mega-projekte und stadtentwicklung

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mega-projekte und stadtentwicklung
PR 08
Inhalt
MEGA-PROJEKTE UND
STADTENTWICKLUNG
HERAUSGEGEBEN VON UWE ALTROCK, SIMON
GÜNTNER, SANDRA HUNING, DEIKE PETERS
Sandra Huning / Deike Peters: Mega-Projekte und Stadtentwicklung
Katja Simons: Großprojekte in der Stadtentwicklungspolitik:
Zwischen Steuerung und Eigendynamik - das Beispiel Euralille
Frank Scholles: Planung und Unsicherheit: Der Risikobegriff
in Theorie und Methodik der Umweltplanung
Jochen Hanisch: Das Elend der Raum- und Umweltplanung im praktizierten
Neoliberalismus. Das Beispiel der Erweiterung der Airbus-Produktionsanlagen in Hamburg
Charlotte Halpern: Flughäfen zwischen Wettbewerbsfähigkeit und politischer Integration.
Das Beispiel Paris /Charles de Gaulle
Wulf Tessin: Kraft durch Freude? Wolfsburgs Weg aus der Arbeits- in die Erlebnisgesellschaft
Frank Roost: Metropolen als Standorte imageorientierter Großprojekte: Das Beispiel Tokyo
Robert Beauregard: Die Wiederaufbauplanung für das World Trade Center in New York
Renzo Lecardane: Territorium, Stadt, Großprojekte - Das Beispiel der Expo´98 in Lissabon
Uwe Altrock: Der Schlossplatz in Berlin im Licht der Großprojektforschung
Rundschau
Margit Mayer: Der Höhenflug des Sozialkapital-Konzepts
(Vorstellung von Sandra Huning)
Yvonne P. Doderer: Urbane Praktiken. Strategien und Raumproduktionen
feministischer Frauenöffentlichkeit (Besprechung von Sandra Huning)
Matthias Bernt: Rübergeklappt. Die ‚behutsame Stadterneuerung‘ im Berlin der 1990er Jahre
(Besprechung von Uwe Altrock)
Klaus Humpert / Martin Schenk: Entdeckung der mittelalterlichen Stadtplanung
(Besprechung von Uwe Altrock)
Jean Hillier: Shadows of Power
(Besprechung von Uwe Altrock)
MEGA-PROJEKTE UND STADTENTWICKLUNG
Bent Flyvbjerg / Mette Skamris Holm / Søren Buhl:
Kostenunterschätzung bei öffentlichen Bauprojekten: Fehler oder Lüge?
PLANUNGSRUNDSCHAU 8
OKTOBER 2003
MEGA-PROJEKTE UND STADTENTWICKLUNG
REIHE PLANUNGSRUNDSCHAU
Ausgabe 8
Berlin 2003
ISBN 3-937735-00-3
www.planungsrundschau.de
ISSN (Print) 1617-7037
ISSN (Internet) 1617-7045
Herausgeber
Uwe Altrock, Simon Güntner,
Sandra Huning, Deike Peters
Schlussredaktion
Uwe Altrock
Satz und Layout
Tobias Janseps
Kontakt und Bezug
Planungsrundschau, Verlag Uwe Altrock
c/o Juniorprofessur Stadterneuerung
Prof. Dr. Uwe Altrock
Brandenburgische TU Cottbus
Erich-Weinert-Straße 1
03046 Cottbus
E-Mail altrock@tu-cottbus.de
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
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INHALT
Sandra Huning / Deike Peters
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
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THEMA: MEGA-PROJEKTE UND STADTENTWICKLUNG
Bent Flyvbjerg / Mette Skamris Holm / Søren Buhl
Kostenunterschätzung bei öffentlichen Bauprojekten:
Fehler oder Lüge?
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Katja Simons
Großprojekte und Stadtentwicklungspolitik:
Zwischen Steuerung und Eigendynamik - das Beispiel Euralille
35
Frank Scholles
Planung unter Unsicherheit:
Der Risikobegriff in Theorie und Methodik der Umweltplanung
51
Jochen Hanisch
Das Elend der Raum- und Umweltplanung im praktizierten
Neoliberalismus. Das Beispiel der Erweiterung der AirbusProduktion in Hamburg
71
Charlotte Halpern
Flughäfen zwischen Wettbewerbsfähigkeit und politischer
Integration. Das Beispiel Paris - Charles de Gaulle
92
Floridea Di Ciommo
Der Norden von Paris.
Auf dem Weg zu einer interkommunelen Zusammenrabeit
122
Wulf Tessin
Kraft durch Freude?
Wolfsburgs Weg aus der Arbeits- in die Erlebnisgesellschaft
135
Frank Roost
Metropolen als Standorte imageorientierter Großprojekte. Das
Beispiel Tokyo
149
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Großprojekte und Stadtentwicklung
Bob Beauregard
Die Wiederaufbauplanung für das World Trade Center
in New York
Renzo Lecardane
Territorium, Stadt, Großprojekte.
Das Beispiel der Expo´98 in Lissabon
Uwe Altrock
Der Schlossplatz in Berlin im Licht der Großstadtforschung
161
176
191
RUNDSCHAU
Margit Mayer
Der Höhenflug des Sozialkapital-Konzepts
(Vorstellung von Sandra Huning)
Yvonne P. Doderer
Urbane Praktiken. Strategien und Raumproduktionen
feministischer Frauenöffentlichkeit
(Besprechung von Sandra Huning)
218
232
Matthias Bernt
Die ‚behutsame Stadterneuerung‘ im Berlin der 1990er Jahre
(Besprechung von Uwe Altrock)
235
Klaus Humpert / Martin Schenk
Die Entdeckung der mittelalterlichen Stadtplanung
(Besprechung von Uwe Altrock)
237
Jean Hillier
Shadows of power
(Besprechung von Uwe Altrock)
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AUTORINNEN UND AUTOREN
242
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
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Sandra Huning / Deike Peters
MEGA-PROJEKTE UND STADTENTWICKLUNG
Ist über Großprojekte nicht schon alles gesagt, was es zu sagen gibt? Vor allem in
den 1990er Jahren hat das Thema eine enorme Resonanz erfahren und eine Vielzahl
von Veröffentlichungen hervorgebracht, von denen viele bis heute an Aktualität wenig verloren haben. Nichtsdestotrotz hat sich die Redaktion der Planungsrundschau
für diese Ausgabe vorgenommen, das Thema aufzugreifen. Dabei geht es uns konkret darum, mit Hilfe deutscher und internationaler Beiträge verschiedene Bezüge
zur aktuellen planungstheoretischen Diskussion herzustellen bzw. zu vertiefen. Dies
erscheint uns zum einen insofern lohnend, weil im Verlauf der vergangenen Jahre
eine Reihe von Erfahrungen mit der „Planung durch Großprojekte“ gesammelt worden ist, die heute einen distanzierteren Blick auf das Thema zulassen als noch vor
zehn Jahren und die Frage aufwerfen, ob diesbezügliche Lernprozesse in der Planung
stattgefunden haben. Zum anderen haben sich in der Planungstheorie selbst in der
Zwischenzeit neue Forschungsansätze etabliert, die Großprojekte gegebenenfalls in
einem anderen Licht erscheinen lassen oder neue theoretische Zugänge zeigen können. Mit letzterem meinen wir z.B. die Entdeckung steuerungstheoretischer Ansätze
aus der lokalen Politikforschung für die Planungstheorie.
1. Was sind überhaupt Großprojekte?
Welche Kennzeichen muss ein Projekt aufweisen, um als Großprojekt definiert zu
werden: ist es die Summe der eingesetzten Investitionsmittel, ist es die Ausbreitung
des Projektes in der Fläche, die stadt-, regional- oder infrastrukturpolitische Funktion, die es erfüllt, oder geht es um die Anzahl der betroffenen Bürgerinnen und
Bürger? Die Antworten darauf fallen unterschiedlich aus, je nachdem, aus welcher
Perspektive man sich dem Thema zuwendet. Wir möchten an dieser Stelle mehrere
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Großprojekte und Stadtentwicklung
Typen von Großprojekten unterscheiden, die jeweils wiederum sehr heterogen ausgestaltet sein können und auch als diverse Mischformen existieren:
• Großveranstaltungen finden in regelmäßigen zeitlichen Abständen in Städten und Regionen statt, die sich in einem mehr oder weniger aufwendigen Auswahlverfahren
gegen ihre Mitbewerber durchgesetzt haben. Auf internationaler Ebene handelt
es sich z.B. um Weltausstellungen und Olympische Spiele, auf europäischer Ebene um die Kulturhauptstadt oder auf bundesdeutscher Ebene um Bundesgartenschauen. In der Regel haben die Veranstaltungen eine jahrelange Vorlaufzeit
und werden als Aufhänger für eine Vielzahl von Infrastruktur- oder sonstigen
Entwicklungsmaßnahmen genutzt – auch, weil sie häufig durch die Bundes- oder
Landesebene kofinanziert werden. Entsprechend sind die Auswirkungen von
Großveranstaltungen noch lange über den eigentlichen Veranstaltungszeitraum
hinaus zu sehen und zu spüren. Zuständig für Planung und Organisation sind in
der Regel public-private partnerships. Obwohl es zwar immer wieder neue und interessante Fallstudien zu dieser event-orientierten Version von Großprojekten gibt, hat
sich bezüglich ihrer planungstheoretischen Einordnung hier in den letzten zehn
Jahren wenig getan, weshalb das von Hartmut Häußermann und Walter Siebel
bereits vor zehn Jahren herausgegebene Leviathan-Sonderheft „Festivalisierung
der Stadtpolitik – Stadtentwicklung durch große Projekte“ eine immer noch gültige Zusammenfassung der Debatte liefert. In dieser Ausgabe steht der Beitrag
von Renzo Lecardane über die Expo in Lissabon stellvertretend für diese Art von
Event-Großprojekten.
• Flagship-Image-Projekte werden von Kommunen, Privatinvestoren oder public-private
partnerships mit zwar im Detail unterschiedlichen Zielen entwickelt, im Allgemeinen sollen sie jedoch als Alleinstellungsmerkmale den Bekanntheitsgrad der Stadt/
Region erhöhen oder ein bestimmtes Image für eine Stadt bzw. Region und/oder
ein Unternehmen vermitteln. Ein Paradebeispiel hierfür ist die von Wulf Tessin in
dieser Ausgabe beschriebene Autostadt Wolfsburg.
• Urban-Renaissance-Projekte wollen durch die gezielte Aufwertung von Industriebrachen und anderen city-nahen Lagen städtisches Leben wieder attraktiv machen. Hierbei erhalten jedoch Entertainment, (Massen-)Kultur und kommerzielle
Nutzungen meist einen viel höheren Stellenwert als Wohnnutzungen. Dies lässt
dann statt neuer innenstadtnaher integrierter Nachbarschaften entweder tourist
bubbles (Judd und Fainstein), neue Bürostandorte oder eine Kombination derselben entstehen, die dann typischerweise umgeben sind von gentrifizierten Wohninseln. In diese Kategorie gehören vor allem diverse Hafenentwicklungsprojekte
(London Docklands, Boston Harbor, HafenCity Hamburg, Puerto Madero Buenos Aires etc) und Urban Entertainment Center (Potsdamer Platz), aber auch die millionenschweren, von Stararchitekten entworfenen Museumsbauten, z.B. in Bilbao
(Gehrys Guggenheim-Museum), Berlin (Libeskinds Jüdisches Museum und I.M.
