Inklusion - Verein Vital eV
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Inklusion - Verein Vital eV
1/2 2016 Organisationen Informationen 21. Jahrgang Juni 2016 SENIORENREPORT Begriffe/Statistik/Zahlen Behinderung (S. 53) Behindertenbeauftragter in Thüringen (S. 62) Schutzbund der Senioren (S. 63) Lebenshilfe (S. 67) Inklusiononline.net (S. 73) Kontaktdaten für Menschen mit Behinderungen (S. 74) Inklusion Die Gold-KraemerStiftung (S. 78) Projekte „Netzwerkprojekt Inklu sionskultur“ (S. 82) DRK Mobil gGmbH (S. 83) Inklusion und Barrierefreiheit für Bankkunden (S. 85) Tipps Erfahrungen Personalisierte Bekleidung (S. 87) Aus den Seniorenbeiräten (S. 91) Aktuelles aus dem Vorstand (S. 101) Impressum (S. 104) Fachwissenschaft/Politik -1- Inhaltsverzeichnis Rubrik Fachwissenschaft/Politik Die Inklusionslüge. Behinderung im flexiblen Kapitalismus Prof. Uwe Becker Zu Begriffen im Umfeld von Inklusion Dr. Jan Steinhaußen „Das Versprechen vom Ende der Ausgrenzung – Inklusion, politische Teilhabe und Behinderung Dr. Jan Steinhaußen Älter werden, Behindert sein Prof. Ronald Lutz Das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen Schulische Inklusion – eine anspruchsvolle und schwierige Aufgabe Prof. Bernd Ahrbeck Zu Widersprüchen schulischer Inklusion Dr. Jan Steinhaußen Auf der Straße des Erfolgs: Soziale Arbeit der „Umsorgung“ von Senioren im deutsch-skandinavischen Vergleich Dr. Cornelia Heintze Zur Umsetzung der UNBRK in Thüringen Frau Riehm / Herr Eberhardt 4 13 17 19 30 30 33 49 Rubrik Information Behinderung in Deutschland und Thüringen Dr. Jan Steinhaußen Der Behindertenbeauftragte in Thüringen 53 62 Rubrik Organisationen Schutzbund der Senioren ist für alle offen – 25 Jahre gelebte Inklusion Erdmann Schleinitz „Alt wie ein Baum möchte ich werden …“ – Zur Situation alt gewordener Menschen mit geistiger Behinderung – Die Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung – Landesverband Thüringen e. V. Lebenshilfe Zeitschrift für Inklusiononline.net Organisationen und Interessenvertretungen von und für Menschen mit Behinderungen – Kontaktdaten von Landesverbänden und Interessenvertretungen von und für Menschen mit Behinderungen 63 67 73 74 Projekte Die Gold-Kraemer-Stiftung – über 40 Jahre Engagement für eine inklusive Gesellschaft Gold-Kraemer-Stiftung Das „Netzwerkprojekt Inklusionskultur“ DRK Mobil gemeinnützige GmbH – ein Beitrag zur inklusiven Gesellschaft Inklusion und Barrierefreiheit im Alltag – Verbesserungen zum Wohle der Bankkunden – eine gemeinwohlorientierte Initiative Raymund Haller Integration und Inklusion durch personalisierte Bekleidung Kathleen Wachowski 78 82 83 85 87 Erfahrungsberichte/Aktuelles aus dem Vorstand Aus den Seniorenbeiräten Informationen aus dem Vorstand Nachruf auf Norbert Pößel -2- 91 101 103 Sehr geehrte Frau Professorin … ich war jetzt eher durch Zufall auf einen lange zurückliegenden interessanten Vortrag von Ihnen gestoßen ... Ich möchte auf zwei Einlassungen von Ihnen Bezug nehmen, die mich irritiert haben: Sie mein(t)en, dass Sie keinen semantischen Unterschied zwischen den Ausdrücken „behinderte Menschen“ und „Menschen mit Behinderungen“ sehen. Mir erscheint er aber deutlich: Im ersten Fall erzeugt das Attribut eine Totalität auf den Gegenstand. Ein roter Apfel ist eben rot und nicht auch gelb. Im zweiten Fall „Menschen mit Behinderungen“ ist die Behinderung ein Attribut von anderen. Ein Apfel mit der Farbe Rot kann eben gelbe und weiße und schwarze Farbtöne enthalten. Eine ähnliche Reduktion findet man im Begriff Pflegeheim: Das Wohnen und Leben von Menschen, die einen Pflegebedarf haben, wird auf die Dimensionen der Pflege, einer Institution und einer hospitalisierten Unterbringung reduziert. Insofern kann ich sehr wohl nachvollziehen, dass sich Menschen nicht auf eine Dimension ihres Lebens reduziert sehen wollen. Noch krasser empfinde ich das Beispiel „füttern“, das Ihnen verwendungsfähig erscheint. Dass unterschiedliche Wörter für formal gleiche Vorgänge bei Mensch und Tier entstanden sind, Tiere fressen und werden gefüttert, Menschen essen, hängt wahrscheinlich mit der strengen Unterscheidung zwischen Mensch und Tier im abendländischen Denken zusammen. Ich wäre neugierig, ob es in anderen Kulturkreisen oder in frühen Kulturen diese sprachliche Unterscheidung gibt. Im abendländischen Denken waren Tiere „geistlose“ und triebgesteuerte Wesen, die Würde des Menschen wurde mit seiner Geisteskraft, seinem Denken und seiner Sittlichkeit verbunden. Ein Mensch frisst, wenn er keine Manieren hat, wenn er seinen Trieben folgt usw. Menschen werden, das ist die Logik, gefüttert, wenn sie keine Denkkraft und Sittlichkeit (mehr) besitzen, also Kinder und demenziell erkrankte Menschen. Ich empfinde diesen Gebrauch als schwer erträglich. Das Wort „füttern“ assoziiert Massentierhaltung. Das Heim als Ausdruck einer geronnenen Lebensform ähnelt einer solchen „Haltung“ und Abrichtung. Entscheidend erscheint mir aber vor allem die Verabreichungsintention. Sie macht Menschen zu Objekten. Es ist m.E. kein geringer Unterschied, ob man sagt und meint, dass man Menschen füttert oder dass man ihnen Hilfestellung oder Assistenz beim Essen gibt. Nun könnte man meinen, liebe Frau Fix, dass diese zwei Beispiele noch keine Praxis generieren oder nicht ganz so ernst zu nehmen sind, weil die Unterschiede gering seien. Ich denke aber, dass die Sprache mit Bezug auf Menschen mit einem Pflegebedarf einer System- und konkreter einer Ökonomisierungslogik folgt, die Menschen zu Objekten degradiert, sie in einem geldwerten Verwertungszusammenhang sieht und Beziehungen beeinflusst. … Herzliche Grüße von Jan Steinhaußen (Auszug aus einem Brief an Frau Prof. Fix) -3- Fachwissenschaft/Politik Inklusion Die Inklusionslüge. Behinderung im flexiblen Kapitalismus Es ist relativ still geworden um das Thema Inklusion. Verging in der Zeit bis zum Sommer 2014 kaum eine Woche, in der nicht in örtlichen oder überregionalen Tageszeitungen über Praxis, Probleme oder Beispiele der Inklusion berichtet wurde, so findet sich inzwischen nur noch gelegentlich die eine oder andere Tagesnachricht auf der vierten oder fünften Seite. Nicht viel anders ergeht es beispielsweise dem insgeheim in Vorbereitung befindlichen Freihandelsabkommen TTIP, dessen skandalöse Intransparenz zwar noch im September 2015 250 Tausend Demonstranten in Berlin zusammengeführt hat, aber mehr als eine Tagesmeldung war auch das nicht wert. Als ich im Herbst 2014 mit den abschließenden Kapiteln meines Buches befasst war, habe ich bereits diese drohende Verzerrung der öffentlichen Aufmerksamkeit für unser Thema befürchtet. Im letzten Teil des Buches unter dem Titel Inklusionslogiken heißt es: „Die öffent- liche Aufmerksamkeit für die Sache der Inklusion droht sukzessive zu verschleißen, wenn das, was als Inklusion gedacht wird, maßgeblich in die Metaphorik einer besseren Gesellschaft entrückt wird. Ohne die erforderlichen ökonomischen Ressourcen für dieses Projekt bereitzustellen und ohne nach den notwendigen Veränderungen der gesellschaftlich zentralen Logiken zu fragen, unterliegt dieses Projekt tendenziell der moralischen Versickerung. Es geht ihm der zivilgesellschaftliche Atem aus, zumal neue, ‚frische‘ Themen das Feld der öffentlich provozierten Aufmerksamkeit besetzen. Dass beispielsweise die Dramatik der internationalen Flüchtlingsbewegung mit ihren eher bescheidenen Ausläufern einer Aufnahme von einigen hunderttausend Menschen 2014 in Deutschland aus guten Gründen wochenlang die Medien bestimmt – und eigentlich eine wesentlich intensivere und nachhaltigere Aufmerksamkeit verdient hat – hat dabei den beiläufigen Effekt, dass das Thema Inklusion in die unteren Ränge des öffentlichen Interesses verbannt wurde, wobei recht betrachtet beide Themen eine Inklusionsverwandtschaft beinhalten. Dieses Beispiel für eine ‚Themenkonkurrenz‘ hat auch eine finanzielle Dimension. Es spiegelt die Finanzierungskonkurrenz innerhalb der Kommunen wieder, die sich – noch ‚erschöpft‘ vom Konnexitätsstreit über die Übernahme der Kosten für Inklusionsbestrebungen in der Regelschule – nun mit erneuten Anfragen nach Kostenübernahme konfrontiert sehen.“ (Becker 2015: 171f.) Wenn sie die Straßenverkehrsordnung, das Strafrecht, das Steueroder Sozialrecht nicht ständig öffentlich thematisiert finden, ist das nicht sonderlich spektakulär und gewissermaßen unschädlich. Denn das Recht besteht und setzt täglich seine -4- Praxis durch einschlägige Rechtsprechung auch im Stillen. Was aber das Thema Inklusion anbelangt, so ist sein Rechtscharakter wesentlich fragiler und unbestimmter und insofern braucht es die zivilgesellschaftliche Schubkraft, um sich rechtswirksame Grundlagen zu schaffen. Diese Fragilität hat mehrere formale und rechtsmaterielle Gründe. 1. Völkerrecht heißt nicht, dass das Recht beim Volk ankommt Die juristische Primär-Quelle, auf die die Inklusionsdebatte, der Nationale Aktionsplan und die zahlreichen Landesaktionspläne Bezug nehmen, ist das am 13. Dezember 2006 durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedete „Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderung“. Diese sogenannte Behindertenrechtskonvention (BRK) ist Ergebnis eines Umdenkungsprozesses. Denn auch in den Vereinten Nationen wurde Behinderung als ein eher sozialpolitisches oder gar medizinisches Thema verortet. Folglich lag das zuständige Ressort in der Kommission für soziale Entwicklung oder bei der Weltgesundheitsorganisation (vgl. Degener 2006: 104). Die Forderung nach einer verbindlichen Menschenrechtskonvention ist fünf großen Nichtregierungsorganisationen von Menschen mit Behinderung zu verdanken, die letztlich dazu führte, dass die Generalversammlung 2002 einen „Ad-hoc-Ausschuss für ein umfassendes und integrales Übereinkommen zum Schutz und zur Förderung der Rechte und Würde von Menschen mit Behinderung“ (ebd.: 105) einsetzte. Vertreter und Vertreterinnen von NGOs, überwiegend Organisationen von Menschen mit Behinderung, wirkten maßgeblich an der Redaktionsarbeit mit, ganz nach dem Motto „nothing about us wit- Politik Inklusion hout us“ (ebd.: 110). Folglich ist es, wie eine ihrer Mitautorinnen meint, bei dieser Erklärung gelungen, dass sie nicht „von Stellvertreterprofessionen“, sondern „von Organisationen der Behindertenbewegung selbst errungen wurde“ (Degener 2009: 275). Im Kern hat diese Konvention den umfangreichen Katalog der Menschenrechte, die in der Europäischen Menschenrechtskonvention Niederschlag gefunden haben, auf Menschen mit Behinderung zugeschnitten. Sie markiert damit „einen Wendepunkt zum menschenrechtlichen Modell von Behinderungen“ (Masuch 2011: 246). Obwohl es damit gelungen ist, dass der Text entscheidend aus der Sicht derer verfasst ist, um deren Recht es in der BRK geht, bleibt es ein Text der Vereinten Nationen. Er kommt gewissermaßen von „ganz oben“. Die BRK erklärt im ersten ihrer fünfzig Artikel: „Zweck dieses Übereinkommens ist es, den vollen und gleichberechtigten Genuss aller Menschenrechte und Grundfreiheiten durch alle Menschen mit Behinderungen zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten und die Achtung der ihnen innewohnenden Würde zu fördern.“ Ihre allgemeinen Grundsätze werden in Art. 3 entfaltet. Danach geht es unter anderem um die Autonomie und Freiheit von Menschen mit Behinderung, um die Nichtdiskriminierung, um die „volle und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft“, die Chancengleichheit und – mit Blick auf die Kinder mit Behinderung – um die Achtung vor den sich entwickelnden Fähigkeiten und „ihres Rechts auf Wahrung ihrer Identität“. Entsprechend weit sind auch in der Behindertenrechtskonvention die gesellschaftlichen und politischen Felder aufgeführt, um deren diskriminierungsfreie Ausgestaltung es geht: Das betrifft unter anderem die volle und barrierefreie Teilhabe an allen Lebensbereichen, das heißt die öffentliche Verkehrs- und Infrastruktur, die Schulen und die öffentlichen Einrichtungen und Dienste (Art. 9), die uneingeschränkt gleichberechtigte Anerkennung von Menschen mit Behinderung als Rechtssubjekte (Art. 12), die persönliche Freiheit und Sicherheit sowie die Freiheit von Folter, Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch (Art. 14-16), den Schutz der Unversehrtheit der Person (Art. 17), das Recht auf Freizügigkeit und den Erwerb oder Wechsel einer Staatsangehörigkeit (Art. 18), die freie Wahl des Aufenthaltsortes und der Art der Wohnform (Art 19), das Recht auf Bildung, insbesondere durch Gewährleistung eines integrativen Bildungssystems auf allen Ebenen (Art. 24), das Recht auf Arbeit (Art. 27), das Recht auf ein Höchstmaß an Gesundheit und auf „gerechte und günstige Arbeitsbedingungen, einschließlich Chancengleichheit und gleichen Entgelts für gleichwertige Arbeit“ (Art. 27) und das Recht auf Teilhabe am politischen, öffentlichen und kulturellen Leben (Art. 2930). Im Schlussteil der Konvention wird ausdrücklich fixiert, dass die unterzeichnenden Staaten sich verpflichten, die innerstaatliche Durchführung der Konvention zu überwachen. Mindestens alle vier Jahre ist ein Bericht über den Stand der Umsetzung vorzulegen, der von einem unabhängigen, internationalen Ausschuss geprüft werden soll. „Die BRK wurde […] am 30. März 2007 von Deutschland unterzeichnet und durch ein Ratifizierungsgesetz am 21. Dezember 2008 als innerstaatliches Recht ab dem 26. März 2009 in Kraft gesetzt.“ (Masuch 2011: 245). Dieses sozialund schulpolitisch als sehr zentral bewertete Gesetz wurde „im deutschen Parlament nicht gerade würdevoll behandelt“ (Speck 2015). Denn laut -5- Protokoll begann die parlamentarische Debatte erst nach 22 Uhr unter Tagesordnungspunkt 23 und weniger als 50 Abgeordnete fanden sich noch im Plenarsaal. „Im Gegensatz zu sämtlichen vorausgegangenen und nachfolgenden Tagesordnungspunkten wurde auf eine Aussprache völlig verzichtet. Die vorbereiteten Reden von Vertretern der verschiedenen Parteien wurden lediglich zu Protokoll gegeben (Anlage 19)“ und nach Ablehnung zweier Änderungsanträge wurde das Gesetz einstimmig beschlossen (Speck 2015). Zu dieser Debatte muss bezüglich der Schulpolitik, auf die sich ja die Diskussion eigenartig verkürzt konzentriert hat, gesagt werden, dass der Deutsche Bundestag davon ausging „dass der politisch favorisierte ausschließlich gemeinsame Unterricht nur dadurch bewerkstelligt und finanziert werden kann, dass die Förderschulen abgeschafft werden“. Das war nicht primär fachlich, sondern finanziell begründet, denn schulische Inklusion „sollte kostenneutral verwirklicht werden“ (ebd.). Das allein zeigt schon an, dass die BRK erstens auf der Basis einer gewissen politischen Ahnungslosigkeit übernommen wurde, zumindest schien es zu beruhigen, dass ein so „gutes Projekt“ doch keinerlei Mehrkosten verursacht. Zweitens war diesbezüglich auch hilfreich, dass viele Sätze der BRK rechtlich auch sehr unbestimmt wirken und insofern auch ihre Umsetzung einen breiten Interpretationskorridor auftat. Folglich war auch in der Folgezeit bis heute die Auslegung ihres Verständnisses kontrovers. Das nun betrifft die Frage nach den aus der BRK resultierenden, individuell einklagbaren Rechtsansprüchen. Denn die BRK ist lediglich als ein einfaches Bundesgesetz in Kraft und hat keinen Verfassungsrang. Das verstärkt die grundsätzliche Frage, welche Politik Inklusion subjektiven Rechte Menschen mit Behinderung vor deutschen Gerichten unter Berufung auf diese Behindertenrechtskonvention einklagen können (vgl. Masuch 2011: 247). Was heißt denn beispielsweise das in Artikel 19 verbriefte Recht auf die freie Wahl des Aufenthaltsortes und der Wohnform für die Situation einer durch besonders extreme Mietpreissegmentierung bekannte Stadt wie München. Heißt denn diese freie Wahl auch, dass man als Mensch mit Behinderung eine ambulant betreute Wohnform in der Innenstadt mit einem Quadratmeterpreis von netto 17,50 Euro in Anspruch nehmen kann? Natürlich nicht, hier greift letztlich die Hoheit des Kostenträgers und für die Stadt München gilt, dass sie im Herbst 2014 durch das „Amt für Soziale Sicherung“ verfügt hat, dass die Mietobergrenze bei der Erstattung der Unterkunftskosten für eine Person bis zu 50 qm Wohnfläche bei 610 Euro liegen darf und damit bei etwa 12 Euro. Eine Ansiedlung in der Innenstadt ist folglich für unterstützungsbedürftige Menschen mit Behinderung finanziell in der Regel nicht möglich. Nun ist der Bezug auf die BRK, in der doch diese freie Wahl des Wohnortes fixiert ist, rechtlich nicht so einfach wie man denken mag. Denn ein völkerrechtlicher Vertrag verpflichtet zwar die Staaten, die ihn unterzeichnen, ihn auch zu befolgen. Aber welche konkreten Rechtsansprüche für Menschen mit Behinderung aus dem Völkerrechtsvertrag erwachsen, darüber entscheidet die Klarheit, mit der im Vertrag diese Rechtsansprüche garantiert werden. Diese Klarheit aber ist vernebelt. Das heißt: Wenn die Rechtsgrundlage für konkret justiziable Anwendbarkeit nicht geschaffen wird, dann verbleibt eine „Konvention als völkerrechtlicher Vertrag gleichsam in der abgesonderten Sphäre des Internationalen“ (ebd.: 251). Dann klingen Menschenrechtssätze deshalb so schön, weil sie zu nichts verpflichten und nichts kosten! So verwundert es denn auch nicht, dass die Bundesregierung in einer „Denkschrift“ zum Übereinkommen der Vereinten Nationen auf diesen Vorbehalt deutlich verwiesen hat. Dort heißt es: „Mit der Ratifizierung werden die Staatsverpflichtungen zur Erreichung des beschriebenen Ziels, der Verwirklichung aller Menschenrechte und Grundfreiheiten, begründet. Diese Staatsverpflichtungen müssen in innerstaatliches Recht überführt werden. Subjektive Ansprüche begründet das Übereinkommen nicht. Sie ergeben sich erst aufgrund innerstaatlicher Regelung.“ (Denkschrift 2008: 48) Die BRK schlägt aber auch selber eine Brücke in den Nebel. In Artikel 4 Absatz 2 dehnt sie die Verpflichtung der Staaten zur Verwirklichung der „wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte“ von Menschen mit Behinderung auf eine unbestimmte Zeitachse aus. Es gehe darum, „Maßnahmen“ zu treffen, „um nach und nach die volle Verwirklichung dieser Rechte zu erreichen“. „Maßnahmen“, das klingt rechtlich ebenso unbestimmt, wie „nach und nach“ zwar eine progressive Entwicklung anzeigt, allerdings ohne auch nur den geringsten Grad der zeitlichen Präzision. Die juristisch Gelehrten diskutieren inzwischen, inwieweit aus der Geltung der BRK auch die unmittelbare Anwendung resultiert, also ob das Völkerrecht auch im Volk ankommt. Die als Bundesgesetz in Deutschland in Geltung stehende BRK zeichnet sich erstens dadurch aus, dass der Text an vielen Stellen rechtlich unbestimmt ist, dass er zweitens und daraus resultierend eine nur fragile Basis für individuell einklagbares Recht bildet, dass drittens die BRK -6- in Artikel 4 die Verpflichtung zur Umsetzung nur in Form eines vagen Progressionsvorbehaltes ausweist und viertens die Verabschiedung dieses Gesetzes offenbar unter dem Eindruck vorgenommen wurde, man könne es ohne Inanspruchnahme irgendwelcher Mehrkosten beispielsweise schulpolitisch unschädlich in Angriff nehmen. 2. Inklusion – Hauptsache billig Der „Aktionsplan der Landesregierung NRW“ unter dem Titel „Eine Gesellschaft für alle“, der sich die Umsetzung dieser BRK auf die Fahnen geschrieben hat, wirkt, wenn man genauer hinsieht, auch schon politisch sehr zurückhaltend konkret. Der damalige Arbeitsminister in NRW, Guntram Schneider, spricht in diesem Aktionsplan von einem „Perspektivwechsel“, einem „Leitbildwechsel“, der nur gelingen könne, wenn Inklusion als eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung begriffen wird, eine „neue Kultur inklusiven Denkens und Handelns“ zu etablieren (Die Landesregierung 2012). Damit hat er zweifellos Recht. Das alltägliche und auch allerorten Prof. Uwe Becker als Referent auf dem Jahresseminar der Landesseniorenvertretung im November 2015 Politik Inklusion sichtbare Miteinander von Menschen mit und ohne Behinderung ist hierzulande keine Selbstverständlichkeit. Und das zivilgesellschaftliche Engagement ist eine unverzichtbare Aufgabe, die politische Maßnahmen flankiert. Aber welche politischen Maßnahmen sollen denn nun getroffen werden? Fragt man weiter nach dem aus diesen Worten des Ministers resultierenden politischen Effekten, so stößt man auf sehr weiche Äußerungen: Der Aktionsplan soll „Aufmerksamkeit“ erregen, „Impulse für neue Ideen und Diskussionen“ geben und das „Verständnis und Interesse“ für die „vielen Beeinträchtigungen, mit denen viele Menschen, Nachbarn und Fremde“ leben, wecken (ebd.). Woher kommt diese politische Zurückhaltung, ja fast möchte man sagen, woher kommt diese „Entpolitisierung“ des Themas, dieses Umschwenken in eine Art rhetorische Figur des Appells an die Zivilgesellschaft ohne politische Konkretion? Der Aktionsplan verbalisiert selber die Grenzen seiner Umsetzung, wenn es heißt: Alle „Maßnahmen des Aktionsplans“ stehen „unter dem Vorbehalt verfügbarer Haushaltsmittel“. Welche verfügbaren Haushaltsmittel sollen denn gemeint sein, wenn der Fiskalpakt und die grundgesetzlich verankerte Schuldenbremse für das Land NRW bedeutet, dass es spätestens im Jahr 2020 keine Neuverschuldung mehr eingehen darf, in diesem Jahr aber noch 1,7 Milliarden Neuverschuldung vollzogen hat? Und man muss, weil die Dinge zusammen gehören, auch fragen, wie denn das Land und viele Kommunen hier wirksame und auch kostenaufwändige Inklusionsakzente setzen wollen, wenn sie beispielsweise durch die anhaltende Flüchtlingsbewegung unerwartet hoch mit Ausgaben belastet sind, die redlicher Weise die Diskussion erforderlich machen, ob wir nicht die Regelungen der Schuldenbremse, die 2009 im Bundestag wie auch mit Zweidrittelmehrheit im Bundesrat gebilligt wurde, wenigstens vorrübergehend außer Kraft setzen müssen. Hier darf nichts gegeneinander ausgespielt werden, denn recht betrachtet ist auch die Flüchtlingsfrage Teil der Inklusionsthematik. Aber das Ausspielen vollzieht die Kassenlage vieler Länder und Kommunen und man muss fragen, wie die Finanzierung für die Gestaltung inklusiver Wohnquartiere, für die niederschwellige Zugänglichkeit des öffentlichen Raums, des öffentlichen Nahverkehrs und der öffentlichen Gebäude und Einrichtungen gewährleistet werden kann. Insbesondere Kommunen mit hohen Kassenkrediten stehen hier vor immensen Haushaltsfragen. Man wird aus guten Gründen zu befürchten haben, dass die gegenwärtige Politik der Austerität – also der Sparpolitik – diejenigen trifft, die eh schon von Armut und Rückgang der Sozialleistungen betroffen sind. Und man wird mit Sicherheit davon auszugehen haben, dass keine zusätzlichen Leistungen der öffentlichen Hand, die nicht an anderer Stelle durch Einsparungen kompensiert werden, zur Wirkung kommen. Das betrifft auch alle Maßnahmen, die im Zuge der Umsetzung der UNBehindertenrechtskonvention der öffentlichen Hand erhebliche Investitionen abverlangen müssten. Ein ausgesprochen skandalöser Missstand, über den lange Zeit auch im Zuge des immer noch nicht ausgearbeiteten Bundesteilhabegesetzes diskutiert wurde, ist zur Enttäuschung vieler immer noch geltend. Das betrifft im Kern die Zuordnung der Leistungen für Menschen mit Behinderung zur sogenannten Sozialhilfe. Ein Leben mit Behinderung erfährt in unserer Gesellschaft eine Reihe von materiellen, sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Nachteilen. Die -7- Leistungen der Eingliederungshilfe dienen diesem Nachteilsausgleich. Sie werden auf der Rechtsbasis des Zwölften Sozialgesetzbuches für Menschen mit Behinderung erstattet und haben sich innerhalb der letzten 15 Jahre auf eine Summe von jährlich 13,3 Milliarden Euro verdoppelt (Kosten für die Eingliederungshilfe explodierten 2014). Der Kostensenkungsdruck wird allerorten von den Kommunen, Ländern oder überörtlichen Sozialhilfeträgern beklagt. Sie klagen gegenüber den Leistungserbringern der Behindertenhilfe, letztlich aber gegenüber den Betroffenen selber. Integration in den Arbeitsmarkt wird dabei angepriesen als das Rezept, um einerseits Effizienzkalküle der öffentlichen Hand einzulösen und andererseits für eine möglichst große Gruppe von Menschen mit Behinderung die durch Arbeit finanzgestärkte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben selbstbestimmt zu ermöglichen. Wer allerdings als Mensch mit Behinderung zu diesem Rezept der Integration in den ersten Arbeitsmarkt greift und wer dabei sogar zu den gut Verdienenden gehört, erfährt auf ernüchternde Art und Weise, was Subsidiarität, also die Verpflichtung zur Selbsthilfe, bedeutet. Denn die Ansprüche auf die Finanzierung der Eingliederungsleistungen werden mit den Einkommens- und Vermögensverhältnissen eines Menschen mit Behinderung und seiner Familie verrechnet. Nach dem Zwölften Sozialgesetzbuch (§§ 82ff) wird detailliert geprüft, welche Leistungen danach von dem Betroffenen selber zu erbringen sind. Viele Verbände der Leistungserbringer oder auch der Verein von Juristinnen und Juristen mit Behinderung fordern daher, dass die Einkommenstatbestände unabhängig von der Eingliederungshilfe zu betrachten und, anders als die bisherige Regelung des Sozialrechts es zulässt, zumindest Politik Inklusion weitgehend nicht anzurechnen sind (vgl. Becker 2014). Folglich wäre auch die im Zwölften Sozialgesetzbuch am Bedürftigkeitsprinzip orientierte Nachrangigkeit der Leistung (§ 2) für die Eingliederungshilfe auf den Prüfstand zu stellen. In der Regel verbleibt nämlich dem Erwerbstätigen, der Anspruch auf Eingliederungshilfeleistung hat, bei Anrechnung seines Einkommens maximal nur der doppelte Hartz-IV-Regelsatz plus Mietaufwendungen als Selbstbehalt, und das erlaubte Sparguthaben wird restriktiv auf maximal 2600 Euro begrenzt (vgl. Hahn 2013: 3). Für diese Menschen ist die Altersarmut also gleich mit garantiert. Aus dieser Armutsfalle entrinnen nur die wenigsten Menschen mit Behinderung, aber es ist derzeit offenbar kein Anzeichen da, diese Situation infrage zu stellen. Wie gesagt, es geht um den Kostensenkungsdruck und der regiert allerorten die öffentliche Hand. Hier eine Lösung zu finden, wäre ein wirklich substantieller politischer und rechtsbasierter Schritt zur Inklusion, aber die Tatenlosigkeit und Zurückhaltung an dieser Stelle ist ein weiteres Indiz für die Entpolitisierung des Themas. 3. Das schulpolitische Inklusionsdilemma Von politischer Seite wird dem Vorwurf der Entpolitisierung des Inklusionsprojektes mit dem Hinweis auf die Schulpolitik begegnet. Zunächst einmal ist in der Tat auffällig, dass das Thema Inklusion nahezu reduziert wird auf die Frage der inklusiven Beschulung an Regelschulen. In eher technischer Manier spricht man in diesem Kontext auch gerne von Inklusions- beziehungsweise Exklusionsquoten. Inklusion, so die Logik, ist dann vollzogen, wenn Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf keine Förder-, sondern eine Regelschule besuchen. Richtig ist, dass es in Artikel 24 heißt: „Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht von Menschen mit Behinderungen auf Bildung. Um dieses Recht ohne Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancengleichheit zu verwirklichen, gewährleisten die Vertragsstaaten ein integratives Bildungssystem auf allen Ebenen [...]“. Und wenig später heißt es: „Bei der Verwirklichung dieses Rechts stellen die Vertragsstaaten sicher, dass […] Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen in der Gemeinschaft, in der sie leben, Zugang zu einem integrativen, hochwertigen, unentgeltlichen Unterricht an Grundschulen und weiterführenden Schulen haben.“ Es geht also um die Gewährleistung eines integrativen oder besser inklusiven Bildungssystems, um das Recht für jeden Schüler und jede Schülerin zu eröffnen, eine Regelschule mit inklusivem Knowhow zu besuchen, die auf ihre Bedarfe eingeht. Denn es heißt unter der Zielbestimmung dieses Artikels: Mit dem Ziel, „Menschen mit Behinderungen ihre Persönlichkeit, ihre Begabungen und Kreativität sowie ihre geistigen und körperlichen Fähigkeiten voll zur Entfaltung zu bringen.“ Die inklusive Beschulung steht unter dem qualitativen Anspruch, dem Genüge zu leisten und sich damit der Aufgabe zu widmen, orientiert an den Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen, deren persönliche Begabungen und Kompetenzen optimal zur Entfaltung zu bringen. Dieser normative Maßstab an die Regelschule ist der eigentliche Maßstab für die legitime Rede von einer inklusiven Beschulung. Hier steht nicht, dass Schülerinnen und Schülern und den Eltern, die diesen Anspruch eher in einer Förderschule eingelöst sehen und dort die bessere, die chancenreichere, die geschütztere Lernsitua- -8- tion vorzufinden meinen, das Recht abgesprochen werden darf, sich für diese Schulen zu entscheiden. Mit Blick auf die bestehende „Qualität“ der inklusiven Regelbeschulung ist es gegenüber diesen Schülerinnen und Schülern, ihren Eltern wie auch dem Lehrpersonal an Förderschulen borniert, die Entscheidung für eine Förderschule als eine Exklusionsentscheidung zu etikettieren. Denn die Abwägung, an welcher Schule die Persönlichkeit und Kompetenz von Kindern mit Behinderung optimal gefördert werden, wird nur dann im Regelfall für eine Regelschule ausfallen, wenn dort die pädagogischen Standards, das didaktische Knowhow sowie die Ressourcenausstattung deutlich optimiert werden. Erforderlich ist daher eine Orientierung der föderalen Schulpolitik am pädagogischen Diskurs, der zurecht danach fragt, was sich an den Schulen und am Schulsystem ändern muss, damit Kinder und Jugendliche mit Behinderung ihre Persönlichkeit frei und umfänglich gefördert zur Entfaltung bringen können. Eine derartige Ausrichtung der Schulpolitik käme allen Schülerinnen, Schülern und auch dem Lehrpersonal zugute. Die Grabenziehung: Förderschule gleich Exklusion – Regelschule gleich Inklusion ist völlig schief und verbietet sich mit Blick auf die Qualität der inklusiven Regelbeschulung. Die Bertelsmann Stiftung hat Anfang September ihre aktuelle Studie über die Qualität des inklusiven Bildungssystems in Deutschland veröffentlicht. Es sind mehrere alarmierende Botschaften, aber um der Kürze willen, will ich nur auf ein Ergebnis hinweisen, das ich als „Inklusionstrichter“ bezeichne. Von zehntausend Kindern mit Förderbedarf gehen etwa 67 Prozent im Bundesdurchschnitt in eine Kita, nur noch 47 Prozent besuchen eine Regelgrundschule, in die Sekundarstufe I kommen Politik Inklusion hingegen nur noch 29,9 Prozent. Der überwiegende Teil, nämlich fast 90 Prozent, gelangt auf die Hauptschule, gut zehn Prozent auf Realschulen oder Gymnasien, aber die wenigsten schaffen den Abschluss und noch weniger den Weg in eine Ausbildung (vgl. Bertelmann Stiftung 2015). Es mag sein, so weit ist die Statistik noch nicht, dass die Zahl der Kinder und Jugendlichen mit Förderbedarf, die einen Abschluss erlangen im Regelschulsystem etwas höher ist als in den Förderschulen, dazu kann die Bertelsmann Stiftung keine validen Aussagen machen. Was mir hingegen auffällt, ist die Tatsache, dass reihenweise Kinder mit diesem Bildungsverlauf offensichtlich die Erfahrung machen müssen, früher oder später aus dem System gekickt zu werden, nicht zu genügen, nicht durchlaufen zu können, sondern nach einer gewissen Zeit die rote Karte erhalten. Spätestens mit Blick auf die Ausbildung erfahren viele dieser Jugendlichen, dass das System den Zutritt zur Erwerbsarbeit verweigert. Das ist eine sehr brutale Form der Inklusion, nämlich eine mit verzögerten und menschlich ungemein enttäuschenden und demoralisierenden Exklusionseffekten. Ausgrenzungstendenzen, die wir eh schon im dreigliedrigen Schulsystem haben, in dem viele Hauptschüler und -schülerinnen erfahren müssen, dass sie keinen Ausbildungsplatz finden, verschärfen sich hier nochmals für Jugendliche mit Behinderung. Wenn Inklusion im Bildungssystem mehr Aussicht auf Erfolg haben will, dann brauchen wir deutlich kleinere Klassen mit fünfzehn und nicht mit dreißig Schülerinnen und Schülern, dann brauchen wir permanent Sonderpädagogen als zusätzlich qualifiziertes Personal, die es verstehen, eine leistungszentrierte Pädagogik um eine personenkonzentrierte Pädagogik zu ergänzen, und dann ist die Tatsache, dass Sonderpädagogen ambulant von Schule zu Schule fahren, um drei, vier oder fünf Stunden pro Klasse die Beschulung vorzunehmen, ein bildungspolitischer Skandal. Wir brauchen multiprofessionelle Teams, eine neue Form der Didaktik und Schulgebäude, die in jeder Hinsicht barrierefrei sind. Und wir brauchen schließlich einen öffentlich geförderten Ausbildungsund Arbeitsmarkt, der denjenigen, die den Schritt in das Erwerbsleben vollziehen möchten, auch die Chance dazu bietet. Das ist ein Teil der inklusionspolitischen Wahrheit, die es deutlich zu benennen gilt. Ihre Verschleierung ist eine Variante der Inklusionslüge. Inklusion ist nicht der Einschluss in bestehende Systeme, die ihre Beharrungskraft permanent unter Beweis stellen, sondern Inklusion bedeutet der Zusammenschluss von Vielfalt, der das System auffordert, sich von Grund auf zu ändern. 4. Exklusion – Inklusion. Eine Semantik mit Schieflage Die Auseinandersetzung über die Inklusion zeichnet sich nicht gerade durch eindeutige Klarheit aus, und der Eindruck ist nicht von der Hand zu weisen, dass sich ihr Verlauf auch als Weg von der „Unkenntnis zur Unkenntlichkeit“ charakterisieren lässt (Hinz 2014: 15). Das hat sicher eine praktische, handlungsbezogene Dimension. Denn Antworten auf die Fragen wann, durch welche Verordnung, Gesetzgebung und auf welcher finanziellen Basis Schritte der Inklusion vollzogen sind, sind keineswegs einhellig beantwortet und teilweise heftig umstritten. Es wäre aber ein Missverständnis, diese strittigen Aspekte und Unklarheiten lediglich auf einer handlungsbezogenen Ebene zu verorten. Nicht nur wann Inklusion vollzogen ist, sondern auch, was Inklusion überhaupt bedeutet, was also die theoretischen Grundannahmen -9- der Rede von der Inklusion sind, ist in der Regel nicht geklärt. Schon die Übersetzung des Begriffs bietet ein naheliegendes räumliches Verständnis von Inklusion als gesellschaftlichen „Einschluss“ oder, moderater formuliert, als gesellschaftliche Einbindung an. Den Gegensatz dazu stellt dann der Zustand der Exklusion dar, der gesellschaftliche Ausschluss. Der räumlichen Vorstellung von einem Drinnen und Draußen entsprechen auch die Logiken der Rede von der Gesellschaft, die den Prozess der Inklusion betreiben soll oder wie die damalige Arbeitsministerin Ursula von der Leyen im Nationalen Aktionsplan formuliert: „Wir wollen in einer Gesellschaft leben, in der alle Menschen mitmachen können.“ (Unser Weg 2011: 3) Diese Formulierungen vermitteln eine gewisse Dramatik, als stünden Menschen mit Behinderung jenseits gesellschaftlicher Teilhabe, als ginge es nun darum, ihnen endlich durch die Einbindung in das Regelschulsystem oder in den ersten Arbeitsmarkt diese Teilhabe zu vermitteln. Inklusion ist dann identisch mit der „einschließenden Teilhabe“ an den bestehenden Institutionen, den gesellschaftlich sozialisierenden Instanzen und ihren kulturellen Praktiken. Insofern muss gefragt werden, ob der Gebrauch von Begriffen wie „Teilhabe“ oder „Chancengleichheit“ in diesem Diskurs nicht allzu oft einer gewissen Naivität und Kritikabstinenz unterliegt, ohne diese Begriffe auch nur ansatzweise inhaltlich geschärft zu reflektieren. Die theoretischen Grundannahmen der in der Praxisdiskussion üblichen Semantik von „Inklusion und Exklusion“ scheinen aber keineswegs konsequent geklärt und durchdacht zu sein. Es muss auch theoretisch Rechenschaft darüber gegeben werden, was denn die inhaltlichen Kriterien für die Definition von Exklu- Politik Inklusion sion und Inklusion sind. Wenn man schon meint, eine solche Grenzziehung bestimmen zu können, dann ist auch die Frage zu beantworten, wo sie denn „verläuft“, diese Grenze zwischen „Drinnen“ und „Draußen“. Weder ist dieses Konstrukt legitimiert, noch ist geklärt, wem diesbezüglich die Klärungskompetenz in Sachen Grenzziehung zusteht. Also, wer ist wann und aufgrund welcher Maßstäbe überhaupt legitimiert zu definieren, dass Menschen aus der Gesellschaft „exkludiert“ oder auch nicht mehr „exkludiert“ sind? Die meist kreisförmig visualisierte Vorstellung von Gesellschaft, in der die Punkte außerhalb des Kreises die Exkludierten darstellen, bewirkt, dass „Exklusionen“ oder besser Ausgrenzungen im „Innenkreis“ der Gesellschaft keiner Thematisierung mehr bedürfen. Die Gesellschaft schottet sich so auf elegante Weise von der kritischen Wahrnehmung der in ihr produzierten Prozesse der Ausgrenzung ab. Anders gesagt: Das hier transportierte Gesellschaftsbild lässt völlig außer Acht, welche Brüche, Ungleichheiten und sozialen Verwerfungen schon jetzt „innerhalb“ dieser Gesellschaft produziert werden. Sie tritt in diesem Bild als „unproblematische Einheit“ auf, was nichts anderes produziert als ihre eigene Mystifizierung (Kronauer 2010: 20). Inklusion wird dann quasi zum sakralen Akt der Vergesellschaftung, und die „Zugehörigkeit“ zur „Gemeinde“ der Inkludierten verkommt zur inhaltsleeren Metapher für Teilhabe und Wohlfahrt. Die Unzulässigkeit dieser Identifikation ist vielfach belegt: So bedeutet Inklusion beispielsweise im Regelschulsystem noch längst nicht, eine schulische Schlüsselqualifikation zu erlangen, die aber für die gesellschaftliche Teilhabe immer wieder als das zwingend zu passierende Eintrittstor beschrieben wird. Und die Teilnahme am Arbeitsmarkt führt noch längst nicht zu einem Leben jenseits von Armut oder Angewiesenheit auf Sozialleistungen und ist auch nicht stetig garantiert. Letztlich kann der „Vollzug von Inklusion“ in Erfahrungen von Ausgrenzung umschlagen, wenn die Leistungsanforderungen im System den individuellen Fähigkeiten nicht entsprechen. Inklusion hebt eben nicht die gesellschaftlichen Selektions- und Sanktionsmechanismen auf (vgl. Wansing 2012: 393). Erschreckend war für mich vor einigen Wochen die Schilderung eines an schwerer Psychose erkrankten Mannes, der im Rahmen einer Diskussionsveranstaltung erklärte, dass das Schlimmste, was ihm widerfahren könnte, die Einordnung in das Erwerbsfähigkeitsraster des SGB II wäre. Und er schilderte weiter, dass einer seiner besten und ebenfalls unter einer Psychose leidenden Freunde vom Rechtskreis des SGB XII in den Status der Erwerbsfähigkeit in die Zuständigkeit des SGB II geraten sei. Er habe dem Druck der aufgenommenen Arbeit nicht standgehalten und nach wenigen Monaten durch einen schweren Krankheitsrückfall bedingt Suizid begangen. Wenn man also schon im dichotomen Bild von „Drinnen“ und „Draußen“ verbleiben will, dann wäre jene Gesellschaft derer, die „drinnen“ sind und zur Teilhabe einladen, kritisch danach zu befragen, ob ihr Innenleben so gastfreundlich und attraktiv ist, dass man dieser Einladung gerne folgt. Es besteht die Gefahr, den „Raum der Inklusion“ nicht mehr kritisch mit Blick auf seine Ausgrenzungsdynamik zu inspizieren. Allein die Zugehörigkeit zu diesem Raum herzustellen, ist schon ein Akt der guten Tat, ohne kritisch zu sichten, welche normativen und auch ausgrenzenden Dynamiken sich hinter diesem Inklusionsvollzug verbergen. Nehmen wir die Diskussion über die konstant hohe Quote der Langzeit- -10- arbeitslosigkeit, die immer wieder begleitet wird von der Appellstruktur, wir müssen diesen Menschen wieder Chancen auf gesellschaftliche Teilhabe, also Inklusionsbrücken bauen, weil sie ausgegrenzt sind. Richtig daran ist: Langzeitarbeitslose sind einerseits von der Arbeitswelt ausgegrenzt, sie sind Menschen ohne Arbeit. Andererseits besteht ihre Zugehörigkeit zur Arbeitswelt gerade in dieser negativen und defizitären Definition. Sie sind Menschen ohne Arbeit. Sie gelten als beschäftigungsfähig, müssen ihre Arbeitsbereitschaft stetig unter Beweis stellen, haben Auflagen der Agentur für Arbeit zu erfüllen und beziehen schließlich eine Transferleistung, die ersatzweise bis zur Integration in Arbeit sozialrechtlich gewährt wird. Und schließlich: Das Niveau dieser Grundsicherung, so wird immer wieder politisch argumentiert, soll den Anreiz zur Arbeitsaufnahme sichern. Auf diese Weise werden Menschen in Arbeitslosigkeit bürokratisch, materiell und disziplinierend an die Welt der Arbeit gebunden, ohne ihr wirklich anzugehören. Die Paradoxie dieser „Teilhabe“ an der Arbeitswelt basiert auf ihrer Ausgrenzung, sie ist ausgrenzende Teilhabe. Die innere „Verbundenheit“ der Arbeitslosen mit dem Arbeitsmarkt, das „Teilhaben“ von Arbeitslosen am Arbeitsmarkt ist zugleich negativ bestimmt durch diesen Markt selber. Die Arbeitslosigkeit ist bei vielen Betroffenen auch Resultat eines sich dynamisch ändernden Arbeitsmarktes, der steigende Flexibilität, hohe Mobilität und zunehmend höher qualifizierte Bildungsabschlüsse zu seinen Zugangsbedingungen erklärt. Der Arbeitsmarkt selber, sein Anforderungsprofil und seine Leistungsverdichtung schaffen Arbeitslosigkeit. Dafür ist das Krankheitsbild des „Burnout“ ein um sich greifendes Indiz, und nicht selten schaffen Politik Inklusion die davon Betroffenen nicht mehr die Wiedereingliederung in das Erwerbsleben und landen irgendwann in der prekären Situation der Erwerbsminderungsrente. Zugespitzt formuliert: Das „Wesen dieser Arbeit“ produziert „Wesen ohne Arbeit“. Arbeit und Bildung sind zwar Faktoren, die wesentlich über Zugang zu und Verbleib in gesellschaftlicher Partizipation entscheiden, aber das gilt für beide Richtungen: Wenn Bildungsabschlüsse wie bei rund sechs Prozent der Schuljahresabgänge nicht erfolgen oder aber nur mit einem unqualifizierten Hauptschulabschluss enden, wenn die Erwerbsbiografie zwischen geringfügiger Beschäftigung, Stadien der Arbeitslosigkeit und dem Wiedereinstieg im Niedriglohnsegment dauerhaft variiert, dann erweist sich die pure Teilhabe an Bildung und an Arbeit gerade nicht als Faktor, der vor Ausgrenzung bewahrt. Und nicht nur das. Es ist zu bilanzieren, dass diese gesellschaftlichen Instanzen der Teilhabe nicht nur nicht vor Ausgrenzung schützen, sondern selber selektierend, klassifizierend und letztlich ausgrenzend wirken. Es gibt auch Dynamiken ausgrenzender Teilhabe. Es gibt Institutionen der vermeintlichen „Inklusion“, die „Exklusion“ im erwähnten eingeschränkten und theoretisch fragwürdigen Sinne bewirken. Und es sind genau diese „exkludierenden Effekte“ jener Institutionen, die gelegentlich auch von Inklusionsbefürwortern nicht ausreichend realisiert und thematisiert werden. 5. Die Inklusionslügen – Plädoyer für die inklusionspolitische Wahrheit Mit dem Titel „Die Inklusionslüge“ geht es mir nicht um einen moralischen Angriff, sondern angelehnt an Hannah Arendt richtet sich dieses Buch zunächst gegen eine massive Verschleierung der inklusionspoliti- schen Wahrheit. Und diese Wahrheit ist zunächst einmal finanzieller Natur. „Inklusion“ ist ein gesellschaftliches Projekt, das wertvoll und daher auch kostenintensiv ist. Wenn in der Schulpolitik wirklich Rahmenbedingungen geschaffen werden sollen, die sich an den Zielvorstellungen des Artikel 24 der BRK orientieren, dann heißt das schulpolitisch betrachtet, das Ganze neu denken und gestalten: Eine veränderte räumliche Infrastruktur, wesentlich kleinere Klassen von eher 15 statt 30 Kindern, permanente Gestaltung des Unterrichts durch eine pädagogische und eine sonderpädagogische Kraft, Supervision für die Lehrkräfte, Entwicklung neuer Curricula, Veränderung der Studiengänge und schließlich auch der Bruch mit dem dreigliedrigen Schulsystem und seiner Ausdifferenzierung bereits nach der vierten Klasse. Das betrifft finanzielle Ansprüche an die Kassen von Bund, Ländern und Kommunen. Es ist allerdings nirgends zu erkennen, dass diese Ressourcen überhaupt ansatzweise zur Verfügung gestellt werden. Im Gegenteil: Wir müssen befürchten, dass während in Berlin die schwarze Null als Erfolg eiserener Sparpolitik gefeiert wird, Sozialleistungen auch für Menschen mit Behinderung eher auf dem Prüfstand stehen und die Einsparungsfantasien der Sozialhilfeträger wie man dem Kostendruck entrinnen kann weiter intensiv bemüht werden. Und insofern unterstelle ich zweitens, dass bei dem Thema Inklusion viele Kostenträger eher daran denken, wie die öffentlichen Ausgaben noch mehr als bisher reduzierbar sind und wie man auch die ökonomischen Verwertungsreserven von Menschen mit Behinderung fortan abschöpfen kann. Das wird aber nicht offen gesagt und insofern ist auch das eine Art Lüge, die sich hinter sehr viel gut klingendem Popanz verbirgt. -11- Schließlich und sehr grundsätzlich ist aber auch die gemeinhin verbreitete Vorstellung von „Inklusion“ sehr selbstgefällig und insofern verlogen, wenn sie unterstellt, wir könnten von intakten gesellschaftlichen „Innenräumen“ sprechen, in die nun alle „einzuladen“ sind. Diese gesellschaftlichen „Innenräume“ sind allerdings alles andere als gastlich. Sie sind, wie der Arbeitsmarkt zeigt, sogar ausgesprochen brutal, konkurrenz- und leistungszentriert. Sie stehen unter der Regentschaft eines flexiblen Kapitalismus, der die flexiblen Anpassungsleistungen an den Markt permanent als Bringschuld der Beschäftigten definiert. Und er hat es dabei verstanden, an gute Werte wie Autonomie, Souveränität und Freiheit anzuknüpfen und sie für die eigenen Interessen dienstbar zu machen. Die Fähigkeit, flexibel zu sein, feiert den Status einer anthropologischen Primärtugend. Ihre Entfaltung wirkt wie die selbstverständliche Einlösung menschlicher Daseinsbestimmung. Die gestaltende Sogkraft, die dieses zivilisatorische Leitwort in den letzten gut zwanzig Jahren gewonnen hat, wäre ohne den Charme verheißender Lebensentfaltung im flexiblen Dasein nicht denkbar gewesen (vgl. Boltanski/Chiapello 2006: 124; Negt 2001: 172f.). Mit steigenden Mobilitäts- und Flexibilitätsansprüchen, Verdichtung von Arbeit, sinkendem Lohnniveau besonders bei Berufseinsteigerinnen und -einsteigern, Minderung der Rentenleistung bei gleichzeitiger Verlängerung der Lebensarbeitszeit, setzt diese Form des flexiblen Kapitalismus ungebremst seine Erfolgsstory durch. Viele Menschen haben in diesem Raum bereits ihre „Aufenthaltslizenz“ eingebüßt oder halten den Bedingungen kaum mehr stand. Es muss daher auch und vor allem darum gehen, diese Ausgrenzungsdynamik einmal wirklich und ehrlich zu bilanzieren und ihre Politik Inklusion Ursachen zu beseitigen. Da gehe ich, wenn ich recht sehe, konform sowohl mit Behindertenverbänden als auch Gewerkschaften. Wenn Artikel 1 der BRK betont, dass „Wechselwirkungen mit verschiedenen Barrieren“ Menschen mit Behinderungen „an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können“, dann muss inklusionspolitisch auch diskutiert werden, welche Barrieren von jener ökonomischen Logik aufgebaut und zementiert werden. Denn sie redet nicht mehr vom Menschen, sondern von Humanressourcen oder Humankapital, sie transformiert Sozialstaatlichkeit in Investitionskalkulationen und sie bindet den Maßstab zur Bewertung des Einzelnen an das Maß seiner ökonomischen Zweckerfüllung, deren Zauberwort Erwerbsarbeit lautet. Wenn es den Protagonisten der UN-Behindertenrechtskonvention radikaler gelänge, die soziale Ausgrenzung dieser Logik nicht nur aufzuzeigen, sondern sie auch zu durchbrechen, dann hätte sie eine inklusive Stoßkraft mit ökonomisch irritierendem Richtungswechsel. Denn sie käme nicht nur einer Reihe von Menschen mit Behinderung zugute, die ihr gelingendes Leben weder mit der Sozialisation im dreigliedrigen Schulsystem assoziieren, noch ihr Sinngebungspotenzial in der Arbeitswelt suchen, sondern sie würde darüber hinaus auch eine neue Wertekultur als Inklusionsmaxime einfordern, die allen gesellschaftlichen Subjekten gilt, Menschen mit und ohne Behinderung. Menschenwürde wäre nicht länger an Produktivität gebunden und Arbeitslosigkeit nicht als Humandefizit erklärt. In dieser Inklusionslogik ist konsequenterweise die Differenzierung zwischen Erwerbsfähigkeit und Erwerbsunfähigkeit wegen ihrer diskreditierenden Normierung und Deklassierung zu streichen. Prekäre Beschäftigung im Niedriglohnbereich wäre ebenso wie Altersarmut als wirtschaftsethisches Tabu an den Pranger zu stellen. So geriete das Projekt der Inklusion tatsächlich auf einen passierbaren Weg ins utopische Gelände. Denn diese Logik der Inklusion „pervertiert“ die Verhältnisse, wörtlich übersetzt, sie „kehrt sie um“ und stürzt die Dominanz einer Ökonomie, die massive Ungleichheit, Diskriminierung, Armut und Ausgrenzung produziert, vom Thron ihrer kontrollierenden Regentschaft. Diese inklusive Dimension, die maßgeblich, aber nicht allein von Menschen mit Behinderung ausginge, würde das Gesicht dieser Gesellschaft auf eine provokant renitente Weise verändern. Dann wäre Inklusion nicht jenes fehl verstandene Projekt, bei dem Menschen mit Behinderung von der Gesellschaft in die Gesellschaft eingebunden werden, sondern es vollzöge sich etwas mit der Gesellschaft, weil Inklusion etwas ist, was Menschen mit Behinderung an der Gesellschaft praktizieren. Das ist vielleicht nur eine Utopie, aber doch wenigstens eine, die diese Bezeich- -12- nung verdient, die Verhältnisse radikal in Frage stellt und der „Inklusion“ die Provokation bewahrt, die ihr, recht verstanden, zu eigen ist. Prof. Dr. Uwe Becker Evangelische Fachhochschule Bochum Literaturverzeichnis Becker, Uwe (2015): Die Inklusionslüge. Behinderung im flexiblen Kapitalismus, Bielefeld. Becker, Uwe (2014): Inklusion und Reform der Eingliederungshilfe: Forderungen der Leistungserbringer, in: Archiv für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit, 45. Jahrgang 3/2014, S. 62-67. Bertelsmann Stiftung (2015): Inklusion in Deutschland. Daten und Fakten, Gütersloh. Boltanski, Luc/Chiapello, Ève (2006): Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz. Degener, Theresia (2006): Menschenrechtsschutz für behinderte Menschen. Vom Entstehen einer neuen Menschenrechtskonvention der Vereinten Nationen, in: Vereinte Nationen 3, S. 104-110. Denkschrift zu den Übereinkommen vom 13. Dezember 2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderung (2008), in: Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode. Drucksache 16/10808, S. 45-72. Die Landesregierung Nordrhein-Westfalen (2012): Aktionsplan der Landesregierung. Eine Gesellschaft für alle. Düsseldorf. Hahn, Thomas (2013): Sozial? Hilfe!, Süddeutsche Zeitung, 23.12.2013, S. 3. Hinz, Andreas (2014): Inklusion im Bildungskontext: Begriffe und Ziele, in: Kroworsch, Susann (Hrsg.): Inklusion im deutschen Schulsystem. Barrieren und Lösungswege. Berlin, S. 15-25. Kosten für die Eingliederungshilfe explodieren, in: www.wiwo.de/politik/deutschland/ arbeitsmarkt-kosten-fuer-die-eingliederung. 