andy warhol
Transcription
andy warhol
ANDY WARHOL DAILY NEWS, 1962 „Wenn ich Zeitschriften aufschlage, schaue ich mir nur die Bilder an und die einzelnen Wörter; lesen tue ich sie gewöhnlich nicht. Die Wörter haben für Seitenzahl, Wettervorhersage und Anga- ben zur Ausgabe präzise wiedergegeben, aber alle Bildunterschriften wurden weg- gelassen. Es sind deshalb nur diejenigen mich keinen Sinn; ich taste lediglich die Protagonisten zu identifizieren, die ent- die Entdeckung gemacht, dass der Sinn oder die erraten werden können. Neben Konturen mit den Augen ab, und ich habe schwindet, wenn man etwas lange an- schaut …” 1 Das monumentale Gemälde Daily News zeigt Vorder- und Rückseite der Ausgabe vom 29. März 1962 der gleich- namigen Boulevardzeitung. Warhol legte die beiden Seiten unter ein Episkop und zeichnete die Umrisse der Bilder und Schlagzeilen mit Bleistift nach. Die Vorzeichnung wurde dann zum größten Teil mit dem Pinsel ausgeführt, einzelne weder in der Schlagzeile genannt werden Eddie Fisher und Elizabeth Taylor ist dies noch der damalige ägyptische Präsident Gamal Abdel Nasser, der den Schwer- gewichts-Champion Floyd Patterson in Kairo empfing. Patterson verlor seinen Weltmeistertitel im Kampf gegen Sonny Liston am 25. September 1962 in Chicago. Nach der oben zitierten Gewohnheit Warhols, nur Bilder und Schlagzeilen zu studieren, ist auch das Gemälde gestaltet und gibt so ein Beispiel für diese Form der Stellen, wie zum Beispiel im Kleid von „Lektüre“. Was zieht bei einer solchen Les- Die Auswahl der Textzeilen ist auffallend. Bedeutung und was verliert sie? Es ist das Elizabeth Taylor, wurden auch gestempelt. Zwar sind solche kleinen Angaben wie art die Aufmerksamkeit auf sich, was hat „sprechende“ Bild und die plakative Zeile, nicht aber der erläuternde Text und die verbindende Erklärung. Die Aufmerksamkeit und das Verständnis sind op- tisch. Wenn also „der Sinn schwindet“, ßes Gemälde ist Teil einer systematischen Nivellierung der Bildthemen. In der tra- ditionellen Rangliste der Sujets rangierte bis in das 19. Jh. die Historienmalerei an wie Warhol bemerkt, kann damit nicht oberster Stelle. In einer listigen Umkeh- mehr wird eine Verschiebung bemerkt, einen Tag wichtige Nachricht aus der Welt ein völliger Verlust gemeint sein, viel- die das, wofür das Bild im Einzelnen steht in etwas anderes verwandelt. Es wird zu etwas Persönlichem und zugleich zu etwas Allgemeinem; zu etwas Persönli- chem durch die nun möglichen Assozia- tionen und zu etwas Allgemeinem durch die nun deutlicher werdende Typologie der Bilder und Schlagzeilen. Die „Lektü- re“ des Gemäldes Daily News zerfällt wie rung der Bedeutung wird die lediglich für des Sport und aus der Glamourwelt der Stars, werden ihre Geschichtchen und ihre ostentative Mildtätigkeit zu einem „Historienbild“. Was bisher nur den „weltgeschichtlichen“ Ereignissen zustand, nämlich Gegenstand eines monumentalen Bildes zu werden, ist jetzt das Recht aller Vorkommnisse. Über den Umweg der Malerei wird damit die tägliche (Bild-) das Bild in zwei Teile. Die rechte Seite Nachricht in den seriösen und weniger durch die Schlagzeile erläutert wird, ord- enbild erhoben. Der fünfzehnminütige mit Liz Taylor und Eddie Fisher, die seriösen Zeitungen zum neuen Histori- net das Bild in die bekannte Biographie Ruhm, den jeder zu erlangen vermag, fin- nicht jedes kleine Ereignis im Leben der medialen Berichterstattung mit gleich- des „Weltstars“ Taylor ein. Vielleicht Schauspielerin, aber doch die großen det seine bildliche Entsprechung in der langer Haltbarkeit. In der Fortführung Züge, sind Teil unserer kollektiven Erin- dieses Gedankens scheint es folgerichtig, hier wiedergegebene Bild in diese Er- Serie, die namenlosen Verkehrstoten und nerung. Insofern ordnet sich auch das innerung ein und sorgt für einen erklä- renden Kontext. Die linke Seite, deren Bildunterschriften eliminiert wurden, „erklärt“ sich eher assoziativ. Die Bilder erscheinen als Beispiele einer Typologie bekannter Reportagebilder: der Besuch auf die anonymen „Stars“ seiner DisasterSelbstmörder zu verweisen, die gleich- berechtigt neben berühmten Toten wie Marilyn Monroe erscheinen. „Die Todes-Serie, die ich gemacht habe, bestand aus zwei Teilen: im ersten beim Staatsmann, die Szene aus dem Teil ging es um berühmte Tode, im zwei- umphierend und die Szene einer Wohltä- gehört hatte. Ich war der Ansicht, dass Gast. Hunderte gleichartiger Bilder hat nachdenken sollten: über das Mädchen, Pferderennen, das siegreiche Pferd — tri- tigkeitsveranstaltung mit „prominentem“ jeder bereits in der Zeitung und auf dem Bildschirm gesehen. Die akribische Übertragung zweier Seiten einer Boulevardzeitung in ein gro- ten um Menschen, von denen niemand die Leute irgendwann einmal über sie das vom Empire State Building sprang, über die Frauen, die den vergifteten Thun- fisch aßen, und über die Menschen, die bei Verkehrsunfällen umkamen. Sie taten mir zwar nicht leid, aber die Leute gehen ihrer Wege, und es ist ihnen letztlich ziem- lich gleichgültig, dass irgendein Unbe- kannter ums Leben kam. Da dachte ich, es wäre vielleicht schön für diese unbe- kannten Menschen, wenn einmal Leute an sie denken, die es normalerweise nicht tun würden.