppen
oder Marginalisierte. Obwohl sich
solche
Marginalisierungstendenzen in verschiedenen europäischen
-13-
Ländern Anfang und Mitte der 90er
Jahre verschärften, hat insbesondere Robert Castel auf die Ambivalenz des Begriffs hingewiesen, die
später gleichermaßen auch für den
Inklusionsbegriff reklamiert wurde
(siehe Castel, Robert; Exklusion).
Die Bandbreite der verschiedenen
sozialen Situationen sei einfach zu
groß, als dass ein Begriff sie einschließen könnte. Er verweist hier
u. a. auf Langzeitarbeitslose, die sich
ins Familiäre zurückgezogen haben
und womöglich von Depressionen
bedroht sind, sowie auf Jugendliche in den französischen Agglomerationen, die zwar arbeitslos und
delinquent, aber in ihren Gruppen
durchaus hochintegriert sein können. Dieser Einwand verweist auf
die Frage, ob Menschen oder Gruppen von Menschen mit Behinderungen inkludiert werden sollen, wenn
sie nicht exkludiert sind oder sich
so nicht fühlen. Denn wenn unter
Exklusion ein Zustand zu verstehen
ist, dass Menschen außerhalb von
sozialen Austauschprozessen stehen, dann trifft diese Zuschreibung
etwa auf hochaltrige Menschen mit
Pflegebedarf in stationären Einrichtungen oder auf vereinsamt lebende
Alkoholiker unter Umständen in viel
stärkerem Maße zu als auf viele in
Familien lebende, in sozialen Einrichtungen involvierte Menschen mit
Behinderungen, wobei der Begriff
Inklusion auf erstere Gruppen, die
Pflegebedürftigen, vereinsamt lebende Menschen, Alkoholiker usw.
faktisch keine Anwendung findet.
Politik
Inklusion
Segregation (Trennung)
Der Begriff bezeichnet den Vorgang
der räumlichen Trennung von Menschen oder Gruppen von Menschen
in bestimmten Wohnquartieren innerhalb einer Stadt oder einer Region (räumliche Segregation). Man
bezeichnet diesen Vorgang auch
als Entmischung (der Gegensatz zur
Gleichverteilung oder Vermischung
der Bevölkerung) von bestimmten
Bevölkerungsgruppen in einem bestimmten abgrenzbaren Raum.
Solche segregativen Tendenzen lassen sich z. B. in größeren Städten und
ihren Stadtteilen nachweisen, deren
Bevölkerungszusammensetzung sich
hinsichtlich Einkommen, Sozialstatus, Ethnizität, Bildung und anderen
Faktoren deutlich unterscheidet und
in denen das Einkommen, der Bildungstand deutlich geringer, die Arbeitslosigkeit, Sterblichkeit, Kriminalität usw. deutlich höher sein können.
Der Sozialstrukturatlas etwa von Erfurt weist solche Tendenzen detailliert
nach. Das Ausmaß der Segregation
ist ein Indiz für Polarisierungen innerhalb einer Gesellschaft, für teilhabegefährdete Gruppen, soziale
Unterschiede und die Existenz von
Subszenen und Parallelgesellschaften. Das Ghetto stellt die extreme
Form der Segregation dar.
Die Trennung von Wohngebieten
bzw. von Bevölkerungsteilen innerhalb einer Stadt kann nach dem sozialen Status, nach demografischen
Merkmalen wie Alter oder Stellung
des Haushalts im Lebenszyklus, nach
ethnischen, religiösen und/oder
sprachlich-kulturellen Kriterien erfolgen.
Die Ursachen solcher Segregationsprozesse können politischer Natur
und politisch gesteuert sein. In Diktaturen wurden Menschen in Wohngebieten oder Gettos segregiert, um
sie zu kontrollieren. Sie kann politischer und sozialer Natur sein, wenn
sie sich unfreiwillig über den Wohnungsmarkt, über Bodenpreise und
die Mietzahlungsfähigkeit herstellt,
die bestimmte Wohngebiete konstituieren.
Segregation kann aber durchaus
auch von Menschen gewollte sein,
wenn sie für sich eine gleichartige soziale und soziokulturelle Umgebung
(Nachbarschaft) anstreben, die sich
durch das bewusste Herstellen einer
sozialen und räumlichen Distanz zu
„fremden” Gruppen definiert.
Die Segregation von Bevölkerungsgruppen ist in Deutschland nicht
gleichermaßen ausgeprägt wie in
den Banlieues etwa von Paris oder
einigen Städten in den USA oder wie
sie jetzt für Belgien und insbesondere Brüssel/ Molenbeek thematisiert
wurde, wo es einen hohen Anteil
von muslimischen Einwanderern vor
allem aus Marokko gibt. Molenbeek
erlangte dadurch Bekanntheit, dass
die Stadt Herkunftsort oder vorübergehender Wohnort islamistischer
Extremisten war. Die Gemeinde gilt
heute als Symbol für den grassierenden Radikalismus in Belgien.
Allerdings sind die Folgen und Wirkungen der Segregation von Bevölkerungsgruppen durchaus umstritten. Übliche Thesen behaupten,
dass Segregation Integration verhindert, Subkulturen und die Bildung
-14-
von Parallelgesellschaften befördert,
weil es keine oder weniger Kontakte
zur Mehrheitsgesellschaft gibt. Die
räumliche Segregation befördert
und stabilisiert kulturelle und soziale Segregation und umgekehrt. Und
beide Phänomene wirken auf die Attraktivität des Wohnquartiers zurück.
Allerdings hat Hartmut Häußermann
bereits 2007 darauf hingewiesen,
dass es derartig homogene Wohnquartiere zumindest in Deutschland
gar nicht gibt und negative Effekte
überschätzt werden. Die Kontakte zu
anderen Menschen stellen sich weniger über das Quartier her, sondern
werden durch Kultur, Lebensstil, Bildung, Sozialität, Beruf und moderne Technik in viel stärkerem Maße
vermittelt. In dem Maße, wie sich
z. B. Migranten sozial, kulturell, beruflich und anderweitig integrieren,
entfernen sie sich räumlich von der
ethnischen Kolonie. Und vor allem
für Kinder und Jugendliche sei die
Schule in jedem Fall der bedeutsamere Kontext, weil dort (insbesondere an Hauptschulen) die Konzentration von sozialen Gruppen und die
Kontaktdichte viel größer sind als im
Wohnquartier. Insofern sind Integrationsfortschritte weniger abhängig
vom Quartier als von Bildung, Einkommen und beruflicher Einbindung
(vgl. Häußermann, Hartmut; Effekte
der Segregation). Andererseits kann
eine stärkere Segregation auch positive Wirkungen für die Bewahrung
gruppenspezifischer Identität und
Handlungsfähigkeit haben.
Stadtplanungsprozesse versuchen,
die negativen Effekte von segregativen Tendenzen durch eine gezielte
Mischung der Bevölkerung, durch
die verstärkte Förderung einer sozialen und soziokulturellen Infrastruktur
zu mildern.
Politik
Inklusion
Integration (lat. Integratio – Erneuerung)
Im Sinne der Soziologie und mit Bezug auf den Einbezug von Menschen
oder Menschengruppen bedeutet
der Begriff die Verbindung einer
Vielheit von einzelnen Personen oder
Gruppen zu einer gesellschaftlichen
und kulturellen Einheit. Sie umfasst
das Anliegen, dass Menschen, die
aus verschiedenen Gründen ausgeschlossen und in Sondergemeinschaften zusammengefasst sind, in
eine Gemeinschaft einbezogen werden.
Integration hebt den Zustand der
Exklusion und der Separation auf.
Sie beschreibt einen dynamischen,
einen unter Umständen lange andauernden und sehr differenzierten
Prozess des Zusammenfügens und
Zusammenwachsens.
Dieter Katzenbach hat in diesem Zusammenhang auf Verständigungsund Abgrenzungsschwierigkeiten bei
den Begriffen Integration und Inklusion hingewiesen. Während Inklusion,
so versucht er die Unterschiede zu
beschreiben, die Unterschiedlichkeit
von Menschen nicht eigens thematisiert, betont Integration die Unterschiedlichkeit. Der Leitgedanke lässt
sich demnach zusammenfassen: „Integration zielt auf das gleichberechtigte und wertschätzende Miteinan-
der der Verschiedenen, wobei ihre
Unterschiedlichkeit explizit thematisiert wird, um Gleichberechtigung
und Wertschätzung zu sichern.“ (vgl.
Katzenbacher, Dieter; Zu den Theoriefundamenten der Inklusion).
Unterscheiden kann man eine Sozialintegration, die sich auf die Integration einzelner Menschen in die
Gesellschaft bezieht, von einer Systemintegration, die den Einbezug von
Subsystemen in ein gesellschaftliches
Ganzes meint. Demnach wäre etwa
der Einbezug eines delinquenten
Schulverweigerers oder eines ehemals rechtsextremen Gewalttäters in
akzeptierte gesellschaftliche Settings
als Sozialintegration zu bezeichnen,
während es sich bei dem adäquaten
sozialen, soziokulturellen und politischen Einbezug von Migranten bei
Wahrung ihrer Identität um eine Systemintegration handelt.
Dieser Prozess der Integration von
Menschen mit einem Migrationshintergrund steht derzeit im Mittelpunkt
der politischen Auseinandersetzung
um Integrationsbemühungen von
sozialen Gruppen. Er will eine Annäherung und gegenseitige Auseinandersetzung zwischen Migranten
und Einheimischen erreichen, um
Gemeinsamkeiten und Unterschiede festzustellen und die Übernahme
einer gemeinschaftlichen Verantwortung zwischen Zugewanderten und
der anwesenden Mehrheitsbevölkerung zu befördern.
Integration zielt im Gegensatz zur
Assimilation nicht auf die Preisgabe
von kulturellen und religiösen Identitäten, sondern auf Akzeptanz von
Unterschieden. Allerdings verlangt
der Integrationsansatz von Migranten Anpassungsleistungen. Es wird
unterstellt, dass die Systemeigenschaften, das Grundgesetz, die gesellschaftlichen Regeln des Zusammenlebens respektiert werden und
dass die deutsche Sprache erlernt
wird. Anderseits handelt es sich um
-15-
einen Aufnahmeansatz, der der Aufnahmegesellschaft seinerseits Akzeptanz und Toleranz des Fremden,
Aufnahmebereitschaft in die sozialen und Bildungssysteme sowie den
Arbeitsmarkt abverlangt. Integration
beinhaltet, dass Vorurteile, diskriminierende und rassistische Haltung
gegenüber dem Fremden geächtet
werden. Dieser Integrationsansatz
wird durch das Grundgesetz gedeckt. Es sichert auch Migranten
Grundrechte der Meinungs- und Religionsfreiheit, Schutz der Persönlichkeitsrechte zu. Insofern ist Integration immer eine Veränderung beider
Seiten.
Ziel, so formuliert es die Bundesregierung mit Bezug auf Migranten,
ist es, alle Menschen, die dauerhaft
und rechtmäßig in unserem Land
leben, in die Gesellschaft einzubeziehen und ihnen die damit verbundenen Rechte zu gewähren sowie
Pflichten aufzuerlegen. Es geht um
ein Zusammenleben mit gegenseitigem Respekt und Vertrauen, um Zusammengehörigkeitsgefühl und die
Übernahme gemeinsamer Verantwortung. Dabei soll Chancengleichheit und Teilhabe in allen Bereichen
ermöglicht werden. Gelungene Integration bedeutet, sich einer Gemeinschaft zugehörig zu fühlen. Sie
bedeutet die Entwicklung eines gemeinsamen Verständnisses, wie man
in der Gesellschaft zusammenlebt
(siehe Webseiten Bund).
Seniorenvertreterinnen auf dem Jahresseminar in Bad Blankenburg im November 2015.
Im Vordergrund Elvira Fischer, Seniorenbüro
Wartburgkreis.
Politik
Inklusion
Inklusion
Was Inklusion ist, darüber liegen
unterschiedlichste Definitionen vor.
Selbst mit Bezug auf Teilsysteme der
Gesellschaft wie die Schule, das stellt
Bernd Ahrbeck fest, verwundert es,
dass keine nur annähernd konsensfähige Definition dessen vorliegt,
was unter Inklusion zu verstehen ist
(Ahrbeck, Bernd, Inklusion, S. 7).
Im Allgemeinen besteht die Vision
einer inklusiven Gesellschaft darin,
- dass alle Menschen ohne Diskriminierung in der Gesellschaft ihren
gleichberechtigten Platz finden,
- dass Behinderungen als Bestandteil des normalen menschlichen
Zusammenlebens
verstanden
werden und zwar in allen gesellschaftlichen Bereichen und Institutionen, dem Arbeitsmarkt, dem
Wohnungswesen, in der Politik, im
Gesundheitswesen, der Kultur, in
Schulen und Kindertagesstätten
- dass Menschen mit unterschiedlichen körperlichen, intellektuellen
und psychischen Voraussetzungen
zum selbstverständlichen Teil des
Lebens werden.
Dieter Katzenbach hat als Referenz
zur Inklusion den Begriff Integration
vorgeschlagen. Während Integration
die Wahrnehmung der Unterschiede
in einem Ganzen betont, zielt Inklusion auf das selbstverständliche,
gleichberechtigte und wertschätzende Miteinander der Verschiedenen,
wobei das Selbstverständliche darin
besteht, dass ihre Unterschiedlichkeit nicht eigens thematisiert werden muss (vgl. Katzenbach, Dieter;
S.23).
Menschen mit Behinderungen, Homosexuelle, Menschen mit Pflegebedarf u.a. werden vor diesem
Hintergrund in erster Linie in ihrem
Menschsein wahrgenommen, und
die Differenz ist Ausdruck von Individualität und unverwechselbarer Teil
eines allgemeinen Menschseins. Inklusion verbindet sich demnach mit
dem Anliegen, Etikettierungen und
Stigmatisierungen sowie den Status
der Andersartigkeit in einem Konzept
der Vielfalt als Normalzustand aufzuheben (vgl. Schattenmann, Eva;
S. 32)
Anwendung und Kritik des Inklusionsbegriffs
Eine vollständige Inklusion ist auf
Grund der hochgradig gesellschaftlichen Differenzierung kaum denkbar
und realiter nicht möglich. Ausdifferenzierte Gesellschaften definieren
sich geradezu durch die Existenz von
abgrenzbaren Teilsystemen und gesellschaftlichen Gruppen, die in ihrer
Gesamtheit eine Gesellschaft konstituieren. In gesellschaftlichen Teilbereichen ist eine Inklusion auch weder
gewünscht noch vorstellbar. So kann
und muss es gesellschaftliches Ziel
sein, Strafgefangene nach Verbüßung
ihre Strafe wieder zu (re)integrieren.
Von einer inklusiven Haftunterbringung kann man aber schlechterdings
nicht reden und sie wäre gesellschaftlich kaum konsensfähig.
In der Literatur wird auch angemerkt, dass die Vision einer inklusiven Gesellschaft mit der Systemlogik
des bestehenden Systems, das durch
Leistung, durch geldwerte Beziehungen usw. geprägt ist, überhaupt
nicht vereinbar ist. Menschen, die im
-16-
Wettstreit um Arbeitsplätze nicht mithalten können, haben keine Chancengleichheit. Diese Grundkonstellation kann man, wie es verschiedene
Maßnahmepläne und Förderprogramme vorsehen, mildern, aber
nicht aufheben (Ahrbeck S. 75). Im
Rahmen einer kapitalistischen Leitund Leistungskultur, die große Teile
der Sozialgesetzgebung und der Sozialen Arbeit ökonomisiert hat, wird
es keine inklusive Gesellschaft geben können. Auf dem Arbeitsmarkt,
so hat es Mathias Brodkorb, pointiert ausgedrückt, wird niemand um
seiner selbst willen geschätzt, sondern ausschließlich aufgrund seiner
individuellen Arbeitskraft. Insofern
ist eine radikale Inklusion zwar von
ehrenwerten moralischen Standards
getragen. Sie ist aber in einer außerfamiliären Realität schlichtweg nicht
umsetzbar.
Zielgruppen von Inklusion
Auf wen bezieht sich eigentlich der
Begriff? Wer soll und muss oder will
inkludiert werden?
Der Begriff wird vor allem in der politischen Diskussion auf Menschen
mit Behinderung, insbesondere auf
Kinder mit Behinderungen und ihre
Beschulung bezogen. Menschen mit
Pflegebedarf, suchterkrankte Menschen, Flüchtlinge u. a. Gruppen
kommen vergleichsweise kaum in
den Blick. Für Ausländer und Migranten wird vor allem Integration
eingefordert. Dass Menschen mit
Behinderungen im Fokus standen
und stehen, hat Gründe. Sie gelten weltweit als eine der stärksten
gefährdeten Gruppen. Vor allem in
Entwicklungsländern haben sie oft
weder ein Recht auf Bildung noch
sonstige Grundrechte. Oft leben sie
am Rande der Gesellschaft. Und
auch in hochentwickelten Ländern
ist Behinderung ein eklatantes Exklusionsrisiko, das mit dem Grad der
Behinderung stark ansteigt.
Politik
Inklusion
Autoren wie Eva Schattenmann, die
dieses Problem diskutiert, hat hingegen darauf hingewiesen, dass es
nicht um eine einzelne Zielgruppe
geht, sondern um gesellschaftlich
ausgrenzende Strukturen, Grundhaltungen und Leitvorstellungen für eine
humane Gesellschaft. Und wenn
man auf Zielgruppen orientiert,
gehe es um generell von Marginalisierung bedrohte Menschen. Dabei
sei an ethnische, religiöse, sexuelle,
sprachliche Minderheiten oder auch
Minoritäten in Bezug auf Alter, funktionale Einschränkungen, Milieuhintergründe und Nationalitäten zu
denken (Schattenmann, S.66).
Dr. Jan Steinhaußen (Foto Header)
Literatur
Ahrbeck, Bernd; Inklusion. Eine Kritik, Kohlhammer 2014
Brodkorb, Mathias; Warum Inklusion unmöglich ist. Über schulische Paradoxien zwischen Liebe und Leistung, http://bildungwissen.eu/wp-content/uploads/2013/05/
brodkorb_warum_inklusion_unmoeglichist.pdf
Empfehlungen Rec (2006)5 des Ministerkomitees an die Mitgliedsstaaten zum Aktionsplan des Europarats zur Förderung der
Rechte und vollen Teilhabe behinderter
Menschen an der Gesellschaft: Verbesserung der Lebensqualität behinderter Menschen in Europa 2006-2015. http://www.
coe.int/t/dg3/disability/ActionPlan/PDF/
Rec_2006_5_German.pdf
Exklusion, Suhrkamp Verlag
Häußermann, Hartmut; Effekte der Segregation,
http://www.vhw.de/fileadmin/
user_upload/08_publikationen/studien/
PDFs/segregation/Effekte_der_Segregation_FW0507.pdf
Katzenbacher, Dieter; Zu den Theoriefundamenten der Inklusion, in: Herausforderung
Das Versprechen vom Ende
der Ausgrenzung – Inklusion,
politische Teilhabe und Behinderung
Im Rahmen dieser Legislaturperiode soll in Thüringen das Seniorenmitwirkungsgesetz evaluiert
und gegebenenfalls novelliert
werden. Der Fortschritt des Gesetzes scheint ungeachtet von
Problemen auf der Hand zu liegen: Die politischen Rahmenbedingungen für die direkte politische Beteiligung von Seniorinnen
und Senioren auf kommunaler
und Landesebene haben sich
verbessert. Seniorenbeiräte haben definierte Mitwirkungsrechte, sie können beratend Einfluss
nehmen, sie können Projekte und
Initiativen begleiten und anregen,
Stellungnahmen abgeben u.a.m.
Die Protagonisten, die die Evaluierung und Novellierung begleiten, werden sich im Rahmen dieses Prozesses dennoch mit sehr
grundsätzlichen Fragestellungen
und Zielrichtungen dieses Gesetzes beschäftigen müssen. Geht
es z. B., wie im bestehenden
Gesetz, nur um politische oder
ganz generell um Mitwirkung
und Teilhabe von Älteren in allen
Lebensbereichen? Und wie kann
man politische Teilhabe auch für
jene Menschen definieren, die
-17-
Inklusion, hrsg. v. Irmtraud Schnell, 2015,
S.19-32
Schattenmann, Eva; Inklusion und Bewusstseinsbildung; Athena1914
Stichweh, Rudolf; Inklusion und Exklusion in
der Weltgesellschaft am Beispiel der Schule und des Erziehungswesens, http://www.
inklusion-online.net/index.php/inklusiononline/article/view/22/22
Webseiten Bund; http://www.bmi.bund.de/
DE/Themen/Migration-Integration/Integration/integration_node.html).
Wikipedia
sich kognitiven Barrieren gegenübersehen? Das scheint abwegig,
ist es vor dem Hintergrund einer
inklusiven politischen Kultur, die
wahrnimmt, dass immer mehr
hochaltrige Menschen von Behinderung und hospitalisierender
Pflege betroffen sind, aber keineswegs.
Es gibt einen kleinen interessanten Sammelband (Inklusion –
Versprechungen vom Ende der
Ausgrenzung), in dem sich die
Autoren kritisch mit der inklusiven
Praxis auseinandersetzen, die mit
dem Versprechen vom Ende der
Ausgrenzung vielfach nicht Schritt
hält. Er enthält u.a. einen Auf-
Dr. Sabine Jentsch setzt sich engagiert
für Mitwirkungsrechte von Menschen in
rechtlichen Betreuungsverhältnissen ein.
Sie publizierte u.a. das Buch: Chancengleichheit und Perfektionismus, 2009
Politik
Inklusion
satz von Sabine Jentsch, der politische Teilhabebeschränkungen
von Menschen mit Behinderungen
thematisiert. Menschen mit Behinderungen, die unter rechtlicher
Betreuung leben, haben vielfach
keinen Anteil an einer politischen
Teilhabekultur. Das Bundeswahlgesetz sieht vor, dass ihnen unter bestimmten Bedingungen das
Wahlrecht verweigert werden
kann. Dort heißt es in § 13 Nr. 2:
„Ausgeschlossen vom Wahlrecht
ist derjenige, für den zur Besorgung aller seiner Angelegenheiten
ein Betreuer nicht nur durch einstweilige Anordnung bestellt ist; dies
gilt auch, wenn der Aufgabenkreis
des Betreuers die in § 1896 Abs.
4 und § 1905 des Bürgerlichen
Gesetzbuchs bezeichneten Angelegenheiten nicht erfasst.“ Dass
diese Regelungen keinen Naturursprung haben, beweisen andere
Länder, wo es keine vergleichbaren Beschränkungen gibt.
Die Frage ist nicht, ob jemand
sein Wahlrecht wahrnehmen kann,
sondern wieviel politische Selbstbestimmung wir ihm unter dem Aspekt demokratischer Rechtsgleichheit sichern müssen (vgl. auch
Jentsch, Sabine; Politische Emanzipation und demokratische Inklusion, S.98 ff.; vgl. auch Jentsch,
Sabine; Behinderung und politische Teilhabe). Der automatische
Entzug des Wahlrechts, so argumentiert Sabine Jentsch, verträgt
sich jedenfalls nicht mit dem demokratischen Inklusionsanspruch,
den die UN-Behindertenrechtskonvention formuliert. Der generalisierte Wahlrechtsausschluss sei
willkürlich, weil rechtlich gesetzte
Ausnahmen von der Allgemeinheit
der Wahl, die über eine Teilhabe
oder einen Ausschluss von Men-
schen mit Behinderungen entscheiden, dem Demokratieverständnis
der UN-BRK zuwiderlaufen und eine
bedingungslose Beteiligung in einem
inklusiven Partizipationsmodell nicht
verhandelbar ist (ebenda S. 9 und
Jentsch, Sabine; Politische Emanzipation und demokratische Inklusion,
S. 93 ff.). Sabine Jentsch sieht damit
das Bundeswahlgesetz im Widerspruch zur UN-Behindertenrechtskonvention. Letztere betrachtet die
politische Teilhabe aus einer inklusiven Perspektive. Sie formuliert keine
Ausschlusskriterien. Vielmehr folgt
sie dem Grundsatz, dass kein Bürger, aus welchen Gründen auch immer, vom Prozess politischer Selbstbestimmung ausgenommen werden
darf. Dabei kann man unterstellen,
dass dieser Ausschluss nur ein Symptom von weitergehenden Teilhabebeschränkungen von Menschen mit
Behinderungen und hospitalisierten hochaltrigen pflegebedürftigen
Menschen ist. Sieht man die Mitwirkungspraxis z. B. pflegebedürftiger Menschen: Sie werden bei sie
betreffenden Dingen nicht angehört,
sie sind weder in Gremien wie dem
Landespflegeausschuss oder anderen politischen Gremien vertreten
noch werden sie zu Pflegefachtagungen eingeladen. Ihre Abwesenheit in
einer politischen Praxis, in partizipativen Gremien, im gesellschaftlichen
Leben ist eklatant. Dabei ist vor dem
Hintergrund eines inklusiven politischen Anspruchs zunächst nicht zu
fragen, ob sie mit ihren individuellen Potentialen überhaupt wählen
oder sich engagieren können – viele könnten es ohne jeden Zweifel –,
sondern wie Strukturen beschaffen
sein müssen, die adäquate Teilhabe
ermöglichen und nicht verhindern.
Bedenkt man, dass die Anzahl der
Menschen mit Betreuungsverhältnis-
-18-
sen und schwerem Pflegebedarf
stark steigen wird, erscheint eine
weitere Hospitalisierung und Segregation kein alternativer Weg
zu sein.
Der oben aufgeführte Band sensibilisiert in verschiedenen Beiträgen
dafür, eine inklusive Praxis gerade
dort einzuüben, wo es am schwersten erscheint. Und da könnte die
Evaluierung und Novellierung des
Thüringer Seniorenmitwirkungsgesetzes ein wichtiger Schritt sein.
Dr. Jan Steinhaußen
Literatur
Inklusion – Versprechungen vom Ende der
Ausgrenzung, Westfälisches Dampfboot 2014
Siehe auch:
Jentsch, Sabine; Behinderung und politische Teilhabe, www.zedis-ev-hochschule-hh.de/files/jentsch_10122012.
pdf
Jentsch, Sabine; Politische Emanzipation
und demokratische Inklusion, in: Inklusion - Versprechungen vom Ende der
Ausgrenzung
Jentsch, Sabine; Behinderung und
politische
Teilhabe,
http://www.
zedis - ev-hochschule -hh.de/files/
jentsch_10122012.pdf
Politik
Inklusion
Älter werden, behindert
sein
„Wie soll ich mit meiner Erkrankung,
die sich langsam, klammheimlich
verschlimmert und von der ich immer
noch nicht genügend weiß, im Alltag
fertig werden? Ich weiß es nicht! Es
ist sehr schwer hier in Worte zu fassen. Zu der Zeit, als ich mit der Diagnose Glaukom konfrontiert wurde,
war ich 69 Jahre alt. Ich war damals
und auch heute noch total durcheinander, weil ich vor dem Wort ‚Erblindung‘ riesige Angst bekam, die
ich bis heute behalten habe. Jedoch
fand ich damals Trost und beruhigende Zuwendung bei meinem Mann,
der inzwischen verstorben ist. Sechs
Jahre sind vergangen, inzwischen
sind neue chronische Erkrankungen erschwerend dazu gekommen.
Das Sehvermögen wird immer weniger, doch die Angst vor dem, was
kommen könnte, wächst beständig.
Ganz langsam realisiere ich, dass
Unsicherheit aufkommt. Unterwegs
z. B., dass ich die Straßennahmen
nicht mehr lesen kann. Nachbarn
oder andere Bekannte immer als
Erste ‚Guten Tag Frau D.‘ zu mir sagen, weil ich sie zu spät erkenne. Am
Bahnhof sind nun die Anzeigetafeln
für mich nicht mehr zu lesen. Am
Anfang fällt es schwer, um Hilfe zu
bitten. Jetzt, nachdem ich die Scheu
überwunden habe, ein sichtbares
Zeichen, z. B. die gelben Buttons mit
den 3 schwarzen Punkten zu tragen,
bin ich noch nie enttäuscht worden,
wenn ich etwas frage. Es macht mich
aber unsicher, und ich empfinde ein
Gefühl von Minderwertigkeit.“ (1)
Wir leben noch immer (oder wieder)
in einer Gesellschaft, die trotz ihrer
Liberalität hinsichtlich heterogener
Lebensentwürfe und ihrer sozialstaatlichen Errungenschaften, auf einem
Bild von Normalität beruht, das sich
vor allem an der Funktionalität der
Menschen orientiert. In der neoliberalen Individualisierung mit der Subjektivierung sozialer Risiken sind vor
allem Leistung und Erfolg relevant.
Der Mensch wird ökonomisch gedacht, für sein Handeln sind ökonomische Kontexte prägend. Verdichtet
im Konzept des „Arbeitskraftunternehmers“ sollen Subjekte an einem
imaginären Markt partizipieren, sich
dafür qualifizieren oder sich für dessen beständige Risiken selber absichern. Menschen, die diese Erwartungen nicht erfüllen, aus welchen
Gründen auch immer, werden mit
Problemen, Konflikten, Beeinträchtigungen oder gar sozialer Marginalisierung konfrontiert. Unter den gesellschaftlichen Risikogruppen ragen
zwei besonders hervor: Ältere, die
vermehrt mit Altersarmut und deren
sozialen Folgen der Ausgrenzung
konfrontiert sind, sowie „Behinderte“, die noch immer einen schweren
Stand haben.
Wer, wie im Zitat, seine Lesefähigkeit, insbesondere auch noch im
Alter, ganz allmählich verliert, hat
wachsende Schwierigkeiten, sich im
Alltag zu orientieren. Gilt dies für
Menschen mit gesellschaftlich definierten Einschränkungen, herkömmlich als „Behinderte“ begriffen, bereits mit besonderer Schärfe, trotz
aller Bemühungen um Barrierefreiheit und entsprechenden gesetzlich
vorgeschriebenen Maßnahmen der
Inklusion; so belastet dies die Alltagsorganisation von behinderten
Menschen, die älter werden, zusätzlich. Älter werden und behindert sein
können zur doppelten Beeinträchtigung führen, insbesondere dann,
wenn dies zugleich mit Ausgrenzung
und Altersarmut verbunden ist.
Inklusion ist ein sozialstaatliches und
bildungspolitisches Programm der
Gegenwart (2), vielleicht sogar ein
„heiliges Projekt“ (Becker 2015), das
sich alle auf die Fahnen schreiben
und an dem Niemand mehr vorbei
-19-
kommen kann. Ziel ist es, Menschen
mit Behinderung in die Gesellschaft
aufzunehmen (3). Vorausgesetzt wird
dabei, dass Menschen zuvor aus der
Gesellschaft exkludiert werden, sich
quasi in einem „Jenseits“ davon
befinden. Zweifelsohne lassen sich
massive Marginalisierungsprozesse
und Beeinträchtigungen von Teilhabe erkennen, wie es die Diskussionen
um Armut und soziale Erschöpfung
seit Jahren diagnostizieren; doch
diese Ausgrenzung findet innerhalb
der Gesellschaft statt, ist originärer
Teil und Struktur davon (Lutz 2014;
Butterwegge 2015). Diese zu beseitigen hieße, die Gesellschaft selbst
in der Art zu transformieren, dass ihre
Fokussierung auf eine Kommodifizierung des ganzen Lebens auf Erwerbsarbeit und die Normierungen des
Alltags sowie die Förderung rein leistungszentrierter Bildungsinstitutionen
verändert würden (Becker 2015).
Becker hat mit dem Begriff der Inklusionslüge darauf verwiesen, dass
die mit Inklusion beabsichtigten Ziele nur dann erreichbar wären, wenn
eine Korrektur der ökonomisch gesteuerten, erwerbsarbeitszentrierten
Gesellschaftslogik stattfände (Becker
2015). Ohne eine solche drohen
alle Verlautbarungen und vollmundige Absichtserklärungen zu verpuffen, da sie kaum unmittelbare
Auswirkungen für Menschen mit Behinderungen haben. Gefordert sind
vielmehr Überlegungen, in denen
die Gesellschaft selbst ihre Marginalisierungsprozesse hinterfragt. In der
Konsequenz bedeutet dies, Maßnahmen zu entwickeln, in denen es nicht
darum geht Menschen wieder in
die Gesellschaft aufzunehmen, aus
der sie nie draußen waren, sondern
Menschen, die schon immer in der
Gesellschaft leben, aber marginalisiert und beeinträchtig sind, uneingeschränkt teilhaben zu lassen.
Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, wie sich Behin-
K
Politik
Inklusion
Engagierte Verbands- und Politikvertreter, die sich seit vielen Jahren für die Belange von Menschen bemühen: Dr. Claus-Dieter Junker, ehemaliger stellv. Vorsitzender des VdK Hessen-Thüringen; Jürgen Pfeffer, 1. Stellvertretender Landesvorsitzender des BRH; Maik Nothnagel, ehemaliger Inklusionspolitischer Sprecher im Thüringer Landtag, Sprecher der BAG „Selbstbestimmte Behindertenpolitik“ der Partei DIE LINKE und
1. Landesvorsitzender des SoVD Thüringen e. V. sowie die Landtagsabgeordnete der CDU im Thüringer Landtag Elke Holzapfel, Arbeitsmarktund Seniorenpolitische Sprecherin der CDU-Fraktion
derung aus einem soziologischen
Blickwinkel im Alter darstellt und was
Teilhabe sein könnte und wie dies zu
praktizieren ist. Zunächst wird ein
Blick auf die Lebensphase Alter und
deren Heterogenität geworfen. Ein
zweiter Schritt dekonstruiert den Begriff Behinderung, um schließlich den
Zusammenhang von Alter und Behinderung zu beleuchten. Am Ende
werden Überlegungen zur besseren
Teilhabe von Menschen angestellt,
ein Blick auf den erforderlichen Paradigmenwechsel in der Altenpolitik
schließt den Beitrag ab.
Alt sein
Das Alter als homogene Lebensphase oder klar abgrenzbare Kategorie
gibt es nicht. Ähnlich wie Kindheit
oder Jugend bleibt der Begriff in
seiner Allgemeinheit unscharf, da
sich die soziale Wirklichkeit nicht
nur vielfältig, sondern auch widersprüchlich und sogar sperrig zeigt
(van Dyk 2015; Lutz 2016) (4). Die
Lebensphase Alter ist verortet in eine
komplexe, flexible und sich stetig
wandelnde generationale Ordnung,
hoch differenziert und darin zugleich
widersprüchlich (Backes/Clemens
2013). Sie spiegelt zum einen die
sich in arm und reich polarisierende Sozialstruktur, zum anderen zeigt
sich auch und gerade im Alter die
Widersprüchlichkeit der Individualisierungs- und Beschleunigungsprozesse der (Spät)Moderne (Lutz 2014,
2016).
Gerade im Alter werden Folgen der
reflexiven Modernisierung manifest
und letztlich unverrückbar. Prozesse der „Entsicherung“, der „Desintegration“, der „Entbettung“ und
der „Veränderung“ sozialer Formate wie der Normalbiographie, die
tendenzielle Auflösung sozialer Institutionen wie der Familie sowie
eine Entleerung und Schrumpfung
sozialer Räume haben massive Auswirkungen auf das Altwerden in der
Gesellschaft und bedeuten zugleich
für viele Menschen Marginalisierung
und Beeinträchtigung gesellschaftlicher Teilhabe (Castel/Dörre 2009;
Butterwegge 2015; Lutz 2016). Verfestigte soziale Ungleichheit und die
Zunahme prekärer Beschäftigung
-20-
lassen immer mehr Menschen im Alter arm werden, es entsteht ein neues
Armutsphänomen, das nach einem
langen Erwerbsleben durch den Eintritt in den Ruhestand entsteht (5).
Im Alter zeigen sich die Folgen von
Entbettung und ökonomischer Spaltung am schärfsten, aus der Sicht der
Menschen offenbaren diese zudem
eine ungeheuerliche und bedrückende Aussichtslosigkeit, da sich kaum
noch Möglichkeiten zur Veränderung
bieten. Wenn die Rente so niedrig
ist, dass man Grundsicherung in
Anspruch nehmen muss, dann kann
man kaum noch etwas aus eigener
Kraft daran ändern. Insbesondere im
Alter wird eine soziale Spaltung eigener Art erkennbar, die zu völlig unterschiedlichen Lebenslagen führt (Lutz
2016). Die Auswirkungen der Risikogesellschaft und damit verbundener
Differenzierung spiegeln sich nicht
nur im Alter, das Alter selbst wird zu
einer riskanten und stark individualisierten Lebensform.
Dies verschärft sich noch, wenn in
diese Prekarität des Alters eine „doppelte Behinderung“ eingewoben ist:
Politik
Inklusion
Alt werden und dann auch noch
„behindert“ sein. Gerade Behinderung begleitet vermehrt das Altwerden, dabei ist auch dies nicht selten
ein Reflex sozialer Ungleichheit.
Behindert werden
Bilder und Erzählungen von Behinderung und deren öffentliche Wahrnehmung zeigen das ganze Problem:
Diese sind entweder von vergleichsweise jungen Menschen geprägt,
wie den Sportler bei den Paralympics oder sie genießen eine hohe
öffentliche Attraktivität, die zugleich
auch eine Vermarktung impliziert.
Der Film „Ziemlich beste Freunde“
bzw. die Biographie des Opernsängers Thomas Quasthoff zeigen dies.
Etwas anders gelagert sind die Geschichten bzw. die Performance der
Politiker Wolfgang Schäuble oder
Malu Dreyer, sie zeigen eine geschäftige Rastlosigkeit sowie eine
gesellschaftliche Nützlichkeit, die
sich in individuellen Erzählungen von
Leistung und Erfolg niederschlagen.
So gesehen ist der Behinderte in dieser Gesellschaft ein Erfolgsmodell,
dessen Inklusion eigentlich nicht in
Frage steht – solange sie oder er
nützlich ist.
Häufig vergessen oder „übersehen“
wird die große Gruppe der Senioren mit Behinderung, diese haben
kaum eine öffentliche Lobby. Sie
sind alt, befinden sich nicht mehr in
Arbeitsprozessen, eigentlich sind sie
doppelt marginalisiert: als Alte und
als Behinderte. Sie leben jenseits
der Aufmerksamkeit in Abgeschiedenheit, in Heimen oder bei ihren
Familien. Dies führt zur entscheidenden Frage, was denn nun eigentlich
Behinderung ist und welche Folge
diese für Menschen hat?
Eine Definition ist schwierig, eigentlich sogar unmöglich, obwohl es
eine unglaubliche Fülle von Versuchen gibt. Zunächst einmal lassen
sich aus soziologischer Sicht zwei
Blickwinkel identifizieren: Entweder
ist der Mensch „behindert“, durch
was und warum auch immer, oder
die Gesellschaft „behindert“ bestimmte Menschen, wie, warum und
wozu auch immer (Cloerkes 2007).
An dieser Stelle soll die zweite Per­
spektive eingenommen werden:
•Behinderung ist eigentlich eine
Konstruktion von Gesellschaft, die
über Zuschreibungen und Definitionen verläuft;
•Behinderung wird zu einem Sammelbegriff für das, was Gesellschaft, Kultur und Sprache daraus
machen;
•Behinderung steht für einen Komplex von Definition und Reaktion
(Waldschmidt/Schneider 2007).
Es ist weniger der beeinträchtigte
Mensch und sein Körper, der sich im
Fokus befindet. Vielmehr werden bestimmte Menschen auf Grund ihres
Aussehens, ihres Körpers, ihres Verhaltens oder ihrer Meinungen kulturell, sozial und ökonomisch stigmatisiert, ausgegrenzt und schließlich in
eine gesellschaftliche Kategorie abgeschoben, die sie zu „Behinderten“
macht, indem sie in ihren Fähigkeiten und ihrer Teilhabe behindert sind
(Waldschmidt 2007). Damit verbundene bzw. definierte Auffälligkeiten
und soziale Probleme sind zeit- und
kulturtypisch. Akteure dieser Prozesse sind immer Mehrheiten, Diskurs­
eliten, Machtcliquen; das sind immer
auch Gruppen, die sich für „normal“
halten (Kastl 2010).
Konstruktions- und Bewertungsprozesse lassen sich in einer zentralen
These der „disability studies“ (6)
abbilden (Waldschmidt/Schneider
2007): Auffällige oder Behinderte
sind immer Menschen, die bestimmten kulturellen, sozialen und ökonomischen Normen widersprechen.
Normen sind bekanntermaßen relativ und veränderbar; sie spiegeln
immer auch gesellschaftliche Macht
-21-
und stellen Diskurse dar, die Verhalten, Denken, Einstellungen und Körperbilder formen. Adorno hat darauf
hingewiesen, dass es in der Moderne
eine Tendenz gibt, das Inkommensurable klein zu arbeiten, es anzupassen oder auszugrenzen, da es störe
(Adorno 1969). Foucault hat uns mit
dem Gedanken vertraut gemacht,
dass Machtstrukturen auch Einfluss
auf Körperbilder nehmen (Foucault
1990; Waldschmidt 2007).
Um Behinderung als einen sozialen
Komplex zu sehen, muss verstanden
werden, dass nicht den Normen entsprechende Subjekte nicht immer,
aber meist, stigmatisiert, ausgegrenzt, eingesperrt und abgeschoben
werden. Mitunter gelten sie als krank
oder behandlungsbedürftig, woraus
Therapien unterschiedlichster Art folgen. Allerdings hat sich inzwischen
ein erkennbares Umdenken etabliert, das sich auch in den Vorstellungen von Inklusion verdichtet. Die
sozialrechtliche Definition (7) liefert
eine Definition, die Diskussionen der
„disability studies“ aufgreift: „Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit
oder seelische Gesundheit mit hoher
Wahrscheinlichkeit länger als sechs
Monate von dem für das Lebensalter
typischen Zustand abweichen und
daher ihre Teilhabe am Leben in der
Gesellschaft beeinträchtigt ist.“
Damit steht nicht mehr ausschließlich die Schädigung im Fokus, sondern zusätzlich deren Auswirkungen
auf die Teilhabemöglichkeiten in
verschiedenen
Lebensbereichen.
Die WHO Definition von Behinderung (International Classification of
Impairments, Disabilities, and Handicaps) erweitert diesen Blickwinkel
noch einmal, indem Behinderung
als Prozess und Komplex in den Blick
kommt; es wird folgende Differenzierung vorgenommen (8):
•Aufgrund einer Erkrankung, angeborenen Schädigung oder ei-
K
Politik
Inklusion
nes Unfalls als Ursache entsteht
ein dauerhafter gesundheitlicher
Schaden – impairment.
•Der Schaden führt zu einer funktionalen Beeinträchtigung der Fähigkeiten und Aktivitäten des Betroffenen – disability.
•Die soziale Beeinträchtigung ist
Folge des Schadens und äußert
sich in persönlichen, familiären
und gesellschaftlichen Konsequenzen – handicap.
Behinderung wird nicht mehr als
feststehender Zustand verstanden,
sondern als ein sich ständig weiterentwickelnder Prozess beschrieben,
der sich nachteilig auswirkt, wenn
Menschen mit Beeinträchtigungen
(Schädigung körperlicher Organe,
Blindheit, Gehörlosigkeit, Lernstörungen) auf einstellungs- und umweltbedingte Barrieren stoßen, die
sie an der vollen, wirksamen und
gleichberechtigten Teilnahme am
gesellschaftlichen Leben hindern.
Der entscheidende Kontext dieser
„Dreiteilung“ soll an einem Beispiel
erläutert werden:
Gehörlos geboren („impairment“)
hat für die Lebensfähigkeit keine
unmittelbaren Folgen, allerdings
erwirbt das Subjekt im gesellschaftlichen Kontext von Normalität, die
auf Sprache ruht, keine hinreichende bzw. erwartete Sprachkompetenz
und erfährt somit eine Behinderung
auf der persönliche Ebene („disability“). Dies bedeutet in den normalen Verständigungsebenen der Gesellschaft, die stark auf Hören und
Sprechen abheben, behindert zu
sein, eben ein “handicap“ zu haben
und beeinträchtigt zu werden. Dies
kann zu Konsequenzen führen und
ein „normales“ Leben nicht mehr
möglich machen, da die sozialen
Folgen rund um die definierte Beeinträchtigung von etablierten Normen
abweichen und entweder marginalisieren oder Inklusionsmaßnahmen
nach sich ziehen.
Trotz des Prozesses, den sie betont,
wirft die WHO Definition Fragen
auf: Woran bzw. an welcher Vorstellung von Norm bemisst sich Schädigung? Wer setzt diese Normen und
warum? Wenn die Festsetzung der
Schädigung auf der Basis medizinischer Diagnostik geschieht, dann ist
die eigentliche Frage: Was messen
eigentlich Diagnoseverfahren? Im
Grunde genommen messen sie doch
nur, was sie messen wollen oder können (Brücher/Poltrum 2012). Dann
reflektieren Diagnosen immer auch
gesellschaftliche Definitionen von
Normalität und Abweichung, damit
weisen sie auf die Geschichte: Jede
Zeit findet und erfindet ihre eigenen
Krankheiten bzw. zeichnet Gesundheit und Normalität immer auch mit
normativen Entwürfen.
Trotzdem sie auf einen Prozess verweist, bleibt auch die WHO Definition auf unreflektierte Vorstellungen
von Normalität verwiesen, die immer eine Normalität der Machteliten, der Mehrheiten, der öffentlichen
Meinung, der geltenden Wertesysteme und gesellschaftlich relevanter
Akteure abbilden. Diese Diskurse
prägen Gesellschaft und führen zu
Marginalisierungen und Beeinträchtigungen für bestimmte Menschen in
der Gesellschaft.
Sowohl die Definition des SGB IX
als auch die der WHO weisen dennoch auf einen für soziologische Betrachtungen entscheidenden Aspekt
hin: „Schädigung“, „Behinderung“
bzw. „Beeinträchtigung“ wachsen
in gesellschaftlichen Kontexten und
verdichten sich zu Normalitätsvorstellungen. Damit richten sie den
Blick auf die sozialen Folgen solcher
regulierender Normen, die sich im
„Handicap“ abbilden. Aus soziologischer Sicht ist dies wesentlich, da
Beeinträchtigungen von Menschen
durch Menschen in den Vordergrund gehoben werden, die nicht
sein müssen und immer zur Ausgrenzung tendieren. Schon Disability
(Behinderung) als soziale oder kulturelle Tatsache ist bereits eine Reaktion von Gesellschaft, die bestimmte
Menschen als beeinträchtigt wertet.
Wenn von Behinderung die Rede ist,
dann errichten Gesellschaften für be-
Claus-Dieter Junker (VdK) und Jürgen Pfeffer (BRH)
-22-
Politik
Inklusion
stimmte Menschen Hürden oder gar
Hindernisse und behindern diese bei
der Entfaltung ihrer Fähigkeiten und
ihrer Teilhabe. Das fokussiert sich im
„Komplex Handicap“ und manifestiert Beeinträchtigung.
Aus diesen Überlegungen lässt sich
ein soziologischer Zugang herausarbeiten, der auch für eine Auseinandersetzung mit Lebenslagen von
Senioren, die als behindert gelten,
brauchbar ist. Dieser soziologische
Blick wurde von Cloerkes verdichtet
(Cloerkes 2007): „Bestimmte Merkmale“ von Menschen lösen Spontanreaktionen aus, rufen „Aufmerksamkeit“ hervor, da sie außerhalb
sozialer Vorstellungen von Normalität liegen. Die Merkmale stellen im
gesellschaftlich-normativen Kontext
eine „Andersartigkeit“ dar und konstituieren eine „Abweichung“. Deren
Bewertung ist vorab nicht festgelegt,
sie kann negativ, ambivalent oder
positiv interpretiert werden. Behinderung entsteht erst dann, wenn diese
Andersartigkeit entschieden negativ
bewertet wird. Entscheidend ist dabei deren Abweichung von gültigen
Normen, dass negativ bewertete
Abweichungen eben immer auch
mit sozialen Erwartungen verknüpft
sind.
Um es auf den Punkt zu bringen:
Ein Mensch ist behindert, wenn eine
unerwünschte Abweichung von wie
auch immer definierten Erwartungen vorliegt und deshalb die soziale
Reaktion negativ ist und die Entfaltung von Fähigkeiten und Teilhabe
einschränkt. Alt sein und behindert
werden ist in einer Gesellschaft, die
ihren „Jugendstil“ betont und jung
sein zur Norm erhebt, ein Affront
bzw. eine Zumutung, der man sich
nur ungern stellt (Kastl 2010; van
Dyk 2015, Lutz 2015). Marginalisierung kann die Folge sein.
Der Blickwechsel von der Behinderung eines Menschen zu sozialen,
kulturellen und normativen Kontex-
ten einer Gesellschaft, die manche
Menschen in ihren Fähigkeiten und
ihrer Teilhabe behindert, hat Konsequenzen. Wesentlich wird nämlich,
dass die Reichweite von Begriffen
immer begrenzt ist, da sie immer nur
einen zeitlich begrenzten Horizont
spiegeln. Der Zusammenhang von
„Impairment/Schädigung“, „Disability/Behinderung“ und „Handicap/
Beeinträchtigung“ ist als Ergebnis
von Interaktionen, Konstruktionen
und normativen Bewertungsprozessen immer relativ. Das Verhältnis zueinander ist zeitlich und auch
räumlich begrenzt. Relativ ist zudem
die subjektive Auseinandersetzung
bzw. Betroffenheit, da die Schwere
nicht wirklich entscheidend ist, auch
leichte Schädigungen können katastrophal sein, während schwere gut
verkraftet werden können. So ist der
Verlust eines Fingers für einen Orchestergeiger katastrophal, während
ein Leben mit künstlichen Hüften keinerlei Probleme bereitet. Hinsichtlich
der Lebensführung wird sie unterschiedlich wirksam.
Diese Relativität zeigt sich auch hinsichtlich verschiedener Lebensbereiche und Lebenssituationen, wenn
Leistungsprinzipien, Arbeitsfähigkeit
oder Erfolg als gesellschaftliche Werte dominieren, können Menschen,
die diesen Normen aus welchen
Gründen auch immer nicht (mehr)
im Sinne gesellschaftlicher Erwartungen erfüllen, marginalisiert werden.
Aber auch kulturspezifische sowie
soziale Reaktionen sind relativ. Was
in einer Kultur als Behinderung gilt,
muss woanders so nicht vorliegen.
Soziologische Reflexionen zeigen,
dass Behinderung nichts Absolutes
darstellt, sie ist nie eindeutig und
nur als soziale Kategorie begreifbar.
Diese Überlegungen führen letztlich
zu einer weit gefassten Definition:
„Als behindert gelten Personen, die
infolge einer Schädigung ihrer körperlichen, geistigen oder seelischen
-23-
Funktionen soweit beeinträchtigt
sind, dass ihre unmittelbaren Lebensverrichtungen oder ihre Teilhabe an
der Gesellschaft erschwert werden“
(Cloerkes 2007, S. 4). Deutlich wird
darin noch einmal, dass nicht die
Schädigung essentiell ist, sondern
immer die sozialen Folgen für das
Subjekt. Mit diesem Blick soll nun
der Kontext von Alter und Behinderung betrachtet werden.
Alt und behindert
Wirklich zuverlässige Zahlen liegen
nicht vor. Manche Daten sind mitunter veraltet, es besteht (zum Glück)
keine Meldepflicht für Behinderte.
Auch gibt es Mängel wegen definitorischer Probleme bei der statistischen
Erfassung hinsichtlich der Differenzierung nach Behinderungsarten
bzw. auch Mehrfachbehinderungen.
Die Angaben zu Zahlen ruhen auf
amtlichen Zählungen wie der Bevölkerungsstatistik, dem Mikrozensus,
der EVS, Schulstatistiken sowie Umfragen und Expertenschätzungen. In
der statistischen Erfassung zeigen
sich außerdem Fehlerquellen: Haushalte werten Auffälligkeiten anders
als Experten (Verständnis von Behinderung), Eltern wollen zunächst ein
Expertenurteil, manche Familien verschweigen Behinderungen.
Amtliche Zahlen für Deutschland zeigen (9), dass zum Jahresende 2013
rund 7,5 Millionen schwerbehinderte Menschen in Deutschland lebten. Das waren rund 260 000 oder
3,6 % mehr als am Jahresende 2011.