Peis Anbau des Historischen Museums) oder Los Angeles (Richard Meiers GettyMuseum). Ähnlich wie bei der event-orientierten Literatur ist die stadtentwick-
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
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lungspolitische Bedeutung von Flagship- und Urban-Renaissance-Großprojekten
anhand von vielfältigen Fallbeispielen in den letzten 10-15 Jahren bereits verhältnismäßig umfassend erforscht worden.
• Schließlich gibt es die Kategorie der Infrastruktur-Großprojekte, d.h. Megaprojekte
von einem Investitionsvolumen von mehreren hundert Millionen bis zu mehreren Milliarden Euro. Dazu zählen vor allem Flughäfen, Bahnhöfe, Tunnel,
Brücken und andere Verkehrsprojekte, aber auch Technologieparks wie der Wissenschaftsstandort Adlershof in Berlin. Die Finanzierung erfolgt vornehmlich
durch die öffentliche Hand, und zwar in der Regel weniger durch die kommunale
Regierung als vielmehr durch Land oder Bund, da die Anlagen und Trassen im
Allgemeinen eine überörtliche oder sogar eine überregionale Bedeutung haben.
Hierbei sind innerstädtische Großbahnhöfe wie das in dieser Ausgabe von Katja
Simons beschriebene Euralille Projekt (weitere Beispiele sind das Stuttgart-21Projekt und der Lehrter Bahnhof in Berlin) selbstverständlich gleichzeitig auch
als Flagship-Image- bzw. Urban-Renaissance-Projekte einzustufen. Es sollte nicht
überraschen, dass der Schwerpunkt dieser Ausgabe auf eben solchen infrastrukturellen Großprojekten liegt, d.h. auf Projekten, die neben ihren anderen möglichen symbolischen und imagefördernden Bedeutungen eine konkrete öffentliche
Infrastrukturfunktion erfüllen. Die Analyse solcher Projekte erscheint nämlich
für die aktuelle planungs- und steuerungstheoretische Debatte vor allem deshalb
interessanter und ergiebiger, da man sich aufgrund ihrer weitreichenden infrastrukturellen Bedeutungen und ihrer vor allem durch öffentliche (Steuer-) Gelder
vorangetriebenen Finanzierung gezielt die Frage nach dem öffentlichen Nutzen
stellen sowie planerische und politische Legitimitäten überprüfen muss. Bob Beauregard problematisiert in seinem Artikel dann auch wiederholt die Tatsache,
dass die für den WTC-Wiederaufbau verantwortlichen (halböffentlichen) Träger
das „öffentliche Interesse“ keinesfalls angemessen vertreten. Und Bent Flyvbjerg
und seine KollegInnen argumentieren gar, dass Projektentwickler und Politiker
die Öffentlichkeit oft wissentlich belügen, um politisch opportune Großinfrastrukturprojekte finanziell attraktiv genug erscheinen zu lassen.
Mit dem Begriff „Projektorientierung in der Planung“ sind heute vor allem zwei
Sachverhalte gemeint: Erstens, dass die Planung durch ein Großprojekt überhaupt
erst angestoßen oder zumindest unterstützt wird (z.B. die Planung von Veranstaltungsorten, Unterkünften, Infrastruktur etc. für eine anstehende Weltausstellung
oder von Zufahrtsstraßen, Bahnanbindungen etc. für einen neuen Flughafen), oder
zweitens, dass die Planung sich durch Projekte vollzieht, wobei das Projekt Mittel
zum Zweck und Teil einer umfassenderen Planungsstrategie ist bzw. sein sollte (z.B.
ein Urban Entertainment Center als Beitrag zur Innenstadt-Revitalisierung oder ein
Technologiepark als Element eines neuen Images für einen Stadtteil). Der Einfluss
auf die Raumstruktur ist dabei immer erheblich.
Nicht zu unterschätzen sind auch die Konsequenzen für die politische Steuerung.
Denn Planung und Entwicklung von Großprojekten finden häufig außerhalb der üb-
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Großprojekte und Stadtentwicklung
lichen, demokratisch legitimierten institutionellen Zusammenhänge statt; es werden
public-private partnerships, Entwicklungsgesellschaften o.ä. gegründet und informelle
und kooperative Planungsverfahren eingesetzt, vor allem um eine Beschleunigung
der Projekte zu erreichen.
Unabhängig davon, welche Charakteristika Großprojekte im Einzelnen aufweisen,
sind sie alle gleichermaßen eingebunden in einen Wandel gesellschaftlicher, ökonomischer wie politischer Rahmenbedingungen, der die Entstehung von Großprojekten befördert und damit auch die Planungsdisziplin selbst verändert hat.
2. Warum Planung durch Großprojekte?
Innerhalb der Globalisierungsdiskurse der vergangenen Jahre herrscht die weit
verbreitete Meinung vor, dass Städte und Regionen heute in einem internationalen
Standortwettbewerb miteinander stehen. Gestützt wird die entsprechende Argumentation durch die gleichzeitig stattfindende Liberalisierung der Märkte und weitere
Ausweitung von Handelsbeziehungen. In der Folge sind kommunale und regionale
Akteure darum bemüht, ihre Städte und Regionen als Standorte für Unternehmen
und (internationale) Organisationen zu profilieren. Großprojekte und Großveranstaltungen sind hierbei besonders geeignet, zumindest für einen bestimmten Zeitraum
die mediale Aufmerksamkeit zu sichern und bestenfalls der (Welt-) Öffentlichkeit ein
markantes und einprägsames Image zu vermitteln.
Die gleichzeitige eklatante Finanznot des Staates führt dazu, dass auf kommunaler und regionaler Ebene selbst für die Pflichtaufgaben häufig nicht mehr das nötige
Geld vorhanden ist. Großprojekte bieten die Möglichkeit, sowohl private als auch
überregionale Gelder für lokale Entwicklungsmaßnahmen zu aktivieren, sei es für
einen Ausbau der U-Bahn, ein neues Wohngebiet oder die Aufwertung eines Stadtteils. Darüber hinaus bringen sich inzwischen auch private Unternehmen mehr oder
weniger aktiv in die Stadtentwicklungspolitik ein, sei es als Teil der eigenen Unternehmenspolitik oder als Beitrag zur Aufwertung des eigenen Standorts. Städte und
Regionen werden damit von Lebensräumen für ihre Bürgerinnen und Bürger immer
stärker zu Kulissen für und Standorte von Privatunternehmen und als solche ausgebaut.
3. Inwiefern sind Großprojekte anders als „normale“ Planung?
Neben allen Unterschieden zwischen den vier o.g. Typen von Großprojekten existieren auch Gemeinsamkeiten, die der Planung eine neue Qualität verleihen. Planung
verändert sich, wenn sie projektförmig verläuft, insbesondere dann, wenn es sich
um ein Großprojekt handelt. Die rahmensetzende Funktion der Planung tritt hier
zugunsten einer stärkeren Handlungsorientierung in den Hintergrund. Planerinnen
und Planer können sich als „Macher“ präsentieren und ihren Ruf als bürokratische
Verhinderer abstreifen. Im Idealfall sind Großprojekte eingebunden in eine umfassende städtische/regionale Entwicklungspolitik und werden nicht isoliert umgesetzt,
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
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sondern potentielle Wechselwirkungen und Rückkopplungen mit anderen raumrelevanten Prozessen und Maßnahmen werden frühzeitig berücksichtigt und betroffene
Akteure regelmäßig beteiligt oder zumindest gehört. In der Realität entwickeln Großprojekte jedoch aus verschiedenen Gründen häufig eine unaufhaltbare Eigendynamik, die Gegenstimmen überrollt, Gegenargumente gar nicht erst zulässt und auch
bei absehbarem Scheitern eines Projektes keine Ansatzpunkte für einen geordneten
Rückzug bietet, wenn das Projekt erst einmal angelaufen ist. Dies gilt um so stärker,
je höher der finanzielle Aufwand ist.
Während es sich bei Planung im Allgemeinen um einen kontinuierlichen, regelmäßig korrigierbaren Prozess handelt, haben Projekte oft ungefähr absehbare Startund Schlusspunkte; und es herrscht Uneinigkeit darüber, ob und wie genau sich die
finanziellen Kosten und sonstigen Risiken von Großprojekten überhaupt im Voraus
kalkulieren lassen (vgl. dazu Flyvbjerg u.a. und Scholles in diesem Heft). Für die
Umsetzung von Großprojekten werden öffentliche und private Finanzressourcen in
einem Umfang gebündelt, der häufig Widerspruch provoziert: Alle Anstrengungen
werden auf ein großes Projekt konzentriert, das die Stadt, die Region oder gar das
ganze Land entscheidend aufwerten und voranbringen soll, während in anderen Bereichen immer weiter gespart werden muss. Das Argument der Projektbefürworter
lautet in einem solchen Fall, dass das Abrufen privater und überregionaler Gelder nur
im Rahmen dieses Großprojektes möglich sei; bei großen Infrastrukturmaßnahmen
sind die (europäischen, Bundes- oder Landes-) Gelder häufig genau für dieses Projekt
reserviert und können auf lokaler/regionaler Ebene nur zu diesem Zweck abgerufen
werden.
Der Vorteil ist der, dass Planung im Rahmen eines Großprojektes in vielen Fällen
für die Bürgerinnen und Bürger interessanter, anschaulicher und nachvollziehbarer
wird, denn es handelt sich um ein konkretes Vorhaben, bei dem Ziel und Zweck im
Vorfeld ausdiskutiert und festgelegt werden und Erfolg oder Misserfolg vermeintlich
im Nachhinein messbar sind. Das Beteiligungsinteresse liegt somit sehr viel höher als
bei der z.B. Erstellung von Rahmenplänen.
Gleichzeitig liegt jedoch ein Problem, das viele Planerinnen und Planer ebenso wie
viele Bürgerinnen und Bürger gerade mit Großprojekten haben, in fehlender Transparenz und unzureichender Legitimität. Dies hängt nicht notwendigerweise mit projektorientierter Planung an sich zusammen als vielmehr mit dem organisatorischen
oder institutionellen Rahmen, in dem sie stattfindet. Akteure sind bei Großprojekten
in der Regel eben nicht nur staatliche – sprich: demokratisch legitimierte – Akteure,
sondern auch private Investoren, die das notwendige Finanzkapital zur Durchsetzung der Großprojekte beisteuern. Aber auch überregionale staatliche Interessen
werden ggf. ohne Berücksichtigung spezieller lokaler oder regionaler Gegebenheiten
umgesetzt (vgl. für das Beispiel der Niederlande den Beitrag von Wolsink in der Planungsrundschau 6; in diesem Heft z.B. den Beitrag von Charlotte Halpern). Unter
dem Stichwort „Urban Governance“ bzw. „Regional Governance“ werden solche
Kooperationen auch theoretisch etabliert.