“ 2 Die Geste sollte nicht als „Menschen- liebe“ missverstanden werden. Es ist nicht das Schicksal derer im Dunkeln, das Warhol interessiert. Es sind immer noch die spektakulären Umstände, die Aufsehen erregenden Bilder, die kunst- würdig werden. Das, was den Sprung in die Schlagzeile ermöglicht, ist auch der Passierschein in seine Kunst. Der Unterschied ist lediglich dieser: Heute steht jedem, freiwillig oder nicht, der Weg dorthin offen. Es ist das Pferd, das gewinnt, es ist der Sportler, dem es gelingt, mit pro- minenten Politikern fotografiert zu wer- den und es ist der „fotogene“ Junge im Rollstuhl, der zu Publicityzwecken der New York Philanthropic League ausgewählt wird, die nun als ephemere Stars mit Liz Taylor und Eddie Fisher für einen Tag konkurrieren können. Aber die Identifizierung dieser Tages-Stars gelingt nicht mehr im Bild, denn ihr Ruhm dau- ert nicht in der „überlieferten“ Schlagzei- le fort, sondern existiert lediglich im weg- gelassenen Kleingedruckten. Sie alle sind nach „ihrem“ Tag vergessen. Was bleibt, sind unpersönliche Allegorien des Tri- umphs oder der Caritas. Das gnadenlose Gesetz der Medien besteht darin, die fünfzehn Minuten „täglich“ erneuern zu müs- sen. Wem dies nicht gelingt, versinkt im Vergessen. Klaus Görner ANDY WARHOL 1 „Nichts zu verlieren“, Andy Warhol in einem (1928, Pittsburgh, PA — 1987, New York, NY) Gespräch mit Gretchen Berg, in: Andy Warhol und seine Filme. Eine Dokumentation von Enno Patalas, 1971, S. 19 2 „Nichts zu verlieren“, Andy Warhol in einem Gespräch mit Gretchen Berg, in: Andy Warhol und seine Filme. Eine Dokumentation von Enno Patalas, 1971, S. 18 DAILY NEWS, 1962 Acryl und Bleistift auf Leinwand 183,5 × 254 cm Museum für Moderne Kunst, Frankfurt am Main Ehemalige Sammlung Karl Ströher, Darmstadt Inv. Nr. 1981/61 MMK MUSEUM FÜR MODERNE KUNST FRANKFURT AM MAIN ANDY WARHOL DAILY NEWS, 1962 “When I read magazines I just look at the pictures and the words, I don’t usually read it. There’s no meaning to the words, I just feel the shapes with my eye and if you look at something long enough, I’ve discovered, the meaning goes away …” 1 The monumental painting Daily News shows the front and back pages of the March 29, 1962 issue of the tabloid newspaper by the same name. Warhol placed the two pages beneath an episcope and traced the outlines of the pictures a result, it is only possible to identify those protagonists who are named in the headlines or whose identities can be guessed. Aside from Eddie Fisher and Elizabeth Taylor, we find the Egyptian president of the time, Gamal Abdel Nas- ser, receiving the heavyweight champion Floyd Patterson in Cairo. Patterson lost his world title to Sonny Liston on September 25, 1962 in Chicago. The painting has been executed in a manner wholly in keeping with Warhol’s and headlines with a pencil. The prelimi- above-quoted habit of studying only the with the aid of a brush, while certain an example of this manner of “reading.” nary drawing was then filled in, primarily areas — for example the dress of Elizabeth Taylor — were stamped. The text selec- tions are conspicuous. On the one hand, pictures and headlines, and thus provides What aspects draw attention to themsel- ves, what is significant, what becomes insignificant when this approach is taken? details such as page numbers, the weather The “talking” picture and striking head- precisely rendered, while the picture associative explanation recede. Attention forecast and publication information are captions have been left out entirely. As line stand out; the elucidative text and and comprehension are optical processes. If, as Warhol remarks, “the meaning goes away,” he cannot be talking about a com- reversal of meaning, a single day’s worth of news from the world of sports and the plete loss. He is referring, rather, to a shift glamorous sphere of the stars, complete presented by the picture into something charity, become a “history painting.” A which changes