2013 waren somit 9,4 % der gesamten Bevölkerung in Deutschland
schwerbehindert (10). Etwas mehr
als die Hälfte (51 %) der Schwerbehinderten waren Männer. Unter den
Schwerbehinderten waren 54,2%
älter als 65, die Schwerbehindertenquote der über 64-Jährigen lag bei
24,3%.
Offenkundig ist vor allem Schwerbehinderung auch ein Problem der Le-
K
Politik
Inklusion
bensphase Alter. Ein Blick auf deren
Situation zeigt Menschen (van Dyk
2015),
•die bereits von Geburt oder frühen
Lebensphasen an mit einer Behinderung leben;
•die altersbedingt eine Behinderung erfahren, zum Beispiel durch
Unfälle und Erkrankungen;
•die im Seniorenalter eine Behinderung erfahren, Demenz als bekanntes Beispiel.
Die meisten Behinderungen, so eine
Studie des Berlin-Instituts, insbesondere im Alter, sind Folgen von Krankheiten oder Unfällen (11): 82% sind
das Ergebnis von Krankheiten, dabei sind Männer stärker betroffen als
Frauen, da sie häufiger berufstätig
sind. Nur jeder Zwanzigste hat eine
angeborene Behinderung; viele Personen fühlen sich im Alter beeinträchtigt, haben aber keine anerkannte
Behinderung. Der demografische
Wandel wird die Zahl behinderter Senioren noch weiter ansteigen lassen.
Da die Gesellschaft insgesamt altert,
wird es eine deutlich höhere Anzahl
Schwerbehinderter geben. Es ist mit
einer Verdreifachung in den nächsten zwanzig Jahren zu rechnen, Prognosen des Statistischen Bundesamtes gehen sogar davon aus, dass vor
allem der Anteil Schwerbehinderter
bis 2050 deutlich ansteigt (12).
Diese Prognosen werden durch drei
Kontexte begründet: Die Lebenserwartung steigt kontinuierlich; dabei
verringern sich die Mortalitätsraten
und die Sterblichkeit hinsichtlich definierter Erkrankungen wie Krebs oder
Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems; es findet zugleich eine Veränderung der Mortalitätsursachen statt,
das Spektrum der Krankheiten weitet
sich immer mehr aus und verschiebt
sich zugleich:
•Abnahme der Infektionserkrankungen;
•Zunahme chronischer Erkrankungen:
Zivilisationserkrankungen,
Umwelt- und Lebensbelastungen,
Herz-Kreislauf, Bewegungsmangel;
•Eine veränderte Ernährung, die
Zunahme der Lebenserwartung
sowie Erfolge der Medizin zeigen
Wirkung;
•Zunahme psychischer und neuronaler Erkrankungen wie Erschöpfung und Demenz (13).
Die Gründe hierfür liegen in den
Lebensbedingungen: in familiären
Strukturen und Krisen, in einer allgemeinen Zunahme an Risiken, in der
Arbeitswelt und ihren Beschleunigungseffekten, in diskontinuierlichen
Erwerbsverläufen, in Auswirkungen
von Arbeitslosigkeit, prekärer Beschäftigung und Armut, in einer
Zunahme von Erschöpfung. Der Zusammenhang von Prekarität, Armut
und Erschöpfung wirft hinsichtlich
der Lebenslage Alter Fragen auf, die
sich heute noch nicht wirklich beantworten lassen:
•Welche Auswirkungen haben prekäre Beschäftigungen auf das Alter
und wie wirken sie sich hinsichtlich
von Behinderung aus?
•Welche sozialen, psychischen und
physischen Folgen hat ein längeres Leben unter den Bedingungen
von Hartz IV?
•Inwieweit werden Erschöpfungssymptome zu einer „neuen“ Form
von Behinderung, die zu einer
dauerhaften Ausgrenzung und zu
Einschränkungen von Teilhabe
führen?
•Welche Bedeutung haben Ausgrenzungserfahrungen wie Segregation und Diskriminierung hinsichtlich des Lebens im Alter und
werden hier nicht neue Formen der
Behinderung aufgebaut?
•Welche spezifischen Formen von
Behinderung resultieren aus einem
Leben mit Grundsicherung im Alter,
trotz eines langen Arbeitslebens?
•Wird ein individualisiertes und entbettetes Leben jenseits von Familie
-24-
und Gemeinschaft Folgen haben
und welche werden das sein?
•Was wird mit alten und behinderten Zuwanderern?
Die Fachleute sind sich einig, dass
Behinderung immer auch ungleich
verteilt ist (Maschke 2007). Lebensbedingungen und Lebenslagen
hängen von der jeweiligen sozialen
Position ab, das Risiko, behindert
zu werden, steigt mit sinkender Sozialschicht. Menschen mit dem Status „behindert“ sind in den unteren
Schichten häufiger vertreten als in
den oberen. Die schon zitierte Studie des Berlin-Instituts hat darauf
hingewiesen, dass Armut und Behinderung korrelieren (14). In der
unteren sozialen Schicht lassen sich
fast doppelt so viele Menschen mit
anerkannter Behinderung identifizieren. Wer arm ist, hat offenkundig
ein höheres Behinderungsrisiko. Wer
behindert ist, hat es zudem schwerer
sozial aufzusteigen. Mit dem Eintritt
der Behinderung beginnt eine Veränderung der individuellen Position
innerhalb der Sozialstruktur, die als
Absinken bzw. Abwärtsmobilität gekennzeichnet werden kann.
Die Thesen von Jantzen zum Zusammenhang von Armut und Behinderung
haben ungebrochene Bedeutung
(Jantzen 1987, 1990): Mit sinkender
sozialer Schicht steigt der relative Anteil Behinderter, und zwar als Folge
einer Zunahme an schädigenden biologischen und sozialen Einwirkungen.
Dies prägt die Lebenslagen im Alter
grundlegend und erhöht die Gefahr
auch im Alter massiv benachteiligt
und ausgegrenzt zu sein. Insofern
werden prekäre Beschäftigung, Niedriglöhne, Armuts- und Ausgrenzungserfahrungen, Erschöpfungszustände,
Individualisierung und Entbettung
Auswirkungen haben, die Menschen
im Alter zusätzlich behindern; zur Armut kommt dann noch Beeinträchtigung, das verdoppelt Teilhabeverweigerung.
Politik
Inklusion
Vor diesem Hintergrund ist zu fragen,
was über das Leben von behinderten
Menschen im Alter bekannt ist? Es
gibt zwar viele Studien über die Lebenslage von Behinderten, aber nur
wenige Aussagen zur Situation Älterer, obwohl diese überrepräsentiert
sind (15). Einzig die erwähnte Studie
des Berlin-Institutes, die neue Publikation von van Dyk sowie einige
wenige Publikationen im Netz liefern
Einblicke (16).
Alterungsprozesse Behinderter verlaufen im Vergleich zur Gesamtbevölkerung weitgehend synchron.
Menschen mit Behinderungen altern ebenso unterschiedlich wie alle
Menschen. Auch für Menschen mit
Behinderung gilt, dass Altern ein individueller Prozess ist, der von einer
Reihe von Faktoren beeinflusst wird.
So lassen sich keine signifikanten
Unterschiede zwischen der Lebenserwartung behinderter und nichtbehinderter Menschen erkennen. Es
lassen sich zudem dieselben Alterskrankheiten und Funktionsausfälle
wie bei nicht behinderten Menschen
identifizieren
Auch die subjektive Seite des Älterwerdens ist ähnlich geprägt
•von einem stärkeren Ruhebedürfnis,
•von einer Veränderung des Tagesrhythmus,
•von einem zunehmenden Verlust
vorhandener Selbständigkeit,
•von einer verstärkten Abhängigkeit von fremden Hilfeleistungen
•aber auch von einem höheren medizinischen Bedarf.
Allerdings wird das Altern von Menschen mit Behinderung von spezifischen Faktoren beeinflusst wie Behinderungsart und Schweregrad der
Behinderung und der im Lebensverlauf erfahrenen Förderung. Gerade
hier wird deutlich, dass Armut aber
auch Entbettung sich im Alter behinderter Menschen schwerer und einschränkender auswirken können.
Im Alter können sich zudem biologische Abbauprozesse deutlicher
auswirken. Geistige, körperliche
oder psychische Einschränkungen
beschleunigen das Fortschreiten
von Alterungsprozessen; chronische Erkrankungen erschweren die
Bewältigung von auftretenden Leistungseinschränkungen. Risiken für
Krankheiten und zusätzliche Beeinträchtigungen können höher sein.
Die Ursachen hierfür sind vielschichtig, deuten aber erneut an, dass Armut und Ausgrenzung sich im Alter
verstärkt auswirken können:
•Lang andauernde chronische Erkrankungen mit entsprechend lang
andauernder Therapie und deren
Nebenwirkungen,
•Besonderheiten des Lebensstils,
•biografische Vorgeschichte in Institutionen,
•fehlende soziale Netzwerke,
•Bewegungsdefizite und Ernährungsprobleme,
•Isolation und Einsamkeit,
•Ängste und Traumata.
Vieles weist darauf hin, dass sich die
Lebensvorstellungen alter Menschen
mit Behinderungen nicht wesentlich
von denen Nichtbehinderter unterscheiden. Ältere, schwerstbehinderte
Menschen sind in ihren Vorstellungen
und Bedürfnissen genauso vielfältig
und unterschiedlich wie ältere Menschen ohne gravierendes Handicap.
Um Chancengleichheit für selbstbestimmte Teilhabe zu garantieren,
bedarf es allerdings der Klärung der
Bedürfnisse und Wünsche älterer
Menschen mit Behinderungen. Dazu
fehlen bisher klare Aussagen.
Blicke auf die Lebenslagen zeigen
insgesamt eine essentielle Herausforderung, die vor allem in der Heterogenität der Menschen liegt. Auch
und besonders im Alter zeigen sich
zudem die Ambivalenzen und Risiken
der individualisierten Gesellschaft
in einer besonderen Art. Das wirft
Fragen auf: Sind vorhandene Maß-
-25-
nahmen lebensweltorientiert und
spiegeln sie diese Heterogenität?
Was sind die Ziele der Maßnahmen,
Barrierefreiheit oder Teilhabeermöglichung? Das gesellschaftliche Versprechen der Inklusion weist, trotz
der Kritik daran, auf zwei wichtige
Dimensionen hin:
•Zum einen muss das Leben selbstbestimmt und menschenwürdig
sein.
•Zum anderen ist die Förderung
von Fähigkeiten und die Teilhabe
eine wesentliche gesellschaftliche
Aufgabe.
Die eigentlich entscheidende Frage
ist dann aber: Ist die Gesellschaft
darauf vorbereitet? Welche Maßnahmen wären erforderlich, um die
Teilhabe älterer Behinderter zu verbessern? Die Umrisse einer möglichen Antwort sollen folgen.
Teilhabe und Politik
Wenn über die Teilhabechancen älterer Behinderter nachgedacht wird,
dann sind zunächst erkennbare Defizite und Problemstellungen zu benennen (Röh 2009; van Dyk 2015,
auch Studie Berlin-Institut):
•Es lassen sich hohe Zugangsbarrieren zum Gesundheitssystem feststellen.
•Es wird vielfach von einer erschwerten Diagnostik aufgrund atypischer
Verlaufsformen von Krankheiten
berichtet.
•Es lässt sich ein fehlendes Wissen
professioneller Akteure hinsichtlich
Lebenslagen, Bedarfen und Wünschen diagnostizieren.
•Es fehlen gesundheitsbezogene
Programme für alte Menschen mit
Behinderungen und ihre informellen und professionellen Unterstützer.
Ein besonderes Problem liegt zudem
darin, dass Menschen, die einen
Großteil ihres Lebens in Werkstätten
für Behinderte verbracht haben, mit
ihrer Berentung den Lebensmittel-
K
Politik
Inklusion
punkt verlieren, Unterstützung findet
nicht mehr dort statt, wo sie lange
erlebt wurde. Wer bei den eigenen
Eltern lebte, stellt irgendwann fest,
dass diese im Alter immer weniger
unterstützen können.
Diese Problemstellungen zeigen,
dass offenkundig neue Modelle erforderlich sind, die bisher nur in Ansätzen erkennbar sind. Das Leben mit
Behinderung im Alter ließe sich zumindest erleichtern, wenn die Menschen besser in die Gemeinschaft
aufgenommen würden. Inklusion als
Vision und Idee hilft allen, wenn sie
ernst genommen wird. Doch: Wer
das will, muss die Bedingungen herstellen.
Das Konzept der Inklusion bezieht
sich vordergründig nur auf den gesellschaftlichen und kulturellen Rahmen, der Teilhabe ermöglicht. Dabei
wird völlig übersehen, dass es gar
nicht um ein „Zurück in die Gesellschaft“ geht, sondern um eine Transformation der Ausgrenzungskontexte
in der Gesellschaft. Dennoch oder
trotzdem: Mit der Intention der Inklusion verbindet sich das Ziel eines
selbstbestimmten und menschenwürdigen Daseins sowie der darin
notwendig angesiedelten Förderung
von Fähigkeiten und die Teilhabe
am Alltag der Gesellschaft.
Innerhalb bestehender Strukturen sind
deshalb Bedingungen zu gestalten,
die der Vielfalt menschlicher Lebenslagen gerecht werden und allen Teilhabe ermöglichen. Wenn ein jeder
Mensch die Gesellschaft mitgestalten
und ihre Angebote problemlos wahrnehmen soll, dann muss sie oder er
auch mit den jeweiligen Fähigkeiten
daran teilhaben, und zwar unabhängig von ethnischer wie sozialer Herkunft, Geschlecht, Alter oder Beeinträchtigung. Alle haben Fähigkeiten
und Potentiale, die es einzusetzen
bzw. zu aktivieren gilt. Allerdings hat
man den Eindruck, dass Handicaps
sich im Alter besonders auswirken
und zusätzlich zum alt werden das
Behindertsein verstärken.
Das Inklusionskonzept aus einer
kritischen und soziologischen Sicht
betrachtet zielt auf eine vollständige
und gleichberechtigte Teilhabe aller
Menschen, es besitzt eine gesamtgesellschaftliche Bedeutung und
formuliert als Auftrag eine Vision,
nach deren Prämissen Gesellschaft
zu gestalten ist. Dies ist als Entwicklungsprozess zu verstehen, der an
den Ressourcen und Potentialen der
Menschen ansetzt und diese in soziale Beziehungen und den Alltag einbindet. Teilhabe ist aber erst dann
erreicht, wenn Menschen mit Behinderung und mit ihren Fähigkeiten
und Potentialen selbstverständliche
Teilnehmer am öffentlichen Leben
werden. Dies gilt in besonderer Weise für das Alter, das doppelt beeinträchtigt ist.
Wenn die Gesellschaft (bzw. die Politik
der Gesellschaft) Teilhabe (oder Inklusion) will, dann müssen, bezogen auf
Behinderung und Alter, gemeindenahe bzw. wohnungsnahe Versorgung
und Unterstützung sowie ein Mehr an
Selbstbestimmung ausgebaut werden.
Hierzu sind veränderte Strukturen erforderlich, die Sonderräume wie Heime reduzieren und ambulante Angebote verstärken (17).
Blicke auf Familien offenbaren deren unterschiedliche Strategien zur
Bewältigung (18). Familie ist ein
erstaunlich stabiles und zugleich
flexibles Hilfesystem. Ausschlaggebend für die Bereitschaft, eigene
Potenziale aktiv zu nutzen und mit
den Eltern sowie sozialen Einrichtungen gemeinsam Perspektiven für
ein würdevolles Alter mit schwerster Behinderung zu entwickeln, sind
Kommunikation und Strukturen im
familiären System. Die Politik muss
diese Individualität und die Kraft der
Familien berücksichtigen. Notwendig sind spezifische niedrigschwellige und kontinuierliche Unterstüt-
-26-
zungs- und Begleitungsangebote für
Familien dort, wo es sie als funktionsfähige Systeme gibt. Ein Beispiel
aus Bayern belegt die Vorteile des
Verbleibens in vertrauter Umgebung
(19). Dies sorgt für die Beibehaltung
gewachsener sozialer Beziehungen.
Ergänzende Maßnahmen können
zusätzlich fördern wie Hilfen bei der
Tagesgestaltung der Freizeitgestaltung, um so am Leben in der Gemeinschaft teilhaben zu können,
oder Angebote zur Erhaltung im
Lebenslauf entwickelter Fähigkeiten
und Fertigkeiten.
Das Alter ist eine heterogene und
eigenständige Lebensphase, in der
Menschen weiterhin aktiv sind. Der
Fokus muss sich deshalb auch darauf richten, persönliche Weiterentwicklung, Lernen und Teilhabe zu ermöglichen. Dies bedeutet nicht nur,
vorhandene Fähigkeiten zu erhalten
oder fehlende zu kompensieren, sondern neue Betätigungsfelder für alternde Menschen zu finden und sich
auf neue Erfahrungen mit ihnen einzulassen. Menschen, die bisher auf
Grund ihrer „handicaps“ behindert
waren, müssen als Ressourcen und
Potentiale der sozialen Räume begriffen und ihre Fähigkeiten eingebunden werden. Gerade der Stärkung
vorhandener Ressourcen kommt in
der Sozialplanung eine zunehmend
strategische Bedeutung zu (20).
Nachbarschaftshilfe kann als „Dritter Sozialraum“ neben Privathaushalt und Öffentlichkeit geplant und
gefördert werden (21). Hierzu sind
verstärkt Netzwerke aufzubauen, die
vor allem auch eine Förderung der
Selbsthilfe professionalisieren. Das
kann durch Projekte umgesetzt, aber
auch ergänzt werden wie psychisch
Kranke helfen pflegebedürftigen
Nachbarn, Studierende erledigen
Hausarbeiten für Senioren, Jung und
Alt leben in einer WG. Sozialplanung, Behörden und Dienste müssen dafür sorgen, dass alle Bereiche
Politik
Inklusion
und Räume des öffentlichen Lebens
sowie alle Informationen barrierefrei
zugänglich sind.
Die lokalpolitischen Instrumente
hierfür stehen zur Verfügung: Konzepte einer integrativen Sozialraumplanung sind breit diskutiert und
ansatzweise eingeführt, Sozialraumkonferenzen haben sich in vielen
Räumen als Instrument der Steuerung und Planung etabliert, das
Quartiersmanagement ist durch die
Projekte der Sozialen Stadt und anderer Stadtteilerneuerungsprojekte
inzwischen Standard (Hammer/Lutz/
Mardorf/Rund 2010). Gerade das
Quartiersmanagement kann soziale Netzwerke knüpfen, Wohnen und
Leben im Alter gestalten, Präventionsmaßnahmen anregen, vernetzen
und anbieten, die Bedürfnisse der
Familien alternder Menschen mit
schwerster Behinderung einbeziehen sowie die zunehmende Schnittmenge zwischen Alten- und Behindertenhilfe als Herausforderungen
begreifen, da im Alter Angebote der
Behindertenhilfe und der Altenhilfe
erforderlich werden. Die Vernetzung
von Alten- und Behindertenhilfe ist
ein wichtiger Schritt.
Vernetzung der Träger und sozialen
Dienste ist generell bei allen konkreten Planungen vor Ort zur Versorgung von älteren Menschen mit
und ohne Behinderung eine notwendige Maßnahme. Es muss allerdings
sichergestellt sein, dass die spezifischen Bedürfnisse behinderter Menschen auch im Rahmen einer vernetzenden Planung bedarfsgerecht
berücksichtigt werden (22). Auf dem
Land ist der Aufbau sozial integrativer Konzepte zur Verbesserung der
Lebenslagen möglich bzw. hat bereits begonnen. Mit Maßnahmen wie
dezentrale Gesundheitsförderung,
neue Wohnformen, Versorgungsgemeinschaften oder „Dorfkümmerern“ gibt es gute Erfahrungen, die
aufgegriffen werden können.
Mit den Möglichkeiten einer integrativen Sozialplanung, den Sozialraumkonferenzen und dem Quartiersmanagement können Menschen
mit Behinderungen auch auf den
Ruhestand und das Alter vorbereitet
werden, Maßnahmen wie die folgenden sind erkennbar und können
ausgebaut werden:
•die Begegnung von pflegebedürftigen Senioren mit und ohne Behinderung im Rahmen einer Tagespflege,
•das Zusammenleben von jungen
und alten Menschen in stationären
Einrichtungen der Behindertenhilfe,
•die Sicherstellung des Bedarfes
an Teilhabe und Pflege in einer
Wohngemeinschaft durch ein trägerübergreifendes
persönliches
Budget,
•der Aufbau von bedarfsdifferenzierten Angeboten der Eingliederungshilfe und Pflege.
Die Anzahl und die Verteilung von
Wohnangeboten bedürfen zudem
einer veränderten Schwerpunktsetzung. Bestehende Wohnmöglichkeiten in den Kommunen müssen für
ältere Menschen mit Behinderung
unter Inanspruchnahme ambulanter
und offener Angebote nutzbar sein;
hierzu gehören behindertengerecht
gestalteter Wohnraum und Wohnumfelder, Angebote zur Absicherung
von Versorgung (z. B. ambulante
Pflege, Dienstleistungen) und Möglichkeiten zur Teilhabe (23).
Paradigmenwechsel
Wenn man Teilhabe oder Inklusion
will, um die doppelte Behinderung
älterer Menschen tendenziell aufzuheben, dann bedarf es in der Altenpolitik
und in der Altenarbeit eines Paradigmenwechsels: Weg von der traditionellen „Ruhestandsorientierung“ und
hin zur individuell wie gesellschaftlich
nützlichen „Potenzialentfaltung und
-nutzung“. Das Ziel dieses Wechsels
ist die Steigerung der Bereitschaft der
-27-
Älteren, selbst an der Sicherung der
Generationenverträge mitzuwirken.
Hierzu muss das etablierte Versorgungsparadigma einem Aufforderungs- und Verpflichtungsparadigma
weichen (24).
Ein fortgeschrittenes Konzept hierzu
ist das „active ageing“ (25), das aber
hierzulande noch eng auf den Bereich
des Arbeitsmarktes zugeschnitten ist.
Seine Merkmale sind eine integrierte
und lebenslaufbezogene Konzeptualisierung, die Betonung von inter- und
intragenerationeller Solidarität sowie
ein gesellschaftlicher Nützlichkeitsbezug bei bevorzugter Beachtung
von Problemen vor allem auch sozial
benachteiligter älterer Bevölkerungsgruppen.
Ein weiterer Schritt des Paradigmenwechsels liegt in der Notwendigkeit
einer Neujustierung beider Generationenverträge; des großen gesellschaftlichen Generationenvertrags im
System der umlagefinanzierten Sozialversicherung und des sogenannten
kleinen Generationenvertrags im familiären Umfeld (26). Ziel sollte eine
neue Generationensolidarität sein:
•Die jungen Generationen müssen
zwar ein Mehr an Bildung und Zukunftsinvestitionen erwarten können,
sie sollten sich aber im Gegenzug
auf mehr Lernen, neue Erwerbsmuster, mehr berufliche Mobilität und
Flexibilität einstellen und nicht zuletzt
mehr Bereitschaft für ein Leben mit
Kindern aufbringen.
•Die älteren Generationen dürfen
sich nicht mehr primär in tradierten
Rollen als Rentenempfänger und
„Ruheständler“ definieren, sondern
müssen bereit sein, Verantwortung
für das eigene Leben, für das anderer sowie das der nachrückenden
Generationen zu übernehmen.
Die soziale Entwicklung zwingt zu sozialpolitischen Reformen; Ideen und
Konzepte sind da. Es fehlt aber noch
an der Bereitschaft gewohnte Strukturen aufzubrechen und damit verbun-
K
Politik
Inklusion
dene Sicherheiten aufzugeben. Vor
allem ist Inklusion als Konzept zu überdenken, da es nicht um eine Rückführung in die Gesellschaft geht, sondern
um eine Transformation derselben.
Prof. Ronald Lutz
Verzeichnis der Endnoten
(1) https://www.aktion-mensch.de/blog/beitraege/senioren-mit-behinderung-einevergessene-gruppe.html
(2) Siehe: https://www.aktion-mensch.de/
themen-informieren-und-diskutieren/
was-ist-inklusion.html,
Zugriff
am
20.3.16, oder auch: https://www.
unesco.de/fileadmin/medien/Dokumente/Bildung/InklusionLeitlinienBildungspolitik.pdf; Zugriff am 20.3.16
(3) Die diskursive „Kraft“ dieses Projektes
wird ja auch in gegenwärtigen Diskussion zur Integration von Flüchtlingen erkennbar.
(4) Siehe auch: http://www.kas.de/upload/
dokumente/verlagspublikationen/AlterLast-Chance/Alter-Last-Chance-6-1.pdf
(5) https://www.bertelsmann-stiftung.de/
fileadmin/files/BSt/Publikationen/
GrauePublikationen/Policy_LebensWK_
Okt_2015_final.pdf
(6) Unter diesem Begriff werden Studien
zusammengefasst, die Behinderung als
Konstruktion verstehen und sich vor allem mit den sozialen Folgen auseinander
setzen.
(7) § 2 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Neuntes
Buch (SGB IX) – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen
(8) https://www.myhandicap.de/gesellschaft-behinderung/behinderung-handicap-definition/; Zugriff am 23.3.16
(9) https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Gesundheit/
Behinderte/BehinderteMenschen.html;
Zugriff am 23.3.16
(10) Als schwerbehindert gelten Personen,
denen von den Versorgungs-ämtern ein
Grad der Behinderung von 50 und mehr
zuerkannt sowie ein gültiger Ausweis ausgehändigt wurde.
(11) http://www.berlin-institut.org/fileadmin/
user_upload/Alt_behindert/Alt_und_behindert_online.pdf, Zugriff am 20.3.16
(12) https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Gesundheit/
Behinderte/BehinderteMenschen.html;
Zugriff am 20.3.16
(13) Siehe:
http://www.berlin-institut.org/
fileadmin/user_upload/Alt_behindert/
Alt_und_behindert_online.pdf,
Zugriff
am 20.3.16
(14) http://www.berlin-institut.org/fileadmin/
user_upload/Alt_behindert/Alt_und_behindert_online.pdf, Zugriff am 20.3.16
(15) Zeigt sich nicht auch hier ein „behindert
sein“ im „älter werden“?
(16) http://www.ies.uni-hannover.de/fileadmin/download/Behindert_in_
Familie_01.pdf, Zugriff am 23.3.16
http://www.bmfsfj.de/RedaktionBMFSFJ/Abteilung3/Pdf-Anlagen/
dokumentation-des-workshopslebenswelten,property=pdf.pdf; Zugriff
am 23.3.16
h t t p : / / w w w. a l l e - i n k l u s i v e . d e /
wp-content/uploads/2010/07/
Teilhabe-alter-Menschen-mit-geistiger-Behinderung-am-gesellschaftlichenLeben_Endfassung.pdf;
Zugriff
am
23.3.16
(17) h t t p s : / / w w w . l w l . o r g / @ @
afiles/28598235/dritter_zwischenbericht.pdf; Zugriff am 23.3.16
Siehe auch Veröffentlichungen unter:
http://www.lwl.org/LWL/Soziales/behinderung-und-alter/veroeffentlichungen;
Zugriff am 20.3.16
(18) http://www.ies.uni-hannover.de/fileadmin/download/Behindert_in_
Familie_01.pdf; Zugriff am 23.316
(19) http://www.stmas.bayern.de/behinderung/aeltere/index.php, Zugriff am
20.3.16
(20) https://www.ksv-sachsen.de/images/
dokumente/publikationen/Gesamtkonzept%20aeMmB.pdf; Zugriff am
20.3.16
(21) http://nachbarschaftshilfe-sachsen.de/
portal/nachbarschaftshelfer-werden; Zugriff am 23.3.16
(22) http://www.stmas.bayern.de/behinderung/aeltere/index.php; Zugriff am
20.3.16
(23) https://www.ksv-sachsen.de/images/
dokumente/publikationen/Gesamtkonzept%20aeMmB.pdf;
Zugriff am
20.3.16
(24) Siehe die Debatten u.a. bei: http://
www.bpb.de/politik/innenpolitik/
rentenpolitik/154895/destandardisierung-des-lebenslaufs, Zugriff am
20.3.16
(25) http://www.bmfsfj.de/doku/Publikationen/mug/Abschnitt-1-einfuehrung/1/13/1-3-3-modell-des-active-aging-unddie-international-classification-of-functioning-disability-and-health-der-weltgesundheitsorganisation.html; Zugriff am
20.3.16
(26) Siehe die Debatten unter: http://www.
bpb.de/suche/?suchwort=Generation+
50plus; Zugriff am 20.3.16
-28-
Literatur
Adorno, Theodor W.: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt am Main 1969
Backes, Gertrud/Clemens, Wolfgang: Lebensphase Alter, Weinheim 2013
Becker, Uwe: Die Inklusionslüge. Behinderung
im flexiblen Kapitalismus, Bielefeld 2015
Brücher, Laus; Poltrum, Martin: Psychiatrische
Diagnostik: Zur Kritik der diagnostischen
Vernunft, Wien 2012
Buttterwegge, Christoph: Hartz IV und die Folgen. Auf dem Weg in eine andere Republik?; Weinheim 2015
Castel, Robert; Dörre, Klaus (Hrsg.): Prekarität,
Abstieg, Ausgrenzung. Die soziale Frage am
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Politik
Inklusion
Das Übereinkommen über die
Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-Konvention
über die Rechte von Menschen
mit Behinderungen)
Es gibt verschiedenste von der
UNO verabschiedete Menschenrechtskonventionen, u. a. die
UN-Anti­folterkonvention, die UNFrau­en­rechtskonvention, die UNKin­der­rechtskonvention, die UNRas­sen­dis­kriminierungs­konvention,
den UN-Sozialpakt, die UN-Völkermordkonvention. Aber keine dieser
Konventionen hat eine derartig
öffentliche Resonanz erfahren wie
die
UN-Behindertenrechtskonvention. Sie wurde 2006 nach
fünfjähriger Erstellung Ende 2006
verabschiedet und trat 2008 in
Kraft. Deutschland hat sie 2009
ratifiziert. Sie wurde inzwischen
von über 160 Staaten unterzeichnet. Sie betrifft weltweit ca. 650
Millionen Menschen, wobei man
aufgrund der weltweiten Alterung
davon ausgeht, dass die Anzahl
der Menschen mit Behinderungen
wachsen wird. Sie stellen die weltweit größte Minderheit dar. Hintergrund war die soziale Lage und
diskriminierende Situation für viele behinderte Menschen, die oftmals am Rande der Gesellschaft
leben und das ärmste Fünftel der
Weltbevölkerung bilden. 98 %
der Kinder mit Behinderungen in
Entwicklungsländern gehen nicht
zur Schule, 30 % der Straßenkinder haben Behinderungen, nur
3 % der Erwachsenen mit Behinderungen können schreiben und
lesen. D. h. Grundrechte wie
- eine gute Bildung zu erhalten,
- sich frei und ungehindert von
einem Ort zum anderen zu bewegen,
- ein selbstbestimmtes Leben in
der Gemeinschaft zu führen,
- Arbeit zu finden, auch wenn sie
hochqualifiziert sind,
- Zugang zu Informationen zu haben,
- eine angemessene Gesundheitsversorgung zu erhalten,
- ihre politischen Rechte wie z.B. ihr
Wahlrecht auszuüben,
sind für viele Menschen mit Behinderungen nicht gegeben.
Die Konvention besteht neben der
Präambel aus 50 Artikeln. Sie stellt
die Pflichten der Staaten heraus,
die für Menschen mit Behinderungen bestehenden Menschenrechte
zu gewährleisten. Als wichtige Leitgedanken werden die Ansprüche
auf Selbstbestimmung, Diskriminierungsfreiheit und gleichberechtigte
gesellschaftliche Teilhabe genannt.
Die Grundsätze der Konvention enthält Artikel 3:
a) die Achtung der dem Menschen
innewohnenden Würde, seiner
individuellen Autonomie, einschließlich der Freiheit, eigene
Entscheidungen zu treffen, sowie
seiner Unabhängigkeit;
b) die Nichtdiskriminierung;
c) die volle und wirksame Teilhabe
an der Gesellschaft und Einbeziehung in die Gesellschaft;
d) die Achtung vor der Unterschiedlichkeit von Menschen mit Behinderungen und die Akzeptanz
dieser Menschen als Teil der
menschlichen Vielfalt und der
Menschheit;
e) die Chancengleichheit;
f) die Zugänglichkeit;
g) die Gleichberechtigung von
Mann und Frau;
h) die Achtung vor den sich entwickelnden Fähigkeiten von Kindern mit Behinderungen und die
Achtung ihres Rechts auf Wahrung ihrer Identität.
In Deutschland wurden nach der
Ratifizierung der Konvention ver-
-29-
schiedene Strukturen etabliert.
Zu ihnen gehören auch die Maßnahmepläne des Bundes und der
Bundesländer. Zur Ausrichtung
der Behindertenpolitik der Inklusion wurde mit Wirkung vom
1. Januar 2008 in das 9. Buch
Sozialgesetzbuch (SGB IX) der
Rechtsanspruch auf das Persönliche Budget aufgenommen. 2009
wurden mit dem Wohn- und Betreuungsvertragsgesetz die Rechte
älterer, pflegebedürftiger und behinderter Menschen gestärkt, die
Verträge über die Überlassung
von Wohnraum mit Pflege- oder
Betreuungsleistungen abschließen. Die Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung gewährleistet barrierefreie Internetseiten.
Menschen mit Behinderungen
können von der Rundfunkgebührenpflicht befreit werden. 2012
trat das inzwischen in seinen Leistungen ausgeweitete Gesetz über
die Familienpflegezeit (FPflZG) in
Kraft, das die Situation der Familienpflege entlasten und ermöglichen will.
Siehe auch: www.behindertenrechtskonvention.info
K
Politik
Inklusion
Schulische Inklusion –
eine anspruchsvolle und
schwierige Aufgabe
Über kaum ein Thema wird seit Jahren so intensiv diskutiert wie über
die schulische Inklusion. Das ist insofern nicht verwunderlich, als die
geplanten oder bereits eingeleiteten
schulischen Umsteuerungsprozesse
erhebliche institutionelle und pädagogische Veränderungen nach sich
ziehen. Dabei kann zwar auf die
bisherigen Integrationserfahrungen
zurückgegriffen werden, gleichwohl
sind die Folgen, die sich aus dem
weiter reichenden Inklusionsentwurf
ergeben, gravierender, im Konkreten oft schwerer abschätzbar und
in ihren langfristigen Wirkungen
ungewisser. Lehrerinnen und Lehrer werden dadurch vor erhebliche
Herausforderungen gestellt, ebenso
wie alle anderen Beteiligten – daran
kann es kaum einen Zweifel geben.
Erstaunlich ist, mit welcher Heftigkeit
hierzulande über die Inklusion gestritten wird. In anderen (außer-)europäischen Ländern geht es zumeist
moderater zu.
Ein wichtiger Grund dafür ist, dass
sich in Deutschland mit der Inklusion besonders hohe Erwartungen
verbinden, zumindest bei einem bestimmten, durchaus einflussreichen
Inklusionsverständnis. Nunmehr soll
ein gänzlich anderer, bisher nicht
praktizierter humaner Umgang mit
Kindern gelingen, die behindert sind
und/oder einen speziellen Förderbedarf haben; im Rahmen einer „Akzeptanz von Vielfalt“, die zahlreiche
weitere Heterogenitätsdimensionen
umfasst, ohne dass diese gewichtet
und bewertet werden. Die Pädagogik soll sich jetzt grundsätzlich neu
ausrichten, auf jeden Schüler hochindividuell eingehen, „Bildungsgerechtigkeit“ und „Chancengleichheit“ garantieren. Nicht selten wird
die Schule als Vorbote einer neuen,
inklusiven Gesellschaft angesehen,
die auf einer strukturell veränderten
„Architektur“ (Bielefeldt) beruht.
Vieles spricht dafür, dass derartig
hohe oder besser formuliert: überzogene Erwartungen einer erfolgreichen Weiterentwicklung im Wege
stehen. Massive Enttäuschungen
und diverse Kränkungen werden sich
einstellen, wenn über kurz oder lang
deutlich wird, dass die angestrebten Ziele schlichtweg unrealistisch
sind. Etwas mehr Bescheidenheit
würde hier gut tun: Damit Schritt
für Schritt und auf gehaltvolle Weise mehr schulische Gemeinsamkeit
entstehen kann, die allen Schülerinnen und Schülern dient, denen mit
und jenen ohne Behinderung. Lehrerinnen und Lehrer müssen über die
dazu notwendigen Arbeitsbedingungen verfügen und es macht wenig
Sinn, wenn sie vor Aufgaben gestellt
werden, die sie beim besten Willen
nicht lösen können.
Die (schulische) Inklusion ist ein
hochanspruchsvolles, in sich spannungsreiches, in Teilen auch widersprüchliches Phänomen, das sich
einfachen Lösungen verschließt. Im
Mittelpunkt der UN-Behindertenrechtskonvention stehen Menschen
mit Behinderung, das bezeugt der
Name. Ihre Lebens-, Lern- und Entwicklungssituation soll umfassend
verbessert, Teilhabe und Partizipation gestärkt und dafür gesorgt
werden, dass eine (behinderungsspezifische) Förderung auf einem
möglichst hohen Niveau erfolgt. Der
zuletzt genannte Punkt wird häufig
nur unzureichend beachtet. Es geht
eben nicht nur darum, dass ein soziales Zusammensein entsteht, sondern auch, wie es ausgefüllt wird.
Ein besonderes Gewicht kommt deshalb der Förderung von Kindern zu,
die spezielle Bedürfnisse haben und
einer besonderen Unterstützung bedürfen. Inwieweit sie gelingt, das ist
-30-
Zu Widersprüchen schulischer Inklusion
Bernd Ahrbecks Buch „Inklusion. Eine Kritik“ ist eine außerordentlich gute und kenntnisreiche Zusammenfassung der
kontroversen Diskussion über
insbesondere schulische Inklusion. Er stellt dar, was Inklusion
von Kindern und Jugendlichen
in Schulen bedeutet: Den Verzicht auf Aussonderung und
Ausschluss.
Ein inklusives Bildungssystem
bedeutet, das stellt Bernd Ahrbeck überzeugend dar,
- dass Kinder und Jugendliche
in einer Schule aufgenommen
werden, unabhängig von der
Art und Schwere einer Behinderung und sonstigen Besonderheiten,
- dass es für alle Kinder und
Jugendliche ein Gemeinschaftsleben gibt, das für alle
gleichermaßen bereichernd
und gewinnbringend ist,
- dass im Grundsätzlichen eine
Chancengleichheit
besteht
und soziale und sonstige Unterschiede, die Entwicklungs-
Politik
Inklusion
und
Diskriminierungsgefährdungen implizieren, nivelliert
werden,
- dass Lebens- und Lernsituationen von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen,
des Weiteren aber auch von
benachteiligten Kindern und
Jugendlichen sowie deren Voraussetzungen für Teilhabe und
Partizipation verbessert werden,
- dass pädagogische Settings im
gemeinsamen Unterricht bestehen, in denen eine individuelle
Förderung entsprechend der
individuellen Leistungsvoraussetzungen einschließlich sonderpädagogischer Förderung
möglich ist,
- dass Kindern und Jugendlichen
die besten und optimalsten Entwicklungsbedingungen eingeräumt werden,
- dass Kinder und Jugendliche
nicht nur formal in ihrer Schulzeit inkludiert werden, sondern
dass die Perspektive einer gesellschaftlichen Inklusion besteht,
- dass die Verschiedenheiten von
Menschen und die Heterogenität von sozialen Gruppen als
Ressource und Chance für Bildungs- und Entwicklungsprozesse gesehen und entwickelt
werden, wobei Bernd Ahrbeck
u. a. sicher zu recht anmerken,
dass es Lebensformen und -entwürfe gibt, die sich einer Vorbildwirkung entziehen (Ahrbeck,
S. 35 f.),
- dass Kinder und Jugendliche
mit Behinderungen in Normalitätskontexten wahrgenommen
und gewürdigt werden, die
keine oder nicht ausschließlich
Sonderformen des Lebens und
individuellen Daseins darstel-
len, und dass dennoch individuelle
Förderung stattfinden kann,
- dass pädagogischer Umgang mit
verschiedenen Kindern und Jugendlichen auf Respekt, Achtung,
Anerkennung, Wertschätzung, Ressourcenorientierung und individueller Zuwendung basiert, was voraussetzt, dass sie in ihrer inneren
und äußeren Realität angemessen
wahrgenommen und verstanden
werden (vgl. Ahrbeck, S. 55).
Dabei verweist Ahrbeck auf Leerstellen und Widersprüche, die sich
innerhalb des pädagogischen Prozesses nicht auflösen lassen. Er stellt
dar, dass sonderpädagogische Einrichtungen durchaus einen Schutzcharakter für Kinder und Jugendliche
mit Behinderungen darstellen und
einen inklusiv Anspruch realisieren
können, dass es auch innerhalb von
inklusiven Schulen Ausgrenzungen
geben, dass eine Sonderbeschulung ein Wunsch von Eltern mit
behinderten Kindern sein kann. Er
verweist hier auf bezeichnende Beispiele: Eltern, deren Kind ein extrem
emotional-soziales Verhalten zeigte,
erlebten in normalen Schulsettings
Ablehnung und Konfrontation, anschließend eine Odyssee durch medizinische Einrichtungen verbunden
mit medikamentösen Interventionen.
Schließlich erfuhren sie eine wertschätzende pädagogische Würdigung ihres Kindes in einer Förderschule, die mit einem einzigartigen
Konzept nicht nur auf die Schwierigkeiten, sondern die Begabungen des
Kindes einging (Ahrbeck, S. 126).
Ahrbeck verweist auch darauf, dass
die Normalisierungsbemühungen
eines Inklusionsansatzes die elementaren Unterschiede zwischen
Menschen nicht beliebig zur Disposition stellen können und dass im Inklusionsansatz etwa die Lernsituation
-31-
von begabten Schülern nur am
Rande betrachtet oder ausgeblendet wird. Und schließlich sind für
die Entwicklung der Kinder und
Jugendlichen weniger das schulische Umfeld, das gemeinsame
Lernen oder die Schulstruktur
entscheidend. Die gemeinsame
Beschulung sichert keinen späteren Zusammenhalt. Die Schule ist
machtloser als vielfach gewünscht
wird. Entscheidend seien professionelles pädagogisches Handeln
und pädagogische Vorbilder, die
Orientierung und Wertschätzung
vermitteln (vgl. ebenda S. 113).
Da es unter Seniorenvertretern
zahlreiche ehemalige Lehrerinnen
und Lehrer gibt, sich wie im Falle
von Seniorpartner in School viele Ältere an Schulen und in Kitas
engagieren, in jedem Falle die
meisten Älteren mit ihren Enkeln
umgehen, ist Ahrbecks Buch eine
ausgezeichnete kritische und differenziert argumentierende Lektüre.
Dr. Jan Steinhaußen
K
Politik
Inklusion
eine Frage, die nur empirisch beantwortet werden kann. Auch die gemeinsame Beschulung muss sich in
ihrer Leistungsfähigkeit erweisen. Die
Kriterien dafür sind nicht beliebig:
Sie ergeben sich unter anderem aus
der Orientierung an Bildungsstandards und daran, wie stark behinderungsspezifische Beeinträchtigungen
kompensiert oder überwunden werden. Wie komplex die dahinter stehenden Phänomene sind, zeigt sich
daran, dass weiterhin auch dort um
einen angemessenen Weg gestritten
wird, wo bereits sehr lange Integrations-/Inklusionserfahrungen vorliegen. Zum Beispiel in den USA oder
in Großbritannien.
Die stärkere schulische Gemeinsamkeit von Kindern mit und ohne Behinderung, wie sie nunmehr in allen
Bundesländern entsteht, stellt eine
bedeutende Errungenschaft dar. Das
steht außer Frage. Viele der anstehenden Fragen sind jedoch noch ungeklärt, darunter auch solche grundsätzlicher Art. Eine davon betrifft das
letztendliche Ziel der Inklusion: Soll
auch zukünftig ein institutionell differenziertes System existieren oder eine
„Schule für alle“, eine Einheitsschule, die ausnahmslos alle Kinder unter
ihrem Dach vereint? Und wie verhält
es sich mit dem Elternwahlrecht: Gilt
es als ein zu überwindendes Übergangsphänomen oder wird es als
grundlegendes Recht angesehen,
das keine Einschränkung erlaubt?
Weiterhin entzünden sich immer wieder erhebliche Kontroversen um die
Bedeutung
sonderpädagogischer
Förderkategorien, des sonderpädagogischen Förderbedarfs und der
einschlägigen Behinderungsbegriffe
(Stichpunkt: Dekategorisierung; Etikettierung). Zudem ist sogar die Rolle
umstritten, die Bildungsstandards bei
gemeinsamer Beschulung einnehmen sollen. Und schließlich geht es
um die Möglichkeiten und Grenzen,
die mit einem hochindividualisierten
Unterricht in der gesamten Schulzeit
verbunden sind, einschließlich der
Effekte, die sich daraus für das Lernen ergeben.
Das Fazit aus meiner heutigen Sicht
lautet: Für viele Schüler und Schülerinnen wird eine gemeinsame Beschulung ertragreich sein, für andere ist sie es nicht. Schulpraktische
Erfahrungen lassen daran ebenso
wenig Zweifel wie eine nüchterne
Betrachtung der internationalen
Forschungslage. Zum Wohl des
Kindes bedarf es auch weiterhin unterschiedlicher schulischer Settings,
Wahlmöglichkeiten müssen erhalten
bleiben. Dann kann jedes Kind das
bekommen, was es für seine Entwicklung benötigt. Die radikale Forderung nach einer „Schule für alle“
steht dem im Wege. Sie beinhaltet
weder eine pädagogisch tragfähige
Lösung noch lässt sie sich zwingend
aus der UN-Behindertenrechtskonvention herleiten – auch wenn dies
häufig und mit hohem moralischen
Impetus behauptet wird.
Der wünschenswerte Weg zu mehr
schulischer Gemeinsamkeit kann
nur in moderater Form gelingen,
befreit von überzogenen Idealen.
Unabdingbar ist, dass das Recht auf
eine hochwertige Förderung garantiert wird. Das setzt voraus, dass die
gegenwärtig durch Dekategorisierung bedrohte sonderpädagogische
Fachlichkeit erhalten bleibt. Ebenso
zwingend ist es, dass Bildungsstandards als eine elementare kulturelle
Errungenschaft erhalten bleiben.
Die Schule kann sich auch in Zeiten der Inklusion nicht neu erfinden,
sie kann sich nur verbessern und
sollte dies nach Kräften tun. Dabei
kommt es vor allem darauf an, dass
Reformschritte kritisch überprüft werden und bisher sicher geglaubte Gewissheiten in Frage gestellt werden,
wenn die schulische Realität ihnen
widerspricht.
-32-
Bernd Ahrbeck, Humboldt-Universität zu Berlin, Kultur-, Sozial- und Bildungswissenschaftliche Fakultät,
Institut für Rehabilitationswissenschaften
Georgenstr. 36
10099 Berlin
bernd.ahrbeck@hu-berlin.de
Rege Diskussion auf der Landesseniorenvertretungskonferenz
Politik
Inklusion
Auf der Straße des Erfolgs: Soziale Arbeit der
„Umsorgung“ von Senioren im deutsch-skandinavischen Vergleich (1)
in Deutschland – die ideologische
Nähe zum religiös begründeten
Dienst aus dem Geiste der Caritas
weit abgestreift haben.
Prolog
Am 29. Januar 2014 stellte Kanzlerin Angela Merkel in einer Regierungserklärung dem Parlament und
der breiten Öffentlichkeit die Pläne
vor, die die amtierende Koalition
aus CDU/CSU und SPD bis Ende
2017 umsetzen will. Als sie auf die
geplanten Pflegereformen – gesetzestechnisch sind sie bereits weitgehend abgearbeitet – zu sprechen
kam, wählte sie mit Blick auf die gewaltigen Pflegeleistungen, die in den
Familien von Angehörigen erbracht
werden, die Formulierung: „Sie sind
die stillen Helden unserer Gesellschaft.“
Die Titulierung „stille Helden“ ist
höchst verräterisch, denn die Bereitschaft zum stillen Heldinnentum gehört mit zu dem Fundament, aus dem
sich der in Deutschland vergleichsweise geringe Professionalisierungsgrad der gesellschaftlich notwendigen Care-Arbeit speist. Um es mit
Bertolt Brecht zu sagen: „Glücklich
das Land, das keine Helden nötig
hat.“(2) Die nordischen Länder haben keine Heldinnen (mehr) nötig.
Schon ab den 60er Jahren begehrten die dortigen Frauen erfolgreich
auf gegen eine Geschlechterordnung, die ihnen die ökonomische
Selbständigkeit verwehrt, um der
nicht nur, aber vorrangig von Frauen unentgeltlich oder mit schlechter
Bezahlung geleisteten Sorgearbeit
dann rein symbolisch den Heldenstatus zu verleihen. Frauenaffine
Berufe der Erziehung, Pflege und
Betreuung wurden erfolgreich aufgewertet. Heute sind es „normale“
Berufe, angesiedelt vorrangig im
öffentlichen Dienst, die – anders als
1.1 Geschlechterrollen und die
Wertigkeit von sozialer Arbeit
In traditionellen Gesellschaften ist
die Pflege und Umsorgung unterstützungsbedürftiger, in der Regel älterer
Menschen Privatsache. Zuständig ist
die eigene Familie. Im engen Sinne
meint dies die Kernfamilie, im erweiterten Sinne den Familienclan, und
zwar jeweils deren weibliche Mitglieder. Zur Begründung wird rekurriert
auf eine vermeintlich naturgegebene Ordnung der Geschlechter.
Demnach ist die unentgeltliche Erbringung von Care-Leistungen für
zunächst die eigenen Kinder, dann
die Eltern und/oder Schwiegereltern
Teil weiblicher Geschlechtsidentität,
während umgekehrt dem Mann die
Ernährerrolle zugewiesen wird. Die
Dichotomisierung der Geschlechterrollen dient der Schaffung und
Reproduktion hierarchischer Geschlechterverhältnisse. Dies auch
dort noch, wo Frauen zu Bildung
und Ausbildung in gleicher Weise
Zugang haben wie Männer. Wenn
sie dann nämlich zunächst wegen
der Kinderbetreuung und dann der
Pflege von Angehörigen ihren Beruf
entweder ganz aufgeben oder beruflich immer wieder zurückstecken,
haben sie kaum Chancen auf beruflichen Aufstieg. Sie stehen in der Gefahr, nicht nur auf Karriere, sondern
auch auf die Erlangung ökonomischer Selbständigkeit zu verzichten.
Damit aber verbleibt zwischen den
Geschlechtern ein Machtgefälle. Es
mit Bezug auf „Natur“ oder „Gott“
zu rechtfertigen, erfüllt einen klaren
Zweck: Mögliche Veränderungen
sollen dem menschlichen Handlungsspielraum entzogen werden.
1. Konträre Systemwelten
-33-
In den hochentwickelten Industrieländern wird zur Legitimierung von
Ungleichheit kaum noch auf „Gott“
oder die „Natur“ rekurriert. In langen sozialen Kämpfen haben Frauen die Durchsetzung formal gleicher
Rechte erstritten. Heute ist breit akzeptiert, dass Frauen und Männer
gleiche Rechte haben, auch gleiche
Teilhaberechte am Erwerbsleben.
Zwischen der verfassungsrechtlichen
Verankerung einer Norm und ihrer
realen Durchsetzung muss jedoch
klar unterschieden werden. „Männer
und Frauen sind gleichberechtigt. Der
Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von
Frauen und Männern und wirkt auf
die Beseitigung bestehender Nachteile hin“, heißt es in Artikel 3, Abs. 2
des Grundgesetzes. Proklamiert wird
hier nicht nur die Gleichberechtigung
als Norm, sondern es wird zugleich
anerkannt, dass die gesellschaftliche Realität in Deutschland von der
tatsächlichen Gleichberechtigung
noch ein gutes Stück entfernt ist.