04.01.2014, Zugriff 15.01.2014. Kronauer, Martin (2010): Exklusion. Die Gefährdung des Sozialen im hoch entwickelten Kapitalismus. Frankfurt am Main/New York. Masuch, Peter (2011): Die UN-Behindertenrechtskonvention anwenden!, in: Hohmann-Dennhardt, Christine/Masuch, Peter/Villiger, Mark (Hrsg.): Festschrift für Renate Jäger. 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Sie bezeichnet eine Tatsache, dass jemand (aus unterschiedlichen Gründen und oft gegen seinen Willen) von einem Vorhaben, einer Versammlung, aus seiner Familie, aus sozialen Zusammenhängen oder Ähnlichem ausgeschlossen (exkludiert) wird. Eine exklusive Gruppe von Menschen möchte – oft aus Gründen des Herrschafts- und Machterhalts, aus Misstrauen oder aus anderen Reputationsgründen – unter sich, d. h. exklusiv bleiben, womit eine gewisse Abwertung bis hin zur Diskriminierung derer, die ausgeschlossen werden, einhergeht. Im weiteren Sinne wurde der Begriff Exklusion nicht nur auf gruppendynamische, sondern auch auf gesellschaftliche Prozesse bezogen. Er meint dort den nachhaltigen Ausschluss einzelner sozialer Akteure oder ganzer und z. T. großer Gruppen aus einer Allgemeinheit, die das gesellschaftlich Übliche und soziale Teilhabestandards repräsentiert. Dieser Ausschluss kann sich für die Exkludierten durch den Verlust von Grund- oder Menschenrechten, Teilhabemöglichkeiten, geringen Bildungschancen, mit geringen Subsistenzmitteln u. ä. verbinden. Solche Formen der sozialen und politischen Ausgrenzung hat es in allen Gesellschaften gegeben: Sklaven besaßen keine Persönlichkeitsrechte, Frauen wurden unterdrückt, bestimmte Menschen galten als geächtet und vogelfrei, wurden verketzert und verteufelt, Schwule und Lesben wurden strafrechtlich verfolgt usw. usf. Und nach wie vor gibt es in vielen Gesellschaften für bestimmte soziale Gruppen und Minderheiten bis in die Gegenwart massive Teilhabebeschränkungen. Der moderne Diskurs über die Exkludierten und Exklusionsgefährdeten hatte nicht bei der Gruppe der Menschen mit Behinderungen seinen Ausgangspunkt, sondern bei den Wende- und Modernisierungsverlierern, den Arbeitslosen und Armutsgefährdeten, den „Überflüssigen“. Der Exklusionsbegriff, den Luhmann, Foucault u. a. einführten, wurde Anfang der 90er Jahre als Allzweckwort, wie Robert Castel anmerkte, für Langzeitarbeitslose, Jugendliche aus den französischen Vorstädten, Obdachlose u.a. verwendet, wobei für soziale Randgruppen auch andere Begriffe zirkulierten: die „Überflüssigen“, soziale Randgruppen oder Marginalisierte. Obwohl sich solche Marginalisierungstendenzen in verschiedenen europäischen -13- Ländern Anfang und Mitte der 90er Jahre verschärften, hat insbesondere Robert Castel auf die Ambivalenz des Begriffs hingewiesen, die später gleichermaßen auch für den Inklusionsbegriff reklamiert wurde (siehe Castel, Robert; Exklusion). Die Bandbreite der verschiedenen sozialen Situationen sei einfach zu groß, als dass ein Begriff sie einschließen könnte. Er verweist hier u. a. auf Langzeitarbeitslose, die sich ins Familiäre zurückgezogen haben und womöglich von Depressionen bedroht sind, sowie auf Jugendliche in den französischen Agglomerationen, die zwar arbeitslos und delinquent, aber in ihren Gruppen durchaus hochintegriert sein können. Dieser Einwand verweist auf die Frage, ob Menschen oder Gruppen von Menschen mit Behinderungen inkludiert werden sollen, wenn sie nicht exkludiert sind oder sich so nicht fühlen. Denn wenn unter Exklusion ein Zustand zu verstehen ist, dass Menschen außerhalb von sozialen Austauschprozessen stehen, dann trifft diese Zuschreibung etwa auf hochaltrige Menschen mit Pflegebedarf in stationären Einrichtungen oder auf vereinsamt lebende Alkoholiker unter Umständen in viel stärkerem Maße zu als auf viele in Familien lebende, in sozialen Einrichtungen involvierte Menschen mit Behinderungen, wobei der Begriff Inklusion auf erstere Gruppen, die Pflegebedürftigen, vereinsamt lebende Menschen, Alkoholiker usw. faktisch keine Anwendung findet. Politik Inklusion Segregation (Trennung) Der Begriff bezeichnet den Vorgang der räumlichen Trennung von Menschen oder Gruppen von Menschen in bestimmten Wohnquartieren innerhalb einer Stadt oder einer Region (räumliche Segregation). Man bezeichnet diesen Vorgang auch als Entmischung (der Gegensatz zur Gleichverteilung oder Vermischung der Bevölkerung) von bestimmten Bevölkerungsgruppen in einem bestimmten abgrenzbaren Raum. Solche segregativen Tendenzen lassen sich z. B. in größeren Städten und ihren Stadtteilen nachweisen, deren Bevölkerungszusammensetzung sich hinsichtlich Einkommen, Sozialstatus, Ethnizität, Bildung und anderen Faktoren deutlich unterscheidet und in denen das Einkommen, der Bildungstand deutlich geringer, die Arbeitslosigkeit, Sterblichkeit, Kriminalität usw. deutlich höher sein können. Der Sozialstrukturatlas etwa von Erfurt weist solche Tendenzen detailliert nach. Das Ausmaß der Segregation ist ein Indiz für Polarisierungen innerhalb einer Gesellschaft, für teilhabegefährdete Gruppen, soziale Unterschiede und die Existenz von Subszenen und Parallelgesellschaften. Das Ghetto stellt die extreme Form der Segregation dar. Die Trennung von Wohngebieten bzw. von Bevölkerungsteilen innerhalb einer Stadt kann nach dem sozialen Status, nach demografischen Merkmalen wie Alter oder Stellung des Haushalts im Lebenszyklus, nach ethnischen, religiösen und/oder sprachlich-kulturellen Kriterien erfolgen. Die Ursachen solcher Segregationsprozesse können politischer Natur und politisch gesteuert sein. In Diktaturen wurden Menschen in Wohngebieten oder Gettos segregiert, um sie zu kontrollieren. Sie kann politischer und sozialer Natur sein, wenn sie sich unfreiwillig über den Wohnungsmarkt, über Bodenpreise und die Mietzahlungsfähigkeit herstellt, die bestimmte Wohngebiete konstituieren. Segregation kann aber durchaus auch von Menschen gewollte sein, wenn sie für sich eine gleichartige soziale und soziokulturelle Umgebung (Nachbarschaft) anstreben, die sich durch das bewusste Herstellen einer sozialen und räumlichen Distanz zu „fremden” Gruppen definiert. Die Segregation von Bevölkerungsgruppen ist in Deutschland nicht gleichermaßen ausgeprägt wie in den Banlieues etwa von Paris oder einigen Städten in den USA oder wie sie jetzt für Belgien und insbesondere Brüssel/ Molenbeek thematisiert wurde, wo es einen hohen Anteil von muslimischen Einwanderern vor allem aus Marokko gibt. Molenbeek erlangte dadurch Bekanntheit, dass die Stadt Herkunftsort oder vorübergehender Wohnort islamistischer Extremisten war. Die Gemeinde gilt heute als Symbol für den grassierenden Radikalismus in Belgien. Allerdings sind die Folgen und Wirkungen der Segregation von Bevölkerungsgruppen durchaus umstritten. Übliche Thesen behaupten, dass Segregation Integration verhindert, Subkulturen und die Bildung -14- von Parallelgesellschaften befördert, weil es keine oder weniger Kontakte zur Mehrheitsgesellschaft gibt. Die räumliche Segregation befördert und stabilisiert kulturelle und soziale Segregation und umgekehrt. Und beide Phänomene wirken auf die Attraktivität des Wohnquartiers zurück. Allerdings hat Hartmut Häußermann bereits 2007 darauf hingewiesen, dass es derartig homogene Wohnquartiere zumindest in Deutschland gar nicht gibt und negative Effekte überschätzt werden. Die Kontakte zu anderen Menschen stellen sich weniger über das Quartier her, sondern werden durch Kultur, Lebensstil, Bildung, Sozialität, Beruf und moderne Technik in viel stärkerem Maße vermittelt. In dem Maße, wie sich z. B. Migranten sozial, kulturell, beruflich und anderweitig integrieren, entfernen sie sich räumlich von der ethnischen Kolonie. Und vor allem für Kinder und Jugendliche sei die Schule in jedem Fall der bedeutsamere Kontext, weil dort (insbesondere an Hauptschulen) die Konzentration von sozialen Gruppen und die Kontaktdichte viel größer sind als im Wohnquartier. Insofern sind Integrationsfortschritte weniger abhängig vom Quartier als von Bildung, Einkommen und beruflicher Einbindung (vgl. Häußermann, Hartmut; Effekte der Segregation). Andererseits kann eine stärkere Segregation auch positive Wirkungen für die Bewahrung gruppenspezifischer Identität und Handlungsfähigkeit haben. Stadtplanungsprozesse versuchen, die negativen Effekte von segregativen Tendenzen durch eine gezielte Mischung der Bevölkerung, durch die verstärkte Förderung einer sozialen und soziokulturellen Infrastruktur zu mildern. Politik Inklusion Integration (lat. Integratio – Erneuerung) Im Sinne der Soziologie und mit Bezug auf den Einbezug von Menschen oder Menschengruppen bedeutet der Begriff die Verbindung einer Vielheit von einzelnen Personen oder Gruppen zu einer gesellschaftlichen und kulturellen Einheit. Sie umfasst das Anliegen, dass Menschen, die aus verschiedenen Gründen ausgeschlossen und in Sondergemeinschaften zusammengefasst sind, in eine Gemeinschaft einbezogen werden. Integration hebt den Zustand der Exklusion und der Separation auf. Sie beschreibt einen dynamischen, einen unter Umständen lange andauernden und sehr differenzierten Prozess des Zusammenfügens und Zusammenwachsens. Dieter Katzenbach hat in diesem Zusammenhang auf Verständigungsund Abgrenzungsschwierigkeiten bei den Begriffen Integration und Inklusion hingewiesen. Während Inklusion, so versucht er die Unterschiede zu beschreiben, die Unterschiedlichkeit von Menschen nicht eigens thematisiert, betont Integration die Unterschiedlichkeit. Der Leitgedanke lässt sich demnach zusammenfassen: „Integration zielt auf das gleichberechtigte und wertschätzende Miteinan- der der Verschiedenen, wobei ihre Unterschiedlichkeit explizit thematisiert wird, um Gleichberechtigung und Wertschätzung zu sichern.“ (vgl. Katzenbacher, Dieter; Zu den Theoriefundamenten der Inklusion). Unterscheiden kann man eine Sozialintegration, die sich auf die Integration einzelner Menschen in die Gesellschaft bezieht, von einer Systemintegration, die den Einbezug von Subsystemen in ein gesellschaftliches Ganzes meint. Demnach wäre etwa der Einbezug eines delinquenten Schulverweigerers oder eines ehemals rechtsextremen Gewalttäters in akzeptierte gesellschaftliche Settings als Sozialintegration zu bezeichnen, während es sich bei dem adäquaten sozialen, soziokulturellen und politischen Einbezug von Migranten bei Wahrung ihrer Identität um eine Systemintegration handelt. Dieser Prozess der Integration von Menschen mit einem Migrationshintergrund steht derzeit im Mittelpunkt der politischen Auseinandersetzung um Integrationsbemühungen von sozialen Gruppen. Er will eine Annäherung und gegenseitige Auseinandersetzung zwischen Migranten und Einheimischen erreichen, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede festzustellen und die Übernahme einer gemeinschaftlichen Verantwortung zwischen Zugewanderten und der anwesenden Mehrheitsbevölkerung zu befördern. Integration zielt im Gegensatz zur Assimilation nicht auf die Preisgabe von kulturellen und religiösen Identitäten, sondern auf Akzeptanz von Unterschieden. Allerdings verlangt der Integrationsansatz von Migranten Anpassungsleistungen. Es wird unterstellt, dass die Systemeigenschaften, das Grundgesetz, die gesellschaftlichen Regeln des Zusammenlebens respektiert werden und dass die deutsche Sprache erlernt wird. Anderseits handelt es sich um -15- einen Aufnahmeansatz, der der Aufnahmegesellschaft seinerseits Akzeptanz und Toleranz des Fremden, Aufnahmebereitschaft in die sozialen und Bildungssysteme sowie den Arbeitsmarkt abverlangt. Integration beinhaltet, dass Vorurteile, diskriminierende und rassistische Haltung gegenüber dem Fremden geächtet werden. Dieser Integrationsansatz wird durch das Grundgesetz gedeckt. Es sichert auch Migranten Grundrechte der Meinungs- und Religionsfreiheit, Schutz der Persönlichkeitsrechte zu. Insofern ist Integration immer eine Veränderung beider Seiten. Ziel, so formuliert es die Bundesregierung mit Bezug auf Migranten, ist es, alle Menschen, die dauerhaft und rechtmäßig in unserem Land leben, in die Gesellschaft einzubeziehen und ihnen die damit verbundenen Rechte zu gewähren sowie Pflichten aufzuerlegen. Es geht um ein Zusammenleben mit gegenseitigem Respekt und Vertrauen, um Zusammengehörigkeitsgefühl und die Übernahme gemeinsamer Verantwortung. Dabei soll Chancengleichheit und Teilhabe in allen Bereichen ermöglicht werden. Gelungene Integration bedeutet, sich einer Gemeinschaft zugehörig zu fühlen. Sie bedeutet die Entwicklung eines gemeinsamen Verständnisses, wie man in der Gesellschaft zusammenlebt (siehe Webseiten Bund). Seniorenvertreterinnen auf dem Jahresseminar in Bad Blankenburg im November 2015. Im Vordergrund Elvira Fischer, Seniorenbüro Wartburgkreis. Politik Inklusion Inklusion Was Inklusion ist, darüber liegen unterschiedlichste Definitionen vor. Selbst mit Bezug auf Teilsysteme der Gesellschaft wie die Schule, das stellt Bernd Ahrbeck fest, verwundert es, dass keine nur annähernd konsensfähige Definition dessen vorliegt, was unter Inklusion zu verstehen ist (Ahrbeck, Bernd, Inklusion, S. 7). Im Allgemeinen besteht die Vision einer inklusiven Gesellschaft darin, - dass alle Menschen ohne Diskriminierung in der Gesellschaft ihren gleichberechtigten Platz finden, - dass Behinderungen als Bestandteil des normalen menschlichen Zusammenlebens verstanden werden und zwar in allen gesellschaftlichen Bereichen und Institutionen, dem Arbeitsmarkt, dem Wohnungswesen, in der Politik, im Gesundheitswesen, der Kultur, in Schulen und Kindertagesstätten - dass Menschen mit unterschiedlichen körperlichen, intellektuellen und psychischen Voraussetzungen zum selbstverständlichen Teil des Lebens werden. Dieter Katzenbach hat als Referenz zur Inklusion den Begriff Integration vorgeschlagen. Während Integration die Wahrnehmung der Unterschiede in einem Ganzen betont, zielt Inklusion auf das selbstverständliche, gleichberechtigte und wertschätzende Miteinander der Verschiedenen, wobei das Selbstverständliche darin besteht, dass ihre Unterschiedlichkeit nicht eigens thematisiert werden muss (vgl. Katzenbach, Dieter; S.23). Menschen mit Behinderungen, Homosexuelle, Menschen mit Pflegebedarf u.a. werden vor diesem Hintergrund in erster Linie in ihrem Menschsein wahrgenommen, und die Differenz ist Ausdruck von Individualität und unverwechselbarer Teil eines allgemeinen Menschseins. Inklusion verbindet sich demnach mit dem Anliegen, Etikettierungen und Stigmatisierungen sowie den Status der Andersartigkeit in einem Konzept der Vielfalt als Normalzustand aufzuheben (vgl. Schattenmann, Eva; S. 32) Anwendung und Kritik des Inklusionsbegriffs Eine vollständige Inklusion ist auf Grund der hochgradig gesellschaftlichen Differenzierung kaum denkbar und realiter nicht möglich. Ausdifferenzierte Gesellschaften definieren sich geradezu durch die Existenz von abgrenzbaren Teilsystemen und gesellschaftlichen Gruppen, die in ihrer Gesamtheit eine Gesellschaft konstituieren. In gesellschaftlichen Teilbereichen ist eine Inklusion auch weder gewünscht noch vorstellbar. So kann und muss es gesellschaftliches Ziel sein, Strafgefangene nach Verbüßung ihre Strafe wieder zu (re)integrieren. Von einer inklusiven Haftunterbringung kann man aber schlechterdings nicht reden und sie wäre gesellschaftlich kaum konsensfähig. In der Literatur wird auch angemerkt, dass die Vision einer inklusiven Gesellschaft mit der Systemlogik des bestehenden Systems, das durch Leistung, durch geldwerte Beziehungen usw. geprägt ist, überhaupt nicht vereinbar ist. Menschen, die im -16- Wettstreit um Arbeitsplätze nicht mithalten können, haben keine Chancengleichheit. Diese Grundkonstellation kann man, wie es verschiedene Maßnahmepläne und Förderprogramme vorsehen, mildern, aber nicht aufheben (Ahrbeck S. 75). Im Rahmen einer kapitalistischen Leitund Leistungskultur, die große Teile der Sozialgesetzgebung und der Sozialen Arbeit ökonomisiert hat, wird es keine inklusive Gesellschaft geben können. Auf dem Arbeitsmarkt, so hat es Mathias Brodkorb, pointiert ausgedrückt, wird niemand um seiner selbst willen geschätzt, sondern ausschließlich aufgrund seiner individuellen Arbeitskraft. Insofern ist eine radikale Inklusion zwar von ehrenwerten moralischen Standards getragen. Sie ist aber in einer außerfamiliären Realität schlichtweg nicht umsetzbar. Zielgruppen von Inklusion Auf wen bezieht sich eigentlich der Begriff? Wer soll und muss oder will inkludiert werden? Der Begriff wird vor allem in der politischen Diskussion auf Menschen mit Behinderung, insbesondere auf Kinder mit Behinderungen und ihre Beschulung bezogen. Menschen mit Pflegebedarf, suchterkrankte Menschen, Flüchtlinge u. a. Gruppen kommen vergleichsweise kaum in den Blick. Für Ausländer und Migranten wird vor allem Integration eingefordert. Dass Menschen mit Behinderungen im Fokus standen und stehen, hat Gründe. Sie gelten weltweit als eine der stärksten gefährdeten Gruppen. Vor allem in Entwicklungsländern haben sie oft weder ein Recht auf Bildung noch sonstige Grundrechte. Oft leben sie am Rande der Gesellschaft. Und auch in hochentwickelten Ländern ist Behinderung ein eklatantes Exklusionsrisiko, das mit dem Grad der Behinderung stark ansteigt. Politik Inklusion Autoren wie Eva Schattenmann, die dieses Problem diskutiert, hat hingegen darauf hingewiesen, dass es nicht um eine einzelne Zielgruppe geht, sondern um gesellschaftlich ausgrenzende Strukturen, Grundhaltungen und Leitvorstellungen für eine humane Gesellschaft. Und wenn man auf Zielgruppen orientiert, gehe es um generell von Marginalisierung bedrohte Menschen. Dabei sei an ethnische, religiöse, sexuelle, sprachliche Minderheiten oder auch Minoritäten in Bezug auf Alter, funktionale Einschränkungen, Milieuhintergründe und Nationalitäten zu denken (Schattenmann, S.66). Dr. Jan Steinhaußen (Foto Header) Literatur Ahrbeck, Bernd; Inklusion. Eine Kritik, Kohlhammer 2014 Brodkorb, Mathias; Warum Inklusion unmöglich ist. Über schulische Paradoxien zwischen Liebe und Leistung, http://bildungwissen.eu/wp-content/uploads/2013/05/ brodkorb_warum_inklusion_unmoeglichist.pdf Empfehlungen Rec (2006)5 des Ministerkomitees an die Mitgliedsstaaten zum Aktionsplan des Europarats zur Förderung der Rechte und vollen Teilhabe behinderter Menschen an der Gesellschaft: Verbesserung der Lebensqualität behinderter Menschen in Europa 2006-2015. http://www. coe.int/t/dg3/disability/ActionPlan/PDF/ Rec_2006_5_German.pdf Exklusion, Suhrkamp Verlag Häußermann, Hartmut; Effekte der Segregation, http://www.vhw.de/fileadmin/ user_upload/08_publikationen/studien/ PDFs/segregation/Effekte_der_Segregation_FW0507.pdf Katzenbacher, Dieter; Zu den Theoriefundamenten der Inklusion, in: Herausforderung Das Versprechen vom Ende der Ausgrenzung – Inklusion, politische Teilhabe und Behinderung Im Rahmen dieser Legislaturperiode soll in Thüringen das Seniorenmitwirkungsgesetz evaluiert und gegebenenfalls novelliert werden. Der Fortschritt des Gesetzes scheint ungeachtet von Problemen auf der Hand zu liegen: Die politischen Rahmenbedingungen für die direkte politische Beteiligung von Seniorinnen und Senioren auf kommunaler und Landesebene haben sich verbessert. Seniorenbeiräte haben definierte Mitwirkungsrechte, sie können beratend Einfluss nehmen, sie können Projekte und Initiativen begleiten und anregen, Stellungnahmen abgeben u.a.m. Die Protagonisten, die die Evaluierung und Novellierung begleiten, werden sich im Rahmen dieses Prozesses dennoch mit sehr grundsätzlichen Fragestellungen und Zielrichtungen dieses Gesetzes beschäftigen müssen. Geht es z. B., wie im bestehenden Gesetz, nur um politische oder ganz generell um Mitwirkung und Teilhabe von Älteren in allen Lebensbereichen? Und wie kann man politische Teilhabe auch für jene Menschen definieren, die -17- Inklusion, hrsg. v. Irmtraud Schnell, 2015, S.19-32 Schattenmann, Eva; Inklusion und Bewusstseinsbildung; Athena1914 Stichweh, Rudolf; Inklusion und Exklusion in der Weltgesellschaft am Beispiel der Schule und des Erziehungswesens, http://www. inklusion-online.net/index.php/inklusiononline/article/view/22/22 Webseiten Bund; http://www.bmi.bund.de/ DE/Themen/Migration-Integration/Integration/integration_node.html). Wikipedia sich kognitiven Barrieren gegenübersehen? Das scheint abwegig, ist es vor dem Hintergrund einer inklusiven politischen Kultur, die wahrnimmt, dass immer mehr hochaltrige Menschen von Behinderung und hospitalisierender Pflege betroffen sind, aber keineswegs. Es gibt einen kleinen interessanten Sammelband (Inklusion – Versprechungen vom Ende der Ausgrenzung), in dem sich die Autoren kritisch mit der inklusiven Praxis auseinandersetzen, die mit dem Versprechen vom Ende der Ausgrenzung vielfach nicht Schritt hält. Er enthält u.a. einen Auf- Dr. Sabine Jentsch setzt sich engagiert für Mitwirkungsrechte von Menschen in rechtlichen Betreuungsverhältnissen ein. Sie publizierte u.a. das Buch: Chancengleichheit und Perfektionismus, 2009 Politik Inklusion satz von Sabine Jentsch, der politische Teilhabebeschränkungen von Menschen mit Behinderungen thematisiert. Menschen mit Behinderungen, die unter rechtlicher Betreuung leben, haben vielfach keinen Anteil an einer politischen Teilhabekultur. Das Bundeswahlgesetz sieht vor, dass ihnen unter bestimmten Bedingungen das Wahlrecht verweigert werden kann. Dort heißt es in § 13 Nr. 2: „Ausgeschlossen vom Wahlrecht ist derjenige, für den zur Besorgung aller seiner Angelegenheiten ein Betreuer nicht nur durch einstweilige Anordnung bestellt ist; dies gilt auch, wenn der Aufgabenkreis des Betreuers die in § 1896 Abs. 4 und § 1905 des Bürgerlichen Gesetzbuchs bezeichneten Angelegenheiten nicht erfasst.“ Dass diese Regelungen keinen Naturursprung haben, beweisen andere Länder, wo es keine vergleichbaren Beschränkungen gibt. Die Frage ist nicht, ob jemand sein Wahlrecht wahrnehmen kann, sondern wieviel politische Selbstbestimmung wir ihm unter dem Aspekt demokratischer Rechtsgleichheit sichern müssen (vgl. auch Jentsch, Sabine; Politische Emanzipation und demokratische Inklusion, S.98 ff.; vgl. auch Jentsch, Sabine; Behinderung und politische Teilhabe). Der automatische Entzug des Wahlrechts, so argumentiert Sabine Jentsch, verträgt sich jedenfalls nicht mit dem demokratischen Inklusionsanspruch, den die UN-Behindertenrechtskonvention formuliert. Der generalisierte Wahlrechtsausschluss sei willkürlich, weil rechtlich gesetzte Ausnahmen von der Allgemeinheit der Wahl, die über eine Teilhabe oder einen Ausschluss von Men- schen mit Behinderungen entscheiden, dem Demokratieverständnis der UN-BRK zuwiderlaufen und eine bedingungslose Beteiligung in einem inklusiven Partizipationsmodell nicht verhandelbar ist (ebenda S. 9 und Jentsch, Sabine; Politische Emanzipation und demokratische Inklusion, S. 93 ff.). Sabine Jentsch sieht damit das Bundeswahlgesetz im Widerspruch zur UN-Behindertenrechtskonvention. Letztere betrachtet die politische Teilhabe aus einer inklusiven Perspektive. Sie formuliert keine Ausschlusskriterien. Vielmehr folgt sie dem Grundsatz, dass kein Bürger, aus welchen Gründen auch immer, vom Prozess politischer Selbstbestimmung ausgenommen werden darf. Dabei kann man unterstellen, dass dieser Ausschluss nur ein Symptom von weitergehenden Teilhabebeschränkungen von Menschen mit Behinderungen und hospitalisierten hochaltrigen pflegebedürftigen Menschen ist. Sieht man die Mitwirkungspraxis z. B. pflegebedürftiger Menschen: Sie werden bei sie betreffenden Dingen nicht angehört, sie sind weder in Gremien wie dem Landespflegeausschuss oder anderen politischen Gremien vertreten noch werden sie zu Pflegefachtagungen eingeladen. Ihre Abwesenheit in einer politischen Praxis, in partizipativen Gremien, im gesellschaftlichen Leben ist eklatant. Dabei ist vor dem Hintergrund eines inklusiven politischen Anspruchs zunächst nicht zu fragen, ob sie mit ihren individuellen Potentialen überhaupt wählen oder sich engagieren können – viele könnten es ohne jeden Zweifel –, sondern wie Strukturen beschaffen sein müssen, die adäquate Teilhabe ermöglichen und nicht verhindern. Bedenkt man, dass die Anzahl der Menschen mit Betreuungsverhältnis- -18- sen und schwerem Pflegebedarf stark steigen wird, erscheint eine weitere Hospitalisierung und Segregation kein alternativer Weg zu sein. Der oben aufgeführte Band sensibilisiert in verschiedenen Beiträgen dafür, eine inklusive Praxis gerade dort einzuüben, wo es am schwersten erscheint. Und da könnte die Evaluierung und Novellierung des Thüringer Seniorenmitwirkungsgesetzes ein wichtiger Schritt sein. Dr. Jan Steinhaußen Literatur Inklusion – Versprechungen vom Ende der Ausgrenzung, Westfälisches Dampfboot 2014 Siehe auch: Jentsch, Sabine; Behinderung und politische Teilhabe, www.zedis-ev-hochschule-hh.de/files/jentsch_10122012. pdf Jentsch, Sabine; Politische Emanzipation und demokratische Inklusion, in: Inklusion - Versprechungen vom Ende der Ausgrenzung Jentsch, Sabine; Behinderung und politische Teilhabe, http://www. zedis - ev-hochschule -hh.de/files/ jentsch_10122012.pdf Politik Inklusion Älter werden, behindert sein „Wie soll ich mit meiner Erkrankung, die sich langsam, klammheimlich verschlimmert und von der ich immer noch nicht genügend weiß, im Alltag fertig werden? Ich weiß es nicht! Es ist sehr schwer hier in Worte zu fassen. Zu der Zeit, als ich mit der Diagnose Glaukom konfrontiert wurde, war ich 69 Jahre alt. Ich war damals und auch heute noch total durcheinander, weil ich vor dem Wort ‚Erblindung‘ riesige Angst bekam, die ich bis heute behalten habe. Jedoch fand ich damals Trost und beruhigende Zuwendung bei meinem Mann, der inzwischen verstorben ist. Sechs Jahre sind vergangen, inzwischen sind neue chronische Erkrankungen erschwerend dazu gekommen. Das Sehvermögen wird immer weniger, doch die Angst vor dem, was kommen könnte, wächst beständig. Ganz langsam realisiere ich, dass Unsicherheit aufkommt. Unterwegs z. B., dass ich die Straßennahmen nicht mehr lesen kann. Nachbarn oder andere Bekannte immer als Erste ‚Guten Tag Frau D.‘ zu mir sagen, weil ich sie zu spät erkenne. Am Bahnhof sind nun die Anzeigetafeln für mich nicht mehr zu lesen. Am Anfang fällt es schwer, um Hilfe zu bitten. Jetzt, nachdem ich die Scheu überwunden habe, ein sichtbares Zeichen, z. B. die gelben Buttons mit den 3 schwarzen Punkten zu tragen, bin ich noch nie enttäuscht worden, wenn ich etwas frage. Es macht mich aber unsicher, und ich empfinde ein Gefühl von Minderwertigkeit.“ (1) Wir leben noch immer (oder wieder) in einer Gesellschaft, die trotz ihrer Liberalität hinsichtlich heterogener Lebensentwürfe und ihrer sozialstaatlichen Errungenschaften, auf einem Bild von Normalität beruht, das sich vor allem an der Funktionalität der Menschen orientiert. In der neoliberalen Individualisierung mit der Subjektivierung sozialer Risiken sind vor allem Leistung und Erfolg relevant. Der Mensch wird ökonomisch gedacht, für sein Handeln sind ökonomische Kontexte prägend. Verdichtet im Konzept des „Arbeitskraftunternehmers“ sollen Subjekte an einem imaginären Markt partizipieren, sich dafür qualifizieren oder sich für dessen beständige Risiken selber absichern. Menschen, die diese Erwartungen nicht erfüllen, aus welchen Gründen auch immer, werden mit Problemen, Konflikten, Beeinträchtigungen oder gar sozialer Marginalisierung konfrontiert. Unter den gesellschaftlichen Risikogruppen ragen zwei besonders hervor: Ältere, die vermehrt mit Altersarmut und deren sozialen Folgen der Ausgrenzung konfrontiert sind, sowie „Behinderte“, die noch immer einen schweren Stand haben. Wer, wie im Zitat, seine Lesefähigkeit, insbesondere auch noch im Alter, ganz allmählich verliert, hat wachsende Schwierigkeiten, sich im Alltag zu orientieren. Gilt dies für Menschen mit gesellschaftlich definierten Einschränkungen, herkömmlich als „Behinderte“ begriffen, bereits mit besonderer Schärfe, trotz aller Bemühungen um Barrierefreiheit und entsprechenden gesetzlich vorgeschriebenen Maßnahmen der Inklusion; so belastet dies die Alltagsorganisation von behinderten Menschen, die älter werden, zusätzlich. Älter werden und behindert sein können zur doppelten Beeinträchtigung führen, insbesondere dann, wenn dies zugleich mit Ausgrenzung und Altersarmut verbunden ist. Inklusion ist ein sozialstaatliches und bildungspolitisches Programm der Gegenwart (2), vielleicht sogar ein „heiliges Projekt“ (Becker 2015), das sich alle auf die Fahnen schreiben und an dem Niemand mehr vorbei -19- kommen kann. Ziel ist es, Menschen mit Behinderung in die Gesellschaft aufzunehmen (3). Vorausgesetzt wird dabei, dass Menschen zuvor aus der Gesellschaft exkludiert werden, sich quasi in einem „Jenseits“ davon befinden. Zweifelsohne lassen sich massive Marginalisierungsprozesse und Beeinträchtigungen von Teilhabe erkennen, wie es die Diskussionen um Armut und soziale Erschöpfung seit Jahren diagnostizieren; doch diese Ausgrenzung findet innerhalb der Gesellschaft statt, ist originärer Teil und Struktur davon (Lutz 2014; Butterwegge 2015). Diese zu beseitigen hieße, die Gesellschaft selbst in der Art zu transformieren, dass ihre Fokussierung auf eine Kommodifizierung des ganzen Lebens auf Erwerbsarbeit und die Normierungen des Alltags sowie die Förderung rein leistungszentrierter Bildungsinstitutionen verändert würden (Becker 2015). Becker hat mit dem Begriff der Inklusionslüge darauf verwiesen, dass die mit Inklusion beabsichtigten Ziele nur dann erreichbar wären, wenn eine Korrektur der ökonomisch gesteuerten, erwerbsarbeitszentrierten Gesellschaftslogik stattfände (Becker 2015). Ohne eine solche drohen alle Verlautbarungen und vollmundige Absichtserklärungen zu verpuffen, da sie kaum unmittelbare Auswirkungen für Menschen mit Behinderungen haben. Gefordert sind vielmehr Überlegungen, in denen die Gesellschaft selbst ihre Marginalisierungsprozesse hinterfragt. In der Konsequenz bedeutet dies, Maßnahmen zu entwickeln, in denen es nicht darum geht Menschen wieder in die Gesellschaft aufzunehmen, aus der sie nie draußen waren, sondern Menschen, die schon immer in der Gesellschaft leben, aber marginalisiert und beeinträchtig sind, uneingeschränkt teilhaben zu lassen. Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, wie sich Behin- K Politik Inklusion Engagierte Verbands- und Politikvertreter, die sich seit vielen Jahren für die Belange von Menschen bemühen: Dr. Claus-Dieter Junker, ehemaliger stellv. Vorsitzender des VdK Hessen-Thüringen; Jürgen Pfeffer, 1. Stellvertretender Landesvorsitzender des BRH; Maik Nothnagel, ehemaliger Inklusionspolitischer Sprecher im Thüringer Landtag, Sprecher der BAG „Selbstbestimmte Behindertenpolitik“ der Partei DIE LINKE und 1. Landesvorsitzender des SoVD Thüringen e. V. sowie die Landtagsabgeordnete der CDU im Thüringer Landtag Elke Holzapfel, Arbeitsmarktund Seniorenpolitische Sprecherin der CDU-Fraktion derung aus einem soziologischen Blickwinkel im Alter darstellt und was Teilhabe sein könnte und wie dies zu praktizieren ist. Zunächst wird ein Blick auf die Lebensphase Alter und deren Heterogenität geworfen. Ein zweiter Schritt dekonstruiert den Begriff Behinderung, um schließlich den Zusammenhang von Alter und Behinderung zu beleuchten. Am Ende werden Überlegungen zur besseren Teilhabe von Menschen angestellt, ein Blick auf den erforderlichen Paradigmenwechsel in der Altenpolitik schließt den Beitrag ab. Alt sein Das Alter als homogene Lebensphase oder klar abgrenzbare Kategorie gibt es nicht. Ähnlich wie Kindheit oder Jugend bleibt der Begriff in seiner Allgemeinheit unscharf, da sich die soziale Wirklichkeit nicht nur vielfältig, sondern auch widersprüchlich und sogar sperrig zeigt (van Dyk 2015; Lutz 2016) (4). Die Lebensphase Alter ist verortet in eine komplexe, flexible und sich stetig wandelnde generationale Ordnung, hoch differenziert und darin zugleich widersprüchlich (Backes/Clemens 2013). Sie spiegelt zum einen die sich in arm und reich polarisierende Sozialstruktur, zum anderen zeigt sich auch und gerade im Alter die Widersprüchlichkeit der Individualisierungs- und Beschleunigungsprozesse der (Spät)Moderne (Lutz 2014, 2016). Gerade im Alter werden Folgen der reflexiven Modernisierung manifest und letztlich unverrückbar. Prozesse der „Entsicherung“, der „Desintegration“, der „Entbettung“ und der „Veränderung“ sozialer Formate wie der Normalbiographie, die tendenzielle Auflösung sozialer Institutionen wie der Familie sowie eine Entleerung und Schrumpfung sozialer Räume haben massive Auswirkungen auf das Altwerden in der Gesellschaft und bedeuten zugleich für viele Menschen Marginalisierung und Beeinträchtigung gesellschaftlicher Teilhabe (Castel/Dörre 2009; Butterwegge 2015; Lutz 2016). Verfestigte soziale Ungleichheit und die Zunahme prekärer Beschäftigung -20- lassen immer mehr Menschen im Alter arm werden, es entsteht ein neues Armutsphänomen, das nach einem langen Erwerbsleben durch den Eintritt in den Ruhestand entsteht (5). Im Alter zeigen sich die Folgen von Entbettung und ökonomischer Spaltung am schärfsten, aus der Sicht der Menschen offenbaren diese zudem eine ungeheuerliche und bedrückende Aussichtslosigkeit, da sich kaum noch Möglichkeiten zur Veränderung bieten. Wenn die Rente so niedrig ist, dass man Grundsicherung in Anspruch nehmen muss, dann kann man kaum noch etwas aus eigener Kraft daran ändern. Insbesondere im Alter wird eine soziale Spaltung eigener Art erkennbar, die zu völlig unterschiedlichen Lebenslagen führt (Lutz 2016). Die Auswirkungen der Risikogesellschaft und damit verbundener Differenzierung spiegeln sich nicht nur im Alter, das Alter selbst wird zu einer riskanten und stark individualisierten Lebensform. Dies verschärft sich noch, wenn in diese Prekarität des Alters eine „doppelte Behinderung“ eingewoben ist: Politik Inklusion Alt werden und dann auch noch „behindert“ sein. Gerade Behinderung begleitet vermehrt das Altwerden, dabei ist auch dies nicht selten ein Reflex sozialer Ungleichheit. Behindert werden Bilder und Erzählungen von Behinderung und deren öffentliche Wahrnehmung zeigen das ganze Problem: Diese sind entweder von vergleichsweise jungen Menschen geprägt, wie den Sportler bei den Paralympics oder sie genießen eine hohe öffentliche Attraktivität, die zugleich auch eine Vermarktung impliziert. Der Film „Ziemlich beste Freunde“ bzw. die Biographie des Opernsängers Thomas Quasthoff zeigen dies. Etwas anders gelagert sind die Geschichten bzw. die Performance der Politiker Wolfgang Schäuble oder Malu Dreyer, sie zeigen eine geschäftige Rastlosigkeit sowie eine gesellschaftliche Nützlichkeit, die sich in individuellen Erzählungen von Leistung und Erfolg niederschlagen. So gesehen ist der Behinderte in dieser Gesellschaft ein Erfolgsmodell, dessen Inklusion eigentlich nicht in Frage steht – solange sie oder er nützlich ist. Häufig vergessen oder „übersehen“ wird die große Gruppe der Senioren mit Behinderung, diese haben kaum eine öffentliche Lobby. Sie sind alt, befinden sich nicht mehr in Arbeitsprozessen, eigentlich sind sie doppelt marginalisiert: als Alte und als Behinderte. Sie leben jenseits der Aufmerksamkeit in Abgeschiedenheit, in Heimen oder bei ihren Familien. Dies führt zur entscheidenden Frage, was denn nun eigentlich Behinderung ist und welche Folge diese für Menschen hat? Eine Definition ist schwierig, eigentlich sogar unmöglich, obwohl es eine unglaubliche Fülle von Versuchen gibt. Zunächst einmal lassen sich aus soziologischer Sicht zwei Blickwinkel identifizieren: Entweder ist der Mensch „behindert“, durch was und warum auch immer, oder die Gesellschaft „behindert“ bestimmte Menschen, wie, warum und wozu auch immer (Cloerkes 2007). An dieser Stelle soll die zweite Per spektive eingenommen werden: •Behinderung ist eigentlich eine Konstruktion von Gesellschaft, die über Zuschreibungen und Definitionen verläuft; •Behinderung wird zu einem Sammelbegriff für das, was Gesellschaft, Kultur und Sprache daraus machen; •Behinderung steht für einen Komplex von Definition und Reaktion (Waldschmidt/Schneider 2007). Es ist weniger der beeinträchtigte Mensch und sein Körper, der sich im Fokus befindet. Vielmehr werden bestimmte Menschen auf Grund ihres Aussehens, ihres Körpers, ihres Verhaltens oder ihrer Meinungen kulturell, sozial und ökonomisch stigmatisiert, ausgegrenzt und schließlich in eine gesellschaftliche Kategorie abgeschoben, die sie zu „Behinderten“ macht, indem sie in ihren Fähigkeiten und ihrer Teilhabe behindert sind (Waldschmidt 2007). Damit verbundene bzw. definierte Auffälligkeiten und soziale Probleme sind zeit- und kulturtypisch. Akteure dieser Prozesse sind immer Mehrheiten, Diskurs eliten, Machtcliquen; das sind immer auch Gruppen, die sich für „normal“ halten (Kastl 2010). Konstruktions- und Bewertungsprozesse lassen sich in einer zentralen These der „disability studies“ (6) abbilden (Waldschmidt/Schneider 2007): Auffällige oder Behinderte sind immer Menschen, die bestimmten kulturellen, sozialen und ökonomischen Normen widersprechen. Normen sind bekanntermaßen relativ und veränderbar; sie spiegeln immer auch gesellschaftliche Macht -21- und stellen Diskurse dar, die Verhalten, Denken, Einstellungen und Körperbilder formen. Adorno hat darauf hingewiesen, dass es in der Moderne eine Tendenz gibt, das Inkommensurable klein zu arbeiten, es anzupassen oder auszugrenzen, da es störe (Adorno 1969). Foucault hat uns mit dem Gedanken vertraut gemacht, dass Machtstrukturen auch Einfluss auf Körperbilder nehmen (Foucault 1990; Waldschmidt 2007). Um Behinderung als einen sozialen Komplex zu sehen, muss verstanden werden, dass nicht den Normen entsprechende Subjekte nicht immer, aber meist, stigmatisiert, ausgegrenzt, eingesperrt und abgeschoben werden. Mitunter gelten sie als krank oder behandlungsbedürftig, woraus Therapien unterschiedlichster Art folgen. Allerdings hat sich inzwischen ein erkennbares Umdenken etabliert, das sich auch in den Vorstellungen von Inklusion verdichtet. Die sozialrechtliche Definition (7) liefert eine Definition, die Diskussionen der „disability studies“ aufgreift: „Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist.“ Damit steht nicht mehr ausschließlich die Schädigung im Fokus, sondern zusätzlich deren Auswirkungen auf die Teilhabemöglichkeiten in verschiedenen Lebensbereichen. Die WHO Definition von Behinderung (International Classification of Impairments, Disabilities, and Handicaps) erweitert diesen Blickwinkel noch einmal, indem Behinderung als Prozess und Komplex in den Blick kommt; es wird folgende Differenzierung vorgenommen (8): •Aufgrund einer Erkrankung, angeborenen Schädigung oder ei- K Politik Inklusion nes Unfalls als Ursache entsteht ein dauerhafter gesundheitlicher Schaden – impairment. •Der Schaden führt zu einer funktionalen Beeinträchtigung der Fähigkeiten und Aktivitäten des Betroffenen – disability. •Die soziale Beeinträchtigung ist Folge des Schadens und äußert sich in persönlichen, familiären und gesellschaftlichen Konsequenzen – handicap. Behinderung wird nicht mehr als feststehender Zustand verstanden, sondern als ein sich ständig weiterentwickelnder Prozess beschrieben, der sich nachteilig auswirkt, wenn Menschen mit Beeinträchtigungen (Schädigung körperlicher Organe, Blindheit, Gehörlosigkeit, Lernstörungen) auf einstellungs- und umweltbedingte Barrieren stoßen, die sie an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilnahme am gesellschaftlichen Leben hindern. Der entscheidende Kontext dieser „Dreiteilung“ soll an einem Beispiel erläutert werden: Gehörlos geboren („impairment“) hat für die Lebensfähigkeit keine unmittelbaren Folgen, allerdings erwirbt das Subjekt im gesellschaftlichen Kontext von Normalität, die auf Sprache ruht, keine hinreichende bzw. erwartete Sprachkompetenz und erfährt somit eine Behinderung auf der persönliche Ebene („disability“). Dies bedeutet in den normalen Verständigungsebenen der Gesellschaft, die stark auf Hören und Sprechen abheben, behindert zu sein, eben ein “handicap“ zu haben und beeinträchtigt zu werden. Dies kann zu Konsequenzen führen und ein „normales“ Leben nicht mehr möglich machen, da die sozialen Folgen rund um die definierte Beeinträchtigung von etablierten Normen abweichen und entweder marginalisieren oder Inklusionsmaßnahmen nach sich ziehen. Trotz des Prozesses, den sie betont, wirft die WHO Definition Fragen auf: Woran bzw. an welcher Vorstellung von Norm bemisst sich Schädigung? Wer setzt diese Normen und warum? Wenn die Festsetzung der Schädigung auf der Basis medizinischer Diagnostik geschieht, dann ist die eigentliche Frage: Was messen eigentlich Diagnoseverfahren? Im Grunde genommen messen sie doch nur, was sie messen wollen oder können (Brücher/Poltrum 2012). Dann reflektieren Diagnosen immer auch gesellschaftliche Definitionen von Normalität und Abweichung, damit weisen sie auf die Geschichte: Jede Zeit findet und erfindet ihre eigenen Krankheiten bzw. zeichnet Gesundheit und Normalität immer auch mit normativen Entwürfen. Trotzdem sie auf einen Prozess verweist, bleibt auch die WHO Definition auf unreflektierte Vorstellungen von Normalität verwiesen, die immer eine Normalität der Machteliten, der Mehrheiten, der öffentlichen Meinung, der geltenden Wertesysteme und gesellschaftlich relevanter Akteure abbilden. Diese Diskurse prägen Gesellschaft und führen zu Marginalisierungen und Beeinträchtigungen für bestimmte Menschen in der Gesellschaft. Sowohl die Definition des SGB IX als auch die der WHO weisen dennoch auf einen für soziologische Betrachtungen entscheidenden Aspekt hin: „Schädigung“, „Behinderung“ bzw. „Beeinträchtigung“ wachsen in gesellschaftlichen Kontexten und verdichten sich zu Normalitätsvorstellungen. Damit richten sie den Blick auf die sozialen Folgen solcher regulierender Normen, die sich im „Handicap“ abbilden. Aus soziologischer Sicht ist dies wesentlich, da Beeinträchtigungen von Menschen durch Menschen in den Vordergrund gehoben werden, die nicht sein müssen und immer zur Ausgrenzung tendieren. Schon Disability (Behinderung) als soziale oder kulturelle Tatsache ist bereits eine Reaktion von Gesellschaft, die bestimmte Menschen als beeinträchtigt wertet. Wenn von Behinderung die Rede ist, dann errichten Gesellschaften für be- Claus-Dieter Junker (VdK) und Jürgen Pfeffer (BRH) -22- Politik Inklusion stimmte Menschen Hürden oder gar Hindernisse und behindern diese bei der Entfaltung ihrer Fähigkeiten und ihrer Teilhabe. Das fokussiert sich im „Komplex Handicap“ und manifestiert Beeinträchtigung. Aus diesen Überlegungen lässt sich ein soziologischer Zugang herausarbeiten, der auch für eine Auseinandersetzung mit Lebenslagen von Senioren, die als behindert gelten, brauchbar ist. Dieser soziologische Blick wurde von Cloerkes verdichtet (Cloerkes 2007): „Bestimmte Merkmale“ von Menschen lösen Spontanreaktionen aus, rufen „Aufmerksamkeit“ hervor, da sie außerhalb sozialer Vorstellungen von Normalität liegen. Die Merkmale stellen im gesellschaftlich-normativen Kontext eine „Andersartigkeit“ dar und konstituieren eine „Abweichung“. Deren Bewertung ist vorab nicht festgelegt, sie kann negativ, ambivalent oder positiv interpretiert werden. Behinderung entsteht erst dann, wenn diese Andersartigkeit entschieden negativ bewertet wird. Entscheidend ist dabei deren Abweichung von gültigen Normen, dass negativ bewertete Abweichungen eben immer auch mit sozialen Erwartungen verknüpft sind. Um es auf den Punkt zu bringen: Ein Mensch ist behindert, wenn eine unerwünschte Abweichung von wie auch immer definierten Erwartungen vorliegt und deshalb die soziale Reaktion negativ ist und die Entfaltung von Fähigkeiten und Teilhabe einschränkt. Alt sein und behindert werden ist in einer Gesellschaft, die ihren „Jugendstil“ betont und jung sein zur Norm erhebt, ein Affront bzw. eine Zumutung, der man sich nur ungern stellt (Kastl 2010; van Dyk 2015, Lutz 2015). Marginalisierung kann die Folge sein. Der Blickwechsel von der Behinderung eines Menschen zu sozialen, kulturellen und normativen Kontex- ten einer Gesellschaft, die manche Menschen in ihren Fähigkeiten und ihrer Teilhabe behindert, hat Konsequenzen. Wesentlich wird nämlich, dass die Reichweite von Begriffen immer begrenzt ist, da sie immer nur einen zeitlich begrenzten Horizont spiegeln. Der Zusammenhang von „Impairment/Schädigung“, „Disability/Behinderung“ und „Handicap/ Beeinträchtigung“ ist als Ergebnis von Interaktionen, Konstruktionen und normativen Bewertungsprozessen immer relativ. Das Verhältnis zueinander ist zeitlich und auch räumlich begrenzt. Relativ ist zudem die subjektive Auseinandersetzung bzw. Betroffenheit, da die Schwere nicht wirklich entscheidend ist, auch leichte Schädigungen können katastrophal sein, während schwere gut verkraftet werden können. So ist der Verlust eines Fingers für einen Orchestergeiger katastrophal, während ein Leben mit künstlichen Hüften keinerlei Probleme bereitet. Hinsichtlich der Lebensführung wird sie unterschiedlich wirksam. Diese Relativität zeigt sich auch hinsichtlich verschiedener Lebensbereiche und Lebenssituationen, wenn Leistungsprinzipien, Arbeitsfähigkeit oder Erfolg als gesellschaftliche Werte dominieren, können Menschen, die diesen Normen aus welchen Gründen auch immer nicht (mehr) im Sinne gesellschaftlicher Erwartungen erfüllen, marginalisiert werden. Aber auch kulturspezifische sowie soziale Reaktionen sind relativ. Was in einer Kultur als Behinderung gilt, muss woanders so nicht vorliegen. Soziologische Reflexionen zeigen, dass Behinderung nichts Absolutes darstellt, sie ist nie eindeutig und nur als soziale Kategorie begreifbar. Diese Überlegungen führen letztlich zu einer weit gefassten Definition: „Als behindert gelten Personen, die infolge einer Schädigung ihrer körperlichen, geistigen oder seelischen -23- Funktionen soweit beeinträchtigt sind, dass ihre unmittelbaren Lebensverrichtungen oder ihre Teilhabe an der Gesellschaft erschwert werden“ (Cloerkes 2007, S. 4). Deutlich wird darin noch einmal, dass nicht die Schädigung essentiell ist, sondern immer die sozialen Folgen für das Subjekt. Mit diesem Blick soll nun der Kontext von Alter und Behinderung betrachtet werden. Alt und behindert Wirklich zuverlässige Zahlen liegen nicht vor. Manche Daten sind mitunter veraltet, es besteht (zum Glück) keine Meldepflicht für Behinderte. Auch gibt es Mängel wegen definitorischer Probleme bei der statistischen Erfassung hinsichtlich der Differenzierung nach Behinderungsarten bzw. auch Mehrfachbehinderungen. Die Angaben zu Zahlen ruhen auf amtlichen Zählungen wie der Bevölkerungsstatistik, dem Mikrozensus, der EVS, Schulstatistiken sowie Umfragen und Expertenschätzungen. In der statistischen Erfassung zeigen sich außerdem Fehlerquellen: Haushalte werten Auffälligkeiten anders als Experten (Verständnis von Behinderung), Eltern wollen zunächst ein Expertenurteil, manche Familien verschweigen Behinderungen. Amtliche Zahlen für Deutschland zeigen (9), dass zum Jahresende 2013 rund 7,5 Millionen schwerbehinderte Menschen in Deutschland lebten. Das waren rund 260 000 oder 3,6 % mehr als am Jahresende 2011. 