Tatjana Timoschenko: Die Verkäuferin im Wilhelminischen

Transcription

Tatjana Timoschenko: Die Verkäuferin im Wilhelminischen
Tatjana Timoschenko: Die Verkäuferin im Wilhelminischen
Kaiserreich. Etablierung und Aufwertung eines Frauenberufes um
1900, Bern / Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2005, 177 S., ISBN
3-631-53350-0, EUR 39,00
Rezensiert von:
Ursula Nienhaus
Frauenforschungs-, -bildungs- und -informationszentrum Berlin
Vorliegendes Buch ist eine anhand lokaler Hamburger Originalmaterialien
ungewöhnlich weit recherchierte Magisterarbeit. Sie bezieht eine
Teilauswertung der zahlreichen zeitgenössischen wissenschaftlichen
Untersuchungen in die Analyse mit ein und belegt, dass die Autorin sich
mit den vielen neueren Veröffentlichungen zur Angestelltengeschichte und
zur Erwerbstätigkeit von Frauen beschäftigt hat. Sie präsentiert ihre
Ergebnisse gut gegliedert und leicht lesbar in vier Kapiteln (inklusive
Einleitung und Fazit). Verdienstvoll sind vor allem ihre Darlegungen der
zunächst privaten, später besonders in Hamburg auch staatlichen Ausund Fortbildung von Verkäuferinnen, an denen vor allem die Kaufhäuser
in jüdischem Besitz interessiert waren (121-150). Dazu gibt es eine Fülle
zeitgenössischer, bisher aber kaum neuerer Darstellungen, was
Timoschenko leider wohl verführt, ihre Argumentation der in den 1980erJahren geführten Professionalisierungsdiskussion anzuschließen, anstatt
etwa genauer zu fragen, warum besonders jüdische Kaufhausbesitzer die
privaten Ausbildungsbestrebungen gegen so genannte zeitgenössische
"Pressen" unterstützten.
Daher verrät die Schrift auch typische Mängel einer Magisterarbeit: vor
allem nutzt sie die Fülle der äußerst differenzierten Lagebeschreibungen
der damaligen Interessenverbände und Organisationen nur sehr selektiv,
weil davon angeblich "nur vereinzelt Exemplare, die über das gesamte
Bundesgebiet verstreut sind, existieren" (25). Timoschenko erkennt
deshalb häufig nicht, dass hinter den Namen der benutzten Schriften
männliche wie weibliche Verbandsfunktionäre der Frauen- wie anderer
Organisationen standen, und zwar auch Agnes Hermann, Gertrud Israel,
Eva von Roy. Das verführt sie wiederholt zu Fehleinschätzungen wie:
"Bisweilen konnten die Berufsverbände direkt auf die Gesetzgebung
Einfluss nehmen, die Frauenverbände jedoch nur, sofern männliche
Verbandsmitglieder oder Sympathisanten des Verbandes in Parlamenten
vertreten waren oder als Sachverständige in entsprechende Ausschüsse
oder Kommissionen gelangten" (79). Frauen als Sachverständige, wie sie
vor allem die Frauenverbände nicht nur hervor-, sondern auch in
Krankenkassen, Schulgremien, Untersuchungskommissionen,
Reichsämtern usw. unterbrachten, entgehen Timoschenko offenbar, weil
sie sie im Kaiserreich nicht erwartet.
Vor allem der erste Verein, der auch Verkäuferinnen organisierte, der
kaufmännische und gewerbliche Hilfsverein für weibliche Angestellte,
wurde bereits 1889 in Berlin als eine sich potenziell auf das ganze Reich
ausdehnende gewerkschaftsähnliche Vereinigung gegründet. Daher sind
die "Verbündeten Vereine weiblicher Angestellter" eher als lokale Ableger
zu verstehen, deren Differenzen sich mehr aus sehr unterschiedlichen
regionalen Gegebenheiten erklären lassen, als aus unverständlicher
Frauenkonkurrenz untereinander. Timoschenko (83) beschreibt die
Organisationen mit Sekundärbewertung (durch Brigitte Kerchner 1992),
nicht aber anhand von solcher Wertung widersprechenden
Originalmaterialien.
Die ab 1905 als Verband auftretende Berliner Organisation zählte 1904
bereits 17.631 Mitglieder, erfährt aber in der Darstellung von
Timoschenko (77 ff.) eine sachlich völlig unangemessene Abwertung
gegenüber dem viel kleineren sozialdemokratischen Zentralverband der
Handlungsgehilfen und Gehilfinnen Deutschlands mit Sitz in Hamburg, der
bereits 1883 gegründet, ab 1898 auch Frauen - vor allem Verkäuferinnen
aus Konsumgenossenschaften, und diese zwangsweise - aufnahm und bis
1904 nur 1.855 männliche sowie 1.854 weibliche Mitglieder, aber noch
1918 unter acht Vorstandspersonen lediglich eine Frau zählte. Einem
aktuell häufigen Missverständnis folgend, erscheint er in dieser
Publikation - seiner eigenen Propaganda aufsitzend - sowohl als
geschlechterübergreifend als auch mehr gewerkschaftlich, daher
progressiver, ohne dass die Kriterien solcher Wertungen nachvollziehbar
formuliert werden.
