mega-projekte und stadtentwicklung
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mega-projekte und stadtentwicklung
PR 08 Inhalt MEGA-PROJEKTE UND STADTENTWICKLUNG HERAUSGEGEBEN VON UWE ALTROCK, SIMON GÜNTNER, SANDRA HUNING, DEIKE PETERS Sandra Huning / Deike Peters: Mega-Projekte und Stadtentwicklung Katja Simons: Großprojekte in der Stadtentwicklungspolitik: Zwischen Steuerung und Eigendynamik - das Beispiel Euralille Frank Scholles: Planung und Unsicherheit: Der Risikobegriff in Theorie und Methodik der Umweltplanung Jochen Hanisch: Das Elend der Raum- und Umweltplanung im praktizierten Neoliberalismus. Das Beispiel der Erweiterung der Airbus-Produktionsanlagen in Hamburg Charlotte Halpern: Flughäfen zwischen Wettbewerbsfähigkeit und politischer Integration. Das Beispiel Paris /Charles de Gaulle Wulf Tessin: Kraft durch Freude? Wolfsburgs Weg aus der Arbeits- in die Erlebnisgesellschaft Frank Roost: Metropolen als Standorte imageorientierter Großprojekte: Das Beispiel Tokyo Robert Beauregard: Die Wiederaufbauplanung für das World Trade Center in New York Renzo Lecardane: Territorium, Stadt, Großprojekte - Das Beispiel der Expo´98 in Lissabon Uwe Altrock: Der Schlossplatz in Berlin im Licht der Großprojektforschung Rundschau Margit Mayer: Der Höhenflug des Sozialkapital-Konzepts (Vorstellung von Sandra Huning) Yvonne P. Doderer: Urbane Praktiken. Strategien und Raumproduktionen feministischer Frauenöffentlichkeit (Besprechung von Sandra Huning) Matthias Bernt: Rübergeklappt. Die ‚behutsame Stadterneuerung‘ im Berlin der 1990er Jahre (Besprechung von Uwe Altrock) Klaus Humpert / Martin Schenk: Entdeckung der mittelalterlichen Stadtplanung (Besprechung von Uwe Altrock) Jean Hillier: Shadows of Power (Besprechung von Uwe Altrock) MEGA-PROJEKTE UND STADTENTWICKLUNG Bent Flyvbjerg / Mette Skamris Holm / Søren Buhl: Kostenunterschätzung bei öffentlichen Bauprojekten: Fehler oder Lüge? PLANUNGSRUNDSCHAU 8 OKTOBER 2003 MEGA-PROJEKTE UND STADTENTWICKLUNG REIHE PLANUNGSRUNDSCHAU Ausgabe 8 Berlin 2003 ISBN 3-937735-00-3 www.planungsrundschau.de ISSN (Print) 1617-7037 ISSN (Internet) 1617-7045 Herausgeber Uwe Altrock, Simon Güntner, Sandra Huning, Deike Peters Schlussredaktion Uwe Altrock Satz und Layout Tobias Janseps Kontakt und Bezug Planungsrundschau, Verlag Uwe Altrock c/o Juniorprofessur Stadterneuerung Prof. Dr. Uwe Altrock Brandenburgische TU Cottbus Erich-Weinert-Straße 1 03046 Cottbus E-Mail altrock@tu-cottbus.de Mega-Projekte und Stadtentwicklung 3 INHALT Sandra Huning / Deike Peters Mega-Projekte und Stadtentwicklung 5 THEMA: MEGA-PROJEKTE UND STADTENTWICKLUNG Bent Flyvbjerg / Mette Skamris Holm / Søren Buhl Kostenunterschätzung bei öffentlichen Bauprojekten: Fehler oder Lüge? 15 Katja Simons Großprojekte und Stadtentwicklungspolitik: Zwischen Steuerung und Eigendynamik - das Beispiel Euralille 35 Frank Scholles Planung unter Unsicherheit: Der Risikobegriff in Theorie und Methodik der Umweltplanung 51 Jochen Hanisch Das Elend der Raum- und Umweltplanung im praktizierten Neoliberalismus. Das Beispiel der Erweiterung der AirbusProduktion in Hamburg 71 Charlotte Halpern Flughäfen zwischen Wettbewerbsfähigkeit und politischer Integration. Das Beispiel Paris - Charles de Gaulle 92 Floridea Di Ciommo Der Norden von Paris. Auf dem Weg zu einer interkommunelen Zusammenrabeit 122 Wulf Tessin Kraft durch Freude? Wolfsburgs Weg aus der Arbeits- in die Erlebnisgesellschaft 135 Frank Roost Metropolen als Standorte imageorientierter Großprojekte. Das Beispiel Tokyo 149 4 Großprojekte und Stadtentwicklung Bob Beauregard Die Wiederaufbauplanung für das World Trade Center in New York Renzo Lecardane Territorium, Stadt, Großprojekte. Das Beispiel der Expo´98 in Lissabon Uwe Altrock Der Schlossplatz in Berlin im Licht der Großstadtforschung 161 176 191 RUNDSCHAU Margit Mayer Der Höhenflug des Sozialkapital-Konzepts (Vorstellung von Sandra Huning) Yvonne P. Doderer Urbane Praktiken. Strategien und Raumproduktionen feministischer Frauenöffentlichkeit (Besprechung von Sandra Huning) 218 232 Matthias Bernt Die ‚behutsame Stadterneuerung‘ im Berlin der 1990er Jahre (Besprechung von Uwe Altrock) 235 Klaus Humpert / Martin Schenk Die Entdeckung der mittelalterlichen Stadtplanung (Besprechung von Uwe Altrock) 237 Jean Hillier Shadows of power (Besprechung von Uwe Altrock) 239 AUTORINNEN UND AUTOREN 242 Mega-Projekte und Stadtentwicklung 5 Sandra Huning / Deike Peters MEGA-PROJEKTE UND STADTENTWICKLUNG Ist über Großprojekte nicht schon alles gesagt, was es zu sagen gibt? Vor allem in den 1990er Jahren hat das Thema eine enorme Resonanz erfahren und eine Vielzahl von Veröffentlichungen hervorgebracht, von denen viele bis heute an Aktualität wenig verloren haben. Nichtsdestotrotz hat sich die Redaktion der Planungsrundschau für diese Ausgabe vorgenommen, das Thema aufzugreifen. Dabei geht es uns konkret darum, mit Hilfe deutscher und internationaler Beiträge verschiedene Bezüge zur aktuellen planungstheoretischen Diskussion herzustellen bzw. zu vertiefen. Dies erscheint uns zum einen insofern lohnend, weil im Verlauf der vergangenen Jahre eine Reihe von Erfahrungen mit der „Planung durch Großprojekte“ gesammelt worden ist, die heute einen distanzierteren Blick auf das Thema zulassen als noch vor zehn Jahren und die Frage aufwerfen, ob diesbezügliche Lernprozesse in der Planung stattgefunden haben. Zum anderen haben sich in der Planungstheorie selbst in der Zwischenzeit neue Forschungsansätze etabliert, die Großprojekte gegebenenfalls in einem anderen Licht erscheinen lassen oder neue theoretische Zugänge zeigen können. Mit letzterem meinen wir z.B. die Entdeckung steuerungstheoretischer Ansätze aus der lokalen Politikforschung für die Planungstheorie. 1. Was sind überhaupt Großprojekte? Welche Kennzeichen muss ein Projekt aufweisen, um als Großprojekt definiert zu werden: ist es die Summe der eingesetzten Investitionsmittel, ist es die Ausbreitung des Projektes in der Fläche, die stadt-, regional- oder infrastrukturpolitische Funktion, die es erfüllt, oder geht es um die Anzahl der betroffenen Bürgerinnen und Bürger? Die Antworten darauf fallen unterschiedlich aus, je nachdem, aus welcher Perspektive man sich dem Thema zuwendet. Wir möchten an dieser Stelle mehrere 6 Großprojekte und Stadtentwicklung Typen von Großprojekten unterscheiden, die jeweils wiederum sehr heterogen ausgestaltet sein können und auch als diverse Mischformen existieren: • Großveranstaltungen finden in regelmäßigen zeitlichen Abständen in Städten und Regionen statt, die sich in einem mehr oder weniger aufwendigen Auswahlverfahren gegen ihre Mitbewerber durchgesetzt haben. Auf internationaler Ebene handelt es sich z.B. um Weltausstellungen und Olympische Spiele, auf europäischer Ebene um die Kulturhauptstadt oder auf bundesdeutscher Ebene um Bundesgartenschauen. In der Regel haben die Veranstaltungen eine jahrelange Vorlaufzeit und werden als Aufhänger für eine Vielzahl von Infrastruktur- oder sonstigen Entwicklungsmaßnahmen genutzt – auch, weil sie häufig durch die Bundes- oder Landesebene kofinanziert werden. Entsprechend sind die Auswirkungen von Großveranstaltungen noch lange über den eigentlichen Veranstaltungszeitraum hinaus zu sehen und zu spüren. Zuständig für Planung und Organisation sind in der Regel public-private partnerships. Obwohl es zwar immer wieder neue und interessante Fallstudien zu dieser event-orientierten Version von Großprojekten gibt, hat sich bezüglich ihrer planungstheoretischen Einordnung hier in den letzten zehn Jahren wenig getan, weshalb das von Hartmut Häußermann und Walter Siebel bereits vor zehn Jahren herausgegebene Leviathan-Sonderheft „Festivalisierung der Stadtpolitik – Stadtentwicklung durch große Projekte“ eine immer noch gültige Zusammenfassung der Debatte liefert. In dieser Ausgabe steht der Beitrag von Renzo Lecardane über die Expo in Lissabon stellvertretend für diese Art von Event-Großprojekten. • Flagship-Image-Projekte werden von Kommunen, Privatinvestoren oder public-private partnerships mit zwar im Detail unterschiedlichen Zielen entwickelt, im Allgemeinen sollen sie jedoch als Alleinstellungsmerkmale den Bekanntheitsgrad der Stadt/ Region erhöhen oder ein bestimmtes Image für eine Stadt bzw. Region und/oder ein Unternehmen vermitteln. Ein Paradebeispiel hierfür ist die von Wulf Tessin in dieser Ausgabe beschriebene Autostadt Wolfsburg. • Urban-Renaissance-Projekte wollen durch die gezielte Aufwertung von Industriebrachen und anderen city-nahen Lagen städtisches Leben wieder attraktiv machen. Hierbei erhalten jedoch Entertainment, (Massen-)Kultur und kommerzielle Nutzungen meist einen viel höheren Stellenwert als Wohnnutzungen. Dies lässt dann statt neuer innenstadtnaher integrierter Nachbarschaften entweder tourist bubbles (Judd und Fainstein), neue Bürostandorte oder eine Kombination derselben entstehen, die dann typischerweise umgeben sind von gentrifizierten Wohninseln. In diese Kategorie gehören vor allem diverse Hafenentwicklungsprojekte (London Docklands, Boston Harbor, HafenCity Hamburg, Puerto Madero Buenos Aires etc) und Urban Entertainment Center (Potsdamer Platz), aber auch die millionenschweren, von Stararchitekten entworfenen Museumsbauten, z.B. in Bilbao (Gehrys Guggenheim-Museum), Berlin (Libeskinds Jüdisches Museum und I.M. Peis Anbau des Historischen Museums) oder Los Angeles (Richard Meiers GettyMuseum). Ähnlich wie bei der event-orientierten Literatur ist die stadtentwick- Mega-Projekte und Stadtentwicklung 7 lungspolitische Bedeutung von Flagship- und Urban-Renaissance-Großprojekten anhand von vielfältigen Fallbeispielen in den letzten 10-15 Jahren bereits verhältnismäßig umfassend erforscht worden. • Schließlich gibt es die Kategorie der Infrastruktur-Großprojekte, d.h. Megaprojekte von einem Investitionsvolumen von mehreren hundert Millionen bis zu mehreren Milliarden Euro. Dazu zählen vor allem Flughäfen, Bahnhöfe, Tunnel, Brücken und andere Verkehrsprojekte, aber auch Technologieparks wie der Wissenschaftsstandort Adlershof in Berlin. Die Finanzierung erfolgt vornehmlich durch die öffentliche Hand, und zwar in der Regel weniger durch die kommunale Regierung als vielmehr durch Land oder Bund, da die Anlagen und Trassen im Allgemeinen eine überörtliche oder sogar eine überregionale Bedeutung haben. Hierbei sind innerstädtische Großbahnhöfe wie das in dieser Ausgabe von Katja Simons beschriebene Euralille Projekt (weitere Beispiele sind das Stuttgart-21Projekt und der Lehrter Bahnhof in Berlin) selbstverständlich gleichzeitig auch als Flagship-Image- bzw. Urban-Renaissance-Projekte einzustufen. Es sollte nicht überraschen, dass der Schwerpunkt dieser Ausgabe auf eben solchen infrastrukturellen Großprojekten liegt, d.h. auf Projekten, die neben ihren anderen möglichen symbolischen und imagefördernden Bedeutungen eine konkrete öffentliche Infrastrukturfunktion erfüllen. Die Analyse solcher Projekte erscheint nämlich für die aktuelle planungs- und steuerungstheoretische Debatte vor allem deshalb interessanter und ergiebiger, da man sich aufgrund ihrer weitreichenden infrastrukturellen Bedeutungen und ihrer vor allem durch öffentliche (Steuer-) Gelder vorangetriebenen Finanzierung gezielt die Frage nach dem öffentlichen Nutzen stellen sowie planerische und politische Legitimitäten überprüfen muss. Bob Beauregard problematisiert in seinem Artikel dann auch wiederholt die Tatsache, dass die für den WTC-Wiederaufbau verantwortlichen (halböffentlichen) Träger das „öffentliche Interesse“ keinesfalls angemessen vertreten. Und Bent Flyvbjerg und seine KollegInnen argumentieren gar, dass Projektentwickler und Politiker die Öffentlichkeit oft wissentlich belügen, um politisch opportune Großinfrastrukturprojekte finanziell attraktiv genug erscheinen zu lassen. Mit dem Begriff „Projektorientierung in der Planung“ sind heute vor allem zwei Sachverhalte gemeint: Erstens, dass die Planung durch ein Großprojekt überhaupt erst angestoßen oder zumindest unterstützt wird (z.B. die Planung von Veranstaltungsorten, Unterkünften, Infrastruktur etc. für eine anstehende Weltausstellung oder von Zufahrtsstraßen, Bahnanbindungen etc. für einen neuen Flughafen), oder zweitens, dass die Planung sich durch Projekte vollzieht, wobei das Projekt Mittel zum Zweck und Teil einer umfassenderen Planungsstrategie ist bzw. sein sollte (z.B. ein Urban Entertainment Center als Beitrag zur Innenstadt-Revitalisierung oder ein Technologiepark als Element eines neuen Images für einen Stadtteil). Der Einfluss auf die Raumstruktur ist dabei immer erheblich. Nicht zu unterschätzen sind auch die Konsequenzen für die politische Steuerung. Denn Planung und Entwicklung von Großprojekten finden häufig außerhalb der üb- 8 Großprojekte und Stadtentwicklung lichen, demokratisch legitimierten institutionellen Zusammenhänge statt; es werden public-private partnerships, Entwicklungsgesellschaften o.ä. gegründet und informelle und kooperative Planungsverfahren eingesetzt, vor allem um eine Beschleunigung der Projekte zu erreichen. Unabhängig davon, welche Charakteristika Großprojekte im Einzelnen aufweisen, sind sie alle gleichermaßen eingebunden in einen Wandel gesellschaftlicher, ökonomischer wie politischer Rahmenbedingungen, der die Entstehung von Großprojekten befördert und damit auch die Planungsdisziplin selbst verändert hat. 2. Warum Planung durch Großprojekte? Innerhalb der Globalisierungsdiskurse der vergangenen Jahre herrscht die weit verbreitete Meinung vor, dass Städte und Regionen heute in einem internationalen Standortwettbewerb miteinander stehen. Gestützt wird die entsprechende Argumentation durch die gleichzeitig stattfindende Liberalisierung der Märkte und weitere Ausweitung von Handelsbeziehungen. In der Folge sind kommunale und regionale Akteure darum bemüht, ihre Städte und Regionen als Standorte für Unternehmen und (internationale) Organisationen zu profilieren. Großprojekte und Großveranstaltungen sind hierbei besonders geeignet, zumindest für einen bestimmten Zeitraum die mediale Aufmerksamkeit zu sichern und bestenfalls der (Welt-) Öffentlichkeit ein markantes und einprägsames Image zu vermitteln. Die gleichzeitige eklatante Finanznot des Staates führt dazu, dass auf kommunaler und regionaler Ebene selbst für die Pflichtaufgaben häufig nicht mehr das nötige Geld vorhanden ist. Großprojekte bieten die Möglichkeit, sowohl private als auch überregionale Gelder für lokale Entwicklungsmaßnahmen zu aktivieren, sei es für einen Ausbau der U-Bahn, ein neues Wohngebiet oder die Aufwertung eines Stadtteils. Darüber hinaus bringen sich inzwischen auch private Unternehmen mehr oder weniger aktiv in die Stadtentwicklungspolitik ein, sei es als Teil der eigenen Unternehmenspolitik oder als Beitrag zur Aufwertung des eigenen Standorts. Städte und Regionen werden damit von Lebensräumen für ihre Bürgerinnen und Bürger immer stärker zu Kulissen für und Standorte von Privatunternehmen und als solche ausgebaut. 3. Inwiefern sind Großprojekte anders als „normale“ Planung? Neben allen Unterschieden zwischen den vier o.g. Typen von Großprojekten existieren auch Gemeinsamkeiten, die der Planung eine neue Qualität verleihen. Planung verändert sich, wenn sie projektförmig verläuft, insbesondere dann, wenn es sich um ein Großprojekt handelt. Die rahmensetzende Funktion der Planung tritt hier zugunsten einer stärkeren Handlungsorientierung in den Hintergrund. Planerinnen und Planer können sich als „Macher“ präsentieren und ihren Ruf als bürokratische Verhinderer abstreifen. Im Idealfall sind Großprojekte eingebunden in eine umfassende städtische/regionale Entwicklungspolitik und werden nicht isoliert umgesetzt, Mega-Projekte und Stadtentwicklung 9 sondern potentielle Wechselwirkungen und Rückkopplungen mit anderen raumrelevanten Prozessen und Maßnahmen werden frühzeitig berücksichtigt und betroffene Akteure regelmäßig beteiligt oder zumindest gehört. In der Realität entwickeln Großprojekte jedoch aus verschiedenen Gründen häufig eine unaufhaltbare Eigendynamik, die Gegenstimmen überrollt, Gegenargumente gar nicht erst zulässt und auch bei absehbarem Scheitern eines Projektes keine Ansatzpunkte für einen geordneten Rückzug bietet, wenn das Projekt erst einmal angelaufen ist. Dies gilt um so stärker, je höher der finanzielle Aufwand ist. Während es sich bei Planung im Allgemeinen um einen kontinuierlichen, regelmäßig korrigierbaren Prozess handelt, haben Projekte oft ungefähr absehbare Startund Schlusspunkte; und es herrscht Uneinigkeit darüber, ob und wie genau sich die finanziellen Kosten und sonstigen Risiken von Großprojekten überhaupt im Voraus kalkulieren lassen (vgl. dazu Flyvbjerg u.a. und Scholles in diesem Heft). Für die Umsetzung von Großprojekten werden öffentliche und private Finanzressourcen in einem Umfang gebündelt, der häufig Widerspruch provoziert: Alle Anstrengungen werden auf ein großes Projekt konzentriert, das die Stadt, die Region oder gar das ganze Land entscheidend aufwerten und voranbringen soll, während in anderen Bereichen immer weiter gespart werden muss. Das Argument der Projektbefürworter lautet in einem solchen Fall, dass das Abrufen privater und überregionaler Gelder nur im Rahmen dieses Großprojektes möglich sei; bei großen Infrastrukturmaßnahmen sind die (europäischen, Bundes- oder Landes-) Gelder häufig genau für dieses Projekt reserviert und können auf lokaler/regionaler Ebene nur zu diesem Zweck abgerufen werden. Der Vorteil ist der, dass Planung im Rahmen eines Großprojektes in vielen Fällen für die Bürgerinnen und Bürger interessanter, anschaulicher und nachvollziehbarer wird, denn es handelt sich um ein konkretes Vorhaben, bei dem Ziel und Zweck im Vorfeld ausdiskutiert und festgelegt werden und Erfolg oder Misserfolg vermeintlich im Nachhinein messbar sind. Das Beteiligungsinteresse liegt somit sehr viel höher als bei der z.B. Erstellung von Rahmenplänen. Gleichzeitig liegt jedoch ein Problem, das viele Planerinnen und Planer ebenso wie viele Bürgerinnen und Bürger gerade mit Großprojekten haben, in fehlender Transparenz und unzureichender Legitimität. Dies hängt nicht notwendigerweise mit projektorientierter Planung an sich zusammen als vielmehr mit dem organisatorischen oder institutionellen Rahmen, in dem sie stattfindet. Akteure sind bei Großprojekten in der Regel eben nicht nur staatliche – sprich: demokratisch legitimierte – Akteure, sondern auch private Investoren, die das notwendige Finanzkapital zur Durchsetzung der Großprojekte beisteuern. Aber auch überregionale staatliche Interessen werden ggf. ohne Berücksichtigung spezieller lokaler oder regionaler Gegebenheiten umgesetzt (vgl. für das Beispiel der Niederlande den Beitrag von Wolsink in der Planungsrundschau 6; in diesem Heft z.B. den Beitrag von Charlotte Halpern). Unter dem Stichwort „Urban Governance“ bzw. „Regional Governance“ werden solche Kooperationen auch theoretisch etabliert. 10 Großprojekte und Stadtentwicklung 4. Was heißt das für die Planungstheorie? Für die Planungstheorie ergeben sich aus den Erfahrungen mit Großprojekten verschiedene Anknüpfungspunkte. Drei Forschungsfelder sind aus unserer Sicht besonders interessant, die durchaus Überschneidungen aufweisen, aber auch ganz eigene Zugänge zulassen: Erstens stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Großprojekten zur längerfristigen Stadt- oder Regionalentwicklung. Inwieweit sind Großprojekte in eine Strategie des „perspektivischen Inkrementalismus“ (Ganser) oder des „Mixed Scanning“ (Etzioni) eingebunden? Oder handelt es sich hierbei um eine Hinwendung zum reinen Inkrementalismus? Wie können Langfristperspektiven und Großprojekte im Planungsprozess zusammengebracht werden? Inwiefern sind heute vielleicht symbolische Erträge großer Projekte wichtiger als ihr realer Nutzen? Zweitens ist die Betrachtung von Großprojekten aus steuerungstheoretischer Perspektive interessant. Für die Umsetzung eines Großprojektes werden neue Koalitionen gebildet, formelle Instrumente werden zugunsten von informellen und kooperativen Verfahren zurückgestellt. Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für stadt-/regionalpolitische governance? Wie können Transparenz und demokratische Legitimation des Planungs- und Umsetzungsprozesses gewährleistet werden? Mit Hilfe von Governance-Ansätzen kann eventuell auch die bei vielen Großprojekten unzureichend wahrgenommene gesamträumliche Perspektive mit den verschiedenen beteiligten Akteuren gestärkt werden. Drittens werfen Großprojekte die Frage nach der Risikoabschätzung und Risikokontrolle planerischer Eingriffe in bestehende Strukturen ganz neu und in einem großen Maßstab auf. Lassen sich Planungsfolgen zuverlässig prognostizieren? Inwiefern können Mechanismen in den Planungsprozess eingebaut werden, die in regelmäßigen zeitlichen Abständen eine Zwischenüberprüfung erwünschter und unerwünschter Folgewirkungen zulassen und ggf. Korrekturen zulassen? Wie kann die vermeintliche Eigendynamik großer Projekte gebremst werden? 5. Die Beiträge Die Beiträge in diesem Heft thematisieren diese Fragen anhand verschiedener Beispiele und mit Hilfe unterschiedlicher theoretischer Zugänge. Fast alle stimmen darin überein, dass im Fall von Großprojekten eine Interessenverflechtung städtischer und ökonomischer Akteure vorliegt, die eine planerische Abwägung und die Verfolgung anderer, z.B. ökologischer oder sozialer Belange erschwert, wenn nicht sogar unmöglich macht. Während die Technokratie in ihrer Ausprägung der Nachkriegszeit an Bedeutung verloren hat, was einerseits mit der ökonomischen „Globalisierung“ begründet wird, andererseits aber auf die Stärkung supra- und subnationaler institutioneller Ebenen zurückzuführen ist, setzen sich bei neuen kooperativen Verfahren diejenigen Interessen durch, die anpassungsfähig sind und entsprechende Kompetenzen haben: In wenigen Fällen kommen dabei auch organisierte lokale Interessen zum Zuge, Mega-Projekte und Stadtentwicklung 11 häufig aber nach wie vor insbesondere Kapitalinteressen. Kommunen sind dabei vor dem Hintergrund eines vermeintlichen globalen ökonomischen Wettbewerbs nicht mehr vorrangig Lebensräume ihrer Bevölkerung, sondern Standorte und Bühnen von Unternehmen und ihren Strategien. Katja Simons beleuchtet in ihrem Beitrag am Beispiel von Euralille die politische Steuerung städtebaulicher Großprojekte. Bei der Planung und Umsetzung eines Großprojektes handelt es sich nicht um eine Routineaufgabe, sondern um einen erheblichen und außergewöhnlichen Eingriff in die Stadtstruktur, durch den finanzielle und personelle Ressourcen in hohem Umfang gebunden werden. Deshalb werden auch Entscheidungs- und Organisationsstrukturen den besonderen Erfordernissen angepasst. Am Beispiel von Euralille wird gezeigt, wie dies zulasten von Transparenz, Legitimität und Demokratie gehen kann, zumal ein solches Projekt zwangsläufig eine fast unaufhaltbare Eigendynamik entwickelt. Simons fordert deshalb die konsequente Anwendung projektbegleitender Kontrollmechanismen im Sinne eines Risikomanagements sowie die Entwicklung von Prüfkriterien, um vor Projektbeginn eine Bedarfsanalyse bzw. -prognose durchführen zu können, die über die erforderlichen Dimensionen eines Projektes Aufschluss geben könnte. Bent Flyvbjerg, Mette Skamris Holm und Søren Buhl gehen der Frage nach, auf welche Weise die regelmäßige Kostenunterschätzung bei Großprojekten zustande kommt. Sie stellen Ergebnisse einer Studie zur Kostenüberschreitung in 258 Verkehrsinfrastrukturprojekten vor und zeigen, dass in 90 % aller Fälle die Kosten unterschätzt wurden und um durchschnittlich 28 % höher waren als prognostiziert. Diese Quote ist im Laufe der Zeit trotz der Erfahrungen, die inzwischen mit Großprojekten gesammelt werden konnten, nicht gesunken. Flyvberg, Holm und Buhl überprüfen vier mögliche Erklärungen technischer, ökonomischer, psychologischer und politischer Art und kommen zu dem Ergebnis, dass „strategische Missinterpretation“ vorliegender Daten durch Akteure aus Politik und Planung die wahrscheinlichste Erklärung ist. Allerdings gibt es bis heute keine Studien, die öffentlich und privat finanzierte Großprojekte in dieser Hinsicht vergleichen. Frank Scholles unternimmt es dann, den für die erfolgreiche Planung und Abwicklung von Großprojekten so wichtigen Begriff des „Risikos“ aus naturwissenschaftlicher, versicherungstechnischer, gesellschaftswissenschaftlicher, juristischer und ökologischer Sicht analytisch genauer zu fassen und hernach einen Vorschlag zur Weiterentwicklung der ökologischen Risikoanalyse zu machen. Scholles zeigt sich somit als Stellvertreter eines eher technokratischen Ansatzes, bei dem es im Gegensatz zu den vorherigen und nachfolgenden Beiträgen weniger darum geht, politischstrategische Einflussgrößen bei der Durchsetzung, Genehmigung und Durchführung von planerischen Großprojekten auszumachen und zu problematisieren, als vielmehr darum, das konkrete methodische Instrumentarium zu verbessern, welches darauf ausgerichtet ist, Risiken und Unsicherheiten für Planung jeglicher Art – egal ob groß oder klein – so weit wie möglich zu reduzieren. Jochen Hanisch erinnert in seinem Beitrag daran, dass die normative Komponente von Planung zwar häufig hinter einer vermeintlichen Wissenschaftlichkeit und dem 12 Großprojekte und Stadtentwicklung Anspruch eines Gemeinwohls verborgen liegt, nichtsdestotrotz aber vor allem bei der Umsetzung von Großprojekten eine wichtige Rolle spielt. Planungsinstrumente, die auf Steuerungsoptimierung und Kooperation setzen, verlieren bei einem Großprojekt wie z.B. der Erweiterung der Airbus-Produktionsflächen in Hamburg, mit dem hohe industriepolitische Erwartungen und Großkapitalinteressen verknüpft sind, an Bedeutung, so dass sämtliche Gegenargumente und Bedenken zugunsten einer potentiellen industriepolitischen Profilierung einer Region im internationalen Wettbewerb zurückgestellt werden. Aufgrund einer Interessenverschränkung politischer und ökonomischer Akteure kommt es zu einer Instrumentalisierung von Expertenwissen. Zur erfolgreichen Umsetzung planerischer Ziele bedarf es jedoch nicht nur einer Optimierung des Planungsprozesses, sondern vor allem auch eines demokratisch legitimierten Regulierungsanspruchs. Eine Stärkung der lokalen Akteure und der Anwohnerschaft bei der Planung und Umsetzung von Großprojekten mit überregionaler oder sogar nationaler Bedeutung belegt dagegen Charlotte Halpern in ihrem Beitrag am Beispiel des Flughafens Charles-de-Gaulle in der Ile-de-France. Während in der Nachkriegszeit eine nationale Elite aus Wirtschaft und Verwaltung im Namen des Allgemeininteresses und des technischen Fortschritts Entscheidungen traf, traten mit der fortlaufenden europäischen Integration und der damit verbundenen Stärkung der regionalen Ebene neue Akteure auf den Plan, die Einfluss auf die Entscheidungsprozesse nehmen und lokalen Bedürfnissen zu ihrem Recht verhelfen wollten. Dies spiegeln Gesetzesinitiativen und veränderte Leitbilder in Bezug auf den Luftverkehrssektor wider. Entstanden ist ein neues Kräfteverhältnis, das im Fall des Flughafens Paris – Charles de Gaulle dazu geführt hat, dass die Anfang der 1990er Jahre geplante Erweiterung deutlich bescheidener ausfiel, als ursprünglich geplant war. Der Norden von Paris und die dortigen interkommunalen Akteursverflechtungen stehen auch im Mittelpunkt des Beitrages von Floridea Di Ciommo. Der industrielle Niedergang der Region, die damit verbundene hohe Arbeitslosigkeit und die zunehmende Abwanderung insbesondere der aktiven Bevölkerung führten im Laufe der Zeit zu einer Sensibilisierung der politisch Verantwortlichen, die schließlich zu der Etablierung einer neuen – auch institutionellen – Form der interkommunalen Zusammenarbeit führte. So entstand der Verband „Plaine Commune“, der sozioökonomische und räumlich-planerische Ziele miteinander verbinden will und das bestehende sozioökonomische Ungleichgewicht innerhalb des Gebietes auszugleichen versucht. Privatwirtschaftliche Akteure werden dabei einbezogen, und zwar nicht nur bei der Realisierung von Großprojekten, sondern auch z.B. bei der Entwicklung von Ausbildungsprogrammen für die regionalen Arbeitskräfte, deren Qualifikationsprofil nicht auf die Anforderungen moderner Unternehmen passt. Wulf Tessin zeigt in seinem Beitrag die enge Verflechtung zwischen dem Unternehmen VW und der Stadt Wolfsburg, die sich seit dem Jahr 1999 als Wolfsburg AG auch im Bereich der Stadtentwicklung zeigt. Das Unternehmen bekennt sich zu der Stadt als Standort, so dass VW sich – im Gegensatz zu Unternehmen in anderen Städten, wo sich unternehmerische Eliten aus der Kommunalpolitik zurückziehen Mega-Projekte und Stadtentwicklung 13 – für die Stadt aktiv engagiert. Wichtigstes Mittel der Stadtentwicklung durch die Wolfsburg AG sind Großprojekte (Neue Autostadt, Innovationscampus etc.), die Wolfsburg sowohl touristisch als auch in Bezug auf sein Image enorm aufgewertet haben. Gleichzeitig, so problematisiert Tessin, ist die Abhängigkeit der Stadt vom Unternehmen erheblich gestiegen; bei einem Scheitern der Joint Ventures oder einem Paradigmenwechsel bei VW hätte die Stadt kaum Alternativen. Die mittel- bis langfristigen Folgen sind – auch für die Entscheidungsstrukturen innerhalb der Stadt – heute noch nicht absehbar. In dem Beitrag von Frank Roost geht es um den Einfluss von Großprojekten auf Metropolen, die von Unternehmen zunehmend als Bühne für ihre Werbezwecke genutzt werden. Während die Produkte austauschbarer werden und der Anteil der Produktionskosten an den Produktkosten sinkt, gewinnen Marketing-Strategien weiter an Bedeutung, um Produkte über ihr Image zu profilieren. Bei den corporate image centers, häufig in touristisch attraktiven Lagen, geht es weniger um direkte Gewinne als vielmehr um die Sicherung von Kundenloyalität. Das Beispiel Tokyo zeigt, wie corporate image centers in der ökonomischen Krise erfolgreich die Motorenrolle übernehmen, nachdem sie die ursprüngliche Stadtstruktur erheblich verändert haben. Aufgrund ökonomischer und politischer Interessenverflechtungen droht die Gefahr, dass städtische Akteure diese Projekte für den Imagegewinn des Standorts instrumentalisieren und zu voreilig unterstützen, ohne dass eine planerische Abwägung erfolgt wäre. Robert Beauregard berichtet in seinem Beitrag über die erste Phase der Wiederbebauung des World-Trade-Center-Areals in New York City, welche im Februar 2003 mit der Auswahl des Entwurfes von Daniel Libeskind ihren offiziellen Abschluss fand. Die Planungsverantwortlichen dieses mit nationaler Symbolik überfrachteten Großprojektes waren somit zumindest im zweiten Anlauf in der Lage, mittels eines öffentlichkeitswirksamen städtebaulichen Wettbewerbs, an dem sämtliche namhafte Architekturbüros der Welt beteiligt waren, ein für alle Betroffenen akzeptables Design für den Wiederaufbau zu prämieren. Dennoch wertet Beauregard den gesamten Vorgang – vor allem den ersten, gescheiterten Wettbewerb vom Sommer 2002 und die ihn umgebenden, von Effizienz- und Wirtschaftlichkeitsüberlegungen dominierten Entscheidungsvorgänge – als symptomatisch für die strukturelle Unfähigkeit US-amerikanischer Planer und Gemeinden, erfolgreich ein Ideal-Konzept eines „öffentlichen Interesses“ zu verteidigen, das u.a. eine „vernünftige Gemeinsamkeit“ zwischen den widerstreitenden Interessen erreicht und die Vielfältigkeit der Stadt angemessen beachtet. Bei dem Versuch, eine Bilanz der EXPO 1998 in Lissabon zu ziehen, kommt Renzo Lecardane zu dem Schluss, dass es insgesamt nicht gelungen ist, mit diesem strategischen Gesamtprojekt erfolgreich eine Stadtumstrukturierung einzuleiten. Ziel war vor allem die Stärkung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der Stadt zu einem Zeitpunkt, an dem Studien ihre geringe Relevanz im internationalen Kontext belegten. Durch die Umsetzung eines umfassenden Maßnahmenbündels, das durch eine privatrechtliche Entwicklungsgesellschaft mit Hilfe einer speziellen Finanzierungsstrategie umgesetzt wurde, entstand ein Wachstumspol für die Stadt – allerdings ins- 14 Großprojekte und Stadtentwicklung gesamt mit einer zu geringen Berücksichtigung der sozialen Seite des Vorhabens. Für die aktuelle Stadtentwicklungspolitik bilden die Erfahrungen mit dem Großprojekt die Grundlage für die Umsetzung neuer Ideen, indem die neuen Strukturen teilweise und allmählich in ein Gesamtkonzept integriert werden. Uwe Altrock beleuchtet die jahrelange Diskussion um den Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses, die als weitgehend öffentliche Angelegenheit eher unter dem Eindruck unterschiedlicher symbolischer Zuschreibungen als in Folge eines ökonomischen Entwicklungsdrucks geführt wurde. Der Bund als Haupteigentümer der betroffenen Flächen entschied frühzeitig, diese als „neue Mitte“ von Berlin in die auf Repräsentativität und Identitätsstiftung bedachte Hauptstadtplanung einzubeziehen. So wurde eine symbolische Aufladung der Flächen erreicht, für die bis heute keine adäquate Nachnutzung gefunden wurde und nun die Zwischennutzung als Park vorgesehen ist. Vor diesem Hintergrund ist zu diskutieren, wie eine Einigung über die Bebauung und Gestaltung von Flächen, die nicht primär ökonomisch genutzt werden, sondern eine öffentliche und symbolische Funktion erfüllen sollen, überhaupt erzielt und das Ergebnis demokratisch legitimiert auch umgesetzt werden kann. Der Rundschau-Teil des Heftes befasst sich diesmal ausführlich mit einem Beitrag von Margit Mayer, in dem der Höhenflug des Sozialkapital-Konzeptes in seinen gesellschaftlichen Kontext eingeordnet wird. Während die Bildung von Sozialkapital insbesondere innerhalb der aktuellen Diskussion zur Stadtteilerneuerung ein in der Regel unkritisch verfolgtes Ziel darstellt, zeigt Mayer, wieso das dazugehörige theoretische Konzept, das vor allem mit dem Namen Robert D. Putnam verbunden ist, heute eigentlich so viel Anklang findet und welche Risiken damit verbunden sind, wenn der sozioökonomische Kontext und die politischen und institutionellen Rahmenbedingungen bei seiner Umsetzung ausgeblendet werden. Darüber hinaus werden in der Rundschau vier aktuelle Veröffentlichungen zu den Themen Stadt(teil)planung und Planungstheorie rezensiert. In der kommenden Ausgabe der Planungsrundschau steht das Thema „Innovation in der Planung“ im Mittelpunkt. Wie führen technologische, institutionelle und gesellschaftliche Transformationen zu einer Neuorientierung der Planung? Es geht darum aufzuzeigen, wie Lernprozesse angestoßen werden und welche konkreten Veränderungen sich daraus für die Planung ergeben. Die Redaktion der Planungsrundschau freut sich über Anregungen und weitere Beiträge. Mega-Projekte und Stadtentwicklung 15 Bent Flyvbjerg / Mette Skamris Holm / Søren Buhl KOSTENUNTERSCHÄTZUNG BEI ÖFFENLTICHEN BAUPROJEKTEN: FEHLER ODER LÜGE ? 1. Einleitung Es gibt nur wenige vergleichende Studien über reale und geschätzte Kosten der Entwicklung von Verkehrsinfrastruktur. Wo solche Studien vorliegen, beziehen sie sich auf Einzelfälle, oder die Stichprobe ist zu klein, um systematische statistische Analysen zuzulassen (Bruzelius et al. 1998, Fouracre et al. 1990, Hall 1980, Nijkamp/ Ubbels 1999, Pickrell 1990, Skamris/Flyvbjerg 1997, Szyliowicz/Goetz 1995, Walmsley/Pickett 1992). Nach unserem Kenntnisstand ist bislang nur eine Studie veröffentlicht, die auf der Basis von 66 Transportprojekten einen breit angelegten Zugang wählt und erste Schritte auf dem Weg zu einer stichhaltigen statistischen Analyse unternimmt (Merewitz 1973a, 1973b). Trotz ihrer Verdienste liefern diese Studien keine stichhaltigen quantitativen Aussagen zu der Frage, ob man den Kostenkalkulationen trauen kann, auf deren Grundlage Entscheidungsträger und Investoren über den Bau von Verkehrsinfrastruktur entscheiden. Aufgrund der kleinen und ungleichen Stichproben weisen die Studien sogar in unterschiedliche Richtungen, und Forscher sind sich über die Glaubwürdigkeit von Kostenkalkulationen uneins. So zeigt beispielsweise Pickrell (1990), dass Kostenkalkulationen höchst ungenau und meist zu gering angesetzt sind, während Nijkamp und Ubbels (1999) behaupten, Kalkulationen seien meist korrekt. Wir werden im Verlauf dieser Studie zeigen, wer von beiden im Recht ist. Das Ziel unserer Studie ist es, folgende Fragen auf einer statistischen Grundlage zu beantworten: Wie üblich und wie hoch sind die Unterschiede zwischen tatsächlichen und geschätzten Kosten in Verkehrsinfrastrukturprojekten? Sind die Unterschiede signifikant? Sind sie lediglich als zufällige Fehler anzusehen? Oder zeigt sich hier ein 16 Kostenunterschätzung bei öffentlichen Bauprojekten statistisches Muster, das andere Erklärungen nahe legt? Welche Bedeutung haben unsere Ergebnisse für die Entscheidungsfindung über Verkehrsinfrastrukturprojekte? 2. Irreführende Kostenkalkulationen: eine Annäherung in vier Schritten Betrachtet man die verschiedenen Zugänge zur Analyse der Unterschätzung von und Täuschung bei den Kosten von Verkehrsinfrastruktur, lassen sich in der Forschung vier Schritte identifizieren. Den ersten Schritt machten Pickrell (1990) und Fouracre, Allport und Thomson (1990), die für eine kleine Zahl an städtischen Schienenverkehrsprojekten nachweisen, dass Kostenunterschätzung tatsächlich ein Problem darstellt. Sie legen nahe, dass solche Unterschätzungen auf Täuschungen der Projektverantwortlichen („project promoters“) und Gutachter („forecasters“) zurückzuführen sind. Den zweiten Schritt unternahm Wachs (1990). Er argumentierte – wiederum für eine kleine Zahl städtischer Schienenverkehrsprojekte –, dass Lügen, im Sinne von absichtlicher Täuschung, tatsächlich eine bedeutende Ursache für die Unterschätzung von Baukosten darstellt. Wachs begann mit der schwierigen Aufgabe, nachzuzeichnen, wer lügt und warum, und was die ethischen Implikationen dabei sind. Das Problem mit der Forschung in diesen ersten beiden Schritten liegt darin, dass sie auf zu geringen Fallzahlen basiert, um statistisch signifikant zu sein. Die vorgefundenen Muster könnten auf in den Stichproben liegenden Zufälligkeiten zurückzuführen sein. Dieses Problem wird im dritten Schritt gelöst, den wir mit der Arbeit gehen, die hier präsentiert wird. Auf Grundlage einer großen Stichprobe von Verkehrsinfrastrukturprojekten zeigen wir, dass (1) das von Pickrell und anderen vorgefundene Muster von genereller Bedeutung und auch statistisch signifikant ist, und dass (2) das Muster auf unterschiedliche Projekttypen, geographische Regionen und auch unterschiedliche historische Perioden zutrifft. Die vorhandenen statistischen Daten stützen die Thesen von Wachs über Lügen und Kostenunterschätzungen. Der vierte und letzte Schritt für das Verständnis von Kostenunterschätzungen und Täuschungen bestünde darin, für eine große Zahl an unterschiedlichen Verkehrsprojekten das zu tun, was Wachs für seine kleine Auswahl an städtischen Schienenverkehrsprojekten getan hat: nachzuzeichnen, ob tatsächlich eine systematische Täuschung vorliegt, wer sie vornimmt und warum. Das könnte geschehen, indem eine große Anzahl an Gutachtern und Projektentwicklern, die eine große Zahl an Projekten repräsentieren, in Interviews oder Umfragen direkt ihre Absichten und die Gründe für die Fehleinschätzungen angeben. Dies ist ein Kernthema für zukünftige Forschungsvorhaben. Wir behaupten entsprechend in diesem Artikel nicht, den endgültigen Beweis dafür zu haben, dass absichtliche Täuschungen der Hauptgrund für Kostenunterschätzungen in Verkehrsprojekten ist. Wir behaupten, einen wichtigen Schritt in einem kumulativen Forschungsprozess beizutragen, in welchem dies geprüft werden kann, indem wir die beste und bislang umfangreichste Datenbasis über Kostenunterschätzungen in Verkehrsprojekten bereitstellen, die erste statistisch signifikante Studie Mega-Projekte und Stadtentwicklung 17 über die hiermit zusammenhängenden Faktoren anstellen und drittens zeigen, dass unsere Daten die Thesen über systematische Täuschung belegen, die in kleiner angelegten Untersuchungen aufgestellt wurden. Um unsere Wissen über Kostenunterschätzungen weiterzuentwickeln, wäre es auch interessant, die Unterschiede zwischen Projekten zu betrachten, die auf Wettbewerbsbasis, auf einem Bürgerentscheid oder auf direkter Vergabe beruhen. Man könnte annehmen, dass ein offensichtlicher Anreiz, ein Projekt durch Unterschätzung der Kosten besser darzustellen, im Vorfeld einer Wahl besteht, wie eine Studie von Kain (1990) über ein Bahnprojekt in Dallas zeigt. Stimmen werden oft eher für große Schienen-, Brücken und Tunnel-Projekte als für Straßenprojekte gesammelt. So werden in den USA beispielsweise die meisten Autobahnprojekte direkt vergeben (ohne Wettbewerb oder Ausschreibung). Ein Verkehrsministerium hat typischerweise ein festes jährliches Budget für Baukosten. Das Ministerium wird entsprechend ein Interesse an relativ präzisen Kalkulationen haben, bevor es sein Budget festlegt. Man könnte annehmen, dass in dieser Situation Kostenunterschätzungen eher unwahrscheinlich sind. Zwar gibt es Ausnahmen, aber dies könnte doch erklären, warum die Fehlkalkulationen für Straßenprojekte in der Regel geringer ausfallen als für Schienen, Brücken und Tunnel, sowohl in den USA als auch in Europa. Schließlich möchten wir unterstreichen, dass unsere Projektauswahl trotz ihres Umfangs noch immer zu klein ist, um für mehr als einige wenige Unterteilungen vergleichende Aussagen zuzulassen. 3. Die Messung von Ungenauigkeiten bei Kostenkalkulationen In unserer Studie beziehen sich alle Kosten auf Baukosten. Wie es international üblich ist, bezeichnen wir die Ungenauigkeit von Kostenkalkulationen als „Eskalation der Kosten“ („cost escalation“; oft auch als „Überschreitung der Kosten“ / „cost overrun“ bezeichnet, gemeint sind tatsächliche Kosten minus geschätzte Kosten im Verhältnis zu den geschätzten Kosten). Tatsächliche Kosten sind reale, abgerechnete Baukosten nach Beendigung des Projekts. Geschätzte Kosten sind definiert als budgetierte oder prognostizierte Kosten zum Zeitpunkt der Entscheidung für das Projekt (zu bauen). Obwohl sich der Projektplanungsprozess nach Projekttyp, Land und Zeit unterscheidet, ist es in der Regel möglich, für ein Projekt einen solchen Zeitpunkt zu bestimmen. Normalerweise lag zu diesem Zeitpunkt dem Entscheidungsträger eine Kostenschätzung vor. Wo dies nicht der Fall war, wurde die nächstliegende Berechnung verwendet. Alle Kosten sind in Euro gerechnet auf Grundlage jeweils angemessener historischer, branchenmäßiger und geographischer Diskontsätze und Wechselkurse. Projektverantwortliche und ihre Analysten lehnen diese Art der Einschätzung von Ungenauigkeiten in der Kalkulation oftmals ab (Flyvbjerg et al 2003, im Druck). Verschiedene Kostenschätzungen werden zu verschiedenen Zeitpunkten im Prozess erstellt: Projektplanung, Baugenehmigung, Angebotsabgabe, Vertragsunterzeichnung, Nachverhandlungen. Typischerweise werden die Schätzungen mit 18 Kostenunterschätzung bei öffentlichen Bauprojekten jedem Schritt präziser, und die Schätzung zum Zeitpunkt der Baugenehmigung ist noch lange nicht endgültig. Entsprechend sei es erwartbar, dass diese frühen Schätzungen höchst ungenau sind. Es sei also unfair, diese als Grundlage für Aussagen über Fehlkalkulationen zu verwenden (Simon 1991). Dennoch verteidigen wir diese Art der Bewertung, denn wenn es um Entscheidungen und um die Genauigkeit der Entscheidungsgrundlagen geht, dann geht es um die Kostenkalkulationen zum Zeitpunkt der Baugenehmigung. Spätere Kalkulationen sind hierfür irrelevant. Wir gehen sogar so weit zu behaupten, dass die Abweichungen geringer wären, wenn es sich bei der Ursache für die Fehlkalkulationen lediglich um mangelhafte Information handeln würde. Die Abweichungen weisen jedoch tatsächlich eine interessante Schieflage auf, wie wir zeigen werden. Ein anderer Einwand ist, dass man mit unseren Bezugspunkten quasi Äpfel und Birnen vergleicht. Projekte wandeln sich im Verlauf des Planungs- und Implementationsprozesses. So wurde beispielsweise das Projekt der Los Angeles Blue Line Light Rail mit hohem Kostenaufwand substantiell geändert – anliegende Straßen und Gehwege wurden aufgewertet, Zäune gestrichen etc. Ein Problem dieser Argumentation besteht darin, dass Forschungsergebnisse zeigen, dass Projektträger regelmäßig bedeutende Kostenpunkte und Risiken ignorieren, verstecken oder auslassen, um die Gesamtkosten geringer erscheinen zu lassen (Flyvbjerg et al 2003, im Druck; Wachs 1989, 1990). Beispielsweise werden oftmals Umwelt- und Sicherheitsfragen zu Anfang ignoriert und erst zu einem späteren Zeitpunkt einbezogen, und das Projekt ist eventuell „überlebensfähiger“, wenn diese Punkte anfangs nicht berücksichtigt werden. Ähnlich verhält es sich mit ökologischen Risiken. Dieses Vorgehen, das „scheibchenweise“ Einführen von Projektkomponenten und Risiken, wird üblicherweise als „Salami-Taktik“ beschrieben. Wenn solche Taktiken einen wesentlichen Mechanismus in der Kostenunterschätzung darstellen, dann ist der Vergleich von tatsächlichen Projektkosten mit den Schätzungen zum Zeitpunkt der Entscheidung nicht der Vergleich von Äpfeln und Birnen, sondern es wird vielmehr nachgezeichnet, wie aus einem kleinen günstigen Apfel ein großer teurer Apfel wird. Letztlich entspricht unsere Methode den internationalen Standards in der Betrachtung von Fehlkalkulationen (Fouracre et al. 1990, Leavitt et al. 1993, National Audit Office & Department of Transport 1992, Nijkamp/Ubbels 1999, Pickrell 1990, Walmsley/Pickett 1992, World Bank 1994). Dieser Standard erlaubt aussagekräftige und konsistente Vergleiche innerhalb und zwischen Projekten, Projekttypen und geographischen Gebieten. Dieser Standard wird im Folgenden benützt, um die Ungenauigkeit der Kostenschätzungen von 258 Verkehrsinfrastruktur-Projekten mit einem Finanzvolumen von 90 Milliarden US-$ zu messen. 4. Ungenauigkeiten in Kostenschätzungen Schaubild 1 zeigt ein Histogramm mit der Verteilung der Ungenauigkeiten in Kostenkalkulationen. Wenn Überschätzungen und Unterschätzungen der Kosten in ähnlichem Ausmaß vorkämen, wäre das Histogramm symmetrisch um Null verteilt. Mega-Projekte und Stadtentwicklung 19 Dies ist nicht der Fall, und überdies sind die Unterschätzungen hoch. Bezüglich der Verteilung von Ungenauigkeiten von Schätzungen von Baukosten lässt sich zeigen: • In neun von zehn Projekten werden die Kosten unterschätzt. Für ein zufällig ausgewähltes Projekt liegen die tatsächlichen Kosten mit einer Wahrscheinlichkeit von 86 % über den anfänglich geschätzten. Mit 14-%-iger Wahrscheinlichkeit liegen die Kosten nicht über den Vorausberechnungen. • Im Durchschnitt liegen die tatsächlichen Kosten 28 % über den geschätzten Kosten (sd=39). • Wir weisen die These, dass Überschätzungen und Unterschätzungen gleich verteilt sind, mit überwältigender Signifikanz zurück (p<0,001; zweiseitiger Test mit binomischer Verteilung). Geschätzte Kosten sind verzerrt („biased“). Die Verzerrung beruht auf einer systematischen Unterschätzung. • Wir können mit überwältigender Signifikanz die These widerlegen, dass die numerische Größe der Unterschätzungen der der Überschätzungen entspricht (p<0,001, nicht-parametrischer Mann-Whitney-Test). Die Kosten werden nicht nur häufiger unterschätzt als überschätzt, sondern die Unterschätzungen liegen auch substantiell über den Überschätzungen. Wir fassen zusammen, dass Kostenunterschätzungen häufiger auftreten und in der Abweichung höher liegen als Überschätzungen. Die Unterschätzung der Kosten von Verkehrsprojekten zum Zeitpunkt der Entscheidung für das Projekt ist eher die Regel als die Ausnahme. Häufige und substantiell hohe Kosteneskalation ist die Folge. Abb.1: Ungenauigkeiten in der Kostenschätzung bei 258 Verkehrsinfrastrukturprojekten 20 Kostenunterschätzung bei öffentlichen Bauprojekten Häufigkeit (%) Kosteneskalation bei Bahnprojekten, % (N=58) Häufigkeit (%) Kosteneskalation beiBrücken und Tunneln, % (N=33) Häufigkeit (%) Kosteneskalation bei Straßen, % (N=167) Abbildung 2: Ungenauigkeit der Kostenschätzungen bei Bahnprojekten, Tunnels und Brücken, und bei Straßenbauprojekten (feste Preise) Mega-Projekte und Stadtentwicklung 21 5. Kostenunterschätzung nach Projekttypen In diesem Abschnitt werden wir prüfen, ob sich unterschiedliche Projekttypen in Bezug auf Kostenunterschätzungen unterschiedlich verhalten. Abbildung 2 zeigt Histogramme mit Ungenauigkeiten in der Kalkulation für folgende Projekttypen: (1) Bahnprojekte (Hochgeschwindigkeit, Innenstadt; Intercity-Verbindungen), (2) feste Verbindungen (Brücken und Tunnels), und (3) Straßen (Autobahnen und Landstraßen). Tabelle 1 zeigt die durchschnittlich erwartete Ungenauigkeit und Standardabweichung für jeden Projekttyp. Projekttyp Anzahl Fälle (N) Kosteneskalation (%) Standardabweichung Signifikanzniveau (p) Bahn 58 44,7 38,4 <0,001 Feste Verbindung 33 33,8 62,4 0,004 Straße 167 20,4 29,9 <0,001 Zusammen 258 27,6 38,7 <0,001 Tabelle 1: Ungenauigkeit von Projektkosten nach Projekttyp (feste Preise) Statistische Auswertungen der Daten in Tabelle 1 zeigen, dass Mittelwert und Standardabweichung jeweils unterschiedlich sind. Bei den Bahnprojekten ist die höchste Differenz zwischen tatsächlichen und geschätzten Kosten zu beobachten. Sie liegt bei 44,7 %, darauf folgen feste Verbindungen (33,8 %) und Straßen (20,4 %). Der Projekt-Typ spielt statistisch eine Rolle. Auf Basis der vorliegenden Daten können wir zusammenfassen, dass vor allem die Vertreter von Bahnprojekten Kostenunterschätzungen ausgesetzt sind, gefolgt von Brücken- und Tunnel-Projekten. Straßenprojekte scheinen nicht ganz so anfällig zu sein, obwohl auch hier die tatsächlichen Kosten in den meisten Fällen die Schätzungen übersteigen. Weitere Unterteilungen der Projektauswahl zeigen, dass Hochgeschwindigkeitszug-Projekte die Liste anführen, gefolgt von städtischen und gewöhnlichen Schienenprojekten. Ebenso scheint die Kostenunterschätzung bei Tunnels höher zu sein als bei Brücken. Diese Ergebnisse zeigen, dass die Komplexität von Technologie und Geologie einen Einfluss auf die Kostenunterschätzung haben kann. Allerdings sind diese Ergebnisse nicht statistisch signifikant. Obwohl unsere Datenbank die größte ihrer Art ist, ist sie zu klein, um weitere Unterteilungen zu erlauben und noch signi- Kostenunterschätzung bei öffentlichen Bauprojekten 22 fikante Ergebnisse zu produzieren. Dieses Problem kann nur durch die Erhebung weiterer Projektdaten gelöst werden. In allen drei Fällen scheint es jedoch für Entscheidungsträger und Investoren ebenso wie für Banken und Medien ratsam, Kalkulationen mit Vorsicht zu behandeln. 6. Kostenunterschätzung nach geographischer Lage Ein zweiter Test, den wir vorgenommen haben, bezieht sich auf einen möglichen Zusammenhang zwischen Kostenunterschätzungen und geographischer Lage der Projekte in Europa, Nordamerika und „anderen geographischen Gebieten“ (eine Gruppe von zehn Entwicklungsländern plus Japan). Tabelle 2 zeigt den Unterschied zwischen tatsächlichen und geschätzten Kosten in diesen drei Gebieten für Bahnprojekte, feste Verbindungen und Straßenprojekte. Es gibt kein Anzeichen für einen statistischen Zusammenhang zwischen geographischer Lage und Projekt-Typ. Daher betrachten wir die Auswirkungen dieser Variablen auf eine Kostenunterschätzung getrennt. Für alle Projekte stellen wir signifikante Unterschiede in Zusammenhang mit der geographischen Lage fest (p>0,001): die geographische Lage spielt eine Rolle bei der Kostenunterschätzung. Projekt Europa Nordamerika Andere Anzahl Fälle (N) Durchschnittliche Kosteneskalation (%) Standardabweichung Anzahl Fälle (N) Durchschnittliche Kosteneskalation (%) Standardabweichung Anzahl Fälle (N) Durchschnittliche Kosteneskalation (%) Standardabweichung Bahn 23 34,2 25,1 19 40,8 36,8 16 64,6 49,5 Feste Verbindung 15 43,4 52,0 18 25,7 70,5 0 - - Straße 143 22,4 24,9 24 8,4 49,4 0 - - Summe 181 25,7 28,7 61 23,6 54,2 16 64,6 49,5 Tabelle 2: Ungenauigkeit der Kostenschätzungen nach geographischer Lage (feste Preise) Mega-Projekte und Stadtentwicklung 23 Betrachtet man Europa und Nordamerika getrennt, was für feste Verbindungen und Straßen zwingend ist, da hier keine Beobachtungen in anderen Gebieten vorliegen, können Vergleiche mit t-Tests vorgenommen werden (Welch-Version). Für feste Verbindungen liegt die durchschnittliche Differenz von Schätzung und realen Kosten in Europa bei 43,4 % und in Nordamerika bei 5,7 %, dennoch ist der Unterschied zwischen den beiden Gebieten nicht signifikant (p=0,414). Bei der geringen Anzahl an Beobachtungen und den hohen Standardabweichungen für Brücken und Tunnels müssten wir die Stichprobe erhöhen um zu testen, ob die Unterschiede wirklich signifikant sind. Bei Bahnprojekten liegt die durchschnittliche Differenz in Europa bei 34,2 % und in Nordamerika bei 40,8 %. Bei Straßen sind es 22,4 % im Vergleich zu 8,4 %. Aber auch hier sind die Unterschiede zwischen den Regionen nicht signifikant (p<0,51 und p<0,184). Wir können zusammenfassen, dass sich die hoch signifikanten Unterschiede, die wir oben festgestellt haben, auf den Vergleich von Europa und Nordamerika mit den „anderen geographischen Gebieten“ beziehen. Dort liegt die Differenz zwischen realen Kosten und Schätzungen bei 64,6 %. 7. Haben sich die Prognosen mit der Zeit verbessert? In den vorangegangenen Abschnitt zeigten wir, wie sich Kostenunterschätzungen je nach Projekttyp und geographischer Lage unterscheiden. In diesem Abschnitt schließen wir die statistische Analyse ab, indem wir betrachten, wie sich Kostenunterschätzungen über die Zeit hinweg unterscheiden. Wir stellen und beantworten die Frage, ob Projektträger und Prognosen mit der Zeit tendenziell mehr oder weniger zu Unterschätzungen der Kosten für Verkehrsinfrastrukturprojekte neigten. Wären die Unterschätzungen unbeabsichtigt und auf mangelnde Erfahrung oder unausgereifte Instrumente zurückzuführen, müssten sie mit der Zeit aufgrund besserer Methoden und Erfahrung zurückgehen. Abbildung 3 zeigt die Differenz zwischen Schätzung und realen Kosten für 111 Projekte im Verhältnis zum Jahr der jeweiligen Entscheidung für den Bau. Das Diagramm scheint keine Auswirkung des Zeitpunkts auf die Fehlkalkulationen anzuzeigen. Die statistische Analyse bekräftigt diesen Eindruck. Die Nullhypothese, dass das Jahr der Entscheidung keinen Einfluss auf den Unterschied zwischen tatsächlichen und geschätzten Kosten hat, kann nicht zurückgewiesen werden (p=0,22, F-Test). Ein Test, in dem das Jahr der Fertigstellung anstelle des Datums der Entscheidung benützt wurde (hier wurden 246 Projekte betrachtet), zeigt ein ähnliches Ergebnis (p=0,28, F-Test). Wir fassen also zusammen, dass die Kostenunterschätzungen mit der Zeit nicht abgenommen haben. Kostenunterschätzung ist heute genauso verbreitet wie vor zehn, 30 und 70 Jahren. Falls sich Techniken und Fertigkeiten in der Schätzung und Vorhersage von Kosten für Verkehrsinfrastruktur-Projekte mit der Zeit verbessert haben, zeigt sich dies nicht in den vorliegenden Daten. In diesem wichtigen und teuren Bereich öffentlicher und privater Entscheidungsfindung scheint folglich kein 24 Kostenunterschätzung bei öffentlichen Bauprojekten Abb.3: Ungenauigkeiten der Kostenschätzungen im Verlauf der Zeit, 1910 – 1998 Lernprozess stattgefunden zu haben. Dies erscheint merkwürdig und legt Vermutungen nahe, dass die beharrliche Existenz von Unterschätzungen quer durch Zeit, Art und Ort der Projekte auf ein Gleichgewicht hinweist: Hohe Anreize und geringe Hemmschwellen von Unterschätzungen haben den Projektmanagern gezeigt, was gelernt werden kann, nämlich dass sich die Unterschätzung von Kosten auszahlt. Wenn dies der Fall ist, muss davon ausgegangen werden, dass Unterschätzungen auftreten und diese intentional sind. Wir testen diese Spekulation weiter unten. Doch zunächst sollen die Kostenkalkulationen von Verkehrsprojekten mit anderen Projekten verglichen werden. 8. Die Unterschätzung von Kosten in anderen Infrastrukturprojekten Neben Daten über Verkehrsinfrastrukturprojekte haben wir Daten über die Kosten von mehreren Hundert weiteren Projekten analysiert, so beispielsweise von Energieanlagen, Staudämmen, Bewässerungsanlagen, Öl- und Gasleitungen, Informationstechnologiesystemen, Luftfahrt- und Waffensystemen (Arditi et al. 1985, Blake et al. 1976, Canaday 1980, Department of Energy Study Group 1975, Dlakwa/Culpin 1990, Fraser 1990, Hall 1980, Healey 1964, Henderson 1977, Hufschmidt/Gerin 1970, Merewitz 1973b, Merrow 1988, Morris/Hough 1987 World Bank 1994, o. J.). Die Daten zeigen, dass andere Projekttypen mindestens denselben Kostenunterschätzungen unterliegen wie Verkehrsinfrastrukturprojekte. Unter den spektakuläreren Fällen finden sich das Opernhaus in Sydney, dessen tatsächliche Kosten den Mega-Projekte und Stadtentwicklung 25 geschätzten Wert um ein 15-faches übertrafen, und der Bau der Concorde, deren Realisierung 12-mal über den anfänglichen Schätzungen lag (Hall o. J., S. 3). Die Daten zeigen ebenso, dass die Unterschätzungen bei anderen Projekten auch nicht im Laufe der Zeit zu- oder abgenommen haben, zudem ist kein Unterschied zwischen Industrienationen und Entwicklungsländern festzustellen. Als der Suez-Kanal 1869 fertig gestellt wurde, lagen die tatsächlichen Baukosten zwanzig mal höher als die ersten Schätzungen und dreimal höher als die Schätzungen für das Jahr bevor die Arbeiten begannen. Beim Bau des Panamakanals, fertig gestellt 1914, gab es Kosteneskalationen im Bereich von 70–200 % (Summers 1967:148). Das Phänomen der Unterschätzung und der Eskalation der Kosten ist also nicht nur für Verkehrsinfrastrukturprojekte typisch, sondern auch für andere Infrastrukturprojekte. 9. Erklärungen für die Unterschätzungen: Fehler oder Lüge? Die Unterschätzung von Kosten lässt sich auf vier Arten erklären: technisch, ökonomisch, psychologisch und politisch. In diesem Abschnitt betrachten wir, welche Erklärungen unsere Daten am besten stützen. 9.1 Technische Erklärungen Wenn tatsächliche und geschätzte Kosten von Infrastrukturprojekten miteinander verglichen werden, werden sogenannte „Vorhersage-Fehler“ meist technisch erklärt, d.h. über ungenügende Technik, unpassende Daten, handwerkliche Fehler, grundsätzliche Schwierigkeiten in der Vorhersage der Zukunft, Mangel an Erfahrung etc. (Ascher 1978, Flyvbjerg et al. im Druck, Morris/Hough 1987, Wachs 1990). Kaum jemand würde bestreiten, dass derartige Faktoren wichtige Quellen für Unsicherheiten sind und zu irreführenden Prognosen führen können. In klei angelegten Studien wird oft auf diese Erklärung zurückgegriffen, weil statistische Überprüfungen aufgrund der geringen Zahl an Projekten nicht möglich sind. Dennoch widerlegen die Daten und die Tests unserer Studie derartige technische Begründungen. Zum einen würden wir eine viel weniger einseitige Verteilung der Fehler erwarten, wenn die Ursache wirklich in technischen Mängeln und unbeabsichtigten Anwendungsfehlern zu sehen wäre. Wir haben jedoch festgestellt, dass die Verteilung der Fehler einen nicht nullwertigen Mittelwert hat. Zweitens würden wir bei technischen Ursachen mit der Zeit eine Verbesserung der Prognosen erwarten. Obwohl über Jahrzehnte hinweg erhebliche Mittel eingesetzt wurden, um Daten und Methoden zu verbessern, zeigt unsere Erhebung, dass sich die Präzision der Vorhersagen nicht verbessert hat. Technische Faktoren können also die Daten nicht erklären. Es geht somit nicht um die Erklärung von Vorhersagefehlern an sich, sondern darum, dass in neun von zehn Fällen die Kosten unterschätzt werden. Wir können mit den Vertretern der technischen Erklärung dahingehend übereinstimmen, dass es für ein einzelnes Projekt unmöglich ist, genau vorherzusagen, welche geologischen, umweltbezogenen oder sicherheitsbezogenen Risiken auftreten und Kosten verursachen. Aber wir behaupten, dass es Kostenunterschätzung bei öffentlichen Bauprojekten 26 möglich ist, das Risiko vorherzusagen, dass solche Probleme auftreten und auch die Kosten beeinflussen werden. Wir behaupten weiter, dass Risiken in Prognosen einbezogen werden können und sollten, dies meist aber nicht geschieht. Um gültig zu sein, müssten technische Erklärungen zeigen, warum Prognosen so beharrlich Kostenrisiken über Zeit, Raum und Projekttyp hinweg ignorieren. 9.2 Ökonomische Erklärungen Ökonomische Erklärungen betrachten Kostenunterschätzungen aus der Perspektive ökonomischer Rationalität. Dabei gibt es zwei Typen der Erklärung. Die eine bezieht sich auf ökonomisches Eigeninteresse, die andere auf das öffentliche Interesse. Mit Blick auf Eigeninteressen lässt sich beobachten, dass mit Beginn eines Projekts Arbeit für Ingenieure und Baufirmen entsteht und verschiedene Gruppen daran verdienen. Wenn diese stakeholder in den Prozess der Vorhersage einbezogen sind oder ihn beeinflussen, können sie darauf hin arbeiten, dass die Möglichkeit, dass das Projekt zustande kommt, erhöht wird. Die Kosten zu niedrig und die Erträge zu hoch anzusetzen, wäre für diese Gruppen wirtschaftlich rational, denn es würde die Wahrscheinlichkeit erhöhen, Profit zu erwirtschaften. Wirtschaftliches Eigeninteresse besteht auch auf Ebene der Städte und Nationalstaaten, wenn sie im Wettbewerb um Fördermittel stehen. Auch dies könnte die Unterschätzungen erklären (siehe z.B. Pickrell 1990, 1992). Mit Blick auf das öffentliche Interesse könnte argumentiert werden, dass Projektträger und Gutachter absichtlich die Kosten unterschätzen, um die zuständigen Beamten mit dem Anreiz der Kostensenkung und Einsparung zu locken. Höhere Schätzungen würden hier als Anreiz für verschwenderische Vertragspartner interpretiert werden, mehr Geld des Steuerzahlers zu verprassen. Empirische Studien haben derartiges Verhalten festgestellt (Wachs 1990). Dieses Argument wurde mehrfach aufgegriffen, so z.B. von Merewitz (1973b), wo es heißt: „keeping costs low is more important than estimating costs correctly“ (S. 280). Beide Typen der ökonomischen Erklärung passen zu der systematischen Unterschätzung, wie wir sie in unseren Daten finden. Beide beschreiben die Unterschätzung von Kosten als absichtsvoll und als ökonomisch rational. Wenn wir nun eine Lüge als absichtsvolle Täuschung bezeichnen (Bok 1979:14; Cliffe et al 2000:3), können wir absichtsvolle Kostenunterschätzungen als Lügen bezeichnen und gelangen zu einer sehr nahe liegenden Erklärung hierfür: Lügen zahlt sich aus, zumindest gehen wirtschaftliche Akteure davon aus. Mehr noch, wenn im Sinne der öffentlichen Sache gelogen wird (beispielsweise um Steuergelder zu sparen), dann würde die politische Theorie die Lüge als „Ehrenlüge“ bezeichnen, als eine Lüge, die sich in Altruismus begründet. Nach Bok wäre das der „most dangerous body of deceit of all“ (Bok 1979:175). Für den Fall der Kostenunterschätzung in öffentlichen Vorhaben übersehen die Vertreter dieser Perspektive jedoch einen wichtigen Aspekt: Ihr Hauptargument, dass Mega-Projekte und Stadtentwicklung 27 Steuergelder gespart werden, ist sehr brüchig. Jeder, der auch nur ein bisschen auf Kosten-Nutzen-Kalkulationen vertraut, müsste dieses Argument zurückweisen. Die Unterschätzung der Kosten führt zu einem fälschlich hoch geschätzten Ertrag. Das führt wiederum zu zwei Problemen. Erstens könnte das Projekt begonnen werden, obwohl es gar nicht tragfähig ist. Oder, zweitens, das Projekt könnte gegenüber einem anderen den Vorzug erhalten, das höhere reelle Erträge eingebracht hätte, wenn für beide Projekte die tatsächlichen Kosten bewusst gewesen wären. Beide Fälle bedeuten einen uneffizienten Einsatz von Ressourcen und damit die Verschwendung von Steuergeldern. So muss also aus Gründen der ökonomischen Rationalität heraus die These zurückgewiesen werden, dass Kostenunterschätzung Einsparungen bringt. Dieses Argument muss zudem aus ethischen und rechtlichen Erwägungen heraus zurückgewiesen werden. In den meisten Demokratien ist es nicht nur unmoralisch sondern auch illegal, Gesetzgeber, Verwaltungen, Banken und die Öffentlichkeit wissentlich falsch zu informieren. In den meisten demokratischen Verfassungen findet sich eine formale „Verpflichtung zur Wahrheit“; eine Täuschung würde diese Verpflichtung unterlaufen. Obwohl also ökonomische Erklärungen unsere Daten stützen und wichtige Bereiche beleuchten, können solche Begründungen die Unterschätzungen dennoch nicht rechtfertigen. 9.3 Psychologische Erklärungen Psychologische Erklärungen versuchen, Schieflagen in Prognosen durch mentale Voreinstellungen bei Projektträgern und Gutachtern zu erklären. So können Politiker beispielsweise einen „Monument-Komplex“ haben, Ingenieure wollen bauen und Vertreter lokaler Verkehrsbehörden neigen manchmal dazu, sich ein eigenes Regime aufzubauen. Die gebräuchlichste psychologische Erklärung verweist auf einen „Bewertungsoptimismus“ („appraisal optimism“). Nach dieser Erklärung sind Gutachter und Projektträger daran gehalten, in der Bewertungsphase, wenn Projekte geplant und entschieden werden, die Ergebnisse besonders positiv einzuschätzen (Fouracre et al. 1990:10, Mackie/Preston 1998, Walmsley/Pickett 1992:11, World Bank 1994: 86). Eine optimistische Kostenkalkulation ist sicherlich eine, die geringe Kosten ausweist, also unterschätzt. Bewertungsoptimismus bei Projektverantwortlichen und Gutachtern würde dazu führen, dass die realen Kosten höher sind als die Schätzungen. Damit könnte Bewertungsoptimismus, zumindest zu Teilen, die Schieflage in unseren Daten erklären, wo die Kosten systematisch unterschätzt sind. Solch ein Optimismus wäre nicht mit Lügen gleichzusetzen, weil die Täuschung hier ja einer Selbsttäuschung entspricht und damit nicht absichtsvoll ist. Nach dieser Erklärung wäre die Kostenunterschätzung vielmehr als Fehler anzusehen. Allerdings gibt es ein Problem mit psychologischen Erklärungen. Bewertungsoptimismus wäre eine wichtige und glaubhafte Begründung für unterschätzte Kosten, wenn die Kalkulationen von unerfahrenen Vermarktern und Gutachtern erarbeitet worden wären, also von Personen, die derartige Kalkulationen zum ersten oder zweiten Mal erstellen und über die realen Gegebenheiten von Infrastrukturprojekten Kostenunterschätzung bei öffentlichen Bauprojekten 28 nichts wissen und auch nicht auf die Erfahrung und das Wissen von erfahreneren Kollegen zurückgreifen können. Solche Situationen können vorkommen und können einzelne Fälle erklären. Aber wenn man sieht, dass die menschliche Psyche sich durch eine Fähigkeit des Lernens aus Erfahrung auszeichnet, erscheint es eher unwahrscheinlich, dass Manager und Gutachter über Jahrzehnte hinweg dieselben Fehler machen und nicht aus ihrem Handeln lernen. Es erscheint sogar noch unwahrscheinlicher, dass eine ganze Zunft an Gutachtern und Managern kollektiv nicht aus ihren Fehlern lernt. Ein Lernprozess würde zu einer Verminderung, wenn nicht sogar Aufhebung des Bewertungsoptimismus führen, und damit zu präziseren Kalkulationen. Aber unsere Daten zeigen deutlich, dass dies bislang nicht geschehen ist. Das Gutachtergewerbe muss schon ein optimistischer Haufen sein, um seinen Bewertungsoptimismus durch die 1970er Jahre hindurch aufrecht zu halten und nicht zu sehen, dass sie sich und andere durch die Unterschätzung der Kosten täuschen. Das würde zwar zu der Datenlage passen, bildet aber keine glaubhafte Erklärung. Wie verschiedentlich gezeigt wurde, ist der Anreiz, optimistische Schätzungen zu publizieren und zu rechtfertigen, sehr stark, und die Strafen für zu hohen Optimismus sind eher zu vernachlässigen (Davidson/Huot 1989:137, Flyvbjerg et al. im Druck). Dies bietet eine bessere Erklärung für die Beharrlichkeit von optimistischen Schätzungen als eine der Psyche von Managern innewohnende Voreinstellung. Und auf der Grundlage von Anreizen kalkulierter „Optimismus“ ist selbstredend kein Optimismus, sondern absichtsvolle Täuschung. Mit Verweis auf unsere Daten lehnen wir entsprechend Bewertungsoptimismus als hauptsächliche Ursache für Kostenunterschätzung ab. 9.4 Politische Erklärungen Politische Erklärungen stellen Kostenunterschätzungen in einen Zusammenhang mit Interessen und Macht (Flyvbjerg 1998). Erstaunlich wenige Arbeiten haben sich dem Muster von Fehlkalkulationen auf diese Weise genähert (Wachs 1990:145). Eine Schlüsselfrage politischer Erklärungen liegt darin, ob Vorhersagen absichtsvoll verzerrt sind, um die Interessen von Projektmanagern zu stützen und Projekte zu beginnen. Diese Frage verweist wieder auf das komplizierte Problem des Lügens. Fragen des Lügens sind notorisch schwierig zu beantworten, denn um eine Lüge nachzuweisen, müssen die Motive der Akteure bekannt sein. Wenn Manager und Gutachter absichtlich falsche Kalkulationen erstellt haben, werden sie dies aus rechtlichen, wirtschaftlichen, moralischen und weiteren Gründen dem Forscher nicht mitteilen (Flyvbjerg 1996, Wachs 1989). Als Eurotunnel, das private Unternehmen, das für den Bau des Kanaltunnels verantwortlich zeichnet, sich 1987 an die Öffentlichkeit gewandt hat, um Mittel für das Projekt einzuwerben, wurde Investoren suggeriert, dass es sich um ein relativ einfaches Vorhaben handelt. Bezüglich des Risikos der Kosteneskalation sah die Ankündigung folgendermaßen aus: „Whilst the undertaking of a tunneling project of this nature necessarily involves certain construc- Mega-Projekte und Stadtentwicklung 29 tion risks, the techniques to be used are well proven …The Directors, having consulted the Mâitre d’Oeuvre, believe that 10% would be a reasonable allowance for the possible impact of unforeseen circumstances on construction costs.” (The Economist, 07.10.1989, S. 37: “Under water, over budget”). Zweihundert Banken haben diese Angaben zu Kosten und Risiken an Investoren weitergegeben, unter denen auch eine große Zahl an Kleinanlegern war. Wie der Economist beobachtet („Under water, over budget“, 1989), wurde im Prinzip jeder getäuscht, der auf diese Weise zur Investition in das Projekt überredet wurde. Die veröffentlichte Kalkulation bezog sich auf das bestmögliche Ergebnis, und die Täuschung bestand darin, Investoren in den Glauben zu versetzen, dass das Projekt nach Plan verlaufen werde, ohne Verzögerung, ohne Änderungen in Sicherheits- und Umweltvorschriften, ohne Managementprobleme, ohne Probleme mit Verträgen oder neuen Technologien, ohne Konflikte, ungehaltene politische Versprechen etc. Obwohl ein Großprojekt nach dem anderen gezeigt hat, dass ein solch reibungsloser Ablauf höchst unwahrscheinlich ist, wurde den Investoren eine ideale Welt vorgetäuscht. Die tatsächlichen Risiken einer Kosteneskalation lagen für den Kanaltunnel um ein vielfaches über den veröffentlichten Angaben, was dadurch belegt ist, dass nach Bauabschluss die Kosten um den Faktor 2 über den Prognosen lagen. Flyvbjerg, Bruzelius und Rothegatter (im Druck) zeigen für eine hohe Anzahl an Projekten, dass die Täuschung nach dem Muster „Alles geht nach Plan“, wie sie bei dem Kanaltunnel eingesetzt wurde, üblich ist. Diese Art der Täuschung ist tatsächlich so weit verbreitet, dass ihr die Weltbank (1994, ii, 22) in einem Bericht über Infrastruktur und Entwicklung, einen Namen gab: das „EGAP-Prinzip“ (Everything Goes According to Plan“, S.G.). Kostenschätzung nach dem EGAP-Prinzip schließt einfach das Risiko der Kosteneskalation durch Verzögerungen, Unfälle, Änderungen am Projekt etc. aus. Dies ist, so die Weltbank, ein großes Problem in der Entwicklung und Bewertung von Projekten. Es kann also gezeigt werden, dass Investoren, öffentlich oder privat, in bestimmten Fällen getäuscht wurden. Es ist aber eine ganz andere Sache, diejenigen, die in diese Täuschungen einbezogen waren, dazu zu bekommen, darüber zu sprechen und möglicherweise zuzugeben, dass die Täuschung absichtsvoll war, dass also wirklich gelogen wurde. Uns ist lediglich eine Studie bekannt, in der es gelang, mit denjenigen, die an den Fehlkalkulationen beteiligt waren, über solche Aspekte zu sprechen (Wachs 1986, 1989, 1990). Wachs interviewte Beamte, Berater und Planer, die an Verkehrsprojekten in den USA beteiligt waren. Er fand heraus, dass ein Muster aus höchst irreführenden Kalkulationen von Kosten und Förderung nicht auf technische Aspekte zurückgeführt werden kann, sondern am besten durch Lügen erklärt wird. Fall für Fall erzählen Planer, Ingenieure und Ökonomen, dass sie die Prognosen „kochen“ mussten, um Zahlen zu produzieren, die ihre Vorgesetzten zufrieden stellten und eine Entscheidung für das Projekt nahe legten, unabhängig davon, ob die Angaben technisch gerechtfertigt waren oder nicht (Wachs 1990:144). Ein typischer Planer gab zu, dass er wiederholt die Kostenangaben nach unten „korrigierte“ und die Angaben zur vorhandenen Unterstützung nach oben, um einen lokal gewählten Vertreter zu- 30 Kostenunterschätzung bei öffentlichen Bauprojekten frieden zu stellen, der die Chancen einer Projektbewilligung maximieren wollte. Die Arbeit von Wachs ist ungewöhnlich scharfsinnig für eine Studie über Vorhersagen. Aber Wachs bezieht sich auf eine kleine Fallzahl und muss zudem zugeben, dass die meisten seiner Befunde eher zufällig sind (Wachs 1986:28). Die Befunde erlauben keine Schlüsse über das ganze Feld. Dennoch leitet Wachs aus dem auffälligen Muster aus falscher Repräsentation und Lügen, die er in seinen Fallstudien gefunden hat, die Hypothese ab, dass sein Befund „nahezu universell“ gilt und nicht nur bei Verkehrsprojekten, sondern auch in anderen Wirtschaftsbereichen gefunden werden kann, wo Prognosen eine wichtige Rolle in der Entscheidungsfindung spielen (Wachs 1990: 146, 1986:28). Unsere Daten unterstützen die Vermutung von Wachs. Das Muster der hoch unterschätzten Kosten findet sich nicht nur in der kleinen Fallauswahl von Wachs; das Muster ist statistisch signifikant und gilt für den Durchschnitt des Feldes (also für die Mehrheit der Verkehrsinfrastrukturprojekte). Allerdings scheint Wachs (1986) in einem Punkt etwas härter zu argumentieren, als es angemessen erscheint: „[F]orecasted costs always seem to be lower than actual costs“ (S. 24), ist seine Folgerung (Hervorhebung im Original). Unsere Daten zeigen jedoch, dass sich „immer“ (100 %) zwar für die von Wachs studierten Projekte behaupten lässt. Wenn sich die Auswahl jedoch um 20-30 % erhöht, um eine bessere Repräsentativität zu erzielen, liegen „nur noch“ in 86 % der Fälle die Schätzungen unter den realen Kosten. Lässt man diesen Unterschied (14 Prozentpunkte) beiseite, gilt die Aussage von Wachs generell, und seine Erklärung, die die Unterschätzungen auf Lügen zurückführt, verträgt sich weitgehend mit unseren Daten. Wenn wir die bestehenden Erklärungen für Fehlkalkulationen vergleichen, erscheinen uns die ökonomische und die politische am passendsten. Der taktische Einsatz von Täuschung und Lüge in Machtkämpfen, um Projekte durchzusetzen und einen Profit zu erwirtschaften, scheint am besten zu erklären, warum Kosten in hohem Maße und systematisch in Verkehrsinfrastrukturprojekten unterschätzt werden. 10. Zusammenfassung und Folgerungen Die Hauptbefunde unserer Studie, die hier wiedergegeben wurden, sind höchst signifikant bei konservativen Annahmen in der Berechnung: • In neun von zehn Verkehrsinfrastruktur-Projekten werden die Kosten unterschätzt. • Bei Bahnprojekten liegen die tatsächlichen Kosten durchschnittlich 45 % über den anfänglichen Kalkulationen (sd=38). • Bei Tunnelbauten und Brücken übersteigen die tatsächlichen Kosten die Prognosen durchschnittlich um 34 % (sd=62). • Bei Straßenprojekten liegen die realen Kosten im Durchschnitt um 20 % über den Schätzungen. • Im Durchschnitt aller Projekte liegen die tatsächlichen Kosten um 28 % über den Schätzungen (sd=39). Mega-Projekte und Stadtentwicklung 31 • Die Unterschätzung der Kosten tritt in 20 Ländern auf fünf Kontinenten auf; sie scheint also ein globales Phänomen zu sein. • Kostenunterschätzung scheint in Entwicklungsländern ausgeprägter zu sein als in Nordamerika und Europa (Daten hierzu liegen nur für Bahnprojekte vor). • Die Unterschätzung von Kosten hat in den letzten 70 Jahren nicht abgenommen. Es scheint kein Lernprozess stattzufinden, in dem die Prognosen präziser werden. • Die Fehlkalkulationen können nicht durch Fehler erklärt werden, sondern sind am ehesten auf strategische Verfälschung, also Lügen, zurückzuführen. • Verkehrsinfrastrukturprojekte scheinen nicht anfälliger für Kostenunterschätzungen zu sein als andere Großprojekte. Wir fassen zusammen, dass die Kostenschätzungen, die in öffentlichen Verhandlungen, Medien und Entscheidungsfindung über Verkehrsinfrastrukturprojekte eingesetzt werden, systematisch und signifikant irreführend sind. Dasselbe gilt für Kosten-Nutzen-Analysen, in denen auf Kostenschätzungen zurückgegriffen wird um die Rentabilität von Projekten zu prüfen. Die falsche Darstellung von Kosten führt leicht zur Fehlallokation von knappen Ressourcen und produziert damit Verlierer unter den Anlegern und Nutzern, seien es Steuerzahler oder private Investoren. Wir betonen, dass diese Folgerungen nicht als ein Angriff auf öffentliche (vs. private) Infrastrukturinvestitionen interpretiert werden sollen, da die Daten keine Aussagen darüber zulassen, ob sich private Projekte mit Blick auf Kostenschätzungen besser oder schlechter verhalten als öffentliche. Die Ergebnisse erlauben auch keine Verurteilung von Verkehrsprojekten gegenüber anderen, da auch die anderen Projekte anfällig für Kostenunterschätzungen und Eskalationen erscheinen. Basierend auf Verkehrsprojekten als vertiefender Fallstudie, zeigen die Ergebnisse lediglich, dass signifikante Kostenunterschätzungen weit verbreitet und üblich sind, und dass diese Praxis ein substantielles Hindernis für eine effektive Allokation knapper Ressourcen darstellt. Dies bedeutet, dass in diesem – teuren - Feld Gesetzgeber, Verwaltungen, Banken und Medien, die ehrliche Zahlen schätzen, den Kostenkalkulationen von Projektmanagern und Gutachtern nicht trauen sollten. Zweitens sollten institutionelle Kontrollen entwickelt werden, um die Produktion weniger irreführender Berechnungen sicherzustellen; hierzu zählen finanzielle, berufsbezogene oder rechtliche Strafen für absehbare Kalkulationsfehler. Die Erarbeitung solcher Kontrollmechanismen hat bereits begonnen, mit einem Fokus auf vier grundlegende Instrumente der Überprüfbarkeit: (1) erhöhte Transparenz, (2) Einsatz von Leistungsbeschreibungen, (3) deutliche Formulierungen der Regulierungsregimes in Bezug auf Projektentwicklung und -implementierung, (4) Einbeziehung von privatem Risikokapital auch in öffentlichen Projekten (Bruzelius et al. 1998, Flyvbjerg et al. im Druck). 32 Kostenunterschätzung bei öffentlichen Bauprojekten Anmerkung Eine Langfassung dieses Beitrags ist unter dem Titel „Cost Underestimation in Public Works Projects: Error or Lie?“ in Journal of the American Planning Association Vol. 68, No. 3, Sommer 2002, S. 271-295 erschienen. Dort findet sich auch ein ausführlicher Anhang mit detaillierten Angaben zu den angewandten statistischen Verfahren. Übersetzung: Simon Güntner Literatur Arditi, D., Akan, G. T., and Gurdamar, S. (1985). Cost overruns in public projects. 