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Großprojekte und Stadtentwicklung
4. Was heißt das für die Planungstheorie?
Für die Planungstheorie ergeben sich aus den Erfahrungen mit Großprojekten
verschiedene Anknüpfungspunkte. Drei Forschungsfelder sind aus unserer Sicht
besonders interessant, die durchaus Überschneidungen aufweisen, aber auch ganz
eigene Zugänge zulassen:
Erstens stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Großprojekten zur längerfristigen Stadt- oder Regionalentwicklung. Inwieweit sind Großprojekte in eine Strategie des „perspektivischen Inkrementalismus“ (Ganser) oder des „Mixed Scanning“
(Etzioni) eingebunden? Oder handelt es sich hierbei um eine Hinwendung zum
reinen Inkrementalismus? Wie können Langfristperspektiven und Großprojekte im
Planungsprozess zusammengebracht werden? Inwiefern sind heute vielleicht symbolische Erträge großer Projekte wichtiger als ihr realer Nutzen?
Zweitens ist die Betrachtung von Großprojekten aus steuerungstheoretischer
Perspektive interessant. Für die Umsetzung eines Großprojektes werden neue Koalitionen gebildet, formelle Instrumente werden zugunsten von informellen und
kooperativen Verfahren zurückgestellt. Welche Konsequenzen ergeben sich daraus
für stadt-/regionalpolitische governance? Wie können Transparenz und demokratische
Legitimation des Planungs- und Umsetzungsprozesses gewährleistet werden? Mit
Hilfe von Governance-Ansätzen kann eventuell auch die bei vielen Großprojekten
unzureichend wahrgenommene gesamträumliche Perspektive mit den verschiedenen
beteiligten Akteuren gestärkt werden.
Drittens werfen Großprojekte die Frage nach der Risikoabschätzung und Risikokontrolle planerischer Eingriffe in bestehende Strukturen ganz neu und in einem großen Maßstab auf. Lassen sich Planungsfolgen zuverlässig prognostizieren? Inwiefern
können Mechanismen in den Planungsprozess eingebaut werden, die in regelmäßigen
zeitlichen Abständen eine Zwischenüberprüfung erwünschter und unerwünschter
Folgewirkungen zulassen und ggf. Korrekturen zulassen? Wie kann die vermeintliche
Eigendynamik großer Projekte gebremst werden?
5. Die Beiträge
Die Beiträge in diesem Heft thematisieren diese Fragen anhand verschiedener Beispiele und mit Hilfe unterschiedlicher theoretischer Zugänge. Fast alle stimmen darin
überein, dass im Fall von Großprojekten eine Interessenverflechtung städtischer und
ökonomischer Akteure vorliegt, die eine planerische Abwägung und die Verfolgung
anderer, z.B. ökologischer oder sozialer Belange erschwert, wenn nicht sogar unmöglich macht. Während die Technokratie in ihrer Ausprägung der Nachkriegszeit an Bedeutung verloren hat, was einerseits mit der ökonomischen „Globalisierung“ begründet wird, andererseits aber auf die Stärkung supra- und subnationaler institutioneller
Ebenen zurückzuführen ist, setzen sich bei neuen kooperativen Verfahren diejenigen
Interessen durch, die anpassungsfähig sind und entsprechende Kompetenzen haben:
In wenigen Fällen kommen dabei auch organisierte lokale Interessen zum Zuge,
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
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häufig aber nach wie vor insbesondere Kapitalinteressen. Kommunen sind dabei vor
dem Hintergrund eines vermeintlichen globalen ökonomischen Wettbewerbs nicht
mehr vorrangig Lebensräume ihrer Bevölkerung, sondern Standorte und Bühnen
von Unternehmen und ihren Strategien.
Katja Simons beleuchtet in ihrem Beitrag am Beispiel von Euralille die politische
Steuerung städtebaulicher Großprojekte. Bei der Planung und Umsetzung eines
Großprojektes handelt es sich nicht um eine Routineaufgabe, sondern um einen erheblichen und außergewöhnlichen Eingriff in die Stadtstruktur, durch den finanzielle
und personelle Ressourcen in hohem Umfang gebunden werden. Deshalb werden
auch Entscheidungs- und Organisationsstrukturen den besonderen Erfordernissen
angepasst. Am Beispiel von Euralille wird gezeigt, wie dies zulasten von Transparenz,
Legitimität und Demokratie gehen kann, zumal ein solches Projekt zwangsläufig eine
fast unaufhaltbare Eigendynamik entwickelt. Simons fordert deshalb die konsequente Anwendung projektbegleitender Kontrollmechanismen im Sinne eines Risikomanagements sowie die Entwicklung von Prüfkriterien, um vor Projektbeginn eine
Bedarfsanalyse bzw. -prognose durchführen zu können, die über die erforderlichen
Dimensionen eines Projektes Aufschluss geben könnte.
Bent Flyvbjerg, Mette Skamris Holm und Søren Buhl gehen der Frage nach, auf
welche Weise die regelmäßige Kostenunterschätzung bei Großprojekten zustande
kommt. Sie stellen Ergebnisse einer Studie zur Kostenüberschreitung in 258 Verkehrsinfrastrukturprojekten vor und zeigen, dass in 90 % aller Fälle die Kosten
unterschätzt wurden und um durchschnittlich 28 % höher waren als prognostiziert.
Diese Quote ist im Laufe der Zeit trotz der Erfahrungen, die inzwischen mit Großprojekten gesammelt werden konnten, nicht gesunken. Flyvberg, Holm und Buhl
überprüfen vier mögliche Erklärungen technischer, ökonomischer, psychologischer
und politischer Art und kommen zu dem Ergebnis, dass „strategische Missinterpretation“ vorliegender Daten durch Akteure aus Politik und Planung die wahrscheinlichste Erklärung ist. Allerdings gibt es bis heute keine Studien, die öffentlich und privat
finanzierte Großprojekte in dieser Hinsicht vergleichen.
Frank Scholles unternimmt es dann, den für die erfolgreiche Planung und Abwicklung von Großprojekten so wichtigen Begriff des „Risikos“ aus naturwissenschaftlicher, versicherungstechnischer, gesellschaftswissenschaftlicher, juristischer
und ökologischer Sicht analytisch genauer zu fassen und hernach einen Vorschlag
zur Weiterentwicklung der ökologischen Risikoanalyse zu machen. Scholles zeigt sich
somit als Stellvertreter eines eher technokratischen Ansatzes, bei dem es im Gegensatz zu den vorherigen und nachfolgenden Beiträgen weniger darum geht, politischstrategische Einflussgrößen bei der Durchsetzung, Genehmigung und Durchführung
von planerischen Großprojekten auszumachen und zu problematisieren, als vielmehr
darum, das konkrete methodische Instrumentarium zu verbessern, welches darauf
ausgerichtet ist, Risiken und Unsicherheiten für Planung jeglicher Art – egal ob groß
oder klein – so weit wie möglich zu reduzieren.
Jochen Hanisch erinnert in seinem Beitrag daran, dass die normative Komponente
von Planung zwar häufig hinter einer vermeintlichen Wissenschaftlichkeit und dem
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Großprojekte und Stadtentwicklung
Anspruch eines Gemeinwohls verborgen liegt, nichtsdestotrotz aber vor allem bei
der Umsetzung von Großprojekten eine wichtige Rolle spielt. Planungsinstrumente,
die auf Steuerungsoptimierung und Kooperation setzen, verlieren bei einem Großprojekt wie z.B. der Erweiterung der Airbus-Produktionsflächen in Hamburg, mit
dem hohe industriepolitische Erwartungen und Großkapitalinteressen verknüpft
sind, an Bedeutung, so dass sämtliche Gegenargumente und Bedenken zugunsten
einer potentiellen industriepolitischen Profilierung einer Region im internationalen
Wettbewerb zurückgestellt werden. Aufgrund einer Interessenverschränkung politischer und ökonomischer Akteure kommt es zu einer Instrumentalisierung von
Expertenwissen. Zur erfolgreichen Umsetzung planerischer Ziele bedarf es jedoch
nicht nur einer Optimierung des Planungsprozesses, sondern vor allem auch eines
demokratisch legitimierten Regulierungsanspruchs.
Eine Stärkung der lokalen Akteure und der Anwohnerschaft bei der Planung und
Umsetzung von Großprojekten mit überregionaler oder sogar nationaler Bedeutung
belegt dagegen Charlotte Halpern in ihrem Beitrag am Beispiel des Flughafens Charles-de-Gaulle in der Ile-de-France. Während in der Nachkriegszeit eine nationale
Elite aus Wirtschaft und Verwaltung im Namen des Allgemeininteresses und des
technischen Fortschritts Entscheidungen traf, traten mit der fortlaufenden europäischen Integration und der damit verbundenen Stärkung der regionalen Ebene neue
Akteure auf den Plan, die Einfluss auf die Entscheidungsprozesse nehmen und lokalen Bedürfnissen zu ihrem Recht verhelfen wollten. Dies spiegeln Gesetzesinitiativen
und veränderte Leitbilder in Bezug auf den Luftverkehrssektor wider. Entstanden ist
ein neues Kräfteverhältnis, das im Fall des Flughafens Paris – Charles de Gaulle dazu
geführt hat, dass die Anfang der 1990er Jahre geplante Erweiterung deutlich bescheidener ausfiel, als ursprünglich geplant war.
Der Norden von Paris und die dortigen interkommunalen Akteursverflechtungen
stehen auch im Mittelpunkt des Beitrages von Floridea Di Ciommo. Der industrielle
Niedergang der Region, die damit verbundene hohe Arbeitslosigkeit und die zunehmende Abwanderung insbesondere der aktiven Bevölkerung führten im Laufe
der Zeit zu einer Sensibilisierung der politisch Verantwortlichen, die schließlich zu
der Etablierung einer neuen – auch institutionellen – Form der interkommunalen
Zusammenarbeit führte. So entstand der Verband „Plaine Commune“, der sozioökonomische und räumlich-planerische Ziele miteinander verbinden will und das bestehende sozioökonomische Ungleichgewicht innerhalb des Gebietes auszugleichen
versucht. Privatwirtschaftliche Akteure werden dabei einbezogen, und zwar nicht nur
bei der Realisierung von Großprojekten, sondern auch z.B. bei der Entwicklung von
Ausbildungsprogrammen für die regionalen Arbeitskräfte, deren Qualifikationsprofil
nicht auf die Anforderungen moderner Unternehmen passt.
Wulf Tessin zeigt in seinem Beitrag die enge Verflechtung zwischen dem Unternehmen VW und der Stadt Wolfsburg, die sich seit dem Jahr 1999 als Wolfsburg AG
auch im Bereich der Stadtentwicklung zeigt. Das Unternehmen bekennt sich zu der
Stadt als Standort, so dass VW sich – im Gegensatz zu Unternehmen in anderen
Städten, wo sich unternehmerische Eliten aus der Kommunalpolitik zurückziehen
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
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– für die Stadt aktiv engagiert. Wichtigstes Mittel der Stadtentwicklung durch die
Wolfsburg AG sind Großprojekte (Neue Autostadt, Innovationscampus etc.), die
Wolfsburg sowohl touristisch als auch in Bezug auf sein Image enorm aufgewertet
haben. Gleichzeitig, so problematisiert Tessin, ist die Abhängigkeit der Stadt vom
Unternehmen erheblich gestiegen; bei einem Scheitern der Joint Ventures oder einem Paradigmenwechsel bei VW hätte die Stadt kaum Alternativen. Die mittel- bis
langfristigen Folgen sind – auch für die Entscheidungsstrukturen innerhalb der Stadt
– heute noch nicht absehbar.