2013 waren somit 9,4 % der gesamten Bevölkerung in Deutschland schwerbehindert (10). Etwas mehr als die Hälfte (51 %) der Schwerbehinderten waren Männer. Unter den Schwerbehinderten waren 54,2% älter als 65, die Schwerbehindertenquote der über 64-Jährigen lag bei 24,3%. Offenkundig ist vor allem Schwerbehinderung auch ein Problem der Le- K Politik Inklusion bensphase Alter. Ein Blick auf deren Situation zeigt Menschen (van Dyk 2015), •die bereits von Geburt oder frühen Lebensphasen an mit einer Behinderung leben; •die altersbedingt eine Behinderung erfahren, zum Beispiel durch Unfälle und Erkrankungen; •die im Seniorenalter eine Behinderung erfahren, Demenz als bekanntes Beispiel. Die meisten Behinderungen, so eine Studie des Berlin-Instituts, insbesondere im Alter, sind Folgen von Krankheiten oder Unfällen (11): 82% sind das Ergebnis von Krankheiten, dabei sind Männer stärker betroffen als Frauen, da sie häufiger berufstätig sind. Nur jeder Zwanzigste hat eine angeborene Behinderung; viele Personen fühlen sich im Alter beeinträchtigt, haben aber keine anerkannte Behinderung. Der demografische Wandel wird die Zahl behinderter Senioren noch weiter ansteigen lassen. Da die Gesellschaft insgesamt altert, wird es eine deutlich höhere Anzahl Schwerbehinderter geben. Es ist mit einer Verdreifachung in den nächsten zwanzig Jahren zu rechnen, Prognosen des Statistischen Bundesamtes gehen sogar davon aus, dass vor allem der Anteil Schwerbehinderter bis 2050 deutlich ansteigt (12). Diese Prognosen werden durch drei Kontexte begründet: Die Lebenserwartung steigt kontinuierlich; dabei verringern sich die Mortalitätsraten und die Sterblichkeit hinsichtlich definierter Erkrankungen wie Krebs oder Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems; es findet zugleich eine Veränderung der Mortalitätsursachen statt, das Spektrum der Krankheiten weitet sich immer mehr aus und verschiebt sich zugleich: •Abnahme der Infektionserkrankungen; •Zunahme chronischer Erkrankungen: Zivilisationserkrankungen, Umwelt- und Lebensbelastungen, Herz-Kreislauf, Bewegungsmangel; •Eine veränderte Ernährung, die Zunahme der Lebenserwartung sowie Erfolge der Medizin zeigen Wirkung; •Zunahme psychischer und neuronaler Erkrankungen wie Erschöpfung und Demenz (13). Die Gründe hierfür liegen in den Lebensbedingungen: in familiären Strukturen und Krisen, in einer allgemeinen Zunahme an Risiken, in der Arbeitswelt und ihren Beschleunigungseffekten, in diskontinuierlichen Erwerbsverläufen, in Auswirkungen von Arbeitslosigkeit, prekärer Beschäftigung und Armut, in einer Zunahme von Erschöpfung. Der Zusammenhang von Prekarität, Armut und Erschöpfung wirft hinsichtlich der Lebenslage Alter Fragen auf, die sich heute noch nicht wirklich beantworten lassen: •Welche Auswirkungen haben prekäre Beschäftigungen auf das Alter und wie wirken sie sich hinsichtlich von Behinderung aus? •Welche sozialen, psychischen und physischen Folgen hat ein längeres Leben unter den Bedingungen von Hartz IV? •Inwieweit werden Erschöpfungssymptome zu einer „neuen“ Form von Behinderung, die zu einer dauerhaften Ausgrenzung und zu Einschränkungen von Teilhabe führen? •Welche Bedeutung haben Ausgrenzungserfahrungen wie Segregation und Diskriminierung hinsichtlich des Lebens im Alter und werden hier nicht neue Formen der Behinderung aufgebaut? •Welche spezifischen Formen von Behinderung resultieren aus einem Leben mit Grundsicherung im Alter, trotz eines langen Arbeitslebens? •Wird ein individualisiertes und entbettetes Leben jenseits von Familie -24- und Gemeinschaft Folgen haben und welche werden das sein? •Was wird mit alten und behinderten Zuwanderern? Die Fachleute sind sich einig, dass Behinderung immer auch ungleich verteilt ist (Maschke 2007). Lebensbedingungen und Lebenslagen hängen von der jeweiligen sozialen Position ab, das Risiko, behindert zu werden, steigt mit sinkender Sozialschicht. Menschen mit dem Status „behindert“ sind in den unteren Schichten häufiger vertreten als in den oberen. Die schon zitierte Studie des Berlin-Instituts hat darauf hingewiesen, dass Armut und Behinderung korrelieren (14). In der unteren sozialen Schicht lassen sich fast doppelt so viele Menschen mit anerkannter Behinderung identifizieren. Wer arm ist, hat offenkundig ein höheres Behinderungsrisiko. Wer behindert ist, hat es zudem schwerer sozial aufzusteigen. Mit dem Eintritt der Behinderung beginnt eine Veränderung der individuellen Position innerhalb der Sozialstruktur, die als Absinken bzw. Abwärtsmobilität gekennzeichnet werden kann. Die Thesen von Jantzen zum Zusammenhang von Armut und Behinderung haben ungebrochene Bedeutung (Jantzen 1987, 1990): Mit sinkender sozialer Schicht steigt der relative Anteil Behinderter, und zwar als Folge einer Zunahme an schädigenden biologischen und sozialen Einwirkungen. Dies prägt die Lebenslagen im Alter grundlegend und erhöht die Gefahr auch im Alter massiv benachteiligt und ausgegrenzt zu sein. Insofern werden prekäre Beschäftigung, Niedriglöhne, Armuts- und Ausgrenzungserfahrungen, Erschöpfungszustände, Individualisierung und Entbettung Auswirkungen haben, die Menschen im Alter zusätzlich behindern; zur Armut kommt dann noch Beeinträchtigung, das verdoppelt Teilhabeverweigerung. Politik Inklusion Vor diesem Hintergrund ist zu fragen, was über das Leben von behinderten Menschen im Alter bekannt ist? Es gibt zwar viele Studien über die Lebenslage von Behinderten, aber nur wenige Aussagen zur Situation Älterer, obwohl diese überrepräsentiert sind (15). Einzig die erwähnte Studie des Berlin-Institutes, die neue Publikation von van Dyk sowie einige wenige Publikationen im Netz liefern Einblicke (16). Alterungsprozesse Behinderter verlaufen im Vergleich zur Gesamtbevölkerung weitgehend synchron. Menschen mit Behinderungen altern ebenso unterschiedlich wie alle Menschen. Auch für Menschen mit Behinderung gilt, dass Altern ein individueller Prozess ist, der von einer Reihe von Faktoren beeinflusst wird. So lassen sich keine signifikanten Unterschiede zwischen der Lebenserwartung behinderter und nichtbehinderter Menschen erkennen. Es lassen sich zudem dieselben Alterskrankheiten und Funktionsausfälle wie bei nicht behinderten Menschen identifizieren Auch die subjektive Seite des Älterwerdens ist ähnlich geprägt •von einem stärkeren Ruhebedürfnis, •von einer Veränderung des Tagesrhythmus, •von einem zunehmenden Verlust vorhandener Selbständigkeit, •von einer verstärkten Abhängigkeit von fremden Hilfeleistungen •aber auch von einem höheren medizinischen Bedarf. Allerdings wird das Altern von Menschen mit Behinderung von spezifischen Faktoren beeinflusst wie Behinderungsart und Schweregrad der Behinderung und der im Lebensverlauf erfahrenen Förderung. Gerade hier wird deutlich, dass Armut aber auch Entbettung sich im Alter behinderter Menschen schwerer und einschränkender auswirken können. Im Alter können sich zudem biologische Abbauprozesse deutlicher auswirken. Geistige, körperliche oder psychische Einschränkungen beschleunigen das Fortschreiten von Alterungsprozessen; chronische Erkrankungen erschweren die Bewältigung von auftretenden Leistungseinschränkungen. Risiken für Krankheiten und zusätzliche Beeinträchtigungen können höher sein. Die Ursachen hierfür sind vielschichtig, deuten aber erneut an, dass Armut und Ausgrenzung sich im Alter verstärkt auswirken können: •Lang andauernde chronische Erkrankungen mit entsprechend lang andauernder Therapie und deren Nebenwirkungen, •Besonderheiten des Lebensstils, •biografische Vorgeschichte in Institutionen, •fehlende soziale Netzwerke, •Bewegungsdefizite und Ernährungsprobleme, •Isolation und Einsamkeit, •Ängste und Traumata. Vieles weist darauf hin, dass sich die Lebensvorstellungen alter Menschen mit Behinderungen nicht wesentlich von denen Nichtbehinderter unterscheiden. Ältere, schwerstbehinderte Menschen sind in ihren Vorstellungen und Bedürfnissen genauso vielfältig und unterschiedlich wie ältere Menschen ohne gravierendes Handicap. Um Chancengleichheit für selbstbestimmte Teilhabe zu garantieren, bedarf es allerdings der Klärung der Bedürfnisse und Wünsche älterer Menschen mit Behinderungen. Dazu fehlen bisher klare Aussagen. Blicke auf die Lebenslagen zeigen insgesamt eine essentielle Herausforderung, die vor allem in der Heterogenität der Menschen liegt. Auch und besonders im Alter zeigen sich zudem die Ambivalenzen und Risiken der individualisierten Gesellschaft in einer besonderen Art. Das wirft Fragen auf: Sind vorhandene Maß- -25- nahmen lebensweltorientiert und spiegeln sie diese Heterogenität? Was sind die Ziele der Maßnahmen, Barrierefreiheit oder Teilhabeermöglichung? Das gesellschaftliche Versprechen der Inklusion weist, trotz der Kritik daran, auf zwei wichtige Dimensionen hin: •Zum einen muss das Leben selbstbestimmt und menschenwürdig sein. •Zum anderen ist die Förderung von Fähigkeiten und die Teilhabe eine wesentliche gesellschaftliche Aufgabe. Die eigentlich entscheidende Frage ist dann aber: Ist die Gesellschaft darauf vorbereitet? Welche Maßnahmen wären erforderlich, um die Teilhabe älterer Behinderter zu verbessern? Die Umrisse einer möglichen Antwort sollen folgen. Teilhabe und Politik Wenn über die Teilhabechancen älterer Behinderter nachgedacht wird, dann sind zunächst erkennbare Defizite und Problemstellungen zu benennen (Röh 2009; van Dyk 2015, auch Studie Berlin-Institut): •Es lassen sich hohe Zugangsbarrieren zum Gesundheitssystem feststellen. •Es wird vielfach von einer erschwerten Diagnostik aufgrund atypischer Verlaufsformen von Krankheiten berichtet. •Es lässt sich ein fehlendes Wissen professioneller Akteure hinsichtlich Lebenslagen, Bedarfen und Wünschen diagnostizieren. •Es fehlen gesundheitsbezogene Programme für alte Menschen mit Behinderungen und ihre informellen und professionellen Unterstützer. Ein besonderes Problem liegt zudem darin, dass Menschen, die einen Großteil ihres Lebens in Werkstätten für Behinderte verbracht haben, mit ihrer Berentung den Lebensmittel- K Politik Inklusion punkt verlieren, Unterstützung findet nicht mehr dort statt, wo sie lange erlebt wurde. Wer bei den eigenen Eltern lebte, stellt irgendwann fest, dass diese im Alter immer weniger unterstützen können. Diese Problemstellungen zeigen, dass offenkundig neue Modelle erforderlich sind, die bisher nur in Ansätzen erkennbar sind. Das Leben mit Behinderung im Alter ließe sich zumindest erleichtern, wenn die Menschen besser in die Gemeinschaft aufgenommen würden. Inklusion als Vision und Idee hilft allen, wenn sie ernst genommen wird. Doch: Wer das will, muss die Bedingungen herstellen. Das Konzept der Inklusion bezieht sich vordergründig nur auf den gesellschaftlichen und kulturellen Rahmen, der Teilhabe ermöglicht. Dabei wird völlig übersehen, dass es gar nicht um ein „Zurück in die Gesellschaft“ geht, sondern um eine Transformation der Ausgrenzungskontexte in der Gesellschaft. Dennoch oder trotzdem: Mit der Intention der Inklusion verbindet sich das Ziel eines selbstbestimmten und menschenwürdigen Daseins sowie der darin notwendig angesiedelten Förderung von Fähigkeiten und die Teilhabe am Alltag der Gesellschaft. Innerhalb bestehender Strukturen sind deshalb Bedingungen zu gestalten, die der Vielfalt menschlicher Lebenslagen gerecht werden und allen Teilhabe ermöglichen. Wenn ein jeder Mensch die Gesellschaft mitgestalten und ihre Angebote problemlos wahrnehmen soll, dann muss sie oder er auch mit den jeweiligen Fähigkeiten daran teilhaben, und zwar unabhängig von ethnischer wie sozialer Herkunft, Geschlecht, Alter oder Beeinträchtigung. Alle haben Fähigkeiten und Potentiale, die es einzusetzen bzw. zu aktivieren gilt. Allerdings hat man den Eindruck, dass Handicaps sich im Alter besonders auswirken und zusätzlich zum alt werden das Behindertsein verstärken. Das Inklusionskonzept aus einer kritischen und soziologischen Sicht betrachtet zielt auf eine vollständige und gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen, es besitzt eine gesamtgesellschaftliche Bedeutung und formuliert als Auftrag eine Vision, nach deren Prämissen Gesellschaft zu gestalten ist. Dies ist als Entwicklungsprozess zu verstehen, der an den Ressourcen und Potentialen der Menschen ansetzt und diese in soziale Beziehungen und den Alltag einbindet. Teilhabe ist aber erst dann erreicht, wenn Menschen mit Behinderung und mit ihren Fähigkeiten und Potentialen selbstverständliche Teilnehmer am öffentlichen Leben werden. Dies gilt in besonderer Weise für das Alter, das doppelt beeinträchtigt ist. Wenn die Gesellschaft (bzw. die Politik der Gesellschaft) Teilhabe (oder Inklusion) will, dann müssen, bezogen auf Behinderung und Alter, gemeindenahe bzw. wohnungsnahe Versorgung und Unterstützung sowie ein Mehr an Selbstbestimmung ausgebaut werden. Hierzu sind veränderte Strukturen erforderlich, die Sonderräume wie Heime reduzieren und ambulante Angebote verstärken (17). Blicke auf Familien offenbaren deren unterschiedliche Strategien zur Bewältigung (18). Familie ist ein erstaunlich stabiles und zugleich flexibles Hilfesystem. Ausschlaggebend für die Bereitschaft, eigene Potenziale aktiv zu nutzen und mit den Eltern sowie sozialen Einrichtungen gemeinsam Perspektiven für ein würdevolles Alter mit schwerster Behinderung zu entwickeln, sind Kommunikation und Strukturen im familiären System. Die Politik muss diese Individualität und die Kraft der Familien berücksichtigen. Notwendig sind spezifische niedrigschwellige und kontinuierliche Unterstüt- -26- zungs- und Begleitungsangebote für Familien dort, wo es sie als funktionsfähige Systeme gibt. Ein Beispiel aus Bayern belegt die Vorteile des Verbleibens in vertrauter Umgebung (19). Dies sorgt für die Beibehaltung gewachsener sozialer Beziehungen. Ergänzende Maßnahmen können zusätzlich fördern wie Hilfen bei der Tagesgestaltung der Freizeitgestaltung, um so am Leben in der Gemeinschaft teilhaben zu können, oder Angebote zur Erhaltung im Lebenslauf entwickelter Fähigkeiten und Fertigkeiten. Das Alter ist eine heterogene und eigenständige Lebensphase, in der Menschen weiterhin aktiv sind. Der Fokus muss sich deshalb auch darauf richten, persönliche Weiterentwicklung, Lernen und Teilhabe zu ermöglichen. Dies bedeutet nicht nur, vorhandene Fähigkeiten zu erhalten oder fehlende zu kompensieren, sondern neue Betätigungsfelder für alternde Menschen zu finden und sich auf neue Erfahrungen mit ihnen einzulassen. Menschen, die bisher auf Grund ihrer „handicaps“ behindert waren, müssen als Ressourcen und Potentiale der sozialen Räume begriffen und ihre Fähigkeiten eingebunden werden. Gerade der Stärkung vorhandener Ressourcen kommt in der Sozialplanung eine zunehmend strategische Bedeutung zu (20). Nachbarschaftshilfe kann als „Dritter Sozialraum“ neben Privathaushalt und Öffentlichkeit geplant und gefördert werden (21). Hierzu sind verstärkt Netzwerke aufzubauen, die vor allem auch eine Förderung der Selbsthilfe professionalisieren. Das kann durch Projekte umgesetzt, aber auch ergänzt werden wie psychisch Kranke helfen pflegebedürftigen Nachbarn, Studierende erledigen Hausarbeiten für Senioren, Jung und Alt leben in einer WG. Sozialplanung, Behörden und Dienste müssen dafür sorgen, dass alle Bereiche Politik Inklusion und Räume des öffentlichen Lebens sowie alle Informationen barrierefrei zugänglich sind. Die lokalpolitischen Instrumente hierfür stehen zur Verfügung: Konzepte einer integrativen Sozialraumplanung sind breit diskutiert und ansatzweise eingeführt, Sozialraumkonferenzen haben sich in vielen Räumen als Instrument der Steuerung und Planung etabliert, das Quartiersmanagement ist durch die Projekte der Sozialen Stadt und anderer Stadtteilerneuerungsprojekte inzwischen Standard (Hammer/Lutz/ Mardorf/Rund 2010). Gerade das Quartiersmanagement kann soziale Netzwerke knüpfen, Wohnen und Leben im Alter gestalten, Präventionsmaßnahmen anregen, vernetzen und anbieten, die Bedürfnisse der Familien alternder Menschen mit schwerster Behinderung einbeziehen sowie die zunehmende Schnittmenge zwischen Alten- und Behindertenhilfe als Herausforderungen begreifen, da im Alter Angebote der Behindertenhilfe und der Altenhilfe erforderlich werden. Die Vernetzung von Alten- und Behindertenhilfe ist ein wichtiger Schritt. Vernetzung der Träger und sozialen Dienste ist generell bei allen konkreten Planungen vor Ort zur Versorgung von älteren Menschen mit und ohne Behinderung eine notwendige Maßnahme. Es muss allerdings sichergestellt sein, dass die spezifischen Bedürfnisse behinderter Menschen auch im Rahmen einer vernetzenden Planung bedarfsgerecht berücksichtigt werden (22). Auf dem Land ist der Aufbau sozial integrativer Konzepte zur Verbesserung der Lebenslagen möglich bzw. hat bereits begonnen. Mit Maßnahmen wie dezentrale Gesundheitsförderung, neue Wohnformen, Versorgungsgemeinschaften oder „Dorfkümmerern“ gibt es gute Erfahrungen, die aufgegriffen werden können. Mit den Möglichkeiten einer integrativen Sozialplanung, den Sozialraumkonferenzen und dem Quartiersmanagement können Menschen mit Behinderungen auch auf den Ruhestand und das Alter vorbereitet werden, Maßnahmen wie die folgenden sind erkennbar und können ausgebaut werden: •die Begegnung von pflegebedürftigen Senioren mit und ohne Behinderung im Rahmen einer Tagespflege, •das Zusammenleben von jungen und alten Menschen in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe, •die Sicherstellung des Bedarfes an Teilhabe und Pflege in einer Wohngemeinschaft durch ein trägerübergreifendes persönliches Budget, •der Aufbau von bedarfsdifferenzierten Angeboten der Eingliederungshilfe und Pflege. Die Anzahl und die Verteilung von Wohnangeboten bedürfen zudem einer veränderten Schwerpunktsetzung. Bestehende Wohnmöglichkeiten in den Kommunen müssen für ältere Menschen mit Behinderung unter Inanspruchnahme ambulanter und offener Angebote nutzbar sein; hierzu gehören behindertengerecht gestalteter Wohnraum und Wohnumfelder, Angebote zur Absicherung von Versorgung (z. B. ambulante Pflege, Dienstleistungen) und Möglichkeiten zur Teilhabe (23). Paradigmenwechsel Wenn man Teilhabe oder Inklusion will, um die doppelte Behinderung älterer Menschen tendenziell aufzuheben, dann bedarf es in der Altenpolitik und in der Altenarbeit eines Paradigmenwechsels: Weg von der traditionellen „Ruhestandsorientierung“ und hin zur individuell wie gesellschaftlich nützlichen „Potenzialentfaltung und -nutzung“. Das Ziel dieses Wechsels ist die Steigerung der Bereitschaft der -27- Älteren, selbst an der Sicherung der Generationenverträge mitzuwirken. Hierzu muss das etablierte Versorgungsparadigma einem Aufforderungs- und Verpflichtungsparadigma weichen (24). Ein fortgeschrittenes Konzept hierzu ist das „active ageing“ (25), das aber hierzulande noch eng auf den Bereich des Arbeitsmarktes zugeschnitten ist. Seine Merkmale sind eine integrierte und lebenslaufbezogene Konzeptualisierung, die Betonung von inter- und intragenerationeller Solidarität sowie ein gesellschaftlicher Nützlichkeitsbezug bei bevorzugter Beachtung von Problemen vor allem auch sozial benachteiligter älterer Bevölkerungsgruppen. Ein weiterer Schritt des Paradigmenwechsels liegt in der Notwendigkeit einer Neujustierung beider Generationenverträge; des großen gesellschaftlichen Generationenvertrags im System der umlagefinanzierten Sozialversicherung und des sogenannten kleinen Generationenvertrags im familiären Umfeld (26). Ziel sollte eine neue Generationensolidarität sein: •Die jungen Generationen müssen zwar ein Mehr an Bildung und Zukunftsinvestitionen erwarten können, sie sollten sich aber im Gegenzug auf mehr Lernen, neue Erwerbsmuster, mehr berufliche Mobilität und Flexibilität einstellen und nicht zuletzt mehr Bereitschaft für ein Leben mit Kindern aufbringen. •Die älteren Generationen dürfen sich nicht mehr primär in tradierten Rollen als Rentenempfänger und „Ruheständler“ definieren, sondern müssen bereit sein, Verantwortung für das eigene Leben, für das anderer sowie das der nachrückenden Generationen zu übernehmen. Die soziale Entwicklung zwingt zu sozialpolitischen Reformen; Ideen und Konzepte sind da. Es fehlt aber noch an der Bereitschaft gewohnte Strukturen aufzubrechen und damit verbun- K Politik Inklusion dene Sicherheiten aufzugeben. Vor allem ist Inklusion als Konzept zu überdenken, da es nicht um eine Rückführung in die Gesellschaft geht, sondern um eine Transformation derselben. Prof. Ronald Lutz Verzeichnis der Endnoten (1) https://www.aktion-mensch.de/blog/beitraege/senioren-mit-behinderung-einevergessene-gruppe.html (2) Siehe: https://www.aktion-mensch.de/ themen-informieren-und-diskutieren/ was-ist-inklusion.html, Zugriff am 20.3.16, oder auch: https://www. unesco.de/fileadmin/medien/Dokumente/Bildung/InklusionLeitlinienBildungspolitik.pdf; Zugriff am 20.3.16 (3) Die diskursive „Kraft“ dieses Projektes wird ja auch in gegenwärtigen Diskussion zur Integration von Flüchtlingen erkennbar. (4) Siehe auch: http://www.kas.de/upload/ dokumente/verlagspublikationen/AlterLast-Chance/Alter-Last-Chance-6-1.pdf (5) https://www.bertelsmann-stiftung.de/ fileadmin/files/BSt/Publikationen/ GrauePublikationen/Policy_LebensWK_ Okt_2015_final.pdf (6) Unter diesem Begriff werden Studien zusammengefasst, die Behinderung als Konstruktion verstehen und sich vor allem mit den sozialen Folgen auseinander setzen. (7) § 2 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (8) https://www.myhandicap.de/gesellschaft-behinderung/behinderung-handicap-definition/; Zugriff am 23.3.16 (9) https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Gesundheit/ Behinderte/BehinderteMenschen.html; Zugriff am 23.3.16 (10) Als schwerbehindert gelten Personen, denen von den Versorgungs-ämtern ein Grad der Behinderung von 50 und mehr zuerkannt sowie ein gültiger Ausweis ausgehändigt wurde. (11) http://www.berlin-institut.org/fileadmin/ user_upload/Alt_behindert/Alt_und_behindert_online.pdf, Zugriff am 20.3.16 (12) https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Gesundheit/ Behinderte/BehinderteMenschen.html; Zugriff am 20.3.16 (13) Siehe: http://www.berlin-institut.org/ fileadmin/user_upload/Alt_behindert/ Alt_und_behindert_online.pdf, Zugriff am 20.3.16 (14) http://www.berlin-institut.org/fileadmin/ user_upload/Alt_behindert/Alt_und_behindert_online.pdf, Zugriff am 20.3.16 (15) Zeigt sich nicht auch hier ein „behindert sein“ im „älter werden“? (16) http://www.ies.uni-hannover.de/fileadmin/download/Behindert_in_ Familie_01.pdf, Zugriff am 23.3.16 http://www.bmfsfj.de/RedaktionBMFSFJ/Abteilung3/Pdf-Anlagen/ dokumentation-des-workshopslebenswelten,property=pdf.pdf; Zugriff am 23.3.16 h t t p : / / w w w. a l l e - i n k l u s i v e . d e / wp-content/uploads/2010/07/ Teilhabe-alter-Menschen-mit-geistiger-Behinderung-am-gesellschaftlichenLeben_Endfassung.pdf; Zugriff am 23.3.16 (17) h t t p s : / / w w w . l w l . o r g / @ @ afiles/28598235/dritter_zwischenbericht.pdf; Zugriff am 23.3.16 Siehe auch Veröffentlichungen unter: http://www.lwl.org/LWL/Soziales/behinderung-und-alter/veroeffentlichungen; Zugriff am 20.3.16 (18) http://www.ies.uni-hannover.de/fileadmin/download/Behindert_in_ Familie_01.pdf; Zugriff am 23.316 (19) http://www.stmas.bayern.de/behinderung/aeltere/index.php, Zugriff am 20.3.16 (20) https://www.ksv-sachsen.de/images/ dokumente/publikationen/Gesamtkonzept%20aeMmB.pdf; Zugriff am 20.3.16 (21) http://nachbarschaftshilfe-sachsen.de/ portal/nachbarschaftshelfer-werden; Zugriff am 23.3.16 (22) http://www.stmas.bayern.de/behinderung/aeltere/index.php; Zugriff am 20.3.16 (23) https://www.ksv-sachsen.de/images/ dokumente/publikationen/Gesamtkonzept%20aeMmB.pdf; Zugriff am 20.3.16 (24) Siehe die Debatten u.a. bei: http:// www.bpb.de/politik/innenpolitik/ rentenpolitik/154895/destandardisierung-des-lebenslaufs, Zugriff am 20.3.16 (25) http://www.bmfsfj.de/doku/Publikationen/mug/Abschnitt-1-einfuehrung/1/13/1-3-3-modell-des-active-aging-unddie-international-classification-of-functioning-disability-and-health-der-weltgesundheitsorganisation.html; Zugriff am 20.3.16 (26) Siehe die Debatten unter: http://www. bpb.de/suche/?suchwort=Generation+ 50plus; Zugriff am 20.3.16 -28- Literatur Adorno, Theodor W.: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt am Main 1969 Backes, Gertrud/Clemens, Wolfgang: Lebensphase Alter, Weinheim 2013 Becker, Uwe: Die Inklusionslüge. Behinderung im flexiblen Kapitalismus, Bielefeld 2015 Brücher, Laus; Poltrum, Martin: Psychiatrische Diagnostik: Zur Kritik der diagnostischen Vernunft, Wien 2012 Buttterwegge, Christoph: Hartz IV und die Folgen. Auf dem Weg in eine andere Republik?; Weinheim 2015 Castel, Robert; Dörre, Klaus (Hrsg.): Prekarität, Abstieg, Ausgrenzung. Die soziale Frage am Beginn des 21. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 2009 Cloerkes, Günther: Soziologie der Behinderung, Heidelberg 2007 Dyk, Silke van: Soziologie des Alters. Bielefeld 2015 Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, Frankfurt am Main 1990 Jantzen, Wolfgang: Allgemeine Behindertenpädagogik Bd. I und II. Weinheim 1987 und 1990 Hammer, Veronika/Lutz, Ronald/Mardorf, Silke Mardorf/Rund, Mario (Hg.): Gemeinsam leben - gemeinsam gestalten. Zugänge und Perspektiven Integrierter Sozialraumplanung, Frankfurt am Main 2010 Kastl, Jörg Michael: Einführung in die Soziologie der Behinderung, Wiesbaden 2010 Lutz, Ronald: Soziale Erschöpfung, Weinheim 2014 Lutz, Ronald: Mythos Jugend. Zwischen Realität und gesellschaftlicher Wahrnehmung; in: Fischer, Jörg/Lutz, Ronald Lutz (Hrsg.): Jugend im Blick, Weinheim 2015, S. 235-154 Lutz, Ronald: Das prekäre Alter. Hintergründe und Lebenslagen, in: Landesseniorenrat Thüringen (Hrsg.): Armut und Lebenslagen im Alter. Befunde und Perspektiven, Erfurt 2016, S.29-46 Maschke, Michael: Behinderung als Ungleichheitsphänomen, in: Waldschmidt/Schneider 2007, S. 299-320 Röh, Dieter: Soziale Arbeit in der Behindertenhilfe, München 2009 Waldschmidt, Anne: Macht-Wissen-Körper, in: Waldschmidt/Schneider 2007, S. 55-78 Waldschmidt, Anne/Schnee, Werner: Disability Studies und Soziologie der Behinderung, in: Waldschmidt/Schneider 2007, S. 9-28 Waldschmidt, Anne/Schneider, Werner (Hg.): Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung, Bielefeld 2007 Politik Inklusion Das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen) Es gibt verschiedenste von der UNO verabschiedete Menschenrechtskonventionen, u. a. die UN-Antifolterkonvention, die UNFrauenrechtskonvention, die UNKinderrechtskonvention, die UNRassendiskriminierungskonvention, den UN-Sozialpakt, die UN-Völkermordkonvention. Aber keine dieser Konventionen hat eine derartig öffentliche Resonanz erfahren wie die UN-Behindertenrechtskonvention. Sie wurde 2006 nach fünfjähriger Erstellung Ende 2006 verabschiedet und trat 2008 in Kraft. Deutschland hat sie 2009 ratifiziert. Sie wurde inzwischen von über 160 Staaten unterzeichnet. Sie betrifft weltweit ca. 650 Millionen Menschen, wobei man aufgrund der weltweiten Alterung davon ausgeht, dass die Anzahl der Menschen mit Behinderungen wachsen wird. Sie stellen die weltweit größte Minderheit dar. Hintergrund war die soziale Lage und diskriminierende Situation für viele behinderte Menschen, die oftmals am Rande der Gesellschaft leben und das ärmste Fünftel der Weltbevölkerung bilden. 98 % der Kinder mit Behinderungen in Entwicklungsländern gehen nicht zur Schule, 30 % der Straßenkinder haben Behinderungen, nur 3 % der Erwachsenen mit Behinderungen können schreiben und lesen. D. h. Grundrechte wie - eine gute Bildung zu erhalten, - sich frei und ungehindert von einem Ort zum anderen zu bewegen, - ein selbstbestimmtes Leben in der Gemeinschaft zu führen, - Arbeit zu finden, auch wenn sie hochqualifiziert sind, - Zugang zu Informationen zu haben, - eine angemessene Gesundheitsversorgung zu erhalten, - ihre politischen Rechte wie z.B. ihr Wahlrecht auszuüben, sind für viele Menschen mit Behinderungen nicht gegeben. Die Konvention besteht neben der Präambel aus 50 Artikeln. Sie stellt die Pflichten der Staaten heraus, die für Menschen mit Behinderungen bestehenden Menschenrechte zu gewährleisten. Als wichtige Leitgedanken werden die Ansprüche auf Selbstbestimmung, Diskriminierungsfreiheit und gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe genannt. Die Grundsätze der Konvention enthält Artikel 3: a) die Achtung der dem Menschen innewohnenden Würde, seiner individuellen Autonomie, einschließlich der Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen, sowie seiner Unabhängigkeit; b) die Nichtdiskriminierung; c) die volle und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft und Einbeziehung in die Gesellschaft; d) die Achtung vor der Unterschiedlichkeit von Menschen mit Behinderungen und die Akzeptanz dieser Menschen als Teil der menschlichen Vielfalt und der Menschheit; e) die Chancengleichheit; f) die Zugänglichkeit; g) die Gleichberechtigung von Mann und Frau; h) die Achtung vor den sich entwickelnden Fähigkeiten von Kindern mit Behinderungen und die Achtung ihres Rechts auf Wahrung ihrer Identität. In Deutschland wurden nach der Ratifizierung der Konvention ver- -29- schiedene Strukturen etabliert. Zu ihnen gehören auch die Maßnahmepläne des Bundes und der Bundesländer. Zur Ausrichtung der Behindertenpolitik der Inklusion wurde mit Wirkung vom 1. Januar 2008 in das 9. Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) der Rechtsanspruch auf das Persönliche Budget aufgenommen. 2009 wurden mit dem Wohn- und Betreuungsvertragsgesetz die Rechte älterer, pflegebedürftiger und behinderter Menschen gestärkt, die Verträge über die Überlassung von Wohnraum mit Pflege- oder Betreuungsleistungen abschließen. Die Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung gewährleistet barrierefreie Internetseiten. Menschen mit Behinderungen können von der Rundfunkgebührenpflicht befreit werden. 2012 trat das inzwischen in seinen Leistungen ausgeweitete Gesetz über die Familienpflegezeit (FPflZG) in Kraft, das die Situation der Familienpflege entlasten und ermöglichen will. Siehe auch: www.behindertenrechtskonvention.info K Politik Inklusion Schulische Inklusion – eine anspruchsvolle und schwierige Aufgabe Über kaum ein Thema wird seit Jahren so intensiv diskutiert wie über die schulische Inklusion. Das ist insofern nicht verwunderlich, als die geplanten oder bereits eingeleiteten schulischen Umsteuerungsprozesse erhebliche institutionelle und pädagogische Veränderungen nach sich ziehen. Dabei kann zwar auf die bisherigen Integrationserfahrungen zurückgegriffen werden, gleichwohl sind die Folgen, die sich aus dem weiter reichenden Inklusionsentwurf ergeben, gravierender, im Konkreten oft schwerer abschätzbar und in ihren langfristigen Wirkungen ungewisser. Lehrerinnen und Lehrer werden dadurch vor erhebliche Herausforderungen gestellt, ebenso wie alle anderen Beteiligten – daran kann es kaum einen Zweifel geben. Erstaunlich ist, mit welcher Heftigkeit hierzulande über die Inklusion gestritten wird. In anderen (außer-)europäischen Ländern geht es zumeist moderater zu. Ein wichtiger Grund dafür ist, dass sich in Deutschland mit der Inklusion besonders hohe Erwartungen verbinden, zumindest bei einem bestimmten, durchaus einflussreichen Inklusionsverständnis. Nunmehr soll ein gänzlich anderer, bisher nicht praktizierter humaner Umgang mit Kindern gelingen, die behindert sind und/oder einen speziellen Förderbedarf haben; im Rahmen einer „Akzeptanz von Vielfalt“, die zahlreiche weitere Heterogenitätsdimensionen umfasst, ohne dass diese gewichtet und bewertet werden. Die Pädagogik soll sich jetzt grundsätzlich neu ausrichten, auf jeden Schüler hochindividuell eingehen, „Bildungsgerechtigkeit“ und „Chancengleichheit“ garantieren. Nicht selten wird die Schule als Vorbote einer neuen, inklusiven Gesellschaft angesehen, die auf einer strukturell veränderten „Architektur“ (Bielefeldt) beruht. Vieles spricht dafür, dass derartig hohe oder besser formuliert: überzogene Erwartungen einer erfolgreichen Weiterentwicklung im Wege stehen. Massive Enttäuschungen und diverse Kränkungen werden sich einstellen, wenn über kurz oder lang deutlich wird, dass die angestrebten Ziele schlichtweg unrealistisch sind. Etwas mehr Bescheidenheit würde hier gut tun: Damit Schritt für Schritt und auf gehaltvolle Weise mehr schulische Gemeinsamkeit entstehen kann, die allen Schülerinnen und Schülern dient, denen mit und jenen ohne Behinderung. Lehrerinnen und Lehrer müssen über die dazu notwendigen Arbeitsbedingungen verfügen und es macht wenig Sinn, wenn sie vor Aufgaben gestellt werden, die sie beim besten Willen nicht lösen können. Die (schulische) Inklusion ist ein hochanspruchsvolles, in sich spannungsreiches, in Teilen auch widersprüchliches Phänomen, das sich einfachen Lösungen verschließt. Im Mittelpunkt der UN-Behindertenrechtskonvention stehen Menschen mit Behinderung, das bezeugt der Name. Ihre Lebens-, Lern- und Entwicklungssituation soll umfassend verbessert, Teilhabe und Partizipation gestärkt und dafür gesorgt werden, dass eine (behinderungsspezifische) Förderung auf einem möglichst hohen Niveau erfolgt. Der zuletzt genannte Punkt wird häufig nur unzureichend beachtet. Es geht eben nicht nur darum, dass ein soziales Zusammensein entsteht, sondern auch, wie es ausgefüllt wird. Ein besonderes Gewicht kommt deshalb der Förderung von Kindern zu, die spezielle Bedürfnisse haben und einer besonderen Unterstützung bedürfen. Inwieweit sie gelingt, das ist -30- Zu Widersprüchen schulischer Inklusion Bernd Ahrbecks Buch „Inklusion. Eine Kritik“ ist eine außerordentlich gute und kenntnisreiche Zusammenfassung der kontroversen Diskussion über insbesondere schulische Inklusion. Er stellt dar, was Inklusion von Kindern und Jugendlichen in Schulen bedeutet: Den Verzicht auf Aussonderung und Ausschluss. Ein inklusives Bildungssystem bedeutet, das stellt Bernd Ahrbeck überzeugend dar, - dass Kinder und Jugendliche in einer Schule aufgenommen werden, unabhängig von der Art und Schwere einer Behinderung und sonstigen Besonderheiten, - dass es für alle Kinder und Jugendliche ein Gemeinschaftsleben gibt, das für alle gleichermaßen bereichernd und gewinnbringend ist, - dass im Grundsätzlichen eine Chancengleichheit besteht und soziale und sonstige Unterschiede, die Entwicklungs- Politik Inklusion und Diskriminierungsgefährdungen implizieren, nivelliert werden, - dass Lebens- und Lernsituationen von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen, des Weiteren aber auch von benachteiligten Kindern und Jugendlichen sowie deren Voraussetzungen für Teilhabe und Partizipation verbessert werden, - dass pädagogische Settings im gemeinsamen Unterricht bestehen, in denen eine individuelle Förderung entsprechend der individuellen Leistungsvoraussetzungen einschließlich sonderpädagogischer Förderung möglich ist, - dass Kindern und Jugendlichen die besten und optimalsten Entwicklungsbedingungen eingeräumt werden, - dass Kinder und Jugendliche nicht nur formal in ihrer Schulzeit inkludiert werden, sondern dass die Perspektive einer gesellschaftlichen Inklusion besteht, - dass die Verschiedenheiten von Menschen und die Heterogenität von sozialen Gruppen als Ressource und Chance für Bildungs- und Entwicklungsprozesse gesehen und entwickelt werden, wobei Bernd Ahrbeck u. a. sicher zu recht anmerken, dass es Lebensformen und -entwürfe gibt, die sich einer Vorbildwirkung entziehen (Ahrbeck, S. 35 f.), - dass Kinder und Jugendliche mit Behinderungen in Normalitätskontexten wahrgenommen und gewürdigt werden, die keine oder nicht ausschließlich Sonderformen des Lebens und individuellen Daseins darstel- len, und dass dennoch individuelle Förderung stattfinden kann, - dass pädagogischer Umgang mit verschiedenen Kindern und Jugendlichen auf Respekt, Achtung, Anerkennung, Wertschätzung, Ressourcenorientierung und individueller Zuwendung basiert, was voraussetzt, dass sie in ihrer inneren und äußeren Realität angemessen wahrgenommen und verstanden werden (vgl. Ahrbeck, S. 55). Dabei verweist Ahrbeck auf Leerstellen und Widersprüche, die sich innerhalb des pädagogischen Prozesses nicht auflösen lassen. Er stellt dar, dass sonderpädagogische Einrichtungen durchaus einen Schutzcharakter für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen darstellen und einen inklusiv Anspruch realisieren können, dass es auch innerhalb von inklusiven Schulen Ausgrenzungen geben, dass eine Sonderbeschulung ein Wunsch von Eltern mit behinderten Kindern sein kann. Er verweist hier auf bezeichnende Beispiele: Eltern, deren Kind ein extrem emotional-soziales Verhalten zeigte, erlebten in normalen Schulsettings Ablehnung und Konfrontation, anschließend eine Odyssee durch medizinische Einrichtungen verbunden mit medikamentösen Interventionen. Schließlich erfuhren sie eine wertschätzende pädagogische Würdigung ihres Kindes in einer Förderschule, die mit einem einzigartigen Konzept nicht nur auf die Schwierigkeiten, sondern die Begabungen des Kindes einging (Ahrbeck, S. 126). Ahrbeck verweist auch darauf, dass die Normalisierungsbemühungen eines Inklusionsansatzes die elementaren Unterschiede zwischen Menschen nicht beliebig zur Disposition stellen können und dass im Inklusionsansatz etwa die Lernsituation -31- von begabten Schülern nur am Rande betrachtet oder ausgeblendet wird. Und schließlich sind für die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen weniger das schulische Umfeld, das gemeinsame Lernen oder die Schulstruktur entscheidend. Die gemeinsame Beschulung sichert keinen späteren Zusammenhalt. Die Schule ist machtloser als vielfach gewünscht wird. Entscheidend seien professionelles pädagogisches Handeln und pädagogische Vorbilder, die Orientierung und Wertschätzung vermitteln (vgl. ebenda S. 113). Da es unter Seniorenvertretern zahlreiche ehemalige Lehrerinnen und Lehrer gibt, sich wie im Falle von Seniorpartner in School viele Ältere an Schulen und in Kitas engagieren, in jedem Falle die meisten Älteren mit ihren Enkeln umgehen, ist Ahrbecks Buch eine ausgezeichnete kritische und differenziert argumentierende Lektüre. Dr. Jan Steinhaußen K Politik Inklusion eine Frage, die nur empirisch beantwortet werden kann. Auch die gemeinsame Beschulung muss sich in ihrer Leistungsfähigkeit erweisen. Die Kriterien dafür sind nicht beliebig: Sie ergeben sich unter anderem aus der Orientierung an Bildungsstandards und daran, wie stark behinderungsspezifische Beeinträchtigungen kompensiert oder überwunden werden. Wie komplex die dahinter stehenden Phänomene sind, zeigt sich daran, dass weiterhin auch dort um einen angemessenen Weg gestritten wird, wo bereits sehr lange Integrations-/Inklusionserfahrungen vorliegen. Zum Beispiel in den USA oder in Großbritannien. Die stärkere schulische Gemeinsamkeit von Kindern mit und ohne Behinderung, wie sie nunmehr in allen Bundesländern entsteht, stellt eine bedeutende Errungenschaft dar. Das steht außer Frage. Viele der anstehenden Fragen sind jedoch noch ungeklärt, darunter auch solche grundsätzlicher Art. Eine davon betrifft das letztendliche Ziel der Inklusion: Soll auch zukünftig ein institutionell differenziertes System existieren oder eine „Schule für alle“, eine Einheitsschule, die ausnahmslos alle Kinder unter ihrem Dach vereint? Und wie verhält es sich mit dem Elternwahlrecht: Gilt es als ein zu überwindendes Übergangsphänomen oder wird es als grundlegendes Recht angesehen, das keine Einschränkung erlaubt? Weiterhin entzünden sich immer wieder erhebliche Kontroversen um die Bedeutung sonderpädagogischer Förderkategorien, des sonderpädagogischen Förderbedarfs und der einschlägigen Behinderungsbegriffe (Stichpunkt: Dekategorisierung; Etikettierung). Zudem ist sogar die Rolle umstritten, die Bildungsstandards bei gemeinsamer Beschulung einnehmen sollen. Und schließlich geht es um die Möglichkeiten und Grenzen, die mit einem hochindividualisierten Unterricht in der gesamten Schulzeit verbunden sind, einschließlich der Effekte, die sich daraus für das Lernen ergeben. Das Fazit aus meiner heutigen Sicht lautet: Für viele Schüler und Schülerinnen wird eine gemeinsame Beschulung ertragreich sein, für andere ist sie es nicht. Schulpraktische Erfahrungen lassen daran ebenso wenig Zweifel wie eine nüchterne Betrachtung der internationalen Forschungslage. Zum Wohl des Kindes bedarf es auch weiterhin unterschiedlicher schulischer Settings, Wahlmöglichkeiten müssen erhalten bleiben. Dann kann jedes Kind das bekommen, was es für seine Entwicklung benötigt. Die radikale Forderung nach einer „Schule für alle“ steht dem im Wege. Sie beinhaltet weder eine pädagogisch tragfähige Lösung noch lässt sie sich zwingend aus der UN-Behindertenrechtskonvention herleiten – auch wenn dies häufig und mit hohem moralischen Impetus behauptet wird. Der wünschenswerte Weg zu mehr schulischer Gemeinsamkeit kann nur in moderater Form gelingen, befreit von überzogenen Idealen. Unabdingbar ist, dass das Recht auf eine hochwertige Förderung garantiert wird. Das setzt voraus, dass die gegenwärtig durch Dekategorisierung bedrohte sonderpädagogische Fachlichkeit erhalten bleibt. Ebenso zwingend ist es, dass Bildungsstandards als eine elementare kulturelle Errungenschaft erhalten bleiben. Die Schule kann sich auch in Zeiten der Inklusion nicht neu erfinden, sie kann sich nur verbessern und sollte dies nach Kräften tun. Dabei kommt es vor allem darauf an, dass Reformschritte kritisch überprüft werden und bisher sicher geglaubte Gewissheiten in Frage gestellt werden, wenn die schulische Realität ihnen widerspricht. -32- Bernd Ahrbeck, Humboldt-Universität zu Berlin, Kultur-, Sozial- und Bildungswissenschaftliche Fakultät, Institut für Rehabilitationswissenschaften Georgenstr. 36 10099 Berlin bernd.ahrbeck@hu-berlin.de Rege Diskussion auf der Landesseniorenvertretungskonferenz Politik Inklusion Auf der Straße des Erfolgs: Soziale Arbeit der „Umsorgung“ von Senioren im deutsch-skandinavischen Vergleich (1) in Deutschland – die ideologische Nähe zum religiös begründeten Dienst aus dem Geiste der Caritas weit abgestreift haben. Prolog Am 29. Januar 2014 stellte Kanzlerin Angela Merkel in einer Regierungserklärung dem Parlament und der breiten Öffentlichkeit die Pläne vor, die die amtierende Koalition aus CDU/CSU und SPD bis Ende 2017 umsetzen will. Als sie auf die geplanten Pflegereformen – gesetzestechnisch sind sie bereits weitgehend abgearbeitet – zu sprechen kam, wählte sie mit Blick auf die gewaltigen Pflegeleistungen, die in den Familien von Angehörigen erbracht werden, die Formulierung: „Sie sind die stillen Helden unserer Gesellschaft.“ Die Titulierung „stille Helden“ ist höchst verräterisch, denn die Bereitschaft zum stillen Heldinnentum gehört mit zu dem Fundament, aus dem sich der in Deutschland vergleichsweise geringe Professionalisierungsgrad der gesellschaftlich notwendigen Care-Arbeit speist. Um es mit Bertolt Brecht zu sagen: „Glücklich das Land, das keine Helden nötig hat.“(2) Die nordischen Länder haben keine Heldinnen (mehr) nötig. Schon ab den 60er Jahren begehrten die dortigen Frauen erfolgreich auf gegen eine Geschlechterordnung, die ihnen die ökonomische Selbständigkeit verwehrt, um der nicht nur, aber vorrangig von Frauen unentgeltlich oder mit schlechter Bezahlung geleisteten Sorgearbeit dann rein symbolisch den Heldenstatus zu verleihen. Frauenaffine Berufe der Erziehung, Pflege und Betreuung wurden erfolgreich aufgewertet. Heute sind es „normale“ Berufe, angesiedelt vorrangig im öffentlichen Dienst, die – anders als 1.1 Geschlechterrollen und die Wertigkeit von sozialer Arbeit In traditionellen Gesellschaften ist die Pflege und Umsorgung unterstützungsbedürftiger, in der Regel älterer Menschen Privatsache. Zuständig ist die eigene Familie. Im engen Sinne meint dies die Kernfamilie, im erweiterten Sinne den Familienclan, und zwar jeweils deren weibliche Mitglieder. Zur Begründung wird rekurriert auf eine vermeintlich naturgegebene Ordnung der Geschlechter. Demnach ist die unentgeltliche Erbringung von Care-Leistungen für zunächst die eigenen Kinder, dann die Eltern und/oder Schwiegereltern Teil weiblicher Geschlechtsidentität, während umgekehrt dem Mann die Ernährerrolle zugewiesen wird. Die Dichotomisierung der Geschlechterrollen dient der Schaffung und Reproduktion hierarchischer Geschlechterverhältnisse. Dies auch dort noch, wo Frauen zu Bildung und Ausbildung in gleicher Weise Zugang haben wie Männer. Wenn sie dann nämlich zunächst wegen der Kinderbetreuung und dann der Pflege von Angehörigen ihren Beruf entweder ganz aufgeben oder beruflich immer wieder zurückstecken, haben sie kaum Chancen auf beruflichen Aufstieg. Sie stehen in der Gefahr, nicht nur auf Karriere, sondern auch auf die Erlangung ökonomischer Selbständigkeit zu verzichten. Damit aber verbleibt zwischen den Geschlechtern ein Machtgefälle. Es mit Bezug auf „Natur“ oder „Gott“ zu rechtfertigen, erfüllt einen klaren Zweck: Mögliche Veränderungen sollen dem menschlichen Handlungsspielraum entzogen werden. 1. Konträre Systemwelten -33- In den hochentwickelten Industrieländern wird zur Legitimierung von Ungleichheit kaum noch auf „Gott“ oder die „Natur“ rekurriert. In langen sozialen Kämpfen haben Frauen die Durchsetzung formal gleicher Rechte erstritten. Heute ist breit akzeptiert, dass Frauen und Männer gleiche Rechte haben, auch gleiche Teilhaberechte am Erwerbsleben. Zwischen der verfassungsrechtlichen Verankerung einer Norm und ihrer realen Durchsetzung muss jedoch klar unterschieden werden. „Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin“, heißt es in Artikel 3, Abs. 2 des Grundgesetzes. Proklamiert wird hier nicht nur die Gleichberechtigung als Norm, sondern es wird zugleich anerkannt, dass die gesellschaftliche Realität in Deutschland von der tatsächlichen Gleichberechtigung noch ein gutes Stück entfernt ist. Die Beseitigung der Kluft zwischen Norm und Realität wird zum staatlichen Auftrag erklärt. Wie schwer es der Politik fällt, diesen Auftrag anzunehmen, macht das Feld der sozialen Arbeit nur allzu deutlich. Subtil bestehen hier die Mechanismen fort, über die sich Geschlechterungleichheiten reproduzieren. Soziale Arbeit ist ein Feld, das für den Erhalt einer Gesellschaft höchst bedeutsam, ja unverzichtbar ist. Gleiches kann von vielen anderen Tätigkeiten, etwa im Marketing oder der Finanz- und Versicherungsbranche nicht gesagt werden. Gleichwohl werden die, die in sozialen Berufen tätig sind, unterdurchschnittlich, die Beschäftigten des Finanz- und Versicherungsgewerbes dagegen überdurchschnittlich bezahlt. Knappheit als Begründung scheidet aus, denn ein Mangel herrscht gegenwärtig eher bei ErzieherInnen und Pflegekräften K Politik Inklusion als bei Versicherungs- und Bankkaufleuten. Wenn in frauentypischen Berufen der sozialen Arbeit trotzdem weit schlechtere Einkommen erzielt werden als in Berufen, wo überwiegend Männer beschäftigt sind, so spiegelt sich hierin die Fortexistenz unterschiedlicher Wertzumessungen. Ungleichheiten in der Wertigkeit, die die Gesellschaft Frauen und Männern tatsächlich beimisst, werden auf die Berufswelt übertragen. 1.2 Grundideen und zentrale Systemmerkmale Das deutsche Pflegesystem basiert auf der Idee, dass die primäre Verantwortung für die Organisierung, die Finanzierung und in gewisser Weise auch die Leistungserbringung selbst der eigenen Familie zukommt. Die öffentlichen Leistungen sollen die Pflege durch Angehörige unterstützen und ergänzen. Dies mit Geldund Sachleistungen, seit 2015 auch mit Rechten auf die zeitweise Unterbrechung oder Reduktion eigener Erwerbstätigkeit. Als Mitte der 90er Jahre nach langer Diskussion als 5. Säule des Sozialversicherungssystems eine Pflegepflichtversicherung geschaffen wurde, ging es dieser Grundidee entsprechend nicht darum, die Langfristpflege zu einer öffentlichen Aufgabe mit umfassendem Leistungskatalog analog der Krankenversicherung zu machen. Die Pflegeversicherung war die Antwort auf ein eklatant gestiegenes Verarmungsrisiko der in Heimen lebenden Pflegebedürftigen. Rasant waren die Fallzahlen bei der kommunalen Sozialhilfeleistung „Hilfe zur Pflege“ gestiegen. Dieser Trend sollte dadurch gestoppt werden, dass an die Stelle von der Bedürftigkeitsprüfung unterliegenden Sozialhilfeleistungen Versicherungsleistungen treten. An der traditionellen Idee, dass die Pflegeverantwortung primär bei den Angehörigen liegt, wurde nicht gerüttelt. Die geschaffene Pflegepflichtversicherung – sie unterteilt sich in einen gesetzlichen und einen privaten Zweig – beinhaltet demgemäß auch keine Vollversicherung und Rechtsansprüche auf Leistungen bestehen nur dort, wo der Medizinische Dienst der Kassen (MDK) das Vorliegen erheblicher, schwerer und schwerster Pflegebedürftigkeit attestiert. Der familienbasierten deutschen Grundphilosophie stehen in den fünf nordisch-skandinavischen Ländern Systeme gegenüber, bei denen die Langfristpflege als öffentliche Aufgabe angesehen wird. Bei allen Unterschieden, die es im Detail gibt, (3) teilen sie eine gemeinsame Grundausrichtung: Man setzt bei der Pflege, Betreuung und praktischen Alltagsunterstützung von Senioren wie auch von anderen unterstützungsbedürftigen Menschen auf kommunale Infrastruktur und eine Vergemeinschaftung der Kosten. Es dominieren Sachleistungen gemäß individuellem Bedarf mit niedrigschwelligem Zugang. Ein gesetzlich fixierter Pflegebegriff, der die Leistungsgewährung an das Vorliegen erheblicher Pflegebedürftigkeit bindet, existiert nicht. Lediglich in Finnland gibt es Pflegestufen, die aber tief ansetzen (Mindestbedarf: ein Pflegediensteinsatz pro Woche) und bis zum 24-Stunden-Service reichen. Jeder Einwohner, jede Einwohnerin hat gegenüber der eigenen Kommune und dem Staat ein Anrecht auf die Unterstützungsdienste und sonstigen Leistungen, die persönlich benötigt werden, um ein hohes Maß an Selbständigkeit wie auch an gesellschaftlicher Teilhabe zu bewahren. Dies unabhängig von der Verfügbarkeit familiärer Ressourcen. Pflege und soziale Betreuung durch Angehörige und Freunde findet selbstverständlich auch hier statt. Weder rechtlich noch moralisch gibt es dazu aber irgendeine Verpflichtung. Die zentrale -34- Verantwortung liegt beim Staat, nicht bei der Familie. In Tabelle 1 habe ich die wesentlichen Merkmale der unterschiedlichen Systemtypen schematisch zusammengestellt. Zwar liegt hier wie dort ein Mischsystem aus öffentlichen und privaten, aus formellen und informellen Leistungen vor. Dies als Gemeinsamkeit anzusehen, ginge aber fehl, da die Systemlogiken konträr sind. In Deutschland haben öffentliche Leistungen eine Ergänzungsfunktion zur Pflege durch Angehörige und dem Einkauf von Leistungen am Markt; im Norden ist es umgekehrt. Dass Pflege in Deutschland weiterhin primär ein Privatgut ist, zeigt sich auch am Unterhaltsrecht. Dort, wo das eigene Einkommen und die Leistungen der Pflegeversicherung zusammen nicht ausreichen, um bei stationärer Versorgung die Heimkosten zu tragen, sind die Angehörigen, soweit leistungsfähig, zum Unterhalt verpflichtet. (4) Dies entfällt im Norden. Für die Finanzierung gilt als Grundregel: Nursing- und Care-Leistungen werden unabhängig vom Ort ihrer Erbringung (eigene Wohnung, Pflegewohnung, Heim) öffentlich finanziert, Wohn- und Verpflegungskosten allerdings sind aus der Rente zu bestreiten. Reicht diese nicht aus, übernimmt die Kommune die Differenz und zahlt zudem ein Taschengeld. Zentral ist das Prinzip der institutionellen Solidarität mit dem Staat als Anker. Es tritt an die Stelle subsidiärer Leistungserbringung mit Anker Familie und privaten Vorrangregeln bei professionellen Diensten. Politik Inklusion Tabelle 1: Systemmerkmale von deutschem und skandinavischem Pflegesystem im Vergleich. Merkmal Bezeichnung des Grundtyps Deutschland Familienbasiert-subsidiär Nordische Länder Staatsbasiert-universalistisch Dominante Leistungserbringung der häuslichen Pflege (Langfristpflege) Informell (Angehörige, ehrenamtlich Tätige) mit Unterstützung durch Pflegegelder; Recht auf Wahl professioneller Leistungen Private, zunehmend privat-gewerbliche Dienstleister Formell durch professionelle Träger auf Basis einer verlässlichen kommunalen Infrastruktur; ergänzende Rolle informeller Pflege Dominant kommunale Leistungserbringung; Versorgungsanteil privater Anbieter (Non-Profit und For-Profit) noch klein, aber wachsend Outcome-orientiert: Zielt auf Qualität und Leistungspakete gemäß dem Klientenbedarf Struktur der professionellen Leistungserbringer Steuerungslogik Finanzierung Input-Orientiert: Zielt auf die Geringhaltung der öffentlichen Ausgaben und die Schaffung hoher Hürden für Leistungsgewährungen Öffentliche Teilfinanzierung; Pflegeversicherung (beitragsfinanziert) ist keine Vollversicherung Personalschlüssel Überwiegend an Minutenpflege ausgerichtet; Standardisierung von Leistungen Arbeitsbedingungen bei professionellen Diensten Stark polarisiert; geringe Tarifbindung (Großteil des Bereichs der Altenhilfe und Langfristpflege bewegt sich im Niedriglohnsektor) Angehörige sind zum Unterhalt verpflichtet (Elternunterhalt nach § 1601 BGB); subsidiär greift die „Hilfe zur Pflege“ als kommunale Sozialhilfeleistung. Unterhaltsregelungen Quelle: Eigene Darstellung 1.3 Öffentliches Pflegesystem als wesentliche Säule des skandinavischen Wohlfahrtsregimes Hinter den konträren Grundideen stehen unterschiedliche Staats- und Gesellschaftsmodelle. Im Norden das Modell eines universalistischen Wohlfahrtsstaates, das auf direkten Beziehungen zwischen Staat und Individuen gründet. In Deutschland -35- Überwiegend öffentliche Bezahlung (steuerfinanziert); geringe (DK, SE, NO) bis mittlere (FI, IS) private Zuzahlungen Orientiert an der Erfüllung guter fachlicher Standards (hohe Bedeutung von Pflegewissenschaft) Wenig polarisiert; hohe Tarifbindung; geringer Anteil von Niedriglohnbeschäftigung Erwachsene Familienangehörige sind untereinander nicht (mehr) unterhaltspflichtig; Staat ist Adressat. das Modell eines gegenüber der Gesellschaft nur subsidiär tätigen Staates, der den Finanzrahmen festlegt, innerhalb dessen ein System der Selbstverwaltung von Kosten- K Politik Inklusion trägern und Leistungserbringern mit der gesamtgesellschaftlichen Aufgabe betreut ist, die in Gesetzen und Verordnungen niedergelegten Rechtsvorschriften zur Ausführung zu bringen. Das im Norden andere Staatsverständnis hängt eng mit dem zusammen, was unter dem Stichwort „Varieties-of-Capitalism“ diskutiert wird. Die Grenzziehung zwischen dem Wirtschaftsbereich, der durch die Gesetze der kapitalistischen Marktökonomie bestimmt ist und dem Bereich, in dem auf Basis demokratischer Entscheidungen die Produktion von Gütern und Dienstleistungen nicht dem Renditeprinzip unterliegt, verläuft in Skandinavien anders als in Deutschland. Mit Anteilen von mehr als einem Viertel der Erwerbstätigen erreicht die Sphäre öffentlich organisierter Produktion kritische Schwellenwerte, was einerseits die Einflusszone der kapitalistischen Logik begrenzt, zugleich aber auch einen Beitrag zur Geschlechtergleichstellung leistet. In Deutschland stellte der Staat als Arbeitgeber (öffentlicher Dienst und staatliche Unternehmen) vor dem Eintritt in die neoliberale Phase zwar auch Anteile von gut einem Fünftel. Durch die ab den 80er Jahren verfolgte Privatisierungspolitik wurde die staatliche Leistungserbringung aber soweit abgebaut, dass 2014 nur noch rd. 11 Prozent der Erwerbstätigen (4,65 Mio.) im öffentlichen Dienst beschäftigt waren (incl. öffentlicher Unternehmen: 14 - 15 Prozent). Im skandinavischen Raum ist die neoliberale Phase zwar auch durch Unternehmensprivatisierungen und eine Stärkung des Gewichts von Marktkräften geprägt. Gegenläufige Prozesse, im Besonderen ist hier der Ausbau sozialer Dienste angesprochen, sorgten jedoch dafür, dass auch dem Staat bei der Schaffung von Arbeitsplätzen weiter eine aktive Rolle zukam. Dies am stärksten ausgeprägt in Norwegen und Dänemark, wo der öffentliche Sektor weiter wuchs und heute (2013/2014) für mehr als ein Drittel der Beschäftigung steht, während er umgekehrt in Schweden bei 1,5 Mio. Beschäftigten quasi eingefroren wurde, womit sein Beschäftigungsanteil sukzessive auf jetzt noch rd. 28 Prozent absank (5). Die hohe Bedeutung, die soziale Dienste von der Wiege bis zur Bahre im skandinavischen Raum haben, kommt Frauen aufgrund der Konzentration entsprechender Berufe im öffentlichen Sektor in besonderer Weise zugute. Die Kämpfe für eine Verschiebung der geschlechtsspezifisch zwischen privater Häuslichkeit und der Sphäre des Öffentlichen gezogenen Grenzen mündeten in die Ausprägung eines frauenfreundlichen Wohlfahrtstaates. „Reproduction goes public“ war das Stichwort, unter dem seit den 60er Jahren bei der Kinderbetreuung wie auch der „Altenumsorgung“ (schwedisch: Äldreomsorg) eine Defamiliarisierungsstrategie verfolgt wurde. Teile der bislang familiär erbrachten Erziehungs- und Sorgearbeit wurden auf den Staat übertragen mit Leistungserbringung durch kommunale Einrichtungen (6). Mit der Etablierung einer öffentlichen Care-Infrastruktur verfolgten die nordischen Länder mehrere Ziele. Im Vordergrund standen die Beförderung der Geschlechtergleichstellung in der Arbeitswelt und die bessere Vereinbarkeit von Familie resp. privaten Interessen mit beruflicher Tätigkeit. Dazu wurde die Professionalisierung von Tätigkeiten der Erziehung, sozialen Betreuung, Pflege und Umsorgung auf den Weg gebracht mit Schaffung von CareArbeitsplätzen auf unterschiedlichen Qualifikationsniveaus. Die Pflege durchlief einen Prozess der HalbAkademisierung, womit sie sich ein eigenes wissenschaftliches Funda- -36- ment schuf und von der Unterordnung unter die Medizin emanzipierte, was wiederum, da sich Pflege und Medizin zunehmend auf Augenhöhe begegnen, den Weg freimachte für innovative Versorgungskonzepte. Eine parallele Entwicklung gab es in der alten BRD nicht, vielmehr wirkten und wirken hier Traditionslinien eines konservativen Gesellschaftsmodells fort, dessen Grundzüge bereits im 19 Jahrhundert ausgeprägt wurden und auf die später der Neoliberalismus gut aufsatteln konnte. Das Bild von der Familie als „Keimzelle des Staates“ wird heute zwar kaum noch bemüht, lebt in den Strukturen des deutschen Pflegesystems jedoch fort. In der Pflicht steht zunächst die eigene Familie. Auf sie folgt, anders als bei der Kinderbetreuung, dann kein öffentlich organisiertes Angebot, sondern ein Quasi-Markt und das Ehrenamt als Familienersatz. Erst am Ende der Kette kommt der Staat als Wächter und Ausfallbürge ins Spiel. Bei der Erbringung sozialer Dienste weist der konservative deutsche Sozialstaat den kirchlichen und sonstigen frei-gemeinnützigen Trägern eine Schlüsselstellung zu. Dies gilt für die Kinderbetreuung in gleicher Weise wie für die Altenpflege. Während es jedoch bei Kindertagesstätten auch aktuell noch eine gewisse Balance zwischen frei-gemeinnützigen und öffentlichen Trägerschaften gibt – rd. ein Drittel der ErzieherInnen sind bei kommunalen Arbeitgebern beschäftigt – haben sich Kommunen aus dem Bereich der Altenpflege weitgehend zurückgezogen. (7) Hintergrund ist, dass mit der Schaffung der Pflegeversicherung 1) der Grundsatz „privat, auch privat-gewerblich geht vor öffentlich“ durchgesetzt und diese neoliberale Verschärfung konservativer Subsidiaritätsvorstellungen 2) verknüpft wurde mit der Vermarktlichung von Leistungen bei gleichzeitiger Durch-Ökonomisierung über Politik Inklusion den Hebel eines äußerst restriktiv gestalteten öffentlichen Finanzrahmens. Politisch bezweckt und praktisch durchgesetzt hat sich ein ruinöser Kostensenkungswettbewerb, der die neu aufs Spielfeld getretenen gewerblichen Träger zu Gewinnern machte und macht. 