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Oxford, U.K.: Oxford University Press. World Bank. (n. d). Economic analysis of projects: Towards a results-oriented approach to evaluation (ECON Report). Washington, DC: Author. Mega-Projekte und Stadtentwicklung 35 Katja Simons GROSSPROJEKTE UND STADTENTWICKLUNGSPOLITIK: Zwischen Steuerung und Eigendynamik - Das Beispiel Euralille 1. Einführung: Planung und Unsicherheit Großprojekte sind Katalysatoren der Stadtentwicklung. Sie sollen die Stadtentwicklung sichtbar voranbringen und innovative Anstoßeffekte geben. Große Projekte dienen dazu, stadtökonomisch bislang unter- bzw. ungenutzte Flächen aufzuwerten und neu zu definieren. Sie bewirken daher einen massiven Eingriff in die bisherige Stadtstruktur. Als Großinvestitionen binden sie beträchtliche finanzielle Ressourcen und Aktivitäten unterschiedlicher Akteure aus Politik, Verwaltung und Wirtschaft. Überall bietet sich ein ähnliches Bild. Auf brachliegenden Industrieflächen werden eine neue Zukunft verheißende Freizeit-, Dienstleistungs-, Büro- und High-TechStandorte entwickelt. In Berlin wurden in den ersten drei Jahren nach der Vereinigung mehr Großprojekte begonnen als in Hamburg und München in einem Jahrzehnt (Kuhle/Fiedler 1996:27). Die Früchte dieser rastlosen Bautätigkeit lassen sich heute bewundern: Potsdamer Platz, Regierungsviertel, neue Bürostandorte an der Spree, neuer Zentralbahnhof – um nur einige Großprojekte zu nennen. Als einer der großen Zukunftsprojekte der Stadt wurde ‚Berlin Adlershof – Die Stadt für Wissenschaft, Wirtschaft und Medien’ Anfang der 1990er Jahre in die Wege geleitet. In der HafenCity in Hamburg wird zur Zeit mit „Europas größtem Bauprojekt“ geworben. Auf traditionsreichem Hafengelände soll nun ein neuer Stadtteil mit Wohnungen, Gewerbe- und Dienstleistungsflächen entstehen. Beispiele aus dem europäischen Ausland machen diesen gleichzeitig stattfindenden Projektboom deutlich: In Bilbao im Baskenland entsteht ein neues Hafenviertel mit Luxuswohnungen, Unterhaltungsinfrastruktur, Büros und einem Kongreßzentrum. Eine besondere Perle der Erneuerung stellt das neue Guggenheim-Museum dar, das 36 Großprojekte und Stadtentwicklungspolitik bereits zu einem touristischen Anziehungspunkt geworden ist. Das ‚Kop van Zuid‘Projekt in Rotterdam beinhaltet neue Büroflächen, Gründerzentren und Wohnungen; damit wird die Hafengegend aufgewertet und durch eine neue Brücke mit dem Stadtzentrum auf dem gegenüberliegenden Ufer verknüpft. Großprojekte sind keine Routineaufgaben. Um die Durchführung von Großprojekten zu erleichtern und zu beschleunigen, werden neue Planungsverfahren außerhalb der herkömmlichen Planungsstrukturen und privatrechtlich organisierte Entwicklungsgesellschaften geschaffen. Die frühzeitige Beteiligung privater Investoren und das aktive Engagement der öffentlichen Hand bei der Durchführung der Projekte reflektiert ein Planungsverständnis, das auf Kooperation von öffentlichen mit privaten Akteuren setzt. Dieses Verständnis von Planung bricht mit der standardisierten Verwaltungsroutine und den traditionellen Vorstellungen von Stadtentwicklungspolitik. Planung wird dezentraler und vielstimmiger. Im Folgenden wird zunächst erläutert, was unter Projektmanagement als Steuerungsmodell von Projekten zu verstehen ist. Dann folgt eine theoretische Skizze zum Wandel staatlicher Steuerung, in die die Bedeutung projektorientierter Stadtentwicklungspolitik eingebettet wird. Am Beispiel von Euralille in Nordfrankreich wird diskutiert, warum Großprojekte im Verlauf der Implementierung Eigendynamiken entwickeln, die sich den herkömmlichen Formen politischer Steuerung entziehen. Schließlich wird erörtert, inwiefern sich Großprojekte mit ihren externalisierten Managementstrukturen den traditionellen Verfahren demokratischer Aufsicht entziehen.1 2. Projektmanagement: Balanceakt zwischen Effizienz und Legitimation Projekte lassen sich in dem hier gemeinten Sinn allgemein als Vorhaben und „Sonderaufgaben mit einem außergewöhnlich breiten Kompetenzbedarf“ definieren (Corsten/Corsten 2000:1). Zu ihrer Lösung bedarf es daher der Zusammenarbeit unterschiedlicher Fach- und Wissensgebiete. Projekte sind durch eine Reihe von Merkmalen gekennzeichnet: Zielvorgabe, zeitliche Befristung, Komplexität und relative Neuartigkeit. Die Komplexität eines Projektes zeigt sich darin, dass eine Vielzahl von Teilaktivitäten und Interdependenzen wirksam werden, die schwer vorauszusehen sind. Neben der Komplexität als struktureller Dimension ist auch die Dynamik als zeitliche Dimension zu nennen. Sie stellen gemeinsam mit der Neuartigkeit der Aufgaben einen Unsicherheitsfaktor bei der Durchführung von Projekten dar. Um deutlich zu machen, was unter ‚Projekt’ als neue Form des politischen Managements zu verstehen ist, gebrauchen Häußermann und Siebel (1994:32) eine maritime Metapher: Projektpolitik bedeute den Umstieg vom Tanker, der auf langfristigem Kurs stetig seine Bahn ziehe, in das wendige Motorboot. Projekte seien flexibler, dynamischer und mediengerechter als das alltägliche Verwalten von Problemen durch die Kommunalbehörden. Folglich stehen bei der projektorientierten Entwicklungssteuerung nicht mehr abstrakte Programme bzw. flächenhafte Pläne im Vordergrund, Mega-Projekte und Stadtentwicklung 37 die ‚von oben’ formuliert wurden, sondern einzelne Projekte, mit denen kurzfristig auf Probleme reagiert wird. Projekte liegen zudem quer zu den bürokratischen Strukturen des Verwaltungshandelns und sind Bestandteil horizontaler, aber auch vertikaler politischer Verflechtungen. In der Planungsdiskussion werden Projekte als neuer Typ von Planung bezeichnet, der sich von anderen Planungsformen wie die umfassende Entwicklungsplanung und die inkrementalistische Vorgehensweise laut Siebel, Ibert und Mayer (1999) in dreifacher Weise unterscheidet: Zum einen ist der stadtplanerische Eingriff durch Projekte räumlich, zeitlich und inhaltlich begrenzt. Zum anderen wird das Vorhaben gleichzeitig geplant und umgesetzt, so dass die klassische Arbeitsteilung zwischen öffentlicher Planung und privater Realisierung aufgegeben wird. Zum dritten unterscheidet sich Projektplanung von herkömmlicher Planung, weil sie ‚weiche Strategien’ anwendet. Anstelle hoheitlicher Steuerungsmedien treten kooperative Verhandlungssysteme und eine informelle Planung. Um nicht den öffentlichen Steuerungsanspruch völlig aufzugeben, bleibe aber die hierarchische Steuerung mittels rechtlicher Vorgaben oder finanzieller Zuwendungen als „Rute im Fenster“ sichtbar (Mayntz/Scharpf 1995:29). Bei der Steuerung von Projekten werden moderne Managementfunktionen auf die öffentliche Verwaltung übertragen, die Sektoralpolitik durch Kooperation zu überwinden versuchen (vgl. Fürst 1998). Durch die Einbeziehung und die Zusammenarbeit unterschiedlicher Verwaltungsabteilungen kann Wissensbreite und -tiefe gesteigert werden (vgl. Andersch/Belzer 1998). In der Verwaltung haben Projektmanagementkonzepte zum Teil aber mit Widerständen und Reibungsverlusten zu rechnen, die auf Eigenheiten des politisch-administrativen Systems zurückzuführen sind. Da das Projektmanagement kaum institutionalisiert ist, sind die Anforderungen an die Managementleistungen hoch. Während eine „starke Institutionalisierung eine gewisse strukturelle Steuerung übernimmt (z.B. Routinen zuläßt, einen Teil der Konflikte strukturell regelt, klare Rollen zuweist, externe Einflüsse institutionell ausblendet), transferiert eine schwache Institutionalisierung eine hohe Last der Komplexitätsverarbeitung, Konsensbildung und Entscheidungsfindung auf Personen“ (Fürst 1998:250). Da innovatives Handeln in Verwaltungen noch nicht so stark ausgeprägt ist, werden hohe Ansprüche an die Mitarbeiter gestellt. Zudem befindet sich das Projektmanagement nach Fürst (1998:250) im „Spannungsverhältnis sach-rationaler Effizienz und politischer Legitimation“. Politik bedarf der Kontrolle. Das Projektmanagement hingegen tendiert zum Rückzug aus politischen Gremien und damit zur ‚Entpolitisierung’ der Entscheidungsprozesse. Dieses Spannungsverhältnis gilt es auszubalancieren. 3. Der „kooperative Staat“ Heute gilt als selbstverständlich, dass politische Steuerung nicht ausschließlich als hoheitliche Tätigkeit oder als hierarchische Steuerung des Staates aufgefasst werden kann. Herkömmliche Bilder von Steuerung als „einem Steuermann, der das Steuer- 38 Großprojekte und Stadtentwicklungspolitik ruder fest in den Händen hält und sein Schiff auf sicherem Kurs steuert“ oder einen „Staatenlenker, der die Staatsgewalt nutzt, um das Staatsschiff über alle Klippen zu bringen“ (Görlitz/Burth 1998:7), müssen über Bord geworfen werden. Diese Bilder politischer Steuerung beschreiben staatliches Handeln als hierarchische Intervention von oben mit einem umfassenden Steuerungsanspruch und dem Ziel öffentlicher Wohlfahrt. Die Vorstellung vom Staat als homogener Einheit, die der Gesellschaft übergeordnet ist und diese im Rahmen einer hierarchischen Beziehung steuert, entspricht schon lange nicht mehr der Realität (vgl. Benz 1997). Moderne Staaten sind eingebunden in ein immer dichter werdendes Geflecht innergesellschaftlicher und transnationaler Abhängigkeiten und Verhandlungszwänge (vgl. Scharpf 1991). Ende der 1970er Jahre, als eine Krise der regulativen Politik diagnostiziert wurde (vgl. Mayntz 1979), fand der Begriff des kooperativen Staatshandelns Eingang in die Diskussion: Der Staat trat vom hoheitlichen Podest des einseitig Anweisenden herab und begab sich auf die Ebene des Austausches von Informationen und Leistungen (vgl. Ritter 1979). In der internationalen Debatte wird der Wandel zum kooperativen Staat als Übergang von ‚government‘ zu ‚governance‘ bezeichnet. Der Begriff ,governance‘ weist eine „komplexe Architektur” auf und ist viel umfassender als ‘government’, wie etwa Pierre (1998:5) feststellt: „It takes into account not just the institutions of government but also the process through which these institutions interact with civil society and the consequences of this mutual influence between state and civil society.” Im Gegensatz zu herkömmlichen Formen des Regierens bilden sich multiple Machtzentren heraus (vgl. Rhodes 1997). Dabei entsteht ein Mehrstufensystem, in dem die lokale Ebene mit unterschiedlichen Institutionen, bis hin zu supranationalen, verflochten ist. Gleichzeitig weitet sich das Akteursspektrum auf der horizontalen Ebene aus und bezieht eine Vielzahl an privaten und öffentlichen Akteuren ein. Für die „Enthierarchisierung zwischen Staat und Gesellschaft“ (Scharpf 1991: 622) werden vielfältige Ursachen ins Feld geführt. Eine Argumentationslinie greift die Steuerungskrise auf (vgl. Görlitz/Burth 1998): Die Aufgaben wachsen dem Staat ‚über den Kopf ’. Die zunehmende Komplexität der Aufgaben und steigende Ansprüche gesellschaftlicher Interessengruppen führen zu einer Vielzahl von Steuerungsproblemen, die mit den vorhandenen Kapazitäten öffentlicher Einrichtungen kaum mehr zu bewältigen sind. Für Mayntz (1996a) sind kooperative Steuerungsformen ein zentraler Ausdruck gesellschaftlicher Modernisierung. Politiknetzwerke gehen auf die zunehmende Bedeutung von eigenständigen Organisationen zurück. Diese haben sich im Zuge gesellschaftlicher Modernisierung gebildet, um ein bestimmtes Maß an Autonomie in den einzelnen Subsystemen wie Politik, Recht, Wirtschaft etc. zu gewährleisten. Beispiele dafür sind Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen, Kassenverbände und Kassenärztliche Vereinigungen etc. Die Handlungsfähigkeit der Organisationen nach innen wie nach außen und die Fähigkeit über Ressourcen zu verfügen, führt dazu, dass immer mehr Entscheidungen in der Politik durch unterschiedliche Akteure, die über eine eigene Machtbasis verfügen, geformt werden. Mega-Projekte und Stadtentwicklung 39 4. Kooperation im ‚Schatten der Hierarchie’ Diese neue Architektur von Staatlichkeit sollte nicht mit Schwächung oder Auflösung des Staates verwechselt werden. Auch wenn staatliche Instanzen als Partner in Verhandlungssystemen beteiligt sind, haben sie dennoch weitreichende Handlungspotenziale. Es handelt sich daher meist um „Verhandlungen im Schatten der Hierarchie“, Konstellationen, „in denen die staatliche Instanz notfalls auch einseitig entscheiden könnte, aber aus politischer Rücksicht oder aus Informationsmangel an einvernehmlichen Lösungen stark interessiert sein muß“ (Scharpf 1991:629). Staatliche Steuerung und gesellschaftliche Selbstregelung sind daher keine Alternativen, sondern eine „verbreitete Mischform von Governance“ (Mayntz 1996b:160). Dies zeigt sich darin, dass staatliche Akteure Einfluss auf die ‚Spielregeln’ nehmen und dadurch das Kräfteverhältnis der Akteure und das Verhandlungsergebnis beeinflussen können. Sie können die Handlungsorientierungen der anderen nicht-staatlichen Teilnehmer durch Information oder Überzeugungsarbeit beeinflussen oder auch Entscheidungen autoritär treffen. Außerdem verdanken viele Verhandlungen ihre Entstehung staatlicher Intervention. Von Steuerungsverzicht des Staates kann also keine Rede sein. Auch wenn, wie Kilper (1999:42) feststellt, „vieles dafür spricht, daß das kooperative Aushandeln von Zielsystemen und Problemlösungen zwischen staatlichen und gesellschaftlichen Akteuren immer mehr an praktischer Bedeutung gewinnt, werden dadurch andere Interaktionsstrukturen und Steuerungsmöglichkeiten nicht obsolet.“ Auch die Steuerungspraxis von Großprojekten macht diese Verschränkung unterschiedlicher Steuerungsformen deutlich (vgl. Simons 2003). Im Projektmanagement werden hierarchische Steuerungsinstrumente – Recht, Geld und Macht – in die projektbezogene Kooperation integriert und verlieren daher nicht an Gewicht. Rechtlich geregelte Planungsverfahren sind meist eine wichtige Voraussetzung für die Entstehung der Zusammenarbeit zwischen öffentlichen und privaten Akteuren. Finanzielle Ressourcen der öffentlichen Hand und persönliche Machtpotenziale von Politikern sind entscheidend bei der Umsetzung der Vorhaben. Die realen Entscheidungsprozesse können folglich nicht durch eine einheitlich nicht-hierarchische Governance-Struktur charakterisiert werden (vgl. Le Galès 2000). Vielmehr überlagern sich unterschiedliche Organisations- und Steuerungsformen. Die öffentliche Hand bleibt ein zentraler Akteur bei der Umsetzung der Vorhaben. Gleichzeitig erhalten neue Planungsverfahren, die auf eine kooperative Projektsteuerung setzen, Einzug in die Planungspraxis. 5. Die lokale Ebene In der Diskussion um das Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft nimmt die Kommune eine „interessante Zwischenstellung“ ein (Andersen 1998:18). Sie ist traditionell stärker gesellschaftlich geprägt, aber als unterste Verwaltungsebene nicht wirklich ‚staatsfern’. Die stärkere Bürgernähe, aber auch die Rolle der Kommune im 40 Großprojekte und Stadtentwicklungspolitik Staat trägt zu dieser besonderen Position bei. Kommunen besitzen eine Doppelstellung als Selbstverwaltungskörperschaft und als Erfüllungsgehilfen des Staates vor Ort. Einerseits nehmen sie Selbstverwaltungsaufgaben wahr, andererseits übertragene staatliche Aufgaben. Besonders weit gingen diese Vorgaben in den 1970er Jahren, als die Gemeinden in die staatliche Konjunktursteuerung und in die Raumpolitik einbezogen wurden. Ihr Selbstverwaltungscharakter wurde dadurch erheblich begrenzt (vgl. Gotthold 1978). Ab Mitte der 80er Jahre gewann in Deutschland, und auch international, die Aufwertung der lokalen Politikebene an Bedeutung (vgl. Kleinfeld 1996). An die Stelle zentraler Entscheidungsstrukturen sollten dezentrale treten; Entscheidungskompetenzen wurden ‚nach unten’ verlagert, um die komplexer werdenden Aufgaben besser lösen zu können. Dezentralisierungsprojekte wie beispielsweise in Frankreich veranschaulichen derartige Aufwertungen. 6. Société d’Economie Mixte in Frankreich Die Ausbreitung von gemischwirtschaftlicher Gesellschaften (Société d’Economie Mixte, SEM) in Frankreich hat neben der Knappheit kommunaler Mittel insbesondere mit den Reformen zur Dezentralisierung in der 1980er Jahren zu tun. Ursprünglich unterlagen auch öffentlich-private Partnerschaften staatlicher Zuständigkeit. Daher hatte ein staatlicher Bevollmächtigter (Präfekt) einen Sitz im Verwaltungsrat der SEM. Städtebauliche Vorhaben wurden daher auch in Paris entschieden (vgl. Caillosse/Le Galès/Loncle-Moriceau 1997). Das Gesetz vom 7. Juli 1983 über kommunale gemischtwirtschaftliche Gesellschaften definierte ihre Satzung neu und stärkte dabei die Rolle der öffentlichen Hand, indem es ihr ermöglichte, bis zu 80% des Gesellschaftskapitals der SEM zu besitzen. Außerdem erleichterte es die Einrichtung von SEMs, da die Erfordernis der vorherigen Genehmigung durch den Staat wegfiel und ihnen die Freiheit über die vertragliche Regelung der Vergütung von SEMs und ihrer Beschäftigten gegeben wurde. Stattdessen wurde von den neuen Gebietsentwicklungs- oder Baugesellschaften höhere Kapitaleinlagen gefordert, eine Million oder 1,5 Millionen Francs (vgl. Caillosse/Le Galès/Loncle-Moriceau 1997). Im Jahr 2000 zählte die ‚Fédération Nationale des Sociétés d’Economie Mixte’ insgesamt 1.255 gemischtwirtschaftliche Gesellschaften in unterschiedlichen Bereichen. 7. `Bigness´ als Maßstab: Euralille Ende der 1980er Jahre begann auf einem ehemaligen Militärgelände am Rande des alten Stadtzentrums in Lille die Planung von ‚Euralille’, einem Dienstleistungskomplex mit einer neuen TGV-Station (Train à Grande Vitesse = Hochgeschwindigkeitszug), die die Annäherung von Lille an Europa symbolisieren sollte (vgl. Simon 1993). Die Projektakteure legten großen Wert auf die Imagewirkung und Außenwerbung des Vorhabens und wählten daher den renommierten Architekten Rem Koolhaas sowie ausgewählte Experten aus Kultur und Wissenschaft für die Projektsteuerung. Koolhaas’ Masterplan bestand aus verschiedenen Teilprojekten wie dem TGV-Bahnhof, Mega-Projekte und Stadtentwicklung 41 einem Einkaufszentrum, einer Kongresshalle, Hotels und Bürogebäude. Vorgesehen war eine Reihe von Hochhäusern, die über der TGV-Trasse emporragen sollten. Damit knüpfte Koolhaas an seine Idee von ‚Bigness’ als höchster Form des Bauens an (vgl. Koolhaas/Mau/Werlemann 1995). Diese Größenordnung sprengte den bisherigen Maßstab des Städtebaus in Lille. Die Altstadt von Lille in unmittelbarer Nähe ist hingegen von einer Vielzahl öffentlicher Räume, enger Gassen und schmaler Vorderund Hinterhäuser mit ornamentalen Fassaden gekennzeichnet. Abbildung 1: Plan der Euralille-Teilprojekte mit dem Bahnhof/Einkaufszentrum, Quelle: Chris Couch et al. (Hg.): Urban Regeneration in Europe, Oxford 2003, S. 99 Mit der Zustimmung zur Gründung der gemischtwirtschaftlichen Gesellschaft für das Projektmanagement wurden weitreichende Entscheidungsbefugnisse von den öffentlichen Körperschaften auf die SEM übertragen, die unabhängig von Verwaltungsstrukturen und -vorschriften das Projekt zielorientiert realisieren konnten. Der Charakter einer SEM ist doppelter Natur, zum einen werden im öffentlichen Auftrag Ziele von ‚allgemeinem Interesse’ verfolgt, zum anderen Arbeitsweisen aus dem privatrechtlichen Sektor übernommen. Dadurch können flexiblere Arbeits- und Beschäftigungsstrukturen eingeführt werden. Da die öffentlichen Gebietskörperschaften per Gesetz Mehrheitsanteile am Kapital der Gesellschaft halten müssen, verzichten sie nicht ganz auf ihre Kontrolle. Gerade in einer gemischtwirtschaftlichen Gesellschaft werden private und öffentliche Interessen eng aneinander gekoppelt und vermischt. Im Fall Euralille wurde die Verflechtung zwischen SEM und Politik noch durch die starke Führungsrolle des Bürgermeisters bei der Projektentwicklung verstärkt (vgl. Vermandel 1995). Die öffentliche Hand war eine prekäre Doppelrolle eingegangen: Sie war einerseits unternehmerisch tätig, betätigte sich unmittelbar im wirtschaftlichen Bereich und ging folglich auch wirtschaftliche Risiken ein. Gleichzeitig war sie Kontrolleur ihrer eigenen unternehmerischen Tätigkeiten. Die Rolle der privaten Finanziers innerhalb der SEM Euralille ging zum Teil über die eines Aktionärs hinaus, da sie auch als Berater und Sachverständiger gefragt waren und teilweise auch als Investoren gewonnen werden konnten. Sie waren daher vor allem in der Realisierungsphase von Bedeutung. Insgesamt darf aber der private Charakter der Vorhaben nicht überschätzt werden, 42 Großprojekte und Stadtentwicklungspolitik da die Banken in der SEM überwiegend einen halb-öffentlichen Charakter hatten und die öffentliche Hand vor allem in finanzieller Hinsicht, aber auch in Hinblick auf die städtebaulichen Instrumente großen Anteil an der Umsetzung des Vorhabens hatte (vgl. Salin/Moulaert 1998). Die Rolle der politischen Gremien auf kommunaler und StadtUmland-Ebene bei der Planung des Großprojekts lässt sich als ein kurzes Zwischenspiel charakterisieren. Die konzeptionelle Vorarbeit wurde innerhalb der ‚Projektstrukturen’ geleistet, d.h. durch die private Planungsgesellschaft, die Architektenbüros und den städtebaulichen Qualitätszirkel, so dass der Stadtrat von Lille erst zu Beginn der öffentlichen Beteiligung über Inhalt und Form des Projekts informiert wurde (Ratsprotokoll Lille, 20.11.1989). Die erste öffentliche Sitzung politischer Gremien fand nach einer Phase der Geheimhaltung auf Stadt-Umland-Ebene statt, die für Fragen der Stadtplanung zuständig ist Abb. 2/3: Ansichten von Euralille, Quelle: OMA / Rem Kolhaas / Bruce und das letzte Wort hatte Mau: S,M,L,XL, New York 1995, S.1206f (oben) und S. 791. bei der Einrichtung der konzertierten Planungszone (ZAC) und der gemischtwirtschaftlichen Gesellschaft Euralille (SEM Euralille). Kritik wurde daher vor allem am Projektverfahren laut (Ratsprotokoll Lille, 23.4.1990). Die Entstehungs- und Entwicklungsdynamik von Euralille ist unmittelbar mit den Machtnetzwerken von Politikern verquickt, insbesondere mit denen des Bürgermeisters von Lille. Seine Machtnetzwerke spiegeln die für Frankreich bezeichnende „Allmacht des Bürgermeisters“ (Hoffmann-Martinot 1999:370) wider. Als „Supernotabler“ (Mabileau 1996:88) verfügte Mauroy über Einflussmöglichkeiten und Kontakte auf unterschiedlichen politischen Ebenen, mit denen er die Entscheidungsprozesse Mega-Projekte und Stadtentwicklung 43 kontrollieren konnte. Machtnetzwerke bestehen aus Einflussbeziehungen zwischen verschiedenen politischen Zentren, wie zum Beispiel dem Rathaus und den StadtUmland-Verbänden, der Präfektur und der Handelskammer. Die Bedeutung von Schlüsselfiguren wird durch einen für Frankreich typischen politisch-institutionellen Kontext – der Möglichkeit der Ämterhäufung – verstärkt. Außerdem reichte Mauroys Einflussbereich als ehemaliger Premierminister über den lokalen und regionalen Wirkungskreis hinaus. Seine Kontakte zur nationalen Ebene waren entscheidend in der Phase der Verhandlungen um einen TGV-Halt in Lille. Auch der Grundstückstransfer vom staatlichen (militärischen) in städtischen Besitz ging auf die Überzeugungsarbeit von Mauroy zurück. Ricordel (1997: 28) weist in diesem Zusammenhang auf einen neuen Politikertyp in Frankreich hin, den „maire entrepreneur“ – Bürgermeister, die im Zuge der Dezentralisierung an Macht gewonnen haben, Projekte initiieren und Risiken eingehen. Aber nicht nur die Rolle Pierre Mauroys verdeutlicht, wie personenabhängig das Projektverfahren war, sondern auch Jean-Paul Baïetto, der Direktor der SEM Euralille. Er verfügte über besondere Qualifikationen wie Kompetenz, Charisma und Engagement, die ihn zur ‘treibenden Kraft’ des Projekts machten. 8. Die Eigendynamik von großen Projekten Nachdem Großprojekte begonnen werden, entwickeln sie ein Eigenleben, das nur noch schwer zu steuern ist. Änderungen sind von einem bestimmten Zeitpunkt an kaum noch möglich bzw. lassen sich kaum noch durchsetzen. Der ‘point of no return’ ist daher bei Großprojekten vergleichsweise rasch erreicht. Was hat dies zu bedeuten? Zum einen kann dieser ‚Punkt’ von den Projektakteuren geschickt ausgenutzt werden. In Lille wurde die Öffentlichkeit bewusst erst dann über die Stadtentwicklungsvorhaben informiert, als erhebliche Vorarbeiten geleistet, Ressourcen investiert und Fakten geschaffen worden waren. Ab diesem Zeitpunkt war das Projekt nicht mehr aufzuhalten, und alle weiteren Schritte konnten als unabwendbar entschuldigt werden. Dadurch sollte es gegen Kritik und Alternativen immunisiert werden. Zum anderen erwies sich der ‘point of no return’ insbesondere dann als problematisch, als sich die Rahmenbedingungen änderten und ein Umsteuern notwendig wurde. Die Immobilienmarktkrise wirkte sich auf Euralille aus und bereitete einigen Teilprojekten Realisierungsprobleme (vgl. Cherruau 1999). Wenn Großprojekte in eine kritische Realisierungsphase geraten, schränken mangelnde Ausstiegsoptionen den Handlungsspielraum für die politische Steuerung ein. Im Folgenden wird dies näher beleuchtet: • Politische Versprechen: Großprojekte sollen eine Antriebsfunktion in der Stadtentwicklung übernehmen. Bereits in der Planungsphase kommunizieren sie die mit ihnen verknüpften Leitkonzepte, markieren strategische Schritte und präsentieren Zukunftsentwürfe für die Entwicklung der Stadt. Mit dieser stark symbolisch auf- 44 Großprojekte und Stadtentwicklungspolitik geladenen Bedeutungsebene lassen sich Großprojekte nach innen und nach außen vermarkten. Euralille wurde als eine ‚turbine tertiare’ bezeichnet und steht für die Entwicklung des Dienstleistungssektors in einer altindustriellen Ballungsregion. Die Projekte sollen Handlungsfähigkeit demonstrieren und werden daher unter massivem Erfolgsdruck vermarktet. Da Großvorhaben als Zukunftsprojekte betrachtet werden und damit auch den politischen Willen symbolisieren, Aufbruchstimmung zu erzeugen und neue stadtentwicklungspolitische Impulse zu setzen, würde eine Diskussion über eine Korrektur des Vorhabens aufgrund schleppender Nachfrage oder gar einen Ausstieg mit dem fehlenden politischen Willen gleichgesetzt werden, die Stadt zu erneuern. Abbruch oder Revision hieße demnach, dass der Anschluss an die Zukunft bewusst verpasst bzw. verspielt würde. • Planungssicherheit: Großprojekte stellen immer eine Mischrechnung öffentlicher und privater Finanzierungsanteile dar. Private Investitionen sind von zentraler Bedeutung, damit die Projektidee realisiert und auch abgeschlossen werden kann. Die Ressourcendefizite der öffentlichen Akteure lassen ein Abhängigkeitsverhältnis zu den privaten Investoren entstehen (vgl. Cattacin 1994). Politisches Handeln muss sich daher zumindest teilweise den Interessen privater Investoren unterordnen und Planungssicherheit garantieren. Da Großprojekte lange Realisierungszeiträume benötigen, die über eine Legislaturperiode weit hinausgehen, fordern Investoren von Politikern, sich dem ‚Gebot der Zuverlässigkeit‘ zu beugen. Die Rücknahme von Planungszielen oder auch nur lautes Nachdenken über den Ausstieg könnte das Vertrauen der Investoren in das Großprojekt erschüttern. Die Diskussionen in den politischen Gremien über Euralille haben deutlich gemacht, dass Kritikern meist vorgeworfen wurde, mit ihren Einwänden das gesamte Projekt zu gefährden. Die Projektpromotoren hatten in diesem Sinne schlagkräftige Argumente parat, mit denen um Zustimmung geworben werden konnte. Der von den Projektakteuren eingeforderte politische Grundkonsens gegenüber städtebaulichen Entwicklungsvorhaben, nach Kontinuität politischer Entscheidungen bedeutete eine Einschränkung der politischen Kontrolle. • Viele Akteure: Durch die Teilnahme von Akteuren aus Wirtschaft, Politik und Verwaltung an der Planung, Durchführung und Realisierung von Großprojekten lassen sich fragmentierte Handlungsressourcen koordinieren und bündeln. Eine Vielzahl sich überlappender informeller oder formeller Arbeitsbeziehungen prägt das Projekt. Durch die Einsetzung eines Projektträgers werden öffentliche Aufgaben in privatrechtlich organisierte Gesellschaften ausgelagert. Diese gehen wiederum vertragliche Bindungen mit Investoren ein, die sich für einzelne Standorte interessieren. Mit der Zeit werden die verschiedenen Akteure über Zuständigkeiten, Aufträge und Verträge an das Großprojekt gebunden. Allein wegen der vielen miteinander verflochtenen Akteure und der damit verbundenen Verpflichtungen und Rechte ist eine Revision oder gar ein Abbruch des Vorhabens kaum möglich. Beispielsweise könnten Schadenersatz- oder Entschädigungsansprüche von Investoren geltend gemacht werden, die bereits im Vertrauen auf die Projektentwicklung investiert haben. Mega-Projekte und Stadtentwicklung 45 • Verflechtungen: Großvorhaben bestehen aus vielen Teilprojekten, die zusammen eine Projektvision ergeben. Die einzelnen Strukturen sind daher funktional eng miteinander verflochten. Euralille will keine Monostruktur etablieren, sondern einen neuen Stadtteil kreieren. Insgesamt sind die Handlungsspielräume für eine politische Steuerung großer Projekte eingeschränkt. Selbstverpflichtende Leitbilder erzeugen einen Erfolgsdruck, der teilweise den Blick für die Projektrealität verstellt und eine Projektrevision unter veränderten Rahmenbedingungen erschwert; komplexe Akteursgeflechte entwickeln ihr Eigenleben und verselbständigen sich; zusammenhängende Teilprojekte reduzieren die Anpassungsfähigkeit des Vorhabens. 9. Legitimationsdefizite großer Projekte Die Durchführung von Großprojekten verursacht ein Legitimationsdefizit, weil die Handlungsfähigkeit der Projektakteure von Bedingungen abhängt, die zum Teil die Prinzipien demokratischer Legitimation wie Transparenz, Öffentlichkeit und Partizipation verletzen. Die Fallstudie hat eine Reihe von politischen Praktiken beleuchtet, die das Problem der Selektivität, der mangelnden Kontrolle und der eingeschränkten Öffentlichkeit in Großprojekten deutlich machen: • Kontrollverlust durch Privatisierung: Durch die Gründung von privatrechtlichen Gesellschaften wie die SEM Euralille zur Durchführung der Projekte können Ressourcen und Kräfte mobilisiert werden, die für eine zügige Realisierung notwendig sind. Das Projektmanagement ist einerseits durch dezentrale Flexibilität gekennzeichnet und andererseits durch Regelungen zur Rückkoppelung der Aktivitäten und an parlamentarische Gremien, z.B. durch die Mitgestaltung vertraglicher Bindungen, inhaltlicher Festlegungen und personeller Verbindungen beispielsweise in Form von öffentlichen Vertretern in den Aufsichtsräten der Entwicklungsgesellschaften. Gerstlberger (1999:69) bezeichnet diese Rückbindungsmechanismen als „Kompensationsmittel gegenüber zentrifugalen Tendenzen durch Ausgliederungen.“ Ein Kontrollverlust kann dadurch teilweise verhindert werden. Wegen der Eigendynamik der externalisierten Managementstrukturen sind die Einfluss- und Kontrollmöglichkeiten der öffentlichen Hand jedoch in Gefahr. Zudem wird die Verfahrenstransparenz dadurch beeinträchtigt, dass privatrechtlich organisierte Gesellschaften nicht-öffentlich arbeiten. • ‚Old boys networks’: Schlüsselfiguren sind notwendig, um das Projekt in Gang zu bringen und voranzutreiben. Besonders effektiv sind sie, wenn sie über Machtnetzwerke verfügen und dadurch gezielt ihre Interessen durchsetzen können. Das soziale Kapital der Beteiligten hat für die erfolgreiche Realisierung eines Großprojekts ähnliches Gewicht wie ökonomisches Kapital. Insbesondere die Durchdringung verschiedener politischer Ebenen, von der lokalen über die regionale bis zur nationalen Ebene, mit netzwerkartigen Verbindungen der Schlüs- 46 Großprojekte und Stadtentwicklungspolitik selfiguren ist für den Informationszugang, für (Vorab-)Vereinbarungen und für die Meinungsbildung von zentraler Bedeutung in Projekten mit komplexen Akteursgeflechten. Indem sie die Rolle ‚politischer Unternehmer’ einnehmen, sich für das Projekt einsetzen und hinter den Kulissen Überzeugungsarbeit leisten, können informelle Entscheidungsverfahren und die Umgehung bzw. Verkürzung formaler Verfahren erreicht werden. In Lille waren es einflussreiche Politiker, die durch politische Einflussnahme auf eine Unterstützung des Projekts hinwirken konnten. Ihre Kontaktstrukturen lassen sich zugespitzt als ‘old boys networks’ bezeichnen. Informelle Kooperationen leben von der Öffentlichkeitsdistanz, von Vertraulichkeit und Vertrautheit, im Sinne einer Undurchschaubarkeit für Dritte. Informalität, Vertraulichkeit und Exklusivität stellen wichtige Effektivitätsbedingungen in Politiknetzwerken dar. So wichtig und unverzichtbar informelle Netzwerkstrukturen für die effiziente Durchführung von Projekten in relativ starren Verwaltungsroutinen sind, so schränken sie doch Kontrollmöglichkeiten ein und verhindern Kritik, die Schlüsselfiguren oft nicht vertreten können. • Bürgerbeteiligung ohne echte Kooperation: Bürgerbeteiligung fand auf formalem Weg statt, so wie es das Baurecht vorsieht. Zudem wurden die Bürger in Ausstellungen oder Veröffentlichungen über das Projekt informiert. Die Bürgerinformation zielte dabei auf Akzeptanzsicherung, statt auf eine erweiterte Beteiligung oder eine ‚echte’ Kooperation zwischen Projektakteuren und Bürgermeinung zu setzen. In Lille erhielt die Bürgerbeteiligung trotz des Zeitdrucks einen relativ breiten Raum. Weil aber eine ausführlichere und intensivere Beteiligung die Zeitkapazitäten der Projektakteure sprengen würde und möglicherweise unversöhnliche Interessengegensätze hervortreten könnten, bleibt die Bürgerbeteiligung in Großprojekten meist von symbolischer Art. • Expertokratie: Die Beteiligung der Öffentlichkeit ist von einer klaren Trennung zwischen Experten- und Laienwissen gekennzeichnet. Komplexe Großprojekte benötigen den besonderen Sachverstand ausgewählter Experten. Zum Teil werden auch institutionalisierte Formen der Expertenbeteiligung geschaffen, wofür der ‚Qualitätszirkel’ in Lille ein gutes Beispiel darstellt. Da effektive Expertenkooperation in einem begrenzten Kreis von Akteuren stattfindet, sind sie notwendig selektiv und erzeugen dadurch Ausschlussmechanismen. • Eingeschränkte Öffentlichkeit: In Lille wurde Wert darauf gelegt, das Projekt unter Ausschluss der Öffentlichkeit vorzubereiten, um es nicht zu ‚zerreden’ und damit zu gefährden. Insgesamt wird deutlich, dass die Durchführung von Großprojekten von bestimmten Voraussetzungen abhängt, die wichtige Kriterien demokratischer Legitimation wie Transparenz, Öffentlichkeit und Kontrolle systematisch verletzen. Selektive Beteiligung und reduzierte Öffentlichkeit sind ‚Nebenwirkungen’ von Sonderorganisationen, Macht- und Expertennetzen und nichtöffentlichen Taktiken, die für eine zügige Projektrealisierung notwendig sind. Insofern stehen Großprojekte vor dem Dilemma, dass „die formalen Bedingungen einer Demokratisierung nur auf Kosten Mega-Projekte und Stadtentwicklung 47 der funktionalen Leistungsfähigkeit“ der Projektentwicklung verwirklicht werden können (Benz 1994:76). Großprojekte lassen sich daher nur auf eine „halbierte Legitimationsgrundlage“ stellen: Sie können entweder als besonders effektiv gerechtfertigt werden, weil sie zu akzeptierten Ergebnissen führen (was aber auch nicht immer der Fall ist) oder man führt sie innerhalb institutionalisierter demokratischer Formen durch, die zwar legitimiert, aber nicht so leistungsfähig sind, weil sie durch Entscheidungsblockaden bedroht werden können. 10. Schlussfolgerungen • Risikomanagement erforderlich: Eine projektbegleitende Kontrolle ist unverzichtbarer Bestandteil der Planung und Durchführung von Projekten, bei denen die öffentliche Hand hohe Investitionen tätigt und wirtschaftliche Risiken trägt. Neben der parlamentarischen Kontrolle braucht das Projektmanagement effektive Kontrollmechanismen und ein ehrliches Risikomanagement, um Fehlentwicklungen zu vermeiden (vgl. Flyvbjerg/Bruzelius/Rothenburger 2003). Zum einen kann dadurch frühzeitig erkannt werden, ob ein Umsteuern oder gar ein Ausstieg aus dem Vorhaben organisiert werden muss; zum anderen sind Kontrollen notwendig, um zu prüfen, ob das Vorhaben im Einklang mit öffentlichen Interessen steht oder ob diese notfalls auch gegen den Willen des Investors durchgesetzt werden müssen. Da traditionelle Formen der Aufsicht durch hierarchisch übergeordnete Instanzen nur reaktiv und nachträglich wirken, muss die Kontrolle optimiert und an die neuen Strukturen des Projektmanagements angepasst werden. Die Kontrolle einer prozesshaften und kooperativen Planung sollte daher eng mit dem Planungsprozess verbunden sein und unterschiedliche Aspekte der Projektplanung erfassen: die Organisation, das Verfahren, die Ziele, deren Vollzug und die Wirkungen (vgl. Benz 1998). Grundlegende Voraussetzung für eine prozessbegleitende Kontrolle ist vor allem die Verbesserung der Kommunikation zwischen Planungsträgern und Kontrollinstanzen und die Erhöhung von Transparenz im Planungsprozess. Insgesamt trägt eine Kontrolle zur Legitimation der Vorhaben und ihrer Ergebnisse bei, indem sie die Korrektur von Fehlern und eine inhaltliche Verbesserung ermöglicht. • Bedarfsanalyse notwendig. ‘Bigness’ hat sich als ein besonderes Steuerungsproblem von großen Projekten erwiesen. Der durch die Größe der Vorhaben verursachte Maßstabssprung bewirkt zwar einen Bruch mit den vorhandenen, oft wenig ansprechenden Bildern der Stadt und gab dadurch neuen, spektakuläreren Fantasien Platz. Andererseits verursacht die Größe der Projekte Probleme bei der Realisierung der Vorhaben mit der Wirkung, dass sie meist unvollendet in der Krise stecken blieben. Nach Hall (1980:4) beruhen die meisten „Planungsdesaster“ auf unrichtigen Prognosen über die Bedarfs- und Nachfrageentwicklung. Auch hier sind sowohl Wissenschaft und Politik gefordert, Prüfkriterien für eine Bedarfsanalyse als auch für potenzielle Auswirkungen der Vorhaben zu entwickeln und diese schließlich auch in der Praxis einzusetzen. Da solche Prüfungen meist nicht Großprojekte und Stadtentwicklungspolitik 48 vorgenommen werden, sind Großprojekte oft überdimensioniert. Größe hat eine geringere Flexibilität der politischen Steuerung zur Folge: Großprojekte sollten daher so gestaltet werden, dass sie noch beherrschbar bleiben. Anmerkungen 1 Die Fallstudie basiert auf leitfadenorientierten Interviews mit Experten sowie Dokumentenanalyse (Beschlüsse und Protokolle parlamentarischer Sitzungen und Presseberichte). Als Experten zählen Personen, die bei der Planung, Durchführung und Kontrolle des Projekts beteiligt waren und die Entscheidungsabläufe gut kennen, wie Verwaltungsmitarbeiter, Mitarbeiter der Projektentwicklungsgesellschaft. Siehe Simons (2003) für eine ausführliche Darstellung der Fallstudie. 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Opladen: Leske + Budrich Mega-Projekte und Stadtentwicklung 51 Frank Scholles PLANUNG UNTER UNSICHERHEIT Der Risikobegriff in Theorie und Methodik der Umweltplanung 1. Einführung: Planung und Unsicherheit Planung hat es häufig mit unvollständiger oder unsicherer Information zu tun, d. h. an die Stelle von kausalanalytischen Beschreibungen von Zusammenhängen treten Ergebnisse, die nicht frei von subjektiven Einflüssen sind und deren Wahrscheinlichkeit kleiner als eins ist, die also nicht sicher sind. Wirkung ist als „Veränderung eines Sachverhalts durch die Veränderung eines anderen“ (Scharpf 1982, 92) definiert. Daher sind Wirkungsanalysen nur bei Vorliegen von Kausalbeziehungen uneingeschränkt möglich. Da die Natur als überkomplexes System jedoch nicht einigen wenigen exakten Regeln folgt, kann man oft nur Korrelationen feststellen. Wo Juristen und Politiker, aber auch Gutachter gerne eindeutige Ursache-Wirkungs-Beziehungen und damit Verursacher-Auswirkung-Betroffener-Zusammenhänge hätten, um dem individuellen Verursacherprinzip genüge zu tun, findet man langfristige, kumulative Wirkungen, die nicht eindeutig Verursachern zuzuordnen und oft erst nach mehreren Jahren beobachtbar sind. Schließlich ist Planung auch auf Wirkungsprognosen angewiesen, denn es sollen Konzepte und Maßnahmen zur Behebung festgestellter Mängel entwickelt werden. Prognosen sind inhärent unsicher. Die Praxis der Umweltplanung wird heute im deutschsprachigen Raum methodisch von der Ökologischen Risikoanalyse bestimmt, deren Ziel die Ermittlung von Auswirkungen von Verursachern auf die Umwelt bei unvollständiger Information ist. Die Ökologische Risikoanalyse wurde als Methode zur Betrachtung natürlicher Ressourcen in einem größeren Planungsraum im Rahmen eines Gutachtens im 52 Planung unter Unsicherheit Großraum Nürnberg - Fürth - Erlangen - Schwabach entwickelt (vgl. Aulig et al. 1977; Bachfischer 1978). In der Folgezeit wurde sie im Hinblick auf die Durchführung von Umweltverträglichkeitsprüfungen weiterentwickelt (vgl. Hoppenstedt/Riedl 1992, Kiemstedt et al. 1982, Scharpf 1982, Scholles 1997). Die Beurteilung erfolgt formal durch die Bildung der drei Aggregatgrößen • Intensität potenzieller Beeinträchtigung (kurz Beeinträchtigungsintensität) • Empfindlichkeit gegenüber Beeinträchtigungen (Beeinträchtigungsempfindlichkeit) und • Risiko der Beeinträchtigung Eine zusammenfassende Darstellung der Methode findet sich bei Scholles (2001). Wenn auch bisweilen der Name Ökologische Risikoanalyse vermieden wird, so finden sich doch regelmäßig ihre Elemente wieder wie die Relevanzbäume, die Präferenzmatrix, die Klassenbildung zwecks Einschätzung oder die Begrifflichkeit. Infolge der ökologischen Orientierung der Raumordnung in den 1980er Jahren haben Begriffe und Methodik auch in deren Praxis Eingang gefunden. In den Vereinigten Staaten wurde das risk assessment1 entwickelt mit dem Ziel, eine Grundlage für Entscheidungen zu schaffen, die sowohl gut begründet als auch gesellschaftlich legitim und akzeptabel sind (Andrews 1988, 85). In der Literatur zum risk assessment unterscheidet man verschiedene Arten von Unsicherheit, die zu Risiken führen (s. Abb. 1; vgl. Suter II et al. 1987). Risk assessment ist nicht vergleichbar mit der Ökologischen Risikoanalyse, wie man sie in Deutschland kennt, sondern stellt eine quantitative Abschätzung der naturwissenschaftlich-technischen Unsicherheit von Experten-Prognosen dar. Ziel ist es dabei, zur Vorbereitung politischer Entscheidungen naturwissenschaftlich-technische Unsicherheiten im Verfahren von Wertunsicherheiten und Wertediskussionen zu trennen (Morgan u. Henrion 1990, 323). Aufgrund der Existenz verschiedener Risikobegriffe und der unklaren Verwendung in der Praxis soll zunächst eine begriffliche Klärung vorgenommen werden. Die vollständige und systematische Abarbeitung des interdisziplinären Gebiets des Risikoforschung würde hier zu weit führen. Zusammenfassende Abhandlungen finden sich u.a. bei Bechmann (1993), Beck (1986), Binswanger (1990), Morgan/Henrion (1990) und Rowe (1977). 2. Der Risikobegriff Der Begriff Risiko ist inzwischen im alltäglichen Sprachgebrauch gängig, nicht zuletzt aufgrund der Werbung für Arzneimittel: „Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie die Packungsbeilage oder fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker.“ Wissenschaftlich betrachtet, bedeutet der Begriff: Wenn ein Sachverhalt nicht mit Sicherheit (Wahrscheinlichkeit gleich eins) erklärt werden kann, existiert ein Risiko, Mega-Projekte und Stadtentwicklung 53 Abb.1: Arten von Unsicherheit (aus: Scholles 1997, 15) dass sich die Realität (Natur) anders verhält als erklärt2. Planungen und insbesondere Prognosen sind folglich auf Risikoabschätzungen angewiesen. Diese müssen aber auch als solche deutlich gemacht werden. 2.1 Naturwissenschaftliche Aspekte des Risikos 2.11 Risiko oder Gewissheit? Aus naturwissenschaftlicher Sicht ist zunächst Risiko von Gewissheit und Ungewissheit zu unterscheiden: Sind die Umweltfolgen bekannt, d. h. lassen sich die Wirkungen kausalanalytisch bestimmen, besteht Gewissheit, ist nur bekannt, dass Umweltfolgen eintreten könnten, ohne Wahrscheinlichkeiten für ihr Eintreten angeben zu können, besteht Ungewissheit. In beiden Fällen kann kein Risiko bestimmt werden. Im Fall der Gewissheit besteht auch kein Bedarf einer Risikoaussage. Wenn z. B. die Temperatur in einem Salmonidengewässer aufgrund einer Kühlwassereinleitung über 25° C ansteigen wird, ist sicher, dass hier keine autochthone Bachforellenpopulation mehr existieren kann. Es besteht hier kein sehr hohes Risiko für die Tierwelt, sondern die Gewissheit einer erheblichen Beeinträchtigung. Schwieriger zu betrachten ist der Fall der Ungewissheit, denn das Vorsorgeprinzip (Prophylaxe) stellt ja 54 Planung unter Unsicherheit gerade auf den Fall ab, dass Schadensintensität und/oder Eintrittswahrscheinlichkeit nicht hinreichend bestimmt oder bestimmbar sind. Sind beide Größen hinreichend bestimmt, fallen die Untersuchungen in den Bereich der Prävention. 2.12 Unkenntnis Unkenntnis ist der undefinierte Bestandteil der Unsicherheit. Was man nicht weiß, kann notwendigerweise nicht abgeschätzt und daher einer Risikoabschätzung nicht zugänglich gemacht werden. Man muss sich aber darüber im Klaren sein, dass es immer unbekannte Phänomene gibt und risk assessment im günstigsten Fall den Stand der Wissenschaft widerspiegeln kann. Neue wissenschaftliche Erkenntnisse nach Abschluss der Planung können einzelne Aussagen, aber auch die Gesamteinschätzung widerlegen. Eine Wahrscheinlichkeit für das Eintreffen neuer Erkenntnisse ist aber nicht kalkulierbar. 2.13 Analytische Unsicherheit Deterministische Feststellungen können in der Praxis der Prognose selten getroffen werden. Intensität und Häufigkeit von Wirkungen müssen i.d.R. abgeschätzt werden. Es gilt also aus naturwissenschaftlicher Sicht, eine bestimmte Wahrscheinlichkeit zu benennen, mit der eine Wirkung anders ist als erwartet. Versicherungen können dies in Bezug auf Todesrisiken vergleichsweise genau, weil Zeitreihen und damit Erfahrungswerte vorliegen. Für die Abschätzung ökologischer Risiken sind i.d.R. extrem wenig empirische Daten verfügbar, so dass das analytische Risiko sehr groß ist. Es gibt keine Populationsstatistik für Fische, Amphibien oder Libellen, am ehesten gibt es längerfristige Beobachtungen für Vögel. Darüber hinaus muss bedacht werden, dass es einige Zehntausend allein in Mitteleuropa vorkommende Spezies gibt, die noch nicht einmal alle bekannt sind, aber miteinander und mit ihrer abiotischen Umwelt in vielfältigen Beziehungen stehen. Die Beziehungen wiederum bestimmen die Populationsgrößen und Pufferkapazitäten in weitgehend unbekanntem Umfang. Absolute Prognosen von Umweltzuständen sind daher unglaubwürdig. Es gibt verschiedene Quellen analytischer Unsicherheit (vgl. De Jongh 1988; Petzoldt u. Recknagel 1991, 336; Suter II et al. 1987): • Modellstrukturfehler • natürliche Varianz • Modellparameterfehler. Modellstrukturfehler entstehen bei der Kalkulation des Risikos. Da die Realität zu komplex ist, um 1:1 abgebildet werden zu können, muss vereinfacht werden; dazu werden Modelle erstellt. Diese Modelle können falsche Komponenten (Parameter oder Indikatoren), falsche Beziehungen zwischen den Komponenten (oder nur unzureichend qualifizierte) oder unzutreffende Rahmenbedingungen enthalten. Strukturfehler sind nie ganz auszuschließen, ihre Richtung und die Höhe des Ausschlags sind analytisch kaum zu bestimmen. Mega-Projekte und Stadtentwicklung 55 Natürliche Varianz entsteht bei der Risikoabschätzung, weil natürliche Systeme typischerweise räumlich heterogen und zeitlich variabel sind. Die Konzentration von Immissionen in der Luft hängt z. B. von meteorologischen Parametern wie Windrichtung oder Wetterlage ab, die kleinräumig und langfristig nicht vorherzusagen sind. Diese Varianz kann empirisch mit Modell- oder Laborversuchen nur begrenzt kalkuliert werden, weil diese bemüht sind, jeweils nur einen Parameter zu verändern und alle anderen konstant zu halten. Die Wirklichkeit läuft aber nicht unter solchen Ceteris-paribus-Bedingungen ab, sondern es ändern sich mehrere Parameter und Beziehungen gleichzeitig und in gegenseitiger Abhängigkeit. Viele Parameter und Indikatoren, die Modelle benötigen, können nur außerordentlich schwer gemessen oder sogar nur in Größenordnungen abgeschätzt werden. Daraus resultieren Modellparameterfehler (Mess- und Schätzfehler), die mit in die Risikobestimmung eingehen müssen. Natürliche Varianz kann mithilfe von Zeitreihen, fuzzy sets oder Simulationen abgeschätzt werden, soweit Langzeituntersuchungen vorliegen und die Simulationsergebnisse statistisch ausgewertet werden können. In der Hydrologie und der Meteorologie ist dies i.d.R. der Fall. In der Ökologie sind solche Abschätzungen nur partiell möglich, die nötigen Daten sind kaum verfügbar und außerdem nur schwierig und mit hohem Kostenaufwand zu erheben. Darüber hinaus erlaubt die Variabilität ökologischer Systeme die Bestimmung von Parametern auch bei beliebig hohem Messaufwand prinzipiell nur mit hoher Unsicherheit (Poethke et al. 1993, 463). Deshalb bleibt oft nur der Weg, fehlende Daten durch begründete Expertenmeinung zu ersetzen (De Jongh 1988, Suter II et al. 1987) oder verschiedene Szenarien durchzuführen. Modellparameterfehler zeigen statistisch beschreibbare Verteilungen, so dass man sie berechnen oder zumindest eingrenzen kann, wenn die Datensammlung und die Erhebungsmethoden dokumentiert sind. Die Verwendung undokumentierter Daten vergrößert das Risiko von Parameterfehlern schon deshalb stark, weil die Rahmenbedingungen der Messung unbekannt sind und nicht mit denen der Standardsetzung übereinstimmen müssen. Solche Daten und die daraus gezogenen Schlüsse sind deshalb abzulehnen. Modellstrukturfehler sind dagegen nur schwer zu kalkulieren. Die beste Methode ist der Einsatz des Modells mit anderen Bedingungen (Grundannahmen) oder anderen Daten. Man kann Modelle auch „rückwärts“ laufen lassen, d. h. beim derzeitigen Zeitpunkt beginnen und bis zu einem vergangenen Zeitpunkt laufen lassen, dessen Zustand dokumentiert ist3. Der Vergleich der Modellergebnisse mit dem tatsächlich dokumentierten Zustand sagt einiges über die Genauigkeit des Modells aus, wenn eine Dokumentation des vergangenen Zustands vorliegt. Durch das gezielte Verändern einzelner Daten lässt sich feststellen, welche Parameter robust gegenüber Veränderungen sind und welche sensitiv. Mit solchen Sensitivitätsanalysen kann man zwar das Risiko eines Strukturfehlers noch nicht kalkulieren, aber sensitive Elemente der Prognose identifizieren. Dabei sind einfache Modelle mit wenigen Parametern und wenigen Beziehungen meist leicht zu verifizieren. Da diese Modelle i.d.R. nur triviale Aussagen ergeben, werden komplexere Modelle angestrebt. Höhere Modell- Planung unter Unsicherheit 56 komplexität erhöht aber die Zahl der Parameter und Beziehungen und damit die Möglichkeit, sich Parameterfehler einzuhandeln. Rowe (1977) bezeichnet diesen Zusammenhang als „Information Paradox“: Richtigkeit und Genauigkeit von Modellen stehen in umgekehrt proportionalem Verhältnis zueinander. Je komplexer ein Modell wird, je mehr man also über die Struktur der (Um-)Welt weiß, desto größer wird die Unsicherheit, d. h. die Wahrscheinlichkeit, dass eine der Aussagen nicht zutrifft. 2.2 Versicherungstechnische Sicht des Risikobegriffs Versicherungen beschäftigen sich professionell mit Risiken, weil sie gegen diese versichern. Seit der Einführung der Umwelthaftung interessieren sich Haftpflichtversicherer für Umweltrisiken. Eine Versicherung von Umweltrisiken setzt voraus, dass das Risiko (weitgehend) bekannt ist, d. h. es muss analysiert werden. Bei der Analyse wird differenziert nach stofflichen, organisationsbedingten, standortbedingten und betriebsbedingten Risiken (Fleck 1992, 17). Umweltrisiko ist aus der Sichtweise der Haftpflichtversicherer „ein mit einer Schadeneintrittswahrscheinlichkeit bewertetes Umweltgefahrenpotential“ (Fleck 1992, 16). Das bedeutet, dass im Gegensatz zur naturwissenschaftlichen Sichtweise einerseits das potenzielle Schadensausmaß Eingang in die Risikobestimmung findet, andererseits aber nur Risiken betrachtet werden, die hinreichend genau analysiert bzw. analysierbar und quantitativ beschreibbar sind. Daher werden Folgewirkungen der Technik systematisch unterbewertet (Kollert 1993, 42). Da ökologische Risiken i.d.R. schlecht analysiert, komplex, mit hohen Schäden oder Spätschäden behaftet sind und Umweltgesetze und Grundlagenwissen sich noch entwickeln, wird ihnen die Versicherbarkeit abgesprochen (Helten 1991, 125). Die Bewertung eines Schadens unter Berücksichtigung seines potenziellen Ausmaßes hat in das risk assessment und auch die Umweltverträglichkeitsprüfung Eingang gefunden. 2.3 Gesellschaftswissenschaftliche Aspekte des Risikos Risk assessment ist eine Form der angewandten Politikanalyse und nicht reine wissenschaftliche Untersuchung. Ziel ist nicht in erster Linie, neues Wissen zu produzieren, sondern eine Akzeptanzbasis für politische Entscheidungen herzustellen. Die Ergebnisse unterliegen zeitlichen, finanziellen und Wissensrestriktionen und sind als Expertenmeinung normative Aussagen, die Fachleute aufgrund der Erfahrungen, Werthaltungen und Paradigmata ihrer Disziplinen machen (vgl. Andrews 1988, 86). Daraus resultieren weitere Quellen für Unsicherheiten und somit Risiken, die nicht naturwissenschaftlichen Ursprungs sind. 2.31 Individuelle Betroffenheit Manche Sachverhalte stellen subjektiv (also für ein Individuum) ein hohes Risiko dar, obwohl sie naturwissenschaftlich gesehen ein niedriges sind, und umgekehrt. Während analytisches Risiko nicht zwischen individuell erwünschtem Nervenkitzel Mega-Projekte und Stadtentwicklung 57 (Glücksspiel, Kräftemessen) und unerwünschtem, weil unkontrollierbarem Katastrophenpotenzial (drohende Gefahr, schleichende Gefahr) unterscheidet, liegen in der Wahrnehmung durch die Betroffenen Welten zwischen diesen beiden Erlebnishorizonten (Renn 1993, 72). Subjektive Risikobewertung beruht auf einer intuitiven Schätzung von Gefahren, wie sie im Alltag vollzogen wird. Der entscheidende Faktor für diese Bewertung ist die Kontextabhängigkeit (Abhängigkeit von Begleitumständen). Die relevanten Faktoren für die intuitive Schätzung sind (vgl. Fietkau 1990; Renn 1993, 69): • • • • • • • • • • • Gewöhnung an die Risikoquelle Freiwilligkeit der Risikoübernahme vermeintliche oder tatsächliche Kontrollmöglichkeit des Risikograds wahrgenommene Natürlichkeit versus Künstlichkeit der Risikoquelle Sicherheit fataler Folgen bei Gefahreneintritt (GAU) bzw. der Irreversibilität der Risikofolgen Möglichkeit von weit reichenden Folgen und vielen Betroffenen unerwartete Folgen für die kommende Generation sinnliche Wahrnehmbarkeit von Gefahren Eindruck einer gerechten Verteilung von Nutzen und Risiko Kongruenz zwischen Nutznießer und Risikoträger Existenz verbundener Wahrscheinlichkeiten. Eindruck Welche Rolle die einzelnen Faktoren spielen, hängt erheblich von der Risikoquelle sowie von Wissen, Werten und Wahrnehmungsbereitschaft der Betroffenen ab. Solche individuellen Betroffenheiten und subjektiven Risikobewertungen sind nicht Gegenstand der naturwissenschaftlich-technischen Risikoanalyse und fließen damit auch nicht in die naturwissenschaftliche Aufstellung von Schwellenwerten ein. Die oft zitierten Vergleiche zwischen den beiden Risiken, aufgrund von Zigarettenrauch oder eines GAU4 zu sterben, sind naturwissenschaftlich korrekt, auf der Basis individueller Betroffenheit aber unsinnig, denn das Risiko durch Rauchen ist freiwillig übernommen, man glaubt es kontrollieren zu können und der Schaden liegt v. a. beim Verursacher - alles Faktoren, die beim GAU nicht zutreffen. Politisch abgewogene Standards enthalten solche Bewertungen jedoch in hohem Maße, denn ein politisches Urteil muss abwägen und damit über das Expertenurteil hinausgehen, darf dieses aber auch nicht außer acht lassen. Eine Betrachtung, die nur die naturwissenschaftliche Unsicherheit ins Blickfeld rückt, stellt eine vereinfachte Sichtweise des Informationsflusses im Entscheidungsprozess dar. Danach wird der Unsicherheit durch mehr und genauere (bessere) Information, v. a. durch „bessere“ Modelle und Prognosemethoden, begegnet. Unbestimmte Rechtsbegriffe wie „Stand von Wissenschaft und Technik“ oder „Wohl der Allgemeinheit“ werden von Technikern über private technische Regelwerke ausgefüllt, die bestimmen sollen, was sicher genug ist und welches Risiko eingegangen werden soll. 58 Planung unter Unsicherheit Diese Sichtweise verkennt aber, dass der Informationsbedarf vom Entscheidungsträger bestimmt wird und die Planung daher prozedurale Elemente wie die Antragskonferenz und die Öffentlichkeitsbeteiligung kennt, in deren Rahmen erörtert wird, mit welchen Methoden welche Alternativen auf welche Auswirkungen zu untersuchen sind. Folglich wird hier bereits eine Wertung in Form einer Gewichtung vorgenommen. 2.32 Wertunsicherheit und Risiko Neben den naturwissenschaftlich begründeten Unsicherheitsquellen beinhaltet Planung immer subjektive Elemente (v. a. Werthaltungen), die zu Unsicherheit führen. Welche Auswirkungen sollten vor dem Hintergrund begrenzter Zeit und Mittel vertieft untersucht werden? Wie sind die einzelnen Auswirkungen zu gewichten? Die Risikoanalyse braucht für diese Gewichtungen eine Legitimation in Form von Maßstäben. Diese sind i.d.R. keine entdeckungsbedürftigen Naturphänomene, sondern gesellschaftliche Konventionen, die mit einer wissenschaftlichen Rechtfertigung versehen sind (vgl. Gethmann u. Mittelstrass 1992, 17). Die Existenz verschiedener Auffassungen über Konventionen in Gesellschaften ist die Regel und in unterschiedlichen Werthaltungen begründet. Ob eine naturwissenschaftlich festzustellende Wirkung als Schaden aufgefasst wird, ist eine gesellschaftliche Frage, die politisch entschieden wird. Analytische Unsicherheit kann prinzipiell durch verstärkte Forschung reduziert werden, Reduktion von Unsicherheit bei Werthaltungen bedarf des Konfliktmanagements. Wenn Bewertung anonymisiert und mit Sachzwängen begründet wird, kann nicht mit Vertrauen und Akzeptanz bei den Betroffenen gerechnet werden, denn: Politiker sind dankbar für Sicherheit und Konsens; wenn diese jedoch nicht gut begründet sind, führt das schlicht zu öffentlichem Zynismus über die Untersuchung, ohne Opposition gegen die Entscheidung zu reduzieren (Andrews 1988, 91). Wertunsicherheit kann auch wirkungsvoll durch die Herausgabe allgemeiner Richtlinien reduziert werden. Damit wird die Diskussion auf eine allgemeinere Ebene verlagert. Verwaltungsvorschriften stellen vom Ansatz her einen solchen Versuch dar. Die Vorteile liegen auf der Hand: Vorgehensweisen, die vorgegeben sind, brauchen auf der Projektebene nicht mehr diskutiert zu werden. Nachteilig ist aber, dass nicht alle Aspekte des Einzelfalls antizipiert werden können und hohe Regelungsdichte Kreativität und die Beachtung von Besonderheiten verhindert. Hilfreich wären Richtlinien und Standards, die Spielräume innerhalb einer bestimmten Spanne zur Berücksichtigung des Einzelfalls lassen. Fundierte Risikoanalysen müssen nicht nur Unsicherheit reduzieren, sondern deutlich machen, welche Unsicherheiten trotz allem bleiben. Insgesamt kann das Hauptproblem der Wertunsicherheit nicht gelöst, sondern nur verdeutlicht werden. 2.33 Unsicherheit über benachbarte Entscheidungen Häufig stehen nicht einzelne Entscheidungen zu einem Vorhaben in einem bestimmten Raum zur Debatte, sondern sind Entscheidungen Teil eines größeren Mega-Projekte und Stadtentwicklung 59 Geflechts. Werden z. B. gleichzeitig ein größeres Wohn- und Bürogebiet und eine neue Straße geplant, so geschieht dies oft durch verschiedene Behörden. Für den Straßenquerschnitt sind insbesondere Angaben über die Höhe des zu erwartenden neuen Verkehrs aufgrund der neuen Bebauung erforderlich und umgekehrt für die Frage der zulässigen Wohnungs- und Büroanzahl der genehmigungsfähige Straßenquerschnitt. Wenn benachbarte Entscheidungen in unabhängigen Verfahren durchgeführt werden, dann entsteht Entscheidungsunsicherheit. Diese kann aber durch gegenseitige Information und Koordination der Entscheidungsträger wirkungsvoll reduziert werden. Im deutschen Planungssystem kommt diese Aufgabe der räumlichen Gesamtplanung (Raumordnung und Bauleitplanung) zu. Der Umweltverträglichkeitsprüfung obliegt hier die Aufgabe, Wechsel- und Folgewirkungen offen zu legen, also z. B. darzulegen, inwieweit die neue Straße das neue Wohngebiet mit Lärmbelasten wird und inwieweit sich das neue Wohngebiet auf die Belastung des Straßennetzes auswirken wird. 2.5 Juristische Aspekte des Risikos Entscheidungen sind häufig Gegenstand gerichtlicher Auseinandersetzung, v. a. wenn Wertunsicherheiten bei Betroffenen nicht ausreichend berücksichtigt werden. Zu § 12 UVPG kommentieren Erbguth und Schink (1991, 221 f.): „Gegenstand des Bewertens ist die Beurteilung der zusammenfassenden Darstellung als Risikoabschätzung; es handelt sich also um eine Risikobewertung“. Daher ist es wichtig, auf die Behandlung von Risiken durch die Rechtsprechung einzugehen. Der Risikobegriff ist kein traditioneller Rechtsbegriff wie der Gefahrbegriff. Gefahr setzt die Kenntnis von Umständen, eine Erfahrungsregel oder eine hinreichende Wahrscheinlichkeit der Schädigung von Rechtsgütern voraus. Hinreichende Wahrscheinlichkeit wird dann als gegeben angenommen, wenn mehr dafür spricht als dagegen. Allerdings muss das juristische Gefahrenurteil neben der rechnerischen Wahrscheinlichkeit die Intensität und die Bedrohlichkeit eines möglichen Schadens berücksichtigen. Kurz formuliert wird dies in der „Je-desto-Regel“: „Je gewichtiger das gefährdete Gut und/oder je größer der zu befürchtende Schaden ist, desto geringere Anforderungen sind an die Höhe der Eintrittswahrscheinlichkeit zu stellen.“ (Kloepfer 1993, 65) Der Risikobegriff stellt juristisch gesehen eine Erweiterung des klassischen Gefahrenbegriffs in den Bereich theoretischer Schadensmöglichkeiten hinein dar. Damit ist Risikovorsorge ein Paralleltatbestand zur Gefahrenabwehr, zu dem es einer besonderen gesetzlichen Ermächtigung bedarf (Di Fabio 1991, 357). Juristen sprechen von einem Risiko, wenn ein Schaden möglich ist, der Schadensverlauf und die Eintrittswahrscheinlichkeit aber nicht hinreichend sicher beurteilt werden können. Kloepfer (1993) hat eine begriffliche Differenzierung vorgelegt, die aufgrund ihrer Bindung an die Rechtsordnung gerade im Hinblick auf die Planung und die Umweltverträglichkeitsprüfung hilfreich ist (vgl. Kap. 3.1). Im Vergleich zum naturwissenschaftlichen Risikobegriff ist festzustellen, dass einerseits auch beim juristischen Risikobegriff mit Planung unter Unsicherheit 60 Unsicherheiten gearbeitet wird, andererseits aber noch Schadenshöhen und -intensitäten hinzutreten. Bei Risikoentscheidungen werden naturwissenschaftlich-technische Kompetenz und politisch-rechtliche Entscheidungsverantwortung zusammengeführt. Die Verwendung des Begriffs Risiko in der Rechtsprechung stellt also einen Schritt hin zur Integration der natur- und sozialwissenschaftlichen Risikoaspekte dar und fügt die rechtliche Verantwortung hinzu. Oftmals wird hierbei aber von einer weitgehenden Trennbarkeit von fachlicher Kompetenz und rechtlicher Bewertung ausgegangen, so dass gefordert wird, zunächst wissenschaftlich die Sachverhalte klar darzulegen, um anschließend der Politik eine Entscheidung über das hinzunehmende (Rest-)Risiko zu ermöglichen (vgl. z. B. Arbeitsgemeinschaft für Umweltfragen 1986). So sinnvoll die Forderung nach Trennung von Sach- und Wertebene ist: Wird sie zeitlich vollzogen, wird übersehen, dass Wissenschaft nicht wertfrei arbeiten kann und daher bereits bei der Untersuchung Werthaltungen insbesondere in Form von Gewichtungen einfließen, die gesellschaftlich abgesichert sein müssen. Anzustreben wäre demnach eine Zusammenarbeit von Wissenschaft und Politik bzw. Rechtsprechung bei der Risikoabschätzung anstelle einer sequenziellen Abarbeitung. 2.6 Ökologisches Risiko? Bei der Analyse und Prognose ökologischer Wirkungen besteht eine vergleichsweise große Unsicherheit, die verschiedene Quellen haben kann. Diese Unsicherheit führt zu einem Risiko, welches bis zu einem gewissen Grad statistisch quantifizierbar ist. Aufgrund des Ausmaßes der Unsicherheit kann man nicht a priori behaupten, dass bei der Entscheidungsvorbereitung eine naturwissenschaftlich- technische einer subjektiven Risikobewertung überlegen ist. Die Methodik vergleicht i.d.R. Varianten, indem Aggregatgrößen mit „hoch-mittel-gering“ oder ähnlich eingeschätzt werden. Weil genaue Untersuchungen meist kosten- und zeitaufwändig sind und selbst dann sichere Aussagen kaum möglich sind, werden Begriffe wie Beeinträchtigung oder Empfindlichkeit sehr allgemein benutzt. Abb. 2: Pfeildiagramm (fiktives Beispiel, aus Scholles 1997, 234) Mega-Projekte und Stadtentwicklung 61 Obwohl das Adjektiv „ökologisch“ zunächst eine naturwissenschaftliche Vorgehensweise nahe legt, beinhaltet Ökologisches Risiko die Ermittlung der Beeinträchtigungsintensität und damit über naturwissenschaftliche Erforschbarkeit hinausgehende Werturteile. Hierin ist ein großer Teil der Probleme begründet, die bei der Bewertung von Umweltauswirkungen in der Praxis auftreten. Im Gegensatz zur dargestellten naturwissenschaftlich-technischen Risikoabschätzung und zum risk assessment benutzt die Ökologische Risikoanalyse einen Risikoindex, d. h. es werden aus einzelnen partiell unterschiedlichen Beeinträchtigungsgrößen nach Wenn-Dann-Regeln, die meist als Baum oder Matrix dargestellt werden, aggregierte Risiken gebildet. Dies trägt der komplexen Beeinträchtigungsstruktur Rechnung. Denn durch die vielfachen Wechselbeziehungen übersteigt die Komplexität diejenige der naturwissenschaftlichen und Versicherungsrisiken um Größenordnungen. Gleichzeitig sind ökologische Wirkungen durch Spätfolgen und z. T. hohes Schadensausmaß gekennzeichnet. Bereits bei Bachfischer (1978) besteht eine Diskrepanz zwischen der theoretischen Fundierung des Risikobegriffs und seiner Verwendung in der Ökologischen Risikoanalyse. Eintrittswahrscheinlichkeiten werden nicht ermittelt, so dass das Risiko der Beeinträchtigung mit dem Ausmaß der Beeinträchtigung gleichgesetzt wird, ohne dass eine nähere Begründung erfolgt. Die Übersichtlichkeit und leichte Anwendbarkeit der Methode hat in der Planungspraxis zu bisweilen formal-mechanistischer und wenig reflektierter Abarbeitung geführt. Einige Anwender reduzieren die Methode sogar, ihre Begriffe verzichten völlig auf Zuordnungs- und Aggregationsregeln, so dass die Eingangsgrößen kaum nachvollziehbar sind. Als Ergebnis mehr oder weniger ausführlicher Argumentationen und verbaler Darstellungen wird eine hohe, mittlere oder geringe Beeinträchtigung bzw. Empfindlichkeit konstatiert. So bleibt meist außer acht, gegen welche Auswirkungen die Umweltgüter wie empfindlich reagieren. Um zu einem „Gesamtrisiko“ zu kommen, werden die Einzelrisiken dann teilweise noch ungehemmt saldiert, was bereits formal unzulässig ist. Die Einfachheit der Methode verleitet offensichtlich Gutachter mit geringen methodischen und inhaltlichen Kenntnissen, Umweltauswirkungen pauschal zu beurteilen (vgl. Eberle 1984; Scholles 1997, 155 ff.). Ein Grund für das Unterlassen von Wahrscheinlichkeitsaussagen liegt darin, dass in komplexen Systemen die Aussagemöglichkeit eng begrenzt ist und insbesondere quantitative Bestimmungen meist unredlich sind. Morgan und Henrion (1990, 43) beobachteten jedoch, dass der meistbenutzte Ansatz der Risikobetrachtung in der Planung darin besteht, Unsicherheit schlicht zu ignorieren; sie bezeichnen dies als chronische Planerkrankheit. Die Folge dieser Unterlassung kann aber auch sein, dass bei Außenstehenden der Eindruck entsteht, als würden die aufgezeigten Auswirkungen sicher eintreten. Die zentralen Größen Beeinträchtigungsintensität, Beeinträchtigungsempfindlichkeit und Risiko sind ordinal fünf- bis neunstufig skaliert. Hoppenstedt und Riedl (1992) reduzieren die Zahl der Stufen der Risikoskala sogar auf drei. Diese planungstheoretisch folgerichtige Niveaureduzierung hat einerseits den Vorteil der Integrier- Planung unter Unsicherheit 62 barkeit qualitativer Informationen, führt andererseits aber für einige Umweltgüter, über die bessere Daten vorliegen, zu Informationsverlusten, wenn die Einzelaspekte der Risikoeinschätzung verbal nicht vermittelt werden. Ist der Begriff „Risiko“ in der Ökologischen Risikoanalyse also nur noch Ausdruck der „fehlenden letzten Prognosesicherheit“ (Hoppenstedt u. Riedl 1992, 30) oder muss nicht doch mehr auf gesellschaftspolitische Risikosichten eingegangen werden? Die versicherungstechnische Sichtweise erscheint aufgrund ihrer Betonung der Berechenbarkeit für ökologische Zusammenhänge ungeeignet. Es sollte versucht werden, sowohl die naturwissenschaftlich-technische als auch die gesellschaftswissenschaftlicher Sichtweise bei gleichzeitiger Berücksichtigung juristischer Umsetzbarkeit in die planungsrelevante Risikoanalyse zu integrieren. Die Planung als entscheidungsvorbereitendes und vorsorgeorientiertes Instrument kann sich nicht nur auf analytische Unsicherheit beschränken, sondern muss auf Wertunsicherheiten und subjektive Wertungen eingehen, um damit einen Beitrag zum Konfliktmanagement leisten zu können. Gesellschaftliche Gesichtspunkte des Risikobegriffs können behandelt werden, wenn Verhandlungen über zu erwartende Wirkungen und insbesondere Vermeidungs-, Verminderungs- und Ausgleichsmaßnahmen stattfinden. Diese Verhandlungen sind durch wissenschaftliche Untersuchungen und Abschätzungen zu unterstützen und abzusichern. Um dies leisten zu können, müssten bei der Einschätzung des Ökologischen Risikos Phasen der wissenschaftlichen Untersuchung mit solchen der Verhandlung abwechseln (vgl. De Jongh 1988). 2.7 Zwischenfazit Die oben dargestellten Sichtweisen des Risikobegriffs lassen sich verallgemeinernd wie folgt charakterisieren (Scholles 1997, 24): • Die naturwissenschaftliche Sichtweise zielt auf Unsicherheiten bei der Analyse und Prognose von Wirkungen. • Die versicherungstechnische Sicht stellt die Berechenbarkeit in den Mittelpunkt. • Die gesellschaftswissenschaftliche Sicht stellt die Akzeptabilität von und Konsensbildung über Risiken in der Vordergrund. • Die juristische Sicht beschäftigt sich mit staatlichem Eingreifen und muss dazu sowohl Eintrittswahrscheinlichkeit als auch Schadenshöhe berücksichtigen. • Planung soll Unsicherheit reduzieren, akzeptiert werden und rechtssicher sein. Daraus ergeben sich als die beiden zentralen Größen für die Risikobestimmung die Eintrittswahrscheinlichkeit und die Schadensintensität und somit: Risiko = Schadensintensität * Eintrittswahrscheinlichkeit Mega-Projekte und Stadtentwicklung 63 3. Weiterentwicklung der Ökologischen Risikoanalyse 3.1 Eintrittswahrscheinlichkeit Die Anforderung, Eintrittswahrscheinlichkeiten von Wirkungen bei Verträglichkeitsprüfungen abzuschätzen, ergibt sich aus zwei Gesichtspunkten: • Die Wahrscheinlichkeit der Beeinträchtigung ist Bestandteil fast aller Risikodefinitionen (s. o.). • Die Abschätzung ist z. B. bei der Umweltverträglichkeitsprüfung rechtlich gefordert. Alle theoretischen Risikodefinitionen lassen sich auf einen Zusammenhang zwischen Schadensintensität und Eintrittswahrscheinlichkeit zurückführen. Ziel der Planung muss es sein, für politische Entscheidungen eine rationale Grundlage abzuliefern, die sowohl gut begründet als auch von der Öffentlichkeit als legitim und akzeptabel betrachtet wird (Andrews 1988, 85). Das heißt, auch die Genauigkeit der Abschätzung der Eintrittswahrscheinlichkeit muss entscheidungsorientiert sein. Scholles (1997, 215ff.) hat einen Vorschlag zur ordinalen Klassifizierung von Eintrittswahrscheinlichkeit im Rahmen von Verträglichkeitsprüfungen unterbreitet. Er orientiert sich dabei an den umweltpolitischen Prinzipien Vorsorge, Gefahrenabwehr, Sanierung als minimaler Aussagegenauigkeit und schlägt vor, nur in Einzelfällen, soweit redlich und verhältnismäßig, weiter gehende Aussagen zu treffen. Dabei zielt die Gefahrenabwehr i.d.R. auf wahrscheinliche Auswirkungen, während Umweltvorsorge auch auf mögliche Auswirkungen abzustellen hat - in Abhängigkeit von der Schadensintensität. Daraus resultiert der in Tabelle 1 vorgestellte Vorschlag. Die Extremwerte sicher und unmöglich sind klar zu definieren, dürften aber in der Natur selten zu prognostizieren sein, da man es i.d.R. mit mehr oder weniger großen Unsicherheiten zu tun hat. Die Abgrenzung zwischen wahrscheinlichen und möglichen Auswirkungen ist ebenfalls leicht zu definieren: die Auswirkungen, die mit mehr als 50% Wahrscheinlichkeit eintreten, also statistisch in mehr als der Hälfte der Fälle, sind wahrscheinlich, solche, die in weniger als der Hälfte der Fälle eintreten, sind möglich, d. h. die Wirkung kann eintreten, sie kann nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden. Eine vorsorgeorientierte Einschätzung und Bewertung hat solche Auswirkungen einzubeziehen, v. a. wenn sich die Bewertung auf Zulässigkeitsvoraussetzungen wie die Eingriffsregelung stützt, die das Wort „kann“ beinhalten. Die Differenzierung von Wahrscheinlichkeit und Möglichkeit ist inzwischen auch rechtlich weitgehend anerkannt (Kloepfer 1993, 57ff.; Kolodziejcok u. Recken 1977ff., 1125, Rnr. 6; Peters 1994, 32). Eine Berücksichtigung wahrscheinlicher Auswirkungen wird also anders aussehen als eine Berücksichtigung lediglich möglicher Auswirkungen. Darüber hinaus kann es in der Praxis sinnvoll erscheinen, für sehr wahrscheinliche und sehr unwahrscheinliche Auswirkungen weitere Prädikate einzuführen, statistisch Planung unter Unsicherheit 64 gesehen also für die Bereiche der Gaußschen Normalverteilung, die asymptotisch verlaufen. Daher wird vorgeschlagen, für Auswirkungen, die nicht sicher sind, aber nach den Maßstäben praktischer Vernunft eintreten werden, sowie für solche, die nicht unmöglich sind, aber nach denselben Maßstäben kaum eintreten werden, die Begriffe sehr wahrscheinlich bzw. unwahrscheinlich einzuführen. Mit besonders hoher Wahrscheinlichkeit eintretende Auswirkungen sind in der Abwägung besonders zu berücksichtigen, sehr wenig wahrscheinliche i.d.R. nicht. Schließlich dürften immer noch Fälle verbleiben, in denen die Kenntnislücken so groß sind, dass eine Aussage nicht vertretbar ist. Diese sollen als unwägbar bezeichnet werden. Wenn nicht alle Stufen belegbar sind, sollte deren Anzahl einzelfallorientiert reduziert werden. Die vorgeschlagene ordinale, an rechtlichen Kategorien orientierte Herleitung dürfte sowohl gutachterlich leistbar als auch entscheidungsrelevant sein. Sie ist zwar pragmatisch, gewährleistet dadurch aber die Vergleichbarkeit der einzelnen Aussagen. Dass hier naturwissenschaftliche und juristische Gesichtspunkte im Vordergrund stehen, ist beabsichtigt. Gesellschaftliche Anforderungen können in Aggregationsvorschriften nicht abgebildet werden; sie sollten durch die Prozeduralität des gesamten Vorgehens aufgenommen werden. 3.2 Klassifikation von Belastungen Bei der Einschätzung des Zustands der Umweltgüter sind spezifische, fachwissenschaftlich begründete Vorgehensweisen für jedes Umweltgut notwendig. Teilweise können hierzu Umweltgesetze oder untergesetzliche Regelungen herangezogen werden, jedoch sind die hierin enthaltenen Rechtsbegriffe meist für eine direkte Umsetzung zu abstrakt. Zur fachlich begründeten Klassenbildung werden naturraumspezifische Referenzen benötigt, die aus regionalen oder kommunalen Umweltqualitätszielen abzuleiten sind, insbesondere bei der Einschätzung des Zustands der Umweltgüter. Dies gilt sowohl für die Einschätzung des aktuellen Zustands (der Vorbelastung) als auch für die Einschätzung prognostizierter Zustände (Entlastungen oder Zusatzbelastungen durch das Vorhaben bzw. die verschiedenen Varianten). Durch die Orientierung an Umweltqualitätszielen, die nicht durch den Gutachter gesetzt werden, wird die geforderte Entscheidungserheblichkeit der Untersuchungen erreicht. Damit können die Relevanzbäume der Risikoanalyse zumindest teilweise auf sicherere und legitimierte Füße gestellt werden. Absolute, aus Umweltqualitätszielen abgeleitete Aussagen sind gegenüber relativen vorzuziehen, weil sie durch die meisten Rechtsbegriffe gefordert werden und daher entscheidungserheblich sind. Die Ökologische Risikoanalyse ermöglicht die Verwendung mehrerer, unterschiedlich anspruchsvoller Maßstäbe auf einer Skala. Die Skalierung sollte mithilfe eines Relevanzbaums verdeutlicht werden. Für das Umweltgut Pflanzen soll hier beispielhaft die Kaule-Skala (s. Tab. 2) angeführt werden, die inzwischen allgemein anerkannt ist. Sie wurde für den hier betrachteten Zusammenhang mit geänderten Codes für die Stufen versehen (Scholles 1997, 212 f.). Mega-Projekte und Stadtentwicklung 65 3.3 Ökologisches Risiko der 2. Generation Ökologisches Risiko ergibt sich aus der Verknüpfung der ordinal skalierten Größen Beeinträchtigungsintensität und Eintrittswahrscheinlichkeit. Beeinträchtigungsintensität wiederum ergibt sich aus der logischen Addition von Vor- und Zusatzbelastung. Da die Einschätzung entscheidungsrelevant sein soll, sind Begriffe anzustreben, die sowohl fachlich als auch juristisch interpretierbar sind. Die in Tabelle 3 aufgeführten und definierten Begriffe können Rechtsfolgen auslösen. Die auch rechtlich verwendbaren Begriffe werden hier fachlich belegt, ebenso wie die Naturwissenschaft fachliche Vorgaben für politisch zu beschließende Umweltqualitätsziele macht (Fürst et al. 1992). Die Behörden sind daran nicht gebunden und können zu anderen Ergebnissen kommen. In erster Näherung kann man die drei Handlungsebenen der Umweltpolitik Sanierung - Gefahrenabwehr - Vorsorge unterscheiden (s. Tab. 3). Sanierung greift bei eingetretenen Beeinträchtigungen, Gefahrenabwehr bei drohenden Beeinträchtigungen, Vorsorge ist bemüht, Beeinträchtigungen (auch langfristig) gar nicht erst entstehen zu lassen. Weil Vorsorge Risiken möglichst gering zu halten versucht, ist eine Differenzierung des Risikobegriffs sinnvoll. Dabei wird im Wesentlichen Kloepfer (1993) gefolgt. Weiter gehende Erläuterungen finden sich bei Scholles (1997, 232 ff.). Ob die Aufstellung einer Präferenzmatrix als Aggregationsvorschrift sinnvoll ist, muss im Einzelfall geklärt werden. Es bedarf auf jeden Fall einer Erläuterung durch eine verbale Argumentation. Die vorgeschlagene Skalierung beruht darüber hinaus auf drei Größen (Wertigkeit des Umweltguts, Intensität der Beeinträchtigung und Eintrittswahrscheinlichkeit), so dass die Matrix durch einen Quader ersetzt werden müsste. Dieser ist jedoch kaum noch übersichtlich darstellbar. Die zwingende Verwendung klar definierter Begriffe soll intuitive Einschätzungen verhindern. Für die Entscheidung wird nicht nur die Information über das Ökologische Risiko durch das Vorhaben von Interesse sein, sondern auch die Veränderung gegenüber dem Zustand, so dass sich eine Veranschaulichung anhand von Pfeildiagrammen in Anlehnung an Krämer und Lohrberg (1994) anbietet (s. Abb. 2). Die Einschätzung des Ökologischen Risikos soll für jedes Umweltgut und darüber hinaus für strukturelle und stoffliche Veränderungen getrennt erfolgen; eine weiter gehende Aggregation sollte man unterlassen. Dieser Schritt muss der (umweltinternen) Abwägung nach vorangehender Gewichtung vorbehalten bleiben. Die Aggregation muss daher separat erfolgen. 3.4 Ökologische Risikoanalyse und fuzzy sets Da wir es in der Umweltplanung häufig mit unsicherer und unscharfer, nur ordinal skalierter Information zu tun haben, bietet sich die Untersuchung an, ob fuzzy logic logic, die sich mit unscharfen Begriffen und Regeln befasst, speziell der Ökologischen Risikoanalyse weiterhilft. Die auf dem unscharfen Denken beruhenden fuzzy sets wurden ab 1965 durch Lotfi Zadeh in die Diskussion gebracht. 66 Planung unter Unsicherheit Im Hinblick auf unseren Zusammenhang ist von vornherein klarzustellen, dass fuzzy sets Qualitäten beschreiben, die nicht eindeutig sind, indem sie den Grad der Mitgliedschaft eines Objekts zu einer Menge angeben. Sie haben jedoch nichts mit Wahrscheinlichkeiten, also dem Grad des Zutreffens einer Aussage oder des Eintritts eines Ereignisses zu tun. Daher können wir uns mit ihnen nur den unscharfen Begriffen und Regeln der Risikoanalyse widmen, nicht jedoch Eintrittswahrscheinlichkeiten berechnen. Ein gewichtiges Problem der Ökologischen Risikoanalyse ist der Informationsverlust durch Klassifizierung bei genaueren, kardinal skalierten Inputdaten, wie z. B. Lärmbelastung in dB(A), stoffliche Belastung von Boden, Wasser, Luft. Hier wird mithilfe von tabellarischen Zuordnungen oder Relevanzbäumen klassifiziert, Resultat sind ordinal skalierte Daten. Nötig ist dies, um die Aggregation mit unpräzisen, von vornherein nur ordinal vorliegenden Daten vornehmen zu können. Fuzzy sets bieten hier eine Alternative, indem sie mithilfe der Fuzzyfizierung kardinale in ordinale Größen umskalieren, diese mithilfe von Wenn-Dann-Regeln, wie sie auch die Ökologische Risikoanalyse verwendet, aggregieren und den ordinal skalierten Output durch Defuzzyfizierung in ein kardinal skaliertes Ergebnis zurückskalieren. Zu den Einzelheiten s. z. B. Drösser (1994) oder Kruse et al. (1995). Fuzzy logic hat inzwischen in der Regelungs- und Steuerungstechnik weite Verbreitung gefunden. Damit bieten sich folgende Einsatzfelder innerhalb der Ökologischen Risikoanalyse an: • Aggregation von kardinal mit ordinal skalierten Daten mit geringerem Informationsverlust • Klassifizierung kardinal skalierter Inputdaten bei fließenden Übergängen, dabei Ersatz fester Grenzen durch sich überlagernde fuzzy sets, damit Ersatz des Relevanzbaums bei kardinal skaliertem Input. • Bestimmung der Intensität von Auswirkungen, wenn genaue Messungen nicht möglich oder unverhältnismäßig sind und Expertenurteile voneinander abweichen • Bestimmung von Eintrittswahrscheinlichkeit, wenn diese nicht berechnet werden kann • Interpretation des Ergebnisses, wenn es nahe am Rand einer Klasse liegt oder die Klassenzugehörigkeit unklar ist, also ob z. B. Zerstörung oder „nur” Schaden (s. Tab. 3) festzustellen ist. Eine eingehende Untersuchung dieser Potenziale steht noch aus. Eine erste Fallstudie von Eberle (1994) ist ermutigend verlaufen. Es zeigen sich jedoch auch bereits Probleme: • Die Bestimmung des Grads der Mitgliedschaft (membership membership degree degree) ist nicht frei von Willkür und schwer nachvollziehbar. • Die Zahl der nötigen Wenn-Dann-Regeln kann enorme Ausmaße annehmen. Mega-Projekte und Stadtentwicklung 67 Wenn Vor- und Zusatzbelastung jeweils einschließlich „nicht erhoben” zehn und Eintrittswahrscheinlichkeit sieben Klassen hat, dann ergeben sich theoretisch 700 Einzelregeln für die Ermittlung des Risikos. Allerdings sind nicht alle Regeln sinnvoll: wenn irgendwo ein X (für nicht erhoben oder unwägbar) auftritt, muss immer X (Forschungsbedarf) das Ergebnis sein. Und nicht jede Eintrittswahrscheinlichkeit ist bei jeder Belastung relevant. • Morgan und Henrion (1990, 61) bezweifeln, ob fuzzy sets menschliche Vorstellungen gut abbilden. Sie empfehlen, sprachliche Unklarheiten durch intensiveres Nachdenken zu beseitigen. Allerdings passt die unscharfe Logik auch nicht in ihren insgesamt naturwissenschaftlichen, auf mathematische Genauigkeit ausgerichteten Ansatz der quantitativen Risikobehandlung. Anmerkungen 1 2 3 4 vgl. z. B. Andrews (1988); Morgan u. Henrion (1990); Starr (1969); Suter II (1990); Suter II et al. (1987) dass z. B. die Arznei nicht nur die gewünschten und bekannten Wirkungen hat „use a selected method against a known standard” (De Jongh 1988, 70) Größter anzunehmender Unfall in einem Kernkraftwerk Literatur Andrews, R.N.L. (1988): Environmental Impact Assessment and Risk Assessment: Learning from Each Other. In: Wathern P (Hrsg): Environmental Impact Assessment. Theory and Practice, London, 85-97. Arbeitsgemeinschaft für Umweltfragen e.V. (Hrsg 1983); Statusseminar „Umweltstandards“, Bonn. Aulig, G.; Bachfischer, R.; David, J.; Kiemstedt, H. (1977): Wissenschaftliches Gutachten zu ökologischen Planungsgrundlagen im Verdichtungsraum Nürnberg - Fürth - Erlangen - Schwabach, München. 