Die Beseitigung der Kluft zwischen
Norm und Realität wird zum staatlichen Auftrag erklärt. Wie schwer es
der Politik fällt, diesen Auftrag anzunehmen, macht das Feld der sozialen Arbeit nur allzu deutlich. Subtil
bestehen hier die Mechanismen fort,
über die sich Geschlechterungleichheiten reproduzieren. Soziale Arbeit
ist ein Feld, das für den Erhalt einer
Gesellschaft höchst bedeutsam, ja
unverzichtbar ist. Gleiches kann von
vielen anderen Tätigkeiten, etwa
im Marketing oder der Finanz- und
Versicherungsbranche nicht gesagt
werden. Gleichwohl werden die,
die in sozialen Berufen tätig sind,
unterdurchschnittlich, die Beschäftigten des Finanz- und Versicherungsgewerbes dagegen überdurchschnittlich bezahlt. Knappheit als
Begründung scheidet aus, denn ein
Mangel herrscht gegenwärtig eher
bei ErzieherInnen und Pflegekräften
K
Politik
Inklusion
als bei Versicherungs- und Bankkaufleuten. Wenn in frauentypischen
Berufen der sozialen Arbeit trotzdem
weit schlechtere Einkommen erzielt
werden als in Berufen, wo überwiegend Männer beschäftigt sind, so
spiegelt sich hierin die Fortexistenz
unterschiedlicher Wertzumessungen.
Ungleichheiten in der Wertigkeit, die
die Gesellschaft Frauen und Männern tatsächlich beimisst, werden
auf die Berufswelt übertragen.
1.2 Grundideen und zentrale
Systemmerkmale
Das deutsche Pflegesystem basiert
auf der Idee, dass die primäre Verantwortung für die Organisierung,
die Finanzierung und in gewisser
Weise auch die Leistungserbringung
selbst der eigenen Familie zukommt.
Die öffentlichen Leistungen sollen
die Pflege durch Angehörige unterstützen und ergänzen. Dies mit Geldund Sachleistungen, seit 2015 auch
mit Rechten auf die zeitweise Unterbrechung oder Reduktion eigener
Erwerbstätigkeit. Als Mitte der 90er
Jahre nach langer Diskussion als
5. Säule des Sozialversicherungssystems eine Pflegepflichtversicherung
geschaffen wurde, ging es dieser
Grundidee entsprechend nicht darum, die Langfristpflege zu einer öffentlichen Aufgabe mit umfassendem
Leistungskatalog analog der Krankenversicherung zu machen. Die
Pflegeversicherung war die Antwort
auf ein eklatant gestiegenes Verarmungsrisiko der in Heimen lebenden
Pflegebedürftigen. Rasant waren die
Fallzahlen bei der kommunalen Sozialhilfeleistung „Hilfe zur Pflege“ gestiegen. Dieser Trend sollte dadurch
gestoppt werden, dass an die Stelle
von der Bedürftigkeitsprüfung unterliegenden Sozialhilfeleistungen Versicherungsleistungen treten. An der
traditionellen Idee, dass die Pflegeverantwortung primär bei den Angehörigen liegt, wurde nicht gerüttelt.
Die geschaffene Pflegepflichtversicherung – sie unterteilt sich in einen gesetzlichen und einen privaten
Zweig – beinhaltet demgemäß auch
keine Vollversicherung und Rechtsansprüche auf Leistungen bestehen
nur dort, wo der Medizinische Dienst
der Kassen (MDK) das Vorliegen erheblicher, schwerer und schwerster
Pflegebedürftigkeit attestiert.
Der familienbasierten deutschen
Grundphilosophie stehen in den fünf
nordisch-skandinavischen Ländern
Systeme gegenüber, bei denen die
Langfristpflege als öffentliche Aufgabe angesehen wird. Bei allen Unterschieden, die es im Detail gibt, (3)
teilen sie eine gemeinsame Grundausrichtung: Man setzt bei der Pflege, Betreuung und praktischen Alltagsunterstützung von Senioren wie
auch von anderen unterstützungsbedürftigen Menschen auf kommunale
Infrastruktur und eine Vergemeinschaftung der Kosten. Es dominieren
Sachleistungen gemäß individuellem Bedarf mit niedrigschwelligem
Zugang. Ein gesetzlich fixierter Pflegebegriff, der die Leistungsgewährung an das Vorliegen erheblicher
Pflegebedürftigkeit bindet, existiert
nicht. Lediglich in Finnland gibt es
Pflegestufen, die aber tief ansetzen
(Mindestbedarf: ein Pflegediensteinsatz pro Woche) und bis zum
24-Stunden-Service reichen. Jeder
Einwohner, jede Einwohnerin hat
gegenüber der eigenen Kommune
und dem Staat ein Anrecht auf die
Unterstützungsdienste und sonstigen
Leistungen, die persönlich benötigt
werden, um ein hohes Maß an Selbständigkeit wie auch an gesellschaftlicher Teilhabe zu bewahren. Dies
unabhängig von der Verfügbarkeit
familiärer Ressourcen. Pflege und
soziale Betreuung durch Angehörige
und Freunde findet selbstverständlich auch hier statt. Weder rechtlich
noch moralisch gibt es dazu aber irgendeine Verpflichtung. Die zentrale
-34-
Verantwortung liegt beim Staat, nicht
bei der Familie.
In Tabelle 1 habe ich die wesentlichen Merkmale der unterschiedlichen Systemtypen schematisch
zusammengestellt. Zwar liegt hier
wie dort ein Mischsystem aus öffentlichen und privaten, aus formellen und informellen Leistungen vor.
Dies als Gemeinsamkeit anzusehen,
ginge aber fehl, da die Systemlogiken konträr sind. In Deutschland
haben öffentliche Leistungen eine
Ergänzungsfunktion zur Pflege durch
Angehörige und dem Einkauf von
Leistungen am Markt; im Norden
ist es umgekehrt. Dass Pflege in
Deutschland weiterhin primär ein
Privatgut ist, zeigt sich auch am Unterhaltsrecht. Dort, wo das eigene
Einkommen und die Leistungen der
Pflegeversicherung zusammen nicht
ausreichen, um bei stationärer Versorgung die Heimkosten zu tragen,
sind die Angehörigen, soweit leistungsfähig, zum Unterhalt verpflichtet. (4) Dies entfällt im Norden. Für
die Finanzierung gilt als Grundregel: Nursing- und Care-Leistungen
werden unabhängig vom Ort ihrer
Erbringung (eigene Wohnung, Pflegewohnung, Heim) öffentlich finanziert, Wohn- und Verpflegungskosten
allerdings sind aus der Rente zu bestreiten. Reicht diese nicht aus, übernimmt die Kommune die Differenz
und zahlt zudem ein Taschengeld.
Zentral ist das Prinzip der institutionellen Solidarität mit dem Staat als
Anker. Es tritt an die Stelle subsidiärer Leistungserbringung mit Anker
Familie und privaten Vorrangregeln
bei professionellen Diensten.
Politik
Inklusion
Tabelle 1: Systemmerkmale von deutschem und skandinavischem Pflegesystem im Vergleich.
Merkmal
Bezeichnung des
Grundtyps
Deutschland
Familienbasiert-subsidiär
Nordische Länder
Staatsbasiert-universalistisch
Dominante Leistungserbringung
der häuslichen Pflege (Langfristpflege)
Informell (Angehörige, ehrenamtlich Tätige) mit Unterstützung durch Pflegegelder;
Recht auf Wahl professioneller
Leistungen
Private, zunehmend privat-gewerbliche Dienstleister
Formell durch professionelle
Träger auf Basis einer verlässlichen kommunalen Infrastruktur; ergänzende Rolle
informeller Pflege
Dominant kommunale Leistungserbringung; Versorgungsanteil privater Anbieter
(Non-Profit und For-Profit)
noch klein, aber wachsend
Outcome-orientiert: Zielt auf
Qualität und Leistungspakete
gemäß dem Klientenbedarf
Struktur der professionellen
Leistungserbringer
Steuerungslogik
Finanzierung
Input-Orientiert: Zielt auf die
Geringhaltung der öffentlichen
Ausgaben und die Schaffung
hoher Hürden für Leistungsgewährungen
Öffentliche Teilfinanzierung;
Pflegeversicherung (beitragsfinanziert) ist keine Vollversicherung
Personalschlüssel
Überwiegend an Minutenpflege
ausgerichtet; Standardisierung
von Leistungen
Arbeitsbedingungen bei professionellen Diensten
Stark polarisiert; geringe Tarifbindung (Großteil des Bereichs
der Altenhilfe und Langfristpflege bewegt sich im Niedriglohnsektor)
Angehörige sind zum Unterhalt verpflichtet (Elternunterhalt
nach § 1601 BGB); subsidiär
greift die „Hilfe zur Pflege“ als
kommunale Sozialhilfeleistung.
Unterhaltsregelungen
Quelle: Eigene Darstellung
1.3 Öffentliches Pflegesystem als
wesentliche Säule des skandinavischen Wohlfahrtsregimes
Hinter den konträren Grundideen
stehen unterschiedliche Staats- und
Gesellschaftsmodelle. Im Norden
das Modell eines universalistischen
Wohlfahrtsstaates, das auf direkten
Beziehungen zwischen Staat und
Individuen gründet. In Deutschland
-35-
Überwiegend öffentliche
Bezahlung (steuerfinanziert);
geringe (DK, SE, NO) bis
mittlere (FI, IS) private Zuzahlungen
Orientiert an der Erfüllung
guter fachlicher Standards
(hohe Bedeutung von Pflegewissenschaft)
Wenig polarisiert; hohe Tarifbindung; geringer Anteil von
Niedriglohnbeschäftigung
Erwachsene Familienangehörige sind untereinander nicht
(mehr) unterhaltspflichtig;
Staat ist Adressat.
das Modell eines gegenüber der
Gesellschaft nur subsidiär tätigen
Staates, der den Finanzrahmen festlegt, innerhalb dessen ein System
der Selbstverwaltung von Kosten-
K
Politik
Inklusion
trägern und Leistungserbringern mit
der gesamtgesellschaftlichen Aufgabe betreut ist, die in Gesetzen
und Verordnungen niedergelegten
Rechtsvorschriften zur Ausführung zu
bringen.
Das im Norden andere Staatsverständnis hängt eng mit dem zusammen, was unter dem Stichwort
„Varieties-of-Capitalism“ diskutiert
wird. Die Grenzziehung zwischen
dem Wirtschaftsbereich, der durch
die Gesetze der kapitalistischen
Marktökonomie bestimmt ist und
dem Bereich, in dem auf Basis demokratischer Entscheidungen die
Produktion von Gütern und Dienstleistungen nicht dem Renditeprinzip
unterliegt, verläuft in Skandinavien
anders als in Deutschland. Mit Anteilen von mehr als einem Viertel der
Erwerbstätigen erreicht die Sphäre
öffentlich organisierter Produktion
kritische Schwellenwerte, was einerseits die Einflusszone der kapitalistischen Logik begrenzt, zugleich aber
auch einen Beitrag zur Geschlechtergleichstellung leistet. In Deutschland stellte der Staat als Arbeitgeber
(öffentlicher Dienst und staatliche
Unternehmen) vor dem Eintritt in die
neoliberale Phase zwar auch Anteile von gut einem Fünftel. Durch die
ab den 80er Jahren verfolgte Privatisierungspolitik wurde die staatliche
Leistungserbringung aber soweit
abgebaut, dass 2014 nur noch rd.
11 Prozent der Erwerbstätigen (4,65
Mio.) im öffentlichen Dienst beschäftigt waren (incl. öffentlicher Unternehmen: 14 - 15 Prozent). Im skandinavischen Raum ist die neoliberale
Phase zwar auch durch Unternehmensprivatisierungen und eine Stärkung des Gewichts von Marktkräften
geprägt. Gegenläufige Prozesse, im
Besonderen ist hier der Ausbau sozialer Dienste angesprochen, sorgten
jedoch dafür, dass auch dem Staat
bei der Schaffung von Arbeitsplätzen
weiter eine aktive Rolle zukam. Dies
am stärksten ausgeprägt in Norwegen und Dänemark, wo der öffentliche Sektor weiter wuchs und heute
(2013/2014) für mehr als ein Drittel
der Beschäftigung steht, während er
umgekehrt in Schweden bei 1,5 Mio.
Beschäftigten quasi eingefroren wurde, womit sein Beschäftigungsanteil
sukzessive auf jetzt noch rd. 28 Prozent absank (5).
Die hohe Bedeutung, die soziale
Dienste von der Wiege bis zur Bahre im skandinavischen Raum haben,
kommt Frauen aufgrund der Konzentration entsprechender Berufe
im öffentlichen Sektor in besonderer
Weise zugute. Die Kämpfe für eine
Verschiebung der geschlechtsspezifisch zwischen privater Häuslichkeit
und der Sphäre des Öffentlichen
gezogenen Grenzen mündeten in
die Ausprägung eines frauenfreundlichen Wohlfahrtstaates. „Reproduction goes public“ war das Stichwort,
unter dem seit den 60er Jahren bei
der Kinderbetreuung wie auch der
„Altenumsorgung“
(schwedisch:
Äldreomsorg) eine Defamiliarisierungsstrategie verfolgt wurde. Teile
der bislang familiär erbrachten Erziehungs- und Sorgearbeit wurden auf
den Staat übertragen mit Leistungserbringung durch kommunale Einrichtungen (6). Mit der Etablierung
einer öffentlichen Care-Infrastruktur
verfolgten die nordischen Länder
mehrere Ziele. Im Vordergrund standen die Beförderung der Geschlechtergleichstellung in der Arbeitswelt
und die bessere Vereinbarkeit von
Familie resp. privaten Interessen mit
beruflicher Tätigkeit. Dazu wurde die
Professionalisierung von Tätigkeiten
der Erziehung, sozialen Betreuung,
Pflege und Umsorgung auf den Weg
gebracht mit Schaffung von CareArbeitsplätzen auf unterschiedlichen
Qualifikationsniveaus. Die Pflege
durchlief einen Prozess der HalbAkademisierung, womit sie sich ein
eigenes wissenschaftliches Funda-
-36-
ment schuf und von der Unterordnung unter die Medizin emanzipierte, was wiederum, da sich Pflege und
Medizin zunehmend auf Augenhöhe
begegnen, den Weg freimachte für
innovative Versorgungskonzepte.
Eine parallele Entwicklung gab es in
der alten BRD nicht, vielmehr wirkten
und wirken hier Traditionslinien eines
konservativen Gesellschaftsmodells
fort, dessen Grundzüge bereits im
19 Jahrhundert ausgeprägt wurden
und auf die später der Neoliberalismus gut aufsatteln konnte. Das Bild
von der Familie als „Keimzelle des
Staates“ wird heute zwar kaum noch
bemüht, lebt in den Strukturen des
deutschen Pflegesystems jedoch fort.
In der Pflicht steht zunächst die eigene Familie. Auf sie folgt, anders als
bei der Kinderbetreuung, dann kein
öffentlich organisiertes Angebot,
sondern ein Quasi-Markt und das
Ehrenamt als Familienersatz. Erst am
Ende der Kette kommt der Staat als
Wächter und Ausfallbürge ins Spiel.
Bei der Erbringung sozialer Dienste
weist der konservative deutsche Sozialstaat den kirchlichen und sonstigen
frei-gemeinnützigen Trägern eine
Schlüsselstellung zu. Dies gilt für die
Kinderbetreuung in gleicher Weise
wie für die Altenpflege. Während es
jedoch bei Kindertagesstätten auch
aktuell noch eine gewisse Balance
zwischen frei-gemeinnützigen und
öffentlichen Trägerschaften gibt – rd.
ein Drittel der ErzieherInnen sind bei
kommunalen Arbeitgebern beschäftigt – haben sich Kommunen aus
dem Bereich der Altenpflege weitgehend zurückgezogen. (7) Hintergrund ist, dass mit der Schaffung der
Pflegeversicherung 1) der Grundsatz
„privat, auch privat-gewerblich geht
vor öffentlich“ durchgesetzt und diese neoliberale Verschärfung konservativer Subsidiaritätsvorstellungen 2)
verknüpft wurde mit der Vermarktlichung von Leistungen bei gleichzeitiger Durch-Ökonomisierung über
Politik
Inklusion
den Hebel eines äußerst restriktiv
gestalteten öffentlichen Finanzrahmens.
Politisch bezweckt und praktisch
durchgesetzt hat sich ein ruinöser
Kostensenkungswettbewerb, der die
neu aufs Spielfeld getretenen gewerblichen Träger zu Gewinnern
machte und macht. 1999 dominierten gewinnorientierte Träger bei ambulanten Diensten nur in 2 Bundesländern (Berlin und Hamburg), 2013
aber in 11 Bundesländern, darunter
alle östlichen Bundesländer. Auch
im stationären Bereich sind sie auf
dem Vormarsch und dominieren bereits in 5 Bundesländern (SchleswigHolstein, Niedersachsen, Hessen,
Hamburg, Berlin). Ein öffentliches
Angebot existiert in vielen Gemeinden gar nicht mehr. Entfielen 1999
noch 11,2 Prozent der Heimplätze
auf öffentliche Einrichtungen, waren
es 2013 nur noch 5,8 Prozent. Auch
in Thüringen hat sich das Gewicht
der kommerziellen Anbieter verdoppelt (1999: 17,3%; 2013: 34,3%)
und das der öffentlichen Träger halbiert (1999: 16,8%; 2013: 8%).
Erläuterung zu Abb. 1:
Eingeflossen sind bei Deutschland
die Daten der Pflegestatistik von
Ende 2013 (Statistisches Bundesamt
2015), bei den nordischen Ländern
letztverfügbare Daten des Zeitraums
2012 – 2014, ergänzt um Schätzwerte (zur Angehörigenpflege etwa
liegen für die nordischen Länder nur
eingeschränkt Daten vor); eigene
Darstellung.
Prozesse der Vermarktlichung und
der Privatisierung sind auch in den
skandinavischen Ländern zu beobachten. Der Ausgangspunkt (kommunales Versorgungsmonopol) ist
freilich ein anderer und das Voranschreiten (bislang) nicht flächendeckend. Privatisierungsvorreiter war
Schweden, wo neoliberale Politik
bereits Anfang der 90er Jahre eine
Öffnung der Versorgung für auch
renditeorientierte Akteure erzwang.
Dies bei Kitas genauso wie bei der
Umsorgung Älterer. Es folgte Finnland, dann (ab 2003) Dänemark und
zuletzt (ab 2013) auch Norwegen.
Mit dem Aufbrechen der Einheit von
Finanzierung und Leistungserbringung werde die Leistungserbringung
effizienter und transparenter, lautete
das Versprechen. In Schweden, wo
Privatisierung und Vermarktlichung
am weitesten vorangetrieben wurde, sind die Ergebnisse bestenfalls
ambivalent. Individuell gibt es nun
mehr Wahlrechte, gesellschaftlich
aber wuchs die soziale Segregation.
Auch die Hoffnung auf dauerhafte
Kostenersparnisse trog. Nur in der
Anfangsphase gab es Einsparungen,
die aber schnell durch die Kosten für
Ausschreibungsverfahren und den
nun erhöhten Kontroll- und Steuerungsaufwand aufgezehrt wurden.
Aus kritischer Perspektive haben Privatisierung und Kommerzialisierung
bereits ein bedenkliches Ausmaß
erreicht. Gemessen an Deutschland
gleichwohl ist der Kommerzialisierungsgrad noch gering (SE, FI) bis
eher (DK) oder sehr gering (IS, NO).
Abbildung 1 verdeutlicht dies. Die
Systemprofile sind klar anders gerichtet. Wie ersichtlich neigt sich das
skandinavische
Durchschnittsprofil in Richtung formeller Pflege, die
öffentlich finanziert und auch überwiegend öffentlich erbracht wird.
Das Profil von Deutschland dagegen
weist schon bei der Finanzierung
eine eher schwache öffentliche Prägung aus; die Leistungserbringung
wiederum erfolgt fast ausschließlich
privat durch entweder Angehörige
oder private, zunehmend privat-gewerbliche Dienstleister.
2. Alternde Gesellschaften
- eine Herausforderung für Gesundheitsförderung und politisch
gestaltete Teilhabe am Gemeindeleben
In Skandinavien wie auch in
Deutschland leben wir in einer alternden Gesellschaft. Tendenziell ist
hier die Altersgruppe der über 65Jährigen stärker besetzt als die der
unter 20-Jährigen, und gleichzeitig
wächst der Anteil Hochaltriger an
Abbildung 1: Systemprofile im Vergleich
-37-
K
Politik
Inklusion
der Wohnbevölkerung zu einer relevanten Größe heran. Der Grad der
Alterung freilich differiert. Während
in Deutschland rd. 21 Prozent 65
Jahre und älter sind, liegt der Anteil
der 65+-Bevölkerung in den nordischen Ländern bei geringeren 12
(Island) bis 19 Prozent (Finnland und
Schweden). Nur in Finnland liegt
ein mit Deutschland vergleichbarer
Alterungsprozess vor; der Anteil der
ab 75-Jährigen stieg von 1995 bis
2013 mit 45,6 Prozent ähnlich stark
wie in Deutschland (+ 57,9%). Diesem Muster rascher Alterung stehen
in Dänemark und Schweden geringe Anstiege des Bevölkerungsanteils der ab 75-Jährigen von 3 bis 4
Prozent sowie ein moderater Anstieg
von 27 Prozent in Island gegenüber,
während Norwegen sogar einen
Rückgang (- 5,1%) verzeichnet. Die
norwegische Gesellschaft folgt nur
bedingt dem Muster einer alternden
Gesellschaft; der Altersaufbau blieb
während der zurückliegenden beiden Dekaden weitgehend stabil. (8)
Die abgesehen von Finnland im
Norden schwächer ausgeprägte Alterungstendenz gründet wesentlich
auf einer langjährig höheren Geburtenrate. In den 80er Jahren sank
die Geburtenrate zwar auch im Norden. Die breite Palette an Maßnahmen, mit denen der Staat auf einer
verlässlichen Basis für Rahmenbedingungen sorgt, durch die Frauen
wie Männer bei der Erziehung und
Betreuung von Kindern wirksam unterstützt werden, haben jedoch für
einen Wiederanstieg gesorgt. Nach
Tiefpunkten in den 80er Jahren – die
Geburtenrate sank auf Werte von
1,4 bis 1,5 Kindern pro Frau im gebärfähigen Alter – folgte in den 90er
Jahren ein Anstieg auf Werte von 1,7
bis 1,9 Kindern. Deutschland umgekehrt blieb bei Geburtenraten von
1,3 bis 1,4 hängen. Zwar verzeichnet Deutschland im Zusammenhang
mit der Einführung von Elterngeld
und dem Ausbau der Kinderbetreuung neuerdings auch einen Anstieg
auf über 1,4, vom skandinavischen
Durchschnittsniveau, das in den
90er wie den Nuller Jahren bei jeweils knapp unter 1,9 lag, ist dies
aber weit entfernt. (9)
Aus dem Altern der Gesellschaft erwächst gleichermaßen für den konservativen deutschen Sozialstaat wie
für die universalistische skandinavische Wohlfahrtsstaatlichkeit die Herausforderung, der stark wachsenden
Gruppe von Älteren bis Hochaltrigen auf einer verlässlichen Grundlage die Pflege, soziale Betreuung und
Alltagsunterstützung zukommen zu
lassen, die individuell benötigt wird,
um möglichst lange ein eigenständiges Leben in Würde und bei guter
Gesundheit führen zu können. Während die skandinavischen Länder mit
ihrer gut ausgebauten öffentlichen
Infrastruktur bereits über Systeme
verfügen, die nicht nur wenig abhängig sind von der Verfügbarkeit
familiär-unentgeltlicher
Ressourcen, sondern aufgrund des hohen
Professionalisierungsgrades
auch
ausreichend Know-how binden, um
die Inklusionsaufgabe, die sich aus
der absolut starken Zunahme von
Menschen mit kognitiven Störungen
ergibt, gut angehen zu können, gilt
Vergleichbares für Deutschland nicht.
Da das deutsche System (vgl. Tab. 1)
inputorientiert auf geringe öffentliche
Ausgaben hin gesteuert ist, fehlen
schon rein finanziell die Mittel, die
für die Umsetzung anspruchsvoller
pflegerischer Konzepte bei gleichzeitig ordentlichen Arbeitsbedingungen erforderlich wären. Auch die
von starker Kommerzialisierung und
Ökonomisierung geprägten Strukturen stehen integrierten pflegerischen
Ansätzen entgegen.
Nachfolgend will ich die Unterschiede aus der Perspektive unterstützungsbedürftiger älterer Menschen
einer näheren Betrachtung unterzie-
-38-
hen. Ich starte mit der Frage, inwieweit den persönlichen Bedarfslagen
tatsächlich Rechnung getragen wird,
um dann den Bereich „Prävention,
Gesunderhaltung und gesellschaftliche Teilhabe“ etwas auszuleuchten.
In der geringen Präventionsorientierung und der Zerstückelung statt
Bündelung von Leistungen liegt eine
besondere Schwäche des deutschen
Systems. Sie kommt in einer alternden Gesellschaft, wo es Menschen
mit mehreren Einschränkungen
gleichzeitig zu tun haben, zunehmend negativ zum Tragen.
2.1 Niedrigschwelliger Zugang
und Ausrichtung am persönlichen Bedarf
„Jeder hilfe- und pflegebedürftige
Mensch hat das Recht auf eine an
seinem persönlichen Bedarf ausgerichtete, gesundheitsfördernde und
qualifizierte Pflege, Betreuung und
Behandlung“ (Pflegecharta 2005,
Artikel 4).
Nicht nur die Pflegecharta von 2005,
sondern auch die einschlägigen gesetzlichen Regelungen, vom Pflegeversicherungsrecht (SGB XI) bis zu
den Heimgesetzen der Bundesländer proklamieren eine Leistungsgewährung gemäß persönlichem Bedarf. Dieses Leistungsversprechen
bricht sich aber an den Regeln,
nach denen das deutsche System
der Langfristpflege tatsächlich funktioniert und auf die ich oben bereits
eingegangen bin. Hiernach geht es
darum, den Kreis der Leistungsempfänger möglichst gering und die bei
Inanspruchnahme
professioneller
Pflege gewährten Leistungspakete in
ein so enges Zeitkorsett zu pressen,
dass mit geringen Vergütungen ein
maximales Leistungsvolumen bewältigt werden kann.
Der Geringhaltung des Kreises der
nach dem Gesetz Leistungsberechtigten dient es zunächst einmal,
dass die Pflegebedürftigkeit ein er-
Politik
Inklusion
hebliches Ausmaß erreichen muss
(täglicher Unterstützungsbedarf von
mindestens 90 Minuten). Kleinere Bedarfe gehen leer aus. Dann
kommt zum Tragen, dass das Raster,
anhand dessen der tägliche Unterstützungsbedarf gemessen wird, eng
auf körperliche Defizite zugeschnitten ist. Die Reduktion des Pflegebedarfs auf basale Grundfunktionen
ermöglicht die Durchrationalisierung
als Minutenpflege, was Marktfähigkeit bei geringen öffentlichen Ausgaben sichert. Am tatsächlichen Bedarf
geht die Eingrenzung auf Hilfe bei
Verrichtungen der Körperpflege, der
Bewegung und der Nahrungsaufnahme in doppelter Hinsicht vorbei.
Erstens, weil in der Konsequenz die
mit dem demografischen Wandel
wachsende Gruppe derjenigen ausgegrenzt bleibt, bei denen die Einschränkungen aus sozialer Isolation,
beginnender Demenzerkrankung,
gelegentlicher
Altersverwirrtheit
oder einer eingeschränkten Fähigkeit, den eigenen Alltag zu bewältigen, herrühren. Zweitens, weil unter
den anerkannt Pflegebedürftigen
die Gruppe derjenigen wächst, die
zusätzlich zu den körperlichen Gebrechen auch noch kognitiv beeinträchtigt ist, ohne dass dies in der
pflegerischen Arbeit im gebotenen
Umfang berücksichtigt würde. Die
Ausgrenzung findet sachlich keine
Begründung. Seit längerem schon
wird deshalb um eine Erweiterung
des Pflegeverständnisses gerungen.
Ein vom Bundesgesundheitsministerium 2006 eingesetzter Beirat legte
2007 einen Vorschlag für einen neuen Pflegebegriff und ein geändertes
Begutachtungsinstrument vor. Als
Maßstab der Pflegebedürftigkeit soll
danach zukünftig die Selbständigkeit
einer Person fungieren. Pflegebedürftig sind dann Menschen, „deren Selbständigkeit bei Aktivitäten
im Lebensalltag, beim Umgang mit
Krankheiten oder bei der Gestaltung
wichtiger Lebensbereiche aus gesundheitlichen Gründen dauerhaft
oder vorübergehend beeinträchtigt
ist“. (10) Immer wieder, und zwar
letztlich aus Kostengründen, haben
Bundesregierungen unterschiedlicher
politischer Couleur die Umsetzung
verschleppt. Das Ende 2015 verabschiedete Zweite Pflegestärkungsgesetz (11) sieht nun vor (§ 17a), dass
ab 2017 ein Pflegebedürftigkeitsbegriff zur Anwendung kommt, der die
Selbständigkeit einer Person in den
Mittelpunkt rückt; die Einstufung soll
von 3 Pflegestufen auf dann 5 Pflegegrade erweitert werden.
Ist diese Reform nun ein Meilenstein,
mit dem das Ende der berüchtigten
Minutenpflege eingeläutet wird?
Keineswegs. Die Reform beendet
die Diskriminierung der Menschen,
die nicht wegen körperlicher Gebrechen, sondern wegen kognitiver
Einschränkungen
unterstützungs-
Tabelle 2: Empfänger formaler Pflegeleistungen in % der gleichaltrigen Bevölkerung im deutsch-skandinavischen
Vergleich 2013
DE
DK
FI
IS
NO
SE
Bevölkerung 65+ (1.1.2014): % der
Wohnbevölkerung
20,8
18,2
19,4
13,2
15,9
19,4
Leistungsempfänger im Alter von 65+ (NO: 67+) an gleichaltriger Bevölkerung (%)
Häuslich/ambulant
3,3
12,7
10,4
20,2
16
11,9
Institutionell/stationär
4,5
4,1
4,8
1)
5,7
5,7
Pflegequote insgesamt
7,8
16,8
2)
21,7
17,9
Leistungsempfänger im Alter von 75+ (IS und NO: 80+) an gleichaltriger Bevölkerung (%)
Häuslich/ambulant
5,9
25,1
19,9
44,4
33,4
31,9
Institutionell/stationär
8,2
10,2
9,8
1)
13,8
17,3
Pflegequote insgesamt
14,1
35,3
2)
47,2
49,2
Legende: DE = Deutschland, DK = Dänemark; FI = Finnland; IS = Island, NO = Norwegen, SE = Schweden
1) Die isländischen Heimstatistik reicht nur bis 2010; daher keine Angabe.
2) In Finnland fehlt eine konsolidierte Gesamtstatistik. Daher sind hier nur die EmpfängerInnen von Home-Help-Leistungen erfasst; von der
Angabe einer Gesamtpflegequote wird abgesehen.
Quellen: Bevölkerungsdaten von Eurostat (Bevölkerung am 1. Januar nach Altersgruppe und Geschlecht [demo_pjanbroad]; Update vom
21.10.2015); Leistungsdaten: Nationale Statistikämter (vgl. bei Heintze 2015)
-39-
K
Politik
Inklusion
bedürftig sind. Dies ist ein überfälliger Schritt. Schätzungen zufolge
erweitert sich der Kreis der regulär
Leistungsberechtigten in der Konsequenz um rd. 20 Prozent; statt 2,6
Mio. hätte es Ende 2013 3,1 Mio.
Pflegebedürftige gegeben. Da es
jedoch oberstes Ziel der deutschen
Politik bleibt, den Beitragssatz zur
Pflegeversicherung möglichst gering
zu halten, hat sich die Große Koalition der Ausfinanzierung der Reform
verweigert. Nur um magere 0,2 Prozentpunkte auf 2,55 Prozent steigt
ab dem 1.1.2017 der Beitragssatz.
Danach ist keinerlei Dynamisierung
vorgesehen; der Beitragssatz soll bis
zum Jahr 2022 stabil bleiben. Die
Mini-Erhöhung bringt lediglich rd.
2,3 Mrd. Euro – viel zu wenig für
eine gute Umsetzung. Wer nach altem Recht eingestuft ist, genießt zwar
Bestandsschutz, braucht Leistungskürzungen also nicht zu fürchten.
Unter denjenigen jedoch, die unter
das künftig geänderte Begutachtungsverfahren fallen, wird es auch
Verlierer geben, die sich mit dem
neuen Recht schlechter stellen. Ganz
zu schweigen von der Umsetzung
pflegerischer Konzepte, die gleichermaßen an körperliche wie kognitive
Einschränkungen adressiert sind. Mit
der vorgesehenen Schaffung von
20.000 Stellen für Betreuungskräfte wird eine Scheinverbesserung auf
den Weg gebracht. Vom ganzheitlich
personenzentrierten
Pflegeansatz
droht Betreuung abgespalten und
zu einer Aufgabe für Billigkräfte und
freiwillig Tätige gemacht zu werden.
Auch in den nordischen Ländern
existieren Begutachtungsverfahren.
Die dort von den Kommunen durchgeführten Pflege-Assessments folgen
jedoch einer anderen Philosophie. Es
geht darum, dem älteren Menschen
die sozialen, alltagspraktischen und
medizinisch-pflegerischen Hilfeleistungen zukommen zu lassen, die
für die Gesunderhaltung und ein
möglichst selbstbestimmtes Leben
erforderlich sind. Leistungspakete
von wöchentlich wenigen Stunden
sind die Regel; ebenso möglich ist
jedoch auch ein 24-Stunden-Service. Obwohl Multimorbidität bei
Älteren – siehe Abbildung 2 – weniger verbreitet ist als in Deutschland,
liegt der Prozentsatz Älterer, die formelle Leistungen erhalten, vielfach
so hoch. Aktuell (Zeitraum 2012
– 2014) sind es im Schnitt mehr als
12 Prozent der ab 65-Jährigen verglichen mit 3,3 Prozent in Deutschland und mehr als 25 Prozent der ab
75-Jährigen verglichen mit knapp 6
Prozent in Deutschland, die permanente häusliche Unterstützung erhalten. Die institutionelle Versorgung
in Heimen oder Pflegewohnungen
kommt hinzu, lässt sich aber nicht
immer klar trennen, weil Leistungen
in sowohl Dänemark wie Schweden
unabhängig von der Wohnform sind.
Die höchste und seit mehr als einer
Dekade unverändert hohe häusliche
Versorgungsquote findet sich in Island. Ein stabiler Anteil von einem
guten Fünftel der 65+-Bevölkerung
und von etwas mehr als zwei Fünfteln
der 80+-Bevölkerung erhält kommunale Home-Help-Leistungen. Am
niedrigsten ist die Versorgungsquote
in Finnland.
Die im Norden höheren formellen Pflegequoten sind nicht nur die
Kehrseite der geringeren Bedeutung familiärer Pflege, sondern resultieren auch aus den geringeren
Zugangshürden und der stärkeren
Integration von Einzelleistungen.
Dem tatsächlichen Bedarf wird so
besser Rechnung getragen. Phasen
von eher restriktiver Leistungsgewährung gibt es auch hier; aktuell etwa
in Dänemark, wo nach einem Höhepunkt in 2009/2010 die Quote
der Leistungsbezieher deutlich sank.
Im Großen und Ganzen freilich gilt:
Pflege nach persönlichem Bedarf
-40-
wird nicht nur proklamiert, sondern
in der Realität zur Wirkung gebracht.
Dass die benötigten Care-Leistungen weitgehend kostenfrei sind und
die Organisierung der Leistungen
nicht an den Pflegebedürftigen resp.
an deren Familien hängt, sichert dabei die Niedrigschwelligkeit des Zugangs.
2.2 Prävention, Gesunderhaltung
und gesellschaftliche Teilhabe
In einer alternden Gesellschaft geht
es zunehmend nicht mehr um die
reine Quantität der Jahre, die Menschen nach dem Erwerbsleben noch
vor sich haben. Entscheidend ist, wie
sich gesunde Lebensjahre und die
Lebensjahre, die von chronischen
Erkrankungen geprägt sind, zueinander verhalten. Davon nämlich
hängt die Lebensqualität wesentlich
ab. Medial begegnen wir dem Bild
von den Senioren, die auch im hohen Alter noch körperlich und geistig
fit sind. Ausgeprägt als Norm wird
so die Vorstellung vom gesunden
Altern. Mit gewissen Abstrichen bei
Dänemark und Finnland trifft dies
die Entwicklung in Skandinavien,
nicht aber in Deutschland. Die von
Eurostat für Frauen und Männer im
Alter von 65 Jahren jährlich kalkulierten gesunden Lebensjahre (12)
liefern ein besorgniserregendes Bild.
Abbildung 2 macht dies deutlich. Sie
stellt für Frauen wie Männer im Alter
von 65 Jahren zu je zwei Zeitpunkten (2005 und 2013) die Aufteilung
nach gesunden und multimorbiden
Lebensjahren dar. Zunächst ist festzuhalten, dass die Lebenserwartung
in allen Vergleichsländern gestiegen
ist, und zwar bei Männern stärker als
bei Frauen.(13) Diese übergreifende
Gemeinsamkeit fußt bei der Gesunderhaltung jedoch auf gegenläufigen
Prozessen. In Deutschland dominiert
im Alter die Mehrfachbetroffenheit
von chronischen Erkrankungen; weit
weniger als die Hälfte der verblei-
Politik
Inklusion
benden Lebensjahre entfällt auf gesunde Jahre. Im Zeitpunktvergleich
ist das Gewicht gesunder Jahre bei
beiden Geschlechtern zwar etwas
gestiegen, erreicht 2013 bei Männern gleichwohl nur einen Anteil von
38,5% (2005: 37,9%) und bei Frauen von 33,3% (2005: 29,4%). Der
realisierte Zuwachs an Lebensjahren
basiert nur teilweise auf einem Anstieg der gesunden Lebensjahre. Abgesehen vom dänischen Sonderfall,
wo ein Zurückbleiben der Lebenserwartung zusammentrifft mit einem
zwar weiter hohen, aber rückläufigen
Anteil gesunder Jahre, basiert in den
vier anderen nordischen Ländern
die Steigerung der Lebenserwartung
primär auf der Expansion gesunder
und der Kompression multimorbider
Lebensjahre. Die Lebenserwartung
der im Jahr 2013 65-jährigen Frauen lag um ein halbes Jahr höher als
die der Frauen, die 2005 65 Jahre
alt geworden waren. Gleichzeitig
jedoch ist bei den gesunden Jahren
ein Zuwachs von im Schnitt 2,6 Jahren zu registrieren. Bei den Männern
zeigt sich der übergreifende Trend in
Richtung einer gewissen Einebnung
der Geschlechterdifferenzen darin,
dass das Plus bei der Lebenserwartung mit 0,9 Jahren fast doppelt so
hoch ausfällt wie bei den Frauen. Die
Aufteilung nach gesunden und multimorbiden Jahren folgt aber dem
gleichen Muster wie bei den Frauen.
Der Zuwachs an gesunden Jahren
fällt mit 2,4 Jahren mehr als doppelt
so hoch aus wie der Zuwachs bei
der Lebenserwartung insgesamt. In
der Einzelbetrachtung liefern Island
und Norwegen noch vor Schweden
die besten Werte. Dies nicht nur im
innerskandinavischen, sondern auch
im breiten europäischen Vergleich.
Unter 30 (31) europäischen Ländern
belegten 2013 (2012) bezogen auf
das Niveau gesunder Lebensjahre
Island, Norwegen und Schweden
sowohl bei Frauen wie bei Männern
jeweils die ersten drei Plätze; Dänemark folgte 2013 bei den Frauen
auf Platz vier und bei den Männern
hinter Malta auf Platz 5, Finnland
rangiert im Mittelfeld und Deutschland weit abgeschlagen unter eher
den Schlusslichtern. Nur die osteuropäischen Länder schneiden noch
schlechter ab.
Der Befund wirft kritische Fragen
auf, die 1) an das Gesundheitssystem und 2) an die Lebens- und
Arbeitsbedingungen insgesamt zu
adressieren sind. Wie wichtig die
Lebens- und Arbeitsbedingungen
sind, ergibt sich aus epidemiologischen Studien. Gerne wird die
Steigerung der Lebenserwartung primär dem medizinischen Fortschritt
zugeschrieben. Tatsächlich jedoch
stieg die durchschnittliche Lebenserwartung bereits seit der Mitte des
19. Jahrhunderts und damit vor der
Entwicklung der modernen Medizin.
(14) Entscheidend war die soziale
Entwicklung von der Abschaffung
der Kinderarbeit, der Realisierung
von Arbeitszeitverkürzungen und der
Verbesserung der Wohnverhältnisse
bis zur Entwicklung von Systemen
sozialer Sicherung. Medizin also ist
bedeutsam, liefert aber nur eine Teilerklärung.
Abbildung 2: Lebenserwartung 65-Jähriger nach gesunden und multimorbiden Jahren 2005
und 2013
Legende: IS = Island; FI = Finnland; NO = Norwegen; SE = Schweden; DE = Deutschland;
DK = Dänemark
Quelle: Eurostat, Datenbestand „Gesunde Lebensjahre (ab 2004) [hlth_hlye]“; Update
13.05.2015
-41-
K
Politik
Inklusion
Das deutsche Gesundheitssystem
ist weniger auf Gesundheit, als
auf Krankheit hin orientiert. Es ist
dort sehr leistungsfähig, wo es um
die Akutversorgung von Kranken,
um Hochleistungsmedizin und die
Durchführung operativer Eingriffe
geht, seien diese nun medizinisch
angesagt oder nicht. Mit chronischen Erkrankungen angemessen
umzugehen, zumal wenn mehrere
zusammen kommen, gehört nicht zu
den Stärken des deutschen Systems.
Ebenso wenig die Prävention. In einer alternden Gesellschaft erwächst
daraus ein Problem. Hier nämlich
kommt es zu einer Verschiebung bei
den Krankheitsbildern hin zu chronischen Erkrankungen wie Rheuma,
Diabetes Typ II, Herz-Kreislauferkrankungen oder Demenz. Während es
bei akuten Erkrankungen meist klare
Ursachen gibt, basieren chronische
Erkrankungen auf der Interaktion
von anlagebedingt erhöhten Risiken
mit ökosozialen Umweltbedingungen und individuell unterschiedlich
gesunden Lebensstilen. Ehe chronische Erkrankungen manifest werden,
vergehen Jahre und Jahrzehnte. Ziel
vorausschauender
Gesundheitspolitik muss es daher sein, auf der
gesellschaftlichen wie der individuellen Ebene Risikofaktoren abzuschwächen und Schutzfaktoren so zu
stärken, dass der Krankheitseintritt
entweder vermieden oder zeitlich hinausgeschoben wird.
Dass dies in den nordischen Ländern
besser gelingt als in Deutschland
ist offensichtlich. Die Gründe sind
komplex und können hier nur grob
angedeutet werden. Während in den
skandinavischen Ländern die primäre
medizinische Versorgung von Hausärzten (Dänemark und Norwegen)
oder Gesundheitszentren (Finnland,
Island, Schweden) geleistet wird und
Ärzte, die auf Einzelorgane spezialisiert sind (Fachärzte), erst auf der
sekundären Versorgungsebene zum
Einsatz kommen, besteht in Deutschland eine doppelte Facharztschiene.
Der angemessenen Versorgung von
Menschen mit Mehrfacherkrankung
ist dies wenig förderlich. Notwendig
wären übergreifende Strategien, bei
denen nicht die Einzelerkrankungen je isoliert behandelt werden,
sondern der ganze Mensch in den
Blick genommen wird. Damit dies
gelingt, bedarf es integrierter Strukturen, die eine auf Jahre angelegte
qualitätsgesicherte,
multidisziplinäre und sektorenübergreifenden
Behandlung nach dem jeweils neuesten Stand des medizinischen und
pflegerischen Wissens ermöglichen.
Derartige Strukturen hatte es in der
untergegangenen DDR gegeben;
im wiedervereinigten Deutschland
gibt es sie bislang kaum. Die starke Ökonomisierung und Vermarktlichung des Gesundheitswesens
verschärft das Problem. Sie belohnt
nicht die Versorgung, mit der Patienten trotz Krankheit auf Dauer eine
zufriedenstellende
Lebensqualität
erreichen können, sondern die Versorgung, die mit Blick auf den Absatz von Medikamenten, den Einsatz
medizinischer Technik usw. finanziell
lukrativ ist. Die öffentlichen Gesundheitsdienste der nordischen Länder
haben bei der Hochleistungsmedizin
vielleicht nicht das Niveau, das in
Deutschland aus der engen Spezialisierung erwächst, sind im Umgang
mit den sich ausbreitenden chronischen Krankheiten jedoch deutlich
im Vorteil. Strukturen und Anreizmechanismen begünstigen multiprofessionelles Zusammenwirken. In
Deutschland umgekehrt wird wirksame Kooperation durch institutionalisierte Sektorengrenzen und tradierte
Berufsstrukturen behindert. Die starke Medizinlastigkeit kommt hinzu.
Bis heute konnten sich pflegerische
und therapeutische Berufe aus der
subalternen Rolle, „Magd der Medizin“ zu sein, nicht wirklich eman-
-42-
zipieren. Demgegenüber erfuhren
sie im skandinavischen Raum durch
Prozesse der Akademisierung eine
reale Aufwertung, die es ermöglicht,
dass sich medizinische, pflegerische
und therapeutische Fachkräfte auf
Augenhöhe begegnen.
„(1) Die Pflegekassen wirken bei
den zuständigen Leistungsträgern
darauf hin, daß frühzeitig alle geeigneten Leistungen der Prävention,
der Krankenbehandlung und zur medizinischen Rehabilitation eingeleitet
werden, um den Eintritt von Pflegebedürftigkeit zu vermeiden.
(2) Die Leistungsträger haben im
Rahmen ihres Leistungsrechts auch
nach Eintritt der Pflegebedürftigkeit
ihre Leistungen zur medizinischen
Rehabilitation und ergänzenden
Leistungen in vollem Umfang einzusetzen und darauf hinzuwirken, die
Pflegebedürftigkeit zu überwinden,
zu mindern sowie eine Verschlimmerung zu verhindern.“ (SGB XI, § 5
i. d. F. vom 15.7.2013)
Vordergründig werden Prävention
(15), Gesunderhaltung und gesellschaftliche Teilhabe in Deutschland
sehr groß geschrieben. Im Pflegeversicherungsrecht gilt der Vorrang von
Prävention und Rehabilitation schon
lange und die Gesetze, die in den
letzten Jahren in den Bundesländern
an die Stelle der alten Heimgesetze traten, sehen sich durchweg der
Stärkung gesellschaftlicher Teilhabe
verpflichtet. So auch das Thüringer
Wohn- und Teilhabegesetz vom 10.
Juni 2014. Erneut jedoch ergibt die
nähere Analyse, dass es nicht entscheidend ist, welchen Zweck und
welche Ziele ein Gesetz proklamiert,
sondern ob der für die Umsetzung
gewählte Weg geeignet ist, die Ziele in der Breite tatsächlich zu erreichen.
Betrachten wir zunächst den gesetzlich normierten Präventionsvorrang.
In der Praxis geht er weitgehend ins
Leere. Dafür gibt es ineinander grei-
Politik
Inklusion
fende Gründe. In Heimen z.B. sind
rd. zwei Drittel der BewohnerInnen
dementiell erkrankt. Soweit sie sich
noch gut selbständig bewegen können, wollen sie ihren Bewegungsdrang auch ausleben und benötigen
entsprechend mehr Aufmerksamkeit,
damit personelle Zuwendung als
diejenigen, die in ihrer Mobilität so
eingeschränkt sind, dass sie fast nur
herumsitzen. In den meisten Heimen
reicht das Personal aber ohnehin
nur für das Nötigste. Reserven für
ein Mehr an personeller Zuwendung
gibt die Personaldecke nicht her,
womit auch das Interesse der Heimbetreiber an einer Verbesserung der
Mobilität der HeimbewohnerInnen
beschränkt bleibt. Die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen wiederum haben in die Finanzierung der
Heimunterbringung die Mittel, die
ihnen für eine bestimmte Pflegestufe
zustehen, fest eingeplant; eine niedrigere Einstufung wollen sie vermeiden, weil dies weniger Geld von der
Pflegekasse bedeuten würde. Die
Pflegekassen schließlich sind selbst
gar nicht Träger präventiver und rehabilitativer Maßnahmen. Zuständig
sind bei den nicht mehr Erwerbstätigen die Krankenkassen. Diese aber
haben kaum einen ökonomischen
Anreiz, denn sie müssten mit Ausgaben in Vorleistung gehen, deren
Nutzen dann bei den Pflegekassen
anfiele. Nur in der stationären Versorgung werden folglich überhaupt
gewisse präventive Ausgaben getätigt. Im Vergleich mit dem, was im
Norden investiert wird, fallen sie
mehr als kümmerlich aus. Auf Einwohner bezogen sind es seit Jahren
nur um die 6 Euro (2007: 6,2 Euro;
2012: 6,4 Euro) verglichen mit umgerechnet über 100 Euro in Dänemark oder Norwegen.
Prävention ergo findet im deutschen
System bestenfalls punktuell, keinesfalls aber systematisch statt. In Skandinavien dagegen ist der Ausbau
von Maßnahmen der Aktivierung
und Prävention so vorangekommen,
dass es nahe liegt, ein systematisches Vorgehen anzunehmen. Die
Kommunen haben ihre Ausgaben
für präventive und aktivierende Maßnahmen in den letzten Jahren enorm
gesteigert und im Gegenzug teilweise die Ausgaben für die Langfristversorgung gedämpft. So Dänemark.
Während die kommunalen Ausgaben für Care-Dienste von 2007 bis
2014 nominal nur um 11,5 Prozent
stiegen, verdreifachten sich die Ausgaben für „Preventive effort for the
elderly and handicapped“ von 2,3
Mio. DKK auf 7,1 Mio. DKK. Auf
Euro umgerechnet wurden 2007
je Einwohner 57 Euro (65+EW:
374 Euro), 2013 aber 153 Euro
(65+-EW: 857 Euro) eingesetzt. In
Skandinavien rechnet es sich für die
Kommunen, wenn sie in die Erhaltung und Wiederherstellung guter
Gesundheit investieren, denn den
Mehrausgaben für Prävention stehen
– zeitlich versetzt – Einsparungen bei
der Krankenversorgung und Langfristpflege gegenüber. In Deutschland umgekehrt führt das Fehlen
übergreifender Verantwortlichkeiten
dazu, dass Prävention in der Breite
keine Chance hat, solange die Politik davon absieht, klare Vorgaben zu
machen. Dies versucht sie nun mit
dem Präventionsgesetz vom 24. Juli
2015 (BGBl. I Nr. 31, S. 1368). Das
Gesetz formuliert hohe Ansprüche,
etwa durch Vorgaben für die Einbringung der Gesundheitsförderung
in die Lebenswelten der Menschen,
die Entwicklung einer Nationalen
Präventionsstrategie und die Einrichtung einer Nationalen Präventionskonferenz. Allzu viel dürfen wir
uns davon aber auch weiterhin nicht
versprechen. Staatliche Interventionen für eine gesundheitsförderliche Arbeitswelt sind ebenso wenig
vorgesehen wie eine angemessene
Dotierung. Ein Fortschritt ist es, dass
-43-
die Pflegekassen bei der stationären
Versorgung zu Trägern präventiver
Maßnahmen werden mit der Vorgabe zusammenzuwirken und pro
Versichertem im Jahr 2016 30 Cent
einzusetzen. Bezogen auf die bei der
Sozialen Pflegeversicherung im Jahr
2015 70,58 Mio. Versicherten steht
damit ein Budget von gerade einmal 21,2 Mio. Euro zur Verfügung.
Umgerechnet auf die Pflegebedürftigen, die stationär versorgt werden,
sind dies jährlich pro Kopf knapp
28 Euro.
Einerseits ist zu begrüßen, dass es
nach Jahren bloßer Ankündigungen
endlich ein Präventionsgesetz gibt,
das den Bereich der Langfristpflege mit umfasst. Andererseits jedoch
dürften sich die damit verknüpften
Erwartungen kaum erfüllen. Dagegen steht erstens, dass die vorgesehenen Finanzierungsmittel eine
auf nachhaltige Wirkungen hin angelegte Präventionsarbeit gar nicht
erlauben. Dagegen stehen aber
auch die gegebenen Wettbewerbsstrukturen und zersplitterten Verantwortlichkeiten. Der Unterschied
zu den nordischen Ländern besteht
eben nicht nur in den dort vielfach
so hohen öffentlichen Ausgaben.