In dem Beitrag von Frank Roost geht es um den Einfluss von Großprojekten auf
Metropolen, die von Unternehmen zunehmend als Bühne für ihre Werbezwecke
genutzt werden. Während die Produkte austauschbarer werden und der Anteil der
Produktionskosten an den Produktkosten sinkt, gewinnen Marketing-Strategien weiter an Bedeutung, um Produkte über ihr Image zu profilieren. Bei den corporate image
centers, häufig in touristisch attraktiven Lagen, geht es weniger um direkte Gewinne als
vielmehr um die Sicherung von Kundenloyalität. Das Beispiel Tokyo zeigt, wie corporate image centers in der ökonomischen Krise erfolgreich die Motorenrolle übernehmen,
nachdem sie die ursprüngliche Stadtstruktur erheblich verändert haben. Aufgrund
ökonomischer und politischer Interessenverflechtungen droht die Gefahr, dass städtische Akteure diese Projekte für den Imagegewinn des Standorts instrumentalisieren
und zu voreilig unterstützen, ohne dass eine planerische Abwägung erfolgt wäre.
Robert Beauregard berichtet in seinem Beitrag über die erste Phase der Wiederbebauung des World-Trade-Center-Areals in New York City, welche im Februar 2003
mit der Auswahl des Entwurfes von Daniel Libeskind ihren offiziellen Abschluss
fand. Die Planungsverantwortlichen dieses mit nationaler Symbolik überfrachteten
Großprojektes waren somit zumindest im zweiten Anlauf in der Lage, mittels eines
öffentlichkeitswirksamen städtebaulichen Wettbewerbs, an dem sämtliche namhafte
Architekturbüros der Welt beteiligt waren, ein für alle Betroffenen akzeptables Design für den Wiederaufbau zu prämieren. Dennoch wertet Beauregard den gesamten
Vorgang – vor allem den ersten, gescheiterten Wettbewerb vom Sommer 2002 und
die ihn umgebenden, von Effizienz- und Wirtschaftlichkeitsüberlegungen dominierten Entscheidungsvorgänge – als symptomatisch für die strukturelle Unfähigkeit
US-amerikanischer Planer und Gemeinden, erfolgreich ein Ideal-Konzept eines
„öffentlichen Interesses“ zu verteidigen, das u.a. eine „vernünftige Gemeinsamkeit“
zwischen den widerstreitenden Interessen erreicht und die Vielfältigkeit der Stadt
angemessen beachtet.
Bei dem Versuch, eine Bilanz der EXPO 1998 in Lissabon zu ziehen, kommt Renzo Lecardane zu dem Schluss, dass es insgesamt nicht gelungen ist, mit diesem strategischen Gesamtprojekt erfolgreich eine Stadtumstrukturierung einzuleiten. Ziel war
vor allem die Stärkung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der Stadt zu einem
Zeitpunkt, an dem Studien ihre geringe Relevanz im internationalen Kontext belegten. Durch die Umsetzung eines umfassenden Maßnahmenbündels, das durch eine
privatrechtliche Entwicklungsgesellschaft mit Hilfe einer speziellen Finanzierungsstrategie umgesetzt wurde, entstand ein Wachstumspol für die Stadt – allerdings ins-
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Großprojekte und Stadtentwicklung
gesamt mit einer zu geringen Berücksichtigung der sozialen Seite des Vorhabens. Für
die aktuelle Stadtentwicklungspolitik bilden die Erfahrungen mit dem Großprojekt
die Grundlage für die Umsetzung neuer Ideen, indem die neuen Strukturen teilweise
und allmählich in ein Gesamtkonzept integriert werden.
Uwe Altrock beleuchtet die jahrelange Diskussion um den Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses, die als weitgehend öffentliche Angelegenheit eher unter dem
Eindruck unterschiedlicher symbolischer Zuschreibungen als in Folge eines ökonomischen Entwicklungsdrucks geführt wurde. Der Bund als Haupteigentümer der
betroffenen Flächen entschied frühzeitig, diese als „neue Mitte“ von Berlin in die auf
Repräsentativität und Identitätsstiftung bedachte Hauptstadtplanung einzubeziehen.
So wurde eine symbolische Aufladung der Flächen erreicht, für die bis heute keine
adäquate Nachnutzung gefunden wurde und nun die Zwischennutzung als Park vorgesehen ist. Vor diesem Hintergrund ist zu diskutieren, wie eine Einigung über die
Bebauung und Gestaltung von Flächen, die nicht primär ökonomisch genutzt werden, sondern eine öffentliche und symbolische Funktion erfüllen sollen, überhaupt
erzielt und das Ergebnis demokratisch legitimiert auch umgesetzt werden kann.
Der Rundschau-Teil des Heftes befasst sich diesmal ausführlich mit einem Beitrag
von Margit Mayer, in dem der Höhenflug des Sozialkapital-Konzeptes in seinen gesellschaftlichen Kontext eingeordnet wird. Während die Bildung von Sozialkapital
insbesondere innerhalb der aktuellen Diskussion zur Stadtteilerneuerung ein in der
Regel unkritisch verfolgtes Ziel darstellt, zeigt Mayer, wieso das dazugehörige theoretische Konzept, das vor allem mit dem Namen Robert D. Putnam verbunden ist, heute eigentlich so viel Anklang findet und welche Risiken damit verbunden sind, wenn
der sozioökonomische Kontext und die politischen und institutionellen Rahmenbedingungen bei seiner Umsetzung ausgeblendet werden. Darüber hinaus werden in
der Rundschau vier aktuelle Veröffentlichungen zu den Themen Stadt(teil)planung
und Planungstheorie rezensiert.
In der kommenden Ausgabe der Planungsrundschau steht das Thema „Innovation in der Planung“ im Mittelpunkt. Wie führen technologische, institutionelle und
gesellschaftliche Transformationen zu einer Neuorientierung der Planung? Es geht
darum aufzuzeigen, wie Lernprozesse angestoßen werden und welche konkreten
Veränderungen sich daraus für die Planung ergeben. Die Redaktion der Planungsrundschau freut sich über Anregungen und weitere Beiträge.
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
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Bent Flyvbjerg / Mette Skamris Holm / Søren Buhl
KOSTENUNTERSCHÄTZUNG BEI ÖFFENLTICHEN BAUPROJEKTEN: FEHLER ODER LÜGE ?
1. Einleitung
Es gibt nur wenige vergleichende Studien über reale und geschätzte Kosten der
Entwicklung von Verkehrsinfrastruktur. Wo solche Studien vorliegen, beziehen sie
sich auf Einzelfälle, oder die Stichprobe ist zu klein, um systematische statistische
Analysen zuzulassen (Bruzelius et al. 1998, Fouracre et al. 1990, Hall 1980, Nijkamp/
Ubbels 1999, Pickrell 1990, Skamris/Flyvbjerg 1997, Szyliowicz/Goetz 1995,
Walmsley/Pickett 1992). Nach unserem Kenntnisstand ist bislang nur eine Studie
veröffentlicht, die auf der Basis von 66 Transportprojekten einen breit angelegten
Zugang wählt und erste Schritte auf dem Weg zu einer stichhaltigen statistischen
Analyse unternimmt (Merewitz 1973a, 1973b).
Trotz ihrer Verdienste liefern diese Studien keine stichhaltigen quantitativen Aussagen zu der Frage, ob man den Kostenkalkulationen trauen kann, auf deren Grundlage Entscheidungsträger und Investoren über den Bau von Verkehrsinfrastruktur
entscheiden. Aufgrund der kleinen und ungleichen Stichproben weisen die Studien
sogar in unterschiedliche Richtungen, und Forscher sind sich über die Glaubwürdigkeit von Kostenkalkulationen uneins. So zeigt beispielsweise Pickrell (1990), dass
Kostenkalkulationen höchst ungenau und meist zu gering angesetzt sind, während
Nijkamp und Ubbels (1999) behaupten, Kalkulationen seien meist korrekt. Wir werden im Verlauf dieser Studie zeigen, wer von beiden im Recht ist.
Das Ziel unserer Studie ist es, folgende Fragen auf einer statistischen Grundlage zu
beantworten: Wie üblich und wie hoch sind die Unterschiede zwischen tatsächlichen
und geschätzten Kosten in Verkehrsinfrastrukturprojekten? Sind die Unterschiede
signifikant? Sind sie lediglich als zufällige Fehler anzusehen? Oder zeigt sich hier ein
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Kostenunterschätzung bei öffentlichen Bauprojekten
statistisches Muster, das andere Erklärungen nahe legt? Welche Bedeutung haben unsere Ergebnisse für die Entscheidungsfindung über Verkehrsinfrastrukturprojekte?
2. Irreführende Kostenkalkulationen:
eine Annäherung in vier Schritten
Betrachtet man die verschiedenen Zugänge zur Analyse der Unterschätzung
von und Täuschung bei den Kosten von Verkehrsinfrastruktur, lassen sich in der
Forschung vier Schritte identifizieren. Den ersten Schritt machten Pickrell (1990)
und Fouracre, Allport und Thomson (1990), die für eine kleine Zahl an städtischen
Schienenverkehrsprojekten nachweisen, dass Kostenunterschätzung tatsächlich ein
Problem darstellt. Sie legen nahe, dass solche Unterschätzungen auf Täuschungen
der Projektverantwortlichen („project promoters“) und Gutachter („forecasters“)
zurückzuführen sind. Den zweiten Schritt unternahm Wachs (1990). Er argumentierte – wiederum für eine kleine Zahl städtischer Schienenverkehrsprojekte –, dass
Lügen, im Sinne von absichtlicher Täuschung, tatsächlich eine bedeutende Ursache
für die Unterschätzung von Baukosten darstellt. Wachs begann mit der schwierigen
Aufgabe, nachzuzeichnen, wer lügt und warum, und was die ethischen Implikationen
dabei sind.
Das Problem mit der Forschung in diesen ersten beiden Schritten liegt darin, dass
sie auf zu geringen Fallzahlen basiert, um statistisch signifikant zu sein. Die vorgefundenen Muster könnten auf in den Stichproben liegenden Zufälligkeiten zurückzuführen sein. Dieses Problem wird im dritten Schritt gelöst, den wir mit der Arbeit
gehen, die hier präsentiert wird. Auf Grundlage einer großen Stichprobe von Verkehrsinfrastrukturprojekten zeigen wir, dass (1) das von Pickrell und anderen vorgefundene Muster von genereller Bedeutung und auch statistisch signifikant ist, und dass
(2) das Muster auf unterschiedliche Projekttypen, geographische Regionen und auch
unterschiedliche historische Perioden zutrifft. Die vorhandenen statistischen Daten
stützen die Thesen von Wachs über Lügen und Kostenunterschätzungen. Der vierte
und letzte Schritt für das Verständnis von Kostenunterschätzungen und Täuschungen bestünde darin, für eine große Zahl an unterschiedlichen Verkehrsprojekten das
zu tun, was Wachs für seine kleine Auswahl an städtischen Schienenverkehrsprojekten getan hat: nachzuzeichnen, ob tatsächlich eine systematische Täuschung vorliegt,
wer sie vornimmt und warum. Das könnte geschehen, indem eine große Anzahl an
Gutachtern und Projektentwicklern, die eine große Zahl an Projekten repräsentieren,
in Interviews oder Umfragen direkt ihre Absichten und die Gründe für die Fehleinschätzungen angeben. Dies ist ein Kernthema für zukünftige Forschungsvorhaben.