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C wahrschein- Wirkung wird in 50% < Intensivierung der landwirtschaftlichen lich mehr als der n< Nutzung infolge Flächenverlusts Hälfte der Fälle 95% eintreten. D möglich Wirkung kann 5%< n Bodenkontamination durch eintreten, d. h. in < 50% wassergefährdende Stoffe infolge von weniger als der Verkehrsunfällen Hälfte der Fälle, ihr Eintritt ist jedoch nicht von der Hand zu weisen. E unwahrWirkung wird 0% < n Bodenkontamination oder Gewässerscheinlich nach praktischer < 5% verunreinigung durch Sabotage einer Vernunft nicht Anlage eintreten. F unmöglich Wirkung kann n=0% Schadstoffeintrag ins Grundwasser bei nicht eintreten. Vollversiegelung X unwägbar Eine Abschätzung ??? Krebs als Folge des Wohnens in der ist aufgrund von Nähe von Freileitungen Unkenntnis nicht vertretbar. 1 Wenn die Eintrittswahrscheinlichkeit berechnet werden kann, sollte der errechnete Wert zusätzlich angegeben werden. Tabelle 1: Eintrittswahrscheinlichkeit (aus: Scholles 1997, 216) Stufe A Bezeichnung international bzw. gesamtstaatlich bedeutsam Erläuterung NP, BR (Zone I), NSG, § 20c-Biotope, FFH-Schutzgebiete. Seltene und repräsentative, natürliche und extensiv genutzte Ökosysteme. I.d.R. alte und/oder oligotrophe Ökosysteme mit Spitzenarten der Roten Listen, geringe Störung, große Flächen (soweit vom Typ möglich) B landesweit bedeutsam BR (Zone I), NSG, ND, § 20c-Biotope, wie A, jedoch weniger gut ausgebildet sowie Einzelschöpfungen C regional bedeutsam LSG, BR (Zone II), kleinere NSG, größere LB. Nicht oder extensiv genutzte Flächen mit Arten der Roten Liste zwischen Wirtschaftsflächen, regional zurückgehende sowie oligotraphente Arten, Restflächen der Typen von A und B, Kulturflächen, in denen regionale zurückgehende Arten noch zahlreich vorkommen D lokal bedeutsam ggf. LB, kleinere Ausgleichsflächen zwischen Nutzökosystemen (Kleinstrukturen). Unterscheidet sich von C durch Fehlen oder Seltenheit von oligotraphenten und Rote-Liste-Arten. Bedeutend für Arten, die in den eigentlichen Kulturflächen nicht mehr vorkommen E verarmt Nutzflächen, in denen nur noch wenig charakteristische Arten vorkommen. Die Bewirtschaftungsintensität überlagert die natürlichen Standorteigenschaften. Grenze der "ordnungsgemäßen Land- und Forstwirtschaft" F stark verarmt Nutzflächen, in denen nur noch Arten eutropher Standorte bzw. die Ubiquisten der Siedlungen oder die widerstandsfähigsten Ackerunkräuter vorkommen. Randliche Flächen werden belastet G belastend Nur für sehr wenige Ubiquisten nutzbare Flächen, starke Trennwirkung, sehr deutlich Nachbargebiete belastend H stark belastend Fast vegetationsfreie Flächen. Durch Emissionen starke Belastungen für andere Ökosysteme von hier ausgehend I weitgehend unbelebt Vegetationsfreie Flächen. Durch Emissionen sehr starke Belastungen für andere Ökosysteme von hier ausgehend X nicht erhoben Nicht Bestandteil des Untersuchungsgebiets, nicht zugänglich oder Entwicklung unklar Tabelle 2: Klassifikation der Vorbelastung und Zusatzbelastung des Schutzguts Pflanzen (aus: Scholles 1997, 224, nach Kaule 1986). Stufe A Umweltpolitisches Prinzip Sanierung Bezeichnung Zerstörung Erläuterung katastrophale Schutzgutausprägung, Schutzgut vollständig irreversibel verändert B Schaden Schutzgut in Teilen irreversibel verändert, Gefährdung sicher, Sanierungsbedarf C Gefahren- Gefahr Beeinträchtigung des Schutzguts erkennbar, abwehr Gefährdung sehr wahrscheinlich oder wahrscheinlich (und aus Umweltsicht nicht hinnehmbar) D GefahrengleiBeeinträchtigung eines gewichtigen Schutzguts ches Risiko erkennbar, Gefährdung wahrscheinlich oder möglich (und aus Umweltsicht nicht hinnehmbar) E Vorsorge GefahrenBeeinträchtigung des Schutzguts erkennbar, verdacht Überschreiten der Gefahrenschwelle möglich, Überschreiten der Restrisikoschwelle sehr wahrscheinlich F Risiko i.e.S. Schleichende, nicht direkt erkennbare Beeinträchtigung des Schutzguts, Überschreiten der Gefahrenschwelle unwahrscheinlich, Überschreiten der Restrisikoschwelle wahrscheinlich G Risikomöglichkeit Beeinträchtigungen können durch Maßnahmen weitgehend vermieden oder ausgeglichen werden, Überschreiten der Restrisikoschwelle möglich H Restrisiko Veränderungen bleiben innerhalb der regionalen Schwankungsbreite, Schutzgutbeeinträchtigung unwahrscheinlich, staatliches Eingreifen nicht möglich X Forschungsbedarf keine Risikoeinschätzung möglich Tabelle 3: Klassifizierung des Ökologischen Risikos (aus: Scholles 1997, 231) Mega-Projekte und Stadtentwicklung 71 Jochen Hanisch DAS ELEND DER RAUM- UND UMWELTPLANUNG IM PRAKTIZIERTEN NEOLIBERALISMUS: Das Beispiel der Erweiterung der Airbus-Produktionsanlagen in Hamburg 1. Planungstheoretische Fragestellungen 1.1 Der Fall Airbus und seine Implikationen für die Planungstheorie Die Erweiterung der Airbus-Produktionsflächen in eine Flachwasserbucht der Elbe ist von überregionalem Interesse: • Mit der EADS- Entscheidung für den Super-Airbus (Post-Jumbo-Klasse) und für den Bau einer eigenständigen westeuropäischen Version eines weltweit einsetzbaren Militärtransportflugzeugs soll das letzte US-amerikanische Monopol im Militär- und Zivilflugzeugbau gebrochen werden. • Die norddeutschen Regierungschefs träumen davon, an der Unterelbe eine Technologieregion zu etablieren, die sich mit dem Boeing-Standort Seattle und der Airbus-Zentrale Toulouse den Weltluftfahrzeugmarkt teilt. • Mit der „Jahrtausendentscheidung” (weniger pathetisch: Jahrhundertentscheidung) für eine Teilfertigung des A 380 in Hamburg wird die „patriotische“ Verpflichtung beschworen, kleinkrämerische Bedenken zugunsten der industriepolitischen Zukunft ganz Norddeutschlands zurückzustellen. • Vorläufiger Höhepunkt der Kampagne ist der Appell einer Allianz aus Wirtschaft und Gewerkschaften, in der es heißt, zwischen Gewerkschaften und Unternehmensverbänden passe kein Blatt Papier in der Frage um den Bau des Super-Air-Bus A 380 in Hamburg (Hamburger Abendblatt v. 27./28.1.01). (Alle diese Aussagen 72 Das Elend der Raum- und Umweltplanung im praktizierten Neoliberalismus gehen auf Presseveröffentlichungen der Hamburger Lokalpresse zurück). Trotz des Wertschöpfungsanteils von nur 5 % am Bau des Super-Airbaus A 380 war eine ganze Region von der Vorstellung euphorisiert, zu einem zweiten „SiliconValley, Seattle und Toulouse“ gleichzeitig werden zu können. Folgerichtig demonstrierte in Hamburg im Januar 2002 ein Bündnis aus Unternehmerverbänden, Parteien und Gewerkschaften für das industrielle Großprojekt „Airbus-Flächenerweiterung“. Kritischen Einwendern wurde und wird kleinkrämerischer Provinzialismus vorgeworfen, der, sollte er sich durchsetzen, zum Zusammenbruch der norddeutschen Ökonomie führen würde. Das Airbus-Projekt steht paradigmatisch für das Konzept der „wachsenden Stadt“, wonach sich Hamburg in die Reihe von Städten und Metropolregionen einreiht, die sich erfolgreich vom allgemeinen Trend der „Schrumpfung“ abkoppeln. Allen Beschwörungen der Weltgeltung der „Metropolregion“ zum Trotz ist mit dem Projekt „Airbus-Erweiterung“ auch eine kommunale Kirchturmspolitik verbunden, in der eifersüchtig darauf geachtet wird, dass jeder externe Euro oder Dollar innerhalb der Grenzen der Hansestadt investiert wird. Das hat System: Eine Koordination der norddeutschen Länder und Hafenstädte um Flussvertiefungen, Hafenausbauten und Industrieflächenausweisungen kam nie zustande und aktuell zeichnet sich ein Remake des bekannten Schlagers „Elbevertiefung“ ab. Während in Niedersachsen an einem Tiefwasserhafen gebaut wird, der den Hamburgern Anteile am Container-Verkehr abjagen soll, wird es in Hamburg wieder zu patriotischen Pflicht, Steuermittel für Flussvertiefungen und Hochwasserschutzmaßnahmen auszugeben, damit die öffentlichen Investitionen in Niedersachsen möglichst erfolglos bleiben. Wie das System funktioniert, hat Jörg Heimbrecht (1984) in seinem Buch „Das Milliardending“ unvergesslich dokumentiert – kein Wunder, dass das Buch nur noch antiquarisch zu erhalten ist. Im Fall Airbus gibt es eine Analogie. Der Standort Rostock-Laage galt lange Zeit als ebenso geeignet, den Super-Airbus zu lackieren und mit Sitzreihen auszustatten. Eine kooperative Lösung (Entwicklungsarbeiten und Teilefertigung in Hamburg, Endfertigung und Auslieferung in Rostock) hätte zu einem Demonstrationsprojekt für ein Planungskonzept werden können, das den Namen „regionale Entwicklungsplanung“ wirklich verdient hätte und mit dem die Steuermillionen möglicherweise wirkungsvollere Struktureffekten gehabt hätten. Der Vorwurf des standort- und industriefeindlichen Provinzialismus nutzt sich in der Realität aber ab. Immer wieder gibt es Projekte, die zu Jahrhundertgelegenheiten stilisiert wurde: Vor wenigen Jahren war es der Transrapid zwischen Hamburg und Berlin, der Hamburgs Weltgeltung unterstreichen und fördern sollte und der dann aus betriebswirtschaftlichen Gründen von der interessierten Industrie fallen gelassen wurde (siehe unten). Dann war (und ist) es die Umwandlung eines Hafenareals zur Cityerweiterung nach 1996 als „HafenCity“. Mit Hilfe der Olympischen Spiele sollte das Großprojekt HafenCity per Huckepack-Prinzip zu einem Megaprojekt der Umwandlung des mittleren und östlichen Freihafens und zur städtebaulichen Anbindung des südlich gelegenen Harburg befördert werden. Die HafenCity muss, wie sich ge- Mega-Projekte und Stadtentwicklung 73 zeigt hat, ohne die Olympiade auskommen, hilfsweise erhoffen sich die Stadtstrategen nun einen Impuls durch eine Internationale Gartenbauausstellung (IGA), die im Jahre 2012 in Wilhelmsburg stattfinden soll. Heute verlautet aus gut informierten Kreisen, dass das Mega-Projekt HafenCity an strukturellen Problemen krankt, vom „Scheitern“ der ambitionierten städtebaulichen Ziele bedroht sei und man über kurzfristige Rettungsstrategien nachdenken müsse.1 Wer weiß, welche Mega-Projekte in den kommenden Jahren für Aufregung und Publicity sorgen werden. Am Beispiel des Transrapid wird immer wieder auf den Bürokratismus und die „rückwärtsgewandten Fortschrittsverhinderer“ verwiesen, die daran Schuld seien, dass zukunftsweisende Technologien in Deutschland keine Chance hätten. Tatsache ist, dass die Transrapid-Strecke Hamburg-Berlin unter dem Regime der Planungsbeschleunigung in sehr kurzer Zeit durch die Planungsinstanzen getrieben und fast vollständig „planfestgestellt“ worden war. Dass die Strecke nicht gebaut wurde, lag daran, dass Bund, Länder und Deutsche Bahn AG ihre Bereitschaft zur Übernahme der ökonomischen Risiken deutlich begrenzt hatten und sich die private Wirtschaft ohne weitere staatliche Absicherung vom Projekt zurückzog (aber das wäre ein eigenes Kapitel der Geschichte über die mythischen Wirkungen von Großprojekten). Tatsache ist auch, dass das Großprojekt „Airbus-Industrieflächenerweiterung“ nur zustande kam und kommt, weil der Staat die Planungs- und Erschließungskosten in Höhe von bisher bekannten ca. 6-800 Mio € aus Steuermitteln finanziert – ohne dass die Industrie ihrerseits einklagbare Verpflichtungen eingehen musste. Wir erleben gegenwärtig eine paradoxe öffentliche Situation. Der Staat soll sich als „planende und steuernde Instanz“ zurückziehen, die Steuerlast soll weiter gesenkt werden (große Konzerne vermögen durch Verlustabschreibungen von Teilbetrieben ihrer Steuerpflicht sogar ganz zu entgehen – aber auch das wäre ein eigenes Kapitel) während gleichzeitig vom Staat enorme direkte und indirekte Steuerbeihilfen bei Investitionsentscheidungen abverlangt werden. Bund, Länder und Kommunen müssen unter erheblichem Druck Projekte subventionieren, deren Erfolg nicht gesichert ist, ohne gleichzeitig die Möglichkeit zu haben, „öffentliche Mittel“ zurück erstattet zu bekommen, wenn versprochene Ziele nicht erreicht werden. Der „Staat“ wird reduziert auf die Rolle des „Investitionsermöglichers“, ohne über die Potenzen zu verfügen, über das „ob, wo und wie“ eines Vorhabens mit entscheiden zu können. Die planungstheoretisch zu behandelnden Fragen sind bei unserem Fall also (vorerst): • Hätte es für die Entscheidung in Hamburg für die Erweiterung des Airbus-Geländes in die Flachwasserbucht der Elbe (Mühlenberger Loch) eine sinnvolle Alternative gegeben? • Stehen die Investitionen der öffentlichen Hand in das Planungsverfahren und die Industrieflächenerschließung von ca. 600-800 Mio € in einem rational vertretbaren Verhältnis zu dem zu erwartenden Nutzen? • Sind die „enteignungsgleichen” Folgen des Vorhabens (Wertminderungen an Grundstücken in Hamburg und Niedersachsen), Lärm, Schadstoffeinträge in Das Elend der Raum- und Umweltplanung im praktizierten Neoliberalismus 74 Freizeit- und Erholungsgebiete und hochwertige Landwirtschaftsflächen usw. legitimiert durch einen adäquaten Nutzen für die Allgemeinheit? • Gibt es „Sicherheiten” für den Staat, dass seine Investitionen aus Steuermitteln für den Fall, dass die erhofften Projektwirkungen nicht eintreten, von der subventionierten Industrie rückerstattet werden? Und allgemeiner: • Kann angesichts der behandelten Projektdimensionen von einer staatlichen (gesellschaftlichen) Gestaltungsmacht gesprochen werden? • Spielen im gegenwärtigen Wirtschafts- und Sozialstrukturwandel und dem begleitenden gesellschaftspolitischen Wandel normative Ziele wie „Nachhaltigkeit“ (im Sinne der Rio-Konvention) überhaupt noch eine nennenswerte Rolle? • Lassen sich nach den Prinzipien einer diskurs- und kooperationsorientierten Planungskultur (perspektivischer Inkrementalismus) strukturelle Machtungleichgewichte ausgleichen? • Oder: Müssen wir nicht neu über „umfassende” (comprehensive) comprehensive) Planungs- und comprehensive Steuerungsansätze nachdenken? 1.2 Wissenschaft und Technik als Garanten des Fortschritts Wenn sich die ökonomische Basis durch die Verbindung von wissenschaftlichem und technologischem Fortschritt verändert, folgen daraus soziale Umwälzungen, die zu Konflikten führen, die geregelt werden müssen. Solche Umwälzungen können revolutionären Charakter annehmen. Diese Erkenntnis wurde von Karl Marx und Friedrich Engels (1997) im kommunistischen Manifest von 18472 formuliert – wegen der Aktualität der Formulierungen sei es gestattet, ein ausführlicheres Zitat als Fußnote anzufügen. Die Begleiterscheinungen solcher Veränderungen machen regulierende gesellschaftliche Eingriffe notwendig. Wir leben in einer solchen grundlegenden Transformationsphase, für die schon einmal der Begriff der neoliberalen Revolution geprägt worden ist.3 Die planungstheoretische Debatte kreist seit Jahren um die Frage, ob und wieweit auf gesellschaftliche Transformationsprozesse planerisch reagiert werden kann bzw. soll. In der mittlerweile als klassisch geltenden Planungsgeschichte von Gerd Albers (1993) wird dargestellt, wie sich die staatliche Stadt- und Regionalplanung in Abhängigkeit von den Reproduktionsanforderungen der Ökonomie entwickelte. Bei allen Differenzen im Detail besteht hierin breite Einigkeit. Der Streit zwischen Albers und Selle, ob es diese Geschichte als Phasen- oder Schichtenmodell (Selle 1996: 55) adäquat zu beschreiben sei, berührt nicht die Substanz der Grundaussage. Die von Albers für die Zeit bis ca. 1960 skizzierte Anpassungsplanung vermochte die strukturellen Verwerfungen in den westlichen Industriegesellschaften seit Anfang der 60er Jahre nicht mehr zu bewältigen. Die Krise war umso gefährlicher, als sich das östliche Konkurrenzmodell des europäischen Fortschrittsparadigmas trotz Kriegszerstörun- Mega-Projekte und Stadtentwicklung 75 gen, ökonomischer Blockade und Kaltem Krieg als relativ stabil behauptete. Zwei Ursachen bildeten den Hintergrund für den Wandel des Planungsverständnis in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts: erstens der technologische und ökonomische Strukturwandel, der die alten Montanregionen Ruhr- und Saargebiet in eine tiefe Krise stürzten und dessen soziale Folgen bis heute, ein halbes Jahrhundert später, noch immer nicht bewältigt sind (Bömer 2000) und zweitens die gesellschaftspolitische Diskussion um die Szenarien über das „Ende des Wachstums“ aufgrund allgemeiner Ressourcenerschöpfungen und Umweltvergiftungen. Die Lösung der Umwelt- wie der ökonomischen Strukturprobleme verlangte nach umfassenden Reformen des Bildungs-, Wissenschafts- und Planungssystems (vgl. Küppers et al 1978). Im Auftrag der Bundesregierung arbeitete eine Expertenkommission seit 1971 (Kommission 1977) an Konzepten zur Bewältigung des Wirtschafts- und Sozialstrukturwandels. Darin wurden die Elemente einer umfassenden Entwicklungsplanung entwickelt. Der hohe Stellenwert, den die Wissenschaft in dieser Periode erlangte, sei hier hervorgehoben. Ganz selbstverständlich – und eher unbewusst – wurde unterstellt, dass die Verwissenschaftlichung der Politik zu demokratischen und zu materiellen Fortschritten führen würde. Damit knüpfte die Gesellschaft an die Tradition neuzeitlicher Wissenschaften an, wonach diese einen Beitrag zum technischen und humanen Fortschritt leisten müssten (Francis Bacon im 17. Jahrhundert, vgl. Böhme 1993:9ff). Das Baconsche Programm erfüllte sich im 19. und 20. Jahrhundert, zumindest, was die technische Beherrschung der Natur betraf, und fand im „wissenschaftlichen Sozialismus“ und in der Planungs-, Bildungs- und Wissenschaftspolitik der 70er Jahre in den westlichen Industriestaaten seinen Höhepunkt. In der Wirkungsgeschichte hat sich das Baconsche Bild verändert, wissenschaftlicher und technischer Fortschritt haben sich zunehmend vom „humanen“ Fortschritt abgekoppelt (z.B. Anders, G. 1982, 1988; Rohbeck 1993). Böhme spricht in diesem Zusammenhang vom Ende des Baconschen Zeitalters, und heute wird Wissenschaft und Technik „ganz unverblümt unter dem Gesichtspunkt ökonomischer und militärischer Konkurrenz“ diskutiert (Böhme 1993:20). 1.3 Der blockierte Fortschritt in der Raumplanung Bezogen auf die räumliche Planung sollte der gesellschaftliche Fortschritt mit rationalen (wissenschaftlich fundierten) Planungs- und Entscheidungsprozessen erreicht werden. Mit dem Konzept der „umfassenden Entwicklungsplanung“ wurden fachgebietsübergreifende Planungs- und Steuerungssysteme geplant, mit denen die prognostizierten Krisen vermieden werden sollten. Die Implikationen dieses Ansatzes entfalteten indes offene und subtile Sprengkraft gegenüber fest gefügten gesellschaftlichen Machtstrukturen – das Modell der „umfassenden Entwicklungsplanung“ wurde, kaum, dass erste Schritte zu seiner Umsetzung unternommen waren, fallengelassen. Wissenschaftsintern boten wichtige Einwände gegen das Konzept einen Begründungsrahmen (Schönwandt 2002), und man kehrte zu der planerischen Normalität des Inkrementalismus zurück, allerdings 76 Das Elend der Raum- und Umweltplanung im praktizierten Neoliberalismus geadelt um seine Orientierung an Leitbildern, fortan bezeichnet als „perspektivischer Inkrementalismus“. Diese Abwendung vom Modell der umfassenden Entwicklungsplanung war, so meine These, nicht allein den wissenschaftlichen und methodischen Widersprüchen des Konzepts geschuldet. Der Anspruch auf reale materielle Steuerung und Gestaltung räumlicher Nutzungsstrukturen wird dem neoklassischen Paradigma einer möglichst unregulierten Marktsteuerung geopfert. Auf die öffentlich finanzierte (also prinzipiell von äußeren Zwängen freie) Wissenschaft erhöht sich der Druck, „marktgängige“ Produkte und Strategien zu entwickeln – unter diesen Bedingungen fällt es immer schwerer, Forschung, Lehre und Praxis mit dem Baconschen Programmpunkt des „gesellschaftlichen und humanen Fortschritts“ in Übereinstimmung zu bringen. Diesen Fortschritt stellt der kapitalistische Marktprozess aus strukturellen Gründen nicht her (Fritsch et al. 2003, Altvater/Mahnkopf 1997, 2002). Diese Erkenntnis beunruhigt die etablierte Wissenschaft, weshalb darüber, wenn überhaupt, nur sehr verklausuliert und wenig öffentlichkeitswirksam geschrieben wird. In seiner Studie „Die Stunde der Wahrheit?“ hat Peter Weingart (2001) diese Problematik auf den Punkt gebracht. Wenn schon die ersten Ansätze der „Entwicklungsplanung“ gescheitert sind und kaum noch Anstrengungen unternommen werden, diesen planungstheoretischen Ansatz weiter zu verfolgen, zu verbessern und seine immanenten Mängel zu beheben, bleibt nur noch der „perspektivische Inkrementalismus“ mit seinen vielen kleinen Schritten als ultima ratio der Raumplanung. Die Ziele sind formuliert: Nachhaltigkeit für alle Menschen dieser Welt im Sinne der Rio-Konferenz von 1992. Die methodischen Grundlagen und Praxisanforderungen sind ebenfalls formuliert: Informationsund systemtheoretische Grundlagen zur Erfassung (Modellierung) und Bewertung komplexer gesellschaftlicher und naturaler Sachverhalte, Kommunikationsfähigkeit, diskursive Überzeugungskraft und Kompromissfähigkeit. Der technische Fortschritt liefert ein gewaltiges Innovationspotential im Bereich des Ressourcenschutzes, moderne Kommunikationstheorien und -technologien ermöglichen neuartige Kooperations- und Vernetzungsmodelle auf allen Maßstabsebenen. Die Anpassung der modernen Industriegesellschaften an die neuen technischen Potentiale wird begleitet von Begriffen wie Flexibilisierung, lebenslanges Lernen, Patchwork-Biografien, Deregulierung und Individualisierung usw. Das „fordistische“ Akkumulationsregime, das durch flächendeckende Tarif- und Sozialversicherungssysteme die Teilhabe der arbeitenden Bevölkerung am „Produktivitätsfortschritt“ – und damit deren Konsumtionskraft für die Produkte der Industrie – gewährleistete, wird unter dem wachsenden Einfluss globaler Kommunikations- und Logistiksysteme abgebaut. Hier finden wir wieder das eingangs zitierte Diktum von Karl Marx und Friedrich Engels, wonach technologische Revolutionen im Produktionsbereich zu grundlegenden Umwälzungen des gesellschaftlichen Überbaus führen. Die zaghaften Ansätze, der Internationalisierung der Waren-, Dienstleistungs- und Finanzströme durch ein aqäquates übernationales Regulationssystem einen Rahmen zu setzen, sind bislang gescheitert.4 Mega-Projekte und Stadtentwicklung 77 1.4 Neue Instrumente der Raumplanung im Spiegel des Neoliberalismus Als Planungsinstrumente dieser Ära werden Überzeugungs- und Konsensbildungstechniken für „good governance“ auf allen Ebenen, Methoden zur Organisation regionaler Vernetzungen von Unternehmen, Schaffung von Win-Win-Situationen, Förderung der endogenen Potentiale in ökonomischen Kristallisationskernen und Kompetenzzentren usw. entwickelt. Wichtige planungstheoretische Themen sind dann Fragen nach der Struktur der Öffentlichkeit, nach der prinzipiellen Planbarkeit sozialer Systeme und danach, ob und wie gewährleistet werden kann, dass bei planerischen Modellbildungen die Alltagswirklichkeit nicht ausgeblendet wird (zum Überblick Selle 1996 und Schönwandt 2002). Diese Ansätze gehören in die große Schublade der „handlungs- und entscheidungstheoretischen“ Planungstheorien, die ihren Schwerpunkt in den Bereichen haben, die heute umschrieben werden als: umsetzungsorientiert, pragmatisch, konsensorientiert, kleinmaßstäblich und korrekturfreundlich. Müssten die Planungswissenschaften konzedieren, dass die – hier nur mit wenigen Stichworten - skizzierten Theorie- und Methodenansätze die strukturellen Ursachen von Problemen und Konflikten, die Planung überhaupt erforderlich machen, nicht zu lösen vermögen, dann stellt sich die Frage nach effektiveren Theorien und Methoden. Gernot Böhme fordert die Einführung ethischer und sozialer Normen für „wissenschaftlich-technisches Handeln“ (Böhme 1995:405ff) und befindet sich damit in guter Gesellschaft einer wachsenden Menge von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen, die ihren eigenen Fortschrittsbegriff und die ethische Verantwortung der Wissenschaften reflektieren (Rohbeck 1993, Weingart 2001 u.a.). 2. Das industriepolitische Großprojekt Airbus in Hamburg Luft-, Raumfahrzeugbau und Rüstung gelten als Hochtechnologie-Produktionen mit hochkomplexen Entwicklungs- und ausdifferenzierten Produktionsstandorten mit Zukunft. Wer sich von dem großen Kuchen dieser Branchen etwas abschneiden kann, gilt als Gewinner im großen Spiel um Geld und Macht. Die norddeutschen Bundesländer sehen in der Entwicklung des Super-Airbus A 380 und in der Konsolidierung der Airbusproduktion für kleinere Flugzeuge in Norddeutschland die historische Chance, industriepolitisch in die Weltliga der Hochtechnologie-Standorte aufzusteigen. 2.1 Der Traum von der Größe 2.11 Großprojekte als Beleg für städtische und regionale Bedeutung Große technische Artefakte üben einen unwiderstehlichen Reiz auf Politiker und Öffentlichkeit aus. Der Glaube an den Fortschritt durch die moderne Technik und Wissenschaft ist ungebrochen, so scheint es. Die Krise der Bundesrepublik Mitte der sechziger Jahre weckte bei den Wirtschaftsplanern in Norddeutschland die Phantasie, daraus als große Gewinner her- 78 Das Elend der Raum- und Umweltplanung im praktizierten Neoliberalismus vorzugehen: Billige Energie- und Rohstoffressourcen aus der ganzen Welt brauchen doch nicht, so die Überlegungen der Wirtschaftsplaner, in die alten Industrieregionen im Binnenland transportiert zu werden. Stattdessen sollte die Küstenregion (Hamburg und Unterelbe, Bremen und Unterweser) zu einer zusammenhängenden großen Industrieregion ausgebaut werden. Längs der Unterelbe wurden Kristallisationskerne einer umfassenden Industrialisierung geplant und infrastrukturell erschlossen: in Hamburg (Aluminium, Stahl), Stade (Chemie) und Brunsbüttel (Öl- und Chemie). Den Höhepunkt bildete das Projekt einer künstlich aufgeschütteten Insel mit Tiefwasserhafen im Wattenmeer bei der Insel Neuwerk (wurde jedoch nie realisiert). Mehrere Atomkraftwerke wurden gebaut, um ausreichend Strom für den industriellen Verbrauch bereitzustellen, Krümmel, Stade, Brockdorf und Brunsbüttel. Für die infrastrukturelle Erschließung mussten Deiche bis an die Elbe vorverlegt und die Fahrrinne der Elbe laufend vertieft werden (Hanisch 1983). Nicht alle Blütenträume der Industrialisierungspolitik haben sich verwirklicht, die mit großem staatlichen Förderaufwand realisierten Standorte blieben Solitäre, von einer sich selbst tragenden und stimulierenden Industrialisierung kann keine Rede sein. Die Hamburger Ökonomie blieb von den Erscheinungen des allgemeinen Wirtschafts- und Sozialstrukturwandels nicht verschont. So ist beispielsweise der Schiffsneubau fast komplett aus Hamburg verschwunden. Die Werften, die den Strukturwandel überlebt haben, leben, bis auf eine Ausnahme, vom Spezialschiffsbau und als Reparatur- bzw. Modernisierungswerften. Im Hafen wurde früh auf die ContainerTechnologie gesetzt, mit großem quantitativem aber zweifelhaftem ökonomischem Erfolg (vgl. Deecke 2001:50-56). Die Stadt erlebte nach der Öffnung Osteuropas einen Zuwachs an Attraktivität und Bevölkerung. Hier konzentrieren sich Medien- und Werbeunternehmen, von einer weitgehenden Tertiärisierung der Hamburger Ökonomie war lange die Rede; dies blieb aber ein nicht erfüllbarer Traum: Dienstleistungen bleiben nach wie vor an produktive Sektoren gekoppelt. Mehrere Großprojekte – in dem Einleitungskapitel wurde darüber berichtet – dienen jeweils als Projektionsfläche für Visionen. Die Beteiligung des Hamburger Airbus-Werks an dem Bau des neuen Super-Airbus A 380 ist eine solche Projektionfläche. Mit der Flugzeugindustrie erhofft sich die Hamburger Politik den Duchbruch zu einem der größten und bedeutendsten Luft- und Raumfahrtzeugstandorte der Welt. Der Traum von der großen Industrie in der Unterelberegion ist also noch längst nicht ausgeträumt. 2.12 Die Geschichte des Hamburger Flugzeugbaus. Im äußersten Südwesten der Stadt, direkt gegenüber dem Nobelstadtteil Blankenese, liegt Finkenwerder, ein ehemaliges Fischerdorf. Bereits in den 1930er Jahren wurden hier von der Werft Blohm&Voss Flugzeuge gebaut. Nach dem Krieg diente das Finkenwerder Werk für die britische Armee für die Mega-Projekte und Stadtentwicklung 79 Reparatur von Panzern. Seit Mitte der 50-er Jahre gründete Walther Blohm die Hamburger Flugzeugbau GmbH, die später mit der Weser Flugzeugbau und der Siebel ATG zu den Vereinigten Flugzeugwerken (VFW) zusammengelegt wurden (http://walther-blohm-stiftung.de/ geschichte.htm – vom 13.8.03). Airbus wurde später integriert in den Luft-, Raumfahrt- und Rüstungskonzern EADS, der „European Aeronautic Defence and Space Company N.V.“, die am 10. Juli 2000 aus der Fusion der deutschen DaimlerChrysler Aerospace AG, der französischen Aerospatiale Matra und der spanischen CASA hervorging. Im Jahr 2002 erwirtschaftete die EADS einen Umsatz von 29,9 Milliarden Euro. Davon wurden etwa 80 Prozent auf dem zivilen und 20 Prozent auf dem militärischen Markt erzielt. Das Unternehmen beschäftigt an mehr als 70 Produktionsstandorten über 100.000 Mitarbeiter, vor allem in Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Spanien (http://www.eads.net/ eads/ de/ index.htm). In Hamburg-Finkenwerder werden vor allem kleinere Airbusse gefertigt und ausgeliefert. Die Airbus-Familie soll ergänzt werden durch einen Großraumjet, der die Post-Jumbo-Ära einläuten soll. Mit dem A 380 würde die europäische Luftfahrtzeugindustrie das letzte US-amerikanische Monopol brechen. Das Airbus-Werk in Hamburg-Finkenwerder ist mittlerweile der bedeutendste Standort des zivilen Flugzeugbaus in Deutschland. Von den rund 15.000 Mitarbeitern der EADS Airbus GmbH arbeiten etwa 7.000 in dem Werk am südlichen Elbufer (aus: http://www.spiegel.de/ wirtschaft/0, 1518,118616,00.html). Der starke Anteil deutscher Konzerne an der EADS-Familie und die lange Tradition der Airbus-Produktion in Hamburg-Finkenwerder prädestinierten den „Standort Deutschland“, aktiv an der Entwicklung und dem Bau des Super-Airbus teilzuhaben. Mit dem Hamburger Fertigungsanteil (Innenausbau und Lackierung) sollen mindestens 4.000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Eine Zahl, die denkbar ungesichert ist. Es kursieren die abenteuerlichsten Prognosen von bis zu 30.000 direkten und indirekten Arbeitsplätzen. 2.2 Autosuggestion als Bestandteil der Politik Für den Hamburger Senat erschien die Möglichkeit, an dem „historischen“ Industrieprojekt Anteile in die Stadt zu holen, als eine einmalige Chance, eine langfristige, an Hochtechnologien gekoppelte Industriebasis zu sichern. Es ist ein bekanntes Muster, dass die etablierte Politik sich von großen Projekten bedeutende wirtschaftliche Segnungen für ihre Regionen versprechen. Großprojekte haben auch die Funktion, eine Stadt und/oder eine Region in einen Zustand der Selbstsuggestion über die eigene Größe zu versetzen. Neben der „Jahrtausendentscheidung“ für die Hamburger Beteiligung am Bau des Super-Airbus A 380 gibt bzw. gab es weitere Großprojekte, mit denen sich Hamburg als weltweit bekannte Metropole zu profilieren beabsichtigte (siehe einleitende Bemerkungen). 80 Das Elend der Raum- und Umweltplanung im praktizierten Neoliberalismus 2.3 Der Konflikt um die Ausweitung der Airbus-Produktionsfläche 5 Der Beschluss, den Super-Airbus zu bauen, darf nicht ohne die parallele Entwicklung einer westeuropäischen Version eines Langstrecken Militärtransportflugzeugs betrachtet werden. Mit den Entscheidungen für die militärischen und zivilen Großflugzeuge signalisieren die Europäer ihre Entschlossenheit, auf allen Technologiesektoren des Luft-, Raumfahrt- und Militärflugzeugwesens eigene Produktlinien zu etablieren und gegen die US-amerikanische Konkurrenz auch weltweit zu vermarkten. Abb.1: Erweiterung des Airbus-Geländes im Mühlenberger Loch, Quelle: www.spiegel.de/wirtschaft/0.1518.druckbild-82735-195703.00.html Dies ist der Hintergrund für die erbitterte Konkurrenz europäischer Industriestandorte um Beteiligung an diesen Projekten. Die allseitige Begeisterung über die Entscheidung, den Innenausbau und die Lackarbeiten des neuen Großraumjets A 380 (Beschluss vom 23.Juni 2000 des europäischen Konsortiums EADS) nach Hamburg-Finkenwerder zu vergeben, bedeutet, dass die Entscheidungsträger im Prinzip davon ausgehen, dass weitere Aufträge folgen werden. Es heißt, dass der hamburgisch-norddeutsche Anteil an der Wertschöpfung am neuen Airbus A 380 nur 5% beträgt. Wenige Tage nach dem Planfeststellungsbe- Mega-Projekte und Stadtentwicklung 81 schluss für den Ausbau des Mühlenberger Lochs verkündete der hamburgische Rechnungshof öffentlich seine Zweifel, ob die öffentlichen Investitionen für dieses Projekt überhaupt „preisangemessen“ seien 6. Gegen dieses Großprojekt hat sich eine ungewöhnliche Oppositionsbewegung gebildet. Beteiligt daran sind Naturschützer, zahlreiche Bürgerinitiativen aus dem Alten Land – und, das ist das Ungewöhnliche, zahlreiche Bürger des hamburgischen Establishments. Einige der Argumente: • Im Spiegel Nr. 3 vom 15.01.01 heißt es mit Verweis auf konzerninterne Planungen, dass auch ohne die geplante Erweiterung der Produktionsflächen in das Mühlenberger Loch 80–90 % der vorgesehenen Fertigungsanteile in Hamburg bleiben könnten. • Die Arbeitsplatzprognosen sind unseriös – es wird befürchtet, dass viele Arbeitsplätze durch interne Umbesetzungen bei Airbus-Industries besetzt werden. • Der Wertschöpfungsanteil von ca. 5 % für Hamburg rechtfertigt nicht die hohen öffentlichen Investitionen. • Die hohen staatlichen Vorleistungen stehen in keiner vernünftigen Relation zum fiskalischen Ertrag. Airbus-Industries übernimmt keine keine verbindlichen Verpflichtungen gegenüber Staat und Öffentlichkeit. • Der Senat spielt nicht mit offenen Karten. Lange wird behauptet, dass die bereits vorhandene Start- und Landebahn in Finkenwerder nicht verlängert werden muß. Nun, da die Aufhöhung im Mühlenberger Loch abgeschlossen und die ersten Produktionshallen errichtet sind, wird das Planfeststellungsverfahren für die Startbahnverlängerung eingeleitet. • Die Einflugschneise für die Airbus-Anlage verläuft direkt über die Wohnviertel von Blankenese und Klein-Nienstedten mit Abb.2: Der Übergang vom Sandwatt zum Schlickwatt, Quelle: http:// www.umwelt.schleswig-holstein.de/servlet/is/12826/, Zugriff 07.01.2004 erheblichen Lärmauswirkungen und damit verbundenen Werteinbußen für Grundstücke und Häuser. • Das betroffene Mühlenberger Loch wurde wegen seiner hervorgehobenen Bedeutung als Flachwasser- und Ruhezone für das kohärente europäische Naturschutzprojekt Natura 2000 gemeldet („FFH-Fläche“) und müsste deshalb einem besonderen Schutzstatus unterworfen werden. • Jede Verringerung von Retentionsflächen für Hochwasser erhöht potentielle Sturmflutgefahren in der Unterelberegion und für Hamburg – mit der Folge hoher öffentlicher Nachfolgekosten durch die Verstärkung von Hochwasserschutzanla- 82 Das Elend der Raum- und Umweltplanung im praktizierten Neoliberalismus gen. Dieses Argument wird noch wichtiger vor dem Hintergrund einer geplanten weiteren Vertiefung der Fahrrinne in der Elbe. • Für diesen Standortausbau gab es – aus hamburgischer Sicht – mindestens eine sinnvolle Alternative: Ein Kombinationsprojekt aus Hamburg-Finkenwerder und Rostock-Laage. Dies hätte die Vorteile beider Standorte kombiniert. Das AirbusKonsortium hat durch mehrere öffentliche Statements deutlich gemacht, dass eine solche Entscheidung möglich gewesen wäre. Politik und Wirtschaft Norddeutschlands konnten sich nicht dazu durchringen, eine regional koordinierte Entwicklungspolitik durchzusetzen, wonach in Hamburg die Entwicklungsarbeiten und in Rostock die Produktion und Endfertigung angesiedelt sein würden. Angesichts einer Arbeitslosigkeit in Mecklenburg-Vorpommern von ca. 20 % und dem damit verbundenen sozialen Konfliktpotential wäre eine Kombinationslösung aus norddeutscher Sicht zu bevorzugen gewesen. Wie schnell sich industriepolitische und raumplanerische Argumente mit nationalstaatlichem Pathos einer wiedererlangten Weltgeltung mit Hamburg im Mittelpunkt („Ein zweites Silicon Valley an der Unterelbe“) vermischten und vermischen ließen und wie leicht sich in Hamburg eine faktische Gleichschaltung aller relevanten Gruppierungen samt Medien vollzog, das war, neben den weiteren Irrationalitäten des hier zu beschreibenden Falles das eigentliche Ereignis. Das allerdings bis heute nicht angemessen diskutiert worden ist. 2.31 Das Planfeststellungsverfahren als Voraussetzung für die Umsetzung der Ausbaupläne Bevor Airbus sich entscheiden würde, so die Forderung des Konzerns, müssten die potentiellen Standorte „gültiges Planrecht“ schaffen. Das heißt, dass der Hamburger Senat für die Ausbaupläne im Mühlenberger Loch ein Planfeststellungsverfahren durchführen und abschließen musste. In einem solchen Verfahren werden alle Genehmigungen, Erlaubnisse, Auflagen usw., die für ein solches Projekt nach unterschiedlichen gesetzlichen Vorschriften erforderlich sind, zusammengefasst („Konzentrationswirkung“) und in einem Abwägungsprozess abschließend, d.h. rechtsverbindlich, geregelt. Die Verfahrenskosten (Planungsverfahren bis zum Planfeststellungsbeschluss) sowie die baulichen Vorbereitungsmaßnahmen (Teilzuschüttung des Mühlenberger Lochs, infrastrukturelle Erschließung, naturschutzrechtliche Ausgleichsmaßnahmen) belaufen sich insgesamt auf ca. 600-800 Mio €., die aus Steuermitteln aufgebracht werden. 2.32 Ist der Planfeststellungsbeschuss rechtlich sicher? Die Rechtsgültigkeit des Planfeststellungsbeschlusses ist bis heute nicht abschließend gerichtlich geklärt. Der juristische Streit geht um zwei Komplexe. Erstens, ob das Vorhaben tatsächlich im Interesse des Gemeinwohls liegt oder ob es sich um ein privatnütziges Vorhaben eines Industrieunternehmens handelt und Mega-Projekte und Stadtentwicklung 83 zweitens darum, ob ein Planfeststellungsbeschluss rechtliche Gültigkeit erlangen kann, ehe nicht die dazu gehörigen Elemente des naturschutzrechtlichen Ausgleichs auch als rechtssicher abgeschlossen gelten. Träfe zu, wie die Gegner behaupten, dass das Vorhaben privatnütziger Natur sei (also im legitimen Interesse eines Industriekonzerns), gälten schärfere Normen im Umgang mit Betroffenen. Enteignungen oder enteignungsgleiche Eingriffe (hohe Lärmbelastung mit Grundstücks- und Immobilienwertverlusten, Schadstoffimmissionen mit Einbussen an Ertragsqualität in der Landwirtschaft) müssten – in gesetzlich normierten Grenzen - nur im Falle des Gemeinwohls hingenommen werden. 3. Die Schwäche des Staates und die Zuspitzung der kommunalen Konkurrenz als Ursache für Konflikte Die kommunale und regionale Konkurrenz um jeden Arbeitsplatz, um jeden Umschlagscontainer und um jede Industrieansiedlung versetzt jeden Investor in Entzücken, kann er doch die „Standorte“ gegeneinander ausspielen. Wenn der eine potentielle Standort die Voraussetzungen nicht schafft, dann geht der Investor dahin, wo die Bedingungen besser sind. Der Airbus-Chef Humbert hat dies recht deutlich in seinem Interview im Hamburger Abendblatt vom 20.12.1999 zum Ausdruck gebracht, als er meinte: „Die Erweiterung muß in engster logistischer Anbindung an das vorhandene Werksgelände erfolgen (...) Wenn man das nicht realisiert, hat man keine optimale Bewerbung und damit weniger Chancen gegenüber den anderen Bewerbern Toulouse, St. Nazaire, Sevilla und Rostock“ (Hervorh. d. Verf.). Unterstellen wir, dass wir es uns aus ökologischen Gründen leisten können, der Welt einen weitgehenden Freibrief zur Ausweitung des globalen Flugverkehrs auszustellen und gehen wir weiter davon aus, dass sich die Beteiligung an der Fertigung am Großflugzeugbau erfolgreich etabliert und in Zukunft ausweitet Die patriotische Vision (Handelskammer, HA, Juni 2000), Hamburg zum drittwichtigsten Flugzeugbau-Standort der Welt, neben Seattle und Toulouse, zu etablieren, würde im Erfolgsfall das Obstanbaugebiet „Altes Land“ gründlich umstrukturieren. Damit gingen neben traditionellen Arbeitsplätzen in der Landwirtschaft (Obstanbau) auch Arbeitsplätze im Freizeit- und Erholungssektor verloren. Das Alte Land ist traditionelles Ausflugsziel für Kurzzeit- und Wochenenderholung für Hamburg und damit ein bedeutender „weicher“ Standortfaktor, der nicht unwesentlich zur Attraktivität Hamburgs beiträgt. Ob eine regionale Arbeitsmarktbilanz auf längere Sicht ebenso positiv bewertet wird wie die Hamburgische, ist auf längere Sicht alles andere als sicher..Nimmt man die verschiedenen Äußerungen der Politiker zur Situation und Zukunft des Industriestandortes Hamburg zur Kenntnis, dann ist der häufigst benannte Zusammenhang der des Wettbewerbs und der regionalen „Konkurrenz“ (Mirow im HA v. 28.12.00, Bürgermeister Runde im HA v. 29.12.00, Drucksache 17/7460 d. Hmb. Bürgerschaft zur Hamburger Standort- und Hafenentwicklung vom 20.05.97). Danach muss sich 84 Das Elend der Raum- und Umweltplanung im praktizierten Neoliberalismus Hamburg für den wachsenden Konkurrenzdruck wappnen, der aus der Globalisierung und der europäischen Integration folgt. Ob der neue Super-Airbus wirklich alle die sozial- und wirtschaftspolitischen Wohltaten für die Region Hamburg und Norddeutschland bringen wird oder nicht, wird so zu einem Hoffnungs- bzw. Spekulationsfall. An keiner Stelle ist zu vernehmen, dass sich die Industrie zu nachprüfbaren Gegenleistungen verpflichtet. 3.1 Das politisch-administrative System beschneidet sich selbst seiner Entscheidungsmöglichkeiten Fachwissenschaftlicher Sachverstand in Form von Gutachten- und Beratungsaufträgen wird immer weniger dafür eingesetzt, eine möglichst klare Risikoabschätzung erarbeitet zu bekommen. Niemand geringeres als der Sachverständigenrat für Umweltfragen äußerte sich im Jahresgutachten 1994 zu den „Experten in der Sache“ (ebda. S. 160, insbes. Ziff. 383), der sehr gut in den hier skizzierten Zusammenhang passt. Danach ist das Expertenwissen nämlich im Bewusstsein der Öffentlichkeit „in eine tiefgreifende Krise“ geraten. „Der Experte gilt für viele eben nicht mehr als der unabhängige Sachverständige, sondern vermittelt bei ihnen eher die Vorstellung des Interessenvertreters, der sich zum Erfüllungsgehilfen bestimmter vorgefasster gesellschaftlicher, ökonomischer oder politischer Zielsetzungen macht. […] Unter solchen Voraussetzungen kann es zwischen Experten und Entscheidungsträgern zu durchaus fragwürdigen Verbindungen kommen. Der Experte wird dann vom Entscheidungsträger nicht nach Kompetenz, sondern nach vermutetem Konsens ausgesucht“. In unserem Hamburger Beispiel hält bislang der bewährte Verbund einschlägiger Koalitionen aus Parteien, Gewerkschaften, Unternehmensverbänden und Experten. Das gesamte Beziehungsgeflecht aus politischen und ökonomischen Interessengruppen und den damit verbundenen Experten und Expertinnen, die Geschichte der Region, deren Abhängigkeiten von nationalen und internationalen ökonomischen Trends aufzuarbeiten und darzustellen ist an dieser Stelle ebenso wenig möglich, wie die Präsentation einer abgeschlossenen planungstheoretischen Analyse der Situation, die etwa der Systematik einer Politikfeldanalyse (Schubert/Bandelow 2003) zu folgen hätte. Bereits jetzt lässt sich jedoch feststellen, dass der Bau des Super-Airbus und seiner militärischen Entsprechung als strategisches Projekt eines international agierenden Konzerns gewertet werden muss. Weiterhin zeigt sich, dass die kommunale Planungs- und Entscheidungsautonomie und die daraus folgenden Interessenstrukturen der lokalen und regionalen Akteure ein kooperatives staatliches Handeln faktisch unterbinden. Kommt noch als Folge der allgemeinen „Deregulierung“ und einer konjunkturellen (?) Krise eine allgemeine Knappheit öffentlicher Finanzmittel hinzu, verwundert es nicht, wenn die kommunale Politik zu den Mitteln der Festivalisierung und des Stadtmarketings greift und potentielle Großprojekte, wie beschrieben, für die eigenen Zwecke zu instrumentalisieren versucht. In Hamburg scheint seit einiger Zeit wenigstens das zu gelingen: Unabhängig von den tatsächlich nachweisbaren ma- Mega-Projekte und Stadtentwicklung 85 teriellen Resultaten erscheint die Stadt „erfolgreich“ an ökonomischer und kultureller Bedeutung und damit an aktiver Bevölkerung zu wachsen. 4. Schlussfolgerungen für die Planungstheorie Kommen wir abschließend auf die eingangs aufgeworfenen Fragen zurück. Die Rostock-Variante wäre eine Alternative gewesen, für die aus struktur- und arbeitsmarktpolitischen Gründen einiges gesprochen hätte und für die – dem Vernehmen nach – keine naturschutzrechtlichen Verrenkungen nötig gewesen wären. Damit wären wahrscheinlich zwar höhere Organisations- und Managementkosten für Airbus entstanden, ob diese aber höher gewesen wären als die jetzt öffentlich aufgebrachten Infrastrukturaufwendungen für die Ansiedlung im Mühlenberger Loch, müsste überprüft werden. Dass damit in einer Region, die unter ganz erheblichen strukturellen Defiziten leidet, ein Entwicklungsimpuls gesetzt worden wäre, kann konstatiert werden, selbst wenn man aus anderen Gründen die Ausweitung des Flugzeugbaus ablehnt. Ebenfalls nicht beantwortet werden kann, ob Airbus-Industries sich überhaupt auf die regionalpolitisch sinnvollere Variante eingelassen hätte, wenn die öffentliche Hand (vertreten vom Bund, den beteiligten Ländern und Hamburg) nur entschieden genug darauf bestanden hätte. Fest steht, dass sich die „Politik“ nicht getraut hat, ein solches Alternativ-Szenario auf die Tagesordnung zu setzen. Wie die Arbeitsplatzbilanzen aussehen (werden), kann auch noch nicht beurteilt werden - niemand weiß, ob und in welchem Umfang tatsächlich Arbeitsplätze in der Landwirtschaft (Obstbau) im Freizeit- und Erholungssektor wegfallen werden und/oder ob diese Verluste durch die neuen industriellen Arbeitsplätze tatsächlich überkompensiert werden. Ein ähnliches Prognosedilemma ergibt sich aus ökologischer Sicht: Ob der Ausbau sich negativ auf die Flussdynamik auswirkt, mit Folgen für Flora und Fauna und zunehmender Hochwassergefahren für Hamburg, kann nicht eindeutig beantwortet werden. Niemand würde bestreiten, dass Hochwasserrisiken steigen – vor allem in Verbindung mit der avisierten erneuten Vertiefung der Fahrrinne der Elbe. Dass die Zunahme des Flugverkehrs global-ökologisch schädlich ist, bleibt unbestritten - nur, darauf nimmt momentan niemand Rücksicht. Die europäische Antwort argumentiert mit Wirkungsgraden. Danach sind die Airbus-Flugzeuge technologisch so hochwertig, dass sie bei gleicher Leistung deutlich weniger umweltbelastend wirken als die Konkurrenz. In letzter Konsequenz kann ein solches Projekt nur normativ entschieden werden. Etwa wie folgt: Als Staat fördern wir das Projekt nur, wenn eine aktive Regionalförderung damit verbunden ist, die auch die strukturschwachen Regionen in Mecklenburg-Vorpommern mit einschließt. Wir wollen für die interessierte Industrie zu Verhandlungslösungen kommen, wonach die Verwendung öffentlicher Mittel am gesamträumlichen Ergebnis gemessen/bewertet wird und die nutznießende Industrie Subventionen rückerstattet, wenn versprochene Ziele nicht verwirklicht werden. (Das derzeit zu beobachtende Desaster um die Autobahn-Maut zeigt, wie an- 86 Das Elend der Raum- und Umweltplanung im praktizierten Neoliberalismus gesichts bestehender Marktmacht der beteiligten Konzerne selbst Bundesministerien hilflos agieren – was kann dann von der Durchsetzungskraft kommunaler Entscheidungsträger erwartet werden?). Nun wird es grundsätzlich. In der Geschichte der Raumplanung in Deutschland, sagen wir seit etwa Mitte der 1970er Jahre, setzte sich der allgemeine Konsens durch, wonach die Ansätze einer umfassenden staatlichen/gesellschaftlichen Entwicklungsplanung zugunsten einer Schritt-für-Schritt-Strategie im Rahmen kleinerer Projekte aufgegeben werden müssten. Angesichts der hier dargestellten Konfliktlagen zwischen kommunalen und regionalen Akteuren und Weltkonzernen stellt sich die planungstheoretisch grundsätzliche Frage danach, ob und wie Raumplanung/Wirtschaftsplanung als aktives staatliches/gesellschaftliches Handeln ausgestaltet werden muss. Vergleiche hinken bekanntlich, aber sie helfen, Gedankengänge zu illustrieren: Aus der Geschichte der Natur- und Technikwissenschaften gibt es zahllose Beispiele über Forschungsansätze und gescheiterte Experimente. Ein fehlgeschlagener Versuch animiert die Forschergemeinde zu erneuten Anläufen – bis ein Problem erfolgreich gelöst worden ist (die Geschichte über die Lösung des Fermatschen letzten Satzes bietet spannende Anschauung für diese Feststellung, vgl. Singh 1998). Wenn wir zur Kenntnis nehmen müssen, dass Probleme der Regionalentwicklung, der ökologischen und sozialen Nachhaltigkeit, der intra- und intergenerativen Gerechtigkeit usw. sich aus strukturellen Gründen (Stichwort: Marktversagen) nicht auf dem kooperativen oder Verhandlungsweg lösen lassen, dann müssen wir nach praktikablen und umsetzungsfähigen Modellen für die Planung suchen. So wie für die Lösung des Fermatschen Problems nach zahllosen vergeblichen Anläufen ganz neue Zahlentheorien entwickelt werden mussten (Singh 1998), muss für die gesellschaftliche Planung und Steuerung nach neuen theoretischen, methodischen und praktisch-politischen Ansätzen gesucht und damit solange experimentiert werden, bis die Probleme besser gelöst werden können, als zur Zeit. Auf diesem Weg gibt es das Risiko des „Scheiterns“: Z .B. nutzt Airbus seine politisch-ökonomische Macht und investiert nicht mehr in Deutschland, oder die Rostock-Planung beruht auf falschen Annahmen und erweist sich als mangelhaft. Die Komplexität der Teilsysteme Natur und Gesellschaft jeweils für sich und erst recht in der wechselseitigen Verschränkung als Verhältnis von Gesellschaft und Natur haben dazu geführt, dass heutige Planungswissenschaft und –theorie gar nicht mehr mit dem Anspruch auftritt, dieses Verhältnis im Sinne eines normativen Ziels/ Leitbilds auch regulieren zu wollen. Die „freie“, möglichst unregulierte Marktwirtschaft hat sich – vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit dem realen Sozialismus – als paradigmatische Grundlage aller weiteren Überlegungen durchgesetzt. Die modernen diskursorientierten Planungsmodelle, die sich Transaktionskosten senkend und Handlungseffizienz steigernd auf Kontextsteuerungen, Verhandlungsstrategien und Regionalisierungsstrategien konzentrieren, verlieren den Grundwiderspruch aus dem Blick: Eine Ökonomie, die nur funktioniert unter sich verschärfenden Konkurrenzbedingungen und nur angesichts einer permanenten Androhung der ökonomi- Mega-Projekte und Stadtentwicklung 87 schen und dann auch existenziellen Vernichtung, wird aus sich heraus die Probleme und Konflikte nicht lösen können. Dies war eine der Erkenntnisse der Phase der „Planungseuphorie“, und dies war der wichtigste Anlass dafür, alle Theoriekonzepte, die an der Überwindung dieses Grundwiderspruchs arbeiteten, zunächst wissenschaftsimmanent auszuhebeln. Denn wer würde die immensen systemischen Probleme bestreiten, die sich auf diesem Wege auftun – auch hier böten die Erfahrungen des realen Sozialismus reichlich Anschauungsmaterial. Nach der wissenschaftlichen Kritik folgte die sich demokratietheoretisch verkleidende Kritik, die den Anspruch einer rationalen Regulierung des Mensch-Natur-Verhältnisses vorläufig endgültig beerdigen half. In der Habilitationsschrift von Görg (2003) findet sich der Satz von der „Refeudalisierung“ der Politik in unserer Zeit: Verhandlungsstaat, Kontextsteuerung und Deregulierung bedeutet eben nicht mehr Demokratie und Teilhabe für alle, sondern „competition of the fittest“ auf allen Planungsebenen. Das Leitmotiv für die Erörterung unserer Thematik soll mit folgenden Anmerkungen skizziert werden: 1. Die Ausdifferenzierung gesellschaftlicher, raumstruktureller und ökologischer Probleme nimmt mit dem Wirtschafts- und Sozialstrukturwandel zu. Solche Prozesse planerisch steuern zu wollen, erfordert, wenn die Eingriffe nicht destruktiv wirken sollen, ein adäquat ausdifferenziertes Eingriffsinstrumentarium. Man muss also wissen, mit welchen Methoden und Instrumenten „geplant und gesteuert“ werden soll/kann – die Erfahrungen und Ergebnisse der Planungsforschung der letzten 30 Jahre sind wichtig, reichen aber nicht aus. 2. Verhandlungs-, Konsens- und Partizipationsstrategien sind wichtige Elemente einer demokratischen Planungskultur – die angesichts der politisch-ökonomischen Rahmenbedingungen selbst gefährdet sind. Man muss für ihre Erhaltung und Weiterentwicklung arbeiten. 3. Die Gesetze der internationalen Konkurrenz setzen sich auch auf lokaler Ebene durch und zwingen die handelnden Akteure zu einem bestimmten Verhalten. Diese strukturellen Rahmenbedingungen lassen sich nicht durch Konsens- und Partizipationsstrategien überwinden. Es bedarf einer neuen „Planungskultur”, mit der den international „entfesselten” Marktkräften ein normativer Rahmen gesetzt wird. Damit sind lokale und regionale Akteure überfordert. 4. Wissenschaftliches Wissen (Expertenwissen) über die Möglichkeiten einer effizienten Planung und Steuerung räumlicher Nutzungsstrukturen entsprechend den Nachhaltigkeitszielen der Rio-Konvention bedarf der gründlichen interdisziplinären Analyse der Funktions- und Wirkungsweisen des Wirtschafts- und Sozialstrukturwandels, um zu tragfähigen Lösungskonzepten und Arbeitsmethoden finden zu können. 5. Die dafür erforderlichen Forschungs- und Praxisprojekte müssen unabhängig von den unmittelbaren Notwendigkeiten lokaler/regionaler Entscheidungssituationen bearbeitet werden können. Es fällt der universitären „Planungstheorie“ als Auf- Das Elend der Raum- und Umweltplanung im praktizierten Neoliberalismus 88 gabe zu, diese Forschungs- und Experimentierarbeiten zu übernehmen – denn wer sonst sollte die dafür erforderliche Unabhängigkeit aufbringen können. Anmerkungen 1 2 3 Kritische Planer und Planerinnen ärgern sich an dieser Stelle: Auf die potentiellen Probleme wurde vor Jahren aufmerksam gemacht und diese wie gewohnt nicht zur Kenntnis genommen. „Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren. Unveränderte Beibehaltung der alten Produktionsweise war dagegen die erste Existenzbedingung aller früheren industriellen Klassen. Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisepoche vor allen anderen aus. Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen. Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel. Überall muß sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen. Die Bourgeoisie hat durch ihre Exploitation des Weltmarkts die Produktion und Konsumption aller Länder kosmopolitisch gestaltet. Sie hat zum großen Bedauern der Reaktionäre den nationalen Boden der Industrie unter den Füßen weggezogen. Die uralten nationalen Industrien sind vernichtet worden und werden noch täglich vernichtet. Sie werden verdrängt durch neue Industrien, deren Einführung eine Lebensfrage für alle zivilisierten Nationen wird, durch Industrien, die nicht mehr einheimische Rohstoffe, sondern den entlegensten Zonen angehörige Rohstoffe verarbeiten und deren Fabrikate nicht nur im Lande selbst, sondern in allen Weltteilen zugleich verbraucht werden. An die Stelle der alten, durch Landeserzeugnisse befriedigten Bedürfnisse treten neue, welche die Produkte der entferntesten Länder und Klimate zu ihrer Befriedigung erheischen. An die Stelle der alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander. Und wie in der materiellen, so auch in der geistigen Produktion. Die geistigen Erzeugnisse der einzelnen Nationen werden Gemeingut. Die nationale Einseitigkeit und Beschränktheit wird mehr und mehr unmöglich, und aus den vielen nationalen und lokalen Literaturen bildet sich eine Weltliteratur“ z.B.: Informationen zur politischen Bildung (Heft 226), Neoliberale Revolution und wirtschaftliche Integration in den neunziger Jahren Mega-Projekte und Stadtentwicklung 4 5 6 89 Bericht aus der Humanité vom 23.10.1998: Rencontre Lafontaine- Strauss-Kahn – Les ministres allemand et français des Finances ont annoncé hier un renouveau de la coopération franco-allemande, (…). La France et l‘Allemagne préparent ainsi un document commun sur la réforme du système financier international“. – Wie wir wissen, trat Minister Lafontaine kurz danach spektakulär von seinen Ämtern zurück, die erhoffte Kooperation kam nicht zustande. Eine Übersicht über alle Argumente finden sich unter http://www.schnittgerorgel.de /html/ presse_2.html Im Anhang befindet sich ein Artikel vom 3.4.2001, der einen Überblick gibt über diesen Problemkomplex. Literaturhinweise Albers, G. (1993): Über den Wandel im Planungsverständnis, in: Wenz, M. (Hrsg.) Wohn-Stadt, Frankfurt/New York, S. 44-55 Altvater, E., Mahnkopf, B. (1997): Grenzen der Globalisierung – Ökonomie, Ökologie und Politik in der Weltgesellschaft, Münster Altvater, E., Mahnkopf, B. (2002): Globalisierung der Unsicherheit – Arbeit im Schatten, Schmutziges Geld und informelle Politik, Münster Anders, G. (1988) (Nachdruck von 1956): Die Antiquiertheit des Menschen – Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München Anders, G. (1995) (Nachdruck von 1982): Hiroshima ist überall, München Böhme, G. (1993): Am Ende des Baconschen Zeitalters – Studien zur Wissenschaftsentwicklung, Frankfurt/M. Bömer, H. (2000): Ruhgebietspolitik in der Krise – Kontroverse aus Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Verbänden, Dortmund Deecke, H. (2001): Globalisierung, Container, Seehafen, in: Schubert, D. (Hrsg.) 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Aber die in Hamburg vorgenommenen Arbeiten an dem Flugzeug machen nur fünf Prozent seines Wertes aus. Im Mühlenberger Loch wird gebaut - doch die Diskussion geht weiter. Vor allem die Tatsache, dass die Stadt bis zu 1,3 Milliarden Mark für die Erweiterung der Airbus-Produktionsflächen, für Deiche, Kaianlagen und ökologische Ausgleichsflächen aufbringen muss, wirft eine Frage auf, die inzwischen auch den Rechnungshof interessiert: Macht sich diese Investition je bezahlt? Zweifel daran sind berechtigt. Denn: Alle in Hamburg vorgenommenen Arbeiten am Super-Airbus A380 machen gerade mal fünf Prozent seines Wertes aus. Zu finden ist diese Zahl in dem von der Wirtschaftsbehörde in Auftrag gegebenen Gutachten der Prognos GmbH. Es ist Grundlage für das Planfeststellungsverfahren und Gerichtsbeschlüsse. Gegner des A380-Projekts im Mühlenberger Loch argumentieren schon länger mit diesen fünf Prozent. Ein derart geringer Anteil des Hamburger Werks an der Fertigung des A380 werde weder zu den versprochenen 2000 Arbeitsplätzen im Werk noch zu den weiteren 2000 in Zulieferbetrieben führen, sagen sie. Auch beim Landesrechnungshof macht man sich offenbar Gedanken über das Verhältnis von Kosten zu Nutzen. „Es laufen Überlegungen ob und wieweit wir prüfen werden“, sagt sein Sprecher Wolfgang Buhk. So wie bei anderen Behörden sei das allerdings nicht möglich. Grund: Die von der Wirtschaftsbehörde eigens für die Werkserweiterung gegründeten Projektierungs- und Realisierungsgesellschaften, die sich mit der Herrichtung der Flächen und deren Vermietung an die Airbus-Bauer befasst, seien als GmbHs privatrechtlich organisiert. Dafür aber müsse der Rechnungshof mit dem Senat eine Prüfungsvereinbarung treffen, sagt Buhk. Wie gering der in Hamburg am A380 entstehende Wertanteil ist, mögen auch Mega-Projekte und Stadtentwicklung 91 diese Zahlen verdeutlichen: Danach werden - so ist bei Airbus zu hören - die fünf Prozent nämlich nicht vom Verkaufspreis des Fliegers, rund 220 Millionen Dollar, berechnet, sondern vom Herstellungspreis ohne die Triebwerke. Da die Triebwerke allein etwa ein Viertel des Flugzeugwertes ausmachen und zwischen Verkaufspreis und Herstellungspreis der Gewinnanteil liegt, dürften die fünf Prozent weniger als acht Millionen Dollar (etwa 16 Millionen Mark) bedeuten. Das heißt: Wenn die Produktion 2006 mit 16 Maschinen im Jahr beginnt, wird in Hamburg ein Wert von etwa 260 Millionen Mark geschöpft. Ein Jahr später mit 34 Maschinen dürften es etwa 545 Millionen Mark sein. Dennoch: Die Frage, ob diese Zahlen 2000 neue Arbeitsplätze bedeuten, hat Prognos zuletzt Ende Dezember in einer Plausibilitätsprüfung bejaht. Ausgangsannahme der Berechnung war, dass ein A380-Arbeitsplatz denselben Produktionswert erwirtschaftet wie ein durchschnittlicher Arbeitsplatz in der deutschen Luft- und Raumfahrt-Branche. Dabei wurde allerdings eine Basisproduktionsrate von 46 Maschinen angenommen und die Aussicht, dass bei entsprechendem Verkaufserfolg auch 92 Einheiten pro Jahr realistisch seien. Mögen die Arbeitsplatzzahlen noch optimistisch stimmen, die in Hamburg verbleibenden Steuereinnahmen aus der Lohn- und Einkommensteuer der zusätzlichen Arbeitsplätze im Werk Finkenwerder sind laut Prognose eher mager: 1,6 Millionen Mark bei der Basisproduktion von 46 Maschinen, 2,9 Millionen Mark bei Produktionsverdopplung. 60 Prozent der Airbus-Mitarbeiter pendeln über die Landesgrenze, insbesondere nach Niedersachsen. Unternehmensteuern dürften gar nicht anfallen, Sitz der Konzernzentrale ist Amsterdam. Und auch diese Zahlen relativieren die 2000 A380-Arbeitsplätze im Finkenwerder Werk: In ganz Deutschland sind nach Airbus-Angaben direkt 47 000 Menschen mit dem Super-Vogel beschäftigt, in Europa sind es 145 000 und weltweit 225 000 Menschen. 30 Prozent des Flugzeugwertes, sagt ein Hamburger Airbus-Sprecher, würden in den USA hergestellt. Neuerdings sollen sich auch die Japaner zum Beispiel für die Lieferung von Tragflächen interessieren. Die 35 Prozent, mit denen Deutschland am Bau des A380 beteiligt ist, verteilen sich auf sieben Standorte: Hamburg, Bremen, Nordenham, Stade, Varel, Buxtehude und Laupheim. Wenn Hamburgs Anteil an der Wertschöpfung des A380 fünf Prozent beträgt, ist das genau der Durchschnitt. Das bedeutet aber: Es muss auch einen oder mehrere Standorte geben, deren Anteil größer ist als der von Hamburg. Und das offenbar ohne die von Senat und Bürgerschaft getätigte Milliarden-Investition. (scho) 92 Luftverkehrsinfrastrukturen Charlotte Halpern LUFTVERKEHRSINFRASTRUKTUREN ZWISCHEN ÖKONOMISCHEM WETTBEWERB UND POLITISCHER INTEGRATION Das Beispiel des Flughafens Paris - Charles de Gaulle Wie kann man heutzutage große Verkehrsinfrastrukturprojekte in Angriff nehmen und ausgestalten in Gesellschaften, von denen es heißt, sie seien „nicht steuerbar“? Wie können verschiedene Interessen und Investitionen integriert werden, ohne dass das Projekt seine Substanz verliert oder nach einem zehn Jahre währenden Konflikt schlichtweg beerdigt wird? Diese Fragen bereiten den Entscheidern und Trägern großer Verkehrsinfrastrukturprojekte wahres Kopfzerbrechen. Unter dem fortwährenden Druck der internationalen und europäischen Wettbewerbsfähigkeit hat sich für alle europäischen Staaten die Notwendigkeit erwiesen, ihre Transport- und Kommunikationsinfrastrukturen zu modernisieren oder auszubauen, um einen guten Standort innerhalb der internationalen oder europäischen Transport- und Kommunikationsinfrastruktur zu bieten. Die Projekte der Hochgeschwindigkeitstrassen für die Bahn, der Flughäfen oder der Hafeninfrastrukturen breiten sich über das Gebiet der EU aus und werden als „Tore“ zum Rest der Welt bezeichnet, die hochmobile Personen-, Güter- und Kapitalströme aufnehmen können. Die Ausgestaltung und Umsetzung dieser Projekte und insbesondere ihre geographische Verortung waren vielfach Auslöser von Konflikten und Kontroversen zwischen Projektträgern und lokaler Bevölkerung. Diese Konflikte sind wahrlich kein neues Phänomen und spiegeln die Spannungen wider, die durch die wachsende Kluft zwischen dem Globalen und dem Lokalen entstanden sind. Ihr inzwischen systematischer und wiederkehrender Charakter sowie die neuerdings wohlwollende Einstellung der nationalen öffentlichen Meinungen gegenüber Bewegungen, die früher als egoistisch und partikularistisch gegolten hätten, weisen darauf hin, dass ein neues Mega-Projekte und Stadtentwicklung 93 Kräfteverhältnis zwischen den vorhandenen Akteuren existiert. Dieser Beitrag untersucht die Transformation öffentlichen Handelns in den europäischen Staaten bei der Ausgestaltung und Umsetzung großer Verkehrsinfrastrukturprojekte. In diesem Zusammenhang werden zwei Hypothesen entwickelt. Die Formen der Ausgestaltung und Umsetzung öffentlichen Handelns haben sich unter der Einwirkung der Privatisierung der großen Verkehrsunternehmen und der wirtschaftlichen Liberalisierung gewandelt (1). Die Finanzierung und der Betrieb von Verkehrsinfrastrukturen erfordern in der Tat die zunehmende Intervention privater Akteure entlang des gesamten Entscheidungsprozesses und tragen damit zusätzlich zum Verantwortungswirrwarr zwischen den öffentlichen und projektbetreibenden Behörden bei. Die Vervielfältigung von Regierungsebenen in allen EU-Staaten sowie die Machtzunahme nationaler Subsysteme beeinträchtigen das politische und technische Monopol der nationalen oder regionalen Regierungen in Hinblick auf die Ausgestaltung großer Verkehrsinfrastrukturprojekte (2). Die zunehmende Politisierung der Debatten um diese Projekte zeigt die Schwächung eines Legitimierungs- und Rechtfertigungsentwurfs, der traditionell von den öffentlichen Behörden geltend gemacht wurde und allein auf technischen und ökonomischen Elementen basierte. Jeder dieser Aspekte wird kurz im Lauf der folgenden Abschnitte entwickelt, bevor ein empirischer Fall analysiert wird: das Projekt der Erweiterung des Flughafens Paris - Charles de Gaulle zwischen den Jahren 1991 und 2002. 1. Internationalisierung, Privatisierung, Dezentralisierung: das fragwürdige Allgemeininteresse Die Hypothese, dass sich die Mechanismen öffentlichen Handelns im Bereich der Verkehrsinfrastrukturen verändert haben, stellt den Ausgangspunkt unserer Analyse dar. In der Tat beeinflusst der politische und institutionelle Rahmen, in dem große Verkehrsinfrastrukturprojekte umgesetzt werden, die Strategien, die von den Akteuren eingesetzt werden, um den betreffenden Entscheidungsprozess zu beeinflussen. Außerdem haben sich die Vorstellungen, die mit dem Sektor verbunden sind, gleichermaßen im Verlauf der vergangenen Jahrzehnte weiterentwickelt. Das öffentliche Vorgehen, das von den nationalen Behörden traditionell zur Legitimation großer Verkehrsinfrastrukturprojekte angewandt wurde, scheint dem neuen Gleichgewicht im Aushandlungsprozess nicht mehr zu entsprechen. Dieses neue Gleichgewicht während des Entwicklungsprozesses basiert auf einem veränderten Kräfteverhältnis zwischen öffentlichem und privatem Sektor und der Zivilgesellschaft, wenn die Frage nach dem allgemeinen Interesse verhandelt wird. Dies lässt sich anhand der folgenden drei Aspekte erklären: der Rolle der nationalen und regionalen Verwaltungen bei der Definition des Allgemeininteresses, den Beziehungen zwischen eben diesen Verwaltungen und dem Transportsektor sowie schließlich den Zugangsmöglichkeiten zum Entscheidungsprozess, über die Projektgegner verfügen. 94 Luftverkehrsinfrastrukturen 1.1. Wenn sich das Allgemeininteresse mit dem Monopol von Fachwissen und Information verbindet: die Ära der Technokraten Der kognitive Rahmen, in dem die nationalen Verkehrsinfrastrukturpolitiken bis vor kurzem entwickelt wurden, war von den Gegebenheiten der Nachkriegszeit bestimmt. Die politischen Entscheidungen, deren Effekte bis heute spürbar sind, sollten die Entwicklung und die Modernisierung der Verkehrsinfrastruktur mit Hilfe des zeitgenössischen technologischen Fortschritts ermöglichen. Dieser bewusste Ansatz nahm trotz extrem unterschiedlicher politischer und institutioneller Kontexte in allen EU-Staaten ähnliche Formen an (vgl. Montricher 1995). Ganz am Anfang stand der Vorrang eines Allgemeininteresses, das in den Dienst der harmonischen Entwicklung des nationalen Territoriums gestellt und durch die zentrale Rolle der nationalen – bzw. im Fall der Föderalstaaten regionalen – Verwaltungen gewährleistet wurde. Diese Schlüsselrolle erklärt sich durch die Einflussmöglichkeiten der öffentlichen Akteure oberhalb des Entscheidungsprozesses: der Filtermechanismus in dem Moment, in dem ein Problem auf die Tagesordnung gesetzt wurde, die Zuordnung der Anträge auf öffentliche Intervention sowie die Platzierung intersektoraler Netzwerke, deren Langlebigkeit im Großen und Ganzen die der Politik überschreitet und den Fortbestand intersektoraler Beziehungen auch mit dem privaten Sektor erlaubt. Die Existenz privilegierter Beziehungen zwischen der öffentlichen Hand, den großen nationalen Verkehrsunternehmen und den Infrastrukturbetreibern während des gesamten Entwicklungsprozesses dieser großen Projekte stellt ein zweites Kennzeichen des Gleichgewichts dar, das die Nachkriegszeit vererbt hat. Die allergrößte Mehrheit dieser Akteure wurde durch den öffentlichen Sektor gestärkt, sei es, weil ihre Entwicklung als strategisch für die Entwicklung des nationalen Gebietes angesehen wurde, sei es, weil es sich um einen noch instabilen Sektor im Stadium der Strukturierung handelte (vgl. Muller 1989). Die Entscheidungen, die diese Akteure im Bereich der Verkehrsinfrastruktur trafen, waren größtenteils abhängig von den Zielen, die durch die nationalen oder regionalen Autoritäten festgelegt wurden, und zwar entweder aus Finanzierungsgründen oder aus Gründen, die mit der Art der Beziehung zwischen den öffentlichen Einrichtungen und ihrer jeweiligen administrativen Vorrangstellung zusammenhingen. Diese „Logik des Arsenals“ (vgl. Cohen 1992) führte die Behörden dazu, einen großen Teil ihrer Kompetenzen im Bereich des technischen Fachwissens und der Information an die nationalen „Günstlinge“ zu delegieren (vgl. Hayward u. a. 1995). Auf diese Weise führten die zunehmenden Querverbindungen zu der Entstehung eines Entscheidungszusammenhangs, in dem Behörden, Infrastrukturbetreiber und nationale Transportunternehmen in der Lage waren, ihre Strategien im Namen des Allgemeininteresses (als politische Legitimation) und der technologischen Innovation (als technische Legitimation) auf den Weg zu bringen. In einem solchen System öffentlichen Handelns, in dem die politische Legitimität mit einer technischen Legitimität gekoppelt wurde, verfügten die Gegner der Verkehrsinfrastrukturprojekte über nur wenige institutionalisierte Zugangsmöglichkei- Mega-Projekte und Stadtentwicklung 95 ten zum Entscheidungsprozess (vgl. Feldman 1985). In jedem Fall erforderten diese Zugangsmöglichkeiten, ohne auf die Details eingehen zu wollen, wichtige organisatorische und finanzielle Ressourcen, z. B. wenn es vor Gericht ging, oder einen privilegierten Zugang zu verschiedenen Druckmechanismen wie den Medien oder den Abgeordneten von regionalem oder sogar nationalem Format (vgl. Nelkin 1974, Rucht u. a. 1984). Deshalb gelang es, abgesehen von einigen Erfolgen, zahlreichen AnwohnerInnen und anderen lokalen Projektgegnern nicht, ihre Stimmen hörbar zu machen oder im gleichen Maße wie die ausreichend legitimierten Akteure an die Öffentlichkeit zu treten, um ihr Partizipationsrecht bei der Entscheidungsfindung zur Verkehrsinfrastruktur durchzusetzen. 1.2. Wenn das ökonomische Interesse das Allgemeininteresse ersetzt: Die Ära der Betreiber Einige interne und externe Faktoren haben wesentlich dazu beigetragen, dass die Zentralität des nationalen institutionellen und politischen Rahmens abgenommen und das öffentliche Handeln im Bereich Verkehrsinfrastruktur sich gewandelt hat. Die Auffassungen, die mit diesem Bereich verbunden sind, haben sich weiterentwickelt: Die Verkehrsinfrastruktur dient zwar immer noch den internationalen und europäischen Ambitionen der nationalen Behörden, aber gegenwärtig widerspricht ihre Entwicklung regelmäßig dem Ziel einer harmonischen Entwicklung des nationalen Territoriums. Die Globalisierung der Tauschbeziehungen und die Internationalisierung der Wirtschaft haben die Rekonzentration des sekundären und tertiären Sektors in der Nähe von Verkehrsinfrastrukturen mit europäischer oder internationaler Reichweite vorangetrieben, so dass die anderen Gebiete, die zwar durchquert, aber nicht versorgt werden, mehr und mehr durch eine „Tunnelwirkung“ Einbußen hinnehmen müssen (vgl. Veltz 1997). Die Zunahme der Konkurrenz zwischen den europäischen Staaten und auch innerhalb der nationalen Grenzen hat zu der Entstehung bzw. Verstärkung neuer räumlicher Ungleichheiten im Hinblick auf die Profite, die durch eine erfolgreiche Bindung internationaler hochmobiler Investitionen zustande kommen, geführt. Dieser Prozess der Rekonzentration um die großen multimodalen Verkehrsdrehscheiben herum wird durch die Strategien der nationalen Verkehrsunternehmen oder der großen internationalen Firmen verschärft. Die große Mehrheit der nationalen Verkehrsunternehmen wurde oder wird unter dem Druck des internationalen Wettbewerbs mit Hilfe der Institutionen der Europäischen Gemeinschaft, und besonders der mächtigen Generaldirektion, privatisiert. Alle großen Verkehrsunternehmen haben ihre internen Strukturen und ihre jeweiligen Strategien allmählich angepasst: Interne Hierarchien und betriebliche Personalsystem wurden gestärkt, eigene Entwicklungsstrategien ausgearbeitet etc. Gleichzeitig hat die öffentliche Hand begonnen, neue Formen der Finanzierung von Verkehrsinfrastrukturen zu prüfen, um den Bau und den Betrieb zu optimieren. Diese Strategie hat die Ausbreitung hybrider Strukturen, die mit der Organisation der Rentabilität und der Attraktivität der be- 96 Luftverkehrsinfrastrukturen troffenen Infrastruktur befasst sind, bewirkt. Bahnhöfe, Flughäfen oder Häfen sind zu autonomen ökonomischen Entwicklungspolen geworden, die häufig wenig in ihre Umgebung integriert sind. Diese neue Entwicklung hat die Beziehungen und die Gewohnheiten umgewälzt, die bisher den öffentlichen und privaten Sektor in der Finanzierung und dem Betrieb der großen Verkehrsinfrastrukturen miteinander verweben konnten, und zur Verschleierung der Verbindungen beigetragen, die zwischen den Behörden und ihren alten „Günstlingen“ aufrecht erhalten worden sind (vgl. Hayward u. a. 1995). Die Umverteilung von Macht zwischen öffentlichem und privatem Sektor bei der Gestaltung und dem Betrieb großer Verkehrsinfrastrukturprojekte wird begleitet von einer wachsenden Fragmentierung öffentlicher Akteure. Obgleich der industrielle Sektor im Allgemeinen und die Verkehrsinfrastruktur im Besonderen als Apanage den nationalen Behörden verblieben sind (vgl. Wright/Cassese 1996), unterliegen sie von jetzt an einem supranationalen institutionellen und regulativen Rahmen. Diese Reglementierungen betreffen nicht mehr nur die technischen Aspekte der Infrastruktursysteme, sondern haben auch Verfahren und Instrumente mit sich gebracht, die nationalen Traditionen gelegentlich zuwider laufen. Neben der Privatisierung bestimmter nationaler Unternehmen, der oben erwähnten Günstlinge, oder der Ausbreitung hybrider Strukturen wie public private partnerships haben diese Reglementierungen bestimmte intranationale Ebenen gestärkt und einige Regeln in Bezug auf Transparenz und Information der BürgerInnen eingeführt. Diese supranationalen Regeln, verbunden mit Dezentralisierungstendenzen, die in allen europäischen Staaten zu beobachten sind, haben es den intranationalen Regierungsebenen erlaubt, Stück für Stück Partizipationsmöglichkeiten bei der Entwicklung großer Infrastrukturprojekte mit internationaler oder europäischer Reichweite zu schaffen. Diese Transformationsprozesse neueren Datums tragen zu der Infragestellung der Art und Weise öffentlichen Handelns im Bereich der Verkehrsinfrastruktur bei, die vorher um die nationalen Autoritäten zentriert waren. Die Akteure verfügten über ein Monopol in Bezug auf Fachwissen und technische Informationen, das über ihre administrative Vorreiterrolle hinausging, und legitimierten ihre Strategien im Namen des allgemeinen Interesses. Die fortschreitende Autonomisierung der großen Verkehrsinfrastrukturen und der Infrastrukturbetreiber beeinträchtigten diese Vorreiterrolle, so dass seither vielfach Kritik geäußert wurden, die die wachsende Kluft zwischen politischer und technischer Legitimität bei der Entwicklung großer Verkehrsinfrastrukturprojekte thematisierte. Abgeordnete, Akteure der lokalen Wirtschaft, Umweltbewegungen und Initiativen von AnwohnerInnen bekräftigten ihren Willen, ein lokales Interesse im Gestaltungsprozess des allgemeinen Interesses zu vertreten. Die nationalen Subsysteme verbanden sich um das Ziel der lokalen nachhaltigen Entwicklung herum. Dieses Konzept, das manchmal wie eine Zauberformel verwendet wird, impliziert die Einbeziehung vielfältiger Anliegen, die mit der Entwicklung von Verkehrsinfrastruktur verbunden sind. Es handelt sich entsprechend um eine stufenweise wachsende Kluft zwischen dem sehr Globalen und dem sehr Lokalen bei der allmählichen systematischen Integration der politischen, ökonomischen, sozialen Mega-Projekte und Stadtentwicklung 97 und ökologischen Dimensionen im Entscheidungsprozess. Dieser multidimensionale Ansatz impliziert gleichzeitig ein neues Verständnis der Legitimität, in deren Namen große Verkehrsinfrastrukturprojekte umgesetzt werden, und die Entwicklung von Mechanismen öffentlichen Handelns, die dem neuen Kräfteverhältnis zwischen öffentlichem und privatem Sektor sowie der Zivilgesellschaft gerecht werden. Diese fortschreitende Anpassung hat sich besonders in den Versuchen niedergeschlagen, Konflikte bei der Umsetzung und Ausgestaltung bestimmter Verkehrsinfrastrukturprojekte zu lösen. Dieser Artikel betrachtet hier insbesondere den Flughafensektor. 