Auch die Chance auf einen zielgerichteten Mitteleinsatz ist höher. In
Deutschland tendieren die Krankenkassen schon jetzt dazu, Mittel der
Gesundheitsförderung für Zwecke
der Mitgliedergewinnung zu instrumentalisieren. Dies ist dem Wettbewerbsdruck, dem sie ausgesetzt sind,
geschuldet. Versicherte, die sich ohnehin gesundheitsbewusst verhalten,
profitieren davon am stärksten, während benachteiligte Gruppen kaum
erreicht werden. Da weder an der
Logik von untereinander im Wettbewerb stehender Kassen und Dienstleister noch an der Beschränkung
der Rolle des Staates auf bloße Aktivierung gerüttelt wird, steht mehr als
symbolische Präventionsarbeit mit
K
Politik
Inklusion
einigen Vorzeigeprojekten und einer
Befeuerung kurzatmiger Kampagnen
kaum auf der Tagesordnung.
Für die im Norden besseren Ergebnisse ist die starke Stellung der
Kommunen essentiell. Bei ihnen
laufen – operativ gesehen – alle
Fäden zusammen. Dies wirkt der
Zerstückelung in marktfähige Einzelleistungen entgegen und begünstigt
die Entwicklung einer integrativen
Infrastruktur, die gleichermaßen der
Versorgung unter Einschluss von
Elementen der Aktivierung wie auch
der Beförderung gesellschaftlicher
Teilhabe dient. Diverse gesellschaftliche Akteure und ehrenamtlich Tätige kommen auch in Skandinavien
ins Spiel, aber eben in Ergänzung
und nicht an Stelle der professionell
Tätigen. Demgegenüber kennzeichnet es das neoliberale Konzept des
Gewährleistungsstaates, dass er sich
aus der Leistungserbringung so weit
wie möglich zurückzieht. Marktkräfte und ehrenamtlich Tätige sollen es
richten. Der Unterschied zwischen
aktivem und aktivierendem Sozialstaat, anders ausgedrückt: zwischen
„Big Government“ und „Big Society“
prägt auch das Herangehen an die
Stärkung gesellschaftlicher Teilhabe.
Die Wohn- und Teilhabegesetze der
deutschen Bundesländer benennen
als einen Gesetzeszweck die Förderung der Selbständigkeit, Selbstbestimmung, Selbstverantwortung
und gleichberechtigten Teilhabe am
Leben in und an der Gesellschaft,
(16) überlassen die Umsetzung aber
Dritten. „Die Träger und Leitungen
fördern und unterstützen die Bewohner bei deren Teilhabe am Leben in
der Gemeinschaft und der Gesellschaft durch die Einbeziehung von
Angehörigen, Betreuern, sonstigen
Vertrauenspersonen der Bewohner,
bürgerschaftlich Engagierten und
Institutionen der Gemeinde, des
Sozialwesens, der Kultur, des Sports
sowie der Kirchen und Religionsge-
meinschaften“, heißt es dazu in § 8
des Thüringer Wohn- und Teilhabegesetzes. Für das, was an Förderung
der Teilhabe in der Praxis konkret zustande kommt, ist niemand wirklich
verantwortlich. Der Staat kann sich
bequem darauf zurückziehen, dass
sein Gesetz ja dem Teilhabegedanken Rechnung trage, indem es dazu
Vorgaben mache. Die Heimträger
können sich der planvollen Umsetzung verweigern mit Verweis auf ihre
knappe eigene Personaldecke und
die nicht ausreichende Verfügbarkeit
zivilgesellschaftlicher Kräfte. Wo und
wie die Teilhabe am Leben in der
Gemeinschaft tatsächlich gefördert
wird, bleibt dem gesellschaftlichen
Selbstlauf überantwortet. Von ambitionierten Zielbeschreibungen dürfen wir uns also erneut nicht blenden
lassen. Nüchtern auf den Punkt gebracht, stellen die Wohn- und Teilhabegesetze Ordnungsgesetze analog den alten Heimgesetzen dar. Der
Unterschied ist in der Substanz weit
geringer als es die Gesetzesformulierungen nahe legen. Im Kern nämlich
geht es weniger um die Beförderung
gesellschaftlicher Teilhabe als um
Gefahrenabwehr. Die in den Einrichtungen betreuten Menschen sollen
vor Gefahren an Leib und Leben geschützt werden. Wollte man die Teilhabe in und an der Gemeinschaft
tatsächlich fördern, müsste man die
Kommunen mit einer übergeordneten Steuerungskompetenz ausstatten
und ihnen die zusätzlichen Finanzmittel an die Hand geben, die sie
benötigen, um substantiell mit verlässlichen Strukturen und eigenem
Personal ihrer Steuerungsverantwortung nachkommen zu können. Davon aber ist nichts zu sehen.
Dass es in Deutschland um die gesellschaftliche Teilhabe von alten und
hochbetagten Menschen nicht zum
Besten steht, macht der hohe Prozentsatz deutlich, der bei Umfragen
angibt, in seinen täglichen Aktivitä-
-44-
ten in einem gewissen Umfang oder
stark beeinträchtigt zu sein. 2011
erreichte der Anteil in Deutschland
bei den 65- bis 74-Jährigen 53 und
bei den ab 75-Jährigen 72,1 Prozent. Fast drei von vier Menschen im
Alter von 75+ sind in ihren Alltagsaktivitäten eingeschränkt, mehr als
ein Viertel sogar stark. Abgesehen
von Finnland liegen diese Anteile in
den skandinavischen Ländern weit
niedriger. Am besten schneidet unter
25 europäischen Vergleichsländern
Norwegen ab, wo nur 20 Prozent
der Älteren und 25 Prozent der Alten
und Hochbetagten angeben, in ihren täglichen Aktivitäten leicht oder
stark eingeschränkt zu sein. Die Plätze 2 bis 4 belegen Schweden, Dänemark und Island. (17) In dem guten
Abschneiden der skandinavischen
Länder kommt nicht nur, aber eben
auch zum Tragen, dass staatliches
Handeln aktiv auf Gesundheitsförderung und das Teilhaben am Leben
der Gemeinschaft hinwirkt. Ein Instrument dazu sind in Dänemark die
Präventiven Hausbesuche. Mehr als
100.000 derartiger Besuche führen die dänischen Kommunen jedes
Jahr durch. Sie sind eine zentrale
Säule des Altenhilfesystems. Seit
2002 ist der „Präventive Hausbesuch“ als kommunale Pflichtaufgabe
einheitlich geregelt. Jeder Einwohner, jede Einwohnerin, der oder die
ohne fremde Hilfe alleine lebt und
das 75. Lebensjahr erreicht hat, erhält jährlich mindestens zwei Angebote für einen präventiven Hausbesuch. Die BürgerInnen können dazu
Ja oder Nein sagen. Das Instrument
zielt auf die Gesundheitsförderung
und soziale Aktivierung der Senioren mit der Funktion, Prozessen der
Vereinsamung älterer Menschen
wirksam vorzubeugen. Entgegen der
beliebten Selbstzuschreibung vom
kleinen Dänemark, wo jeder jeden
kennt, verlässt sich der dänische
Wohlfahrtsstaat also gerade nicht
Politik
Inklusion
Elvira Fischer (Seniorenbüro Wartburgkreis) und Joachim Lebens (Vorsitzender des Seniorenbeirates Bad Langensalza) auf dem Jahresseminar der Landesseniorenvertretung im November 2015
auf die gesellschaftliche Selbststeuerung über achtsame Nachbarschaft
und freiwillig Tätige, sondern sichert
auf dem Wege institutioneller Solidarität, dass auch wirklich niemand
vergessen wird, egal wo er oder sie
wohnt. Jeweils rd. ein Viertel bis ein
Drittel der potentiellen NutzerInnen
nimmt das Angebot wahr. Nach der
Überführung in eine kommunale
Pflichtaufgabe gingen die Zahlen
zunächst nach oben, pendelten sich
nach 2010 aber wieder auf dem Niveau von Ende der 90er Jahre ein.
(18)
Personalausstattung sowie das eng
damit zusammenhängende Problem
der Vermarktlichung und Ökonomisierung der Leistungserbringung
wurde dabei aus der Perspektive
seiner Folgen für die Erreichung der
gesetzlich prokamierten Outcomeziele immer wieder angesprochen.
Nachfolgend nun will ich auf das
Niveau der öffentlichen Ausgaben
etwas näher eingehen und abschließend beleuchten, wie es um die Beschäftigungsrelevanz der Langfristpflege und die Arbeitsbedingungen
der dort professionell Beschäftigten
bestellt ist.
3. Einsatz finanzieller und personeller Ressourcen
3.1. Qualität und flächendeckende
Bedarfssicherung hat seinen Preis
Im Vergleich wirtschaftsstarker Länder präsentiert sich Deutschland
als der billige Jakob. Nicht nur die
skandinavischen Länder, sondern
eine beachtliche Zahl von Ländern
aus Kontinentaleuropa sowie einzelne Länder aus dem angelsächsischen Raum investieren relativ zum
Bevölkerungsanteil Älterer deutlich
Bisher habe ich mich unter verschiedenen Perspektiven der Frage gewidmet, mit welchen Systemen der
Langfristpflege wir es zu tun haben
und was sie für ältere Menschen mit
Unterstützungsbedarf
tatsächlich
leisten. Die in Deutschland unzureichende Finanz- und in der Folge
-45-
mehr an öffentlichen Mitteln, teilweise doppelt bis dreifach so viel. (19)
Wie wenig der deutschen Politik verglichen mit Skandinavien die Langfristpflege wert ist, macht folgender
Vergleich deutlich: 2013 lag der
Anteil Älterer (65+) an der Wohnbevölkerung in Deutschland um fast ein
Viertel (23%) über dem Durchschnitt
der 5 nordisch-skandinavischen
Länder, die öffentlichen Ausgaben
in Prozent der Wirtschaftsleistung
jedoch um mehr als 60 Prozent
niedriger. Diverse Pflegereformen
haben keinen Beitrag zur nachhaltigen Stärkung der Finanzausstattung
geleistet. Oberstes Ziel blieb immer
die Geringhaltung öffentlicher Ausgaben. Ihm wurde alles untergeordnet. In der Zeitspanne von 1999 bis
2013 erhöhte sich die Zahl der Leistungsempfänger um 30 Prozent von
2 Mio. auf 2,6 Mio. und gleichzeitig
stieg auch die Zahl der Menschen,
die von den Kommunen „Hilfe zur
Pflege“ benötigen, weil sie weder
aus eigenem Einkommen und Vermögen noch über die Heranziehung
unterhaltspflichtiger Kinder die privat
zu tragenden Pflegeausgaben finanzieren können, wieder stark an (+
40 Prozent auf 444 Tsd. Personen im
Jahr 2013). Trotzdem wurde der aus
Beiträgen und einigen Steuermitteln
verfügbare Finanzrahmen dem stetig
wachsenden Bedarf nicht dynamisch
angepasst. Dies nämlich hätte jährlich steigende Beitragssätze und/
oder einen Übergang zur verstärkten
Steuerfinanzierung nach sich gezogen. Tatsächlich aber wurde der
Beitragssatz nur wenig angehoben.
1996 lag er bei sehr niedrigen 1,7
Prozent, 2015 bei weiterhin niedrigen 2,35 Prozent. In der Konsequenz
ging der BIP-Anteil, der in öffentliche
Ausgaben fließt, zeitweise sogar zurück, um als Ergebnis vermeintlich
großer Pflegereformen dann wieder
auf rd. einen BIP-Prozentpunkt (20)
anzusteigen. Unter diesen kümmer-
K
Politik
Inklusion
lichen Finanzierungsbedingungen
lässt sich keine flächendeckend
gute Dienstleistungsqualität mit auskömmlicher Personalausstattung realisieren und auch keine Aufwertung
der Pflege mit ordentlicher Bezahlung
der professionell Beschäftigten. Dass
es bei entsprechendem Willen sehr
wohl möglich ist, die Langfristpflege
auf ein höheres Entwicklungsniveau
zu heben, verdeutlicht Finnland.
Das finnische System war in der Vergangenheit mehr an der Erfüllung
pflegerischer Mindeststandards als
daran orientiert, dem individuellen
Bedarf Rechnung zu tragen. Nach
langer Diskussion trat 2013 eine
umfassende Pflegereform in Kraft.
Im Kern zielt sie auf die strikte Umsetzung des Vorrangs der häuslichen
Pflege mit Leistungsgewährung nach
individuellem Bedarf; letzteres unter
Einhaltung landesweit einheitlicher
Qualitätsstandards (Näheres siehe
bei Heintze 2015, S. 26f.). Die Neuausrichtung ist finanziell gut unterlegt: Von 1999 bis 2012/2013 stieg
der öffentlich investierte BIP-Anteil
von 1,4 auf 2,4 Prozentpunkte. Damit nun hat Finnland zu den skandinavischen Kernländern aufgeschlossen.
3.2 Langfristige Personalsicherung durch hohe Professionalität
und gute Arbeitsbedingungen
Sorgearbeit war immer eine Domäne von Frauen. Durch die teilweise
Professionalisierung hat sich daran
nichts geändert. Die Beschäftigten
sind in der häuslichen wie in der institutionellen Langfristpflege zu mehr
als 85 Prozent weiblich. Dies gilt für
Deutschland wie die skandinavischen Länder. Die im Norden höhere
gesellschaftliche Wertigkeit der ganz
überwiegend von Frauen geleisteten
Tätigkeit drückt sich hier aber gleichermaßen in einer besseren Personalausstattung wie auch besseren
Bezahlung aus. Beides wirkt positiv
auf die Arbeitsbedingungen und damit auch auf die Qualität der Dienste.
Üppige Verdienstmöglichkeiten bietet die Pflegebranche auch in Skandinavien nicht. Immerhin aber werden
ordentliche Gehälter gezahlt und
es herrschen vergleichsweise gute
Arbeitsbedingungen. Dazu gehört
ein hoher Professionalisierungsgrad
mit Vollzeit als Norm und existenzsichernden Löhnen. Die Unterschiede
möchte ich anhand einiger Daten
knapp einfangen.
1)Bessere Personalschlüssel und
höhere
Beschäftigungsrelevanz: Als Faustregel gilt, dass
etwa dreifach so viel reguläres
Personal im Einsatz ist. Auf 1000
Einwohner im Alter von 65+ –
sie stellen über 80 Prozent der
Klienten – kamen in Deutschland
Ende 2013 (ohne Auszubildende)
knapp 40 rechnerische Vollzeitkräfte gegenüber durchschnittlich rd. 120 in den nordischen
Ländern. Im internationalen Vergleich sind dies Spitzenwerte,
wobei Norwegen über die beste
Personaldecke verfügt mit auch
einem erheblichen Anteil an Pflegemigranten. Im Zeitraum von
2001 bis 2014 fanden aus dem
europäischen Ausland mehr als
14 Tsd. examinierte „Nurses“ in
Norwegen ihre Anerkennung,
mehr als 90 Prozent davon kamen aus den anderen nordischen
Ländern, Deutschland und dem
Baltikum. (21)
2)Höhere
Vollzeitbeschäftigungsquote: In Deutschland erzwang es die Durchökonomisierung der Pflege geradezu, dass
Teilzeit zur Regel wurde, weil sich
der Personaleinsatz so flexibel an
den basalen Grundbedürfnissen
ausrichten lässt. Dominierte 1999
in den Heimen die Vollzeitarbeit
mit einem Anteil von knapp 52
Prozent, sank die Vollzeitquote bis
-46-
Ende 2013 auf unter ein Drittel
(32,4%). Die Absenkung erfolgte
stetig und kann als Gradmesser
der Durchökonomisierung gewertet werden. Im ambulanten
Bereich sank die Vollzeitquote
deutlich unter 30 Prozent. In den
nordischen Ländern umgekehrt ist
Teilzeitarbeit der Tendenz nach in
der Pflege nicht wesentlich stärker
verbreitet als bei der Frauenbeschäftigung insgesamt. Auch gibt
es keinen durchgängigen Trend
weg von der Vollzeitarbeit. In Dänemark etwa lag auf die gesamte
Care-Branche bezogen die Vollzeitquote 2009 bei 61,2 Prozent
und 2012 bei 63,7 Prozent.(22)
Damit lag sie gleichauf mit dem
Anteil, den vollzeitbeschäftigte
Frauen an den erwerbstätigen
Frauen insgesamt stellen (2012:
63,6%). Ganz anders in Deutschland. Die Ende 2011 952 Tsd.
Beschäftigten bei ambulanten
und stationären Pflegediensten
waren zu 70 Prozent teilzeitbeschäftigt gegenüber 45,6 Prozent
Teilzeitbeschäftigung bei den erwerbstätigen Frauen insgesamt.
(23)
3)Arbeitsbedingungen: Für den
beschäftigungspolitischen Lowroad sind polarisierte Arbeitsbedingungen typisch. Eine tendenziell kleiner werdende Gruppe
erfreut sich guter Arbeitsbedingungen, während umgekehrt die
Gruppe wächst, die die eigenen
Arbeitsbedingungen als eher
schlecht oder schlecht empfindet.
Für Deutschland belegen verschiedene Studien ein vergleichsweise geringes Maß an Zufriedenheit und in der Konsequenz
eine hohe Neigung zum gänzlichen oder zumindest temporären Ausstieg aus dem Pflegeberuf. Die Kommerzialisierung der
Pflege, die mit der Schaffung der
Pflegeversicherung losgetreten
Politik
Inklusion
wurde, hat sich auf die Arbeitsbedingungen negativ ausgewirkt.
Altenpflege wurde zu einem Experimentierfeld für Niedriglohnbeschäftigung. Aktuelle Befragungen, etwa im Rahmen des
DGB-Index „Gute Arbeit“ deuten
auf eine weitere Zuspitzung. So
stieg der Anteil derjenigen Pflegekräfte, die angeben, wegen
der Belastungen in der Arbeit
nicht bis zur Rente durchzuhalten,
dramatisch von 50 Prozent im
Jahr 2008 auf 75 Prozent im Jahr
2012. Den größten Leidensdruck
bereitet der Mangel an Zeit, den
die schmalen Personaldecken mit
sich bringen. Pflegekräfte haben
das Gefühl, am Limit zu arbeiten und aufgrund ökonomischen
Drucks keine fachlich gute Arbeit
abliefern zu können.
4)Gehälter: In den nordischen
Ländern liegen die Verdienste der
„Nurses“ oberhalb des Medianeinkommens. Wegen der HalbAkademisierung, die die Pflege
im Norden durchlaufen hat,
sind Fachkräfte nach skandinavischem System aber nicht direkt
mit deutschen Pflegefachkräften
vergleichbar. Der Tendenz nach
vergleichbar sind die Assistenzkräfte; Die formale Qualifikation
der Assistenzkräfte – sie erreichen
80 bis 90 Prozent des Durchschnittseinkommen - wiederum
liegt unter dem Niveau deutscher
AltenpflegerInnen. Am ehesten
vergleichbar sind die Hilfskräfte;
sie erreichen im Norden 75 bis
80 Prozent des Durchschnittseinkommens. In Deutschland ist
das Lohnniveau niedrig und die
Streuung erheblich. Die besten
Verdienste erzielen die Pflegefachkräfte, die in der Hochleistungsmedizin als OP- oder
Anästhesieschwester
arbeiten.
Schlusslicht ist die Altenpflege.
Vollzeitbeschäftige
Altenpfle-
gefachkräfte kamen 2013 incl.
aller Zulagen in Westdeutschland auf ein Bruttomonatsgehalt
von 2.568 Euro und in Ostdeutschland von 1.945 Euro.
(24) Dies bei einer Spannweite
zwischen 2.725 Euro und 2.325
Euro in den alten und zwischen
1.994 Euro und 1.741 Euro in
den neuen Bundesländern. Die
PflegehelferInnen erzielten unter den westlichen Bundesländern in Nordrhein-Westfalen mit
durchschnittlich 2.092 Euro den
höchsten und in Niedersachsen
mit durchschnittlich 1.625 Euro
den niedrigsten Bruttomonatsverdienst; im Osten reichte die
Spanne nur von 1.449 Euro in
Brandenburg bis 1.396 Euro in
Sachsen. In keinem einzigen Bundesland erreichen die Altenpflegefachkräfte (HelferInnen) auch
nur 80 Prozent (60%) dessen,
was durchschnittlich im Produzierenden Gewerbe und im Dienstleistungsbereich verdient wird.
Mit 76,8 Prozent bei Fachkräften
und 58,8 Prozent bei HelferInnen
erzielen sie relativ die höchsten
Werte im Saarland, gefolgt von
Thüringen (71,2% resp. 51,9%)
und Mecklenburg-Vorpommern
(70,1% resp. 52%). Am größten
ist der Abstand zum Bruttodurchschnittsverdienst in Hessen, gefolgt von Hamburg. Interessant
ist Folgendes: Je höher in einem
Bundesland der Anteil ist, der auf
gewerbliche Leistungserbringung
entfällt, umso größer der Verdienstrückstand. Die Bundesländer, wo nach Heimplätzen und
ambulant versorgten Klienten die
gewerbliche Leistungserbringung
mit Anteilen von über 50 Prozent
dominiert, bilden bei den Entgelten fast durchgängig die Schlusslichter. Hessen, Niedersachsen
und Sachsen-Anhalt sind zu
nennen. Umgekehrt weisen die
-47-
Bundesländer, wo die For-ProfitDienstleister die Marktführerschaft
noch nicht übernehmen konnten,
die geringsten Verdienstrückstände auf.
Bei der Langfristpflege geht es um
die Befriedigung eines öffentlichen
Bedarfs. Welche Wertigkeit der Bedarf und damit auch pflegerische
Berufe haben, obliegt demokratischen Aushandlungsprozessen. Die
in Deutschland schlechte Personalausstattung mit überwiegend Teilzeitarbeit und mit Gehältern, die
vielfach zum Leben nicht reichen
und den Weg in die Altersarmut
bahnen, ist nicht Folge einer unumstößlichen ökonomischen Logik,
sondern Ergebnis einer bestimmten
Politik. Regional sehr unterschiedlich ausgeprägt, bestehen schon
heute personelle Engpässe. Sie sind
hausgemacht und drohen sich in der
Zukunft massiv zu verschärfen. Die
Bertelsmann Stiftung erwartet in ihrem Ende 2012 vorgelegten PflegeReport 2030 einen bundesweiten
„Pflegenotstand“ mit rund einer halben Million fehlender Vollzeitkräfte,
wenn nicht massiv gegengesteuert
wird. Dies obwohl mit besseren Personalschlüsseln in keinem Szenario,
das der Report aufbietet, gerechnet
wurde. (25)
Fazit
Deutschland und die nordisch-skandinavischen Länder unterscheiden
sich bei den politisch proklamierten
und gesetzlich normierten Zielen
nicht wesentlich. Hier wie dort gilt
der Vorrang von Prävention und Rehabilitation sowie der Vorrang der
häuslichen (ambulanten) vor der
institutionellen (stationären) Pflege. Hier wie dort auch besteht der
Anspruch, die Leistungen so am
persönlichen Bedarf auszurichten,
dass Selbstbestimmung und Würde
des unterstützungsbedürftigen Menschen gewahrt bleiben. Hier wie dort
K
Politik
Inklusion
schließlich soll die gesellschaftliche
Teilhabe gefördert werden.
Im Norden stützt das Ineinandergreifen von dominant öffentlichen
Strukturen, die niedrigschwellig auf
die Befriedigung individueller Hilfebedarfe hin angelegt sind mit einer
Steuerung, die gute Arbeitsbedingungen als wesentlich für die angestrebte hohe Dienstleistungsqualität
betrachtet und den öffentlichen Finanzrahmen daran ausrichtet die
soziale Inklusion Hilfebedürftiger
unabhängig von ihrem Einkommen
und ihrer familiären Situation. Zwar
ließ auch hier der Einzug von Wettbewerbselementen das auf Gewinnerzielung hin angelegte Privatsegment
wachsen, von einer zu Deutschland
gleich gelagerten Entwicklung kann
jedoch (noch) keine Rede sein. Die
prägende Rolle kommunal-integrativer Leistungserbringung steht außer
Frage, damit auch die Fortexistenz
hoch-zentralisierter Aushandlungsprozesse von Löhnen und Arbeitsbedingungen. Konträr dazu besteht
in Deutschland eine erhebliche Kluft
zwischen den proklamierten Outcomezielen und der Pflegerealität.
Weder die Strukturen, noch die Steu-
erung, noch die Finanzausstattung
unterstützen die Zielerreichung. Chronische Unterfinanzierung, zu wenig
Personal und die Zerstückelung von
Verantwortlichkeiten zwischen untereinander je im Wettbewerb stehender Akteure bedingen, dass für den
Outcome niemand wirklich verantwortlich ist. Damit aber fehlt es den
gesetzlich normierten Qualitäts- und
Teilhabezielen an Verbindlichkeit.
Dies hat System. Die Kluft wird sich
solange nicht schließen, wie die Politik davon absieht, für Strukturen und
eine Finanzierung zu sorgen, durch
die die Zielerreichung tatsächlich unterstützt wird.
Dr. Cornelia Heintze (Foto Header)
Verzeichnis der Literatur
(1) Der Beitrag basiert auf einem Vortrag,
den die Verfasserin am 30.09.2015 in
Erfurt auf der Septembertagung „Sorgende Gemeinschaft“ des Landesseniorenrates Thüringen gehalten hat.
Daten teilweise aktualisiert.
(2) Aus: DERS.: Das Leben des Galilei
(1939 im dänischen Asyl geschrieben).
(3) Siehe im Einzelnen bei Heintze, Cornelia (2012, Update 2015): Pflege, Betreuung und Alltagsunterstützung älterer
Menschen im deutsch-skandinavischen
Vergleich, Expertise im Auftrag der
Friedrich-Ebert-Stiftung, Kurzfassung in:
WISO-Diskurs „Auf der Highroad – der
skandinavische Weg zu einem zeitgemäßen Pflegesystem“, Bonn.
(4) Unterhaltspflichtig sind Kinder in gerader Linie. Dabei steht ihnen vom bereinigten Nettoeinkommen, über das sie
verfügen, ein Mindestselbstbehalt zu.
Bei Alleinstehenden waren dies 2015
1.800 Euro/mtl., bei Paaren 3.240
Euro/mtl. Die Hälfte des darüber liegenden Einkommens kann vom Sozialamt als Elternunterhalt eingefordert
werden. Dies dient der Refinanzierung
der kommunalen Ausgaben für „Hilfe
zur Pflege“, denn dort, wo Heimbewohner die Heimkosten nicht selbst tragen können, übernimmt die Kommune
zunächst die Begleichung des Differenzbetrages, versucht diesen aber bei
Angehörigen wieder einzutreiben.
(5) Quellen: Amtliche Daten der nationalen Statistikämter (siehe bei Heintze
2013) sowie die ILO-Datenbank.
-48-
(6) Die Defamiliarisierungsstrategie findet
ihren Niederschlag in den Gesetzen
über soziale Dienste. Diese Gesetze
folgen einer Lebenslauforientierung,
die von der Wiege bis zur Bahre reicht.
Näheres siehe bei Heintze, Cornelia
(2013): Die Straße des Erfolgs: Rahmenbedingungen, Umfang und Finanzierung kommunaler Dienste im
deutsch-skandinavischen
Vergleich,
Marburg
(7) Dass die kommunale Beschäftigung
nach Köpfen von 2,1 Mio. (1991/92)
auf 1,4 Mio. (2013/2014) sank, ist
nur folgerichtig, denn in nahezu allen
öffentlichen Bedarfsfeldern erfolgte ein
Rückzug aus der Eigenleistung.
(8) Datenquelle: Eurostat, Bevölkerung am
1. Januar nach Altersgruppe und Geschlecht [demo_pjangroup]; Update
vom 23.04.2015.
(9) Datenquelle: OECD, Society at a
Glance 2014, Indikator GE2.2 Trends
in Total fertiliy since 1960.
(10) Zit. nach: Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen 2009: Koordination
und Integration - Gesundheitsversorgung in einer Gesellschaft des längeren Lebens, Sondergutachten (S. 482).
(11) Zweites Gesetz zur Stärkung der pflegerischen Versorgung und zur Änderung weiterer Vorschriften (Zweites Pflegestärkungsgesetz) vom 21.12.2015
(BGBl. I S. 2424).
(12) Grundlage ist die Datenbasis von EUSILC. Es gibt Daten zur Zeitspanne
1995 bis 2003 und Daten ab 2004
[Code: hlth_hlye_h].
(13) Im skandinavischen Durchschnitt stieg
sie bei Männern von 17,2 auf 18,3
Jahre und bei Frauen von 20,5 auf
21,2 Jahre; in Deutschland verzeichneten Männer einen Zuwachs von 16,9
auf 18,2 Jahre und Frauen von 19,1
auf 20,4 Jahre.
(14) Eine international vergleichende Studie,
die die Entwicklung über 160 Jahre untersuchte, kam zu dem Ergebnis, dass
die großen medizinischen Durchbrüche
keine markanten Auswirkungen auf die
Entwicklung der Lebenserwartung hatten. In den Ländern mit den jeweils besten Werten nahm die Lebenserwartung
pro Dekade ziemlich konstant um 2,3
Jahre zu. Zitiert nach Weiland, Stephan
et al. (2006): Zunahme der Lebenserwartung. Größenordnung, Determinante, Perspektiven, in: Deutsches Ärzteblatt, Jg. 103, H. 16, 21. April 2006,
A1072ff.
Politik
Inklusion
(15) Bei der Prävention muss zwischen primärer und sekundärer Prävention unterschieden werden. Bei der Primärprävention geht es darum, den Eintritt
einer Erkrankung, die Pflegebedürftigkeit nach sich zieht, zu verhindern; bei
der Sekundärprävention darum, das
Voranschreiten der Beeinträchtigungen
hinauszuzögern.
(16) So die Formulierung im „Gesetz für
unterstützende Wohnformen, Teilhabe
und Pflege“ des Landes Baden-Württemberg vom 20. Mai 2014 (GBl.
2014, S. 241)
(17) Quelle: OECD 2013, Health at a
Glance, Daten zu Abb. 8.3.2. Limitations in daily activities, population
aged 65-74 and 75 years and over,
European countries, 2011.
(18) Quelle: Statistics Denmark, Datenbestand mit Code AED10, Update 2015
(19) Ausgaben für Longterm Care (Gesundheits- und Sozialdienste). Vgl. OECD,
Health at a Glance (fortlaufend).
(20) Erfasst sind neben den Ausgaben der
sogenannten „Sozialen Pflegeversicherung“ für Altersgruppen auch die steuerfinanzierten Ausgaben von Ländern
und Kommunen.
(21) Die entsprechende Datenbank findet
sich unter dem: http://ec.europa.eu/
growth/tools-databases/regprof/
(22) Quelle: Statistics Denmark, Datenbestand “Employed salary earners by industry (DB07), scope, sector and time”.
(23) Datenquelle zur Erwerbstätigkeit nach
Geschlecht und Arbeitszeit: Eurostat,
Datenbestand „Beschäftigung (hauptsächliche Angabe und Quote) - Jahresdurchschnitte [lfsi_emp_a]“; Update
15.01.2014.
(24) Quellen: Amtliche Verdienststatistiken
(Berufe, Sektoren, Wirtschaftszweige);
eigene Auswertung.
(25) Bertelsmann Stiftung (Hg.) (2012): Themenreport „Pflege 2030“ – Was ist zu
erwarten? Was ist zu tun (Autoren: Heinz
Rothgang/Rolf Müller/Rainer Unger).
Cornelia Heintze (Dr. rer. pol) hat
in den 80er Jahren an der FU Berlin
Statistik unterrichtet und Lehrveranstaltungen zu u.a. Arbeitsmarkttheorien/Arbeitsmarktpolitik abgehalten.
Sie war Wirtschaftsreferentin bei den
Grünen, dann Referentin im Niedersachsen Finanzministerium, schließlich Stadtkämmerin in Delmenhorst
mit Zuständigkeit auch für Liegen-
schaften, Wohnungswesen, Stadtwerke/ÖPNV und Städtische Kliniken. Sie arbeitet heute freiberuflich
als Beraterin mit Forschungstätigkeit
im Bereich international vergleichender Wohlfahrtsforschung.
Zur Umsetzung der UNBRK in Thüringen
Die Landesregierung des Freistaates
Thüringen engagiert sich in vielfältiger Art und Weise für die Erreichung
der Zielstellung der Gewährleistung
einer uneingeschränkten Teilhabe
und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen in allen
Lebens- und Gesellschaftsbereichen.
Einen besonderen und sehr ausführlichen Ausdruck hat dieses Engagement im „Thüringer Maßnahmenplan
zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention“ gefunden. Bevor
in diesem Artikel auf die Entstehung,
Umsetzung und Weiterentwicklung
des Thüringer Maßnahmenplans eingegangen wird, zunächst eine kurze
Erläuterung von Inklusion und der
UN-Behindertenrechtskonvention.
Der Gedanke der Inklusion
Mit der Einführung des Begriffes der
„Inklusion“ wurde ein Paradigmenwechsel markiert. Ziel ist nicht mehr
die „Integration“ von Menschen mit
Behinderungen in die sogenannte
„normale“ Mehrheit. Die Gesellschaft ist stattdessen so zu gestalten,
dass alle Menschen in ihrer eigenen
Individualität am Leben in der Gemeinschaft teilhaben können.
In diesem Sinne gilt es Separierungen zu überwinden, die Teilhabe für
alle gleichberechtigt zu ermöglichen
und Vielfalt wertzuschätzen. Eine
Ausgrenzung aus einem ethnischen
oder kulturellen Hintergrund, wegen
der Angehörigkeit zu einer religiösen
oder zu einer sexuellen Minderheit
oder eben auf Grund einer Behin-
-49-
derung muss der Vergangenheit angehören. Die gemeinsame Teilhabe
am gesellschaftlichen Leben ist das
zentrale Lebensprinzip einer vielfältigen und inklusiven Gemeinschaft.
Die UN-Konvention über die
Rechte von Menschen mit Behinderungen als Grundlage des
Paradigmenwechsels
Der zentrale Leitgedanke der Inklusion ist Motor und Ausdruck des
bereits angesprochenen und mit der
UN-BRK maßgeblich beeinflussten
Paradigmenwechsels in der Politik
für Menschen mit Behinderungen.
So stehen inzwischen nicht mehr der
Fürsorgecharakter und die defizitorientierten Sichtweisen auf Menschen mit Behinderungen im Mittelpunkt der Betrachtung, sondern
der Mensch mit seinen Fähigkeiten
und Stärken, seinen Wünschen und
Zielen. In Artikel 3 formuliert die
UN-Behindertenrechtskonvention
(UN-BRK) dementsprechend auch
die „volle und wirksame Partizipation und Inklusion“ von Menschen mit
Behinderungen in allen Lebensbereichen als allgemeine Zielstellung.
Die Generalversammlung der Vereinten Nationen hat den Text der
UN-BRK und des zugehörigen Fakultativprotokolls am 13. Dezember
2006 angenommen. Dem voraus
ging eine vierjährige Verhandlungszeit. Das Übereinkommen mit seiner
Präambel und den 50 Artikeln ist am
03. Mai 2008, nachdem der zwanzigste Staat ratifiziert hat, in Kraft getreten.
Den inhaltlichen Schwerpunkt der
UN-BRK bilden die Artikel 1 bis 30.
Im Allgemeinen Teil (Artikel 1 bis
9) werden Ziel, Definitionen und
Grundsätze der Konvention behandelt. Im Besonderen Teil (Artikel 10
bis 30) werden die einzelnen Menschenrechte aufgeführt. Die UN-BRK
stellt die Pflichten der Staaten heraus,
die für Menschen mit Behinderungen
K
Politik
Inklusion
bestehenden Menschenrechte zu gewährleisten. In diesem Sinne werden
keine Sonderrechte für Menschen mit
Behinderungen geschaffen, sondern
die bestehenden Menschenrechte
für die Situation der Menschen mit
Behinderungen konkretisiert.
Deutschland hat das Übereinkommen und das Fakultativprotokoll als
einer der ersten Staaten am 30. März
2007 unterzeichnet und am 24. Februar 2009 mit Hinterlegung der Ratifikationsurkunde in New York ratifiziert. Seit dem 26. März 2009 gelten
die UN-BRK und das Zusatzprotokoll
in der Bundesrepublik verbindlich.
Die UN-BRK erhebt die Rechte von
Menschen mit Behinderungen zur
Grundlage und zum Maßstab politischen Handelns. Sie stellt den rechtlichen Rahmen der Behindertenpolitik in Deutschland für Gegenwart
und Zukunft dar. Alle staatlichen
Ebenen sind aufgefordert, die UNBRK schrittweise umzusetzen. Die
UN-BRK ist Völkerrecht, genießt aber
den Rang eines Bundesgesetzes und
entfaltet Bindungswirkung für sämtliche staatliche Stellen. Der Freistaat
Thüringen ist im Rahmen seiner Zuständigkeiten somit ebenfalls an die
UN-BRK gebunden.
Der Thüringer Maßnahmenplan
zur Umsetzung der UN-BRK als
Ausdruck des umfassenden Engagements der Landesregierung
Die Entstehungsgeschichte
Die Landesregierung wurde durch
den Beschluss des Thüringer Landtages „UN-Konvention über die Rechte
behinderter Menschen wirksam und
zeitnah in Thüringen umsetzen –
Maßnahmenplan und Berichterstattung gemeinsam mit Thüringer Akteuren entwickeln“ am 26. Februar
2010 aufgefordert, spezifische Maßnahmen zur Umsetzung der UN-BRK
zu entwickeln.
Vor diesem Hintergrund wurden
im Ergebnis eines im Juni 2010 im
Thüringer Landtag durchgeführten Fachforums ressortübergreifend
neun Arbeitsgruppen eingerichtet,
die sich schwerpunktmäßig mit den
sich aus der UN-Konvention ergebenen Handlungsfeldern beschäftigten. Akteure der unterschiedlichsten
Gesellschaftsbereiche waren aufgerufen, sich an der Erstellung entsprechender Maßnahmen zur Umsetzung der UN-BRK zu beteiligen.
Im Ergebnis entstanden komplex besetzte Arbeitsgruppen, aus Vertreterinnen und Vertretern aller Ressorts,
der Landtagsfraktionen, der entsprechenden Vereine und Verbände, der
Wissenschaft sowie Institutionen der
Wirtschaft und anderer gesellschaftlich relevanter Bereiche, die von der
Umsetzung der UN-BRK tangiert
werden.
Die inhaltliche Arbeit erfolgte anschließend im Wesentlichen in den
nachfolgend benannten neun Arbeitsgruppen:
- Bildung und Ausbildung, Kinder
mit Behinderungen,
- Arbeit und Beschäftigung,
- Bauen, Wohnen und Mobilität,
- Kultur, Freizeit und Sport,
- Gesundheit und Pflege,
- Kommunikation und Information,
- Schutz der Persönlichkeitsrechte,
- Teilhabe am öffentlichen und politischen Leben, Bewusstseinsbildung,
- Frauen mit Behinderungen.
Um auch die übrige Zivilgesellschaft
am Diskussions- und Entwicklungsprozess zu beteiligen und die notwendige Transparenz zu gewährleisten,
wurden sämtliche Arbeitsgruppenergebnisse im Januar 2011 auf der
Internetseite des Sozialministeriums
bzw. des Landesbehindertenbeauftragten veröffentlicht.
Gleichzeitig wurden die von den
Arbeitsgruppen
vorgeschlagenen
-50-
Maßnahmen auf einer zweiten Fachkonferenz „UN-Konvention über
die Rechte behinderter Menschen
wirksam und zeitnah in Thüringen
umsetzen – Thüringer Gesetz zur
Gleichstellung und Verbesserung der
Integration von Menschen mit Behinderungen novellieren“ am 31. März
2011 im Thüringer Landtag vorgestellt und mit den sich für Menschen
mit Behinderungen engagierenden
Akteuren diskutiert. Im Anschluss bot
sich im Rahmen einer ersten schriftlichen Anhörung der Vereine und
Verbände zusätzlich die Möglichkeit,
weitere Vorschläge und Anmerkungen mitzuteilen.
Zeitgleich mit Durchführung der
zweiten Fachkonferenz und der
nachfolgenden Anhörung sowie zur
Beschleunigung des Verfahrens fand
eine erste Prüfung der Arbeitsgruppenergebnisse durch die Ressorts
der Landesregierung statt, in deren Verlauf die einzelnen, von den
Arbeitsgruppen
vorgeschlagenen
Maßnahmen auf ihre Realisierbarkeit sowie den Zeit- und Kostenrahmen hin überprüft und bewertet wurden. Die Ergebnisse der schriftlichen
Anhörung der Vereine und Verbände
wurden hierbei berücksichtigt.
In Folge der im August 2011 abgeschlossenen Prüfung der Vorschläge
durch die Ressorts wurde ein erster
Entwurf des Thüringer Maßnahmenplanes zur Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen erarbeitet.
Dieser wurde im Rahmen einer weiteren schriftlichen Anhörung der
Vereine und Verbände nochmals zur
Diskussion gestellt und nach Abstimmung mit den Ressorts der Landesregierung im April 2012 in das Thüringer Landeskabinett eingebracht.
Nach über zwei Jahren intensiver
Zusammenarbeit mit allen Beteiligten im Rahmen eines umfangreichen und partizipationsorientierten
Verfahrens wurde der „Thüringer
Politik
Inklusion
Maßnahmenplan zur Umsetzung der
UN-Behindertenrechtskonvention“
am 24. April 2012 durch das Landeskabinett verabschiedet und besitzt seitdem thüringenweit Geltung.
Mit insgesamt 285 Maßnahmen stellt
der Maßnahmenplan einen bedeutenden Schritt in der Geschichte der
Politik für Menschen mit Behinderungen im Freistaat Thüringen dar.
Die Zielstellungen und Schwerpunkte
Vorrangige Ziele des Maßnahmenplans sind gemäß der Leitgedanken der UN-BRK die Förderung der
Gleichstellung, Selbstbestimmung
und gesellschaftlichen Teilhabe von
Menschen mit Behinderungen sowie
die Unterbindung benachteiligender
oder diskriminierender Denk- und
Handlungsstrukturen.
Der Thüringer Maßnahmenplan
weist dabei folgende inhaltliche
Schwerpunkte auf:
- Schaffung einer inklusiven Schulund Hochschulbildung,
- verbesserte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am Ausbildungs- und Arbeitsmarkt,
- freie Zugänglichkeit und Barrierefreiheit sowohl im Bau-, als auch
Medienbereich,
- verbesserter Zugang zu Angeboten
des Sports, des Tourismus und des
kulturellen Bereich,
- Gesundheits- und Pflegesystem, das
die Belange und Bedürfnisse von
Menschen mit Behinderungen stärker als bisher berücksichtigt sowie
- Beseitigung von Mehrfachdiskriminierungen und
- Gewährleistung von wirksamen
Schutzmaßnahmen gegen Gewalt
insbesondere in Bezug auf Frauen
mit Behinderungen.
Die Umsetzung
Die konkrete Realisierung der einzelnen, zum Teil überschaubaren,
aber bisweilen auch sehr komplexen
Einzelmaßnahmen erfolgt unter der
Federführung der jeweils zuständigen Ressorts der Landesregierung.
Um den Realisierungsprozess zielgerichtet begleiten und voranbringen
zu können, besteht eine interministerielle Arbeitsgruppe. Diese Arbeitsgruppe ist überwiegend und ressortübergreifend mit den ehemaligen
Cornelia Frohn, Frank Höfchen, Anke Günther, Ina Riehm (Referatsleiterin), Cornelia Schmidt,
Mathias Funk, Arlette Überall, Daniel Eberhardt
-51-
Leiterinnen und Leitern der Arbeitsgruppen besetzt und wird durch Vertreter der übrigen Ressorts ergänzt.
Die Gesamtkoordination übernimmt
das Referat Behindertenpolitik im
Thüringer Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie. Die Umsetzung, die Berichterstattung und die Weiterentwicklung
des Maßnahmenplans werden an
dieser Stelle koordiniert.
Um diese Aufgabe wahrnehmen zu
können, hat das Landeskabinett im
August 2015 eine verbindliche jährliche Berichtspflicht aller Ressorts
zum Umsetzungsstand der Einzelmaßnahmen beschlossen.
Die geplanten Vorhaben – Evaluation und Fortschreibung
Bereits zur Entstehung des Maßnahmenplans wurde die Aussage getroffen, dass dieser kein starres Gebilde
ist, sondern einem Prozesscharakter
unterliegt und somit ein dynamisches Konstrukt darstellt. Demgemäß können neue Maßnahmen hinzukommen, andere wegfallen oder
Maßnahmen in ihrer Formulierung
modifiziert werden – das heißt, der
Maßnahmenplan muss entsprechend fortgeschrieben werden.
Bevor allerdings ein umfassender
und von Partizipation geprägter Fortschreibungsprozess begonnen wird,
soll der aktuelle Maßnahmenplan zunächst von einem externen Experten
evaluiert werden. Die Ergebnisse der
externen und unabhängigen Evaluation sollen wichtige Rückschlüsse für
die darauffolgende Fortschreibung
des Maßnahmenplans liefern.
Im Ergebnis einer öffentlichen Ausschreibung bezüglich der Durchführung der Evaluation zum Jahresende 2015 wurde im Januar
2016 das renommierte Deutsche
Institut für Menschenrechte beauftragt. Bei dem Deutschen Institut für
Menschenrechte handelt es sich um
die unabhängige nationale Men-
K
Politik
Inklusion
schenrechtsinstitution Deutschlands.
Die hier eingerichtete sogenannte
„Monitoring-Stelle zur Umsetzung
der UN-BRK“ besteht seit 2009 und
basiert auf Artikel 33 Absatz 2 der
UN-BRK. Sie hat das Mandat die
Rechte von Menschen mit Behinderungen zu fördern und zu schützen.
Vor diesem Hintergrund soll sie die
Umsetzung der UN-BRK in Deutschland überwachen. Im Rahmen dieser Aufgabenwahrnehmung wurden
bereits umfassende Erfahrungen in
der Erstellung und Evaluierung von
Maßnahmenplänen gesammelt.
Die Ergebnisse der Evaluation des
Thüringer Maßnahmenplans sollen
im Rahmen einer öffentlichen Fachkonferenz im November 2016 vorgestellt werden. Zugleich soll diese
Fachkonferenz der Beginn einer von
Partizipation und Transparenz geprägten Fortschreibung des Maßnahmenplans sein.
In langfristiger Vorbereitung des Fortschreibungsprozesses wurde Ende
März 2016 ein Schreiben der Sozialministerin Heike Werner an einen
ca. 250 Adressen umfassenden Verteiler der Zivilgesellschaft versandt
(Fraktionen im Landtag, Kommunen,
Vereine und Verbände, Wirtschaft,
…). In diesem Schreiben wird über
das geplante Vorgehen informiert
und zur Beteiligung an der Fortschreibung aufgerufen. Interessierte
Personen, die sich an der Fortschreibung des Maßnahmenplans beteiligen möchten, können sich an Herrn
Daniel Eberhardt aus dem Referat
Behindertenpolitik wenden (0361 –
3798 332; daniel.eberhardt@tmasgff.thueringen.de).
Das Normenscreening
Das Deutsche Institut für Menschenrechte wird entsprechend der Anforderungen der öffentlichen Ausschreibung neben der Evaluation
des Maßnahmenplans ein weiteres Projekt mit Bezug zur UN-BRK
durchführen. Es handelt sich um ein
sogenanntes Normenscreening in
Anlehnung an die Forderungen aus
Artikel 4 Abs. 1 UN-BRK. In diesem
auf zwei Jahre angelegte Verfahren
werden 15 Thüringer Gesetze auf
ihre Vereinbarkeit mit der UN-BRK
geprüft, möglichen gesetzgeberischen Handlungsbedarf zu identifizieren. Im Prüfungsumfang befinden
sich u.a.:
- Thüringer Gesetz zur Gleichstellung und Verbesserung der Integration von Menschen mit Behinderungen,
- Thüringer Schulgesetz,
- Thüringer Gesetz zur Hilfe und Unterbringung psychisch Kranker,
Der Thüringer Maßnahmen-Plan
zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention wurde 2012
verabschiedet. Er orientiert sich
in seinen Intentionen, in seinen
Grundsätzen und Leitlinien an der
UN-Behindertenrechtskonvention.
Anliegen ist der Aufbau einer inklusiven Gesellschaft, die Menschen mit Behinderungen neue
-52-
- Thüringer Wahlgesetz für den
Landtag,
- Thüringer Hochschulgesetz,
- Thüringer Denkmalschutzgesetz,
- Thüringer Gesetz über den öffentlichen Personennahverkehr,
- Thüringer Bauordnung,
- Thüringer Wohn- und Teilhabegesetz.
Die Ergebnisse des Normenscreenings werden schrittweise im Rahmen
von gutachterlichen Stellungnahmen
vorgelegt.
Referat 23
Referatsleiterin: Frau Riehm (98330)
Bearbeiter: Herr Eberhardt (98332)
Zugangschancen eröffnet und
umfassende Teilhabe ermöglicht.
Er fokussiert auf 9 Handlungsfelder:
- Bildung und Ausbildung,
- Arbeit und Beschäftigung,
- Bauen, Wohnen und Mobilität,
- Kultur, Freizeit und Sport,
- Gesundheit und Pflege
- Kommunikation und Information
- Schutz der Menschenwürde
und Persönlichkeitsrechte
- Teilhabe am öffentlichen Leben
und
- Frauen mit Behinderungen.
Für jeden dieser Bereiche werden
Ziele und insgesamt 285 Maßnahmen aufgeführt. Der Maßnahmen-Plan, der im TMASGFF
abgefordert werden kann, soll
2016 extern evaluiert werden.
Verbände können sich an dieser
Evaluierung beteiligen.
Information
Behinderung
Behinderung in Deutschland und Thüringen
Zum Begriff Behinderung und
Schwerbehinderung
Der Begriff Behinderung wird im
deutschen Sozialrecht als Umschreibung für eine dauerhafte und
gravierende Beeinträchtigung der
gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Teilhabe bzw. Teilnahme einer
Person gebraucht. Menschen gelten
als behindert, wenn ihre körperliche
Funktion, geistige Fähigkeit oder
seelische Gesundheit mit hoher
Wahrscheinlichkeit länger als sechs
Monate von dem für das Lebensalter
typischen Zustand abweichen und
daher ihre Teilhabe am Leben in der
Gesellschaft beeinträchtigt ist (Sozialgesetzbuch IX, § 2 Abs. 1).
In einer einfachen Systematik lassen
sich Behinderungen in folgende Bereiche kategorisieren:
- körperliche Behinderung
- Sinnesbehinderung
(Blindheit,
Gehörlosigkeit, Schwerhörigkeit,
Taubblindheit, Geruchlosigkeit)
- Sprachbehinderung
- psychische (seelische) Behinderung
- Lernbehinderung
- geistige Behinderung
Die Art der Behinderung wird in
einer differenzierteren Systematik
anhand von 55 Kategorien erfasst.
Sie orientieren sich an der Erscheinungsform der Behinderung und der
durch sie bestimmten Funktionseinschränkung.
Schwerbehinderung
Die Auswirkungen auf die Teilhabe
am Leben in der Gesellschaft werden als Grad der Behinderung (nach
Zehnergraden von 20-100 abgestuft) festgestellt. Als schwerbehindert gelten Personen, denen von den
Versorgungsämtern ein Grad der
Behinderung von 50 oder mehr zu-
erkannt worden ist. Die Kriterien für
die Bestimmung des Grads der Behinderung werden in den aktuellen
Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (Versorgungsmedizin-Verordnung – VersMedV) festgelegt.
Grundlage für die Bewertung und
Begutachtung von Behinderungen
sind die sog. Anhaltspunkte für die
ärztliche Gutachtertätigkeit. Sie dienen den versorgungsärztlichen Gutachtern als Richtlinie und Grundlage
für eine sachgerechte, einwandfreie
und bei gleichen Sachverhalten einheitliche Bewertung der verschiedensten Auswirkungen von Gesundheitsstörungen unter besonderer
Berücksichtigung einer sachgerechten Relation untereinander.