1999 dominierten gewinnorientierte Träger bei ambulanten Diensten nur in 2 Bundesländern (Berlin und Hamburg), 2013 aber in 11 Bundesländern, darunter alle östlichen Bundesländer. Auch im stationären Bereich sind sie auf dem Vormarsch und dominieren bereits in 5 Bundesländern (SchleswigHolstein, Niedersachsen, Hessen, Hamburg, Berlin). Ein öffentliches Angebot existiert in vielen Gemeinden gar nicht mehr. Entfielen 1999 noch 11,2 Prozent der Heimplätze auf öffentliche Einrichtungen, waren es 2013 nur noch 5,8 Prozent. Auch in Thüringen hat sich das Gewicht der kommerziellen Anbieter verdoppelt (1999: 17,3%; 2013: 34,3%) und das der öffentlichen Träger halbiert (1999: 16,8%; 2013: 8%). Erläuterung zu Abb. 1: Eingeflossen sind bei Deutschland die Daten der Pflegestatistik von Ende 2013 (Statistisches Bundesamt 2015), bei den nordischen Ländern letztverfügbare Daten des Zeitraums 2012 – 2014, ergänzt um Schätzwerte (zur Angehörigenpflege etwa liegen für die nordischen Länder nur eingeschränkt Daten vor); eigene Darstellung. Prozesse der Vermarktlichung und der Privatisierung sind auch in den skandinavischen Ländern zu beobachten. Der Ausgangspunkt (kommunales Versorgungsmonopol) ist freilich ein anderer und das Voranschreiten (bislang) nicht flächendeckend. Privatisierungsvorreiter war Schweden, wo neoliberale Politik bereits Anfang der 90er Jahre eine Öffnung der Versorgung für auch renditeorientierte Akteure erzwang. Dies bei Kitas genauso wie bei der Umsorgung Älterer. Es folgte Finnland, dann (ab 2003) Dänemark und zuletzt (ab 2013) auch Norwegen. Mit dem Aufbrechen der Einheit von Finanzierung und Leistungserbringung werde die Leistungserbringung effizienter und transparenter, lautete das Versprechen. In Schweden, wo Privatisierung und Vermarktlichung am weitesten vorangetrieben wurde, sind die Ergebnisse bestenfalls ambivalent. Individuell gibt es nun mehr Wahlrechte, gesellschaftlich aber wuchs die soziale Segregation. Auch die Hoffnung auf dauerhafte Kostenersparnisse trog. Nur in der Anfangsphase gab es Einsparungen, die aber schnell durch die Kosten für Ausschreibungsverfahren und den nun erhöhten Kontroll- und Steuerungsaufwand aufgezehrt wurden. Aus kritischer Perspektive haben Privatisierung und Kommerzialisierung bereits ein bedenkliches Ausmaß erreicht. Gemessen an Deutschland gleichwohl ist der Kommerzialisierungsgrad noch gering (SE, FI) bis eher (DK) oder sehr gering (IS, NO). Abbildung 1 verdeutlicht dies. Die Systemprofile sind klar anders gerichtet. Wie ersichtlich neigt sich das skandinavische Durchschnittsprofil in Richtung formeller Pflege, die öffentlich finanziert und auch überwiegend öffentlich erbracht wird. Das Profil von Deutschland dagegen weist schon bei der Finanzierung eine eher schwache öffentliche Prägung aus; die Leistungserbringung wiederum erfolgt fast ausschließlich privat durch entweder Angehörige oder private, zunehmend privat-gewerbliche Dienstleister. 2. Alternde Gesellschaften - eine Herausforderung für Gesundheitsförderung und politisch gestaltete Teilhabe am Gemeindeleben In Skandinavien wie auch in Deutschland leben wir in einer alternden Gesellschaft. Tendenziell ist hier die Altersgruppe der über 65Jährigen stärker besetzt als die der unter 20-Jährigen, und gleichzeitig wächst der Anteil Hochaltriger an Abbildung 1: Systemprofile im Vergleich -37- K Politik Inklusion der Wohnbevölkerung zu einer relevanten Größe heran. Der Grad der Alterung freilich differiert. Während in Deutschland rd. 21 Prozent 65 Jahre und älter sind, liegt der Anteil der 65+-Bevölkerung in den nordischen Ländern bei geringeren 12 (Island) bis 19 Prozent (Finnland und Schweden). Nur in Finnland liegt ein mit Deutschland vergleichbarer Alterungsprozess vor; der Anteil der ab 75-Jährigen stieg von 1995 bis 2013 mit 45,6 Prozent ähnlich stark wie in Deutschland (+ 57,9%). Diesem Muster rascher Alterung stehen in Dänemark und Schweden geringe Anstiege des Bevölkerungsanteils der ab 75-Jährigen von 3 bis 4 Prozent sowie ein moderater Anstieg von 27 Prozent in Island gegenüber, während Norwegen sogar einen Rückgang (- 5,1%) verzeichnet. Die norwegische Gesellschaft folgt nur bedingt dem Muster einer alternden Gesellschaft; der Altersaufbau blieb während der zurückliegenden beiden Dekaden weitgehend stabil. (8) Die abgesehen von Finnland im Norden schwächer ausgeprägte Alterungstendenz gründet wesentlich auf einer langjährig höheren Geburtenrate. In den 80er Jahren sank die Geburtenrate zwar auch im Norden. Die breite Palette an Maßnahmen, mit denen der Staat auf einer verlässlichen Basis für Rahmenbedingungen sorgt, durch die Frauen wie Männer bei der Erziehung und Betreuung von Kindern wirksam unterstützt werden, haben jedoch für einen Wiederanstieg gesorgt. Nach Tiefpunkten in den 80er Jahren – die Geburtenrate sank auf Werte von 1,4 bis 1,5 Kindern pro Frau im gebärfähigen Alter – folgte in den 90er Jahren ein Anstieg auf Werte von 1,7 bis 1,9 Kindern. Deutschland umgekehrt blieb bei Geburtenraten von 1,3 bis 1,4 hängen. Zwar verzeichnet Deutschland im Zusammenhang mit der Einführung von Elterngeld und dem Ausbau der Kinderbetreuung neuerdings auch einen Anstieg auf über 1,4, vom skandinavischen Durchschnittsniveau, das in den 90er wie den Nuller Jahren bei jeweils knapp unter 1,9 lag, ist dies aber weit entfernt. (9) Aus dem Altern der Gesellschaft erwächst gleichermaßen für den konservativen deutschen Sozialstaat wie für die universalistische skandinavische Wohlfahrtsstaatlichkeit die Herausforderung, der stark wachsenden Gruppe von Älteren bis Hochaltrigen auf einer verlässlichen Grundlage die Pflege, soziale Betreuung und Alltagsunterstützung zukommen zu lassen, die individuell benötigt wird, um möglichst lange ein eigenständiges Leben in Würde und bei guter Gesundheit führen zu können. Während die skandinavischen Länder mit ihrer gut ausgebauten öffentlichen Infrastruktur bereits über Systeme verfügen, die nicht nur wenig abhängig sind von der Verfügbarkeit familiär-unentgeltlicher Ressourcen, sondern aufgrund des hohen Professionalisierungsgrades auch ausreichend Know-how binden, um die Inklusionsaufgabe, die sich aus der absolut starken Zunahme von Menschen mit kognitiven Störungen ergibt, gut angehen zu können, gilt Vergleichbares für Deutschland nicht. Da das deutsche System (vgl. Tab. 1) inputorientiert auf geringe öffentliche Ausgaben hin gesteuert ist, fehlen schon rein finanziell die Mittel, die für die Umsetzung anspruchsvoller pflegerischer Konzepte bei gleichzeitig ordentlichen Arbeitsbedingungen erforderlich wären. Auch die von starker Kommerzialisierung und Ökonomisierung geprägten Strukturen stehen integrierten pflegerischen Ansätzen entgegen. Nachfolgend will ich die Unterschiede aus der Perspektive unterstützungsbedürftiger älterer Menschen einer näheren Betrachtung unterzie- -38- hen. Ich starte mit der Frage, inwieweit den persönlichen Bedarfslagen tatsächlich Rechnung getragen wird, um dann den Bereich „Prävention, Gesunderhaltung und gesellschaftliche Teilhabe“ etwas auszuleuchten. In der geringen Präventionsorientierung und der Zerstückelung statt Bündelung von Leistungen liegt eine besondere Schwäche des deutschen Systems. Sie kommt in einer alternden Gesellschaft, wo es Menschen mit mehreren Einschränkungen gleichzeitig zu tun haben, zunehmend negativ zum Tragen. 2.1 Niedrigschwelliger Zugang und Ausrichtung am persönlichen Bedarf „Jeder hilfe- und pflegebedürftige Mensch hat das Recht auf eine an seinem persönlichen Bedarf ausgerichtete, gesundheitsfördernde und qualifizierte Pflege, Betreuung und Behandlung“ (Pflegecharta 2005, Artikel 4). Nicht nur die Pflegecharta von 2005, sondern auch die einschlägigen gesetzlichen Regelungen, vom Pflegeversicherungsrecht (SGB XI) bis zu den Heimgesetzen der Bundesländer proklamieren eine Leistungsgewährung gemäß persönlichem Bedarf. Dieses Leistungsversprechen bricht sich aber an den Regeln, nach denen das deutsche System der Langfristpflege tatsächlich funktioniert und auf die ich oben bereits eingegangen bin. Hiernach geht es darum, den Kreis der Leistungsempfänger möglichst gering und die bei Inanspruchnahme professioneller Pflege gewährten Leistungspakete in ein so enges Zeitkorsett zu pressen, dass mit geringen Vergütungen ein maximales Leistungsvolumen bewältigt werden kann. Der Geringhaltung des Kreises der nach dem Gesetz Leistungsberechtigten dient es zunächst einmal, dass die Pflegebedürftigkeit ein er- Politik Inklusion hebliches Ausmaß erreichen muss (täglicher Unterstützungsbedarf von mindestens 90 Minuten). Kleinere Bedarfe gehen leer aus. Dann kommt zum Tragen, dass das Raster, anhand dessen der tägliche Unterstützungsbedarf gemessen wird, eng auf körperliche Defizite zugeschnitten ist. Die Reduktion des Pflegebedarfs auf basale Grundfunktionen ermöglicht die Durchrationalisierung als Minutenpflege, was Marktfähigkeit bei geringen öffentlichen Ausgaben sichert. Am tatsächlichen Bedarf geht die Eingrenzung auf Hilfe bei Verrichtungen der Körperpflege, der Bewegung und der Nahrungsaufnahme in doppelter Hinsicht vorbei. Erstens, weil in der Konsequenz die mit dem demografischen Wandel wachsende Gruppe derjenigen ausgegrenzt bleibt, bei denen die Einschränkungen aus sozialer Isolation, beginnender Demenzerkrankung, gelegentlicher Altersverwirrtheit oder einer eingeschränkten Fähigkeit, den eigenen Alltag zu bewältigen, herrühren. Zweitens, weil unter den anerkannt Pflegebedürftigen die Gruppe derjenigen wächst, die zusätzlich zu den körperlichen Gebrechen auch noch kognitiv beeinträchtigt ist, ohne dass dies in der pflegerischen Arbeit im gebotenen Umfang berücksichtigt würde. Die Ausgrenzung findet sachlich keine Begründung. Seit längerem schon wird deshalb um eine Erweiterung des Pflegeverständnisses gerungen. Ein vom Bundesgesundheitsministerium 2006 eingesetzter Beirat legte 2007 einen Vorschlag für einen neuen Pflegebegriff und ein geändertes Begutachtungsinstrument vor. Als Maßstab der Pflegebedürftigkeit soll danach zukünftig die Selbständigkeit einer Person fungieren. Pflegebedürftig sind dann Menschen, „deren Selbständigkeit bei Aktivitäten im Lebensalltag, beim Umgang mit Krankheiten oder bei der Gestaltung wichtiger Lebensbereiche aus gesundheitlichen Gründen dauerhaft oder vorübergehend beeinträchtigt ist“. (10) Immer wieder, und zwar letztlich aus Kostengründen, haben Bundesregierungen unterschiedlicher politischer Couleur die Umsetzung verschleppt. Das Ende 2015 verabschiedete Zweite Pflegestärkungsgesetz (11) sieht nun vor (§ 17a), dass ab 2017 ein Pflegebedürftigkeitsbegriff zur Anwendung kommt, der die Selbständigkeit einer Person in den Mittelpunkt rückt; die Einstufung soll von 3 Pflegestufen auf dann 5 Pflegegrade erweitert werden. Ist diese Reform nun ein Meilenstein, mit dem das Ende der berüchtigten Minutenpflege eingeläutet wird? Keineswegs. Die Reform beendet die Diskriminierung der Menschen, die nicht wegen körperlicher Gebrechen, sondern wegen kognitiver Einschränkungen unterstützungs- Tabelle 2: Empfänger formaler Pflegeleistungen in % der gleichaltrigen Bevölkerung im deutsch-skandinavischen Vergleich 2013 DE DK FI IS NO SE Bevölkerung 65+ (1.1.2014): % der Wohnbevölkerung 20,8 18,2 19,4 13,2 15,9 19,4 Leistungsempfänger im Alter von 65+ (NO: 67+) an gleichaltriger Bevölkerung (%) Häuslich/ambulant 3,3 12,7 10,4 20,2 16 11,9 Institutionell/stationär 4,5 4,1 4,8 1) 5,7 5,7 Pflegequote insgesamt 7,8 16,8 2) 21,7 17,9 Leistungsempfänger im Alter von 75+ (IS und NO: 80+) an gleichaltriger Bevölkerung (%) Häuslich/ambulant 5,9 25,1 19,9 44,4 33,4 31,9 Institutionell/stationär 8,2 10,2 9,8 1) 13,8 17,3 Pflegequote insgesamt 14,1 35,3 2) 47,2 49,2 Legende: DE = Deutschland, DK = Dänemark; FI = Finnland; IS = Island, NO = Norwegen, SE = Schweden 1) Die isländischen Heimstatistik reicht nur bis 2010; daher keine Angabe. 2) In Finnland fehlt eine konsolidierte Gesamtstatistik. Daher sind hier nur die EmpfängerInnen von Home-Help-Leistungen erfasst; von der Angabe einer Gesamtpflegequote wird abgesehen. Quellen: Bevölkerungsdaten von Eurostat (Bevölkerung am 1. Januar nach Altersgruppe und Geschlecht [demo_pjanbroad]; Update vom 21.10.2015); Leistungsdaten: Nationale Statistikämter (vgl. bei Heintze 2015) -39- K Politik Inklusion bedürftig sind. Dies ist ein überfälliger Schritt. Schätzungen zufolge erweitert sich der Kreis der regulär Leistungsberechtigten in der Konsequenz um rd. 20 Prozent; statt 2,6 Mio. hätte es Ende 2013 3,1 Mio. Pflegebedürftige gegeben. Da es jedoch oberstes Ziel der deutschen Politik bleibt, den Beitragssatz zur Pflegeversicherung möglichst gering zu halten, hat sich die Große Koalition der Ausfinanzierung der Reform verweigert. Nur um magere 0,2 Prozentpunkte auf 2,55 Prozent steigt ab dem 1.1.2017 der Beitragssatz. Danach ist keinerlei Dynamisierung vorgesehen; der Beitragssatz soll bis zum Jahr 2022 stabil bleiben. Die Mini-Erhöhung bringt lediglich rd. 2,3 Mrd. Euro – viel zu wenig für eine gute Umsetzung. Wer nach altem Recht eingestuft ist, genießt zwar Bestandsschutz, braucht Leistungskürzungen also nicht zu fürchten. Unter denjenigen jedoch, die unter das künftig geänderte Begutachtungsverfahren fallen, wird es auch Verlierer geben, die sich mit dem neuen Recht schlechter stellen. Ganz zu schweigen von der Umsetzung pflegerischer Konzepte, die gleichermaßen an körperliche wie kognitive Einschränkungen adressiert sind. Mit der vorgesehenen Schaffung von 20.000 Stellen für Betreuungskräfte wird eine Scheinverbesserung auf den Weg gebracht. Vom ganzheitlich personenzentrierten Pflegeansatz droht Betreuung abgespalten und zu einer Aufgabe für Billigkräfte und freiwillig Tätige gemacht zu werden. Auch in den nordischen Ländern existieren Begutachtungsverfahren. Die dort von den Kommunen durchgeführten Pflege-Assessments folgen jedoch einer anderen Philosophie. Es geht darum, dem älteren Menschen die sozialen, alltagspraktischen und medizinisch-pflegerischen Hilfeleistungen zukommen zu lassen, die für die Gesunderhaltung und ein möglichst selbstbestimmtes Leben erforderlich sind. Leistungspakete von wöchentlich wenigen Stunden sind die Regel; ebenso möglich ist jedoch auch ein 24-Stunden-Service. Obwohl Multimorbidität bei Älteren – siehe Abbildung 2 – weniger verbreitet ist als in Deutschland, liegt der Prozentsatz Älterer, die formelle Leistungen erhalten, vielfach so hoch. Aktuell (Zeitraum 2012 – 2014) sind es im Schnitt mehr als 12 Prozent der ab 65-Jährigen verglichen mit 3,3 Prozent in Deutschland und mehr als 25 Prozent der ab 75-Jährigen verglichen mit knapp 6 Prozent in Deutschland, die permanente häusliche Unterstützung erhalten. Die institutionelle Versorgung in Heimen oder Pflegewohnungen kommt hinzu, lässt sich aber nicht immer klar trennen, weil Leistungen in sowohl Dänemark wie Schweden unabhängig von der Wohnform sind. Die höchste und seit mehr als einer Dekade unverändert hohe häusliche Versorgungsquote findet sich in Island. Ein stabiler Anteil von einem guten Fünftel der 65+-Bevölkerung und von etwas mehr als zwei Fünfteln der 80+-Bevölkerung erhält kommunale Home-Help-Leistungen. Am niedrigsten ist die Versorgungsquote in Finnland. Die im Norden höheren formellen Pflegequoten sind nicht nur die Kehrseite der geringeren Bedeutung familiärer Pflege, sondern resultieren auch aus den geringeren Zugangshürden und der stärkeren Integration von Einzelleistungen. Dem tatsächlichen Bedarf wird so besser Rechnung getragen. Phasen von eher restriktiver Leistungsgewährung gibt es auch hier; aktuell etwa in Dänemark, wo nach einem Höhepunkt in 2009/2010 die Quote der Leistungsbezieher deutlich sank. Im Großen und Ganzen freilich gilt: Pflege nach persönlichem Bedarf -40- wird nicht nur proklamiert, sondern in der Realität zur Wirkung gebracht. Dass die benötigten Care-Leistungen weitgehend kostenfrei sind und die Organisierung der Leistungen nicht an den Pflegebedürftigen resp. an deren Familien hängt, sichert dabei die Niedrigschwelligkeit des Zugangs. 2.2 Prävention, Gesunderhaltung und gesellschaftliche Teilhabe In einer alternden Gesellschaft geht es zunehmend nicht mehr um die reine Quantität der Jahre, die Menschen nach dem Erwerbsleben noch vor sich haben. Entscheidend ist, wie sich gesunde Lebensjahre und die Lebensjahre, die von chronischen Erkrankungen geprägt sind, zueinander verhalten. Davon nämlich hängt die Lebensqualität wesentlich ab. Medial begegnen wir dem Bild von den Senioren, die auch im hohen Alter noch körperlich und geistig fit sind. Ausgeprägt als Norm wird so die Vorstellung vom gesunden Altern. Mit gewissen Abstrichen bei Dänemark und Finnland trifft dies die Entwicklung in Skandinavien, nicht aber in Deutschland. Die von Eurostat für Frauen und Männer im Alter von 65 Jahren jährlich kalkulierten gesunden Lebensjahre (12) liefern ein besorgniserregendes Bild. Abbildung 2 macht dies deutlich. Sie stellt für Frauen wie Männer im Alter von 65 Jahren zu je zwei Zeitpunkten (2005 und 2013) die Aufteilung nach gesunden und multimorbiden Lebensjahren dar. Zunächst ist festzuhalten, dass die Lebenserwartung in allen Vergleichsländern gestiegen ist, und zwar bei Männern stärker als bei Frauen.(13) Diese übergreifende Gemeinsamkeit fußt bei der Gesunderhaltung jedoch auf gegenläufigen Prozessen. In Deutschland dominiert im Alter die Mehrfachbetroffenheit von chronischen Erkrankungen; weit weniger als die Hälfte der verblei- Politik Inklusion benden Lebensjahre entfällt auf gesunde Jahre. Im Zeitpunktvergleich ist das Gewicht gesunder Jahre bei beiden Geschlechtern zwar etwas gestiegen, erreicht 2013 bei Männern gleichwohl nur einen Anteil von 38,5% (2005: 37,9%) und bei Frauen von 33,3% (2005: 29,4%). Der realisierte Zuwachs an Lebensjahren basiert nur teilweise auf einem Anstieg der gesunden Lebensjahre. Abgesehen vom dänischen Sonderfall, wo ein Zurückbleiben der Lebenserwartung zusammentrifft mit einem zwar weiter hohen, aber rückläufigen Anteil gesunder Jahre, basiert in den vier anderen nordischen Ländern die Steigerung der Lebenserwartung primär auf der Expansion gesunder und der Kompression multimorbider Lebensjahre. Die Lebenserwartung der im Jahr 2013 65-jährigen Frauen lag um ein halbes Jahr höher als die der Frauen, die 2005 65 Jahre alt geworden waren. Gleichzeitig jedoch ist bei den gesunden Jahren ein Zuwachs von im Schnitt 2,6 Jahren zu registrieren. Bei den Männern zeigt sich der übergreifende Trend in Richtung einer gewissen Einebnung der Geschlechterdifferenzen darin, dass das Plus bei der Lebenserwartung mit 0,9 Jahren fast doppelt so hoch ausfällt wie bei den Frauen. Die Aufteilung nach gesunden und multimorbiden Jahren folgt aber dem gleichen Muster wie bei den Frauen. Der Zuwachs an gesunden Jahren fällt mit 2,4 Jahren mehr als doppelt so hoch aus wie der Zuwachs bei der Lebenserwartung insgesamt. In der Einzelbetrachtung liefern Island und Norwegen noch vor Schweden die besten Werte. Dies nicht nur im innerskandinavischen, sondern auch im breiten europäischen Vergleich. Unter 30 (31) europäischen Ländern belegten 2013 (2012) bezogen auf das Niveau gesunder Lebensjahre Island, Norwegen und Schweden sowohl bei Frauen wie bei Männern jeweils die ersten drei Plätze; Dänemark folgte 2013 bei den Frauen auf Platz vier und bei den Männern hinter Malta auf Platz 5, Finnland rangiert im Mittelfeld und Deutschland weit abgeschlagen unter eher den Schlusslichtern. Nur die osteuropäischen Länder schneiden noch schlechter ab. Der Befund wirft kritische Fragen auf, die 1) an das Gesundheitssystem und 2) an die Lebens- und Arbeitsbedingungen insgesamt zu adressieren sind. Wie wichtig die Lebens- und Arbeitsbedingungen sind, ergibt sich aus epidemiologischen Studien. Gerne wird die Steigerung der Lebenserwartung primär dem medizinischen Fortschritt zugeschrieben. Tatsächlich jedoch stieg die durchschnittliche Lebenserwartung bereits seit der Mitte des 19. Jahrhunderts und damit vor der Entwicklung der modernen Medizin. (14) Entscheidend war die soziale Entwicklung von der Abschaffung der Kinderarbeit, der Realisierung von Arbeitszeitverkürzungen und der Verbesserung der Wohnverhältnisse bis zur Entwicklung von Systemen sozialer Sicherung. Medizin also ist bedeutsam, liefert aber nur eine Teilerklärung. Abbildung 2: Lebenserwartung 65-Jähriger nach gesunden und multimorbiden Jahren 2005 und 2013 Legende: IS = Island; FI = Finnland; NO = Norwegen; SE = Schweden; DE = Deutschland; DK = Dänemark Quelle: Eurostat, Datenbestand „Gesunde Lebensjahre (ab 2004) [hlth_hlye]“; Update 13.05.2015 -41- K Politik Inklusion Das deutsche Gesundheitssystem ist weniger auf Gesundheit, als auf Krankheit hin orientiert. Es ist dort sehr leistungsfähig, wo es um die Akutversorgung von Kranken, um Hochleistungsmedizin und die Durchführung operativer Eingriffe geht, seien diese nun medizinisch angesagt oder nicht. Mit chronischen Erkrankungen angemessen umzugehen, zumal wenn mehrere zusammen kommen, gehört nicht zu den Stärken des deutschen Systems. Ebenso wenig die Prävention. In einer alternden Gesellschaft erwächst daraus ein Problem. Hier nämlich kommt es zu einer Verschiebung bei den Krankheitsbildern hin zu chronischen Erkrankungen wie Rheuma, Diabetes Typ II, Herz-Kreislauferkrankungen oder Demenz. Während es bei akuten Erkrankungen meist klare Ursachen gibt, basieren chronische Erkrankungen auf der Interaktion von anlagebedingt erhöhten Risiken mit ökosozialen Umweltbedingungen und individuell unterschiedlich gesunden Lebensstilen. Ehe chronische Erkrankungen manifest werden, vergehen Jahre und Jahrzehnte. Ziel vorausschauender Gesundheitspolitik muss es daher sein, auf der gesellschaftlichen wie der individuellen Ebene Risikofaktoren abzuschwächen und Schutzfaktoren so zu stärken, dass der Krankheitseintritt entweder vermieden oder zeitlich hinausgeschoben wird. Dass dies in den nordischen Ländern besser gelingt als in Deutschland ist offensichtlich. Die Gründe sind komplex und können hier nur grob angedeutet werden. Während in den skandinavischen Ländern die primäre medizinische Versorgung von Hausärzten (Dänemark und Norwegen) oder Gesundheitszentren (Finnland, Island, Schweden) geleistet wird und Ärzte, die auf Einzelorgane spezialisiert sind (Fachärzte), erst auf der sekundären Versorgungsebene zum Einsatz kommen, besteht in Deutschland eine doppelte Facharztschiene. Der angemessenen Versorgung von Menschen mit Mehrfacherkrankung ist dies wenig förderlich. Notwendig wären übergreifende Strategien, bei denen nicht die Einzelerkrankungen je isoliert behandelt werden, sondern der ganze Mensch in den Blick genommen wird. Damit dies gelingt, bedarf es integrierter Strukturen, die eine auf Jahre angelegte qualitätsgesicherte, multidisziplinäre und sektorenübergreifenden Behandlung nach dem jeweils neuesten Stand des medizinischen und pflegerischen Wissens ermöglichen. Derartige Strukturen hatte es in der untergegangenen DDR gegeben; im wiedervereinigten Deutschland gibt es sie bislang kaum. Die starke Ökonomisierung und Vermarktlichung des Gesundheitswesens verschärft das Problem. Sie belohnt nicht die Versorgung, mit der Patienten trotz Krankheit auf Dauer eine zufriedenstellende Lebensqualität erreichen können, sondern die Versorgung, die mit Blick auf den Absatz von Medikamenten, den Einsatz medizinischer Technik usw. finanziell lukrativ ist. Die öffentlichen Gesundheitsdienste der nordischen Länder haben bei der Hochleistungsmedizin vielleicht nicht das Niveau, das in Deutschland aus der engen Spezialisierung erwächst, sind im Umgang mit den sich ausbreitenden chronischen Krankheiten jedoch deutlich im Vorteil. Strukturen und Anreizmechanismen begünstigen multiprofessionelles Zusammenwirken. In Deutschland umgekehrt wird wirksame Kooperation durch institutionalisierte Sektorengrenzen und tradierte Berufsstrukturen behindert. Die starke Medizinlastigkeit kommt hinzu. Bis heute konnten sich pflegerische und therapeutische Berufe aus der subalternen Rolle, „Magd der Medizin“ zu sein, nicht wirklich eman- -42- zipieren. Demgegenüber erfuhren sie im skandinavischen Raum durch Prozesse der Akademisierung eine reale Aufwertung, die es ermöglicht, dass sich medizinische, pflegerische und therapeutische Fachkräfte auf Augenhöhe begegnen. „(1) Die Pflegekassen wirken bei den zuständigen Leistungsträgern darauf hin, daß frühzeitig alle geeigneten Leistungen der Prävention, der Krankenbehandlung und zur medizinischen Rehabilitation eingeleitet werden, um den Eintritt von Pflegebedürftigkeit zu vermeiden. (2) Die Leistungsträger haben im Rahmen ihres Leistungsrechts auch nach Eintritt der Pflegebedürftigkeit ihre Leistungen zur medizinischen Rehabilitation und ergänzenden Leistungen in vollem Umfang einzusetzen und darauf hinzuwirken, die Pflegebedürftigkeit zu überwinden, zu mindern sowie eine Verschlimmerung zu verhindern.“ (SGB XI, § 5 i. d. F. vom 15.7.2013) Vordergründig werden Prävention (15), Gesunderhaltung und gesellschaftliche Teilhabe in Deutschland sehr groß geschrieben. Im Pflegeversicherungsrecht gilt der Vorrang von Prävention und Rehabilitation schon lange und die Gesetze, die in den letzten Jahren in den Bundesländern an die Stelle der alten Heimgesetze traten, sehen sich durchweg der Stärkung gesellschaftlicher Teilhabe verpflichtet. So auch das Thüringer Wohn- und Teilhabegesetz vom 10. Juni 2014. Erneut jedoch ergibt die nähere Analyse, dass es nicht entscheidend ist, welchen Zweck und welche Ziele ein Gesetz proklamiert, sondern ob der für die Umsetzung gewählte Weg geeignet ist, die Ziele in der Breite tatsächlich zu erreichen. Betrachten wir zunächst den gesetzlich normierten Präventionsvorrang. In der Praxis geht er weitgehend ins Leere. Dafür gibt es ineinander grei- Politik Inklusion fende Gründe. In Heimen z.B. sind rd. zwei Drittel der BewohnerInnen dementiell erkrankt. Soweit sie sich noch gut selbständig bewegen können, wollen sie ihren Bewegungsdrang auch ausleben und benötigen entsprechend mehr Aufmerksamkeit, damit personelle Zuwendung als diejenigen, die in ihrer Mobilität so eingeschränkt sind, dass sie fast nur herumsitzen. In den meisten Heimen reicht das Personal aber ohnehin nur für das Nötigste. Reserven für ein Mehr an personeller Zuwendung gibt die Personaldecke nicht her, womit auch das Interesse der Heimbetreiber an einer Verbesserung der Mobilität der HeimbewohnerInnen beschränkt bleibt. Die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen wiederum haben in die Finanzierung der Heimunterbringung die Mittel, die ihnen für eine bestimmte Pflegestufe zustehen, fest eingeplant; eine niedrigere Einstufung wollen sie vermeiden, weil dies weniger Geld von der Pflegekasse bedeuten würde. Die Pflegekassen schließlich sind selbst gar nicht Träger präventiver und rehabilitativer Maßnahmen. Zuständig sind bei den nicht mehr Erwerbstätigen die Krankenkassen. Diese aber haben kaum einen ökonomischen Anreiz, denn sie müssten mit Ausgaben in Vorleistung gehen, deren Nutzen dann bei den Pflegekassen anfiele. Nur in der stationären Versorgung werden folglich überhaupt gewisse präventive Ausgaben getätigt. Im Vergleich mit dem, was im Norden investiert wird, fallen sie mehr als kümmerlich aus. Auf Einwohner bezogen sind es seit Jahren nur um die 6 Euro (2007: 6,2 Euro; 2012: 6,4 Euro) verglichen mit umgerechnet über 100 Euro in Dänemark oder Norwegen. Prävention ergo findet im deutschen System bestenfalls punktuell, keinesfalls aber systematisch statt. In Skandinavien dagegen ist der Ausbau von Maßnahmen der Aktivierung und Prävention so vorangekommen, dass es nahe liegt, ein systematisches Vorgehen anzunehmen. Die Kommunen haben ihre Ausgaben für präventive und aktivierende Maßnahmen in den letzten Jahren enorm gesteigert und im Gegenzug teilweise die Ausgaben für die Langfristversorgung gedämpft. So Dänemark. Während die kommunalen Ausgaben für Care-Dienste von 2007 bis 2014 nominal nur um 11,5 Prozent stiegen, verdreifachten sich die Ausgaben für „Preventive effort for the elderly and handicapped“ von 2,3 Mio. DKK auf 7,1 Mio. DKK. Auf Euro umgerechnet wurden 2007 je Einwohner 57 Euro (65+EW: 374 Euro), 2013 aber 153 Euro (65+-EW: 857 Euro) eingesetzt. In Skandinavien rechnet es sich für die Kommunen, wenn sie in die Erhaltung und Wiederherstellung guter Gesundheit investieren, denn den Mehrausgaben für Prävention stehen – zeitlich versetzt – Einsparungen bei der Krankenversorgung und Langfristpflege gegenüber. In Deutschland umgekehrt führt das Fehlen übergreifender Verantwortlichkeiten dazu, dass Prävention in der Breite keine Chance hat, solange die Politik davon absieht, klare Vorgaben zu machen. Dies versucht sie nun mit dem Präventionsgesetz vom 24. Juli 2015 (BGBl. I Nr. 31, S. 1368). Das Gesetz formuliert hohe Ansprüche, etwa durch Vorgaben für die Einbringung der Gesundheitsförderung in die Lebenswelten der Menschen, die Entwicklung einer Nationalen Präventionsstrategie und die Einrichtung einer Nationalen Präventionskonferenz. Allzu viel dürfen wir uns davon aber auch weiterhin nicht versprechen. Staatliche Interventionen für eine gesundheitsförderliche Arbeitswelt sind ebenso wenig vorgesehen wie eine angemessene Dotierung. Ein Fortschritt ist es, dass -43- die Pflegekassen bei der stationären Versorgung zu Trägern präventiver Maßnahmen werden mit der Vorgabe zusammenzuwirken und pro Versichertem im Jahr 2016 30 Cent einzusetzen. Bezogen auf die bei der Sozialen Pflegeversicherung im Jahr 2015 70,58 Mio. Versicherten steht damit ein Budget von gerade einmal 21,2 Mio. Euro zur Verfügung. Umgerechnet auf die Pflegebedürftigen, die stationär versorgt werden, sind dies jährlich pro Kopf knapp 28 Euro. Einerseits ist zu begrüßen, dass es nach Jahren bloßer Ankündigungen endlich ein Präventionsgesetz gibt, das den Bereich der Langfristpflege mit umfasst. Andererseits jedoch dürften sich die damit verknüpften Erwartungen kaum erfüllen. Dagegen steht erstens, dass die vorgesehenen Finanzierungsmittel eine auf nachhaltige Wirkungen hin angelegte Präventionsarbeit gar nicht erlauben. Dagegen stehen aber auch die gegebenen Wettbewerbsstrukturen und zersplitterten Verantwortlichkeiten. Der Unterschied zu den nordischen Ländern besteht eben nicht nur in den dort vielfach so hohen öffentlichen Ausgaben. Auch die Chance auf einen zielgerichteten Mitteleinsatz ist höher. In Deutschland tendieren die Krankenkassen schon jetzt dazu, Mittel der Gesundheitsförderung für Zwecke der Mitgliedergewinnung zu instrumentalisieren. Dies ist dem Wettbewerbsdruck, dem sie ausgesetzt sind, geschuldet. Versicherte, die sich ohnehin gesundheitsbewusst verhalten, profitieren davon am stärksten, während benachteiligte Gruppen kaum erreicht werden. Da weder an der Logik von untereinander im Wettbewerb stehender Kassen und Dienstleister noch an der Beschränkung der Rolle des Staates auf bloße Aktivierung gerüttelt wird, steht mehr als symbolische Präventionsarbeit mit K Politik Inklusion einigen Vorzeigeprojekten und einer Befeuerung kurzatmiger Kampagnen kaum auf der Tagesordnung. Für die im Norden besseren Ergebnisse ist die starke Stellung der Kommunen essentiell. Bei ihnen laufen – operativ gesehen – alle Fäden zusammen. Dies wirkt der Zerstückelung in marktfähige Einzelleistungen entgegen und begünstigt die Entwicklung einer integrativen Infrastruktur, die gleichermaßen der Versorgung unter Einschluss von Elementen der Aktivierung wie auch der Beförderung gesellschaftlicher Teilhabe dient. Diverse gesellschaftliche Akteure und ehrenamtlich Tätige kommen auch in Skandinavien ins Spiel, aber eben in Ergänzung und nicht an Stelle der professionell Tätigen. Demgegenüber kennzeichnet es das neoliberale Konzept des Gewährleistungsstaates, dass er sich aus der Leistungserbringung so weit wie möglich zurückzieht. Marktkräfte und ehrenamtlich Tätige sollen es richten. Der Unterschied zwischen aktivem und aktivierendem Sozialstaat, anders ausgedrückt: zwischen „Big Government“ und „Big Society“ prägt auch das Herangehen an die Stärkung gesellschaftlicher Teilhabe. Die Wohn- und Teilhabegesetze der deutschen Bundesländer benennen als einen Gesetzeszweck die Förderung der Selbständigkeit, Selbstbestimmung, Selbstverantwortung und gleichberechtigten Teilhabe am Leben in und an der Gesellschaft, (16) überlassen die Umsetzung aber Dritten. „Die Träger und Leitungen fördern und unterstützen die Bewohner bei deren Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft und der Gesellschaft durch die Einbeziehung von Angehörigen, Betreuern, sonstigen Vertrauenspersonen der Bewohner, bürgerschaftlich Engagierten und Institutionen der Gemeinde, des Sozialwesens, der Kultur, des Sports sowie der Kirchen und Religionsge- meinschaften“, heißt es dazu in § 8 des Thüringer Wohn- und Teilhabegesetzes. Für das, was an Förderung der Teilhabe in der Praxis konkret zustande kommt, ist niemand wirklich verantwortlich. Der Staat kann sich bequem darauf zurückziehen, dass sein Gesetz ja dem Teilhabegedanken Rechnung trage, indem es dazu Vorgaben mache. Die Heimträger können sich der planvollen Umsetzung verweigern mit Verweis auf ihre knappe eigene Personaldecke und die nicht ausreichende Verfügbarkeit zivilgesellschaftlicher Kräfte. Wo und wie die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft tatsächlich gefördert wird, bleibt dem gesellschaftlichen Selbstlauf überantwortet. Von ambitionierten Zielbeschreibungen dürfen wir uns also erneut nicht blenden lassen. Nüchtern auf den Punkt gebracht, stellen die Wohn- und Teilhabegesetze Ordnungsgesetze analog den alten Heimgesetzen dar. Der Unterschied ist in der Substanz weit geringer als es die Gesetzesformulierungen nahe legen. Im Kern nämlich geht es weniger um die Beförderung gesellschaftlicher Teilhabe als um Gefahrenabwehr. Die in den Einrichtungen betreuten Menschen sollen vor Gefahren an Leib und Leben geschützt werden. Wollte man die Teilhabe in und an der Gemeinschaft tatsächlich fördern, müsste man die Kommunen mit einer übergeordneten Steuerungskompetenz ausstatten und ihnen die zusätzlichen Finanzmittel an die Hand geben, die sie benötigen, um substantiell mit verlässlichen Strukturen und eigenem Personal ihrer Steuerungsverantwortung nachkommen zu können. Davon aber ist nichts zu sehen. Dass es in Deutschland um die gesellschaftliche Teilhabe von alten und hochbetagten Menschen nicht zum Besten steht, macht der hohe Prozentsatz deutlich, der bei Umfragen angibt, in seinen täglichen Aktivitä- -44- ten in einem gewissen Umfang oder stark beeinträchtigt zu sein. 2011 erreichte der Anteil in Deutschland bei den 65- bis 74-Jährigen 53 und bei den ab 75-Jährigen 72,1 Prozent. Fast drei von vier Menschen im Alter von 75+ sind in ihren Alltagsaktivitäten eingeschränkt, mehr als ein Viertel sogar stark. Abgesehen von Finnland liegen diese Anteile in den skandinavischen Ländern weit niedriger. Am besten schneidet unter 25 europäischen Vergleichsländern Norwegen ab, wo nur 20 Prozent der Älteren und 25 Prozent der Alten und Hochbetagten angeben, in ihren täglichen Aktivitäten leicht oder stark eingeschränkt zu sein. Die Plätze 2 bis 4 belegen Schweden, Dänemark und Island. (17) In dem guten Abschneiden der skandinavischen Länder kommt nicht nur, aber eben auch zum Tragen, dass staatliches Handeln aktiv auf Gesundheitsförderung und das Teilhaben am Leben der Gemeinschaft hinwirkt. Ein Instrument dazu sind in Dänemark die Präventiven Hausbesuche. Mehr als 100.000 derartiger Besuche führen die dänischen Kommunen jedes Jahr durch. Sie sind eine zentrale Säule des Altenhilfesystems. Seit 2002 ist der „Präventive Hausbesuch“ als kommunale Pflichtaufgabe einheitlich geregelt. Jeder Einwohner, jede Einwohnerin, der oder die ohne fremde Hilfe alleine lebt und das 75. Lebensjahr erreicht hat, erhält jährlich mindestens zwei Angebote für einen präventiven Hausbesuch. Die BürgerInnen können dazu Ja oder Nein sagen. Das Instrument zielt auf die Gesundheitsförderung und soziale Aktivierung der Senioren mit der Funktion, Prozessen der Vereinsamung älterer Menschen wirksam vorzubeugen. Entgegen der beliebten Selbstzuschreibung vom kleinen Dänemark, wo jeder jeden kennt, verlässt sich der dänische Wohlfahrtsstaat also gerade nicht Politik Inklusion Elvira Fischer (Seniorenbüro Wartburgkreis) und Joachim Lebens (Vorsitzender des Seniorenbeirates Bad Langensalza) auf dem Jahresseminar der Landesseniorenvertretung im November 2015 auf die gesellschaftliche Selbststeuerung über achtsame Nachbarschaft und freiwillig Tätige, sondern sichert auf dem Wege institutioneller Solidarität, dass auch wirklich niemand vergessen wird, egal wo er oder sie wohnt. Jeweils rd. ein Viertel bis ein Drittel der potentiellen NutzerInnen nimmt das Angebot wahr. Nach der Überführung in eine kommunale Pflichtaufgabe gingen die Zahlen zunächst nach oben, pendelten sich nach 2010 aber wieder auf dem Niveau von Ende der 90er Jahre ein. (18) Personalausstattung sowie das eng damit zusammenhängende Problem der Vermarktlichung und Ökonomisierung der Leistungserbringung wurde dabei aus der Perspektive seiner Folgen für die Erreichung der gesetzlich prokamierten Outcomeziele immer wieder angesprochen. Nachfolgend nun will ich auf das Niveau der öffentlichen Ausgaben etwas näher eingehen und abschließend beleuchten, wie es um die Beschäftigungsrelevanz der Langfristpflege und die Arbeitsbedingungen der dort professionell Beschäftigten bestellt ist. 3. Einsatz finanzieller und personeller Ressourcen 3.1. Qualität und flächendeckende Bedarfssicherung hat seinen Preis Im Vergleich wirtschaftsstarker Länder präsentiert sich Deutschland als der billige Jakob. Nicht nur die skandinavischen Länder, sondern eine beachtliche Zahl von Ländern aus Kontinentaleuropa sowie einzelne Länder aus dem angelsächsischen Raum investieren relativ zum Bevölkerungsanteil Älterer deutlich Bisher habe ich mich unter verschiedenen Perspektiven der Frage gewidmet, mit welchen Systemen der Langfristpflege wir es zu tun haben und was sie für ältere Menschen mit Unterstützungsbedarf tatsächlich leisten. Die in Deutschland unzureichende Finanz- und in der Folge -45- mehr an öffentlichen Mitteln, teilweise doppelt bis dreifach so viel. (19) Wie wenig der deutschen Politik verglichen mit Skandinavien die Langfristpflege wert ist, macht folgender Vergleich deutlich: 2013 lag der Anteil Älterer (65+) an der Wohnbevölkerung in Deutschland um fast ein Viertel (23%) über dem Durchschnitt der 5 nordisch-skandinavischen Länder, die öffentlichen Ausgaben in Prozent der Wirtschaftsleistung jedoch um mehr als 60 Prozent niedriger. Diverse Pflegereformen haben keinen Beitrag zur nachhaltigen Stärkung der Finanzausstattung geleistet. Oberstes Ziel blieb immer die Geringhaltung öffentlicher Ausgaben. Ihm wurde alles untergeordnet. In der Zeitspanne von 1999 bis 2013 erhöhte sich die Zahl der Leistungsempfänger um 30 Prozent von 2 Mio. auf 2,6 Mio. und gleichzeitig stieg auch die Zahl der Menschen, die von den Kommunen „Hilfe zur Pflege“ benötigen, weil sie weder aus eigenem Einkommen und Vermögen noch über die Heranziehung unterhaltspflichtiger Kinder die privat zu tragenden Pflegeausgaben finanzieren können, wieder stark an (+ 40 Prozent auf 444 Tsd. Personen im Jahr 2013). Trotzdem wurde der aus Beiträgen und einigen Steuermitteln verfügbare Finanzrahmen dem stetig wachsenden Bedarf nicht dynamisch angepasst. Dies nämlich hätte jährlich steigende Beitragssätze und/ oder einen Übergang zur verstärkten Steuerfinanzierung nach sich gezogen. Tatsächlich aber wurde der Beitragssatz nur wenig angehoben. 1996 lag er bei sehr niedrigen 1,7 Prozent, 2015 bei weiterhin niedrigen 2,35 Prozent. In der Konsequenz ging der BIP-Anteil, der in öffentliche Ausgaben fließt, zeitweise sogar zurück, um als Ergebnis vermeintlich großer Pflegereformen dann wieder auf rd. einen BIP-Prozentpunkt (20) anzusteigen. Unter diesen kümmer- K Politik Inklusion lichen Finanzierungsbedingungen lässt sich keine flächendeckend gute Dienstleistungsqualität mit auskömmlicher Personalausstattung realisieren und auch keine Aufwertung der Pflege mit ordentlicher Bezahlung der professionell Beschäftigten. Dass es bei entsprechendem Willen sehr wohl möglich ist, die Langfristpflege auf ein höheres Entwicklungsniveau zu heben, verdeutlicht Finnland. Das finnische System war in der Vergangenheit mehr an der Erfüllung pflegerischer Mindeststandards als daran orientiert, dem individuellen Bedarf Rechnung zu tragen. Nach langer Diskussion trat 2013 eine umfassende Pflegereform in Kraft. Im Kern zielt sie auf die strikte Umsetzung des Vorrangs der häuslichen Pflege mit Leistungsgewährung nach individuellem Bedarf; letzteres unter Einhaltung landesweit einheitlicher Qualitätsstandards (Näheres siehe bei Heintze 2015, S. 26f.). Die Neuausrichtung ist finanziell gut unterlegt: Von 1999 bis 2012/2013 stieg der öffentlich investierte BIP-Anteil von 1,4 auf 2,4 Prozentpunkte. Damit nun hat Finnland zu den skandinavischen Kernländern aufgeschlossen. 3.2 Langfristige Personalsicherung durch hohe Professionalität und gute Arbeitsbedingungen Sorgearbeit war immer eine Domäne von Frauen. Durch die teilweise Professionalisierung hat sich daran nichts geändert. Die Beschäftigten sind in der häuslichen wie in der institutionellen Langfristpflege zu mehr als 85 Prozent weiblich. Dies gilt für Deutschland wie die skandinavischen Länder. Die im Norden höhere gesellschaftliche Wertigkeit der ganz überwiegend von Frauen geleisteten Tätigkeit drückt sich hier aber gleichermaßen in einer besseren Personalausstattung wie auch besseren Bezahlung aus. Beides wirkt positiv auf die Arbeitsbedingungen und damit auch auf die Qualität der Dienste. Üppige Verdienstmöglichkeiten bietet die Pflegebranche auch in Skandinavien nicht. Immerhin aber werden ordentliche Gehälter gezahlt und es herrschen vergleichsweise gute Arbeitsbedingungen. Dazu gehört ein hoher Professionalisierungsgrad mit Vollzeit als Norm und existenzsichernden Löhnen. Die Unterschiede möchte ich anhand einiger Daten knapp einfangen. 1)Bessere Personalschlüssel und höhere Beschäftigungsrelevanz: Als Faustregel gilt, dass etwa dreifach so viel reguläres Personal im Einsatz ist. Auf 1000 Einwohner im Alter von 65+ – sie stellen über 80 Prozent der Klienten – kamen in Deutschland Ende 2013 (ohne Auszubildende) knapp 40 rechnerische Vollzeitkräfte gegenüber durchschnittlich rd. 120 in den nordischen Ländern. Im internationalen Vergleich sind dies Spitzenwerte, wobei Norwegen über die beste Personaldecke verfügt mit auch einem erheblichen Anteil an Pflegemigranten. Im Zeitraum von 2001 bis 2014 fanden aus dem europäischen Ausland mehr als 14 Tsd. examinierte „Nurses“ in Norwegen ihre Anerkennung, mehr als 90 Prozent davon kamen aus den anderen nordischen Ländern, Deutschland und dem Baltikum. (21) 2)Höhere Vollzeitbeschäftigungsquote: In Deutschland erzwang es die Durchökonomisierung der Pflege geradezu, dass Teilzeit zur Regel wurde, weil sich der Personaleinsatz so flexibel an den basalen Grundbedürfnissen ausrichten lässt. Dominierte 1999 in den Heimen die Vollzeitarbeit mit einem Anteil von knapp 52 Prozent, sank die Vollzeitquote bis -46- Ende 2013 auf unter ein Drittel (32,4%). Die Absenkung erfolgte stetig und kann als Gradmesser der Durchökonomisierung gewertet werden. Im ambulanten Bereich sank die Vollzeitquote deutlich unter 30 Prozent. In den nordischen Ländern umgekehrt ist Teilzeitarbeit der Tendenz nach in der Pflege nicht wesentlich stärker verbreitet als bei der Frauenbeschäftigung insgesamt. Auch gibt es keinen durchgängigen Trend weg von der Vollzeitarbeit. In Dänemark etwa lag auf die gesamte Care-Branche bezogen die Vollzeitquote 2009 bei 61,2 Prozent und 2012 bei 63,7 Prozent.