the topic specifically re- different. It becomes something personal and at the same time something general: something personal through the associations that have now become possible; with their anecdotes and ostentatious right previously enjoyed only by events of “world history,” now every occurrence can become a monumental painting. By being subjected to this artistic processing, the something general through the greater daily pictorial news items of serious and typology. Like the picture itself, the act of to a new form of the old genre. The fif- emphasis on the pictures’ and headlines’ “reading” the painting Daily News disinte- not-so-serious newspapers are elevated teen minutes of fame anyone is capable of grates into two parts. The presence of the attaining find their pictorial counterpart showing Liz Taylor and Eddie Fisher, ser- about the same. If we carry this thought headline explaining the page to the right, ves to classify the picture as part of the biography of the world-famous movie star. Perhaps not every little episode, but certainly the major events in the life of this actress are part of our collective memory. The picture reproduced here thus integrates itself into this memory and supplies its own explanatory context. The page to the left, whose picture captions have been eliminated, explains itself more associa- in media coverage, where the durability is to its logical end, it seems appropriate to refer here to the anonymous “stars” of Warhol’s Disaster series – the nameless traffic casualties and suicide victims appearing alongside famous dead persons such as Marilyn Monroe in a manner that gives them equal status. “The death series I did was divided into two parts: the first on famous deaths tively. The pictures appear as examples and the second on people nobody ever listic motifs: the visit to the statesman, think about them sometime: the girl who of a typology of well-known photojournathe horse-racing scene, the victorious horse, and the scene of a benefit event with a “prominent” guest. Every one of us has seen hundreds of pictures like these in newspapers and on computer screens. The meticulous transferral of two pages of a tabloid newspaper onto a large canvas is part of a systematic assimilation of pictorial themes. Until well into the nineteenth century, history painting was the highest ranking pictorial genre in terms of popularity. Here, in a cunning heard of and I thought that people should jumped off the Empire State Building or the ladies who ate the poisoned tuna fish and people getting killed in car crashes. It’s not that I feel sorry for them, it’s just that people go by and it doesn’t really matter to them that someone unknown was killed so I thought it would be nice for these unknown people to be remem- bered by those who, ordinarily, wouldn’t think of them.” 2 The gesture is not to be misunder- stood as an act of philanthropy. It is not the fate of obscure persons that interests Warhol. The “artworthiness” is still con- stituted by the spectacular circumstances and sensational pictures. Whatever has allowed the common man’s jump into the headlines also permits his access to Andy Warhol’s art. The difference is merely that today everyone has this access, whether he/she wants it or not. It is the winning horse, the sportsman who manages to have himself photographed with promi- nent politicians, the “photogenic” boy in the wheelchair chosen for the publicity purposes of the New York Philanthropic League, who — ephemeral stars — are now permitted to compete with Liz Taylor and Eddie Fisher for a day. Yet the identification of these 24-hour stars is no longer achieved by the painting, for their fame does not live on in the headline “handed down to posterity” by the work of art, but exists merely in the omitted fine print. All these figures were forgotten again after “their” day. What remains are impersonal allegories of triumph or charity. Accor- ding to the merciless law of the media, fame consists in renewing the fifteen minutes “daily.” Anyone who fails to do so sinks into oblivion. Klaus Görner Translation: Judith Rosenthal ANDY WARHOL 1 “Nothing to Lose”, Interview with Andy (1928, Pittsburgh, PA — 1987, New York, NY) Warhol by Gretchen Berg, Cahiers du Cinema in English, No. 10, May 1967, pp. 42-3 2 “Nothing to Lose”, Interview with Andy Warhol by Gretchen Berg, Cahiers du Cinema in English, No. 10, May 1967, p. 42 DAILY NEWS, 1962 Acrylic and pencil on canvas 183.5 × 254 cm Museum für Moderne Kunst, Frankfurt am Main Former Karl Ströher Collection, Darmstadt Inv. 1981/61