Siehe:
http://www.bmas.de/SharedDocs/
Downloads/DE/PDF-Publikationen/k710v e r s o r g u n d s m e d - v e r o r d n u n g. p d f ? _ _
blob=publicationFile
Die
Versorgungsmedizinischen
Grundsätze enthalten insbesondere:
- Grundsätze zur versorgungsmedizinischen Bewertung von Schädigungsfolgen,
- Grundsätze zur Feststellung des
Grades der Schädigungsfolgen
(GdS) sowie Kriterien zur Ermittlung des Gesamt-GdS,
- Grundsätze für die Anerkennung
einer Gesundheitsstörung nach
§ 1 Abs. 3 des Gesetzes über die
Versorgung der Opfer des Krieges
(BVG),
- Kriterien für die Bewertung der
Hilflosigkeit und der Stufen der
Pflegezulage nach § 35 Abs. 1
BVG sowie
- Nachteilsausgleiche nach Teil 2
SGB IX.
-53-
Siehe:
http://www.bmas.de/SharedDocs/
Downloads/DE/PDF-Rundschreiben-SE/
Anhaltspunkte -aerztliche - Gutachtertaetigkeit.pdf;jsessionid=32780E6FA
3CBB91B0830D819F64BC601?__
blob=publicationFile&v=2
Statistische Angaben zum Themenfeld Behinderung
Die Statistiken erfassen in der Regel
nur Personen, die den rechtlichen
Status eines Schwerbehinderten
(Grad der Behinderung mindestens
50) und den damit verbundenen
Schwerbehindertenausweis auf Antrag erhalten haben, nicht jedoch
alle, die ihn beantragen könnten.
Weil es keine „Meldepflicht“ für die-
Information
Behinderung
se berechtigten Personen gibt, lässt
sich die tatsächliche Zahl der behinderten Menschen im oben genannten Sinn nur schätzen, wobei man
von 10 % der Gesamtbevölkerung
ausgeht.
Schwer­behinderte
Menschen 2013:
Männer
Frauen
65 Jahre und älter
7.54 Mill.
51,0 %
49,0 %
54,2 %
Schwer­behinderten­quote 2013
bei 45- bis 54-Jährigen 6,8 %
bei über 64-Jährigen
24,3 %
Im Jahr 2013 lebten in Deutschland −
auf Grundlage der Ergebnisse des Mikrozensus − 10,2 Millionen Menschen
mit einer amtlich anerkannten Behinderung. Im Durch­schnitt war somit gut
jeder achte Einwohner (13 %) behindert. Der größte Teil, rund 7,5 Millionen Menschen, war schwer­behindert,
2,7 Millionen Menschen lebten mit einer leichteren Behinderung.
Altersstruktur des Vorkommens von Behinderungen in Deutschland
Geschlecht
Alter/Jahre
Insgesamt
Männlich
Weiblich
2009
7 101 682
3 658 107
3 443 575
nach Alter von ... bis unter ... Jahren
unter 4
14 275
4 bis 6
14 336
6 bis 15
94 708
15 bis 18
38 250
18 bis 25
122 155
25 bis 35
210 081
35 bis 45
417 603
45 bis 55
874 509
55 bis 60
674 299
60 bis 62
331 822
62 bis 65
446 115
65 und mehr
3 863 529
nach Art der Behinderung
Körperliche
4 517 807
Zerebrale Störungen, geistige- und / oder seelische
1 362 567
Sonstige und ungenügend bezeichnete
1 221 308
nach Ursache der Behinderung
Angeborene
302 433
Allgemeine Krankheiten
5 830 578
Unfall, Berufskrankheit
146 582
Anerkannte Kriegs-, Wehr- oder Zivildienstbeschädigung 60 067
Sonstige
762 022
nach Grad der Behinderung
50
2 170 575
60
1 143 002
70
791 562
80
861 327
90
369 167
100
1 766 049
2011
2013
7 289 173
3 733 913
3 555 260
7 548 965
3 851 568
3 697 397
14 194
14 376
97 988
38 696
123 983
223 679
390 234
916 329
688 194
354 317
536 489
3 890 694
13 928
14 109
99 847
41 342
120 515
236 602
363 342
931 886
697 958
348 220
589 609
4 091 607
4 544 691
1 464 710
1 279 772
4 673 171
1 543 603
1 332 191
301 368
6 079 359
140 501
46 357
721 588
298 308
6 416 813
137 298
34 171
662 375
2 286 617
1 173 261
809 208
876 456
375 098
1 768 533
2 410 406
1 202 750
830 074
904 636
385 292
1 815 807
Quelle: Statistisches Bundesamt, https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Gesundheit/Behinderte/Tabellen/GeschlechtBehinderung.html
-54-
Information
Behinderung
Wie das Statistische Bundesamt (Destatis) weiter mitteilt, waren das mit
Bezug auf Schwerbehinderung rund
260 000 oder 3,6 % mehr als am
Jahresende 2011. 2013 waren somit 9,4 % der gesamten Bevölkerung
in Deutschland schwerbehindert. Etwas mehr als die Hälfte (51 %) der
Schwerbehinderten waren Männer,
was auf eine gewisse Ungleichverteilung zwischen den Geschlechtern
hinweist. Man kann davon ausgehen, dass Männer mehr Unfälle erleiden, Frauen hingegen im späten
Alter auf Grund ihrer höheren Lebenserwartung mehr von Behinderung betroffen sind.
Behinderungen treten vor allem bei
älteren Menschen auf: So war nahezu ein Drittel (31 %) der schwerbehinderten Menschen 75 Jahre und
älter; knapp die Hälfte (45 %) gehörte der Altersgruppe zwischen 55
und 75 Jahren an. 2 % waren Kinder
und Jugendliche unter 18 Jahren.
Schwerbehinderte Menschen mit Ausweis (absolut und je 100.000 Einwohner). Gliederungsmerkmale:
Jahre, Region, Art der Behinderung, Grad der Behinderung
Diese Tabelle bezieht sich auf: Jahr: 2011, Region: Deutschland, Sachverhalt: Schwerbehinderte Menschen absolut
Art der Behinderung
Alle Arten
Verlust oder Teilverlust
von Gliedmaßen
Funktionseinschränkung
von Gliedmaßen
Funktionseinschränkung
der Wirbelsäule und des
Rumpfes, Deformierung
des Brustkorbes
Blindheit und Sehbehinderung
Sprach- oder Sprechstörungen, Taubheit,
Schwerhörigkeit, Gleichgewichtsstörungen
Verlust einer Brust oder
beider Brüste, Entstellungen u. a.
Beeinträchtigung der
Funktion von inneren
Organen bzw. Organsystemen
Querschnittlähmung,
Zerebrale Störungen,
Geistig-Seelische Behinderungen, Suchtkrankheiten
Sonstige und ungenügend bezeichnete Behinderungen
Grad der Behinderung
insgesamt 50
60
70
80
90
7.289.173 2.286.617 1.173.261 809.208 876.456 375.098
64.332
11.989
7.511
9.289
9.742
5.900
100
1.768.533
19.901
976.663
327.830
199.627
136.258
112.772 55.246
144.930
867.029
399.675
176.420
103.908
74.156
33.618
79.252
350.655
49.985
28.623
28.374
28.534
23.532
191.607
305.135
80.502
48.807
42.087
37.866
18.979
76.894
179.391
69.459
38.932
15.979
22.991
6.967
25.063
1.806.355 579.734
309.704
196.513
242.233 95.558
382.613
1.459.841 366.238
170.818
138.685
191.130 68.285
524.685
1.279.772 401.205
192.819
138.115
157.032 67.013
323.588
Quelle: Statistisches Bundesamt
-55-
Information
Behinderung
Mit 85 % wurde der überwiegende Teil der Behinderungen durch
eine Krankheit verursacht. 4 % der
Behinderungen waren angeboren
beziehungsweise traten im ersten Lebensjahr auf. 2 % waren auf einen
Unfall oder eine Berufskrankheit zurückzuführen.
Zwei von drei schwerbehinderten
Menschen hatten körperliche Behinderungen (62 %). Bei 25 % waren
die inneren Organe beziehungsweise Organsysteme betroffen. Bei
14 % waren Arme und Beine in ihrer
Funktion eingeschränkt, bei weiteren
12 % Wirbelsäule und Rumpf. In 5 %
der Fälle lag Blindheit beziehungsweise eine Sehbehinderung vor. 4 %
litten unter Schwerhörigkeit, Gleich-
gewichts- oder Sprachstörungen. Auf
geistige oder seelische Behinderungen entfielen zusammen 11 % der
Fälle, auf zerebrale Störungen 9 %.
Bei den übrigen Personen (18 %) war
die Art der schwersten Behinderung
nicht ausgewiesen.
Bei knapp einem Viertel der schwerbehinderten Menschen (24 %) war
vom Versorgungsamt der höchste
Grad der Behinderung von 100 festgestellt worden; 32 % wiesen einen
Behinderungsgrad von 50 auf.
Die Situation in Thüringen
In Thüringen hatte Ende 2013 jeder
11. Thüringer einen Schwerbehindertenausweis, d. h., 92 von 1000
Einwohnern Thüringens waren zu die-
sem Zeitpunkt schwerbehindert. Das
entspricht einer Anzahl von 200.074
Menschen. Gegenüber dem Jahr
2011 gab es 6665 bzw. 3,4 % mehr
registrierte schwerbehinderte Menschen in Thüringen. Das entspricht einem Trend, der seit Jahren nachweisbar ist. Während in Thüringen die
Gesamtbevölkerung abnimmt, steigt
die Anzahl von Menschen mit Behinderungen und Pflegebedarf, wobei es
geschlechtsspezifische Unterschiede
gibt. Während auf Grund ihres höheren Alters mehr Frauen pflegebedürftig sind, hatten in der Vergangenheit
mehr Männer eine Behinderung. Erst
in den letzten Jahren nivelliert sich mit
Bezug auf Behinderungen der Unterschied zwischen den Geschlechtern.
Schwerbehinderte Menschen mit Ausweis (absolut und je 100.000 Einwohner).
Gliederungsmerkmale: Jahre, Deutschland, Geschlecht, Ursache der Behinderung, Grad der Behinderung
Diese Tabelle bezieht sich auf: Jahr: 2011, Geschlecht: Beide Geschlechter, Sachverhalt: insgesamt
Ursache der Behinderung Grad der Behinderung
insgesamt
Alle Ursachen
50
7.289.173 2.286.617
60
70
80
90
100
1.173.261
809.208 876.456 375.098 1.768.533
Angeborene Behinderung 301.368
38.521
19.733
18.995
37.936
9.955
176.228
Arbeitsunfall (einschl.
Wege u. Betriebsunfall),
Berufskrankheit
69.069
25.490
13.540
9.037
7.045
3.236
10.721
Verkehrsunfall
38.925
10.960
6.031
4.808
4.998
1.964
10.164
Häuslicher Unfall
7.332
2.754
1.166
750
722
272
1.668
Sonstiger oder nicht näher bezeichneter Unfall
25.175
8.620
3.962
2.970
2.605
1.133
5.885
Anerkannte Kriegs-,
Wehrdienst- oder Zivildienstbeschädigung
46.357
9.538
6.606
6.125
6.189
3.948
13.951
Allgemeine Krankheit
(einschl. Impfschaden)
6.079.359 1.957.566
1.006.078
683.667 728.985 315.296 1.387.767
Sonstige, mehrere oder
ungenügend bezeichnete
Ursachen
721.588
116.145
82.856
233.168
Quelle: Statistisches Bundesamt
-56-
87.976
39.294
162.149
Information
Behinderung
1995
Schwerbehinderte
Menschen
insgesamt
männlich
weiblich
Menschen m.
Pflegebedarf
Bevölkerung
Thüringen
1997
1999
2001
2003
2005
2007
2009
2011
2013
150 421 161 192 168 764 182 683 191 896 189 313 181 980 182 652 193 409 200 074
77 572
72 849
2.5
Mill.
82 324
78 868
2.48 Mill.
86 099
82 665
93 053
89 630
97 922
93 974
95 549 91 790
93 764 90 190
92 276
90 376
97 395
96 014
100 579
99 495
60 257
61 012
63 597
67 027 72 213
76 967
82 322
86 889
2.45
Mill.
2.4
Mill.
2.37
Mill.
2.33
Mill.
2.25
Mill.
2.18
Mill.
2.16
Mill.
2.29
Mill.
Quelle: Datenquelle Statistisches Landesamt Thüringen, eigene Zusammenstellung
Der Anstieg der Anzahl von Menschen mit Behinderungen liegt daran, dass die meisten Behinderungen durch Krankheiten verursacht werden, die für das Alter typisch sind. Man kann aufgrund der demografischen Entwicklung und
der Alterung der Bevölkerung davon
ausgehen, dass die Anzahl der Menschen mit schwerer Behinderung in
den nächsten 30-40 Jahren weiter
steigen wird, wobei sich durch präventive Sozial- und Gemeindearbeit,
gesundheitsbewusstes Verhalten u.
dgl. krankheitsbedingte Behinderungen durchaus auf ein späteres Lebensalter verschieben ließen.
Fast die Hälfte, d. h. ca. 49% der
schwerbehinderten Menschen in
Thüringen waren älter als 65 Jahre,
ca. 39% befanden sich im Alter von
45 bis unter 65 Jahren. Ursachen
waren zu ca. 76% Krankheiten.
Gebietsstand: 31.12.2013
Kreisfreie
Stadt
Landkreis
Land
Insgesamt
un- 6 ter 6 15
Davon im Alter von ... bis unter ... Jahren
55 65 und
15 - 18 - 25 - 35 45 - 55
60 - 62 62 - 65
18
25 35
45
60
mehr
Personen
Stadt Erfurt
19 331 76
283
108
287 921
1 033 2 435
1 924
1 065
1 611
9 588
Stadt Gera
10 221 26
123
34
142 389
460
1 225
1 054
532
823
5 413
Stadt Jena
7 511
28
90
33
83
290
372
824
634
326
523
4 308
Stadt Suhl
4 212
9
37
14
41
106
167
477
364
227
412
2 358
Stadt Weimar
6 335
29
65
32
74
249
265
735
518
263
445
3 660
Stadt Eisenach 4 775
14
53
14
68
209
252
676
544
224
432
2 289
-57-
Information
Behinderung
Kreisfreie
Stadt
Landkreis
Land
Insgesamt
un- 6 ter 6 15
Davon im Alter von ... bis unter ... Jahren
15 - 18 - 25 - 35 55 65 und
45 - 55
60 - 62 62 - 65
18
25 35
45
60
mehr
Personen
Eichsfeld
10 091 34
135
38
165 389
490
1 347
1 127
604
1 030
4 732
Nordhausen
8 191
39
105
46
126 357
440
1 126
848
387
636
4 081
Wartburgkreis
11 217 32
115
31
139 407
535
1 496
1 310
691
1 198
5 263
Unstrut-Hainich-Kreis
9 491
32
135
57
155 432
545
1 318
1 113
566
891
4 247
Kyffhäuserkreis 7 800
22
80
26
108 331
356
1 082
885
491
707
3 712
Schmalkalden- 11 437 45
Meiningen
145
49
176 476
555
1 507
1 239
665
1 090
5 490
Gotha
13 002 34
157
64
206 489
663
1 749
1 451
750
1 265
6 174
Sömmerda
6 903
28
100
49
114 277
367
1 048
855
511
778
2 776
Hildburghausen
6 451
19
51
27
74
235
347
939
798
405
761
2 795
Ilm-Kreis
9 549
34
151
41
130 362
446
1 292
986
545
902
4 660
Weimarer
Land
7 018
24
88
38
104 293
317
979
840
397
781
3 157
Sonneberg
6 250
10
54
20
71
231
311
890
807
446
727
2 683
Saalfeld-Rudolstad
10 026 42
101
29
167 413
505
1 269
1 047
546
869
5 038
Saale-Holzland-Kreis
6 459
28
71
34
89
237
365
883
727
354
552
3 119
Saale-OrlaKreis
6 752
17
85
31
128 291
404
898
714
400
609
3 175
Greiz
8 712
34
109
45
128 340
434
1 144
1 009
456
811
4 202
Altenburger
Land
8 340
35
112
47
121 281
349
977
857
450
691
4 420
Thüringen
200 074
691
2 445 907
26 316
21 651
11 301
18 544
97 340
2 896 8 005 9 978
Quelle: Statistisches Landesamt Thüringen
-58-
Information
Behinderung
Gebietsstand Thüringen: 31.12.2013
Insgesamt
Davon nach dem Grad der Behinderung
Anzahl
Anteil an
den schwerbehinderten
Menschen insgesamt
50
Personen
%
Personen
Stadt Erfurt
19 331
9,7
6 037
Stadt Gera
10 221
5,1
Stadt Jena
7 511
Stadt Suhl
Kreisfreie Stadt
Landkreis
Land
60
70
2 862
2 334
2 461
1 006
4 631
3 203
1 571
1 181
1 146
617
2 503
3,8
2 431
1 198
942
858
454
1 628
4 212
2,1
1 432
737
504
424
245
870
Stadt Weimar
6 335
3,2
1 875
944
743
788
340
1 645
Stadt Eisenach
4 775
2,4
1 401
736
585
549
248
1 256
Eichsfeld
10 091
5,0
3 331
1 687
1 280
1 158
511
2 124
Nordhausen
8 191
4,1
2 361
1 271
1 111
1 037
439
1 972
Wartburgkreis
11 217
5,6
3 730
1 910
1 264
1 203
548
2 562
Unstrut-Hainich-Kreis
9 491
4,7
3 121
1 499
1 155
1 131
397
2 188
Kyffhäuserkreis
7 800
3,9
2 488
1 265
927
890
418
1 812
Schmalkalden-Meiningen
11 437
5,7
3 786
1 813
1 415
1 217
626
2 580
Gotha
13 002
6,5
4 333
2 001
1 513
1 504
581
3 070
Sömmerda
6 903
3,5
2 266
968
825
858
364
1 622
Hildburghausen
6 451
3,2
2 145
1 057
742
660
356
1 491
Ilm-Kreis
9 549
4,8
3 110
1 590
1 059
1 043
475
2 272
Weimarer Land
7 018
3,5
2 260
1 056
788
838
350
1 726
Sonneberg
6 250
3,1
2 046
1 065
753
665
333
1 388
Saalfeld-Rudolstadt
10 026
5,0
3 116
1 607
1 140
1 060
546
2 557
Saale-Holzland-Kreis
6 459
3,2
2 196
1 014
696
737
334
1 482
Saale-Orla-Kreis
6 752
3,4
2 163
1 063
747
822
355
1 602
Greiz
8 712
4,4
3 055
1 394
950
1 053
443
1 817
Altenburger Land
8 340
4,2
2 745
1 317
992
1 010
446
1 830
Thüringen
200 074
100
64 631
31 625
23 646
23 112
10 432
46 628
Quelle: Statistisches Landesamt Thüringen
-59-
80
90
100
Information
Behinderung
Stadt Erfurt
Stadt Gera
Stadt Jena
Stadt Suhl
Stadt Weimar
Stadt Eisenach
Eichsfeld
Nordhausen
Wartburgkreis
Unstrut-HainichKreis
Kyffhäuserkreis
SchmalkaldenMeiningen
Gotha
Sömmerda
Hildburghausen
Ilm-Kreis
Weimarer Land
Sonneberg
Saalfeld-Rudolstadt
Saale-HolzlandKreis
Saale-Orla-Kreis
Greiz
Altenburger Land
Thüringen
sonstige und ungenügend
bezeichnete Behinderungen
Beeinträchtigung der Funktion
von inneren Organen bzw.
Organsystemen
Querschnittlähmung, zerebrale
Störungen, geistig-seelische Behinderungen, Suchtkrankheiten
Verlust einer Brust oder beider
Brüste, Entstellungen u.a.
Sprach- oder Sprechstörungen, Taubheit, Schwerhörigkeit, Gleich-gewichtsstörungen
Davon
Blindheit und Sehbehinderung
der Wirbelsäule und des
Rumpfes, Deformierung
des Brustkorbes
Insgesamt
Funktionseinschränkung
von Gliedmaßen
Kreisfreie Stadt
Landkreis
Land
Verlust oder Teilverlust von
Gliedmaßen
Gebietsstand: 31.12.2013
19 331
10 221
7 511
4 212
6 335
4 775
10 091
8 191
11 217
9 491
146
77
55
27
63
36
90
80
96
110
2 845
1 523
1 064
754
914
709
1 633
1 442
1 765
1 527
1 551
1 216
928
519
514
702
915
592
1 370
894
Personen
1 224 1 222
603
438
444
337
198
181
404
520
260
253
560
781
614
449
619
678
568
460
7 800
11 437
85
112
1 219
1 908
756
1 190
440
597
365
639
148
395
2 346
3 077
1 632
2 583
809
936
13 002
6 903
6 451
9 549
7 018
6 250
10 026
146
58
35
73
79
40
100
2 121
963
1 161
1 551
1 064
1 177
1 540
1 002
763
730
903
474
750
1 170
833
385
340
567
364
272
618
678
411
270
522
415
234
409
389
249
98
249
224
65
161
3 626
1 768
1 792
2 695
1 838
1 752
2 740
2 776
1 607
1 464
2 158
1 783
1 338
2 377
1 431
699
561
831
777
622
911
6 459
86
878
678
419
264
225
1 698
1 581
630
6 752
8 712
8 340
200 074
59
119
112
1 884
1 086
1 357
1 234
31 435
633
1 043
972
20 265
342
416
454
11 541
342
394
375
10 637
274
377
263
5 401
1 635
2 285
2 314
54 032
1 786
2 016
1 878
45 096
595
705
738
19 783
Quelle: Statistisches Landesamt Thüringen
-60-
508
432
274
118
223
101
146
150
149
183
5 277
2 602
1 967
1 203
1 532
1 187
2 733
2 379
3 199
2 387
4 314
2 295
1 773
880
1 321
1 172
2 101
1 715
2 315
2 231
2 244
1 035
669
332
844
355
1 132
770
1 026
1 131
Information
Behinderung
rauf, dass andere Ursachen allmählich an Bedeutung verlieren. Das
betrifft die angeborenen Ursachen,
Behinderungen auf Grund von Unfällen und Berufskrankheiten sowie
die Kriegs-, Wehr- und Zivildienstbeschädigungen. Damit verweist sie
außerdem darauf, dass die Präventionsstrategien sich nicht nur auf die
Vermeidung von Unfällen, den betrieblichen Gesundheitsschutz, betriebliche Gefährdungsbeurteilung
und Unfallverhütung beziehen darf,
sondern auf die Ausdehnung der gesunden Lebensjahre.
Ursachen von Behinderung
Behinderungen werden im Verlaufe
des Lebens erworben oder sie sind
angeboren. Als erworbene Behinderungen gelten
- durch oder während der Geburt
entstandene Schäden
- durch Krankheiten
- durch körperliche Schädigungen,
zum Beispiel Gewalteinwirkung,
Unfall, Kriegsverletzung
- durch Alterungsprozesse verursacht
Angeborene Behinderungen können
vererbt oder vor der Geburt entstanden sein.
Die überwiegende Anzahl der Behinderungen (ca. 85 % - Stand 2013)
werden krankheitsbedingt und insbesondere im Alter erworben. Bei 4%
der Menschen ist eine Behinderung
angeboren. Bei 1,8 % war die Ursache ein Unfall oder eine Berufskrankheit. Dieser Befund verdeutlicht, dass
die Anzahl der Behinderungen in
dem Maße zunimmt, wie die Anzahl
der hochaltrigen Menschen steigt.
Die Bundesstatistik verweist auch da-
Thüringer Politik mit Bezug auf
Inklusion und Behinderung
Im
Koalitionsvertrag
zwischen
den Parteien DIE LINKE, SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN für
die 6. Wahlperiode des Thüringer
Landtags wird der Begriff Inklusion
acht Mal genannt (Integration von
Flüchtlingen, von Menschen in den
Arbeitsmarkt u.dgl. immerhin zwanzig Mal). Drei Mal wird das Attribut
inklusiv im Sinne von sozialer Inklusion verwendet. Das Ziel der Koalition in Thüringen ist die Inklusion benachteiligter Bevölke­rungsgruppen
und die Umsetzung tatsächlicher
Gleichstellung. Allerdings werden
die Ausdrücke „Inklusion“ und „inklusiv“ ausschließlich auf Behinderung und Schule bezogen. In anderen Bereichen, der Pflege, mit Bezug
auf Armut u.a. scheint es keine Inklusionsansätze zu geben. Wichtig
erscheint den koalierenden Parteien
Inklusion nicht nur im Bildungsbereich, sondern mit Bezug auf den
Arbeitsmarkt. Im Verlauf der Legislaturperiode sollen Maßnahmen und
Modell­projekte für die Erhöhung der
Beschäftigtenquote von Menschen
mit Behinderungen entwickelt werden. Der Grundsatz „ambulant vor
stationär“ soll verwirklicht und selbstständiges Wohnen in der ei­genen
Wohnung oder in einer Wohnge-
-61-
meinschaft unterstützt werden (siehe
Koalitionsvertrag, S.32/33, http://
www.otz.de/documents/12936/0/
Koalitionsvertrag+Rot-RotGr%C3%BCn/cd8995b4-da164816-8284-03dcb3cfbe2e).
Ungeachtet der Beschränkung des
Inklusionsansatzes auf den Behindertenhilfe- und Bildungsbereich
muss auf zwei wichtige Dokumente
hingewiesen werden. Auf den Thüringer Maßnahmenplan (2013), der
vorne beschrieben wurde, sowie den
Thüringer Entwicklungsplan zur Umsetzung der UN-Konvention über die
Rechte von Menschen mit Behinderungen im Bildungswesen bis 2020
(2012). Mit diesen Plänen verfügt die
Landesregierung über Instrumente,
mit denen Inklusion in wichtigen sozialen und Bildungsbereichen praktisch realisiert wird und werden soll.
Auch wenn man einwenden könnte,
dass die Zielgruppe auf Menschen
mit Behinderungen beschränkt ist,
partizipieren von dieser Politik alle
Alters- und sozialen Gruppen.
Wie werden Menschen mit Behinderung in der Welt im Jahr 2035 leben? Zwei Schweizer Autorinnen haben dazu sechs Thesen aufgestellt:
- Behindert sein wird normaler. Politische, gesellschaftliche und technologische, man müsste ergänzen: soziale, wohnungsbauliche
u.a. Entwicklungen führen zu einer
zunehmenden Normalisierung im
Umgang mit Menschen mit Behinderungen.
- Barrieren verschwinden. Die Umwelt wird zunehmend offen und
frei zugänglich für alle Menschen
sein.
- Neue Wohnformen entstehen zwischen Heim und Daheim, sodass
segregierende und exkludierende
Unterbringung vermieden wird
und Wohnraum offen zu sozialen
Orten ist.
- Technologie flexibilisiert Pflege. Die
Technik steht im Dienst der Poten-
Information
Behinderung
tiale der Menschen. Sie degradiert
sie nicht zu Objekten, sondern verschafft ihnen neue Freiheitsräume.
Der Arbeitsmarkt wird solidarischer
und gleichzeitig härter, womit die
Autorinnen meinen, dass die Arbeits- und Lebensformen sich flexibel an Bedürfnisse von Menschen
anpassen können.
Neue Inklusionsansätze reformieren
die Bildungswelt. Menschen mit Behinderungen werden in ineinandergreifenden Bildungs- und Arbeitswelten gefördert.
(vgl. Hauser, Mirjam; Tenger, Daniela; Menschen mit Behinderung in
der Welt 2035. Wie technologische
und gesellschaftliche Trends den Alltag verändern, GDI 2015; http://
www.gdi.ch/media/Summaries/
Menschen_mit_Behinderung_Summary.pdf)
Zusammenstellung durch Dr. Jan
Steinhaußen
Der Behindertenbeauftragte in Thüringen
Das Amt des Thüringer Beauftragten
für Menschen mit Behinderungen
wurde am 1. August 2004 mit der
Absicht geschaffen, den Menschen
mit Behinderungen im Freistaat einen
Ansprechpartner und einen Anwalt ihrer Interessen zur Seite zu stellen. Am
22. Dezember 2015 wurde Joachim
Leibiger zum neuen Behindertenbeauftragten des Freistaates ernannt.
Er trat das Amt zum 1. Januar 2016
an.
Die Aufgaben des Beauftragten sind
in § 17 des Thüringer Gesetzes zur
Gleichstellung und Verbesserung
der Integration von Menschen mit
Behinderungen (ThürGIG) festgelegt. Der Beauftragte hat demnach
darauf hinzuwirken, dass Benachteiligungen abgebaut werden und
die Verbesserung der Gleichstellung
von Menschen mit Behinderungen
erreicht wird. Er hat bei der Erstellung von Rechtsvorschriften, die die
Belange von Menschen mit Behinderungen berühren, beratend mitzuwirken. Er hat darauf hinzuwirken,
dass geschlechtsspezifische behin-
Der Behindertenbeauftragte des Freistaates
Thüringen: Joachim Leibiger
-62-
derungsbedingte Benachteiligungen
abgebaut und verhindert werden. Für
Menschen mit Behinderungen, ihre
Angehörigen und Verbände und Institutionen ist er Ansprechpartner. Er
befördert eine Öffentlichkeitsarbeit
mit dem Ziel, das Verständnis für
Menschen mit Behinderungen in der
Öffentlichkeit zu erweitern. Außerdem
arbeitet er in regionalen und überregionalen Gremien mit und arbeitet
eng mit Institutionen, Verbänden und
Selbsthilfegruppen von Menschen mit
Behinderungen zusammen.
Joachim Leibiger wurde 1953 in Weimar geboren. Er ist seit Geburt sehbehindert und wurde im Jahr 2000
vollblind. Er ist verheiratet, hat 2 Söhne und zwei Enkel.
Nach dem Besuch der Schule folgten
ein Studium zum Betriebswirt und die
Arbeitsaufnahme im Handel in Erfurt.
Nach verschiedenen beruflichen Stationen in leitender Stellung studierte
er von 1978-1981 an der Akademie
für Verwaltungsrecht in Potsdam Babelsberg. Von 1981-1986 war er Angestellter im Öffentlichen Dienst beim
Bezirk Erfurt und anschließend beim
Rat des Kreises/ Landratsamt Weimarer Land im Bereich Wirtschaft.
Ab 1994 war er Geschäftsleiter des
Zweckverbandes Wirtschaftsförderung der Region des nördlichen Weimarer Landes.
Ehrenamtlich hat er sich vor allem
für die Belange von Menschen mit
Behinderung eingesetzt. Er gründete 1990 die Regionalgruppe Thüringen der „Pro-Retina Deutschland
e. V.” Seit 2008 ist er Vorsitzender der
Kreisorganisation Weimar-ApoldaSömmerda des Blinden- und Sehbehindertenverbandes Thüringen e. V.
Seit 2011 ist er Landesvorsitzender
des Blinden- und Sehbehindertenverbandes Thüringen e. V. Außerdem ist
er Mitglied im kommunalen Behindertenbeirat der Stadt Weimar und
dem Landesbehindertenbeirat.
(siehe Webseiten des TMASGFF)
Organisationen
Schutzbund der Senioren
Schutzbund der Senioren
ist für alle offen – 25 Jahre gelebte Inklusion
Der Schutzbund der Senioren und
Vorruheständler Thüringen e. V.
(SBSV) ist nunmehr seit 25 Jahren
fester Bestandteil des ehrenamtlichen
Engagements in der Stadt Erfurt und
in Thüringen. Ein zusammenfassender Rückblick soll die 25 Jahre Erfolgsgeschichte deutlich machen.
Nach der Wende waren viele Menschen plötzlich ohne Arbeit, Senioren waren in Sorge um ihre Rente.
Es musste also etwas getan werden!
Deshalb war das Ziel der Gründer
des Vereins, besonders die Rentner
und Vorruheständler vor Vereinsamung und Armut zu schützen und
sich um ihr physisches und psychisches Wohlergehen zu bemühen.
Aus der politischen Interessenvertretung im Land entwickelten sich praktische Angebote für viele Menschen,
die den SBSV der heutigen Zeit kennzeichnen und deren Leistungen von
den Bürgern Erfurts und Thüringens
dankbar angenommen werden.
Schon sehr früh wurde sportliche Betätigung angeboten. Die 10 Gymnastikgruppen entwickelten sich zu
kleinen sozialen Zentren des Vereins
mit zahlreichen Aktivitäten neben
dem Sport. Aus anfangs einer Radgruppe entstanden die jetzt 13 mit
unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden. Zur gesundheitlichen Prävention gibt es Vorträge und individuelle
Beratungen.
Die Sprachkurse wurden insbesondere für Reisevorbereitungen gegründet und bilden heute einen
festen Bestandteil zur Vertiefung
der Sprachkenntnisse Englisch und
Französisch. Darüber hinaus werden
ständig Kurse zu Interessantem und
Wissenswertem aus Kunst und Kultur
angeboten. Heute gibt es sogar spezielle Kunstreisen. Die Freunde der
Literatur, Malerei, Musik und Fotografie finden in den Interessengruppen fachlich interessierte Mitstreiter
und Anleitung durch Fortgeschrittene.
Es wurde eine differenzierte Beratungstätigkeit für Senioren zu verschiedenen Fragen, die sich insbesondere aus dem noch weitgehend
unbekannten Rechtssystem der
Bundesrepublik ergaben, z.B. Rentenrecht, Erbrecht oder Sozialrecht,
ins Leben gerufen und bis heute in
erweiterter Form durchgeführt. In Erfurter Wohngebieten gibt es starke
Mitgliedergruppen, um in örtlicher
Nähe der Bürger Angebote platzieren zu können – auch ohne lange
Wege. Diese Gruppen haben eigene Initiativen, hier geht es in erster
Linie um die Hilfe zur Selbsthilfe.
Der SBSV ist im Seniorenbeirat der
Stadt Erfurt vertreten und hat dort
wegen seiner Kompetenz einerseits
und der Anzahl der Mitglieder (über
570) andererseits, eine gewichtige
Stimme. In Projekten, Gremien und
Arbeitsgruppen für Soziales und Kulturelles sind die aktiven Senioren
gefragt und anerkannt, was auch
zu zahlreichen Auszeichnungen der
Stadt, des Landes und des Bundes
führte. Die Stadt Erfurt unterstützt den
Verein durch eine Leistungsvereinbarung, die auch zum Betreiben eines
Kompetenz- und Beratungszentrums
am Juri-Gagarin-Ring 64 führte – als
Anlaufpunkt und Veranstaltungsort
für zahlreiche Aktivitäten. Durch die-
Abb. 1: Die ersten von der Volkshochschule im Jahr 2008 ausgebildeten Seniortrainer, darunter noch heute aktive Gruppenleiter wie Karin
Heling (Fotogruppe Focus) und Gerlinde Machate (Literatursalon) (vorn, 5. und 6. von links). Monika Baldofski (vorn 7. von links) ist im Ruhestand, arbeitet zu besonderen Anlässen aktiv mit. In der Mitte: Gisela Lammert, die den Vorstand noch heute berät.
-63-
Organisationen
Schutzbund der Senioren
se Struktur erweiterte der Verein seine Angebote für alle Generationen.
Er verknüpfte dadurch auf eine besondere Weise Haupt- und Nebenamt miteinander. Die Mentor Leselernhelfer betreuen seit 2004 Kinder
von Eltern, die kaum Möglichkeiten
zur Unterstützung haben, z. B. auch
von ausländischen Mitbürgern, und
vermitteln den Kindern die Freude
am Lesen. In 17 Schulen unserer
Stadt sind ehrenamtliche Mentoren/
innen aktiv. Es gab und gibt gemeinsame Projekte und Patenschaften mit
Kindergärten und Schulen, z. B. der
Erfurter Schiller-Schule oder dem
Förderzentrum „Emil Kannegießer“.
Bei den sozialen Anliegen errang
Abb. 2: Frau Barbara Schumann, Vorstandsvorsitzende des SBSV, Herr Jose Paca, Vorsitzender des Ausländerbeirates, und Marianne Schwalbe, Leiterin des Kompetenz- und Beratungszentrums, beim 2. Seniorentag 2015 in Erfurt
Frau Andrea Zerull (rechts, Thüringerin des Monats April 2015) und Frau Irina Karow (Bundesverdienstkreuz 2008) leiten die „Mentor – die Leselernhelfer“-Gruppe
-64-
vor allem die niedrigschwellige Demenzbetreuung und -beratung sowie
der Betreuungs- und Begleitdienst
überregionale Anerkennung. Dabei
wurden die Betreuung von Senioren
und die Beratung von Angehörigen
übernommen. Ehrenamtliche Mitarbeiterinnen, früher in Sozialberufen
tätig, engagieren sich dabei.
Der Verein wirkt in zahlreichen überregionalen Projekten mit! Seitens der
Stadt Erfurt wurde die Ausbildung
von Seniortrainer/innen
an der
Volkshochschule in Erfurt fortgesetzt
und somit eine wichtige personelle
Voraussetzung für Vereine geschaffen. So wurde im Jahre 2008 die
erste Gruppe ausgebildet. Sie erhielt
vom Oberbürgermeister ein entsprechendes Zertifikat (Abb. 1). Dieses
Foto wurde von einer Schülerin innerhalb eines Projektes im Rathaus
aufgenommen – auch ein Zeugnis
für Befähigung im Austausch der
Generationen. Die ausgebildeten
Seniortrainer/innen werden für Vereins- und Projektarbeit eingesetzt.
Eine junge Frau aus Afghanistan
absolvierte im Verein ein Praktikum
– wichtig für ihre Berufsausbildung
und damit Integration. Für die Arbeitsagentur hat der Verein Praktikumsplätze für Betreuungsarbeit
bereitgestellt, bei denen die Praktikanten Verantwortung für die ältere
Generation übernehmen. In einem
erfolgreichen Projekt, das Barbara Schumann leitete, haben Senioren und Förderschüler gemeinsam
nachhaltige Unterrichtsmittel für das
Fach Geschichte erarbeitet und dabei viel voneinander gelernt. Der
SBSV hat sich in den vergangenen
Jahren zum Träger für eine verantwortungsvolle Inklusion breiter Bevölkerungskreise entwickelt. Mit dem
Kompetenz- und Beratungszentrum
hat er dafür ein effektives Instrument
gefunden, das sich ständig den neuen Herausforderungen anpasst. Aktuell beschäftigt sich der Verein mit
Organisationen
Schutzbund der Senioren
neuen Formen gesucht. Der neuen
Zeit stellt sich der SBSV durch eine
„Verjüngungskur“, in dem im Vorjahr
ein Senioren Computer Club (SCC)
gegründet wurde.
Im Jahr 2016, dem 25. Jahr seines
Bestehens, erinnert sich der SBSV
nicht nur seiner Entwicklung allgemein, sondern auch der vielen ehemals aktiven Mitglieder, deren Leistung durch heutige Aktivitäten eine
würdige Anerkennung erfährt.
Erdmann Schleinitz
Frau Anke Müller betreut die Bildungsveranstaltungen für Kultur, Sprachen, PC-Kurse
und auch die Kultur- und Bildungsreisen.
Otto Gerling (rechts) gründete die ersten Radgruppen des SBSV, ihm folgte Dieter Dennstedt
(2. von rechts) im Amt, der mittlerweile bei 13 Gruppen angekommen ist und mit Radlern
auch per Bus ins Ausland fährt und dort Touren macht.
Frau Rita Hofmann koordiniert den Einsatz
der Ehrenamtlichen und organisiert generationsübergreifende Veranstaltungen, insbesondere die Patenschaft mit der SchillerSchule. Sie hält auch den Kontakt zu Peter
Sodann, für dessen DDR-Buchsammlung sie
Bücher der Senioren sammelt.
dem demografischen Wandel und
dessen Folgen sowie mit der Zuwanderung von ausländischen Mitbürgern. Diese Dynamik ist eine große
Herausforderung an die „Generation Unruhestand“ – denn der Altersdurchschnitt der Mitglieder liegt
immerhin über 70 Jahre. Besonders
kümmert man sich in enger Zusammenarbeit mit den Selbsthilfegruppen um die hochaltrigen Senioren,
deren Anzahl im Verein natürlich mit
der Zeit wächst. Hier wird aktiv nach
Frau Heidi Finke turnt seit Jahren mit ihren Damen und sorgt auch mit anderen Freizeitunternehmungen der Gruppen für ein angenehmes Lebensgefühl der Seniorinnen
-65-
Organisationen
Schutzbund für Senioren
Headerbild: Frau Barbara Domin leitet den
Senioren-Chor „Cantabile“, der weithin bekannt und beliebt ist.
Die Hobby-Malerin Ute Zwilling zeigt Frau
Erdmenger, Leiterin des Frauenzentrums, ihre
Bilder anlässlich einer Vernissage
Frau Anke Müller (links, im Gewand der Frau
von Dacheröden) und Frau Diana Troica
beim gemeinsamen Auftritt in der Autorenveranstaltung „Federlesen“ im „Haus Dacheröden“. Beide organisieren und gestalten
auch die beliebten Kultur- und Bildungsreisen des SBSV
Frau Brigitte Noatnik organisiert die Betreuung Bedürftiger, berät aber auch die Angehörigen von Demenzerkrankten.
Die Autorin Dagmar Meyer schreibt und liest
aus ihren Werken, die einfühlsam und von
Lebenslust geprägt sind. Sie gehört zu den
langjährig Aktiven des SBSV
Frau Monika Wagner (rechts) zeigt ihrer
Malgruppe „Mittwochsmaler“ eine neue
Maltechnik
Frau Lederhausen unterrichtet nicht nur seit
einigen Jahren – ihre Senioren-Schüler bilden mit ihr eine „englische“ Gemeinschaft.
Hier während einer Auszeichnung für ihr
langjähriges Engagement.
Frau Brigitte Straubing (links) sorgt mit ihren
Bastelideen für den Zeitvertreib von Senioren
im SBSV, in Seniorenheimen und in betreuten
Clubs Erfurter Wohngebiete
-66-
Frau Diana Troica (links) unterrichtet im SBSV
Kunstgeschichte, Kunst und Englisch und betätigt sich als gewandte Moderatorin und
Autorin, z. B. beim „Erfurter Federlesen“, ein
Autorenwettbewerb der Senioren
Frau Danuta Schmidt ist im Stadtvorstand
und hält mit ihrem Büro den Stadtverband
zusammen, ist für alle organisatorischen und
finanziellen Belange zuständig
Frau Waltraud Hapke, sie ist fast 80 Jahre
alt, hat die finanziellen Belange des SBSVLandesverbandes fest im Griff. Ohne diese
Tätigkeit würde ihr und erst recht dem Verein
viel fehlen.
Kontakt:
Schutzbund der Senioren und Vorruheständler Thüringen e.V.
Juri-Gagarin-Ring 60
99084 Erfurt
Tel.: 0361 262 07 35
www.seniorenschutzbund.org
info@seniorenschutzbund.org
Organisationen
Lebenshilfe
„Alt wie ein Baum möchte ich werden …“ – Zur
Situation alt gewordener
Menschen mit geistiger
Behinderung – Die Lebenshilfe für Menschen
mit geistiger Behinderung – Landesverband
Thüringen e. V.
Wir über uns
Die Lebenshilfe ist ein gemeinnütziger Verein, den Eltern von Kindern
mit geistiger Behinderung und engagierte Fachleute 1958 in Marburg
gegründet haben. Im Prozess der
Wiedervereinigung beider deutscher
Staaten im Jahre 1990 nahmen Eltern und Angehörige von Töchtern
und Söhnen mit Behinderung ihr
Geschick selbst in die Hand und
bauten in ganz Thüringen mit hohem ehrenamtlichen Einsatz nach
dem Vorbild der Bundesrepublik
Deutschland rechtlich eigenständige regionale Elternvereine als Mitgliedsorganisationen auf, die sich in
der Lebenshilfe Thüringen auf Landesebene zusammenschlossen. Gegenwärtig bestehen in Thüringen 37
Lebenshilfe-Mitgliedsorganisationen
mit rund 3.000 Mitgliedern.
Hauptsächliches Ziel der Lebenshilfe
war und ist die umfassende Teilhabe
von Menschen mit Behinderungen
und ihrer Familien am Leben in unserer Gesellschaft. Die Lebenshilfe will
Menschen mit Behinderungen und
ihre Angehörigen unterstützen, von
der Kindheit bis ins Alter ein möglichst normales Leben zu führen. Die
Lebenshilfe unterhält in Thüringen
eine Vielzahl verschiedener Einrichtungen und mobiler bzw. ambulanter Dienste zur Förderung und Begleitung von Menschen mit geistiger
Behinderung und zur Unterstützung
ihrer Angehörigen, angefangen von
den Frühförderstellen, integrativen
Kindertagesstätten und Förderschulen mit dem Schwerpunkt geistige
Entwicklung, über Wohneinrichtungen bis hin zu Ausbildungs- und Arbeitsangeboten. 7.500 Menschen
mit vorrangig geistiger Behinderung
nutzen die Vielzahl ambulanter und
stationärer Angebote der Mitgliedsorganisationen der Lebenshilfe Thüringen.
In diesem Sozialverband arbeiten
Eltern, Angehörige und Fachleute
zusammen. Als Selbsthilfe-, Elternund Fachverband setzt sich die Lebenshilfe Thüringen dafür ein, dass
Menschen mit geistiger Behinderung
als gleichberechtigte Mitglieder der
Gesellschaft anerkannt werden und
alle Chancen erhalten, ihr Leben so
selbstständig wie möglich zu gestalten.
Inklusion als Vision für alle Menschen mit Behinderung unabhängig vom Alter
Seit 2009 hat Deutschland die UNKonvention über die Rechte von
Menschen mit Behinderungen (UNBRK) ratifiziert, und es besteht der
gesellschaftliche Auftrag, Inklusion
von Menschen mit Behinderung in
allen Lebensbereichen umzusetzen.
Im Kern geht es darum, dass Menschen mit Behinderungen selbstverständlich und gleichberechtigt
inmitten der Gesellschaft mit allen
anderen Bürgern leben und teilhaben. In der inklusiven Gesellschaft
gibt es keine definierte Normalität,
die jedes Mitglied dieser Gesellschaft anzustreben oder zu erfüllen
hat. Hier muss sich nicht der Einzelne dem System anpassen, sondern
die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen müssen so flexibel gestaltet
sein sowie die jeweilige individuelle
Unterstützung gewährt werden, dass
Teilhabe für jeden Einzelnen möglich
ist. In einer inklusiven Gesellschaft
ist es normal, verschieden zu sein.
-67-
Jeder ist willkommen. Und davon
profitieren alle: zum Beispiel durch
den Abbau von Hürden, damit die
Umwelt für alle zugänglich wird,
aber auch durch weniger Barrieren
in den Köpfen, mehr Offenheit, Toleranz und ein besseres Miteinander.
Die Lebenshilfe Thüringen unterstützt
diese Vision vom Zusammenleben.
Dabei gilt es stets genau hinzusehen,
ob das, was unter dem Motto der Inklusion dargestellt wird, tatsächlich
Inklusion ist. Als Interessenvertreter
für Menschen mit geistiger Behinderung begleiten wir diesen Prozess
kritisch und beziehen Menschen mit
Behinderungen als Experten in eigener Sache ein.
Wichtig ist, dass Inklusion uneingeschränkt für alle Menschen mit
geistiger Behinderung gelten muss,
unabhängig vom Schweregrad der
Behinderung, unabhängig vom persönlichen Unterstützungsbedarf und
unabhängig vom Alter. In Artikel 8
der UN-BRK wird auf eine mögliche
Altersdiskriminierung explizit eingegangen. Es heißt dort, dass die
Vertragsstaaten verpflichtet sind, „...
sofortige, wirksame und geeignete
Maßnahmen zu ergreifen, um ….
Klischees, Vorurteile und schädliche
Praktiken gegenüber Menschen mit
Behinderungen, einschließlich aufgrund … des Alters, in allen Lebensbereichen zu bekämpfen;“ (1)
Für das anspruchsvolle Ziel der Inklusion von Menschen mit Behinderung
bedarf es noch großer Anstrengungen aller Akteure der Gesellschaft.
Altwerden und Behinderung
In Deutschland ist die Gesamtbevölkerung vom demographischen
Wandel betroffen, Menschen mit Behinderungen jedoch in besonderer
Weise. Aufgrund der Ermordung von
Menschen mit geistiger Behinderung
im Nationalsozialismus überlebten
nur sehr wenige Menschen mit Behinderungen das nationalsozialis-
Organisationen
Lebenshilfe
tische Regime. Nach 1945 wuchs
und wächst in Deutschland eine
ganze Generation von Menschen
mit (geistiger) Behinderung heran,
die gegenwärtig ihren „Ruhestand“
erreicht und die diese dritte Lebensphase in Würde erleben und gestalten möchte. Das ist eine relativ neue
Herausforderung, vor der unsere
Gesellschaft steht und die ebenso
für unseren Verband ein wichtiges
Anliegen ist. Wertvolle Orientierung
gibt das Positionspapier „Mittendrin – auch im Alter! Senioren mit
geistiger Behinderung in der Gesellschaft“, das die Bundesvereinigung
Lebenshilfe e. V. im August 2015
veröffentlicht hat.
Früher hieß es, Menschen mit geistiger Behinderung werden nicht alt.
Inzwischen ist erwiesen, dass sich
die durchschnittliche Lebenserwartung von Menschen mit (geistiger)
Behinderung nur wenig von der der
Gesamtbevölkerung unterscheidet.
Das ist eine positive Botschaft und
Ausdruck wesentlich verbesserter Lebensbedingungen für Menschen mit
Behinderungen dieser Generation.
In der Studie „Vorausschätzung der
Altersentwicklung von Erwachsenen
mit geistiger Behinderung in Westfalen-Lippe“ wird hochgerechnet, dass
„die Anzahl der geistig behinderten
Erwachsenen … von ca. 27.000 in
2010 auf ca. 38.000 in 2030 steigen (wird).“ (2) Um die Dimension
zu verdeutlichen, in der Senioren mit
geistiger Behinderung unterschiedliche Arten von Hilfen im Ruhestand
zur Gestaltung des Tages benötigen,
kommen die Autoren der o.g. Studie
für Westfalen-Lippe zu dem Ergebnis, dass deren Anzahl „von 1415 im
Jahre 2010 auf 8307 im Jahr 2030“
steigt, das bedeutet eine Erhöhung
um beinahe 600 %. (3) Für Thüringen
existiert bisher keine Studie, aber die
Ergebnisse können als Anhaltspunkt
dienen und das Ausmaß der Herausforderung verdeutlichen.
Wie der Psychologe und Psychotherapeut Michael Wunder feststellte,
unterscheiden sich alte Menschen
mit geistiger Behinderung hinsichtlich ihrer persönlichen Situation
von anderen nicht behinderten alt
gewordenen Menschen. Dies zeigt
sich insbesondere hinsichtlich ihres
Selbstbildes, der Verarbeitungsmöglichkeiten altersbedingter Körperveränderungen und Leistungseinbußen
sowie der Möglichkeiten der Erfahrung von Zufriedenheit durch Lebenserfüllung. (4) Das hat sehr viel mit
deren besonderen biographischen
Erfahrungen zu tun, die z.B. durch lebenslange Abhängigkeit von den Eltern oder das Leben in Einrichtungen
geprägt sind. Für Leistungsanbieter,
Sozialbehörden und Politiker bedeutet dies, dass Menschen mit geistiger
Behinderung beim Übergang in den
-68-
sogenannten Ruhestand und bei der
Gestaltung des dritten Lebensabschnitts nach wie vor Unterstützung
und Begleitung und adäquate Angebote entsprechend ihrer Bedürfnisse
und Interessen benötigen.
Vielfältige Angebote für Senioren mit Behinderungen in ganz
Thüringen notwendig
Die Lebenshilfe Thüringen e. V. beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der
Frage, welche Anforderungen Menschen mit geistiger Behinderung im Alter an die Gesellschaft stellen. Entsprechend des Grundsatzes „Nichts über
uns ohne uns!“ wurden 38 Menschen
mit Behinderungen im Rahmen einer
Umfrage 2014 gefragt, wie sie sich ihr
Leben im Ruhestand vorstellen.