(22) Damit lag sie gleichauf mit dem Anteil, den vollzeitbeschäftigte Frauen an den erwerbstätigen Frauen insgesamt stellen (2012: 63,6%). Ganz anders in Deutschland. Die Ende 2011 952 Tsd. Beschäftigten bei ambulanten und stationären Pflegediensten waren zu 70 Prozent teilzeitbeschäftigt gegenüber 45,6 Prozent Teilzeitbeschäftigung bei den erwerbstätigen Frauen insgesamt. (23) 3)Arbeitsbedingungen: Für den beschäftigungspolitischen Lowroad sind polarisierte Arbeitsbedingungen typisch. Eine tendenziell kleiner werdende Gruppe erfreut sich guter Arbeitsbedingungen, während umgekehrt die Gruppe wächst, die die eigenen Arbeitsbedingungen als eher schlecht oder schlecht empfindet. Für Deutschland belegen verschiedene Studien ein vergleichsweise geringes Maß an Zufriedenheit und in der Konsequenz eine hohe Neigung zum gänzlichen oder zumindest temporären Ausstieg aus dem Pflegeberuf. Die Kommerzialisierung der Pflege, die mit der Schaffung der Pflegeversicherung losgetreten Politik Inklusion wurde, hat sich auf die Arbeitsbedingungen negativ ausgewirkt. Altenpflege wurde zu einem Experimentierfeld für Niedriglohnbeschäftigung. Aktuelle Befragungen, etwa im Rahmen des DGB-Index „Gute Arbeit“ deuten auf eine weitere Zuspitzung. So stieg der Anteil derjenigen Pflegekräfte, die angeben, wegen der Belastungen in der Arbeit nicht bis zur Rente durchzuhalten, dramatisch von 50 Prozent im Jahr 2008 auf 75 Prozent im Jahr 2012. Den größten Leidensdruck bereitet der Mangel an Zeit, den die schmalen Personaldecken mit sich bringen. Pflegekräfte haben das Gefühl, am Limit zu arbeiten und aufgrund ökonomischen Drucks keine fachlich gute Arbeit abliefern zu können. 4)Gehälter: In den nordischen Ländern liegen die Verdienste der „Nurses“ oberhalb des Medianeinkommens. Wegen der HalbAkademisierung, die die Pflege im Norden durchlaufen hat, sind Fachkräfte nach skandinavischem System aber nicht direkt mit deutschen Pflegefachkräften vergleichbar. Der Tendenz nach vergleichbar sind die Assistenzkräfte; Die formale Qualifikation der Assistenzkräfte – sie erreichen 80 bis 90 Prozent des Durchschnittseinkommen - wiederum liegt unter dem Niveau deutscher AltenpflegerInnen. Am ehesten vergleichbar sind die Hilfskräfte; sie erreichen im Norden 75 bis 80 Prozent des Durchschnittseinkommens. In Deutschland ist das Lohnniveau niedrig und die Streuung erheblich. Die besten Verdienste erzielen die Pflegefachkräfte, die in der Hochleistungsmedizin als OP- oder Anästhesieschwester arbeiten. Schlusslicht ist die Altenpflege. Vollzeitbeschäftige Altenpfle- gefachkräfte kamen 2013 incl. aller Zulagen in Westdeutschland auf ein Bruttomonatsgehalt von 2.568 Euro und in Ostdeutschland von 1.945 Euro. (24) Dies bei einer Spannweite zwischen 2.725 Euro und 2.325 Euro in den alten und zwischen 1.994 Euro und 1.741 Euro in den neuen Bundesländern. Die PflegehelferInnen erzielten unter den westlichen Bundesländern in Nordrhein-Westfalen mit durchschnittlich 2.092 Euro den höchsten und in Niedersachsen mit durchschnittlich 1.625 Euro den niedrigsten Bruttomonatsverdienst; im Osten reichte die Spanne nur von 1.449 Euro in Brandenburg bis 1.396 Euro in Sachsen. In keinem einzigen Bundesland erreichen die Altenpflegefachkräfte (HelferInnen) auch nur 80 Prozent (60%) dessen, was durchschnittlich im Produzierenden Gewerbe und im Dienstleistungsbereich verdient wird. Mit 76,8 Prozent bei Fachkräften und 58,8 Prozent bei HelferInnen erzielen sie relativ die höchsten Werte im Saarland, gefolgt von Thüringen (71,2% resp. 51,9%) und Mecklenburg-Vorpommern (70,1% resp. 52%). Am größten ist der Abstand zum Bruttodurchschnittsverdienst in Hessen, gefolgt von Hamburg. Interessant ist Folgendes: Je höher in einem Bundesland der Anteil ist, der auf gewerbliche Leistungserbringung entfällt, umso größer der Verdienstrückstand. Die Bundesländer, wo nach Heimplätzen und ambulant versorgten Klienten die gewerbliche Leistungserbringung mit Anteilen von über 50 Prozent dominiert, bilden bei den Entgelten fast durchgängig die Schlusslichter. Hessen, Niedersachsen und Sachsen-Anhalt sind zu nennen. Umgekehrt weisen die -47- Bundesländer, wo die For-ProfitDienstleister die Marktführerschaft noch nicht übernehmen konnten, die geringsten Verdienstrückstände auf. Bei der Langfristpflege geht es um die Befriedigung eines öffentlichen Bedarfs. Welche Wertigkeit der Bedarf und damit auch pflegerische Berufe haben, obliegt demokratischen Aushandlungsprozessen. Die in Deutschland schlechte Personalausstattung mit überwiegend Teilzeitarbeit und mit Gehältern, die vielfach zum Leben nicht reichen und den Weg in die Altersarmut bahnen, ist nicht Folge einer unumstößlichen ökonomischen Logik, sondern Ergebnis einer bestimmten Politik. Regional sehr unterschiedlich ausgeprägt, bestehen schon heute personelle Engpässe. Sie sind hausgemacht und drohen sich in der Zukunft massiv zu verschärfen. Die Bertelsmann Stiftung erwartet in ihrem Ende 2012 vorgelegten PflegeReport 2030 einen bundesweiten „Pflegenotstand“ mit rund einer halben Million fehlender Vollzeitkräfte, wenn nicht massiv gegengesteuert wird. Dies obwohl mit besseren Personalschlüsseln in keinem Szenario, das der Report aufbietet, gerechnet wurde. (25) Fazit Deutschland und die nordisch-skandinavischen Länder unterscheiden sich bei den politisch proklamierten und gesetzlich normierten Zielen nicht wesentlich. Hier wie dort gilt der Vorrang von Prävention und Rehabilitation sowie der Vorrang der häuslichen (ambulanten) vor der institutionellen (stationären) Pflege. Hier wie dort auch besteht der Anspruch, die Leistungen so am persönlichen Bedarf auszurichten, dass Selbstbestimmung und Würde des unterstützungsbedürftigen Menschen gewahrt bleiben. Hier wie dort K Politik Inklusion schließlich soll die gesellschaftliche Teilhabe gefördert werden. Im Norden stützt das Ineinandergreifen von dominant öffentlichen Strukturen, die niedrigschwellig auf die Befriedigung individueller Hilfebedarfe hin angelegt sind mit einer Steuerung, die gute Arbeitsbedingungen als wesentlich für die angestrebte hohe Dienstleistungsqualität betrachtet und den öffentlichen Finanzrahmen daran ausrichtet die soziale Inklusion Hilfebedürftiger unabhängig von ihrem Einkommen und ihrer familiären Situation. Zwar ließ auch hier der Einzug von Wettbewerbselementen das auf Gewinnerzielung hin angelegte Privatsegment wachsen, von einer zu Deutschland gleich gelagerten Entwicklung kann jedoch (noch) keine Rede sein. Die prägende Rolle kommunal-integrativer Leistungserbringung steht außer Frage, damit auch die Fortexistenz hoch-zentralisierter Aushandlungsprozesse von Löhnen und Arbeitsbedingungen. Konträr dazu besteht in Deutschland eine erhebliche Kluft zwischen den proklamierten Outcomezielen und der Pflegerealität. Weder die Strukturen, noch die Steu- erung, noch die Finanzausstattung unterstützen die Zielerreichung. Chronische Unterfinanzierung, zu wenig Personal und die Zerstückelung von Verantwortlichkeiten zwischen untereinander je im Wettbewerb stehender Akteure bedingen, dass für den Outcome niemand wirklich verantwortlich ist. Damit aber fehlt es den gesetzlich normierten Qualitäts- und Teilhabezielen an Verbindlichkeit. Dies hat System. Die Kluft wird sich solange nicht schließen, wie die Politik davon absieht, für Strukturen und eine Finanzierung zu sorgen, durch die die Zielerreichung tatsächlich unterstützt wird. Dr. Cornelia Heintze (Foto Header) Verzeichnis der Literatur (1) Der Beitrag basiert auf einem Vortrag, den die Verfasserin am 30.09.2015 in Erfurt auf der Septembertagung „Sorgende Gemeinschaft“ des Landesseniorenrates Thüringen gehalten hat. Daten teilweise aktualisiert. (2) Aus: DERS.: Das Leben des Galilei (1939 im dänischen Asyl geschrieben). (3) Siehe im Einzelnen bei Heintze, Cornelia (2012, Update 2015): Pflege, Betreuung und Alltagsunterstützung älterer Menschen im deutsch-skandinavischen Vergleich, Expertise im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung, Kurzfassung in: WISO-Diskurs „Auf der Highroad – der skandinavische Weg zu einem zeitgemäßen Pflegesystem“, Bonn. (4) Unterhaltspflichtig sind Kinder in gerader Linie. Dabei steht ihnen vom bereinigten Nettoeinkommen, über das sie verfügen, ein Mindestselbstbehalt zu. Bei Alleinstehenden waren dies 2015 1.800 Euro/mtl., bei Paaren 3.240 Euro/mtl. Die Hälfte des darüber liegenden Einkommens kann vom Sozialamt als Elternunterhalt eingefordert werden. Dies dient der Refinanzierung der kommunalen Ausgaben für „Hilfe zur Pflege“, denn dort, wo Heimbewohner die Heimkosten nicht selbst tragen können, übernimmt die Kommune zunächst die Begleichung des Differenzbetrages, versucht diesen aber bei Angehörigen wieder einzutreiben. (5) Quellen: Amtliche Daten der nationalen Statistikämter (siehe bei Heintze 2013) sowie die ILO-Datenbank. -48- (6) Die Defamiliarisierungsstrategie findet ihren Niederschlag in den Gesetzen über soziale Dienste. Diese Gesetze folgen einer Lebenslauforientierung, die von der Wiege bis zur Bahre reicht. Näheres siehe bei Heintze, Cornelia (2013): Die Straße des Erfolgs: Rahmenbedingungen, Umfang und Finanzierung kommunaler Dienste im deutsch-skandinavischen Vergleich, Marburg (7) Dass die kommunale Beschäftigung nach Köpfen von 2,1 Mio. (1991/92) auf 1,4 Mio. (2013/2014) sank, ist nur folgerichtig, denn in nahezu allen öffentlichen Bedarfsfeldern erfolgte ein Rückzug aus der Eigenleistung. (8) Datenquelle: Eurostat, Bevölkerung am 1. Januar nach Altersgruppe und Geschlecht [demo_pjangroup]; Update vom 23.04.2015. (9) Datenquelle: OECD, Society at a Glance 2014, Indikator GE2.2 Trends in Total fertiliy since 1960. (10) Zit. nach: Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen 2009: Koordination und Integration - Gesundheitsversorgung in einer Gesellschaft des längeren Lebens, Sondergutachten (S. 482). (11) Zweites Gesetz zur Stärkung der pflegerischen Versorgung und zur Änderung weiterer Vorschriften (Zweites Pflegestärkungsgesetz) vom 21.12.2015 (BGBl. I S. 2424). (12) Grundlage ist die Datenbasis von EUSILC. Es gibt Daten zur Zeitspanne 1995 bis 2003 und Daten ab 2004 [Code: hlth_hlye_h]. (13) Im skandinavischen Durchschnitt stieg sie bei Männern von 17,2 auf 18,3 Jahre und bei Frauen von 20,5 auf 21,2 Jahre; in Deutschland verzeichneten Männer einen Zuwachs von 16,9 auf 18,2 Jahre und Frauen von 19,1 auf 20,4 Jahre. (14) Eine international vergleichende Studie, die die Entwicklung über 160 Jahre untersuchte, kam zu dem Ergebnis, dass die großen medizinischen Durchbrüche keine markanten Auswirkungen auf die Entwicklung der Lebenserwartung hatten. In den Ländern mit den jeweils besten Werten nahm die Lebenserwartung pro Dekade ziemlich konstant um 2,3 Jahre zu. Zitiert nach Weiland, Stephan et al. (2006): Zunahme der Lebenserwartung. Größenordnung, Determinante, Perspektiven, in: Deutsches Ärzteblatt, Jg. 103, H. 16, 21. April 2006, A1072ff. Politik Inklusion (15) Bei der Prävention muss zwischen primärer und sekundärer Prävention unterschieden werden. Bei der Primärprävention geht es darum, den Eintritt einer Erkrankung, die Pflegebedürftigkeit nach sich zieht, zu verhindern; bei der Sekundärprävention darum, das Voranschreiten der Beeinträchtigungen hinauszuzögern. (16) So die Formulierung im „Gesetz für unterstützende Wohnformen, Teilhabe und Pflege“ des Landes Baden-Württemberg vom 20. Mai 2014 (GBl. 2014, S. 241) (17) Quelle: OECD 2013, Health at a Glance, Daten zu Abb. 8.3.2. Limitations in daily activities, population aged 65-74 and 75 years and over, European countries, 2011. (18) Quelle: Statistics Denmark, Datenbestand mit Code AED10, Update 2015 (19) Ausgaben für Longterm Care (Gesundheits- und Sozialdienste). Vgl. OECD, Health at a Glance (fortlaufend). (20) Erfasst sind neben den Ausgaben der sogenannten „Sozialen Pflegeversicherung“ für Altersgruppen auch die steuerfinanzierten Ausgaben von Ländern und Kommunen. (21) Die entsprechende Datenbank findet sich unter dem: http://ec.europa.eu/ growth/tools-databases/regprof/ (22) Quelle: Statistics Denmark, Datenbestand “Employed salary earners by industry (DB07), scope, sector and time”. (23) Datenquelle zur Erwerbstätigkeit nach Geschlecht und Arbeitszeit: Eurostat, Datenbestand „Beschäftigung (hauptsächliche Angabe und Quote) - Jahresdurchschnitte [lfsi_emp_a]“; Update 15.01.2014. (24) Quellen: Amtliche Verdienststatistiken (Berufe, Sektoren, Wirtschaftszweige); eigene Auswertung. (25) Bertelsmann Stiftung (Hg.) (2012): Themenreport „Pflege 2030“ – Was ist zu erwarten? Was ist zu tun (Autoren: Heinz Rothgang/Rolf Müller/Rainer Unger). Cornelia Heintze (Dr. rer. pol) hat in den 80er Jahren an der FU Berlin Statistik unterrichtet und Lehrveranstaltungen zu u.a. Arbeitsmarkttheorien/Arbeitsmarktpolitik abgehalten. Sie war Wirtschaftsreferentin bei den Grünen, dann Referentin im Niedersachsen Finanzministerium, schließlich Stadtkämmerin in Delmenhorst mit Zuständigkeit auch für Liegen- schaften, Wohnungswesen, Stadtwerke/ÖPNV und Städtische Kliniken. Sie arbeitet heute freiberuflich als Beraterin mit Forschungstätigkeit im Bereich international vergleichender Wohlfahrtsforschung. Zur Umsetzung der UNBRK in Thüringen Die Landesregierung des Freistaates Thüringen engagiert sich in vielfältiger Art und Weise für die Erreichung der Zielstellung der Gewährleistung einer uneingeschränkten Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen in allen Lebens- und Gesellschaftsbereichen. Einen besonderen und sehr ausführlichen Ausdruck hat dieses Engagement im „Thüringer Maßnahmenplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention“ gefunden. Bevor in diesem Artikel auf die Entstehung, Umsetzung und Weiterentwicklung des Thüringer Maßnahmenplans eingegangen wird, zunächst eine kurze Erläuterung von Inklusion und der UN-Behindertenrechtskonvention. Der Gedanke der Inklusion Mit der Einführung des Begriffes der „Inklusion“ wurde ein Paradigmenwechsel markiert. Ziel ist nicht mehr die „Integration“ von Menschen mit Behinderungen in die sogenannte „normale“ Mehrheit. Die Gesellschaft ist stattdessen so zu gestalten, dass alle Menschen in ihrer eigenen Individualität am Leben in der Gemeinschaft teilhaben können. In diesem Sinne gilt es Separierungen zu überwinden, die Teilhabe für alle gleichberechtigt zu ermöglichen und Vielfalt wertzuschätzen. Eine Ausgrenzung aus einem ethnischen oder kulturellen Hintergrund, wegen der Angehörigkeit zu einer religiösen oder zu einer sexuellen Minderheit oder eben auf Grund einer Behin- -49- derung muss der Vergangenheit angehören. Die gemeinsame Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ist das zentrale Lebensprinzip einer vielfältigen und inklusiven Gemeinschaft. Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen als Grundlage des Paradigmenwechsels Der zentrale Leitgedanke der Inklusion ist Motor und Ausdruck des bereits angesprochenen und mit der UN-BRK maßgeblich beeinflussten Paradigmenwechsels in der Politik für Menschen mit Behinderungen. So stehen inzwischen nicht mehr der Fürsorgecharakter und die defizitorientierten Sichtweisen auf Menschen mit Behinderungen im Mittelpunkt der Betrachtung, sondern der Mensch mit seinen Fähigkeiten und Stärken, seinen Wünschen und Zielen. In Artikel 3 formuliert die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) dementsprechend auch die „volle und wirksame Partizipation und Inklusion“ von Menschen mit Behinderungen in allen Lebensbereichen als allgemeine Zielstellung. Die Generalversammlung der Vereinten Nationen hat den Text der UN-BRK und des zugehörigen Fakultativprotokolls am 13. Dezember 2006 angenommen. Dem voraus ging eine vierjährige Verhandlungszeit. Das Übereinkommen mit seiner Präambel und den 50 Artikeln ist am 03. Mai 2008, nachdem der zwanzigste Staat ratifiziert hat, in Kraft getreten. Den inhaltlichen Schwerpunkt der UN-BRK bilden die Artikel 1 bis 30. Im Allgemeinen Teil (Artikel 1 bis 9) werden Ziel, Definitionen und Grundsätze der Konvention behandelt. Im Besonderen Teil (Artikel 10 bis 30) werden die einzelnen Menschenrechte aufgeführt. Die UN-BRK stellt die Pflichten der Staaten heraus, die für Menschen mit Behinderungen K Politik Inklusion bestehenden Menschenrechte zu gewährleisten. In diesem Sinne werden keine Sonderrechte für Menschen mit Behinderungen geschaffen, sondern die bestehenden Menschenrechte für die Situation der Menschen mit Behinderungen konkretisiert. Deutschland hat das Übereinkommen und das Fakultativprotokoll als einer der ersten Staaten am 30. März 2007 unterzeichnet und am 24. Februar 2009 mit Hinterlegung der Ratifikationsurkunde in New York ratifiziert. Seit dem 26. März 2009 gelten die UN-BRK und das Zusatzprotokoll in der Bundesrepublik verbindlich. Die UN-BRK erhebt die Rechte von Menschen mit Behinderungen zur Grundlage und zum Maßstab politischen Handelns. Sie stellt den rechtlichen Rahmen der Behindertenpolitik in Deutschland für Gegenwart und Zukunft dar. Alle staatlichen Ebenen sind aufgefordert, die UNBRK schrittweise umzusetzen. Die UN-BRK ist Völkerrecht, genießt aber den Rang eines Bundesgesetzes und entfaltet Bindungswirkung für sämtliche staatliche Stellen. Der Freistaat Thüringen ist im Rahmen seiner Zuständigkeiten somit ebenfalls an die UN-BRK gebunden. Der Thüringer Maßnahmenplan zur Umsetzung der UN-BRK als Ausdruck des umfassenden Engagements der Landesregierung Die Entstehungsgeschichte Die Landesregierung wurde durch den Beschluss des Thüringer Landtages „UN-Konvention über die Rechte behinderter Menschen wirksam und zeitnah in Thüringen umsetzen – Maßnahmenplan und Berichterstattung gemeinsam mit Thüringer Akteuren entwickeln“ am 26. Februar 2010 aufgefordert, spezifische Maßnahmen zur Umsetzung der UN-BRK zu entwickeln. Vor diesem Hintergrund wurden im Ergebnis eines im Juni 2010 im Thüringer Landtag durchgeführten Fachforums ressortübergreifend neun Arbeitsgruppen eingerichtet, die sich schwerpunktmäßig mit den sich aus der UN-Konvention ergebenen Handlungsfeldern beschäftigten. Akteure der unterschiedlichsten Gesellschaftsbereiche waren aufgerufen, sich an der Erstellung entsprechender Maßnahmen zur Umsetzung der UN-BRK zu beteiligen. Im Ergebnis entstanden komplex besetzte Arbeitsgruppen, aus Vertreterinnen und Vertretern aller Ressorts, der Landtagsfraktionen, der entsprechenden Vereine und Verbände, der Wissenschaft sowie Institutionen der Wirtschaft und anderer gesellschaftlich relevanter Bereiche, die von der Umsetzung der UN-BRK tangiert werden. Die inhaltliche Arbeit erfolgte anschließend im Wesentlichen in den nachfolgend benannten neun Arbeitsgruppen: - Bildung und Ausbildung, Kinder mit Behinderungen, - Arbeit und Beschäftigung, - Bauen, Wohnen und Mobilität, - Kultur, Freizeit und Sport, - Gesundheit und Pflege, - Kommunikation und Information, - Schutz der Persönlichkeitsrechte, - Teilhabe am öffentlichen und politischen Leben, Bewusstseinsbildung, - Frauen mit Behinderungen. Um auch die übrige Zivilgesellschaft am Diskussions- und Entwicklungsprozess zu beteiligen und die notwendige Transparenz zu gewährleisten, wurden sämtliche Arbeitsgruppenergebnisse im Januar 2011 auf der Internetseite des Sozialministeriums bzw. des Landesbehindertenbeauftragten veröffentlicht. Gleichzeitig wurden die von den Arbeitsgruppen vorgeschlagenen -50- Maßnahmen auf einer zweiten Fachkonferenz „UN-Konvention über die Rechte behinderter Menschen wirksam und zeitnah in Thüringen umsetzen – Thüringer Gesetz zur Gleichstellung und Verbesserung der Integration von Menschen mit Behinderungen novellieren“ am 31. März 2011 im Thüringer Landtag vorgestellt und mit den sich für Menschen mit Behinderungen engagierenden Akteuren diskutiert. Im Anschluss bot sich im Rahmen einer ersten schriftlichen Anhörung der Vereine und Verbände zusätzlich die Möglichkeit, weitere Vorschläge und Anmerkungen mitzuteilen. Zeitgleich mit Durchführung der zweiten Fachkonferenz und der nachfolgenden Anhörung sowie zur Beschleunigung des Verfahrens fand eine erste Prüfung der Arbeitsgruppenergebnisse durch die Ressorts der Landesregierung statt, in deren Verlauf die einzelnen, von den Arbeitsgruppen vorgeschlagenen Maßnahmen auf ihre Realisierbarkeit sowie den Zeit- und Kostenrahmen hin überprüft und bewertet wurden. Die Ergebnisse der schriftlichen Anhörung der Vereine und Verbände wurden hierbei berücksichtigt. In Folge der im August 2011 abgeschlossenen Prüfung der Vorschläge durch die Ressorts wurde ein erster Entwurf des Thüringer Maßnahmenplanes zur Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen erarbeitet. Dieser wurde im Rahmen einer weiteren schriftlichen Anhörung der Vereine und Verbände nochmals zur Diskussion gestellt und nach Abstimmung mit den Ressorts der Landesregierung im April 2012 in das Thüringer Landeskabinett eingebracht. Nach über zwei Jahren intensiver Zusammenarbeit mit allen Beteiligten im Rahmen eines umfangreichen und partizipationsorientierten Verfahrens wurde der „Thüringer Politik Inklusion Maßnahmenplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention“ am 24. April 2012 durch das Landeskabinett verabschiedet und besitzt seitdem thüringenweit Geltung. Mit insgesamt 285 Maßnahmen stellt der Maßnahmenplan einen bedeutenden Schritt in der Geschichte der Politik für Menschen mit Behinderungen im Freistaat Thüringen dar. Die Zielstellungen und Schwerpunkte Vorrangige Ziele des Maßnahmenplans sind gemäß der Leitgedanken der UN-BRK die Förderung der Gleichstellung, Selbstbestimmung und gesellschaftlichen Teilhabe von Menschen mit Behinderungen sowie die Unterbindung benachteiligender oder diskriminierender Denk- und Handlungsstrukturen. Der Thüringer Maßnahmenplan weist dabei folgende inhaltliche Schwerpunkte auf: - Schaffung einer inklusiven Schulund Hochschulbildung, - verbesserte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am Ausbildungs- und Arbeitsmarkt, - freie Zugänglichkeit und Barrierefreiheit sowohl im Bau-, als auch Medienbereich, - verbesserter Zugang zu Angeboten des Sports, des Tourismus und des kulturellen Bereich, - Gesundheits- und Pflegesystem, das die Belange und Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen stärker als bisher berücksichtigt sowie - Beseitigung von Mehrfachdiskriminierungen und - Gewährleistung von wirksamen Schutzmaßnahmen gegen Gewalt insbesondere in Bezug auf Frauen mit Behinderungen. Die Umsetzung Die konkrete Realisierung der einzelnen, zum Teil überschaubaren, aber bisweilen auch sehr komplexen Einzelmaßnahmen erfolgt unter der Federführung der jeweils zuständigen Ressorts der Landesregierung. Um den Realisierungsprozess zielgerichtet begleiten und voranbringen zu können, besteht eine interministerielle Arbeitsgruppe. Diese Arbeitsgruppe ist überwiegend und ressortübergreifend mit den ehemaligen Cornelia Frohn, Frank Höfchen, Anke Günther, Ina Riehm (Referatsleiterin), Cornelia Schmidt, Mathias Funk, Arlette Überall, Daniel Eberhardt -51- Leiterinnen und Leitern der Arbeitsgruppen besetzt und wird durch Vertreter der übrigen Ressorts ergänzt. Die Gesamtkoordination übernimmt das Referat Behindertenpolitik im Thüringer Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie. Die Umsetzung, die Berichterstattung und die Weiterentwicklung des Maßnahmenplans werden an dieser Stelle koordiniert. Um diese Aufgabe wahrnehmen zu können, hat das Landeskabinett im August 2015 eine verbindliche jährliche Berichtspflicht aller Ressorts zum Umsetzungsstand der Einzelmaßnahmen beschlossen. Die geplanten Vorhaben – Evaluation und Fortschreibung Bereits zur Entstehung des Maßnahmenplans wurde die Aussage getroffen, dass dieser kein starres Gebilde ist, sondern einem Prozesscharakter unterliegt und somit ein dynamisches Konstrukt darstellt. Demgemäß können neue Maßnahmen hinzukommen, andere wegfallen oder Maßnahmen in ihrer Formulierung modifiziert werden – das heißt, der Maßnahmenplan muss entsprechend fortgeschrieben werden. Bevor allerdings ein umfassender und von Partizipation geprägter Fortschreibungsprozess begonnen wird, soll der aktuelle Maßnahmenplan zunächst von einem externen Experten evaluiert werden. Die Ergebnisse der externen und unabhängigen Evaluation sollen wichtige Rückschlüsse für die darauffolgende Fortschreibung des Maßnahmenplans liefern. Im Ergebnis einer öffentlichen Ausschreibung bezüglich der Durchführung der Evaluation zum Jahresende 2015 wurde im Januar 2016 das renommierte Deutsche Institut für Menschenrechte beauftragt. Bei dem Deutschen Institut für Menschenrechte handelt es sich um die unabhängige nationale Men- K Politik Inklusion schenrechtsinstitution Deutschlands. Die hier eingerichtete sogenannte „Monitoring-Stelle zur Umsetzung der UN-BRK“ besteht seit 2009 und basiert auf Artikel 33 Absatz 2 der UN-BRK. Sie hat das Mandat die Rechte von Menschen mit Behinderungen zu fördern und zu schützen. Vor diesem Hintergrund soll sie die Umsetzung der UN-BRK in Deutschland überwachen. Im Rahmen dieser Aufgabenwahrnehmung wurden bereits umfassende Erfahrungen in der Erstellung und Evaluierung von Maßnahmenplänen gesammelt. Die Ergebnisse der Evaluation des Thüringer Maßnahmenplans sollen im Rahmen einer öffentlichen Fachkonferenz im November 2016 vorgestellt werden. Zugleich soll diese Fachkonferenz der Beginn einer von Partizipation und Transparenz geprägten Fortschreibung des Maßnahmenplans sein. In langfristiger Vorbereitung des Fortschreibungsprozesses wurde Ende März 2016 ein Schreiben der Sozialministerin Heike Werner an einen ca. 250 Adressen umfassenden Verteiler der Zivilgesellschaft versandt (Fraktionen im Landtag, Kommunen, Vereine und Verbände, Wirtschaft, …). In diesem Schreiben wird über das geplante Vorgehen informiert und zur Beteiligung an der Fortschreibung aufgerufen. Interessierte Personen, die sich an der Fortschreibung des Maßnahmenplans beteiligen möchten, können sich an Herrn Daniel Eberhardt aus dem Referat Behindertenpolitik wenden (0361 – 3798 332; daniel.eberhardt@tmasgff.thueringen.de). Das Normenscreening Das Deutsche Institut für Menschenrechte wird entsprechend der Anforderungen der öffentlichen Ausschreibung neben der Evaluation des Maßnahmenplans ein weiteres Projekt mit Bezug zur UN-BRK durchführen. Es handelt sich um ein sogenanntes Normenscreening in Anlehnung an die Forderungen aus Artikel 4 Abs. 1 UN-BRK. In diesem auf zwei Jahre angelegte Verfahren werden 15 Thüringer Gesetze auf ihre Vereinbarkeit mit der UN-BRK geprüft, möglichen gesetzgeberischen Handlungsbedarf zu identifizieren. Im Prüfungsumfang befinden sich u.a.: - Thüringer Gesetz zur Gleichstellung und Verbesserung der Integration von Menschen mit Behinderungen, - Thüringer Schulgesetz, - Thüringer Gesetz zur Hilfe und Unterbringung psychisch Kranker, Der Thüringer Maßnahmen-Plan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention wurde 2012 verabschiedet. Er orientiert sich in seinen Intentionen, in seinen Grundsätzen und Leitlinien an der UN-Behindertenrechtskonvention. Anliegen ist der Aufbau einer inklusiven Gesellschaft, die Menschen mit Behinderungen neue -52- - Thüringer Wahlgesetz für den Landtag, - Thüringer Hochschulgesetz, - Thüringer Denkmalschutzgesetz, - Thüringer Gesetz über den öffentlichen Personennahverkehr, - Thüringer Bauordnung, - Thüringer Wohn- und Teilhabegesetz. Die Ergebnisse des Normenscreenings werden schrittweise im Rahmen von gutachterlichen Stellungnahmen vorgelegt. Referat 23 Referatsleiterin: Frau Riehm (98330) Bearbeiter: Herr Eberhardt (98332) Zugangschancen eröffnet und umfassende Teilhabe ermöglicht. Er fokussiert auf 9 Handlungsfelder: - Bildung und Ausbildung, - Arbeit und Beschäftigung, - Bauen, Wohnen und Mobilität, - Kultur, Freizeit und Sport, - Gesundheit und Pflege - Kommunikation und Information - Schutz der Menschenwürde und Persönlichkeitsrechte - Teilhabe am öffentlichen Leben und - Frauen mit Behinderungen. Für jeden dieser Bereiche werden Ziele und insgesamt 285 Maßnahmen aufgeführt. Der Maßnahmen-Plan, der im TMASGFF abgefordert werden kann, soll 2016 extern evaluiert werden. Verbände können sich an dieser Evaluierung beteiligen. Information Behinderung Behinderung in Deutschland und Thüringen Zum Begriff Behinderung und Schwerbehinderung Der Begriff Behinderung wird im deutschen Sozialrecht als Umschreibung für eine dauerhafte und gravierende Beeinträchtigung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Teilhabe bzw. Teilnahme einer Person gebraucht. Menschen gelten als behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist (Sozialgesetzbuch IX, § 2 Abs. 1). In einer einfachen Systematik lassen sich Behinderungen in folgende Bereiche kategorisieren: - körperliche Behinderung - Sinnesbehinderung (Blindheit, Gehörlosigkeit, Schwerhörigkeit, Taubblindheit, Geruchlosigkeit) - Sprachbehinderung - psychische (seelische) Behinderung - Lernbehinderung - geistige Behinderung Die Art der Behinderung wird in einer differenzierteren Systematik anhand von 55 Kategorien erfasst. Sie orientieren sich an der Erscheinungsform der Behinderung und der durch sie bestimmten Funktionseinschränkung. Schwerbehinderung Die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden als Grad der Behinderung (nach Zehnergraden von 20-100 abgestuft) festgestellt. Als schwerbehindert gelten Personen, denen von den Versorgungsämtern ein Grad der Behinderung von 50 oder mehr zu- erkannt worden ist. Die Kriterien für die Bestimmung des Grads der Behinderung werden in den aktuellen Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (Versorgungsmedizin-Verordnung – VersMedV) festgelegt. Grundlage für die Bewertung und Begutachtung von Behinderungen sind die sog. Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit. Sie dienen den versorgungsärztlichen Gutachtern als Richtlinie und Grundlage für eine sachgerechte, einwandfreie und bei gleichen Sachverhalten einheitliche Bewertung der verschiedensten Auswirkungen von Gesundheitsstörungen unter besonderer Berücksichtigung einer sachgerechten Relation untereinander. Siehe: http://www.bmas.de/SharedDocs/ Downloads/DE/PDF-Publikationen/k710v e r s o r g u n d s m e d - v e r o r d n u n g. p d f ? _ _ blob=publicationFile Die Versorgungsmedizinischen Grundsätze enthalten insbesondere: - Grundsätze zur versorgungsmedizinischen Bewertung von Schädigungsfolgen, - Grundsätze zur Feststellung des Grades der Schädigungsfolgen (GdS) sowie Kriterien zur Ermittlung des Gesamt-GdS, - Grundsätze für die Anerkennung einer Gesundheitsstörung nach § 1 Abs. 3 des Gesetzes über die Versorgung der Opfer des Krieges (BVG), - Kriterien für die Bewertung der Hilflosigkeit und der Stufen der Pflegezulage nach § 35 Abs. 1 BVG sowie - Nachteilsausgleiche nach Teil 2 SGB IX. -53- Siehe: http://www.bmas.de/SharedDocs/ Downloads/DE/PDF-Rundschreiben-SE/ Anhaltspunkte -aerztliche - Gutachtertaetigkeit.pdf;jsessionid=32780E6FA 3CBB91B0830D819F64BC601?__ blob=publicationFile&v=2 Statistische Angaben zum Themenfeld Behinderung Die Statistiken erfassen in der Regel nur Personen, die den rechtlichen Status eines Schwerbehinderten (Grad der Behinderung mindestens 50) und den damit verbundenen Schwerbehindertenausweis auf Antrag erhalten haben, nicht jedoch alle, die ihn beantragen könnten. Weil es keine „Meldepflicht“ für die- Information Behinderung se berechtigten Personen gibt, lässt sich die tatsächliche Zahl der behinderten Menschen im oben genannten Sinn nur schätzen, wobei man von 10 % der Gesamtbevölkerung ausgeht. Schwerbehinderte Menschen 2013: Männer Frauen 65 Jahre und älter 7.54 Mill. 51,0 % 49,0 % 54,2 % Schwerbehindertenquote 2013 bei 45- bis 54-Jährigen 6,8 % bei über 64-Jährigen 24,3 % Im Jahr 2013 lebten in Deutschland − auf Grundlage der Ergebnisse des Mikrozensus − 10,2 Millionen Menschen mit einer amtlich anerkannten Behinderung. Im Durchschnitt war somit gut jeder achte Einwohner (13 %) behindert. Der größte Teil, rund 7,5 Millionen Menschen, war schwerbehindert, 2,7 Millionen Menschen lebten mit einer leichteren Behinderung. Altersstruktur des Vorkommens von Behinderungen in Deutschland Geschlecht Alter/Jahre Insgesamt Männlich Weiblich 2009 7 101 682 3 658 107 3 443 575 nach Alter von ... bis unter ... Jahren unter 4 14 275 4 bis 6 14 336 6 bis 15 94 708 15 bis 18 38 250 18 bis 25 122 155 25 bis 35 210 081 35 bis 45 417 603 45 bis 55 874 509 55 bis 60 674 299 60 bis 62 331 822 62 bis 65 446 115 65 und mehr 3 863 529 nach Art der Behinderung Körperliche 4 517 807 Zerebrale Störungen, geistige- und / oder seelische 1 362 567 Sonstige und ungenügend bezeichnete 1 221 308 nach Ursache der Behinderung Angeborene 302 433 Allgemeine Krankheiten 5 830 578 Unfall, Berufskrankheit 146 582 Anerkannte Kriegs-, Wehr- oder Zivildienstbeschädigung 60 067 Sonstige 762 022 nach Grad der Behinderung 50 2 170 575 60 1 143 002 70 791 562 80 861 327 90 369 167 100 1 766 049 2011 2013 7 289 173 3 733 913 3 555 260 7 548 965 3 851 568 3 697 397 14 194 14 376 97 988 38 696 123 983 223 679 390 234 916 329 688 194 354 317 536 489 3 890 694 13 928 14 109 99 847 41 342 120 515 236 602 363 342 931 886 697 958 348 220 589 609 4 091 607 4 544 691 1 464 710 1 279 772 4 673 171 1 543 603 1 332 191 301 368 6 079 359 140 501 46 357 721 588 298 308 6 416 813 137 298 34 171 662 375 2 286 617 1 173 261 809 208 876 456 375 098 1 768 533 2 410 406 1 202 750 830 074 904 636 385 292 1 815 807 Quelle: Statistisches Bundesamt, https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Gesundheit/Behinderte/Tabellen/GeschlechtBehinderung.html -54- Information Behinderung Wie das Statistische Bundesamt (Destatis) weiter mitteilt, waren das mit Bezug auf Schwerbehinderung rund 260 000 oder 3,6 % mehr als am Jahresende 2011. 2013 waren somit 9,4 % der gesamten Bevölkerung in Deutschland schwerbehindert. Etwas mehr als die Hälfte (51 %) der Schwerbehinderten waren Männer, was auf eine gewisse Ungleichverteilung zwischen den Geschlechtern hinweist. Man kann davon ausgehen, dass Männer mehr Unfälle erleiden, Frauen hingegen im späten Alter auf Grund ihrer höheren Lebenserwartung mehr von Behinderung betroffen sind. Behinderungen treten vor allem bei älteren Menschen auf: So war nahezu ein Drittel (31 %) der schwerbehinderten Menschen 75 Jahre und älter; knapp die Hälfte (45 %) gehörte der Altersgruppe zwischen 55 und 75 Jahren an. 2 % waren Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. Schwerbehinderte Menschen mit Ausweis (absolut und je 100.000 Einwohner). Gliederungsmerkmale: Jahre, Region, Art der Behinderung, Grad der Behinderung Diese Tabelle bezieht sich auf: Jahr: 2011, Region: Deutschland, Sachverhalt: Schwerbehinderte Menschen absolut Art der Behinderung Alle Arten Verlust oder Teilverlust von Gliedmaßen Funktionseinschränkung von Gliedmaßen Funktionseinschränkung der Wirbelsäule und des Rumpfes, Deformierung des Brustkorbes Blindheit und Sehbehinderung Sprach- oder Sprechstörungen, Taubheit, Schwerhörigkeit, Gleichgewichtsstörungen Verlust einer Brust oder beider Brüste, Entstellungen u. a. Beeinträchtigung der Funktion von inneren Organen bzw. Organsystemen Querschnittlähmung, Zerebrale Störungen, Geistig-Seelische Behinderungen, Suchtkrankheiten Sonstige und ungenügend bezeichnete Behinderungen Grad der Behinderung insgesamt 50 60 70 80 90 7.289.173 2.286.617 1.173.261 809.208 876.456 375.098 64.332 11.989 7.511 9.289 9.742 5.900 100 1.768.533 19.901 976.663 327.830 199.627 136.258 112.772 55.246 144.930 867.029 399.675 176.420 103.908 74.156 33.618 79.252 350.655 49.985 28.623 28.374 28.534 23.532 191.607 305.135 80.502 48.807 42.087 37.866 18.979 76.894 179.391 69.459 38.932 15.979 22.991 6.967 25.063 1.806.355 579.734 309.704 196.513 242.233 95.558 382.613 1.459.841 366.238 170.818 138.685 191.130 68.285 524.685 1.279.772 401.205 192.819 138.115 157.032 67.013 323.588 Quelle: Statistisches Bundesamt -55- Information Behinderung Mit 85 % wurde der überwiegende Teil der Behinderungen durch eine Krankheit verursacht. 4 % der Behinderungen waren angeboren beziehungsweise traten im ersten Lebensjahr auf. 2 % waren auf einen Unfall oder eine Berufskrankheit zurückzuführen. Zwei von drei schwerbehinderten Menschen hatten körperliche Behinderungen (62 %). Bei 25 % waren die inneren Organe beziehungsweise Organsysteme betroffen. Bei 14 % waren Arme und Beine in ihrer Funktion eingeschränkt, bei weiteren 12 % Wirbelsäule und Rumpf. In 5 % der Fälle lag Blindheit beziehungsweise eine Sehbehinderung vor. 4 % litten unter Schwerhörigkeit, Gleich- gewichts- oder Sprachstörungen. Auf geistige oder seelische Behinderungen entfielen zusammen 11 % der Fälle, auf zerebrale Störungen 9 %. Bei den übrigen Personen (18 %) war die Art der schwersten Behinderung nicht ausgewiesen. Bei knapp einem Viertel der schwerbehinderten Menschen (24 %) war vom Versorgungsamt der höchste Grad der Behinderung von 100 festgestellt worden; 32 % wiesen einen Behinderungsgrad von 50 auf. Die Situation in Thüringen In Thüringen hatte Ende 2013 jeder 11. Thüringer einen Schwerbehindertenausweis, d. h., 92 von 1000 Einwohnern Thüringens waren zu die- sem Zeitpunkt schwerbehindert. Das entspricht einer Anzahl von 200.074 Menschen. Gegenüber dem Jahr 2011 gab es 6665 bzw. 3,4 % mehr registrierte schwerbehinderte Menschen in Thüringen. Das entspricht einem Trend, der seit Jahren nachweisbar ist. Während in Thüringen die Gesamtbevölkerung abnimmt, steigt die Anzahl von Menschen mit Behinderungen und Pflegebedarf, wobei es geschlechtsspezifische Unterschiede gibt. Während auf Grund ihres höheren Alters mehr Frauen pflegebedürftig sind, hatten in der Vergangenheit mehr Männer eine Behinderung. Erst in den letzten Jahren nivelliert sich mit Bezug auf Behinderungen der Unterschied zwischen den Geschlechtern. Schwerbehinderte Menschen mit Ausweis (absolut und je 100.000 Einwohner). Gliederungsmerkmale: Jahre, Deutschland, Geschlecht, Ursache der Behinderung, Grad der Behinderung Diese Tabelle bezieht sich auf: Jahr: 2011, Geschlecht: Beide Geschlechter, Sachverhalt: insgesamt Ursache der Behinderung Grad der Behinderung insgesamt Alle Ursachen 50 7.289.173 2.286.617 60 70 80 90 100 1.173.261 809.208 876.456 375.098 1.768.533 Angeborene Behinderung 301.368 38.521 19.733 18.995 37.936 9.955 176.228 Arbeitsunfall (einschl. Wege u. Betriebsunfall), Berufskrankheit 69.069 25.490 13.540 9.037 7.045 3.236 10.721 Verkehrsunfall 38.925 10.960 6.031 4.808 4.998 1.964 10.164 Häuslicher Unfall 7.332 2.754 1.166 750 722 272 1.668 Sonstiger oder nicht näher bezeichneter Unfall 25.175 8.620 3.962 2.970 2.605 1.133 5.885 Anerkannte Kriegs-, Wehrdienst- oder Zivildienstbeschädigung 46.357 9.538 6.606 6.125 6.189 3.948 13.951 Allgemeine Krankheit (einschl. Impfschaden) 6.079.359 1.957.566 1.006.078 683.667 728.985 315.296 1.387.767 Sonstige, mehrere oder ungenügend bezeichnete Ursachen 721.588 116.145 82.856 233.168 Quelle: Statistisches Bundesamt -56- 87.976 39.294 162.149 Information Behinderung 1995 Schwerbehinderte Menschen insgesamt männlich weiblich Menschen m. Pflegebedarf Bevölkerung Thüringen 1997 1999 2001 2003 2005 2007 2009 2011 2013 150 421 161 192 168 764 182 683 191 896 189 313 181 980 182 652 193 409 200 074 77 572 72 849 2.5 Mill. 82 324 78 868 2.48 Mill. 86 099 82 665 93 053 89 630 97 922 93 974 95 549 91 790 93 764 90 190 92 276 90 376 97 395 96 014 100 579 99 495 60 257 61 012 63 597 67 027 72 213 76 967 82 322 86 889 2.45 Mill. 2.4 Mill. 2.37 Mill. 2.33 Mill. 2.25 Mill. 2.18 Mill. 2.16 Mill. 2.29 Mill. Quelle: Datenquelle Statistisches Landesamt Thüringen, eigene Zusammenstellung Der Anstieg der Anzahl von Menschen mit Behinderungen liegt daran, dass die meisten Behinderungen durch Krankheiten verursacht werden, die für das Alter typisch sind. Man kann aufgrund der demografischen Entwicklung und der Alterung der Bevölkerung davon ausgehen, dass die Anzahl der Menschen mit schwerer Behinderung in den nächsten 30-40 Jahren weiter steigen wird, wobei sich durch präventive Sozial- und Gemeindearbeit, gesundheitsbewusstes Verhalten u. dgl. krankheitsbedingte Behinderungen durchaus auf ein späteres Lebensalter verschieben ließen. Fast die Hälfte, d. h. ca. 49% der schwerbehinderten Menschen in Thüringen waren älter als 65 Jahre, ca. 39% befanden sich im Alter von 45 bis unter 65 Jahren. Ursachen waren zu ca. 76% Krankheiten. Gebietsstand: 31.12.2013 Kreisfreie Stadt Landkreis Land Insgesamt un- 6 ter 6 15 Davon im Alter von ... bis unter ... Jahren 55 65 und 15 - 18 - 25 - 35 45 - 55 60 - 62 62 - 65 18 25 35 45 60 mehr Personen Stadt Erfurt 19 331 76 283 108 287 921 1 033 2 435 1 924 1 065 1 611 9 588 Stadt Gera 10 221 26 123 34 142 389 460 1 225 1 054 532 823 5 413 Stadt Jena 7 511 28 90 33 83 290 372 824 634 326 523 4 308 Stadt Suhl 4 212 9 37 14 41 106 167 477 364 227 412 2 358 Stadt Weimar 6 335 29 65 32 74 249 265 735 518 263 445 3 660 Stadt Eisenach 4 775 14 53 14 68 209 252 676 544 224 432 2 289 -57- Information Behinderung Kreisfreie Stadt Landkreis Land Insgesamt un- 6 ter 6 15 Davon im Alter von ... bis unter ... Jahren 15 - 18 - 25 - 35 55 65 und 45 - 55 60 - 62 62 - 65 18 25 35 45 60 mehr Personen Eichsfeld 10 091 34 135 38 165 389 490 1 347 1 127 604 1 030 4 732 Nordhausen 8 191 39 105 46 126 357 440 1 126 848 387 636 4 081 Wartburgkreis 11 217 32 115 31 139 407 535 1 496 1 310 691 1 198 5 263 Unstrut-Hainich-Kreis 9 491 32 135 57 155 432 545 1 318 1 113 566 891 4 247 Kyffhäuserkreis 7 800 22 80 26 108 331 356 1 082 885 491 707 3 712 Schmalkalden- 11 437 45 Meiningen 145 49 176 476 555 1 507 1 239 665 1 090 5 490 Gotha 13 002 34 157 64 206 489 663 1 749 1 451 750 1 265 6 174 Sömmerda 6 903 28 100 49 114 277 367 1 048 855 511 778 2 776 Hildburghausen 6 451 19 51 27 74 235 347 939 798 405 761 2 795 Ilm-Kreis 9 549 34 151 41 130 362 446 1 292 986 545 902 4 660 Weimarer Land 7 018 24 88 38 104 293 317 979 840 397 781 3 157 Sonneberg 6 250 10 54 20 71 231 311 890 807 446 727 2 683 Saalfeld-Rudolstad 10 026 42 101 29 167 413 505 1 269 1 047 546 869 5 038 Saale-Holzland-Kreis 6 459 28 71 34 89 237 365 883 727 354 552 3 119 Saale-OrlaKreis 6 752 17 85 31 128 291 404 898 714 400 609 3 175 Greiz 8 712 34 109 45 128 340 434 1 144 1 009 456 811 4 202 Altenburger Land 8 340 35 112 47 121 281 349 977 857 450 691 4 420 Thüringen 200 074 691 2 445 907 26 316 21 651 11 301 18 544 97 340 2 896 8 005 9 978 Quelle: Statistisches Landesamt Thüringen -58- Information Behinderung Gebietsstand Thüringen: 31.12.2013 Insgesamt Davon nach dem Grad der Behinderung Anzahl Anteil an den schwerbehinderten Menschen insgesamt 50 Personen % Personen Stadt Erfurt 19 331 9,7 6 037 Stadt Gera 10 221 5,1 Stadt Jena 7 511 Stadt Suhl Kreisfreie Stadt Landkreis Land 60 70 2 862 2 334 2 461 1 006 4 631 3 203 1 571 1 181 1 146 617 2 503 3,8 2 431 1 198 942 858 454 1 628 4 212 2,1 1 432 737 504 424 245 870 Stadt Weimar 6 335 3,2 1 875 944 743 788 340 1 645 Stadt Eisenach 4 775 2,4 1 401 736 585 549 248 1 256 Eichsfeld 10 091 5,0 3 331 1 687 1 280 1 158 511 2 124 Nordhausen 8 191 4,1 2 361 1 271 1 111 1 037 439 1 972 Wartburgkreis 11 217 5,6 3 730 1 910 1 264 1 203 548 2 562 Unstrut-Hainich-Kreis 9 491 4,7 3 121 1 499 1 155 1 131 397 2 188 Kyffhäuserkreis 7 800 3,9 2 488 1 265 927 890 418 1 812 Schmalkalden-Meiningen 11 437 5,7 3 786 1 813 1 415 1 217 626 2 580 Gotha 13 002 6,5 4 333 2 001 1 513 1 504 581 3 070 Sömmerda 6 903 3,5 2 266 968 825 858 364 1 622 Hildburghausen 6 451 3,2 2 145 1 057 742 660 356 1 491 Ilm-Kreis 9 549 4,8 3 110 1 590 1 059 1 043 475 2 272 Weimarer Land 7 018 3,5 2 260 1 056 788 838 350 1 726 Sonneberg 6 250 3,1 2 046 1 065 753 665 333 1 388 Saalfeld-Rudolstadt 10 026 5,0 3 116 1 607 1 140 1 060 546 2 557 Saale-Holzland-Kreis 6 459 3,2 2 196 1 014 696 737 334 1 482 Saale-Orla-Kreis 6 752 3,4 2 163 1 063 747 822 355 1 602 Greiz 8 712 4,4 3 055 1 394 950 1 053 443 1 817 Altenburger Land 8 340 4,2 2 745 1 317 992 1 010 446 1 830 Thüringen 200 074 100 64 631 31 625 23 646 23 112 10 432 46 628 Quelle: Statistisches Landesamt Thüringen -59- 80 90 100 Information Behinderung Stadt Erfurt Stadt Gera Stadt Jena Stadt Suhl Stadt Weimar Stadt Eisenach Eichsfeld Nordhausen Wartburgkreis Unstrut-HainichKreis Kyffhäuserkreis SchmalkaldenMeiningen Gotha Sömmerda Hildburghausen Ilm-Kreis Weimarer Land Sonneberg Saalfeld-Rudolstadt Saale-HolzlandKreis Saale-Orla-Kreis Greiz Altenburger Land Thüringen sonstige und ungenügend bezeichnete Behinderungen Beeinträchtigung der Funktion von inneren Organen bzw. Organsystemen Querschnittlähmung, zerebrale Störungen, geistig-seelische Behinderungen, Suchtkrankheiten Verlust einer Brust oder beider Brüste, Entstellungen u.a. Sprach- oder Sprechstörungen, Taubheit, Schwerhörigkeit, Gleich-gewichtsstörungen Davon Blindheit und Sehbehinderung der Wirbelsäule und des Rumpfes, Deformierung des Brustkorbes Insgesamt Funktionseinschränkung von Gliedmaßen Kreisfreie Stadt Landkreis Land Verlust oder Teilverlust von Gliedmaßen Gebietsstand: 31.12.2013 19 331 10 221 7 511 4 212 6 335 4 775 10 091 8 191 11 217 9 491 146 77 55 27 63 36 90 80 96 110 2 845 1 523 1 064 754 914 709 1 633 1 442 1 765 1 527 1 551 1 216 928 519 514 702 915 592 1 370 894 Personen 1 224 1 222 603 438 444 337 198 181 404 520 260 253 560 781 614 449 619 678 568 460 7 800 11 437 85 112 1 219 1 908 756 1 190 440 597 365 639 148 395 2 346 3 077 1 632 2 583 809 936 13 002 6 903 6 451 9 549 7 018 6 250 10 026 146 58 35 73 79 40 100 2 121 963 1 161 1 551 1 064 1 177 1 540 1 002 763 730 903 474 750 1 170 833 385 340 567 364 272 618 678 411 270 522 415 234 409 389 249 98 249 224 65 161 3 626 1 768 1 792 2 695 1 838 1 752 2 740 2 776 1 607 1 464 2 158 1 783 1 338 2 377 1 431 699 561 831 777 622 911 6 459 86 878 678 419 264 225 1 698 1 581 630 6 752 8 712 8 340 200 074 59 119 112 1 884 1 086 1 357 1 234 31 435 633 1 043 972 20 265 342 416 454 11 541 342 394 375 10 637 274 377 263 5 401 1 635 2 285 2 314 54 032 1 786 2 016 1 878 45 096 595 705 738 19 783 Quelle: Statistisches Landesamt Thüringen -60- 508 432 274 118 223 101 146 150 149 183 5 277 2 602 1 967 1 203 1 532 1 187 2 733 2 379 3 199 2 387 4 314 2 295 1 773 880 1 321 1 172 2 101 1 715 2 315 2 231 2 244 1 035 669 332 844 355 1 132 770 1 026 1 131 Information Behinderung rauf, dass andere Ursachen allmählich an Bedeutung verlieren. Das betrifft die angeborenen Ursachen, Behinderungen auf Grund von Unfällen und Berufskrankheiten sowie die Kriegs-, Wehr- und Zivildienstbeschädigungen. Damit verweist sie außerdem darauf, dass die Präventionsstrategien sich nicht nur auf die Vermeidung von Unfällen, den betrieblichen Gesundheitsschutz, betriebliche Gefährdungsbeurteilung und Unfallverhütung beziehen darf, sondern auf die Ausdehnung der gesunden Lebensjahre. Ursachen von Behinderung Behinderungen werden im Verlaufe des Lebens erworben oder sie sind angeboren. Als erworbene Behinderungen gelten - durch oder während der Geburt entstandene Schäden - durch Krankheiten - durch körperliche Schädigungen, zum Beispiel Gewalteinwirkung, Unfall, Kriegsverletzung - durch Alterungsprozesse verursacht Angeborene Behinderungen können vererbt oder vor der Geburt entstanden sein. Die überwiegende Anzahl der Behinderungen (ca. 85 % - Stand 2013) werden krankheitsbedingt und insbesondere im Alter erworben. Bei 4% der Menschen ist eine Behinderung angeboren. Bei 1,8 % war die Ursache ein Unfall oder eine Berufskrankheit. Dieser Befund verdeutlicht, dass die Anzahl der Behinderungen in dem Maße zunimmt, wie die Anzahl der hochaltrigen Menschen steigt. Die Bundesstatistik verweist auch da- Thüringer Politik mit Bezug auf Inklusion und Behinderung Im Koalitionsvertrag zwischen den Parteien DIE LINKE, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN für die 6. Wahlperiode des Thüringer Landtags wird der Begriff Inklusion acht Mal genannt (Integration von Flüchtlingen, von Menschen in den Arbeitsmarkt u.dgl. immerhin zwanzig Mal). Drei Mal wird das Attribut inklusiv im Sinne von sozialer Inklusion verwendet. Das Ziel der Koalition in Thüringen ist die Inklusion benachteiligter Bevölkerungsgruppen und die Umsetzung tatsächlicher Gleichstellung. Allerdings werden die Ausdrücke „Inklusion“ und „inklusiv“ ausschließlich auf Behinderung und Schule bezogen. In anderen Bereichen, der Pflege, mit Bezug auf Armut u.a. scheint es keine Inklusionsansätze zu geben. Wichtig erscheint den koalierenden Parteien Inklusion nicht nur im Bildungsbereich, sondern mit Bezug auf den Arbeitsmarkt. Im Verlauf der Legislaturperiode sollen Maßnahmen und Modellprojekte für die Erhöhung der Beschäftigtenquote von Menschen mit Behinderungen entwickelt werden. Der Grundsatz „ambulant vor stationär“ soll verwirklicht und selbstständiges Wohnen in der eigenen Wohnung oder in einer Wohnge- -61- meinschaft unterstützt werden (siehe Koalitionsvertrag, S.32/33, http:// www.otz.de/documents/12936/0/ Koalitionsvertrag+Rot-RotGr%C3%BCn/cd8995b4-da164816-8284-03dcb3cfbe2e). Ungeachtet der Beschränkung des Inklusionsansatzes auf den Behindertenhilfe- und Bildungsbereich muss auf zwei wichtige Dokumente hingewiesen werden. Auf den Thüringer Maßnahmenplan (2013), der vorne beschrieben wurde, sowie den Thüringer Entwicklungsplan zur Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen im Bildungswesen bis 2020 (2012). Mit diesen Plänen verfügt die Landesregierung über Instrumente, mit denen Inklusion in wichtigen sozialen und Bildungsbereichen praktisch realisiert wird und werden soll. Auch wenn man einwenden könnte, dass die Zielgruppe auf Menschen mit Behinderungen beschränkt ist, partizipieren von dieser Politik alle Alters- und sozialen Gruppen. Wie werden Menschen mit Behinderung in der Welt im Jahr 2035 leben? Zwei Schweizer Autorinnen haben dazu sechs Thesen aufgestellt: - Behindert sein wird normaler. Politische, gesellschaftliche und technologische, man müsste ergänzen: soziale, wohnungsbauliche u.a. Entwicklungen führen zu einer zunehmenden Normalisierung im Umgang mit Menschen mit Behinderungen. - Barrieren verschwinden. Die Umwelt wird zunehmend offen und frei zugänglich für alle Menschen sein. - Neue Wohnformen entstehen zwischen Heim und Daheim, sodass segregierende und exkludierende Unterbringung vermieden wird und Wohnraum offen zu sozialen Orten ist. - Technologie flexibilisiert Pflege. Die Technik steht im Dienst der Poten- Information Behinderung tiale der Menschen. Sie degradiert sie nicht zu Objekten, sondern verschafft ihnen neue Freiheitsräume. Der Arbeitsmarkt wird solidarischer und gleichzeitig härter, womit die Autorinnen meinen, dass die Arbeits- und Lebensformen sich flexibel an Bedürfnisse von Menschen anpassen können. Neue Inklusionsansätze reformieren die Bildungswelt. Menschen mit Behinderungen werden in ineinandergreifenden