Wir behaupten entsprechend in diesem Artikel nicht, den endgültigen Beweis dafür zu haben, dass absichtliche Täuschungen der Hauptgrund für Kostenunterschätzungen in Verkehrsprojekten ist. Wir behaupten, einen wichtigen Schritt in einem
kumulativen Forschungsprozess beizutragen, in welchem dies geprüft werden kann,
indem wir die beste und bislang umfangreichste Datenbasis über Kostenunterschätzungen in Verkehrsprojekten bereitstellen, die erste statistisch signifikante Studie
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
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über die hiermit zusammenhängenden Faktoren anstellen und drittens zeigen, dass
unsere Daten die Thesen über systematische Täuschung belegen, die in kleiner angelegten Untersuchungen aufgestellt wurden. Um unsere Wissen über Kostenunterschätzungen weiterzuentwickeln, wäre es auch interessant, die Unterschiede zwischen
Projekten zu betrachten, die auf Wettbewerbsbasis, auf einem Bürgerentscheid oder
auf direkter Vergabe beruhen. Man könnte annehmen, dass ein offensichtlicher Anreiz, ein Projekt durch Unterschätzung der Kosten besser darzustellen, im Vorfeld
einer Wahl besteht, wie eine Studie von Kain (1990) über ein Bahnprojekt in Dallas
zeigt. Stimmen werden oft eher für große Schienen-, Brücken und Tunnel-Projekte
als für Straßenprojekte gesammelt. So werden in den USA beispielsweise die meisten Autobahnprojekte direkt vergeben (ohne Wettbewerb oder Ausschreibung). Ein
Verkehrsministerium hat typischerweise ein festes jährliches Budget für Baukosten.
Das Ministerium wird entsprechend ein Interesse an relativ präzisen Kalkulationen
haben, bevor es sein Budget festlegt. Man könnte annehmen, dass in dieser Situation
Kostenunterschätzungen eher unwahrscheinlich sind. Zwar gibt es Ausnahmen, aber
dies könnte doch erklären, warum die Fehlkalkulationen für Straßenprojekte in der
Regel geringer ausfallen als für Schienen, Brücken und Tunnel, sowohl in den USA
als auch in Europa.
Schließlich möchten wir unterstreichen, dass unsere Projektauswahl trotz ihres
Umfangs noch immer zu klein ist, um für mehr als einige wenige Unterteilungen
vergleichende Aussagen zuzulassen.
3. Die Messung von Ungenauigkeiten bei Kostenkalkulationen
In unserer Studie beziehen sich alle Kosten auf Baukosten. Wie es international
üblich ist, bezeichnen wir die Ungenauigkeit von Kostenkalkulationen als „Eskalation der Kosten“ („cost escalation“; oft auch als „Überschreitung der Kosten“ / „cost
overrun“ bezeichnet, gemeint sind tatsächliche Kosten minus geschätzte Kosten im
Verhältnis zu den geschätzten Kosten). Tatsächliche Kosten sind reale, abgerechnete Baukosten nach Beendigung des Projekts. Geschätzte Kosten sind definiert als
budgetierte oder prognostizierte Kosten zum Zeitpunkt der Entscheidung für das
Projekt (zu bauen). Obwohl sich der Projektplanungsprozess nach Projekttyp, Land
und Zeit unterscheidet, ist es in der Regel möglich, für ein Projekt einen solchen Zeitpunkt zu bestimmen. Normalerweise lag zu diesem Zeitpunkt dem Entscheidungsträger eine Kostenschätzung vor. Wo dies nicht der Fall war, wurde die nächstliegende Berechnung verwendet. Alle Kosten sind in Euro gerechnet auf Grundlage jeweils
angemessener historischer, branchenmäßiger und geographischer Diskontsätze und
Wechselkurse.
Projektverantwortliche und ihre Analysten lehnen diese Art der Einschätzung
von Ungenauigkeiten in der Kalkulation oftmals ab (Flyvbjerg et al 2003, im
Druck). Verschiedene Kostenschätzungen werden zu verschiedenen Zeitpunkten
im Prozess erstellt: Projektplanung, Baugenehmigung, Angebotsabgabe, Vertragsunterzeichnung, Nachverhandlungen. Typischerweise werden die Schätzungen mit
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Kostenunterschätzung bei öffentlichen Bauprojekten
jedem Schritt präziser, und die Schätzung zum Zeitpunkt der Baugenehmigung ist
noch lange nicht endgültig. Entsprechend sei es erwartbar, dass diese frühen Schätzungen höchst ungenau sind. Es sei also unfair, diese als Grundlage für Aussagen
über Fehlkalkulationen zu verwenden (Simon 1991). Dennoch verteidigen wir diese
Art der Bewertung, denn wenn es um Entscheidungen und um die Genauigkeit der
Entscheidungsgrundlagen geht, dann geht es um die Kostenkalkulationen zum Zeitpunkt der Baugenehmigung. Spätere Kalkulationen sind hierfür irrelevant. Wir gehen
sogar so weit zu behaupten, dass die Abweichungen geringer wären, wenn es sich bei
der Ursache für die Fehlkalkulationen lediglich um mangelhafte Information handeln
würde. Die Abweichungen weisen jedoch tatsächlich eine interessante Schieflage auf,
wie wir zeigen werden.
Ein anderer Einwand ist, dass man mit unseren Bezugspunkten quasi Äpfel und
Birnen vergleicht. Projekte wandeln sich im Verlauf des Planungs- und Implementationsprozesses. So wurde beispielsweise das Projekt der Los Angeles Blue Line
Light Rail mit hohem Kostenaufwand substantiell geändert – anliegende Straßen und
Gehwege wurden aufgewertet, Zäune gestrichen etc. Ein Problem dieser Argumentation besteht darin, dass Forschungsergebnisse zeigen, dass Projektträger regelmäßig
bedeutende Kostenpunkte und Risiken ignorieren, verstecken oder auslassen, um die
Gesamtkosten geringer erscheinen zu lassen (Flyvbjerg et al 2003, im Druck; Wachs
1989, 1990). Beispielsweise werden oftmals Umwelt- und Sicherheitsfragen zu Anfang ignoriert und erst zu einem späteren Zeitpunkt einbezogen, und das Projekt ist
eventuell „überlebensfähiger“, wenn diese Punkte anfangs nicht berücksichtigt werden. Ähnlich verhält es sich mit ökologischen Risiken. Dieses Vorgehen, das „scheibchenweise“ Einführen von Projektkomponenten und Risiken, wird üblicherweise als
„Salami-Taktik“ beschrieben. Wenn solche Taktiken einen wesentlichen Mechanismus in der Kostenunterschätzung darstellen, dann ist der Vergleich von tatsächlichen Projektkosten mit den Schätzungen zum Zeitpunkt der Entscheidung nicht der
Vergleich von Äpfeln und Birnen, sondern es wird vielmehr nachgezeichnet, wie aus
einem kleinen günstigen Apfel ein großer teurer Apfel wird.
Letztlich entspricht unsere Methode den internationalen Standards in der Betrachtung von Fehlkalkulationen (Fouracre et al. 1990, Leavitt et al. 1993, National
Audit Office & Department of Transport 1992, Nijkamp/Ubbels 1999, Pickrell
1990, Walmsley/Pickett 1992, World Bank 1994). Dieser Standard erlaubt aussagekräftige und konsistente Vergleiche innerhalb und zwischen Projekten, Projekttypen
und geographischen Gebieten. Dieser Standard wird im Folgenden benützt, um die
Ungenauigkeit der Kostenschätzungen von 258 Verkehrsinfrastruktur-Projekten mit
einem Finanzvolumen von 90 Milliarden US-$ zu messen.
4. Ungenauigkeiten in Kostenschätzungen
Schaubild 1 zeigt ein Histogramm mit der Verteilung der Ungenauigkeiten in
Kostenkalkulationen. Wenn Überschätzungen und Unterschätzungen der Kosten in
ähnlichem Ausmaß vorkämen, wäre das Histogramm symmetrisch um Null verteilt.
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
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Dies ist nicht der Fall, und überdies sind die Unterschätzungen hoch. Bezüglich der
Verteilung von Ungenauigkeiten von Schätzungen von Baukosten lässt sich zeigen:
• In neun von zehn Projekten werden die Kosten unterschätzt. Für ein zufällig ausgewähltes Projekt liegen die tatsächlichen Kosten mit einer Wahrscheinlichkeit
von 86 % über den anfänglich geschätzten. Mit 14-%-iger Wahrscheinlichkeit liegen die Kosten nicht über den Vorausberechnungen.
• Im Durchschnitt liegen die tatsächlichen Kosten 28 % über den geschätzten Kosten (sd=39).
• Wir weisen die These, dass Überschätzungen und Unterschätzungen gleich verteilt
sind, mit überwältigender Signifikanz zurück (p<0,001; zweiseitiger Test mit binomischer Verteilung). Geschätzte Kosten sind verzerrt („biased“). Die Verzerrung
beruht auf einer systematischen Unterschätzung.
• Wir können mit überwältigender Signifikanz die These widerlegen, dass die numerische Größe der Unterschätzungen der der Überschätzungen entspricht
(p<0,001, nicht-parametrischer Mann-Whitney-Test). Die Kosten werden nicht
nur häufiger unterschätzt als überschätzt, sondern die Unterschätzungen liegen
auch substantiell über den Überschätzungen.
Wir fassen zusammen, dass Kostenunterschätzungen häufiger auftreten und in der
Abweichung höher liegen als Überschätzungen. Die Unterschätzung der Kosten von
Verkehrsprojekten zum Zeitpunkt der Entscheidung für das Projekt ist eher die Regel
als die Ausnahme. Häufige und substantiell hohe Kosteneskalation ist die Folge.
Abb.1: Ungenauigkeiten in der Kostenschätzung bei 258 Verkehrsinfrastrukturprojekten
20
Kostenunterschätzung bei öffentlichen Bauprojekten
Häufigkeit (%)
Kosteneskalation bei Bahnprojekten, % (N=58)
Häufigkeit (%)
Kosteneskalation beiBrücken und Tunneln, % (N=33)
Häufigkeit (%)
Kosteneskalation bei Straßen, % (N=167)
Abbildung 2: Ungenauigkeit der Kostenschätzungen bei Bahnprojekten, Tunnels und Brücken, und
bei Straßenbauprojekten (feste Preise)
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
21
5. Kostenunterschätzung nach Projekttypen
In diesem Abschnitt werden wir prüfen, ob sich unterschiedliche Projekttypen
in Bezug auf Kostenunterschätzungen unterschiedlich verhalten. Abbildung 2 zeigt
Histogramme mit Ungenauigkeiten in der Kalkulation für folgende Projekttypen: (1)
Bahnprojekte (Hochgeschwindigkeit, Innenstadt; Intercity-Verbindungen), (2) feste
Verbindungen (Brücken und Tunnels), und (3) Straßen (Autobahnen und Landstraßen). Tabelle 1 zeigt die durchschnittlich erwartete Ungenauigkeit und Standardabweichung für jeden Projekttyp.