2. Die Entwicklung von Luftfahrt-Drehscheiben in einem Kontext extrem fragmentierter metropolitaner Interessen Die großen Drehscheiben der Luftfahrt von internationaler Bedeutung stellen eine potentielle Konfliktquelle par excellence dar. Diese Infrastruktur befindet sich im Allgemeinen in geringer Entfernung zu oder sogar mitten in den großen Ballungsräumen, wodurch die oben angesprochenen Merkmale verschärft werden. Die wirtschaftliche Entwicklung der Metropolenräume sowie ihre Integration in die internationalen und europäischen Verkehrsund Kommunikationsnetze stellt ein Hauptinteresse der nationalen Regierungen dar. Dieses Interesse wird in den europäischen Staaten durch Abb.1: Roissy - Übersicht des Flughafen Charles de Gaulle, Quelle: www.paris-cdg.com Zugriff am 12.11.2003 die Tatsache verstärkt, dass die Luftverkehrsnetze von internationaler Bedeutung nur diejenigen Städte versorgen, die den Status einer Hauptstadt haben: sei es in politischer (London, Paris) oder ökonomischer Hinsicht (Amsterdam, Frankfurt), um nur die wichtigsten zu nennen (vgl. Tabelle 1). Diese Motoren der nationalen wirtschaftlichen Entwicklung stellen ein strategisches Element für alle Regierungsebenen von der kommunalen bis zur nationalen Ebene dar. Außerdem wird die Rekonzentration rund um die großen Metropolenräume im Fall des Luftverkehrs durch die Strategien der Luftfahrtunternehmen selbst bestärkt. Die Privatisierung der nationalen Luftfahrtunternehmen und die Stärkung der Wettbewerbspolitik durch die Europäische Kommission lassen es nicht zu, dass die europäischen Staaten die Entwicklung ihrer ehemaligen nationalen Günstlinge in vollem Ausmaß direkt unterstützen. Die Politik der Zuteilung von Marktlücken sowie die Entscheidungen über die Luftfahrtinfrastruktur sind die letzten Hebel, über die die 98 Luftverkehrsinfrastrukturen nationalen Behörden die Strategien der Luftfahrtunternehmen noch unterstützen können. Ende der 1980er Jahre haben diese massiv in eine Struktur investiert, die in Anlehnung an die nordamerikanische Konkurrenz „Hub and Spokes“ genannt wird: Amsterdam-Schiphol für KLM, London-Heathrow für British Airways und Paris – Charles de Gaulle für Air France.1 Die Flughafeninfrastrukturen sind ein wichtiger Trumpf in der Strategie der Luftfahrtunternehmen, ihre internationale und europäische Wettbewerbsfähigkeit zu sichern, bei der sie durch ihre nationalen Regierungen unterstützt werden. Die Rekonzentration des Luftverkehrs ist entsprechend der Auslöser für große politische und soziale Konflikte, deren Ausmaß die Fragmentierung von Interessen in den großen Metropolenräumen widerspiegelt. In der Tat sind diese Gebiete als Motoren der nationalen Wirtschaftsentwicklung genau diejenigen großflächigen geographischen Gebiete, in denen sich verschiedene Regierungsebenen, zahlreiche Bevölkerungsgruppen, Interessen und verschiedene Vorstellungen über die Raumnutzung überschneiden (vgl. Lévy 1994). Nicht alle Interessen verfügen über dieselben politischen, ökonomischen, sozialen oder auch nur technischen Ressourcen, um sich in einem komplexen institutionellen Zusammenhang Gehör zu verschaffen. Der Entscheidungsprozess bei der Entwicklung einer Flughafeninfrastruktur, und insbesondere bei der Auswahl ihres Standorts, stellt entsprechend eine Quelle der Frustration für einige Akteure dar, die bis dato kaum Einfluss nehmen konnten. Der Frust wird verstärkt durch die Befürchtungen, die mit den unausweichlichen negativen Folgen dieser Flughafeninfrastrukturen verbunden sind: Tag und Nacht Fluglärm, Luft- und Wasserverschmutzung, Abwertung der Immobilien oder Zerstörung von Landschaft. In der Tat liegen die Anlagen der Flughafeninfrastruktur häufig an den Rändern der Metropolenräume im Herzen von Gemeinden, für die die ökonomischen Erträge des Flughafens sehr unsicher sind, während sie einen maximalen Preis für die negativen Auswirkungen bezahlen. Die Existenz eines Flughafens in diesen bereits fragilen Gebieten bedeutet zum großen Teil ein zusätzliches Stigma und keineswegs eine Quelle für Wohlstand. Es liegt also in der Hand der öffentlichen Akteure, eine politische Entscheidung zu treffen, die innerhalb des supranationalen Regulierungsrahmens mehr als nur die rein technischen und ökonomischen Dimensionen des betreffenden Projektes berücksichtigt. Eine politische Entscheidung erfordert die fortlaufende Vermittlung zwischen globalen Anstrengungen zur Förderung der nationalen ökonomischen Wettbewerbsfähigkeit und den lokalen Bemühungen um die Wahrung von Lebensqualität für die BürgerInnen im Verlauf des gesamten Umsetzungsprozesses eines Flughafenprojektes. Um diesen gegensätzlichen Erwartungen gerecht zu werden, haben die nationalen Regierungen verschiedene Strategien entwickelt, um das Problem der Standortwahl für eine konfliktträchtige Infrastrukturanlage zu lösen. Im Fall München z. B. wurde die Entscheidung getroffen, einen neuen Flughafen mehr als 50 km von der Innenstadt entfernt zu bauen – zu dem Preis der Schließung des alten Flughafens, der nicht erweitert werden konnte. Das Beispiel des Flughafens Stansted in London illustriert seinerseits die Strategie, in der Hoffnung auf eine Verkehrsverlagerung und eine Entlastung der vorhandenen Flugplätze einen neuen Standort in Mega-Projekte und Stadtentwicklung 99 mehr als 80 km Entfernung von der Innenstadt zu schaffen. Diese Streuung hat dennoch die Entwicklung von London–Stansted gestärkt, dessen Aufschwung vor allem mit der Entstehung der Billigfluglinien einsetzte. Schließlich konnte die Erweiterung bestehender Infrastruktur im Fall Paris – Charles de Gaulle nur dadurch gegenüber den AnwohnerInnen durchgesetzt werden können, dass wichtige ökonomische und soziale Zugeständnisse gemacht wurden, die indessen nicht so weit gingen, die Erfordernis eines dritten internationalen Flughafens einzugestehen oder Nachtflüge aufzugeben. Die großen Verkehrsinfrastrukturprojekte erfordern enorme Anstrengungen in den Gesellschaften der Gegenwart, die von einer extremen Fragmentierung gekennzeichnet sind: Wie schafft man einen institutionalisierten politischen Raum zur Verhandlung und Gegenüberstellung der mit der Entwicklung dieser Infrastrukturanlagen verbundenen Interessen? Wie integriert man die technische Seite dieses Sektors in eine politische Dimension? Die Partizipation am gesamten Entscheidungsprozess, der mit der Flughafenplanung zusammenhängt, verlangt ein hohes Niveau technischer Kenntnisse, den Zugang zu Informationen und die Erstellung von Gutachten, die sowohl durchdacht als auch durch alle vorhandenen Akteure legitimiert sind. Der Verkehrssektor war lange Zeit durch die Konzentration von Informationen und Fachwissen in den Händen einer nationalen technisch-administrativen Elite gekennzeichnet. Die Einbeziehung neuer Akteure, auch einfacher BürgerInnen oder militanter UmweltschützerInnen mit einer minimalen Organisationsstruktur, in ein „Netz öffentlichen Handelns“ (Le Galès/Thatcher 1995), das bis dato technisch oder sektoral ausgerichtet war, erfordert einen langen Lernprozess: die Hinterfragung der Machtverhältnisse innerhalb des Netzes, das Teilen von Fachwissen und Information sowie die Wiederanerkennung der Legitimität lokaler Interessen. Dieser Beitrag will zeigen, dass die Gestaltung und Umsetzung eines Flughafens abhängig ist von der Fähigkeit des Netzwerkes aus öffentlichen Luftverkehrsakteuren, divergierende Akteure und Interessen zu integrieren, um gemeinsam eine Neuformulierung der Vorstellungen in Bezug auf die Entwicklung dieses Sektors und die Beziehungen der zum Netzwerk gehörenden Akteure untereinander zu erreichen. Diese Hypothese wird im Folgenden entlang der Analyse des Entwicklungsprojektes Paris – Charles de Gaulle zwischen den Jahren 1991 und 2002 entwickelt. 3. Der Flughafen Paris – Charles de Gaulle: Die allmähliche Integration eines extraterritorialen Raumes2 Das Projekt der Erweiterung des Flughafens Paris – Charles de Gaulle, genannt „Roissy 3“, wurde im Jahr 1992 von der Gesellschaft Aéroports de Paris (ADP) – einer öffentlichen Einrichtung mit industriellem Charakter und der Aufgabe, seit dem Jahr 1945 die zivilen Flugplätze in der Pariser Region zu stärken – der Öffentlichkeit vorgestellt. Das Projekt sah den Bau dreier zusätzlicher Startbahnen vor mit dem Ziel, 80 Mio. Passagiere aufnehmen zu können (ADP 1992a). Nach der Bekanntmachung wurde eine Reihe von Einwänden gegen das Projekt erhoben, und zwar 100 Luftverkehrsinfrastrukturen sowohl von nationalen Umweltverbänden als auch von Luftverkehrsexperten, die eine nationale Debatte über die Zukunft des Luftverkehrs forderten. Die Kampagne gegen die Erweiterung des Flughafens Paris – Charles de Gaulle begann. Der Konflikt illustriert, wie die Schwächung der traditionellen Beziehungen innerhalb des Netzwerkes öffentlichen Handelns im Luftverkehrssektor vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Internationalisierung und der Liberalisierung des Transportsektors bewirkt hat, dass speziell dieses Projekt auf die Tagesordnung gelangte und die französische Luftverkehrspolitik ganz allgemein überdacht wurde. Dieser Prozess lässt sich mit Hilfe einer Analyse der Entwicklung der Beziehungen zwischen Aéroports de Paris und seinen verschiedenen Geschäftspartnern in der gesamten Entwicklungsgeschichte von Paris – Charles de Gaulle erklären. Dieses Beispiel wird entsprechend in drei Etappen präsentiert. Zuallererst erfolgt ein Rückblick auf den Machtgewinn von Aéroports de Paris bei den Entscheidungen über die Zukunft des Flughafens (1957-1985). Dieser historische Zugriff erscheint notwendig, um das Ausmaß des Konflikts zu verstehen, der durch die Bekanntmachung der geplanten Projekterweiterung im Jahr 1992 erzeugt wurde. In dieser Periode kristallisierten sich die Interessen, die Akteurskoalitionen und die Vorstellungen, die mit der Entwicklung der Flughäfen verbunden waren, heraus. Dann kehren wir zur Schlüsseletappe zurück, in der sich der Status der Flughafenbehörde im Kontext des Machtgewinns der lokalen Umweltverbände und der Anwohnerbewegungen von einem Bauherrn zu einem Betreiber veränderte (1986-1995). In der letzten Periode (1996-2002) stand die Frage einer möglichen Privatisierung der Aéroports de Paris regelmäßig auf der Tagesordnung, und die öffentliche Einrichtung wurde zu einem der wichtigsten Akteure aus dem öffentlichen Bereich auf dem Feld der regionalen Wirtschaftsförderung. 3.1 Die Entstehung eines extraterritorialen Raumes (1957-1985): Die Rolle von Paris – Charles de Gaulle in der Entwicklung der Region Paris Das Projekt, in der Region Paris einen dritten Flughafen – zusätzlich zu den Flughäfen Orly und du Bourget – zu bauen, wurde erstmalig im Zuge der Entwicklung eines strategischen Entwicklungsplans für die Region Paris angedacht. Die damalige Regierung wollte die Entwicklung der nördlichen Pariser Region rund um die großen öffentlichen Infrastrukturen organisieren und strukturieren und betraute den Bezirk Paris mit der Ausarbeitung des Entwicklungsplans.3 Diese Etappe unter der Federführung von Paul Delouvrier stand für den Wunsch, den Flughafen du Bourget, 15 km von der Pariser Innenstadt entfernt, zu schließen, um einen großen Wohnkomplex und einen Park zu errichten. Der Bezirk schlug Aéroports de Paris vor, dieses Gebiet gegen eine andere Fläche auszutauschen, auf der der neue Flughafen erbaut werden konnte. Sobald die prinzipielle Entscheidung für einen neuen Flughafen durch die Regierung Pompidou im Jahr 1963 getroffen worden war, wurde die Flughafenbehörde mit einem groben Entwurf des Projektes Paris-Nord beauftragt. Bei dieser Gelegenheit bestimmten drei Mega-Projekte und Stadtentwicklung 101 Aspekte die Projektentwicklung: die Abschirmung städtischer Gebiete gegenüber dem zukünftigen Flughafen, das rapide Wachstum des Sektors im Sinne einer reinen Erweiterung und die Eignung für Überschallmaschinen. Entsprechend wurde es sehr schnell offensichtlich, dass der Bezirk Paris nicht in der Lage sein würde, den zukünftigen Flughafen in den Masterplan Raumordnung und Städtebau der Pariser Region (SDAURP), der im Jahr 1965 verabschiedet worden war, mit allen seinen Entwicklungsmöglichkeiten zu integrieren. Obwohl der Flugplatz ursprünglich als Mittel zur Entwicklung des nationalen Gebiets gedacht war, wurde er bis in die 1990er Jahre hinein ein Werkzeug zur Entwicklung des Nordostens der Region Paris. Zwei Faktoren scheinen diesem Wandel des Projekts, das von Aéroports de Paris entwickelt wurde, zu den Zielen, die durch den Bezirk Paris definiert wurden, zugrunde zu liegen: die fehlende Koordination in der französischen Zentralverwaltung und die Opposition der lokalen Honoratioren. 3.11 Die Einflussnahme der Flughafenbehörde auf die Entwicklung des Flughafens Die Wahl eines Gebietes, das für den Bau des neuen internationalen Flughafens 25 km nordöstlich von Paris reserviert wurde, reflektiert die damaligen Überlegungen über die Grenzen des Pariser Ballungsraumes (vgl. Larroque/Margairaz/Zembri 2002). Das Ziel war die Wiederherstellung eines Gleichgewichts bei der Entwicklung des Ballungsraums Paris Richtung Osten und Westen und die Verdichtung des urbanen Gewebes im kleinen Kranz – rund um sechs „Umstrukturierungszentren“ – und im großen Kranz – um acht Neubaugebiete (SDAURP 1966). Trotz seines Ausnahmestatus gelang es dem Bezirk Paris weder, einen Dialog mit den großen öffentlichen Einrichtungen wie der Régie autonome des transports parisiens (RATP) oder Aéroports de Paris (ADP) zu initiieren, noch diese enger in die Erstellung des SDAURP einzubeziehen. Der Bezirk Paris hatte die Entwicklung des Nordens der Pariser Region um die neue Autobahn A1 herum vorgesehen, die eine direkte Verbindung mit dem Norden Europas darstellte, und nicht um den zukünftigen Flughafen Paris–Nord herum. Darüber hinaus wurde der Bau neuer Wohnparks, Büros und Gewerbegebiete um die Neubaugebiete herum konzentriert, um eine Zersiedelung und die Ausweitung vereinzelter Wohnbebauung zu vermeiden. Aus diesem Grund wurde die Entwicklung der Gebiete um den zukünftigen Flughafen herum eingefroren und Baugenehmigungen wurden genau dosiert. Dies bestätigt ein Städtebauer in der Geschäftsführung des Département Seine-Saint-Denis zu dieser Zeit (Département 93) 4: „Niemand konnte sich zu dieser Zeit vorstellen, dass die Entwicklung des neuen Flughafens so überwältigend verlaufen würde! Ich will damit sagen, dass Orly gerade eröffnet worden war und es immer vorgesehen war, die Entwicklung dieses Flughafens fortzuführen! Zu dieser Zeit interessierten sich die Städtebauer für die ‚wichtigeren’ Dinge wie die Entwicklung der Gebiete am Rande der Autobahn A1.“ 102 Luftverkehrsinfrastrukturen Das Projekt, das durch die Aéroports de Paris entwickelt wurde, spiegelt die o.g. fehlende Koordination zwischen dem Bezirk Paris und anderen öffentlichen Einrichtungen, die in der Pariser Region tätig waren, wider. Die ADP bestand zuerst darauf, eine sehr große Parzelle – 3.100 ha oder ein Drittel der Gesamtfläche von Paris intra muros – innerhalb der Grenzen der Pariser Region zu erhalten: Eine Fläche außerhalb der Region Paris wurde von den Behörden der damaligen Zeit niemals wirklich in Betracht gezogen, ein Phänomen, das sich etwa 40 Jahre später bei der Diskussion um einen eventuellen dritten Flughafen im Pariser Becken wiederholte. Eines der Argumente, das durch die ADP zur Rechtfertigung der Größe der erforderlichen Fläche angeführt wurde, war die Wahrung eines Puffers zwischen dem Flugplatz und den Nachbarkommunen, um die Gemeinden vor Fluglärm zu schützen. Indessen wurde bereits Ende der 1960er Jahre offensichtlich, bevor noch überhaupt das erste Flugzeug von Paris – Charles de Gaulle gestartet war, dass dieses Ziel nicht erreicht werden konnte, wenn man die Struktur des Flughafens selbst betrachtete. Tatsächlich wurde die für die Motorenversuche reservierte Fläche nur wenige Meter von der Gemeinde Roissy-en-France entfernt angelegt (vgl. Val d’Oise, Département 95), während der äußerste Rand der Flugbahn Nord mit West-Ost-Ausrichtung direkt an die Kommune Goussainville (95) grenzte. Entsprechend hätte eine Pufferzone zum Schutz der Anliegergemeinden reserviert werden können, wenn nicht die Struktur des Flughafens selbst dem widersprochen hätte, die in Wirklichkeit nur auf einem letzten, und zwar einem sehr halboffiziellen, Argument beruhte, nämlich der Sicherung der finanziellen Rentabilität des Standorts. Durch den Status der ADP als öffentlicher Einrichtung stand ihr ein autonomes Budget sowie das Recht zu, zur Aufbesserung des Budgets die wirtschaftliche Auslastung der Flughafenterminals, mit denen sie betraut war, zu betreiben (vgl. Notes et Etudes Documentaires 1962). Folglich wurde der Flughafen so organisiert, dass er von den bösen Zungen der Zeit „das größte Kommerzzentrum im Norden der Pariser Region“ genannt wurde. Die ADP baute einen riesigen Komplex aus Banken, Hotels, Geschäften, Restaurants und Lagerhallen. Auf dem Papier schlug das Projekt genau die entgegengesetzte Richtung von dem ein, was in den Richtlinien des SDAURP definiert wurde. In dem Moment, in dem die betreffenden Flächen für den Bau eines neuen Flughafens unter Federführung der ADP reserviert waren, hätte nur noch ein starker politischer Wille für die Berücksichtigung der Ziele des SDAURP sorgen können. Aber trotz aller Kritiken, die gegen die Merkmale des neuen Flughafens geäußert wurden, unterstützten die politischen Autoritäten Frankreichs die Entwicklung dieser Infrastruktureinrichtung in der Form, wie es die ADP geplant hatte, in Übereinstimmung mit ihrer administrativen Vorreiterrolle im Namen der nationalen Gebietsentwicklung. In der Folge wurde innerhalb der Flughafeneinfriedung selbst überhaupt keine Pufferzone eingeplant, und die ADP begann, die Bauten in der lautesten Zone – um die 7.500 ha - systematisch aufzukaufen, um sie abzureißen und eine Schutzzone außerhalb der Flughafengrenzen aufzubauen (vgl. Feldman 1984). Um die Spannungen zwischen den Anliegergemeinden und der ADP zu beheben Mega-Projekte und Stadtentwicklung 103 und die anliegende Bevölkerung vor dem Lärm zu schützen, wurde die Erteilung von Baugenehmigungen in diesen Gemeinden ab dem Jahr 1965 durch den Bezirk Paris komplett blockiert. 3.12 Die Mobilisierung der Nachbargemeinden gegen die geplante Auflösung ihrer Kommunen Zunächst sahen sich die betreffenden Kommunen nicht in der Lage, dem eigenen allmählichen Verschwinden entgegenzutreten. Dafür gab es vor allem zwei Gründe: die Rolle der Eigentümer und der Landwirte im Nordosten der Pariser Region sowie die Fragmentierung von Politik und Verwaltung. Das gewählte Gebiet befand sich auf einem Hochplateau, das für die Landwirtschaft (vor allem Weizen und Zuckerrüben) reserviert und daher kaum bewohnt gewesen war: ein einziger Bauernhof wurde abgerissen. Die Enteignungsverhandlungen waren durch die Dominanz der Eigentümer und Landwirte im Nordosten der Pariser Region geprägt, die sich in einem Verband zusammengefunden hatten. Der Verband repräsentierte 500 Eigentümer, die für ihr Land entschädigt werden mussten, und 50 Landwirte, die für ihre Ertragsverluste entschädigt werden mussten und deren Pacht zu ersetzen war. Er handelte mit dem Finanzministerium eine Pauschalsumme für die 6.000 betroffenen Parzellen aus (vgl. Le Figaro vom 31.01.1964 und 09.10.1964). Die Kommunen selbst wurden für den mit dem Flughafen verbundenen Ressourcenverlust, für die Verschmutzung und ihre Ungelegenheiten mit den Bauarbeiten, noch bevor der Flughafen eröffnet worden war, nicht entschädigt (vgl. La Croix vom 21.11.1971). Einer der Gründe für den schwachen Mobilisierungsgrad der betroffenen Kommunen hängt besonders mit ihrer Bevölkerungszahl (vgl. Tabelle 3) und ihrer politischen und administrativen Fragmentierung zusammen: es handelt sich um acht Kommunen und drei Départements.5 Außerdem entschieden sich viele, vor allem junge Teile der Bevölkerung dieser Kommunen für einen Umzug und eine Niederlassung anderswo, weil sie die Konsequenzen des Fluglärms und die fehlende städtische Entwicklungsperspektive, die mit der Blockade aller Baugenehmigungen einherging, fürchteten. Ein Bürgermeister fasst dies so zusammen: 6 „Der Flughafen wurde zu einem wahren Trauma für unsere Dörfer, noch bevor die Flugzeuge kamen. Durch die Baustellen wurde unser Leben für drei Jahre zu einem richtigen Alptraum. Zu der Zeit arbeitete man auch noch an den Wochenenden! Es war unmöglich geworden, auf die Zukunft zu hoffen, zudem unsere Auflösung sehr gewissenhaft organisiert wurde. Die Jungen gingen, sobald sie konnten, und niemand wollte neu hierher ziehen. Die einzige Art und Weise des Überlebens war für uns, den höchstmöglichen Profit, der sich aus dem Flughafen schlagen ließ, herauszuholen.“ Trotz der politischen und administrativen Fragmentierung organisierten sich die Kommunen unabhängig voneinander, um ihre Identität zu wahren und ihre Entwicklung zu sichern. Diese Strategie wurde durch die allmähliche Ablösung der festgelegten Ziele durch den Bezirk Paris erleichtert, die u. a. mit dem Eintreffen von Albin Chalandon im Ministère de L’Equipement et du Logement im Jahr 1968 und den Dezentralisierungsgesetzen im Jahr 1982 einherging. Albin Chalandon befürwortete 104 Luftverkehrsinfrastrukturen eine bessere Aufteilung öffentlicher und privater Investitionen bei der Entwicklung der Region Paris. Diese Stellungnahme resultierte in der Wiederzulassung von Baugenehmigungen außerhalb der Gebiete, die der SDAURP vorsah – insbesondere den Neubaugebieten. Diese Gelegenheit wurde von den Anliegerkommunen des Flughafens ergriffen, um den kollektiven und individuellen Wohnungsbau voranzutreiben (Louvres, Goussainville) und Industrie- und Gewerbeparks zu schaffen (Aulnay-sous-Bois, Garges-lès-Gonesse, Mitry-Mory). Da die zentralen Wohnungs- und Infrastruktur-Verwaltungen und ihre lokalen Niederlassungen vom Bezirk Paris bei der Erstellung des SDAURP ignoriert worden waren, gaben sie dessen Hauptziele schnellstmöglich auf. Im Gegensatz zu der ursprünglichen Planung hörten die Bevölkerung und die Wohnparks der Anliegerkommunen von Paris – Charles de Gaulle zwischen 1975 und 1990 nicht auf zu wachsen (vgl. Tabelle 3 und 4), bevor sie ab dem Jahr 1985 unter ein Gesetz über Städtebau im Umfeld von Flugplätzen fielen (vgl. Zeitleiste). Darüber hinaus vergrößerte sich die Ungleichheit zwischen den Anliegerkommunen, wobei einige von ihnen sehr stark vom finanziellen Manna, das durch die Gewerbesteuern der auf ihrem Gebiet ansässigen Unternehmen erzeugt wurde, profitierten. Diese Ungleichheiten lassen sich anhand der Bevölkerungsentwicklung dieser Kommunen zwischen den Jahren 1975 und 1990 und durch die Wohnparkentwicklung zwischen den Jahren 1982 und 1990 erklären. Am Vorabend der Bekanntmachung des Erweiterungsprojektes für den Flughafen Paris – Charles de Gaulle war dieser also schon ein zentraler Knoten wirtschaftlicher Aktivitäten für die Region Ile-de-France geworden: 38.500 Beschäftigte im Jahr 1991, davon 7.300 als Flugpersonal, bei fast 500 Unternehmen (vgl. ADP 1992:52-54). Bei seinem Ausbau profitierte der Flughafen vor allem von dem schwachen Niveau politischer und administrativer Koordination zwischen den verschiedenen Staatsebenen, das mit einer geringen Integration des Flughafens in seine lokale Umgebung bezahlt wurde. Die betroffenen lokalen Behörden waren aufgrund der hohen politischen und administrativen Fragmentierung und der allmählichen Entstehung einer unbarmherzigen Konkurrenz zwischen den jeweiligen Gebieten um Investitionen nicht in der Lage, diesen Prozess aufzuhalten. 3.2 Die Entstehung eines wichtigen ökonomischen Entwicklungspols für die nationale Gebietsentwicklung (1986-1995) Ab Mitte der 1980er Jahre legte die französische Regierung ein neues Entwicklungsziel für die ADP fest: den Wandel von der Bauherrenaufgabe zu der Aufgabe eines Managers im Export von Know-how im Bereich Flughafenbetrieb und bei der Förderung der Attraktivität des Standorts Paris für ausländische Investitionen. Laut Jacques Douffiagues, dem damaligen Verkehrsminister, ging es für die ADP vor allem um die Sicherung der Rentabilität und der Wettbewerbsfähigkeit der Anlagen, für die sie zuständig ist (vgl. La Tribune de l’Economie vom 07.08.1986). Dieser Wandel spiegelt den Ideenstand der französischen Führung Mitte der 1980er Jahre wider. In einem Kontext verlangsamten Wachstums und ökonomischer Internationalisierung Mega-Projekte und Stadtentwicklung 105 musste der Sektor nach Wegen zur Selbstfinanzierung suchen und die Wettbewerbsfähigkeit auf der internationalen und europäischen Wirtschaftsbühne organisieren. Es ging um die Konkurrenz um den zweiten Platz in Europa hinter London–Heathrow zwischen Paris – Charles de Gaulle und Frankfurt und die Einrichtung der ersten europäischen Umsteigeknoten. In diesem neuen Kontext entwickelte die ADP ein Erweiterungsprojekt für den Flughafen Paris – Charles de Gaulle, bei dem der Infrastrukturausbau selbst nur ein Teil war. Ziel war die Unterstützung von Air France, dem nationalen Luftfahrtunternehmen, sowie die Positionierung der Region Paris auf der internationalen und europäischen Leiter. Der Flughafen Paris – Charles de Gaulle wurde in den Augen der Regierungen, die in den Jahren von 1986 bis 1995 aufeinander folgten, ein strategisches Element, was durch den Status „Zentrum mit europäischer Reichweite Region Ile-de-France“ symbolisiert wird, der ihm im neuen Generalplan aus dem Jahr 1994 zugesprochen wurde (vgl. DREIF 1994). Die Vorbereitungsarbeiten zum neuen Generalplan der Region Ile-de-France (SDRIF) zeigen den Willen des Staates, seine Rolle bei der Organisation und der Entwicklung der Region Ile-de-France neu zu definieren, und dies umso mehr, als dass er der Hauptinvestor war. Diese Rolle musste angesichts der Veränderungen neu definiert werden, die durch die Dezentralisierungsgesetze im Jahr 1982 ins politische und administrative Feld geführt wurden. Dadurch erhielten die Kommunen neue Kompetenzen bei der städtischen Raumordnung und wirtschaftlichen Entwicklung, so dass die Region Ilede-France, die im Jahr 1976 gegründet worden war und im Jahr 1986 eine gewählte Vertretung erhielt, sich als kompetente Stufe im Bereich der Regionalplanung förmlich aufdrängte. So trägt die Entwicklung der Region Paris, die immer noch durch die dominante Rolle des Staates gekennzeichnet ist, den zentralen Anliegen der lokalen Gebietskörperschaften gleichermaßen Rechnung: dem Schutz der Landschaft, dem Schutz des Lebensraumes und dem Kampf gegen Umweltschäden. 3.21 Die Entwicklung des Flughafens Paris – Charles de Gaulle im Namen der ökonomischen Wettbewerbsfähigkeit und technischer Erfordernisse Das Projekt der Erweiterung des Flughafens Paris – Charles de Gaulle zielte darauf ab, Bedingungen zur ökonomischen Wettbewerbsfähigkeit auf internationalem und europäischem Niveau zu schaffen: ein Investitionsprogramm von 12 Mrd. Franc, gestaffelt zwischen 1991 und 1995, wurde in Zusammenarbeit mit einem auf Gewerbeimmobilien spezialisierten Beratungsbüro auf den Weg gebracht (vgl. Le Monde vom 15.06.1989). Einer der ersten Schritte bestand in der Erhöhung der Abfertigungskapazitäten, um das jährliche Verkehrsaufkommen in Roissy – Charles de Gaulle zu verdoppeln und im Jahr 2015 etwa 80 Mio. Passagiere abfertigen zu können (vgl. ADP 1992a) – im Vergleich zu 25 Mio. im Jahr 1992. Diese Kapazitätserhöhung sollte durch den Bau von drei neuen Startbahnen gelingen, die das ursprüngliche Projekt aus dem Jahr 1960 vervollständigen sollten. Diese Ergänzungen sollten der Air France die Möglichkeit geben, einen zentralen Umsteigeknoten in Paris – Charles de Gaulle einzurichten und ihre finanzielle Situation zu stabilisieren (vgl. Les Echos vom 27.02.1996). Dieses Drehscheiben-Projekt, finanziert in einer Höhe von 52 Mio. 106 Luftverkehrsinfrastrukturen Franc durch Investitionen der Air France und 72 Mio. Franc durch Investitionen der ADP, sollte der Region Ile-de-France die wichtige Bedeutung innerhalb des internationalen und europäischen Luftraums sichern. Ein zweiter Schritt sollte außerdem darin bestehen, die Attraktivität für internationale Unternehmen auf der Suche nach einem Standort für ihre europäische Niederlassung zu erhöhen. Ein Beispiel ist der Fall Fedex aus dem Jahr 1995. Zu diesem Zweck trieb die ADP ab dem Jahr 1988 das Projekt Roissypôle voran, das 60.000 m² Bürofläche am Fuße der Startbahnen anbietet, von denen seit dem Jahr 1995 mehr als ein Drittel vor allem durch kleine und mittlere Unternehmen belegt ist. Schließlich erhielt der Flughafen im Jahr 1994 einen TGV-Bahnhof und wurde damit eine der ersten multimodalen Plattformen in Europa. Diese allmählichen Ergänzungen beschleunigten die Ablösung des Flughafens Orly durch Paris – Charles de Gaulle (vgl. Tabelle 2), was insbesondere durch die Verlagerung des Sitzes von Air France in den Süden von Paris – Charles de Gaulle im Jahr 1994 symbolisiert wird. Dieser Umzug beschert der Kommune Trembly-enFrance 20 bis 25 Mio. Franc jährlich aus Gewerbesteuern. Die Politik der Entwicklung und Selbstfinanzierung, die von der ADP zwischen den Jahren 1986 und 1995 verfolgt wurde und aus ökonomischer und finanzieller Perspektive als Erfolg gewertet werden kann, hat vielfältige Kritik hervorgerufen. Indessen erschien der Flughafen Paris – Charles de Gaulle als ein unverwüstliches, selbstgenügsames Imperium, eine richtige „Stadt in der Stadt“, so dass die ADP von ihren zahlreichen Gegnern als „Staat im Staate“ bezeichnet wurden. Die fortschreitende Unabhängigkeit der ADP führte zunächst zu einem veränderten Kräfteverhältnis innerhalb des Luftverkehrs zwischen der Flughafenbehörde, der für die zivile Luftfahrt zuständigen Zentralverwaltung und Air France. Während die ADP zunehmend für die Rolle des Mediators zwischen den lokalen Gebietskörperschaften, Anliegern und dem Luftzentrum optierte, hat sich die öffentliche Einrichtung im Kern aller Polemik wiedergefunden und wurde beschuldigt, ihre Aufgabe, der Öffentlichkeit zu dienen, im Namen ihrer wirtschaftlichen Entwicklung zu vernachlässigen. Obgleich die letzten beiden Schritte der Entwicklung durchgeführt werden konnten, ohne heftige Reaktionen auszulösen, mussten bei der Kapazitätserweiterung des Flughafens anderweitig Abstriche hingenommen werden. 3.22 Die politische Mobilisierung der Anwohner und der lokalen Gebietskörperschaften Die Heftigkeit des Protests gegen das Erweiterungsprojekt des Flughafens Paris– Charles de Gaulle erklärt sich durch ein merkliches Wachstum des Alltagsverkehrs um den Flughafen, eine Zunahme der Anliegerbevölkerung um mehr als 21 Prozent zwischen den Jahren 1975 und 1990 (vgl. Tabelle 3) und fortgeschrittene Kenntnisse der Projektgegner in Hinblick auf Zugangsmöglichkeiten zum Entscheidungsprozess, die ihnen der französische institutionelle und juristische Rahmen eröffnet. Dank der Entwicklung des gesetzlichen Rahmens verfügen die lokalen Gebietskörperschaften und die Anwohnerverbände zunehmend über ausreichende Kompetenzen, um das Projekt der Flughafenerweiterung zu blockieren. Dabei wurden 97 Kommunen, die Mega-Projekte und Stadtentwicklung 107 durch städtebauliche Restriktionen vom Projekt betroffen sein würden, im Verlauf der Beratungen über den öffentlichen Nutzen zu einer Abstimmung für oder gegen das Projekt, wie es von der ADP vorgebracht worden war, aufgerufen: Eine Mehrheit von 50 Kommunen stimmte gegen das Projekt.7 Diese Kommunen, die vornehmlich im Westen des Flughafens liegen und besonders von seinen negativen Auswirkungen – Fluglärm, Verschmutzung etc. – betroffen sind, wurden in ihrer Ablehnung durch drei Organisationen bestärkt, um hier nur die wichtigsten zu nennen: die Assoziation zum Schutz der Umwelt und zur Begrenzung von Umweltschäden (APELNA, 20 Kommunen, gegründet im Jahr 1991), die Assoziation zur Verteidigung von Vald’Oise gegen die Luftbelästigung von Roissy (ADVOCNAR, 23 Bürgerkommitees der AnwohnerInnen von Roissy) und das interkommunale Syndikat für Entwürfe und Programmgestaltung der Entwicklung im Osten von Val-d’Oise (SIEVO, 32 Kommunen, gegründet im Jahr 1990). Die Mobilisierung organisierte sich zunächst um die Aktionen der Abgeordneten zur Entwicklung des neuen SDRIF herum. Diese schlossen sich zusammen, um für eine bessere Verteilung der finanziellen Ressourcen, die durch den Flughafen generiert werden, und einen besseren Zugang zu Arbeitsplätzen am Flughafen für die Bevölkerung der Umgebung zu plädieren. Indem sie ihre Fähigkeit bewiesen, ihre internen Rivalitäten hinter sich zu lassen, zeigten sich die lokalen Gebietskörperschaften von der Notwendigkeit überzeugt, eine konzertierte Aktion durchzuführen, um den ADP-Projekten für den Flughafen Paris – Charles de Gaulle, die durch den Staat über den neuen SDRIF unterstützt wurden, einen Strich durch die Rechnung zu machen. Ein Bürgermeister, Mitglied von SIEVO, drückt es folgendermaßen aus:8 „Man muss verstehen, dass alle Anstrengungen zu der Zeit darauf gerichtet waren, dass es gelang, den Staat in seinen Projekten zur Gebietsentwicklung zu bezwingen. Wenn wir uns nicht bewegt hätten, hätten wir uns mit einem Städtebau abfinden müssen, der uns komplett entgleitet. Dank der Mobilisierung von 32 Bürgermeistern innerhalb der SIEVO konnten wir wirklich entscheidungsstark werden. Es waren die Opposition und die Mobilisierung, die es uns auch erlaubt haben, konstruktiv zu werden. Wir waren einverstanden damit, die Grundzüge des SDRIF zu akzeptieren, aber wir wollten die Aufgaben und Funktionen unter uns aufteilen und sie über alle Kommunen der Gegend gleichmäßig zu verteilen.“ Zu dieser konzertierten Aktion der lokalen Abgeordneten, die die Schaffung richtiger interkommunaler Strukturen ab dem Jahr 1998 bereits andeutete, kam die Mobilisierung der Region Ile-de-France hinzu, die sich als unumgänglicher Partner des Staates und der Départments zur Koordination öffentlichen Handelns auf regionaler Ebene erwies (vgl. Le Galès/Estèbe 2001). Diese Anwandlungen der Region standen in direkter Konkurrenz zu der von den Départements gelenkten Aktion, und insbesondere der von Val d’Oise (95). In diesem Département befindet sich ein Großteil der Kommunen, die zu abgelegen vom Flughafen sind, um von den Hilfen zur Schallisolierung für öffentliche Gebäude und Wohnungen oder von den ökonomischen und steuerlichen Erträgen 108 Luftverkehrsinfrastrukturen des Flughafens zu profitieren, die aber nichtsdestotrotz genauso unter dem Lärm des Luftverkehrs leiden. Diese Kommunen zeigten das höchste Engagement bei der Organisation kollektiver, sogenannter „unkonventioneller“ Aktionen wie Demonstrationen, Petitionen, lokalen Referenden und auch konventioneller Aktionen wie der Anrufung der Justiz oder der Veröffentlichung von Pressekommuniques, die in den nationalen Medien übertragen wurden. Diese kollektiven Aktionen wurden überlagert durch eine Zahl von Einzelaktionen, die sich in den interkommunalen Wettbewerb einreihten, der Mitte der 1980er Jahre zu einem Paradox geworden war. Dies ist insbesondere in der Gemeinde Tremblay-en-France (Département 93) der Fall, die ab dem Ende der 1980er Jahre die Basis für eine konstante Kooperation oder ein städtisches Projekt mit der ADP verwarf, die 400 lokalen Unternehmen mit dem Flughafen zu verbinden. Vor der Zunahme der Ansprüche beschleunigte ADP die Inangriffnahme seines Umweltplans, der über fünf Jahre verteilt Investitionen von 450 Mio. Franc (3,6 Prozent der Investitionen von ADP und 1,7 Prozent der Geschäftszahlen der öffentlichen Einrichtung) vorsah. Der Plan sah eine Reihe von Maßnahmen vor, die den Fluglärm in der Umgebung eindämmen und die Anwohnerschaft informieren sollten: die Schaffung eines Echtzeit-Kontrollsystems des Lärms und der Flugbahnen (SONATE), das der Anwohnerschaft zugänglich sein sollte, die Eröffnung eines Hauses der Umwelt von Roissy (vgl. Mars 1995), die Veröffentlichung eines jährlichen Berichts über die Umweltpolitik der ADP und die Zeitschrift Entre Voisins (Unter Nachbarn). Dem Umweltengagement des ADP-Projektes gelang es nicht, das Ausmaß der lokalen Forderungen zu begrenzen. Diese Forderungen, die im Großen und Ganzen nichts anderes als den Kampf gegen den Fluglärm betrafen, entwickelten sich schnell in Richtung einer politischen Auseinandersetzung mit dieser Angelegenheit. Durch die gemeinsame Aktion der lokalen Gebietskörperschaften und der Anwohnerverbände erschien der Konflikt, der mit der Erweiterung von Paris – Charles de Gaulle zusammenhing, ab dem Jahr 1994 auf der nationalen politischen Szene und erforderte die Wiederaufnahme des Entwurfs auf höherem Niveau. Diese zweite Etappe in der Entwicklung des Flughafens Paris – Charles de Gaulle unterstreicht die Transformation der Vorstellungen, die mit der Vorreiterrolle dieser Infrastruktureinrichtung zur Förderung der Region Paris innerhalb der internationalen Wirtschaft verbunden werden. Diese Entwicklung besteht zunächst in einem Rückgang öffentlicher Investitionen in diesem Bereich und der Notwendigkeit für die ADP, die Rentabilität und Wettbewerbsfähigkeit der Flughafeninfrastruktur zu sichern. Die Umsetzung dieser Politik ging einher mit der Stärkung der Autonomie der öffentlichen Einrichtung hinsichtlich ihrer administrativen Vorreiterrolle. Der Kurswechsel hin zu einer Logik des Marktes liegt quer zu ihrer Aufgabe, der Öffentlichkeit zu dienen, d. h. der ökonomischen, sozialen und räumlichen Integration der Infrastruktur in ihre Umgebung. In diese Bresche sind die Gegner des Erweiterungsprojektes über die Mobilisierung verschiedener Strategien erfolgreich gesprungen, um der Flughafenbehörde einen politischeren Weg aufzuzwingen. Die Politisierung Mega-Projekte und Stadtentwicklung 109 eines Dossiers, das eminent technisch gestaltet war, verwandelte sich dann durch die Einführung einer neuen Prioritätenliste anlässlich der Weiterentwicklung der französischen Luftfahrtpolitik in Ile-de-France, die von nun an eine öffentliche Schlichtung durch den Premierminister erforderlich machte. 3.3 Auf dem Weg zu einer nachhaltigen Entwicklung des Flughafens Paris – Charles de Gaulle? Die Politisierung der Anstrengungen zur Entwicklung des Flughafens Paris – Charles de Gaulle manifestiert sich in der Wiederaufnahme des Projektes durch die sich zwischen den Jahren 1996 und 2002 ablösenden Regierungen und in der Entwicklung einer neuen Strategie der ADP. Das Konzept der „nachhaltigen Entwicklung der Pariser Flughäfen“ entstand unter dem Druck einer Koalition von Akteuren, die an der Entwicklung der Flughafenpolitik in der Region Ile-de-France beteiligt werden wollten. Dieses Konzept, das häufig als Beschwörungsformel verwendet wird, spiegelt indessen eine alternative Vorstellung von der Entwicklung der Luftfahrtinfrastrukturen wider, die auf einer Linie liegt mit den Maßnahmen, die seit den Verträgen von Maastricht zum Prinzip der Integration durch die europäischen Institutionen ergriffen wurden. Diese „weiche“ Interpretation des Konzeptes der nachhaltigen Entwicklung erlaubt die Gleichgewichtung ökonomischer, sozialer und ökologischer Anstrengungen bei politischen Entscheidungen über die Verkehrsinfrastruktur. Der Fortschritt, der bei der Strategie der ADP im Besonderen und beim öffentlichen Aktionsnetz „Luftverkehr“ im Allgemeinen erzeugt wurde, zeigt den Machtgewinn dieser neuen Vision der Welt, die sich im Anschluss an einen langen Lernprozess und den Bruch der Koalition zwischen den lokalen Gebietskörperschaften und den Anwohnerverbänden durchsetzte. 3.31 Der offizielle Widerruf der von den Flughafenbehörden betriebenen Politik in Ile-de-France Die Wiederaufnahme des Projektes zur Flughafenerweiterung Paris – Charles de Gaulle brachte vielfältige Gutachten und Ratschläge hervor, die von den wechselnden Verkehrsministerien zwischen den Jahren 1994 und 1998 in Auftrag gegeben wurden, um eine Untersuchung über den öffentlichen Nutzen vorzubereiten. Der Umgang mit dieser Angelegenheit erschien den französischen politischen Autoritäten umso dringlicher, als sie die nächsten kommunalen und regionalen Wahlergebnisse des Jahres 1995 beeinflussen würde. Wenn man die Wahlen wegen des Flughafens nicht gewinnt, kann man sie verlieren: Das ist die harte Lektion, die eine Reihe lokaler Abgeordneter lernen musste, die z. T. schon seit mehreren Jahrzehnten tätig gewesen waren und nun zusehen mussten, wie ihre jungen Gegner der grünen und sozialistischen Parteien ihre Sitze im Generalrat oder der Stadtverordnetenversammlung einnahmen. Die Wahlen zeigen die Ankunft einer neuen Generation von Abgeordneten, die in Bezug auf Fragen, die mit der Flughafeninfrastruktur zusammenhingen, sehr informiert waren und von jetzt an 110 Luftverkehrsinfrastrukturen über zahlreiche institutionalisierte Mechanismen verfügten, die Flughafenpolitik in der Ile-de-France zu beeinflussen. Die Abgeordneten setzten sich für die Forderungen nach einer besseren Verteilung der ökonomischen und steuerlichen Erträge des Flughafens Paris – Charles de Gaulle ein, ohne die Existenz des Flughafens selbst zu hinterfragen. In ihren Forderungen wurden sie durch das Umweltministerium unterstützt, das schon seit mehreren Jahren die Beteiligung an politischen Entscheidungen im Verkehrssektor gefordert hatte (vgl. Lolive 1999). Für die Akteure, die eine stärkere Einbeziehung der Umweltbelange favorisierten, sollte die Verkehrsinfrastruktur von nun an eine wichtige Rolle bei der räumlichen Entwicklung besitzen und nicht nur Teil einer Strategie sein, die von der Luftfahrtbehörde mit Blick auf die ausländische Konkurrenz entwickelt wurde. Die Mobilisierung dieser Akteurskoalition drückt sich in einer Korrektur des von der ADP entwickelten und durch die entsprechende Verwaltung unterstützten Erweiterungsprojektes nach unten aus, unmittelbar gefolgt von einer Entscheidung von Premierminister Alain Juppé (RPR), die auf den Schlussfolgerungen der Kommission Douffiagues im Oktober 1995 basierte. Diese Kommission unter dem Vorsitz des ehemaligen Verkehrsministers Jacques Douffiagues erinnerte bei dieser Gelegenheit an das Ziel der „Minimierung von Geräuschemissionen“ (vgl. Douffiagues 1996, Vol. 1). Zum ersten Mal in der Geschichte der französischen Flughafenpolitik wurde die Entwicklung einer Infrastruktur mit den Ausmaßen des Flughafens Paris – Charles de Gaulle im Namen einer besseren ökonomischen und sozialen Integration in ihre Umgebung begrenzt. Trotz der Machtübernahme einer neuen politischen Mehrheit in der Regierung wurde diese Entscheidung auch von der Regierung Jospin im September 1997 aufrecht erhalten und bestärkt (vgl. Les Echos vom 24.09.1994). Das Projekt zur Erweiterung des Flughafens Paris – Charles de Gaulle wurde eingeschmolzen: nur zwei Flugbahnen mit Ost-West-Ausrichtung, kürzer als im Originalprojekt vorgesehen und nach Osten verlegt, um die Kommunen im Westen des Flughafens zu schützen (Département 95), wurden der vorhandenen Infrastruktur angefügt. Die Errichtung von zwei doppelten Startbahnen in dieser Form sollte die Wettbewerbsfähigkeit des Umsteigeknotens von Air France und des französischen Luftfahrtstandortes sichern. Andererseits sollte die Infrastrukturerweiterung von einer ganzen Serie von Maßnahmen begleitet werden, die darauf ausgerichtet waren, den Schutz der Anlieger vor dem Fluglärm – durch Hilfen zur Schallisolierung, Verbote oder Beschränkungen von Nachtflügen für die lautesten Flugzeuge – und eine bessere Verteilung der ökonomischen Erträge des Flughafens – durch die Schaffung eines lokalen Fonds zur Umverteilung von Ressourcen, die außer den Gewerbesteuern durch den Flughafen erzeugt wurden – zu gewährleisten. Das Projekt der Erweiterung, das von der Regierung Juppé angepasst und dann von der Regierung Jospin vervollständigt worden war, bedeutete den Widerruf der Strategie, die bis dahin durch die Flughafenbehörde verfolgt worden war, und zeigt den Willen des Staates, neue Regulationsmechanismen im Feld öffentlichen Handelns einzuführen. Diese Politik legitimierte zuallererst die systematische Einbeziehung des Mega-Projekte und Stadtentwicklung 111 Umweltministeriums in die mit der Flughafeninfrastruktur verbundenen Entscheidungen sowohl bei im Kabinett des Premierministers geführten Diskussionen als auch bei der Entwicklung einer französischen Position, die dann mit den Gemeinden debattiert wird. Der Kampf zwischen Umwelt- und Verkehrsverwaltungen stellt einen Aspekt dar, der im Entscheidungsprozess zu allen Verkehrsinfrastrukturen und anderen Großprojekten regelmäßig wiederkehrt (vgl. Lolive 1999, Lascoumes 1999). Die Zunahme der Konflikte zwischen diesen beiden Verwaltungen in Hinblick auf Fachwissen und politische Legitimität wurde gekrönt durch die Schaffung einer Behörde zur Kontrolle von Fluglärmbelästigungen (ACNUSA) im Jahr 1999. Diese Institution, deren politisches Gewicht sich erst noch zeigen wird, hat die Aufgabe sicherzustellen, dass die Entwicklung des Luftverkehrs in Frankreich die Anwohnerschaft nicht belästigt, und verfügt deshalb über Sanktionsmöglichkeiten gegenüber denjenigen Akteuren, die dieses Prinzip nicht berücksichtigen. Außerdem haben die politischen Autoritäten ihren Willen betont, die Entwicklung des Flughafens Paris – Charles de Gaulle zu begrenzen, um ein Gleichgewicht zwischen der ökonomischen Logik – als Antwort auf die Anforderungen des Luftverkehrsmarktes – und einer Logik der Raumordnung – ökonomische und soziale Kohäsion – herzustellen. Dieser Wille fand Ausdruck in den Grenzen, die der Rekonzentration des Luftverkehrs in Ile-de-France gesetzt wurden, und der Aufrechterhaltung von Paris–Orly, dem Flughafen im Süden von Paris. Obgleich die Air France den Wunsch hatte, ihren Umsteigeknoten in Paris – Charles de Gaulle zu errichten und ihre gesamten Aktivitäten dorthin zu verlagern – Berufsausbildung, Luftfracht etc. -, wurde das Luftunternehmen im Jahr 1998 im Namen seines öffentlichen Auftrages zur Ordnung gerufen, was den Fortbestand eines permanenten Gleichgewichts zwischen unternehmerischer und raumordnerischer Logik impliziert: „Air France muss ihr Gleichgewicht bei der Standortwahl verbessern. Das Unternehmen kann nicht einfach sagen: Mein Flughafen ist Roissy“ (vgl. Le Monde vom 31.07.1998). Obwohl die Forderung der AnwohnerInnen nach einem Nachtflugverbot in Paris – Charles de Gaulle nicht erfüllt wurde, war das Prinzip der Begrenzung der Flughafenerweiterung von nun an Konsens zwischen den verschiedenen vorhandenen Akteuren.9 Dieses Ziel wurde einige Jahre später durch die Regierung Raffarin im Rahmen der Politik „Für eine nachhaltige Entwicklung der Pariser Flughäfen“ wieder aufgegriffen, die am 25. Juli 2002 vorgestellt wurde:10 „Um seine Entwicklung zu schützen und seine Attraktivität zu erhöhen, muss Frankreich über eine leistungsfähige Luftverbindung verfügen und entsprechend über eine Flughafeninfrastruktur, die sich auf der Höhe seiner Ambitionen und Bedürfnisse befindet. Die Flughäfen Roissy – Charles de Gaulle und Orly sind natürlich dazu vorbestimmt, einen Großteil der nationalen Bedürfnisse zu befriedigen. Aber auch solche Infrastrukturen können weder funktionieren noch sich entwickeln, wie sie wollen, und vor allem nicht auf Kosten der Umweltqualität für die Anwohnerschaft.“ Das Ende der 1990er Jahre markiert wieder einen Wandel in Bezug auf die neoliberale Logik, die von den Akteuren des Luftverkehrs verfolgt wurde. Der Macht- 112 Luftverkehrsinfrastrukturen gewinn der Anwohnerschaft und der lokalen Abgeordneten, verstärkt durch das Umweltministerium oder durch die politischen Spitzen der grünen Partei, brachte die aufeinander folgenden Regierungen zu der Einführung neuer Regulierungsmechanismen. Diese Maßnahme erlaubte den Übergang von einer technischen und ökonomischen Herangehensweise zu einem Ansatz der Raumordnung. Dieser Wandel fand seinen Ausdruck in der Rückbesinnung auf die eigentliche Aufgabe des Luftfahrtunternehmens und der ADP, den Dienst an der Öffentlichkeit, und in der Schaffung einer Behörde für die Kontrolle und die Fachexpertise im Luftfahrtsektor, die alle Aktivitäten der französischen Flughafeninfrastrukturen eingrenzt. In diesem Kontext beschleunigte die ADP ihre Umstrukturierung, um sich als einer der Hauptförderer des Nordostens der Region Ile-de-France zu präsentieren. 3.32 Die allmähliche Einfügung des Flughafens in seine Umgebung Die Umstrukturierung der ADP seit dem Jahr 1995 hängt sehr mit dem Druck zusammen, der im französischen politischen und institutionellen Kontext ausgeübt wurde, wie in den vorigen Absätzen beschrieben wurde, aber auch mit einer Selbstvergewisserung der öffentlichen Einrichtung. Die Führung der ADP erkannte sehr Abb. 2:Bodennutzung im Nordosten von Paris 1999, im Südwesten Paris, im Nordosten der Flughafen Charles de Gaulle Quelle: www.plaindefrance.fr/ressources/Telechargement/Territoire/cartes/cartes_epa_6.pdf schnell die Reichweite der herannahenden Transformationen: die ökonomische Entwicklung der Flughafenanlage durch ihre ökonomische und soziale Integration in ihre räumliche Umgebung. Außerdem musste der Eingriff möglichst schnell Mega-Projekte und Stadtentwicklung 113 geschehen, so dass die politischen Autoritäten nicht veranlasst würden, unter dem Druck der öffentlichen Meinung Maßnahmen zu ergreifen, die den Interessen der ADP widersprachen. Das folgende Zitat eines Beauftragten der ADP spiegelt diese Entwicklung:11 „Aéroports de Paris muss seine Entscheidungsstrukturen, die Autorität, Hierarchie und Entscheidungen im Namen eines rationalen allgemeinen Interesses verbinden, verändern in Richtung auf solche, die andere Quellen der Legitimität finden, im Respekt, Zuhören, der Nähe, dem Gefühl, Rechenschaft ablegen zu müssen, verantwortlich zu sein und in der bereit, kontrolliert zu werden (...) Der Flughafen ist zuallererst ein Ökosystem, ein mehr und mehr ausbalanciertes Kräfteverhältnis zwischen allen vor Ort vorhandenen Akteuren, sowohl den auf ihm selbst als auch den in seiner Umgebung wirkenden.“ Diese Politik zeigte sich zum ersten Mal, als sich um die ADP ein Netz aus Akteuren der Wirtschaftsentwicklung bildete, um für die BewohnerInnen der angrenzenden Gemeinden einen privilegierten Zugang zu den Arbeitsplätzen zu gewähren: die Information über Berufe im Luftverkehr, die Schaffung von Berufsausbildungszentren, die Entwicklung von spezifischen Ausbildungsketten in den Schuleinrichtungen der Umgebung, die Stärkung des öffentlichen Verkehrs zwischen dem Flughafen und den umgebenden Kommunen etc. Diese Initiativen wurden stark unterstützt von den angrenzenden lokalen Gebietskörperschaften, die ihr Engagement auf eine bessere Umverteilung der ökonomischen und steuerlichen Erträge, die durch den Flughafen erzeugt wurden, ausgerichtet hatten. Diese Politik bleibt zu relativieren angesichts der tatsächlichen Veränderungen im Zugang der Bevölkerung der umliegenden Départements zu den verfügbaren Arbeitsplätzen im Flughafenkomplex. Die Ausweitung von Initiativen in diesem Sinne sowie die Verhärtung der Kommunikationsstrategie der ADP beschönigen die zuweilen schwachen Resultate. Zwischen den Jahren 1997 und 2002 sind 18.800 Arbeitsplätze auf dem Flughafen Paris – Charles de Gaulle geschaffen worden, aber nur 2.900 dieser Arbeitsplätze wurden an BewohnerInnen der drei benachbarten Départements vergeben, was auf 49 Prozent aller Arbeitsplätze im Flughafenbetrieb hinausläuft (vgl. ADP 2002). Trotz dieser Einschränkung ist die Politik der Öffnung der ADP bei den anliegenden lokalen Gebietskörperschaften begrüßt worden, die diese Initiative in Abstimmung mit ihren institutionellen Kompetenzen, finanziellen Mitteln und jeweiligen Interessen unterstützt haben, um sich als ernstzunehmende Partner zu behaupten. Dies wurde erleichtert durch die Einführung verschiedener interkommunaler Strukturen, die Kooperation zwischen den Kommunen institutionalisierten und die Wahl von Repräsentanten vorsah, die ermächtigt waren, direkt mit der Abteilung für räumliche Beziehungen in der ADP zu verhandeln. Die interkommunalen Strukturen, für die der Kommunalverband Roissy – Porte de France das bis heute weitreichendste Beispiel darstellt, haben das Kräfteverhältnis, das vorher zwischen den sehr kleinen Kommunen und der Flughafenbehörde herrschte, umgekehrt. In diesem Zusammenhang nahmen die Kommunen auch die Rationalisierung ihres Wohnungs- und 114 Luftverkehrsinfrastrukturen Büroflächenangebots auf dem interkommunalen Gebiet in Angriff, um ihre jeweiligen Bevölkerungen gegen den Lärm zu schützen und Unternehmen aus der ganzen Welt anzuziehen. Außerdem wurde ein internes Umverteilungssystem eingerichtet, das ein gewisses Gleichgewicht zu den Kommunen, die nicht direkt von den Steuereinnahmen durch den Flughafen profitieren, gewährleisten sollte. Die offensive Strategie bestimmter interkommunaler Strukturen funktionierte nicht, ohne neue Ungleichgewichte zwischen den lokalen Gebietskörperschaften auf die Kosten der Gebiete, die vom Fluglärm betroffen sind, aber mehr als 25 km vom Flughafenterminal z. B. im Vallée de Montmorency liegen (Val d’Oise), zu schaffen. Die Strategie provozierte darüber hinaus den Bruch der gemeinsamen Protestfront aus lokalen Gebietskörperschaften und Anliegerverbänden, die sich von nun an darauf zurückzogen, den Rechtsweg zu beschreiten sowie die Abgeordneten und die lokale Bevölkerung über die Politik im Kampf gegen die Lärmbelästigungen zu informieren. Der Fortbestand der Ungleichheiten im Umgang mit der Anwohnerschaft angesichts des Fluglärms müsste zukünftig auf nationalem und EU-Niveau im Rahmen der Umsetzung der europäischen Direktive über Umweltlärm, die im Juli 2002 erscheinen sollte, thematisiert werden. Diese Direktive impliziert die Entstehung eines dezentralisierten Betriebssystems für die europäischen Flughäfen im Rahmen der Ziele, die in den institutionellen und rechtlichen Rahmen der Staaten und der Gemeinschaft festgelegt wurden. Im Kontext eines erhöhten Konkurrenzrisikos zwischen den Flughäfen haben diese Ziele die Funktion, ein gleichmäßiges Verteilungssystem zu schaffen, das die Gleichheit im Umgang mit Anliegern über das gesamte nationale und europäische Gebiet garantiert. Die Umsetzung dieser Direktive im Rahmen einer nationalen Politik mit dem Anliegen der „nachhaltigen Entwicklung der Pariser Flughäfen“ gibt der Idee einer eventuellen Privatisierung von Aéroports de Paris wieder neuen Schub. Diese Entscheidung hätte den Vorteil, dass die Kompetenzen und die jeweiligen Verantwortlichkeiten der Flughafenbehörde und ihrer Verwaltung bei dem Betrieb der betreffenden Infrastrukturen geklärt würden. Außerdem wäre es der ADP dann nicht mehr möglich, die Verfolgung einer ökonomischen Rentabilität im Namen des allgemeinen Interesses zu rechtfertigen. Zweifellos ist es noch zu früh, den Grad der Institutionalisierung eines Systems aus Akteuren, die von der Entwicklung des Flughafens Paris – Charles de Gaulle betroffen sind, genau auszuwerten. Obwohl man die Reichweite der erfolgten Veränderungen seit dem Beginn der 1990er Jahre nicht leugnen kann, ist doch unbestreitbar, dass das Projekt der Flughafenerweiterung im heutigen Kontext im Wesentlichen ein Projekt der ADP bleibt und streng genommen kein kollektives Projekt, um das eine Form lokaler governance entstehen könnte. Eine solch ambivalente Situation spiegelt die Veränderungen der Regulierung öffentlicher Politik in diesem Bereich seit dem Ende der 1980er Jahre wider. Der Zentralitätsverlust des nationalen Rahmens unter dem vereinten Druck der Europäischen Union und der intranationalen Regierungsebenen zeigt sich bei der Suche nach der Ebene, die am besten geeignet ist, neue Regulationsmechanismen hervorzubringen, die eine Verbindung zwischen dem Globalen und dem Lokalen darstellen könnte. Es ist keineswegs offensichtlich, dass die Mega-Projekte und Stadtentwicklung 115 regionale Regierungsebene in einem so besonderen Fall wie der Ile-de-France die beste Ebene für diese Aufgabe ist. Angesichts der umfänglichen Ressourcen, über die bestimmte Einrichtungen verfügen, die privatisiert worden sind oder es demnächst sein werden, verfügt der regionale Rat über keine ausreichende institutionelle und Abb.3: Ansicht des Hyatt Regency Hotel Quelle: www.paris-cdg.com Zugriff am 12.11.2003 Abb. 4: Ansicht des Stade de France (St. Denis) Quelle: www.plainedefrance.com Zugriff am 12.11.2003 politische Legitimität, um die vorhandenen Interessen um ein kollektives Projekt auf der Ebene der Metropole Paris zu organisieren. Ohne eine solche koordinierende Stufe scheint der Zentralstaat immer noch der einzige Akteur zu sein, der in der Lage ist, diese Mechanismen der politischen Regulation zugunsten ökonomischer und sozialer Kohäsion gegen zuweilen gegenläufige Weltanschauungen zu entwickeln. 4. Schlussfolgerungen Die Liberalisierung der Ökonomie und die Privatisierung des Sektors haben die Kräfteverhältnisse, die bis dahin die Beziehungen zwischen öffentlichen Verwaltungen, Infrastrukturbetreibern und großen Verkehrsunternehmen charakterisierten, umgewälzt. Die partielle oder totale Privatisierung der beiden letzteren Akteure hat die öffentlichen Verwaltungen ohne einen großen Teil ihres technischen Wissens und ihrer Vorreiterrolle zurückgelassen. Außerdem passen sich die Strategien, die von den Flughafenbetreibern und den Luftverkehrsunternehmen entwickelt wurden, in die unternehmerische Logik ein, die sich an die europäische und internationale Konkurrenz richtet, aber gelegentlich bis in politische nationale und europäische Entscheidungen zur Raumordnung hineinreicht. Die wachsende Kluft zwischen unternehmerischer und raumordnerischer Logik sowie technischer und politischer Legitimität ist Ursache für zahlreiche politische und soziale Konflikte, die die Notwendigkeit illustrieren, neue Formen der Interessenorganisation zu entwickeln, die ein gewisses Niveau sozialer und räumlicher Kohäsion garantieren. Das Beispiel des Flughafens Paris – Charles de Gaulle und der konfliktreichen Beziehungen zwischen Aéroports de Paris und den Akteuren der räumlichen Umgebung zeigen die vorher allgemein beschriebenen Transformationen. Die allmähliche Entstehung neuer intra- und supranationaler Regierungsebenen hat einen Zentralitätsverlust auf nationalem Gebiet bewirkt, so dass die Legitimität von Entschei- Luftverkehrsinfrastrukturen 116 dungen über Flughafeninfrastruktur im Namen des allgemeinen Interesses gelitten hat. Die Stärkung der Europäischen Union sowie die Entstehung von nationalen Subsystemen hat Anliegerverbänden, denen es vorher nicht gelungen war, auf nationaler politischer Bühne Gehör zu finden, neue Gelegenheiten geboten. In einem beweglichen institutionellen und politischen Rahmen konnten die Gegner der ADP-Erweiterungspolitik Verbündete finden, die über ausreichende institutionelle, politische und finanzielle Ressourcen verfügten: lokale Gebietskörperschaften, junge KandidatInnen bei nationalen und lokalen Wahlen, das Umweltministerium, lokale Akteure der Wirtschaftsförderung etc. Die Entstehung einer solchen Allianz führte zu einer Ausdehnung der Forderungen vom reinen Kampf gegen den Fluglärm hin zu der Einsetzung eines Systems zur Umverteilung ökonomischer und steuerlicher Ressourcen, die durch den Flughafen generiert wurden – eine Strategie, die langfristig fruchtbar wurde. Es ist noch zu früh, mit Sicherheit festzustellen, ob die im Laufe der vergangenen Jahre eingeführten Veränderungen im Entscheidungssystem über den Flughafen Paris – Charles de Gaulle tatsächlich die Integration in seine Umgebung garantieren. Auf jeden Fall hat die Heftigkeit dieses Konfliktes die Notwendigkeit ans Licht gebracht, mit der Neuverteilung von Kompetenzen und Verantwortlichkeiten zwischen öffentlicher Hand, Infrastrukturbetreibern und Luftfahrtunternehmen fortzufahren. Es wird nur über vollständige Information, eine verstärkte Kontrolle und die Durchsetzung von Sanktionen im Fall von Umweltbeeinträchtigungen oder Nichteinhaltung der Regeln zur Lärmminderung möglich sein, das Vertrauen der Anwohnerschaft in die Legitimität politischer Autoritäten und der Flughafenbehörden wieder herzustellen. Anmerkungen 1 2 Diese Strategie, die Mitte der 1980er Jahre in den Vereinigten Staaten entwickelt wurde, besteht darin, vernünftige Umsteigezentren zu schaffen, um die Kurz-, Mittel- und Langstreckenflüge einer Luftfahrtlinie zu optimieren. Diese Linien werden gestärkt durch einen zentralen Umsteigeknoten (Hub) und eine dortige Umverteilung der Passagiere mit verschiedenen Zielen (Spokes). Die Fallstudie wurde im Rahmen einer Doktorarbeit am Institut d’Etudes Politiques de Paris durchgeführt. Erste Presseanalysen erlaubten es, die grobe Entwicklung der Flughafeninfrastruktur in der Region Paris seit 1945 durchzuführen. Wir stützen uns auf eine vorhandene Auswahl der Fondation nationale des Sciences Politiques (Dossier „Transport aérien“, 553/12, 9 tomes), die die in der nationalen wöchentlichen und monatlichen Presse erschienenen Artikel enthält. Eine ergänzende Analyse wurde in der lokalen, regionalen und spezialisierten Presse durchgeführt. Darüber hinaus wurden systematische Dokumentenanalysen, die von den verschiedenen Organisationen, die am Entscheidungsprozess beteiligt waren, ebenso wie Rechtsverordnungen herangezogen. Wir versuchten, diese Erhebungen durch drei Gesprächsreihen mit den Akteuren des Konfliktes, Mega-Projekte und Stadtentwicklung 3 4 5 6 7 8 9 117 die zu dem einen oder anderen Zeitpunkt am Entscheidungsprozess beteiligt waren, zu vervollständigen. Diese 65 Gespräche wurden im Frühjahr und Herbst 2001 in der Region Ile-de-France und im Herbst 2002 in der Region Ile-de-France, in Toulouse und in Lyon geführt. Die Personen sind in diesem Artikel anonymisiert worden. Die Schaffung des District de la Région parisienne oder Bezirk Paris erfolgte durch das Gesetz vom 02.08.1961. Er wurde direkt unter die Kontrolle von General de Gaulle, dem damaligen Präsidenten der Republik, und seinem Premierminister Michel Debré gestellt. Er wurde von Michel Debré als „bewaffnete Arm des Staates in der Region Paris“ bezeichnet (vgl. Larroque/Margairaz/Zembri 2002: 226) und symbolisierte die Übernahme der Pariser Region durch den Staat angesichts der Rolle dieses Gebiets als ein Motor der nationalen Entwicklung. Es lag auch an diesem Ausnahmestatus, dass der Bezirk Paris größere Schwierigkeiten hatte, einen Dialog mit den großen Verkehrsunternehmen (RATP, SNCF) zu initiieren, die ihn als einen Störenfried betrachteten, oder auch mit der zentralstaatlichen und den lokalen Verwaltungen, die darunter leiden, dass sie aus den vorbereitenden Diskussionen über den Regionalentwicklungsplan des Großraums Paris ausgeschlossen sind. Gespräch am 13.03.2002 Der administrative Neuzuschnitt der Region Paris trat mit dem Gesetz vom 10.07.1964 in Kraft, mit dem per Erlass am 08.10.1966 acht Départements geschaffen wurden. Ab diesem Datum waren die 3.109 ha des Flughafens Paris – Charles de Gaulle auf acht Kommunen und drei Départements verteilt: 1.518 ha in Seine-et-Marne (Gemeinden Compans, Le Mesnil-Amelot, Mauregard und Mitry-Mory), 838 ha in Val d’Oise (Gemeinden Epiais-les-Louvres, Roissy-en-France, Louvres) und 735 ha in Seine-Saint-Denis (Gemeinde Tremblay-en-France). Gespräch am 19.11.2002 Die Untersuchung über den öffentlichen Nutzen ist ein Verfahren, das durch eine Vorschrift im Jahr 1958 eingeführt wurde, um eine frühe Information der Öffentlichkeit und eine möglichst umfassende Information der Verwaltung zu sichern. Das Verfahren wurde im Laufe der Zeit ständig verbessert in Hinblick auf eine bessere Information der Öffentlichkeit (1976), den Umweltschutz (1977), die sozio-ökonomische Dimension (1984) und die Beteiligung der Öffentlichkeit an der Projektumsetzung (1985). Aber erst seit dem Bianco-Rundschreiben vom 15.12.1992 zur Durchführung großer nationaler Infrastrukturprojekte und dem Barnier-Gesetz vom 02.02.1995 über die Durchsetzung des Umweltschutzes kann mit dem Verfahren der öffentlichen Anhörung eine öffentliche Debatte organisiert werden, die über den Raumordnungsentscheidungen mit weitreichenden sozio-ökonomischen und Umweltauswirkungen steht (vgl. Prieur u.a. 1990). Gespräch am 19.11.2002 Bei dieser Gelegenheit wurde auch das wirkliche Ungeheuer der Schaffung eines dritten internationalen Flughafens in Ile-de-France wieder aufgescheucht:. Diese rein politische Entscheidung lebte mehrmals wieder auf, um durch die Regierung Luftverkehrsinfrastrukturen 118 10 11 8 Raffarin – vorläufig? – endgültig zu den Akten gelegt zu werden (vgl. Le Monde vom 24.05.2002). In einer Pressemitteilung angekündigte Politik durch Gilles de Robien, den aktuellen Verkehrsminister Gespräch am 23.01.2001 Les Sem – société d’économie mixte – ont deux caractéristiques importantes. D’une part, il s’agit de sociétés anonymes dont le capital est composé par la collectivité locale, actionnaire majoritaire, et par des partenaires économiques et financiers. D’autre part, ce sont des entreprises publiques mais soumises aux règles du droit privé. Cette formule juridique vise à structurer un type de partenariat public/privé qui associe la prise en compte de l’intérêt général représenté par la collectivité publique et la prise en compte des valeurs et des logiques du marché et de l’entreprise. Il existe en France plus de 1200 SEM qui réalisent un chiffre d’affaire annuel global de 13 milliards d’euros (juillet 2002). Elles interviennent dans les secteurs qui recouvrent des missions d’intérêt général : aménagement du territoire, réseaux et environnement (eau, gaz, électricité, câble…), gestion d’équipements sportifs et culturels, logement, transports en commun… La Fédération Nationale des Sem (FNSEM) se rapproche de la KFS en Suède ou de la VKU en Allemagne. In Frankreich hat eine lokale Gebietskörperschaft nicht das Recht, kommerzielle Investitionen zu tätigen. Literatur Aéroports de Paris (1992a), Avant-projet de plan masse de l’aérodrome Paris – Charles de Gaulle : Mémoire explicatif et étude de circulation aérienne, ADP: Paris. Aéroports de Paris (1992b), Avant-projet de plan masse de l’aérodrome Paris – Charles de Gaulle : Etude d’environnement, ADP: Paris. Aéroports de Paris (2002), Rapport développement durable 2002, ADP: Paris. Cohen, Elie (1992), “Dirigisme, politique industrielle et rhétorique industrialiste”, in Revue Française de Science Politique, Vol. 42, Nr. 2, S. 197-219. District de la Région Parisienne (1966), Schéma directeur d’aménagement et d’urbanisme de la Région de Paris, 4 vol., La Documentation française : Paris. Douffiagues, Jacques (dir.) (1996), Mission d’études de la desserte aéroportuaire du grand Bassin Parisien, 2 vol., Ministère de l’Equipement, du Logement, des Transports et du Tourisme : Paris. Direction Régionale de l’Equipement d’Ile-de-France (1994), Schéma directeur de l’Ile-de-France, DREIF : Paris. Feldman, Elliot J. (1985), Concorde and dissent: Explaining high technology project failures in Britain and France, Cambridge University Press : NY. Hayward, Jack (ed.) (1995), Industrial enterprise and European integration. From national to international champions in Western Europe, Oxford University Press : Oxford. Larroque, Dominique, Margairaz, Michel, Zembri Pierre (dir.) (2002), Paris et ses Mega-Projekte und Stadtentwicklung 119 transports (XIX° & XX° siècles) : deux siècles de décisions pour la ville et sa région, ed. Recherches : Paris. Le Galès, Patrick, Estèbe, Philippe (2001), “La métropole parisienne : à la recherche du pilote”, in Mouvements, mars - avril. Le Gales, Patrick, Thatcher Mark (dir.) (1995), Les réseaux de politiques publiques, débat autour des policy networks, L’Harmattan : Paris. Lévy, Jacques (1994), L’espace légitime : sur la dimension géographique de la fonction politique, Presses de Sciences-Po : Paris. Lolive, Jacques (1999), Les contestations du TGV sud-est : projet, controverse et espace public, L’Harmattan : Paris. Montricher, Nicole de (1995), L’aménagement du territoire, coll. Repères, ed. La Découverte : Paris. Muller, Pierre (1989), Airbus, l’ambition européenne. Logiques d’Etat, logiques de marché, Commissariat Général au Plan / L’Harmattan : Paris. Nelkin, Dorothy (1974), Jetport: the Boston airport controversy, Transaction Books : New Brunswick. Notes et Etudes Documentaires (1962), L’Aéroport de Paris, La Documentation française, n°2.906, 20/07/1962. 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Le Figaro (09/10/1964) : Quand Paris sera à 3 heures de New York. Le Monde (15/06/1989) : Roissy, l’aéroville. Le Monde (31/07/1998) : Orly craint qu’Air France ne choisisse de se délocaliser à Roissy. Le Monde (24/05/2002) : Mr. Bussereau confirme le rejet du troisième aéroport parisien. Les Echos (27/02/1996) : Air France peaufine son projet de plate-forme à Roissy. Les Echos (24/09/1997) : Jean-Claude Gayssot autorise la construction de deux pistes supplémentaires à Roissy. Luftverkehrsinfrastrukturen 120 Flughafen Passagiere (in Mio.) Fracht und Postdienste (in 1.000) Bewegungen (in 1.000) London 106,9 1.726,6 918,9 Paris 71 1.706,1 741,6 Frankfurt 48,6 1.613,2 456,5 Amsterdam 39,5 1.234,2 416,5 Tabelle 1: Erfasste Aktivitäten in den wichtigsten europäischen Flughäfen im Jahr 2001 Quelle: Aéroports de Paris, Annual Report 2001, Februar 2002, S. 70-79 Flughafen Passagiere (in Mio.) Fracht und Postdienste (in 1.000) Bewegungen (in 1.000) Paris - CDG 47.9 1,363.5 215.5 Paris - Orly 23 99.8 515.1 Tabelle 2: Aufteilung des Luftverkehrs in der Ile-de-France im Jahr 2001 Quelle: Aéroports de Paris, Annual Report 2001, February 2002, S. 70-79 1975 1982 1990 Saldo 1975-1990 Seine-et-Marne 755.762 887.112 1.078.166 + 43 % Compans 325 345 507 + 56 % Mauregard 198 208 226 + 14 % Le Mesnil-Amelot 1.458 823 705 - 52 % Mitry-Mory 13.741 12.731 15.205 + 11 % Seine-Saint-Denis Tremblay-enFrance Val d‘Oise 1.322.127 1.324.301 1.381.197 + 4,5 % 26.846 29.644 31.385 + 17 % 840.885 920.598 1.049.598 + 25 % Roissy en France 1.362 1.401 2.054 + 51 % Epiais-les-Louvres 151 84 80 - 47 % Louvres 7.961 7.385 7.508 -6% Total Ile-de-Fran9.878.565 10.073.059 10.660.554 + 8% ce Tabelle 3: Bevölkerungsentwicklung in den Nachbarkommunen von Roissy – Charles de Gaulle von 1975 bis 1990 Quelle: Bevölkerungserfassung der l’Ile-de-France durch INSEE in den Jahren 1975, 1982, 1990 Mega-Projekte und Stadtentwicklung 121 Zeitleiste 1945 1957 1961 1973 1974 1982 1985 1991 1993 1983 1995 1996 1997 1998 1999 Schaffung der Aéroports de Paris, einer autonomen öffentlichen Einrichtung zur Förderung der zivilen Flugplätze in der Region Paris Raumordnungsverfahren für einen Flugplatz im Nordosten der Region Paris durch Aéroports de Paris Inbetriebnahme des Flugplatzes Orly im Süden von Paris, Schaffung des Bezirks Paris Annahme eines Generalflughafenplans durch die Regierung und das Dekret zur „Einsetzung einer parafiskalischen Steuer zur Schadenslinderung für die Anwohnerschaft der Flughäfen Roissy und Orly“ (JO 27/02/1973) Inbetriebnahme des ersten Abfertigungsgebäudes des Flughafens von ParisNord, genannt „Paris - Charles de Gaulle“, und der Startbahn Nord Inbetriebnahme des zweiten Abfertigungsgebäudes des Flughafens Paris - Charles de Gaulle und einer zweiten Startbahn von 3.700 m Länge für 13 Mio. Passagiere jährlich Verabschiedung eines Gesetzes über „Städtebau im Umfeld von Flughäfen“, das allen zivilen und Militärflughäfen die Schaffung eines Schutzstreifens, in dem das Bauen stark eingeschränkt ist, auferlegt. Das Instrument hierzu ist der Plan d’Exposition au Bruit (PEB), der auf der Basis von Indikatoren konzentrische Zonen A, B und C umgrenzt, in denen die Auflagen entsprechend der Lärmintensität variieren. Der PEB wird alle 15 Jahre an die technische Entwicklung und die Verkehrsentwicklung angepasst. Vorbereitung des Erweiterungsprojektes für den Flughafen Paris - Charles de Gaulle durch Aéroports de Paris, der ein Jahr später unter dem Namen „Roissy 3“ veröffentlicht wird. Vorbereitung der Erklärung des öffentlichen Nutzen. Öffnung des TGV-Bahnhofs „Aéroport Charles de Gaulle“. Veröffentlichung des Fève-Berichts, der den Bedarf der Vergrößerung des Flughafens Paris - Charles de Gaulle erklärt, aber Begleitmaßnahmen empfiehlt. Bericht der Kommission Douffiagues, die „das Ziel geringerer Geräuschimmissionen“ bei der Umsetzung des modifizierten Erweiterungsprojektes für den Flughafen empfiehlt. Die Regierung Juppé folgt diesen Empfehlungen und kündigt eine Reihe von Begleitmaßnahmen an. Öffentliche Verhandlung der Entwicklung des Flughafens Paris - Charles de Gaulle (Rapport Carrère). Öffentliche Anhörung, die eine positive Rückmeldung unter verschiedenen Bedingungen erreicht, insbesondere eine verbesserte Information der Öffentlichkeit und die Kontrolle der Geräuschimmissionen. Die Maßnahmen wurden durch die Regierung Jospin entwickelt. Eröffnung des Terminals 2F, der für Air France und ihre Partner reserviert ist. Bauarbeiten an zwei neuen Flugbahnen. Schaffung einer Behörde zur Kontrolle der Fluglärmemissionen 122 Floridea di Ciommo DER NORDEN VON PARIS Auf dem Weg zu einer interkommunalen Zusammengehörigkeit? In Bezug auf die komplexe Frage nach einer Regierbarkeit des Großraums Paris, die mit den sich vervielfältigenden Quellen institutioneller Konflikte auf der regionalen Ebene zusammenhängt (Lefèvre 2002) weist die nördliche Peripherie von Paris, einstmals das industrielle Herz, Anzeichen größter institutioneller Kohärenz und der Handlungsfähigkeit der lokalen Regierungen auf, einer Fähigkeit, die dank der Realisierung von Maßnahmen und Projekten im Bereich der städtischen Revitalisierung durch eine Entwicklung von intensiven Beziehungen zwischen der Politik und der Ökonomie in der letzten Zeit gestärkt worden ist. Bezüglich der städtischen governance ist die Analyse der Beteiligung von Akteuren aus dem privatwirtschaftlichen Sektor (Handelskammer, Verbände, größere und kleinere Unternehmen) an solchen politischen Strategien, die eine Bedingung für die Regierbarkeit der Region darstellt. Was auf der Ebene des Großraums ein schwieriges Unterfangen zu sein scheint, nämlich die Schaffung neuer Regierungsinstitutionen, scheint sich in einem enger begrenzten Gebiet wie dem Norden von Paris verwirklichen zu lassen. Aus diesbezüglichen Analysen lässt sich ablesen, dass dort die Beteiligung der Akteure aus der Privatwirtschaft an der Revitalisierungspolitik zu einer gewissen Autonomie dieses Teils der Region gegenüber der Gesamtregion Paris geführt hat. Tatsächlich hat die Beteiligung „Ad-hoc“-Instrumente zur Durchführung von Revitalisierungsstrategien und –projekten unterstützt, die eine Autonomie gegenüber den anderen politischen Ebenen wie der Region, dem Département und den Kommunen aufweisen. Auf diese Weise ist im Jahre 1999 der interkommunale Zusammenschluss Plaine Commune von fünf Gemeinden in der nördlichen Peripherie von Paris entstanden (Saint-Denis, Aubervilliers, Pierrefitte, Epinay-sur-Seine, Villetaneuse). Diese neue öffentliche Verwaltungsstruktur vereinigt die vormals bei den Gemeinden liegenden Kompe- Mega-Projekte und Stadtentwicklung 123 tenzen in den Bereichen Wirtschaftsentwicklung und Stadtplanung. Mittels dieser Kompetenzen wird Plaine Commune zum passendsten Ort für die Durchführung von Revitalisierungsstrategien und den zugehörigen Projekten, der die verschiedenen planerischen und wirtschaftsförderungsbezogenen Aktivitäten des nördlichen Pariser Großraums aufeinander abstimmt. Eine gründliche Untersuchung der Entstehung dieser neuen Verwaltungseinheit unterstreicht die Bedeutung einer Entwicklung der Beziehungen zwischen den Akteuren des politischen und des privatwirtschaftlichen Bereichs, die in den letzten zehn Jahren (1993-2003) stattgefunden hat. Die zuvor offen konfrontativen Beziehungen zwischen den kommunistischen Lokalpolitikern und den Eigentümern der Großunternehmen haben sich seitdem entspannt und sind von der ausgeprägten Fähigkeit der Akteure aus der Politik gekennzeichnet, den Bedürfnissen der Privatwirtschaft Gehör zu schenken. Diese Veränderungen der Beziehungen haben die privaten Unternehmer dazu gebracht, insbesondere im Hinblick auf ihre Standorte ihre Stimme zu erheben und sich loyal zu verhalten (Strategiebündel voice-loyalty, vgl. Hirschman 1970). Die offenere Haltung der Politiker in Bezug auf die der Privatwirtschaft stellt sich schließlich als Ausgangspunkt für die Veränderung ihrer Reputation heraus, auf der wiederum das inzwischen erworbene Vertrauen der traditionellen wirtschaftlichen und die Herausbildung neuer regionsbezogen organisierter wirtschaftlicher Akteure wie des partnerschaftlich getragenen Verbands St. Denis Promotion aufbaut. 1. Rahmenbedingungen städtischer Revitalisierungspolitik Der Ursprung der Beteiligung der Akteure aus der Privatwirtschaft an der Politik und an der Revitalisierungspolitik liegt in der Natur dieser Strategien und Projekte. Tatsächlich sucht die Revitalisierungspolitik durch die Neuplanung von ehemals industriell genutzten und dann durch Schließung oder Standortwechsel von Unternehmen brach gefallenen Arealen nach komplexen Lösungen im Zusammenhang mit lokalen Wirtschaftsförderungsmaßnahmen, die neue wirtschaftliche Aktivitäten stimulieren sollen. Diese Notwendigkeit integrierter Lösungen verstärkt eine Zusammenarbeit von Politik und Wirtschaft. Dabei wird die Lokalpolitik und die Autonomie der betroffenen Areale während des Revitalisierungsprozesses gestärkt: Auf der einen Seite ignorieren die Kernstädte die Probleme der deindustrialisierten Areale tendenziell, auf der anderen Seite begreifen die Politiker der betroffenen Gemeinden, die aufgrund der Folgen der wirtschaftlichen Krise zur Suche nach Lösungen gezwungen sind, Revitalisierung als eine Chance, die Bedeutung ihres politisches Mandats auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene zu stärken. Eine Analyse der Sozial- und Wirtschaftspolitik macht deutlich, welche Grenzen einer lediglich von Akteuren aus der Politik formulierten Strategie innewohnen. Tatsächlich erfordert ein Umgang mit Deindustrialisierung und Revitalisierung auch eine Veränderung der Ausbildung von Fachkräften im Hinblick auf die Berücksichtigung der Bedürfnisse, die neu entstehende produktive Aktivitäten haben. Überall in Frankreich, aber insbesondere im Großraum Paris wird Revitalisierungspolitik über 124 Der Norden von Paris die Realisierung von städtischen Großprojekten betrieben, im Rahmen derer sowohl Akteure aus der Politik als auch aus der Wirtschaft berücksichtigt werden: Die Politiker bevorzugen bei der Umsetzung der Projekte vor Ort ansässige Unternehmen, die wiederum der Politik Aufstiegsmöglichkeiten für ihre lokalen Führer bieten. Wie einige Autoren unterstrichen haben (Ascher 1992), haben partnerschaftliche Ansätze in Frankreich in der Stadtpolitik vor allem Infrastrukturprojekte zum Inhalt, wie etwa die Entwicklung von Stadtquartieren oder Verkehrsprojekte. In diesem Umfeld sind offenbar zwei Merkmale der Akteurskonstellation ausschlaggebend für eine erfolgreiche städtische Revitalisierungspolitik: Zunächst und in erster Linie ist dies ein System lokaler Akteure, das aus Akteuren aus der Wirtschaft und Privatleuten besteht, heterogen strukturiert ist und sich auf vielfältige Kompetenzen stützt, während in zweiter Linie eine Zusammenarbeit der Politiker und Unternehmer auch in den Stadtbereichen möglich wird, in denen traditionellerweise ideologische Positionen die Etablierung solcher Beziehungen erschwert hat. In gewisser Hinsicht zeigen die empirischen Daten, dass diese beiden Voraussetzungen im Norden von Paris vorliegen. Die Akteure aus der Privatwirtschaft, die sich in die Stadtentwicklungspolitik einbringen, sind vielfältig: von schließungsbedrohten Betrieben über Unternehmensverbände kleiner, mittlerer und großer Unternehmen bis hin zu Organisationen wie der gemischtwirtschaftlichen St. Denis Promotion, die für einen räumlich definierten Wirkungsbereich eingerichtet werden. Trotz der Heterogenität dieser vor Ort vorfindbaren Akteure kann sich eine gewisse Interessenüberschneidung zwischen öffentlichen und privatwirtschaftlichen Akteuren herausbilden wie diejenige zwischen den kleinen und mittleren Unternehmen, die sich um einen Standort auf von Großbetrieben aufgegebenen Flächen bemühen einerseits und der Lokalregierung andererseits, die die Revitalisierungspolitik federführend betreibt. In Fällen wie dem im Norden von Paris haben die beiden Akteurstypen tatsächlich ein gemeinsames Ziel: den Bodenpreis zu begrenzen. 