Bildungs- und Arbeitswelten gefördert. (vgl. Hauser, Mirjam; Tenger, Daniela; Menschen mit Behinderung in der Welt 2035. Wie technologische und gesellschaftliche Trends den Alltag verändern, GDI 2015; http:// www.gdi.ch/media/Summaries/ Menschen_mit_Behinderung_Summary.pdf) Zusammenstellung durch Dr. Jan Steinhaußen Der Behindertenbeauftragte in Thüringen Das Amt des Thüringer Beauftragten für Menschen mit Behinderungen wurde am 1. August 2004 mit der Absicht geschaffen, den Menschen mit Behinderungen im Freistaat einen Ansprechpartner und einen Anwalt ihrer Interessen zur Seite zu stellen. Am 22. Dezember 2015 wurde Joachim Leibiger zum neuen Behindertenbeauftragten des Freistaates ernannt. Er trat das Amt zum 1. Januar 2016 an. Die Aufgaben des Beauftragten sind in § 17 des Thüringer Gesetzes zur Gleichstellung und Verbesserung der Integration von Menschen mit Behinderungen (ThürGIG) festgelegt. Der Beauftragte hat demnach darauf hinzuwirken, dass Benachteiligungen abgebaut werden und die Verbesserung der Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen erreicht wird. Er hat bei der Erstellung von Rechtsvorschriften, die die Belange von Menschen mit Behinderungen berühren, beratend mitzuwirken. Er hat darauf hinzuwirken, dass geschlechtsspezifische behin- Der Behindertenbeauftragte des Freistaates Thüringen: Joachim Leibiger -62- derungsbedingte Benachteiligungen abgebaut und verhindert werden. Für Menschen mit Behinderungen, ihre Angehörigen und Verbände und Institutionen ist er Ansprechpartner. Er befördert eine Öffentlichkeitsarbeit mit dem Ziel, das Verständnis für Menschen mit Behinderungen in der Öffentlichkeit zu erweitern. Außerdem arbeitet er in regionalen und überregionalen Gremien mit und arbeitet eng mit Institutionen, Verbänden und Selbsthilfegruppen von Menschen mit Behinderungen zusammen. Joachim Leibiger wurde 1953 in Weimar geboren. Er ist seit Geburt sehbehindert und wurde im Jahr 2000 vollblind. Er ist verheiratet, hat 2 Söhne und zwei Enkel. Nach dem Besuch der Schule folgten ein Studium zum Betriebswirt und die Arbeitsaufnahme im Handel in Erfurt. Nach verschiedenen beruflichen Stationen in leitender Stellung studierte er von 1978-1981 an der Akademie für Verwaltungsrecht in Potsdam Babelsberg. Von 1981-1986 war er Angestellter im Öffentlichen Dienst beim Bezirk Erfurt und anschließend beim Rat des Kreises/ Landratsamt Weimarer Land im Bereich Wirtschaft. Ab 1994 war er Geschäftsleiter des Zweckverbandes Wirtschaftsförderung der Region des nördlichen Weimarer Landes. Ehrenamtlich hat er sich vor allem für die Belange von Menschen mit Behinderung eingesetzt. Er gründete 1990 die Regionalgruppe Thüringen der „Pro-Retina Deutschland e. V.” Seit 2008 ist er Vorsitzender der Kreisorganisation Weimar-ApoldaSömmerda des Blinden- und Sehbehindertenverbandes Thüringen e. V. Seit 2011 ist er Landesvorsitzender des Blinden- und Sehbehindertenverbandes Thüringen e. V. Außerdem ist er Mitglied im kommunalen Behindertenbeirat der Stadt Weimar und dem Landesbehindertenbeirat. (siehe Webseiten des TMASGFF) Organisationen Schutzbund der Senioren Schutzbund der Senioren ist für alle offen – 25 Jahre gelebte Inklusion Der Schutzbund der Senioren und Vorruheständler Thüringen e. V. (SBSV) ist nunmehr seit 25 Jahren fester Bestandteil des ehrenamtlichen Engagements in der Stadt Erfurt und in Thüringen. Ein zusammenfassender Rückblick soll die 25 Jahre Erfolgsgeschichte deutlich machen. Nach der Wende waren viele Menschen plötzlich ohne Arbeit, Senioren waren in Sorge um ihre Rente. Es musste also etwas getan werden! Deshalb war das Ziel der Gründer des Vereins, besonders die Rentner und Vorruheständler vor Vereinsamung und Armut zu schützen und sich um ihr physisches und psychisches Wohlergehen zu bemühen. Aus der politischen Interessenvertretung im Land entwickelten sich praktische Angebote für viele Menschen, die den SBSV der heutigen Zeit kennzeichnen und deren Leistungen von den Bürgern Erfurts und Thüringens dankbar angenommen werden. Schon sehr früh wurde sportliche Betätigung angeboten. Die 10 Gymnastikgruppen entwickelten sich zu kleinen sozialen Zentren des Vereins mit zahlreichen Aktivitäten neben dem Sport. Aus anfangs einer Radgruppe entstanden die jetzt 13 mit unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden. Zur gesundheitlichen Prävention gibt es Vorträge und individuelle Beratungen. Die Sprachkurse wurden insbesondere für Reisevorbereitungen gegründet und bilden heute einen festen Bestandteil zur Vertiefung der Sprachkenntnisse Englisch und Französisch. Darüber hinaus werden ständig Kurse zu Interessantem und Wissenswertem aus Kunst und Kultur angeboten. Heute gibt es sogar spezielle Kunstreisen. Die Freunde der Literatur, Malerei, Musik und Fotografie finden in den Interessengruppen fachlich interessierte Mitstreiter und Anleitung durch Fortgeschrittene. Es wurde eine differenzierte Beratungstätigkeit für Senioren zu verschiedenen Fragen, die sich insbesondere aus dem noch weitgehend unbekannten Rechtssystem der Bundesrepublik ergaben, z.B. Rentenrecht, Erbrecht oder Sozialrecht, ins Leben gerufen und bis heute in erweiterter Form durchgeführt. In Erfurter Wohngebieten gibt es starke Mitgliedergruppen, um in örtlicher Nähe der Bürger Angebote platzieren zu können – auch ohne lange Wege. Diese Gruppen haben eigene Initiativen, hier geht es in erster Linie um die Hilfe zur Selbsthilfe. Der SBSV ist im Seniorenbeirat der Stadt Erfurt vertreten und hat dort wegen seiner Kompetenz einerseits und der Anzahl der Mitglieder (über 570) andererseits, eine gewichtige Stimme. In Projekten, Gremien und Arbeitsgruppen für Soziales und Kulturelles sind die aktiven Senioren gefragt und anerkannt, was auch zu zahlreichen Auszeichnungen der Stadt, des Landes und des Bundes führte. Die Stadt Erfurt unterstützt den Verein durch eine Leistungsvereinbarung, die auch zum Betreiben eines Kompetenz- und Beratungszentrums am Juri-Gagarin-Ring 64 führte – als Anlaufpunkt und Veranstaltungsort für zahlreiche Aktivitäten. Durch die- Abb. 1: Die ersten von der Volkshochschule im Jahr 2008 ausgebildeten Seniortrainer, darunter noch heute aktive Gruppenleiter wie Karin Heling (Fotogruppe Focus) und Gerlinde Machate (Literatursalon) (vorn, 5. und 6. von links). Monika Baldofski (vorn 7. von links) ist im Ruhestand, arbeitet zu besonderen Anlässen aktiv mit. In der Mitte: Gisela Lammert, die den Vorstand noch heute berät. -63- Organisationen Schutzbund der Senioren se Struktur erweiterte der Verein seine Angebote für alle Generationen. Er verknüpfte dadurch auf eine besondere Weise Haupt- und Nebenamt miteinander. Die Mentor Leselernhelfer betreuen seit 2004 Kinder von Eltern, die kaum Möglichkeiten zur Unterstützung haben, z. B. auch von ausländischen Mitbürgern, und vermitteln den Kindern die Freude am Lesen. In 17 Schulen unserer Stadt sind ehrenamtliche Mentoren/ innen aktiv. Es gab und gibt gemeinsame Projekte und Patenschaften mit Kindergärten und Schulen, z. B. der Erfurter Schiller-Schule oder dem Förderzentrum „Emil Kannegießer“. Bei den sozialen Anliegen errang Abb. 2: Frau Barbara Schumann, Vorstandsvorsitzende des SBSV, Herr Jose Paca, Vorsitzender des Ausländerbeirates, und Marianne Schwalbe, Leiterin des Kompetenz- und Beratungszentrums, beim 2. Seniorentag 2015 in Erfurt Frau Andrea Zerull (rechts, Thüringerin des Monats April 2015) und Frau Irina Karow (Bundesverdienstkreuz 2008) leiten die „Mentor – die Leselernhelfer“-Gruppe -64- vor allem die niedrigschwellige Demenzbetreuung und -beratung sowie der Betreuungs- und Begleitdienst überregionale Anerkennung. Dabei wurden die Betreuung von Senioren und die Beratung von Angehörigen übernommen. Ehrenamtliche Mitarbeiterinnen, früher in Sozialberufen tätig, engagieren sich dabei. Der Verein wirkt in zahlreichen überregionalen Projekten mit! Seitens der Stadt Erfurt wurde die Ausbildung von Seniortrainer/innen an der Volkshochschule in Erfurt fortgesetzt und somit eine wichtige personelle Voraussetzung für Vereine geschaffen. So wurde im Jahre 2008 die erste Gruppe ausgebildet. Sie erhielt vom Oberbürgermeister ein entsprechendes Zertifikat (Abb. 1). Dieses Foto wurde von einer Schülerin innerhalb eines Projektes im Rathaus aufgenommen – auch ein Zeugnis für Befähigung im Austausch der Generationen. Die ausgebildeten Seniortrainer/innen werden für Vereins- und Projektarbeit eingesetzt. Eine junge Frau aus Afghanistan absolvierte im Verein ein Praktikum – wichtig für ihre Berufsausbildung und damit Integration. Für die Arbeitsagentur hat der Verein Praktikumsplätze für Betreuungsarbeit bereitgestellt, bei denen die Praktikanten Verantwortung für die ältere Generation übernehmen. In einem erfolgreichen Projekt, das Barbara Schumann leitete, haben Senioren und Förderschüler gemeinsam nachhaltige Unterrichtsmittel für das Fach Geschichte erarbeitet und dabei viel voneinander gelernt. Der SBSV hat sich in den vergangenen Jahren zum Träger für eine verantwortungsvolle Inklusion breiter Bevölkerungskreise entwickelt. Mit dem Kompetenz- und Beratungszentrum hat er dafür ein effektives Instrument gefunden, das sich ständig den neuen Herausforderungen anpasst. Aktuell beschäftigt sich der Verein mit Organisationen Schutzbund der Senioren neuen Formen gesucht. Der neuen Zeit stellt sich der SBSV durch eine „Verjüngungskur“, in dem im Vorjahr ein Senioren Computer Club (SCC) gegründet wurde. Im Jahr 2016, dem 25. Jahr seines Bestehens, erinnert sich der SBSV nicht nur seiner Entwicklung allgemein, sondern auch der vielen ehemals aktiven Mitglieder, deren Leistung durch heutige Aktivitäten eine würdige Anerkennung erfährt. Erdmann Schleinitz Frau Anke Müller betreut die Bildungsveranstaltungen für Kultur, Sprachen, PC-Kurse und auch die Kultur- und Bildungsreisen. Otto Gerling (rechts) gründete die ersten Radgruppen des SBSV, ihm folgte Dieter Dennstedt (2. von rechts) im Amt, der mittlerweile bei 13 Gruppen angekommen ist und mit Radlern auch per Bus ins Ausland fährt und dort Touren macht. Frau Rita Hofmann koordiniert den Einsatz der Ehrenamtlichen und organisiert generationsübergreifende Veranstaltungen, insbesondere die Patenschaft mit der SchillerSchule. Sie hält auch den Kontakt zu Peter Sodann, für dessen DDR-Buchsammlung sie Bücher der Senioren sammelt. dem demografischen Wandel und dessen Folgen sowie mit der Zuwanderung von ausländischen Mitbürgern. Diese Dynamik ist eine große Herausforderung an die „Generation Unruhestand“ – denn der Altersdurchschnitt der Mitglieder liegt immerhin über 70 Jahre. Besonders kümmert man sich in enger Zusammenarbeit mit den Selbsthilfegruppen um die hochaltrigen Senioren, deren Anzahl im Verein natürlich mit der Zeit wächst. Hier wird aktiv nach Frau Heidi Finke turnt seit Jahren mit ihren Damen und sorgt auch mit anderen Freizeitunternehmungen der Gruppen für ein angenehmes Lebensgefühl der Seniorinnen -65- Organisationen Schutzbund für Senioren Headerbild: Frau Barbara Domin leitet den Senioren-Chor „Cantabile“, der weithin bekannt und beliebt ist. Die Hobby-Malerin Ute Zwilling zeigt Frau Erdmenger, Leiterin des Frauenzentrums, ihre Bilder anlässlich einer Vernissage Frau Anke Müller (links, im Gewand der Frau von Dacheröden) und Frau Diana Troica beim gemeinsamen Auftritt in der Autorenveranstaltung „Federlesen“ im „Haus Dacheröden“. Beide organisieren und gestalten auch die beliebten Kultur- und Bildungsreisen des SBSV Frau Brigitte Noatnik organisiert die Betreuung Bedürftiger, berät aber auch die Angehörigen von Demenzerkrankten. Die Autorin Dagmar Meyer schreibt und liest aus ihren Werken, die einfühlsam und von Lebenslust geprägt sind. Sie gehört zu den langjährig Aktiven des SBSV Frau Monika Wagner (rechts) zeigt ihrer Malgruppe „Mittwochsmaler“ eine neue Maltechnik Frau Lederhausen unterrichtet nicht nur seit einigen Jahren – ihre Senioren-Schüler bilden mit ihr eine „englische“ Gemeinschaft. Hier während einer Auszeichnung für ihr langjähriges Engagement. Frau Brigitte Straubing (links) sorgt mit ihren Bastelideen für den Zeitvertreib von Senioren im SBSV, in Seniorenheimen und in betreuten Clubs Erfurter Wohngebiete -66- Frau Diana Troica (links) unterrichtet im SBSV Kunstgeschichte, Kunst und Englisch und betätigt sich als gewandte Moderatorin und Autorin, z. B. beim „Erfurter Federlesen“, ein Autorenwettbewerb der Senioren Frau Danuta Schmidt ist im Stadtvorstand und hält mit ihrem Büro den Stadtverband zusammen, ist für alle organisatorischen und finanziellen Belange zuständig Frau Waltraud Hapke, sie ist fast 80 Jahre alt, hat die finanziellen Belange des SBSVLandesverbandes fest im Griff. Ohne diese Tätigkeit würde ihr und erst recht dem Verein viel fehlen. Kontakt: Schutzbund der Senioren und Vorruheständler Thüringen e.V. Juri-Gagarin-Ring 60 99084 Erfurt Tel.: 0361 262 07 35 www.seniorenschutzbund.org info@seniorenschutzbund.org Organisationen Lebenshilfe „Alt wie ein Baum möchte ich werden …“ – Zur Situation alt gewordener Menschen mit geistiger Behinderung – Die Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung – Landesverband Thüringen e. V. Wir über uns Die Lebenshilfe ist ein gemeinnütziger Verein, den Eltern von Kindern mit geistiger Behinderung und engagierte Fachleute 1958 in Marburg gegründet haben. Im Prozess der Wiedervereinigung beider deutscher Staaten im Jahre 1990 nahmen Eltern und Angehörige von Töchtern und Söhnen mit Behinderung ihr Geschick selbst in die Hand und bauten in ganz Thüringen mit hohem ehrenamtlichen Einsatz nach dem Vorbild der Bundesrepublik Deutschland rechtlich eigenständige regionale Elternvereine als Mitgliedsorganisationen auf, die sich in der Lebenshilfe Thüringen auf Landesebene zusammenschlossen. Gegenwärtig bestehen in Thüringen 37 Lebenshilfe-Mitgliedsorganisationen mit rund 3.000 Mitgliedern. Hauptsächliches Ziel der Lebenshilfe war und ist die umfassende Teilhabe von Menschen mit Behinderungen und ihrer Familien am Leben in unserer Gesellschaft. Die Lebenshilfe will Menschen mit Behinderungen und ihre Angehörigen unterstützen, von der Kindheit bis ins Alter ein möglichst normales Leben zu führen. Die Lebenshilfe unterhält in Thüringen eine Vielzahl verschiedener Einrichtungen und mobiler bzw. ambulanter Dienste zur Förderung und Begleitung von Menschen mit geistiger Behinderung und zur Unterstützung ihrer Angehörigen, angefangen von den Frühförderstellen, integrativen Kindertagesstätten und Förderschulen mit dem Schwerpunkt geistige Entwicklung, über Wohneinrichtungen bis hin zu Ausbildungs- und Arbeitsangeboten. 7.500 Menschen mit vorrangig geistiger Behinderung nutzen die Vielzahl ambulanter und stationärer Angebote der Mitgliedsorganisationen der Lebenshilfe Thüringen. In diesem Sozialverband arbeiten Eltern, Angehörige und Fachleute zusammen. Als Selbsthilfe-, Elternund Fachverband setzt sich die Lebenshilfe Thüringen dafür ein, dass Menschen mit geistiger Behinderung als gleichberechtigte Mitglieder der Gesellschaft anerkannt werden und alle Chancen erhalten, ihr Leben so selbstständig wie möglich zu gestalten. Inklusion als Vision für alle Menschen mit Behinderung unabhängig vom Alter Seit 2009 hat Deutschland die UNKonvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UNBRK) ratifiziert, und es besteht der gesellschaftliche Auftrag, Inklusion von Menschen mit Behinderung in allen Lebensbereichen umzusetzen. Im Kern geht es darum, dass Menschen mit Behinderungen selbstverständlich und gleichberechtigt inmitten der Gesellschaft mit allen anderen Bürgern leben und teilhaben. In der inklusiven Gesellschaft gibt es keine definierte Normalität, die jedes Mitglied dieser Gesellschaft anzustreben oder zu erfüllen hat. Hier muss sich nicht der Einzelne dem System anpassen, sondern die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen müssen so flexibel gestaltet sein sowie die jeweilige individuelle Unterstützung gewährt werden, dass Teilhabe für jeden Einzelnen möglich ist. In einer inklusiven Gesellschaft ist es normal, verschieden zu sein. -67- Jeder ist willkommen. Und davon profitieren alle: zum Beispiel durch den Abbau von Hürden, damit die Umwelt für alle zugänglich wird, aber auch durch weniger Barrieren in den Köpfen, mehr Offenheit, Toleranz und ein besseres Miteinander. Die Lebenshilfe Thüringen unterstützt diese Vision vom Zusammenleben. Dabei gilt es stets genau hinzusehen, ob das, was unter dem Motto der Inklusion dargestellt wird, tatsächlich Inklusion ist. Als Interessenvertreter für Menschen mit geistiger Behinderung begleiten wir diesen Prozess kritisch und beziehen Menschen mit Behinderungen als Experten in eigener Sache ein. Wichtig ist, dass Inklusion uneingeschränkt für alle Menschen mit geistiger Behinderung gelten muss, unabhängig vom Schweregrad der Behinderung, unabhängig vom persönlichen Unterstützungsbedarf und unabhängig vom Alter. In Artikel 8 der UN-BRK wird auf eine mögliche Altersdiskriminierung explizit eingegangen. Es heißt dort, dass die Vertragsstaaten verpflichtet sind, „... sofortige, wirksame und geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um …. Klischees, Vorurteile und schädliche Praktiken gegenüber Menschen mit Behinderungen, einschließlich aufgrund … des Alters, in allen Lebensbereichen zu bekämpfen;“ (1) Für das anspruchsvolle Ziel der Inklusion von Menschen mit Behinderung bedarf es noch großer Anstrengungen aller Akteure der Gesellschaft. Altwerden und Behinderung In Deutschland ist die Gesamtbevölkerung vom demographischen Wandel betroffen, Menschen mit Behinderungen jedoch in besonderer Weise. Aufgrund der Ermordung von Menschen mit geistiger Behinderung im Nationalsozialismus überlebten nur sehr wenige Menschen mit Behinderungen das nationalsozialis- Organisationen Lebenshilfe tische Regime. Nach 1945 wuchs und wächst in Deutschland eine ganze Generation von Menschen mit (geistiger) Behinderung heran, die gegenwärtig ihren „Ruhestand“ erreicht und die diese dritte Lebensphase in Würde erleben und gestalten möchte. Das ist eine relativ neue Herausforderung, vor der unsere Gesellschaft steht und die ebenso für unseren Verband ein wichtiges Anliegen ist. Wertvolle Orientierung gibt das Positionspapier „Mittendrin – auch im Alter! Senioren mit geistiger Behinderung in der Gesellschaft“, das die Bundesvereinigung Lebenshilfe e. V. im August 2015 veröffentlicht hat. Früher hieß es, Menschen mit geistiger Behinderung werden nicht alt. Inzwischen ist erwiesen, dass sich die durchschnittliche Lebenserwartung von Menschen mit (geistiger) Behinderung nur wenig von der der Gesamtbevölkerung unterscheidet. Das ist eine positive Botschaft und Ausdruck wesentlich verbesserter Lebensbedingungen für Menschen mit Behinderungen dieser Generation. In der Studie „Vorausschätzung der Altersentwicklung von Erwachsenen mit geistiger Behinderung in Westfalen-Lippe“ wird hochgerechnet, dass „die Anzahl der geistig behinderten Erwachsenen … von ca. 27.000 in 2010 auf ca. 38.000 in 2030 steigen (wird).“ (2) Um die Dimension zu verdeutlichen, in der Senioren mit geistiger Behinderung unterschiedliche Arten von Hilfen im Ruhestand zur Gestaltung des Tages benötigen, kommen die Autoren der o.g. Studie für Westfalen-Lippe zu dem Ergebnis, dass deren Anzahl „von 1415 im Jahre 2010 auf 8307 im Jahr 2030“ steigt, das bedeutet eine Erhöhung um beinahe 600 %. (3) Für Thüringen existiert bisher keine Studie, aber die Ergebnisse können als Anhaltspunkt dienen und das Ausmaß der Herausforderung verdeutlichen. Wie der Psychologe und Psychotherapeut Michael Wunder feststellte, unterscheiden sich alte Menschen mit geistiger Behinderung hinsichtlich ihrer persönlichen Situation von anderen nicht behinderten alt gewordenen Menschen. Dies zeigt sich insbesondere hinsichtlich ihres Selbstbildes, der Verarbeitungsmöglichkeiten altersbedingter Körperveränderungen und Leistungseinbußen sowie der Möglichkeiten der Erfahrung von Zufriedenheit durch Lebenserfüllung. (4) Das hat sehr viel mit deren besonderen biographischen Erfahrungen zu tun, die z.B. durch lebenslange Abhängigkeit von den Eltern oder das Leben in Einrichtungen geprägt sind. Für Leistungsanbieter, Sozialbehörden und Politiker bedeutet dies, dass Menschen mit geistiger Behinderung beim Übergang in den -68- sogenannten Ruhestand und bei der Gestaltung des dritten Lebensabschnitts nach wie vor Unterstützung und Begleitung und adäquate Angebote entsprechend ihrer Bedürfnisse und Interessen benötigen. Vielfältige Angebote für Senioren mit Behinderungen in ganz Thüringen notwendig Die Lebenshilfe Thüringen e. V. beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Frage, welche Anforderungen Menschen mit geistiger Behinderung im Alter an die Gesellschaft stellen. Entsprechend des Grundsatzes „Nichts über uns ohne uns!“ wurden 38 Menschen mit Behinderungen im Rahmen einer Umfrage 2014 gefragt, wie sie sich ihr Leben im Ruhestand vorstellen. Die Ergebnisse der Umfrage wurden am 27.05.2014 zur Thüringer Organisationen Lebenshilfe Lebenshilfe-Tagung von Menschen mit Behinderung für Menschen mit Behinderung diskutiert. Insgesamt 46 Menschen mit Behinderung aus 20 verschiedenen Einrichtungen von 9 Lebenshilfe-Trägern Thüringens tauschten sich u. a. über die Umsetzung der UN-BRK im sogenannten Ruhestand als Altersrentner aus. Schirmherrin der Veranstaltung war die damalige Thüringer Ministerin für Soziales, Familie und Gesundheit, Heike Taubert. Auf der Tagung wurde festgestellt, dass immer mehr Beschäftigte in der Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) kurz vor der Altersrente stehen oder bereits im Ruhestand sind. Gegenwärtig fehlen jedoch in vielen Regionen passende Angebote für sie zur Gestaltung des Tages bzw. zur Teilhabe am Leben der Gemein- bricht jäh ab, die ein Leben lang neben der Möglichkeit der Beschäftigung ebenso der Mittelpunkt der sozialen Teilhabe und Anerkennung war. Insbesondere für diejenigen, die noch zu Hause leben oder in der eigenen Wohnung, droht die soziale Isolation, weil i. d. R. nur für Bewohner der Wohnstätten ein Angebot besteht. Da Menschen mit geistiger Behinderung oft keine eigene Familie gegründet haben, können sie zum großen Teil keine Hilfe von Kindern und weiteren Familienangehörigen erwarten. Die eigenen Eltern sind aufgrund eigenen hohen Alters oft nicht mehr in der Lage, sie zu versorgen, oder bereits verstorben. Um ebenso im Alter ein Leben in Würde führen zu können, benötigen Menschen mit Behinderungen Menschen in Verantwortungsrollen leben in aller Regel zufriedener, glücklicher und gesünder als Menschen ohne Aufgaben. schaft. Ein Teil der betroffenen Menschen sieht deshalb dem Ruhestand mit Unsicherheit und Unbehagen entgegen und befürchtet eine große „Leere“. Die Verbindung zur WfbM weiterhin Hilfe und Unterstützung im Alltag im Sinne der Eingliederungshilfe. Der Anspruch auf Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft besteht auch im Alter. Bisher hat das Land -69- Thüringen noch kein Konzept für die alt gewordenen Menschen mit Behinderung und die Schaffung von Angeboten in den Kommunen oder Landkreisen ist angesichts knapper Kassen äußerst schwierig. Es werden in großer Anzahl offene Angebote vor Ort gebraucht, in dem jeweiligen Sozialraum oder Quartier, um das Leben und Wohnen in dem gewohnten Zuhause oder in der angestammten Umgebung solange wie möglich aufrecht zu erhalten und eine Aufnahme in eine stationäre Einrichtung zu verhindern oder hinauszuzögern. Die bereits bestehenden ambulanten, familienentlastenden und -unterstützenden Dienste wären dafür geeignet. Der weitere Ausbau bedarf einer entsprechenden Finanzierung und Unterstützung vor Ort. Auf Initiative der Nichtbehördenvertreter des Landesbehindertenbeirats Thüringen fand am 22.10.2015 im Thüringer Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Frauen und Familien in Erfurt eine Sondersitzung zur Thematik der alt gewordenen Menschen mit Behinderung statt. Wiederum wiesen Vertreter der Menschen mit geistiger und körperlicher Behinderung, der schwerhörigen und gehörlosen, blinden und sehbehinderten Menschen sowie der Menschen mit psychischer Erkrankung oder seelischer Behinderung auf vielfältige Probleme und fehlende Angebote für diesen Personenkreis in Thüringen hin. Als Sprecher des Lebenshilfe-Rats für Menschen mit geistiger Behinderung, dem Selbstvertretungsgremium von Menschen mit Behinderung der Lebenshilfe Thüringen, beteiligte sich Ronald Wirtz an der Diskussion. Am Ende wurde ein gemeinsames Forderungspapier (5) an die Vertreter des Sozialministeriums und an alle anderen Behördenvertreter des Landesbehindertenbeirats übergeben. Organisationen Lebenshilfe Senioren mit geistiger Behinderung wollen ihren Ruhestand selbstbestimmt gestalten und weiterhin Kontakt zu anderen, z.B. Arbeitskollegen, haben. Ihre persönlichen Wünsche und Vorstellungen, die nach Interessen und Neigungen sehr unterschiedlich sind, müssen berücksichtigt werden. Mut machende Beispiele guter Praxis werden in der Publikation „Senioren mit Behinderung heute. Mittendrin – auch im Alter“ der Bundesvereinigung Lebenshilfe (Dezember 2015) vorgestellt. Anspruch auf Teilhabe für Menschen mit Behinderungen ohne Altersgrenze In jüngster Zeit erhalten immer mehr Menschen mit geistiger Behinderung und ihre gesetzlichen Betreuer mit Eintritt ins Rentenalter die Auskunft, dass kein Anspruch auf Leistungen zur Teilhabe am Leben der Gemeinschaft mehr besteht, sie werden vorzugsweise auf ein Pflegeheim verwiesen. Dies ist zwar rechtlich nicht korrekt, wird aber in der Praxis aus Kostengründen immer wieder versucht, solange Betroffene nicht widersprechen und den Rechtsweg beschreiten. (6) Die Lebenshilfe Thüringen fordert, dass das lebenslange Recht von Menschen mit Behinderung auf Teilhabe am Leben der Gemeinschaft umgesetzt wird, unabhängig vom Alter und von der Schwere der Behinderung. Für eine große Zahl der Menschen mit Behinderungen, die aus der WfbM ausscheiden und in die Altersrente gehen, ist das Pflegeheim nicht der geeignete Ort. Eingliederungshilfe und Pflege unterscheiden sich in ihrer Zielstellung. Berechtigte Ansprüche in beiden Bereichen müssen bestehen bleiben und dürfen nicht gegeneinander aufgerechnet werden. Diese Menschen wollen ihren Hobbys nachgehen, ins Kino gehen, „Menschen, die die meisten positiven Gefühle, das stärkste Engagement und den meisten Sinn im Leben haben, sind die Glücklichsten, und sie sind am stärksten mit dem Leben zufrieden.“ (Martin Seligmann) Freunde besuchen oder eine Reise unternehmen. Um all diese Dinge realisieren zu können, benötigen sie jedoch aufgrund ihrer Behinderung Unterstützung oder Assistenz. In einem Pflegeheim steht die Umsetzung dieser Teilhabeleistungen nicht auf der Tagesordnung. Voller Anspruch auf Pflege für Menschen mit Behinderungen in den Wohnstätten der Behindertenhilfe Wie schon beschrieben wächst gegenwärtig eine Generation alt gewordener Menschen mit Behinderung heran. Demzufolge werden ebenso die Bewohner in den Wohnstätten der Behindertenhilfe immer älter und das Risiko pflegebedürftig zu werden, nimmt zu. Damit verbunden sind Schwierigkeiten in der Versorgung, da diese Einrichtungen entsprechend des § 43a SGB XI für die pflegebedürftigen Bewohner kei- -70- ne adäquate Finanzierung erhalten. Von der zuständigen Pflegekasse werden maximal 266,- Euro monatlich je pflegebedürftiger Bewohner an den zuständigen Sozialhilfeträger gezahlt unabhängig von der Pflegestufe der Bewohner. Ein weiteres Problem stellt die Inanspruchnahme von Leistungen der häuslichen Krankenpflege durch Bewohner der Wohnstätten der Behindertenhilfe dar, z. B. die dauerhafte Versorgung bei chronischen Krankheiten oder nach Klinikaufenthalten sowie die Beantragung von Hilfsmitteln. Die Wohnstätte der Behindertenhilfe muss als eigene Häuslichkeit nach § 37 SGB V anerkannt werden. Aufgrund der beschriebenen Situation müssen gegenwärtig Menschen mit geistiger Behinderung und hoher Pflegebedürftigkeit in ein Pflegeheim ziehen. Oft leben sie über viele Jah- Organisationen Lebenshilfe re oder Jahrzehnte in den Einrichtungen der Behindertenhilfe und es ist ihr vertrautes und lieb gewordenes Zuhause geworden. Es muss möglich sein, dass pflegebedürftigen Menschen mit Behinderungen Leistungen der Pflege und der medizinischen Behandlungspflege unabhängig von ihrem Wohnort zur Verfügung stehen. Lebenswerte, barrierefreie und offene Lebensräume schaffen (7) Es liegt auf der Hand, dass alt gewordene Menschen mit Behinderungen nicht nur individuelle Unterstützung zur Teilhabe am Leben der Gemeinschaft benötigen. Ebenso wichtig ist es, deren Lebensräume so zu gestalten, dass sie bedarfsgerecht wohnen, örtliche kulturelle, sportliche u. a. Angebote ohne Hindernisse nutzen können und wohnortnahe Beratungs- und Dienstleistungen vorhanden sind. Dabei sind z. B. neben der Zugänglichkeit von Gebäuden und öffentlichen Verkehrsmitteln für Rollstuhlfahrer ebenso ein wertschätzendes gesellschaftliches Umfeld wichtig oder die Förderung sozialer Kontakte mit Nachbarn und anderen Bürgern. Es ist sinnvoll, dass bei der alters- und behindertengerechten Gestaltung des Sozialraumes oder des Quartiers die Träger der Behinderten- und Altenhilfe enger zusammenarbeiten, sich vernetzen und verzahnen. Bisher arbeiten Gremien der Vertretung alter Menschen wie die kommunalen Seniorenbeauftragten und Vertretungen der Menschen mit Behinderungen wie die kommunalen Behindertenbeauftragten oft parallel und nebeneinander. Aufgrund vieler gemeinsamer Ziele und Interessen bei der Gestaltung der Lebensräume in den Kommunen ist ein abgestimmtes und koordiniertes Zusammenwirken der Gremien beider Bereiche sinnvoll und anzustreben. Bei den notwendigen Planungen zur zukünftigen kommunalen Entwicklung in den Landkreisen, Städten und Gemeinden müssen Bedürfnisse und Bedarfe aller hier lebenden Menschen der Region berücksichtigt werden, um zu tragbaren gemeinsamen Lösungen zu kommen. Zukünftig ist es dringend geboten, dabei die Erfordernisse der Lebenswelten von Senioren inklusive jener mit Behinderungen wesentlich stärker in den Blick zu nehmen. In den verschiedenen Regionen Thüringens, in den Städten und ländlich geprägten Regionen, gilt es je nach aktueller demographischer Entwicklung, spezifische Wege und Modelle zu finden. Ohne zusätzliche Investitionen und Anstrengungen ist dies jedoch nicht zu meistern. Finanzschwache Kommunen und Landkreise müssen diesbezüglich vom Land Thüringen unterstützt werden. Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung Landesverband Thüringen e. V. Rudolstädter Straße 39 07745 Jena Tel. 03641-334395 o. 336508 Fax: 03641-336507 Email: info@lebenshilfe-thueringen.de www.lebenshilfe-thueringen.de Literatur (1) Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, hrsg. vom BMAS Januar 2010 (2) Mittendrin – auch im Alter! Senioren mit geistiger Behinderung in der Gesellschaft, Ein Positionspapier der Bundesvereinigung Lebenshilfe e. V., hrsg. von der Bundesvereinigung Lebenshilfe e. V., August 2015, S. 7 (3) Mittendrin – auch im Alter! Senioren mit geistiger Behinderung in der Gesellschaft, Ein Positionspapier der Bundesvereinigung Lebenshilfe e. V., hrsg. von der Bundesvereinigung Lebenshilfe e. V., August 2015, S. 7 -71- (4) Vgl. Wunder, Michael, Der dritte Lebensabschnitt bei Menschen mit Behinderung. Neue Herausforderungen an die Behindertenhilfe, o. J., www.beratungszentrum-alsterdorf.de (5) Forderungspapier der Nichtbehördenvertreter des Landesbehindertenbeirats zur Verbesserung der Situation altgewordener Menschen mit Behinderung in Thüringen (erarbeitet für die Sondersitzung des Gremiums zu dieser Thematik am 22.10.2015), www.thueringen.de/ th7/landesbehindertenbeirat/aktuelles (6) Vgl. Mittendrin – auch im Alter! Senioren mit geistiger Behinderung in der Gesellschaft, Ein Positionspapier der Bundesvereinigung Lebenshilfe e. V., Bundesvereinigung Lebenshilfe e. V., August 2015, S. 20 (7) Vgl. Mittendrin – auch im Alter! Senioren mit geistiger Behinderung in der Gesellschaft, Ein Positionspapier der Bundesvereinigung Lebenshilfe e. V., hrsg. von der Bundesvereinigung Lebenshilfe e. V., August 2015, S. 9 Organisationen Literatur Die Lebenshilfe ist nicht nur ein Verband, der sich um die konkreten Belange innerhalb der Behindertenhilfe und die Sozialarbeit mit Menschen mit Behinderung bemüht, sondern der politische und fachwissenschaftliche Expertise und damit Öffentlichkeit für Menschen mit Behinderung herstellt. Exemplarisch sind dafür zwei neue Publikationen sowie ein Positionspapier der Lebenshilfe zum Umgang mit älteren Menschen mit geistigen Behinderungen. cen in den Fokus von Sozial- und Bildungsarbeit, die früher eklatant ausgeschlossen wurden. Der vorliegende Herausgeberband thematisiert dieses Handlungsfeld. Dazu werden sowohl auf disziplinärer wie auch auf professionell-praktischer Ebene tragfähige Legitimationsfiguren und praktische Konzepte identifiziert, um die umfassende Teilhabe von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit schwerer und mehrfacher Behinderung am allgemeinen Bildungssystem zu sichern und der Gefahr eines erneuten Ausschlusses zu begegnen. Menschen mit schwerer und mehrfacher Behinderung galten – bis in die jüngste Vergangenheit – als „bildungsunfähig“. Derart klassifiziert wurde ihnen sozial und anthropologisch lediglich eine Randstellung in der Gesellschaft zugewiesen. Dies implizierte einen umfassenden Ausschluss aus allen pädagogischen Handlungsfeldern. Kein anderer Personenkreis ist historisch derart umfassend von Ausgrenzung betroffen wie Menschen, die als schwer- und mehrfachbehindert bezeichnet werden. Ihnen drohte und droht die gesellschaftliche Bewertung als „nicht-inkludierbarer Rest“ von Ausschluss betroffen zu sein. Mit dem Anspruch um Inklusion ändern sich Perspektiven. Es rücken auch jene Menschen mit schwerer und mehrfacher Behinderung und deren Teilhabechan- Auch Menschen mit geistiger Behinderung werden mittlerweile alt. Z.T. ist das hohe Alter wie im Falle von dementiellen Erkrankungen geradezu assoziiert mit einer progredierenden Behinderung. Die hier abgebildete Handreichung befasst sich mit den Herausforderungen des Alterns -72- von Menschen mit Behinderung. Dabei geht es um Potenziale, die im Alter liegen und deren inklusive Bewertung. Dabei erfolgt ein Blick auf Ressourcen im Wohnumfeld von Menschen mit geistigen Behinderungen, auf personenzentrierte Hilfen, auf soziale Netzwerke und soziale Unterstützung sowie eine integrierte regionale Versorgungsplanung. Vor dem Hintergrund, dass mit der demografischen Alterung auch die Anzahl von Menschen mit Behinderungen zunehmen wird, formuliert die Lebenshilfe politische Positionen, die auch für den Landesseniorenrat und kommunale Seniorenbeiräte Orientierung sind. Zu solchen gehört, - dass soziale Räume offen und barrierefrei sein müssen, damit alle Menschen in ihnen leben können Organisationen Literatur Zeitschrift für Inklusiononline.net - dass Menschen mit Behinderungen einen Anspruch auf eine unabhängige und umfassende Beratung beim Übergang in den Ruhestand haben, die ihnen Teilhabemöglichkeiten und -chancen eröffnet - dass Angehörige an dem Prozess des Älterwerdens von Menschen mit Behinderung teilhaben können und dafür die nötige Unterstützung erfahren - dass es flächendeckend Möglichkeiten gibt, allmählich und schrittweise aus Werkstätten auszuscheiden und Angebote von Teilzeitarbeit bestehen - dass für ältere Menschen mit einer geistigen Behinderung Tagesangebote bestehen, die ihren individuellen Bedürfnissen entsprechen und die in ihrem Sozialraum vorgehalten werden - dass für ältere Menschen mit einer geistigen Behinderung die Möglichkeit besteht, in ihrer Gemeinde zu leben, in der sie über Jahre und Jahrzehnte sozialisiert waren - dass Ältere mit einer Behinderung eine ihnen angemessene Wohnform wählen können und sie in dieser Unterstützung erfahren - dass auch beim Sterben sichergestellt wird, dass enge Bezugspersonen anwesend sein können - dass Ressourcen bereitgestellt werden, die eine adäquate Teilhabe gewährleisten Konzept Die „Zeitschrift für Inklusion“ veröffentlicht Fachbeiträge aus den Bereichen der integrativen Pädagogik und Inklusion. Die Artikel werden durch ein peer-review Verfahren geprüft, bevor sie in einer Ausgabe veröffentlicht werden. Die Inhalte der „Zeitschrift für Inklusion“ sollen aktuelle pädagogische Diskussionen vorantreiben und gesellschaftspolitisches Handeln durch fundierte Argumente stärken. Mit der Veröffentlichung stimmen die Autorinnen und Autoren zu, dass der Textbeitrag in der Internet-Volltextbibliothek bidok, online im Internet unter: http://bidok.uibk.ac.at, archiviert wird. Diese Zeitschrift bietet freien Zugang (Open Access) zu ihren Inhalten, entsprechend der Grundannahme, dass die freie öffentliche Verfügbarkeit von Forschung einem weltweiten Wissensaustausch zugutekommt. Was ist die „Zeitschrift für Inklusion“? Die „Zeitschrift für Inklusion“ ist eine Fachzeitschrift mit dem Fokus integrativer Pädagogik und Inklusion. Integrative Pädagogik beschäftigt sich mit dem gemeinsamen Leben, Lernen und Arbeiten von behinderten und nichtbehinderten Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen in allen Lebensbereichen. Inklusion ist die Vision von einem gesellschaftlichen Zusammenleben, in der stigmatisierende Dichotomien wie z. B. „behindert / nichtbehindert“ bedeutungslos werden. Darüber hinaus befasst sich Inklusion mit der internationalen Perspektive und mit der Frage einer Weiterentwicklung von integrativer Pädagogik. Prof. Dr. Dieter Katzenbach Förderverein bidok Deutschland e.V. Netzwerk für Inklusion Theodor - W.- Adorno -Platz 6 60629 Frankfurt am Main Telefon: 069/798-36345 E-Mail: d.katzenbach@em.unifrankfurt.de ISSN: 1862-5088 www.inklusion-online.net/index. php/inklusion-online Dieter Katzenbach ist einer der engagiertesten universitären Vertreter, die sich für eine inklusive Gesellschaft und ein inklusives Bildungssystem einsetzen. Zu dem umstrittenen Thema, wie man mit Förderschulen umgeht, im Bestand erhalten oder auflösen, meinte er in einem Interview: „Es wäre möglich, die Förderschule auslaufen zu lassen, dann wäre man in zehn Jahren mit der Umstellung durch. Auf diese Weise könnte man ein neues System von unten heranwachsen lassen. Eine Alternative wäre es, -73- Organisationen Literatur mit den Grundschulen anzufangen, dort gibt es ja schon eine Gemeinschaftsschule.“ In dem abgebildeten Sammelband beschäftigt er sich u. a. mit dem Anspruch, begriffliche Kategorien, die diskriminierungsanfällig sind, aufzulösen, sowie mit der begrifflichen Vagheit des Begriffs Inklusion. Seine Definition von Inklusion als das selbstverständliche, wertschätzende und gleichberechtigte Miteinander, das die Unterschiedlichkeit als selbstverständlich betrachtet und nicht eigens betont, erscheint plausibel. Schwieriger ist es, auf selbstverständliche Begriffe wie der Begriff der Behinderung, weil sie als diskriminierend empfunden werden, zu verzichten. Genau darauf verweist Dieter Katzenbach. Wenn der Begriff Behinderung als diskriminierend empfunden wird, stellt sich die Frage, wie eine UN-Behindertenrechtskonvention überhaupt umgesetzt werden kann. Auf ähnliche Probleme stößt man bei der Festsetzung von Leistungsansprüchen, die auf einer kategorialen Bestimmung von Behinderungsgraden basiert. Ein vollständiger Verzicht auf Kategorisierung birgt, so schreibt Dieter Katzenbach, im Gegenzug das viel größere Risiko, dass gruppenbezogene Gefährdungen, Risiken und Benachteiligungen nicht mehr wahrgenommen werden. Ansonsten thematisiert der Band ein breites Spektrum an Problemen. So beschäftigen sich zwei Autoren mit der Konstruktion von Behinderung durch das Leben in totalen Institutionen. Die Definition eines Phänomens als Krankheit führt nicht nur zur Stigmatisierung, sondern zum institutionellen Ausschluss. Menschen können nicht mehr für sich sprechen. Über ihr Leben legt sich der diskursive Dunst einer machtvollen Kategorie mit der Konsequenz der Ausgrenzung. Insofern ist die von Dieter Katzenbach geführte Diskussion über Begriffe nicht nur akademischer Natur. Sie verweist auf ganz praktische Probleme und Herausforderungen in allen Bereichen der Hilfe für Menschen mit Behinderungen. J. S. Organisationen und Interessenvertretungen von und für Menschen mit Behinderungen Kontaktdaten von Landesverbänden und Interessenvertretungen von und für Menschen mit Behinderungen Adresse Ansprechpartner Telefon/Fax/E-Mail AktivLebenKonzept e. V. Rotdornweg 13 99089 Erfurt Vorsitzender: Sven Leuthardt Tel.: 0361 7898280 Fax: 0361 7898282 office@aktiv-leben-konzept.de Allergie-, Neurodermitisund Asthmahilfe Thüringen (ANAT) e. V. Friedrich-Engels-Str. 18 99089 Erfurt Vorsitzende: Doris Herbst Stellvertreterin: Kornelia Holzapfel Tel. und Fax: 0361/2253103 info@anat-ev.de www.anat-ev.de Landesverband Thüringen für die Rehabilitation der Aphasiker e. V. Häßlerstraße 6 99096 Erfurt Vorsitzende: Angelika Barasch Stellvertreterin: Monika Habermann Tel.: 0361/6538105 Fax: 0361/6538106 info@aphasiker-thueringen.de -74- Organisationen Ansprechpartner Blinden- und Sehbehindertenverband Thüringen e. V. Nicolaiberg 5a 07545 Gera LV-Vorsitzender: Joachim Leibiger Tel.: 0365/2900320 Fax: 0365/52986 beratung.gera@bsvt.org Landesverband der Kehlkopfoperierten Freistaat Thüringen e. V. Frankenhäuser Str. 10 99706 Sondershausen LV-Vorsitzender: Dr. Günter Malz Tel. und Fax: 036603/42044 gmalz@t-online.de Deutscher Diabetiker-Bund Landesverband Thüringen e. V. Waldenstraße 13 99085 Erfurt Vorsitzende: Edith Claußen Tel.: 0361/7314819 Fax: 0361/7314819 ddb-thueringen@gmx.de www.ddb-thueringen.de Deutsche Gesellschaft für Muskelkranke e. V. DGM Landesgruppe Thüringen Zschechwitzer Straße 26 a 04603 Saara Vorsitzender: Manfred Stange Tel.: 03447/832384 Fax. 03212/1262765 manfred.stange@dgm.org Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft Landesverband Thüringen e. V. Haus 2 Zittauer Str. 27 99091 Erfurt Vorsitzender: Erhard Faupel Tel.: 0361/7100460 Fax: 0361/7100461 Dmsg-thueringen@dmsg.de www.dmsg-thueringen.de Deutsche Parkinson-Vereinigung e. V. LV Thüringen Fritz-Ritter-Straße 20 07747 Jena LV-Vorsitzende: Marlis Grimmer Tel.: 03641/335993 monika.58@gmx.de www.parkinson-vereinigung.de Deutsche Rheuma-Liga Landesverband Thüringen e. V. Weißen 1 07407 Uhlstädt - Kirchhasel LV-Präsidentin Prof. Dr. Ing. Christine Jakob Geschäftsführer: Haiko Jakob Tel.: 036742/67361 oder 674610 Fax: 036742/67363 info@rheumaliga-thueringen.de www.rheumaliga-thueringen.de Deutscher Schwerhörigenbund Landesverband Mitteldeutschland e.V. c/o DSB OV Weimar e. V. Allstedterstr. 1 99427 Weimar Vorsitzender: Detlev Schilling Tel.: 03643-422155/422157 dsb-landesverband-md@gmx.de Deutsche Vereinigung Morbus Bechterew Landesverband Thüringen Altenburger Straße 52 04610 Meuselwitz Vorsitzender: Hans-Jürgen Sporbert Tel. 03448/702527 Fax: 03448/753251 info@dvmb-th.de www.dvmb-th.de -75- Organisationen Ansprechpartner Elterninitiative für krebskranke Kinder Jena e. V. Forstweg 16 07745 Jena Vorsitzende: Sylvia Friedrich Tel.: 03641/28803 Fax: 03641/616675 ekk-jena@t-online.de www.ekk-jena.de Ev. Behinderten- und Angehörigenverband „Annerose“ e. V. Reinhardsbrunner Straße 14 99867 Gotha Vorsitzender: Sebastian Lange Tel.: 036 21/ 75 88 65 Fax: 036 21/ 73 95 47 www.aktion-annerose.de Frauenselbsthilfe nach Krebs e. V. LV Thüringen / Landesgeschäftsstelle Helenenweg 15e 98574 Schmalkalden Vorsitzender: Hans-Jürgen Mayer Tel.: 036 83/ 60 05 45 Fax: 036 83/ 40 74 60 h.mayer@frauenselbsthilfe.de GSV Thüringen e. V. Schützenstraße 4 99096 Erfurt Geschäftsführerin: Angelika Herzog Tel.: 0361/ 262 722 55 Fax: 0361/ 262 722 56 gsvthuer-gest@web.de www.gsv-thueringen.de Stadtverwaltung Erfurt Gesundheitsamt KISS-Kontakt- und Informationstelle für Selbsthilfegruppen Juri-Gagarin-Ring 150 99084 Erfurt (Auskünfte, Informationen und Kontakte zu Selbsthilfegruppen für Menschen mit Behinderung.) Ansprechpartnerin: Irina Krause Tel.: 0361/ 65 54 204 Fax: 0361/ 65 54 209 kiss@erfurt.de www.erfurt.de oder www.selbsthilfegruppe-thueringen.de Landesselbsthilfeverband Thüringen für Osteoporose e. V. - Geschäftsstelle Hohe Straße 38 99867 Gotha Vorsitzende: Rita Stichling Tel.: 036 21/ 211 802 Fax: 036 21/ 739 068 5 info@lv-thueringen-osteoporose.de www.lv-thueringen-osteoporose.de Katholischer Gehörlosenverein “Eichsfeldia” e. V. An der Liebesstatt 26 37335 Niederorschel Vorsitzender: Alfons Rogge Fax: 036 076/ 5 98 94 Kgve16@gmx.de www.kgv-eichsfeldia.de Landesverband der Gehörlosen Thüringen e. V. Hans-Grundig-Straße 25 99099 Erfurt 1. Landesvorsitzende: Erika Beyer Handy: 0172 350 14 35 Bifon: 0361/3452963 Fax: 0361/3452965 oder 0361/26289016 Aga1952@hotmail.com Glv-thueringen@t-online.de www.lvglth.de -76- Organisationen Ansprechpartner Landesverband „Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben“ Thüringen e. V. Salvador-Allende-Platz 11 07747 Jena Geschäftsführerin: Sabine Weigelt Tel.: 036 41/ 36 11 55 Fax: 036 41/ 21 94 25 info@lv-isl-thueringen.de Landesverband der Körperund Mehrfachbehinderten Thüringen e. V. Rudolph-Breitscheid-Straße 7a 99817 Eisenach Vorsitzender: Roland Miksch Stellvertreterin: Frau Weigel Tel.: 036 91/ 89 17 00 Fax: 036 91/ 89 17 57 Vdb-weigel@gmx.de www.th-online.de/vereine/lvkmb Landesverband für Hörgeschädigte e. V. Gutenbergstraße 29a 99423 Weimar Vorsitzender: Jens Elschner Tel.: 03643 742921 Fax: 03643 742901 Lebenshilfe für Menschen mit geistigen Behinderungen Landesverband Thüringen e. V. Otto-Schott-Straße 13 07745 Jena Vorsitzende: Birgit Diezel Geschäftsführerin: Katja Heinrich Stellvertreterin: Dr. Heike Schreer, Jena Tel.: 036 41/ 33 43 95 oder 036 41/ 33 65 08 Fax: 036 41/ 33 65 07 katja.heinrich@lebenshilfe-thueringen.de info@lebenshilfe-thueringen.de www.lebenshilfe-thueringen.de Sozialverband Deutschland e. V. Landesverband Thüringen Magdeburger Allee 138 99086 Erfurt 1. Vorsitzender Maik Nothnagel Tel.: 0361/ 790 790 07 Fax: 0361/ 790 790 07 info@sovd-thue.de Sozialverband VdK Hessen – Thüringen e. V. Geschäftsstelle Thüringen Am Anger 32 07743 Jena Vorsitzender: Karl-Winfried Seif LV-Stellvertreter: Dr. Claus Dieter Junker Tel.: 036 41/ 28 89 0 Fax: 036 41/ 28 89 33 Gst.thueringen@vdk.de www.vdk.de/hessen-thueringen THEPRA Landesverband Thüringen e. V. Bahnhofstraße 6 99947 Bad Langensalza Vorsitzender: Herr Emmerich Geschäftsführer: Herr Falko Albrecht Tel.: 036 03/ 82 640 Fax: 036 03/ 82 64 64 thepra-lv-thueringen@onlinehome. de Thüringische Krebsgesellschaft e. V. Paul-Schneider-Straße 4 07747 Jena Vorsitzender: Prof. Dr. med Andreas Hochhaus Tel.: 036 41/ 33 69 86 Fax: 036 41/ 33 69 87 info@krebsgesellschaft-thueringen. de Thüringer Landesverband der PsychiatrieErfahrener e. V. Johannesstraße 2 99084 Erfurt Vorsitzender: Matthias Sick Tel.: 0361/265 8433 Fax: 0361/265 843 50 buero@tlpe.de -77- Projekte Gold-Kraemer-Stiftung Verband der Behinderten Thüringen e. V. Kreisverband Erfurt Rotdornweg 13 99085 Erfurt Verband Evangelischer Behindertenarbeit Eltern helfen Eltern e.V. in Thüringen (Selbsthilfe von Familien mit geistig behinderten Angehörigen) Karl-Marx-Straße 62 98527 Suhl Tel.: 0361/ 792 331 6 Fax: 0361/792 331 6 VdBErf@t-online.de 1. Vorsitzende: Frau Pfestorf 2. Vorsitzender: Dr. Helmut Freund Tel.: 036 81/ 70 69 89 ehe_th@hotmail.com Verschiedene Verbände der Behindertenhilfe sind Mitglied im PARITÄTISCHEN Wohlfahrtsverband Thüringen e. V. und werden von ihm vertreten. Außerdem haben Wohlfahrtsverbände in ihren Gliederungen Angebote für Menschen mit Behinderungen. Deren Angebote sind über die Landesverbände zu erfragen. Die Gold-Kraemer-Stiftung – über 40 Jahre Engagement für eine inklusive Gesellschaft Die Gold-Kraemer-Stiftung ist eine gemeinnützige Stiftung privater Initiative zur Förderung von geistig und körperlich behinderten, armen, alten und kranken Menschen. Sie ist das Lebenswerk des Ehepaares Hon. Generalkonsul a. D. Paul R. und Katharina Kraemer. Mit ihr bündelten sie ihr vielfältiges karitatives Engagement. Die Eheleute entschieden, dass mit ihrem Tod die Juwelierkette Gold Kraemer und ihr Privatvermögen der Gold-Kraemer-Stiftung übertragen wurde. Mit ihrem Juweliergeschäft „Gold Kraemer“ hatten die Eheleute bereits 1949 ihr erstes Geschäft auf der Kölner Schildergasse eröffnet. Was darauf folgte, war eine beispiellose Erfolgsgeschichte, die dem einst jüngsten Goldschmiedemeister in Deutschland den Ruf „Goldschmied für Millionen“ einbrachte. Es gab deutschlandweit kein zweites Juwelierunternehmen, das mehr Trauringe verkaufte als „Gold Kraemer“. Das Stammhaus von Gold Kraemer auf der Kölner Schildergasse existiert heute noch. Es wurde im September 2015 nach umfangreicher Kernsanierung wiedereröffnet. Neben diesem wirtschaftlichen Erfolg engagierten sich Paul und Katharina Kraemer, sensibilisiert durch die Schwerstbehinderung und den frühen Tod ihres einzigen Sohnes -78- Rolf, zeitlebens für Menschen mit Behinderung und deren Familien. In den Folgejahren entschieden sich die Eheleute dazu, die vielfältigen Hilfen zu bündeln. 