Projekttyp
Anzahl Fälle (N)
Kosteneskalation
(%)
Standardabweichung
Signifikanzniveau
(p)
Bahn
58
44,7
38,4
<0,001
Feste Verbindung
33
33,8
62,4
0,004
Straße
167
20,4
29,9
<0,001
Zusammen
258
27,6
38,7
<0,001
Tabelle 1: Ungenauigkeit von Projektkosten nach Projekttyp (feste Preise)
Statistische Auswertungen der Daten in Tabelle 1 zeigen, dass Mittelwert und Standardabweichung jeweils unterschiedlich sind. Bei den Bahnprojekten ist die höchste
Differenz zwischen tatsächlichen und geschätzten Kosten zu beobachten. Sie liegt
bei 44,7 %, darauf folgen feste Verbindungen (33,8 %) und Straßen (20,4 %). Der
Projekt-Typ spielt statistisch eine Rolle.
Auf Basis der vorliegenden Daten können wir zusammenfassen, dass vor allem die
Vertreter von Bahnprojekten Kostenunterschätzungen ausgesetzt sind, gefolgt von
Brücken- und Tunnel-Projekten. Straßenprojekte scheinen nicht ganz so anfällig zu
sein, obwohl auch hier die tatsächlichen Kosten in den meisten Fällen die Schätzungen übersteigen.
Weitere Unterteilungen der Projektauswahl zeigen, dass Hochgeschwindigkeitszug-Projekte die Liste anführen, gefolgt von städtischen und gewöhnlichen Schienenprojekten. Ebenso scheint die Kostenunterschätzung bei Tunnels höher zu sein
als bei Brücken. Diese Ergebnisse zeigen, dass die Komplexität von Technologie und
Geologie einen Einfluss auf die Kostenunterschätzung haben kann. Allerdings sind
diese Ergebnisse nicht statistisch signifikant. Obwohl unsere Datenbank die größte
ihrer Art ist, ist sie zu klein, um weitere Unterteilungen zu erlauben und noch signi-
Kostenunterschätzung bei öffentlichen Bauprojekten
22
fikante Ergebnisse zu produzieren. Dieses Problem kann nur durch die Erhebung
weiterer Projektdaten gelöst werden. In allen drei Fällen scheint es jedoch für Entscheidungsträger und Investoren ebenso wie für Banken und Medien ratsam, Kalkulationen mit Vorsicht zu behandeln.
6. Kostenunterschätzung nach geographischer Lage
Ein zweiter Test, den wir vorgenommen haben, bezieht sich auf einen möglichen
Zusammenhang zwischen Kostenunterschätzungen und geographischer Lage der
Projekte in Europa, Nordamerika und „anderen geographischen Gebieten“ (eine
Gruppe von zehn Entwicklungsländern plus Japan). Tabelle 2 zeigt den Unterschied
zwischen tatsächlichen und geschätzten Kosten in diesen drei Gebieten für Bahnprojekte, feste Verbindungen und Straßenprojekte. Es gibt kein Anzeichen für einen
statistischen Zusammenhang zwischen geographischer Lage und Projekt-Typ. Daher
betrachten wir die Auswirkungen dieser Variablen auf eine Kostenunterschätzung
getrennt. Für alle Projekte stellen wir signifikante Unterschiede in Zusammenhang
mit der geographischen Lage fest (p>0,001): die geographische Lage spielt eine Rolle
bei der Kostenunterschätzung.
Projekt
Europa
Nordamerika
Andere
Anzahl
Fälle
(N)
Durchschnittliche
Kosteneskalation
(%)
Standardabweichung
Anzahl
Fälle
(N)
Durchschnittliche
Kosteneskalation
(%)
Standardabweichung
Anzahl
Fälle
(N)
Durchschnittliche
Kosteneskalation
(%)
Standardabweichung
Bahn
23
34,2
25,1
19
40,8
36,8
16
64,6
49,5
Feste
Verbindung
15
43,4
52,0
18
25,7
70,5
0
-
-
Straße
143
22,4
24,9
24
8,4
49,4
0
-
-
Summe
181
25,7
28,7
61
23,6
54,2
16
64,6
49,5
Tabelle 2: Ungenauigkeit der Kostenschätzungen nach geographischer Lage (feste Preise)
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
23
Betrachtet man Europa und Nordamerika getrennt, was für feste Verbindungen
und Straßen zwingend ist, da hier keine Beobachtungen in anderen Gebieten vorliegen, können Vergleiche mit t-Tests vorgenommen werden (Welch-Version). Für feste
Verbindungen liegt die durchschnittliche Differenz von Schätzung und realen Kosten
in Europa bei 43,4 % und in Nordamerika bei 5,7 %, dennoch ist der Unterschied
zwischen den beiden Gebieten nicht signifikant (p=0,414). Bei der geringen Anzahl
an Beobachtungen und den hohen Standardabweichungen für Brücken und Tunnels
müssten wir die Stichprobe erhöhen um zu testen, ob die Unterschiede wirklich signifikant sind. Bei Bahnprojekten liegt die durchschnittliche Differenz in Europa bei
34,2 % und in Nordamerika bei 40,8 %. Bei Straßen sind es 22,4 % im Vergleich zu
8,4 %. Aber auch hier sind die Unterschiede zwischen den Regionen nicht signifikant
(p<0,51 und p<0,184).
Wir können zusammenfassen, dass sich die hoch signifikanten Unterschiede, die
wir oben festgestellt haben, auf den Vergleich von Europa und Nordamerika mit den
„anderen geographischen Gebieten“ beziehen. Dort liegt die Differenz zwischen realen Kosten und Schätzungen bei 64,6 %.
7. Haben sich die Prognosen mit der Zeit verbessert?
In den vorangegangenen Abschnitt zeigten wir, wie sich Kostenunterschätzungen
je nach Projekttyp und geographischer Lage unterscheiden. In diesem Abschnitt
schließen wir die statistische Analyse ab, indem wir betrachten, wie sich Kostenunterschätzungen über die Zeit hinweg unterscheiden. Wir stellen und beantworten die
Frage, ob Projektträger und Prognosen mit der Zeit tendenziell mehr oder weniger zu
Unterschätzungen der Kosten für Verkehrsinfrastrukturprojekte neigten. Wären die
Unterschätzungen unbeabsichtigt und auf mangelnde Erfahrung oder unausgereifte
Instrumente zurückzuführen, müssten sie mit der Zeit aufgrund besserer Methoden
und Erfahrung zurückgehen.
Abbildung 3 zeigt die Differenz zwischen Schätzung und realen Kosten für 111
Projekte im Verhältnis zum Jahr der jeweiligen Entscheidung für den Bau. Das Diagramm scheint keine Auswirkung des Zeitpunkts auf die Fehlkalkulationen anzuzeigen. Die statistische Analyse bekräftigt diesen Eindruck. Die Nullhypothese, dass das
Jahr der Entscheidung keinen Einfluss auf den Unterschied zwischen tatsächlichen
und geschätzten Kosten hat, kann nicht zurückgewiesen werden (p=0,22, F-Test).
Ein Test, in dem das Jahr der Fertigstellung anstelle des Datums der Entscheidung
benützt wurde (hier wurden 246 Projekte betrachtet), zeigt ein ähnliches Ergebnis
(p=0,28, F-Test).
Wir fassen also zusammen, dass die Kostenunterschätzungen mit der Zeit nicht
abgenommen haben. Kostenunterschätzung ist heute genauso verbreitet wie vor
zehn, 30 und 70 Jahren. Falls sich Techniken und Fertigkeiten in der Schätzung und
Vorhersage von Kosten für Verkehrsinfrastruktur-Projekte mit der Zeit verbessert
haben, zeigt sich dies nicht in den vorliegenden Daten. In diesem wichtigen und
teuren Bereich öffentlicher und privater Entscheidungsfindung scheint folglich kein
24
Kostenunterschätzung bei öffentlichen Bauprojekten
Abb.3: Ungenauigkeiten der Kostenschätzungen im Verlauf der Zeit, 1910 – 1998
Lernprozess stattgefunden zu haben. Dies erscheint merkwürdig und legt Vermutungen nahe, dass die beharrliche Existenz von Unterschätzungen quer durch Zeit,
Art und Ort der Projekte auf ein Gleichgewicht hinweist: Hohe Anreize und geringe
Hemmschwellen von Unterschätzungen haben den Projektmanagern gezeigt, was
gelernt werden kann, nämlich dass sich die Unterschätzung von Kosten auszahlt.
Wenn dies der Fall ist, muss davon ausgegangen werden, dass Unterschätzungen
auftreten und diese intentional sind. Wir testen diese Spekulation weiter unten. Doch
zunächst sollen die Kostenkalkulationen von Verkehrsprojekten mit anderen Projekten verglichen werden.
8. Die Unterschätzung von Kosten
in anderen Infrastrukturprojekten
Neben Daten über Verkehrsinfrastrukturprojekte haben wir Daten über die Kosten von mehreren Hundert weiteren Projekten analysiert, so beispielsweise von Energieanlagen, Staudämmen, Bewässerungsanlagen, Öl- und Gasleitungen, Informationstechnologiesystemen, Luftfahrt- und Waffensystemen (Arditi et al. 1985, Blake et
al. 1976, Canaday 1980, Department of Energy Study Group 1975, Dlakwa/Culpin
1990, Fraser 1990, Hall 1980, Healey 1964, Henderson 1977, Hufschmidt/Gerin
1970, Merewitz 1973b, Merrow 1988, Morris/Hough 1987 World Bank 1994, o. J.).
Die Daten zeigen, dass andere Projekttypen mindestens denselben Kostenunterschätzungen unterliegen wie Verkehrsinfrastrukturprojekte. Unter den spektakuläreren Fällen finden sich das Opernhaus in Sydney, dessen tatsächliche Kosten den
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
25
geschätzten Wert um ein 15-faches übertrafen, und der Bau der Concorde, deren
Realisierung 12-mal über den anfänglichen Schätzungen lag (Hall o. J., S. 3). Die Daten zeigen ebenso, dass die Unterschätzungen bei anderen Projekten auch nicht im
Laufe der Zeit zu- oder abgenommen haben, zudem ist kein Unterschied zwischen
Industrienationen und Entwicklungsländern festzustellen. Als der Suez-Kanal 1869
fertig gestellt wurde, lagen die tatsächlichen Baukosten zwanzig mal höher als die
ersten Schätzungen und dreimal höher als die Schätzungen für das Jahr bevor die
Arbeiten begannen. Beim Bau des Panamakanals, fertig gestellt 1914, gab es Kosteneskalationen im Bereich von 70–200 % (Summers 1967:148). Das Phänomen der
Unterschätzung und der Eskalation der Kosten ist also nicht nur für Verkehrsinfrastrukturprojekte typisch, sondern auch für andere Infrastrukturprojekte.
9. Erklärungen für die Unterschätzungen: Fehler oder Lüge?
Die Unterschätzung von Kosten lässt sich auf vier Arten erklären: technisch, ökonomisch, psychologisch und politisch. In diesem Abschnitt betrachten wir, welche
Erklärungen unsere Daten am besten stützen.