2. Die industrielle Vergangenheit des Pariser Nordens Die Deindustrialisierung des Pariser Nordens hat sich hingezogen: Eine industrielle Dezentralisierung ab den 1950er Jahren, also eine Verlagerung der Produktionsaktivitäten, folgte auf die Schaffung des staatlichen Verfahrens des agrément (Übereinkunft) zur Ansiedlung produzierender Betriebe in der Region Paris (Ile-de-France) und hat allmählich zu einem Abbau der industriellen Aktivitäten im städtischen Raum geführt, was zu Problemen der sozioökonomischen Entwicklung vor Ort geführt hat. Im Laufe der Zeit hat diese Dynamik zu einer fortschreitenden Deindustrialisierung dieser Region und dabei vor allem ihres nördlichen Teils geführt, der grob die Gemeinden Saint-Denis, Aubervilliers und Courneuve umfasst. Zu dieser zentralstaatlich geförderten und auf einen Ausgleich zwischen der großen französischen Metropole und dem Rest des Landes (Gravier 1947) abzielenden industriellen Dekonzentration kam Anfang der 1970er Jahre die Ölkrise, die die Produktion in den traditionellen Sektoren wie der Stahl- und der Maschinenbauindustrie am stärksten Mega-Projekte und Stadtentwicklung 125 getroffen hat. Der Wille der staatlichen Politik zur Dezentralisierung der Industrie und die wie in allen westlichen Ländern negative Situation der Weltkonjunktur bilden mithin zwei wichtige Elemente des Niedergangs im Pariser nördlichen Randbereich. Insbesondere bis zu den 1990er Jahren ist mit der Abwanderung der Industrieunternehmen dort keine Tertiärisierung der Ökonomie einhergegangen, wie dies etwa in der Kernstadt von Paris oder im Westen der Metropolregion der Fall war. In Abwesenheit von Merkmalen ökonomischer Umstrukturierung erlebte der Norden von Paris damit einen unerbittlichen Niedergang. Abbildung 1: Bautätigkeit (neu in Angriff genommene Baustellen) im Bürodienstleistungssektor in der Region Ile-de-France Im Jahre 1985 schafft die damalige sozialistische Regierung unter Fabius das verbindliche Zustimmungsverfahren beim Bau von Büroflächen in der Region Ile-deFrance ab, zu einem Zeitpunkt, da die allgemeine Wirtschaftskrise die Notwendigkeit einer Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung auch im Pariser Ballungsraum nahe legt, ganz unabhängig von der Frage nach einem wirtschaftspolitischen Ausgleich zwischen Paris und der Provinz. Diese Modifizierung des gesetzlichen Rahmens erleichtert den Übergang von einer industriell geprägten zu einer tertiären Wirtschaftsstruktur. Wenn man die Entwicklung der Bautätigkeit für Büroflächen und Produktionsgebäude vergleicht, stellt man die stärkste Dynamik im Bereich der Büroflächen fest, was der Prozess der wirtschaftlichen Tertiärisierung auch nahe legt. Durch die Abschaffung des Zustimmungsverfahrens soll die wirtschaftliche Entwicklung in der Ile-de-France wieder ins Lot gebracht werden (vgl. Abb. 1 und 2). In den 1990er Jahren reicht diese Veränderung im staatlichen Genehmigungsverfahren nicht aus, um einen neuen Aufstieg der darnieder liegenden Teilregion herbeizuführen, da das eigentliche Problem eher im sozioökonomischen Profil ihrer Bewohner liegt, deren zu einem beträchtlichen Teil auf den traditionellen Industrie- 126 Der Norden von Paris sektor ausgerichtete Qualifikationen ihrer Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt über die neuen Unternehmen im tertiären Sektor oder im Hochtechnologiebereich im Wege steht (Beckouche, 1999). Die ansässige Bevölkerung gehört den untersten sozioökonomischen Schichten an. Ein Vergleich der durchschnittlichen Einkommen macht deutlich, dass im Norden von Paris ärmere Leute leben als in den örtlichen Unternehmen beschäftigt sind. Betrachtet man die lokale Wirtschaftsstruktur im Detail, so wird deutlich, dass zwei Drittel der vorhandenen Arbeitsplätze nicht von Bewohnern der Region eingenommen werden. Abbildung 2: Bautätigkeit bei Produktionsgebäuden in der Region Ile-de-France Dies liegt an der Diskrepanz zwischen dem Qualifikationsprofil der Bewohner und den nachgefragten Fähigkeiten. Nur ein Drittel der Bewohner hat Zugang zu den vor Ort angebotenen Arbeitsplätzen, und dieses Drittel gehört überdies den untersten Einkommensschichten an (Insee/Iaurif, 2001). Auf diese Weise ist das Ungleichgewicht innerhalb des Ballungsraums vorgezeichnet. In den 1990er Jahren tut die in der gesamten industrialisierten Welt lange Zeit andauernde Rezession ein Übriges dazu. Ein Indikator für die Verschlimmerung der Situation ist die Zunahme der Arbeitslosenquote im Norden von Paris von 5 % im Jahre 1975 auf 18,5 % im Jahre 1999 im Vergleich zu der der Gesamtregion, die bei 11,5 % liegt (Insee, 2001). Noch beunruhigender ist die Tatsache, dass 28 % der unter 25-Jährigen arbeitssuchend ist, während der Vergleichswert für die Region bei 19,7 % liegt. Die Verwerfungen zwischen dem Norden von Paris und dem Ballungsraumdurchschnitt sind damit deutlich geworden. Die Entwicklungen erklären auch die Abwanderung, unter der der Norden von Paris leidet, ein junges Gebiet mit einem Anteil von 37 % der Bevölkerung im Alter von unter 25 Jahren, in dem in den 1990er Jahren ein starker Abwanderungssaldo von 91.005 Personen zu verzeichnen ist (Insee/Iaurif, 2001). Eine solche Zahl Mega-Projekte und Stadtentwicklung 127 bedeutet, dass der Teil der aktiven Bevölkerung, der eine Beschäftigung findet, den Norden von Paris verlässt, um seine wirtschaftliche Situation zu verbessern, und sich in anderen Départements der Region Ile-de-France niederlässt. Die lokalpolitischen Verantwortlichen sind sich dieser Problematik immer mehr bewusst und versuchen, nicht mehr eine Politik zu fördern, die Zuzug fördern, sondern über eine Verbesserung der Lebensbedingungen vor Ort die ansässigen Bewohner halten will. 3. Der Ursprung des Verbands „Plaine Commune“: die Notwendigkeit einer territorialen Zusammengehörigkeit Abbildung 3: Der Norden von Paris und der Stand der interkommunalen Zusammenarbeit 128 Der Norden von Paris Der Gemeindeverband Plaine Commune wird im November 1999 mit der Einrichtung eines interkommunalen Rats und der Annahme einer Satzung und einer Geschäftsordnung gegründet. Fünf Gemeinden aus dem kleinen Ring im Norden von Paris beteiligen sich an dieser Initiative: St. Denis (86.000 Einwohner), Aubervillieurs (63.000 Einwohner), Epinay-sur-Seine (46.000 Einwohner), Pierrefitte (26.000 Einwohner) und Villetaneuse (11.000 Einwohner). Die Initiative reiht sich in den Kontext der im Loi Chevènement im Juli 1999 festgelegten Rahmenbedingungen ein (vgl. Abb. 3). Die Wahl der interkommunalen Zusammenarbeitsform entsteht aus dem Vorgängermodell „Plaine Renaissance“, das von den Gemeinden St. Denis, Aubervilliers und St. Ouen getragen wurde. Diese Organisation hatte die Entwicklung der Ebene von Saint Denis anlässlich des Baus des Stade de France im Lauf der 1990er Jahre zum Ziel. Die wirtschaftliche Dynamik von Aubervilliers und Saint Denis ist unterschiedlich, und letztere profitiert einseitig vom Wirken des Verbands. In den 1990er Jahren steigt nämlich das Aufkommen der lokalen Umsatzsteuer von Aubervilliers zwar um 10 %, doch das der Gemeinde Saint Denis wächst nachhaltiger und stärker, nämlich in einem Umfang von etwa 40 %. Dieses Ungleichgewicht ist der Tatsache geschuldet, dass der größte Teil der Bauunternehmen in der Gemeinde Saint Denis liegen, wo sie auch ihre Umsatzsteuer entrichten. Das so entstandene Problem der steuerlichen Ungleichheit zwischen den beiden Gemeinden will der neue Verband lösen, indem er wie alle interkommunalen Zusammenschlüsse auf der Grundlage des Loi Chevènement eine einheitliche Umsatzsteuer mit zusammengelegten Einnahmen vorsieht. Die Gemeinden Epinay-sur-Seine, Pierrefitte und Villetaneuse schließen sich der Initiative ebenfalls an. Die Gemeinden von Saint-Ouen und Courneuve dagegen, die vor einigen Jahren eine Erklärung zur interkommunalen Entwicklung unterzeichnet haben, sind entschlossen, dem stärkeren und damit auch stringenteren Gemeindeverband fern zu bleiben. Sie haben dafür unterschiedliche Gründe. Während Courneuve sich aus ideologischen Gründen geweigert hat, Teil von Plaine Commune zu werden, weil sein Bürgermeister der traditionellsten Strömung der französischen kommunistischen Partei angehört, will die Gemeinde St. Ouen eine gewisse ökonomische Unabhängigkeit beibehalten und den lokalen Umsatzsteuersatz gegenüber den anderen Gemeinden im Norden von Paris niedriger ansetzen (16,6 % im Vergleich zu 20 % im Durchschnitt des Départements), um so eine Brüskierung der zahlreichen Handelsunternehmen in ihrem Gemeindegebiet zu vermeiden. Wie einige Autoren unterstreichen (Pontier 2002), wird die Entwicklung von Plaine Commune von finanziellen Fragen bestimmt: Tatsächlich ist die Globalzuweisung des Staats nun höher und erreicht 38 Euro pro Einwohner im Vergleich zu dem früheren Wert von 18, womit die neu gegründete interkommunalen Vereinigung 8,4 Mio. Euro überwiesen erhält. Somit darf man den Einfluss der wirtschaftlichen Sphäre auf die Schaffung von Plaine Commune nicht unterschätzen. Einige Bürgermeister setzen ihre Beziehungen zu den örtlichen Unternehmen ein, um eine Revitalisierung ihrer verfallenen Stadtgebiete erreichen zu können. Im Zusammenhang mit Großprojekten (Stade de France, Plaine St. Denis) entsteht ein institutioneller Zusammen- Mega-Projekte und Stadtentwicklung 129 schluss von Unternehmen und den örtlichen Gemeinschaften: St. Denis Promotion mit seinem ersten Direktor Philippe Pion, Beamter der Gemeinde St. Denis, und dem Präsidenten Francis Dubrac, Bauunternehmer und Direktor von „Dubrac und Brüder“. Später erhält Pion die Verantwortung für die lokale Wirtschaftsförderpolitik von Plaine Commune, und der Verband St. Denis Promotion zieht in das gleiche Gebäude wie Plaine Commune. Im Jahre 2002 wird dieser Zusammenschluss von Unternehmen und Gemeinden zu „Plaine Commune Promotion“. 4. Die Funktionsweise der interkommunalen Strukturen Plaine Commune erhält mit seiner Gründung zwei Hauptaufgaben, die Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung und die räumliche Planung, Kompetenzen, die die Mitgliedsgemeinden an den Verband delegieren. Was die Wirtschaftsförderung betrifft, so werden ihm die Beschäftigungsangelegenheiten und die Vermittlung zwischen Gemeinden einerseits sowie Forschungseinrichtungen und Universitäten andererseits übertragen. Im Bereich der Planung wird er lediglich verantwortlich für die übergemeindliche Verkehrsinfrastruktur und für das Instrument der Stadtverträge zur räumlichen Entwicklung. Schließlich ist mit der Transformation von Plaine Commune in einen vollwertigen Gemeindeverband auch der soziale Wohnungsbau in den Kompetenzbereich von Plaine Commune übergegangen. In diesem Zusammenhang richten sich die Diskussionen zwischen den Akteuren aus dem politisch-administrativen und dem ökonomischen Bereich auf die möglichen Verbindungen zwischen Unternehmenserfolg und öffentlicher Wohnungspolitik. Sie konzentrieren sich dabei auf eine Anpassung der Wohnungspolitik. Die Kernfrage lautet: Ist es besser, neue Bewohner anzulocken, und dabei vor allem Manager und Führungskräfte, die zu den reicheren Schichten zählen, oder sollte man lieber auf eine Verbesserung der sozioökonomischen Verhältnisse der Ortsansässigen setzen? Da die spontanen Versuche der Wohnungspolitik, die genannten Leistungsträger anzuziehen, sich als Fehlschlag erwiesen haben und letztere nur in einem geringen Ausmaß zur Belebung des genannten Raums der Seine um Saint Denis beigetragen haben, verändern die zu Plaine Commune gehörigen Gemeinden ihre Stadtentwicklungsstrategien in Zusammenarbeit mit einigen in Verbänden zusammengeschlossenen Akteuren aus der Wirtschaft und Bildungseinrichtungen (wie die Universitäten Paris VIII und Paris XIII sowie Berufsbildungseinrichtungen im Bereich des Handwerks) durch eine Verknüpfung der sozioökonomischen und der räumlich-planerischen Dimension. Auf diese Weise ist vorgesehen worden, dass der Zugang der örtlichen Jugendlichen zu einer Ausbildung auf der Grundlage der von den Unternehmen geäußerten Bedürfnisse und einer Revitalisierung der niedergegangenen Industriegebiete erleichtert werden soll, um letztere wieder in den stadträumlichen Zusammenhang zu reintegrieren. Die Aufgaben sind dabei auf zwei Gruppen von öffentlichen Beschäftigten verteilt, die eine unterschiedliche Herkunft haben. Die Gruppe, die sich mit der örtlichen Wirtschaftsentwicklung befasst, besteht aus Personen, die zuvor in den gemeindlichen Wirtschaftsämtern tätig waren, während 130 Der Norden von Paris die Planer neu eingestellt wurden. Dieser organisatorische Unterschied unterstreicht die wirkliche Übertragung der gemeindlichen Entwicklungsaufgaben auf die interkommunale Organisation, während die Übertragung der Planungskompetenzen nur teilweise stattfindet. Die Gemeinden bevorzugen es nämlich, ihre stadtplanerischen Kompetenzen als politisches Instrument im Verhältnis zu den Bürgern beizubehalten, um ihre Wählerbasis zu sichern. Hierdurch besteht das echte Risiko eines Kompetenzwirrwarrs im Bereich der Planung. 5. Das sozioökonomische Ungleichgewicht im Bereich von Plaine Commune Die Analyse statistischer Daten über den Gemeindeverband unterstreicht, dass die von den beiden Gemeinden Saint Denis und Aubervilliers ursprünglich gebildete Achse weiterhin den stärksten Teil des Verbandsgebiets darstellt, und zwar sowohl im Hinblick auf die Bevölkerung (beide Städte zusammen vereinigen 149.000 der 232.000 Einwohner des gesamten Verbandsgebiets auf sich) als auch auf die Fläche (29,5 km² der insgesamt 40 km²) und die wirtschaftliche Lage, nämlich durch die Präsenz von Großunternehmen wie Siemens, Rhodia und, kürzlich hinzugekommen, AFNOR, die das Gebiet wegen seiner guten Anbindung an den öffentlichen Verkehr und die Straßeninfrastruktur (Autobahnen, Tangenten) an sich binden konnte. Wegen dieser eher ungleichgewichtigen Verteilung von Wirtschaftsunternehmen und Infrastruktur werden Anstrengungen zu einer besseren Integration der anderen Gemeinden unternommen. In diesem Sinne kann man die Wahl des Bürgermeisters von Villetaneuse zum Präsidenten des Amts für lokale Entwicklung von Plaine Commune verstehen. Die Entwicklung von Plaine Commune wird vom Gesamtstaat und der Region Ile-de-France mit großem Interesse verfolgt, da der Verband eines der ersten Beispiele für einen organisierten und starken interkommunalen Zusammenschluss in der Region Paris darstellt. 6. Politische Führung im Norden von Paris Im Lauf der Zeit, insbesondere zwischen 1950 und 1990, haben die unterschiedlichen Denkweisen der deutlich kommunistisch inspirierten Lokalpolitik und der vorrangig von Großunternehmen bestimmten Wirtschaft im Norden von Paris einen freien Meinungsaustausch der Akteure aus der Wirtschaft über die Stadtentwicklungspolitik erschwert. Bis Anfang der 1990er Jahre waren die Gemeinden dort scharfe Gegner eines „marktwirtschaftlich orientierten“ Ansatzes. Seit Beginn der Realisierung der Grands Projets mit dem Bau des Stade de France im Mittelpunkt (1993) findet dagegen ein Austausch zwischen dem politisch-administrativen Sektor und der Wirtschaft statt. Insbesondere die Akteure aus der Wirtschaft werden von der neuen Herangehensweise der kommunistisch geführten Stadt St. Denis angezogen, die im Gegensatz zur bisherigen Skepsis den neuen Kurs einer Zusammenarbeit mit der lokalen Wirtschaft eingeschlagen hat. Die Politik hat weiterhin die Förderung Mega-Projekte und Stadtentwicklung 131 städtischer Konversionsprojekte genutzt, um der lokalen Wirtschaftsförderung einen neuen Schub zu geben und die interkommunale Vereinigung Plaine Renaissance gegründet, an der neben St. Denis auch Aubervilliers und Saint-Ouen beteiligt sind. Diese Ansätze der Politik haben die Wirtschaft dazu gebracht, sich an dem Konversionsprozess zu beteiligen, angetrieben vor allem durch die Fähigkeit von Patrick Braouezec, Bürgermeister von St. Denis (gewählt 1996), externe Ressourcen zu mobilisieren, wie zum Beispiel eine Finanzierung des Staats bei der Realisierung der Grands Projets, und selbst die damit verbundenen politischen Risiken zu übernehmen, indem er sich von seiner parteipolitischen Herkunft distanziert und eine neue Phase der Wirtschaftsförderpolitik vorschlägt, die sich auf die Entwicklung der lokalen Wirtschaft und mithin auf eine Partnerschaft mit den örtlichen Wirtschaftsunternehmen stützt. Diese Fähigkeit zur Erneuerung findet schließlich 2001 nach den letzten Kommunalwahlen ihren Niederschlag im Rahmen einer neuerlichen Kandidatur von Patrick Braouezec auf der Liste der französischen Kommunisten: Die neuen Initiativen in der Wirtschaftspolitik erlauben schließlich einen neuen Kurs in der Sozialpolitik. Nachdem er die Akteure aus der Wirtschaft von einer Erneuerung der Politik überzeugt hat, bringt er in der ursprünglichen sozialen Tradition der Kommunisten den sozialen Willen zur Reform der Stadtpolitik auf die Tagesordnung. In diesem Sinne kann man die Entwicklung von konzertierten Initiativen auf der Ebene der Teilregion wie St. Denis Promotion und Objectif Travail erklären. Die erstere entsteht wie bereits erwähnt im Zusammenhang mit dem Bau des Stade de France und ist das Ergebnis einer Zusammenarbeit von St. Denis und einem örtlichen Unternehmerverband mit dem bedeutenden Vorsitzenden Francis Dubrac. Die letztere hat einen stärker sozialen Ursprung, nämlich eine Organisation zu gründen, die die Suche nach und Schaffung von Arbeitsplätzen für die Entlassenen aus den im Lauf der Zeit bis Anfang der 1990er Jahre geschlossenen traditionellen Großbetrieben, häufig Langzeitarbeitslosen, fördern soll, und dazu die ohnehin vorhandene örtliche Wirtschaftsstruktur beispielsweise in den Bereichen Film und Multimedia stärken will. Die in die Stadtumbaupolitik einbezogenen Akteure aus der Wirtschaft erwecken den Anschein einer Koalition aus privaten und öffentlichen Akteuren, die lediglich die Förderung der Wirtschaft im Sinn haben. Fallstudien zeigen, dass Politiker häufig die Unterstützung der Wirtschaft suchen, um Großprojekte zu realisieren. In diesem Zusammenhang bildet sich eine informelle, aber dennoch über längere Zeit stabile Gruppe von Akteuren, die Zugang zu institutionellen Ressourcen besitzen, die ihnen politisches Gewicht verleihen (Stone 1989). Dieses Gewicht zielt auf eine Erreichung spürbarer Resultate ab, wie das „instrumentelle“ urbane Regime im Norden von Paris, das die Errichtung des Stade de France und die Revitalisierung der Ebene von Saint Denis zum Hauptziel hat. Ein Interpretationsproblem ist nicht lösbar: Weder Wachstumskoalitionen noch urbane Regime berücksichtigen den Faktor der ideologischen Annäherung zwischen der politischen und der wirtschaftlichen Sphäre, die eine fundamentale Rolle bei der Beteiligung der Akteure aus der Wirtschaft an der Stadtumbaupolitik gespielt hat. Im Norden von Paris entsteht mit dem Bau des Sta- 132 Der Norden von Paris de de France eine neues politisches Projekt. Es beruht auf der Konversionspolitik, die auf eine Schaffung weitreichender strategischer Bündnisse angewiesen ist. Nach der Einrichtung der gemischtwirtschaftlichen Organisation St. Denis Promotion im Jahre 1993 und der bereits 1985 geschaffenen Organisation Plaine Renaissance ist es 1999 zur Gründung von Plaine Commune gekommen, der von mehreren Gemeinden getragenen Organisation, die 2000 zu einer Großgemeinde mit einer Scharnierfunktion für die Wirtschaftsförderung und die Planung der angehörigen Gemeinden wird. Sie ist die stabilste Akteurskoalition, gerade vor dem Hintergrund ihrer starken Verbindungen zu St. Denis Promotion. Trotz der Interessenkonvergenz zwischen politischer und ökonomischer Sphäre im Hinblick auf die lokale Entwicklung bleiben Konflikte. Im Kontrast zu den starken gemeinsamen Interessen ist insbesondere die Vereinheitlichung der Umsatzsteuer unter den Gemeinden von Plaine Commune auf den Widerstand der Unternehmen gestoßen, die ihren Sitz in den Gemeinden haben, die den Steuersatz nach oben getrieben haben. Die Weiterentwicklung der gesamtstaatlichen Politik der französischen Kommunisten durch einige ihrer Vertreter sowie die interkommunale Zusammenarbeit, die durch die gesamtstaatlichen Gesetze aus dem Jahre 1999 befördert wird, verändern die lokalpolitischen Rahmenbedingungen in Frankreich grundlegend (Baraize/ Négrier 2001). Einige Kommentatoren wie beispielsweise die Vertreter des Verbands der französischen Großstädte unterstreichen den innovativen Gehalt der neuen interkommunalen Instrumente, die eine Neuordnung des Systems der lokalen Körperschaften herbeiführen. Andere wie die Mitglieder der Union der Industrie- und Handelskammern drücken dagegen ihre Verwunderung aus, da sie eine neue Verwaltungsebene und zusätzliche Bürokratie befürchten (ACFCI 2001). Patrick Braouezec verfolgt im Norden von Paris eine „pragmatische Utopie“, die sich zum einen um die Bewohner der am stärksten von Verfall betroffenen Stadtgebiete zuwendet und zum anderen die lokale Wirtschaft im Stadtumbauprozess hervorhebt. Eine solche Vorgehensweise stützt sich auf ein gegenseitiges Vertrauen zwischen der Politik und der Zivilgesellschaft, die die Bewohner der heruntergekommenen Gebiete wie der Akteure aus der lokalen Wirtschaft gleichermaßen umfasst (Braouezec 2001). Die Abwesenheit eines klaren politischen Programms der Kommunisten auf der gesamtstaatlichen Ebene legitimiert Braouezec bei der Durchführung seines eigenen lokalpolitischen Programms. Diese Vorgehensweise akzeptiert einen sozialdemokratischen Weg als einen möglichen Weg, sich immer noch gegen eine übermäßige Annäherung an eine liberalistische Logik zu verwahren. Deshalb beharrt Braouezec darauf, dass die erhöhte Wertschätzung der Marktwirtschaft mit den Werten der lokalen Solidarität zusammengedacht werden muss. 7. Fazit In einem Governance-Zusammenhang bildet der Norden von Paris ein interessantes Beispiel zum Verständnis der Entwicklung der Beziehungen zwischen Akteuren aus dem privatwirtschaftlichen und dem politisch-administrativen Bereich. Auf die Mega-Projekte und Stadtentwicklung 133 Deindustrialisierung reagierte die nationalstaatliche Politik mit einer Inwertsetzung der Potentiale des nördlichen Pariser Umlands, die in der Nähe zur florierenden Metropole und der vielfältigen verkehrlichen Infrastruktur (Flughäfen, Bahnhöfe der Fernbahn und des Nahverkehrs) lagen, und förderte die Ansiedlung neuer Unternehmen des tertiären Sektors. Aus den Vorteilen des Nordens von Paris sind jedoch Nachteile für die Bevölkerung geworden, die wegen ihrer ungünstigen Qualifikationsstruktur nicht in der Lage waren, vom Übergang aus einer fordistisch geprägten in eine postindustrielle Wirtschaft zu profitieren, die sich auf die in den betreffenden Region neu ansiedelnden Unternehmen aus dem Dienstleistungs- und dem Logistikbereich stützt. Eine solche wirtschaftliche Entwicklung führt zur Nachfrage nach neuen höherwertigen Qualifikationen, die der Norden von Paris nicht anzubieten in der Lage ist. Für die Unternehmen ist das kein Problem, können sie doch auf die anderen Teile der Pariser Region zurückgreifen, während die ortsansässige Bevölkerung von hoher Arbeitslosigkeit betroffen bleibt. Die neue Wirtschaftsförderpolitik zielt daher immer mehr auf Bildung und Ausbildung ab, mit dem Ziel einer Erhöhung des Qualifikationsniveaus. Derzeit versuchen die Unternehmen, ihre eigenen Bedürfnisse deutlich zu machen, also mitzuteilen, welche Fachkräfte sie benötigen, und bei der Entwicklung passender Ausbildungsangebote mitzuwirken. Panasonic hat beispielsweise festgestellt, dass es sich stärker um die städtischen Räume im Innern des Unternehmensstandorts kümmern muss, und versucht auf diese Weise positive Nebeneffekte zu erzielen, wie dies auch von den vor Ort tätigen Wirtschaftsverbänden wie St. Denis Promotion gefordert wird. Literatur ACFCI, 2001. «Conférence annuelle de l’Association des communes de France», Le Monde Ascher, F., 1992. „Projet public et réalisations privées : le renouveau de la planification des villes”, Annales de la Recherche urbaine, 51, pp. 4-15. Baraize, F. / Négrier, E. (Hg.) (2001): L’invention politique de l’agglomération, L’Harmattan, Logiques Politiques, Paris, S. 5-29. Beckouche P. (1999) “Marché du travail, espace social et enjeu scolaire en Ile de France “ in Pouvoirs Locaux n°40 1/1999 (mars). pp 55-61 Braouezec, P., 2001. “Electrochoc”, Le Monde. Gravier, J.F. (1947) Paris et le désert français, Flammarion, Paris Hirschman, A. (1970): Exit, voice and Loyalty, Cambridge Mass., Harvard University Press. INSEE-Iaurif (2001), Atlas des franciliens : territoire et population, Paris. Insee Ile-de-France (2001), La Plaine de France, un territoire en mutation, Insee, Paris. Lefèvre, C (2002): La région Ile-de-France, une métropole ingouvernable? In : Jouve, B. / Lefèvre, C. (2002), Métropoles ingouvernables: Les villes européennes entre globalisation et décentralisation, Elsevier, Paris. 134 Der Norden von Paris Loi Chevènement nº 99-586 (1999): Sur l’Etablissement Public de Coopération Intercommunale (EPCI), Assemblée Nationale, Paris. Loi Voynet (1999): Loi d’orientation du développement durable et du territoire, Assemblée Nationale, Paris. Pontier, J., 2002. «Politique communautaire en petite couronne. L’agglomération de Plaine Commune“, in Baraize, F., Négrier, E. (eds), L‘invention politique de l‘agglomération, l‘Harmattan, Paris, pp. 157-191. Stone, C. (1989): Regime Politics, University Press of Kansas, Lawrence, KA. Mega-Projekte und Stadtentwicklung 135 Wulf Tessin KRAFT DURCH FREUDE? Wolfsburgs Weg aus der Arbeits- in die Freizeitgesellschaft 1. Die Gründung der ‚Stadt des KdF-Wagens’ Am 1. Juli 1938 entstand am Mittellandkanal zwischen dem Landstädtchen Fallersleben und dem Flecken Vorsfelde, 30 km nordöstlich von Braunschweig, in einer ausgedehnten, bis dahin fast ausschließlich agrarisch bestimmten Gegend eine neue Stadt, die den vorläufigen Namen „Stadt des KdF-Wagens“ erhielt. Vorausgegangen war die Entscheidung Hitlers, in dieser Gegend eine Automobilfabrik für den ‚Volkswagen für alle Deutsche’ zu errichten. „Auf Grund des Widerstands der Automobilindustrie gegen das Projekt entschied Hitler, den Volkswagen durch die Deutsche Arbeitsfront (DAF) herstellen zu lassen und mit dem Volkswagenwerk das größte und modernste Automobilwerk in Europa zu bauen. Da die Freizeitorganisation der DAF ,Kraft durch Freude’ Träger der Produktion und des Vertriebs sein sollte, erhielt das Auto den Namen ,KdF-Wagen’.“ (Reichold 1998:14). Ende Mai 1938, also noch vor der Gründung der neuen Stadt, erfolgte die Grundsteinlegung des heutigen Volkswagenwerks. Die Entscheidung, Werk und Stadt gerade in dieser Gegend, fern aller Ballungszentren, erfolgte mit Blick auf die (für das damalige Reichsgebiet) zentrale Lage und die günstige Verkehrslage am Mittellandkanal, an der D-Zugstrecke Ruhrgebiet-Berlin und in der Nähe der Autobahn. Diese zentrale Lage im Reichsgebiet war umso wichtiger, als die Vorstellung bestand, dass sich die Käufer ihren KdF-Wagen selbst im Werk abholen sollten. Nach dem Zusammenbruch im Jahre 1945 stand die Stadt Wolfsburg vor unlösbar erscheinenden Aufgaben. Die Zukunft des Volkswagenwerkes, der einzigen Existenzgrundlage der Stadt, war ungewiss. Das Volkswagenwerk war durch Bombenan- 136 Wolfsburgs Weg aus der Arbeits- in die Freizeitgesellschaft griffe zu fast 70 % zerstört, dem Werk drohte mehrere Jahre lang die Demontage durch die Siegermächte. Trotz dieser Unsicherheiten begannen gleich nach dem Krieg wieder die Arbeiten im Werk. Die Korea-Krise, Anfang der 50er Jahre, verlangsamt noch einmal das Tempo der Entwicklung, aber dann beginnt der Aufstieg des VW-Werks zu einem der größten Automobilhersteller der Welt. Die jährliche Fahrzeugproduktion stieg von 105.000 Autos im Jahre 1951 auf rund 1.000.000 (1964). Die Beschäftigtenzahlen im VW-Werk stiegen von rund 10.000 (1949) auf knapp 60.000 Ende der 60er Jahre. Wolfsburg hatte 1960 eine Bevölkerungszahl von 65.000 EW und damit gegenüber 1950 seine Einwohnerzahl mehr als verdoppelt: Wolfsbug - eine ‚Boomtown’! Dennoch zeichneten sich um 1960 bereits auch die ersten Grenzen des Wirtschafts- und Bevölkerungswachstums in Wolfsburg ab. Bereits 1954/55 war zu erkennen, dass zur Deckung der starken Nachfrage nach Volkswagen die Expansionsmöglichkeiten der Produktion in Wolfsburg nicht mehr ausreichen würden. Die Betriebsgröße des VWWerkes in Wolfsburg hatte bereits in den 1950er Jahren das technisch-wirtschaftliche Optimum erreicht (Mickler u. a. 1980:60). Deshalb entstanden nach und nach VWProduktionsstätten in anderen Städten Niedersachsen bzw. Nordhessens (Hannover, Kassel, Emden, Salzgitter). Neben der Dezentralisierung der Produktion wurde die Gründung von in- und ausländischen Tochtergesellschaften vorangetrieben: Vertriebs- und später dann z.T. Produktionsgesellschaften entstanden z. B. in Südafrika, Brasilien, Mexiko, Nigeria, in den USA usf.; darüber hinaus erwarb VW die Aktienmehrheit in der Audi NSU Auto Union AG, 1986 die spanische Automobilfirma SEAT. 1990 übernimmt VW die tschechische Automobilfirma Skoda; es folgen die englische Firma Bentley, die italienische Lamborghini. Mitte 1998 war VW der drittgrößte Automobilkonzern der Welt geworden mit über 2,8 Millionen ausgelieferten Automobilen. Diese Entwicklung zu einem nationalen und internationalen Konzern, zu einem ‚Global Player’, war für die Stadt Wolfsburg höchst bedeutsam: Die erklärte Politik des Konzerns richtete sich zunehmend darauf, eventuell notwendige Produktionsausweitungen auf die anderen in- und ausländischen Produktionsstätten umzulenken und die Produktionskapazität des VW-Werkes in Wolfsburg quasi ‚einzufrieren’. 2. Zum Verhältnis von Stadt und Werk Wolfsburg ist als ‚Stadt des KdF-Wagens’ gegründet worden, und sie ist bis heute die ‚Stadt des Volkswagens’ geblieben. Die strukturelle Abhängigkeit und Determiniertheit der Wolfsburger Kommunalpolitik durch das VW-Werk ist offenkundig. Das Werk setzte von Beginn an bis heute die entscheidenden Rahmenbedingungen für die Stadtentwicklung, es produziert die zentralen Problemstellungen der Stadt, die die Kommunalpolitik aufzuarbeiten hat, es eröffnet oder schafft aber zugleich auch Problemlösungskapazitäten, derer sich die Kommunalpolitik bedienen kann (und um die andere Kommunen Wolfsburg sicherlich beneiden). Dies soll an einigen ausgewählten Beispielen illustriert werden: Mega-Projekte und Stadtentwicklung 137 Haushaltspolitik: Das VW-Werk ist nicht nur die unmittelbare Einkommensbasis für rund 60% der Wolfsburger Privathaushalte, sondern es ist zugleich rahmensetzend für die finanzielle Lage der Stadt Wolfsburg. Die Stadt Wolfsburg stand hinsichtlich der Gewerbesteueraufbringungskraft je Einwohner immer mit an der Spitze der kreisfreien Städte in der Bundesrepublik. Wolfsburg war spätestens seit Mitte der 50er Jahre eine ‚reiche Stadt’, wenn auch eine mit hohem Investitionsbedarf, denn es galt ja noch, die Stadt überhaupt erst auf- und auszubauen. Dennoch hat diese enorme VW-bedingte Finanzkraft die Stadt nicht nur instand gesetzt, diese Investitionsaufgaben zu erledigen, sondern darüber hinaus viele kommunal- und stadtentwicklungspolitische Probleme zu lösen. Zugleich aber hat diese gewerbesteuermäßige Abhängigkeit der Stadt vom VW-Werk die kommunale Haushaltslage auch immer abhängig gemacht von der Automobilkonjunktur. Das war bis in die 60er Jahre hinein jedoch kein reales Problem, insofern das VW-Werk fast ununterbrochen Wachstumsraten auswies. Wirtschaftspolitik: Ziel der kommunalen Wirtschaftsförderungspolitik war und ist es, die VW-bestimmte Monostruktur der Stadt zu überwinden. Ihr Problem war es zugleich von Anfang an, dass im Schatten von VW kein anderer Industriebetrieb gedeihen konnte. Das Lohnniveau und die sonstigen Sozialleistungen im VW-Werk sind so überdurchschnittlich, dass kein ‚normaler’ Betrieb im Werksschatten existieren kann. Selbst eine VW-bezogene Zuliefererindustrie hat sich im Wolfsburger Raum nur ansatzweise entwickeln können. Dieser Rahmenbedingungen eingedenk hat sich die Wolfsburger Wirtschaftspolitik dann auf zwei Perspektiven konzentriert. Zum einen auf die Förderung des VW-Werkes am Standort Wolfsburg, zum anderen auf den Ausbau des Dienstleistungsbereiches in der Stadt. Der Ausbau der Innenstadt, die Ansiedlung von Behörden und Ausbildungsstätten wurde immer mit großen Nachdruck, wenn auch (lange Zeit) ohne großen nachhaltigen Erfolg betrieben. 1961 waren z. B. 3.600 Personen im Handel beschäftigt, 1988 waren es auch nur 4.700. Anfang der 90er Jahre belief sich der Anteil der im Dienstleistungssektor Beschäftigten in Wolfsburg noch immer auf bloß 25 %! Infrastrukturpolitik: Das VW-Werk bestimmt als Industriebetrieb die Sozialstruktur der Stadt (Wolfsburg ist nach wie vor ‚Arbeiterstadt’ mit einem auch heute noch fast 60-%-igen Arbeiteranteil an den Erwerbstätigen!) und ist damit rahmensetzend für die kommunale Politik im Schul-, Kultur- und Freizeitbereich. Es galt, für die beim Werk Beschäftigten optimale Wohn- und Freizeitmöglichkeiten zu schaffen und ein spezifisches Kultur- und Bildungsprogramm zu entwickeln, das von ‚breiten Schichten der Bevölkerung’ akzeptiert wird. Zugleich war es aber auch notwendig, gerade für die höheren Angestellten des VW-Werkes, bestimmte Schul-, Kultur- und Freizeitstandards zu erfüllen, sollte es gelingen, diese Gruppen längerfristig an das Werk bzw. die Stadt zu binden und die Standortnachteile Wolfsburgs (vor der Wiedervereinigung Zonenrandlage, keine attraktive Großstadt, keine Universität etc.) etwas zu abzumildern. Das VW-Werk hat denn auch nie einen Zweifel an der Bedeutung gelassen, die man diesem Bereich beimisst und wichtige Infrastruktureinrichtungen finanziell unterstützt, z.T. ‚geschenkt’ (Stadthalle, Theater, VW-Bad, Planetarium, Kulturzentrum, Kunstmuseum usf.). 138 Wolfsburgs Weg aus der Arbeits- in die Freizeitgesellschaft Abb. 1:Ansicht von Zeithaus (links) und KonzernForum (rechts) in der Autostadt Wolfsburg Quelle: www.wolfsburg-tourist/Autostadt/Autostadt_Wolfsburg.htm Mit diesen Hinweisen sollte deutlich geworden sein, dass die Frage nach dem ‚Einfluss’ des VW-Werks auf die Stadtentwicklungs- und Kommunalpolitik in Wolfsburg, sofern damit nur die persönliche werksseitige Einflussnahme auf kommunale Entscheidungsprozesse gemeint ist, immer schon zu kurz griff. Tatsächlich wirkt das Werk nicht sozusagen ‚von außen’ auf die Wolfsburger Kommunalpolitik ein, sondern es war (von Beginn an) immer schon von vornherein deren integraler Bestandteil, d. h. in den sich entwickelnden materiellen und normativen Strukturen der Stadt war und ist das Werksinteresse immer schon enthalten und aufgehoben und brauchte nur von Fall zu Fall durch direkte, persönliche Intervention ‚von außen’ in die Kommunalpolitik eingebracht werden: „Was gut ist für das Werk, ist gut für die Stadt“ - das war und ist auch heute noch ganz allgemeine Auffassung in Wolfsburg. 3. Stadtentwicklung als ‚joint venture’: die Wolfsburg AG Stadt und Werk haben neben Boomphasen auch immer wieder schwere Rezessionen erlebt. Vor allem die Zeit zwischen 1965 und 1975 war gekennzeichnet durch drei aufeinanderfolgende, sich in ihrer Brisanz steigernde Rezessionen. Die beiden Krisen von 1966/67 und 1971/72 führten - erstmals in der VW-Geschichte Wolfsburgs - zum Abbau der Belegschaft im Werk. Die bisher größte wirtschaftliche Krise erlebte das VW-Werk (und damit die Stadt) jedoch in der ersten Hälfte der 90er Jahre, vor rund zehn Jahren. In der Zeit zwischen 1990 und 1996 sah man sich gezwungen, die Belegschaft von rund 60.000 (1986 noch 65.000 Beschäftigte!) auf rund 45.000 Beschäftigte abzubauen. Die Arbeitslosenquote der Stadt stieg im gleichen Zeitraum um mehr als das Doppelte von 7,5% auf 17,5%. Und es gab Szenarien bei VW, die von einem noch weitergehenden Abbau der Stellen im Werk bis herunter auf 22.000 Beschäftigte sprachen. Die Lichter schienen in Wolfsburg auszugehen, Werk und Stadt am Abgrund. Brauchte man in der Vergangenheit in einer VW-Krise - pointiert formuliert - nur darauf zu hoffen, dass die Autokonjunktur wieder anzog, so machte die 92/93er Krise deutlich, dass der Globalisierungsprozess und die internationale Verflechtung des VW-Konzerns diesen Mechanismus zunehmend aushebelte: Selbst wenn mehr Mega-Projekte und Stadtentwicklung 139 Volkswagen abgesetzt werden, bedeutet dies nicht unbedingt mehr Arbeitsplätze und schon gar nicht automatisch mehr Arbeitsplätze am Standort Wolfsburg. Die internationale Wirtschaftskonkurrenz macht Auslagerungen von Teilen der Produktion oder sogar ganzer Modellpaletten an kostengünstigere Standorte immer attraktiver. Tatsächlich entschied man im Konzern, die Belegschaft in Wolfsburg - wie auch immer die Automobilbranche sich wieder entwickeln würde - bei rund 50.000 Beschäftigten einzufrieren und stattdessen (sofern erforderlich) die Produktionskapazitäten an anderen Standorten auszubauen. Diese Grundsatzentscheidung hätte bei der nahezu vollkommenen VW-Abhängigkeit der Wolfsburger Wirtschaftsstruktur das Ende eines weiteren Wachstums der Stadt bedeutet, im Angesicht der damaligen VWKrise Arbeitslosigkeit von 15 und mehr Prozent. Eine Zeit lang schien es so, als ob dem Konzern diese stadtentwicklungspolitischen Konsequenzen seiner betriebswirtschaftlichen Kalküle gleichgültig sei. Dann setzte sich jedoch die Einsicht durch, dass man die Stadt ‚nicht einfach hängen’ lassen könne. Der politische Druck des Landes Niedersachsen als höchst relevanter Aktionär des VW-Konzerns (20-%-iger Stimmanteil am Aktienkapital) dürfte mit zu dieser ‚Einsicht’ auf Seiten der Konzernspitze beigetragen haben. Auch wäre der Imageschaden für den Volkswagen-Konzern ‚beim Volk’ erheblich gewesen, wenn man sich - als ursprünglich einmal ‚Staatsbetrieb’, dann qua ‚Volksaktie’ privatisiertes Unternehmen - so schnöde ‚aus der Verantwortung’ gestohlen hätte. Man schien sich im Verlauf der VW-Krise auch darüber klargeworden zu sein, dass eine Konzernsitzverlagerung (etwa nach Berlin) politisch nicht durchsetzbar sein würde und ein ‚global player’ wie VW schlecht in einer Stadt residieren könne, der Armut, Niedergang und Provinzialität sofort anzumerken wäre. Auch im Zusammenhang der im Jahr 2000 in Hannover geplanten EXPO-Weltausstellung, an der sich das VW-Werk als ein zentraler Sponsor engagieren und in deren Rahmen man sich auch in Wolfsburg der Weltöffentlichkeit präsentieren wollte, schien es im Konzerninteresse sinnvoll, die Stadt etwas aufzumöbeln, deren eigene Mittel - nicht zuletzt auf Grund der VW-Krise (Gewerbesteuer, Soziallasten) - nicht ausreichen würden, das selbst zu bewerkstelligen. Da man andererseits aber die Beschäftigtenzahl im VW-Werk in Wolfsburg nicht wieder nennenswert auf über 50.000 Beschäftigte anheben wollte, gelangte man zu Überlegungen, dass der Abbau der Arbeitslosenquote in Wolfsburg dann logischerweise nur außerhalb des VW-Werks stattfinden könne, was durchaus im Interesse der Stadt war, sich zumindest ein Stück weit von der einseitigen Abhängigkeit vom VW-Werk zu lösen. In der Folge erfuhr das Verhältnis und Stadt und Werk dann eine grundlegende Veränderung, die der damalige Oberstadtdirektor und heutige Oberbürgermeister als Wandel hin zu einer „symbiotisch geführten Stadt“ charakterisiert und die 1999 zur Gründung der sog. Wolfsburg AG führte. In dieser Wolfsburg AG („Gesellschaft für Beschäftigungs- und Strukturförderung“) treten Stadt und Volkswagen AG als alleinige Gesellschafter auf (derzeitiges Gründungskapital € 10,1 Mio). Zu Zielen der Wolfsburg AG heißt es in der Satzung lapidar: Gegenstand des Unternehmens ist die Förderung der Wirtschaftsstruktur und Beschäftigungsentwicklung schwerpunktmäßig am Standort Wolfsburg und in 140 Wolfsburgs Weg aus der Arbeits- in die Freizeitgesellschaft der Region. Damit ist die Wolfsburg AG einerseits ein weitgehend typisches Beispiel für heute weithin üblich gewordene Public-Private-Partnership-Modelle (vgl. hierzu z. B. Heinz 1998), andererseits ist sie ein absoluter Sonderfall schon allein von der komplexeren Aufgabenstellung her. Gegenstand des Unternehmens ist nicht die Durchsetzung einer konkreten städtebaulichen Entwicklungsmaßnahme, nicht der Betrieb einer Einrichtung der Abfallwirtschaft, der Stadtentwässerung oder des Flugverkehrs o. ä., sondern sehr viel umfassender: kommunale Beschäftigungs- und Strukturförderung. Ja, mit Blick auf das Unternehmensziel ‚Erhöhung der Attraktivität der Stadt Wolfsburg’ (bei extensiver Auslegung) zielt die Wolfsburg AG potenziell auf Stadtentwicklungspolitik schlechthin. Darin liegt ohne Frage eine Einmaligkeit der Wolfsburg AG und natürlich in der Tatsache, dass hier nicht eine Stadt mit irgendeinem lokalen Unternehmen der Abfallwirtschaft oder der Bauwirtschaft oder mit der ‚lokalen Wirtschaft’ als Ganzer kooperiert, sondern mit einem einzigen Unternehmen, das zugleich ein ‚global player’ ist mit enormen finanziellen und sonstigen Möglichkeiten. Durch die Wolfsburg AG übernimmt das Werk also nicht nur eine erhebliche und sozusagen ganz offiziell Verantwortung für die Stadt, sondern macht gleichzeitig seinen Anspruch auf einen Einfluss auf die zukünftige Stadtentwicklung geltend. Diesen Einfluss gab es, wie gesagt, seit jeher, aber nach der Gründungs- und Nachkriegsphase, nach der Ära Nordhoff (dem „König von Wolfsburg“) und mit der zunehmenden Globalisierung der VW-Produktion hatte sich doch der direkte (persönliche) Einfluss des VW-Werkes auf die Wolfsburger Stadtentwicklung deutlich verringert. Aus VWSicht ‚funktionierte’ die Stadt leidlich. Nach Herstellung des Autobahnschlusses der Stadt (A39) an die Dortmund-Hannover-Berlin-Autobahn (A2), der Gebietsreform, die 1972 zu einer Versechsfachung des Wolfsburger Stadtgebietes und zu einer Erhöhung der Einwohnerzahl auf zunächst 130.000 EW geführt hatte (heute um die 120.000 EW), gab es keine allzu drängenden, das VW-Interesse tangierenden Probleme der Wolfsburger Stadtentwicklung mehr. Die Wiedervereinigung hatte auch Wolfsburgs strukturelles Standortproblem ein Stück weit gelöst: aus der vormaligen ‚Zonenrandlage’ war mit einem Schlage wieder eine zentrale Lage geworden: Wolfsburg im Zentrum eines wiedervereinten Deutschlands, ja Europas (noch dazu mit einem neugeschaffenen ICE-Anschluss). Verschiedene amerikanische Studien (vgl. hierzu z. B. Warren 1963:253) hatten schon vor Jahrzehnten feststellen können, dass die ökonomischen Eliten sich aus der Kommunalpolitik zurückziehen, wenn die Gesellschaften ‚absentee-owned’ oder stark in den nationalen oder gar internationalen Markt integriert sind. Dies schien genau das zu sein, was in Wolfsburg im Zuge des Aufstiegs des VW-Werks zu einem internationalen Konzern passiert war. Mit dem Vorschlag der Gründung der Wolfsburg AG vollzog die Konzernspitze in bezug auf die Wolfsburger Stadtentwicklung also so etwas wie einen Paradigmenwechsel. In der Stadtverwaltung Wolfsburgs verbanden sich mit dieser, was die Zusammensetzung der Partner und die Zielsetzungen anbetrifft, vollkommen außergewöhnlichen Public-Private-Partnership verschiedene Erwartungen, die sich insbesondere auf fünf Dimensionen beziehen: Mega-Projekte und Stadtentwicklung 141 • Erstens erwartete man sich, dass die zukünftige Stadtentwicklung nur so in einer ganz neuen Dimension erfolgen könne (Großprojekte). • Zweitens versprach man sich eine Beschleunigung der Stadtentwicklung, da die Entscheidungswege verkürzt werden. • Drittens erhofften sich die städtischen Akteure durch die Wolfsburg AG einen Zugang zu effektiveren Management-Methoden, Erfolgsorientierung und damit eine stärkere Betonung betriebswirtschaftlicher Handlungslogiken. Die Gewinnerzielungsabsicht der Wolfsburg AG setze ein effektives und kostenbewusstes Denken voraus, was dann auch Ausstrahleffekte auf die städtischen Gremien zur Folge habe. • Viertens sah man in der Wolfsburg AG eine Möglichkeit, die Verwaltung zu entlasten, indem verschiedene Aufgaben schlichtweg ausgegliedert werden. So wurde nicht nur die Wirtschaftsförderung - außer bei nicht automobilbezogenen Betrieben (also einer für Wolfsburg vergleichsweise unbedeutenden Branche) nahezu komplett auf die Wolfsburg AG übertragen, sondern auch Elemente der zukünftigen konzeptionellen Stadtentwicklung (Stichwort ‚Erlebniswelt’). • Fünftens versprach man sich nicht nur eine Mobilisierung privaten Kapitals für die Realisierung der Vorhaben, sondern auch eine Erwirtschaftung von Gewinnen, was allerdings nach vier Jahren (2002) noch nicht eingetreten ist. 4. Das AutovisionsKonzept Im Mittelpunkt der Arbeit der Wolfsburg AG steht die Umsetzung der sog. ‚Autovision’. Dahinter verbirgt sich ein Konzept, das verschiedene Aspekte der Wirtschaftsund Standortförderung integriert und außerdem die Repräsentationsfunktion Wolfsburgs als Stammsitz von VW durch Abb. 2: Nachtansicht von der Autostadt Wolfsburg Quelle: www.autostadt.de/info/cda/main/0,3606,1.htm die Betonung des Erlebnischarakters der Stadt forciert und damit auch zu einer Imageverbesserung beitragen will. Die Idee dazu stammt von Volkswagen. Zwar waren bei der Konzeption auch einige städtische Vertreter dabei, doch die Entwicklung fand vorrangig in Kooperation von VW und dem Beratungsunternehmen McKinsey statt. Das Konzept zielt auf die Halbierung der Arbeitslosigkeit in Wolfsburg innerhalb weniger Jahre und besteht aus vier sog. ‚Modulen’: 142 Wolfsburgs Weg aus der Arbeits- in die Freizeitgesellschaft 1. Innovationscampus: Ziel ist hier, den Austausch von Ideen und Know-how sowie Existenzgründungen zu fördern. Auf dem Innovationscampus (auf dem VW-Werksgelände) sollen für Existenzgründer Bedingungen geschaffen werden, damit sie sich in ihrer Startphase nicht nur mit anderen Unternehmen vernetzen können, sondern auch ausreichende Finanzmittel, Gründungsberatung, die notwendige Infrastruktur inklusive Räumlichkeiten und alle erforderlichen Dienstleistungen vorfinden. Gleichzeitig ist ein kurzer Weg zur VW-Abteilung ‚Forschung und Entwicklung’ gewährleistet. Außerdem soll in Wolfsburg langfristig eine (private) Eliteuniversität möglichst in der Nähe des Innovationscampus angesiedelt werden. Im Mai 2002 waren 47 Gründerfirmen auf dem Campus eingezogen. 2. Lieferantenansiedlung: Ausgehend von der Tatsache, dass VW 75 % weniger Zulieferer in der Nähe hat als Automobilunternehmen an anderen Standorten, soll die Ansiedlung von Automobilzulieferern in Wolfsburg, insbesondere von Teilbereichen der Fahrzeugentwicklung und -produktion, über die bereits bestehenden Aktivitäten hinaus gefördert werden. Dies ist Ausdruck veränderter Zuliefererund Logistikkonzepte bei Volkswagen, bei denen mit outsourcing, outsourcing just-in-time-Lieferungen und insbesondere auch der Aufbrechung der gewachsenen Lieferantenverbindungen durch Ausschreibungen eine verbesserte Kostenstruktur in diesem Bereich hergestellt werden soll. Neu angesiedelte Lieferanten sollen in Zukunft gemeinsam arbeiten („Simultaneous Engineering Zentrum“) und ebenso wie VW von der engen Verflechtung und Kooperation vor Ort profitieren. Durch Bereitstellung von Büros und Hallen zur Anmietung für einen befristeten Zeitraum soll Zulieferern ein Anreiz geboten werden, sich direkt in Wolfsburg anzusiedeln. Gleichzeitig werden Dienstleistungen wie Wachdienste, Verpflegung, EDV und Logistik angeboten. Bis März 2003 sind über 94 Zuliefererfirmen mit rund 2.700 Arbeitsplätzen in Wolfsburg angesiedelt worden. 3. Personalserviceagentur: Aufgabe der Personalserviceagentur ist es, die Anforderungen der neu geschaffenen Arbeitsplätze mit den vorhandenen Qualifikationen der Arbeitslosen in Einklang zu bringen und mit bewährten Ansätzen wie Personalver mittlung, Zeitarbeit und Qualifizierung bedarfsgerechte Personallösungen anzubieten. Existenzgründer und Lieferanten sollen sich ihr Personal über die Personalserviceagentur beschaffen können. Urlaubs- und Krankheitszeiten ebenso wie saisonale Spitzenzeiten sollen mit Hilfe der Personalserviceagentur überbrückt werden. Qualifizierungsmaßnahmen wird die Personalserviceagentur allerdings nicht selbst durchführen, sie versteht sich vielmehr als Mittler und Schaltstelle zwischen den Institutionen. Bis März 2003 wurden über die Personalserviceagentur am Standort Wolfsburg 1.198 Beschäftigungsverhältnisse begründet. 4. Erlebniswelt Wolfsburg: Die sog. ‚Erlebniswelt’ soll nicht nur die Attraktivität der (Innen-)Stadt steigern und sie zu einem überregional attraktiven Besucherziel machen, sondern auch ein Kristallisationspunkt für weiterführende Aktivitäten werden. Dazu sollen mehrere auf das Stadtgebiet verteilte und miteinander verbundene Themenwelten mit breiten Erlebnis-, Unterhaltungs- und Lernangebo- Mega-Projekte und Stadtentwicklung 143 ten geschaffen werden. Die dezentralen Parks sind gekoppelt mit einer zentralen Erlebnis- und Einkaufswelt am Nordkopf und der ‚Neuen Autostadt’ (vgl. hierzu weiter unten). Gemeinsam ergeben sie die Erlebniswelt Wolfsburg. Im Rahmen dieses Programms wurden inzwischen die VW-Arena und ein außergewöhnliches Freizeit- und Erlebnisbad im Allerpark fertiggestellt. Weitere Investitionen wie ein sog. Multidome sind in Planung. Abb. 3: Luftbild von der Autostadt Wolfsburg Quelle: www.autostadt.de/info/cda/main/0,3606,2.htm Die ersten drei Module des ‚Autovisions’-Konzeptes kann man noch ziemlich gut unter dem Begriff des ‚Outsourcing’ fassen, also einer zunächst einmal werksseitig interessanten Strategie, bestimmte Bereiche des Produktionsprozesses (inkl. Forschung) aus dem Werk auszulagern bzw. dem Werk anzulagern (Zuliefererpark). Das heißt zugleich, dass die dabei geschaffenen Arbeitsplätze formell zwar keine VW-Arbeitsplätze sind (auch keine VW-Entgelte bezahlt werden müssen), dass aber dennoch die ökonomische Abhängigkeit vom Werk unmittelbar ist - wenn auch mit der Chance und erklärten Absicht, sich aus dieser Abhängigkeit zu emanzipieren. Gemessen an der zentralen (arbeitsmarktpolitischen) Zielsetzung der Wolfsburg AG, der Halbierung der Arbeitslosenzahl in der Stadt innerhalb weniger Jahre, scheint ihre Arbeit erfolgreich gewesen zu sein: Es wurden am Standort Wolfsburg über 5.000 Arbeitsplätze geschaffen. Die Arbeitslosenquote liegt derzeit bei 8,1 % und damit knapp bzw. deutlich unter dem Landes- und Bundesdurchschnitt und um mehr als 50 % unterhalb der Quote aus den Jahren 1997 - und zwar ohne dass primär Arbeitsplätze im VW-Werk selbst geschaffen wurden. Allerdings hatte man sich ursprünglich einmal vorgenommen, rund 10-12.000 Arbeitsplätze im Rahmen des Autovisions-Konzeptes zu schaffen. Die erfolgreiche Senkung der Arbeitslosenquote ist also nicht allein bzw. nur indirekt auf die Arbeit der Wolfsburg AG zurückzuführen. 144 Wolfsburgs Weg aus der Arbeits- in die Freizeitgesellschaft 5. Die ‚Neue Autostadt’ und die neue erlebnisorientierte Stadtentwicklungspolitik Das Autovisions-Konzept - soweit es die Module InnovationsCampus, PersonalServiceAgentur und Lieferantenansiedlung anbetrifft - leuchtet aus VW-Sicht schnell ein: outsourcing. Aber was hat es mit dem Modul ‚Erlebniswelt Wolfsburg’ auf sich? Welches Interesse könnte das VW-Werk daran haben, Wolfsburg als ‚Erlebniswelt’ zu inszenieren? Diese Frage lässt sich nur mit Blick auf das VW-Großprojekt ‚Neue Autostadt’ beantworten. Bereits Mitte der 90er Jahre plante das VW-Werk - ohne dass damals auch nur an eine Wolfsburg AG gedacht worden wäre - ein werksnahes Auslieferungslager seiner Autos, wo also die Käufer sich ihr Auto selbst ‚ab Werk’ abholen konnten, also genau das, was schon bei der Gründung des Werks, zu Zeiten des KdFWagens, geplant, aber dann nie wirklich verfolgt worden war. Anvisiert war dieses Auslieferungslager zunächst in Gifhorn, nicht weit von Wolfsburg entfernt gelegen. Auf harsche Intervention seitens der Stadt (es war die Zeit der großen VW-Krise) entschloss sich das VW-Werk, dieses Auslieferungslager dann doch auf dem eigenen Werksgelände in Wolfsburg zu errichten. Dabei entstand nach und nach im Rahmen neuerer Absatzstrategien der Automobilindustrie, die emotionale Bindung des Kunden an das Produkt zu steigern, die Konzeption, das Autoabholen zu einem ‚event’ zu machen. Nur mit einem solchen zusätzlichen Event-Erlebnis schien es realistisch, die Käufer eines VWs davon zu überzeugen, dass es Spaß machen könnte, sich das Auto nicht beim Vertragshändler in der Heimatstadt, sondern direkt beim Werk, in Wolfsburg abzuholen. Folgerichtig präsentiert der Konzern in der ‚Neuen Autostadt’ - so die Idee - seine Produkte in einem auf Spaß und Erlebnis ausgerichteten Umfeld. In einem rasanten Tempo wurde diese Idee, die Expo-Weltausstellung stand bevor, umgesetzt: „ein architektonisches ‚Mixtum compositum’ (..): ein Kunden-Center, ein Konzernforum, ein Kongresszentrum, ein Automuseum, die ‚VW-Markenwelt’, Auto-Stapeltürme und ein Luxushotel. All dies wird durch eine künstliche japanische Garten-Seen-Landschaft gerahmt“ (Brandenburger 1998,948). Insgesamt 850 Mio. Mark investierte VW in dieses Projekt, das inzwischen zu einem Publikumsmagnet geworden ist: über 2 Mio. Besucher wurden im Jahr 2002 in der Autostadt gezählt. Um diesen zunächst ja nicht absehbaren Erfolg zu gewährleisten, waren aus Sicht des VW-Werks allerdings Komplementärinvestitionen der Stadt vor allem im Bereich des Wolfsburger Bahnhofes notwendig. Die Autoabholer würden ja (ganz genau wie seinerzeit es sich die Verantwortlichen der Kraft-durch-Freude-Organisation gedacht hatten) mit der Bahn in Wolfsburg ankommen und sich dann über den Mittellandkanal hinweg auf das Werks-Gelände und in die Neuen Autostadt bewegen. Also musste der Bereich um den Bahnhof entsprechend hergerichtet werden, der sich bis dahin in einem völligen stadtentwicklungspolitischen Abseits befand und mehr einem ‚Unort’ glich. Ende 1996 präsentierte das VW-Werk der Stadtverwaltung ihr Autostadt-Konzept inklusive ihrer damit verbundenen Umgestaltungswünsche im Bahnhofsbereich. Mega-Projekte und Stadtentwicklung 145 Die Stadt hatte immer schon im Bereich des Bahnhofes etwas machen wollen, umso mehr als der Bahnhof inzwischen zum ICE-Haltepunkt auf der Strecke Dortmund-Hannover-Berlin aufgewertet worden war. Zugleich begrüßte die Stadt aus ureigenstem Interesse die Autostadt-Investition des VW-Werkes, interpretierte sie doch - zu Recht - das Projekt als Bekenntnis von VW zum ‚Standort Wolfsburg’. Nicht das war also das Problem, sondern der zeitliche Druck, den das Werk auf die Stadt ausübte: Fertigstellung der Umgestaltungsmaßnahmen im Bahnhofsbereich bis zur Einweihung der Neuen Autostadt zur Weltausstellung EXPO im Jahr 2000! Das war natürlich nicht zu schaffen und wurde auch nicht geschafft. Lange Zeit war nicht einmal klar, in welche Richtung die Umgestaltungsmaßnahme gehen könnte. In Bezugnahme auf die zu erwartenden Käufer- und Touristenströme zur Autostadt einerseits und aufgrund der traditionellen Technikorientierung der Stadt andererseits entwickelte sich städtischerseits allmählich – die ‚Erlebnisorientierung’ der Autostadt-Konzeption aufgreifend - die Idee einer publikumsnahen Präsentation von Naturwissenschaft und Technik („edutainment“). Das sog. ‚Science Center’ soll in einem architektonisch ambitionierten und großzügigen Neubau verwirklicht werden und wird als eine Dokumentation des „Selbstbehauptungswillens der Stadt gegenüber VW“ gesehen. Es soll als Publikumsmagnet jährlich etwa 260.000 Besucher anziehen. Beim ‚Science Center’ soll es sich um eine überregionale Kultur- und Erlebnisinstitution („Haus der Entdeckungen“) handeln, die Menschen die Möglichkeit bieten will, naturwissenschaftliche Phänomene zu erfahren und Neues über sich selbst in wissenschaftlichen Zusammenhängen zu lernen. Das ‚Science Center’ soll sowohl vom baulichen Niveau (Architektin: Zaha Hadid) als auch von den dargebotenen Inhalten zu einem (weiteren) Highlight der Stadt werden. Es wird von städtischer Seite die größte Investition seit langem werden und als „Meilenstein für das Profil einer jungen Stadt“ (Guthardt 1999,3) gesehen. Die Neue Autostadt auf dem VW-Werksgelände und das Science Centre im Bereich des Wolfsburger Bahnhofes haben offensichtlich ein gemeinsames Merkmal: ihre Erlebnisorientierung, die „Produktion von Erlebnis, Vergnügen und Träumen“ (Hatzfeld 1997) und ihre Ausrichtung auf Ortsfremde oder Touristen - eine für die Stadt Wolfsburg gänzlich neue Zielsetzung. Bislang war Wolfsburg touristisches Niemandsland und die Kultur- und Freizeitinfrastruktur zielte ganz überwiegend auf die ortsansässige, ‚werktätige’ Bevölkerung. Mit der Autostadt-Investition (im Vorlauf vielleicht schon mit dem Bau des Kunstmuseums von 1994 mit rund 50-100.000 Besuchern pro Jahr) wird die Erlebnisorientierung zum Leitmotiv der Wolfsburger Stadtentwicklung, wobei die Neue Autostadt den Attraktionskern und Dreh- und Angelpunkt bildet: 1-2 Mio. Besucher pro Jahr. Das Erlebniswelt-Modul im weiter oben beschriebenen Autovisions-Konzept der Wolfsburg AG mit seinen VW-Arena-, Multidome- und Freizeit- und Erlebnisbad-Projekten wird nur verständlich als Abstützung, Abrundung, aber auch als Erweiterung der mit der Neuen Autostadt verbundenen stadttouristischen Neuausrichtung der Wolfsburger Stadtentwicklungspolitik. In den Worten eines Akteurs der Wolfsburg AG: „Wir haben den Leuten dreier Agenturen gesagt: hier habt Ihr einen Stadtplan, 146 Wolfsburgs Weg aus der Arbeits- in die Freizeitgesellschaft macht was! Wir wollen das und das. Wir möchten irgendwann 3 Millionen Besucher hier nach Wolfsburg holen; d. h. 1,4 Mio. für die Autostadt und noch einmal das Doppelte für unsere Erlebniswelten. Wie muss man Wolfsburg verändern, um dieses Ziel zu erreichen? Wir müssen mit dem Ganzen Geld verdienen. Es kann sich also nicht um eine Stadtverschönerungsmaßnahme handeln.“ 6. Würdigung Sicherlich ist es noch zu früh, diese neue Art von Stadtentwicklungspolitik in Wolfsburg zu würdigen, die - wie ausgeführt – organisatorisch als ‚joint venture’ zwischen Stadt und Werk angelegt ist und inhaltlich eindeutig auf ‚Erlebnisorientierung’ setzt. • Zunächst ist schon mal erstaunlich, dass doch bereits so viel von dem verwirklicht wurde, was zwischen 1995 und 2000 geplant worden war. Allein darin und in der Kurzfristigkeit, mit der das alles umgesetzt wurde, kann man einen Riesenerfolg sehen. • Während in anderen Städten Stagnation oder gar Rückbau ansteht, blüht Wolfsburg geradezu auf (nicht zuletzt mit Blick auf die Landesgartenschau, die 2004 in Wolfsburg stattfinden wird). Ein Bauboom und eine neue Gründerphase ist ausgebrochen - wenn auch beschränkt auf den Bereich von Freizeitgroßanlagen. • Die Arbeitslosigkeit in Wolfsburg hat sich - ‚wie versprochen’ - halbiert. • Der Anteil der Arbeitsplätze im Dienstleistungsbereich hat sich innerhalb weniger Jahre von rund 25 auf deutlich über 30 % erhöht. • Die Neue Autostadt ist zu einem Publikums- und Touristenmagnet geworden. • Die nationale Presse berichtet von den erstaunlichen Entwicklungen in Wolfsburg: „Wolfsburg gibt Gas“ (Uhrig 2003). Eine gewisse Imageaufwertung der Stadt dürfte inzwischen eingetreten sein: Wolfsburg auf dem Weg, das Image als ‚Arbeiterstadt’ und ‚Provinz’ abzulegen. Angesichts dieser ‚Erfolge’ tut sich jedwede Kritik schwer und wird denn auch in Wolfsburg als ‚Bedenkenträgerei’ abgetan. Man hat sich für einen Weg entschieden und eine einmalige Chance ergriffen. Dabei liegen die bangen Fragen auf der Hand: • In welchem Verhältnis stehen Aufwand und Ertrag? Es ist sehr viel Geld investiert worden, aber die (langfristige) privat- wie stadtwirtschaftliche Bilanz steht noch aus. Ein Wolfsburger Ratsherr: „Wenn das alles klappt, dann sind die Aussichten für Wolfsburg fantastisch! Wenn nicht, dann haben wir hier einen Verschiebebahnhof.“ • Wie sieht Risikoverteilung aus? Die Skeptiker befürchten, dass sich die einseitige Abhängigkeit der Stadt vom VW-Werk noch weiter vergrößert hat. „All die Großprojekte der Stadt sind nur finanzierbar, wenn die gute Autokonjunktur anhält. Wenn nicht, haben wir sofort eine Deckungslücke im Haushalt. Mögli- Mega-Projekte und Stadtentwicklung • • • • • • • 147 cherweise wären einige Projekte dann auch nicht mehr zu bezahlen“, so ein Kommunalpolitiker. Wie sieht es mit dem bürgerschaftlichen Engagement aus? Das ‚Modell Wolfsburg’ setzt einzig und allein auf VW und (erhoffte) Großinvestoren nach dem Motto: VW wird es schon richten. Ist das Element bürgerschaftlicher Partizipation im Rahmen eines solchen ‚urbanen Regimes’ (Franz 1997) obsolet geworden? Wie sieht es mit dem Verhältnis von Stadt und Werk aus? Wird die Wolfsburg AG zum eigentlichen stadtentwicklungspolitischen Entscheidungszentrum, der Rat der Stadt zum bloßen ‚Akklamationsorgan’? Wer funktionalisiert wen für seine eigenen Zwecke: Stadt oder Werk? Das ‚Modell Wolfsburg’ setzt vor allem auf Großprojekte (Neue Autostadt, Science Center, Erlebniswelten) und zielt einerseits auf ‚events’, andererseits auf auswärtige Zielgruppen. Aber liegt im ‚Städtetourismus’ die Zukunft gerade dieser Stadt? Wie dauerhaft und durchgreifend ist der Trend zur ‚Erlebnisgesellschaft’ (Schulze 1992)? Bleibt der Touristenstrom auf die neugeschaffenen ‚Erlebnisenklaven’ beschränkt oder profitiert auch die Innenstadt von diesem primär ja erlebnis- denn einkaufsorientierten Stadttourismus? Wieviel inszenierte Erlebnisqualität verträgt diese Stadt, ohne dass die Bürger die Identifikation mit ihr verlieren? Lässt sich der Charakter, das Image einer Stadt ändern oder wird Wolfsburg das bleiben als was es immer schon angesehen wurde: „Großprotzendorf“. Diese Fragen und Bedenken, die sich derzeit allesamt nicht beantworten lassen, relativieren sich jedoch nicht nur angesichts der sich bisher schon abzeichnenden ‚Erfolge’, sondern auch angesichts der fehlenden Alternativen: ohne das stadtentwicklungspolitische VW-Engagement liefe in der Stadt vermutlich außer ein paar Selbsthilfegruppen und lokalen Beschäftigungsgesellschaften gar nichts. Mit dem VW-Werk im Rücken kann die Stadt als ‚Hauptstadt des VW-Imperiums’ zumindest noch hoffen, in der nationalen, vielleicht sogar internationalen Standortkonkurrenz ein Stück weit Anschluss zu halten. In Bezug auf den Sonderfall Wolfsburg gilt zunächst einmal das, was Selle (1992:39) in Bezug auf Public-Private-Partnerships als ‚Innovationskoalitionen’ ausgeführt hat: „Dort, wo sich günstige Voraussetzungen bieten, wo wesentliche Beteiligte zum Schritt nach vorn bereit sind, werden exemplarische Lösungen realisiert. Damit können die zähesten Vorbehalte der ‚Routinekartelle’ (‚...das geht doch nicht, das rechnet sich nicht, das haben wir noch nie so gemacht’) sozusagen experimentell widerlegt werden.“ Wolfsburg ist gerade dabei, dies zu tun. 148 Wolfsburgs Weg aus der Arbeits- in die Freizeitgesellschaft Literatur Brandenburger, D., 1998: Infotainment in Wolfsburg, Das VW-Großprojekt „Autostadt“, S.948-955, in: Bauwelt H.17/18 Franz, P., 1997: Was kann die Stadt heute noch leisten? Integration, urbane Regimes und die Durchsetzbarkeit von Leitbildern, S.294-311, in: Die Alte Stadt, 24.Jg., H.4 Guthardt, W., 1999: Das Science Centre. Meilenstein für das Profil einer jungen Stadt, in: Wolfsburg AG, Hg., ErlebnisWelt-Journal, Ausgabe 2, Wolfsburg Häußermann, H., Siebel, W., Hg., 1993: Festivalisierung der Stadtpolitik. Stadtentwicklung durch große Projekte, in: Leviathan (Sonderheft 13), Opladen Harth, A., u.a., 2000: Wolfsburg: Stadt am Wendepunkt. Eine dritte soziologische Untersuchung, Opladen Hatzfeld, U., 1997: Die Produktion von Erlebnis, Vergnügen und Träumen. Freizeitgroßanlagen als wachsendes Planungsproblem, S.282-308, in: Archiv für Kommunalwissenschaften (AfK), Bd.II Heinz, W., 1998: Public Private Partnership, S. 210-238, in: Archiv für Kommunalwissenschaften (AfK), Bd.II Herlyn, U. u.a., 1982: Stadt im Wandel - Eine Wiederholungsuntersuchung der Stadt Wolfsburg nach 20 Jahren, Frankfurt Herlyn, U., Tessin, W., 2000: Faszination Wolfsburg 1938-2000, Opladen Hilterscheid, H., 1977: Industrie und Gemeinde - Die Beziehungen zwischen der Stadt Wolfsburg und dem Volkswagenwerk und ihre Auswirkungen auf die kommunale Selbstverwaltung, Berlin Mickler, O., u.a., 1980: Ökonomische Bedingungen und soziale Folgen des Einsatzes von Industrierobotern, Göttingen Reichold, 0., 1998: ...erleben, wie eine Stadt entsteht. Städtebau, Architektur und Wohnen in Wolfsburg 1938-1998, Braunschweig Selle, K., 1992: Vom ‚sparsamen Umgang’ zur ‚Vision offener Räume’ - Stadtentwicklung und Freiraumpolitik für die 90er Jahre (Vorträge, Texte, Materialien), Werkbericht No.29 der Arbeitsgruppe Bestandsverbesserung, Hannover/Dortmund Uhrig, N., 2003: Wolfsburg gibt Gas, Autostadt, Landesgartenschau 2004 und Touareg-Teststrecke, S.21-24, in: Garten+Landschaft, H.7 Mega-Projekte und Stadtentwicklung 149 Frank Roost METROPOLEN ALS STANDORTE IMAGEORIENTIERTER GROSSPROJEKTE Das Beispiel Tokyo Struktur und Antlitz einer Metropole sind heute mehr denn je nicht nur von ihren politischen und kulturellen Institutionen geprägt, sondern auch von den dort ansässigen Wirtschaftunternehmen. Dies gilt insbesondere seit im Zuge der Globalisierung die Konzentration von Anbietern hochwertiger Unternehmensdienstleistungen in denjenigen Metropolen, die als Schaltstellen der weltweit vernetzten Wirtschaft fungieren, drastisch zugenommen hat. Zu den in der Stadtforschung untersuchten Folgen der verstärkten Präsenz der Konzerne in diesen als „Global Cities“ bezeichneten Metropolen gehören neben der Veränderung des Arbeitsmarkts und der Sozialstruktur der jeweiligen Stadt auch die erhöhte Nachfrage nach Büroraum und deren Auswirkungen auf die baulichen Aktivitäten insbesondere im Rahmen von Großprojekten (z.B. Fainstein 1995). Doch während sich die Präsenz global agierender Konzerne im Stadtbild während der achtziger und neunziger Jahre zumeist noch auf deren Produkte, Werbeplakate und Bürogebäude beschränkte, hat sie in letzter Zeit dadurch noch einmal zugenommen, dass die Unternehmen immer öfter die Großstadt als Bühne für werbewirksame Auftritte nutzen: So kommt heute kaum eine größere Veranstaltung ohne Sponsor aus; in den Stadtzentren präsentieren die Konzerne ihre Produkte in repräsentativen showrooms oder flagship stores; und manchmal werden - wie am Potsdamer Platz - komplette Quartiere von Konzernen gebaut und nach ihnen benannt. Im diesem Beitrag soll deshalb untersucht werden, wie es zu dem verstärkten Bemühen der Unternehmen um Präsenz im städtischen Raum kommt, welche verschiedenen Typen von imageorientierten Bauprojekten die Konzerne mittlerweile entwickelt haben und welchen Stellenwert solche Investitionen für die Stadtentwicklung erlangen könnten.Zu diesem Zweck werden im Folgenden zunächst die zu 150 Metropolen als Standorte imageorientierter Großprojekte Grunde liegenden Veränderungen der Produktions- und Vermarktungskonzepte der Konsumgüterindustrie beschrieben, aus denen die verstärkten Werbebemühungen in Großstädten resultieren. Im zweiten Schritt soll dann dargestellt werden, warum es ausgerechnet Metropolen sind, und nicht Klein- oder Mittelstädte, die als Standorte für die werbewirksamen Maßnahmen und imageorientierten Projekte ausgewählt werden. Und schließlich soll im dritten Teil am Beispiel der japanischen Metropole Tokyo, in der besonders viele solcher werbeträchtigen Präsentationsräume zu finden sind, untersucht werden, wie es zu einer solchen Konzentration imageorientierter Projekte kommt, welche Orte innerhalb der Stadt von den Unternehmen dabei bevorzugt werden, ob sich hieraus Impulse für die Stadtentwicklung ergeben können und welchen Einfluss die Stadtplanung auf die Standortwahl der Konzerne hat. 1. Vermarktungsstrategien der Konsumgüterindustrie Im Zuge der Globalisierung geben viele Konsumgüterhersteller wesentliche Teile ihrer Produktionsaktivititäten an Zulieferfirmen ab, die meist in Ländern ansässig sind, in denen das Lohnniveau niedriger ist. Dieses Outsourcing umfasst aber zunehmend nicht nur einzelne Teile oder Baugruppen, sondern den gesamten Produktionsprozess. So wird von etablierten Unternehmen der Elektronikindustrie wie Philips oder Sony die Herstellung von kompletten Produkten an so genannte „Electronic Manufacturing Services“ (EMS) übertragen. Diese stellen, wie beispielsweise die in den USA ansässige Firma Solectron, in Südostasien und Lateinamerika Unterhaltungselektronikprodukte her, die dann von den europäischen und japanischen Konzernen unter ihrem Markennamen auf dem Weltmarkt verkauft werden (vgl. Just 2001). Besonders konsequent setzte das schwedische Traditionsunternehmen Ericsson diese Strategie um und hat (bereits vor seiner kürzlich begonnenen Kooperation mit Sony) seine gesamte Handy-Produktion an einen in Singapur ansässigen EMS namens Flextronics verkauft, der schon länger als Zulieferer für Siemens, Nokia und Motorola Handy-Bauteile produzierte. Ericsson selbst konzentriert sich dagegen auf Produktentwicklung, Vertrieb und Marketing (vgl. Wolff 2001). Was für die alteingesessenen Unternehmen gilt, trifft bei jüngeren Firmen erst recht zu. Insbesondere im Bereich des Schuh- und Bekleidungsgewerbes haben in den vergangenen zwanzig Jahren fabriklose Unternehmen expandiert, die wie Nike oder H&M von Anfang an keine eigenen Produktionsstätten besessen haben und deren unternehmerische Aktivitäten dementsprechend vor allem aus Design, Vertrieb und Marketing bestehen. Durch den harten Wettbewerb zwischen den Zulieferern kommt es aber zu einem internationalen Lohndumping, so dass der Anteil der Produktionskosten an der Wertschöpfung immer geringer wird, während die Bedeutung der Werbeausgaben ständig steigt (vgl. Klein). So beträgt beispielsweise bei Schuhen von Adidas oder Nike der Anteil der Produktionslohnkosten heute weniger als 1 % des Verkaufspreises, während der Mehrwert der Marke (inklusive Werbung und Design) etwa ein Drittel des Preises ausmacht (vgl. Krull 2002). Dadurch dass Konkurrenten wie Philips und Bang&Olufsen die Herstellung ihrer Mega-Projekte und Stadtentwicklung 151 Unterhaltungselektronik gleichzeitig zu dem selben EMS auslagern (ebenfalls Flextronics), oder Sportbekleidung für Adidas und Nike in den selben indonesischen Fabriken zusammengenäht wird, werden die Produkte natürlich tendenziell austauschbarer. Umso wichtiger ist es deshalb für die Unternehmen, die scheinbare Differenz, die der Kunde sich durch den Kauf von Markenprodukten erhofft, durch verstärkte Werbemaßnahmen zu vermitteln. Dementsprechend werden die Konzerne, die früher Walkman- oder Turnschuhproduzenten waren, heute zunehmend zu Image-Produzenten, die ständig auf der Suche nach neuen Möglichkeiten sind, den Bekanntheitsund Beliebtheitsgrad ihrer Marke bei den Konsumenten zu erhöhen. Da diese aber angesichts einer an Überfluss grenzenden Auswahl und einer immensen Werbeflut in Print- und Digitalmedien immer schwerer vom Kauf ganz bestimmter Produkte überzeugt werden können, versuchen Abb.1: Produktion in einem „Sweat-Shop“, neuerdings zahlreiche Quelle: Naomi Klein: No Logo, London 2000, S. 194. Unternehmen, potentielle Kunden durch den Bau von Unterhaltungseinrichtungen zu erreichen (vgl. Hinterhuber/Pechlaner 2001). Dies erweist sich als ein durchaus effektiver Weg der Unternehmenskommunikation, da - anders als bei herkömmlicher Werbung - mit dem Besuch der Entertainmenteinrichtung auch eine physische Erfahrung verbunden ist, die sich umso intensiver im Bewusstsein der Besucher einprägt (vgl. Grötsch 2001). Das auf diese Weise erzeugte positive Erlebnis soll dann auf die Marke transferiert werden und sich zu einer emotionalen Bindung an das Unternehmen entwickeln. Die imageorientierten Projekte sollen also gar nicht direkte Gewinne durch Eintrittsgelder oder den Verkauf vor Ort erwirtschaften, sondern vielmehr die Kundenloyalität langfristig sichern und Kaufentscheidungen noch Jahre nach dem Besuch der Einrichtung beeinflussen. Dementsprechend wird der Eintritt dort meist gering gehalten und ist manchmal sogar kostenlos. Um diese Art von Projekten von den herkömmlichen, auf direkten Profit ausgerichteten Urban Entertainment Centers der Unterhaltungsindustrie zu unterscheiden, verwende ich den Begriff Corporate Image Center, der als Oberbegriff für die verschiedenen Formen imageorientierter ProjekCenter te der Konsumgüterindustrie zu verstehen ist (vgl. Roost 2001). Der Ausdruck soll ermöglichen, das Phänomen zu beschreiben, ohne dass jedes Mal die verschiedenen Typen wie showroom, flagship store und brandpark aufgezählt oder die in der Immobilienconsultingbranche für diesen Zweck üblichen, etwas umständlichen Umschreibungen wie „Erlebniswelten als Instrument der Unternehmenskommunikation“ (vgl. Kipp 2002) verwendet werden müssen. 152 Metropolen als Standorte imageorientierter Großprojekte 2. Standorte imageorientierter Projekte Mit der globalisierungsbedingten zunehmenden Bedeutung von Investitionen zur Förderung des Markenimages haben sich in den letzten Jahren verschiedene Typen von Corporate Image Center herausgebildet, die zunächst noch auf den beiden schon lange etablierten Vorgängerformen basierten: dem klassischen Autosalon und der traditionellen Werksführung. Zwar existieren schon seit den zwanziger Jahren Autosalons, die sich große Firmen in herausragenden Lagen wie der Fifth Avenue oder dem Kurfürstendamm als Repräsentationsräume leisten, ohne dass sie direkt vor Ort große Umsätze erwarten (vgl. Bell 2001). Doch in den letzten Jahren mutieren die einst elegant-nüchternen Autosalons nach und nach zu Mega-showrooms, die potentielle Kunden mit allerlei Entertainmentelementen locken. Begonnenen hat diese Entwicklung in den achtziger Jahren in Tokio, als die japanischen Automobilhersteller ihre traditionellen showrooms vergrößerten oder durch Neubauten ersetzten, wie zum Beispiel Toyota mit seinem Amlux-Center, in dem den Kunden auf sechs Geschossen nicht nur Dutzende von Toyota-Modellen geboten werden, sondern auch Unterhaltungselemente (wie z.B. ein High-Tech-Kino, in dem zu den Filmszenen passende Düfte versprüht werden). Mittlerweile wird dieses Konzept auch in anderen Metropolen umgesetzt. So renoviert und vergrößert beispielsweise Citroën derzeit seinen 1928 eröffneten und lange Zeit vernachlässigten Autosalon auf den Champs-Elysées, und auch in Berlin sind nach der Wende in touristisch attraktiven Lagen wie der Friedrichstraße oder Unter den Linden neue showrooms von VW, Opel, Peugeot, Audi und Mini entstanden. Daimler-Chrysler ging gleich noch einen Schritt weiter: Der größte Industriekonzern der Bundesrepublik hat neben seinem neuen showroom am Potsdamer Platz auch den bestehenden am Kurfürstendamm ausgebaut sowie die Mercedes-Benz-Niederlassung am Salzufer in Charlottenburg zu einer kleinen Auto-Erlebniswelt weiterentwickelt, in der mit Unterhaltungselementen wie Oldtimer-Ausstellung, Restaurant, Kletterwand, Formel-1-Simulator und Kinder-Verkehrsschule potentielle Kunden aus allen Altersstufen angesprochen werden sollen. Ähnlich wie sich aus den einstigen Autosalons die heutigen showrooms entwickelten, sind auch viele traditionelle Werksführungen mit angegliedertem Verkauf in den letzten Jahren um Unterhaltungselemente angereichert und zu so genannten Industrieerlebniswelten weiterentwickelt worden (vgl. Steineke 2001). So hat beispielsweise der Schokoladenhersteller Cadbury die Besucherführung seines Werks im mittelenglischen Bourneville zu einer Cadbury World genannten Süßwaren-Erlebniswelt ausgebaut, und in Wattens bei Innsbruck präsentiert der Glasnippes-Hersteller Swarovski seine Produkte in einem vom Event-Spezialisten André Heller gestalteten brandpark namens Kristallwelten. In der Automobilindustrie wird dieses Konzept in noch großzügigeren Dimensionen umgesetzt. Während Mercedes-Benz und BMW sich bisher damit begnügen, am jeweiligen Stammsitz neue Besucher- und Auslieferungszentren sowie spektakuläre Automuseen von prominenten Architekten bauen zu lassen, ist Volkswagen noch Mega-Projekte und Stadtentwicklung 153 einen Schritt weiter gegangen und hat am Stammsitz Wolfsburg all diese Einrichtungen in seiner so genannten „Autostadt“ miteinander kombiniert und um weitere Unterhaltungselemente sowie einen Park mit Ausstellungspavillons der einzelnen Konzernmarken ergänzt. Dieser weltweit bisher größte brandpark ist in kürzester Zeit eine der meistbesuchten Touristenattraktionen der Bundesrepublik geworden und hatte allein in den ersten zwei Jahren nach seiner Eröffnung über fünf Millionen Besucher. (vgl. Meyrhöfer 2003) Auch wenn Volkswagens brandpark die wachsende Bedeutung des Phänomens Corporate Image Center gut verdeutlicht und in der Branche als Vorbild gepriesen wird, dürften Projekte dieser Größenordnung jedoch eher Ausnahmen darstellen, die auf wenige Konzerne und deren Standorte beschränkt bleiben. In weitaus mehr Städten, und dort insbesondere in Citylagen, ist dagegen ein weiterer Typus von Corporate Image Center anzutreffen, den vor allem Unternehmen der Bekleidungsindustrie errichten: die so genannten flagship stores wie Levi’s Store, Niketown oder Adidas Original Store. Dabei handelt es sich um großzügig dimensionierte, Abb. 2: Innenansicht des Nike-Shops in Berlin, Quelle: Frank Roost auffallend gestaltete und Abb. 3: Nike-Shop in Melbourne, Quelle: Frank Roost mit Entertainmentelementen ausgestatte Geschäfte in touristisch attraktiven Lagen, in denen zwar auch Waren verkauft werden, deren Umsätze jedoch die hohen Investitionskosten kaum rechtfertigen würden. In den flagship stores geht es aber auch gar nicht um Verkäufe vor Ort, sondern vielmehr darum, das Image des sorgfältig ausgewählten und von den Marketingspezialisten als trendsetzend ausgemachten Standortes auf die Bekleidungsmarke zu übertragen. So können indirekte Gewinne aus der Investition resultieren, wenn die Besucher zurück im Heimatort sind und sich für Produkte dieses 154 Metropolen als Standorte imageorientierter Großprojekte Unternehmens entscheiden, weil sie dessen Marke bewusst oder unterbewusst mit dem modischen Image des besuchten Ortes und dem positiven Erlebnis des Besuchs verbinden. Dieses Marketingkonzept führt dazu, dass die investierenden Unternehmen für ihre flagship stores möglichst imageträchtige Standorte finden müssen. Deshalb kommen vor allem touristisch attraktive Orte und kulturell herausragende Metropolen für solche Projekte in Frage. Auffallende Konzentrationen von (standortunabhängigen, also nicht wie die Industrieerlebniswelten an den Produktionsort gebundenen) Corporate Image Centers sind dementsprechend in Orten wie New York, London oder Berlin und dort in zentralen Einzelhandelsdistrikten zu finden. Solche Ballungen von Corporate Image Centers können den Immobilienmarkt stark beeinflussen und eine planerische Steuerung erfordern, insbesondere wenn es sich um großflächige Projekte handelt. Wie weitreichend die Auswirkungen dieser Entwicklung sein können, ist besonders gut am Beispiel Tokyo nachzuvollziehen, denn dort haben sich Corporate Image Center in den vergangenen Jahren zu einer treibenden Kraft bei der Durchführung von Großprojekten entwickelt und dabei zumindest zeitweise eine Funktion eingenommen, die bis dahin den einst dominanten Büronutzungen zuzuordnen war. 3. Corporate Image Center an Tokyos neuer waterfront Mit über acht Millionen Einwohnern und weiteren 14 Millionen im Umland bildet Tokyo den Kern der weltweit bevölkerungsreichsten Metropolenregion, die, trotz steigender Zahl von Dienstleistungsarbeitsplätzen, auch den bedeutendsten Industriestandort der Welt darstellt. Darüber hinaus ist die Stadt spätestens in den achtziger Jahren zu einem der wichtigsten globalen Finanzplätze geworden (vgl. Fujita 1991). Im Zuge dieser Entwicklung zur global city und der damit verbundenen überproportionalen Zunahme von Arbeitsplätzen im Finanzdienstleistungsgewerbe kam es zu einer immensen Nachfrage von hochwertigen Büroflächen und dementsprechend zu starken Investitions-, aber auch Spekulationsaktivitäten auf innenstadtnahen Grundstücken. Dabei hat sich aus dem traditionell polyzentrischen Stadtgefüge ein multifunktionaler Innenstadtbereich mit einem Haupt- und mehreren Subzentren herauskristallisiert. Neben dem historischen Stadtzentrum mit dem Ginza- und dem Marunouchi-Quartier entwickelten sich vor allem die Standorte an den großen Pendler-Umsteigebahnhöfen. An den Stationen entlang der die Innenstadt ringförmig umschließenden Bahnlinien bildeten sich so mehrere Cluster mit einer extremen Konzentration von hochwertigen Einzelhandels- und Büroflächen (vgl. Cybriwsky 1998). Dieser Entwicklungsschub betraf jedoch vor allem die nordwestlich gelegenen Subzentren wie Shinjuku oder Shibuya, während die teilweise von Industrieflächen geprägten südöstlichen Stadtviertel in Hafennähe erheblich weniger Investitionen anzogen. Um das Wachstum von den dominanten und überlasteten Standorten in die anderen Stadtbezirke zu verlagern, entwickelte die Stadtverwaltung Tokyos in den achtziger Jahren ein Ringstadt-Konzept, das mit Hilfe staatlicher Infrastrukturmaß- Mega-Projekte und Stadtentwicklung 155 nahmen ermöglichen sollte, in den nahe der Bucht gelegenen Vierteln große neue Subzentren zu schaffen. Der Wichtigste dieser neuen Dienstleistungsstandorte war unmittelbar an der Bucht von Tokyo geplant, wo auf einer Aufschüttungsfläche ein neues Waterfront Waterfront-Stadtviertel entstehen sollte. Auch wenn die Idee des Stadtwachstums durch Flächengewinnung am Rande der Bucht durchaus in der Tradition der japanischen Stadtplanung stand (vgl. Flüchter 1985), handelte es sich doch um ein Projekt von bisher unbekannten Dimensionen. Auf über 440 Hektar sollten nicht weniger als 110.000 Arbeitsplätze und Wohnraum für 60.000 Menschen entstehen (vgl. Hohn). Vorbild für das Teleport genannte Vorhaben waren die zur selben Zeit in Bau befindlichen Projekte der beiden anderen führenden global cities, die Londoner Docklands und die Battery Park City in New York. Anders als dort sollte bei Tokios Teleport allerdings gar nicht erst versucht werden, urbane Qualitäten historischer Stadtquartiere zu imitieren oder zumindest gestalterisch anzudeuten. Geplant war vielmehr ein architektonisch wie telekommunikationstechnisch hochmoderner Distrikt, der den ökonomischen und technologischen Führungsanspruch Japans weltweit demonstrieren sollte. Der Teleport kann somit als das wichtigste der in den achtziger Jahren begonnenen Großprojekte gelten, die politisch gefördert und mit der GlobalCity-Funktion legitimiert wurden. Auch die Gigantomanie des Projektes wurde mit dieser Argumentation begründet und dabei von Seiten der Stadtverwaltung in den Vordergrund gestellt, dass es für die wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung Tokios und ganz Japans notwendig sei, die Bedeutung der Hauptstadt als globales Finanzdienstleistungszentrum noch weiter zu erhöhen und so dafür zu sorgen, dass Tokyo in jeglicher Hinsicht zu den Metropolen New York und London aufschließen könne. Diese Begründung stand zwar vordergründig ganz in der japanischen Tradition des ewigen Versuchs, die westlichen Industrienationen ein- bzw. überholen zu können. Letztendlich handelte es sich dabei aber primär um die Legitimationsstrategie einer Gruppe aus Finanz- und Bauindustrie sowie diesen Wirtschaftszweigen nahe stehenden Politikern der Liberaldemokratischen Partei, die sich von solchen Großprojekten vor allem eigene wirtschaftliche Vorteile erhofften (vgl. Machimura 1998). Eben diese Interessenverquickung zwischen Wirtschaft und Politik war es letztlich auch, die dazu führte, dass die Grundstücksspekulation fast unbegrenzt zunehmen konnte und schließlich zur überhitzten „bubble economy“ der achtziger Jahre führte, deren Spätfolgen seit dem Platzen der Spekulationsblase Anfang der neunziger Jahre die bis heute nur langsam wieder Dynamik gewinnende japanische Wirtschaft prägen. Dieser Wandel betraf das Teleport-Projekt ganz besonders, denn mit dem Zusammenbruch des Immobilienmarktes wurden die ursprünglich geplanten Bürogebäude unvermarktbar. Dementsprechend stieg auch der politische Druck, die Planungen zu modifizieren, so dass schließlich Mitte der neunziger Jahre die Zielzahlen revidiert wurden. Insbesondere wurden die angestrebte Dichte drastisch verringert und die Zahl der avisierten Arbeitsplätze und Wohnungen für einige Teilbereiche halbiert. Außerdem wurden der Anteil der Büroflächen am Gesamtprojekt verringert sowie neue Grünflächen mit ins Bauprogramm aufgenommen (vgl. Hohn 2000). 