1972 gründeten sie deshalb die „Gold-Kraemer-Stiftung“. Sitz der Stiftung wurde ihr Familienhaus in Frechen-Buschbell. Die Stiftung ist heute eine Holding von fünf gemeinnützigen und einer gewerblichen Tochtergesellschaft. Die Besonderheit: Alle abfließenden Gewinne der heute bundesweit 45 Juwelier-Filialen kommen zu 100 Prozent ohne Abzug eines einzigen Cents der Stiftungsarbeit zu Gute. Seit über 40 Jahren setzt sich die Stiftung für eine andere – neue – Wahrnehmung von Menschen mit Behinderung ein, wie sie sich inzwischen in der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung widerspiegelt. Zu Beginn bereits Vorreiter für eine inklusive Gesellschaft, so verfolgt sie heute zielstrebig, an der Umsetzung der UN-Konvention mitzuwirken. Dieses Menschenrecht in den Alltag umzusetzen, ist dabei richtungsweisend für die Stiftungsaktivitäten. Im Zen- Projekte Gold-Kraemer-Stiftung trum stehen die Selbstbestimmung und die uneingeschränkte Teilhabe aller Menschen mit Behinderung am gesellschaftlichen Leben – in allen Lebensbereichen. Mit vielfältigen Projekten und Aktivitäten gibt die Gold-Kraemer-Stiftung Beispiele und Antworten, wie Inklusion gelingen kann: Sechs moderne Wohnstätten für Menschen mit Behinderung, in denen im wahrsten Sinne des Wortes Inklusion gelebt wird. Mit Modellprojekten wie dem Fußball-Leistungszentrum, ihrem Pferdesport- und Reittherapie Zentrum, dem Quartiersprojekt Frechen, dem inklusiven Begegnungszentrum Alt St. Ulrich oder dem Kunstprojekt „Art of Life“, gibt sie zukunftweisende Impulse und verschafft den Menschen mit Behinderung neue Lebensperspektiven – ganz im Sinne der Stiftungsgründer Paul und Katharina Kraemer, die das Fundament für die Arbeit der Stiftung gelegt haben. Das Quartiersprojekt Frechen Der demographische Wandel sowie die Zielsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention zur Inklusion sind große Herausforderungen – insbesondere mit Blick auf älter werdende beziehungsweise alt gewordene Menschen mit und ohne Behinderung. Mit dem Quartiersprojekt Frechen verwirklicht die Gold-KraemerStiftung eine Stadtteilentwicklung, die Einfluss auf die Veränderung der Wohn- und Lebenssituation der Menschen im Zentrum Frechens nimmt. Das Besondere dieses Quartiersprojektes besteht darin, dass es sich an Menschen mit und ohne Behinderungen richtet und dabei vor allem an Senioren mit Behinderung. Das Projekt leistet einen wichtigen Beitrag, dass Bürgerinnen und Bürger selbstbestimmt in ihrer gewohnten Umgebung leben können und ihr soziales Umfeld erhalten bleibt. -79- Projekte Gold-Kraemer-Stiftung Seit Dezember 2012 wird die Projektentwicklung auf unterschiedlichen Ebenen gesteuert und begleitet. Zur Vorstellung des Projektes und der Initiierung der Netzwerkarbeit der Akteure vor Ort fand im Mai 2013 eine Auftaktveranstaltung statt. Der Teilnehmerkreis reichte von Vertreterinnen und Vertretern aus den Bereichen Seniorenwohnen, Selbsthilfegruppen, Kultur, Sport bis hin zu den ambulanten und stationären Angeboten der Eingliederungshilfe. Im Anschluss erfolgten dann die Verknüpfung aller Kompetenzen und des vorhandenen Fachwissens sowie die Bündelung der Ressourcen, um die Angebotsstruktur für Menschen mit und ohne Behinderung im Alter nutzbar zu machen. Als Anbieter barrierefreier Wohnungen in der Frechener Innenstadt hat die Gold-Kraemer-Stiftung seitdem weitere stiftungseigene Wohnungen saniert und zu barrierearmem Wohnraum umgebaut. Anregungen der Bewohnerinnen und Bewohner sind über das Quartiersmanagement in einen neuen Standardkatalog zur Verbesserung des Wohnwerts und der Barrierefreiheit eingeflossen. Durch die Optimierungen der stiftungseigenen Liegenschaften sowie einer noch zu initiierenden neuen Gestaltung des Wohnumfeldes erhöht sich somit weiterhin die Wohnattraktivität und Zufriedenheit der Menschen im Quartier. Ein Schwerpunkt der Arbeit des Quartierprojektes ist die kontinuierliche Zusammenarbeit mit den wichtigen Akteuren vor Ort. Mit der Einbindung der Stadt Frechen (bei Köln) entstanden Netzwerkstrukturen, die den Rahmen für die gemeinsame Entwicklung und Umsetzung von Ideen zur Neu- -80- und Umgestaltung des Sozialraums sowie zusätzlicher Angebote und Strukturen setzen. Ehrenamtliches Engagement schafft einen weiteren, wichtigen Baustein zur Verbesserung der Lebensqualität. Berücksichtigt werden dabei auch ehrenamtliche Helferinnen und Helfer mit Behinderung. Erstmalig erfolgte dies über ein offenes Angebot für ältere Bürgerinnen und Bürger im Rahmen eines Adventscafés. Menschen mit Behinderung haben dafür Projekte Gold-Kraemer-Stiftung In 2016 stehen – gemeinsam mit Netzwerkpartnern – der Ausbau und die Weiterentwicklung der Angebote im Fokus. Im Juli 2016 eröffnet die Stiftung eine Tagespflege für ältere Menschen mit unterschiedlich hohem Betreuungsbedarf. Als integrative Einrichtung richtet sich die Tagespflege im Schwerpunkt an Menschen mit Demenz und deren Angehörige. Plätzchen gebacken, die im Rahmen des Adventscafés angeboten wurden. Das Quartiersprojekt bietet unter anderem ein wöchentliches Frühstücksangebot, einen Seniorentanz in einer Altenpflegeeinrichtung, Sport für Menschen mit Demenzerkrankung, Discoveranstaltung für Menschen mit und ohne Behinderung, einen Seniorennachmittag mit Grillfest und viele weitere Aktionen. Mit dem Umzug in das neue Begegnungs-, Beratungs- und Bildungszentrum der Gold-Kraemer-Stiftung in Frechen im September 2015 hat das Quartiersprojekt sich nicht nur räumlich vergrößert. Vielmehr kommt auch die Vernetzung mit dem ebenfalls hier angesiedelten Ambulant Betreuten Wohnen und der Ehrenamtsbörse Frechen zum Tragen. Dadurch konnte der Ausbau von inklusiven Kunst-, Kultur sowie Freizeit- und gesundheitsfördernden Angeboten vorangetrieben werden. So unterstützt das Quartiersprojekt seit Sommer 2015 die mobile DemenzBeratung des Rhein-Erft-Kreises, die sich an Menschen mit Demenz und deren Angehörige richtet. -81- Hintergrund: Das Quartiersprojekt Frechen ist ein vom Land Nordrhein-Westfalen unterstütztes Pilotprojekt, das als eines der wenigen Quartiersprojekte im Land Menschen mit Behinderung in den Fokus rückt. Die wissenschaftlich fundierte Evaluation, die die Katholische Hochschule NRW in Münster bis zum Herbst 2015 durchgeführt hat, bestätigt die gute Entwicklung des Quartierprojektes Frechen. Es zeichne sich dadurch aus, dass es sich stärker als bisherige Quartiersprojekte auf den Inklusionsgedanken beziehe. Damit gehöre es zur „neuen Generation“ inklusiver Projekte, die zur Weiterentwicklung und Anpassung der bestehenden Quartierprojekte an politische und gesellschaftliche Herausforderungen beitrage, so die Experten. Weitere Informationen über die Gold -Kraemer-Stiftung und ihre Angebote und Leistungen finden Sie unter www. gold-kraemer-stiftung.de. Projekte Netzwerk Inklusion Das „Netzwerkprojekt Inklusionskultur“ (Ein Netzwerkprojekt zum Abbau gegenständlicher und psychosozialer Barrieren durch künstlerisch/ kulturelle Gestaltungs-Begegnungs- und Betätigungsvariationen sowie Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit) Zum Verständnis Aus unserem Praxisbezug schon vor fünf Jahren haben wir Inklusion im Zusammenhang, Menschen mit Behinderung und vor allem Bildung als anscheinend verordnete Sache beobachtet, während bei uns seit 2011 sich die Entwicklung bereits auf Menschen mit und ohne Behinderung aus der Arbeit selbst und den darin einbezogenen Menschen herleitete. Der Hauptzweck unseres Verein Vital e. V. ist die Förderung der Inklusion. Damals hatte sich der Vogtländische Knollenring e. V., eigentlich ein Kartoffelverein, und der VITAL e. V. zusammengetan und in Kooperation ein Projekt zum Suchen, Testen und Dokumentieren barrierearmer Wanderwege begonnen umzusetzen, das nach Abschluss der Finanzierung ehrenamtlich weitergeführt wurde. Schon bald setzte sich die Erkenntnis durch, dass inklusive Betätigung keine willkürliche Sache, sondern eine objektive Notwendigkeit ist. Der hohe Anteil von Menschen mit Behinderung von 10-16% ist eng mit der demografischen Entwicklung verbunden. Alter bedeutet auch im allgemeinen Lebensmobilitätseinschränkung. Also trifft die Behindertenrechtskonvention (auch laut Abschnitt e ihrer Präambel) auf weit mehr Menschen als die im SGB IX § 2 definierten Menschen mit Behinderung zu. Auf alle, die durch Barrieren an der vollen, gleichberechtigten Teilhabe gehindert werden. Und das greift in alle Bereiche der Gesellschaft hinein. Ein anderer Bereich unserer Arbeit, bei dem wir Erfahrungen sammeln durften, ist die Selbsthilfe. Dort ist es so, dass Patienten mit erworbener Hirnschädigung und ihre Angehörigen, Freunde und ihr gesamtes Umfeld die Krankheitsverarbeitung gemeinsam durchmachen. Der Rückschluss daraus ist Behinderung nicht im Kontext von Krankheit, sondern von Barrieren zu sehen. Denn Behinderung ist keine Eigenschaft von Menschen, Behinderung ist eine Eigenschaft von Barrieren. Das Projekt – Grundgedanken Wir wollen Menschen dazu ermutigen und motivieren, ihre künstlerische kreative Seite auszuprobieren, weiterzuentwickeln und ihre Fähigkeiten auch trotz Einschränkung zu zeigen. Nur wer miteinander etwas tut, erfährt und weiß von Möglichkeiten des Anderen. Der Netzwerkgedanke eröffnet uns Gelegenheiten, um zusammen mit anderen Partnern aktiv zu werden und unsere Ressourcen mit den ihren zu bündeln. Die Aufgabe ist auch, den Zugang zur Kunst zu prüfen und auszuprobieren, wo eventuell die Barrieren sind. Oftmals sind sie nicht nur baulicher Natur. Und wo sie zum Teil nur baulicher Natur sind, hat oft nur jemand während der Organisation einer Veranstaltung nicht an Barrierefreiheit gedacht. Wenn er aber persönliche Erfahrungen mit inklusiven Veranstaltungen gemacht hat, vergisst er es nicht mehr. Auch wird oft Barrierefreiheit an der Zahl der potentiellen Nutzer festgemacht. Barrierefreiheit sollte aber generell ein Thema sein. Ablauf Bereits im Vorfeld des Projektes gab es eine Ideenwerkstatt. Die Teilnehmer hatten die Gelegenheit, verschiedene Ideen für eine in- -82- klusive künstlerisch kulturelle Betätigung zu entwickeln, sie festzuhalten und zu besprechen. Dazu entwickelten wir einen Fragebogen, welcher geeignet war das Neigungs- und Meinungsbild der Teilnehmer zu erfassen und als Umsetzungshilfe verwendet zu werden. Darüber hinaus ist es auch ein Ziel, die Teilnehmenden zu neuen, bisher nicht praktizierten Aktivitäten zu motivieren. Selbstbestimmung setzt Entscheidungsfähigkeit voraus und Entscheidungsfähigkeit benötigt Wahlmöglichkeiten. Das Projekt wurde auch über das Selbsthilfesystem, das inklusiv aufgestellt ist, bekannt gemacht. Wir haben bewusst einen Wohngebietstreff des Vereins Wohn- und Lebensräume mit einbezogen. Erstens ist er barrierefrei zugänglich und besitzt eine Rollstuhltoilette bei zentraler Lage in Plauen, dort verkehrt auch ein Teil unseres Zielpublikums und folglich waren auch sie mit gefragt, als es um die ersten Absprachen ging. Einige sind auch jetzt bei den Freunden des Gesanges und der Eröffnung unserer Bilderausstellung dabei gewesen. Während die erste Phase dem Suchen neuer Netzwerkpartner und dem Ausloten von Möglichkeiten vorbehalten war, geht es in der zweiten Phase an erste Aktivitäten. So haben wir mit einem Keramikkurs angefangen, bei dem die ersten Veranstaltungen unter Beteiligung von Menschen mit und ohne Behinderung erfolgten. Die Freunde des Gesanges haben die ersten Veranstaltungen mit fast 20 Personen, Tendenz steigend, durchgeführt. Es gab die Ausstellungseröffnung für eine Ausstellung von Bildern unserer Vereinsmitglieder, die in deren Freizeit oder während Therapiestunden entstanden. Die Ausstellung ist noch ca. zwei Monate zu sehen. Eine Führung durch die Ausstellung Projekte Netzwerk Inklusion “Das Aquarell im Vogtland” mit dem Kurator hat uns der Kunstverein organisiert. Den Inklusionsgedanken weiter in die Öffentlichkeit zu tragen, soll eine Hauptaufgabe des Projektes sein. Wir entwickeln inklusive „ Bildungsmodule“ für die verschiedenen Berufe der Sozialen Arbeit. Folgende Themen sind bisher geplant und zum Teil schon angewandt: - Der Schlaganfall und seine psychosozialen Auswirkungen oder “Die hirngeschädigte Familie” - Unterstützte Kommunikation - Barrierefreiheit - Inklusion als Chance/Möglichkeiten einer inklusiven Entwicklung Dabei sind wir schon zahlenmäßig bei einem Referentenkollektiv von sieben Personen. Das Referententeam ist auch in diesem Halbjahr schon aktiv gewesen, um über das Thema „Die psychosozialen Auswirkungen nach einer erworbenen Hirnschädigung” zu berichten. Das sind Auswirkungen, die auf das gesamte Umfeld des Geschädigten wirken. Der aktive Umgang mit Kunst fordert und fördert alle sozialen Kontakte und die wiederum wirken positiv auf den Patienten ein (auch eigene Erfahrungen, ich hatte vor 12 Jahren eine Stammhirnblutung). Einzelne Vertreter des Projektes „Inklusionskultur“ treffen sich seit Anfang des Projektes mit dem Stammpersonal unserer Beratungsstelle alle 14 Tage zu einem „Projektstammtisch“ und erarbeiten Ideen und Vorschläge zur Umsetzung des Vorhabens. Der Stammtisch alle zwei Wochen ist schon Tradition geworden. In einer Runde wird dort zwischen Spinnstunde und ernsthafter Diskussion der nächste mögliche und auch manchmal unmögliche Weg erörtert. Wie geht es nun weiter? Natürlich inklusiv. Selbstverständlich dokumentieren wir die Aktivitäten der Projektteilnehmer mit allen relevanten Daten (wer, wo, was, von wem initiiert etc.). Darüber hinaus möchten wir mittels Befragung der mitmachenden Menschen den Einfluss der Aktivitäten auf das Lebensgefühl, die persönliche Zufriedenheit sowie möglicherweise spürbare Veränderungen im Hinblick auf die behinderungsbedingten Einschränkungen erfassen. Förderer und Unterstützer erhalten einmal pro Jahr einen Zwischenund nach Ende der Laufzeit einen Abschlussbericht. Wir gewährleisten eine intensive regionale und überregionale Pressearbeit während des Gesamtprojekts sowie die Nutzung aller modernen Medien. Wir benutzen dazu auch die sogenannten „Neuen Medien”. Es besteht ein Facebook-, Twitter- und Google-Account und daneben noch ein Youtube Account, die alle auf der Vereinswebsite: www.vital-vogtland.de zusammenlaufen. Dazu noch Einträge in überregionalen Online-Plattformen etc. Geeignete Werbematerialien (Handzettel, Plakate) werben klassisch für die Beteiligung am „Netzwerkprojekt Inklusionskultur“. Die Bildungsveranstaltungen werden öffentlichkeitswirksam organisiert und zur Nachnutzung angeboten. Das Vorhaben wird jährlich evaluiert und mittels der Fragebögen ausgewertet. Wir werden weiter in Veranstaltungen und mit Projekten wie diesem, auf eine notwendige inklusive Gesellschaft hinarbeiten. Wie wichtig es ist, dies in die Köpfe aller Menschen zu bringen, zeigt einmal mehr die aktuelle Situation der Flüchtlinge in unserem Haus Europa und auf der ganzen Welt. -83- Wir werben mit unserer gemeinsamen inklusiven Arbeit für mehr Mitmenschlichkeit und Offenheit für barrierefreie bzw. barrierearme Gedanken. Inklusion beginnt im Kopf und kennt keine Grenzen. Und es muss nicht überall Inklusion drüber stehen, wo Inklusion drin ist. Kunst und Kultur ist ein Medium, welches Gedanken zum Tragen bringt und uns auf bessere inklusive Zeiten hoffen lässt. Es ist auch im Projekt die Nachhaltigkeit berücksichtigt, denn das Prinzip, Inklusion im kulturellen Bereich zu leben, kann und soll nach Beendigung des Projektes weitergeführt werden. Genauso kann und sollte der Grundgedanke des Projekts von anderen aufgefasst werden. Wir werden unseren Teil dazu beitragen und uns dazu einbringen. Wir freuen uns über jeden neuen Mitmachenden. DRK Mobil gemeinnützige GmbH – ein Beitrag zur inklusiven Gesellschaft Ausgangspunkt war ein „Behindertenfahrdienst“ beim Deutschen Roten Kreuz in Solingen. Man bemerkt schon am Namen, dass ein solches Konzept in die Jahre gekommen ist. In einer zukünftigen inklusiven Gesellschaft macht es einfach keinen Sinn mehr, für die Gruppe der behinderten Menschen besondere Dienste anzubieten. Wir sind deshalb zum Kern des Themas zurückgekehrt und haben das Gemeinsame herausgesucht. Die fehlende Mobilität, die entsteht, wenn Menschen nicht alleine öffentliche Verkehrsmittel nutzen können oder gar selbst ein Fahrzeug führen können, ist das verbindende Thema. Besonders in einer Gesell- Projekte Netzwerk Inklusion schaft, die erreichen will, dass alte oder behinderte Menschen nicht stationär in Heimen untergebracht sind, sondern zu Hause leben können, in Wohngruppen oder anderen flexiblen Angeboten, spielt das Thema „Mobilität“ eine wesentliche Rolle. Aus diesem Grundthema haben wir ein Konzept entwickelt: 1. Wir helfen das Thema Mobilität in unserer Stadt zu lösen. DRK Mobil ist ein Fahrdienst für Menschen mit Mobilitätseinschränkungen. Uns interessiert nicht, ob die Menschen krank, behindert, einfach alt, verwirrt, in der Bewegung eingeschränkt oder aus einem anderen Grund immobil sind. Wir fahren alle, die nicht mobil sind. Manchmal bringen wir Rollstuhlfahrer sogar nur aus der Wohnung auf die Straße oder helfen stark übergewichtigen Menschen mit einem speziellen treppensteigenden Rollstuhl dabei, überhaupt selbstständig eine Erledigung außer Haus tätigen zu können. Zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und dem Wunsch zu Hause, leben zu wollen, gehört einfach die nötige Mobilität. Wir wollen für alle mobilitätseingeschränkten Menschen ein Angebot schaffen. Das ist im Rahmen der bestehenden Abrechnungsmöglichkeiten schwierig. Wir müssen deshalb mit Kostenträgern aus den Sozialgesetzbüchern V., IX., XI. und XII. abrechnen. Manche Kunden müssen zur Erfüllung ihrer speziellen Wünsche für freie Mobilität privat zahlen. 2. Wir nutzen die aus unserer Idee entstehende Arbeit, um wiederum Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderungen zu schaffen. Deshalb sind wir von Beginn an ein anerkanntes Integrationsunternehmen! Zurzeit haben wir 11 Arbeitsplätze für behinderte Menschen mit sogenannten Vermittlungshemmnissen und erweitern diese Zahl noch in diesem Jahr auf 16. Sie arbeiten bei uns als Fahrerin und Fahrer sowie als Fahrdiensthelferin und Fahrdiensthelfer. Das hat am Anfang Kunden und andere Firmen und Institutionen überrascht. Mittlerweile erfahren wir von unseren Kunden und Partnern, dass Menschen mit Behinderung eher mehr Verständnis und Freundlichkeit gegenüber immobilen Menschen mitbringen. Einige unserer nichtbehinderten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben sich bei uns ganz gezielt beworben, weil sie gerne mit behinderten Menschen zusammen arbeiten und zugleich eine soziale Aufgabe übernehmen wollen. Diese Gründung hat eine Vorgeschichte: Der Kreisverband des Deutschen Roten Kreuzes Solingen e. V. und die gemeinnützige Gesellschaft für Rehabilitations- und Integrationsmanagement mbH aus Solingen haben sich zusammen getan, um dieses neue Unternehmen zu gründen. Dazu haben beide Partner ihre Kernkompetenzen zusammengebracht. Das DRK Solingen ist spezialisiert auf „Fahren im Gesundheitssystem“ und die R&I gGmbH auf das Thema „Integrationsunternehmen“. Diese beiden Partner entwickelten zuerst ein zeitgemäßes Konzept für einen Fahrdienst für Menschen mit Mobilitätseinschränkungen. Eine Wirtschaftsprüfungsgesellschaft aus Solingen schrieb einen Businessplan für das neue Unternehmen mit den recht komplizierten und unterschiedlichen Abrechnungssystemen unter anderem als Voraussetzung, um als Integrationsunternehmen anerkannt zu werden. Gemeinsam mit einem Rechenzentrum wurde außerdem ein Abrechnungskonzept für die unterschiedlichen Leistungen aus den verschiedenen Sozialbüchern entwickelt und diese mit einer weitgehend barrierefreien Bedienung im Fahrzeug verbunden. Zum 1. Januar 2014 -84- wurde der alte Fahrdienst aus dem DRK Solingen e. V. in die neue Gesellschaft ausgegründet. Bereits im Herbst 2013 führten wir eine zehnwöchige Qualifizierung für schwerbehinderte Menschen mit Vermittlungshemmnissen zur Fahrdiensthelferin oder zum Fahrdiensthelfer mit finanzieller Förderung durch die Aktion 5 des Integrationsamtes vom LVR in Köln durch. Insgesamt 15 Personen nahmen an der Maßnahme teil, 12 beendeten die Maßnahme erfolgreich und davon 10 Teilnehmer erhielten einen Arbeitsplatz. Die Aktion Mensch förderte im Rahmen der Impulsförderung die Stellen der Betriebsleiterin und die der Disponentin. Ohne diese Förderung wäre der Aufbau des Unternehmens nicht möglich gewesen. Nur durch qualifiziertes Leitungspersonal, das von Beginn an das Unternehmen entwickelt, ist eine solche rasante Entwicklung möglich. Dank des bereits beim Kreisverband bestehenden Fahrdienstes konnte das Unternehmen gleich mit 12 Fahrzeugen beginnen und hatte von Beginn an einige sichere Umsätze, die aber noch nicht für die Zahl der behinderten und nicht-behinderten Beschäftigten ausreichten. Durch Werbemaßnahmen, den Aufbau eines entwickelten Marketings und gute Qualität in der Beförderung konnte der Umsatz im Laufe des Jahres 2014 bereits deutlich erhöht werden. Der Bedarf an einem solchen Angebot ist hoch. Gleichzeitig mussten die Umsätze gesteigert werden, eigene organisatorische Strukturen aufgebaut und dann schnell vergrößert und verbessert werden. Trotz aller Förderungen war dabei das Geld von Anfang an knapp, weil DRK Mobil als soziales Unternehmen nur über geringes Eigenkapital verfügt. Jeden Monat mussten aber bereits von Beginn an 30.000 EUR für Lohnkosten ausge- Projekte Barrierefreie Geldautomaten geben werden (heute deutlich mehr), während viele Kunden über die sozialen Kostenträger erst nach Wochen oder Monaten zahlten. Das ist wohl das Los aller sozialer Unternehmen, die nur geringe Margen haben und mit wenig Kapital starten. VITAL e. V Albertplatz 1, 08525 Plauen 03741/719096 03741/719097 Inklusion und Barrierefreiheit im Alltag - Verbesserungen zum Wohle der Bankkunden – eine gemeinwohlorientierte Initiative von Raymund Haller Ich möchte auf ein Defizit im Finanzsektor hinweisen. Es betrifft die in den Banken sich befindenden Gerätschaften, die dem Kunden zur Verfügung stehen. Insbesondere Kontoauszugsdrucker bzw. Selbstbedienungs-Terminals, die bei manchen Banken noch defizitär sind, weil sie nicht nur tatsächliche Kontostandsveränderungen ausdrucken und auswerfen, sondern auch überflüssige papierhafte Saldenmitteilungen, die keine Kontoveränderung beinhalten. Schädlich für die Umwelt, und überflüssig für die Kundschaft. Manche Banken haben den Fortschritt bereits in ihren eigenen Geräten integriert, indem sie in deren Display die Aussage erscheinen lassen: „Es sind keine neuen Auszüge vorhanden“. Empfehlens- und nachahmenswert für die Banken in Deutschland und auch weltweit, die dies noch nicht realisiert haben. Zum Wohle der Umwelt und der Kundschaft. Umbuchungen Speziell die Selbstbedienungs-Terminals, die nicht in allen Geldinstituten anzutreffen sind, besitzen eine weitere Schwäche: Will der Kunde innerhalb seiner eigenen, bei der Bank geführten Konten eine Umbuchung vornehmen von einer bestimmten Kontoart, zum Beispiel Giro- Konto, auf die andere Kontoart, z. B. Tagesgeldkonto, muss er am Terminal zahlreiche persönliche Daten eingeben. Dies kostet Zeit, ist nicht nur für Sehbehinderte und Blinde erschwerend und birgt das Risiko von Fehleingaben. Eine große Erleichterung bei solchen Umbuchungen bieten bisher nur wenige Banken an: Über eine einfache, sehr kurze Menüführung im Display des Terminals wird die gewünschte Umbuchung veranlasst. Unmittelbar nach einer am Terminal getätigten Umbuchung bzw. Überweisung möchte mancher Kunde sich sofort einen nummerierten Kontoauszug mit exakter Wertstellung über die gerade erfolgte GeldTransaktion ausdrucken lassen. Leider ist das bei einigen Banken noch nicht möglich. Hier muss der Kunde Stunden, an Wochenenden sogar Tage verstreichen lassen, bis er den Kontoauszug erhalten bzw. auch abheften kann. Des Weiteren bieten manche Banken den Kunden sogenannte Überweisungsscanner (Einlesegerät für ausgefüllte Überweisungsformulare) an. Manchmal in einer einzigen Gerätschaft anzutreffen, oder auch in den Selbstbedienungsterminals integriert, bei denen der Kunde sowohl vorgedruckte als auch handschriftlich verfasste Überweisungsformulare einlegen kann. Aber auch da besteht das Defizit, dass der Kunde nach der vonstattengegangenen Geldtransaktion nicht sofort einen nummerierten, mit exakter Wertstellung ausgewiesenen Kontoauszug erhalten kann. Technisch müsste dies -85- doch möglich sein, denke ich. Der Aufwand dafür und damit die Kosten sind den Banken aber vielleicht noch zu hoch? Stückelung und Geldwechseln Außerdem möchte ich auf eine technische Ausstattung hinweisen, die in vielen Geldautomaten leider noch nicht integriert ist, nämlich die Möglichkeit für den Kunden selbst zu bestimmen, in welcher Stückelung der gewünschte Betrag ausgegeben werden soll: in 5, 10, 20 oder 50 Euro- Noten; des Weiteren die Möglichkeit, bei Einzahlung einer großen Banknote, nur einen Teilbetrag zu buchen und den Rest vom Automaten gleich wieder zurückzubekommen; nicht zuletzt die Möglichkeit des bloßen Geldwechselns: Der Kunde zahlt einen großen Geldschein ein und bekommt dann denselben Betrag in kleineren Scheinen wieder zurück, oder umgekehrt, viele kleine Banknoten im Tausch gegen einen großen Geldschein. Noch nicht alle Geldinstitute haben einen Bankomaten mit den eben beschriebenen Nutzungsmöglichkeiten, einen sogenannten ‚Cashrecycler‘. Geordneter, vorderseitiger und richtungssortierter Auswurf Allerdings haben vermutlich alle derzeit weltweit existierenden Geldautomaten einschließlich der soeben erwähnten modernen Geräte noch ein gemeinsames Manko, das in einem einzigartigen und gleichzeitig endgültigen allerletzten Schritt beseitigt werden könnte. Der Automat ist zwar in der Lage die Stückelung der Banknoten selbst vorzunehmen, diese auch gebündelt auszuwerfen 5, 10, 20, und 50 Euro-Scheine. Doch ein Manko besitzt der Geldautomat noch. Er wirft die Geldscheine noch immer seitenverkehrt aus. Er wirft sie noch nicht so aus, wie sie in den Geldbeuteln der Kunden Projekte Barrierefreie Geldautomaten eingelegt werden sollten. Der sehbeeinträchtigte Kunde, der den Umgang mit Geld erlernt hat, muss die Geldscheine noch selbst drehen und wenden, um sie dann korrekt geordnet in den eigenen Geldbeutel einlegen zu können. Eigentlich unnötig, erschwerend und überflüssig. - Bei der Geldentnahme sollten für den Kunden die Vorderseiten der Banknoten mit ihren großformatigen Zahlenwerten nach oben zeigen und sofort zweifelsfrei und eindeutig erkennbar sein. - Die Scheine sollten nach Wertstufen geordnet übereinander liegen und nicht auf dem Kopf stehen. Dann werden sowohl ältere als auch jüngere sehschwache (sehbehinderte) und blinde Menschen durch diesen geordneten, vorderseitigen und richtungssortierten Auswurf der Geldscheine profitieren, weil die fühl- und tastbaren Merkmale (schweißtreibende Streifen) nur auf den Vorderseiten der Eurobanknoten am linken und am rechten Rand anzutreffen sind. - Beim 5-Euro-Schein sind diese durchgängig, - bei der 10-Euro-Note mit einer Unterbrechung, - bei der 20-Euro-Banknote mit zwei Unterbrechungen. Diese Merkmale befinden sich am linken und am rechten vorderseitigen Rand, sodass auch die verschiedenen Nennwerte einfacher und eindeutiger voneinander unterschieden werden können. Dadurch ist es möglich, die Geldscheine weniger auffallend und schneller zu überprüfen und zu verstauen. Das Prinzip der eindeutigen fühlbaren Unterscheidbarkeit wird sich auch bei den zukünftigen Nennwerten fortsetzen. Viele werden diese Errungenschaft mit Dankbarkeit aufnehmen. Die Neuerung kommt in Wirklichkeit allen Bankomatennutzern zugute. Bei den meisten würde sie auch ein Gefühl der Zufriedenheit, Selbstsicherheit und Freude hervorrufen. Verbrechensvorbeugung und Sicherheitsempfinden bei den Nutzern Hinzu kommt der Aspekt, des durch diese Änderung / Neuerung ansteigenden, sich erhöhenden Sicherheitsempfindens / Sicherheitsgefühls bei den Nutzern. Diese können nun die ausgezahlten Banknoten schneller und weniger auffallend überprüfen und sofort verstauen. Wer sie dabei beobachtet, kann nicht mehr so leicht erkennen, ob ein höherer Betrag abgehoben wurde, denn der Kunde braucht nun nicht mehr die Scheine zu drehen und zu wenden. Ein potentieller Räuber, der die Geldentnahme beobachtet, wird meist erst bei einem höheren Geldbetrag den Bankkunden verfolgen und überfallen. Die Verweildauer des Kunden am Geldautomaten ist also stark minimiert und damit ebenso die Zeitspanne, in der er sich unsicher fühlt und Angst vor einem etwaigen Überfall haben muss. Unabhängig von der Überfallgefahr braucht der Nutzer nun nicht mehr so sehr befürchten, dass ihm die Scheine auf den Boden fallen, wie meine Befragungen von jungen, älteren, sehschwachen und nichtsehbehinderten Menschen ergeben haben. Und seine Angst, beim Geldabheben oder danach beim Verlassen des Bankbereichs überfallen zu werden, ist nun stark minimiert, reduziert und vermindert. Ich denke, die Neuerung bei den Bankomaten dient der Verbrechensvorbeugung / Prävention und einem höheren Sicherheitsgefühl der Bürger/innen und sie sollte insofern ein Anliegen von Polizei- und Kriminalbeamten sein. Diese würden außerdem auch persönlich von dem geordneten, vorderseitigen und richtungssortierten Banknotenauswurf profitieren! Barrierefreiheit am Bankautomaten ist Ziel der Petition von Raymond Haller aus Karlsruhe. -86- Projekte Personalisierte Bekleidung Ziel der Petition Ich würde mir wünschen, dass es zu den oben beschriebenen Verbesserungen der Geldautomaten kommt, möglichst flächendeckend in ganz Deutschland, in Europa, ja sogar weltweit. Mir ist aber bewusst, dass die dafür Verantwortlichen die wirtschaftlichen (ökonomischen) und politischen Gegebenheiten berücksichtigen müssen. Vielleicht gelingt mir aber ein Anstoß, und einige Banken beginnen mit der Neuerung. Da der Wettbewerb zwischen den Geldinstituten hoch ist, haben sie ein großes Interesse, Dinge einzuführen, die dem Verbraucher zugutekommen wie zum Beispiel die Verbesserung der Bankomaten. Das ist meine Hoffnung. Endgültiges Ziel muss der deutschland-, europa- und weltweite geordnete, vorderseitige, richtungssortierte und einheitliche Geldscheinauswurf an Geldautomaten sein. Vor kurzem führte ich Telefonate mit namhaften Herstellern von Kontoauszugsdruckern, SB-Terminals, Überweisungsscannern und Geldautomaten. Sie versicherten mir, dass es technisch möglich wäre, diese Verbesserung in die Geldautomaten zu integrieren. Die Banken und Sparkassen müssten nur mit ihren Rechenzentren Kontakt aufnehmen, um diese Errungenschaften für ihre Kunden zu beantragen. Diese könnten dann eine Software entwickeln, die sie dann über Nacht freischalten würden und diese Verbesserung der Geldautomaten erzielen. Um auf das Thema der barrierefreien Geldautomaten aufmerksam zu machen, habe ich mich bereits mit dem SWR in Verbindung gesetzt. Dieser strahlte am 02.03.2016 in der Landesschau Baden-Württemberg einen Informationsbeitrag aus, der unter folgendem Link von Ihnen abgerufen werden kann: http://www.swr.de/landesschau- bw/karlsruhe-barrienfreiheit-amgeldautomaten/-/id=122182/ did=17049910/nid=122182/ k1nx9k/index.html Nur durch die Umsetzung der genannten grundsätzlichen und immer gleichen Ausgabeform an Geldautomaten wird es sehbehinderten und blinden Menschen erst überhaupt ermöglicht, ihre Geldgeschäfte selbstständig und selbstbestimmt durchzuführen. Die verbindliche Umsetzung einer einheitlichen Lösung der geschilderten Funktionsweise von Geldautomaten trägt nicht nur zur Verbesserung der Barrierefreiheit und damit zur Umsetzung der UNBehindertenrechtskonvention bei, sondern erhöht zudem Orientierung und Sicherheit, ohne dass hierfür hohe Kosten entstehen würden. Die meisten Menschen sind gegen die Abschaffung des Bargeldes. Es erfreut sich einer großen Beliebtheit in der Bevölkerung. Der Wunsch seiner Beibehaltung wird durch die Verbesserung der Geldautomaten verstärkt, da dann der Umgang mit Bargeld noch einfacher und sicherer wird. Ich bitte Sie, fordern Sie die Banken auf und beantragen Sie eine bundesweite, flächendeckende Verbesserung zum Wohle aller Kunden. Vielen Dank dafür. Raymund Haller (Bild rechte Spalte) Pfaffstrasse 18 76227 Karlsruhe Tel. (0721) 498106 (AB) -87- Integration und Inklusion durch personalisierte Bekleidung Entdeckung der Vielfalt der Kleiderbedürfniswelten Stephen Hawking, einer der bedeutendsten Kosmologen, einer der bekanntesten Senioren und ALS Patienten unserer Zeit, sagte einmal: „Ich glaube, wir haben eine gute Chance, die Gesetze zu entdecken, die das ganze Universum regieren.“ Übertragen von der Kosmologie auf die Bekleidungswissenschaft hieße dies, eines Tages erkennen wir die Gesetze, die die Welt der Bekleidungsbedürfnisse des Menschen beherrschen. Aber wozu? Z.B. um Menschen, wie Stephen Hawking, dessen physischer Körper in seinen Bewegungsmöglichkeiten stark eingeschränkt ist, Kleidung zu schaffen, die auf seine physischen, ästhetischen u. a. Bedürfnisse genau abgestimmt ist, die ihm und seinen Pflegern das An- und Ausziehen, das Tragen der Kleidung Projekte Personalisierte Bekleidung erleichtert und sein Auftreten als Mann und als Wissenschaftler in der Öffentlichkeit adäquat mitgestaltet. Voraussetzung dafür ist, dass die Gesetze, nach welchen er und sein Körper funktioniert, bekannt sind, um ein Kleidungsstück zu schaffen, das gut zu ihm passt: intelligente Kleidung. Stephen Hawking beschrieb Intelligenz als die Fähigkeit, sich dem Wandel anzupassen. Übertragen auf Kleidung hieße dies, sie vermag sich dem Wandel des eigenen physischen Körpers, dem Wandel der eigenen emotionalen und mentalen Welt, dem Wandel des familiären, beruflichen, gesellschaftlichen Umfeldes, dem Wandel des Zeitgeists anzupassen. Eine freundliche Kleidung, die für einen muskelkranken Menschen wie eine gute Freundin ist - die federleicht mit ihm ist, die ihm Schutz bietet, seinen Schmerz lindert, ihn zum Träumen und Lachen bringt, ihn fitter macht, auf die er stolz ist, die er sexy findet, die perfekt zu ihm passt, die er leicht an- und ausziehen kann, die er liebt und pflegt, die ihn inspiriert, weil sie, wie Stephen Hawking, weiß: „Wie schlimm das Leben auch sein mag, es gibt immer etwas, worin man erfolgreich sein kann.“ Ein Kleidungsstück - eine gute Freundin Auf der Suche nach solch einer intelligenten, guten Freundin in der Thüringer Modewelt beobachtete Bettina Bräsike, Mitarbeiterin des Thüringer Landesverbands der Deutschen Gesellschaft für Muskelkranke, letztes Jahr Folgendes: „Im Herbst war ich auf der Suche nach einer warmen Jacke für den Winter. Ich wusste, dass es nicht einfach sein wird, etwas Passendes zu finden. Im vierten Geschäft entdeckte ich dann fast auf Anhieb ein ganz schickes Teilchen: nicht zu lang, meine Far- be, meine Größe. Und die Jacke sah richtig warm aus. Doch schon beim Versuch, sie vom Kleiderständer abzuhängen, scheiterte ich. Die Jacke war so schwer, dass ich sie nicht mit einer Hand hochheben konnte. Eine Verkäuferin bemerkte mein Interesse und bot mir ihre Hilfe bei der Anprobe an. Sie erfuhr von mir, dass ich eine Muskelerkrankung habe und mich (für mein Empfinden) schwere Kleidung zusätzlich zum Rollstuhl in meinen Bewegungsmöglichkeiten einschränkt, auch dann, wenn mir jemand beim An- und Ausziehen behilflich ist. Sie machte mir keine großen Hoffnungen, im diesjährigen Wintersortiment wirkliche Alternativen zu finden, außer ich würde mich für eine Daunenjacke entscheiden. Vielleicht hat der eine oder andere dies so oder ähnlich schon selbst einmal erlebt: aus Sicht eines muskelkranken Menschen schwergängige Klettverschlüsse und Druckknöpfe, schwergewichtige Bettdecken, Haartrockner und Essbestecke, zu eng geschnittene Ärmel bei Oberbekleidung, widerspenstige Zahnpastatuben und viele andere Dinge, die den Alltag erschweren und von fremder Hilfe abhängig machen - auch bei Verrichtungen, die man vielleicht gerade noch selbstständig erledigen könnte, wenn das Produktdesign, der Schnitt oder das Material nur ein klein wenig anders beschaffen wären.“ Dies ist eine der unzähligen Geschichten über die Suche nach solch einer passenden Kleider-Freundin, wie sie Menschen mit Muskelerkrankungen in Thüringen und in der Welt außerhalb unseres kleinen Landes oft erleben, aber kaum erzählen. Ebenso wie viele andere Menschen in Deutschland und der Welt, die bewegungseingeschränkt sind und keine zu ihnen passende Kleidung auf dem großen Markt, in Kaufhäusern, Modeboutiquen finden. Dazu gehören Kinder ebenso wie Erwachsene aller Altersgruppen. Designerinnen, wie Angela Tönnies, von Schick und In, die Eleganz und Handicap zu verbinden wissen, haben keinen Zugang zur großen Modewelt. Warum? Elegante Mode für Damen mit Rolli, Muff und Hut, von Angela Tönnies, Deutschland, vorgestellt zum Bezgraniz-Couture Award 2011 in Moskau, Foto: Bezgraniz-Couture -88- Projekte Personalisierte Bekleidung Intelligente schicke Kleidung ein kaum sichtbarer Markt Vielleicht, weil man auf dem großen Markt nur „Prêt à Porter“ (= Bereit zum Tragen) findet und eine KleiderFreundin eine Begleiterin ist, die man nicht einfach von der Stange nehmen kann. Diese Kleidung will sorgfältig ausgewählt werden - ihr Stoff, ihre Farben, ihr Schnitt, die zu Körper, Seele und Geist, zu den individuellen Wandlungen des zu Begleitenden passen. In wenigen kleinen, kaum bekannten Unternehmen, verstreut in ganz Deutschland, begannen bereits vor über 30 Jahren vor allem Frauen, oft durch eigene behinderte Kinder oder Ehemänner für deren Bedürfnisse sensibilisiert, solche freundliche, intelligente, personenbezogene Kleidung herzustellen. Auch betroffene Männer haben sich dieser Nische gewidmet und produzieren in kleinen Serien adaptierte Kleidung für Menschen mit Behinderungen, besonders für Rollstuhlfahrer. Inzwischen interessieren sich auch mehr und mehr junge DesignerInnen und kleine Bekleidungshersteller in Thüringen und anderswo für die Frage der Anpassung der Kleidung an spezifische Bedürfnisse, zum Beispiel auch von Klein- und Großwüchsigen, unter- und übergewichtigen Menschen. Wenn es Partnerportale für die verschiedensten Bedürfnisse gibt, warum dann nicht auch Online-Modeshops für die verschiedensten Kleidungspartnerbedürfnisse? Vielleicht weil es gar nicht einfach ist, seine Wünsche über solch eine gute, hautnahe Freundin aus Textilien bewusst zu kommunizieren, so dass Forscher und Hersteller der Vielfalt an Wünschen entsprechen können. Stephen Hawking zeigt uns seit über 30 Jahren, wie Kommunikation trotz extremer motorischer Einschränkungen dank neuester Computertechnik durch Augenblinzeln möglich ist. Das ist eine Motivation zur Schaffung eines Kleidungspartnerportals für alle, die keine „Prêt-à Porter“ Freundin suchen, sondern eine zum „Prêt-à-Aimer“ („Bereit zu Lieben“). Intelligente Kommunikationsplattform mit adaptiertem Onlineshop Smart-Fit-In e. V., ein Netzwerk von Herstellern, Forschern, Marketingspezialisten, Ausbildern aus Thüringen und anderen Regionen Europas, plant dafür mit allen interessierten Endnutzergruppen eine internationale branchenübergreifende Kommunikationsplattform mit einem Onlineshop für adaptierbare Mode aufzubauen. So können Bettina Bräsike und andere Menschen mit Muskelerkrankungen vor dem Kauf z. B. einer schicken, leicht handhabbaren Bluse aus Erfurt über die Plattform mit einem modetherapeutischen Berater direkt in Kontakt treten, ihm ihre Bedürfnisse erklären. Ihre Maße werden per Kinect Kamera oder Handyfoto genommen, s. d. die Schnittkonstruktion für das Kleidungsstück ganz individuell angefertigt werden kann. Sie kann das Design für ihre Bluse am Computer mit entwickeln. Ihre ästhetischen Vorstellungen werden in Einklang mit ihrem emotionalen und beruflichen Profil in der Bluse umgesetzt. Im Unterschied zu früher muss man so nicht unbedingt persönlich zum Schneider gehen und dieser macht die Schnittkonstruktion nicht mehr wie früher mit Papier und Kreide, sondern all dies übernimmt der Computer. Am Ende erhält Bettina Bräsike eine schicke, federleichte Kleiderfreundin, wie sie sie sich gewünscht hat: „... mit genialen Reißverschlüssen, die ein autonomes, einfaches und schmerzfreies An- und Auskleiden selbst für Menschen mit schweren Gelenkkontrakturen und Lähmungen ermöglichen, weil das Anheben der Arme entfällt.“ Durch die Erstellung des Profils für die Kleiderfreundin erfährt Frau Bräsike auch mehr über sich, ihr eigenes Profil, das sie nutzen kann für die Findung eines genau zu ihr passenden Partners für gemeinsame Rollstuhlbasketball-Team Thuringia Bulls des Reha-Sport-Bildung e. V., aus Elxleben, in personalisierten, codesignten Herrenhemden von Bivolino in Belgien, an deren Design das gesamte Team in einem EU-Forschungsprojekt per Computer mitgewirkt hat. Foto: RSB e. V. -89- Projekte Personalisierte Bekleidung Berufs-, Freizeit- oder Familieninteressen. Außerdem ermöglicht die Profilerstellung es ihr, Beraterin für Forscher und Hersteller zu sein bei der Verbesserung der Adaptionen der Software und der Kleidung an die vielfältigen Gesundheitsbedürfnisse - allein im Bereich der Muskelerkrankungen sind es über 800 Krankheitsformen. Ihre individuellen Kompetenzen können so produktiv in die Entwicklung von individuellen Lösungen eingebracht werden und sie kann diese dann testen, was einen direkten, fruchtbringenden Austausch zwischen Forschern, Herstellern und Kunden garantiert. Dank Frau Bräsike und anderen Pionieren können so zukünftig Produkte auf den Markt kommen, von denen viele Menschen mit Bewegungseinschränkungen heute noch träumen. Smart-Fit-In Showroom-Netzwerk zum Anfassen und Ausprobieren Es bleibt trotz aller super Technologien das Bedürfnis des Kunden, die Kleidung anzufassen, sich von einem Einheimischen beraten zu lassen. Auch Frau Bräsike möchte die Stoffe ihrer Kleiderfreundin vor der personalisierten Herstellung berühren, sie auf ihrer Haut spüren. Deswegen ist neben der virtuellen Plattform ein Showroom-Netzwerk geplant. D. h. an verschiedenen Orten in Deutschland, in Europa können Kunden wie Frau Bräsike die Modelle von Herstellern aus verschiedenen Regionen ausprobieren und nach dortiger 3D- Vermessung, die an die Hersteller weiter geleitet wird, auch bestellen. Die Kunden können so auch ihre persönlichen Erfahrungen mit dieser Kleidung, ihre Empfehlung an die Hersteller weitergeben und werden so zu lokalen Codesignern, die gute Tipps aus ihren Regionen geben können. In so einem Innovationsshowroom sollen sich auch Jungdesigner aus Hochschulen mit ihren Ideen zu adaptierter Mode präsentieren können. Auch schicke, adaptierbare Schuhe, Möbel, Geschirr u.a. soll dort zum Ausprobieren und Kauf ausgestellt werden. In einem kleinen bewegungsadaptierten Café, das dazu gehört und gesundheitsfördernde adaptierte kulinarische Überraschungen anbietet. Dort können ebenso Ausstellungen von Designern wie Weiterbildungsseminare, z. B. für Schneider oder Modeverkäuferinnen, Marketingfachleute, Vertriebler u. a. Berufsgruppen durchgeführt werden. Intelligente Preise für personalisierte Kleidung Ziel des Weges von Smart-Fit-In ist es, durch das Netzwerk einer Produktions-, Vertriebs- und Kommunikationsplattform individuell angepasste bzw. in Kleinserien an die Vielfalt der Körper- und Gesundheitsbedürfnisse angepasste Kleidung kostengünstig werden zu lassen. Außerdem soll durch eine Anpassung der Kleidung an die biomechanischen Erfordernisse des Kunden bewirkt werden, dass sie generell als Hilfsmittel bei den Krankenkassen in Deutschland anerkannt werden. Durch eine Bezuschussung kann der Preis für den Endnutzer auch annehmbarer werden. So kann die Nische zu einem Nischenmarkt für Mode für alle Sensibilitäten und ästhetisch Sensiblen ausgebaut werden, wo Menschen mit Bewegungseinschränkungen die beratenden, kreativen Pioniere sein werden. So kann der Markt derjenigen, die bereit sind, sich, ihren Körper und ihre Kleidung zu lieben, zum Vorreiter werden, zum Marché du „Prêt-àAimer“! Über eine intensivere Zusammenarbeit mit sensiblen Senioren aus allen Berufsgruppen, Altersgruppen, Körpergruppen, Kulturgruppen würde sich der Verein Smart-Fit-In (www. smart-fit-in.de) sehr freuen. Für Informationen, Fragen schreiben Sie bitte an: info@smart-fit-in.de Bettina Bräsike, DGM und Dr. Kathleen Wachowski (Foto im Header) Smart-Fit-In e. V. Kleidung, die die Muskeln des Menschen darstellt, von Jean Paul Gaultier, Ausstellung, München, 2015, Foto: Kathleen Wachowski -90- Erfahrungsaustausch Aus den kommunalen Seniorenvertretungen und -beiräten Bad Blankenburg Im Oktober 2014 wurde der Seniorenbeirat in der Stadtratssitzung vom 29.10. gewählt. Als Vorsitzende dieses gewählten Seniorenbeirates stellte ich mich einer neuen Herausforderung, um die Senioren der Stadt Bad Blankenburg zu vertreten. Die Akzeptanz unseres neu gewählten Beirates durch den Bürgermeister und den Stadträten steht auf festem Fundament. Wir nehmen regelmäßig an Stadtratssitzungen teil und sind Mitglied im Sozialausschuss. Dies ermöglicht uns, immer aktuell über alle kommunalpolitischen Initiativen Kenntnis zu haben und uns mit Fragen und unseren Sorgen sowie Problemen an den Stadtrat zu wenden. Diese Zusammenarbeit ist von gegenseitiger Achtung und Respekt geprägt. Eine wichtige Aufgabe für uns ist die Organisierung und Durchführung von monatlich kostenlosen Verkehrsteilnehmer-Schulungen, diese werden immer mehr von unseren Senioren genutzt. Wichtig ist diese Aufgabe für uns, da der ältere Mensch sich den neuen Anforderungen im Straßenverkehr anpassen muss. Ein Bindeglied zu unserer Jugend zu sein, erfüllt uns jedes Jahr mit Freude. Dieses Jahr nutzten wir den 12. Bundesweiten Märchenvorlesetag, in dem wir in unseren 3 Kindergärten den Jüngsten aus einem reichhaltigen Märchenschatz vorlasen und mit ihnen Gespräche führten. Ein wichtiger Bestandteil unserer Arbeit des Seniorenbeirates ist die Zusammenarbeit mit der Volkssolidarität. Die durchgeführten Veranstaltungen bilden eine gute Plattform, um mit den aktuellen Problemen in die Breite zu kommen. Diese Veranstaltungen dienen ebenfalls der Präsentation der Arbeit des Seniorenbeirates. Die von der Landesvertretung der Se- nioren, von den unterschiedlichen Gremien der Landesregierung und Parteien angebotenen Veranstaltungen sind eine große Bereicherung für die Weiterbildung unseres Seniorenbeirates. Regionale Treffen werden ebenfalls zum Erfahrungsaustausch und für Anregungen für die eigene Arbeit genutzt. So hat der Seniorenbeirat Bad Blankenburg im Mai einen Erfahrungsaustausch organisiert und durchgeführt. Jährlich wird eine Chronik über die geleistete ehrenamtliche Tätigkeit erstellt. Die aktuell politischen Themen wie die Flüchtlingspolitik sind in unseren Sitzungen ebenfalls präsent. Viele Senioren in unserer Stadt kennen solch eine Flucht noch aus eigener Erfahrung während des 2. Weltkrieges. Trotz der bisherigen Ergebnisse der Arbeit des Beirates sehen wir noch genügend Aufgaben, die künftig zu lösen sind. Christine Wichert Gotha Der Seniorenbeirat der Stadt Gotha besteht aus 11 ehrenamtlich arbeitenden Mitgliedern und sieht sich als Unterstützung der Verwaltung, die in ihren freiwilligen Aufgaben auch Angebote für Senioren innerhalb der Stadt Gotha bereitstellt. Im Alter Teilhaben am gesellschaftlichen Leben, an Bildung, Familienangeboten und Freizeitgestaltung ist dabei ein großes Ziel. Da immer wieder auf eine Alterung der Gesellschaft hingewiesen wird, will der Seniorenbeirat der Stadt Gotha der Stadtverwaltung „die Hand“ reichen, um im zunehmenden Alter auch die aktive Teilnahme am gesellschaftlichen Leben der Stadt zu ermöglichen. Dabei gibt es Angebote für Senioren, die die Stadt in Zusammenarbeit mit dem Beirat ausgestaltet. -91- Der Spitzenreiter unter den Angeboten ist die Seniorenakademie mit Themen wie: „Die Herausforderung der digitalen Gesellschaft - Ein Netz für jedes Alter“, „Auf dem schweren Weg zur Einheit Deutschlands - Die Währungsreform von 1948 in Gotha“ oder „Die Heiratspolitik der Ernestiner“. Die Referenten für die Veranstaltungen werden fachspezifisch ausgewählt und können meist auf eine intensive berufliche oder freiberufliche Tätigkeit zurückblicken. Neben der Ausgestaltung von inhaltlich anspruchsvollen Veranstaltungen setzt sich der Beirat auch für kulturelle Höhepunkte ein, denn auch in Gotha wird gern und oft gefeiert. Die Vorbereitungen der Faschingsveranstaltung und der Weihnachtsfeier für Senioren der Stadt liegen in den Händen des Beirates und der Verwaltung. Runde Geburtstage im höheren Alter oder Feierlichkeiten für goldene Hochzeitspaare werden in Zusammenarbeit mit den Kindereinrichtungen der Stadt gestaltet. Ein kleines Programm seitens der Kinder unterstützt dabei die Anerkennung des Alters. Der Beirat hilft hier bei vielen organisatorischen Aufgaben. Mit örtlichen Institutionen wird, die Seniorenarbeit betreffend, sehr gut zusammengearbeitet. Hierbei hat sich das Forstliche Forschungs- und Kompetenzzentrum für Thüringen mit Sitz in Gotha, durch auf Senioren abgestimmte Veranstaltungen hervorgetan. Darüber hinaus sieht sich der Seniorenbeirat auch als Netzwerkgestalter und versucht die unterschiedlichen Institutionen an einen Tisch zu bringen, um gemeinsam nach Lösungen zu suchen und Veranstaltungsformate zu entwickeln. So ist derzeit der 6. Familienerlebnistag in Vorbereitung. Hier versteht sich der Beirat als Bindeglied zwischen der Verwaltung, dem Orangerieverein, Sportvereinen, dem Mehrgenerationenhaus, Erfahrungsaustausch Erfahrungsaustausch Aus den kommunalen Aus den kommunalen Senioren- Seniorenvertretungen vertretungen und -beiräten und -beiräten dem Verein Art der Stadt und der Stiftung Schlösser und Gärten. An diesem Tag werden dann vielseitige Angebote für jede Altersstufe, innerhalb der Orangerie, stattfinden. Man könnte durchaus noch mehr aufzählen. Sollte die Arbeit des Beirates das Interesse geweckt haben, so kann man einmal im Monat die Sprechstunde aufsuchen oder im Anschluss an der öffentlichen Sitzung des Beirates teilnehmen und weitere Vorschläge für die Seniorenarbeit einbringen. Die Sitzungen finden jeden ersten Mittwoch im Monat statt. Inklusion im Alter ist für den Seniorenbeirat der Stadt Gotha die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben der Stadt. Wir als Beirat nehmen sie als etwas auf, was uns alle betrifft, was gelebt werden muss und das Thema Integration übersteigt. Darin sehen wir eine Aufgabe für die Zukunft. Angelika Nyga Greiz Die Deutschen werden immer älter. Das ist eine ganz tolle Entwicklung, solange die Senioren gesund bleiben, über genügend finanzielle Mittel verfügen und so aktiv am Leben teilnehmen können. Das ist natürlich eine reine Wunschvorstellung. Die Realität sieht oftmals ganz anders aus. Viele unserer heutigen Senioren sind im Alter oft allein, einsam, krank und können wegen geringer Renteneinkünfte nicht am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Hier sehen wird als Seniorenbeirat der Stadt Greiz unser Betätigungsfeld. Wir wollen Hilfe und Angebote allen Senioren geben. Wöchentlich wird deshalb immer dienstags eine Stunde unser Büro im Greizer Rathaus geöffnet. Jeder kann in dieser Zeit um Rat und Hilfe bei uns nach- fragen. Wir bemühen uns dann, die anstehenden Probleme und Anregungen an die richtigen Stellen weiterzuleiten. Es ist auch unser Ziel, noch öfter Zusammenkünfte mit den Bürgern der eingemeindeten Ortschaften vor Ort zu arrangieren. Diese Zusammenkünfte werden sehr gut angenommen, denn wegen fehlender Mobilität können viele dieser älteren Bürger den Weg nach Greiz nicht mehr in Angriff nehmen. Ein großes Anliegen unsererseits ist es, allen Senioren ein weites Spektrum an