Die Ergebnisse der Umfrage wurden am 27.05.2014 zur Thüringer
Organisationen
Lebenshilfe
Lebenshilfe-Tagung von Menschen
mit Behinderung für Menschen mit
Behinderung diskutiert. Insgesamt
46 Menschen mit Behinderung aus
20 verschiedenen Einrichtungen von
9 Lebenshilfe-Trägern Thüringens
tauschten sich u. a. über die Umsetzung der UN-BRK im sogenannten Ruhestand als Altersrentner aus.
Schirmherrin der Veranstaltung war
die damalige Thüringer Ministerin
für Soziales, Familie und Gesundheit, Heike Taubert.
Auf der Tagung wurde festgestellt,
dass immer mehr Beschäftigte in der
Werkstatt für behinderte Menschen
(WfbM) kurz vor der Altersrente stehen oder bereits im Ruhestand sind.
Gegenwärtig fehlen jedoch in vielen
Regionen passende Angebote für
sie zur Gestaltung des Tages bzw.
zur Teilhabe am Leben der Gemein-
bricht jäh ab, die ein Leben lang
neben der Möglichkeit der Beschäftigung ebenso der Mittelpunkt der
sozialen Teilhabe und Anerkennung
war.
Insbesondere für diejenigen, die
noch zu Hause leben oder in der eigenen Wohnung, droht die soziale
Isolation, weil i. d. R. nur für Bewohner der Wohnstätten ein Angebot
besteht. Da Menschen mit geistiger
Behinderung oft keine eigene Familie gegründet haben, können sie
zum großen Teil keine Hilfe von Kindern und weiteren Familienangehörigen erwarten. Die eigenen Eltern
sind aufgrund eigenen hohen Alters
oft nicht mehr in der Lage, sie zu versorgen, oder bereits verstorben.
Um ebenso im Alter ein Leben in
Würde führen zu können, benötigen Menschen mit Behinderungen
Menschen in Verantwortungsrollen leben in aller Regel zufriedener, glücklicher und gesünder
als Menschen ohne Aufgaben.
schaft. Ein Teil der betroffenen Menschen sieht deshalb dem Ruhestand
mit Unsicherheit und Unbehagen
entgegen und befürchtet eine große
„Leere“. Die Verbindung zur WfbM
weiterhin Hilfe und Unterstützung im
Alltag im Sinne der Eingliederungshilfe. Der Anspruch auf Teilhabe am
Leben in der Gemeinschaft besteht
auch im Alter. Bisher hat das Land
-69-
Thüringen noch kein Konzept für die
alt gewordenen Menschen mit Behinderung und die Schaffung von
Angeboten in den Kommunen oder
Landkreisen ist angesichts knapper
Kassen äußerst schwierig.
Es werden in großer Anzahl offene
Angebote vor Ort gebraucht, in dem
jeweiligen Sozialraum oder Quartier,
um das Leben und Wohnen in dem
gewohnten Zuhause oder in der
angestammten Umgebung solange
wie möglich aufrecht zu erhalten
und eine Aufnahme in eine stationäre Einrichtung zu verhindern oder
hinauszuzögern. Die bereits bestehenden ambulanten, familienentlastenden und -unterstützenden Dienste
wären dafür geeignet. Der weitere
Ausbau bedarf einer entsprechenden Finanzierung und Unterstützung
vor Ort.
Auf Initiative der Nichtbehördenvertreter des Landesbehindertenbeirats
Thüringen fand am 22.10.2015 im
Thüringer Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Frauen und Familien in Erfurt eine Sondersitzung
zur Thematik der alt gewordenen
Menschen mit Behinderung statt.
Wiederum wiesen Vertreter der Menschen mit geistiger und körperlicher
Behinderung, der schwerhörigen
und gehörlosen, blinden und sehbehinderten Menschen sowie der Menschen mit psychischer Erkrankung
oder seelischer Behinderung auf
vielfältige Probleme und fehlende
Angebote für diesen Personenkreis
in Thüringen hin. Als Sprecher des
Lebenshilfe-Rats für Menschen mit
geistiger Behinderung, dem Selbstvertretungsgremium von Menschen
mit Behinderung der Lebenshilfe Thüringen, beteiligte sich Ronald Wirtz
an der Diskussion. Am Ende wurde
ein gemeinsames Forderungspapier
(5) an die Vertreter des Sozialministeriums und an alle anderen Behördenvertreter des Landesbehindertenbeirats übergeben.
Organisationen
Lebenshilfe
Senioren mit geistiger Behinderung
wollen ihren Ruhestand selbstbestimmt gestalten und weiterhin Kontakt zu anderen, z.B. Arbeitskollegen,
haben. Ihre persönlichen Wünsche
und Vorstellungen, die nach Interessen und Neigungen sehr unterschiedlich sind, müssen berücksichtigt werden.
Mut machende Beispiele guter Praxis
werden in der Publikation „Senioren
mit Behinderung heute. Mittendrin
– auch im Alter“ der Bundesvereinigung Lebenshilfe (Dezember 2015)
vorgestellt.
Anspruch auf Teilhabe für Menschen mit Behinderungen ohne
Altersgrenze
In jüngster Zeit erhalten immer mehr
Menschen mit geistiger Behinderung und ihre gesetzlichen Betreuer mit Eintritt ins Rentenalter die
Auskunft, dass kein Anspruch auf
Leistungen zur Teilhabe am Leben
der Gemeinschaft mehr besteht, sie
werden vorzugsweise auf ein Pflegeheim verwiesen. Dies ist zwar rechtlich nicht korrekt, wird aber in der
Praxis aus Kostengründen immer
wieder versucht, solange Betroffene
nicht widersprechen und den Rechtsweg beschreiten. (6) Die Lebenshilfe
Thüringen fordert, dass das lebenslange Recht von Menschen mit Behinderung auf Teilhabe am Leben
der Gemeinschaft umgesetzt wird,
unabhängig vom Alter und von der
Schwere der Behinderung.
Für eine große Zahl der Menschen
mit Behinderungen, die aus der
WfbM ausscheiden und in die Altersrente gehen, ist das Pflegeheim nicht
der geeignete Ort. Eingliederungshilfe und Pflege unterscheiden sich
in ihrer Zielstellung. Berechtigte Ansprüche in beiden Bereichen müssen
bestehen bleiben und dürfen nicht
gegeneinander aufgerechnet werden. Diese Menschen wollen ihren
Hobbys nachgehen, ins Kino gehen,
„Menschen, die die meisten positiven Gefühle, das stärkste Engagement und den meisten
Sinn im Leben haben, sind die Glücklichsten, und sie sind am stärksten mit dem Leben zufrieden.“ (Martin Seligmann)
Freunde besuchen oder eine Reise
unternehmen. Um all diese Dinge
realisieren zu können, benötigen sie
jedoch aufgrund ihrer Behinderung
Unterstützung oder Assistenz. In einem Pflegeheim steht die Umsetzung
dieser Teilhabeleistungen nicht auf
der Tagesordnung.
Voller Anspruch auf Pflege für
Menschen mit Behinderungen in
den Wohnstätten der Behindertenhilfe
Wie schon beschrieben wächst gegenwärtig eine Generation alt gewordener Menschen mit Behinderung heran. Demzufolge werden
ebenso die Bewohner in den Wohnstätten der Behindertenhilfe immer
älter und das Risiko pflegebedürftig
zu werden, nimmt zu. Damit verbunden sind Schwierigkeiten in der
Versorgung, da diese Einrichtungen
entsprechend des § 43a SGB XI für
die pflegebedürftigen Bewohner kei-
-70-
ne adäquate Finanzierung erhalten.
Von der zuständigen Pflegekasse
werden maximal 266,- Euro monatlich je pflegebedürftiger Bewohner
an den zuständigen Sozialhilfeträger
gezahlt unabhängig von der Pflegestufe der Bewohner.
Ein weiteres Problem stellt die Inanspruchnahme von Leistungen der
häuslichen Krankenpflege durch Bewohner der Wohnstätten der Behindertenhilfe dar, z. B. die dauerhafte
Versorgung bei chronischen Krankheiten oder nach Klinikaufenthalten
sowie die Beantragung von Hilfsmitteln. Die Wohnstätte der Behindertenhilfe muss als eigene Häuslichkeit
nach § 37 SGB V anerkannt werden.
Aufgrund der beschriebenen Situation müssen gegenwärtig Menschen
mit geistiger Behinderung und hoher
Pflegebedürftigkeit in ein Pflegeheim
ziehen. Oft leben sie über viele Jah-
Organisationen
Lebenshilfe
re oder Jahrzehnte in den Einrichtungen der Behindertenhilfe und es ist
ihr vertrautes und lieb gewordenes
Zuhause geworden.
Es muss möglich sein, dass pflegebedürftigen Menschen mit Behinderungen Leistungen der Pflege und
der medizinischen Behandlungspflege unabhängig von ihrem Wohnort
zur Verfügung stehen.
Lebenswerte, barrierefreie und
offene Lebensräume schaffen (7)
Es liegt auf der Hand, dass alt gewordene Menschen mit Behinderungen nicht nur individuelle Unterstützung zur Teilhabe am Leben der
Gemeinschaft benötigen. Ebenso
wichtig ist es, deren Lebensräume so
zu gestalten, dass sie bedarfsgerecht
wohnen, örtliche kulturelle, sportliche u. a. Angebote ohne Hindernisse nutzen können und wohnortnahe
Beratungs- und Dienstleistungen
vorhanden sind. Dabei sind z. B.
neben der Zugänglichkeit von Gebäuden und öffentlichen Verkehrsmitteln für Rollstuhlfahrer ebenso ein
wertschätzendes gesellschaftliches
Umfeld wichtig oder die Förderung
sozialer Kontakte mit Nachbarn und
anderen Bürgern.
Es ist sinnvoll, dass bei der alters- und
behindertengerechten Gestaltung
des Sozialraumes oder des Quartiers die Träger der Behinderten- und
Altenhilfe enger zusammenarbeiten,
sich vernetzen und verzahnen. Bisher
arbeiten Gremien der Vertretung alter Menschen wie die kommunalen
Seniorenbeauftragten und Vertretungen der Menschen mit Behinderungen wie die kommunalen Behindertenbeauftragten oft parallel und
nebeneinander. Aufgrund vieler gemeinsamer Ziele und Interessen bei
der Gestaltung der Lebensräume in
den Kommunen ist ein abgestimmtes
und koordiniertes Zusammenwirken
der Gremien beider Bereiche sinnvoll und anzustreben.
Bei den notwendigen Planungen zur
zukünftigen kommunalen Entwicklung in den Landkreisen, Städten
und Gemeinden müssen Bedürfnisse und Bedarfe aller hier lebenden
Menschen der Region berücksichtigt
werden, um zu tragbaren gemeinsamen Lösungen zu kommen. Zukünftig ist es dringend geboten, dabei
die Erfordernisse der Lebenswelten
von Senioren inklusive jener mit Behinderungen wesentlich stärker in
den Blick zu nehmen. In den verschiedenen Regionen Thüringens, in
den Städten und ländlich geprägten
Regionen, gilt es je nach aktueller
demographischer Entwicklung, spezifische Wege und Modelle zu finden.
Ohne zusätzliche Investitionen und
Anstrengungen ist dies jedoch nicht
zu meistern. Finanzschwache Kommunen und Landkreise müssen diesbezüglich vom Land Thüringen unterstützt werden.
Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung
Landesverband Thüringen e. V.
Rudolstädter Straße 39
07745 Jena
Tel. 03641-334395 o. 336508
Fax: 03641-336507
Email: info@lebenshilfe-thueringen.de
www.lebenshilfe-thueringen.de
Literatur
(1) Übereinkommen der Vereinten Nationen
über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, hrsg. vom BMAS Januar
2010
(2) Mittendrin – auch im Alter! Senioren
mit geistiger Behinderung in der Gesellschaft, Ein Positionspapier der Bundesvereinigung Lebenshilfe e. V., hrsg. von
der Bundesvereinigung Lebenshilfe e. V.,
August 2015, S. 7
(3) Mittendrin – auch im Alter! Senioren
mit geistiger Behinderung in der Gesellschaft, Ein Positionspapier der Bundesvereinigung Lebenshilfe e. V., hrsg. von
der Bundesvereinigung Lebenshilfe e. V.,
August 2015, S. 7
-71-
(4) Vgl. Wunder, Michael, Der dritte Lebensabschnitt bei Menschen mit Behinderung. Neue Herausforderungen an die
Behindertenhilfe, o. J., www.beratungszentrum-alsterdorf.de
(5) Forderungspapier der Nichtbehördenvertreter des Landesbehindertenbeirats
zur Verbesserung der Situation altgewordener Menschen mit Behinderung in
Thüringen (erarbeitet für die Sondersitzung des Gremiums zu dieser Thematik
am 22.10.2015), www.thueringen.de/
th7/landesbehindertenbeirat/aktuelles
(6) Vgl. Mittendrin – auch im Alter! Senioren
mit geistiger Behinderung in der Gesellschaft, Ein Positionspapier der Bundesvereinigung Lebenshilfe e. V., Bundesvereinigung Lebenshilfe e. V., August 2015,
S. 20
(7) Vgl. Mittendrin – auch im Alter! Senioren
mit geistiger Behinderung in der Gesellschaft, Ein Positionspapier der Bundesvereinigung Lebenshilfe e. V., hrsg. von
der Bundesvereinigung Lebenshilfe e. V.,
August 2015, S. 9
Organisationen
Literatur
Die Lebenshilfe ist nicht nur ein Verband, der sich um die konkreten Belange innerhalb der Behindertenhilfe
und die Sozialarbeit mit Menschen mit Behinderung bemüht, sondern der politische und fachwissenschaftliche
Expertise und damit Öffentlichkeit für Menschen mit Behinderung herstellt. Exemplarisch sind dafür zwei neue
Publikationen sowie ein Positionspapier der Lebenshilfe zum Umgang mit älteren Menschen mit geistigen Behinderungen.
cen in den Fokus von Sozial- und
Bildungsarbeit, die früher eklatant
ausgeschlossen wurden.
Der vorliegende Herausgeberband
thematisiert dieses Handlungsfeld.
Dazu werden sowohl auf disziplinärer wie auch auf professionell-praktischer Ebene tragfähige Legitimationsfiguren und praktische Konzepte
identifiziert, um die umfassende Teilhabe von Kindern, Jugendlichen
und Erwachsenen mit schwerer und
mehrfacher Behinderung am allgemeinen Bildungssystem zu sichern
und der Gefahr eines erneuten Ausschlusses zu begegnen.
Menschen mit schwerer und
mehrfacher Behinderung galten
– bis in die jüngste Vergangenheit – als „bildungsunfähig“.
Derart klassifiziert wurde ihnen
sozial und anthropologisch lediglich eine Randstellung in der
Gesellschaft zugewiesen. Dies
implizierte einen umfassenden
Ausschluss aus allen pädagogischen
Handlungsfeldern.
Kein anderer Personenkreis ist
historisch derart umfassend
von Ausgrenzung betroffen wie
Menschen, die als schwer- und
mehrfachbehindert bezeichnet
werden. Ihnen drohte und droht
die gesellschaftliche Bewertung
als „nicht-inkludierbarer Rest“
von Ausschluss betroffen zu sein.
Mit dem Anspruch um Inklusion ändern sich Perspektiven. Es
rücken auch jene Menschen mit
schwerer und mehrfacher Behinderung und deren Teilhabechan-
Auch Menschen mit geistiger Behinderung werden mittlerweile alt. Z.T.
ist das hohe Alter wie im Falle von
dementiellen Erkrankungen geradezu assoziiert mit einer progredierenden Behinderung. Die hier abgebildete Handreichung befasst sich mit
den Herausforderungen des Alterns
-72-
von Menschen mit Behinderung.
Dabei geht es um Potenziale, die
im Alter liegen und deren inklusive
Bewertung. Dabei erfolgt ein Blick
auf Ressourcen im Wohnumfeld von
Menschen mit geistigen Behinderungen, auf personenzentrierte Hilfen,
auf soziale Netzwerke und soziale
Unterstützung sowie eine integrierte
regionale Versorgungsplanung.
Vor dem Hintergrund, dass mit der
demografischen Alterung auch die
Anzahl von Menschen mit Behinderungen zunehmen wird, formuliert
die Lebenshilfe politische Positionen,
die auch für den Landesseniorenrat
und kommunale Seniorenbeiräte
Orientierung sind. Zu solchen gehört,
- dass soziale Räume offen und barrierefrei sein müssen, damit alle
Menschen in ihnen leben können
Organisationen
Literatur
Zeitschrift für Inklusiononline.net
- dass Menschen mit Behinderungen einen Anspruch auf eine
unabhängige und umfassende Beratung beim Übergang
in den Ruhestand haben, die
ihnen Teilhabemöglichkeiten
und -chancen eröffnet
- dass Angehörige an dem Prozess des Älterwerdens von
Menschen mit Behinderung
teilhaben können und dafür
die nötige Unterstützung erfahren
- dass es flächendeckend Möglichkeiten gibt, allmählich und
schrittweise aus Werkstätten
auszuscheiden und Angebote
von Teilzeitarbeit bestehen
- dass für ältere Menschen mit
einer geistigen Behinderung
Tagesangebote bestehen, die
ihren individuellen Bedürfnissen entsprechen und die in
ihrem Sozialraum vorgehalten
werden
- dass für ältere Menschen mit
einer geistigen Behinderung
die Möglichkeit besteht, in ihrer Gemeinde zu leben, in der
sie über Jahre und Jahrzehnte
sozialisiert waren
- dass Ältere mit einer Behinderung eine ihnen angemessene
Wohnform wählen können und
sie in dieser Unterstützung erfahren
- dass auch beim Sterben sichergestellt wird, dass enge Bezugspersonen anwesend sein
können
- dass Ressourcen bereitgestellt
werden, die eine adäquate
Teilhabe gewährleisten
Konzept
Die „Zeitschrift für Inklusion“ veröffentlicht Fachbeiträge aus den Bereichen der integrativen Pädagogik
und Inklusion. Die Artikel werden
durch ein peer-review Verfahren
geprüft, bevor sie in einer Ausgabe
veröffentlicht werden. Die Inhalte
der „Zeitschrift für Inklusion“ sollen
aktuelle pädagogische Diskussionen
vorantreiben und gesellschaftspolitisches Handeln durch fundierte Argumente stärken.
Mit der Veröffentlichung stimmen die
Autorinnen und Autoren zu, dass der
Textbeitrag in der Internet-Volltextbibliothek bidok, online im Internet
unter: http://bidok.uibk.ac.at, archiviert wird.
Diese Zeitschrift bietet freien Zugang
(Open Access) zu ihren Inhalten,
entsprechend der Grundannahme,
dass die freie öffentliche Verfügbarkeit von Forschung einem weltweiten
Wissensaustausch zugutekommt.
Was ist die „Zeitschrift für Inklusion“?
Die „Zeitschrift für Inklusion“ ist eine
Fachzeitschrift mit dem Fokus integrativer Pädagogik und Inklusion.
Integrative Pädagogik beschäftigt
sich mit dem gemeinsamen Leben,
Lernen und Arbeiten von behinderten und nichtbehinderten Kindern,
Jugendlichen und Erwachsenen in
allen Lebensbereichen. Inklusion ist
die Vision von einem gesellschaftlichen Zusammenleben, in der stigmatisierende Dichotomien wie z. B.
„behindert / nichtbehindert“ bedeutungslos werden. Darüber hinaus
befasst sich Inklusion mit der internationalen Perspektive und mit der
Frage einer Weiterentwicklung von
integrativer Pädagogik.
Prof. Dr. Dieter Katzenbach
Förderverein bidok Deutschland e.V.
Netzwerk für Inklusion
Theodor - W.- Adorno -Platz 6
60629 Frankfurt am Main
Telefon: 069/798-36345
E-Mail: d.katzenbach@em.unifrankfurt.de
ISSN: 1862-5088
www.inklusion-online.net/index.
php/inklusion-online
Dieter Katzenbach ist einer
der engagiertesten universitären
Vertreter, die sich für eine inklusive Gesellschaft und ein inklusives Bildungssystem einsetzen.
Zu dem umstrittenen Thema, wie
man mit Förderschulen umgeht,
im Bestand erhalten oder auflösen, meinte er in einem Interview:
„Es wäre möglich, die Förderschule auslaufen zu lassen, dann
wäre man in zehn Jahren mit
der Umstellung durch. Auf diese Weise könnte man ein neues
System von unten heranwachsen
lassen. Eine Alternative wäre es,
-73-
Organisationen
Literatur
mit den Grundschulen anzufangen, dort gibt es ja schon eine
Gemeinschaftsschule.“
In dem abgebildeten Sammelband beschäftigt er sich u. a. mit
dem Anspruch, begriffliche Kategorien, die diskriminierungsanfällig sind, aufzulösen, sowie
mit der begrifflichen Vagheit des
Begriffs Inklusion. Seine Definition von Inklusion als das selbstverständliche, wertschätzende
und gleichberechtigte Miteinander, das die Unterschiedlichkeit
als selbstverständlich betrachtet
und nicht eigens betont, erscheint plausibel. Schwieriger
ist es, auf selbstverständliche
Begriffe wie der Begriff der Behinderung, weil sie als diskriminierend empfunden werden, zu
verzichten. Genau darauf verweist Dieter Katzenbach. Wenn
der Begriff Behinderung als diskriminierend empfunden wird, stellt sich
die Frage, wie eine UN-Behindertenrechtskonvention überhaupt umgesetzt werden kann. Auf ähnliche
Probleme stößt man bei der Festsetzung von Leistungsansprüchen, die
auf einer kategorialen Bestimmung
von Behinderungsgraden basiert.
Ein vollständiger Verzicht auf Kategorisierung birgt, so schreibt Dieter Katzenbach, im Gegenzug das
viel größere Risiko, dass gruppenbezogene Gefährdungen, Risiken
und Benachteiligungen nicht mehr
wahrgenommen werden.
Ansonsten thematisiert der Band ein
breites Spektrum an Problemen. So
beschäftigen sich zwei Autoren mit
der Konstruktion von Behinderung
durch das Leben in totalen Institutionen. Die Definition eines Phänomens als Krankheit führt nicht nur
zur Stigmatisierung, sondern
zum institutionellen Ausschluss.
Menschen können nicht mehr
für sich sprechen. Über ihr Leben
legt sich der diskursive Dunst einer machtvollen Kategorie mit
der Konsequenz der Ausgrenzung. Insofern ist die von Dieter
Katzenbach geführte Diskussion
über Begriffe nicht nur akademischer Natur. Sie verweist auf
ganz praktische Probleme und
Herausforderungen in allen Bereichen der Hilfe für Menschen
mit Behinderungen.
J. S.
Organisationen und Interessenvertretungen von und für Menschen mit Behinderungen
Kontaktdaten von Landesverbänden und Interessenvertretungen von und für Menschen mit Behinderungen
Adresse
Ansprechpartner
Telefon/Fax/E-Mail
AktivLebenKonzept e. V.
Rotdornweg 13
99089 Erfurt
Vorsitzender:
Sven Leuthardt
Tel.: 0361 7898280
Fax: 0361 7898282
office@aktiv-leben-konzept.de
Allergie-, Neurodermitisund Asthmahilfe
Thüringen (ANAT) e. V.
Friedrich-Engels-Str. 18
99089 Erfurt
Vorsitzende:
Doris Herbst
Stellvertreterin:
Kornelia Holzapfel
Tel. und Fax:
0361/2253103
info@anat-ev.de
www.anat-ev.de
Landesverband Thüringen
für die Rehabilitation der
Aphasiker e. V.
Häßlerstraße 6
99096 Erfurt
Vorsitzende:
Angelika Barasch
Stellvertreterin:
Monika Habermann
Tel.: 0361/6538105
Fax: 0361/6538106
info@aphasiker-thueringen.de
-74-
Organisationen
Ansprechpartner
Blinden- und Sehbehindertenverband
Thüringen e. V.
Nicolaiberg 5a
07545 Gera
LV-Vorsitzender:
Joachim Leibiger
Tel.: 0365/2900320
Fax: 0365/52986
beratung.gera@bsvt.org
Landesverband der Kehlkopfoperierten
Freistaat Thüringen e. V.
Frankenhäuser Str. 10
99706 Sondershausen
LV-Vorsitzender:
Dr. Günter Malz
Tel. und Fax:
036603/42044
gmalz@t-online.de
Deutscher Diabetiker-Bund
Landesverband Thüringen e. V.
Waldenstraße 13
99085 Erfurt
Vorsitzende:
Edith Claußen
Tel.: 0361/7314819
Fax: 0361/7314819
ddb-thueringen@gmx.de
www.ddb-thueringen.de
Deutsche Gesellschaft für
Muskelkranke e. V. DGM
Landesgruppe Thüringen
Zschechwitzer Straße 26 a
04603 Saara
Vorsitzender:
Manfred Stange
Tel.: 03447/832384
Fax. 03212/1262765
manfred.stange@dgm.org
Deutsche Multiple Sklerose
Gesellschaft
Landesverband Thüringen
e. V.
Haus 2
Zittauer Str. 27
99091 Erfurt
Vorsitzender:
Erhard Faupel
Tel.: 0361/7100460
Fax: 0361/7100461
Dmsg-thueringen@dmsg.de
www.dmsg-thueringen.de
Deutsche Parkinson-Vereinigung e. V.
LV Thüringen
Fritz-Ritter-Straße 20
07747 Jena
LV-Vorsitzende:
Marlis Grimmer
Tel.: 03641/335993
monika.58@gmx.de www.parkinson-vereinigung.de
Deutsche Rheuma-Liga
Landesverband Thüringen e. V.
Weißen 1
07407 Uhlstädt - Kirchhasel
LV-Präsidentin
Prof. Dr. Ing. Christine
Jakob
Geschäftsführer:
Haiko Jakob
Tel.: 036742/67361 oder 674610
Fax: 036742/67363
info@rheumaliga-thueringen.de
www.rheumaliga-thueringen.de
Deutscher Schwerhörigenbund
Landesverband Mitteldeutschland e.V.
c/o DSB OV Weimar e. V.
Allstedterstr. 1
99427 Weimar
Vorsitzender:
Detlev Schilling
Tel.: 03643-422155/422157
dsb-landesverband-md@gmx.de
Deutsche Vereinigung Morbus Bechterew
Landesverband Thüringen
Altenburger Straße 52
04610 Meuselwitz
Vorsitzender:
Hans-Jürgen Sporbert
Tel. 03448/702527
Fax: 03448/753251
info@dvmb-th.de
www.dvmb-th.de
-75-
Organisationen
Ansprechpartner
Elterninitiative für krebskranke Kinder Jena e. V.
Forstweg 16
07745 Jena
Vorsitzende:
Sylvia Friedrich
Tel.: 03641/28803
Fax: 03641/616675
ekk-jena@t-online.de
www.ekk-jena.de
Ev. Behinderten- und Angehörigenverband „Annerose“
e. V.
Reinhardsbrunner Straße 14
99867 Gotha
Vorsitzender:
Sebastian Lange
Tel.: 036 21/ 75 88 65
Fax: 036 21/ 73 95 47
www.aktion-annerose.de
Frauenselbsthilfe nach Krebs
e. V.
LV Thüringen / Landesgeschäftsstelle
Helenenweg 15e
98574 Schmalkalden
Vorsitzender:
Hans-Jürgen Mayer
Tel.: 036 83/ 60 05 45
Fax: 036 83/ 40 74 60
h.mayer@frauenselbsthilfe.de
GSV Thüringen e. V.
Schützenstraße 4
99096 Erfurt
Geschäftsführerin:
Angelika Herzog
Tel.: 0361/ 262 722 55
Fax: 0361/ 262 722 56
gsvthuer-gest@web.de
www.gsv-thueringen.de
Stadtverwaltung Erfurt
Gesundheitsamt
KISS-Kontakt- und Informationstelle
für Selbsthilfegruppen
Juri-Gagarin-Ring 150
99084 Erfurt
(Auskünfte, Informationen und
Kontakte zu Selbsthilfegruppen für
Menschen mit Behinderung.)
Ansprechpartnerin:
Irina Krause
Tel.: 0361/ 65 54 204
Fax: 0361/ 65 54 209
kiss@erfurt.de
www.erfurt.de
oder
www.selbsthilfegruppe-thueringen.de
Landesselbsthilfeverband
Thüringen
für Osteoporose e. V.
- Geschäftsstelle
Hohe Straße 38
99867 Gotha
Vorsitzende:
Rita Stichling
Tel.: 036 21/ 211 802
Fax: 036 21/ 739 068 5
info@lv-thueringen-osteoporose.de
www.lv-thueringen-osteoporose.de
Katholischer Gehörlosenverein “Eichsfeldia” e. V.
An der Liebesstatt 26
37335 Niederorschel
Vorsitzender:
Alfons Rogge
Fax: 036 076/ 5 98 94
Kgve16@gmx.de
www.kgv-eichsfeldia.de
Landesverband der Gehörlosen Thüringen e. V.
Hans-Grundig-Straße 25
99099 Erfurt
1. Landesvorsitzende:
Erika Beyer
Handy: 0172 350 14 35
Bifon: 0361/3452963
Fax: 0361/3452965
oder 0361/26289016
Aga1952@hotmail.com
Glv-thueringen@t-online.de
www.lvglth.de
-76-
Organisationen
Ansprechpartner
Landesverband „Interessenvertretung Selbstbestimmt
Leben“ Thüringen e. V.
Salvador-Allende-Platz 11
07747 Jena
Geschäftsführerin:
Sabine Weigelt
Tel.: 036 41/ 36 11 55
Fax: 036 41/ 21 94 25
info@lv-isl-thueringen.de
Landesverband der Körperund Mehrfachbehinderten
Thüringen e. V.
Rudolph-Breitscheid-Straße 7a
99817 Eisenach
Vorsitzender:
Roland Miksch
Stellvertreterin:
Frau Weigel
Tel.: 036 91/ 89 17 00
Fax: 036 91/ 89 17 57
Vdb-weigel@gmx.de
www.th-online.de/vereine/lvkmb
Landesverband für Hörgeschädigte e. V.
Gutenbergstraße 29a
99423 Weimar
Vorsitzender:
Jens Elschner
Tel.: 03643 742921
Fax: 03643 742901
Lebenshilfe für Menschen mit
geistigen Behinderungen
Landesverband Thüringen e. V.
Otto-Schott-Straße 13
07745 Jena
Vorsitzende:
Birgit Diezel
Geschäftsführerin:
Katja Heinrich
Stellvertreterin:
Dr. Heike Schreer,
Jena
Tel.: 036 41/ 33 43 95
oder 036 41/ 33 65 08
Fax: 036 41/ 33 65 07
katja.heinrich@lebenshilfe-thueringen.de
info@lebenshilfe-thueringen.de
www.lebenshilfe-thueringen.de
Sozialverband Deutschland
e. V.
Landesverband Thüringen
Magdeburger Allee 138
99086 Erfurt
1. Vorsitzender
Maik Nothnagel
Tel.: 0361/ 790 790 07
Fax: 0361/ 790 790 07
info@sovd-thue.de
Sozialverband VdK Hessen –
Thüringen e. V.
Geschäftsstelle Thüringen
Am Anger 32
07743 Jena
Vorsitzender:
Karl-Winfried Seif
LV-Stellvertreter:
Dr. Claus Dieter Junker
Tel.: 036 41/ 28 89 0
Fax: 036 41/ 28 89 33
Gst.thueringen@vdk.de
www.vdk.de/hessen-thueringen
THEPRA Landesverband Thüringen e. V.
Bahnhofstraße 6
99947 Bad Langensalza
Vorsitzender:
Herr Emmerich
Geschäftsführer:
Herr Falko Albrecht
Tel.: 036 03/ 82 640
Fax: 036 03/ 82 64 64
thepra-lv-thueringen@onlinehome.
de
Thüringische Krebsgesellschaft e. V.
Paul-Schneider-Straße 4
07747 Jena
Vorsitzender:
Prof. Dr. med
Andreas Hochhaus
Tel.: 036 41/ 33 69 86
Fax: 036 41/ 33 69 87
info@krebsgesellschaft-thueringen.
de
Thüringer Landesverband
der
PsychiatrieErfahrener e. V.
Johannesstraße 2
99084 Erfurt
Vorsitzender:
Matthias Sick
Tel.: 0361/265 8433
Fax: 0361/265 843 50
buero@tlpe.de
-77-
Projekte
Gold-Kraemer-Stiftung
Verband der Behinderten
Thüringen e. V.
Kreisverband Erfurt
Rotdornweg 13
99085 Erfurt
Verband Evangelischer Behindertenarbeit
Eltern helfen Eltern e.V. in
Thüringen
(Selbsthilfe von Familien mit geistig
behinderten Angehörigen)
Karl-Marx-Straße 62
98527 Suhl
Tel.: 0361/ 792 331 6
Fax: 0361/792 331 6
VdBErf@t-online.de
1. Vorsitzende:
Frau Pfestorf
2. Vorsitzender:
Dr. Helmut Freund
Tel.: 036 81/ 70 69 89
ehe_th@hotmail.com
Verschiedene Verbände der Behindertenhilfe sind Mitglied im PARITÄTISCHEN Wohlfahrtsverband Thüringen e. V.
und werden von ihm vertreten. Außerdem haben Wohlfahrtsverbände in ihren Gliederungen Angebote für Menschen
mit Behinderungen. Deren Angebote sind über die Landesverbände zu erfragen.
Die Gold-Kraemer-Stiftung – über 40 Jahre Engagement für eine inklusive Gesellschaft
Die Gold-Kraemer-Stiftung ist eine
gemeinnützige Stiftung privater Initiative zur Förderung von geistig und
körperlich behinderten, armen, alten und kranken Menschen. Sie ist
das Lebenswerk des Ehepaares Hon.
Generalkonsul a. D. Paul R. und Katharina Kraemer. Mit ihr bündelten
sie ihr vielfältiges karitatives Engagement. Die Eheleute entschieden,
dass mit ihrem Tod die Juwelierkette Gold Kraemer und ihr Privatvermögen der Gold-Kraemer-Stiftung
übertragen wurde.
Mit ihrem Juweliergeschäft „Gold
Kraemer“ hatten die Eheleute bereits
1949 ihr erstes Geschäft auf der
Kölner Schildergasse eröffnet. Was
darauf folgte, war eine beispiellose Erfolgsgeschichte, die dem einst
jüngsten Goldschmiedemeister in
Deutschland den Ruf „Goldschmied
für Millionen“ einbrachte. Es gab
deutschlandweit kein zweites Juwelierunternehmen, das mehr Trauringe verkaufte als „Gold Kraemer“.
Das Stammhaus von Gold Kraemer
auf der Kölner Schildergasse existiert
heute noch. Es wurde im September
2015 nach umfangreicher Kernsanierung wiedereröffnet.
Neben diesem wirtschaftlichen Erfolg engagierten sich Paul und Katharina Kraemer, sensibilisiert durch
die Schwerstbehinderung und den
frühen Tod ihres einzigen Sohnes
-78-
Rolf, zeitlebens für Menschen mit
Behinderung und deren Familien.
In den Folgejahren entschieden sich
die Eheleute dazu, die vielfältigen
Hilfen zu bündeln. 1972 gründeten
sie deshalb die „Gold-Kraemer-Stiftung“. Sitz der Stiftung wurde ihr Familienhaus in Frechen-Buschbell.
Die Stiftung ist heute eine Holding
von fünf gemeinnützigen und einer
gewerblichen Tochtergesellschaft.
Die Besonderheit: Alle abfließenden
Gewinne der heute bundesweit 45
Juwelier-Filialen kommen zu 100
Prozent ohne Abzug eines einzigen
Cents der Stiftungsarbeit zu Gute.
Seit über 40 Jahren setzt sich die
Stiftung für eine andere – neue –
Wahrnehmung von Menschen mit
Behinderung ein, wie sie sich inzwischen in der UN-Konvention über
die Rechte von Menschen mit Behinderung widerspiegelt. Zu Beginn
bereits Vorreiter für eine inklusive
Gesellschaft, so verfolgt sie heute
zielstrebig, an der Umsetzung der
UN-Konvention mitzuwirken. Dieses
Menschenrecht in den Alltag umzusetzen, ist dabei richtungsweisend
für die Stiftungsaktivitäten. Im Zen-
Projekte
Gold-Kraemer-Stiftung
trum stehen die Selbstbestimmung
und die uneingeschränkte Teilhabe
aller Menschen mit Behinderung am
gesellschaftlichen Leben – in allen
Lebensbereichen.
Mit vielfältigen Projekten und Aktivitäten gibt die Gold-Kraemer-Stiftung
Beispiele und Antworten, wie Inklusion gelingen kann: Sechs moderne Wohnstätten für Menschen mit
Behinderung, in denen im wahrsten
Sinne des Wortes Inklusion gelebt
wird. Mit Modellprojekten wie dem
Fußball-Leistungszentrum,
ihrem
Pferdesport- und Reittherapie Zentrum, dem Quartiersprojekt Frechen,
dem inklusiven Begegnungszentrum
Alt St. Ulrich oder dem Kunstprojekt
„Art of Life“, gibt sie zukunftweisende Impulse und verschafft den Menschen mit Behinderung neue Lebensperspektiven – ganz im Sinne der
Stiftungsgründer Paul und Katharina
Kraemer, die das Fundament für die
Arbeit der Stiftung gelegt haben.
Das Quartiersprojekt Frechen
Der demographische Wandel sowie
die Zielsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention zur Inklusion sind
große Herausforderungen – insbesondere mit Blick auf älter werdende beziehungsweise alt gewordene
Menschen mit und ohne Behinderung.
Mit dem Quartiersprojekt Frechen
verwirklicht die Gold-KraemerStiftung eine Stadtteilentwicklung,
die Einfluss auf die Veränderung
der Wohn- und Lebenssituation der
Menschen im Zentrum Frechens
nimmt. Das Besondere dieses Quartiersprojektes besteht darin, dass es
sich an Menschen mit und ohne Behinderungen richtet und dabei vor
allem an Senioren mit Behinderung.
Das Projekt leistet einen wichtigen
Beitrag, dass Bürgerinnen und Bürger selbstbestimmt in ihrer gewohnten Umgebung leben können und ihr
soziales Umfeld erhalten bleibt.
-79-
Projekte
Gold-Kraemer-Stiftung
Seit Dezember 2012 wird die Projektentwicklung auf unterschiedlichen
Ebenen gesteuert und begleitet. Zur
Vorstellung des Projektes und der Initiierung der Netzwerkarbeit der Akteure vor Ort fand im Mai 2013 eine
Auftaktveranstaltung statt. Der Teilnehmerkreis reichte von Vertreterinnen und Vertretern aus den Bereichen
Seniorenwohnen, Selbsthilfegruppen,
Kultur, Sport bis hin zu den ambulanten und stationären Angeboten
der Eingliederungshilfe. Im Anschluss
erfolgten dann die Verknüpfung aller
Kompetenzen und des vorhandenen
Fachwissens sowie die Bündelung der
Ressourcen, um die Angebotsstruktur
für Menschen mit und ohne Behinderung im Alter nutzbar zu machen.
Als Anbieter barrierefreier Wohnungen in der Frechener Innenstadt hat
die Gold-Kraemer-Stiftung seitdem
weitere stiftungseigene Wohnungen
saniert und zu barrierearmem Wohnraum umgebaut. Anregungen der
Bewohnerinnen und Bewohner sind
über das Quartiersmanagement in
einen neuen Standardkatalog zur
Verbesserung des Wohnwerts und der
Barrierefreiheit eingeflossen. Durch
die Optimierungen der stiftungseigenen Liegenschaften sowie einer
noch zu initiierenden neuen Gestaltung des Wohnumfeldes erhöht sich
somit weiterhin die Wohnattraktivität
und Zufriedenheit der Menschen im
Quartier.
Ein Schwerpunkt der Arbeit des Quartierprojektes ist die kontinuierliche
Zusammenarbeit mit den wichtigen
Akteuren vor Ort. Mit der Einbindung
der Stadt Frechen (bei Köln) entstanden Netzwerkstrukturen, die den Rahmen für die gemeinsame Entwicklung
und Umsetzung von Ideen zur Neu-
-80-
und Umgestaltung des Sozialraums
sowie zusätzlicher Angebote und
Strukturen setzen.
Ehrenamtliches Engagement schafft
einen weiteren, wichtigen Baustein
zur Verbesserung der Lebensqualität.
Berücksichtigt werden dabei auch
ehrenamtliche Helferinnen und Helfer mit Behinderung. Erstmalig erfolgte dies über ein offenes Angebot
für ältere Bürgerinnen und Bürger im
Rahmen eines Adventscafés. Menschen mit Behinderung haben dafür
Projekte
Gold-Kraemer-Stiftung
In 2016 stehen – gemeinsam mit
Netzwerkpartnern – der Ausbau und
die Weiterentwicklung der Angebote
im Fokus. Im Juli 2016 eröffnet die
Stiftung eine Tagespflege für ältere
Menschen mit unterschiedlich hohem Betreuungsbedarf. Als integrative Einrichtung richtet sich die Tagespflege im Schwerpunkt an Menschen
mit Demenz und deren Angehörige.
Plätzchen gebacken, die im Rahmen des Adventscafés angeboten
wurden. Das Quartiersprojekt bietet
unter anderem ein wöchentliches
Frühstücksangebot, einen Seniorentanz in einer Altenpflegeeinrichtung,
Sport für Menschen mit Demenzerkrankung, Discoveranstaltung für
Menschen mit und ohne Behinderung, einen Seniorennachmittag mit
Grillfest und viele weitere Aktionen.
Mit dem Umzug in das neue Begegnungs-, Beratungs- und Bildungszentrum der Gold-Kraemer-Stiftung
in Frechen im September 2015
hat das Quartiersprojekt sich nicht
nur räumlich vergrößert. Vielmehr
kommt auch die Vernetzung mit dem
ebenfalls hier angesiedelten Ambulant Betreuten Wohnen und der Ehrenamtsbörse Frechen zum Tragen.
Dadurch konnte der Ausbau von
inklusiven Kunst-, Kultur sowie Freizeit- und gesundheitsfördernden Angeboten vorangetrieben werden. So
unterstützt das Quartiersprojekt seit
Sommer 2015 die mobile DemenzBeratung des Rhein-Erft-Kreises, die
sich an Menschen mit Demenz und
deren Angehörige richtet.
-81-
Hintergrund:
Das Quartiersprojekt Frechen ist ein
vom Land Nordrhein-Westfalen unterstütztes Pilotprojekt, das als eines
der wenigen Quartiersprojekte im
Land Menschen mit Behinderung in
den Fokus rückt. Die wissenschaftlich
fundierte Evaluation, die die Katholische Hochschule NRW in Münster
bis zum Herbst 2015 durchgeführt
hat, bestätigt die gute Entwicklung
des Quartierprojektes Frechen. Es
zeichne sich dadurch aus, dass es
sich stärker als bisherige Quartiersprojekte auf den Inklusionsgedanken beziehe. Damit gehöre es
zur „neuen Generation“ inklusiver
Projekte, die zur Weiterentwicklung
und Anpassung der bestehenden
Quartierprojekte an politische und
gesellschaftliche Herausforderungen
beitrage, so die Experten.
Weitere Informationen über die Gold
-Kraemer-Stiftung und ihre Angebote
und Leistungen finden Sie unter www.
gold-kraemer-stiftung.de.
Projekte
Netzwerk Inklusion
Das „Netzwerkprojekt
Inklusionskultur“
(Ein Netzwerkprojekt zum Abbau
gegenständlicher und psychosozialer Barrieren durch künstlerisch/
kulturelle
Gestaltungs-Begegnungs- und Betätigungsvariationen sowie Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit)
Zum Verständnis
Aus unserem Praxisbezug schon vor
fünf Jahren haben wir Inklusion im
Zusammenhang, Menschen mit Behinderung und vor allem Bildung als
anscheinend verordnete Sache beobachtet, während bei uns seit 2011
sich die Entwicklung bereits auf Menschen mit und ohne Behinderung
aus der Arbeit selbst und den darin
einbezogenen Menschen herleitete.
Der Hauptzweck unseres Verein Vital
e. V. ist die Förderung der Inklusion.
Damals hatte sich der Vogtländische
Knollenring e. V., eigentlich ein Kartoffelverein, und der VITAL e. V. zusammengetan und in Kooperation
ein Projekt zum Suchen, Testen und
Dokumentieren barrierearmer Wanderwege begonnen umzusetzen, das
nach Abschluss der Finanzierung
ehrenamtlich weitergeführt wurde.
Schon bald setzte sich die Erkenntnis
durch, dass inklusive Betätigung keine willkürliche Sache, sondern eine
objektive Notwendigkeit ist.
Der hohe Anteil von Menschen mit
Behinderung von 10-16% ist eng
mit der demografischen Entwicklung
verbunden. Alter bedeutet auch im
allgemeinen
Lebensmobilitätseinschränkung.
Also trifft die Behindertenrechtskonvention (auch laut Abschnitt e ihrer
Präambel) auf weit mehr Menschen
als die im SGB IX § 2 definierten
Menschen mit Behinderung zu. Auf
alle, die durch Barrieren an der vollen, gleichberechtigten Teilhabe gehindert werden. Und das greift in alle
Bereiche der Gesellschaft hinein.
Ein anderer Bereich unserer Arbeit, bei dem wir Erfahrungen sammeln durften, ist die Selbsthilfe.
Dort ist es so, dass Patienten mit erworbener Hirnschädigung und ihre
Angehörigen, Freunde und ihr gesamtes Umfeld die Krankheitsverarbeitung gemeinsam durchmachen.
Der Rückschluss daraus ist Behinderung nicht im Kontext von Krankheit,
sondern von Barrieren zu sehen.
Denn Behinderung ist keine Eigenschaft von Menschen, Behinderung
ist eine Eigenschaft von Barrieren.
Das Projekt – Grundgedanken
Wir wollen Menschen dazu ermutigen
und motivieren, ihre künstlerische kreative Seite auszuprobieren, weiterzuentwickeln und ihre Fähigkeiten
auch trotz Einschränkung zu zeigen.
Nur wer miteinander etwas tut, erfährt und weiß von Möglichkeiten
des Anderen.
Der Netzwerkgedanke eröffnet uns
Gelegenheiten, um zusammen mit
anderen Partnern aktiv zu werden
und unsere Ressourcen mit den ihren zu bündeln.
Die Aufgabe ist auch, den Zugang
zur Kunst zu prüfen und auszuprobieren, wo eventuell die Barrieren
sind. Oftmals sind sie nicht nur baulicher Natur. Und wo sie zum Teil
nur baulicher Natur sind, hat oft nur
jemand während der Organisation
einer Veranstaltung nicht an Barrierefreiheit gedacht. Wenn er aber
persönliche Erfahrungen mit inklusiven Veranstaltungen gemacht hat,
vergisst er es nicht mehr.
Auch wird oft Barrierefreiheit an der
Zahl der potentiellen Nutzer festgemacht. Barrierefreiheit sollte aber
generell ein Thema sein.
Ablauf
Bereits im Vorfeld des Projektes gab es eine Ideenwerkstatt.
Die Teilnehmer hatten die Gelegenheit, verschiedene Ideen für eine in-
-82-
klusive künstlerisch kulturelle Betätigung zu entwickeln, sie festzuhalten
und zu besprechen. Dazu entwickelten wir einen Fragebogen, welcher
geeignet war das Neigungs- und
Meinungsbild der Teilnehmer zu erfassen und als Umsetzungshilfe verwendet zu werden. Darüber hinaus
ist es auch ein Ziel, die Teilnehmenden zu neuen, bisher nicht praktizierten Aktivitäten zu motivieren.
Selbstbestimmung setzt Entscheidungsfähigkeit voraus und Entscheidungsfähigkeit benötigt Wahlmöglichkeiten.
Das Projekt wurde auch über das
Selbsthilfesystem, das inklusiv aufgestellt ist, bekannt gemacht.
Wir haben bewusst einen Wohngebietstreff des Vereins Wohn- und Lebensräume mit einbezogen.
Erstens ist er barrierefrei zugänglich
und besitzt eine Rollstuhltoilette bei
zentraler Lage in Plauen, dort verkehrt auch ein Teil unseres Zielpublikums und folglich waren auch sie
mit gefragt, als es um die ersten Absprachen ging. Einige sind auch jetzt
bei den Freunden des Gesanges und
der Eröffnung unserer Bilderausstellung dabei gewesen.
Während die erste Phase dem Suchen neuer Netzwerkpartner und
dem Ausloten von Möglichkeiten
vorbehalten war, geht es in der zweiten Phase an erste Aktivitäten. So
haben wir mit einem Keramikkurs
angefangen, bei dem die ersten
Veranstaltungen unter Beteiligung
von Menschen mit und ohne Behinderung erfolgten. Die Freunde des
Gesanges haben die ersten Veranstaltungen mit fast 20 Personen,
Tendenz steigend, durchgeführt.
Es gab die Ausstellungseröffnung
für eine Ausstellung von Bildern unserer Vereinsmitglieder, die in deren
Freizeit oder während Therapiestunden entstanden. Die Ausstellung ist
noch ca. zwei Monate zu sehen.
Eine Führung durch die Ausstellung
Projekte
Netzwerk Inklusion
“Das Aquarell im Vogtland” mit dem
Kurator hat uns der Kunstverein organisiert.
Den Inklusionsgedanken weiter in
die Öffentlichkeit zu tragen, soll eine
Hauptaufgabe des Projektes sein.
Wir entwickeln inklusive „ Bildungsmodule“ für die verschiedenen Berufe der Sozialen Arbeit. Folgende
Themen sind bisher geplant und zum
Teil schon angewandt:
- Der Schlaganfall und seine psychosozialen Auswirkungen oder
“Die hirngeschädigte Familie”
- Unterstützte Kommunikation
- Barrierefreiheit
- Inklusion als Chance/Möglichkeiten einer inklusiven Entwicklung
Dabei sind wir schon zahlenmäßig bei einem Referentenkollektiv von sieben Personen.
Das Referententeam ist auch in diesem Halbjahr schon aktiv gewesen,
um über das Thema „Die psychosozialen Auswirkungen nach einer
erworbenen Hirnschädigung” zu
berichten. Das sind Auswirkungen,
die auf das gesamte Umfeld des
Geschädigten wirken. Der aktive
Umgang mit Kunst fordert und fördert alle sozialen Kontakte und die
wiederum wirken positiv auf den
Patienten ein (auch eigene Erfahrungen, ich hatte vor 12 Jahren eine
Stammhirnblutung).
Einzelne Vertreter des Projektes „Inklusionskultur“ treffen sich seit Anfang
des Projektes mit dem Stammpersonal unserer Beratungsstelle alle 14
Tage zu einem „Projektstammtisch“
und erarbeiten Ideen und Vorschläge zur Umsetzung des Vorhabens.
Der Stammtisch alle zwei Wochen ist schon Tradition geworden.
In einer Runde wird dort zwischen
Spinnstunde und ernsthafter Diskussion der nächste mögliche und auch
manchmal unmögliche Weg erörtert.
Wie geht es nun weiter? Natürlich inklusiv.
Selbstverständlich
dokumentieren
wir die Aktivitäten der Projektteilnehmer mit allen relevanten Daten
(wer, wo, was, von wem initiiert etc.).
Darüber hinaus möchten wir mittels
Befragung der mitmachenden Menschen den Einfluss der Aktivitäten auf
das Lebensgefühl, die persönliche
Zufriedenheit sowie möglicherweise
spürbare Veränderungen im Hinblick auf die behinderungsbedingten
Einschränkungen erfassen.
Förderer und Unterstützer erhalten
einmal pro Jahr einen Zwischenund nach Ende der Laufzeit einen
Abschlussbericht. Wir gewährleisten
eine intensive regionale und überregionale Pressearbeit während des
Gesamtprojekts sowie die Nutzung
aller modernen Medien. Wir benutzen
dazu auch die sogenannten „Neuen
Medien”. Es besteht ein Facebook-,
Twitter- und Google-Account und
daneben noch ein Youtube Account,
die alle auf der Vereinswebsite:
www.vital-vogtland.de zusammenlaufen. Dazu noch Einträge in überregionalen Online-Plattformen etc.
Geeignete Werbematerialien (Handzettel, Plakate) werben klassisch für
die Beteiligung am „Netzwerkprojekt
Inklusionskultur“.
Die Bildungsveranstaltungen werden
öffentlichkeitswirksam
organisiert
und zur Nachnutzung angeboten.