Es ist auch bedauerlich, dass Timoschenko die sehr ausgeprägte und
bereits in der zeitgenössischen wissenschaftlichen Literatur massiv
hervorgehobene Differenzierung unter den Verkäuferinnen nach Branchen
und nicht lediglich nach Betriebsgrößen bestenfalls streift und daher die
unterschiedliche schichten- oder klassenmäßige Zuordnung der Frauen
untereinander nach Herkunft und Ausbildung und eigenem Bestreben,
aber eben besonders auch nach Branchen, und nicht lediglich gegenüber
allen Männern oder allen Kontoristinnen unterschätzt und also nicht in
einen Zusammenhang mit der relativ zögerlichen Selbstorganisation von
(weiblichem wie männlichem) Verkaufspersonal bringt.
Vor allem ihre Ausführungen im dritten Kapitel und ihr Fazit verraten
daher, dass die Autorin zwar sehr viel Literatur zur Kenntnis genommen,
aber die vorgefundenen "Quellen"-Zitate, Thesen, Einordnungen und
widerstreitenden Generalisierungen nicht kritisch miteinander verglichen
hat. Vielmehr entnimmt sie daraus selektiv, was ihrer etwas sehr glatten
Darstellung nutzt. Es ist jedoch weniger der Autorin als der sie mit ihrem
Vorwort unterstützenden Barbara Vogel anzulasten, dass sie der
Publikation ausdrücklich "wissenschaftliche[n] Wert" und "einen
deutlichen Erkenntnisfortschritt" bescheinigt. Sie begründet diesen vor
allem entgegen der eigenen Aussage Timoschenkos (25) mit der
Auswertung von Archiven der großen Kaufhäuser, die es entweder gar
nicht gibt oder die Timoschenko ebenso wenig wie andere Forscher
zuließen.
Die Publikation verrät daher, dass man Timoschenko besser geraten
hätte, eine übliche Magisterarbeit einzureichen und sich danach unter
kritischer Begleitung an eine gründliche wissenschaftliche
Auseinandersetzung mit der Fülle damaliger spezialisierter wie auch
späterer leider eher generalisierender Schriften zu machen. Diese hätte
denn auch die Zentralthese von einer angeblichen Entwicklung des Berufs
der Verkäuferin vom "Durchgangsberuf" zu einem modernen
anspruchsvollen Lebensberuf, also einer "Professionalisierung" im 20.
Jahrhundert, noch einmal gründlich anhand der Tatsachen seit den
1920er-Jahren zu hinterfragen. Denn in mehr und mehr Branchen
entwickelten sich die Tätigkeiten im Verkauf nach dem Kaiserreich
keinesfalls zu qualifizierten Berufen, sondern unterlagen mit
zunehmender Ausdehnung den ständigen Rationalisierungsbestrebungen
des Handels bis hin zur so genannten kapazitätsorientierten variablen
Arbeitszeit. Nur der Begriff ist seit Ende des 20. Jahrhunderts neu; seinen
Inhalt, ungeschützte Arbeit auf Abruf, erlebten vor allem Verkäuferinnen
schon seit den 1920er-Jahren.
Es ist Timoschenko zu wünschen, dass sie für die auf dem Klappentext
des Buches angekündigte didaktische DVD in diesem Sinne solidarische
Unterstützung erfährt. Einem Verlag "der Wissenschaften" ist darüber
hinaus nahe zu legen, tatsächlich wissenschaftliche Veröffentlichungen
nicht mit überholt klischeehaften Klappentexten über "typische
Frauenberufe" oder "Männerdomäne[n]" sowie "standesbewussten
Kontoristinnen" (als angeblichen Kontrahenten von Verkäuferinnen) zu
versehen.
Redaktionelle Betreuung: Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Ursula Nienhaus: Rezension von: Tatjana Timoschenko: Die Verkäuferin im
Wilhelminischen Kaiserreich. Etablierung und Aufwertung eines Frauenberufes um
1900, Bern / Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2005, in: sehepunkte 6 (2006), Nr.
2 [15.02.2006], URL: <http://www.sehepunkte.historicum.net/2006/02/9428.html>
Bitte setzen Sie beim Zitieren dieser Rezension hinter der URL-Angabe in runden
Klammern das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse ein.