156 Metropolen als Standorte imageorientierter Großprojekte Doch trotz der vorgenommenen Revisionen und dem Versuch, dem Projekt auch durch eine Namensänderung von Teleport Town zu Rainbow Town einen neuen Schub zu geben, kommt das Vorhaben bis heute nur sehr langsam in Fahrt. Zwar sind vonseiten der Stadt und des Staates erhebliche Infrastruktur-Maßnahmen durchgeführt worden, doch die Vermarktung der Grundstücke, insbesondere für Bürogebäude, verläuft weiterhin nur schleppend. Dementsprechend stellen sich Teile der Rainbow Town nach wie vor als eine seltsame Landschaft aus leeren Grundstücken zwischen nagelneuen Autobahnen, fertig gestellten S-Bahnhöfen und hochmoderner Einschienenbahn dar. Eine der wenigen Ausnahmen bildet der Odaiba genannte zentrale Bereich des neuen Stadtteils, in dem nicht nur Büros, sondern auch konsumorientierte Nutzungen geplant wurden. Hier sind in den letzten Jahren erhebliche Investitionen vorgenommenen worden, denn Odaiba wurde wegen seiner repräsentativen Wasserlage (mit Blick auf das Tokioter Stadtzentrum und die neue, den Hafen überspannende „Rainbow Bridge“) von einigen der führenden japanischen Unternehmen als hervorragend für neue Corporate Image Center geeigneter Standort erkannt. Das erste Projekt dieser Art in Odaiba war das Gebäude von Japans größtem Privatfernsehsender Fuji TV. Der mit seiner Aluminiumfassade futuristisch anmutende, nach einem Entwurf von Kenzo Tange errichtete Komplex enthält nicht nur Fernsehstudios und Verwaltung, sondern wurde von vornherein als touristische Attraktion konzipiert. Besuchern wird u. a. eine Studiotour, Medienevents auf einer großen Freifläche, Souvenirshops, ein Aussichtsdeck mit spektakulärem Blick auf das Zentrum Tokios und ein kugelförmiges Restaurant auf der obersten Etage geboten. Auf dem Grundstück unmittelbar nebenan eröffnete der Sony-Konzern im Sommer 2000 ein Corporate Image Center mit dem Namen Mediage, das sich mit einer farbenfrohen Fassade gegenüber dem mit Metall und Glas verkleideten Fuji-Gebäude zu behaupten sucht. Der Komplex spiegelt die Doppelstruktur des Konzerns wieder, der einer der weltweit bekanntesten Konsumgüterhersteller ist und gleichzeitig eines der größten Medienkonglomerate bildet. Deshalb verknüpft Sony bei seinem Projekt in Odaiba, wie zuvor bereits bei ähnlichen Projekten am Potsdamer Platz in Berlin und am Yerba Buena Park in San Francisco (vgl. Roost 2000), Elemente eines als Werbemaßnahme dienenden flagship stores und eines auf Gewinn ausgerichteten Urban Entertainment Centers miteinander. Dementsprechend finden sich im MediageCenter neben großzügig präsentierten Sony-Fabrikaten ein Multiplexkino, Restaurants, Kinderspielecken, Unterhaltungs- und Erlebnisbereiche für Jugendliche sowie ein auf junge Erwachsene ausgerichtetes Shoppingcenter. Auf diese Weise kann Sony seine Elektronikprodukte potentiellen Kunden präsentieren und nebenher mit Unterhaltungseinrichtungen Geld verdienen, um einen möglichst hohen Anteil der Investitionskosten wieder herein zu bekommen. Sonys größter Konkurrent Panasonic hat das Werbepotential solcher Einrichtungen ebenfalls erkannt und versucht nun mit einem ebenfalls in Rainbow Town gelegenen, kürzlich eröffneten Corporate Image Center gleichzuziehen. Auch hier werden Elektronikprodukte in einem Umfeld präsentiert, das vor allem für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene unterhaltsam sein soll. Zu diesem Zweck finden sich Mega-Projekte und Stadtentwicklung 157 dort u. a. eine Dinosaurier-Ausstellung, eine Videospielhalle, Internetcafé und ein so genanntes Kreativ-Laboratorium. Außerdem gibt es einen gesonderten Bereich, in dem Produkte der Marke Will ausgestellt werden. Die neue, bisher nur in Japan angebotene Marke Will ist ein Gemeinschaftsprojekt von fünf Konzernen aus verschiedenen Branchen, die mit der lifestyle-orientierten Marke versuchen, junge Kunden anzusprechen. Die Marke umfasst alle möglichen verschiedenen Produkte wie Unterhaltungselektronik, Computer, Haushaltsreiniger und Bier bis hin zum Will-Auto, das von Toyota hergestellt wird (vgl. Ono 1999). Toyota selbst betreibt mittlerweile ebenfalls ein Corporate Image Center in Odaiba. Der Palette Town genannte Komplex ist um ein Vielfaches größer als die bisherigen Toyota-Showrooms Showrooms und stellt sogar die größte Einrichtung dieser Art in Japan dar. Anders als die Elektronikunternehmen konnte sich der Automobilhersteller jedoch nicht zum Bau eines dauerhaften Gebäudes entschließen. Stattdessen pachtete Toyota gemeinsam mit dem Developer Mori eines der für zukünftige Büronutzungen vorgesehenen Grundstücke für zehn Jahre und errichtete dort einen einfach konstruierten und daher kostengünstigen Komplex, der später wieder schnell abgerissen werden kann. Dafür ist er jedoch umso größer und enthält umso mehr verschiedene Entertainmentelemente, die nicht nur automobilinteressierte Männer anlocken, sondern gleich die ganze Familie unterhalten sollen. Dementsprechend finden sich in dem Komplex verschiedene Teilbereiche mit Attraktionen für alle Familienmitglieder: ein Vergnügungszentrum mit Karussells und Riesenrad; ein besonders auf junge Frauen zugeschnittenes Einkaufszentrum namens Venusfort, in dem vor allem europäische Mode verkauft wird; eine Oldtimeraustellung; und schließlich ein Auto-Showroom Showroom mit Hunderten von Toyota-Modellen, Fahrsimulatoren und einer Probestrecke für Kleinwagen. Mit dieser Ballung von Corporate Image Centers zieht Rainbow Town mittlerweile täglich Tausende von Tagesausflüglern und Touristen an und übertrifft bereits einige der etablierten Subzentren als Freizeit- und Shoppingdestination. Anders als ursprünglich geplant haben sich also die imageorientierten Projekte zumindest für eine Übergangsphase zur treibenden Kraft für die Entwicklung von Rainbow Town entwickelt und so die den Büronutzungen zugedachte Rolle eingenommen. Rainbow Town stellt dabei aber nur einen extremen Fall dar, der eine Entwicklung besonders gut verdeutlicht, die sich in abgeschwächter Form auch bei anderen Bauvorhaben in Tokyo erkennen lässt. Schließlich zeichnen sich auch alle anderen erst kürzlich vollendeten oder derzeit in Bau befindlichen Großprojekte in Tokio dadurch aus, dass sie keine reinen Bürostandorte sind, sondern multifunktionale Komplexe, die fast immer einen erheblichen Anteil an Konsum- und Freizeiteinrichtungen aufweisen (vgl. Hohn 2002), und auch in den traditionellen Einzelhandelslagen Tokyos werden ständig neue flagship stores eröffnet, die oft in Aufsehen erregender Architektur realisiert werden und deswegen teilweise sogar, wie der von Renzo Piano gestaltete Hermès-Turm im Ginza-Quartier, weltweit Beachtung finden (vgl. Meyer 2002). Allgemeiner ausgedrückt führt Tokyos Metropolenfunktion also nicht nur zu einer erhöhten Nachfrage nach Büroraum für globale Finanzdienstleistungsunterneh- 158 Metropolen als Standorte imageorientierter Großprojekte men, sondern ebenso zu verstärkten Bemühungen von Konzernen, diesen Standort für ihre langfristigen Imagestrategien zu nutzen. Zwar ist nicht zu erwarten, dass Corporate Image Center je den Immobilienmarkt einer Großstadt so sehr prägen können wie die Bürogebäude der Finanzdienstleistungsunternehmen. Doch ist zumindest festzustellen, dass die baulichen Aktivitäten der global agierenden Konzerne sich in Großstädten voraussichtlich immer seltener auf Bürokomplexe beschränken werden und stattdessen zunehmend von imageorientierten Projekten verschiedenster Art und Größe ergänzt werden dürften. 4. Fazit Imageorientierte Großprojekte von Konsumgüterproduzenten stellen einen an Bedeutung zunehmenden Faktor in Wirtschaft und Gesellschaft dar. Je nach Typ sind für solche Einrichtungen verschiedene Standorte möglich. Traditionelle Produktionsstandorte kommen vor allem für Industrieerlebniswelten und kleinere brandparks in Frage. Größere brandparks dagegen werden wohl auch in den für herkömmliche Themenparks üblichen „Grüne Wiese“-Lagen realisiert werden (wie kürzlich das neue Legoland bei Günzburg). Showrooms, flagship stores und ähnliche Großkomplexe, in denen Produktverkauf und -präsentation mit Unterhaltungselementen verknüpft werden, dürften dagegen einen Domäne touristisch bedeutender und kulturell herausragender Großstädte bleiben. Die vielfältigen politischen, ökonomischen und kulturellen zentralen Funktionen von Metropolen werden also um eine weitere ergänzt. Dies trifft insbesondere auf Städte mit positivem modischem Image zu, die einen Bedeutungsschub und ökonomischen Impuls dadurch erhalten, dass sie nun auch als Standorte von Image-Produktionsstätten global agierender Konzerne dienen. Angesichts der langfristig angelegten Vermarktungskonzepte und der damit verbundenen Unabhängigkeit von direkten Profiten unterliegen die Investitionsentscheidungen für Corporate Image Center allerdings ganz anderen Regeln als die herkömmlichen, auf Umsatz vor Ort ausgerichteten Einzelhandelseinrichtungen oder Urban Entertainment Center Center. Es bleibt zu untersuchen, inwiefern dies eher eine Chance oder eine Gefahr für die betroffenen Städte darstellt. Einerseits können dadurch natürlich neue Impulse für Innenstadtlagen geschaffen werden, denen ansonsten ein Attraktivitätsrückgang durch die zunehmende Suburbanisierung des Einzelhandels droht. Andererseits kann es in Extremfällen aber auch zu einer touristischen Monofunktionalität kommen, da die auf Repräsentation und Imagegewinn bedachten Konzerne natürlich höhere Mieten zahlen können als herkömmliche Einzelhändler - wie in einigen Straßenzügen von Midtown Manhattan, wo es zwischen lauter showrooms und flagship stores kaum noch andere Geschäfte gibt. Deshalb gilt es, bei Planungen für Corporate Image Center zu hinterfragen, wie sie sich auf die Umgebung auswirken, ob ihre Dimensionierung mit bestehenden städtischen Strukturen verträglich ist und welches Verhältnis sie zum öffentlichen Raum haben. Dies gilt erst recht im Falle von Großprojekten, bei denen möglicherweise, wie in Tokio, die öffentliche Hand Vorleistungen erbringt und zu untersuchen ist, ob Mega-Projekte und Stadtentwicklung 159 diese Mittel für solche Projekte wirklich sinnvoll eingesetzt sind. Ironischerweise besteht nämlich die Gefahr, dass die beteiligten Stadtverwaltungen viel zu voreilig sein könnten, den Bau von Corporate Image Centers zu unterstützen, da sie in Zeiten einer globalen Standortkonkurrenz sehr um ihr eigenes Image als global city bemüht sind und sich auch selbst einen Imagegewinn dadurch erhoffen, dass sie die Image-Produktionsstätte eines globalen Konzerns anzusiedeln helfen. Bei soviel Blendwerk auf beiden Seiten des Verhandlungstisches ist es umso notwendiger, den Planungsprozess nüchtern zu analysieren - eine Aufgabe, die immer öfter auf die Stadtforschung zukommen dürfte, denn angesichts der voranschreitenden Globalisierung und der immer weiter zunehmenden Bedeutung von globalen Marketingkampagnen ist damit zu rechnen, dass Großstädte in Zukunft noch viel häufiger Standort imageorientierter Projekte werden. 5. Literatur Bell, Jonathan: Carchitecture - When the Car and the City Collide. Basel, 2001. Cybriwsky, Roman: Tokyo - The Shogun’s City at the Twenty-first Century. Chichester, 1998. Fainstein, Susan S.: The City Builders: Property, Politics, and Planning in London and New York. Cambridge, Ma. / Oxford UK, 1995 Flüchter, Winfried: Die Bucht von Tokyo: Neulandausbau, Strukturwandel, Raumordnungsprobleme. Wiesbaden 1985. Fujita, Kuniko: „A World City and Flexible Specialization - Restructuring of the Tokyo Metropolis“. In: International Journal of Urban and Regional Research, No. 2/ 1991. Grötsch, Kurt: „Psychologische Aspekte von Erlebniswelten”. In: Hinterhuber, Hans, Harald Pechlaner und Kurt Matzler: Industrieerlebniswelten - Vom Standort zur Destination. Berlin, 2001, S. 69-82 Hinterhuber, Hans und Harald Pechlaner: „Mit Erlebniswelten in gesättigten Märkten eine neue Pionierphase einleiten“. In: Hinterhuber, Hans, Harald Pechlaner und Kurt Matzler: Industrieerlebniswelten - Vom Standort zur Destination. 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Vortrag beim ifmo-Expertenworkshop Freizeit- und Erlebniswelten am 22.10.2002 am Institut für Mobilitätsforschung in Berlin (unveröffentlichte 160 Metropolen als Standorte imageorientierter Großprojekte Präsentationsmaterialien des imfo) Klein, Naomi: No Logo - Der Kampf der Global Players um Markenmacht. Ein Spiel mit vielen Verlierern und wenigen Gewinnern. Gütersloh, 2001 Krull, Patrick: „Billige Arbeit für teure Stars - Die Ausrüster für die Fussball-WM lassen ihre Sportartikel zu Dumpingpreisen produzieren“. In: Welt am Sonntag Sonntag, 26.5.2002 Machimura, Takashi: „Symbolic Use of Globalization in Urban Politics in Tokyo“. In: International Journal of Urban and Regional Reserach, Vol. 22, Nr. 2, June 1998. S. 183-194 Meyer, Ulf: „Kaufen ist ein Wert an sich - Die japanische Hauptstadt erlebt eine Invasion westlicher Luxusboutiquen”. In: Der Tagesspiegel Tagesspiegel, 29. Dezember 2002, S. 23 Meyrhöfer, Dirk: Motortecture - Architektur für Automobilität Automobilität. Ludwigsburg, 2003. Ono, Yumiko: „In Japan, a Brand Has Five Parents“. In: Wall Street Journal Journal, October 8, 1999, S. B 1 Roost, Frank: „Corporate Image City: Sony-Großprojekte in Berlin, San Francisco und Tokio.” In: StadtBauwelt StadtBauwelt, 48/00, 29.12.2000 (19.Jg.) Sassen, Saskia: The Global City – New York, London, Tokyo. Princeton, 1991 Steineke, Albrecht: „Industrieerlebniswelten zwischen Heritage und Markt: Konzepte-Modelle-Trends“. In: Hinterhuber, Hans, Harald Pechlaner und Kurt Matzler: Industrieerlebniswelten - Vom Standort zur Destination. Berlin, 2001, S. 85-101 Wolff, Reinhard: „Handys haben ausgeboomt - Ericsson verlagert seine Produktion nach Asien“. In: die tageszeitung tageszeitung, 31.1.2001, S.8 Mega-Projekte und Stadtentwicklung 161 Bob Beauregard DER WIEDERAUFBAU DES WORLD TRADE CENTER 1. Einleitung Im Juli 2002 veröffentlichte die Lower Manhattan Development Corporation (LMDC) eine Reihe vorläufiger Pläne für den Wiederaufbau des World Trade Center in New York City. Die Pläne wurden einstimmig abgelehnt. Die Öffentlichkeit, Wahlbeamte, die Presse, die Familien der Opfer des Terroranschlages, der die Gebäude zerstört hatte, die Bewohner der umliegenden Nachbarschaft, sowie Architekten und Stadtplaner in der ganzen Stadt und darüber hinaus bekundeten ihr Missfallen. Noch während der Vorsitzende der LMDC die Pläne, die seine Organisation in Auftrag gegeben hatte, vorstellte, entzog er ihnen seine Unterstützung. Dies war eine nationale Bloßstellung. Hier ging es um ein Stadtentwicklungsprojekt, das mit Symbolik überfrachtet war. An dieser Stelle hatte einer der zerstörerischsten und traumatischsten Terrorakte auf U.S.-amerikanischem Boden stattgefunden, ein Akt, der ein weltbekanntes Wahrzeichen der Moderne – die Doppeltürme des WTC – ausgelöscht hatte. Das Ereignis war in der ganzen Welt live verfolgt worden. Die Zerstörung des WTC als einem Symbol für U.S.-amerikanischen Kapitalismus und Kultur bedeutete einen Affront gegen den ökonomischen und militärischen Überlegenheitsanspruch des Landes. Die lokalen Auswirkungen, zusätzlich zu den Tausenden von Menschen, die starben, waren überwältigend. Die unmittelbaren Kosten gingen in die Milliarden. Die Stadt war traumatisiert. Unternehmen begannen die Stadt in Richtung Vororte zu verlassen und die wirtschaftliche Rezession, die sich bereits ankündigte, verschärfte sich. Die Stadtregierung stand einem enormen Haushaltsdefizit und einer drohenden Finanzkrise gegenüber. Der Wiederaufbau schien eine nationale Verpflichtung zu sein. Er würde das Selbstvertrauen in die Vereinigten Staaten wiederherstellen, den Willen des Landes – sowie die Missachtung der Terroristen – demonstrieren und New York den wirt- 162 Der Wiederaufbau des World Trade Center schaftlichen Wiederaufschwung ermöglichen. Trotz alledem produzierte die erste Phase des Wiederaufbauplanes keinen öffentlich annehmbaren Plan. Dieses Scheitern stellt keine fallspezifische Besonderheit und auch keinen „Unfall“ dar. Phase 1 fiel einem gesellschaftlichen Defizit zum Opfer, das lokale Regierungen in den Vereinigten Staaten andauernd verfolgt. Dieser Aufsatz benutzt den Planungsprozesss in dieser ersten Phase, um die Grenzen öffentlicher Planung zu reflektieren, indem er sowohl die öffentliche Marginalisierung der Planung als auch die dauerhafte Unklarheit des Verständnisses von öffentlichem Interesse beleuchtet. Ausgangpunkt ist eine Idealvorstellung von öffentlicher Planung – eine robuste öffentliche Planung, Abb. 1: Twin Towers des World Trade Center vor dem Anschlag welche eine „vernünftige Gemeinsamkeit“ (reasonable commonality, Merrifield 2002:68-73) zwischen widerstreitenden Interessen auslotet, die Vielfältigkeit der Stadt beachtet, auf die substanziellen Interessen der Stadt abzielt – diejenigen Interessen, ohne die die Stadt nicht mehr in der Lage wäre, ein „gutes Leben“ zu ermöglichen –, demokratische Praktiken unterstützt und sich um Gerechtigkeit und Gleichheit bemüht (Friedmann 2002:103-118, Marcuse 2002, Young 1990). 2. Planung: Phase 1 Der Terroranschlag des 11. September forderte ungefähr 2.800 Tote und zerstörte die 110 Stockwerke hohen Türme des WTC. Fünf weitere Gebäude wurden zerstört, und dreizehn weitere Gebäude fielen entweder teilweise zusammen oder wurden stark beschädigt. Über 1 Mio. m² Büro- und Verkaufsfläche wurden in wenigen Minuten ausgelöscht. Der immobilienwirtschaftliche Verlust betrug über 4 Mrd. US-Dollar bei geschätzten Versicherungszahlungen in einer Höhe von 40 bis 60 Mrd. US-Dollar. Dies war das zweite Mal, dass Terroristen versucht hatten, das WTC zusammenstürzen zu lassen. Das erste Mal war im Februar 1993. Damals starben jedoch nur sechs Menschen, und nur Teile der Tiefgarage wurden zerstört. (Siehe Quellennotiz für die Materialien, die zur Erstellung dieses Fallbeispiels benutzt wurden.) Man sprach sofort über einen Wiederaufbau. Beide Türme und Nr. 7 WTC (ein nahegelegenes Bürogebäude) gehörten Larry Silverstein, einem der größten Grundstücksbesitzer und Bauunternehmer der Stadt. Silverstein Properties hatte die Türme vom ursprünglichen Besitzer, der Port Authority1 von New York und New Jersey, im Mega-Projekte und Stadtentwicklung 163 Juli 2001 für 3,2 Mrd. US-Dollar gekauft. Die Port Authority hatte dem Unternehmen jedoch nicht das Grundstück selbst verkauft. Stattdessen behielt die Port Authority das Eigentum am Grundstück und verpachtete das Land für 99 Jahre für ungefähr 120 Mio. US-Dollar Jahresmiete. Westfield America, ein Einkaufszentrumsbetreiber, hatte einen 99-Jahres-Pachtvertrag für die Verkaufsfläche von etwa 40.000 m² in der unteren Halle des Komplexes. Der Wiederaufbau sollte nicht einfach sein. Die Räumung der Fläche dauerte Monate (und endete offiziell im Mai 2002), und staatliche und lokale Verantwortliche bestanden darauf, dass vor einer Neubebauung erst ein Plan entwickelt werden muss. Außerdem verfügte niemand allein über die Fläche, und Silverstein, Westfield America und die Port Authority hatten alle bedeutende finanzielle Interessen, die sie nicht aufgeben wollten. Die Bedürfnisse der Port Authority hatten zudem öffentliche Konsequenzen: Die Einkünfte aus den Pachtverträgen werden benutzt, um den Regionalverkehr, die Flughäfen und andere Einrichtungen zu subventionieren. Die finanzielle Stabilität und die Kreditwürdigkeit der Port Authority waren ebenfalls bedroht. Von Anfang an war die Regierung des Bundesstaates New York ein wichtiger Beteiligter am Wiederaufbau. Der Gouverneur Pataki teilte sich die Kontrolle über die Port Authority mit dem Gouverneur von New Jersey. Er kontrollierte außerdem den Eingang der Mittel aus dem Hilfsfonds der Bundesregierung und die wichtigste Wirtschaftsförderungsbehörde des Staates New York, die Empire State Development Corporation (ESDC), über die diese Mittel verteilt werden würden. Noch wichtiger war es, dass das Parlament des Bundesstaates das Recht hatte, eine öffentliche Aufsichtsbehörde für Planung und Wiederaufbau zu gründen. Die ESCD übernahm es, den Firmen, die von dem Terroranschlag betroffen waren, zu helfen. Die Versorgungsunternehmen, die Metropolitan Transit Authority (MTA, Regionaler Verkehrsbetrieb), die für die Untergrundbahnen und Busse der Stadt verantwortlich ist, und die PATH-Behörde, die für den Regionalverkehr nach New Jersey zuständig ist, begannen sofort mit der Wiederherstellung ihrer Einrichtungen. Im Dezember 2001 kündigte Gouverneur Pataki die Gründung der Lower Manhattan Development Corporation (LMDC) an. Als eine Tochter der EMDC sollte sie die federführende Behörde bei der Planung des WTC-Wiederaufbaus sein. Pataki bestellte John Whitehead, einen pensionierten Firmenchef der Wall-StreetInvestitionsfirma Goldman & Sachs, als Vorstandsvorsitzenden. Der Gouverneur und der Bürgermeister bestimmten dann einen 16-köpfigen Vorstand, der sich hauptsächlich aus Immobilien- und Unternehmerkreisen zusammensetzte. Whitehead versprach, einer großen Bandbreite von Ansichten Gehör zu schenken und bestellte im Februar 2002 einen Beirat aus lokalen und bundesstaatlichen Politikern, Geschäftsleuten und einem einzigen Arbeitnehmervertreter. Die Stadt war anfangs ein nachgeordneter Partner beim Wiederaufbau. Der Vorstandsvorsitzende des Stadtplanungsausschusses (City City Planning Commission Commission) wurde weder in den LMDC-Vorstand noch in den Beirat berufen. Außerdem hatte Stadt auf Projekte der Port Authority keinen planerischen Zugriff im Rahmen von Flächennutzungs- und Bebauungsplanung, und planerische Vorgaben kamen nicht zum 164 Der Wiederaufbau des World Trade Center Tragen, so lange die Developer den Wiederaufbau innerhalb bestehender Vorschriften - „as of right“ - vornahmen. Der Bürgermeister Rudolph Giuliani, der bis vier Monate nach dem Terroranschlag im Amt war, konzentrierte sich mehr auf die Familien der Opfer als auf den Wiederaufbau. Giuliani kündigte sogar an, dass er am liebsten die ganze Fläche zur Gedenkstätte erklären würde. Bis zu dem Zeitpunkt, als Michael Bloomberg ihn im Januar 2001 als Bürgermeister ablöste, stand die Stadt am Rande des Planungsprozesses. Es gab verschiedene Abb. 2: Entwurf für den Wiederaufbau des WTC von Daniel Libeskind Gruppen, die ein Interesse am Wiederaufbauprozess hatten und an den öffentlichen Anhörungen teilnahmen, aber sie hatten wenig direkten Einfluss. Community Board 1, das offizielle Beratungsgremium, das für Flächennutzungs-, Bebauungsplanungs- und Verkehrsfragen im Stadtbezirk zuständig ist, konnte gemäß der Gesetzeslage nur Stellungnahmen zu den vorgestellten Plänen abgeben und hatte keine Möglichkeit mitzuwirken. Die Downtown Alliance (der business improvement district für den Bezirk), die Familien der Opfer, verschiedene für städtebauliche Qualität eintretende Organisationen, der (nichtstaatliche) Regionalplanungsverband Regional Plan Association und andere meldeten sich zu Wort, waren aber nicht Teil des inneren Zirkels der Entscheidungsträger. Gouverneur Pataki (und die ESCD unter seiner Kontrolle), die Port Authority und die LMCD waren die wichtigsten Entscheidungsträger. Es wurde eine Reihe von öffentlichen Foren abgehalten, um zu entscheiden, was gebaut werden sollte, aber diese waren gegenüber dem eigentlichen Planungsprozess nebensächlich. Im Juli 2002 brachte die Civic Alliance to Rebuild Downtown NY mehr als 4.000 Leute in der Kongresshalle der Stadt zusammen, um über den Wiederaufbau zu beraten (Civic Alliance 2002). Darüber hinaus formierte sich eine Vielfalt weiterer Gruppen, um die Zukunft von Lower Manhattan zu diskutieren: das Labor Community Advocacy Network, R-DOT (Rebuild Our Town Downtown), New York, New Visions Mega-Projekte und Stadtentwicklung 165 (ein Zusammenschluss von Architektur-, Planungs-, und Designinitiativen), Imagine NY, und September’s Mission (Familien der Opfer, die sich mit der Gedenkstätte befassNY ten), um nur einige zu nennen. Die LMDC holte sich weiterhin informellen Rat von einer große Bandbreite von Leuten. Der erste Schritt im Wiederaufbauprozess bestand in der Erstellung eines Plans. Er schien in der Verantwortung der LMCD zu liegen. Als jedoch im April 2002 der für die Planung zuständige Vizepräsident die Durchführung und Betreuung des Planungsprozesses öffentlich ausschrieb, erhob die Port Authority Einspruch. Ihr gehörte schließlich das Grundstück, und ohne ihre Zustimmung konnte es keine Planung geben. Die Ausschreibung wurde zurückgezogen und erst dann erneuert, als die LMDC und die Port Authority eine Vereinbarung unterzeichnet hatten, in der ihre gemeinsame Verantwortung in dem Prozess formal abgesichert wurde. Die revidierte Ausschreibung wurde im Mai 2002 veröffentlicht. Fünfzehn Architektur- und Planungsfirmen reichten Angebote ein. Innerhalb von Wochen verpflichtete die LMDC die Architekturfirma Beyer Blinder Belle damit, den Planungsprozess zu managen, und Peterson Littenberg (eine Architektur- und Planungsfirma) mit der Herstellung der vorläufigen Pläne zu produzieren und der Bewertung ihrer Folgen für Lower Manhattan. Beyer Blinder Belle wiederum verpflichtete Parsons Brinkerhoff als Verkehrplaner und Ysrael Seinuk als ingenieurstechnischen Berater. Beyer Blinder Belle sollte sechs Planungsalternativen für das Areal und die umliegenden Baublöcke entwickeln. Seit September 2001 hatte es stadtweite Diskussionen in verschiedenen Foren und in der Presse gegeben. Und es schien Konsens rüber einige grundlegende Dinge zu herrschen, von denen einige von der LMDC übernommen wurden: Erstens sollte der Prozess transparent sein. Die Pläne sollten der Öffentlichkeit vorgestellt werden, zu der mehr als die Bewohner von Lower Manhattan gerechnet werden sollten. Zweitens musste die Neubebauung eine Gedenkstätte für die Opfer einschließen. Drittens wollte kaum jemand 110 Stockwerke hohe Turmhäuser, egal ob als Zwillingstürme ausgeführt oder nicht, und zwar aus all den offensichtlichen symbolischen und Sicherheitsgründen. Außerdem sind derart hohe Gebäude auf dem U.S.-amerikanischen Immobilienmarkt von Natur aus weniger profitabel als nur halb so hohe Gebäude. Die meisten Leuten akzeptierten jedoch die vorgesehene Errichtung von Bürogebäuden. Viertens erwarteten alle, dass die ÖPNV-Infrastruktur (PATH-Regionalbahn, UBahn) wiederhergestellt werden würde, obwohl keine Einigkeit darüber bestand, ob Lower Manhatten ein bedeutenderer Knoten für den Regionalverkehr werden sollte. Als ein solcher muss die Fläche mit der Long Island Railroad verknüpft werden, welche die Pendler der östlichen Vororte bedient. Ein solches Szenario würde jedoch eine Stärkung der kommerziellen Aspekte des Projekts bedeuten und somit im Widerspruch zu der Entwicklung von Lower Mahattan als Wohnstandort stehen. Fünftens gab es eine Reihe von Gruppen, die für mehr Wohnen plädierten, insbesondere Sozialwohnungen. Der Wohnungsmarkt war in New York City in den späten 1990er Jahren insgesamt angespannt, bedingt durch ein städtisches Bevöl- 166 Der Wiederaufbau des World Trade Center kerungswachstum (ausgelöst durch Immigration), steigende Börsenkurse, die die Wohnungsmarktpreise nach oben trieben, und das dürftige Ausmaß des Wohnungsbaus in Manhattan. Schließlich war der „Superblock“, der im Zuge der Errichtung der Doppeltürme entstanden war, weithin kritisiert und für mit dem umliegenden Straßen- und Bebauungsmuster nicht kompatibel befunden worden. Deshalb gab es Vorschläge, die Straßen, die weggenommen worden waren, wiederherzustellen und existierende Straßen zu verlängern. Obwohl der Planungsprozess unter der Schirmherrschaft einer halböffentlichen Institution stand, war er nicht öffentlich. Phase 1 wurde nicht geheimgehalten, aber auch nicht breit in die Öffentlichkeit getragen. Bewohner, Planungsinitiativen und vor allem der Stadtplanungsausschuss wurden in die Durchführung nicht einbezogen. Während die LMDC mit der Öffentlichkeit in Kontakt stand, entwarfen Beyer Blinder Bell und deren Consulting-Firmen die Pläne. Die im Juli 2002 von der LMDC veröffentlichten sechs Alternativen waren im wesentlichen Variationen zu einem Thema. Es war klar, dass sie alle von drei programmatischen Überlegungen bestimmt waren. Eine war die Bedingung der Port Authority, dass die gesamte Büro- und Einzelhandelsfläche wiederhergestellt werden sollte. Für die Port Authority waren Einkommen das wichtigste, jeder Quadratmeter verlorener Fläche musste ersetzt werden. Dies bedeutete, dass es eine oder mehrere Bürohauskonzentrationen geben würde. Die zweite Überlegung war, dass es eine ebenerdige Gedenkstätte geben musste, zusammen mit der impliziten Vorgabe, dass diese von einer Freifläche umgeben sein würde. Drittens ging es um die neuerliche Flächenwidmung für Durchgangsstraßen, die während der Erstellung des „Superblocks“ weggefallen waren. Das verfügbare Bauland wurde damit noch über die Gedenkstätte hinaus eingeschränkt, so dass eine zusätzliche Konzentration der Bürohäuser entstand und diese noch höher wurden. Jeder der verschiedenen Pläne hatte zwischen vier und sechs Bürotürme. Sie variierten zwischen 32 und 80 Stockwerken Höhe. Der „Memorial Square“-Plan wies einen Turm mit 80 Stockwerken auf, zwei mit 70 Stockwerken und einen mit 56 Stockwerken zusammen mit einer 40.000 m² großen Plaza, die von zehnstöckigen Gebäuden eingerahmt wurde. Der „Memorial Promenade“-Plan hatte zwei Türme mit 63 Stockwerken und vier mit 32 Stockwerken mit vielen Freiflächen dazwischen sowie einen großen ovalen Park, der über eine große Nord-Südachse gebaut war. Die Kritik kam umgehend und fiel eindeutig aus: zu viele Bürotürme, zu wenig Bürgerbeteiligung, zu wenig neues Wohnen und zu viel Augenmerk auf Gewinnmaximierung zum Nachteil einer gesamtgesellschaftlichen Vision für die Fläche. Gouverneur Pataki und Bürgermeister Bloomberg verteidigten die Vorschläge nicht, sondern kritisierten sie. Pataki schlug sogar vor, dass die Abdrücke der Türme bewahrt werden sollten, eine bedeutende Aussage, wenn man seinen Einfluss auf den Wiederaufbauprozess bedenkt. Noch während er sie vorstellte, begann Whitehead sich von den Vorschlägen zu distanzieren. Die Städtebau-Szene war rundherum kritisch eingestellt. Die Leitartikel der Zeitungen sprachen sich ebenfalls gegen die Pläne aus. Mega-Projekte und Stadtentwicklung 167 Eine von der Civic Alliance und der LMDC gesponsorte großangelegte öffentliche Zusammenkunft von mehr als 5.000 Menschen erbrachte ein paar Tage später einen breiten Konsens darüber, dass die Pläne ad acta gelegt werden mussten. Eine Mehrheit der Teilnehmer befürwortete soziales Wohnen und sprach sich für eine vielfältige Gewerbestruktur als Teil der Neubebauung aus; sie wollten ein rund um die Uhr lebendiges Stadtviertel. In Reaktion darauf kündigte die LMDC an, dass sie die Phase 2 – die Weiterentwicklung der vorläufigen Pläne – zurückstellen und mehr Architekten und Planer am Prozess beteiligen würde. Um die offenbar riesige Hürde der Erstellung eines annehmbaren Planes zu überwinden, bot die Stadtverwaltung der Port Authority einen Landtausch an. Für die Fläche des WTC wollte die Stadt der Port Authority das Land unter seinen beiden Flughäfen JFK International und LaGuardia abtreten, das die Port Authority gepachtet hatte. Die Port Authority schien interessiert, aber der Vorschlag zerschlug sich schnell. Ein Flächentausch hätte zwar die Besitzstruktur geändert, aber nicht die finanzielle Verwertbarkeit der Fläche. Ein weiterer innovativer und kostspieliger Vorschlag war die Verlegung der Büronutzung über einen Autobahntunnel; das heißt eine Verlegung außerhalb des Areals. Variationen dieser „off-site“-Option wurden später Teil der neuen Wiederbebauungsvorgaben. Die LMDC kündigte daraufhin an, dass sie einen Wettbewerb mit zusätzlichen Architektur- und Planungsfirmen ausschreiben würde (Knack 2003). Die Entwerfer sollten ermutigt werden, innovativere Lösungen anzustreben. Mehr als 400 Teams reichten Bewerbungen ein, und im Oktober wurden sechs Teams ausgesucht, die 27 verschiedene Firmen repräsentierten. Sie erhielten revidierte Entwurfsvorgaben mit neuen Bestimmungen für die Büroflächen, einem Minimum von 64.000 m² Einzelhandelsfläche und 64.000 m² Hotelnutzung (die jeweils bis zu 107.000 m² ausgeweitet werden konnten), einer Gedenkstätte sowie den Haupttrassen des öffentlichen Verkehrs und den Haltestellen. Zusätzlich war es möglich, einen Teil der Gewerbeflächen außerhalb der Fläche (off-site) off-site) anzusiedeln. off-site Wohnnutzung wurde nicht angesprochen, bis auf das Verbot, diese innerhalb des Areals anzusiedeln. Jedes der Teams sollte 40.000 US-Dollar bekommen, verglichen mit dem 3-Millionen-US-Dollar-Vertrag mit dem Beyer-Blinder-Belle-Team. Die Pläne mussten bis November 2002 eingereicht werden. Diese zweite Runde der Phase 1 wurde Ende Februar 2003 mit der Auswahl des Entwurfs des Studios Daniel Libeskind abgeschlossen (Goldberger 2003). Im Sommer 2002 war die Vorstellung abweichender vorläufiger Pläne jedoch keine Leistung, sondern eine Peinlichkeit. Die ursprünglichen Pläne stellten die Fehler im Prozess, die Grenzen der für die Planung verantwortlichen Organisationen und die institutionellen Voreingenommenheiten bloß, denen großflächige öffentliche Planungsprojekte in den Vereinigten Staaten nur mit großen Schwierigkeiten oder Glück entkommen können. Was war passiert? 168 Der Wiederaufbau des World Trade Center 3. In Abwesenheit von Planung Phase 1 war eindeutig mit Fehlern behaftet. Der Großteil der negativen Medienberichterstattung konzentrierte sich auf die Höhe der Büro- und Gewerbeflächen, die die Port Authority verlangt hatte, und die damit zusammenhängende Abwertung der Fläche für die Gedenkstätte. Die Planer hatten ein kommerzielles Projekt vorgestellt, wohingegen die Öffenlichkeit erwartet hatte, dass die Pläne zeigen sollten, wie das Areal der Opfer gedenken würde. Die generelle Unzufriedenheit wurde verstärkt durch das Gefühl, dass, obwohl die LMDC sich Input geholt hatte und sich der Existenz der vielen Bürgerversammlungen in der Stadt bewusst war, der eigentliche Planungsprozess parallel dazu verlaufen war und sich nur schwach an der öffentlichen Debatte orientiert hatte (Szenayz 2002). Außerdem behandelten die Planer und Architekten das Areal im Grunde als isoliert von seiner Umgebung. Insbesondere wurde der möglichen Neuentstehung eines Wohnviertels in Lower Manhattan zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Wohnnutzungen wurden aus dem Areal ausgeschlossen, da dafür die Port Authority angeblich nicht zuständig war. Die Kritik stellt die Ablehnung des Planes als Sonderfall dar. Im Grunde versagten die Planer, da sie das falsche Programm anwandten, Bürgermeinungen zu wenig Aufmerksamkeit schenkten und Überlegungen ignorierten, die die umliegenden Flächen einbezogen. Dies sind einfach zu behebende Beurteilungsfehler. Das Misslingen der ersten Phase wird somit zu einer zwischenzeitlichen Abweichung von dem Weg, den die Planung hätte gehen sollen. Das Scheitern war jedoch keine Anomalie, keine Abweichung vom Normalfall. Abrams (2000:354) argumentiert: Planung ist gekennzeichnet durch ein „dauerhaftes Versagen, die Ordnung zu erreichen, die ihre Existenz rechtfertigt“ (a constant failure to achieve the order that rationalizes its existence existence). Der Prozess stützte sich in der Tat auf „best practices“. Die LMDC gründete eine Entwicklungsgesellschaft, ein Vorgehen, das in den letzten 40-50 Jahren bevorzugt angewandt worden ist. Sie verpflichtete kompetente Firmen für die Planung und holte umfassende Ratschläge ein. Das Planungsteam durfte ohne politische Einflussnahme und abseits von der Kakophonie der widerstreitenden Ideen arbeiten, die für den Wiederaufbau vorgeschlagen wurden. Und die LMDC unterbreitete der Öffentlichkeit die sechs Alternativen zur Begutachtung. Zudem waren die sechs Vorschläge nicht an sich fehlerhaft, sie verletzten keine Kernprinzipien des Städtebaus. In den meisten Städten kann dies als gute Planung bezeichnet werden. Phase 1 fiel in sich nicht deswegen zusammen, weil die Pläne mangelhaft oder der Prozess abgeschottet war, sondern weil öffentliche Planung in den Vereinigten Staaten institutionell marginalisiert und somit verfassungsmäßig außerstande ist, große, symbolische Entwicklungsprojekte zu bewältigen. Diese einfache Tatsache ist dafür verantwortlich, dass öffentliche Planungen meist hinter den Erwartungen zurückbleiben. Die Marginalisierung von Planung ist von verschiedenen Kommentatoren analy- Mega-Projekte und Stadtentwicklung 169 siert worden (Beauregard 1989, Fainstein and Fainstein 1987, Foglesong 1986). Die Hauptgründe liegen in einer Kultur und in einem institutionellen Milieu, in welchem der Staat dem Kapital den Vortritt lässt, während Eigentumsrechte und Individualismus ideologisch privilegiert sind. Obwohl staatliche Planer in der Lage sein mögen, mit der Immobilienentwicklung umzugehen und somit einen Besitzer vor einem anderen zu schützen, bleibt es ihnen versagt, die Kontrolle über die Bodennutzung zu übernehmen und grundsätzlich öffentliche Entscheidungen darüber zu fällen, wie Grund- und Immobilienbesitz verwendet werden soll. In den Vereinigten Staaten existiert öffentliche Planung unter der Obhut eines „schwachen“ Staates, der dazu tendiert, die Interessen von Unternehmen und großen Investoren zu unterstützen und den grundsätzlichen Vorrechten des Kapitals – was soll investiert werden, wo soll investiert werden – tendenziell keine „gesellschaftlichen“ Werte aufzwingen kann (Krasner 1978:55-70). Stadtentwicklung und –erneuerung werden im Wesentlichen vom Privatsektor bestimmt. Die verschiedenen Ebenen des Staates – national, bundesstaatlich und lokal – spielen eine schwache regulative Rolle und üben fast gar keinen vorausschauenden Planungsdruck auf die zukünftige Form der Stadt aus. Und obwohl es lokale Unterschiede in diesen Rahmenbedingungen gibt, existieren diese nur in einem kleinen Rahmen. Diese institutionelle Marginalität wird verstärkt durch einen Individualismus, der Grund- und Immobilieneigentümer dazu ermuntert, ihre Rechte als vorrangig vor gemeinschaftlichen Eigentumsrechten anzusehen (Plotkin 1987). Ein starkes Gefühl von „Lokalismus“ ist die Konsequenz. Während öffentliche Planung als Mittel zum Schutz lokaler Eigentumsrechte Wurzeln geschlagen hat, hat sie dies auf höheren Verwaltungsebenen, auf denen Eigentumsrechte weniger oft angefochten werden, nicht getan. Ein bundesstaatlicher, regionaler oder staatlicher Rahmen, der Konflikte zwischen verschiedenen Kompetenzbereichen auflösen könnte, existiert so gut wie gar nicht. Es gibt keine nationale Städtebaupolitik, und nur ein paar Bundesstaaten haben Wachstumsmanagementpläne ((growth growth management plans plans), ), von denen die meisten aber keine gesetzgebende Kompetenz haben, Entwicklungen zu bestimmen oder auch nur zu leiten. Im Ergebnis bekommt lokale Planung nur sehr wenig Unterstützung „von oben“. Öffentliche oder private Aktivitäten, die räumliche Ebenen und Gemeindegrenzen überqueren, werden als Externalitäten vernachlässigt. Lokale Planer sind insbesondere anfällig für private Akteure, die an mehreren Stätten operieren, Wachstum und Wohlstand versprechen und unabhängigen Zugang zu politischen Führungskräften haben. Öffentliche Planung ist weiterhin eingeschränkt durch den steuerlichen Föderalismus, der in den Vereinigten Staaten regiert (O’Cleireacain 1993). Gemeinden müssen sich vor allem auf eigene Einnahmen verlassen (Steuerbasis innerhalb des eigenen Einzugsbereiches), um für öffentliche Dienstleistungen zu bezahlen. Es gibt zwischenstaatliche Ausgleichszahlungen, aber diese sind keine wesentliche Quelle gemeindlicher oder bundesstaatlicher Einkommen. Lokale und staatliche Regierungen müssen somit Investitionen innerhalb der eigenen Grenzen anregen. Die führt zu 170 Der Wiederaufbau des World Trade Center zwischengemeindlichem bzw. –staatlichem Wettbewerb um Investoren. Da Gemeinden ihre Steuerbasis in erster Linie aus Grundsteuern beziehen, ist Immobilienentwicklung ein wichtiger Faktor für die Einnahmenrechnung gewählter Beamter. Obwohl Verwaltungen Regelungen in Form von Bebauungs- und Flächennutzungsplänen, Umweltrichtlinien und (in einigen Gemeinden) Entwicklungsbeschränkungen getroffen haben, sind diese eben nur Richtlinien. Sogar Flächennutzungspläne sind verhandelbar, besonders wenn städtische Beamte glauben, dass das Versäumnis, sie zu lockern Investoren abschrecken und die Stadt als wachstumsfeindliche Stadt abstempeln würde. Im besten Falle fungieren Planungsbehörden als Mediatoren zwischen Staat, Bürgerschaft und Kapital. Im problematischeren Falle koordinieren sie private Investitionen. Öffentliche Planung entbehrt somit der Werkzeuge, um große Entwicklungsprojekte, die signifikante wirtschaftliche Konsequenzen haben, zu managen, private Investoren einzubeziehen und gleichzeitig öffentliche Verantwortlichkeiten aufzuzeigen. Die Schwierigkeiten verschlimmern sich, wenn die Projekte (wie das WTC) gleichzeitig eine hohe symbolische Bedeutung haben und somit einflussreiche Bürgerbeteiligung und Aufsicht verlangen. Planern stehen wenige Mechanismen zur Verfügung, um von der Stadt vertretenen Interessen dahingehend zu erweitern, dass verschiedene Kulturen und geschichtliche Zeugnisse anerkannt und demokratische Praktiken sowie eine robuste und allumfassende Zivilgesellschaft erhalten werden (Friedmann 2002). Gesellschaftliche Tugend und das Streben nach einer „vernünftigen Gemeinsamkeit“ (reasonable reasonable commonality commonality), die Unterschiede respektiert (Merrifield 2002:69-73), werden ignoriert. Das „öffentliche Interesse“ ist immer eine Schwachstelle öffentlicher Planung in den Vereinigten Staaten gewesen. Planer denken – und werden dazu ausgebildet so zu denken – dass sie der Öffentlichkeit dienen. Sogar Anwaltsplaner, die mit benachteiligten oder entmachteten Gruppen arbeiten, glauben, dass das, was sie tun, einem öffentlichen Interesse dient, in diesem Fall größerer Gerechtigkeit und Gleichheit. Für Planer ist das öffentliche Interesse jedoch nicht die Summe der Interessen der Bewohner der Stadt, sondern eher ein immanentes Interesse an der Stadt als Ganzem. Planung hat sich traditionell um die ureigenen (organic) organic) oder die Gesamtinorganic teressen (unitary unitary interests interests) der Stadt gekümmert, das heißt, die Interessen, die es der Stadt ermöglichen, in ihrer Gesamtheit zu funktionieren und sich zu fortzuentwickeln. Gleichzeitig herrscht jedoch ein Utilitarismus in den politischen Kreisen der Vereinigten Staaten, der es für Planer schwierig macht, für ein öffentliches Interesse zu argumentieren, welches sich nicht durch das Agieren atomisierter Individuen oder Interessengruppen manifestieren kann. Ohne Mechanismen, die eine vernünftige Gemeinsamkeit verlangen und ohne Institutionen, die öffentliche Planung ins Zentrum der Entscheidungsfindung rücken, sind mächtige Gruppen in der Lage, die Kontrolle über große Entwicklungsprojekte zu erlangen oder – was ebenso aussagefähig für das Versagen öffentlicher Planung ist – benachteiligte und Randgruppen sind in der Lage, sie aufzuhalten. Die Marginalisierung öffentlicher Planung hat sich während der ersten Phase der Mega-Projekte und Stadtentwicklung 171 WTC-Planung auf verschiedene Weise manifestiert. Die Entscheidung der Bundesregierung, eine nationalstaatliche Kontrolle über das Areal nicht in Erwägung zu ziehen, wurde nicht diskutiert und kaum öffentlich erwähnt. Die Regierung in Washington gewährte Hilfe aus Bundesmitteln, aber macht keine Anstrengungen, Planung und Wiederaufbau zu einer „staatlichen“ Aktivität zu machen, trotz der nationalen Bedeutung des Areals. Ein einziger Kommentator erwähnte beiläufig, dass „wenn es jemals ein Stück Land gegeben hat, das als öffentlicher Besitz behandelt werden sollte, ... es dieses [ist]“ (Goldberger 2002b:29). Nationale, staatliche oder lokale Regierungen sind weder darauf vorbereitet, in expansiver Weise über den öffentlichen Charakter von Entwicklungsprojekten nachzudenken, noch sich gegen die Vorherrschaft von Eigentumsrechten zu stellen – egal ob sie private Investoren oder halbstaatliche Einheiten wie die Port Authority betreffen. Aber sogar solchen institutionalisierten Machtungleichgewichten könnte entgegengetreten werden. Im hier diskutierten Fall ließen die Stadtverwaltung und der Stadtplanungsausschuss jedoch die Erlangung der Kontrolle über das Areal seitens der LMDC und der Port Authority und den Ausschluss des Stadtplanungsausschusses vom Planungsprozess zu. In New York City ist öffentliche Planung traditionell immer eher reaktiv als proaktiv gewesen, insbesondere angesichts einer starken Immobilienwirtschaft und international hohen Grundstücks- und Immobilienpreisen (Fainstein und Fainstein 1987, Fitch 1993, Goldberger 1983, Lentz 2002). Ein Kommentator bemerkte, dass New York City „bis auf [Anstrengungen], die lokale Zonenbauordnung zu reformieren, wenig Interesse an [breitangelegter] Planung hat“ (except for [efforts] to revise the zoning code, displays little interest in [broad-based] planning planning) (Fainstein 2001:8). Sogar diejenigen, die glauben, dass der Stadtplanungsausschuss erfolgreich gearbeitet hat, argumentieren, dass seine Stärke in seiner Kompromissfähigkeit besteht (Birch 1996, Garvin 2000). Die Rolle der Stadt innerhalb des Prozesses wurde weiterhin marginalisiert aufgrund von politischen Erwägungen. Die Amtszeit des während der Tragödie amtierenden Bürgermeistes Rudolph Giuliani lief im Januar 2002 ab, und sein wahrscheinlichster Nachfolger war eine Person (Mark Green), mit der Giuliani zahlreiche öffentliche Auseinandersetzungen gehabt hatte und dessen linksliberale Politik ihm ein Gräuel war. Giuliani lehnte Mark Green so sehr ab, dass er nicht wollte, dass Green beim Wiederaufbau des WTC Einfluss erhält. Giuliani bemühte sich daher nicht um eine Einbeziehung der Stadt. Gleichzeitig bevorzugte Giuliani eine Umwidmung des gesamten Areals zu einer Gedenkstätte. Sowohl Bürgermeister Giuliani als auch sein Nachfolger, Michael Bloomberg, ließen dem Gouverneur den Vortritt. Die Entscheidungsgewalt der Stadtregierung ist durch die des Bundesstaates beschnitten. Und praktisch gesehen war Gouverneur Pataki beliebt und politisch mächtig. Da sich eine Rezession ankündigte und die Stadt sich den ökonomischen und steuerlichen Spätfolgen der Zerstörung des WTC stellen musste, brauchte Bürgermeister Bloomberg die Regierung des Bundesstaates und den Gouverneur, um jedwede Steuer- und Haushaltskrise abzuwehren. Bloombergs Regierungsstil war nicht konfrontativ, sondern vorsichtig und ver- 172 Der Wiederaufbau des World Trade Center söhnlich. Er stellte sich als Manager und nicht als Innovator dar, und dies war auch seine Art, den Wiederaufbau des WTC anzugehen. Er ließ dem Gouverneur den Vortritt und trat nicht für eine größere Einbeziehung des Stadtplanungsausschusses ein. Es wurde daher keine „öffentliche“ Position in den von der LMDC bestimmten Planungsprozess eingespeist. Der Stadtplanungsausschuss blieb außen vor, ausgelagert aus strukturellen und eher noch aus politischen Gründen, einschließlich der Tatsache, dass örtliche Pläne für die Port Authority und die bundesstaatliche Regierung nicht galten. Und obwohl die neue, von Bürgermeister Bloomberg eingesetzte Vorsitzende des Stadtplanungsausschusses verkündet hatte, dass ihr Ausschuss „entwicklungsfördernd“ ((pro-development pro-development)) eingestellt sein würde, reichte dies nicht aus, um pro-development eine formal beratende Rolle zu erlangen (Lentz 2002). Die Ironie der ersten Phase war, dass die Port Authority gegründet worden war, um einem öffentlichen Interesse zu dienen (Doig 2001). Ihr ursprünglicher Auftrag war das Management des Hafens. Der Auftrag wurde später auf regionale Infrastrukturen wie Flughäfen, Brücken, Tunnel und ÖPNV ausgeweitet. Mit der Zeit nahm die Port Authority die Rolle eines „Entwicklungsstaates“ innerhalb des Metropolraumes an (Erie 2002), und erlangte eine relative Unabhängigkeit von Wirtschaftsinteressen (obwohl sie bei der Aufnahme von Krediten von der Finanzwirtschaft abhängig blieb) und von der bundesstaatlichen und städtischen Regierung. Das öffentliche Interesse, das die Port Authority verteidigte und ausbaute, war in diesem Fall jedoch ein eng gefasstes Interesse, das nicht mit dem weiter gefassten, von der Öffentlichkeit vertretenen Interesse kompatibel war. Die Port Authority war in der Lage, ihre Agenda ohne nennenswerten Widerstand zu verfolgen. Sie war nicht nur politisch mit dem Mantel des öffentlichen Interesses versehen, sondern konnte auch von dem symbolischen (und daher politischen) Kapital zehren, das ihr aus ihrem Beitrag zum regionalen Wachstum entstand – und der sich daraus ergebenden Notwendigkeit, haushaltstechnisch im Reinen zu bleiben, um unverzichtbare Infrastruktureinrichtungen erhalten zu können. Gouverneur Pataki überließ der Port Authority das Wiederaufbauprogramm, woraus sich die Definition des Areals als kommerzielle Fläche ergab. Er tat dies aufgrund des institutionellen Charakters der Port Authority und ihrer Beziehung zu staatlichen Stellen, zu den Finanzmärkten und zur regionalen Ökonomie. In Ermangelung einer gegenhaltenden Kraft behielt die Sichtweise der Port Authority die Oberhand. Das Resultat war die öffentliche Ablehnung der sechs ersten Planungsvorschläge. Das Problem war die Abwesenheit einer robusten öffentlichen Planung, die empfänglich für die nicht-ökonomischen Gesamtinteressen der Stadt und das Bedürfnis nach einer „vernünftigen Gemeinsamkeit“ gewesen wäre. Die Ursachen waren nicht eine Funktion besonderer, während des Wiederaufbaus getroffener Entscheidungen, sondern institutionell, bedingt durch die marginalisierte Position öffentlicher Planung. Mega-Projekte und Stadtentwicklung 173 4. Schlussbemerkung Beim zweiten Anlauf wurde Phase 1 abgeschlossen. Fast ohne Verlautbarung von Gegenstimmen wählte Gouverneur Pataki für das Areal den Entwurf des Büros von Daniel Libeskind. Die Öffentlichkeit schien zufrieden. Und obwohl der Entwurf nicht die erste Wahl der LMCD war, gab auch diese nach. Im Großen und Ganzen wollten alle, dass es vorangeht. Können wir nun Phase 1 als Erfolg bezeichnen? Ich denke nicht. Es gab keine bedeutenden Änderungen im Planungsprozess (Goldberger 2003). Die LMDC änderte einfach ihre Strategie und führte einen internationalen städtebaulichen Entwurfswettbewerb durch. Der Stadtplanungsausschuss war immer noch marginalisiert, und obwohl der Wettbewerb breit publiziert wurde und die Öffentlichkeit die Möglichkeit hatte, die Entwürfe zu begutachten und zu bewerten, arbeiteten die Entwurfsteams nach wie vor mit der LMDC und nicht mit Bürgergruppen. Nachdem der Wettbewerb abgeschlossen und ein Entwurf ausgewählt worden war, feierten verschiedene Kommentatoren den Prozess. Sie argumentierten, dass er eine großartige gesellschaftliche Übung in städtebaulicher Bildung gewesen sei. Die logische Schlussfolgerung war, dass dies der Grund war, weshalb ein Entwurf von Weltklasseformat ausgewählt werden konnte. Dies war eine Wunschvorstellung. Eine robuste öffentliche Planung war immer noch nicht Teil des Prozesses, die Agenda der Port Authority war im Wesentlichen intakt, auch wenn sich diese nun über das Areal hinaus erstreckte, und die Kontrolle über den Wiederaufbau verblieb bei der Port Authority, der LMDC und (zunehmend) bei Larry Silverstein, dem Eigentümer der Immobilienrechte. Man kann die Annahme des Libeskind-Entwurfs kaum als Planungserfolg bezeichnen. Übersetzung: Deike Peters Anmerkungen 1 Anm. d. Übers.: Obwohl in der deutschen Presse generell als „Hafenbehörde“ betitelt, ist diese wörtliche Übersetzung insofern missverständlich, als die Port Authority von New York und New Jersey keineswegs vornehmlich hafenbezogene Aufgaben wahrnimmt, sondern heute als quasi-staatliche Behörde vielmehr für die wichtigsten Verkehrsinfrastrukturen um New York herum – Flughafen, Brücken, Tunnel etc. – verantwortlich ist. Vgl. auch die Ausführungen in Abschnitt 3. Quellenhinweis Soweit nicht anders angegeben, wurde das Material für diese Fallstudie aus Zeitungsartikeln zusammengestellt, die in Crain’s New York Business, The New York Observer und The New York Times erschienen, sowie aus dem Besuch verschiedener Foren in der Stadt. Goldberger (2002b) war sehr hilfreich. Für generelle Hintergrundinfor- 174 Der Wiederaufbau des World Trade Center mationen zur Stadtentwicklung in New York während der letzten 50 Jahre siehe Fainstein, Fainstein und Schwartz (1989), Mollenkopf (1992:44-68) und Sorkin und Zukin (2002). Literaturhinweise Abrams, S.A. (2000) Planning the Public: Some Comments on Empirical Problems for Planning Theory, Journal of Planning Education and Research 19:351-357. Beauregard, R.A. (1989) Between Modernity and Postmodernity: The Ambiguous Position of U.S. Planning, Environment and Planning D: Society & Space 7:381-395. Birch, E. L. 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Dabei handelt es sich um bewusst veranlasste, vorgesehene oder geplante Gelegenheiten: Olympische Spiele, Weltausstellungen, Fußballmeisterschaften, Jubiläen usw. Die kulturellen oder sportlichen Großereignisse stellen für viele die einzigen Instrumente dar, die dazu in der Lage sind, planerisches Handeln zahlreicher Verwaltungseinrichtungen auszulösen, die häufig langsam und uneffektiv arbeiten, und zwar wegen der Befolgung etablierter Routinen und bestimmter Interessen, die ein schnelles und effektives Handeln im städtischen Maßstab verhindern. Anerkannte Autoren sprechen sich stattdessen für die Notwendigkeit eines aus zahlreichen kleineren Projekten zusammengesetzten Gesamtplans aus, die auf eine Vervollständigung der existierenden infrastrukturellen Netze und die Zentren stärken. In diesem Zusammenhang bilden Großereignisse für die austragenden Länder heutzutage ein machtvolles Instrument zur Unterstützung der internationalen Ausstrahlung und zur Förderung wirtschaftlicher und kultureller Aktivitäten durch die Ereignisse selbst. Die Mehrzahl der Events, die von europäischen Städten während der letzten 20 Jahre veranstaltet worden sind, von Sevilla bis Hannover, von Barcelona bis Lissabon, von London bis Berlin, Rom oder Paris, sind mit Sicherheit ein Beweis für das Interesse der Metropolen daran, sich dieser im Rahmen neuer stadtpolitischer Strategien zu bedienen. In diesem Beitrag werden als Ausschnitt aus diesem Spektrum die großen internationalen oder Weltausstellungen untersucht, die von vielen Beobachtern als Vorwand Mega-Projekte und Stadtentwicklung 177 der austragenden Städte zur Verbesserung ihrer internationalen Wettbewerbsfähigkeit angesehen werden. Es handelt sich dabei im Unterschied zu Sportereignissen wie Olympischen Spielen oder Fussballweltmeisterschaften um eine Begegnung der beteiligten Nationen in den Bereichen des kulturellen Fortschritts und eine Schau der Möglichkeiten der Menschheit in der jeweiligen Epoche1. Zunächst werden wir die Ziele von Großereignissen zusammentragen und systematisieren: Ziele im Hinblick auf das Image und die internationale Anerkennung, ökonomische und fremdenverkehrsbezogene Ziele sowie Umbau bzw. Revitalisierung vernachlässigter Stadtquartiere. Mit diesen Zielen hängt die beschleunigte Durchführung von Stadtumbauprojekten zusammen, die mit traditionellen Planungsinstrumenten nur schwer realisierbar sind. Die großen Weltausstellungen in Paris im 19. Jahrhundert haben einen Teil des westlichen Stadtgebiets umgeformt und in der Stadtlandschaft der französischen Hauptstadt dauerhaft einige symbolische Spuren hinterlassen. Unter den Veränderungen, die heute noch im Stadtbild erkennbar sind, erinnern wir uns beispielsweise an die Besiedlung des Hügels von Chaillot, der 1878 in Trocadéro umbenannt wurde, die reguläre Gestaltung des Marsfelds, das die großen Ausstellungshallen und die Pavillons der beteiligten Länder beherbergen sollte, den Bau des Eiffelturms und der Maschinengalerie im Jahre 1889 sowie anlässlich der Ausstellung von 1900 an den Bau der nach Alexander III. benannten Brücke, des Großen und des Kleinen Palais sowie die Eröffnung der ersten Linie der U-Bahn2. Dennoch waren die Ausstellungen des 19. Jahrhunderts nicht nur eine Gelegenheit zur Realisierung von Stadtumbauprojekten oder der Errichtung von beispielhaften Gebäuden, sondern standen für die Präsentation des menschlichen Fortschritts im internationalen Maßstab und trugen damit zur Entwicklung und der gründlicheren Auseinandersetzung mit damals neuen Themen bei. Insbesondere wurden die Stadtumbaumaßnahmen von Ideen der Moderne sowie dem Interesse der Politik einer Wohnungsversorgung der Arbeiter an den ausgestellten Innovationen begleitet3. Im 20. Jahrhundert wurden für die Großereignisse nunmehr auch Stadtrandgebiete in Betracht gezogen und die Ereignisse mit einer Planung des Ballungsraums verknüpft. In der jüngsten Zeit wurde anlässlich der Olympischen Spiele in Barcelona 1992 das Sportereignis zum Ausgangspunkt für eine Entwicklung der vernachlässigten Hafengebiete gemacht, die an das historische Zentrum der Stadt angrenzen. Die neue Stadterneuerungspolitik, deren Umsetzung in jenen Jahren anlässlich der Olympischen Spiele begonnen wurde, war ausschlaggebend für die Realisierung eines strategischen Plans für den Ballungsraum, der die Erneuerung von vier der 13 im Ballungsraum für das Ereignis ausgewählten Zentren in kürzester Zeit vorsah. Auf diese Weise ist das Modell der strategischen Planung, das anlässlich des Großereignisses angewandt wurde, zum ersten Mal zu einem der zeitgenössischen Referenzpunkte auf dem Gebiet des Stadtumbaus geworden. Im Rahmen der Expo 1998 in Lissabon4 sah die Planung für die Weltausstellung die Umwandlung eines Teils des östlichen Stadtgebiets der portugiesischen Hauptstadt vor. In Lissabon war der Rahmenplan für die Weltausstellung mit der Entscheidung 178 Territorium, Stadt, Großereignisse Abb. 1: Luftaufnahme vom zentralen Bereich des Expo-Geländes für einen dauerhaften Ausstellungsbereich der Ausgangspunkt für die Gestaltung des öffentlichen Raums und den Bau von neuen temporären und längerfristig stehenden Gebäuden in einem neuen monumentalen Viertel der Stadt5. Der Stadtumbau im Umfeld der Expo, der von der portugiesischen Staatsregierung und der Stadtverwaltung Lissabon gemeinsam unterstützt wurde, folgte zwei Hauptzielen. Erstens wurde mit dem Zeithorizont der Ausstellungseröffnung ein kurzfristig Mega-Projekte und Stadtentwicklung 179 angelegter Rahmenplan für das Expo-Gelände erarbeitet. Zweitens wurde langfristig die Errichtung von Neubauten auf den freien, noch nicht bebauten Flächen bis zum Jahr 2010 vorgesehen. Diese beiden Pläne, die in den Jahren vor der Expo ausgearbeitet wurden, fanden Eingang in einen strategischen Stadtentwicklungsplan für den Ballungsraum Lissabon, der die planerische Wiedergewinnung und Aufwertung der Flussuferbereiche in der Stadt vorsieht. Wenngleich auf der internationalen Ebene in Städten wie Barcelona, Sevilla, Lissabon oder Athen aktuelle Erfahrungen mit Stadtumbauprojekten gesammelt werden, verfolgen heutzutage viele Städte umso mehr eine Festivalisierungspolitik, bei der sie einige der damit verbundenen Risiken ausblenden. Häufig besteht dabei das Risiko, dass sich in Abwesenheit einer kohärenten Planungsstrategie für die Gesamtstadt die planerischen Eingriffe lediglich im Umfeld des Austragungsorts konzentrieren und auf diese Weise die bestehenden sozialen Disparitäten in der Stadt verschärft werden. In diesem Zusammenhang verweisen die Unterstützer der Großereignisse darauf, dass die anlässlich der Events vorgeschlagenen Bauarbeiten und planerischen Eingriffe ohnehin für die Stadt erforderlich sind und dass erst durch die Großereignisse eine hinreichende Mobilisierungsfähigkeit für die Durchführung der Maßnahmen entsteht. Im Widerspruch zu dieser These scheint es jedoch so zu sein, dass die Großereignisse keineswegs derart außergewöhnliche Ereignisse darstellen; häufig setzen sie vielmehr eine bestehende Kontinuität der stadtentwicklungspolitischer Strategien fort, die ihnen vorausgehen oder sich gerade in der Umsetzung befinden. Wenigstens zwei Fragen gehen der Zukunft der Großereignisse und der sie durchführenden Städte nach: diejenige nach den Wirkungen, die die für sie durchgeführten Stadtumbaumaßnahmen und die darauf folgenden Versuche einer Integration der umgebauten Gebiete in die Stadt nach dem Event besitzen einerseits und andererseits diejenige nach den außergewöhnlichen Lehren, die aus solchen und ähnlichen Anlässen gezogen werden können. Der Wettbewerb und die Gegenüberstellung der Veranstalterstädte erfordert eine komplexe Bewertung, die die temporären wie die anhaltenden Auswirkungen der Ereignisse sowohl im internationalen wie im lokalen Maßstab berücksichtigt. Die folgende Fallstudie zu Lissabon könnte einen Beitrag zur kritischen Reflexion der allgemeineren Thematik der Großereignisse leisten. 2. Expo und Stadtentwicklung in Lissabon 2.1 Ein erster Blick auf Ausstellung und Ausstellungsgelände Der Umbau des Ausstellungsgeländes in Lissabon kann in die Kategorie der Großereignisse eingeordnet werden, deren Durchführung dazu dient, der Stadt ein neues internationales Image zu verleihen und den Wettbewerb zwischen den europäischen Hauptstädten zu stimulieren. Die vom 22. Mai bis zum 30. September 1998 in Lissabon durchgeführte Expo 98 war eine „Weltausstellung“6 nach den international geltenden Richtlinien und hatte das Thema „Die Ozeane, Ein kostbares Gut der Zukunft“. Das Event gab den 180 Startschuss für ein wahres städtisches Laboratorium vor dem Hintergrund der jahrzehntelangen Abwesenheit einer Reflexion über die Stadt, die Lissabon im Vergleich zu anderen europäischen Hauptstädten ins Hintertreffen geraten lassen hatte. Die Wertschätzung der internationalen Dimension war in Lissabon Ausgangspunkt für die Planung von Stadtumbaumaßnahmen und bezog sich insbesondere auf einige bebaute oder vernachlässigte Stadtviertel im Nordosten der Hauptstadt, die als Potentialflächen für die Schaffung einer neuen Zentralität angesehen wurden. In den 1990er Jahren zeigte die vergleichende Bewertung der großen europäischen Städte, die von der DATAR7 vorgenommen worden war, dass Lissabon den 22. Platz unter den europäischen Hauptstädten einnahm. Diese auf einem Bündel von Parametern und Entwicklungsindikatoren beruhenden Einschätzungen haben die dominierende Rolle der portugiesischen Hauptstadt im nationalen Maßstab deutlich gemacht, aber auch die Notwendigkeit zum poli- Territorium, Stadt, Großereignisse Mega-Projekte und Stadtentwicklung 181 tischen Handeln vor dem Hintergrund ihrer geringen internationalen Wettbewerbsfähigkeit aufgezeigt. Unter den bedeutenden Eingriffen, die in den vergangenen 15 Jahren realisiert worden sind oder sich heute in der Umsetzung befinden, soll hier beispielhaft den Wiederaufbau des Chado-Viertels im historischen Zentrum Lissabons, die Realisierung des Kulturzentrums von Bélem im Südwesten und das anlässlich der Expo 98 errichtete Stadtviertel Parque das Naçoes im Nordosten der Stadt sowie die Brücke Vasco da Gama erinnert werden, die die Halbinsel von Lissabon und das gegenüber gelegene Setubal verbindet. Auf den jüngsten Erfahrungen mit den Stadtumbaumaßnahmen in Sevilla (Expo 92) und Barcelona (Olympische Spiele 1992) aufbauend, sollte die Expo 98 in Lissabon im Gegensatz zu den vergänglichen und länger währenden Auswirkungen der Ausstellung selbst nunmehr Anlass für eine ehrgeizige und prestigeträchtige Stadtumbaustrategie sein, die sich auf die Nähe des Flusses Tejo stützte. Fünf Jahre nach dem Ende der Ausstellung ist das neue Stadtviertel Expo Urbe heute ein von bedeutenden Hochhäusern gekennzeichneter Wachstumspol in der portugiesischen Hauptstadt. Lissabon ist es in der Tat gelungen, hierfür ein ganzes Maßnahmenbündel umzusetzen: den internationalen Umsteigebahnhof von Santiago Calatrava, den Pavillon der Meereskunde von João Carrilho da Graça, den Pavillon Portugals und die überdachte Piazza von Alvaro Siza, das staatliche Tanztheater von Manuel Salgado, das Mehrzweckgebäude von Recino Cruz und SOM und den Pavillon der Ozeane von Peter Chermayeff. Mit diesen Großbauten sind Aufwertungsmaßnahmen im öffentlichen Raum, die landschaftsplanerische Umgestaltung entlang des Tejo-Ufers von Hargreaves Associates und PROAP und die Gestaltung der Pflasterung und der Oberflächen von Manuel Salgado und RISCO verbunden. Sie stellen eine Beziehung zu den öffentlichen Räumen in traditionellen Quartieren der Stadt her. Um dieses Ziel zu erreichen, haben die gefundenen Detaillösungen bei der Pflasterung nicht nur Anleihen bei den überkommenen öffentlichen Räumen in der Stadt genommen, sondern auch im Hinblick auf die verwendeten Materialien (Kalkstein und Basalt) eine harmonische Einheit mit den bestehenden Fußgängerbereichen in Lissabon hergestellt8. Im Stadtentwicklungsplan von Lissabon aus dem Jahre 1992, der dem neuen Flächennutzungsplan von 1994 zugrunde lag, wurde das Interesse an der Aufwertung der östlichen Stadtränder der Hauptstadt zum Ausdruck gebracht. Es handelt sich dabei um eine Übergangszone, in der sich viele emittierende und gefährliche Betriebe der Stadt fanden. Bei dieser Gelegenheit wurde der Teilbereich für die Beherbergung sämtlicher für eine moderne Metropole notwendiger Infrastrukturen ausgewiesen. In diesem Sinne rief Antonio Cardoso e Cunha, der Generalbeauftragte für die Expo 98 zum „Bau einer neuen modernen Hauptstadt und zum ersten Mal einer am Fluss gelegenen Stadt“ auf. Die Expo war also eine Gelegenheit, sich der Hafenund Industriegebiete anzunehmen, von denen sich die Stadt wegen der schwierigen Zugänglichkeit, der Barrieren in Form von Stadtautobahnen und Eisenbahntrassen sowie der Autonomie der Hafenverwaltung lange Zeit abgewandt hatte. Territorium, Stadt, Großereignisse 182 Im Licht dieser Überlegungen wurde das Gelände für die Durchführung der Expo 98 im Herzen der Tejo-Bucht auf einem riesigen, lang gestreckten Gebiet mit einer Fläche von 350 ha und einer Länge von etwa 5 km ausgewählt. In ihrem Zentrum sollte auf einer Fläche von 50 ha der Kernbereich der Expo liegen. Im Rahmenplan, der die Errichtung einiger permanenten Gebäude im Herzen eines in sechs einzelne Plangebiete aufgeteilten Projektgebiets vorsieht, bilden die natürlichen Voraussetzungen des Geländes und die fußgängerorientierte Planung der öffentlichen Räume und des Flussufers die tragenden Elemente des gesamten Konzepts. Heute, aus größerer kritischer Distanz betrachtet, kann man einige Merkmale des Stadtumbauprojekts neu interpretieren und die Nachnutzungsproblematik untersuchen. Dabei geht es also darum, die Implantation eines neuen Wachstumspols in die Stadt neu zu überdenken und zu verstehen, ob sich die Umbaustrategie und die Lehren, die sich aus der Expo 98 ziehen lassen, auch modellhaft in andere Metropolen übertragen lassen. 2.2 Vorgeschichte des Ausstellungsgeländes Ein kurzer Überblick über die Veränderungen, die sich auf dem vorgesehenen Expo-Gelände abgespielt haben, erlaubt es, das Ausmaß der Stadtumbaumaßnahmen in ihrer Ganzheit besser zu verstehen. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts bildete eine große Industrie- und Hafenzone den östlichen Teil von Lissabon. Das betrachtete Gebiet durchlebte wie viele andere Hafen- und Industriegebiete zwischen 1920 und 1970 entscheidende funktionale und gestalterische Veränderungen. Seit Anfang der 1950er Jahre wurden in dem industriell geprägten Gebiet die beiden Schlafstädte Olivais und Chelas geAbb.3: Ansicht des Expo-Geländes vom Tejo plant, in denen wie in vielen anderen europäischen Stadtvierteln aus dieser Zeit sozial benachteiligte Schichten untergebracht wurden. In diesem Zusammenhang stellte die Stadt im Jahre 1955 einen Plan für die von der portugiesischen Regierung finanziell unterstützte Errichtung des Stadtviertels Olivais-Nord mit 2.500 Wohneinheiten auf einer Fläche von 40 ha auf. Einige Jahre später wurden auf einer Fläche von 185 ha weitere 8.500 Wohneinheiten errichtet, die das Viertel Olivais-Sud bildeten. Die Wohngebäude mit einer „zellulären Struktur“ in Ringform sollten innen liegende Plätze umschließen Mega-Projekte und Stadtentwicklung 183 und waren in fünf Gruppen gegliedert, die jeweils eine Grundschuleinheit bildeten. Die zahlreichen anderen Infrastruktureinrichtungen wurden auf das gesamte Gebiet verteilt. Die letzte Zwiebelschicht der östlichen Peripherie von Lissabon bildet das Stadtviertel Chelas. Südlich von Olivais angeordnet, erstreckt es sich über 510 ha bis an die äußerste Siedlungsgrenze und beherbergt 11.500 standardisierte Wohneinheiten. Das Viertel besteht im Wesentlichen aus linear angeordneten Großbauten mit getrennten Netzen für den motorisierten und den Fußgängerverkehr, die sich rigide in das naturräumliche Relief einschreibt. Die beiden Viertel des öffentlichen Wohnungsbaus sind von weniger dicht besiedelten Gebieten umgeben und erstrecken sich auf den Hügeln am östlichen Stadtrand. Da sie vom Flussufer durch die dort gelegenen Industriegebiete und vom öffentlichen Verkehr durch einen beträchtlichen Höhenunterschied Abb.4: Abendansicht der Wasserfront getrennt sind, werfen sie offensichtliche soziale Probleme auf, die den Zusammenhang zwischen den unterschiedlichen Teilen des Stadtgebiets noch komplizierter gemacht haben. Auf dem im Rahmen der Expo 98 ausgewählten Stadtumbaugebiet, das sich vom Flussufer bis zum Eisenbahnviadukt erstreckt, sollten die aufgegebenen und nicht mehr benötigten schwer verseuchten Industriegebiete umgenutzt werden. Wie in anderen Umnutzungsprojekten auf Hafenflächen im internationalen Maßstab bekannt, sah die Stadtentwicklungsstrategie auch hier den Abbau der bestehenden Industrieanlagen auf dem Gelände und die Verlegung der brach gefallenen Hafenflächen an den Nordrand der Stadt vor. Unter den anderen Zielen der Aufwertungsstrategie findet sich eine bessere Vernetzung des neuen Zentrums um das Expo-Quartier mit den offensichtlich gestalterisch und sozial degradierten Wohnvierteln. Zwei Strategien werden hierbei wie erwähnt zu einem Gesamtprogramm integriert: eine kurzfristige, die mit der Durchführung der Ausstellung endet, und eine langfristige, die darauf abzielt, das neue Viertel der Stadt zurückzugeben. Trotz dieses umfassenden Ansatzes hat im Ergebnis der Umbau des Quartiers zu einer Verlagerung des Interesses zugunsten der Schaffung eines neuen isolierten Zentrums geführt, das sich formal und funktional außergewöhnlich monumental darbietet. Tatsächlich sind die bedeutsamen Fragen nach der Vernetzung mit dem Stadtgebiet und einer sozialen Aufwertung der bestehenden Wohnquartiere mit dem neu entstehenden Stück Stadt 184 Territorium, Stadt, Großereignisse nicht mit dem gleichen Nachdruck und der gleichen Effektivität verfolgt worden wie bei der konzeptionell und technisch sehr erfolgreichen Altlastensanierung und der Planung der großen Kultureinrichtungen. 2.3 Von der neueren Planung für den Ostteil von Lissabon zur Expo 98 Aufbauend auf den Entwicklungszielen des Regionalen Plans zum Umbau des Großraums Lissabon aus dem Jahre 1990 und entgegen dem alten Flächennutzungsplan von 1977 hat der aus Anlass der bevorstehenden Expo 98 verabschiedete Stadtentwicklungsplan von 1992 recht allgemeine Ziele für den Umbau des Ballungsraums festgelegt. Von vielen im Hinblick auf seinen Regelungsgehalt als schwacher Plan angesehen, hat dieses Entwicklungsmodell, das auf der Idee der Umsetzung eines städtischen Großprojekts aufbaut, für die zukünftige Ordnung der Hauptstadt vier Entwicklungszonen im Großraum ausgewiesen. Das größte Potential stellte das auf dem riesigen Industrie- und Hafengelände um die geplante Expo 98 im Nordosten dar. Das Ausstellungsprojekt schlug auf dem zwischen dem Flusstal und den hochgelegenen Bahnanlagen eine beachtliche Altlastensanierung sowie eine soziale und wirtschaftliche Entwicklung vor, die aus dem industriell geprägten Areal ein kulturell geprägtes machen sollten. Somit wurde für die Expo die Anwendung von städtischen Konversionsstrategien angepeilt. Die neuere Stadtplanung in Lissabon will hier eine spürbare Aufwertung des Ostteils der Hauptstadt einleiten. Die von dem neuen Bürgermeister Jorge Sampaio geleitete Stadtverwaltung thematisiert 1990 die Stadtentwicklung als Möglichkeit zum Umbau der Stadt und erwägt dabei die Vorbereitung eines Großereignisses zur Feier des 500. Jahrestags der Entdeckung des Seewegs nach Indien durch den portugiesischen Seefahrer Vasco da Gama. Nach einigen vorbereitenden Machbarkeitsstudien wird das Gelände Doca dos Olivais dafür ausgewählt, wo während der 1930er und 1940er Jahre die Wasserflugzeuge in die überseeischen Kolonien Portugals abflogen. Entlang des Flusses Tejo befindet sich hier neben den im Osten der Stadt konzentrierten Hafen- und Industrieanlagen eine Reihe von Nutzungen, für die bis dahin kein anderer Standort gefunden werden konnte: der städtische Schlachthof, die Müllkippe, eine Ölraffinerie, große Lagerflächen u. a. Die Umwandlung, die durch die Expo-Entscheidung ansteht, deutet sich damit als ein Laboratorium der Stadtentwicklung auf verschiedenen Eingriffsebenen an, das sich nicht auf den engeren Ausstellungsbereich beschränkt. Um die durchgeführten Maßnahmen verstehen zu können, sollen im Folgenden die Instrumente und die Eingriffstypen vorgestellt werden, die von der Organisation bis zur Realisierung der Expo Anwendung fanden. Die endgültige Ausrichtung des Plangebiets an den Entwicklungsachsen der Flussuferbereiche im Osten der Stadt, die 1994 in den Flächennutzungsplan der Stadt Lissabon und ihrer Nachbargemeinde Loures Eingang fand, verfestigt nun die Entwicklungsstrategie einer Nutzung der Ausstellung zur Unterstützung der generellen Entwicklungsleitlinien. Im Plan von 1994 werden einige programmatische Festlegungen für den östlichen Stadtbereich getroffen: die Integration in das gesamtstädtische Mega-Projekte und Stadtentwicklung 185 Netz der Infrastruktur mit einer Verbindung zum Zentrum, die Entwicklung eines Nutzungsmixes mit Wohnungen und Versorgungseinrichtungen an den Zwischenräumen des städtischen Gewebes in den Schlafstädten, Altlastensanierung der verseuchten Flächen und Umnutzung der Industriegebiete in ein Gebiet mit vorwiegend kultureller Nutzung. Es geht überdies darum, die beiden Eigentümergemeinden in Planung, Bau und Finanzierung des Umbauprojekts einzubeziehen, auf deren Gelände die Ausstellung stattfinden soll. Nach den damaligen Erwartungen soll die Durchführung der Expo selbst einen Großteil der Kosten des groß angelegten Programms einspielen. Der Ausnahmecharakter der Ausstellung, die von vielen als eine Gelegenheit zur Realisierung großer städtebaulicher Aufwertungsmaßnahmen in relativ kurzer Zeit angesehen wurde, gestattet es, das ausgewählte Areal als eine Schlüsselfläche der Aufwertung zu deklarieren, die bis zur Durchführung der Expo fertig gestellt sein müsse. Zu diesem Zweck wird die Verantwortung für die Ausarbeitung des Umsetzungskonzepts der privatrechtliche Entwicklungsgesellschaft Parque Expo 98 AG übertragen, die durch eine Verordnung der portugiesischen Regierung mit öffentlichen Mitteln gegründet wird. Sie wird auch mit der dem Management und dem Wiederverkauf fertig gestellter Teilprojekte an Private betraut und führt die Konversionsmaßnahme in mehreren Phasen wie folgt durch: Organisation eines Ideenwettbewerbs für das Stadtumbauprojekt der Expo, Vermessung des Geländes, Grunderwerb, Altlastensanierung, Abriss von Industriegebäuden, Herrichtung der sanierten Flächen, Wiederverkauf an private Bauherren und schließlich Koordination aller infrastrukturellen und baulichen Maßnahmen auf dem Gelände der Expo. Die Entwicklung eines riesigen Gebiets von 350 ha, genannt Eingriffszone, wird nun für einige Jahre zum Schauplatz der Erarbeitung einer Reihe von Studien und Projektvorschläge: Vorstudien, internationale eingeladene Ideenwettbewerbe, Erarbeitung eines Rahmenplans, Ausarbeitung von sechs Teilbebauungsplänen für die Eingriffszone. Unter den Projektideen einiger Fachleute soll hier an die anfangs bei dem Stadtplaner Nuno Portas in Auftrag gegebene Vorstudie erinnert werden, der bereits das Projekt „Europäische Kulturhauptstadt Lissabon“ koordiniert hatte. In dieser Studie wurde die Schaffung einer diagonalen Achse vorgeschlagen, an der sich die Ausstellungsbereiche aufreihen sollten. Der schließlich abgelehnte Vorschlag verkörperte eine vom Flussufer ausgehende Verbindung, die zunächst das ExpoGelände durchquert, dann die bestehende Barriere der Eisenbahn überwunden und schließlich eine Verknüpfung zu den Wohnquartieren hergestellt hätte. Der endgültige Rahmenplan für die Expo, ausgearbeitet von dem Stadtplaner Vassalo Rosa, schlug stattdessen eine orthogonale städtische Struktur9 vor, die in sechs Teilgebiete aufgeteilt war. Die Leitprinzipien des Plans sind die Verlängerung einiger Straßen von Lissabon in die Industriezone mit der Schaffung zweier zum Fluss paralleler Hauptachsen, die das gesamte Expo-Gelände durchqueren, sowie dazu und zum Fluss senkrecht verlaufende Nebenstraßen, die auf die Plätze, die Pavillons und die Fußgängerverbindung zum Tejo führen. Die erste von ihnen, die Avenida Marechal Gomez da Costa,ist eine Schnellverkehrsstraße, die in Ost-West-Richtung die Grenze 186 Territorium, Stadt, Großereignisse der Eingriffszone zu den Hügeln markiert. Die zweite ist eine zentrale Fußgängerstraße, die das Rückgrat des Konversionsprojekts bildet und auf die sich der große Teil der Pavillons ausrichtet. Entlang dem Tejo-Ufer verbindet ein landschaftsplanerischer Umgestaltungsbereich die beiden äußersten Enden der Eingriffszone, den öffentlichen Park Tejo y Tranção sowie den Fußgängerweg Marina, und überquert dabei das künstliche Hafenbecken Doca dos Olivais in einer Passerelle. Das Hafenbecken im Zentrum dieser Verbindung bildet das zentrale Element des Kernbereichs der Ausstellung, der von den 50 ha des Bebauungsplans PP2 („Recinto“) erfasst wird. Der Recinto-Plan des Architekten Manuel Salgado beherbergt die öffentlichen Räume und die Pavillons die die Besucher während der Ausstellung empfangen haben. Mit dem Projekt wird die städtische Infrastruktur neu geordnet. Der Plan, der einige Hauptziele zur Realisierung des zentralen Ausstellungsbereichs formuliert, schafft ein neues Stück Stadt mit repräsentativer Form und Nutzung10. Sein erstes Hauptziel ist mithin die Reorganisation der Infrastruktur im regionalen Maßstab, das zweite die Festlegung des orthogonalen Rasters und das dritte schließlich eine ausgesprochene Aufmerksamkeit für die monumentale Dimension der neu gebauten Architektur. Gemäß diesen Prämissen werden die repräsentativen Gebäude, die Wohngebäude und die Serviceeinrichtungen auf einzelnen Parzellen entlang der neuen Straßentrassen errichtet, damit sich das neu entstehende Stadtquartier an die traditionellen Stadträume der bestehenden Stadt anlehnt. Die Gesamtheit der Baumaßnahmen ist auf einer Fläche von 240 der gesamten 350 ha konzentriert, während die restlichen 110 ha dem großen Stadtpark Tejo y Tranção für die Einrichtung kleiner Themengärten, dem Uferweg und vor allem dem System der öffentlichen Räume zugeschlagen werden, die um die monumentalen Gebäude im Recinto-Gebiet entstehen. An öffentlichen Gebäuden entstehen Dienstleistungen und Einrichtungen von gesamtstädtischer Bedeutung (Bahnhof, Ozeanarium, Tanztheater, Mehrzweckhalle usw.) und Nahversorgungseinrichtungen (Schulen, Supermärkte, Sporthallen). Dazu kommen Serviceeinrichtungen und kleinere Geschäfte, Büros, Hotels und die Luxuswohnviertel Vila Expo im Norden und Marina im Süden, so dass insgesamt 12.000 neue Wohneinheiten auf etwa 53 % des Bruttobaulands entstehen11. 