Informationen und Veranstaltungen möglichst kostenfrei anzubieten. - Im Herbst gab es eine Verkehrsteilnehmerschulung mit einem Fahrschullehrer. Es konnten Fragen gestellt werden und in ungezwungener Runde kleine lustige Tests beantwortet werden. - Eine weitere Veranstaltung wurde mit einem Greizer Bestattungsunternehmen zum Thema „Weil Sterben zum Leben gehört“ durchgeführt. - Des Weiteren fand am 15. März 2016 in der Sparkasse Gera-Greiz eine Seniorenmesse statt. Hier standen kompetente Ansprechpartner auf 2 Etagen zur Verfügung. Es wurde individuelle kostenlose Beratung zur Vorsorgeregelung durch eine Notarin angeboten und die Reha-Servicestelle der DAK war vor Ort. Natürlich gab es Hilfestellung an den Bankautomaten und Beratung zum „Online-Banking“. Die Resonanz war sehr groß, da alle Räume behindertengerecht zu erreichen waren. - Gute Kontakte bestehen zu Altenheimen, verschiedenen Verbänden, Wohnstätten und zur Diakonie. - Einmal monatlich trifft sich ein Chorkreis im Greizer Seniorenund Pflegezentrum „Curanum“ unter Leitung einer Musikpädagogin unseres Beirates. Hier singen -92- kranke, gesunde und behinderte Senioren gemeinsam und erinnern sich durch die Musik an ihre Kinder- und Jugendzeit. - Weiterhin findet einmal im Monat ein Computerlehrgang im „UlfMerbold-Gymnasium“ statt. Die ehrenamtliche Leiterin aus unseren Reihen ist stets bemüht, Hilfe und Anleitung bei der Entdeckung der virtuellen Welt zu geben, natürlich kostenlos. - Alle 2 Jahre wird durch den Seniorenbeirat ein Bewegungs- und Aktionstag im Naherholungsgebiet „Waldhaus“ veranstaltet. Er findet am 4. Juni 2016 mit vielen Angeboten statt. An verschiedenen Stationen kann man z. B. Schach spielen, sich an einem Quiz über Greiz beteiligen und bei einer Kräuterfrau viel Interessantes erfahren. Eine Nordic-Walking-Gruppe stellt vor Ort diese gesunde gelenkschonende Sportart vor. Auch Familien mit Kindern wird viel geboten. Zusammen mit den Mitarbeitern des Tiergeheges können die Kinder einmal ihren Tierlieblingen ganz nahe sein. Wir hoffen auf regen Zuspruch aller Altersgruppen. - In Planung ist außerdem ein Nachmittag mit einem Rettungssanitäter. Gerade im Alter können Herzdruckmassage und richtige Beatmung lebenswichtig sein. - Auch ein Aktionstag mit der Greizer Polizeiinspektion ist geplant. Zu oft werden gerade ältere Bürger Opfer von Trickbetrügern und Gaunern. - Einen Arztvortrag zum Thema „Gelenke und Bewegungseinschränkung im Alter“ soll es in diesem Jahr noch geben. - Höhepunkt unseres Arbeitsplanes ist dann die Weihnachtsfeier in der Vogtland Halle für alle Senioren, egal welcher Konfession. - Im vergangenen Jahr nahmen 140 Senioren aller gesellschaftlichen Erfahrungsaustausch Aus den kommunalen Seniorenvertretungen und -beiräten Schichten daran teil. Darunter war auch eine Gruppe von dementen Senioren und Rollstuhlfahrern aus der Villa „Ginko“. Es war sehr emotional zu sehen, wie auch die behinderten Menschen ins Programm einbezogen wurden und ihre Freude zeigten. Wir als Seniorenbeirat der Stadt Greiz sind ständig bemüht, alle Senioren von Greiz und Umgebung zusammenzuführen. Wir werden auch weiter mit anderen Verbänden und Organisationen die Interessen aller Senioren vertreten. Gesine Hopf Jena Im Blick auf das zentrale Thema dieser Ausgabe gibt es einige aktuelle Dinge, die den Seniorenbeirat bewegen. Gab es vor vielen Jahren den Versuch durch Sprechstunden für Senioren noch näher an sie bewegende Probleme heranzukommen, so ließen wir das bald sein, denn die Begegnungsstätten in den Stadtteilen wurden zu unseren Partnern, neben der Wohnberatung für Senioren (AWO), dem Pflegestützpunkt der Stadt Jena und dem Seniorenbüro der Stadt (DRK), um nur einige zu nennen. Es verwunderte uns, als unlängst die Leiterin einer Begegnungsstätte plötzlich Kontakt mit uns aufnahm, um über ihre Arbeit zu berichten und unsere Strategien erkundete. Dabei kam heraus, dass bei den immer älter werdenden Nutzern der Einrichtung auch Behinderte sind, die nicht mehr kommen können, da der Zugang nicht barrierefrei sei, was vordem nie eine Rolle spielte. Abgesehen davon, dass sich der Seniorenbeirat zukünftig mit den Lebensverhältnissen in den einzelnen Stadtteilen befassen wird, kam von Seiten des Jenaer Nahverkehrsbetriebes ein Paukenschlag in Gestalt einer Hiobsbotschaft, indem man aus Sicherheitsgründen in den Straßenbahnen keine Passagiere mit elektrischen Rollstühlen mehr befördert, um Unfälle bei Schnellbremsungen auszuschließen (Umkippen des Fahrzeuges). Leserbriefe in der Presse, der Sozialausschuss und die AG Behinderte intervenierten. Nun fand man zu einer Zwischenlösung: Abgesehen von Fahrzeugtypen, die auf Grund ihrer Größe von einer Mitfahrt auf der Bahn überhaupt ausgeschlossen sind, dürfen nun Behinderte mit entsprechendem Ausweis nach einem persönlichen Test mitgenommen werden, vorausgesetzt, sie verlassen nach Einstieg ihr Gefährt, um einen regulären Platz in der Bahn einzunehmen. Von 18 Kandidaten erhielten 12 die grüne Plakette für ihren Rollstuhl. Denkt man an die sehr kranken oder gar sterbenden Menschen, so war das Thema für unseren Ortsteilrat Jena-Neulobeda Anlass, in die Palliativmedizin des Klinikums einzuladen. Dort wurde das Projekt eines Stationären Hospizes in Lobeda- Ost vorgestellt. Auf Initiative der „Hospiz & Palliativ Stiftung Jena“ hat „Jena-Wohnen“ einen Architekturwettbewerb ausgeschrieben, dessen Ergebnis in unserer Region mit 12 Pflegebetten Geschichte schreiben wird. Wenn alles planmäßig verläuft, kann man in der Nähe des Klinikums und landschaftlich schöner Wohnumgebung mit der Einweihung im Dezember 2017 rechnen. Hans Lehmann -93- Heiligenstadt Am 16.02.2016 trafen sich um 14:00 Uhr im Sitzungsraum des Stadthauses der Vorsitzende des Seniorenbeirates, Frau Eva-Maria Knauß - Sachbearbeiterin im Referat Seniorenpolitik im Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie, der Geschäftsführer des Landesseniorenrates Herr Dr. Jan Steinhaußen und die Seniorenbeauftragte des Landkreises Eichsfeld Frau Simone Bloeck zum Erfahrungsaustausch. Kritisch wurde angesprochen, dass sowohl in der Mitgliederversammlung am 10.06.2015 in Erfurt als auch beim Jahresseminar vom 10. bis 12.11.2016 in Bad Blankenburg der Erfahrungsaustausch eindeutig zu kurz gekommen ist. Die Aufgaben eines Landesseniorenrates, des Seniorenbeirates und der Seniorenbeauftragten sind im Thüringer Seniorenmitwirkungsgesetz und den eigenen Kommunalen Satzungen eindeutig geregelt, doch welche Erfahrungen es bei der Zusammenarbeit mit der Thüringer Landesregierung (Ministerien) und den Stadt- und Gemeinderäten gibt, darüber wird kaum gesprochen und im Seniorenreport berichtet. Auch, dass die Bilder der Regionalkonferenz Nord in Berichten anderer Städte platziert wurden, obwohl es dazu einen Bericht nebst Bildmaterial gab, fand man nicht so gut. In der sich anschließenden 6. Sitzung des Seniorenbeirates nutzte die am 09.12.2015 neu gewählte Seniorenbeauftragte des Landkreises Eichsfeld, sich den Anwesenden vorzustellen und ihre nächsten Ziele zu erläutern. Im Bericht des Vorstandes (Vorsitzender) konnte mit Stolz auf das bisher erreichte zurückgeblickt werden. Erfahrungsaustausch Aus den kommunalen Seniorenvertretungen und -beiräten Sitzung des Seniorenbeirates von Heiligenstadt. Anwesend auch Hauptamtsleiter Steffen Rusteberg Eberhard Beckmann – Vorsitzender Seniorenbeirat Heiligenstadt - hat maßgeblich dazu beigetragen, dass die 1. Regionalkonferenz Nord am 01.09.2015 erfolgreich organisiert und durchgeführt werden konnte. Die nächste Sitzung findet am 24.05.2016 statt, die dazu genutzt werden soll, Danke für die bisher geleistete Arbeit zu sagen! Der 1. Seniorenbeirat im Landkreis Eichsfeld hat seit seiner Gründung am 13.08.2014 folgendes erreicht: - Er hat seit dem 18.10.2014 eine eigene Homepage, auf der sich jeder über die Arbeit informieren kann. - Er informiert seit dem 10.02.2015 im Sozialausschuss über seine Arbeit. - Er hat sich aktiv dafür eingesetzt, dass am 05.10.2015 eine Satzung vom Stadtrat beschlossen wurde. - Er hat ab Juni 2015 zielstrebig dafür gekämpft, dass der Kreistag am 09.12.2015 eine Seniorenbeauftragte des Landkreises Eichsfeld gewählt hat. - Er berichtet seit dem 07.07.2015 im Stadtrat über seine Tätigkeit im Berichtszeitraum. - Er hat im Jahr 2015 insgesamt 16 Empfehlungen mit seniorenrelevanten Themen zur Bearbeitung an die Stadtverwaltung weitergeleitet, die in der Arbeit der Stadtverwaltung, des Stadtrates nebst Ausschüssen berücksichtigt wurden. - Er hat sich dafür eingesetzt, dass er mit Hauptamtsleiter Herrn Steffen Rusteberg einen festen Ansprechpartner bei der Stadt bekommen hat. - Er hat dabei unterstützt, dass am 01.03.2016 ein Seniorenbeirat in der Stadt Dingelstädt gegründet werden konnte und Zwischen dem Seniorenbeirat, den Mitarbeitern der Stadtverwaltung, den Stadträten nebst Ausschüssen besteht eine gute Zusammenarbeit, wenngleich es auch hier noch einige Reserven gibt. Danach berichtete der Geschäftsführer des Landesseniorenrates Dr. Jan Steinhaußen darüber, wie man einen Seniorenbeirat wählt und wie der Landesseniorenrat die Arbeit von Seniorenbeiräten und Seniorenbeauftragten unterstützt. Im Anschluss informierte Frau EvaMaria Knauß, welche Unterstützung (materiell und finanziell) es von Seiten des Landes Thüringen gibt und welche Voraussetzungen zur Förderung erfüllt sein müssen. Die anwesenden Mitglieder nutzten die Möglichkeit, ihre Frage an die Gäste zu richten. Abschließend wurde auf die anstehende Neuwahl des Seniorenbeirates nach der Sommerpause 2016 des Stadtrates Heilbad Heiligenstadt hingewiesen. Die Mitglieder wurden gebeten, sich aktiv bei der Kandidatengewinnung in ihren Vereinen mit einzubringen, um die begonnene Arbeit des Seniorenbeirates fortsetzen zu können. -94- Eberhard Beckmann Ilmenau Inklusion: laut Fremdwörterbuch (1984): „Einschließung, Einschluss – Math. Das Enthaltensein einer Menge in einer anderen“. Eigentlich ist in dieser kurzen Übersetzung alles enthalten und bedeutet für uns, daran zu arbeiten, dass Menschen mit Behinderungen von Geburt an zu unserem Leben gehören. Es wird angestrebt, dass Kinder mit Behinderungen in „Regelkindergärten“ und Schulen gehen sollten. Meine Antwort, ja, aber! 3 Beispiele für das „Aber“: 1) 1945 kamen wir in ein kleines Dorf, gingen dort zur Schule. Erst nach 4-5 Jahren sah ich die Schwester einer Mitschülerin mit Down-Syndrom, sie muss wohl 18 Jahre alt gewesen sein. Die Familie hat sich geschämt. Trotzdem hat sie es irgendwie geschafft, dieses Mädchen vor den Nazis zu verstecken, denn fast alle Behinderten überlebten diese Zeit nicht. Sie war in keinster Weise förderfähig gewesen. 2) 1999 bekam ich 2 kleine Bücher Erfahrungsaustausch Aus den kommunalen Seniorenvertretungen und -beiräten zum Lesen. „Leben mit Hermine“ von Hermine geschrieben und „Ich kann Schreiben“, von ihrer Mutter geschrieben. Hermine, (Jahrgang 1959) Down-Syndrom kannte ich schon vorher, sie gehörte (im positivem Sinne) zu unserem Stadtbild. Sie besuchte die Förderschule. Danach arbeitete sie als Hilfskraft im Thermometerwerk. Nach der Wende entschied sie sich zum betreuten Wohnen (Lebenshilfe) und zur Arbeit in der Behindertenwerkstatt. Sie führte ein fast selbständiges Leben. Sie schrieb ihr Tagebuch, kleine Geschichten und fotografierte sehr gern. Leider verstarb sie im vergangenen Jahr im Alter von 60 Jahren. Hier haben alle gut zusammen gearbeitet, die Eltern, die Schule, die Behindertenwerkstatt und die Lebenshilfe, aber immer zusammen mit Hermine. Sie konnte ihr Leben auf Grund der guten Vorbereitung auf dieses, leben wie SIE es wollte! In einer Regelschule hätte sie dies nicht erreicht! 3) Meine Nichte unterrichtete an der Förderschule für Blinde und Sehschwache mit Internatsanbindung. Dazu gehören auch Lernschwache und Mehrfachbehinderte. Im Alter von 5 bis 16 Jahren, Klassengröße 6 bis 12 Schüler/innen. Bei Bedarf steht ihr jeder Zeit ein Schulbetreuer zur Verfügung. Sie werden in allen Fächern der Regelschule unterrichtet. Zusätzlich noch Punktschrift und Maschine schreiben. Auch die Förderung in lebenspraktischen Fähigkeiten gehört dazu. Sie verlassen die Schule mit dem Mittel- oder Regelschulabschluss. Auch bei der Berufswahl wirkt diese Schule aktiv mit. All dies kann eine Regelschule nicht leisten. Es fehlt an Geld, an Personal und, und, und! Das A und O in einer Förderschule ist die enge Zusammenarbeit von Schülern, Lehrern, Erziehern und Elternhaus. Auch Fachmediziner gehören dazu. Es muss beide Formen geben, Regelschule mit Inklusion und die Förderschulen! Alles andere geht zu Lasten der Kinder! Christel Wilinski Mühlhausen Inklusion – Was ist das eigentlich? Inklusion heißt wörtlich übersetzt Zugehörigkeit, also das Gegenteil von Ausgrenzung, wenn jeder Mensch mit und ohne Behinderung überall dabei sein kann. In einer inklusiven Gesellschaft ist es normal, verschieden zu sein. Jeder ist willkommen, davon profitieren alle, z.B. durch den Abbau von Hürden, damit die Umwelt für alle zugänglich wird, mehr Offenheit, Toleranz und ein besseres Miteinander. Die Alterung der Bevölkerung ist ein wesentliches Merkmal des demografischen Wandels. Die Bedürfnisse und Erwartungen älterer Menschen sind sehr unterschiedlich und stellen eine Herausforderung an die Gesellschaft dar, eröffnen aber auch Chancen des gegenseitigen Erfahrungsaustausches und der individuellen Altersgestaltung. Dabei ist es wichtig, die Zusammenarbeit von älteren Menschen mit und ohne Behinderung zu fördern und auszubauen. Das bürgerliche Engagement mit seinen Einrichtungen hat daran einen wesentlichen Anteil. Auch die Seniorenvertretung der Stadt Mühlhausen stellt sich den Herausforderungen und arbeitet eng mit dem Senioren- und Behindertenbeirat zusammen, um Menschen mit und ohne Behinderung besser zu verstehen und auf deren Bedürfnisse einzugehen und die noch bestehenden Probleme besser zu lösen. Renate Luhn -95- Pößneck Inklusion - Dieses Wort ist in aller Munde und keiner weiß so recht, was bedeutet Inklusion? Oft stellt sich mir die Frage: “Ich bin behindert und soll mich der Inklusion beugen?“ Nun stelle ich mir vor, dass ich mich trotz meiner Behinderung im eigentlichen angenommen fühle, meine Arbeit habe, die mir Spaß macht und mich an gesellschaftlichen Prozessen beteilige. Für mich ist alles schön, meine ich. Schaue ich dann in meine Umgebung sehe ich, wie viele beeinträchtigte Menschen mir begegnen. Ich sehe eine Mutter mit Kinderwagen, die eine Treppe nicht überwinden kann, ich sehe einen Mann, der am Stock läuft und ich sehe viele Menschen mit Brille. Diese sind doch auch behindert, sehbehindert finde ich. Irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass Politiker des Europäischen Parlaments wie auf Bundes- und Landesebene über behinderte Menschen reden und nicht mit ihnen. Kurz gesagt, das ist politisch eine absolute Farce und vergleichbar mit der Entscheidung an der schönen Ostsee eine Bergbahn bauen zu wollen. Viele Entscheidungen sind für die behinderten Menschen in der Umsetzung nicht nachvollziehbar und gehen an den eigentlichen Bedürfnissen behinderter Menschen vorbei. Doch genau da ist der Haken. Wo sind denn die engagierten und politisch verantwortlichen Menschen, die sich mit der Problematik der Betroffenen auseinandersetzen und mit ihnen lösungsorientiert diskutieren? Ist man sich überhaupt bewusst, was es heißt, mit einer Behinderung zu leben? Kann man das Behindertsein oder einfacher gesagt, das Anderssein auf den politisch verantwortlichen Ebenen überhaupt nachvollziehen? Ein Beispiel ist hier auch das Erfahrungsaustausch Aus den kommunalen Seniorenvertretungen und -beiräten neue Rentengesetz. Auch hier müssen schwerbehinderte Arbeitnehmer mindestens 2 Jahre länger arbeiten, um die volle Altersrente zu bekommen. Im alten Rentengesetz war die Möglichkeit, als Schwerbehinderter bereits mit 60 Jahren die Rente zu beziehen – abschlagsfrei! Ich meine, Inklusion beschreibt die Gleichwertigkeit des Menschen, ohne dass dabei Normalität vorausgesetzt wird. Normal ist vielmehr die Vielfalt, das Vorhandensein von Unterschieden. Die einzelne Person ist nicht gezwungen, nicht erreichbare Normen zu erfüllen. Vielmehr ist es die Gesellschaft, die Strukturen schaffen muss, in denen sich Personen mit Besonderheiten einbringen und auf die ihnen eigene Art wertvolle Leistungen erbringen können. Ein Beispiel für Inklusion ist, statt einer Treppe eine Rampe zu bauen, Bordsteinkanten abzusenken oder Internetangebote visuell für Sehbehinderte anzubieten. Aber auch Barrieren im „Kopf“ können abgebaut werden, beispielsweise indem ein sehbehinderter Mensch als Telefonist oder ein teilweise gelähmter Kaufmann als Sachbearbeiter tätig ist. Hier braucht die Gesellschaft mutige Arbeitgeber, die Behinderte einstellen und somit am gesellschaftlichen Leben teilhaben lassen. Letztendlich gewinnen alle. Bei der Gestaltung einer inklusiven Gesellschaft geht es um die individuelle Sichtweise auf die Bedürfnisse und die Möglichkeiten des einzelnen Menschen. Dabei erfahren Gemeinsamkeiten und Unterschiede gleichermaßen Wertschätzung und nicht der Mensch muss an die Rahmenbedingungen angepasst werden, sondern die Umgebung muss so gestaltet sein, dass allen Bürgern der Zugang zu den Möglichkeiten offen ist. Genau deshalb brauchen wir politisch Verantwortliche, die mit engagierten behinderten Menschen generationenübergreifend diskutie- ren und im Sinne aller Menschen Lösungen erarbeiten. Simone Fichtmüller Saalfeld Projekt „Dialog der Generationen“ In unserer schönen Feengrottenstadt Saalfeld haben sich in den 90er Jahren ältere Bürger innerhalb einer Seniorenvertretung zusammengefunden, um sich für die Interessen, Sorgen und Anliegen der Senioren einzusetzen. Hierbei entstand auch der Gedanke, junge Menschen in die ehrenamtliche Tätigkeit mit einzubeziehen und somit füreinander Verständnis und Achtung im Zusammenleben verschiedener Generationen zu fördern. Gemeinsam mit Schulen wurde ein Projekt „Dialog der Generationen“ ins Leben gerufen, in dem „Alt und Jung“ voneinander lernen und z.B. Handarbeiten, Spiele, handwerkliche Tätigkeiten, praktisches Kennenlernen sozialer Berufe usw. gemeinsam ausführten und dabei natürlich im Gedankenaustausch standen. Mit der Sabel-Schule wurde diese Zusammenarbeit vertraglich vereinbart. Von den Senioren wurde angeregt, dass Schüler, neben den vorstehend genannten gemeinsamen Projekten, den Senioren Computerkenntnisse vermitteln könnten. So wurde ab 2008, nach einer kurzen Einführung durch den zuständigen Fachlehrer, Schülern der 9. Klasse die eigenständige praktische Durchführung des Kurses übertragen. In ihrer Freizeit haben die Schüler den Senioren im schuleigenen und gut ausgestatteten Computerkabinett das gewünschte Wissen vermittelt. Es wurden beispielhaft Word- und ExcelAufgabenstellungen bearbeitet, Bild- -96- bearbeitung durchgeführt und zahlreiche Anwendungsmöglichkeiten des Internets vermittelt (z.B. Routenplanung und Buchung von Fahrkarten, Internetrecherchemöglichkeiten, E-Mail usw.). Im darauffolgenden Schuljahr wurde der Computerkurs fortgesetzt. Er wird bis heute weitergeführt. Die Schüler standen uns Senioren bei auftretenden Fragen oder Problemen hilfreich zur Seite und es gab für beide Seiten ein angenehmes Miteinander. Die Schüler hatten so Gelegenheit, ihr Wissen und Können anzuwenden und dabei planungs- und vorbereitungsseitig Erfahrungen zu vertiefen sowie mehr Selbstsicherheit im persönlichen Auftreten zu erlangen. Für uns als Senioren war es eine gute Gelegenheit, den Umgang mit dem Computer mit weniger Vorbehalten und mit mehr Selbstvertrauen zu praktizieren. Mir persönlich hat dieser Kurs geholfen, im Ehrenamt sicherer und effektiver mit dem Computer zu arbeiten. Wolfgang Roßberg Sömmerda Inklusion - aber wie? Inklusion - ein Thema welchem sich diese Zeitschrift stellt. Aber nicht nur diese Zeitschrift, sondern auch der Sömmerdaer Seniorenbeirat. Nicht vordergründig, weil man sich der Bedeutung der Inklusion erst bewusst wird, wenn man darauf angesprochen wird. Was bedeutet das im Konkreten für die Arbeit des Beirates der Stadt Sömmerda? Voraussetzung der Teilhabe an der Arbeit ist der Bekanntheitsgrad des Beirates in seiner Vielfalt der Zusammensetzung und seiner Öffentlichkeitsarbeit; die Einbeziehung vieler in der Stadt beheimateten Vereine und Verbände, Religionsgemeinschaften; auch Erfahrungsaustausch Aus den kommunalen Seniorenvertretungen und -beiräten das gute Zusammenwirken mit der Sömmerdaer Stadtverwaltung. Dazu zählen Angebote wie öffentliche Sprechstunden und öffentliche Beratungen - eben an den Stellen, von denen Vertreter im Beirat sind. Wertschätzung und Anerkennung sind nur in dem Maße möglich, wenn man die Anliegen des Einzelnen im Allgemeinen kennt und sich dieser annimmt und wenn notwendig einer Klärung zuführt. Sei es nun privater Natur oder im öffentlich-kommunalen Bereich. Wertschätzung und Anerkennung - unabhängig von Bildung und Erziehung - zu gewähren, macht die Arbeit des Seniorenbeirates von Sömmerda aus. Dabei wird ständig nach Formen und Methoden gesucht, nach Möglichkeiten in Form von Teilhabe an kommunal gesellschaftlichen Prozessen ebenso wie im kulturell-sportlichen Bereich. Aber auch im ständigen Dialog zu bleiben untereinander; nicht nur Menschen im fortgeschrittenen Lebensalter, sondern durch enge Kontakte zum Kinder- und Jugendparlament der Stadt Sömmerda, um nach gemeinsamen Anknüpfungspunkten und Lösungswegen zu suchen. Ausdruck der Anerkennung und Wertschätzung wird u. a. das II. Seniorenforum sein, welches im August 2016 stattfindet. Die Vorbereitungen dazu laufen gegenwärtig auf Hochtouren. Inhaltlich wird sich das Forum mit der Thematik befassen: „Mach mit - bleib fit! Aktiv in jedem Alter!“ oder aber auf den Nenner gebracht „ Trotz Falten im Gesicht - alt sind wir nicht!“. Das bezieht sich nicht nur auf körperliche Fitness sondern auch auf die geistige. Neben einem Fachvortrag zum Thema wird das Forum mit einigen Angeboten körperlicher und geistiger Fitness bereichert, wie auch mit humorigen Beiträgen. Peter Klose Sonneberg Nach Beendigung meiner Berufstätigkeit und dem Übergang in das Rentenalter hatte ich den Entschluss gefasst, noch einen nützlichen Beitrag in Form ehrenamtlicher Tätigkeit in der Stadt und im Landkreis Sonneberg zu leisten. Aus meiner ehemaligen beruflichen Tätigkeit war mir die Problematik der Veränderung des demografischen Aufbaus der Bevölkerung zur wesentlichen Erhöhung des Anteils älterer Einwohner, auch im Territorium des Landkreises Sonneberg, bekannt. Deshalb nahm ich an der Ausbildung zum SeniorTrainer teil. Aus dieser Konstellation heraus bot sich besonders die Betreuung von Senioren bei Kurzstreckenwanderungen, die schon seit vielen Jahren durchgeführt werden, an. In Absprache mit dem Vorstand der Sektion Sonneberg des Deutschen Alpenvereins und dem Seniorenbüro wurde beschlossen, durch Unterstützung der Bemühungen der Diakonie, der Stadt Sonneberg und des Landkreises Sonneberg für Senioren einen Teil dieser monatlichen Wanderungen zu organisieren und zu führen. Für die Wanderungen wurde eine möglichst lockere Organisationsform gewählt, um die Teilnahmeformalitäten auf einem niedrigem Niveau zu halten, stellen sie doch gerade für ältere Bürger oft schon ein Teilnahmehindernis dar. Diese Wanderungen standen auch deshalb besonders im Fokus, weil durch das ungezwungene Beisammensein auf völlig freiwilliger Teilnahme an diesen monatlichen Zusammenkünften neben der körperlichen Ertüchtigung auch die sozialen Bindungen der mitunter von Vereinsamung bedrohten älteren Generation gefördert werden. Ein besonderer Faktor dabei ist auch die Kommunikation zwischen den Teilnehmern. -97- Die Wanderungen beginnen etwa in der Zeit zwischen 09:00 Uhr bis 10:00 Uhr und enden nach einer Distanz von 8 km bis 10 km am frühen Nachmittag. Sie haben im Veranstaltungsrahmen der Stadt Sonneberg und des Landkreises Sonneberg jetzt schon mehrere Jahre einen festen Platz und erfreuen sich einer regen Nachfrage. Teilweise haben schon über 50 Personen teilgenommen. Es gibt aber auch weitere Beispiele für einen wirkungsvollen Beitrag zur Inklusion älterer Bürger, verbunden mit einer sinnvollen Freizeitgestaltung. Für Demenzkranke, die nicht in einer Einrichtung integriert sind, werden Tanznachmittage angeboten. Ein Verein „Inklusion – MachMit-Sonneberg“ möchte sich gründen, der aus einer Selbsthilfegruppe hervorgeht. Ein Schwerpunkt dabei soll sein: Barrierefrei durch den Landkreis. Weiterhin muss die monatliche Rubrik „Senioren schreiben für Senioren“ in der hiesigen Wochenzeitung erwähnt werden. Annegret Geyer Stadtroda Auf dem 11. Deutschen Seniorentag in Frankfurt am Main vom 2. – 4.7.2015 sprach sich die Vorsitzende der BAGSO Frau Prof. Dr. Lehr u. a. für ein selbständiges und selbstbestimmtes Leben unserer Senioren und Seniorinnen aus. Ein Weg dazu ist z.B. das Vorhalten vielschichtiger Angebote durch Hauptamtliche und „Ehrenamtler“ auf den Gebieten Gesundheit, Kultur, Pflege und hauswirtschaftliche Hilfen. Ziel ist es dabei, der Vereinsamung im Alter entgegen zu wirken und die Verschiedenheit als normale Gegebenheit zu betrachten und sich darauf einzustellen. Erfahrungsaustausch Aus den kommunalen Seniorenvertretungen und -beiräten Untersetzung findet diese Forderung im „Thüringer Seniorenmitwirkungsgesetz“ (ThürSenMitWG). Im § 1 heißt es dazu: „… das Alter soll in Würde ohne Diskriminierung gewährleistet werden.“ Vor dem Hintergrund der Alterung der Gesellschaft sowie der Zunahme älterer Menschen mit Behinderung und Pflegebedarf stellt die Inklusion an die Einrichtungen in den Städten und Gemeinden sowie an die Seniorenbeiräte vor Ort große Herausforderungen. Inklusion ist dabei vielschichtig vor Ort zu organisieren, u. a.: - die Ermächtigung der Teilhabe am gesellschaftlichen und kulturellen Leben im Quartier - schrittweise Schaffung von barrierefreiem Zugang zu öffentlichen Einrichtungen in den Gemeinden/ Begegnungsstätten - Erweiterung der Bereitstellung altersgerechten, barrierefreien Wohnraums in den vielfältigen Formen - Information über das Leistungsangebot der Vereine/ Institutionen, Seniorenbeiräte sowie deren Kontaktdaten vor Ort An einigen Beispielen möchte ich die Umsetzung dieser Aufgaben im Verantwortungsbereich unseres Seniorenbeirates in Stadtroda darstellen: 1. Gemäß der Erkenntnis „Langeweile ist die Wurzel allen Übels“ (Schopenhauer) gibt es monatlich ein anspruchsvolles und vielseitiges Angebot die Seniorenarbeit betreffend, welches öffentlichkeitswirksam in unserem Amtsblatt, in den 13 Schaukästen der Stadt und Mitgliedergemeinden sowie im Lokalteil der örtlichen Tageszeitung „OTZ“ bekannt gemacht wird (z. B. Fachvortragsreihen, Sing- und Spielenachmittage, Seniorengymnastik, die regelmäßig an den gleichen Tagen und Zeiten stattfinden). Die Regelmäßigkeit ist dabei eine entscheidende Größe für unsere Senioren und Seniorinnen. 2. Um allen Interessenten die Möglichkeit zu geben, an diesen Veranstaltungen teilzunehmen, wurde u.a. der Zugang zur Seniorenbegegnungsstätte barrierefrei für Rollstuhlfahrer und Rollatorenbenutzer geschaffen. Somit besteht auch die Möglichkeit, dass Bewohner unseres Seniorenheimes „Rodatal“ teilnehmen können. 3. Weitere Schwerpunkte des neu gewählten Seniorenbeirates waren der barrierefreie Zugang zum städtischen Friedhof, um der verstorbenen Angehörigen zu gedenken, die Absenkung von Gehwegen im Bestand und bei der Sanierung der „Klosterstraße“ in den Jahren 2016-2018, sowie die kurzfristige Schaffung eines Behinderten-Parkplatzes im Zentrum der Stadt. 4. Und als Ausblick für das Jahr 2016 wären zu nennen die: - seniorengerechte Beschilderung der Rundwanderwege - Einrichtung eines „Mehrgenerationen-Bewegungsparks“ sowie - Herausgabe eines „Seniorenwegweisers von A-Z“, um die kompakte Informationsversorgung aktuell und zielführend auf allen Gebieten des Seniorenlebens zu erleichtern. Um diese anspruchsvollen Ziele der Inklusion älterer und behinderter Menschen in der Praxis zu verwirklichen, wurde u. a. zu Beginn des neuen Jahres mit der Vernetzung aller Vereine/ Institutionen die Seniorenarbeit betreffend unter „Federführung“ des örtlichen Seniorenbeirates begonnen sowie die sehr nutzbringenden Kontakte zur Stadtverwaltung, besonders unseres Bürgermeisters Herrn Hempel, und zur -98- Rechenschaftskommission gepflegt. Wir würden uns freuen, als neuer Seniorenbeirat von den Erfahrungen langjähriger Beiräte aus anderen Landkreisen des Freistaates profitieren zu können und sind über weitere Anregungen die Verwirklichung der Inklusion betreffend offen und dankbar. Wolfgang Main Suhl Inklusion ist ein Begriff, den viele schon oft gehört haben. Er wird aus den unterschiedlichsten Gründen gebraucht und hat nun auch die Menschen im fortgeschrittenen Alter erreicht. Was heißt nun Inklusion allgemein und was im speziellen für Ältere. Inklusion allgemein heißt dazugehören, nicht ausgrenzen. Bezogen auf unsere älteren Menschen heißt es, die Älteren mit ihren sozialen und gesundheitlichen Problemen nicht alleine zu lassen, sondern ihnen einen Platz und eine Aufgabe in der Gesellschaft zu geben. Um dieses leisten zu können, müssen die Bedingungen im Umfeld stimmen. Es ist Aufgabe der Seniorenbeiräte und anderer Seniorenvertretungen, sich vor Ort über die Situation zu informieren und von der lokalen Politik, aber auch wenn notwendig von der Bundes- und Landespolitik Maßnahmen einzufordern. Unser Seniorenbeirat hat sich in den vergangenen Jahren immer wieder im Rahmen von Seniorenbefragungen ein Bild über die Situation und die Wünsche unserer Senioren gemacht. An oberster Stelle steht der Wunsch, solange wie möglich in der eigenen Wohnung und im vertrauten Umfeld zu bleiben. Auch ob die Wohnung dauerhaft bezahlbar ist, ist eine Sorge der Älteren. Aber wie soll dieses möglich sein, wenn ein Groß- Erfahrungsaustausch Aus den kommunalen Seniorenvertretungen und -beiräten teil des Wohnbestandes nicht barrierefrei ist. Bei Gesprächen mit den Wohngesellschaften zeigt sich, dass die Wohnungsbauförderprogramme in dem vorhandenen Wohnbestand nicht wirtschaftlich vertretbar umgesetzt werden können. Unser Beirat hat den Landesseniorenrat aufgefordert, sich mit dem Thema zu beschäftigen. Auch das Thema der standortnahen Ärzteversorgung ist eine Sorge der älteren Menschen, die oft auf fremde Hilfe bei Arztbesuchen angewiesen sind. Dieses hat unser Beirat im Landesseniorenrat thematisiert. Ganz wichtig für die Älteren ist die Mitarbeit in Vereinen und Initiativen der Wohlfahrtsverbände. Damit das funktioniert, sucht unser Beirat die enge Zusammenarbeit mit den Akteuren. So werden Informationen über Veranstaltungen ausgetauscht und eigene Veranstaltungen organisiert. Als Beirat können wir vor Ort vieles anschieben, damit Inklusion der Älteren gelingt. Rüdiger Müller Weimar Inklusion - Carpe diem Wann und wie wird eigentlich eine alternde Gesellschaft erkennbar? Biologisch beginnt das Altern doch schon vor der Geburt. Behinderungen und Pflegebedarf nehmen zwar im zunehmenden Alter zu und ihre Symptome sind immer schnell diagnostiziert. Ihre Ursachen finden aber oft keine Beachtung. Diabetes ist auch nicht ein gesundheitliches und soziales Problem nur in der Lebensphase der „Hochaltrigkeit“. „Altwerden ist nichts für Feiglinge“, meinte Joachim Fuchsberger in seinem Buch. Aber: Altern erfordert neben Mut immerhin auch Gesundheit, Bildung, Lebenserfah- rung, Kultur - in allen Lebenslagen. Die Menschen müssen von Kindheit an lernen, für andere da zu sein nicht erst vor oder bei einer beginnenden Pflegesituation. Eine Betreuung ist bezahlbar, Pflege erfordert Verständnis, Einfühlung, Fürsorge, Vorsorge, Menschlichkeit, Charakter, Erfahrung, Gemeinschaftssinn. Familie und Partnerschaft sind ein soziales Fundament von Inklusion. Ich bemühe mich, nicht nur in Erinnerungen an das bisherige gemeinsame Leben mit meiner Frau zu verfallen. Die Zukunft darf nicht schon mit und in der Gegenwart Vergangenheit sein. An die Zukunft denken heißt für mich auch: da kommt doch noch etwas, worauf ich neugierig bin, ich werde meine eigenen Wünsche nicht verdrängen. In der Gegenwart gibt es die Anforderungen an die Gestaltung des gemeinsamen Alltags, aber auch die Bitte um Verständnis für mein Leben. Dann aber auch die Frage: Wer betreut meine Frau, wenn ich ernstlich erkrankt bin und sich eine Krankenhausbehandlung nicht vermeiden lässt? Auch auf solche und andere Situationen sollte man vorbereitet sein. Die Teilnahme zu pflegender Menschen am gesellschaftlichen Leben muss immer wieder organisiert werden. Ich motiviere meine Frau, sich für gesellschaftliche Probleme und politische Tagesfragen zu interessieren. Dabei muss ich für ihr neues, anderes Leben täglich Verständnis haben und oft neu durchdenken, ohne mich in Selbstmitleid zu verlieren. Inklusion kann nur verstanden werden, wenn man sie selbst erlebt und aktiv unterstützt. Als ehemalige Französischlehrerin hat meine Frau eine blinde Schülerin bis zum erfolgreichen Abitur geführt. Jetzt ist die Pflege meiner Frau für mich eine Herausforderung für heute und morgen, auf die ich zunächst nicht vorbereitet war. Plötzlich war ich vor -99- die Aufgabe gestellt, den gemeinsamen Alltag allein zu organisieren und dieser Alltag bezieht sich nicht nur auf hauswirtschaftliche Tätigkeiten. Das gemeinsame Musikhören, das Gespräch über politische Ereignisse, die Aufrechterhaltung von Kontakten zu Verwandten, Kollegen und Freunden ist immer wieder neu zu durchdenken - und ein Tag ist so schnell vorüber. Die Erinnerung an das bereits vergangene gemeinsame Leben muss auch mit dem Blick auf die Zukunft verbunden sein. Inklusion selbst erleben, selbst gestalten, in der Partnerschaft: Carpe diem. Dr. Hans-Jürgen Paul Der SENIORENREPORT als Bestandteil der Chronik der Landesseniorenvertretung Ein Jubiläum, dessen Anlass wohl bisher nicht in der Chronik der Thüringer Landesseniorenvertretung vermerkt ist. Bei einer Durchsicht meines Archivs stellte ich fest, dass unser SENIORENREPORT im Februar 1996 als „Informationsblatt der Landesseniorenvertretung Thüringen e. V.“ erstmals erschien. Seitdem gehörte dieses Mitteilungsblatt mit jährlich vier Ausgaben zu einer wirksamen und anerkannten Form von Kommunikation in den Thüringer kommunalen Seniorenbeiräten. Mit großem Interesse las ich noch einmal einige Beiträge und stellte fest, dass sie auch im Jahre 2016 noch nicht an Aktualität verloren haben. Es lohnt sich für die heutige Arbeit in den Seniorenvertretungen, sich mit dem großen Schatz an Erfahrungen aus zwanzig Jahren kommunaler Seniorenpolitik vertraut zu machen. Zwanzig Jahre SENIORENREPORT verdeutlichen sehr anschaulich und überzeugend den großen Beitrag der Landesseniorenvertretung bei der Gestaltung der Altenpolitik im Freistaat Thüringen. Helmut Gerlach orientierte als da- Erfahrungsaustausch Aus den kommunalen Seniorenvertretungen und -beiräten maliger Vorsitzender regelmäßig auf aktuelle Aufgaben der Landesseniorenvertretung. Vorstandsmitglieder nahmen mit ihren Beiträgen an der Diskussion zu ausgewählten Themen teil. Die Leitthemen für die jährlichen vier Ausgaben des SENIORENREPORT waren langfristig im Vorstand beraten und bestätigt. Einen großen Platz nahmen die vielfältigen Beiträge aus den kommunalen Seniorenbeiräten als eine bewährte Form des Erfahrungsaustausches ein, die auch heute in keiner Ausgabe fehlen. Inzwischen hat sich der SENIORENREPORT unter der Leitung von Dr. Jan Steinhaußen zu einem unentbehrlichen Journal für alle in der Altenpolitik Tätigen auf einem hohen wissenschaftlichen Niveau weiterentwickelt: interessant, vielseitig, optimistisch, lebendig, informativ, sachlich, generationenübergreifend. Kurz: ein Spiegelbild ehrenamtlicher landespolitischer Altenpolitik in einer stets aktuellen und anschaulichen Einheit von Theorie und Praxis. Dr. Hans-Jürgen Paul Zella-Mehlis Zu unserer Sitzung im März besuchte uns ein Bürger aus einem in den 1980er Jahren entstandenen Neubaugebiet mit mehreren 5-geschossigen Wohnblöcken. Herr P. bemängelte, dass viele der inzwischen alt gewordenen Bewohner kaum noch in der Lage seien, die vielen Treppen bis zu den oberen Stockwerken zu bewältigen und deshalb u.U. ihre Wohnungen wechseln müssten. Sie würden aber gerne weiter in ihrem sozialen Umfeld wohnen bleiben. Außerdem hat man wegen der Hanglage am Ortsrand von fast allen Wohnungen einen wunderbaren Rundblick, und es befinden sich eine gute Einkaufsmöglichkeit sowie Bushaltestellen in der Nähe. Die Wohnblöcke sind Eigentum unserer Städtischen Wohnungsgesellschaft. Herr P. hatte schon selber in der SWG deshalb vorgesprochen und bat nun um unsere Unterstützung. Einer unserer Seniorenbeiratsmitglieder ist auch im Aufsichtsrat der Wohnungsgesellschaft und nahm sofort das Anliegen des Bürgers auf. Wir haben deshalb zu unserer nächsten Sitzung den Leiter der SWG eingeladen, der sich bei der Vorbesprechung sehr interessiert an der Idee zeigte, die betreffenden Wohnblöcke zukünftig mit Fahrstühlen auszustatten. Wir finden es gut, dass Mitbürger selber Initiative ergreifen, um Vorschläge zur Mängelbeseitigung zu machen, unterstützen dies und hoffen, dass unsere SWG die inzwischen zahlreich vorhandenen finanziellen Fördermöglichkeiten zum Fahrstuhlanbau nutzen wird. Unser Seniorenbeirat wird auf alle Fälle dieses Vorhaben weiter begleiten und hoffen, dass in absehbarer Zeit die Wohnqualität dort wohnender Seniorinnen und Senioren verbessert werden kann. E. Holland-Cunz Zeulenroda-Triebes In Deutschland sind nach Berichten und statistischen Erhebungen etwa 10% der Bevölkerung behindert, wobei man davon ausgehen kann, dass es wesentlich mehr sind. Laut UN-Behindertenrechtskonvention und Bundesgleichstellungsgesetz ist es Recht und Pflicht, diesen Menschen ein selbst- und mitbestimmendes, den unterschiedlichsten Bedürfnissen angepasstes und gleichberechtigtes Leben in der Gesellschaft zu ermöglichen. Inklusion heißt, Teilhabe aller Menschen, ob behindert oder nicht, an allen gesellschaftlichen, kulturellen -100- und sportlichen Prozessen ohne Barrieren. Dazu bedarf es noch einer langen Wegstrecke. In Zeulenroda und Umgebung sind wir der Umsetzung schon ein Stück näher gekommen. In den 4 Pflege- und Altenheimen (Seniorenpark „Am Birkenwäldchen“, Seniorenzentrum „Zum Stausee“ in Zeulenroda, Wohn- und Pflegeheim „Am Wiesensteig“ Triebes der AWO AJS gGmbH und dem Pflegezentrum „Zum alten Kraftwerk“ Auma der AWO Zeulenroda-Triebes) sowie dem Übergangswohnheim für Menschen mit psychischer Behinderung und den Sozialstationen ASB, Volkssolidarität und DRK werden viele Initiativen unternommen, diesen Menschen ein, den Lebensumständen entsprechendes Leben zu bieten. So wird z.B. seit Jahren durch das Wohn- und Pflegeheim „Am Wiesensteig“ Triebes über die „Aktion Mensch“ ein Tag der Inklusion mit vielfältigen Aktionen, in denen die Heimbewohner mit eingebunden sind, durchgeführt. Als ein Beitrag zur Umsetzung der UN-Menschenrechtskonvention in der Stadt wird sich auch dieses Jahr das Heim am Europäischen Protesttag für Menschen mit Behinderung am 5. Mai mit einem Sternmarsch zum Gelände des Sanitätshauses Serimed in Zeulenroda beteiligen. Unter dem Motto „Verschiedenheit verbindet“ sollen viele Menschen in Zeulenroda-Triebes mit Handicap aktiviert und ihnen ein unvergesslicher Tag außerhalb ihrer Wohneinrichtungen beschert werden. Angesprochen werden Bewohner der Wohn- und Pflegeheime, Pflegebedürftige in ihren Wohnungen, ambulante Pflegeeinrichtungen, Jugendliche der Lebenshilfe, Kindergärten, Schulklassen und Bürger. Auch wir vom Seniorenbeirat werden, wie bisher, daran teilnehmen. Bei einem Aktuelles Aus der Geschäftsstelle bunten Programm soll dieser Tag ein unvergessenes Erlebnis werden. Vergessen wir auch die große Gruppe der Senioren nicht, die alleinstehend, krankheitsbedingt oder behindert sind und noch durch keine Sozialstationen betreut werden. Hier versuchen wir als Seniorenbeirat der Stadt Zeulenroda-Triebes unseren Beitrag zu leisten. Durch die Betreuung von Senioren in unserer Begegnungsstätte mit Sport, Kartenspielen und Kaffee und Kuchen wird den Senioren 2x in der Woche eine Abwechslung geboten. Weiterhin führen wir regelmäßig einmal im Monat eine Tanzveranstaltung sowie eine Bildungsveranstaltung zu allgemein interessierenden Themen durch. Beliebt sind auch die seit Jahren von uns monatlich organisierten und durchgeführten Tagesausfahrten für 50-60 Personen zum Kennenlernen und Wiederentdecken unserer Heimat aus kultureller und gastronomischer Sicht. Auch die wöchentlichen Kegelnachmittage sind sehr beliebt. Volker Götzloff Informationen aus dem Vorstand Auch mit achtzig hat man noch Träume - oder? Viele Jahre saßen wir uns bei Sitzungen am Tisch des Vorstandes der Landesseniorenvertretung in Erfurt gegenüber. Ein kurzer Blick genügte, um uns - ohne vorherige Absprache - in die lebhafte Diskussion einzumischen. Gemeinsam haben wir unter anderem in Gesprächen mit dem Direktor des Thüringer Landesfunkhauses und mit dem Chefredakteur der „Thüringer Allgemeine“ um die journalistische Beachtung der Rechte, Interessen und Probleme der älteren Generation in den Medien beraten, und - wie ich meine - nachweisbar mit Erfolg. Themen für den SENIORENREPORT und für die jährlichen Herbstseminare - die anfangs immer in einem anderen Thüringer Ort stattfanden - haben wir gemeinsam im Vorstand der Landesseniorenvertretung begründet. In diesem Jahr wird er am 10. Juli 80 Jahre „alt“ (in Worten achtzig) - mein Freund und Mitstreiter Konrad Eberizsch aus Rudolstadt. Er hat es verdient, in die Gemeinschaft der „Hochaltrgen“ in Ehren aufgenommen zu werden - sein Alter sieht man ihm nicht an. Ich wünsche ihm die Kraft und den Optimismus für die Erfüllung seiner eigenen Wünsche und Vorhaben bei relativ guter und besserer Gesundheit und etwas mehr Zeit und Gelassenheit an der Seite seiner lieben Frau. Lieber Konrad, bleib noch lange mein Freund und bereichere auch hin und wieder eine Seite im SENIORENREPORT mit einem Thema oder greife zum Hörer - wir haben noch viel zu bereden, denn: wir sind noch lange „nicht fertig“. Und - nimm Dir mehr Zeit und Kraft für Dich und für Deine Frau. Mach etwas in und mit der Zeit der „Hochaltrigkeit“ - das muss doch zu machen sein, wünscht Dir Hans-Jürgen Paul aus Weimar. Carpe diem. Anmerkung der Redaktion: Auch Hans-Jürgen Paul wurde in diesem Jahr 80 Jahre alt. Er gehörte zu den Gründungsvätern der Landesseniorenvertretung. Er war langjährig Vorstandsmitglied und begründete mit dem Seniorenreport eine Informationszeitschrift für die kommunalen Seniorenvertretungen und -beiräte, die seit vielen Jahren das Profil der Landesseniorenvertretung mitbestimmt. Sein Spezialgebiet war die Rente der Ostdeutschen. Er Konrad Eberitzsch links und Dr. Hans-Jürgen Paul rechts. -101- Aktuelles Aus der Geschäftsstelle hat sich wiederholt für eine Anpassung der Rentenwerte von Ost und West ausgesprochen und eingesetzt. Er war aber nicht nur ein Spezialist für seniorenpolitische Anliegen, sondern ein herausragender Humorist, dessen humoristisch-satirischen Einlassungen den Jahresseminaren der Landesseniorenvertretung ein heiteres Gepräge gaben. Obwohl es dabei immer auch um Politik ging, hatten diese für ihn nach unserem Wissen keine strafrechtlichen Konsequenzen. Herzlichen Glückwunsch beiden. Neue Mitarbeiterinnen in der Geschäftsstelle Carolin Czauderna befindet sich seit April 2016 in ihrer Elternzeit. Sie hat inzwischen eine Tochter entbunden, die Lotta heißt. Herzlichen Glück- wunsch. Ihre Elternzeitvertreterin ist Karolin Gempe. Mandy Mühle hat sich, nachdem sie über viele Jahre für die Landesseniorenvertretung tätig war, seit April 2016 beruflich anders orientiert. Der Vorstand dankt ihr für ihre zuverlässige Arbeit. Ihre Nachfolgerin ist Jelena Kleine. Carolin Czauderna hat eine Tochter entbunden und ist für ein Jahr in ihrer Erziehungszeit. Die langjährige Geschäftsführerin der Landesseniorenvertretung, Mandy Mühle, hat sich beruflich neu orientiert. Elvira Fischer, stellv. Vorsitzende des Vereins zur Förderung von Mitwirkung und Teilhabe älterer Menschen in Thüringen Karolin Gempe und Jelena Kleine, die neuen Referentinnen des Landesseniorenrates Die langjährige Leiterin des Seniorenbüros Saalfeld-Rudolstadt, Alexandra Graul, hat ihre berufliche Tätigkeit beendet. Sie hat über viele Jahre die Seniorenarbeit im Landkreis maßgeblich bestimmt. Sie wird als ehrenamtliche Seniorenbeauftragte weiterhin der Seniorenarbeit zur Verfügung stehen. Ihre Nachfolgerin ist Saskia Paschold. Leiterin des Familienreferats im TMASGFF, Frau Ines Wesselow-Benkert, und Frau EvaMaria Knauß -102- Aktuelles Nachruf Nachruf auf Norbert Pößel Norbert Pößel, der langjährige Vizepräsident der Deutschen Landsenioren und Präsident des Landseniorenverbandes Thüringen e.V., war vielen Menschen in der Seniorenarbeit ein vertrauter, zuverlässiger und engagierter Gesprächspartner und Begleiter. Er wurde am 29. Januar 1937 in Holzthaleben als Sohn einer Landwirtsfamilie geboren. Dort besuchte er die Grundschule und arbeitete bereits in seiner Jugend auf dem elterlichen Hof. In den Jahren 1958/59 war er als Landwirt Mitglied der LPG „Glück auf“ in Holzthaleben. 1959 begann er ein Studium an der Landwirtschaftlichen Fachschule in Mühlhausen. Nach dem Abschluss war Norbert Pößel von 1962 an als pädagogischer Mitarbeiter, später als stellvertretender Direktor und ab 1981 als Direktor der Kreislandwirtschaftsschule in Mühlhausen tätig. 1962 absolvierte er neben seiner Tätigkeit in der Landwirtschaftsschule ein Fernstudium zum Berufsschullehrer. Er erwarb später den Abschluss als Diplomlandwirt. 1990 begann er eine neue Tätigkeit als Bereichsleiter Bildung des Landwirtschaftsamtes in Mühlhausen. Von 1992 bis zum Ende seiner Berufstätigkeit im Jahre 2000 war er Leiter der Außenstelle Mühlhausen der Landvolkbildung Thüringen. In all diesen Jahren lernten ihn viele vor allem aus der Landwirtschaft als äußerst engagierten Menschen kennen. Er war über 25 Jahre ehrenamtlich tätig. Für Seniorinnen und Senioren aus den Dörfern des Kreises Mühlhausen organisierte er bereits damals Busreisen und andere Veranstaltungen. 1994 wurde die Kreisvereinigung Mühlhausen e.V. der Landsenioren gegründet, deren Vor- sitzender er seitdem war. Zwei Jahre später, 1996, erfolgte die Gründung des Thüringer Landseniorenverbandes. Auch hier war Norbert Pößel von Anfang an Vizepräsident dieses Verbandes, später sein Präsident. Gleichzeitig wurde er Vizepräsident der Deutschen Landsenioren. Er arbeitete ständig daran, auf die besondere Situation der älteren Menschen im ländlichen Raum aufmerksam zu machen. Sein ehrenamtliches Engagement beschränkte sich jedoch nicht auf die Landsenioren. Er war langjähriges Präsidiumsmitglied des Thüringer Bauernverbandes und engagierte sich im Landesseniorenbeirat Thüringens. Seine Kontakte reichten von vielen staatlichen Stellen bis hin zu nahezu allen Thüringer Ministerien. Er war für die Landsenioren in Thüringen und für viele Ältere eine öffentliche Person ersten Ranges. Seinem Engagement war es zu verdanken, dass die Landseniorenvereinigung Mühlhausen e. V. heute mit ca. 1100 Mitgliedern die größte Kreisvereinigung in Deutschland ist. Er hat es verstanden, die älteren Menschen anzusprechen und ihnen vielfältige Möglichkeiten eines freundschaftlichen Miteinanders und Füreinanders und der gegenseitigen Hilfe zu ermöglichen. Norbert Pößel starb am 9. Dezember 2015. Mit ihm verlieren die Land senioren einen ihrer profiliertesten Vertreter. Wir sprechen seiner Familie und den Landsenioren in Thüringen unser Beileid aus. Dr. Jan Steinhaußen Norbert Pößel mit seiner Frau, unten im Bild mit Landsenioren -103- „In einer höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft, nachdem die knechtende Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit, damit auch der Gegensatz geistiger und körperlicher Arbeit verschwunden ist; nachdem die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis geworden; nachdem mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auch ihre Produktivkräfte gewachsen und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen - erst dann kann der enge bürgerliche Rechtshorizont ganz überschritten werden und die Gesellschaft auf ihre Fahne schreiben: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!“ Marx Landesseniorenrat Thüringen Alter ist Kompetenz ISSN-Print 2364-9860 ISSN-Internet 2364-9879 ISBN 978-3-937107-39-4 SENIORENREPORT, 21. Jahrg. 1+2/2016 Impressum Erscheinungsweise viermal jährlich; Auflage 1500 Nächste Ausgabe erscheint im September 2016 Redaktionsschluss: 10.09.2016 Herausgeber: Landesseniorenrat Thüringen Dr. Jan Steinhaußen, Geschäftsführer Prager Straße 5/11, 99091 Erfurt Telefon: 0361/562 16 49 Mobil: 0152 55353013 Fax: 0361/601 37 46 landesseniorenrat-thueringen@gmx.de www.landesseniorenrat-thueringen.de Vorsitzende: Hannelore Hauschild Redaktion: Dr. Jan Steinhaußen, Karolin Gempe, Jelena Kleine Redaktion Praxisberichte: Charlotte Birnstiel, Günther Koniarcyk Layout und Satz: Dr. Kerstin Ramm, Grafik und Werbung, Dorfstr. 15, 07646 Albersdorf, Tel.: 036692/213 82, Fax: 036692/355 77, www.grafikundwerbung-ramm.de Produktion: Förster & Borries GmbH & Co. KG, Zwickau Wenn Sie Fragen, Anregungen oder Kritik haben, freuen wir uns auf Ihre Post, E-Mail oder Ihren Anruf. Bitte nehmen Sie mit unserer Redaktion in Erfurt (Landesseniorenrat) Kontakt auf. Fotos: Ahrenbeck S. 32 oben, Becker S.12, Beckmann S.94 links; Bezgraniz-Couture S. 88, Fotolia alle Bilder S. 1, Czauderna/Steinhaußen 6, 13, 15, 17, 20, 22, 32 unten, S.94 rechts; 101, 102, Czauderna/ Steinhaußen Header S.4-48 , 50-62, 73; 75, 77, 82, 84-89, 91102; Gempe S.102, Golden-Kraemer-Stiftung S.78-81, Haller S.86-87, Heintze S. 33, 48; Jentsch S.17, Lebenshilfe Thüringen S.68-70, Kleine S.102; Ramm Header S.2, RSB e.V. S.89; Schleinitz S.63-67, 74, 76, 83, Vogler S.103, Wachowski S.90, TMASGFF S.49, 51, 62 Namentlich gekennzeichnete Artikel geben die Meinung der Autoren wieder und sind keine Stellungnahmen der Redaktion. Die Redaktion behält sich vor, eingereichte Beiträge zu kürzen und zu überarbeiten. Die Nutzung von Texten und Bildern ist nur nach Rücksprache mit dem Landesseniorenrat Thüringen e. V. möglich. Thema nächster SeniorenReport: Sucht im Alter -104- Gefördert durch den Freistaat Thüringen.