Das Vorhaben wird jährlich evaluiert
und mittels der Fragebögen ausgewertet.
Wir werden weiter in Veranstaltungen und mit Projekten wie
diesem, auf eine notwendige inklusive Gesellschaft hinarbeiten.
Wie wichtig es ist, dies in die Köpfe aller Menschen zu bringen, zeigt
einmal mehr die aktuelle Situation
der Flüchtlinge in unserem Haus Europa und auf der ganzen Welt.
-83-
Wir werben mit unserer gemeinsamen inklusiven Arbeit für mehr Mitmenschlichkeit und Offenheit für
barrierefreie bzw. barrierearme Gedanken.
Inklusion beginnt im Kopf und kennt
keine Grenzen. Und es muss nicht
überall Inklusion drüber stehen, wo
Inklusion drin ist.
Kunst und Kultur ist ein Medium, welches Gedanken zum Tragen bringt
und uns auf bessere inklusive Zeiten
hoffen lässt. Es ist auch im Projekt
die Nachhaltigkeit berücksichtigt,
denn das Prinzip, Inklusion im kulturellen Bereich zu leben, kann und
soll nach Beendigung des Projektes weitergeführt werden. Genauso
kann und sollte der Grundgedanke
des Projekts von anderen aufgefasst
werden.
Wir werden unseren Teil dazu beitragen und uns dazu einbringen.
Wir freuen uns über jeden neuen
Mitmachenden.
DRK Mobil gemeinnützige GmbH – ein Beitrag
zur inklusiven Gesellschaft
Ausgangspunkt war ein „Behindertenfahrdienst“ beim Deutschen Roten Kreuz in Solingen. Man bemerkt
schon am Namen, dass ein solches
Konzept in die Jahre gekommen ist.
In einer zukünftigen inklusiven Gesellschaft macht es einfach keinen
Sinn mehr, für die Gruppe der behinderten Menschen besondere Dienste
anzubieten. Wir sind deshalb zum
Kern des Themas zurückgekehrt und
haben das Gemeinsame herausgesucht. Die fehlende Mobilität, die
entsteht, wenn Menschen nicht alleine öffentliche Verkehrsmittel nutzen
können oder gar selbst ein Fahrzeug
führen können, ist das verbindende
Thema. Besonders in einer Gesell-
Projekte
Netzwerk Inklusion
schaft, die erreichen will, dass alte
oder behinderte Menschen nicht stationär in Heimen untergebracht sind,
sondern zu Hause leben können, in
Wohngruppen oder anderen flexiblen Angeboten, spielt das Thema
„Mobilität“ eine wesentliche Rolle.
Aus diesem Grundthema haben wir
ein Konzept entwickelt:
1. Wir helfen das Thema Mobilität
in unserer Stadt zu lösen. DRK Mobil ist ein Fahrdienst für Menschen
mit Mobilitätseinschränkungen. Uns
interessiert nicht, ob die Menschen
krank, behindert, einfach alt, verwirrt, in der Bewegung eingeschränkt
oder aus einem anderen Grund immobil sind. Wir fahren alle, die nicht
mobil sind. Manchmal bringen wir
Rollstuhlfahrer sogar nur aus der
Wohnung auf die Straße oder helfen
stark übergewichtigen Menschen mit
einem speziellen treppensteigenden
Rollstuhl dabei, überhaupt selbstständig eine Erledigung außer Haus
tätigen zu können. Zur Teilhabe am
gesellschaftlichen Leben und dem
Wunsch zu Hause, leben zu wollen,
gehört einfach die nötige Mobilität.
Wir wollen für alle mobilitätseingeschränkten Menschen ein Angebot
schaffen. Das ist im Rahmen der
bestehenden
Abrechnungsmöglichkeiten schwierig. Wir müssen
deshalb mit Kostenträgern aus den
Sozialgesetzbüchern V., IX., XI. und
XII. abrechnen. Manche Kunden
müssen zur Erfüllung ihrer speziellen
Wünsche für freie Mobilität privat
zahlen.
2. Wir nutzen die aus unserer Idee
entstehende Arbeit, um wiederum
Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderungen zu schaffen. Deshalb
sind wir von Beginn an ein anerkanntes Integrationsunternehmen!
Zurzeit haben wir 11 Arbeitsplätze für
behinderte Menschen mit sogenannten Vermittlungshemmnissen und erweitern diese Zahl noch in diesem
Jahr auf 16. Sie arbeiten bei uns als
Fahrerin und Fahrer sowie als Fahrdiensthelferin und Fahrdiensthelfer.
Das hat am Anfang Kunden und andere Firmen und Institutionen überrascht. Mittlerweile erfahren wir von
unseren Kunden und Partnern, dass
Menschen mit Behinderung eher
mehr Verständnis und Freundlichkeit
gegenüber immobilen Menschen
mitbringen. Einige unserer nichtbehinderten Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter haben sich bei uns ganz
gezielt beworben, weil sie gerne mit
behinderten Menschen zusammen
arbeiten und zugleich eine soziale
Aufgabe übernehmen wollen.
Diese Gründung hat eine Vorgeschichte:
Der Kreisverband des Deutschen
Roten Kreuzes Solingen e. V. und
die gemeinnützige Gesellschaft für
Rehabilitations- und Integrationsmanagement mbH aus Solingen haben
sich zusammen getan, um dieses
neue Unternehmen zu gründen.
Dazu haben beide Partner ihre Kernkompetenzen zusammengebracht.
Das DRK Solingen ist spezialisiert
auf „Fahren im Gesundheitssystem“ und die R&I gGmbH auf das
Thema „Integrationsunternehmen“.
Diese beiden Partner entwickelten
zuerst ein zeitgemäßes Konzept für
einen Fahrdienst für Menschen mit
Mobilitätseinschränkungen.
Eine
Wirtschaftsprüfungsgesellschaft aus
Solingen schrieb einen Businessplan
für das neue Unternehmen mit den
recht komplizierten und unterschiedlichen Abrechnungssystemen unter
anderem als Voraussetzung, um als
Integrationsunternehmen anerkannt
zu werden. Gemeinsam mit einem
Rechenzentrum wurde außerdem ein
Abrechnungskonzept für die unterschiedlichen Leistungen aus den verschiedenen Sozialbüchern entwickelt
und diese mit einer weitgehend barrierefreien Bedienung im Fahrzeug
verbunden. Zum 1. Januar 2014
-84-
wurde der alte Fahrdienst aus dem
DRK Solingen e. V. in die neue Gesellschaft ausgegründet.
Bereits im Herbst 2013 führten wir
eine zehnwöchige Qualifizierung für
schwerbehinderte Menschen mit Vermittlungshemmnissen zur Fahrdiensthelferin oder zum Fahrdiensthelfer
mit finanzieller Förderung durch die
Aktion 5 des Integrationsamtes vom
LVR in Köln durch. Insgesamt 15 Personen nahmen an der Maßnahme
teil, 12 beendeten die Maßnahme
erfolgreich und davon 10 Teilnehmer erhielten einen Arbeitsplatz.
Die Aktion Mensch förderte im Rahmen der Impulsförderung die Stellen der Betriebsleiterin und die der
Disponentin. Ohne diese Förderung
wäre der Aufbau des Unternehmens
nicht möglich gewesen. Nur durch
qualifiziertes Leitungspersonal, das
von Beginn an das Unternehmen
entwickelt, ist eine solche rasante
Entwicklung möglich.
Dank des bereits beim Kreisverband
bestehenden Fahrdienstes konnte das Unternehmen gleich mit 12
Fahrzeugen beginnen und hatte von
Beginn an einige sichere Umsätze,
die aber noch nicht für die Zahl der
behinderten und nicht-behinderten
Beschäftigten ausreichten. Durch
Werbemaßnahmen, den Aufbau
eines entwickelten Marketings und
gute Qualität in der Beförderung
konnte der Umsatz im Laufe des
Jahres 2014 bereits deutlich erhöht
werden. Der Bedarf an einem solchen Angebot ist hoch.
Gleichzeitig mussten die Umsätze
gesteigert werden, eigene organisatorische Strukturen aufgebaut und
dann schnell vergrößert und verbessert werden. Trotz aller Förderungen
war dabei das Geld von Anfang an
knapp, weil DRK Mobil als soziales
Unternehmen nur über geringes Eigenkapital verfügt. Jeden Monat
mussten aber bereits von Beginn an
30.000 EUR für Lohnkosten ausge-
Projekte
Barrierefreie Geldautomaten
geben werden (heute deutlich mehr),
während viele Kunden über die sozialen Kostenträger erst nach Wochen
oder Monaten zahlten. Das ist wohl
das Los aller sozialer Unternehmen,
die nur geringe Margen haben und
mit wenig Kapital starten.
VITAL e. V
Albertplatz 1,
08525 Plauen
03741/719096
03741/719097
Inklusion und Barrierefreiheit im Alltag - Verbesserungen zum Wohle
der Bankkunden – eine
gemeinwohlorientierte
Initiative von Raymund
Haller
Ich möchte auf ein Defizit im Finanzsektor hinweisen. Es betrifft die in
den Banken sich befindenden Gerätschaften, die dem Kunden zur
Verfügung stehen. Insbesondere
Kontoauszugsdrucker bzw. Selbstbedienungs-Terminals, die bei manchen
Banken noch defizitär sind, weil sie
nicht nur tatsächliche Kontostandsveränderungen ausdrucken und auswerfen, sondern auch überflüssige
papierhafte Saldenmitteilungen, die
keine Kontoveränderung beinhalten.
Schädlich für die Umwelt, und überflüssig für die Kundschaft. Manche
Banken haben den Fortschritt bereits
in ihren eigenen Geräten integriert,
indem sie in deren Display die Aussage erscheinen lassen: „Es sind
keine neuen Auszüge vorhanden“.
Empfehlens- und nachahmenswert
für die Banken in Deutschland und
auch weltweit, die dies noch nicht
realisiert haben. Zum Wohle der
Umwelt und der Kundschaft.
Umbuchungen
Speziell die Selbstbedienungs-Terminals, die nicht in allen Geldinstituten
anzutreffen sind, besitzen eine weitere Schwäche: Will der Kunde innerhalb seiner eigenen, bei der Bank
geführten Konten eine Umbuchung
vornehmen von einer bestimmten
Kontoart, zum Beispiel Giro- Konto,
auf die andere Kontoart, z. B. Tagesgeldkonto, muss er am Terminal
zahlreiche persönliche Daten eingeben. Dies kostet Zeit, ist nicht nur für
Sehbehinderte und Blinde erschwerend und birgt das Risiko von Fehleingaben. Eine große Erleichterung
bei solchen Umbuchungen bieten
bisher nur wenige Banken an: Über
eine einfache, sehr kurze Menüführung im Display des Terminals wird
die gewünschte Umbuchung veranlasst. Unmittelbar nach einer am Terminal getätigten Umbuchung bzw.
Überweisung möchte mancher Kunde sich sofort einen nummerierten
Kontoauszug mit exakter Wertstellung über die gerade erfolgte GeldTransaktion ausdrucken lassen. Leider ist das bei einigen Banken noch
nicht möglich. Hier muss der Kunde
Stunden, an Wochenenden sogar
Tage verstreichen lassen, bis er den
Kontoauszug erhalten bzw. auch abheften kann.
Des Weiteren bieten manche Banken den Kunden sogenannte Überweisungsscanner (Einlesegerät für
ausgefüllte Überweisungsformulare)
an. Manchmal in einer einzigen Gerätschaft anzutreffen, oder auch in
den Selbstbedienungsterminals integriert, bei denen der Kunde sowohl
vorgedruckte als auch handschriftlich verfasste Überweisungsformulare einlegen kann. Aber auch da
besteht das Defizit, dass der Kunde
nach der vonstattengegangenen
Geldtransaktion nicht sofort einen
nummerierten, mit exakter Wertstellung ausgewiesenen Kontoauszug
erhalten kann. Technisch müsste dies
-85-
doch möglich sein, denke ich. Der
Aufwand dafür und damit die Kosten
sind den Banken aber vielleicht noch
zu hoch?
Stückelung und Geldwechseln
Außerdem möchte ich auf eine technische Ausstattung hinweisen, die in
vielen Geldautomaten leider noch
nicht integriert ist, nämlich die Möglichkeit für den Kunden selbst zu bestimmen, in welcher Stückelung der
gewünschte Betrag ausgegeben
werden soll: in 5, 10, 20 oder 50
Euro- Noten; des Weiteren die Möglichkeit, bei Einzahlung einer großen
Banknote, nur einen Teilbetrag zu
buchen und den Rest vom Automaten gleich wieder zurückzubekommen; nicht zuletzt die Möglichkeit des
bloßen Geldwechselns: Der Kunde
zahlt einen großen Geldschein ein
und bekommt dann denselben Betrag in kleineren Scheinen wieder
zurück, oder umgekehrt, viele kleine
Banknoten im Tausch gegen einen
großen Geldschein. Noch nicht alle
Geldinstitute haben einen Bankomaten mit den eben beschriebenen
Nutzungsmöglichkeiten, einen sogenannten ‚Cashrecycler‘.
Geordneter, vorderseitiger und
richtungssortierter Auswurf
Allerdings haben vermutlich alle
derzeit weltweit existierenden Geldautomaten einschließlich der soeben
erwähnten modernen Geräte noch
ein gemeinsames Manko, das in einem einzigartigen und gleichzeitig
endgültigen allerletzten Schritt beseitigt werden könnte. Der Automat
ist zwar in der Lage die Stückelung
der Banknoten selbst vorzunehmen,
diese auch gebündelt auszuwerfen
5, 10, 20, und 50 Euro-Scheine.
Doch ein Manko besitzt der Geldautomat noch. Er wirft die Geldscheine noch immer seitenverkehrt aus.
Er wirft sie noch nicht so aus, wie
sie in den Geldbeuteln der Kunden
Projekte
Barrierefreie Geldautomaten
eingelegt werden sollten. Der sehbeeinträchtigte Kunde, der den Umgang mit Geld erlernt hat, muss die
Geldscheine noch selbst drehen und
wenden, um sie dann korrekt geordnet in den eigenen Geldbeutel einlegen zu können. Eigentlich unnötig,
erschwerend und überflüssig.
- Bei der Geldentnahme sollten für
den Kunden die Vorderseiten der
Banknoten mit ihren großformatigen Zahlenwerten nach oben
zeigen und sofort zweifelsfrei und
eindeutig erkennbar sein.
- Die Scheine sollten nach Wertstufen geordnet übereinander liegen
und nicht auf dem Kopf stehen.
Dann werden sowohl ältere als auch
jüngere sehschwache (sehbehinderte) und blinde Menschen durch
diesen geordneten, vorderseitigen
und richtungssortierten Auswurf
der Geldscheine profitieren, weil
die fühl- und tastbaren Merkmale
(schweißtreibende Streifen) nur auf
den Vorderseiten der Eurobanknoten am linken und am rechten Rand
anzutreffen sind.
- Beim 5-Euro-Schein sind diese
durchgängig,
- bei der 10-Euro-Note mit einer
Unterbrechung,
- bei der 20-Euro-Banknote mit zwei
Unterbrechungen.
Diese Merkmale befinden sich am
linken und am rechten vorderseitigen Rand, sodass auch die verschiedenen Nennwerte einfacher und
eindeutiger voneinander unterschieden werden können. Dadurch ist es
möglich, die Geldscheine weniger
auffallend und schneller zu überprüfen und zu verstauen.
Das Prinzip der eindeutigen fühlbaren Unterscheidbarkeit wird sich
auch bei den zukünftigen Nennwerten fortsetzen. Viele werden diese
Errungenschaft mit Dankbarkeit aufnehmen. Die Neuerung kommt in
Wirklichkeit allen Bankomatennutzern zugute. Bei den meisten würde
sie auch ein Gefühl der Zufriedenheit, Selbstsicherheit und Freude
hervorrufen.
Verbrechensvorbeugung und
Sicherheitsempfinden bei den
Nutzern
Hinzu kommt der Aspekt, des durch
diese Änderung / Neuerung ansteigenden, sich erhöhenden Sicherheitsempfindens / Sicherheitsgefühls
bei den Nutzern. Diese können nun
die ausgezahlten Banknoten schneller und weniger auffallend überprüfen und sofort verstauen. Wer sie
dabei beobachtet, kann nicht mehr
so leicht erkennen, ob ein höherer
Betrag abgehoben wurde, denn
der Kunde braucht nun nicht mehr
die Scheine zu drehen und zu wenden. Ein potentieller Räuber, der die
Geld­entnahme beobachtet, wird
meist erst bei einem höheren Geldbetrag den Bankkunden verfolgen
und überfallen. Die Verweildauer
des Kunden am Geldautomaten ist
also stark minimiert und damit ebenso die Zeitspanne, in der er sich unsicher fühlt und Angst vor einem etwaigen Überfall haben muss.
Unabhängig von der Überfallgefahr braucht der Nutzer nun nicht
mehr so sehr befürchten, dass ihm
die Scheine auf den Boden fallen,
wie meine Befragungen von jungen,
älteren, sehschwachen und nichtsehbehinderten Menschen ergeben
haben. Und seine Angst, beim Geldabheben oder danach beim Verlassen des Bankbereichs überfallen zu
werden, ist nun stark minimiert, reduziert und vermindert. Ich denke,
die Neuerung bei den Bankomaten
dient der Verbrechensvorbeugung /
Prävention und einem höheren Sicherheitsgefühl der Bürger/innen
und sie sollte insofern ein Anliegen
von Polizei- und Kriminalbeamten
sein. Diese würden außerdem auch
persönlich von dem geordneten,
vorderseitigen und richtungssortierten Banknotenauswurf profitieren!
Barrierefreiheit am Bankautomaten ist Ziel der Petition von Raymond Haller aus Karlsruhe.
-86-
Projekte
Personalisierte Bekleidung
Ziel der Petition
Ich würde mir wünschen, dass es zu
den oben beschriebenen Verbesserungen der Geldautomaten kommt,
möglichst flächendeckend in ganz
Deutschland, in Europa, ja sogar
weltweit. Mir ist aber bewusst, dass
die dafür Verantwortlichen die wirtschaftlichen (ökonomischen) und
politischen Gegebenheiten berücksichtigen müssen. Vielleicht gelingt
mir aber ein Anstoß, und einige
Banken beginnen mit der Neuerung. Da der Wettbewerb zwischen
den Geldinstituten hoch ist, haben
sie ein großes Interesse, Dinge einzuführen, die dem Verbraucher zugutekommen wie zum Beispiel die
Verbesserung der Bankomaten. Das
ist meine Hoffnung.
Endgültiges Ziel muss der deutschland-, europa- und weltweite geordnete, vorderseitige, richtungssortierte
und einheitliche Geldscheinauswurf
an Geldautomaten sein.
Vor kurzem führte ich Telefonate
mit namhaften Herstellern von Kontoauszugsdruckern,
SB-Terminals,
Überweisungsscannern und Geldautomaten. Sie versicherten mir,
dass es technisch möglich wäre, diese Verbesserung in die Geldautomaten zu integrieren. Die Banken und
Sparkassen müssten nur mit ihren
Rechenzentren Kontakt aufnehmen,
um diese Errungenschaften für ihre
Kunden zu beantragen. Diese könnten dann eine Software entwickeln,
die sie dann über Nacht freischalten
würden und diese Verbesserung der
Geldautomaten erzielen.
Um auf das Thema der barrierefreien Geldautomaten aufmerksam zu
machen, habe ich mich bereits mit
dem SWR in Verbindung gesetzt.
Dieser strahlte am 02.03.2016 in
der Landesschau Baden-Württemberg einen Informationsbeitrag aus,
der unter folgendem Link von Ihnen
abgerufen werden kann:
http://www.swr.de/landesschau-
bw/karlsruhe-barrienfreiheit-amgeldautomaten/-/id=122182/
did=17049910/nid=122182/
k1nx9k/index.html
Nur durch die Umsetzung der genannten grundsätzlichen und immer
gleichen Ausgabeform an Geldautomaten wird es sehbehinderten
und blinden Menschen erst überhaupt ermöglicht, ihre Geldgeschäfte selbstständig und selbstbestimmt
durchzuführen. Die verbindliche Umsetzung einer einheitlichen Lösung
der geschilderten Funktionsweise
von Geldautomaten trägt nicht nur
zur Verbesserung der Barrierefreiheit
und damit zur Umsetzung der UNBehindertenrechtskonvention
bei,
sondern erhöht zudem Orientierung
und Sicherheit, ohne dass hierfür
hohe Kosten entstehen würden.
Die meisten Menschen sind gegen
die Abschaffung des Bargeldes. Es
erfreut sich einer großen Beliebtheit
in der Bevölkerung. Der Wunsch
seiner Beibehaltung wird durch die
Verbesserung der Geldautomaten
verstärkt, da dann der Umgang mit
Bargeld noch einfacher und sicherer
wird.
Ich bitte Sie, fordern Sie die Banken
auf und beantragen Sie eine bundesweite, flächendeckende Verbesserung zum Wohle aller Kunden.
Vielen Dank dafür.
Raymund Haller (Bild rechte Spalte)
Pfaffstrasse 18
76227 Karlsruhe
Tel. (0721) 498106 (AB)
-87-
Integration und Inklusion
durch personalisierte Bekleidung
Entdeckung der Vielfalt der Kleiderbedürfniswelten
Stephen Hawking, einer der bedeutendsten Kosmologen, einer der bekanntesten Senioren und ALS Patienten unserer Zeit, sagte einmal: „Ich
glaube, wir haben eine gute Chance, die Gesetze zu entdecken, die
das ganze Universum regieren.“
Übertragen von der Kosmologie auf
die Bekleidungswissenschaft hieße
dies, eines Tages erkennen wir die
Gesetze, die die Welt der Bekleidungsbedürfnisse des Menschen beherrschen.
Aber wozu? Z.B. um Menschen, wie
Stephen Hawking, dessen physischer
Körper in seinen Bewegungsmöglichkeiten stark eingeschränkt ist,
Kleidung zu schaffen, die auf seine
physischen, ästhetischen u. a. Bedürfnisse genau abgestimmt ist, die
ihm und seinen Pflegern das An- und
Ausziehen, das Tragen der Kleidung
Projekte
Personalisierte Bekleidung
erleichtert und sein Auftreten als
Mann und als Wissenschaftler in der
Öffentlichkeit adäquat mitgestaltet.
Voraussetzung dafür ist, dass die
Gesetze, nach welchen er und sein
Körper funktioniert, bekannt sind,
um ein Kleidungsstück zu schaffen,
das gut zu ihm passt: intelligente
Kleidung.
Stephen Hawking beschrieb Intelligenz als die Fähigkeit, sich dem
Wandel anzupassen. Übertragen
auf Kleidung hieße dies, sie vermag
sich dem Wandel des eigenen physischen Körpers, dem Wandel der
eigenen emotionalen und mentalen
Welt, dem Wandel des familiären,
beruflichen, gesellschaftlichen Umfeldes, dem Wandel des Zeitgeists
anzupassen.
Eine freundliche Kleidung, die für
einen muskelkranken Menschen
wie eine gute Freundin ist - die federleicht mit ihm ist, die ihm Schutz
bietet, seinen Schmerz lindert, ihn
zum Träumen und Lachen bringt, ihn
fitter macht, auf die er stolz ist, die er
sexy findet, die perfekt zu ihm passt,
die er leicht an- und ausziehen kann,
die er liebt und pflegt, die ihn inspiriert, weil sie, wie Stephen Hawking,
weiß: „Wie schlimm das Leben auch
sein mag, es gibt immer etwas, worin man erfolgreich sein kann.“
Ein Kleidungsstück - eine gute
Freundin
Auf der Suche nach solch einer intelligenten, guten Freundin in der Thüringer Modewelt beobachtete Bettina
Bräsike, Mitarbeiterin des Thüringer
Landesverbands der Deutschen Gesellschaft für Muskelkranke, letztes
Jahr Folgendes:
„Im Herbst war ich auf der Suche nach
einer warmen Jacke für den Winter.
Ich wusste, dass es nicht einfach sein
wird, etwas Passendes zu finden. Im
vierten Geschäft entdeckte ich dann
fast auf Anhieb ein ganz schickes
Teilchen: nicht zu lang, meine Far-
be, meine Größe. Und die Jacke sah
richtig warm aus. Doch schon beim
Versuch, sie vom Kleiderständer abzuhängen, scheiterte ich. Die Jacke
war so schwer, dass ich sie nicht mit
einer Hand hochheben konnte. Eine
Verkäuferin bemerkte mein Interesse
und bot mir ihre Hilfe bei der Anprobe an. Sie erfuhr von mir, dass ich
eine Muskelerkrankung habe und
mich (für mein Empfinden) schwere
Kleidung zusätzlich zum Rollstuhl in
meinen Bewegungsmöglichkeiten
einschränkt, auch dann, wenn mir
jemand beim An- und Ausziehen
behilflich ist. Sie machte mir keine
großen Hoffnungen, im diesjährigen
Wintersortiment wirkliche Alternativen zu finden, außer ich würde mich
für eine Daunenjacke entscheiden.
Vielleicht hat der eine oder andere
dies so oder ähnlich schon selbst
einmal erlebt: aus Sicht eines muskelkranken Menschen schwergängige Klettverschlüsse und Druckknöpfe, schwergewichtige Bettdecken,
Haartrockner und Essbestecke, zu
eng geschnittene Ärmel bei Oberbekleidung, widerspenstige Zahnpastatuben und viele andere Dinge,
die den Alltag erschweren und von
fremder Hilfe abhängig machen
- auch bei Verrichtungen, die man
vielleicht gerade noch selbstständig
erledigen könnte, wenn das Produktdesign, der Schnitt oder das Material
nur ein klein wenig anders beschaffen wären.“
Dies ist eine der unzähligen Geschichten über die Suche nach solch
einer passenden Kleider-Freundin,
wie sie Menschen mit Muskelerkrankungen in Thüringen und in der Welt
außerhalb unseres kleinen Landes
oft erleben, aber kaum erzählen.
Ebenso wie viele andere Menschen
in Deutschland und der Welt, die bewegungseingeschränkt sind und keine zu ihnen passende Kleidung auf
dem großen Markt, in Kaufhäusern,
Modeboutiquen finden. Dazu gehören Kinder ebenso wie Erwachsene
aller Altersgruppen. Designerinnen,
wie Angela Tönnies, von Schick
und In, die Eleganz und Handicap
zu verbinden wissen, haben keinen
Zugang zur großen Modewelt. Warum?
Elegante Mode für Damen mit Rolli, Muff und Hut, von Angela Tönnies, Deutschland, vorgestellt zum Bezgraniz-Couture Award 2011 in Moskau, Foto: Bezgraniz-Couture
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Projekte
Personalisierte Bekleidung
Intelligente schicke Kleidung ein kaum sichtbarer Markt
Vielleicht, weil man auf dem großen
Markt nur „Prêt à Porter“ (= Bereit
zum Tragen) findet und eine KleiderFreundin eine Begleiterin ist, die
man nicht einfach von der Stange
nehmen kann. Diese Kleidung will
sorgfältig ausgewählt werden - ihr
Stoff, ihre Farben, ihr Schnitt, die zu
Körper, Seele und Geist, zu den individuellen Wandlungen des zu Begleitenden passen.
In wenigen kleinen, kaum bekannten Unternehmen, verstreut in ganz
Deutschland, begannen bereits vor
über 30 Jahren vor allem Frauen,
oft durch eigene behinderte Kinder
oder Ehemänner für deren Bedürfnisse sensibilisiert, solche freundliche, intelligente, personenbezogene
Kleidung herzustellen. Auch betroffene Männer haben sich dieser Nische gewidmet und produzieren in
kleinen Serien adaptierte Kleidung
für Menschen mit Behinderungen,
besonders für Rollstuhlfahrer. Inzwischen interessieren sich auch mehr
und mehr junge DesignerInnen und
kleine Bekleidungshersteller in Thüringen und anderswo für die Frage
der Anpassung der Kleidung an spezifische Bedürfnisse, zum Beispiel
auch von Klein- und Großwüchsigen, unter- und übergewichtigen
Menschen.
Wenn es Partnerportale für die verschiedensten Bedürfnisse gibt, warum dann nicht auch Online-Modeshops für die verschiedensten
Kleidungspartnerbedürfnisse?
Vielleicht weil es gar nicht einfach ist,
seine Wünsche über solch eine gute,
hautnahe Freundin aus Textilien bewusst zu kommunizieren, so dass
Forscher und Hersteller der Vielfalt
an Wünschen entsprechen können.
Stephen Hawking zeigt uns seit über
30 Jahren, wie Kommunikation trotz
extremer motorischer Einschränkungen dank neuester Computertechnik
durch Augenblinzeln möglich ist.
Das ist eine Motivation zur Schaffung eines Kleidungspartnerportals
für alle, die keine „Prêt-à Porter“
Freundin suchen, sondern eine zum
„Prêt-à-Aimer“ („Bereit zu Lieben“).
Intelligente Kommunikationsplattform mit adaptiertem Onlineshop
Smart-Fit-In e. V., ein Netzwerk
von Herstellern, Forschern, Marketingspezialisten, Ausbildern aus
Thüringen und anderen Regionen
Europas, plant dafür mit allen interessierten Endnutzergruppen eine internationale branchenübergreifende
Kommunikationsplattform mit einem
Onlineshop für adaptierbare Mode
aufzubauen. So können Bettina Bräsike und andere Menschen mit Muskelerkrankungen vor dem Kauf z. B.
einer schicken, leicht handhabbaren
Bluse aus Erfurt über die Plattform
mit einem modetherapeutischen
Berater direkt in Kontakt treten, ihm
ihre Bedürfnisse erklären. Ihre Maße
werden per Kinect Kamera oder Handyfoto genommen, s. d. die Schnittkonstruktion für das Kleidungsstück
ganz individuell angefertigt werden
kann. Sie kann das Design für ihre
Bluse am Computer mit entwickeln.
Ihre ästhetischen Vorstellungen werden in Einklang mit ihrem emotionalen und beruflichen Profil in der
Bluse umgesetzt. Im Unterschied zu
früher muss man so nicht unbedingt
persönlich zum Schneider gehen und
dieser macht die Schnittkonstruktion
nicht mehr wie früher mit Papier und
Kreide, sondern all dies übernimmt
der Computer.
Am Ende erhält Bettina Bräsike eine
schicke, federleichte Kleiderfreundin, wie sie sie sich gewünscht hat:
„... mit genialen Reißverschlüssen,
die ein autonomes, einfaches und
schmerzfreies An- und Auskleiden
selbst für Menschen mit schweren
Gelenkkontrakturen und Lähmungen ermöglichen, weil das Anheben
der Arme entfällt.“
Durch die Erstellung des Profils für
die Kleiderfreundin erfährt Frau
Bräsike auch mehr über sich, ihr
eigenes Profil, das sie nutzen kann
für die Findung eines genau zu ihr
passenden Partners für gemeinsame
Rollstuhlbasketball-Team Thuringia Bulls des Reha-Sport-Bildung e. V., aus Elxleben, in personalisierten, codesignten Herrenhemden von Bivolino in Belgien, an deren Design das gesamte Team in einem EU-Forschungsprojekt per Computer mitgewirkt hat. Foto: RSB e. V.
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Projekte
Personalisierte Bekleidung
Berufs-, Freizeit- oder Familieninteressen. Außerdem ermöglicht die
Profilerstellung es ihr, Beraterin für
Forscher und Hersteller zu sein bei
der Verbesserung der Adaptionen
der Software und der Kleidung an
die vielfältigen Gesundheitsbedürfnisse - allein im Bereich der Muskelerkrankungen sind es über 800
Krankheitsformen. Ihre individuellen
Kompetenzen können so produktiv
in die Entwicklung von individuellen
Lösungen eingebracht werden und
sie kann diese dann testen, was einen direkten, fruchtbringenden Austausch zwischen Forschern, Herstellern und Kunden garantiert. Dank
Frau Bräsike und anderen Pionieren
können so zukünftig Produkte auf
den Markt kommen, von denen viele
Menschen mit Bewegungseinschränkungen heute noch träumen.
Smart-Fit-In Showroom-Netzwerk
zum Anfassen und Ausprobieren
Es bleibt trotz aller super Technologien das Bedürfnis des Kunden, die
Kleidung anzufassen, sich von einem
Einheimischen beraten zu lassen.
Auch Frau Bräsike möchte die Stoffe
ihrer Kleiderfreundin vor der personalisierten Herstellung berühren, sie
auf ihrer Haut spüren.
Deswegen ist neben der virtuellen
Plattform ein Showroom-Netzwerk
geplant. D. h. an verschiedenen
Orten in Deutschland, in Europa
können Kunden wie Frau Bräsike
die Modelle von Herstellern aus verschiedenen Regionen ausprobieren
und nach dortiger 3D- Vermessung,
die an die Hersteller weiter geleitet
wird, auch bestellen. Die Kunden
können so auch ihre persönlichen
Erfahrungen mit dieser Kleidung,
ihre Empfehlung an die Hersteller
weitergeben und werden so zu lokalen Codesignern, die gute Tipps
aus ihren Regionen geben können.
In so einem Innovationsshowroom
sollen sich auch Jungdesigner aus
Hochschulen mit ihren Ideen zu adaptierter Mode präsentieren können.
Auch schicke, adaptierbare Schuhe,
Möbel, Geschirr u.a. soll dort zum
Ausprobieren und Kauf ausgestellt
werden. In einem kleinen bewegungsadaptierten Café, das dazu
gehört und gesundheitsfördernde
adaptierte kulinarische Überraschungen anbietet. Dort können
ebenso Ausstellungen von Designern wie Weiterbildungsseminare,
z. B. für Schneider oder Modeverkäuferinnen,
Marketingfachleute, Vertriebler u. a. Berufsgruppen
durchgeführt werden.
Intelligente Preise für personalisierte Kleidung
Ziel des Weges von Smart-Fit-In ist
es, durch das Netzwerk einer Produktions-, Vertriebs- und Kommunikationsplattform individuell angepasste
bzw. in Kleinserien an die Vielfalt der
Körper- und Gesundheitsbedürfnisse
angepasste Kleidung kostengünstig
werden zu lassen. Außerdem soll
durch eine Anpassung der Kleidung
an die biomechanischen Erfordernisse des Kunden bewirkt werden,
dass sie generell als Hilfsmittel bei
den Krankenkassen in Deutschland
anerkannt werden. Durch eine Bezuschussung kann der Preis für den
Endnutzer auch annehmbarer werden. So kann die Nische zu einem
Nischenmarkt für Mode für alle Sensibilitäten und ästhetisch Sensiblen
ausgebaut werden, wo Menschen
mit Bewegungseinschränkungen die
beratenden, kreativen Pioniere sein
werden.
So kann der Markt derjenigen, die
bereit sind, sich, ihren Körper und
ihre Kleidung zu lieben, zum Vorreiter werden, zum Marché du „Prêt-àAimer“!
Über eine intensivere Zusammenarbeit mit sensiblen Senioren aus allen
Berufsgruppen, Altersgruppen, Körpergruppen, Kulturgruppen würde
sich der Verein Smart-Fit-In (www.
smart-fit-in.de) sehr freuen.
Für Informationen, Fragen schreiben
Sie bitte an: info@smart-fit-in.de
Bettina Bräsike, DGM und
Dr. Kathleen Wachowski (Foto im
Header)
Smart-Fit-In e. V.
Kleidung, die die Muskeln des Menschen
darstellt, von Jean Paul Gaultier,
Ausstellung, München, 2015,
Foto: Kathleen Wachowski
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Erfahrungsaustausch
Aus den kommunalen Seniorenvertretungen und -beiräten
Bad Blankenburg
Im Oktober 2014 wurde der Seniorenbeirat in der Stadtratssitzung vom
29.10. gewählt. Als Vorsitzende dieses gewählten Seniorenbeirates stellte ich mich einer neuen Herausforderung, um die Senioren der Stadt
Bad Blankenburg zu vertreten. Die
Akzeptanz unseres neu gewählten
Beirates durch den Bürgermeister
und den Stadträten steht auf festem
Fundament. Wir nehmen regelmäßig
an Stadtratssitzungen teil und sind
Mitglied im Sozialausschuss. Dies
ermöglicht uns, immer aktuell über
alle kommunalpolitischen Initiativen
Kenntnis zu haben und uns mit Fragen und unseren Sorgen sowie Problemen an den Stadtrat zu wenden.
Diese Zusammenarbeit ist von gegenseitiger Achtung und Respekt geprägt. Eine wichtige Aufgabe für uns
ist die Organisierung und Durchführung von monatlich kostenlosen
Verkehrsteilnehmer-Schulungen, diese werden immer mehr von unseren
Senioren genutzt.
Wichtig ist diese Aufgabe für uns, da
der ältere Mensch sich den neuen
Anforderungen im Straßenverkehr
anpassen muss. Ein Bindeglied zu
unserer Jugend zu sein, erfüllt uns
jedes Jahr mit Freude. Dieses Jahr
nutzten wir den 12. Bundesweiten
Märchenvorlesetag, in dem wir in
unseren 3 Kindergärten den Jüngsten aus einem reichhaltigen Märchenschatz vorlasen und mit ihnen
Gespräche führten. Ein wichtiger
Bestandteil unserer Arbeit des Seniorenbeirates ist die Zusammenarbeit mit der Volkssolidarität. Die
durchgeführten Veranstaltungen bilden eine gute Plattform, um mit den
aktuellen Problemen in die Breite
zu kommen. Diese Veranstaltungen
dienen ebenfalls der Präsentation
der Arbeit des Seniorenbeirates. Die
von der Landesvertretung der Se-
nioren, von den unterschiedlichen
Gremien der Landesregierung und
Parteien angebotenen Veranstaltungen sind eine große Bereicherung
für die Weiterbildung unseres Seniorenbeirates. Regionale Treffen
werden ebenfalls zum Erfahrungsaustausch und für Anregungen für
die eigene Arbeit genutzt. So hat der
Seniorenbeirat Bad Blankenburg im
Mai einen Erfahrungsaustausch organisiert und durchgeführt. Jährlich
wird eine Chronik über die geleistete
ehrenamtliche Tätigkeit erstellt. Die
aktuell politischen Themen wie die
Flüchtlingspolitik sind in unseren Sitzungen ebenfalls präsent. Viele Senioren in unserer Stadt kennen solch
eine Flucht noch aus eigener Erfahrung während des 2. Weltkrieges.
Trotz der bisherigen Ergebnisse der
Arbeit des Beirates sehen wir noch
genügend Aufgaben, die künftig zu
lösen sind.
Christine Wichert
Gotha
Der Seniorenbeirat der Stadt Gotha
besteht aus 11 ehrenamtlich arbeitenden Mitgliedern und sieht sich als
Unterstützung der Verwaltung, die
in ihren freiwilligen Aufgaben auch
Angebote für Senioren innerhalb
der Stadt Gotha bereitstellt. Im Alter Teilhaben am gesellschaftlichen
Leben, an Bildung, Familienangeboten und Freizeitgestaltung ist dabei
ein großes Ziel. Da immer wieder
auf eine Alterung der Gesellschaft
hingewiesen wird, will der Seniorenbeirat der Stadt Gotha der Stadtverwaltung „die Hand“ reichen, um im
zunehmenden Alter auch die aktive
Teilnahme am gesellschaftlichen
Leben der Stadt zu ermöglichen.
Dabei gibt es Angebote für Senioren, die die Stadt in Zusammenarbeit mit dem Beirat ausgestaltet.
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Der Spitzenreiter unter den Angeboten ist die Seniorenakademie mit
Themen wie: „Die Herausforderung
der digitalen Gesellschaft - Ein Netz
für jedes Alter“, „Auf dem schweren
Weg zur Einheit Deutschlands - Die
Währungsreform von 1948 in Gotha“ oder „Die Heiratspolitik der Ernestiner“. Die Referenten für die Veranstaltungen werden fachspezifisch
ausgewählt und können meist auf
eine intensive berufliche oder freiberufliche Tätigkeit zurückblicken.
Neben der Ausgestaltung von inhaltlich anspruchsvollen Veranstaltungen
setzt sich der Beirat auch für kulturelle Höhepunkte ein, denn auch in
Gotha wird gern und oft gefeiert. Die
Vorbereitungen der Faschingsveranstaltung und der Weihnachtsfeier für
Senioren der Stadt liegen in den Händen des Beirates und der Verwaltung.
Runde Geburtstage im höheren Alter oder Feierlichkeiten für goldene
Hochzeitspaare werden in Zusammenarbeit mit den Kindereinrichtungen der Stadt gestaltet. Ein kleines Programm seitens der Kinder
unterstützt dabei die Anerkennung
des Alters. Der Beirat hilft hier bei
vielen organisatorischen Aufgaben.
Mit örtlichen Institutionen wird, die
Seniorenarbeit betreffend, sehr
gut zusammengearbeitet. Hierbei hat sich das Forstliche Forschungs- und Kompetenzzentrum
für Thüringen mit Sitz in Gotha,
durch auf Senioren abgestimmte Veranstaltungen hervorgetan.
Darüber hinaus sieht sich der Seniorenbeirat auch als Netzwerkgestalter
und versucht die unterschiedlichen
Institutionen an einen Tisch zu bringen, um gemeinsam nach Lösungen
zu suchen und Veranstaltungsformate zu entwickeln. So ist derzeit der 6.
Familienerlebnistag in Vorbereitung.
Hier versteht sich der Beirat als Bindeglied zwischen der Verwaltung,
dem Orangerieverein, Sportvereinen, dem Mehrgenerationenhaus,
Erfahrungsaustausch
Erfahrungsaustausch
Aus den kommunalen
Aus den kommunalen
Senioren- Seniorenvertretungen
vertretungen
und -beiräten
und -beiräten
dem Verein Art der Stadt und der
Stiftung Schlösser und Gärten. An
diesem Tag werden dann vielseitige
Angebote für jede Altersstufe, innerhalb der Orangerie, stattfinden.
Man könnte durchaus noch mehr
aufzählen. Sollte die Arbeit des Beirates das Interesse geweckt haben,
so kann man einmal im Monat die
Sprechstunde aufsuchen oder im
Anschluss an der öffentlichen Sitzung
des Beirates teilnehmen und weitere
Vorschläge für die Seniorenarbeit
einbringen. Die Sitzungen finden jeden ersten Mittwoch im Monat statt. Inklusion im Alter ist für den Seniorenbeirat der Stadt Gotha die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben der
Stadt. Wir als Beirat nehmen sie als
etwas auf, was uns alle betrifft, was
gelebt werden muss und das Thema
Integration übersteigt. Darin sehen
wir eine Aufgabe für die Zukunft.
Angelika Nyga
Greiz
Die Deutschen werden immer älter.
Das ist eine ganz tolle Entwicklung,
solange die Senioren gesund bleiben, über genügend finanzielle Mittel verfügen und so aktiv am
Leben teilnehmen können. Das ist
natürlich eine reine Wunschvorstellung. Die Realität sieht oftmals ganz
anders aus. Viele unserer heutigen
Senioren sind im Alter oft allein,
einsam, krank und können wegen
geringer Renteneinkünfte nicht am
gesellschaftlichen Leben teilnehmen.
Hier sehen wird als Seniorenbeirat
der Stadt Greiz unser Betätigungsfeld.
Wir wollen Hilfe und Angebote allen Senioren geben. Wöchentlich
wird deshalb immer dienstags eine
Stunde unser Büro im Greizer Rathaus geöffnet. Jeder kann in dieser
Zeit um Rat und Hilfe bei uns nach-
fragen. Wir bemühen uns dann, die
anstehenden Probleme und Anregungen an die richtigen Stellen weiterzuleiten. Es ist auch unser Ziel,
noch öfter Zusammenkünfte mit
den Bürgern der eingemeindeten
Ortschaften vor Ort zu arrangieren.
Diese Zusammenkünfte werden sehr
gut angenommen, denn wegen fehlender Mobilität können viele dieser
älteren Bürger den Weg nach Greiz
nicht mehr in Angriff nehmen. Ein
großes Anliegen unsererseits ist es,
allen Senioren ein weites Spektrum
an Informationen und Veranstaltungen möglichst kostenfrei anzubieten.
- Im Herbst gab es eine Verkehrsteilnehmerschulung mit einem Fahrschullehrer. Es konnten Fragen
gestellt werden und in ungezwungener Runde kleine lustige Tests
beantwortet werden.
- Eine weitere Veranstaltung wurde
mit einem Greizer Bestattungsunternehmen zum Thema „Weil Sterben zum Leben gehört“ durchgeführt.
- Des Weiteren fand am 15. März
2016 in der Sparkasse Gera-Greiz
eine Seniorenmesse statt. Hier
standen kompetente Ansprechpartner auf 2 Etagen zur Verfügung. Es
wurde individuelle kostenlose Beratung zur Vorsorgeregelung durch
eine Notarin angeboten und die
Reha-Servicestelle der DAK war
vor Ort. Natürlich gab es Hilfestellung an den Bankautomaten und
Beratung zum „Online-Banking“.
Die Resonanz war sehr groß, da
alle Räume behindertengerecht zu
erreichen waren.
- Gute Kontakte bestehen zu Altenheimen, verschiedenen Verbänden,
Wohnstätten und zur Diakonie.
- Einmal monatlich trifft sich ein
Chorkreis im Greizer Seniorenund Pflegezentrum „Curanum“
unter Leitung einer Musikpädagogin unseres Beirates. Hier singen
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kranke, gesunde und behinderte
Senioren gemeinsam und erinnern
sich durch die Musik an ihre Kinder- und Jugendzeit.
- Weiterhin findet einmal im Monat
ein Computerlehrgang im „UlfMerbold-Gymnasium“ statt. Die
ehrenamtliche Leiterin aus unseren
Reihen ist stets bemüht, Hilfe und
Anleitung bei der Entdeckung der
virtuellen Welt zu geben, natürlich
kostenlos.
- Alle 2 Jahre wird durch den Seniorenbeirat ein Bewegungs- und
Aktionstag im Naherholungsgebiet
„Waldhaus“ veranstaltet. Er findet
am 4. Juni 2016 mit vielen Angeboten statt. An verschiedenen Stationen kann man z. B. Schach spielen, sich an einem Quiz über Greiz
beteiligen und bei einer Kräuterfrau viel Interessantes erfahren.
Eine Nordic-Walking-Gruppe stellt
vor Ort diese gesunde gelenkschonende Sportart vor. Auch Familien
mit Kindern wird viel geboten. Zusammen mit den Mitarbeitern des
Tiergeheges können die Kinder
einmal ihren Tierlieblingen ganz
nahe sein. Wir hoffen auf regen
Zuspruch aller Altersgruppen.
- In Planung ist außerdem ein
Nachmittag mit einem Rettungssanitäter. Gerade im Alter können
Herzdruckmassage und richtige
Beatmung lebenswichtig sein.
- Auch ein Aktionstag mit der Greizer Polizeiinspektion ist geplant.
Zu oft werden gerade ältere Bürger Opfer von Trickbetrügern und
Gaunern.
- Einen Arztvortrag zum Thema „Gelenke und Bewegungseinschränkung im Alter“ soll es in diesem
Jahr noch geben.
- Höhepunkt unseres Arbeitsplanes
ist dann die Weihnachtsfeier in der
Vogtland Halle für alle Senioren,
egal welcher Konfession.
- Im vergangenen Jahr nahmen 140
Senioren aller gesellschaftlichen
Erfahrungsaustausch
Aus den kommunalen Seniorenvertretungen und -beiräten
Schichten daran teil. Darunter war
auch eine Gruppe von dementen Senioren und Rollstuhlfahrern
aus der Villa „Ginko“. Es war sehr
emotional zu sehen, wie auch die
behinderten Menschen ins Programm einbezogen wurden und
ihre Freude zeigten.
Wir als Seniorenbeirat der Stadt
Greiz sind ständig bemüht, alle Senioren von Greiz und Umgebung zusammenzuführen. Wir werden auch
weiter mit anderen Verbänden und
Organisationen die Interessen aller
Senioren vertreten.
Gesine Hopf
Jena
Im Blick auf das zentrale Thema dieser
Ausgabe gibt es einige aktuelle Dinge, die den Seniorenbeirat bewegen.
Gab es vor vielen Jahren den Versuch
durch Sprechstunden für Senioren
noch näher an sie bewegende Probleme heranzukommen, so ließen wir
das bald sein, denn die Begegnungsstätten in den Stadtteilen wurden zu
unseren Partnern, neben der Wohnberatung für Senioren (AWO), dem Pflegestützpunkt der Stadt Jena und dem
Seniorenbüro der Stadt (DRK), um nur
einige zu nennen. Es verwunderte uns,
als unlängst die Leiterin einer Begegnungsstätte plötzlich Kontakt mit uns
aufnahm, um über ihre Arbeit zu berichten und unsere Strategien erkundete. Dabei kam heraus, dass bei den
immer älter werdenden Nutzern der
Einrichtung auch Behinderte sind, die
nicht mehr kommen können, da der
Zugang nicht barrierefrei sei, was vordem nie eine Rolle spielte. Abgesehen
davon, dass sich der Seniorenbeirat
zukünftig mit den Lebensverhältnissen
in den einzelnen Stadtteilen befassen
wird, kam von Seiten des Jenaer Nahverkehrsbetriebes ein Paukenschlag in
Gestalt einer Hiobsbotschaft, indem
man aus Sicherheitsgründen in den
Straßenbahnen keine Passagiere mit
elektrischen Rollstühlen mehr befördert, um Unfälle bei Schnellbremsungen auszuschließen (Umkippen des
Fahrzeuges). Leserbriefe in der Presse,
der Sozialausschuss und die AG Behinderte intervenierten. Nun fand man
zu einer Zwischenlösung: Abgesehen
von Fahrzeugtypen, die auf Grund ihrer Größe von einer Mitfahrt auf der
Bahn überhaupt ausgeschlossen sind,
dürfen nun Behinderte mit entsprechendem Ausweis nach einem persönlichen Test mitgenommen werden,
vorausgesetzt, sie verlassen nach Einstieg ihr Gefährt, um einen regulären
Platz in der Bahn einzunehmen. Von
18 Kandidaten erhielten 12 die grüne
Plakette für ihren Rollstuhl. Denkt man
an die sehr kranken oder gar sterbenden Menschen, so war das Thema für
unseren Ortsteilrat Jena-Neulobeda
Anlass, in die Palliativmedizin des Klinikums einzuladen. Dort wurde das
Projekt eines Stationären Hospizes in
Lobeda- Ost vorgestellt. Auf Initiative
der „Hospiz & Palliativ Stiftung Jena“
hat „Jena-Wohnen“ einen Architekturwettbewerb ausgeschrieben, dessen Ergebnis in unserer Region mit
12 Pflegebetten Geschichte schreiben
wird. Wenn alles planmäßig verläuft,
kann man in der Nähe des Klinikums
und landschaftlich schöner Wohnumgebung mit der Einweihung im Dezember 2017 rechnen.
Hans Lehmann
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Heiligenstadt
Am 16.02.2016 trafen sich um
14:00 Uhr im Sitzungsraum des
Stadthauses der Vorsitzende des
Seniorenbeirates, Frau Eva-Maria
Knauß - Sachbearbeiterin im Referat
Seniorenpolitik im Ministerium für
Arbeit, Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie, der Geschäftsführer
des Landesseniorenrates Herr Dr.
Jan Steinhaußen und die Seniorenbeauftragte des Landkreises Eichsfeld Frau Simone Bloeck zum Erfahrungsaustausch.
Kritisch wurde angesprochen, dass
sowohl in der Mitgliederversammlung am 10.06.2015 in Erfurt als
auch beim Jahresseminar vom
10. bis 12.11.2016 in Bad Blankenburg der Erfahrungsaustausch
eindeutig zu kurz gekommen ist.
Die Aufgaben eines Landesseniorenrates, des Seniorenbeirates und
der Seniorenbeauftragten sind im
Thüringer Seniorenmitwirkungsgesetz und den eigenen Kommunalen
Satzungen eindeutig geregelt, doch
welche Erfahrungen es bei der Zusammenarbeit mit der Thüringer
Landesregierung (Ministerien) und
den Stadt- und Gemeinderäten gibt,
darüber wird kaum gesprochen und
im Seniorenreport berichtet.
Auch, dass die Bilder der Regionalkonferenz Nord in Berichten anderer
Städte platziert wurden, obwohl es
dazu einen Bericht nebst Bildmaterial gab, fand man nicht so gut.