3. Versuch einer Bilanz Die Parque Expo 98 AG hat sich zur Realisierung der gesamten Baumaßnahmen des project financing bedient12. Diese Finanzierungsstrategie hat jedoch die soziale Seite des Vorhabens vernachlässigt. Zu den Zielen einer Aufwertung des Lissaboner Ostens gehörte in der Tat die Vernetzung der bislang von der Stadt isolierten Schlafstädte Olivais und Chelas mit dem Zentrum von Lissabon und dem Expo-Gelände. Die Aufwertungsmaßnahmen im Zuge der Expo-Planung haben sich, obwohl eine soziale Stadterneuerung des gesamten Lissaboner Ostens vorgesehen war, dagegen zum großen Teil auf die Herrichtung und Konversion des neuen Expo-Geländes Mega-Projekte und Stadtentwicklung 187 konzentriert, so dass sich die Aufwertungsmaßnahmen für die peripheren Stadtteile auf ein Minimum beschränkten. Wie man im Rahmenplan erkennen kann, besteht nur ein unzureichendes Interesse an der Thematik einer Verknüpfung der peripheren Stadtteile mit der Stadt. Die symbolische Trennung durch das Eisenbahnviadukt und der Höhensprung, der das Expo-Gelände von den benachbarten Stadtvierteln trennt, sind planerisch ohne spürbare Veränderungen angepackt worden. Der Plan hat sich tatsächlich nur an einigen isolierten Punkten mit der Verknüpfung zwischen den unterschiedlichen Teilen des Stadtgewebes beschäftigt. Die Fußgängerüberführungen im Zusammenhang mit dem Ostbahnhof und ein paar Tunnel unter der Eisenbahn erlauben heute eine zuvor abgeschnittene fußläufige Querung des Eisenbahnviadukts und der neuen Schnellstraßen. Wenn man die Realisierung des Quartiers aus Büro- und luxuriösen Hoteltürmen hinzunimmt, das im Bebauungsplan PP1 festgesetzt wurde13, bemerkt man, dass derzeit eine neuerliche Trennung stattfindet. Der Blick vom Fluss auf die Hügel im Osten Lissabons wird gerade von Hochhäusern in einer etwas ungewöhnlichen Form abgeschnitten. Die Ausnahmesituation der Expo, die die theoretischen und praktischen Voraussetzungen für den aktuellen und zukünftigen Umbau eines Teils des Großraums Lissabon geschaffen hat, führte zu keinem uneingeschränkten Konsens, sondern auch zu einer Serie von kritischen Kommentaren, die man in zwei Hauptlinien zusammenfassen kann: die Schaffung des neuen städtischen Wachstumspols, der praktisch ausnahmslos aus monumentalen Gebäuden mit gesamtstädtischen Funktionen besteht – diese Kritik richtet sich vor allem gegen die Anordnung des neuen Zentrums tertiärer Nutzungen – und die mangelhafte Integration des neuen Stücks Stadt in sein Umfeld aus bestehenden Wohnvierteln. Es sind Kritikpunkte, bei denen man länger verweilen muss, weil sie Fragen berühren, die bei vielen Großprojekten in Europa eine Rolle spielen. Es gilt, herauszufinden, bis zu welchem Grad Stadtumbaustrategien andere Städte beeinflussen und gewissermaßen zum Referenzmodell werden, das auch bei anderen Gelegenheiten Anwendung findet14. Kommt man auf die grundlegenden Fragen eines der fortschrittlichsten Versuche des zeitgenössischen Stadtumbaus zurück, so kann man erkennen, wie „einige Gebäude, und seien sie auch von Qualität, allein keine Stadt erzeugen können“ (NICOLIN 1983), und weiterhin eine Kritik an der Idee der Stadtproduktion durch Großereignisse generell formulieren. Ein Punkt, der für mich hervorhebenswert scheint, ist die Tatsache, dass Lissabon in erheblichem Umfang materielle, intellektuelle und politische Ressourcen in den Bau und die Umgestaltung des öffentlichen Raums investiert hat. Dies ist wohl der wesentliche und schwierigste Teil des Versuchs, mit einem „strategischen Gesamtprojekt“ einen Prozess der Wiedergewinnung und Umstrukturierung des ökonomischen und sozialen Gewebes der Stadt einzuleiten. Auch dank dieser Konnotationen zeigt das Beispiel Lissabon, wie eine zusätzliche Dosis durch große Ausstellungen mobilisierter Ressourcen - wie im Falle der Olympischen Spiele in Barcelona - dazu genutzt werden kann, einen ganzen Stadtteil umzustrukturieren. Der Widerspruch zwischen dem stadtplanerischen und dem architektonischen Betrachtungsmaßstab hat zu Formen inkohärenter Planung geführt, sei es beim Territorium, Stadt, Großereignisse 188 Anspruch nach einer präzisen Festlegung der zukünftigen Merkmale der Stadt ohne Einschätzung der Entwicklungsmöglichkeiten der Peripherie, sei es im Zusammenhang mit der Illusion von einer formalen Lösung bei der Planung von Einzelgebäuden in der neuen Stadt. Ein Exzess an formalem Überschwang kann Jahre später als sinnentleerte Form erscheinen, der die Inhalte fehlen, die die Ausstellung ausgemacht haben, und das könnte eine neuerliche Phase planerischer Eingriffe auslösen, die man als „von der Expo zur Stadt“ bezeichnen könnte. Die derzeit laufenden Stadtumbaumaßnahmen eröffnen Raum für Diskussionen über stadtplanerische Projekte, die Architektur und ihre Zwecke sowie über ihre Entwicklung in der letzten Zeit. Die Erfahrungen mit Großprojekten erlauben es, einige Ideen über die wichtigen Elemente der Stadt von heute voranzubringen, die als die Träger ihrer zukünftigen Form gelten können, die Teile oder Strukturen, denen Innovationsfähigkeit in dem Sinne innewohnt, als sie zum Gegenstand einer in Schritten vorgenommenen Entwicklung werden können, ohne zwangsläufig den Bezug zu den Zielen des gesamten Projekts verlieren zu müssen. Der Fall Lissabon muss in diesem Sinne als eine weitere Erfahrung aus dem Bereich der zunehmenden Beschäftigung mit den Möglichkeiten einer Überwindung der Stagnation in den europäischen Städten und der Anwendung einer fortschrittlichen Modernisierungsstrategie angesehen werden. Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 Im Jahre 1954 definierte der Rat des Bureau International des Expositions internationale und Weltausstellungen wie folgt: „Eine Ausstellung ist eine nicht regelmäßige Veranstaltung, die zum Ziel hat, die Gesamtheit der Fähigkeiten zu versammeln, über die die Menschheit verfügt, um die Bedürfnisse einer Zivilisation zu befriedigen und damit den Fortschritt zu zeigen, der in einer bestimmten Epoche realisiert wurde, die zum Vergleich herangezogen wird und eine rationale Präsentation sicherstellt“, vgl. GALOPIN 1997. Vgl. BOUIN/CHANUT 1980. Vgl. KAMOUN 1999. Die Entwicklung des Projekts Expo 98 in Lissabon und die Aufteilung des Rahmenplans von Stadtplaner Vassalo Rosa, in TRIGUEIROS 1996. „Das Expo-Gelände ist heute eine Insel der Exzellenz, es bleibt aber immer noch eine Insel. Der größte Mangel des Expo-Projekts besteht darin, dass es ein isoliertes Stadtfragment hervorgebracht hat.“ Interview des Autors mit Manuel Salgado, verantwortlicher Städtebauer für den Recinto-Plan der Expo 98 in Lissabon am 12. April 2002, vgl. LECARDANE 2002. Die Expo 98 war anfangs eine „spezialisierte Ausstellung“, eine Einstufung, die wie die der „Weltausstellung“ vom Protokoll der Allgemeinen Regularien für Ausstellungen vom Bureau International des Expositions aus dem Jahre 1972 stammt. Im Jahre 1996 trat eine neue Richtlinie von 1988 in Kraft, die die Ausstellungen nicht mehr wie zuvor einstuft, sondern in Bezug auf das gewählte Thema und den Bau Mega-Projekte und Stadtentwicklung 7 8 9 10 11 12 13 14 189 der nationalen Pavillons die neue Bezeichnung Weltausstellung Lissabon festgelegt hat, die als Expo’98 Lisboa abgekürzt wurde. Für die Studie der Délégation à l’Aménagement du Territoire et à l’Action Régionale (DATAR) aus den 1990er Jahren vgl. DATAR 1992. Interview des Autors mit Manuel Salgado, verantwortlicher Städtebauer für den Recinto-Plan der Expo 98 in Lissabon am 12. April 2002, vgl. LECARDANE 2002. Auf einem vollständig von industriellen Aktivitäten befreiten Gelände wird das neue Stadtfragment im Geiste des Stadtviertels Baixa realisiert. Diese Unterstadt im Zentrum von Lissabon wurde durch den Marquis von Pombal mit einem orthogonalen Raster nach der vollständigen Zerstörung des Zentrums durch das Erdbeben von 1755 wiederaufgebaut. Die Gesellschaft PARQUE EXPO’98 S.A., die 1998 ihre Türen offiziell für Besucher geöffnet hat, setzt derzeit ihre Stadtumbautätigkeit bis zum Ende des Jahres 2010 fort. Diese Vielfalt wurde konzipiert, um der Expo 98 das zu einem Stadtfragments der Exzellenz zu verleihen, das im Jahre 2010 ca. 25.000 Einwohner beherbergen kann. Vgl. CARRIERE 2002. Die Bezeichnung Project financing soll eine Umwandlung des Geländes zum Nulltarif garantieren, indem die Expo 98 aus den Erlösen von Immobiliengeschäften finanziert wird. Diese Strategie hat nur teilweise funktioniert, indem mit Unterstützung der EU der Staat Portugal sowie die Städte Lissabon und Loures einen Großteil der Herrichtung und der Konversion mit einem minimalen Kostenaufwand durchführen. Interview des Autors mit João Paulo Veles, dem Verantwortlichen des Verwaltungsrats der Gesellschaft PARQUE EXPO S.A in Lissabon am 9. April 2002. Dieser Plan ist von dem Architekten und Stadtplaner Tomás Taveira entworfen worden. In den letzten Jahren zeigt sich ein Interesse der asiatischen Metropolen und der osteuropäischen Hauptstädte an einer offiziellen Bewerbung um eine Weltausstellung. Interview des Autors mit Vincentes González Loscertales, Generalsekretär des Bureau International des Expositions (BIE) in Paris am 26. März 2003. Übersetzung: Uwe Altrock Literatur AA.VV., Atlas des villes européennes, DATAR- Ed. Reclus, Montpellier, 1992. AA.VV., Projet rapport Lisboa 1998, Edizione Bureau International des Expositions, Paris, 1998. BOUIN, Philippe, CHANUT, C.P., Histoire française des foires et expositions universelles, Paris, 1980. CARRIERE, Jean-Paul, « Projet urbain et grands projets emblématiques: réflexions à 190 Territorium, Stadt, Großereignisse partir de l’exemple de l’Expo’98 à Lisbonne », in ders. (Hg.), Villes et projets urbains en Méditerranée, Maison des Sciences de l’Homme « Villes et Territoires » Université de Tours, 2002CARRIERE, Jean-Paul (Hg.), Villes et projets urbains en Méditerranée, Maison des Sciences de l’Homme « Villes et Territoires » Université de Tours, 2002. COLLOVÀ, Roberto, Lisbona 1998 Expo, Edizione Testo&Immagine, Turin, 1998. FERREIRA, Vítor Matias (Hg.), Lisboa a metrópole e o rio, Editorial Bizâncio, Lissabon, 1997. 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TRIGUEIROS, Louis (Hg.), Lisbon Expo ’98, Projects, Edizione Blau, Lissabon, 1996. Mega-Projekte und Stadtentwicklung 191 Uwe Altrock DIE UNENDLICHE GESCHICHTE VOM WIEDERAUFBAU DES STADTSCHLOSSES IN BERLIN IM LICHT DER GROSSPROJEKTFORSCHUNG 1. Einführung Megaprojekte, so die gängige Einschätzung, sind in der Lage, Entscheidungsträger mit Ressourcen zu mobilisieren und durch Schaffung vollendeter Tatsachen Hindernisse der Realisierung aus dem Weg zu räumen, um auf diese Weise der Wahrnehmung hoher Risiken, die sich nicht hinreichend aussagekräftig abschätzen lassen, die argumentative Schärfe zu nehmen und so den von den Befürwortern gesehenen Chancen zum Durchbruch zu verhelfen. Die Faszination, die von Megaprojekten für die planungswissenschaftliche Forschung ausgeht, hat sicherlich nicht zuletzt mit der Gratwanderung zu tun, auf der sich alle Beteiligten im Entscheidungsprozess begeben. Dabei zerfällt die schreibende Profession in zwei schier unversöhnliche Lager. Die notorischen Optimisten wenden sich unter dem Leitbegriff der „Handlungsfähigkeit“ der Frage zu, unter welchen Umständen quengelige Kritikaster besänftigt und Projekte erfolgreich auf den Weg gebracht werden können. Die notorischen Pessimisten betonen dagegen beinahe verschwörerisch die Eindämmung von partizipativen und diskursbezogenen Elementen des Planungsprozesses und mithin den Verlust der Lufthoheit ihres Leitbegriffs „Planungskultur“, um dann zum Ergebnis zu kommen, das jeweilige Projekt sei schon allein deshalb nicht gut zu heißen, weil es ja in geradezu autoritärer Weise entschieden worden sei. Mit anderen Worten trennt die beiden Lager im Wesentlichen ihr Begriffsverständnis von „Entwicklung“, das die Optimisten im Sinne von „Voranschreiten“ und „Auf den Weg Bringen“ interpretieren, die Pessimisten dagegen als „Integrative Steuerung und Abwägung“. Beide haben teilweise Recht, wobei in der gängigen Debatte um Einzelprojekte und deren 192 Der Schlossplatz in Berlin im Licht der Großprojektforschung Evaluierung üblicherweise keine der beiden Seiten die oben angedeutete Risikoproblematik hinreichend in den Griff bekommt. In diesem Sinne ist auch die besondere Würdigung des Risikobegriffs in dieser Ausgabe der Planungsrundschau zu verstehen. Was die beiden Lager so polarisiert, ist nicht zuletzt die Tatsache, dass beide ein normatives Verständnis von der Rolle der öffentlichen Hand als Entscheidungsträger formulieren, denn selbst bei privat getragenen Megaprojekten fällt die zentrale Bedeutung des politisch-administrativen Systems für die Justierung planungsrechtlicher, finanzieller und anderer Stellschrauben auf, ohne die die privaten Investoren in Mitteleuropa kaum in der Lage wären, ihre Projekte zu realisieren. Die Debatte um Megaprojekte ist also vor allem eine um das angemessene Selbstverständnis der Legislative und der Exekutive angesichts einer potenzierten Unsicherheit über Chancen und Risiken einer einzigen meist irreversiblen Entscheidung. Ausgehend von diesem Verständnis liegt es nahe, sich zu fragen, was denn passiert, wenn ohne „Druck“ der Privaten hinsichtlich des Versprechens von Arbeitsplätzen o. ä. das politisch-administrative System weit reichende Entscheidungen über Megaprojekte fällt. Auch die weitgehend öffentlichen Projekte sind natürlich nicht frei von ökonomischen und Arbeitsplatzwirkungen. Versucht man jedoch diejenigen Projekte herauszufiltern, bei denen sie die geringste Rolle spielen, landet man mehr oder minder bei den Projekten mit politischer Symbolkraft. Sie haben immer noch eine relevante Dimension in finanzieller Hinsicht – wie viel öffentliches Geld soll Abb.1: Luftbild des Schlossplatzes / Unter den Linden 1999. ausgegeben werden, um Quelle: SenStadt/BMVBW 2002a, S. 11 mehr oder minder nutzbare Güter und Dienstleistungen herzustellen, die aber einen herausragenden symbolischen Zweck erfüllen, und unter welchen Umständen ist dieser meist ebenfalls umstrittene symbolische Zweck statthaft? Die Diskussion um einen möglichen Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses und die Erhaltung von Teilen des Palasts der Republik stellt hierbei geradezu das Paradebeispiel dar. Viel ist bereits hierzu gesagt und geschrieben worden, so dass die Gefahr besteht, durch den neuerlichen Aufguss des Themas zu ermüden. Doch bei aller Kontroverse um die Sache steht eine reflektierende Bewertung des Verlaufs der Debatte und ihrer Struktur noch aus, gerade vor dem Hintergrund von Fragen Mega-Projekte und Stadtentwicklung 193 danach, warum heute die Zukunft des Schlossplatzes in Berlin offener denn je erscheint, aber zur gleichen Zeit Optionen verstellt und Sachzwänge in einem Umfang geschaffen worden sind, deren Tragweite einen vor dem Hintergrund der Zukunftsoffenheit schwindeln machen. Die folgende Fallstudie will also versuchen zu ergründen, welche Spezifik „rein öffentliche“ Megaprojekte aufweisen und was das für die Produktion symbolischer Orte bedeutet. 2. Die Debatte um das Stadtschloss und den Palast der Republik An dieser Stelle soll nicht die gesamte Chronologie der Debatte dokumentiert werden. Vielmehr kommt es darauf an, wesentliche Elemente und gewichtige Argumente für die verschiedenen Positionen und ihre Konjunktur zu belegen. 2.1 Vom Ort der Stadtbewohner zum Ort staatlicher Repräsentation Der heutige Schlossplatz und vormalige Marx-Engels-Platz war in zweierlei Hinsicht in der DDR Ort der Stadtbewohner: wegen der allseits betonten Volksnähe des Palasts der Republik und wegen der Nutzbarkeit der Platzfläche selbst als Pkw-Stellplatz. Keineswegs soll hier behauptet werden, dass es sich dabei wegen dieser Volksnähe um eine optimale Nutzung des Platzes handelte. Im Sinne des späten Sozialismus, dessen Rituale und Symbole wohl als endgültig sinnentleert angesehen werden müssen, handelte es sich zumindest im Alltag und abgesehen von den wenigen Tagen mit staatlich organisierten Aufmärschen und Paraden sowie der angrenzenden staatlichen Einrichtungen meistens um einen praktikabel nutzbaren Ort ohne übermäßige Behaglichkeit, aber insbesondere vor dem Hintergrund des vergleichsweise hohen Rangs der im Palast abgehaltenen Veranstaltungen um einen bedeutsamen Ort mit zentraler Funktion. Der Umgang des realsozialistischen Städtebaus mit Räumen und dem Zentrengefüge gab ihm den Anschein der innerstädtischen Peripherie, und sein noch unentschlossenes Verhältnis zum AutomoAbb.2: Veranstaltung zum X. Parteitag der SED 1981 im bil begrenzte die Aufenthaltsqualität des Orts und großen Saal des Palastes, Quelle: S. 28 194 Der Schlossplatz in Berlin im Licht der Großprojektforschung seine Integration in die Stadt doch beträchtlich. Die Gründe für die früh einsetzende Debatte um den Ort sind die sich nach der Vereinigung ergebende Eigentümerstruktur sowie das Unbehagen der (im Westen sozialisierten) Berliner Stadtplaner an den städtebaulichen und gebäudebezogenen Merkmalen des Platzes und weniger ein sich manifestierender Gestaltungswille oder gar eine konsistente konzeptionelle Vision. Ja, selbst die später vielfach bemühte Formel, es handle sich um „die Mitte Berlins“, muss sich erst im öffentlichen Diskurs herausbilden. So wird der Schlossplatz mit dem Hauptstadtbeschluss des Deutschen Bundestags einerseits zum Gegenstand der Suche nach geeigneten Flächen für Bundeseinrichtungen – der Bund ist Eigentümer einiger Grundstücke, auf denen die überkommenen Gebäude staatlicher Einrichtungen der DDR stehen, wohingegen dem Land Berlin der Platz selbst gehört. Die im Zuge der Hauptstadtplanung geschaffenen gesetzlichen Grundlagen für eine besondere Rolle des Bundes bei der Gestaltung des Sitzes seiner künftigen Machtzentrale als Gegenpol zur Planungshoheit des Stadtstaates Berlin und die damit einhergehende Entmachtung des Stadtbezirks Mitte drücken dabei de facto lediglich formalisiert das aus, was im Verhältnis zwischen öffentlichen und privaten Akteuren ansonsten gang und gäbe ist: die Aufteilung der Machtressourcen auf den öffentlichen Plangeber und den privaten Investor, die bis zu einem Grad in eine Zusammenarbeit gezwungen sind. Diese Konstellation hält allerdings in Berlin nach der Vereinigung erst insofern allmählich Einzug, als in beiden Stadthälften das planerische Geschehen in den Jahren der Teilung zum größten Teil durch den weitgehend in der Regie von mehr oder weniger als Teil der öffentlichen Hand zu begreifenden Akteuren liegenden öffentlich subventionierten Wohnungsbau dominiert wird und nunmehr private Investoren auf den Büro- und Einzelhandelsflächenmarkt drängen, und ist daher für viele Beteiligte zunächst ungewohnt. Andererseits entspinnt sich früh und katalysiert durch die Hauptstadtplanung ein eher destruktiv orientierter Diskurs, der nach dem an den Protagonisten der Großen Koalition gescheiterten Versuch der Denkmalpflege, das aus Palast der Republik, Staatsratsgebäude und DDR-Außenministerium bestehende Ensemble um den Marx-Engels-Platz unter Schutz zu stellen, ohne Gewissheiten über die Zukunft des Bereichs seine sämtlichen Elemente in Frage zu stellen beginnt. Trotz der offensichtlichen Sympathie eines Großteils der Berliner Bürger für den Palast der Republik gelingt es der Fachöffentlichkeit nur, das DDR-Staatsratsgebäude vor einer verschärften Abrissdebatte zu bewahren. Ironischerweise erhält sie dabei Unterstützung durch den Denkmalstatus des Gebäudes, den dieses nicht zuletzt durch die eingebaute Spolie des Stadtschlossportals bereits in der DDR erlangt hat. Zwar stützt sich die Fachöffentlichkeit in ihrer Argumentation auf die Bedeutung des Gebäudes für die Herausbildung einer eigenständigen Gestaltungskraft der DDR-Architektur in den 1960er Jahren und stilisiert es damit zum herausragenden Geschichtszeugnis, doch gelingt es auf der anderen Seite keiner der zahlreichen Initiativen, eine ähnliche argumentative Lufthoheit in der Debatte über den Palast oder das Außenministerium zu erlangen. Für das als hässlich und unfunktional gebrandmarkte Außenminis- Mega-Projekte und Stadtentwicklung 195 terium mag trotz seiner unmittelbaren Nachnutzbarkeit so recht kaum jemand das Wort ergreifen, versperrt es doch die Blickachse Unter den Linden und steht auf dem Territorium der erst in der DDR-Zeit abgerissenen legendären Bauakademie von Schinkel, der wie kaum ein anderer als legitimer historischer Referenzpunkt und argumentativer Konsensstifter in der Stadt gelten darf (vgl. hierzu insbesondere Leinauer 1996, Bodenschatz 1996). Der Palast wiederum steht einer bestimmten städtebaulichen Sichtweise im Wege, die auf eine Harmonisierung und Abrundung des Straßenzugs „Unter den Linden“ abzielt, ohne jemals die zur Verfügung städtebaulichen Möglichkeiten für eine Neuordnung des Übergangs zwischen der ehemaligen Berliner Altstadt östlich des Palasts und der westlich gelegenen Friedrichstadt systematisch zu untersuchen. Langfristig wird sich so – wiederum ironischerweise und wegen einer noch zu untersuchenden kuriosen Verbindung von pro- und reaktiven Elementen des Politikbetriebs – eine Position durchsetzen, die wegen einer formalen Lesart der Kriterien des Denkmalschutzes genau dem Teil des Palasts als einzigem noch einen langfristigen Erhalt in Aussicht stellt, der durch seinen hermetischen und sperrigen räumlichen Charakter sowohl funktional als auch wegen seiner Lage an dem verbreiterten Straßenzug Unter den Linden – Karl-Liebknecht-Straße und damit seines die historisch bedeutsamen Sichtbeziehungen „störenden“ Charakters städtebaulich einen der schwierigsten Bereiche des gesamten Ensembles bildet: den durch die „einzige demokratische Wahl in der DDR“, nämlich die zur Volkskammer am 16. März 1990, geadelten Volkskammersaal, dem historische Bedeutung auch dadurch zukommen soll, dass in ihm die deutsche Einigung beschlossen wurde (wie dies lediglich Bruno Flierl in der Schlossplatz-Kommission schließlich auf den Punkt gebracht hat, vgl. SenStadt/BMVBW 2002a:44f). Als ob dem Raum selbst hierfür eine Bedeutung zukäme, wurde die schon 1989 von Willi Brandt angeregte Unterschutzstellung der Berliner Mauer als Baudenkmal (vgl. Berliner Zeitung vom 09.11.1996) später beinahe nur unter dem Gesichtspunkt der Dokumentation des menschenverachtenden Charakters der deutschen Teilung vorgenommen, dagegen das historisch im breitesten Sinne der Volkskammerwahl vorausgehende Ereignis der „Erstürmung“ und Besetzung der Mauer vollständig außen vor gelassen, so dass die Reste der Mauer heute streng isolierte Reservate bilden, denen es entweder an Authentizität gebricht oder die in ihrer Sterilität die Stadtentwicklung entschieden hemmen wie im Falle der East Side Gallery. So wird von seinem Eigentümer, dem Deutschen Bundestag, der Abriss des Palasts der Republik bereits sehr früh und kaum so recht ernst genommen beschlossen, einem Gremium, dem es wie Unternehmen mit auswärtigem Hauptsitz an der Bereitschaft zu einer ernsthaften Auseinandersetzung mit dem genius loci gebricht, die ihm mühsam von der Berliner Verwaltung abgetrotzt werden muss. Der Schlossplatz als Herzstück und Scharnier im innerstädtischen Straßenraster wird mithin zum Zentrum des Spreeinsel-Bereichs, der aufgrund der Eigentumsverhältnisse, des Vorhandenseins von wenig bebauten oder offenbar zur Disposition stehenden Potentialflächen und eines assoziativen Anknüpfens an wenig hinterfragte historische Traditionslinien neben dem Spreebogengelände in der Nähe des Reichs- 196 Der Schlossplatz in Berlin im Licht der Großprojektforschung tags zu einem der vielversprechenden Schauplätze der angepeilten baulichen Manifestation des Umzugs von Parlament und Regierung auserkoren wird. Die planerische Fokussierung der Spreeinsel bringt zwar eine schier unübersehbare Fülle von Umsetzungshindernissen zutage, doch drückt sie dem Ort bereits Anfang der 1990er Jahre einen nicht mehr auslöschbaren Stempel auf und macht ihn erneut zum Ort der staatlichen Repräsentation. 2.2 Vom Ort staatlicher Repräsentation zum Ort restaurativer Identitätsstiftung Ansonsten passiert erst einmal lange nichts Wesentliches. Nachdem schnell erkannt wird, dass die Neuplanung und Wiederbebauung eines äußerst sensibel zu behandelnden Bereichs gewissermaßen im Mittelpunkt der Nation reifliches und u. U. sogar jahrzehntelanges Nachdenken benötigen könnte, sich einflussreiche Repräsentanten des Bunds ob der Verortung von Ministerien auf der Spreeinsel ernsthaft streiten und die komplizierten Planungsprozesse zur Umsetzung des Hauptstadtbeschlusses zwangsläufig Jahre in Anspruch nehmen, während derer ein zunehmender und durch das planerische Vakuum beschleunigter Entwertungsprozess am Schlossplatz einsetzt, gelingt es restaurativen Kräften aus verschiedenen Strömungen, die Gunst der Stunde zu nutzen und sich auf vorentscheidende Weise bestimmter Schlüsselressourcen zu bedienen, die das Schicksal des Platzes zu besiegeln scheinen. Alles ande- Attrappe: Blick auf die Schlosssimulation 1993/94, Quelle: S. 43 Mega-Projekte und Stadtentwicklung 197 re ist danach planerisch nur noch Geplänkel, bleibt aber vor dem Hintergrund einer parallel absehbaren Kostendebatte weiterhin im Ergebnis fast völlig offen. Die Rede ist von den letztlich ineinander greifenden Initiativen zur Asbestsanierung des Palasts und der Simulation der Schlossfassade. Der an sich in der Ummantelung des Tragskeletts festgebackene Asbest war letztlich lediglich durch abbröckelndes Material und die Hitze der Scheinwerfer im Veranstaltungssaal aufgewirbelt und damit zur Gefahr geworden. Die schwer durchschaubare und lang anhaltende Debatte um die angemessene Sanierungstechnologie führt am Ende sicher nicht zufällig zur Auswahl einer kostenaufwendigen Methode, die überdies eine Entkernung und damit eine Demontierung der wesentlichen Ausstattungsmerkmale des Palasts nach sich zieht, während der aus der gleichen Zeit stammende und von seinen innenräumlichen und funktionalen Merkmalen nicht minder umstrittene Bau des „Internationalen Congress Centrums“ (ICC) am West-Berliner Funkturm bis heute unangetastet geblieben ist – einschließlich des in ihm verbauten Asbests. Mag die damalige Bautechnik besser gewesen sein als die der am Palast beteiligten Schweden, so dass der Asbest dort keine Gefahr darstellt, die beiden entscheidenden Unterschiede der beiden Gebäude sind ihre Lage und ihr Eigentümer. Außerhalb des symbolischen Zentrums der Hauptstadt lässt sich ein als Bausünde empfundenes Gebäude leichter ertragen. Und der Bund als neuer Eigentümer ist wohl kaum darauf vorbereitet, wie die weiter bestehende Messegesellschaft der westlichen Stadthälfte ein multifunktionales Veranstaltungszentrum zu betreiben, dem überdies die Synergien zu den angrenzenden Messehallen fehlen. Doch die bewusste kulturelle Entwertung ohne gleichzeitige Auslotung planerischer Möglichkeiten über Aufwertungsmöglichkeiten – ein Ersatz der goldbedampften Scheiben hätte dem Palast beispielsweise mit geringem Aufwand sein 1970er-Jahre-Stigma nehmen können und es wesentlich transparenter erscheinen lassen – findet erst durch die inzwischen legendäre Schlossfassaden-Attrappe des (Hamburgers!) Wilhelm von Boddien ihre strategisch kongeniale Ergänzung, die zu einer vorher undenkbaren Mobilisierung von Anhängern einer historischen Neuinterpretation (in deren eigenen Worten: Wiederherstellung) des identitätsstiftenden Bereichs und den Boulevard Unter den Linden führt, in einer Stadt, die doch ansonsten bereits so zerschunden sei und die eine neuerliche Welle der formalen Entfremdung angezettelt durch den Büroflächenboom um die Friedrichstraße durchlebe. Nicht, dass etwa zuvor keine Historisten in der Stadt zu finden gewesen wären – die wesentliche Wendung, die Boddien herbeiführen kann, ist deren öffentliche Thematisierung in einem Umfeld, das zuvor von der Hegemonie der preußen- und historismuskritischen Fachöffentlichkeit geprägt ist, in der die Idee eines Wiederaufbaus des Schlosses nicht denkbar gewesen ist. Ach ja, Schloss wäre ja auch ganz schön, so die an immer mehr Stellen aufkeimende Meinung, die in den Köpfen von Touristen und damals noch Bonner Parlamentariern verankert wird, die vermutlich vorher keine Ahnung hatten, welche Spielräume bei der Wiedergewinnung des Stadtraums bestanden. Auf einmal ist Interesse für den vergessenen Ort da, und zwar auch außerhalb der Berufsbetroffenen aus Bund und Berliner Senat. Die Schlossfassade hat die mentale Land- 198 Der Schlossplatz in Berlin im Licht der Großprojektforschung karte der Beteiligten also neu justiert: Er hat darauf hingewiesen, dass man sich nicht damit begnügen solle, den künftigen Generationen die Gestaltung des Platzes zu überlassen, sich Zeit zu lassen bei der Reformulierung eines der schwierigsten Stadträume in Berlin, sondern ihn wieder begreifen sollte als symbolisches Zentrum der Hauptstadt, mit dem Glanz und Elend der preußischen und deutschen Herrschaftsgeschichte wie mit keinem anderen Ort verbunden sei. Während also andernorts, nämlich am Reichstag, unaufhaltsam und mit Erfolg die Berliner Republik in ihrem demokratisch-transparenten und geschichtskritischen Anspruch Gestalt annimmt und damit Kernelemente der zurückgelassenen Bonner Republik hinüberrettet, wird durch die Thematisierung der Schlossfrage der inzwischen politisch bedeutungslos gewordene Ort zur offenen Wunde in der Staatssymbolik stilisiert, eine Wunde, in die noch wirkungsvoll immer wieder das Salz des Verlusts auch der städtebaulichen Mitte gestreut wird. Die entscheidende Schwäche der Schlossgegner ist in der öffentlichen Debatte die Heterogenität ihrer Bewegung bzw. ihres Programms. Nur scheinbar bilden sie eine konsensuale Front. In Wirklichkeit stehen hinter ihr die vielen Palast-Anhänger, eine Art „schweigende Minderheit“ in den östlichen Teilen der Stadt, von der – wie zumeist im Falle mittelbar beteiligter Bürger - keine Visionen für die Weiterentwicklung des Schlossplatzes als Ganzem zu erwarten sind, weiter die für die Rettung des Palastes eintretende Fachöffentlichkeit, die nach dem Erfolg der Rettung des Staatsratsgebäudes erstens nicht mehr mit einem weiteren harmonisierenden Nachgeben der Politik rechnen darf und zweitens nunmehr viel stärkerem argumentativen Gegenwind ausgesetzt ist als bei dem mehr oder minder am Rande des Geschehens stehenden Staatsratsgebäude. Die dritte Strömung wiederum sind die zahlreichen Anhänger einer Neuinterpretation des gesamten Platzes, die sich insbesondere um die Architektenschaft scharen und ihrerseits zu einem beträchtlichen Teil aus jungen Architekten bestehen. Ihnen ist der Palast zunächst völlig wurscht, beeinträchtigt er doch vermeintlich die Wirkungsmöglichkeiten der Profession bei der Wiedergewinnung des städtischen Raums. Und der Wiederaufbau des Schlosses ist für sie ohnehin Teufelszeug, Historismus, nicht nur restaurativ-symbolische Rehabilitierung der Hohenzollern-Dynastie mit ihrem Imperialisten Wilhelm II., sondern überdies auch ein Anknüpfen an der als überkommen angesehenen städtebaulichen Vorstellung von einer hierarchischen Ausrichtung des Straßenrasters auf einen zentralen Punkt wie im Absolutismus, mithin die Verkörperung alles dessen, von dem man sich nur zu gerne architekturtheoretisch abgrenzt und überdies ein Eingeständnis der eigenen Überflüssigkeit und konzeptionellen Schwäche, sollte der Anspruch aufgegeben werden, durch zeitgenössische Architektur in der Lage zu sein, bedeutende Stadträume wegweisend auszugestalten. Populär, allerdings ohne sichtbaren argumentativen oder gar weitergehenden Erfolg, macht diese Auffassung der Altmeister der unabhängigen „modernen“ Architekturkritik, Manfred Sack, durch seinen im ZEIT-Magazin (vgl. ZEIT-Magazin 48/1995) gewürdigten inoffiziellen Wettbewerb unter NachwuchsArchitekten um einen Neuentwurf des von Schinkel definierten Bauakademie-Würfels in der Architektursprache der heutigen Zeit und damit in Abgrenzung zum weit Mega-Projekte und Stadtentwicklung 199 Abb.3: Städtebauliches Modell von Niebuhr, Quelle: S. 47 verbreiteten Wunsch nach einer Wiederherstellung des Gebäudes in der Formensprache des „zu seiner Zeit und bis heute radikal modernen“ Schinkel, so die verbreitete Berliner Sprachregelung. Man kann das Scheitern von Sack als ein Abprallen am Kartell der „steinern“ denkenden Berliner Architekturelite begreifen, doch ist aus finanziellen Gründen bis heute keine Fraktion entscheidende Schritte weiter gekommen. Eine verbindende planerische Vision bringen die Schlossgegner also nicht zuwege – auch die politischen Kräfte, die sich zu ihnen zählen, wie etwa die PDS oder auch Teile der Bündnisgrünen, erkennen gar nicht die Definitionsmacht von Bildern und setzen Boddien nie etwas entsprechendes entgegen. Es bleibt also der seit der Mitte der 1990er Jahre und mithin seit dem Scheitern einer Reihe hochfliegender Investitionshoffnungen schwelenden Zwischennutzungsfrage überlassen, sich zehn Jahre später des inzwischen durch die Asbestsanierung völlig ausgebeinten Palasts zu bemächtigen, nunmehr aber wiederum nicht eigentlich konzeptionell, sondern in Form des apolitischen Architekten Philipp Oswalt, der weniger stadtentwicklungsplanerische als eventkünstlerische Ideen über das zum Abriss bestimmte Skelett stülpt und ihm noch einen mediengerechten und würdigen Abgang verschaffen möchte (vgl. www.oswalt.de). Im Zusammenhang mit der beschriebenen Mobilisierungskraft der Schlossattrappe ist allerdings noch eine weitere entscheidende Wendung zu erwähnen, die den Schwung für die Schlossbefürworter erst vollständig erklärt: das Scheitern des Wettbewerbs Spreeinsel. Trotz der weit verbreiteten Ablehnung eines Schloss-Wiederaufbaus lässt sich alles, was Rang und Namen hat, auf Wettbewerbsvorgaben ein – der Wettbewerb erreicht einen weltweiten Teilnehmerrekord -, die zumindest städtebaulich in das restaurative Horn stoßen, argumentativ gestützt durch den Rettungsanker 200 Der Schlossplatz in Berlin im Licht der Großprojektforschung des Stadtgrundrisses als Gedächtnis der zerschundenen Stadt in der Flut unüberschaubarer Möglichkeiten einer Weiterentwicklung des von vielfältig überlagerten Zeitschichten geprägten Zentrums (SenStadt/BMVBW 2001:44). Eine Zerstörung der im Senat als wenig tragfähig erachteten sozialistischen Raumvorstellungen ist so als Nebenprodukt einer Neuordnung der Spreeinsel für die unterzubringenden Bundesbehörden zu erhalten, und ein weiteres Mal wird der Abriss des Palastes unter wenig reflektierten und sich überdies auf die ebenso wenig reflektierte Schlosskubatur stützenden Rahmenbedingungen sanktioniert. Zum ersten Mal zeigt sich im Ergebnis des Wettbewerbs, wenn auch noch ohne nachhaltigen Erfolg, eine Facette der Stadtpolitik, die sich später (vgl. 2.3) endgültig Bahn bricht und dabei kein Spezifikum der Spreeinsel-Planung ist: rudimentäre Konsensfindung als Schleifung der bedrohlichsten Konflikt-Spitzen in einer pseudoharmonisierenden Agglutinierung von Angeboten an alle Seiten. Dieser Mechanismus des „jedem etwas zugestehen und keinem über die Maßen schaden“ spiegelt die hyperpluralistische Entscheidungskonstellation, in der sich die Stadt befindet, idealtypisch wieder, kommt allerdings nur dann zum Tragen, wenn sich über Mobilisierungsmechanismen – welcher Art auch immer – eine Vielzahl von unterschiedlichsten Stimmen zu Wort meldet, also Hyperpluralismus überhaupt im Entscheidungsprozess spürbar wird und bildet dann offenbar den einzigen erfolgsträchtigen Ausweg, also vor allem bei planungspolitischen Entscheidungen von herausragendem Interesse und in zentralen Lagen. Der Mechanismus wirkt in der Wettbewerbsjury, die hinter den Sieger auch konkurrierende Vorstellungen vom Stadtgrundriss auf die weiteren prämierten Plätze setzt (darunter sogar den Erhalt von Palast und Staatsratsgebäude, in den Wettbewerbsvorgaben praktisch dem Abriss preisgegeben) und mit dem Architekten Niebuhr einen Sieger kürt, der formal alle Vorgaben erfüllt, aber als Bonbon zwei zusätzliche Merkmale mit sich bringt: möglicherweise wegen der Anonymität des Wettbewerbs nicht ganz kalkulierbar die Prämierung des jungen ideologiefreien Nachwuchses (sogar aus Berlin!) einerseits, aber andererseits und meines Erachtens ausschlaggebend für den Ausgang des Wettbewerbs die Idee des ellipsenförmigen Innenhofs im neuen Schlossareal als Absage an eine historistische Wiederherstellung des Schlosses (ohne dabei die Möglichkeit einer Wiederherstellung der straßenseitigen Fassade auszuschließen) und Bekenntnis zum Gestaltungswillen der in klarsten Urformen denkenden zeitgenössischen Architektenprofession. Der Wettbewerb ist somit in der Lage, alles offen zu halten und ein formal-städtebauliches Bekenntnis zum Schloss zu stabilisieren. Wegen der sich überschlagenden Änderungen in den Nutzungsvorstellungen der Bundesministerien scheitert er schließlich (SenStadt/BMVBW 2001:44) und gibt überdies mit dem Erhalt des Staatsratsgebäudes eines seiner wichtigsten Ziele, die Wiederherstellung des Stadtgrundrisses auf der Spreeinsel, ebenfalls preis (das Staatsratsgebäude hatte die Verbindung der Brüderstraße mit dem Schlossplatz überbaut, weshalb sein Abriss für erforderlich gehalten worden war). Vom Rand her werden allmählich weitere Flächen wie am heutigen Auswärtigen Amt definiert, doch für den eigentlichen Kern der Spreeinsel, den Schlossplatz, fehlen immer noch tragfähige offizielle Programme, die die Debatte entscheidend bestimmen könnten. Mega-Projekte und Stadtentwicklung 201 2.3 Vom Ort restaurativer Identitätsstiftung zum Ort des materialisierten Hyperpluralismus Während also die Zukunft des Schlossplatzes offen bleibt, stehen sich lediglich Eckpunkte einer künftigen Nutzung gegenüber: das provozierende Angebot eines Schloss-Wiederaufbaus und das öffentliche Bekenntnis zum Abriss des Palasts. Befürworter eines Palast-Erhalts aus dem inneren Zirkel der Entscheider begnügen sich wie Peter Conradi, damals im Bundestagsausschuss zum Hauptstadtumzug wegen seiner Herkunft aus der Architekturprofession einflussreiche Stimme der SPD, mit Hinweisen auf den finanziellen Wahnsinn eines Schloss-Wiederaufbaus und den schon damals klammen Bundeshaushalt, der solche Ideen als Luftnummern entlarve, kommen dabei aber an der Schaffung unabänderlicher Fakten und einer Veränderung der argumentativen Rahmenbedingungen durch die anstehende Asbestsanierung des Palasts sowie der symbolischen Kraft identitätsstiftender Gebäude, die sich in der Spendenkampagne für den Wiederaufbau der Dresdener Frauenkirche ausdrücken und so die Erprobung die öffentlichen Haushalte schonender stadtentwicklungspolitischer Realisierungsvarianten für Großprojekte auslösen wird, nicht vorbei. Mit der allmählichen Konkretisierung der Standorte für Bundeseinrichtungen verliert der Schlossplatz an Bedeutung, da an eine schnelle Bebauung und damit für den angepeilten Hauptstadtumzug pünktliche Bereitstellung von Büroflächen für ein Ministerium schon wegen der erforderlichen Asbestsanierung des Palastes nicht zu denken ist. So schießen angesichts der Ratlosigkeit über eine Nutzung der wie auch immer künftig aussehenden Gebäude auf dem Platz die Ideen aus allen Richtungen ins Kraut. Jetzt dürfen sich auch andere öffentliche Akteure wie Einrichtungen des Landes Berlin Hoffnungen machen, während niemand weiß, wie die Finanzierung von Neubauten aussehen könnte und deshalb als cash cows erstmals auch private Investoren als Partner erwogen werden. Mannigfache Probleme tun sich auf, aber insbesondere hat die durch die Schlossattrappe heraufbeschworene Symbolik des Orts inzwischen ein argumentatives Eigenleben entwickelt, das nun einer schnöden Kapitalisierung des Projekts Schlossplatz massiv im Wege steht. In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre verändert sich dann das argumentative Umfeld am Schlossplatz. Die gewandelte Thematisierung – zu den Fachleuten in den zuständigen Verwaltungen einerseits und den interessierten Bürgern andererseits treten die Produzenten des gesamten Areals nationaler Symbolik aus Politik und Feuilleton – verschiebt die Debatte. Erwähnenswert ist hier insbesondere die Serie von Entwürfen, die die Berliner Zeitung „Der Tagesspiegel“ ab Ende 1996 durch renommierte Architekten erarbeiten lässt (SenStadt/BMVBW 2001:70ff). Doch weiterhin wird versucht, die Frage der Zukunft des Platzes „intern“ zu lösen. Bereits im Mai 1996 beschließen die Bundesregierung und der Berliner Senat in ihrem Gemeinsamen Ausschuss ein Konzept für Nutzung und Finanzierung einer Bebauung, das ein „internationales Konferenzzentrum, eine große Bibliothek, Flächen für Wechselausstellungen sowie Geschäfte und Restaurants“ umfasst 202 Der Schlossplatz in Berlin im Licht der Großprojektforschung (SenStadt/BMVBW 2001:110). Erstmals wird unmittelbar deutlich, wie eine Lösung durch Anfüllung des neuen Projekts mit einer Vielfalt unterschiedlichster öffentlicher und kommerzieller Nutzungen ermöglicht werden soll, noch auf die Spitze getrieben durch den Versuch einer öffentlich-privaten Finanzierungslösung, wenngleich das nachfolgende Interessenbekundungsverfahren 1997/1998 „zu keinen umsetzbaren Ergebnissen [führte]“ (SenStadt/BMVBW 2001:110). Eine Analyse der Entwürfe (vgl. dazu beispielsweise SenStadt/BMVBW 2001:112ff) würde deutlich machen, wie problemlos sich teilnehmende Investoren darauf einlassen, diese Konfliktvermeidungsstrategie mitzuspielen und Versatzstücke von Schloss und Palast aneinander zu kleben. Doch die gesamte Bandbreite der eingereichten Konzepte, die von einem völlig neu errichteten „Weltenforum“ (SenStadt/BMVBW 2001:118f) bis hin zu einer relativ strengen Fassadenrekonstruktion (SenStadt/BMVBW 2001:116f) reichen, deutet darauf hin, dass es auch die hohen kommerziellen Flächenanteile sind, die den öffentlichen Auslobern nicht schmecken und eine Realisierung verhindern (vgl. auch SenStadt/BMVBW 2002a:14). Abb.4: Ansicht des Modells der Gruppe Deutsche Bank u.a. im Interessenbekundungsverfahren, Quelle: S. 112 Der Schlossplatz gerät nach dem tatsächlich vollzogenen Hauptstadtumzug Ende der 1990er Jahre noch stärker ins Blickfeld unterschiedlichster Akteure auf höchster politischer Ebene bis hin zu Bundeskanzler Gerhard Schröder, der zunächst seinen Amtssitz im Staatsratsgebäude nimmt und auf eine scheinbare städtebauliche Wüste schaut, der durch ein vermeintlich schönes Gebäude wohl neues Leben einzuhauchen sei. Neben städtebauliche, nutzungsbezogene, kulturkritische, denkmalpflegerische und architektonische Überlegungen treten verstärkt identitätsbezogene, die sich mit Boddien bereits angedeutet hatten, doch geht es nicht mehr allein um die Identität des Ensembles Unter den Linden, sondern mehr und mehr um die der Na- Mega-Projekte und Stadtentwicklung 203 tion. Eine auf dieser Ebene geführte Debatte wird aber zusehends weniger steuerbar und verliert an argumentativer Schärfe. Meinungsäußerungen und unausdiskutierte Bekenntnisse sind durchaus mediengängig und haben im Gegensatz zu den längst ausgetauschten und erstarrten Argumentationslinien der vorausgehenden Jahre eine neue Frische. Dies erklärt wohl mindestens zum Teil, warum oberflächliches auf einmal so viel Gehör erhält. Das Angebot der Schaffung neuer Flächen, für die es eigentlich keine richtigen Nutzungen gibt, ruft in dem beschriebenen Umfeld potentielle Nutznießer einer Umgestaltung auf den Plan, die gerade in dem merkwürdigen Konglomerat von Zielen sinnvoll operieren, das sich herausgebildet hat. Ein Ort nationaler Identität, der überdies als Immobilie funktionieren soll, so lässt sich das Zielkonglomerat interpretieren, muss reichlich Kultur enthalten, massengängig sein und sich vermarkten lassen, also letztendlich auch ein Touristenort sein. Nicht zufällig kommt so mit Nachdruck die Verlagerung der Museen in Dahlem (Völkerkunde, außereuropäische Kunst usw.) ins Gespräch, um die Museumsinsel zu einem der bedeutendsten Kulturstandort Europas aufzurüsten – die alte Hybris Berlins im Vergleich mit Paris erwacht zu neuem Leben (vgl. Frank 2002). Der unauflösbare Konflikt zwischen Palast- und Schlossbefürwortern ist zu ernsthaft, als dass ein vages Projekt, für das weder Haushaltsmittel des Bundes noch des Landes vorhanden sind und das wegen seiner symbolischen Bedeutung nicht leichtfertig in die Hände privater Investoren oder in die Obhut von privaten Spendensammlern gegeben werden soll, die Kraft besäße, die verständliche Unsicherheit der Entscheidungsträger zu überwinden. Risikovermeidung ist wie an vielen anderen Stellen die Maxime der öffentlichen Hand, die hier als Eigentümerin auftritt und damit ganz anderen Mechanismen unterliegt als ein privater Investor, den die Zinsen seines Grundstückserwerbs drücken. Risikovermeidung lässt sich aber sinnvoll nur durch Vermeidung übergroßer Provokationen einzelner Interessengruppen erreichen. Die Einsetzung der Schlossplatz-Kommission Anfang 2001 ist vor diesem Hintergrund überaus konsequent. Scheinbar lässt sich durch Einbeziehung von Experten aus allen Richtungen bis hin zum Unternehmerlager Legitimation der Tätigkeit erreichen, wenngleich die in der Kommission später vollzogenen Abstimmungen zum entscheidenden Punkt „Palast vs. Schloss“ knappe und sogar mehr oder minder zufällige Mehrheiten produzieren, die in einer Frage von der hier in Rede stehenden Tragweite kaum angemessen scheinen – noch weniger vor dem Hintergrund, dass offenbar der Eine oder Andere in der Kommission dieser entscheidenden Abstimmung gar nicht beiwohnen wollte. Der Auftrag der Kommission ist –trotz der Berufung auf das bereits 1996 im Gemeinsamen Ausschuss beschlossene Konzept (SenStadt/ BMVBW 2002a:11) - breit gesteckt und verschafft mit der Untersuchung sowohl der nutzungsbezogenen als auch der städtebaulich-gestalterischen und der finanziellen Seite des Projekts erstmals eine ernsthafte Bündelung der zuvor jahrelang unverbunden ablaufenden Entscheidungsstränge. Er sichert hinreichendes Konsenspotential, so dass es überhaupt vielversprechend erscheint, die umstrittene Frage nach der Architektur und die kaum lösbare nach der Finanzierung anzugehen. 204 Der Schlossplatz in Berlin im Licht der Großprojektforschung Die Kommission verteilt schließlich an alle Seiten Bonbons, indem sie einen postmodern mit Zitaten aller Vorgängerbauten beladenen Hybrid vorschlägt, der überdies innen noch modern sein darf. Die Auslotung der finanziellen Möglichkeiten führt zu keinem befriedigenden Ergebnis, und das Scheitern kann nur durch die Hoffnung auf eine Mischfinanzierung abgewendet werden. Scheinbar mangels Alternative stellen sich die Entscheidungsträger hinter das Konzept, dessen städtebaulicharchitektonischer Teil sich nur auf eine sehr mäßige Kommissionsmehrheit stützen kann – bis hin zu auffälligen Minderheitenvoten der „linken Architekten“ Conradi, Eichstädt-Bohlig und Flierl (vgl. SenStadt/BMVBW 2002a:33, 38). Man ist versucht zu vermuten, dass ein paar der Kommissionsmitglieder der Schlussabstimmung deshalb fernbleiben, damit sie bei den anderen nicht als Spielverderber dastehen. So schlägt sich im Ergebnis die aus der Risikovermeidung geborene Agglutination von widersprüchlichen Zielen nieder: Postmoderne Buntheit als Ausdruck einer hyperpluralistischen Gesellschaft, einschließlich der ihr innewohnenden Abneigung gegen autoritäre Entscheidungsmechanismen, wo diese ohne Not vermieden werden können (aber auch nur da). Hinter der Hartnäckigkeit, mit der die engagierten Architekten (Conradi, Eichstädt-Bohlig und Flierl) immer wieder auf Wettbewerbslösungen beharren, ist sicher mehr als bloßer Architekten-Lobbyismus, aus ihr spricht eine konsequente und respektwürdige Haltung. Es sind jedoch Zweifel erlaubt, ob an dieser Stelle die Mechanismen von Wettbewerbs-Jurys und der Zeitgeist des Augenblicks wirklich langfristig die tragfähigsten Resultate bringen würden. Die Fixierung auf das etablierte Instrument des Wettbewerbs mag seinen Protagonisten an dieser Stelle sogar insofern geschadet haben, als sie nicht bereit waren, für die anerkanntermaßen schwierige Aufgabe neue Entscheidungsmechanismen in der Kommission zu entwickeln und zu vertreten, auf die sich auch die anderen Beteiligten in ihrer ebenso redlichen Verantwortung für den Ort und seine Symbolik eingelassen hätten. Dessen ungeachtet ist zu würdigen, welche Einmütigkeit die Kommission im Hinblick auf die Stabilisierung des Nutzungskonzepts kennzeichnete. Das schließlich empfohlene „Humboldt-Forum“ aus Außereuropäischen Museen (derzeit Dahlemer Museen), Berliner Zentral- und Landesbibliothek und Wissenschaftssammlungen der Humboldt-Universität (vgl. SenStadt/BMVBW 2002a:24ff) ist insofern verlockend, als es die Nähe zu existierenden Nutzungen kultureller Art aufgreift. Dies verschafft wiederum Legitimation. Bei allen verbalen Bekenntnissen zu der „Volkshaus“-Idee (SenStadt/BMVBW 2002a:23), die die Nostalgiker des Palasts der Republik integrieren soll, fällt doch auf, dass trotz des ebenfalls in allernächster Nähe befindlichen Deutschen Historischen Museums offenbar eine Art „Museum der DDR“ nicht in Erwägung gezogen worden ist, obwohl sich in diesem Sinne die Innenausstattung des Palasts zwanglos hätte zu neuem Leben erwecken lassen. Stattdessen soll Geschichte ein neuer Filter übergestülpt und ein „kleines Museum ..., das die geschichtliche und baukulturelle Bedeutung des ehemaligen Berliner Schlosses und des Palastes der Republik würdigt“ (SenStadt/BMVBW 2002a:28) eingerichtet werden. Mega-Projekte und Stadtentwicklung 205 2.4 Die neue Ratlosigkeit, die bewährten Revitalisierungsrezepte und die Realgeschichte als Parallelstruktur Trotz der Sorgfalt ihrer Arbeit lässt sich auf die Empfehlungen der SchlossplatzKommission noch kein erfolgreiches Projekt gründen. Die blanke Not, die sich in der Haushaltslage des Jahres 2003 sowohl in Berlin als auch im Bund widerspiegelt, vereitelt ein klares Bekenntnis zu dem gewonnenen Scheinkonsens. Noch ehe weitere Schritte eingeleitet sind, macht der Berliner Stadtentwicklungssenator deutlich, dass auf dem Schlossplatz erst einmal gar nichts passieren wird (vgl. Berliner Zeitung 07.11.2003, 10.11.2003). So wird er statt zum Konglomerat der Ansprüche zum Konglomerat der Ratlosigkeiten und der Torsi, ein Angebot an die siebengescheiten Journalisten der nächsten Generation, wieder einmal den Entscheidungsträgern „Planungsfehler“ nachzuweisen, ohne zuzugestehen, dass es die ungünstigen Rahmenbedingungen waren, die Alternativen verhindert haben – zumindest unter einer Voraussetzung, für die die Planung beinahe gar nichts kann: Die jahrelange (politische) Verbreitung der Illusion, es handle sich bei einem Megaprojekt, das die öffentliche Hand in schwierigen Zeiten schultern möchte und an das höchste Ansprüche angelegt werden, um einen Ort, den man eben nur „machen“ muss, der also per Planungsverfahren und dessen Implementation herstellbar ist. Diese vermeintliche Normalität hat in Berlin gerade noch am Potsdamer Platz unter den Rahmenbedingungen großer Euphorie bei privaten Investoren funktioniert, während bereits die Weiterentwicklung des Alexanderplatzes „hängt“ (so dass man am Schlossplatz nicht mit der Schwäche der öffentlichen Hand argumentieren kann, will man den derzeitigen Stillstand treffend analysieren). Megaprojekte scheitern nicht nur an schwierigen Entscheidungsstrukturen, was die häufige Etablierung abgeschirmter Arenen nach sich zieht, die dann nachträglich als undemokratisches Element ihrer Durchsetzung analysiert werden. Sie scheitern auch an einer Unterschätzung der im Entscheidungsund Umsetzungsprozess zu schaffenden Rahmenbedingungen. Interessant am Fall des Schlossplatzes ist die jahrelange Parallelität, in der unabhängig von einander die städtebaulich-gestalterische, nutzungsbezogene und finanzielle Seite des Projekts diskutiert wurden, um nur punktuell zu einem Strang zusammenzulaufen. Gerade die Hartnäckigkeit, mit der über Jahre die finanziellen Probleme eines Schloss-Wiederaufbaus in der öffentlichen Debatte ignoriert wurden, verblüfft doch ein wenig. Und der Wiederaufbau der Dresdener Frauenkirche mit Spendengeldern stellt insofern kein Vorbild dar, als hier kein massiver Konflikt unter den Beteiligten überwunden werden musste. Die Entwicklung großer Flächen lässt sich auch in einem flexiblen Umfeld von einer Vielzahl von Akteuren über einen längeren Zeitraum des „Wachsens“ bewerkstelligen, wie zahlreiche erfolgreiche städtebauliche Entwicklungsmaßnahmen zeigen. Die Voraussetzung ist allerdings auch der Abschied von der geradezu absolutistisch anmutenden Machbarkeitsvision einer Umsetzung „aus einer Hand“. In diesem Sinne ist der Wiederaufbau des Schlosses vielleicht nicht ausschließlich deswegen problematisch, weil er ahistorisch an ein verlorenes Gebäude auf einem inzwischen „um- 206 Der Schlossplatz in Berlin im Licht der Großprojektforschung codierten“ Gelände, sondern weil er überdies an die nicht rückholbaren politischen Bedingungen seiner Entstehung (nicht zufällig zu einem beträchtlichen Teil während des Absolutismus) anknüpft. Zwar gibt es auch heute öffentliche Megaprojekte, die erfolgreich realisiert werden. Ihnen gebricht es jedoch an der Komplexität der Aufgabe, wie etwa der Wiederbebauung des Spreebogens oder der Museumsmeile in Bonn an symbolträchtigen Vorgängerbauten, die noch heute in der öffentlichen Debatte stehen, der Leipziger Messe oder dem Flughafenbau im Erdinger Moos, die man als quasi öffentliche Projekte ansehen kann, an der symbolischen Aufladung (ihre Realisierung war kompliziert genug), und wo die Situation ähnlich komplex ist wie am Schlossplatz in Berlin, zeichnen sich auch vergleichbare Schwierigkeiten ab, so etwa beim Projekt Stuttgart 21. Wo ein Ort durch ein Megaprojekt massiv umgestaltet werden soll und man ihm in seiner existierenden Form die gesellschaftliche Wertschätzung abspricht, kann man nicht davon ausgehen, dass aus dieser Entwertung bereits die „Kraft“ zur Neugestaltung erwächst und muss daher auf neue Wege der Veränderung setzen, will man nicht jahrzehntelange Übergangsphasen in Kauf nehmen, die am Stuttgarter Hauptbahnhof oder in München-Riem noch vergleichsweise unproblematisch gewesen sind. Das Problematische an der Illusion von der Normalität des Verfahrens ist die Tatsache, dass sie andere Ansätze einer Inbesitznahme und Wiedergewinnung des Orts ausschließt. Nicht zufällig ist bis vor wenigen Monaten über eine Zwischennutzung des Palasts nicht ernsthaft debattiert worden, und auch derzeit steht sie in den Sternen. Doch gerade aus ihr kann sich ein möglicher neuer Zugang zum Ort entwickeln, der allerdings wiederum die Möglichkeit des Scheiterns des Wiederaufbauprojekts in sich trägt. Hier wirkt das oben angesprochene Phänomen der Schaffung abgeschotteter Entscheidungsarenen bei Großprojekten. 3. Eine Analyse des Verlaufs der Debatte Das Erstaunliche an der Schlossplatzdebatte ist, dass die zunächst in Berlin geradezu tabuisiert erscheinende Position für einen Wiederaufbau Raum greift und sich mehr oder minder durchsetzt, allerdings mit einigen aufschlussreichen Kompromissen, die teilweise bewusst gesucht werden, teilweise mehr oder minder entstehen. Die Konkretisierung und Hegemonialisierung eines Projekts, das von Anfang an nicht nur auf (zurückhaltenden) Widerstand stößt, sondern überdies gegen den schwerwiegenden Makel des hohen finanziellen Aufwands ankämpfen muss, ist nicht ohne Besonderheiten des Debattenverlaufs zu verstehen, der im Folgenden aus einigen entscheidungsrelevanter Blickwinkeln in zugespitzter Form analysiert werden soll. 3.1 Wer strukturiert die Debatte und unter welchen Rahmenbedingungen läuft sie ab? Die Debatte wird nicht von den „üblichen Verdächtigen“ des Stadtentwicklungsprozesses strukturiert. Hierfür gibt es einige manifeste Gründe. Die symbolische Bedeutung des Projekts verschafft angesichts des öffentlichen Eigentums und der Mega-Projekte und Stadtentwicklung 207 vorgeschalteten Asbestsanierungsfrage der Auseinandersetzung Zeit in großem Umfang. Der dadurch ausgelöste stadtentwicklungsbezogene Stillstand wird als misslich empfunden und erlaubt schließlich die Formulierung von Missbehagen gegenüber dem weiteren Nachdenken auch ohne sich abzeichnenden planerischen Konsens. So gewinnen Lösungsvorschläge an Boden, die in weiten Teilen konzeptionelle Lücken aufweisen und dennoch die zur Langsamkeit verurteilten Entscheidungsträger unter Druck setzen. Nicht die Lösung von Teilproblemen bringt also Dynamik in die Debatte, sondern die Mobilisierungsfähigkeit von selektiven „Entscheidungsangeboten“. Als Schlüssel ist sicherlich anzusehen, dass einer der wesentlichen Eigentümer der Immobilien am Platz, der Bund, über lange Zeit keine einheitliche Position zu formulieren in der Lage ist, sondern gewissermaßen mit anderen Akzentsetzungen die innere Spaltung der Stadtgesellschaft oder gar der Nation widerspiegelt. Nach der allmählichen Konsolidierung der Umzugskonzeption fallen die Ministerien als Katalysatoren von Entscheidungsprozessen aus, und das Vakuum wird kaum ernsthaft gefüllt. Verwertungsdruck herrscht nicht, eher Verwertungsangst, da eine bauliche Nutzung des Platzes zunächst hoher Anfangsinvestitionen bedarf. Das Land Berlin wiederum, verkörpert zumindest durch die zuständige Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, kann dem übermächtigen Bund keine Debatte aufzwingen und wäre gar nicht in der Lage dazu, durchschlagende Positionen gegen ein Konzept des Bunds für oder gegen den Palast zu beziehen. Sie ist allerdings Schlüsselakteurin bei der Thematisierung von Randthemen, die die langfristige Einbindung des wie auch immer geplanten Ensembles sicherstellen sollen, und befördert in diesem Sinne die Wiederherstellung des Lustgartens und den Wiederaufbau der Schinkelschen Bauakademie. Gegen Sachzwänge ist sie machtlos und erwägt einen verkehrlichen Rückbau des Raums nicht ernsthaft. An eine starke Argumentation für ein bestimmtes Konzept aus der Sicht der Aufenthaltsqualität für Bewohner oder Gäste ist mithin gar nicht zu denken, auch wenn vereinzelte Maßnahmen dazu einen Beitrag leisten (wie etwa gerade der Umbau des Lustgartens). Die offensichtlich schwierige städtebauliche Aufgabe wird so zum Betätigungsfeld einer Phalanx von Architekten, deren Vorschläge aber sämtlich wieder schnell in Vergessenheit geraten, da ihr Beitrag zur Lösung der Kernprobleme (Nutzungsverteilung, Finanzierung, Gliederung des öffentlichen Raums) auf der gewählten Maßstabsebene gar nicht überzeugend vorgebracht werden kann. Dagegen sind die anschaulichen Polarisierungen für den Palast bzw. das Schloss, wiederum ohne ihrerseits weitergehende konzeptionelle Beiträge zu leisten, schnell in der verkürzten öffentlichen Debatte transportierbar. Dass sie überhaupt geäußert werden, hat mit der hohen Symbolkraft des Orts zu tun. Das Projekt weist diesbezüglich ganz andere Ausgangsbedingungen als große Infrastrukturprojekte auf, die häufig außerhalb der Stadt liegen sollen. Während dort Umweltschützer oder Anrainer mobilisiert werden können, zeigt sich am Beispiel des Schlossplatzes, wer sich überhaupt so stark für das Berliner Zentrum interessiert und dabei weder berufsbetroffener Architekt noch Anwohner ist (die gibt es praktisch nicht), dass er oder sie bereit ist, sich mit ungewissem Ausgang für den nur mittelbar der eigenen Lebenswelt zuzurechnenden Ort 208 Der Schlossplatz in Berlin im Licht der Großprojektforschung einzusetzen. Stadtkulturelle Argumentationen gewinnen hierbei an Boden, weil sie reklamieren können, einen Kern des Entscheidungsproblems zu thematisieren und weil ihnen keine mächtigen ökonomischen Interessen entgegenstehen. Die historistisch argumentierenden Wiederaufbau-Anhänger mögen ein für manche Beteiligten merkwürdiges Kulturverständnis haben, doch unterliegen sie den gleichen Rahmenbedingungen im Kampf um Aufmerksamkeit. Genau aus diesem Grund, der eingehenden Thematisierung der stadtkulturellen Bezüge, können sie als „Experten“ nicht mehr ignoriert werden, was sich insbesondere an der Rolle von Goerd Peschken ablesen lässt, der über alle Anfeindungen erhaben ist, die beispielsweise dem Umfeld der Gesellschaft Historisches Berlin e.V. zuteil werden. Von beachtlicher Bedeutung für den Verlauf der Debatte ist sicherlich auch die Beteiligung von Bundestagsabgeordneten, die weder Berliner sind noch aus dem Bereich Bauen und Planung stammen. Einzelpersonen können auf einmal völlig überraschend erscheinende Positionen ins Spiel bringen, die dem in langen Jahren in Berlin erarbeiteten Fachkonsens entgegenstehen – etwa die restaurativ wirkende Kulturpolitik von Antje Vollmer oder die „Das Schloss wäre schön“-Rhetorik von Gerhard Schröder. 3.2 Welche Fragestellungen werden überhaupt diskutiert? Auffällig ist die bereits erwähnte Reduzierung der Debatte auf die bildliche Wirkung des Platzes, also letztlich auf die Fassaden und – bereits in eingeschränktem Umfang – die städtebauliche Ausrichtung - des Palastes und des Schlosses. Dabei werden typischerweise Nutzungs- und Finanzierungsfragen außen vor gelassen bzw. parallel diskutiert. Dies ist zwar keine Spezifik des Schlossplatzes, vielmehr die Tatsache, dass das Fehlen eines Nutzungskonzepts und eines potenten Investors die dominierende Stellung der Fassadendebatte zumindest in der öffentlichen Diskussion konstituiert. Man mag dies beklagen, doch stellt es sich bei der Produktion symbolischer Orte als wiederkehrendes Muster heraus. Es wäre also weniger zu fragen, ob die Diskussion so hätte verlaufen sollen, sondern ob die zugeschriebene Symbolik dem Ort angemessen ist und wenn ja, wer an der Reformulierung dieser Symbolik nach dem Ende des Kalten Kriegs beteiligt hätte werden sollen. Eine Ausgrenzung von Beteiligungsmöglichkeiten ist jedenfalls im Vergleich mit anderen Megaprojekten nicht ernsthaft zu konstituieren. Die Schloss-Befürworter waren allerdings eher in der Lage, informelle Bündnisse mit einflussreichen Personen und Organisationen zu schließen, die ihnen erlaubten, die wieder gewonnene Symbolik des Schlosses als positive Perspektive in kultureller, städtebaulicher und nutzungsbezogener Art zu verkaufen – zumindest wenn man diese mit den angebotenen Alternativen vergleicht. Zwei Elemente des Entscheidungsprozesses verdienen an dieser Stelle besondere Erwähnung. Gabi Dolff-Bonekämper (Dolff-Bonekämper 2003) hat erstens darauf hingewiesen, dass der Palast durch seinen Innenraum und das Schloss durch seine äußere Erscheinung die jeweiligen Anhänger beeindruckt. Das stadträumliche Erlebnis des Schlosses ist offenbar eher in der Lage gewesen, Handlungsdruck zu produzieren, als es – gerade unter dem Damoklesschwert der anstehenden Asbestsanierung Mega-Projekte und Stadtentwicklung 209 – die Erinnerung an die Nutzbarkeit des Palast-Innenraums vermochte. Dass darüber eine Neubaulösung am Platz nicht schmackhaft gemacht werden konnte, dürfte wieder – neben den bereits gemachten Anmerkungen – auf die Risikovermeidung der öffentlichen Hand (hier vor allem der Bund) zurückzuführen sein, die unterschiedlichste Ziele möglichst zwanglos in ihr Konzept integrieren möchte (daher auch die Rede von einer möglichen Sanierung einzelner Fassaden des Schlosses, die aus der Kommissionsempfehlung abzulesen ist), die Schwäche der Architekten, ohne konkreten Auftrag über schematische Klötzchen in Modellen hinaus massenwirksame Raumkonzepte zu transportieren, die Befürchtung, ein Neubau werde der Symbolik des Orts nicht gerecht u.v.m. Zweitens stellt die Berufung auf die traditionellen Größen – insbesondere Schinkel und Schlüter - im geschundenen Berlin immer wieder ein Reservoir der Konsensstiftung dar. Obgleich also Schlüter durch sein Münzturm-Debakel als Schlossbaumeister gescheitert ist, schart er mit seiner vom römischen Palazzo Madama adaptierten Fassade noch immer heterogene Fangemeinden hinter sich. In der Tradition der Hagiographie werden von Fachleuten bis hin zu dem ehemaligen Obersten Denkmalpfleger Berlins Engel immer neue Interpretationen produziert, die sich an Details der „Größe“ bestimmter Entwürfe festbeißen und damit den Beurteilungsrahmen für einen Ort völlig neu strukturieren – eine Diskussion über Neubauten muss gegen diese Art der Debatte erst mühsam eingefordert werden, die suggeriert, es könne nur darum gehen, sich im Rahmen einer Rekonstruktion an der Qualität der Altvorderen zu messen (vgl. hierzu beispielsweise Engel 1998). In einer solchen Debatte kommt sicher der publizistischen Rolle schöner Bildbände eine wichtige Rolle zu – also gewissermaßen der wenigstens teilweise konsensstiftenden Rolle eines Begriffs von „Schönheit“, wie in beispielsweise Hoffmann-Axthelm in seinen Vorstellungen von Denkmalpflege immer wieder deutlich macht (vgl. Altrock 2001). Alle genannten Merkmale der Debatte scheinen gewissermaßen statisch die Kräfteverhältnisse und Positionen zu benennen, also sozusagen die Möglichkeiten eines Debattenverlaufs. Doch Debatten werden jenseits der Einzelauffassungen durch die lancierten Fragestellungen erst „gemacht“. Und hier ist erstaunlich, dass die von vornherein absehbare Dauer des Entscheidungsprozesses nicht von den federführenden Akteuren dazu genutzt wurde, die Irreversibilität bestimmter Einzelentscheidungen wie der Asbestsanierung des Palasts oder die grundsätzliche Definition des Projekts als zusammenhängendes Großprojekt in Frage zu stellen, im Rahmen dessen städtebauliche, nutzungsbezogene, architektonische und finanzielle Fragen als Block zu begreifen seien. Im Vergleich dazu sei beispielsweise angemerkt, dass gerade am Potsdamer Platz, der wegen des Engagements privater Investoren viel eher nach einer Gesamtlösung zu rufen scheint, das Instrument des Koordinierungsbebauungsplans erdacht und angewendet wurde (vgl. Sichter 2000), um die Komplexität des Projekts in der Umsetzung zu reduzieren und lediglich erste grobe Fixpunkte verbindlich zu machen, so dass in diesem Rahmen später Einzelprojekte weiterentwickelt werden können. Und das äußerst umstrittene Planwerk Innenstadt hat von Anfang an deutlich gemacht, an welcher Stelle es auf welche Art der Parzellierung es 210 Der Schlossplatz in Berlin im Licht der Großprojektforschung setzt und damit auch, welche Finanzierungsmodelle überhaupt denkbar sind (Größe der Parzellen und zugehörige Investorenstruktur!) (Vgl. SenSUT 1997). Man mag das Planwerk für die dabei getroffenen inhaltlichen Festlegungen kritisieren, doch hat es die betreffende Frage überhaupt erst thematisiert, was deutlich macht, dass auch ein öffentlicher Eigentümer nicht gezwungen ist, gluckenhaft über sein Territorium zu walten, bis auch die letzte Detailentscheidung gefallen ist. 3.3 Welche Ressourcen spielen eine Rolle? Da finanzielle Ressourcen bislang am Schlossplatz keine Rolle gespielt haben, sieht die Verteilung einflussreicher Ressourcen im Entscheidungsprozess ganz anders aus als üblich. Dabei ist erfolgreich, wer Perspektiven auf Problemlösung vermitteln kann – geradezu paradigmatisch verkörpert in der Schlossfassade von Boddien, die keinerlei ausgearbeitete Lösung für den Platz anbietet, sondern eben eine Hoffnung auf die Möglichkeit der Lösung transportiert. Dies gilt auch für die Ressource Geld. Das Versprechen der Sammlung von Spenden kann nicht ignoriert werden und verleiht der Idee des Schloss-Wiederaufbaus einen legitimen Platz in der Debatte. Architektonische Ideen in Form von Modellen bleiben Schall und Rauch, wenn sie nicht an anderen Akteuren und ihren Problemen anknüpfen, wie zeitweise der Wettbewerbssiegerentwurf von Niebuhr und das in seinem ovalen Innenhof geäußerte Versprechen auf kreativen Einsatz des architektonischen Formenrepertoires. In umgekehrter Richtung kann ein Lösungsvorschlag nicht verfangen, wenn er keine Perspektive für die Frage nach der städtebaulichen Scharnierfunktion Unter den Linden – KarlLiebknecht-Straße bietet. Wird diese Perspektive vermittelt, sind auf einmal wieder vielfältigste und teilweise in sich widersprüchliche Teillösungen denkbar wie der Erhalt des Volkskammersaals neben der wieder aufgebauten Lustgartenfassade, die die Linden eigentlich würdig abschließen soll und nun immer noch das Erscheinungsbild des negativ stigmatisierten Palastes an der prominenten Stelle in der Blickachse der Linden transportieren soll (vgl. die Kommissions-Empfehlungen zu einer Prüfung des Erhalts des Volkskammersaals in SenStadt/BMVBW 2002a). Und wiederum gilt das Gesagte auch für die Palastanhänger, die in der Debatte so lange marginalisiert werden, wie sie keine Perspektive für die Lösung der als drängend empfundenen Probleme des Schlossplatzes anbieten. 