9.1 Technische Erklärungen
Wenn tatsächliche und geschätzte Kosten von Infrastrukturprojekten miteinander
verglichen werden, werden sogenannte „Vorhersage-Fehler“ meist technisch erklärt,
d.h. über ungenügende Technik, unpassende Daten, handwerkliche Fehler, grundsätzliche Schwierigkeiten in der Vorhersage der Zukunft, Mangel an Erfahrung etc.
(Ascher 1978, Flyvbjerg et al. im Druck, Morris/Hough 1987, Wachs 1990). Kaum
jemand würde bestreiten, dass derartige Faktoren wichtige Quellen für Unsicherheiten sind und zu irreführenden Prognosen führen können. In klei angelegten Studien
wird oft auf diese Erklärung zurückgegriffen, weil statistische Überprüfungen aufgrund der geringen Zahl an Projekten nicht möglich sind. Dennoch widerlegen die
Daten und die Tests unserer Studie derartige technische Begründungen. Zum einen
würden wir eine viel weniger einseitige Verteilung der Fehler erwarten, wenn die Ursache wirklich in technischen Mängeln und unbeabsichtigten Anwendungsfehlern zu
sehen wäre. Wir haben jedoch festgestellt, dass die Verteilung der Fehler einen nicht
nullwertigen Mittelwert hat. Zweitens würden wir bei technischen Ursachen mit der
Zeit eine Verbesserung der Prognosen erwarten. Obwohl über Jahrzehnte hinweg
erhebliche Mittel eingesetzt wurden, um Daten und Methoden zu verbessern, zeigt
unsere Erhebung, dass sich die Präzision der Vorhersagen nicht verbessert hat. Technische Faktoren können also die Daten nicht erklären. Es geht somit nicht um die Erklärung von Vorhersagefehlern an sich, sondern darum, dass in neun von zehn Fällen
die Kosten unterschätzt werden. Wir können mit den Vertretern der technischen
Erklärung dahingehend übereinstimmen, dass es für ein einzelnes Projekt unmöglich
ist, genau vorherzusagen, welche geologischen, umweltbezogenen oder sicherheitsbezogenen Risiken auftreten und Kosten verursachen. Aber wir behaupten, dass es
Kostenunterschätzung bei öffentlichen Bauprojekten
26
möglich ist, das Risiko vorherzusagen, dass solche Probleme auftreten und auch die
Kosten beeinflussen werden. Wir behaupten weiter, dass Risiken in Prognosen einbezogen werden können und sollten, dies meist aber nicht geschieht. Um gültig zu sein,
müssten technische Erklärungen zeigen, warum Prognosen so beharrlich Kostenrisiken über Zeit, Raum und Projekttyp hinweg ignorieren.
9.2 Ökonomische Erklärungen
Ökonomische Erklärungen betrachten Kostenunterschätzungen aus der Perspektive ökonomischer Rationalität. Dabei gibt es zwei Typen der Erklärung. Die eine
bezieht sich auf ökonomisches Eigeninteresse, die andere auf das öffentliche Interesse.
Mit Blick auf Eigeninteressen lässt sich beobachten, dass mit Beginn eines Projekts Arbeit für Ingenieure und Baufirmen entsteht und verschiedene Gruppen daran
verdienen. Wenn diese stakeholder in den Prozess der Vorhersage einbezogen sind
oder ihn beeinflussen, können sie darauf hin arbeiten, dass die Möglichkeit, dass
das Projekt zustande kommt, erhöht wird. Die Kosten zu niedrig und die Erträge zu
hoch anzusetzen, wäre für diese Gruppen wirtschaftlich rational, denn es würde die
Wahrscheinlichkeit erhöhen, Profit zu erwirtschaften. Wirtschaftliches Eigeninteresse besteht auch auf Ebene der Städte und Nationalstaaten, wenn sie im Wettbewerb
um Fördermittel stehen. Auch dies könnte die Unterschätzungen erklären (siehe z.B.
Pickrell 1990, 1992).
Mit Blick auf das öffentliche Interesse könnte argumentiert werden, dass Projektträger und Gutachter absichtlich die Kosten unterschätzen, um die zuständigen
Beamten mit dem Anreiz der Kostensenkung und Einsparung zu locken. Höhere
Schätzungen würden hier als Anreiz für verschwenderische Vertragspartner interpretiert werden, mehr Geld des Steuerzahlers zu verprassen. Empirische Studien haben
derartiges Verhalten festgestellt (Wachs 1990). Dieses Argument wurde mehrfach
aufgegriffen, so z.B. von Merewitz (1973b), wo es heißt: „keeping costs low is more
important than estimating costs correctly“ (S. 280).
Beide Typen der ökonomischen Erklärung passen zu der systematischen Unterschätzung, wie wir sie in unseren Daten finden. Beide beschreiben die Unterschätzung
von Kosten als absichtsvoll und als ökonomisch rational. Wenn wir nun eine Lüge
als absichtsvolle Täuschung bezeichnen (Bok 1979:14; Cliffe et al 2000:3), können
wir absichtsvolle Kostenunterschätzungen als Lügen bezeichnen und gelangen zu
einer sehr nahe liegenden Erklärung hierfür: Lügen zahlt sich aus, zumindest gehen
wirtschaftliche Akteure davon aus. Mehr noch, wenn im Sinne der öffentlichen Sache
gelogen wird (beispielsweise um Steuergelder zu sparen), dann würde die politische
Theorie die Lüge als „Ehrenlüge“ bezeichnen, als eine Lüge, die sich in Altruismus
begründet. Nach Bok wäre das der „most dangerous body of deceit of all“ (Bok
1979:175).
Für den Fall der Kostenunterschätzung in öffentlichen Vorhaben übersehen die
Vertreter dieser Perspektive jedoch einen wichtigen Aspekt: Ihr Hauptargument, dass
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
27
Steuergelder gespart werden, ist sehr brüchig. Jeder, der auch nur ein bisschen auf
Kosten-Nutzen-Kalkulationen vertraut, müsste dieses Argument zurückweisen. Die
Unterschätzung der Kosten führt zu einem fälschlich hoch geschätzten Ertrag. Das
führt wiederum zu zwei Problemen. Erstens könnte das Projekt begonnen werden,
obwohl es gar nicht tragfähig ist. Oder, zweitens, das Projekt könnte gegenüber einem anderen den Vorzug erhalten, das höhere reelle Erträge eingebracht hätte, wenn
für beide Projekte die tatsächlichen Kosten bewusst gewesen wären. Beide Fälle bedeuten einen uneffizienten Einsatz von Ressourcen und damit die Verschwendung
von Steuergeldern. So muss also aus Gründen der ökonomischen Rationalität heraus
die These zurückgewiesen werden, dass Kostenunterschätzung Einsparungen bringt.
Dieses Argument muss zudem aus ethischen und rechtlichen Erwägungen heraus
zurückgewiesen werden. In den meisten Demokratien ist es nicht nur unmoralisch
sondern auch illegal, Gesetzgeber, Verwaltungen, Banken und die Öffentlichkeit
wissentlich falsch zu informieren. In den meisten demokratischen Verfassungen
findet sich eine formale „Verpflichtung zur Wahrheit“; eine Täuschung würde diese
Verpflichtung unterlaufen. Obwohl also ökonomische Erklärungen unsere Daten
stützen und wichtige Bereiche beleuchten, können solche Begründungen die Unterschätzungen dennoch nicht rechtfertigen.
9.3 Psychologische Erklärungen
Psychologische Erklärungen versuchen, Schieflagen in Prognosen durch mentale
Voreinstellungen bei Projektträgern und Gutachtern zu erklären. So können Politiker
beispielsweise einen „Monument-Komplex“ haben, Ingenieure wollen bauen und
Vertreter lokaler Verkehrsbehörden neigen manchmal dazu, sich ein eigenes Regime
aufzubauen. Die gebräuchlichste psychologische Erklärung verweist auf einen „Bewertungsoptimismus“ („appraisal optimism“). Nach dieser Erklärung sind Gutachter
und Projektträger daran gehalten, in der Bewertungsphase, wenn Projekte geplant
und entschieden werden, die Ergebnisse besonders positiv einzuschätzen (Fouracre
et al. 1990:10, Mackie/Preston 1998, Walmsley/Pickett 1992:11, World Bank 1994:
86). Eine optimistische Kostenkalkulation ist sicherlich eine, die geringe Kosten
ausweist, also unterschätzt. Bewertungsoptimismus bei Projektverantwortlichen und
Gutachtern würde dazu führen, dass die realen Kosten höher sind als die Schätzungen. Damit könnte Bewertungsoptimismus, zumindest zu Teilen, die Schieflage in
unseren Daten erklären, wo die Kosten systematisch unterschätzt sind. Solch ein
Optimismus wäre nicht mit Lügen gleichzusetzen, weil die Täuschung hier ja einer
Selbsttäuschung entspricht und damit nicht absichtsvoll ist. Nach dieser Erklärung
wäre die Kostenunterschätzung vielmehr als Fehler anzusehen.
Allerdings gibt es ein Problem mit psychologischen Erklärungen. Bewertungsoptimismus wäre eine wichtige und glaubhafte Begründung für unterschätzte Kosten,
wenn die Kalkulationen von unerfahrenen Vermarktern und Gutachtern erarbeitet
worden wären, also von Personen, die derartige Kalkulationen zum ersten oder
zweiten Mal erstellen und über die realen Gegebenheiten von Infrastrukturprojekten
Kostenunterschätzung bei öffentlichen Bauprojekten
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nichts wissen und auch nicht auf die Erfahrung und das Wissen von erfahreneren
Kollegen zurückgreifen können. Solche Situationen können vorkommen und können
einzelne Fälle erklären. Aber wenn man sieht, dass die menschliche Psyche sich durch
eine Fähigkeit des Lernens aus Erfahrung auszeichnet, erscheint es eher unwahrscheinlich, dass Manager und Gutachter über Jahrzehnte hinweg dieselben Fehler
machen und nicht aus ihrem Handeln lernen. Es erscheint sogar noch unwahrscheinlicher, dass eine ganze Zunft an Gutachtern und Managern kollektiv nicht aus ihren
Fehlern lernt. Ein Lernprozess würde zu einer Verminderung, wenn nicht sogar Aufhebung des Bewertungsoptimismus führen, und damit zu präziseren Kalkulationen.
Aber unsere Daten zeigen deutlich, dass dies bislang nicht geschehen ist.
Das Gutachtergewerbe muss schon ein optimistischer Haufen sein, um seinen Bewertungsoptimismus durch die 1970er Jahre hindurch aufrecht zu halten und nicht
zu sehen, dass sie sich und andere durch die Unterschätzung der Kosten täuschen.
Das würde zwar zu der Datenlage passen, bildet aber keine glaubhafte Erklärung.
Wie verschiedentlich gezeigt wurde, ist der Anreiz, optimistische Schätzungen zu publizieren und zu rechtfertigen, sehr stark, und die Strafen für zu hohen Optimismus
sind eher zu vernachlässigen (Davidson/Huot 1989:137, Flyvbjerg et al. im Druck).
Dies bietet eine bessere Erklärung für die Beharrlichkeit von optimistischen Schätzungen als eine der Psyche von Managern innewohnende Voreinstellung. Und auf
der Grundlage von Anreizen kalkulierter „Optimismus“ ist selbstredend kein Optimismus, sondern absichtsvolle Täuschung. Mit Verweis auf unsere Daten lehnen wir
entsprechend Bewertungsoptimismus als hauptsächliche Ursache für Kostenunterschätzung ab.