In der sich anschließenden 6. Sitzung des Seniorenbeirates nutzte
die am 09.12.2015 neu gewählte
Seniorenbeauftragte des Landkreises Eichsfeld, sich den Anwesenden
vorzustellen und ihre nächsten Ziele
zu erläutern.
Im Bericht des Vorstandes (Vorsitzender) konnte mit Stolz auf das bisher
erreichte zurückgeblickt werden.
Erfahrungsaustausch
Aus den kommunalen Seniorenvertretungen und -beiräten
Sitzung des Seniorenbeirates von Heiligenstadt. Anwesend auch Hauptamtsleiter Steffen Rusteberg
Eberhard Beckmann – Vorsitzender Seniorenbeirat Heiligenstadt
- hat maßgeblich dazu beigetragen,
dass die 1. Regionalkonferenz
Nord am 01.09.2015 erfolgreich
organisiert und durchgeführt werden konnte.
Die nächste Sitzung findet am
24.05.2016 statt, die dazu genutzt
werden soll, Danke für die bisher
geleistete Arbeit zu sagen!
Der 1. Seniorenbeirat im Landkreis
Eichsfeld hat seit seiner Gründung
am 13.08.2014 folgendes erreicht:
- Er hat seit dem 18.10.2014 eine
eigene Homepage, auf der sich
jeder über die Arbeit informieren
kann.
- Er informiert seit dem 10.02.2015
im Sozialausschuss über seine Arbeit.
- Er hat sich aktiv dafür eingesetzt,
dass am 05.10.2015 eine Satzung
vom Stadtrat beschlossen wurde.
- Er hat ab Juni 2015 zielstrebig
dafür gekämpft, dass der Kreistag
am 09.12.2015 eine Seniorenbeauftragte des Landkreises Eichsfeld
gewählt hat.
- Er berichtet seit dem 07.07.2015
im Stadtrat über seine Tätigkeit im
Berichtszeitraum.
- Er hat im Jahr 2015 insgesamt 16
Empfehlungen mit seniorenrelevanten Themen zur Bearbeitung an
die Stadtverwaltung weitergeleitet,
die in der Arbeit der Stadtverwaltung, des Stadtrates nebst Ausschüssen berücksichtigt wurden.
- Er hat sich dafür eingesetzt, dass er
mit Hauptamtsleiter Herrn Steffen
Rusteberg einen festen Ansprechpartner bei der Stadt bekommen
hat.
- Er hat dabei unterstützt, dass am
01.03.2016 ein Seniorenbeirat in
der Stadt Dingelstädt gegründet
werden konnte und
Zwischen dem Seniorenbeirat, den
Mitarbeitern der Stadtverwaltung,
den Stadträten nebst Ausschüssen
besteht eine gute Zusammenarbeit,
wenngleich es auch hier noch einige Reserven gibt. Danach berichtete
der Geschäftsführer des Landesseniorenrates Dr. Jan Steinhaußen darüber, wie man einen Seniorenbeirat
wählt und wie der Landesseniorenrat
die Arbeit von Seniorenbeiräten und
Seniorenbeauftragten unterstützt.
Im Anschluss informierte Frau EvaMaria Knauß, welche Unterstützung
(materiell und finanziell) es von Seiten des Landes Thüringen gibt und
welche Voraussetzungen zur Förderung erfüllt sein müssen. Die anwesenden Mitglieder nutzten die Möglichkeit, ihre Frage an die Gäste zu
richten. Abschließend wurde auf die
anstehende Neuwahl des Seniorenbeirates nach der Sommerpause
2016 des Stadtrates Heilbad Heiligenstadt hingewiesen. Die Mitglieder wurden gebeten, sich aktiv bei
der Kandidatengewinnung in ihren
Vereinen mit einzubringen, um die
begonnene Arbeit des Seniorenbeirates fortsetzen zu können.
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Eberhard Beckmann
Ilmenau
Inklusion: laut Fremdwörterbuch
(1984): „Einschließung, Einschluss –
Math. Das Enthaltensein einer Menge in einer anderen“. Eigentlich ist in
dieser kurzen Übersetzung alles enthalten und bedeutet für uns, daran zu
arbeiten, dass Menschen mit Behinderungen von Geburt an zu unserem
Leben gehören. Es wird angestrebt,
dass Kinder mit Behinderungen in
„Regelkindergärten“ und Schulen gehen sollten. Meine Antwort, ja, aber!
3 Beispiele für das „Aber“:
1) 1945 kamen wir in ein kleines
Dorf, gingen dort zur Schule.
Erst nach 4-5 Jahren sah ich die
Schwester einer Mitschülerin mit
Down-Syndrom, sie muss wohl
18 Jahre alt gewesen sein. Die
Familie hat sich geschämt. Trotzdem hat sie es irgendwie geschafft, dieses Mädchen vor den
Nazis zu verstecken, denn fast
alle Behinderten überlebten diese
Zeit nicht. Sie war in keinster Weise förderfähig gewesen.
2) 1999 bekam ich 2 kleine Bücher
Erfahrungsaustausch
Aus den kommunalen Seniorenvertretungen und -beiräten
zum Lesen. „Leben mit Hermine“
von Hermine geschrieben und „Ich
kann Schreiben“, von ihrer Mutter
geschrieben. Hermine, (Jahrgang
1959) Down-Syndrom kannte ich
schon vorher, sie gehörte (im positivem Sinne) zu unserem Stadtbild.
Sie besuchte die Förderschule. Danach arbeitete sie als Hilfskraft im
Thermometerwerk. Nach der Wende entschied sie sich zum betreuten Wohnen (Lebenshilfe) und zur
Arbeit in der Behindertenwerkstatt.
Sie führte ein fast selbständiges
Leben. Sie schrieb ihr Tagebuch,
kleine Geschichten und fotografierte sehr gern. Leider verstarb sie
im vergangenen Jahr im Alter von
60 Jahren. Hier haben alle gut zusammen gearbeitet, die Eltern, die
Schule, die Behindertenwerkstatt
und die Lebenshilfe, aber immer
zusammen mit Hermine. Sie konnte ihr Leben auf Grund der guten
Vorbereitung auf dieses, leben wie
SIE es wollte! In einer Regelschule
hätte sie dies nicht erreicht!
3) Meine Nichte unterrichtete an der
Förderschule für Blinde und Sehschwache mit Internatsanbindung.
Dazu gehören auch Lernschwache und Mehrfachbehinderte. Im
Alter von 5 bis 16 Jahren, Klassengröße 6 bis 12 Schüler/innen.
Bei Bedarf steht ihr jeder Zeit ein
Schulbetreuer zur Verfügung. Sie
werden in allen Fächern der Regelschule unterrichtet. Zusätzlich
noch Punktschrift und Maschine
schreiben. Auch die Förderung
in lebenspraktischen Fähigkeiten gehört dazu. Sie verlassen
die Schule mit dem Mittel- oder
Regelschulabschluss. Auch bei
der Berufswahl wirkt diese Schule
aktiv mit. All dies kann eine Regelschule nicht leisten. Es fehlt
an Geld, an Personal und, und,
und! Das A und O in einer Förderschule ist die enge Zusammenarbeit von Schülern, Lehrern,
Erziehern und Elternhaus. Auch
Fachmediziner gehören dazu. Es
muss beide Formen geben, Regelschule mit Inklusion und die
Förderschulen! Alles andere geht
zu Lasten der Kinder!
Christel Wilinski
Mühlhausen
Inklusion – Was ist das eigentlich?
Inklusion heißt wörtlich übersetzt Zugehörigkeit, also das Gegenteil von
Ausgrenzung, wenn jeder Mensch
mit und ohne Behinderung überall
dabei sein kann. In einer inklusiven
Gesellschaft ist es normal, verschieden zu sein. Jeder ist willkommen,
davon profitieren alle, z.B. durch den
Abbau von Hürden, damit die Umwelt für alle zugänglich wird, mehr
Offenheit, Toleranz und ein besseres
Miteinander. Die Alterung der Bevölkerung ist ein wesentliches Merkmal
des demografischen Wandels. Die
Bedürfnisse und Erwartungen älterer
Menschen sind sehr unterschiedlich
und stellen eine Herausforderung an
die Gesellschaft dar, eröffnen aber
auch Chancen des gegenseitigen
Erfahrungsaustausches und der individuellen Altersgestaltung. Dabei ist
es wichtig, die Zusammenarbeit von
älteren Menschen mit und ohne Behinderung zu fördern und auszubauen. Das bürgerliche Engagement
mit seinen Einrichtungen hat daran
einen wesentlichen Anteil. Auch die
Seniorenvertretung der Stadt Mühlhausen stellt sich den Herausforderungen und arbeitet eng mit dem
Senioren- und Behindertenbeirat
zusammen, um Menschen mit und
ohne Behinderung besser zu verstehen und auf deren Bedürfnisse einzugehen und die noch bestehenden
Probleme besser zu lösen.
Renate Luhn
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Pößneck
Inklusion - Dieses Wort ist in aller
Munde und keiner weiß so recht,
was bedeutet Inklusion? Oft stellt
sich mir die Frage: “Ich bin behindert und soll mich der Inklusion beugen?“ Nun stelle ich mir vor, dass ich
mich trotz meiner Behinderung im eigentlichen angenommen fühle, meine Arbeit habe, die mir Spaß macht
und mich an gesellschaftlichen Prozessen beteilige. Für mich ist alles
schön, meine ich. Schaue ich dann
in meine Umgebung sehe ich, wie
viele beeinträchtigte Menschen mir
begegnen. Ich sehe eine Mutter mit
Kinderwagen, die eine Treppe nicht
überwinden kann, ich sehe einen
Mann, der am Stock läuft und ich
sehe viele Menschen mit Brille. Diese sind doch auch behindert, sehbehindert finde ich. Irgendwie werde
ich das Gefühl nicht los, dass Politiker des Europäischen Parlaments
wie auf Bundes- und Landesebene
über behinderte Menschen reden
und nicht mit ihnen. Kurz gesagt,
das ist politisch eine absolute Farce
und vergleichbar mit der Entscheidung an der schönen Ostsee eine
Bergbahn bauen zu wollen. Viele
Entscheidungen sind für die behinderten Menschen in der Umsetzung
nicht nachvollziehbar und gehen an
den eigentlichen Bedürfnissen behinderter Menschen vorbei. Doch
genau da ist der Haken. Wo sind
denn die engagierten und politisch
verantwortlichen Menschen, die sich
mit der Problematik der Betroffenen
auseinandersetzen und mit ihnen
lösungsorientiert diskutieren? Ist
man sich überhaupt bewusst, was
es heißt, mit einer Behinderung zu
leben? Kann man das Behindertsein
oder einfacher gesagt, das Anderssein auf den politisch verantwortlichen Ebenen überhaupt nachvollziehen? Ein Beispiel ist hier auch das
Erfahrungsaustausch
Aus den kommunalen Seniorenvertretungen und -beiräten
neue Rentengesetz. Auch hier müssen schwerbehinderte Arbeitnehmer
mindestens 2 Jahre länger arbeiten,
um die volle Altersrente zu bekommen. Im alten Rentengesetz war die
Möglichkeit, als Schwerbehinderter
bereits mit 60 Jahren die Rente zu
beziehen – abschlagsfrei! Ich meine,
Inklusion beschreibt die Gleichwertigkeit des Menschen, ohne dass dabei Normalität vorausgesetzt wird.
Normal ist vielmehr die Vielfalt, das
Vorhandensein von Unterschieden.
Die einzelne Person ist nicht gezwungen, nicht erreichbare Normen zu
erfüllen. Vielmehr ist es die Gesellschaft, die Strukturen schaffen muss,
in denen sich Personen mit Besonderheiten einbringen und auf die ihnen eigene Art wertvolle Leistungen
erbringen können. Ein Beispiel für
Inklusion ist, statt einer Treppe eine
Rampe zu bauen, Bordsteinkanten
abzusenken oder Internetangebote
visuell für Sehbehinderte anzubieten.
Aber auch Barrieren im „Kopf“ können abgebaut werden, beispielsweise indem ein sehbehinderter Mensch
als Telefonist oder ein teilweise
gelähmter Kaufmann als Sachbearbeiter tätig ist. Hier braucht die
Gesellschaft mutige Arbeitgeber, die
Behinderte einstellen und somit am
gesellschaftlichen Leben teilhaben
lassen. Letztendlich gewinnen alle.
Bei der Gestaltung einer inklusiven
Gesellschaft geht es um die individuelle Sichtweise auf die Bedürfnisse und die Möglichkeiten des einzelnen Menschen. Dabei erfahren
Gemeinsamkeiten und Unterschiede
gleichermaßen Wertschätzung und
nicht der Mensch muss an die Rahmenbedingungen angepasst werden, sondern die Umgebung muss
so gestaltet sein, dass allen Bürgern
der Zugang zu den Möglichkeiten
offen ist. Genau deshalb brauchen
wir politisch Verantwortliche, die mit
engagierten behinderten Menschen
generationenübergreifend diskutie-
ren und im Sinne aller Menschen
Lösungen erarbeiten.
Simone Fichtmüller
Saalfeld
Projekt „Dialog der Generationen“
In unserer schönen Feengrottenstadt
Saalfeld haben sich in den 90er
Jahren ältere Bürger innerhalb einer
Seniorenvertretung zusammengefunden, um sich für die Interessen,
Sorgen und Anliegen der Senioren
einzusetzen. Hierbei entstand auch
der Gedanke, junge Menschen in
die ehrenamtliche Tätigkeit mit einzubeziehen und somit füreinander
Verständnis und Achtung im Zusammenleben verschiedener Generationen zu fördern.
Gemeinsam mit Schulen wurde ein
Projekt „Dialog der Generationen“
ins Leben gerufen, in dem „Alt und
Jung“ voneinander lernen und z.B.
Handarbeiten, Spiele, handwerkliche Tätigkeiten, praktisches Kennenlernen sozialer Berufe usw. gemeinsam ausführten und dabei natürlich
im Gedankenaustausch standen.
Mit der Sabel-Schule wurde diese
Zusammenarbeit vertraglich vereinbart. Von den Senioren wurde angeregt, dass Schüler, neben den vorstehend genannten gemeinsamen
Projekten, den Senioren Computerkenntnisse vermitteln könnten. So
wurde ab 2008, nach einer kurzen
Einführung durch den zuständigen
Fachlehrer, Schülern der 9. Klasse
die eigenständige praktische Durchführung des Kurses übertragen. In
ihrer Freizeit haben die Schüler den
Senioren im schuleigenen und gut
ausgestatteten
Computerkabinett
das gewünschte Wissen vermittelt. Es
wurden beispielhaft Word- und ExcelAufgabenstellungen bearbeitet, Bild-
-96-
bearbeitung durchgeführt und zahlreiche Anwendungsmöglichkeiten
des Internets vermittelt (z.B. Routenplanung und Buchung von Fahrkarten, Internetrecherchemöglichkeiten,
E-Mail usw.). Im darauffolgenden
Schuljahr wurde der Computerkurs
fortgesetzt. Er wird bis heute weitergeführt. Die Schüler standen uns
Senioren bei auftretenden Fragen
oder Problemen hilfreich zur Seite
und es gab für beide Seiten ein angenehmes Miteinander. Die Schüler
hatten so Gelegenheit, ihr Wissen
und Können anzuwenden und dabei
planungs- und vorbereitungsseitig
Erfahrungen zu vertiefen sowie mehr
Selbstsicherheit im persönlichen Auftreten zu erlangen. Für uns als Senioren war es eine gute Gelegenheit,
den Umgang mit dem Computer mit
weniger Vorbehalten und mit mehr
Selbstvertrauen zu praktizieren. Mir
persönlich hat dieser Kurs geholfen,
im Ehrenamt sicherer und effektiver
mit dem Computer zu arbeiten.
Wolfgang Roßberg
Sömmerda
Inklusion - aber wie?
Inklusion - ein Thema welchem
sich diese Zeitschrift stellt. Aber
nicht nur diese Zeitschrift, sondern
auch der Sömmerdaer Seniorenbeirat. Nicht vordergründig, weil
man sich der Bedeutung der Inklusion erst bewusst wird, wenn
man darauf angesprochen wird.
Was bedeutet das im Konkreten für
die Arbeit des Beirates der Stadt
Sömmerda? Voraussetzung der
Teilhabe an der Arbeit ist der Bekanntheitsgrad des Beirates in seiner Vielfalt der Zusammensetzung
und seiner Öffentlichkeitsarbeit;
die Einbeziehung vieler in der Stadt
beheimateten Vereine und Verbände, Religionsgemeinschaften; auch
Erfahrungsaustausch
Aus den kommunalen Seniorenvertretungen und -beiräten
das gute Zusammenwirken mit der
Sömmerdaer Stadtverwaltung. Dazu
zählen Angebote wie öffentliche
Sprechstunden und öffentliche Beratungen - eben an den Stellen, von
denen Vertreter im Beirat sind. Wertschätzung und Anerkennung sind
nur in dem Maße möglich, wenn
man die Anliegen des Einzelnen im
Allgemeinen kennt und sich dieser
annimmt und wenn notwendig einer
Klärung zuführt. Sei es nun privater
Natur oder im öffentlich-kommunalen Bereich. Wertschätzung und
Anerkennung - unabhängig von Bildung und Erziehung - zu gewähren,
macht die Arbeit des Seniorenbeirates von Sömmerda aus. Dabei wird
ständig nach Formen und Methoden
gesucht, nach Möglichkeiten in Form
von Teilhabe an kommunal gesellschaftlichen Prozessen ebenso wie
im kulturell-sportlichen Bereich. Aber
auch im ständigen Dialog zu bleiben
untereinander; nicht nur Menschen
im fortgeschrittenen Lebensalter,
sondern durch enge Kontakte zum
Kinder- und Jugendparlament der
Stadt Sömmerda, um nach gemeinsamen Anknüpfungspunkten und
Lösungswegen zu suchen. Ausdruck
der Anerkennung und Wertschätzung
wird u. a. das II. Seniorenforum sein,
welches im August 2016 stattfindet.
Die Vorbereitungen dazu laufen gegenwärtig auf Hochtouren. Inhaltlich
wird sich das Forum mit der Thematik befassen: „Mach mit - bleib fit!
Aktiv in jedem Alter!“ oder aber auf
den Nenner gebracht „ Trotz Falten
im Gesicht - alt sind wir nicht!“. Das
bezieht sich nicht nur auf körperliche
Fitness sondern auch auf die geistige. Neben einem Fachvortrag zum
Thema wird das Forum mit einigen
Angeboten körperlicher und geistiger Fitness bereichert, wie auch mit
humorigen Beiträgen.
Peter Klose
Sonneberg
Nach Beendigung meiner Berufstätigkeit und dem Übergang in das
Rentenalter hatte ich den Entschluss
gefasst, noch einen nützlichen Beitrag in Form ehrenamtlicher Tätigkeit
in der Stadt und im Landkreis Sonneberg zu leisten. Aus meiner ehemaligen beruflichen Tätigkeit war mir die
Problematik der Veränderung des
demografischen Aufbaus der Bevölkerung zur wesentlichen Erhöhung
des Anteils älterer Einwohner, auch
im Territorium des Landkreises Sonneberg, bekannt. Deshalb nahm ich
an der Ausbildung zum SeniorTrainer
teil. Aus dieser Konstellation heraus
bot sich besonders die Betreuung
von Senioren bei Kurzstreckenwanderungen, die schon seit vielen Jahren durchgeführt werden, an.
In Absprache mit dem Vorstand der
Sektion Sonneberg des Deutschen
Alpenvereins und dem Seniorenbüro
wurde beschlossen, durch Unterstützung der Bemühungen der Diakonie, der Stadt Sonneberg und des
Landkreises Sonneberg für Senioren
einen Teil dieser monatlichen Wanderungen zu organisieren und zu
führen. Für die Wanderungen wurde
eine möglichst lockere Organisationsform gewählt, um die Teilnahmeformalitäten auf einem niedrigem
Niveau zu halten, stellen sie doch
gerade für ältere Bürger oft schon
ein Teilnahmehindernis dar. Diese
Wanderungen standen auch deshalb besonders im Fokus, weil durch
das ungezwungene Beisammensein
auf völlig freiwilliger Teilnahme an
diesen monatlichen Zusammenkünften neben der körperlichen Ertüchtigung auch die sozialen Bindungen
der mitunter von Vereinsamung bedrohten älteren Generation gefördert werden. Ein besonderer Faktor
dabei ist auch die Kommunikation
zwischen den Teilnehmern.
-97-
Die Wanderungen beginnen etwa
in der Zeit zwischen 09:00 Uhr bis
10:00 Uhr und enden nach einer Distanz von 8 km bis 10 km am frühen
Nachmittag. Sie haben im Veranstaltungsrahmen der Stadt Sonneberg
und des Landkreises Sonneberg jetzt
schon mehrere Jahre einen festen
Platz und erfreuen sich einer regen
Nachfrage. Teilweise haben schon
über 50 Personen teilgenommen.
Es gibt aber auch weitere Beispiele
für einen wirkungsvollen Beitrag zur
Inklusion älterer Bürger, verbunden
mit einer sinnvollen Freizeitgestaltung. Für Demenzkranke, die nicht
in einer Einrichtung integriert sind,
werden Tanznachmittage angeboten. Ein Verein „Inklusion – MachMit-Sonneberg“ möchte sich gründen, der aus einer Selbsthilfegruppe
hervorgeht. Ein Schwerpunkt dabei
soll sein: Barrierefrei durch den
Landkreis. Weiterhin muss die monatliche Rubrik „Senioren schreiben
für Senioren“ in der hiesigen Wochenzeitung erwähnt werden.
Annegret Geyer
Stadtroda
Auf dem 11. Deutschen Seniorentag in Frankfurt am Main vom 2. –
4.7.2015 sprach sich die Vorsitzende der BAGSO Frau Prof. Dr. Lehr
u. a. für ein selbständiges und selbstbestimmtes Leben unserer Senioren
und Seniorinnen aus. Ein Weg dazu
ist z.B. das Vorhalten vielschichtiger Angebote durch Hauptamtliche
und „Ehrenamtler“ auf den Gebieten Gesundheit, Kultur, Pflege und
hauswirtschaftliche Hilfen. Ziel ist
es dabei, der Vereinsamung im Alter entgegen zu wirken und die Verschiedenheit als normale Gegebenheit zu betrachten und sich darauf
einzustellen.
Erfahrungsaustausch
Aus den kommunalen Seniorenvertretungen und -beiräten
Untersetzung findet diese Forderung
im „Thüringer Seniorenmitwirkungsgesetz“ (ThürSenMitWG). Im § 1
heißt es dazu: „… das Alter soll in
Würde ohne Diskriminierung gewährleistet werden.“
Vor dem Hintergrund der Alterung
der Gesellschaft sowie der Zunahme
älterer Menschen mit Behinderung
und Pflegebedarf stellt die Inklusion
an die Einrichtungen in den Städten und Gemeinden sowie an die
Seniorenbeiräte vor Ort große Herausforderungen. Inklusion ist dabei
vielschichtig vor Ort zu organisieren,
u. a.:
- die Ermächtigung der Teilhabe am
gesellschaftlichen und kulturellen
Leben im Quartier
- schrittweise Schaffung von barrierefreiem Zugang zu öffentlichen
Einrichtungen in den Gemeinden/
Begegnungsstätten
- Erweiterung der Bereitstellung
altersgerechten,
barrierefreien
Wohnraums in den vielfältigen
Formen
- Information über das Leistungsangebot der Vereine/ Institutionen,
Seniorenbeiräte sowie deren Kontaktdaten vor Ort
An einigen Beispielen möchte ich die
Umsetzung dieser Aufgaben im Verantwortungsbereich unseres Seniorenbeirates in Stadtroda darstellen:
1. Gemäß der Erkenntnis „Langeweile ist die Wurzel allen Übels“
(Schopenhauer) gibt es monatlich
ein anspruchsvolles und vielseitiges Angebot die Seniorenarbeit
betreffend, welches öffentlichkeitswirksam in unserem Amtsblatt, in den 13 Schaukästen der
Stadt und Mitgliedergemeinden
sowie im Lokalteil der örtlichen
Tageszeitung „OTZ“ bekannt gemacht wird (z. B. Fachvortragsreihen, Sing- und Spielenachmittage, Seniorengymnastik, die
regelmäßig an den gleichen Tagen und Zeiten stattfinden). Die
Regelmäßigkeit ist dabei eine
entscheidende Größe für unsere
Senioren und Seniorinnen.
2. Um allen Interessenten die Möglichkeit zu geben, an diesen
Veranstaltungen teilzunehmen,
wurde u.a. der Zugang zur Seniorenbegegnungsstätte barrierefrei für Rollstuhlfahrer und Rollatorenbenutzer geschaffen. Somit
besteht auch die Möglichkeit,
dass Bewohner unseres Seniorenheimes „Rodatal“ teilnehmen
können.
3. Weitere Schwerpunkte des neu
gewählten Seniorenbeirates waren der barrierefreie Zugang
zum städtischen Friedhof, um der
verstorbenen Angehörigen zu
gedenken, die Absenkung von
Gehwegen im Bestand und bei
der Sanierung der „Klosterstraße“ in den Jahren 2016-2018,
sowie die kurzfristige Schaffung
eines Behinderten-Parkplatzes im
Zentrum der Stadt.
4. Und als Ausblick für das Jahr
2016 wären zu nennen die:
- seniorengerechte Beschilderung der Rundwanderwege
- Einrichtung eines „Mehrgenerationen-Bewegungsparks“ sowie
- Herausgabe eines „Seniorenwegweisers von A-Z“, um die
kompakte Informationsversorgung aktuell und zielführend
auf allen Gebieten des Seniorenlebens zu erleichtern.
Um diese anspruchsvollen Ziele der
Inklusion älterer und behinderter
Menschen in der Praxis zu verwirklichen, wurde u. a. zu Beginn des
neuen Jahres mit der Vernetzung
aller Vereine/ Institutionen die Seniorenarbeit betreffend unter „Federführung“ des örtlichen Seniorenbeirates begonnen sowie die sehr
nutzbringenden Kontakte zur Stadtverwaltung, besonders unseres Bürgermeisters Herrn Hempel, und zur
-98-
Rechenschaftskommission gepflegt.
Wir würden uns freuen, als neuer
Seniorenbeirat von den Erfahrungen
langjähriger Beiräte aus anderen
Landkreisen des Freistaates profitieren zu können und sind über weitere
Anregungen die Verwirklichung der
Inklusion betreffend offen und dankbar.
Wolfgang Main
Suhl
Inklusion ist ein Begriff, den viele
schon oft gehört haben. Er wird aus
den unterschiedlichsten Gründen
gebraucht und hat nun auch die
Menschen im fortgeschrittenen Alter erreicht. Was heißt nun Inklusion
allgemein und was im speziellen für
Ältere. Inklusion allgemein heißt dazugehören, nicht ausgrenzen.
Bezogen auf unsere älteren Menschen heißt es, die Älteren mit ihren sozialen und gesundheitlichen
Problemen nicht alleine zu lassen,
sondern ihnen einen Platz und eine
Aufgabe in der Gesellschaft zu geben. Um dieses leisten zu können,
müssen die Bedingungen im Umfeld
stimmen. Es ist Aufgabe der Seniorenbeiräte und anderer Seniorenvertretungen, sich vor Ort über die
Situation zu informieren und von der
lokalen Politik, aber auch wenn notwendig von der Bundes- und Landespolitik Maßnahmen einzufordern.
Unser Seniorenbeirat hat sich in den
vergangenen Jahren immer wieder
im Rahmen von Seniorenbefragungen ein Bild über die Situation und
die Wünsche unserer Senioren gemacht. An oberster Stelle steht der
Wunsch, solange wie möglich in der
eigenen Wohnung und im vertrauten Umfeld zu bleiben. Auch ob die
Wohnung dauerhaft bezahlbar ist, ist
eine Sorge der Älteren. Aber wie soll
dieses möglich sein, wenn ein Groß-
Erfahrungsaustausch
Aus den kommunalen Seniorenvertretungen und -beiräten
teil des Wohnbestandes nicht barrierefrei ist. Bei Gesprächen mit den
Wohngesellschaften zeigt sich, dass
die Wohnungsbauförderprogramme in dem vorhandenen Wohnbestand nicht wirtschaftlich vertretbar
umgesetzt werden können. Unser
Beirat hat den Landesseniorenrat
aufgefordert, sich mit dem Thema
zu beschäftigen. Auch das Thema
der standortnahen Ärzteversorgung
ist eine Sorge der älteren Menschen,
die oft auf fremde Hilfe bei Arztbesuchen angewiesen sind. Dieses hat
unser Beirat im Landesseniorenrat
thematisiert. Ganz wichtig für die
Älteren ist die Mitarbeit in Vereinen
und Initiativen der Wohlfahrtsverbände. Damit das funktioniert, sucht
unser Beirat die enge Zusammenarbeit mit den Akteuren. So werden
Informationen über Veranstaltungen
ausgetauscht und eigene Veranstaltungen organisiert.
Als Beirat können wir vor Ort vieles
anschieben, damit Inklusion der Älteren gelingt.
Rüdiger Müller
Weimar
Inklusion - Carpe diem
Wann und wie wird eigentlich eine
alternde Gesellschaft erkennbar?
Biologisch beginnt das Altern doch
schon vor der Geburt. Behinderungen und Pflegebedarf nehmen zwar
im zunehmenden Alter zu und ihre
Symptome sind immer schnell diagnostiziert. Ihre Ursachen finden
aber oft keine Beachtung. Diabetes
ist auch nicht ein gesundheitliches
und soziales Problem nur in der Lebensphase der „Hochaltrigkeit“.
„Altwerden ist nichts für Feiglinge“, meinte Joachim Fuchsberger
in seinem Buch. Aber: Altern erfordert neben Mut immerhin auch
Gesundheit, Bildung, Lebenserfah-
rung, Kultur - in allen Lebenslagen.
Die Menschen müssen von Kindheit
an lernen, für andere da zu sein nicht erst vor oder bei einer beginnenden Pflegesituation. Eine Betreuung ist bezahlbar, Pflege erfordert
Verständnis, Einfühlung, Fürsorge,
Vorsorge, Menschlichkeit, Charakter, Erfahrung, Gemeinschaftssinn.
Familie und Partnerschaft sind ein
soziales Fundament von Inklusion.
Ich bemühe mich, nicht nur in Erinnerungen an das bisherige gemeinsame Leben mit meiner Frau zu verfallen. Die Zukunft darf nicht schon
mit und in der Gegenwart Vergangenheit sein. An die Zukunft denken
heißt für mich auch: da kommt doch
noch etwas, worauf ich neugierig
bin, ich werde meine eigenen Wünsche nicht verdrängen. In der Gegenwart gibt es die Anforderungen
an die Gestaltung des gemeinsamen
Alltags, aber auch die Bitte um Verständnis für mein Leben. Dann aber
auch die Frage: Wer betreut meine
Frau, wenn ich ernstlich erkrankt
bin und sich eine Krankenhausbehandlung nicht vermeiden lässt?
Auch auf solche und andere Situationen sollte man vorbereitet sein. Die Teilnahme zu pflegender Menschen am gesellschaftlichen Leben
muss immer wieder organisiert werden. Ich motiviere meine Frau, sich
für gesellschaftliche Probleme und
politische Tagesfragen zu interessieren. Dabei muss ich für ihr neues,
anderes Leben täglich Verständnis
haben und oft neu durchdenken,
ohne mich in Selbstmitleid zu verlieren. Inklusion kann nur verstanden
werden, wenn man sie selbst erlebt
und aktiv unterstützt. Als ehemalige Französischlehrerin hat meine
Frau eine blinde Schülerin bis zum
erfolgreichen Abitur geführt. Jetzt
ist die Pflege meiner Frau für mich
eine Herausforderung für heute und
morgen, auf die ich zunächst nicht
vorbereitet war. Plötzlich war ich vor
-99-
die Aufgabe gestellt, den gemeinsamen Alltag allein zu organisieren und dieser Alltag bezieht sich nicht
nur auf hauswirtschaftliche Tätigkeiten. Das gemeinsame Musikhören,
das Gespräch über politische Ereignisse, die Aufrechterhaltung von
Kontakten zu Verwandten, Kollegen
und Freunden ist immer wieder neu
zu durchdenken - und ein Tag ist so
schnell vorüber. Die Erinnerung an
das bereits vergangene gemeinsame
Leben muss auch mit dem Blick auf
die Zukunft verbunden sein. Inklusion selbst erleben, selbst gestalten,
in der Partnerschaft: Carpe diem.
Dr. Hans-Jürgen Paul
Der SENIORENREPORT als Bestandteil der Chronik der Landesseniorenvertretung
Ein Jubiläum, dessen Anlass wohl
bisher nicht in der Chronik der Thüringer Landesseniorenvertretung vermerkt ist. Bei einer Durchsicht meines
Archivs stellte ich fest, dass unser SENIORENREPORT im Februar 1996
als „Informationsblatt der Landesseniorenvertretung Thüringen e. V.“
erstmals erschien. Seitdem gehörte
dieses Mitteilungsblatt mit jährlich
vier Ausgaben zu einer wirksamen
und anerkannten Form von Kommunikation in den Thüringer kommunalen Seniorenbeiräten. Mit großem
Interesse las ich noch einmal einige
Beiträge und stellte fest, dass sie auch
im Jahre 2016 noch nicht an Aktualität verloren haben. Es lohnt sich für
die heutige Arbeit in den Seniorenvertretungen, sich mit dem großen
Schatz an Erfahrungen aus zwanzig
Jahren kommunaler Seniorenpolitik
vertraut zu machen. Zwanzig Jahre
SENIORENREPORT verdeutlichen
sehr anschaulich und überzeugend
den großen Beitrag der Landesseniorenvertretung bei der Gestaltung der
Altenpolitik im Freistaat Thüringen.
Helmut Gerlach orientierte als da-
Erfahrungsaustausch
Aus den kommunalen Seniorenvertretungen und -beiräten
maliger Vorsitzender regelmäßig auf
aktuelle Aufgaben der Landesseniorenvertretung. Vorstandsmitglieder
nahmen mit ihren Beiträgen an der
Diskussion zu ausgewählten Themen
teil. Die Leitthemen für die jährlichen
vier Ausgaben des SENIORENREPORT waren langfristig im Vorstand
beraten und bestätigt. Einen großen
Platz nahmen die vielfältigen Beiträge aus den kommunalen Seniorenbeiräten als eine bewährte Form des
Erfahrungsaustausches ein, die auch
heute in keiner Ausgabe fehlen.
Inzwischen hat sich der SENIORENREPORT unter der Leitung von Dr.
Jan Steinhaußen zu einem unentbehrlichen Journal für alle in der
Altenpolitik Tätigen auf einem hohen wissenschaftlichen Niveau weiterentwickelt: interessant, vielseitig,
optimistisch, lebendig, informativ,
sachlich, generationenübergreifend.
Kurz: ein Spiegelbild ehrenamtlicher
landespolitischer Altenpolitik in einer stets aktuellen und anschaulichen Einheit von Theorie und Praxis.
Dr. Hans-Jürgen Paul
Zella-Mehlis
Zu unserer Sitzung im März besuchte uns ein Bürger aus einem in den
1980er Jahren entstandenen Neubaugebiet mit mehreren 5-geschossigen Wohnblöcken.
Herr P. bemängelte, dass viele der
inzwischen alt gewordenen Bewohner kaum noch in der Lage seien,
die vielen Treppen bis zu den oberen
Stockwerken zu bewältigen und deshalb u.U. ihre Wohnungen wechseln
müssten. Sie würden aber gerne weiter in ihrem sozialen Umfeld wohnen
bleiben. Außerdem hat man wegen
der Hanglage am Ortsrand von fast
allen Wohnungen einen wunderbaren Rundblick, und es befinden sich
eine gute Einkaufsmöglichkeit sowie
Bushaltestellen in der Nähe. Die
Wohnblöcke sind Eigentum unserer
Städtischen Wohnungsgesellschaft.
Herr P. hatte schon selber in der SWG
deshalb vorgesprochen und bat nun
um unsere Unterstützung. Einer unserer Seniorenbeiratsmitglieder ist
auch im Aufsichtsrat der Wohnungsgesellschaft und nahm sofort das
Anliegen des Bürgers auf. Wir haben
deshalb zu unserer nächsten Sitzung
den Leiter der SWG eingeladen, der
sich bei der Vorbesprechung sehr interessiert an der Idee zeigte, die betreffenden Wohnblöcke zukünftig mit
Fahrstühlen auszustatten. Wir finden
es gut, dass Mitbürger selber Initiative ergreifen, um Vorschläge zur
Mängelbeseitigung zu machen, unterstützen dies und hoffen, dass unsere SWG die inzwischen zahlreich
vorhandenen finanziellen Fördermöglichkeiten zum Fahrstuhlanbau
nutzen wird. Unser Seniorenbeirat
wird auf alle Fälle dieses Vorhaben
weiter begleiten und hoffen, dass in
absehbarer Zeit die Wohnqualität
dort wohnender Seniorinnen und
Senioren verbessert werden kann.
E. Holland-Cunz
Zeulenroda-Triebes
In Deutschland sind nach Berichten
und statistischen Erhebungen etwa
10% der Bevölkerung behindert,
wobei man davon ausgehen kann,
dass es wesentlich mehr sind.
Laut UN-Behindertenrechtskonvention und Bundesgleichstellungsgesetz ist es Recht und Pflicht, diesen
Menschen ein selbst- und mitbestimmendes, den unterschiedlichsten Bedürfnissen angepasstes und
gleichberechtigtes Leben in der Gesellschaft zu ermöglichen.
Inklusion heißt, Teilhabe aller Menschen, ob behindert oder nicht, an
allen gesellschaftlichen, kulturellen
-100-
und sportlichen Prozessen ohne Barrieren.
Dazu bedarf es noch einer langen
Wegstrecke.
In Zeulenroda und Umgebung sind
wir der Umsetzung schon ein Stück
näher gekommen.
In den 4 Pflege- und Altenheimen
(Seniorenpark „Am Birkenwäldchen“,
Seniorenzentrum „Zum Stausee“ in
Zeulenroda, Wohn- und Pflegeheim
„Am Wiesensteig“ Triebes der AWO
AJS gGmbH und dem Pflegezentrum „Zum alten Kraftwerk“ Auma
der AWO Zeulenroda-Triebes) sowie
dem Übergangswohnheim für Menschen mit psychischer Behinderung
und den Sozialstationen ASB, Volkssolidarität und DRK werden viele Initiativen unternommen, diesen Menschen ein, den Lebensumständen
entsprechendes Leben zu bieten.
So wird z.B. seit Jahren durch das
Wohn- und Pflegeheim „Am Wiesensteig“ Triebes über die „Aktion
Mensch“ ein Tag der Inklusion mit
vielfältigen Aktionen, in denen die
Heimbewohner mit eingebunden
sind, durchgeführt.
Als ein Beitrag zur Umsetzung der
UN-Menschenrechtskonvention in
der Stadt wird sich auch dieses Jahr
das Heim am Europäischen Protesttag für Menschen mit Behinderung
am 5. Mai mit einem Sternmarsch
zum Gelände des Sanitätshauses
Serimed in Zeulenroda beteiligen.
Unter dem Motto „Verschiedenheit
verbindet“ sollen viele Menschen in
Zeulenroda-Triebes mit Handicap
aktiviert und ihnen ein unvergesslicher Tag außerhalb ihrer Wohneinrichtungen beschert werden. Angesprochen werden Bewohner der
Wohn- und Pflegeheime, Pflegebedürftige in ihren Wohnungen, ambulante Pflegeeinrichtungen, Jugendliche der Lebenshilfe, Kindergärten,
Schulklassen und Bürger. Auch wir
vom Seniorenbeirat werden, wie
bisher, daran teilnehmen. Bei einem
Aktuelles
Aus der Geschäftsstelle
bunten Programm soll dieser Tag ein
unvergessenes Erlebnis werden.
Vergessen wir auch die große Gruppe der Senioren nicht, die alleinstehend, krankheitsbedingt oder behindert sind und noch durch keine
Sozialstationen betreut werden.
Hier versuchen wir als Seniorenbeirat der Stadt Zeulenroda-Triebes unseren Beitrag zu leisten. Durch die
Betreuung von Senioren in unserer
Begegnungsstätte mit Sport, Kartenspielen und Kaffee und Kuchen
wird den Senioren 2x in der Woche
eine Abwechslung geboten. Weiterhin führen wir regelmäßig einmal
im Monat eine Tanzveranstaltung
sowie eine Bildungsveranstaltung zu
allgemein interessierenden Themen
durch. Beliebt sind auch die seit Jahren von uns monatlich organisierten
und durchgeführten Tagesausfahrten
für 50-60 Personen zum Kennenlernen und Wiederentdecken unserer
Heimat aus kultureller und gastronomischer Sicht.
Auch die wöchentlichen Kegelnachmittage sind sehr beliebt.
Volker Götzloff
Informationen aus dem
Vorstand
Auch mit achtzig hat man noch
Träume - oder?
Viele Jahre saßen wir uns bei Sitzungen am Tisch des Vorstandes der
Landesseniorenvertretung in Erfurt
gegenüber. Ein kurzer Blick genügte,
um uns - ohne vorherige Absprache
- in die lebhafte Diskussion einzumischen. Gemeinsam haben wir
unter anderem in Gesprächen mit
dem Direktor des Thüringer Landesfunkhauses und mit dem Chefredakteur der „Thüringer Allgemeine“ um
die journalistische Beachtung der
Rechte, Interessen und Probleme
der älteren Generation in den Medien beraten, und - wie ich meine
- nachweisbar mit Erfolg. Themen
für den SENIORENREPORT und für
die jährlichen Herbstseminare - die
anfangs immer in einem anderen
Thüringer Ort stattfanden - haben
wir gemeinsam im Vorstand der Landesseniorenvertretung begründet.
In diesem Jahr wird er am 10. Juli
80 Jahre „alt“ (in Worten achtzig)
- mein Freund und Mitstreiter Konrad Eberizsch aus Rudolstadt. Er
hat es verdient, in die Gemeinschaft der „Hochaltrgen“ in Ehren aufgenommen zu werden -
sein Alter sieht man ihm nicht an.
Ich wünsche ihm die Kraft und den
Optimismus für die Erfüllung seiner
eigenen Wünsche und Vorhaben bei
relativ guter und besserer Gesundheit
und etwas mehr Zeit und Gelassenheit an der Seite seiner lieben Frau.
Lieber Konrad, bleib noch lange
mein Freund und bereichere auch
hin und wieder eine Seite im SENIORENREPORT mit einem Thema
oder greife zum Hörer - wir haben noch viel zu bereden, denn:
wir sind noch lange „nicht fertig“.
Und - nimm Dir mehr Zeit und
Kraft für Dich und für Deine Frau.
Mach etwas in und mit der Zeit der
„Hochaltrigkeit“ - das muss doch zu
machen sein, wünscht Dir Hans-Jürgen Paul aus Weimar. Carpe diem. Anmerkung der Redaktion:
Auch Hans-Jürgen Paul wurde in
diesem Jahr 80 Jahre alt. Er gehörte zu den Gründungsvätern der
Landesseniorenvertretung. Er war
langjährig Vorstandsmitglied und
begründete mit dem Seniorenreport
eine Informationszeitschrift für die
kommunalen Seniorenvertretungen
und -beiräte, die seit vielen Jahren
das Profil der Landesseniorenvertretung mitbestimmt. Sein Spezialgebiet
war die Rente der Ostdeutschen. Er
Konrad Eberitzsch links und Dr. Hans-Jürgen Paul rechts.
-101-
Aktuelles
Aus der Geschäftsstelle
hat sich wiederholt für eine Anpassung der Rentenwerte von Ost und
West ausgesprochen und eingesetzt.
Er war aber nicht nur ein Spezialist
für seniorenpolitische Anliegen, sondern ein herausragender Humorist,
dessen humoristisch-satirischen Einlassungen den Jahresseminaren der
Landesseniorenvertretung ein heiteres Gepräge gaben. Obwohl es
dabei immer auch um Politik ging,
hatten diese für ihn nach unserem
Wissen keine strafrechtlichen Konsequenzen.
Herzlichen Glückwunsch beiden.
Neue Mitarbeiterinnen in der
Geschäftsstelle
Carolin Czauderna befindet sich seit
April 2016 in ihrer Elternzeit. Sie hat
inzwischen eine Tochter entbunden,
die Lotta heißt. Herzlichen Glück-
wunsch. Ihre Elternzeitvertreterin ist
Karolin Gempe. Mandy Mühle hat
sich, nachdem sie über viele Jahre
für die Landesseniorenvertretung tätig war, seit April 2016 beruflich anders orientiert. Der Vorstand dankt
ihr für ihre zuverlässige Arbeit. Ihre
Nachfolgerin ist Jelena Kleine.
Carolin Czauderna hat eine Tochter entbunden und ist für ein Jahr in ihrer Erziehungszeit. Die
langjährige Geschäftsführerin der Landesseniorenvertretung, Mandy Mühle, hat sich beruflich
neu orientiert.
Elvira Fischer, stellv. Vorsitzende des Vereins
zur Förderung von Mitwirkung und Teilhabe
älterer Menschen in Thüringen
Karolin Gempe und Jelena Kleine, die neuen Referentinnen des Landesseniorenrates
Die langjährige Leiterin des Seniorenbüros
Saalfeld-Rudolstadt, Alexandra Graul, hat
ihre berufliche Tätigkeit beendet. Sie hat
über viele Jahre die Seniorenarbeit im Landkreis maßgeblich bestimmt. Sie wird als ehrenamtliche Seniorenbeauftragte weiterhin
der Seniorenarbeit zur Verfügung stehen.
Ihre Nachfolgerin ist Saskia Paschold.
Leiterin des Familienreferats im TMASGFF,
Frau Ines Wesselow-Benkert, und Frau EvaMaria Knauß
-102-
Aktuelles
Nachruf
Nachruf
auf Norbert Pößel
Norbert Pößel, der langjährige Vizepräsident der Deutschen Landsenioren und Präsident des Landseniorenverbandes Thüringen e.V., war
vielen Menschen in der Seniorenarbeit ein vertrauter, zuverlässiger und
engagierter Gesprächspartner und
Begleiter. Er wurde am 29. Januar
1937 in Holzthaleben als Sohn einer Landwirtsfamilie geboren. Dort
besuchte er die Grundschule und
arbeitete bereits in seiner Jugend
auf dem elterlichen Hof. In den
Jahren 1958/59 war er als Landwirt Mitglied der LPG „Glück auf“
in Holzthaleben. 1959 begann er
ein Studium an der Landwirtschaftlichen Fachschule in Mühlhausen.
Nach dem Abschluss war Norbert
Pößel von 1962 an als pädagogischer Mitarbeiter, später als stellvertretender Direktor und ab 1981
als Direktor der Kreislandwirtschaftsschule in Mühlhausen tätig. 1962
absolvierte er neben seiner Tätigkeit in der Landwirtschaftsschule ein
Fernstudium zum Berufsschullehrer.
Er erwarb später den Abschluss als
Diplomlandwirt. 1990 begann er
eine neue Tätigkeit als Bereichsleiter
Bildung des Landwirtschaftsamtes
in Mühlhausen. Von 1992 bis zum
Ende seiner Berufstätigkeit im Jahre
2000 war er Leiter der Außenstelle
Mühlhausen der Landvolkbildung
Thüringen.
In all diesen Jahren lernten ihn viele
vor allem aus der Landwirtschaft als
äußerst engagierten Menschen kennen. Er war über 25 Jahre ehrenamtlich tätig. Für Seniorinnen und Senioren aus den Dörfern des Kreises
Mühlhausen organisierte er bereits
damals Busreisen und andere Veranstaltungen. 1994 wurde die Kreisvereinigung Mühlhausen e.V. der
Landsenioren gegründet, deren Vor-
sitzender er seitdem war. Zwei Jahre
später, 1996, erfolgte die Gründung
des Thüringer Landseniorenverbandes. Auch hier war Norbert Pößel
von Anfang an Vizepräsident dieses
Verbandes, später sein Präsident.
Gleichzeitig wurde er Vizepräsident
der Deutschen Landsenioren. Er arbeitete ständig daran, auf die besondere Situation der älteren Menschen
im ländlichen Raum aufmerksam zu
machen. Sein ehrenamtliches Engagement beschränkte sich jedoch
nicht auf die Landsenioren. Er war
langjähriges Präsidiumsmitglied des
Thüringer Bauernverbandes und
engagierte sich im Landesseniorenbeirat Thüringens. Seine Kontakte
reichten von vielen staatlichen Stellen bis hin zu nahezu allen Thüringer
Ministerien. Er war für die Landsenioren in Thüringen und für viele Ältere eine öffentliche Person ersten
Ranges. Seinem Engagement war
es zu verdanken, dass die Landseniorenvereinigung Mühlhausen e. V.
heute mit ca. 1100 Mitgliedern die
größte Kreisvereinigung in Deutschland ist. Er hat es verstanden, die älteren Menschen anzusprechen und
ihnen vielfältige Möglichkeiten eines
freundschaftlichen Miteinanders und
Füreinanders und der gegenseitigen
Hilfe zu ermöglichen.
Norbert Pößel starb am 9. Dezember
2015. Mit ihm verlieren die Land­
senioren einen ihrer profiliertesten
Vertreter. Wir sprechen seiner Familie und den Landsenioren in Thüringen unser Beileid aus.
Dr. Jan Steinhaußen
Norbert Pößel mit seiner Frau, unten im Bild
mit Landsenioren
-103-
„In einer höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft, nachdem die
knechtende Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit, damit
auch der Gegensatz geistiger und körperlicher Arbeit verschwunden ist; nachdem die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis geworden; nachdem mit der allseitigen Entwicklung der Individuen
auch ihre Produktivkräfte gewachsen und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen - erst dann kann der enge bürgerliche
Rechtshorizont ganz überschritten werden und die Gesellschaft auf ihre Fahne schreiben: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!“ Marx
Landesseniorenrat Thüringen
Alter ist Kompetenz
ISSN-Print 2364-9860
ISSN-Internet 2364-9879
ISBN 978-3-937107-39-4
SENIORENREPORT,
21. Jahrg. 1+2/2016
Impressum
Erscheinungsweise viermal jährlich;
Auflage 1500
Nächste Ausgabe erscheint im
September 2016
Redaktionsschluss: 10.09.2016
Herausgeber:
Landesseniorenrat Thüringen
Dr. Jan Steinhaußen, Geschäftsführer
Prager Straße 5/11, 99091 Erfurt
Telefon: 0361/562 16 49
Mobil: 0152 55353013
Fax: 0361/601 37 46
landesseniorenrat-thueringen@gmx.de
www.landesseniorenrat-thueringen.de
Vorsitzende: Hannelore Hauschild
Redaktion: Dr. Jan Steinhaußen, Karolin Gempe, Jelena Kleine
Redaktion Praxisberichte: Charlotte
Birnstiel, Günther Koniarcyk
Layout und Satz: Dr. Kerstin Ramm,
Grafik und Werbung, Dorfstr. 15,
07646 Albersdorf,
Tel.: 036692/213 82,
Fax: 036692/355 77,
www.grafikundwerbung-ramm.de
Produktion: Förster & Borries GmbH &
Co. KG, Zwickau
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auf Ihre Post, E-Mail oder Ihren Anruf. Bitte nehmen Sie mit unserer Redaktion in Erfurt (Landesseniorenrat) Kontakt auf.
Fotos:
Ahrenbeck S. 32 oben, Becker S.12, Beckmann S.94 links; Bezgraniz-Couture S. 88, Fotolia alle Bilder S. 1, Czauderna/Steinhaußen
6, 13, 15, 17, 20, 22, 32 unten, S.94 rechts;
101, 102, Czauderna/ Steinhaußen Header
S.4-48 , 50-62, 73; 75, 77, 82, 84-89, 91102; Gempe S.102, Golden-Kraemer-Stiftung
S.78-81, Haller S.86-87, Heintze S. 33, 48;
Jentsch S.17, Lebenshilfe Thüringen S.68-70,
Kleine S.102; Ramm Header S.2, RSB e.V.
S.89; Schleinitz S.63-67, 74, 76, 83, Vogler
S.103, Wachowski S.90, TMASGFF S.49, 51,
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Stellungnahmen der Redaktion. Die Redaktion
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