3.4 Auf welche Weise werden die Konflikte abgearbeitet und warum? Konfliktbearbeitung im Fall des Schlossplatzes wahrt stets den Schein der erreichbaren Gesamtlösung. Eine prozessuale Herangehensweise, die aus den feststehenden Konsensen unter den Akteuren bereits bauliche Aktivitäten ableiten kann, ist lediglich an den Rändern des Platzes ablesbar und inzwischen – nach Umgestaltung des Lustgartens, der Debatte um die Nachnutzung des Staatsratsgebäudes und dem Bau des Auswärtigen Amts - in ihrer Definitionskraft erschöpft. Für den Platz selbst werden Konflikte dagegen ohne Wirkung für die reale Entwicklung durch Abspaltung Mega-Projekte und Stadtentwicklung 211 von Teilentscheidungen allmählich auf den Kern des Dissenses zurückgeführt, der in der gestalterischen Lösung der Fassade und der Finanzierung liegt und offenbar wegen der Unversöhnbarkeit der Einzelpositionen nicht lösbar ist. Dies betrifft vor allem die Nutzung der Gebäude, die jedoch lange Zeit auf wackeligen Füßen bleibt. In einer Gesamtbetrachtung wird deutlich, dass der Schein von entscheidungsrelevanter Tätigkeit in der Kommission und anderen verantwortlichen Gremien unter dem „Druck“ der Öffentlichkeit, insbesondere der Schloss-Anhänger, aufrechterhalten werden soll. Die nutzungsbezogene Debatte entbehrt einer hinreichenden Solidität, da von allen Seiten lediglich Partiallösungen vorgeschlagen werden, die insgesamt aber den materiellen Entscheidungsprozess ganz jenseits aller Überlegungen zur Fassade überfordern: Die Überlegungen zu einer öffentlich-privaten Partnerschaft lassen die Vorbehalte gegenüber einer Kommerzialisierung außen vor, die Nutzung als Erweiterung für die Museumsinsel vernachlässigt ernst zu nehmende Überlegungen zur dann ungeklärten Zukunft des Dahlemer Museumsstandorts (Frank 2002), die Nutzung als Bibliothek und Kulturzentrum wiederum die Finanzierung usw. Die Kommission hat hier einen verdienstvollen Anlauf gewagt, die bestehenden nutzungsbezogenen Ansätze zu verzahnen und zu versöhnen, ist aber bei diesem Verfahren in ihren begrenzten Rahmenbedingungen stecken geblieben. Auch sie konnte die Finanzierungsbedingungen trotz ihrer umfangreichen Modelle nicht klären und scheiterte letztlich daran, dass sie den Ort zu einem Zeitpunkt als Gesamtprojekt begreifen musste, da der Eigentümer der entscheidenden Immobilie, der Bund, bereits seine wesentlichen konsensstiftenden Nutzungsangebote anderweitig untergebracht hat. Der Widerspruch zwischen symbolischem Anspruch an den Standort und Nichtvorhandensein von Nutzungsideen mit hinreichender Symbolik bleibt unauflösbar. Betrachtet man die Leistungsfähigkeit des Planungssystems, das oft wegen seiner Neigung zur Übergewichtung von Bedenkenträgerei kritisiert wird, muss man eigentlich konstatieren, dass es im Fall des Schlossplatzes seine ganzen Stärken ausspielen konnte – es hat eine riesige Menge von Einzelaspekten berücksichtigen können. Zum Ziel ist man dadurch aber dennoch nicht gekommen. Handlungsfähig würde es erst dann, wenn – wie in der Verwaltungswissenschaft als Forderung nicht unüblich – der Regelungsgegenstand und die dafür verfügbaren Ressourcen zu einander passen würden. Das ist im vorliegenden Fall aber nur durch übergroßen Konsens erreichbar, da ansonsten nicht mit einer Bereitstellung von öffentlichen Mitteln zu rechnen ist. Eine Reifung der Ideen, die Anfang der 1990er Jahre von einem Verzicht auf schnelle Entscheidungen erhofft worden war, ist eingetreten, doch ist sie überlagert von der Erosion von zugeschriebenen Bedeutungen und selektiver Erinnerung. Möglicherweise hat es dem Verfahren daran gefehlt, über die Schloss-Attrappe hinaus unterschiedliche Visionen modellhaft ausprobieren zu können. Gerade neue Architektur hatte auf diese Weise keine Chance, die immer wieder im Zusammenhang mit ihr geäußerten Befürchtungen zu zerstreuen. Eine aktive Festivalisierung im besten Sinne ist am Schlossplatz ausgeblieben – er konnte eigentlich keine Identität gewinnen, für die dann schließlich ein Gebäude notwendig hätte werden können. So ist er eigentlich „Restfläche“ geblieben, in die alle überquellenden Flächenansprüche 212 Der Schlossplatz in Berlin im Licht der Großprojektforschung hinein diffundiert sind und dann zu dem Nutzungskonglomerat der Kommissionsentscheidung geführt haben. Das muss nicht schlecht sein, steht aber in einem merkwürdigen Widerspruch zum Anspruch, der an den symbolträchtigen Ort immer wieder gerichtet wird. 4. Eine Zukunft für den Schlossplatz? Der Wiederaufbau des Schlosses ist zumindest vorübergehend gescheitert. Ein schlüssiges Konzept liegt auch mit der Kommissionsempfehlung über ein Jahrzehnt nach der Vereinigung nicht vor. Eine Dynamisierung des Prozesses, die die stufenweise Weiterentwicklung des Projekts erlauben würde, etwa durch Aufteilung des Platzes in verschiedene Nutzungszonen und deren allmähliche Entwicklung durch die öffentliche Hand, große Investoren und Mittelständler, also eine Interpretation des Orts als komplexes städtisches Gefüge anstatt als Einzelstandort, ist niemals ernsthaft erwogen worden, so dass immer noch auf das Ei des Kolumbus in Form einer Lösung aus einem Guss gewartet wird. Die nun mittelfristig vorgesehene Wiese ist der schlagende Ausdruck des Scheiterns von Politik insofern, als sie über ein Jahrzehnt nach Beginn des Diskussionsprozesses anvisiert wird. Wo liegen die Ansätze für einen neuen Anlauf jenseits der Perspektive auf die neuerliche Überhöhung des sozialistischen Raumverständnisses in der Berliner Mitte, die sich in der Verknüpfung des Marx-Engels-Forums, des Lustgartens und des schon jetzt nach Westen erweiterten Schlossplatzes durch die zukünftige Palastwiese zu einer städtebaulichen Leere im historischen Zentrum der Stadt ausdrückt, die von ihren Ausmaßen selbst den Roten Platz in Moskau als Inbegriff der Verfügbarkeit von Raum für sozialistische Massenversammlungen verschiedenster Art übertrifft? Wenn der (sozialmarktwirtschaftliche) Staat auf dem Rückzug und die Zivilgesellschaft im Kommen ist, wie vielfach immer wieder geplappert wird, dann ist angemessene Symbolik in Deutschland nur noch von einer Rückgabe des Orts an die Zivilgesellschaft zu erwarten. Das muss nicht zwangsläufig die Rettung des Palasts der Republik bedeuten, wenngleich der Autor dieser Lösung über die Jahre eine Menge abgewinnen konnte und sie mit gewissen Eingriffen auch heute noch befürworten würde. Eine zielgerichtete Rückgabe ist aber offenbar unvereinbar mit dem großen Gesamtwurf. Rückgabe an die Zivilgesellschaft würde die Gründung eines Kuratoriums Schlossplatz bedeuten, die Kriterien für die Auswahl von Bewerbern für Teile des Grundstücks entwickelt, Kriterien im Sinne einer zivilgesellschaftlichen Symbolik, die dem Ort angemessen erscheint. Dieses Kuratorium würde die Vorgaben für eine kleine Liegenschaftsgesellschaft formulieren, die mit der Planung, Aufteilung, Vergabe und Vermarktung des Orts betraut wird, einem Träger, dem nicht der zweifelhafte Ruf der Treuhand anhaften dürfte, der auch nicht an einer Maximalverwertung des Orts interessiert sein müsste, zumal ein Marktpreis für einen Ort der Öffentlichkeit nicht allein nach den Kriterien der Preisbildung bei den umliegenden Grundstücken unterliegen dürfte. Im Ergebnis würde neu gebaut, aber nicht gleich in erschlagenden Schloss-Ausmaßen. Städtebauliche Grundanforderungen – wie etwa die Frage Mega-Projekte und Stadtentwicklung 213 der Scharnierfunktion Unter den Linden – Karl-Liebknecht-Straße ließen sich ohne Schwierigkeiten planerisch lösen, da das Konzept nicht von vielfältigen Ansprüchen überfrachtet wäre. Ein Ensemble könnte entstehen, das viel eher das Volk repräsentiert als ein nur für auswärtige Staatsgäste zugänglicher Gästehauskomplex, wie er etwa zur Füllung eines wiedererrichteten Schlosses als symbolische Nutzung aus der Erkenntnis des fehlenden Pendants zum Bonner Petersberg-Komplex in Berlin mit einigem Scharfsinn ausgeheckt worden ist (aber schließlich vom Bund gar nicht benötigt wird, vgl. SenStadt/BMVBW 2002a:23). Ein Aufbrechen in Einzelbausteine des Komplexes würde Spielraum für eine Weiterentwicklung von Konzepten geben. Anknüpfungen an die Museumsinsel und andere öffentliche Nutzungen im Umfeld, etwa die Theater, wären möglich, ohne dem Ort die auftrumpfende Großspurigkeit des „größten Museumskomplexes in Europa“ zu geben. Die Vitalität der Zivilgesellschaft wäre an einem der wichtigsten Orte der Hauptstadt präsent und zugänglich, sie würde als ergänzende Kraft der Politik auch räumlich spürbar und könnte innere Vernetzungen aufbauen, und zwar nicht vorrangig als lobbyistischer Großkomplex, obwohl es nicht ohne Reiz ist, dass sich die Sitze von Spitzenverbänden sogar in der Nähe befinden – man denke an das ebenfalls auf der Spreeinsel befindliche Haus der Industrie. Gewissermaßen würde es sich also sogar um einen Gegenpol zur immer stärker werdenden Macht der Lobbyisten in der Politik handeln. Wer wären die möglichen Nutzer in einem solchen Zusammenhang? Sie könnten reichen von Nichtregierungsorganisationen bis zu Vertretungen der Wissenschaft und Forschung. Sie könnten ungeachtet der derzeitigen Abrisspläne für den Palast der Republik in der Entwicklungsphase des Komplexes ergänzt werden durch kulturelle Zwischennutzer von Gebäuden oder Freiflächen. Die Multikulturalität, die sich in Museen, Kultureinrichtungen und der Nähe des Auswärtigen Amts schon heute widerspiegelt, ließe sich ergänzen durch einen dauerhaften Ort der Begegnung zwischen den Kulturen, gewissermaßen als Mischung aus Dauer-Expo, politischer Repräsentanz der Welt in Berlin mit Konsularabteilungen der Botschaften und Dauer-Tourismus-Börse. Länder, Städte und Gemeinden in Deutschland könnten den Ort ihrerseits für Veranstaltungen und zur Selbstdarstellung nutzen. Damit würde dem Ort nicht einfach durch Masse eine zusätzliche museale Attraktivität verliehen, sondern er würde eine neue Qualität erhalten, die den Höhepunkten der Museumsinsel an die Seite gestellt werden könnte. Die Vielgliedrigkeit der Nutzungsfacetten würde einerseits eine Kleinteiligkeit der baulichen und städtebaulichen Struktur nach sich ziehen. Andererseits ist sie gerade in idealer Weise mit ephemeren Bauten zu kombinieren, ja sogar der Rest des Palasts der Republik in seiner heutigen Form könnte einer neuen würdigen Nutzung zugeführt werden. Kleinteiligkeit bedeutet Reversibilität von architektonischen Fehlgriffen, ohne die Gesamtlösung in Frage stellen zu müssen. Ephemere Strukturen erlauben Weiterentwicklung und Konsolidierung. So würde eine vielversprechende Verzahnung von Nutzungsstruktur und baulich-städtebaulicher Strategie entstehen, die den Ort bereits von Anfang an zu beleben und mit Sinn zu erfüllen in der Lage ist. Privates Kapital, das am Schlossplatz investiert, wäre auch mittelständisches Kapital 214 Der Schlossplatz in Berlin im Licht der Großprojektforschung und nicht Immobiliengroßkapital allein. Abhängigkeiten von Einzelinvestoren und einseitigen Verwertungskonzepten wären nicht zu befürchten. Das Warten auf eine Ergänzung durch viele Einzelbausteine von kleineren Nutzern und Investoren würde zur Kultur. Prozessuale Stadtentwicklung würde wieder einen Sinn bekommen und nicht wegen des horror vacui auf nur teilbelegte Flächen starrender Entscheidungsträger dadurch beendet, dass man sich in die vermeintlich rettenden Arme eines das eigene Konzept verwässernden und oftmals dennoch nicht erfolgreichen anonymen Investors wirft. Gestalterische Entwicklung würde durch funktionale Entwicklung angetrieben und nicht umgekehrt zwanghaft nach Nutzungen gesucht werden, die sich in einem Schloss-Großbau verwirklichen lassen und die dennoch nicht den Ruch des preußischen Autoritarismus bergen. Eine Mitnutzung von Freiflächen würde deren sinnvolle Integration bedeuten, ohne krampfhaft nach weiteren Zelten suchen zu müssen, die man wieder einmal für ein paar Monate auf dem Schlossplatz abladen kann, um dort die innerstädtische Version einer La-Strada-Melancholie der verarmten italienischen Peripherie aus einer längst vergangenen Zeit auferstehen zu lassen. Diese Vision, man mag sie für vielversprechend oder problematisch halten, wird sich nicht bewahrheiten. Sie bedeutet bei aller Offenheit des Konzepts nämlich eines ganz explizit: eine Absage an den Wiederaufbau des Schlosses, der offenbar trotz aller Schwierigkeiten des Konzepts, die oben geschildert wurden und die nicht allein auf die Finanzschwäche des Bunds zurückzuführen sind, zu einflussreiche Anhänger besitzt, obwohl diese dem Prozess einer Sinnstiftung für den Schlossplatz in den vergangenen Jahren – wie inzwischen wohl deutlich geworden sein dürfte - massiv im Wege gestanden sind. 5. Der Schlossplatz und die Großprojektforschung Wenngleich sich die Debatte um den Schlossplatz in die Großprojektforschung einordnen lässt, wird doch deutlich, dass letztere um ein Kernelement ergänzt werden muss: die Erklärung des Erfolgs oder Scheiterns von offenen Projekten. Alle kritischen wie positiven Analysen der Mobilisierungs- und Bündnisfähigkeit von Akteuren und der Veränderung von Entscheidungsroutinen im Falle von Großprojekten gehen davon aus, dass eine ganz spezifische Aufgabenstellung, die Organisation von handlungsfähigen Bündnissen zwischen wesentlichen Ressourcenträgern, erfolgreich oder weniger erfolgreich gelöst wird. Dies betrifft die Ausgrenzung und selektive Berücksichtigung von Bürgern im Falle eines Flughafenneubaus gleichermaßen wie beim Scheitern des Transrapid-Projekts. Sie verbindet die Tatsache, dass das Projekt prinzipiell feststeht und gegen Widerstände aus den verschiedensten Reihen einschließlich der eigenen (Verfügbarmachung der eingeplanten Ressourcen!) durchgesetzt werden soll, im Zweifelsfall eben unter Inkaufnahme von Kompromissen oder nach Diskussion von Alternativen. Die Formung der Politik eines Großprojektes selbst führt zu gänzlich anderen Mechanismen, die bei der Untersuchung der prinzipiell feststehenden Projekte außen vor bleiben, aber im Falle des Schlossplatzes von zentraler Bedeutung sind. Mega-Projekte und Stadtentwicklung 215 Es bleibt die Frage, ob ähnliche Situationen häufig vorkommen oder ob der Schlossplatz einen Sonderfall darstellt. Gerade öffentliche Bauvorhaben mit hohem symbolischem Widerhall gehören in diese Kategorie, so dass sich schnell eine ganze Reihe von Fallstudienobjekten nennen lässt, etwa die Frage nach den Gründen für die Entwicklung der Ost-West-Achse in Paris und die sich daran anknüpfende mobilisierende Kraft von hergebrachten städtebaulichen Traditionen bzw. von Brüchen mit ihr, die Debatte um das Holocaust-Mahnmal in Berlin und die Rolle von vielfältigen symbolischen Interpretationen bzw. der Möglichkeit, kulturwissenschaftlich analysierend Bedeutungen zu stiften oder zu beeinflussen (man denke an die Debatte um den Standort des Mahnmals und die Kritik an der Nähe zum Führerbunker, die aber keine Wirkung entfalten konnte), die Frage nach der Wiederbebauung des Spreebogens in Berlin für Parlament und Regierung und die Rolle von Wettbewerben als Katalysatoren für die Herausbildung eines hegemonialen Projekts, den Umgang mit dem Mauerstreifen in Berlin und die Rahmenbedingungen dafür, ein Projekt überhaupt als zusammenhängendes Großprojekt zu begreifen, die IBA Emscher Park und die Möglichkeiten und Grenzen, vor Ort Projektzusammenhänge über die Fachwelt hinaus als Ganzes zu vermitteln, das Projekt „Sprung über die Elbe“ in Hamburg (vgl. www.wachsende-stadt.hamburg.de) und die Frage nach den Chancen, über die Konkretisierung einer graphisch inspirierten hypertrophen Stadtentwicklungsidee Ressourcen für die Verbesserung der Lebensbedingungen in benachteiligten Stadtquartieren zu mobilisieren usw. Diese kurze Aufzählung zeigt, dass eine Verbreiterung der Großprojektforschung sich noch einer ganzen Reihe unbeantworteter Fragen zuwenden sollte. Im Folgenden werden stellvertretend einige von ihnen kurz angerissen, ohne an dieser Stelle auf umfassende Antworten hinaus zu wollen. • Produktion symbolischer Orte: Durch die hohe Aufladung des Schlossplatzes mit Symbolwert haben sich die Entscheidungsträger davor gescheut, wie in anderen Fällen nach einem schleppenden Prozess letztlich irgendwann Entscheidungen zu treffen und nicht mehr länger auf öffentliche Kommentare zu hören. Symbolische Orte ziehen häufig offene Projekte nach sich. Ob sich daraus eine besondere Vorsicht im Prozess ergibt wie im Fall des Schlossplatzes und unter welchen Bedingungen, ist erst noch näher zu hinterfragen. Wie sich Symbolik mit neuer Architektur konsensfähig herstellen lässt, offenbar ebenfalls, wenn nicht die Erwartungen anfangs niedrig sind – man mag sich nicht vorstellen, wie der Entscheidungsprozess bei der Planung des Centre Pompidou ausgegangen wäre, wenn von Anfang an und durch das Konzept der spätere Erfolg garantiert hätte werden müssen, die Erwartungen also extrem hoch gewesen wären. • Örtliche Bindung von Entscheidungskriterien: Die Kritik an Großprojekten richtet sich häufig explizit gegen die Lebenswelten ortsansässiger Bewohner. Der Widerspruch zwischen gesamtstädtischen oder gar regionalen Belangen, die gewissermaßen utilitaristisch in der planerischen Entscheidungsfindung verarbeitet werden, und lokalen Belangen ist paradigmatisch bei der Auseinandersetzung um Stadtautobahntrassen manifest geworden, spielt aber in viele andere Projekte hinein wie in 216 Der Schlossplatz in Berlin im Licht der Großprojektforschung Berlin etwa die Debatte um die Umgestaltung des Alexanderplatzes. Mit seiner Auflösung ist nicht zu rechnen. Großprojekte fordern ihn geradezu neu heraus. • Sinn und Wirkung von Planung ohne Entscheidungszwang: Es ist offen geblieben, wie ohne Druck bzw. unter vagen Rahmenbedingungen Konzepte „reifen“ können. Während bei hohem Entscheidungsdruck häufig von Kritikern eine Marginalisierung von unbequemen Akteuren im Beteiligungsverfahren beklagt wird, hat der Prozess am Schlossplatz trotz der verfügbaren Zeit, einer der wichtigsten Voraussetzungen für „Planungskultur“, diese nur phasenweise herbeigeführt. Ja selbst die mustergültig aussehende Kommissionsarbeit ist bei näherem Hinsehen von kaum verrückbaren Positionen vieler Mitglieder bestimmt (und von deren sehr unterschiedlicher Leidenschaftlichkeit für das Thema). • Angemessene Form der Beteiligung: In offenen Projekten lassen sich Belange der Bewohner wesentlich leichter als in vorentschiedenen einspeisen, doch ist zu fragen, welcher Stellenwert ihnen bei Projekten von hoher Symbolkraft angemessen ist. Überdies ist zu fragen, welche realen Mitentscheidungsmöglichkeiten Bürger bei Projekten haben sollten, die ihre Lebenswelt nur mittelbar betreffen, nämlich solche in Stadtzentren, in denen kaum gewohnt wird, die aber dafür von einer großen Anzahl von Bürgern zu verschiedensten Zwecken immer wieder genutzt werden. • Möglichkeiten der Komplexitätsreduktion bei öffentlichkeitswirksamen Großprojekten: Es wurde deutlich, dass die ausstehende Gesamtlösung am Schlossplatz die weitere Entwicklung blockiert hat. Dies muss nicht so sein. Konsens über einige Essentials bestand bereits vor Jahren. Es stellt sich die Frage, unter welchen Rahmenbedingungen vergleichbare Teilkonsense Kräfte in der Debatte freisetzen und wann sie hemmend sind. Da ohnehin bei vielen Projekten mit der Beteiligung von privaten Akteuren gerechnet werden muss, wäre es interessant, die Möglichkeiten von Komplexitätsreduktion durch Abschichtung von Entscheidungsbestandteilen auf diese Privaten zu erwägen, die am Schlossplatz unter der immer wieder neu ins Spiel gebrachten Forderung nach einer beinahe vollständigem öffentlichen Gesamtfinanzierung (vgl. Berliner Zeitung 25.09.2003) nicht ernstlich ausgelotet wurden. • Verbindung von pro- und reaktiven Elementen des Politikbetriebs: Offene Großprojekte sind von Elementen einer reaktiven Politikgestaltung gekennzeichnet. Risiken wie z.B. öffentlicher Kritik werden vermieden, wenn kein großer Entscheidungsdruck besteht. Symbolische Projekte eröffnen gegenüber anderen Großprojekten häufig eine zusätzliche Flanke für Kritik, indem sie eine intensive kulturkritisch motivierte Debatte herausfordern. Die Entscheidungsstärke, die Großprojekten durch die Mobilisierung der Entscheidungsträger und Ressourcen anhaftet, wird dadurch relativiert. Die Durchsetzbarkeit erscheint schwer vorhersagbar. Eine Analyse des Zusammenwirkens dieser Elemente proaktiver und reaktiver Politik steht bislang noch aus. Auch im Falle des Schlossplatzes sind einige der genannten Fragen noch nicht beantwortet. Ihre eingehende Behandlung, möglichst im Vergleich mit anderen Projekten, kann vermutlich zu einer Qualifizierung von ermüdend wirkenden Entschei- Mega-Projekte und Stadtentwicklung 217 dungsprozessen beitragen und wäre daher äußerst wünschenswert. Literatur ALTROCK, Uwe: Neue Träger – Bessere Denkmale? In: Planungsrundschau 1, Winter 2001, S. 57-65 Berliner Zeitung vom 09.11.1996: Die vernarbte Wunde der Stadt Berliner Zeitung vom 25.09.2003: Geld gibt’s erst 2010 Berliner Zeitung vom 07.11.2003: Berlin bekommt einen Central Park Berliner Zeitung vom 10.11.2003: Parkbewirtschaftszone BODENSCHATZ, Harald: Der rote Kasten - Zu Bedeutung, Wirkung und Zukunft von Schinkels Bauakademie. Berlin 1996 DOLFF-BONEKÄMPER, Gabi: Anmerkungen zum Denkmalwert des Palasts der Republik, Vortrag an der TU Berlin am 16.05.2003 ENGEL, Helmut: Schauplatz Staatsmitte. Schloß und Schloßbezirk in Berlin. Berlin 1998 FRANK, Robert: Wolkige Schlossträume im Preußenjahr, in: Planungsrundschau 3⁄4, Winter/Frühjahr 2002, S. 109-119 LEINAUER, Irma: Das Außenministerium der DDR. Geschichte eines politischen Bauwerkes. (Arbeitshefte des Instituts für Stadt- und Regionalplanung an der Technischen Universität Berlin, H. 57) Berlin 1996 SENSTADT (Senatsverwaltung für Stadtentwicklung Berlin) / BMVBW (Bundesministerium für Verkehr, Bau und Wohnungswesen) (Hg.): Historische Mitte Berlin. Schlossplatz. Ideen und Entwürfe 1991-2001. Berlin 2001 SENSTADT (Senatsverwaltung für Stadtentwicklung Berlin) / BMVBW (Bundesministerium für Verkehr, Bau und Wohnungswesen) (Hg.): Internationale Expertenkommission Historische Mitte Berlin Abschlussbericht, Berlin 2002 SENSTADT (Senatsverwaltung für Stadtentwicklung Berlin) / BMVBW (Bundesministerium für Verkehr, Bau und Wohnungswesen) (Hg.): Internationale Expertenkommission Historische Mitte Berlin Materialien, Berlin 2002 SENSUT (Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Umweltschutz und Technologie Berlin)(Hg.): Planwerk Innenstadt Berlin. Ein erster Entwurf, Berlin 1997 SICHTER, Joachim: Die Bebauungspläne für das städtebauliche Großprojekt „Potsdamer und Leipziger Platz“ – Erfahrungen und Einschätzungen, in: Uwe Altrock (Hg.): Das Schöne im Notwendigen finden, Berlin 2000, S. 109-128 www.oswalt.de/text/txt/schloss.html (07.11.2003): Philipp Oswalt: Identitätskonstruktionen im digitalen Zeitalter www.oswalt.de/text/txt/urbancat.html (07.11.2003): Philipp Oswalt: Urbane Katalysatoren www.wachsende-stadt.hamburg.de/grafikversion/projekte/stadtentwicklung/ sprung_elbe_hamburg.html (12.11.2003): Unterlagen zum Leitbild der Stadt Hamburg ZEIT-Magazin 48/1995 218 Rundschau Margit Mayer DER HÖHENFLUG DES SOZIALKAPITAL-KONZEPTS: Gründe und Folgerungen für das Verständnis von Städten, Gemeinschaften und städtischen Bewegungen (Besprechung von Sandra Huning) Erschienen als: Margit Mayer: The Onward Sweep of Social Capital: Causes and Consequences for Understanding Cities, Communities, and Urban Movements. In: International Journal of Urban and Regional Research, Vol. 27.1 (March 2003), S. 110-132 Der Begriff Sozialkapital spielt heute in vielen - auch planerischen -Handlungszusammenhängen eine Rolle. Obgleich die theoretischen Ansätze, die ihm zugrunde liegen (vor allem von Robert D. Putnam, vgl. z.B. Putnam 1993, Putnam 1995, Putnam 1996), in der US-amerikanischen – vor allem politikwissenschaftlichen – Literatur bereits seit Ende der 1990er Jahre kritisiert und zahlreiche Schwachstellen aufgezeigt wurden (vgl. z.B. das dazu von Foley/Edwards 1997 herausgegebene Heft Nr. 5, Vol. 40 des American Behavioral Scientist), ist Sozialkapital in der deutschen Planerdiskussion nach wie vor positiv besetzt. Sozialkapital gilt vor allem auf städtischer Quartiersebene als Potential, das entweder brach liegt oder zu wenig vorhanden ist und in jedem Fall planerisch gefördert werden sollte. Dabei wird die analytische Komponente des Ansatzes häufig mit der normativen positiven Bewertung vermischt oder gar verwechselt. Aktuelle Veröffentlichungen aus der deutschen Planungsszene thematisieren Sozialkapital als Potentiale ostdeutscher Kleinstädte (vgl. Hannemann 2002), aber auch in Hinblick auf die soziale Stadterneuerung (vgl. Schnur 2003) und auf place-making (vgl. Kools / Zimmermann). Dabei gilt Sozialkapital als Ressource, deren Aktivierung – stark verkürzt – zu der Entstehung einer lokalen Gemeinschaft beiträgt, die Kommunikation zwischen den BewohnerInnen stärkt und damit automatisch Selbsthilfe- und Selbstorganisationspotentiale freisetzt. Die Kritikpunkte werden im Allgemeinen vernachlässigt. Worum geht es in der Kritik? Erstens wird der unterstellte Automatismus bei der Umwandlung von Sozialkapital in politisches Engagement hinterfragt (vgl. z.B. Boggs 2001, Evers 2002, Foley/Edwards 1997). Zweitens ist überzeugend erwiesen worden, dass Sozialkapital keineswegs nur positiv bewertet werden kann, sondern grundsätzlich eher ungerichtet ist und zu „guten“ wie „schlechten“ Zwecken eingesetzt werden kann (vgl. z.B. Berman 1997a, Berman 1997b, Woolcock 1998). Drittens scheinen die Konsequenzen, die sich aus einer hohen Sozialkapitaldichte für die Individuen ergeben, zwiespältig zu sein und zwischen Befähigung und Eingrenzung zu liegen (vgl. z.B. Kapphan 2000, Sassen 2000, Edwards/Foley 1997). Viertens wird Mega-Projekte und Stadtentwicklung 219 die Selektivität der Verfügbarkeit von Sozialkapital und damit die Machtdimension (vgl. z.B. Bourdieu 1983, Geißel 2001) in der Regel vernachlässigt. Fünftens, und damit last but not least, sind das Verhältnis der verschiedenen „Aggregations-Ebenen“ von Sozialkapital zueinander und ihre verschiedenen Wirkungen ungeklärt (vgl. z.B. Evers 2002, Rich 1999).Kritik an dem Konzept Sozialkapital auf einer noch grundsätzlicheren Ebene formuliert Margit Mayer in dem im Folgenden in einer deutschen Zusammenfassung wiedergegebenen Artikel, der im Frühjahr 2003 im International Journal of Urban and Regional Research veröffentlicht wurde. Sie ergänzt die bisherige Diskussion aus der Perspektive der Kapitalismuskritik und zeigt, dass Sozialkapital-Ansätze nicht nur in sich problematisch, sondern auch vor dem Hintergrund ihres Entstehungskontextes kritisch zu bewerten sind. 1. Der Erfolg von Sozialkapital: Ursachen und Konsequenzen für das Verständnis von Städten, Gemeinschaften und städtischen Bewegungen Seit vielen Jahren fordern städtische Bewegungen, in der Regel ohne größeren Erfolg, stärkere Beteiligungsmöglichkeiten und eine Demokratisierung der Politik. Inzwischen scheinen die Forderungen der Bewegungen Wirklichkeit geworden zu sein: Akteurinnen und Akteure aus Politik, Stadtforschung und Stadtentwicklung betonen die Bedeutung von Bürgerbeteiligung und Empowerment bei der Behebung städtischer Probleme. Städtische Exklusion ist endlich auf der städtischen Tagesordnung, und politische Programme zur Lösung städtischer Programme unterstützen gemeinwesenorientierte Interessen und lokale Aktivierung. Was so aussieht wie die Erfüllung der Forderungen früher Basisbewegungen, ist in Wirklichkeit Teil neuer Governance-Strategien zur Steuerung vernachlässigter und benachteiligter städtischer Gegenden und Gemeinschaften. Ihre „Exklusion“ gilt als multidimensionaler im Vergleich zu dem vorher mit Ungleichheit und Segregation bezeichneten Zustand. Sozialkapital-Konzepte spielen eine Schlüsselrolle bei diesen neuen Politiken, weil sie lokale Partizipation, basierend auf horizontalen Netzwerken und Reziprozität, mit positiven Ergebnissen wie Wirtschaftswachstum und Demokratie – sogar oder insbesondere in benachteiligten Gebieten – zu verbinden scheinen. Durch den Nachvollzug der Art und Weise, wie Sozialkapital durch ForscherInnen und PraktikerInnen im Bereich städtischer Bewegungen und Gemeinwesenentwicklung angewendet wird, enthüllt dieser Artikel die wirkungsmächtige und auf viele Arten effektive Rolle, die das Konzept bei der gegenwärtigen Neuverhandlung lokaler Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft spielt, insbesondere in Bezug auf die Entwicklung des Dritten Sektors. Soziale und politische Perspektiven werden in einer ökonomischen Sichtweise aufgelöst, indem diverse Formen zivilen Engagements vornehmlich positiv bewertet werden und dabei ein neuer Rahmen für den Umgang mit städtischer Ungleichheit und Armut geschaffen wird, der Bottom-up-Mobilisierung zu beinhalten scheint, dies jedoch auf eine extrem eingeschränkte und tendenziöse Weise. Rundschau 220 Der Artikel untersucht zuerst den Mehrwert des Sozialkapitalansatzes für die Stadtentwicklungsanalyse und erklärt die Rolle und die Funktion lokaler Bewegungen. Er spürt die Defizite und Bedarfe auf, auf die mit Sozialkapitalansätzen reagiert wird. Dann beschreibt er die blinden Flecken und problematischen Konsequenzen, die sich aus den Sozialkapitalansätzen ergeben, und zeigt, wie ihre Widersprüche unser Verständnis gegenwärtigen städtischen Wandels beeinflussen und beschränken. Indem bestimmte Formen zivilen Engagements bevorzugt und andere ignoriert werden, werden die aktuellen Rekonfigurationen in den Verbindungen zwischen Zivilgesellschaft, Staat und Markt auf eine bestimmte Art gefiltert, so dass die Ausbreitung der Marktkräfte über die Reichweite des Kapitals hinaus befördert wird. Drittens wird die Rolle des neuen Diskurses bei der Analyse von städtischem Wandel und Gerechtigkeit beleuchtet. Die Vermeidung „traditioneller“ Kategorien wie Macht, Herrschaft, Ausbeutung und die Thematisierung von Marginalisierung als Problem unzureichender Mobilisierung von Sozialkapital verlagern die Aufmerksamkeit auf die Selbstaktivierung und die Potentiale verschiedener Gemeinwesen, sei es als ziviles Engagement gutsituierter Freiwilliger oder in Form von Aktivierung/Reintegration der Marginalisierten (in den Niedriglohnsektor des Arbeitsmarktes). Beide Formen der mobilisierten Aktivitäten in dem hochgradig inhomogenen „Dritten Sektor“ helfen, wie zu zeigen sein wird, nicht nur dabei, den lokalen (Wohlfahrts-)Staat zu entlasten, sondern auch bei der Unterstützung von Marktkräften in Bereichen, die vorher außerhalb ihrer Reichweite lagen. 2. Das Versprechen von Sozialkapital Die Geschwindigkeit, mit der Sozialkapitalkonzepte aus akademischen Studien (Coleman 1990, Putnam 1993) in Politik, Medien und Aktivistendiskurse eingedrungen sind, beweist seine enorme Attraktivität. Es scheint wichtige Bedarfe in einer Reihe von Zusammenhängen zu befriedigen. Bevor die Bedarfe aufgezeigt werden, wird hier das Konzept selbst dargestellt. 2.1 Was ist an dem Konzept dran? Wenn der Kapitalbegriff um den Zusatz „sozial“ erweitert wird, entsteht eine soziale Variante von Kapital, die mit den anderen Kapitalformen gemein hat, dass sie sich durch Gebrauch vermehrt. Sobald nun Vereinsarbeit und soziale Ressourcen als eine Form von Kapital bezeichnet werden, erhalten diese einen ökonomischen Touch – ein sprachlicher Effekt, den die aktuellen Diskurse in der Regel nicht explizit machen, der aber die Art und Weise beeinflusst, wie nun Vereinsarbeit wahrgenommen wird. Obgleich die genaue Bedeutung von Sozialkapital im Laufe der Begriffsverwendung transformiert und differenziert worden ist, ist sie dadurch nicht präziser geworden. Während für Coleman (1988, 1990) noch eine funktionelle, ökonomische Definition dominant war, ist die Bedeutung über den Export nach Italien mit anschlie- Mega-Projekte und Stadtentwicklung 221 ßendem Re-Import in die USA durch Putnam in eine wertende, normative Kategorie transformiert worden, von deren Vorhandensein oder Fehlen das Wohlergehen von Individuen, Gemeinwesen, Städten, Regionen und Nationen abhängt. Während Coleman Sozialkapital als Ressource ansah, die es individuellen und kollektiven Akteuren erlaubte, Ziele zu erreichen, die ohne sie nicht erreicht werden konnten, erweitert Putnam den Begriff Sozialkapital um eine neue Dimension, dass nämlich die gesamte Gemeinschaft in ökonomischer, ziviler und demokratischer Hinsicht von seiner Existenz profitiert (vgl. Putnam 1993:185; 2000:349). Netzwerke und ihre Normen, Reziprozität und Vertrauen erscheinen als produktiv und positiv; und es scheinen sowohl empirische als auch theoretische Zusammenhänge zwischen Mitgliederzahlen in Freiwilligenorganisationen und generellem zivilen Engagement und demokratischer Beteiligung zu bestehen. Im Grunde argumentiert die Sozialkapitalperspektive, dass sowohl die Qualität demokratischer Politik als auch die Dynamik der regionalen Ökonomie abhängig ist von dem Maße, in dem die Bevölkerung über Sozialkapital verfügt. Eine wichtige Grundlage hierfür bilden Vereine und Verbände. Und diese Art von Sozialkapital kann durch staatliche Intervention befördert werden. Trotz der normativen Aufwertung durch Putnam hat das Konzept seine ökonomistische Ausrichtung nicht verloren. Es reduziert soziale Beziehungen auf eine Form von Kapital. Sehr unterschiedliche Arten von Verbänden – von Chören hin zu rechtsradikalen Fußballfanclubs – werden so theoretisch und politisch vergleichbar, weil sie Vertrauen und Reziprozität produzieren und zur Generierung von Sozialkapital beitragen. Anders ausgedrückt, wird Sozialkapital so nicht nur ein produktiver Wirtschaftsfaktor, sondern unabhängig von den jeweiligen Zielen und Kontexten werden ihm pro-soziale Konsequenzen zugeschrieben (vgl. Putnam 2001:22), so dass sowohl individuelle als auch öffentliche Güter entstehen. Obgleich Putnam inzwischen zugesteht, dass auch unerwünschte Effekte auftreten können (vgl. ebenda), bleibt die Tatsache bestehen, dass durch diese normative Definition von Sozialkapital eine differenzierte Betrachtung erschwert wird. Trotz der Thematisierung dieser Probleme (z.B. durch Skocpol 1996, Foley/ Edwards 1997a) und der Behebung einiger konzeptioneller Unausgegorenheiten durchzieht eine zentrale definitorische Schwäche die Literatur: die Verwechslung von Sozialkapital mit den Ressourcen, die dadurch erzeugt werden. Ursache, Funktion und Folgen werden in einer zirkulären Argumentation verwoben (OECD 2001:43). Dieser tautologische Gebrauch des Begriffs als Erklärung und zu erklärendes Objekt gleichzeitig erscheint in vielen Abhandlungen über das Konzept. Darauf beruhen auch häufig die vorgefundenen statistischen Korrelationen. Diese Schwächen sind in der Rezeption im Allgemeinen übernommen worden. 2.2 Weshalb die Attraktivität des Konzeptes? Das Konzept scheint auf bestimmte vorhandene Bedarfe zu reagieren. Staats- und Marktversagen haben Aufmerksamkeit für die Verbindung des Ökonomischen und des Sozialen über Markt und Staat hinaus erzeugt. Das Interesse hinter den scheinbar 222 Rundschau nicht-ökonomischen Bedingungen richtet sich jedoch nach wie vor auf bessere ökonomische Leistungen. Gegenwärtige Diskussionen über die Stadt beschreiben nicht nur neue Probleme und Handlungsansätze, sondern weisen auch einen sprachlichen Wandel auf. Anstatt von Armut wird von sozialer Exklusion gesprochen, anstatt von sozialer Gleichheit von Inklusion, anstatt von Integration von sozialer Kohäsion. Urbane Probleme sind nun weniger Anzeichen städtischen Versagens, sondern vielmehr Hemmnisse ökonomischen Erfolgs. Ein Instrument für die Erreichung sozialer Kohäsion ist die umfassende Mobilisierung der Bevölkerung und die Entwicklung sozialen Kapitals. Dieser Ansatz ist inzwischen fast allgegenwärtig. Eine wichtige Rolle hat dabei die Weltbank gespielt. Indem die positiven, demokratie- und effektivitätsfördernden Auswirkungen zivilgesellschaftlicher Netzwerke betont werden, werden Sozialkapitalkonzepte für PolitikerInnen attraktiv, die nach nicht-ökonomischen (kostengünstigen) Lösungen für soziale Probleme suchen. Die verbindende Analyse sozialer und ökonomischer Faktoren erhöht die Anziehungskraft auch für die sozialwissenschaftliche Forschung, die in vergleichenden Studien eine Reihe nicht-ökonomischer Faktoren für wirtschaftlichen Erfolg identifiziert hat. Dies ist auch die Folge einer Abkehr von postmodernen Ansätzen und dem Wunsch nach einem stärkeren Bezug zur „realen“ Welt. Sozialkapitalansätze sind insbesondere im städtischen oder lokalen Konzept gut angekommen, vor allem in den USA mit einer ausgeprägten kommunitaristischen Tradition. Da sich die meisten der entsprechenden Studien auf Putnam beziehen, ist hier bereits eine Reihe von Kritik geäußert worden. Doch die allgemein positive Rezeption weist darauf hin, dass dieses Sozialkapitalkonzept einen Mehrwert in die Analysen von Stadterneuerung und -entwicklung bringen muss. Dies bezieht sich vor allem auf die Organisationen des Dritten Sektors und die lokalen Bewegungen, denen ein besonderer Beitrag zum Sozialkapital unterstellt wird. Hier leistet das Sozialkapitalkonzept einen wichtigen analytischen Beitrag. Es beleuchtet nicht nur die Einbettung kultureller Faktoren in Sozialstrukturen auf der Meso-Ebene wie Nachbarschaften, Kirchen, freiwillige und gemeinnützige Organisationen, sondern indem die vermittelnden Ebenen der Sozialstruktur in die Analysen heutiger Demokratien einbezogen werden, ist ein besseres Verständnis von Zusammenarbeit und Kooperation und der Entstehung von Unternehmensgeist in sozialen Bewegungen möglich. Gleichzeitig – wie gezeigt werden wird – lenkt es jedoch die Aufmerksamkeit davon ab, wie soziale und politische Bedingungen diese Assoziationen beeinträchtigen und strukturieren. 3. Auslassungen der Sozialkapitalperspektive bei der Betrachtung städtischer Bewegungen Die Sozialkapitalperspektive hat Probleme mit bestimmten Formen zivilen Engagements: Protestbewegungen und konfliktreiche Auseinandersetzungen tauchen selten in der Forschung und so gut wie nie im politischen Diskurs auf. Dadurch verrät sich die einseitige normative Konzeption des Verhältnisses zwischen Staat und Mega-Projekte und Stadtentwicklung 223 Zivilgesellschaft, die für die Sozialkapitalperspektive so charakteristisch ist. Darüber hinaus wird die scheinbare Kontextunabhängigkeit zum Problem, wenn die ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen für zivilgesellschaftliche Aktivitäten dethematisiert werden. Obwohl sich das Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft enorm gewandelt hat, reflektiert die Sozialkapitalperspektive diesen Wandel nicht, obgleich er die Grundlage für ihre Entstehung und ihre Attraktivität darstellt. 3.1 Blindheit gegenüber Gegenbewegungen – eine Betrachtung gegenwärtiger Aktivitäten enthüllt eine unharmonische Zivilgesellschaft Empirisch werden bei Studien, die auf Sozialkapitalkonzepten basieren, immer eine große Spannweite von Aktivitäten des Dritten Sektors und zivilgesellschaftlichem Engagement betrachtet, aber eine spezielle Gruppe zivilen Engagements bleibt systematisch außen vor: Gegenbewegungen und Protestmobilisierungen werden bis auf wenige Ausnahmen herausgefiltert. Selbst diejenigen KritikerInnen, die politische Bewegungen explizit als wichtige Akteure der Demokratie und effektiver Steuerung anerkennen, haben Probleme damit, das Sozialkapitallabel auf Protestbewegungen anzuwenden, obgleich durchaus erwiesen ist, dass auch diese Vertrauen schaffen und z.T. auch auf wirtschaftlicher Basis operieren (vgl. Kreuz u.a. 1984, Roth 1994, Cress/Snow 1996, Rucht u.a. 1997, Heider 2002). Dieser blinde Fleck in der Sozialkapitalperspektive – die Vermeidung von Gegenbewegungen – hat mit der Ambivalenz von Protestmilieus zu tun, die auf der einen Seite soziale Netzwerke darstellen, durch die Sozialkapital mobilisiert werden kann, andererseits aber auch Konflikte nach außen tragen und dabei gegenüber anderen Gruppen Sozialkapital herausfordern. Im Gegensatz zu Kegelvereinen und Chören werfen diese Bewegungen die Frage „Sozialkapital für wen und wozu?“ auf (ebenso wie: „Inklusion für wen?“) und problematisieren dadurch ein Konzept von Zivilgesellschaft, das konfliktfrei und interessenneutral zu sein scheint. Nicht alle Bewegungen passen in das spezielle Verständnis eines harmonischen Verhältnisses zwischen Staat und Zivilgesellschaft, das die Sozialkapitalperspektive zeigt. Der Sozialkapitaldiskurs thematisiert fast ausschließlich die institutionalisierteren gemeinschaftsorientierten Organisationen, die ihre Zusammenarbeit mit lokalen und anderen Regierungsebenen routinisiert haben (vgl. Cortés 1993, Laville/Gardin 1996, Wallis 1998, Wallis u.a. 1998, Sampson 1999, Evers u.a. 2000, Taylor 2000, Chaskin u.a. 2001, Silverman 2001). Die Tatsache, dass die Bildung von Sozialkapital besonders für ressourcenarme Gruppen wichtig erscheint, ist in der Entwicklungsdiskussion von hoher Bedeutung. Dagegen wird die Erkenntnis, dass auch die Bewegungen ressourcenarmer Gruppen zur Bildung von Sozialkapital beitragen, ausgeblendet. Gruppen, die konfrontative Methoden anwenden (wie z.B. die Obdachlosenproteste, vgl. Wagner 1993, Wright 1997), sind jedoch durchaus manchmal erfolgreich – nicht nur bei der Entwicklung von Sozialkapital, sondern auch bei der Schaffung kollektiven Bewusstseins. Dies gilt insbesondere, wenn ressourcenreiche Gruppen sich dieser Probleme annehmen oder professionelle Akteure ihre Ressourcen für solche 224 Rundschau „Arme-Leute-Organisationen“ zur Verfügung stellen (vgl. Cress/Snow 1996). Auch andere lokale Netzwerke fallen aus der Betrachtung heraus, obwohl eine kausale Beziehung zwischen der Arbeit dieser Bewegungen und Demokratieeffekten erst einmal offensichtlicher ist als bei den Vereinen und NGOs, die von der Weltbank bevorzugt werden. Diese Bewegungen greifen vernachlässigte und unterdrückte Bedarfe auf, ziehen PolitikerInnen zur Verantwortung und scheuen keine Konflikte mit der Staatsmacht. Sie zeigen, dass die Gesellschaft nicht so harmonisch kooperiert, wie dies eine Welt der SozialkapitalistInnen suggeriert, in der die Kategorien Ausbeutung und Macht keinen Raum haben und weder multinationale Unternehmen und Banken noch Oppositionsbewegungen jemals als Akteure auftreten. 3.2 Aktuelle Restrukturierungsprozesse bedrohen das Versprechen lokalen Sozialkapitals Die durch das Sozialkapitalkonzept gewonnenen Erkenntnisse haben also ihren Preis. Während ziviles Engagement in einer sozialen Ökonomie wertvoll erscheint, lenkt es von politökonomischen Prozessen ab, die diese Formen zivilen Engagements gerade transformieren. Die wenigen vorhandenen wissenschaftlichen Erkenntnisse zeigen, dass dieses Engagement keineswegs statisch ist und sich ebenso wie die ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen verändert. Es scheint, dass Projekte und Initiativen, die sich in ihrer Zahl und Vielfalt angesichts zunehmender sozialer Bedürfnisse enorm vermehrt haben und die sich vornehmlich marginalisierten Gruppen oder benachteiligten Quartieren widmen, sich in ihrer Orientierung und Arbeitsweise verändert haben. Während sie anfangs vor allem komplementär zu staatlichen Programmen und sozialen Dienstleistungen arbeiteten, sind sie nun unter Druck geraten, diese öffentlichen Dienstleistungen zu ersetzen oder sich dafür als Partner anzubieten. Dadurch sind die Basisbewegungen zu reinen Dienstleistern geworden, die ihre Klienten im Durchkommen statt im Vorankommen unterstützen. Oft verbleiben sie „in Ghetto-Ökonomien, wo sie dazu beitragen, benachteiligte Gemeinschaften weiter zu benachteiligen, indem sie sie in einen lokalen Kapitalkreislauf einbinden, der nicht mit der Mainstream-Ökonomie verbunden ist“ (vgl. Amin u.a. 1998). Sie entwickeln Strategien, die soziale Desintegrationsprozesse nicht nur anerkennen, sondern möglicherweise sogar in einem neuen Ausmaß verstärken. Das zeigt sich z.B. in den deutschen „Quartiermanagement“-Programmen (vgl. Walther 2002). Im angelsächsischen Raum, wo politische Programme die Arbeitsmarktintegration in städtischen Entwicklungsprogrammen eine Zeit lang in den Vordergrund gestellt haben, haben Wohlfahrtsorganisationen gelernt, ihre Rolle als Beschäftigungs- und Bildungsagenturen zu differenzieren. Sie platzieren ihre „Klienten“ im Niedriglohnsektor oder der sozialen Ökonomie, wo – vor allem in Metropolregionen – der Bedarf für Dienstleistungen auf dem Bau und anderswo geradezu explodiert ist. Ehemalige Forderungen nach selbstbestimmten Arbeitsbedingungen und sozial wertvollen Produkten sind durch „Work first“-Ansätze ersetzt worden. EU-Programme, die solche Organisati- Mega-Projekte und Stadtentwicklung 225 onen fördern, unterstreichen in ihrer politischen Rhetorik die Ziele einer neuen sozialen Ökonomie, aber worauf es bei der Implementierung und der Praxis des Nachbarschaftsmanagement und der Gemeinschaftsrevitalisierung ankommt, ist die Instrumentalisierung von Innovativität und lokalem Wissen dieser Organisationen, um den armen und benachteiligten StadtbewohnerInnen neue (Wiedereingliederungs-) Programme zu vermitteln. Da sie in einen informellen Austausch, Reziprozität und Umverteilung eingebunden sind, werden sie als prädestiniert angesehen, um lokale Bedarfe und Ressourcen („Sozialkapital“) ebenso wie den Jobzugang und das Überleben zu organisieren. Wie dem auch sei, während sie diese Güter und Dienstleistungen zur Verfügung stellen, wird es schwierig für sie, Kreativität und Engagement zu beweisen bzw. die Defizite und Ambivalenzen des Staates und der Förderprogramme in Frage zu stellen. Die Gruppen und Agenturen, die bei der Beschäftigungsschaffung und innovativen Diensten besonders erfolgreich sind, werden in wettbewerbsfähige Unternehmen der Mainstream-Ökonomie transformiert oder werden durch größere Privatunternehmen aufgekauft. Viele arbeiten über ihre Kräfte als Reparaturnetzwerke gegen die zunehmende ökonomische und politische Desintegration. 3.3 Das nicht-vorhandene Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft Die Ablenkung vom aktuellen politökonomischen Kontext, der das Verständnis für die Attraktivität von Sozialkapitalkonzepten gerade erklärt, dessen Effekte jedoch die Verheißungen zivilen Engagements bedrohen, ist nicht nur für politische Vorschläge, sondern auch für einen Teil der Stadtforschung charakteristisch. Den Auslassungen liegt eine Missachtung konkreter und spezifischer historischer Kontexte zugrunde. Diese scheinbare Kontextunabhängigkeit drängt nicht nur bestimmte Formen zivilen Engagements aus dem Blickfeld, sondern auch den politökonomischen Kontext der Sozialkapitalperspektive. Indem diese Vertrauen und den beziehungsstiftenden Aspekt betont, werden „positive“ konsensorientierte Typen zivilen Engagements bevorzugt, so dass es schwierig wird, positive Konsequenzen mit konfliktreichen und nicht-kooperativen Formen geselligen Zusammenseins zusammenzubringen. Globalisierung, Neoliberalismus und die „New Economy“ scheinen kaum eine Rolle zu spielen, weil die ökonomische Nützlichkeit des Sozialkapitalansatzes über Zeit und Raum erwiesen ist. Auf jeden Fall wird dem Staat sowohl in der Sozialkapitaltheorie als auch in der Praxis eine wichtige Rolle zugewiesen, ohne dass dem Politischen die gleiche Bedeutung zugemessen würde. Das generelle Interesse besteht eher darin, „Potentiale und Ressourcen“ von Problemnachbarschaften zu identifizieren und zu mobilisieren, als darin, aktuelle Ursachen und Agenten hinter den neuen Formen von Exklusion und Polarisierung zu analysieren und auszuräumen (vgl. URBAN 21 2001, OECD 1998, Campbell 1999, Lloyd u.a. 1999). Die Analyse der Vorbedingungen von Sozialkapital bleibt in der Regel außerhalb der Sozialkapitalperspektive. Gegenwärtig definiert der Staat seine Aufgaben in Bezug auf viele soziale und ökonomische Probleme in Städten und armen Quartieren neu: Ehemals zentral organisierte Aufgaben werden auf die lokalen und Bezirks-Ebenen verlagert. Im institutionellen Bereich hat 226 Rundschau dies Auswirkungen auf die Stärkung subnationaler Ebenen und der zunehmenden Einbeziehung nicht-staatlicher Akteure. Die Maßnahmen sind zunehmend auf die Wettbewerbsfähigkeit ausgerichtet, und auch Programme zur sozialen Kohäsion werden darunter subsumiert. Diese Verlagerungen werden in der Sozialkapitalperspektive ignoriert, obgleich sie enorme Auswirkungen auf die vermeintlichen positiven Effekte zivilen Engagements haben. Bewegungen, die direkt im Bezug zu den neuen Wettbewerbsstrategien von Städten und ihrem aggressiven Marketing entstanden sind, zeigen die neue Diversität zivilen Engagements. Zu den lokalen Bewegungen gehören auch die illiberalen und partikularistischen Gruppen, die keineswegs zur öffentlichen Problemlösung und dem Allgemeinwohl beitragen, obgleich für ihre Mitglieder durchaus auch Sozialkapital entstehen mag. Sie zeigen, wie ungeeignet das Sozialkapitalkonzept ist, um Konflikte und Ambivalenzen heutiger sozialer Bewegungen zu erfassen, zu denen NIMBY-Initiativen, umweltbewusste, inklusive, fortschrittliche, aber auch fremdenfeindliche, rassistische oder selbstbezogene Gruppen zählen. Häufig setzen sich Mittelklassegruppen in den Gebieten gegenüber ärmeren Gruppen oder Minderheiten durch (vgl. Mayer 1999b). Zusammengefasst heißt das, dass die Sozialkapitalperspektive nicht hilfreich ist, um die Quellen und die Dynamik neuer Konflikte, die aus ökonomischen und politischen Restrukturierungsprozessen hervorgehen, zu verstehen, weil es die Transformationen im Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft außer acht lässt. Es gibt hier keine Selbstreflexivität, die jedoch erforderlich wäre, um für das Verständnis städtischer Prozesse und in Bezug auf städtische Politik hilfreicher zu sein. 4. Die aktuelle Karriere des Konzeptes und seine Rolle in der Stadt(entwicklungs)politik Als in den 1970er Jahren die Grenzen von Staat und Markt aufgezeigt wurden, wurden neue Lösungen in den OECD-Ländern gesucht, die einen ersten Höhepunkt unter Reagan und Thatcher erreichte und mit den verschiedenen Formen von Sozialreformen und Arbeitsmarktflexibilisierung fortgeführt wird. Um die sozialen Kosten des neoliberalen Projektes abzufedern, wurden sowohl von einzelnen Regierungen als auch durch die EU, UNESCO und die Weltbank Erneuerungspolitiken auf kommunaler Ebene angeschoben. In diesem Zusammenhang kommt lokalen Verbänden und Organisationen des Dritten Sektors eine besondere Bedeutung zu, und daher erscheint auch das Sozialkapitalkonzept besonders attraktiv. Seit den lokalen Wirtschaftsentwicklungsprogrammen in den USA und Großbritannien in den späten 1970er Jahren im Kontext der neuliberalen Deregulierung und Privatisierung sind nicht-marktgesteuerte Strategien auf die lokale Agenda gerückt, um Marktversagen zu begegnen und aktive Kooperationen zwischen Staat, Kapital, Arbeitskräften und BewohnerInnen zu entwickeln. Basierend auf diesen Erfahrungen haben Autoren wie Eisenschitz und Gough (1996) einige Wechselwirkungen solcher Strategien bereits aufgezeigt. Trotz oder möglicherweise genau wegen ihres neo-keynesianischen Designs, das einige negative Konsequenzen der Deregulierung Mega-Projekte und Stadtentwicklung 227 aufhebt, verhelfen sie dem neoliberalen Projekt zu einer besseren Umsetzung bei der Schaffung flexibler Arbeitsmärkte, der Unterstützung des Kapitalflusses zwischen Sektoren und Regionen und der Kreierung neuer Unternehmen. Gleichzeitig wurden dadurch verschiedene Akteure und Gruppen auf der lokalen Ebene quasi gezwungen, angesichts des enormen Drucks von außen zu kooperieren: Das Lokale wurde beschworen, um besser um mobiles Kapital zu konkurrieren und endogene Unternehmen zu stützen. So wurden auch zivilgesellschaftliche Akteure in neue GovernanceStrategien einbezogen, um integrierte Bemühungen lokaler, zivilgesellschaftlicher und privater Akteure zu erreichen. Während diese ihre Außenwirkung zwar verstärken konnten, bleibt jedoch ihr Input auf die lokale Ebene beschränkt. Indem die Marginalisierten und Ausgegrenzten selbst in den Mittelpunkt gestellt werden, nicht aber die Ursachen für ihre Ungleichheit und Marginalisierung, und indem sie als Akteure ihres Überlebens definiert werden, sind diese Gruppen dazu angehalten, für ihre eigene (Re)Integration in den Arbeitsmarkt aktiv zu werden (sei es der Niedriglohnsektor, Kleinstunternehmen oder in die soziale Ökonomie). Urbane benachteiligte Gruppen werden also von potentiellen Akteuren sozialer Bewegungen, die eine Anerkennung ihrer sozialen Rechte verlangen, zu „SozialkapitalistInnen“, deren Zugehörigkeit abhängig ist von der Mobilisierung ihrer einzigen Kapitalressourcen. Die Konzentration auf die „Ausgeschlossenen“ impliziert, dass alle Parteien Zugang zu Kapital, wenn auch verschiedenen Formen, erlangen können und dass angemessene Investitionen in Sozialkapital große Ungleichheiten in der Ausstattung mit Finanzkapital wettmachen können (vgl. Smith/Kulynych 2002:167) – als ob die Ressourcen der gemeinwesenorientierten Verbände das flicken könnten, was das Finanzkapital zerschlagen hat. Da die Zivilgesellschaft permanent als eine Welt ohne trennende materielle Interessen wahrgenommen wird, in der jedeR von ökonomischem Wachstum, Gemeinschaft, gemeinsamer Problemlösung und individueller Selbstverwirklichung profitiert, besteht der Trick darin, die fundamental andere Situation der Armen/Ausgegrenzten darin sowohl anzusprechen als auch auszusetzen und in einer ökonomischen Perspektive aufzulösen. Sozialkapitalkonzepte helfen bei der Quadratur dieses Kreises, weil es trotz seiner scheinbaren Neutralität normativ besetzt ist. Das Ziel der Akkumulation von Sozialkapital ist nicht ökonomische Sicherheit für die Armen oder der Abbau von Unsicherheit, sondern „Empowerment“ und „Inklusion“. Zwar ähnelt dieses Ziel dem der Oppositionsbewegungen, aber die Bedeutung hat sich verändert. In der „ersten“ wie in der „dritten“ Welt machen aktuelle politische Programme implizite Versprechungen über die Fähigkeiten lokaler Netzwerke über das Empowerment armer und marginalisierter Gruppen und die Überwindung sozialer Beziehungen, die ihre Exklusion befördern. Während die erwünschte „Mobilisierung von unten“ rhetorisch an die Oppositionsbewegungen erinnert, redefiniert sie diese Tradition auf eine bestimmte, eingeschränkte, formale Weise. Einer der führenden Vertreter des Sozialkapitalkonzeptes in den USA, William Schambra, macht seine Definition der Basisbewegungen deutlich: Sie seien „zu beschäftigt mit der Arbeit mit den Armen, um Koalitionen gegen die Armut beizutreten“ (Schambra 228 Rundschau 1998: 49). Dies hat auch ehemalige soziale Bewegungen erreicht. Dieser Spracheffekt des Sozialkapitaldiskurses bewirkt eine Naturalisierung der Transformationen auf der Makro-Ebene, die auf Städte einwirken (Globalisierung, regionaler Wettbewerb etc.). Die Krise des Wohlfahrtsstaates oder der Städte erscheint so als Ergebnis objektiver, unvermeidbarer Ereignisse, und alle Akteure scheinen gleichermaßen von diesen Herausforderungen betroffen zu sein. Gemeinschaften, Nachbarschaften, Frauen, ArbeiterInnen wie Arbeitslose – alle müssen sich gleichermaßen diesen äußeren Entwicklungen anpassen, müssen flexibler werden, lernen, sich selbst „empowern“ und Druck auf städtische Verwaltungen ausüben – sprich: ihr Sozialkapital entwickeln. Dann würde städtische Armut, die allmählich als Produkt ineffektiver lokaler Steuerung und unterentwickelten sozialen Kapitals anzusehen ist, schließlich abgeschafft. Eine richtige Kombination der Mobilisierung von unten und der Schaffung von Ermöglichungsstrukturen von oben könnte dann die Probleme ungleicher Entwicklung und Marginalisierung lösen und einen Kreislauf von Sozialkapital, Wirtschaftswachstum und sozialer Kohäsion einleiten. Wie wir jedoch gesehen haben, können die positiven Effekte lokaler ziviler Netzwerke nicht einfach als automatisch vorausgesetzt werden. Tatsächlich gibt es Anlass zu fragen, inwiefern die aktuellen Programme Sozialkapital nicht eher zerstören als aufzubauen helfen. Deshalb müssten auch die nicht-intendierten Nebeneffekte dieser Programme untersucht werden. Erste Eindrücke in dieser Hinsicht zeigen nicht nur Verbesserungen der Lebenssituation und Beteiligungsmöglichkeiten marginalisierter Gruppen, sondern auch Verdrängung, Gentrifizierung und der Ausschluss „unerwünschter“ Gruppen (vgl. Lanz 2000). Die Tatsache, dass bestimmte Zusammenschlüsse wie z.B. die von sogenannten problematischen Gruppen im Verlauf der Implementierung solcher Programme regelmäßig zerstört werden, wird im Allgemeinen tabuisiert, während der Fortschritt in Hinblick auf Partizipation und Artikulationsmöglichkeiten für erwünschte Gruppen breit diskutiert und gefeiert werden. Nie zuvor waren zivilgesellschaftliche Netze, lokaler Aktivismus und ziviles Engagement so prominent in politischen Programmen zur Förderung einer nachhaltigen Entwicklung und wirtschaftlichen Wachstums. Ihre Definition als Sozialkapital macht sie brauchbar für Bemühungen, die darauf ausgerichtet sind, das neoliberale Projekt in der Gesellschaft zu verankern und seine Kosten besser zu managen. Nicht nur werden soziale und politische Ziele den Marktprioritäten und ökonomischer Wettbewerbsfähigkeit untergeordnet, es werden auch lokale Aktivitäten in Form gebracht, so dass diese nicht stören, sondern das entstehende wettbewerbsorientierte, post-nationale Regime unterstützen und voranbringen (vgl. Jessop 1993, 1999, Peck 2001). Städte und die kommunale Ebene spielen hier eine herausragende Rolle: • Sie sind zentrale Agenten bei der Produktion von Wettbewerbsfähigkeit und fungieren als Motoren ökonomischen Wachstums. • Wenn Sozialpolitik sich von Transferzahlungen ab- und einem flexibilisierten Arbeitsmarkt zuwendet, kommt den Kommunen die Aufgabe zu, innovative Sozialund Beschäftigungsstrategien zu entwickeln, um endogenes Humanpotential zu Mega-Projekte und Stadtentwicklung 229 aktivieren und dabei ihre Standortvorteile ausbauen. • Das Modell baut weiterhin auf einer aktiven Kooperation zwischen Zivilgesellschaft, Staat und Marktakteuren auf lokaler Ebene auf: diese public-private partnerships betonen die Arbeit mit den Kräften des Marktes (anstatt gegen sie). Dieses entstehende Regime, seine Dynamik und die charakteristischen Spannungen formen den Kontext, in dem städtische Aktivitäten – das gesamte Spektrum zivilen Engagements bis hin zu Protestbewegungen – stattfinden. Wenn dieses Engagement wirklich zu mehr Demokratie anstatt zu weiterer Exklusion beitragen soll, müssen auch der Druck und die Auswirkungen dieses Kontextes auf ihre Entwicklung berücksichtigt werden. Das würde heißen, dass sowohl die Sozialwissenschaften als auch politische Debatten die blinden Flecken und Widersprüche innerhalb der Sozialkapitaldiskurse wahrnehmen; die Interessen von politischen und von Oppositionsbewegungen müssten genauso einbezogen werden wie die der weniger konfliktbehafteten zivilgesellschaftlichen Gruppen. Die spezifischen Potentiale gemeinschaftlicher Problemlösungen müssten ergänzt werden durch ein entsprechendes Rechts- und Regierungsumfeld. Dann mag dieses Konzept eine Chance haben, zur Stärkung einer lebendigen zivilen Gemeinschaft beizutragen. Literatur Amin, A./Cameron, A./Hudson, R. (1998): Welfare to work or welfare as work? Combating social exclusion in the UK. Department of Geography, Universität Durham, Durham Berman, S. 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Verlagshaus Monsenstein & Vannerdat, Münster 2003, 18,80€ Yvonne P. Doderer widmet ihre Dissertation, die hiermit als Buch vorgelegt wird, der sehr spannenden Frage, „welche Beziehungsgeflechte zwischen urbanen Räumen und gesellschaftspolitischen Bewegungen bestehen.“ (S. 9) Als empirisches Beispiel dienen der Architektin und Stadtforscherin die Projekte der neuen Frauenbewegung seit den 1970er Jahren in vier westdeutschen Großstädten und in Berlin. Mittels einer aufwendigen Recherche in Frauenkalendern, Adress- und Branchenbüchern sowie durch eine eigene Fragebogenerhebung unternimmt sie den Versuch, „bestehende Raumvorstellungen zu erweitern und neue Perspektiven eines gesellschaftspolitischen Zugangs zu Stadträumen und ihren Subjekten aufzuzeigen“ (S. 10). Die Fragestellung hat eine hohe Relevanz für aktuelle politische und auch planerische Bestrebungen, in bezug auf einen konkreten stadträumlichen Kontext die Selbstverantwortung und -organisation der Bürgerinnen und Bürger zu stärken (wenn wir hier mal annehmen, dass diese ernst gemeint sind). Sie befindet sich in einem Spannungsfeld zwischen feministischer Planungstheorie und Raumsoziologie (und eigentlich auch Ansätzen zur Erforschung sozialer Bewegungen; diese kommen aber nicht zur Sprache), die beide in den Dienst der empirischen Untersuchung gestellt werden, allerdings ohne vorher systematisch und auf ihrem aktuellen Stand aufbereitet und für die Empirie instrumentalisiert worden zu sein. Der theoretische Zugang erfolgt über das Konzept von Henri Lefebvre, das der Autorin deshalb sympathisch ist, weil es auch die Produktion von städtischen Räumen einbezieht. Das Konzept wird von ihr um den Machtbegriff, wie er von Foucault verwendet wird, erweitert, um die Berücksichtigung der Geschlechterperspektive zu ermöglichen. Macht ist demnach nicht statisch, sondern wird regelmäßig reproduziert, und zwar innerhalb von urbanen = gesellschaftlichen Räumen, die die Autorin ebenso wie die Kategorie Geschlecht als Dispositive begreift. Die neue Frauenbewegung stellt sich vor dem Hintergrund dieser Dispositive als widerständige Bewegung dar, die „konservative wie emanzipatorische Momente“ aufweist und in „heterotopischen“ Räumen mit entsprechenden Öffnungen und Schließungen verortet ist. Sehr ausführlich wird die Entwicklung der neuen Frauenbewegung seit den 1970er Jahren nachvollzogen. Hervorgehoben wird ihr Verzicht auf eine zentrale Organisationsform zugunsten einer Organisation in lokalen, basisdemokratisch strukturierten Gruppen (S. 45). Parallel zu inhaltlich veränderten Schwerpunktsetzungen – u.a. hin zu der Anerkennung der Unterschiede zwischen Frauen, die seit den 1980er Jahren diskutiert wird – ist im Laufe der Zeit eine differenzierte Bandbreite von Frauenprojekten mit einer Vielzahl von Zielen und Themen entstanden. Dennoch stellt Mega-Projekte und Stadtentwicklung 233 die Autorin fest, dass die feministische Planungstheorie sich nach wie vor eher des Wohnbereiches und -umfelds annimmt als der urbanen Strukturen, wodurch die emanzipatorischen Potentiale, die diese den Frauen bieten (könnten), unberücksichtigt bleiben. Die Teilhabe an städtischer Öffentlichkeit, die häufig normativ als Raum von Mitsprache und Mitgestaltung definiert wird, stellt für Städterinnen heute also immer noch eine Herausforderung dar. Dabei war genau sie ursprünglich eins der wichtigsten Ziele der neuen Frauenbewegung: die Kreation eines herrschaftsfreien Raumes für emanzipatorisch-politisches Denken, Sprechen und Handeln unter Gleichen, ähnlich der Polis im antiken Griechenland, wie sie bei Hannah Arendt beschrieben wird. Dass eine Realisierung nicht gelang, führt die Autorin auf das „Fehlen klar definierter Räume politischen Handelns“ zurück. Gleichzeitig wird jedoch deutlich, dass eine Bewegung wie die Frauenbewegung – und zwar nicht als soziale, sondern als politische Bewegung – fast zwangsläufig ein urbanes Phänomen ist, da der urbane Raum Potentiale bereitstellt, die im ländlichen Raum nicht zu finden sind: „Die Großstadt bietet ihren BewohnerInnen, im Gegensatz zum Dorf, vor allem Momente der Begegnung mit Neuem, Unbekanntem, ‚Anderem’ und Gleichem ... Das urbane Terrain ist vielfältig genug, um auch Frauen den Ausbruch zu ermöglichen“ (S. 73). Mit dem Begriff „Frauenöffentlichkeit“ meint die Autorin in diesem Zusammenhang eine Öffentlichkeit mit einem gemeinsamen Gegenstand – Frauen- und Lesbenpolitik, Emanzipation, Feminismus – unter vielen anderen mit anderen Themen und Bezugspunkten. Eine solche Herangehensweise soll es der Autorin in der weiteren Studie ermöglichen, eine offene Suche nach den Orten und Praktiken der Frauenöffentlichkeit durchzuführen, ohne das Verhältnis verschiedener Öffentlichkeiten untereinander einbeziehen zu müssen. So weit, so spannend (wenn auch in den Formulierungen bisweilen ein wenig verklausulierend, wie dies leider häufig bei feministischen Texten der Fall ist). Inhaltlich schlägt die Autorin von hier aus einen etwas unerwarteten Weg ein: An die Stelle der Suche nach Orten und Praktiken der Frauenöffentlichkeit tritt eine umfassende empirische Untersuchung des Bestandes, der räumlichen Situiertheit und der inhaltlichen Ausrichtung von Frauenprojekten in fünf deutschen Großstädten. Ein Zusammenhang zur Frauenöffentlichkeit (sprich: zu Austausch und Vernetzung zwischen den Projekten über ihren gemeinsamen Gegenstand, s.o.) wird nur am Rande hergestellt. Die Wechselwirkungen mit urbanen Strukturen beziehen sich im folgenden vornehmlich auf die Standorte der Projekte und ihre Standortbedingungen, nicht aber auf ihre Außenwirkung als eine städtische Teilöffentlichkeit. Dabei wäre doch eigentlich erst einmal davon auszugehen, dass ein Projekt, und selbst fünf Projekte im räumlicher Nähe zueinander und in vergleichbaren Räumlichkeiten, nicht notwendigerweise auch eine Öffentlichkeit herstellen – dies ist natürlich nicht ausgeschlossen, jedoch sicherlich auch nicht automatisch damit verbunden. Der Richtungswechsel hin zu den Standorten und Standortbedingungen von Frauenprojekten hängt meiner Meinung nach mit der gewählten Methode zusammen: mit einem teilstandardisierten Fragebogen sind komplexere Zusammenhänge wie z.B. das Thema Vernetzung weniger gut zu erfassen als z.B. durch die Durchführung von Expertinneninterviews (es sei denn, 234 Rundschau der Fragebogen basiert auf einer vorgeschalteten explorativen Phase). Vielleicht ließe sich die Frage nach Frauenöffentlichkeiten eher durch eine qualitative Fallstudie in nur einer Stadt beantworten. Die Autorin hat sich jedoch dafür entschieden, ihr Augenmerk im folgenden auf die Frauenprojektekultur zu richten. Sie geht bei ihrer Empirie in zwei Schritten vor: Zuerst zeichnet sie am Beispiel der fünf Großstädte Berlin, Frankfurt/Main, Hamburg, München und Stuttgart mit Hilfe des seit dem Jahr 1975 regelmäßig erscheinenden Frauenkalenders die Entwicklung von Räumen feministischer Frauenöffentlichkeit nach. Zweitens wertet sie knapp 140 teilstandardisierte Fragebögen (ein sehr guter Rücklauf von 40% der von ihr angelegten Vollerhebung) aus diesen Städten in bezug auf die Frage aus, wie und wo Frauenprojekte in urbanen Räumen verortet sind. Ergebnis ist eine Vielzahl von zwischen den Städten vergleichenden Aufzählungen: welcher Bandbreite von Themen sich die Projekte annehmen, welche Rechtsformen sie gewählt haben, wie viele lesbische Frauen bei ihnen mitarbeiten etc. Hier entsteht leider verschiedentlich der Eindruck, dass die Autorin sich in ihrer Empirie verliert und damit ihr eigentliches Ziel gelegentlich aus dem Blickfeld gerät. Andererseits erhält die Leserin dadurch einen sehr differenzierten und meistens sehr interessanten Einblick in die aktuelle Situation der Frauenprojektekultur in den untersuchten Großstädten Die Autorin stellt fest, dass „sich mit der Ausdifferenzierung der Neuen Frauenbewegung kaum noch eindeutig am rein Politischen ausgerichteten Frauenorte mehr feststellen lassen – das Politische hatte sich längst in die verschiedenen gesellschaftlichen Anliegen und Forderungen ... vervielfältigt“ (S. 95). Insbesondere die aufgezeigte Bandbreite an Projekten im sozialen Raum ist beeindruckend, aber auch im kulturellen Bereich ist eine Vielzahl von Projekten zu finden; erst seit den 1990er Jahren werden Frauenprojekte auch vermehrt im ökonomischen Bereich aktiv. Den besten „Versorgungsgrad“ mit Frauenprojekten weist wie erwartet Berlin auf. In bezug auf das Standortverhalten und die Versorgung der Projekte mit physischem Raum wird gezeigt, dass viele Frauenprojekte sich im Altbau und in Quartieren mit sogenannten sozialen Brennpunkten befinden, wie viel Quadratmeter Nutzfläche die Projekte durchschnittlich zur Verfügung haben, dass sie sich selten in der Innenstadt, aber meist in innenstadtnahen Quartieren mit einer guten ÖPNV-Anbindung befinden und die Nähe zu anderen Projekten eine Rolle bei der Standortwahl spielt. Die Autorin schließt ihre Auswertung mit der Feststellung, dass es zur Etablierung der Projekte offenbar einer urbanen Situation bedarf, „die weder zu homogen ist, noch zu viele Ausschlussmechanismen aufweist und die ein Klima zulässt, das für politische und kulturelle Praktiken offen ist...“ (S. 251). Als Ergebnis konstatiert die Autorin unter anderem, dass städtischer Raum gesellschaftlicher Raum sei und umgekehrt (S. 255f) – damit trägt sie aus einer feministischen Position heraus zu einer Diskussion der Stadtsoziologie bei, die sich dieses Themas in verschiedenen Zusammenhängen bereits spätestens seit den 1990er Jahren angenommen hat; ein Bezug wird hier jedoch nicht hergestellt. Der Beitrag dieser Studie zu aktuellen planungstheoretischen und raumsoziologischen Diskussionen be- Mega-Projekte und Stadtentwicklung 235 steht zum einen in der Forderung an die feministisch orientierte Planungstheorie, die emanzipatorischen Potentiale urbanen Lebens stärker zu berücksichtigen, und zum anderen in einem Modell der „urban-gesellschaftlichen Topologie“, das hegemoniale und subversive Aneignungsformen städtischer Räume gegenüberstellt, die jeweils verschiedene Ausprägungen und Spielarten von Differenz zulassen. Es geht der Autorin hier um eine Beförderung von Räumen „transitorischer Differenz“, in denen Übergänge die Regel und nicht nur die Ausnahme darstellen und eine größtmögliche Aneignungsmöglichkeit gegeben ist: „Es wird die Aufgabe sowohl jetziger als auch zukünftiger Frauenöffentlichkeiten und Frauenbewegungen sein, zur Realisierung solcher Räume mit beizutragen“ (S. 269). Das Buch leistet eine wichtige und wertvolle Standortbestimmung (im doppelten Sinne) der neuen Frauenbewegung und der Frauenprojekte in Großstädten. Darüber hinaus leitet es aus der Betrachtung räumlicher Voraussetzungen und Bedingungen für Frauenprojekte Konsequenzen für die Produktion und Gestaltung urbaner Räume ab, die über das konkrete Beispiel hinausweisen. Die Frage nach den Wechselwirkungen zwischen (Frauen-) Öffentlichkeiten und urbanen Strukturen sowie ihrer (Re-) Produktion wird hier jedoch nur gestreift und in weiteren Forschungen noch zu beantworten sein. Sandra Huning Rübergeklappt Matthias Bernt: Rübergeklappt. Die „Behutsame Stadterneuerung“ im Berlin der 90er Jahre. Berlin 2003, Schelzk&Jeep architext 6, 300 Seiten und einige Grafiken, € 19,80 Wie der plastische Titel der Untersuchung des Berliner Politikwissenschaftlers ironischerweise suggeriert, stellte sich die Übertragung des „Erfolgsmodells“ Behutsame Stadterneuerung aus dem Kreuzberg der 1980er Jahre auf die riesigen Altbaubestände Ost-Berlins nicht so einfach dar, wie sich das bestimmte Akteure in West-Berlin vorgestellt hatten. Inzwischen dürfte sich herumgesprochen haben, dass die Stadterneuerung vor der deutschen Vereinigung unter ganz anderen Vorzeichen stand, insbesondere was die Eigentümerstruktur anbetrifft. In West-Berlin hatte es sich um eine mit hohem Subventionsaufwand betriebene Erneuerung unter der Ägide der Internationalen Bauausstellung gehandelt, die davon profitieren konnte, dass die öffentlichen Wohnungsbaugesellschaften, nach ihren Kahlschlagorgien früherer Zeiten einmal politisch auf Linie gebracht, vergleichsweise zahme Partner waren, die sich den Sanierungszielen der öffentlichen Verwaltung fügten und wegen ihrer Gemeinnützigkeit ohnehin kein Interesse an hohen Mieten haben mussten. In den 1990er Jahren haben die Rahmenbedingungen der deutschen Vereinigung dagegen schließlich eine weitgehend private Eigentümerstruktur in den Ost-Berliner Altbau- 236 Rundschau gebieten hervorgebracht, die nur noch eingeschränkt durch das Sanierungsinstrumentarium beeinflusst werden konnte. Zwangsläufig musste die öffentliche Hand reagieren, wollte sie weiterhin ihren Steuerungsanspruch aufrechterhalten und die bestandsorientierte Erneuerung behutsam gestalten. Wie dies geschah und welche Kräfte sich dabei politisch durchsetzen konnten, beschreibt Bernt an einigen in eine ausführliche Chronologie eingebetteten Fallstudien recht plastisch. Ausgehend von einem politikwissenschaftlichen Ansatz, der Regimetheorie, Diskursanalyse und Regulationstheorie zur Erklärung der Berliner Geschehnisse heranzieht, nimmt die theoretische Betrachtung jedoch nie so stark überhand, dass die Untersuchung von ihrem Gegenstand über Gebühr abstrahieren würde. Sie bleibt vielmehr eng an den Geschehnissen in den Sanierungsgebieten und in der Szene und damit gut nachvollziehbar. Selbst für Leser, die Vorkenntnisse im Feld der Stadterneuerung haben, wird die Vorgeschichte der 1980er Jahre mit einigen interessanten Detailinformationen und Interpretationen gespickt, um den Wechsel hin zur stärker privatwirtschaftlich geprägten Ära der 1990er Jahre verständlich zu machen. Für das Verständnis der späteren Ereignisse unerlässlich ist dabei die Würdigung, die Bernt dem Altbausanierungsgeschehen in Ost-Berlin vor der Vereinigung angedeihen lässt, gerade vor dem Hintergrund einer Verengung der bisherigen Sanierungsgeschichtsschreibung auf die IBA und Kreuzberg. Schon frühzeitig nach dem Fall der Mauer war die Notwendigkeit der Mobilisierung privater Mittel den Verantwortlichen in (West-)Berlin klar, so dass sich schließlich nach anfänglichen Versuchen einer radikaleren Thematisierung der Eigentumsund Verfügungsrechte bis in die Instandsetzungs- und Modernisierungspraxis hinein – ausgelöst durch die Bewohnerinitiativen vor Ort, die in Ost-Berlin eine bedeutende Rolle der Modernisierung in Selbsthilfe kennen gelernt hatten - ein doch ein recht vorsichtiger Umgang mit potentiellen Investoren durchsetzte. Die Verhandlungsposition, in der sich die öffentliche Hand befand, war demgemäß relativ schwach. Bernt zeigt an der Diskussion über neue Sanierungsleitlinien, wie Versuche der Senatsverwaltung für Bau- und Wohnungswesen zu einer deutlichen Senkung der sozialen Ansprüche an die Stadterneuerung aufgrund der sich abzeichnenden schwierigen Haushaltssituation vom intakt gebliebenen Sanierungsregime abgewehrt werden können, aber im Zuge dessen insbesondere die Beteiligung der vor Ort ansässigen Initiativen auf ein eher routineorientiertes Maß zurückgeschraubt wird und dabei das ursprüngliche Ziel einer umfassenden Beteiligung verloren geht. An der Diskussion um Mietobergrenzen wird wiederum deutlich, dass zwar einerseits gravierende Mietsteigerungen im Zuge der Sanierung kein Thema sind, aber eine ernsthafte Begrenzung und Orientierung an den Möglichkeiten der ärmeren Bevölkerung vor Ort auch nicht mehr stattfindet. Der Begriff der Behutsamkeit, so der Autor, entleert sich so immer weiter seines ursprünglichen Gehalts, indem die West-Berliner Szene allein und ohne Berücksichtigung der Ost-Berliner Bewohnerschaft über einen Kurswechsel verhandelt, der sich den eigentumsrechtlichen und finanziellen Gegebenheiten bis zu einem gewissen Grad beugt. Das Urteil über die Stadterneuerung im Berlin der 1990er Jahre muss Mega-Projekte und Stadtentwicklung 237 dementsprechend gemischt bis kritisch ausfallen. Einem solchen Urteil ist zunächst ohne Einschränkungen zuzustimmen, doch muss wohl anerkannt werden, wie gering einerseits die Spielräume für eine andere Politik waren und wie andererseits selbst die Szene immer wieder betont, dass die Stadterneuerung der 1980er Jahre mit völlig überzogenem finanziellem Aufwand betrieben worden sei. So kann – bei allem Respekt für die Feststellung, dass die eigentlich Betroffenen im Ost-Berlin der 1990er Jahre viel zu wenig Mitspracherechte hatten – die Bilanz der 1990er Jahre auch als „Normalisierung“ nach den üppigen West-Berliner Jahren interpretiert werden. Der Autor stellt sich dieser Interpretationsfrage nicht, will er doch zunächst den Wandel selbst erklären und verstehen helfen. Sucht man allerdings nach Folgerungen und der Möglichkeit einer Übertragung der Resultate auf andere vergleichbare Situationen, bleibt mithin die ernüchternde Feststellung, dass die politischen Kräfteverhältnisse einer Großen Koalition, ergänzt um die verschiedensten lobbyistischen Einflüsse in ihrem Umfeld, offenbar ganz folgerichtig eine Kompromisspolitik produzieren, der die „Zähne fehlen“, wenn es um reformerische Ansprüche geht. Wenn man, wie der Autor an zahlreichen Stellen durchblicken lässt, die Folgen eines solchen Politikwandels im Umfeld reduzierter Spielräume für Verteilungspolitik kritisch sieht und schon die sich nunmehr einstellenden Mietniveaus in Prenzlauer Berg und Friedrichshain für die sozial benachteiligte Klientel als inakzeptabel betrachtet, in einem quantitativ entspannten Wohnungsmarkt aber mit diesem Ansinnen kaum ein öffentliches Echo erzielen wird, fragt man sich natürlich, auf welche Weise dann überhaupt noch engagierte Politik für die sozial Benachteiligten möglich ist. Diese Frage am Beispiel einer Facette der räumlichen Planung erneut aufgeworfen zu haben, ist ein wichtiges Verdienst des Autors. Doch über Auswege (Konsequente politische Dezentralisierung? Noch stärkere Subjektförderung? Ausgleich für die erlittenen Belastungen von Verdrängung durch größere Selbstbestimmungsmöglichkeiten in den Zielgebieten der Verdrängten? Globalisierungskritik und kommunale Finanzreform? Verstärkte nicht geldwirtschaftlich organisierte Unterstützungsnetze?) werden sich noch viele Experten, vermutlich leider oftmals ohne Erfolg, den Kopf zerbrechen müssen. Uwe Altrock Entdeckung der mittelalterlichen Stadtplanung Klaus Humpert / Martin Schenk: Entdeckung der mittelalterlichen Stadtplanung. Konrad Theiss Verlag, Stuttgart 2001, 272 S., 250 kolorierte Abb., 21 x 28 cm, Gebunden mit Schutzumschlag, mit CD-ROM, ISBN 3 8062 1464 6, € 39,90 Auf dieses Buch hat man geradezu gewartet. Was Klaus Humpert und vor allem sein Mitarbeiter Martin Schenk aufbauend auf zunächst zufälligen Entdeckungen in 238 Rundschau jahrelanger Kleinarbeit zusammengetragen haben, ist mit „verblüffend“ äußerst zurückhaltend charakterisiert. Haarklein wird in ausführlichen Zeichnungen rekonstruiert, dass die scheinbar organischen und „gewachsenen“ Grundrisse mittelalterlicher Städte häufig Ergebnis eines Gründungsakts sind, dem eine präzise und umfassende Aufmessung des Territoriums folgt. In ihrem Rahmen werden nicht nur geometrische Bezüge zwischen dem Verlauf von Straßen, Wegen und Mauern sowie dem Standort von Kirchen, Toren oder Brunnen hergestellt. Noch überraschender ist die Tatsache, dass offenbar selbst viel später besiedelte Vorstädte bereits von Anfang an mit geplant wurden. Die Autoren geben selbst zu, dass sich in ihre Resultate einzelne Fehler eingeschlichen haben mögen, und bei aufmerksamem Studium der dargestellten beinahe universellen Vermessungstechnik fallen einem manchmal auch plausiblere Erklärungen für den einen oder anderen Standort oder Verlauf ein. Dies tut der schier erdrückenden Fülle von zusammenhängenden Belegen, die die Autoren vorlegen, jedoch in keiner Weise einen Abbruch. Aus ihnen ergibt sich ein Bild, das das bisherige Verständnis von der Entstehung mittelalterlicher Städte heftig erschüttern könnte. Dennoch erscheint der Untertitel des Bandes, „Das Ende vom Mythos der ‚gewachsenen Stadt’“, effekthascherisch. Weder bestreiten die Autoren, dass Städte auch über eine Vielzahl von kleineren Planungsentscheidungen im Detail jahrhundertelang „wachsen“, noch wurde bislang – spätestens seit Wolfgang Braunfels - die Existenz planerischer Regeln im Mittelalter grundsätzlich bestritten. Wer hätte jedoch gedacht, dass die fein abgestimmten Bögen von Gebäudefluchten und der gekrümmte Verlauf von Gassen und sogar die Stadtmauern und Bäche einem praktikablen System folgen, das im Wesentlichen auf der Aneinanderreihung von Kreissegmenten aufbaut? Zu vielgestaltig und für heutige Planer vielleicht geradezu abwegig war wohl dieses System der Vermessung mit einfachen Seilen, als dass es vorher entdeckt worden wäre. Führt man sich vor Augen, dass es vor der Einführung moderner Vermessungstechniken keineswegs trivial gewesen sein dürfte, im freien Feld über große Entfernungen für eine Besiedlung ökonomische Parzellen zu erzeugen, und macht man sich klar, dass dafür der Herstellung eines rechten Winkels eine Schlüsselbedeutung zukommen musste, dann leuchtet schnell ein, dass unter Verwendung einfachster mathematischer Zusammenhänge (Satz von Pythagoras), umgesetzt durch lange Messseile, modulartige Netze entstehen konnten, innerhalb derer eine Vielzahl bedeutender Messpunkte sehr einfach erzeugt wurden. Frappierend ist dabei, dass offenbar auch die Städte der Antike, wichtige Einzelgebäude und selbst Gemälde im Mittelalter auf eine ähnliche Weise durch modulare Kombination von geraden und kreisförmigen Linien entstanden. Die einleuchtend wirkenden Erkenntnisse stellen die Autoren mit einer Fülle von Beispielen dar, die nicht immer so spannend bleiben, wie die Materie es verdient hätte. Durch die beigegebene CD, die die Konstruktionsprinzipien veranschaulicht, werden sie zwar verständlich präsentiert, doch hätte man sich unter Verzicht auf ein paar Beispiele vielleicht zusätzliche Interpretationsansätze gewünscht, die nicht nur das Mega-Projekte und Stadtentwicklung 239 Vermessungsverfahren erklären, sondern auch die Motivation, die hinter ihm steht. Das Buch wirft diesbezüglich eine Reihe von Fragen auf, die es gilt, durch weitere Forschungsarbeiten zu beantworten, um seinen Erkenntnissen erst zu voller Tragweite zu verhelfen. Sind die Mauern der mittelalterlichen Städte deshalb so verschachtelt krumm, um sich an die Topographie oder Verläufe von Gewässern anzupassen? Sind die erzeugten Parzellen wirklich die wirtschaftlichsten, wie die Autoren vermuten? Dem Buch sei eine Reihe von Lesern gegönnt, die durch Aufklärung solcher Fragen zusätzliche wertvolle Einblicke in die Planung und das Leben des Mittelalters geben könnten. Uwe Altrock Shadows of Power Jean Hillier: Shadows of Power. An Allegory of Prudence in Land-Use Planning. London: Routledge 2002, XVIII+348 Seiten, US-$ 31,95 Selten war ich bei der Lektüre eines Buches so hin- und hergerissen wie hier. Jean Hillier, bekannt durch ihre jahrelange eingehende planungspolitische und planungstheoretische Auseinandersetzung mit Entscheidungsprozessen vor allem in Westaustralien, hat in der recht neuen, von Cliff Hague, Robin Boyle und Robert Upton herausgegebenen RTPI Library Series ein Werk vorgelegt, das eine große Zusammenschau dieser Arbeit darstellt und zur gleichen Zeit das Fundament zu einer Planungstheorie bilden will, die die kommunikativen Ansätze in der Tradition von Jürgen Habermas und die machttheoretischen Ansätze in der Tradition von Michel Foucault verzahnen und weiterentwickeln möchte. Dabei greift Hillier ganz wesentlich auf das Habitus-Konzept von Bourdieu zurück, das für sie gewissermaßen den Schlussstein zur Integration der beiden anderen Ansätze bildet. Das Buch beginnt mit einer Zusammenfassung der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den relevanten Konzepten von Habermas und Foucault. Es wird deutlich, wie stark sich – und wohl nicht nur nach Auffassung der Autorin – die englischsprachige Planungstheorie in den letzten Jahren auf Habermas gestützt hat. Dabei konnte es nicht ausbleiben, dass dessen Gedankengut verfremdet und vielleicht sogar überschätzt wurde. Habermas ist nun einmal ein Philosoph und Sozialwissenschaftler und kein Planungstheoretiker. Wieder einmal tut sich eines der Grundprobleme der Politikwissenschaft auf: Analytische und normative Konzepte werden nicht sauber getrennt. Und dann wird dem normativ arbeitenden Habermas mehr oder minder vorgeworfen, er erfasse die Realität nicht. Das tue schon Foucault besser, der sich intensiv mit der Machtfrage auseinandersetzt. Nun, Habermas hier mehr oder minder explizit Naivität vorzuwerfen, finde ich eher müßig. Ihn auf den Thron zu stellen aber ebenfalls. Eine kritische Auseinandersetzung sollte lieber nach- 240 Rundschau fragen, was er selbst eigentlich mit seinen Schriften erreichen wollte. Vor diesem Hintergrund gelingt es Hillier, die Dinge ein wenig gerade zu rücken, wenngleich Restzweifel bleiben. Zwar ist es sinnvoll, neben kommunikative Ansätze auch machttheoretische zu stellen, wenn man sich der planungspolitischen Wirklichkeit annähern möchte. Aber das ist doch eigentlich mindestens seit den 1950er Jahren gängig in der Politikwissenschaft, wie immer man deren Ergebnisse bewerten mag. Hillier bezieht sich auf diese gar nicht. Und, ganz Kind der Postmoderne, haut sie einem die Literaturhinweise nur so um die Ohren, dass einem am Ende der Einführung der Kopf schwirrt. Man weiß aber nicht recht einzuschätzen, wie relevant die genannten Werke jeweils sind. Die Ergänzung um Bourdieu ist sinnvoll, doch auch hier fragt man sich, ob sich der Aufwand der Auseinandersetzung lohnt, da man auf der einen Seite kein richtiger Bourdieu-Kenner wird, auf der anderen Seite aber die oberflächliche Ergänzung der kommunikativen und der Machttheorie um die stärker an der politischen Kultur orientierte Habitus-Konzeption in einer solchen Zusammenschau nicht viel eindrucksvoller werden kann, als man sich das ohnehin schon dachte und es von anderen Forschern längst ebenfalls zusammen gedacht wird. Aufbauend auf den ersten Kapiteln trägt Hillier ihre Erfahrungen aus Planungsprozessen vor allem in Australien zusammen. Hier wird es richtig anschaulich und interessant. Aufgrund der Raffung der Auseinandersetzung, ihres zwangsläufig punktuellen Charakters und der Isoliertheit der Fälle gegenüber vielen anderen existierenden Fallstudien, die Hillier im Gegensatz zu den zahlreichen planungsphilosophischen und im engeren Sinne postmodern-gesellschaftstheoretischen Beiträgen anderer Kolleginnen und Kollegen kaum würdigt, gelingt ihr aber nur stellenweise mehr als eine erläuternde Untermauerung der theoretischen Auseinandersetzung. Die von ihr selbst angekündigte Unterstützung von Praktikern durch die systematische Analyse dessen, was in der Praxis vorkommen kann, hätte eine etwas eingehendere Betrachtung erfordert. Als kleiner Höhepunkt kann die Einbeziehung völlig anderer Sichtweisen auf Planungsprozesse angesehen werden, die sich aus der Auseinandersetzung mit den Auffassungen und Bedeutungszuschreibungen der Aborigines ergibt. Hillier geht es mit ihren Ausführungen hauptsächlich darum zu zeigen, dass Planungsprozesse nicht unabhängig von den sozial konstruierten, subjektiven raumbezogenen Identitäten, Bedeutungen und Werten der Bewohner und der Planer selbst verstanden werden kann. Sie stellt sich wie viele andere Autor/inn/en vor ihr explizit gegen die technokratische Vorstellung von einem linearen, zielgerichteten und objektiven Planungsprozess. Gegen Schluss wird es dann ein wenig redundant. Das würde nichts machen, wenn es lediglich der Festigung des zuvor ausgebreiteten theoretischen Fundaments dienen würde. Man hat aber eher den Eindruck, der Autorin sei unterwegs ein Stück weit die Puste ausgegangen. Eine heroische Leistung war es sicherlich, diese riesige, wenngleich selektive Literaturschau und das große Gedankengebäude in weniger als einem halben Jahr zusammenzutragen. Nichtsdestoweniger fragt man sich, um wie viel weiter die Planungstheorie hier wirklich gekommen ist. Hillier als weit vernetzte Theoretikerin scheint viele Bezüge und den Stand der Theorie gar nicht einbeziehen Mega-Projekte und Stadtentwicklung 241 zu wollen. Vielleicht unterschätzt sie auch nur die Kolleginnen und Kollegen, denen sie teilweise wenig tief schürfendes als Neuigkeiten verkauft. Die komplizierten Begriffe, die abgehobenen postmodernen Ansätze und die Ästhetik der Sophisterei in der Anlage des Buchs sind sicherlich Geschmackssache. Viele Hinweise auf Denkschulen und ein riesiges Literaturverzeichnis auf dem Feld der Planungsphilosophie bleiben eines der großen Verdienste beim Verfassen des Buchs. Eine Kritik an isolierten Ansätzen und einer Überschätzung der Anwendbarkeit von Habermas auf die Planungstheorie sind ebenfalls sinnvoll, wie viele andere zupackende Einzelbausteine des Buchs. Schade, dass dieses anregende Konglomerat sich selbst zu mehr stilisiert, als es tatsächlich zu leisten vermag. Uwe Altrock 242 AUTORINNEN UND AUTOREN Uwe Altrock, Prof. Dr.-Ing., BauAss., Juniorprofessor für Stadterneuerung an der BTU Cottbus Robert Beauregard, Ph. D., Architekt und Stadtplaner, Professor an der Milano Graduate School of Management and Urban Policy, New School for Social Research Director, Leiter des PhD-Programms Public and Urban Policy, u. a. Autor und Herausgeber von Büchern wie The Urban Moment: Cosmopolitan Essays on the Twentieth Century City, Voices of Decline: The Postwar Fate of U.S Cities und Revitalizing Cities Søren Buhl, Associate Professor für Mathematik and der Universität Aalborg/ Dänemark, Mitarbeiter des Forschungsprogramms für Verkehrsgroßprojekte, Schwerpunkt Statistik Floridea DiCiommo Doktorandin an der Ecole Nationale des Ponts et Chaussées, Laboratoire Techniques, Territoires et Sociétés LATTS, Paris/Frankreich, Stadtplanerin und Sozialwissenschaftlerin, ehemalige Mitarbeiterin der Provinz Cremona/ Italien und freie Beraterin Bent Flyvbjerg, Professor für Planung an der Universität Aalborg/Dänemark, Direktor des Forschungsprogramms für Verkehrsgroßprojekte, Autor von Rationality and Power und Making Social Science Matter Simon Güntner, Dipl. Soz.-Wiss. MSc, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der TU Berlin, Fachgebiet Stadt- und Regionalsoziologie Charlotte Halpern, Politikwissenchaftlerin, Doktorandin am Institut d‘Etudes Politiques de Paris (CEVIPOF), Fachgebiet politische Soziologie und public policy Jochen Hanisch, Prof. Dr.-Ing., Landschaftsplaner, Gastprofessor für Planungstheorie an der TU Berlin, Inhaber eines freien Landschaftsplanungsbüros Mette Skamris Holm, Assistant Professor für Planung an der Universität Aalborg/ Dänemark, Forschungsmitarbeiterin des dortigen Forschungsprogramms für Verkehrsgroßprojekte, Schwerpunkt ökonomische Tragfähigkeit von Projekten Sandra Huning, Dipl.-Ing., Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der TU Berlin, Fachgebiet Stadt- und Regionalsoziologie Renzo Lecardane, Architekt, Doktorand an der Ecole Nationale des Ponts et Chausées in Paris/Frankreich, Forschungsschwerpunkt Ausstellungsgroßprojekte Mega-Projekte und Stadtentwicklung 243 Deike Peters, PhD, Master of Urban Planning, Master of International Affairs, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Stadt- und Regionalplanung der TU Berlin Frank Roost, Dipl.-Ing. Stadt- und Regionalplanung (TU Berlin, Columbia University / New York), seit Oktober 2000 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachgebiet Planungs- und Architektursoziologie der TU Berlin, Forschungsaufenthalte u.a. am United Nations Institute for Advanced Studies in Tokyo Frank Scholles, Dr. rer. hort., Landschafts- und Freiraumplaner, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Landesplanung und Raumforschung der Universität Hannover, Forschungsschwerpunkte Methoden der Raum- und Umweltplanung, Umweltverträglichkeitsprüfung, Umwelt- und Planungsinformatik, Nachhaltige Entwicklung, eLearning Katja Simons, Sozialwissenschaftlerin, seit September 2003 als Projektmanagerin für den Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) in New York, Promotion an der Ruhr-Universität Bochum, ehemalige wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Stadt- und Regionalsoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin Wulf Tessin, Prof. Dr., Professor für planungsbezogene Soziologie an der Universität Hannover, Veröffentlichungen zum Verhältnis von Stadt Wolfsburg und Volkswagenwerk und von Büchern wie Faszination Wolfsburg : 1938-2000 und Umsetzung und Umsetzungsfolgen in der Stadtsanierung 244 BISHER ERSCHIENEN: Ausgabe 01, Winter 2001 Ausgabe 02, Sommer 2001 Ausgabe 03/04, Winter/Frühjahr 2002 (Thema: Berlin nach der Wahl) Ausgabe 05, Herbst 2002 (Thema: Alternative Mobilität) Ausgabe 06, Winter 2003 (Thema: Planungssysteme in Europa im Wandel) Ausgabe 07, Juni 2003 (Thema: Turbulenzen in der Planung)