9.4 Politische Erklärungen
Politische Erklärungen stellen Kostenunterschätzungen in einen Zusammenhang
mit Interessen und Macht (Flyvbjerg 1998). Erstaunlich wenige Arbeiten haben sich
dem Muster von Fehlkalkulationen auf diese Weise genähert (Wachs 1990:145). Eine
Schlüsselfrage politischer Erklärungen liegt darin, ob Vorhersagen absichtsvoll verzerrt sind, um die Interessen von Projektmanagern zu stützen und Projekte zu beginnen. Diese Frage verweist wieder auf das komplizierte Problem des Lügens. Fragen
des Lügens sind notorisch schwierig zu beantworten, denn um eine Lüge nachzuweisen, müssen die Motive der Akteure bekannt sein. Wenn Manager und Gutachter absichtlich falsche Kalkulationen erstellt haben, werden sie dies aus rechtlichen,
wirtschaftlichen, moralischen und weiteren Gründen dem Forscher nicht mitteilen
(Flyvbjerg 1996, Wachs 1989).
Als Eurotunnel, das private Unternehmen, das für den Bau des Kanaltunnels verantwortlich zeichnet, sich 1987 an die Öffentlichkeit gewandt hat, um Mittel für das
Projekt einzuwerben, wurde Investoren suggeriert, dass es sich um ein relativ einfaches Vorhaben handelt. Bezüglich des Risikos der Kosteneskalation sah die Ankündigung folgendermaßen aus:
„Whilst the undertaking of a tunneling project of this nature necessarily involves certain construc-
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
29
tion risks, the techniques to be used are well proven …The Directors, having consulted the Mâitre
d’Oeuvre, believe that 10% would be a reasonable allowance for the possible impact of unforeseen
circumstances on construction costs.” (The Economist, 07.10.1989, S. 37: “Under water, over
budget”).
Zweihundert Banken haben diese Angaben zu Kosten und Risiken an Investoren weitergegeben, unter denen auch eine große Zahl an Kleinanlegern war. Wie
der Economist beobachtet („Under water, over budget“, 1989), wurde im Prinzip
jeder getäuscht, der auf diese Weise zur Investition in das Projekt überredet wurde.
Die veröffentlichte Kalkulation bezog sich auf das bestmögliche Ergebnis, und die
Täuschung bestand darin, Investoren in den Glauben zu versetzen, dass das Projekt
nach Plan verlaufen werde, ohne Verzögerung, ohne Änderungen in Sicherheits- und
Umweltvorschriften, ohne Managementprobleme, ohne Probleme mit Verträgen
oder neuen Technologien, ohne Konflikte, ungehaltene politische Versprechen etc.
Obwohl ein Großprojekt nach dem anderen gezeigt hat, dass ein solch reibungsloser
Ablauf höchst unwahrscheinlich ist, wurde den Investoren eine ideale Welt vorgetäuscht. Die tatsächlichen Risiken einer Kosteneskalation lagen für den Kanaltunnel
um ein vielfaches über den veröffentlichten Angaben, was dadurch belegt ist, dass
nach Bauabschluss die Kosten um den Faktor 2 über den Prognosen lagen.
Flyvbjerg, Bruzelius und Rothegatter (im Druck) zeigen für eine hohe Anzahl an
Projekten, dass die Täuschung nach dem Muster „Alles geht nach Plan“, wie sie bei
dem Kanaltunnel eingesetzt wurde, üblich ist. Diese Art der Täuschung ist tatsächlich so weit verbreitet, dass ihr die Weltbank (1994, ii, 22) in einem Bericht über Infrastruktur und Entwicklung, einen Namen gab: das „EGAP-Prinzip“ (Everything
Goes According to Plan“, S.G.). Kostenschätzung nach dem EGAP-Prinzip schließt
einfach das Risiko der Kosteneskalation durch Verzögerungen, Unfälle, Änderungen
am Projekt etc. aus. Dies ist, so die Weltbank, ein großes Problem in der Entwicklung
und Bewertung von Projekten.
Es kann also gezeigt werden, dass Investoren, öffentlich oder privat, in bestimmten Fällen getäuscht wurden. Es ist aber eine ganz andere Sache, diejenigen, die in
diese Täuschungen einbezogen waren, dazu zu bekommen, darüber zu sprechen und
möglicherweise zuzugeben, dass die Täuschung absichtsvoll war, dass also wirklich
gelogen wurde. Uns ist lediglich eine Studie bekannt, in der es gelang, mit denjenigen,
die an den Fehlkalkulationen beteiligt waren, über solche Aspekte zu sprechen (Wachs
1986, 1989, 1990). Wachs interviewte Beamte, Berater und Planer, die an Verkehrsprojekten in den USA beteiligt waren. Er fand heraus, dass ein Muster aus höchst irreführenden Kalkulationen von Kosten und Förderung nicht auf technische Aspekte
zurückgeführt werden kann, sondern am besten durch Lügen erklärt wird. Fall für
Fall erzählen Planer, Ingenieure und Ökonomen, dass sie die Prognosen „kochen“
mussten, um Zahlen zu produzieren, die ihre Vorgesetzten zufrieden stellten und
eine Entscheidung für das Projekt nahe legten, unabhängig davon, ob die Angaben
technisch gerechtfertigt waren oder nicht (Wachs 1990:144). Ein typischer Planer gab
zu, dass er wiederholt die Kostenangaben nach unten „korrigierte“ und die Angaben
zur vorhandenen Unterstützung nach oben, um einen lokal gewählten Vertreter zu-
30
Kostenunterschätzung bei öffentlichen Bauprojekten
frieden zu stellen, der die Chancen einer Projektbewilligung maximieren wollte. Die
Arbeit von Wachs ist ungewöhnlich scharfsinnig für eine Studie über Vorhersagen.
Aber Wachs bezieht sich auf eine kleine Fallzahl und muss zudem zugeben, dass die
meisten seiner Befunde eher zufällig sind (Wachs 1986:28). Die Befunde erlauben
keine Schlüsse über das ganze Feld. Dennoch leitet Wachs aus dem auffälligen Muster
aus falscher Repräsentation und Lügen, die er in seinen Fallstudien gefunden hat, die
Hypothese ab, dass sein Befund „nahezu universell“ gilt und nicht nur bei Verkehrsprojekten, sondern auch in anderen Wirtschaftsbereichen gefunden werden kann,
wo Prognosen eine wichtige Rolle in der Entscheidungsfindung spielen (Wachs 1990:
146, 1986:28). Unsere Daten unterstützen die Vermutung von Wachs. Das Muster
der hoch unterschätzten Kosten findet sich nicht nur in der kleinen Fallauswahl von
Wachs; das Muster ist statistisch signifikant und gilt für den Durchschnitt des Feldes
(also für die Mehrheit der Verkehrsinfrastrukturprojekte). Allerdings scheint Wachs
(1986) in einem Punkt etwas härter zu argumentieren, als es angemessen erscheint:
„[F]orecasted costs always seem to be lower than actual costs“ (S. 24), ist seine Folgerung (Hervorhebung im Original). Unsere Daten zeigen jedoch, dass sich „immer“
(100 %) zwar für die von Wachs studierten Projekte behaupten lässt. Wenn sich die
Auswahl jedoch um 20-30 % erhöht, um eine bessere Repräsentativität zu erzielen,
liegen „nur noch“ in 86 % der Fälle die Schätzungen unter den realen Kosten. Lässt
man diesen Unterschied (14 Prozentpunkte) beiseite, gilt die Aussage von Wachs
generell, und seine Erklärung, die die Unterschätzungen auf Lügen zurückführt, verträgt sich weitgehend mit unseren Daten.
Wenn wir die bestehenden Erklärungen für Fehlkalkulationen vergleichen, erscheinen uns die ökonomische und die politische am passendsten. Der taktische Einsatz
von Täuschung und Lüge in Machtkämpfen, um Projekte durchzusetzen und einen
Profit zu erwirtschaften, scheint am besten zu erklären, warum Kosten in hohem
Maße und systematisch in Verkehrsinfrastrukturprojekten unterschätzt werden.
10. Zusammenfassung und Folgerungen
Die Hauptbefunde unserer Studie, die hier wiedergegeben wurden, sind höchst
signifikant bei konservativen Annahmen in der Berechnung:
• In neun von zehn Verkehrsinfrastruktur-Projekten werden die Kosten unterschätzt.
• Bei Bahnprojekten liegen die tatsächlichen Kosten durchschnittlich 45 % über
den anfänglichen Kalkulationen (sd=38).
• Bei Tunnelbauten und Brücken übersteigen die tatsächlichen Kosten die Prognosen durchschnittlich um 34 % (sd=62).
• Bei Straßenprojekten liegen die realen Kosten im Durchschnitt um 20 % über den
Schätzungen.
• Im Durchschnitt aller Projekte liegen die tatsächlichen Kosten um 28 % über den
Schätzungen (sd=39).
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
31
• Die Unterschätzung der Kosten tritt in 20 Ländern auf fünf Kontinenten auf; sie
scheint also ein globales Phänomen zu sein.
• Kostenunterschätzung scheint in Entwicklungsländern ausgeprägter zu sein als in
Nordamerika und Europa (Daten hierzu liegen nur für Bahnprojekte vor).
• Die Unterschätzung von Kosten hat in den letzten 70 Jahren nicht abgenommen. Es scheint kein Lernprozess stattzufinden, in dem die Prognosen präziser
werden.
• Die Fehlkalkulationen können nicht durch Fehler erklärt werden, sondern sind am
ehesten auf strategische Verfälschung, also Lügen, zurückzuführen.
• Verkehrsinfrastrukturprojekte scheinen nicht anfälliger für Kostenunterschätzungen zu sein als andere Großprojekte.
Wir fassen zusammen, dass die Kostenschätzungen, die in öffentlichen Verhandlungen, Medien und Entscheidungsfindung über Verkehrsinfrastrukturprojekte eingesetzt werden, systematisch und signifikant irreführend sind. Dasselbe gilt für Kosten-Nutzen-Analysen, in denen auf Kostenschätzungen zurückgegriffen wird um die
Rentabilität von Projekten zu prüfen. Die falsche Darstellung von Kosten führt leicht
zur Fehlallokation von knappen Ressourcen und produziert damit Verlierer unter den
Anlegern und Nutzern, seien es Steuerzahler oder private Investoren.
Wir betonen, dass diese Folgerungen nicht als ein Angriff auf öffentliche (vs. private) Infrastrukturinvestitionen interpretiert werden sollen, da die Daten keine Aussagen darüber zulassen, ob sich private Projekte mit Blick auf Kostenschätzungen
besser oder schlechter verhalten als öffentliche. Die Ergebnisse erlauben auch keine
Verurteilung von Verkehrsprojekten gegenüber anderen, da auch die anderen Projekte anfällig für Kostenunterschätzungen und Eskalationen erscheinen. Basierend auf
Verkehrsprojekten als vertiefender Fallstudie, zeigen die Ergebnisse lediglich, dass
signifikante Kostenunterschätzungen weit verbreitet und üblich sind, und dass diese
Praxis ein substantielles Hindernis für eine effektive Allokation knapper Ressourcen
darstellt.
Dies bedeutet, dass in diesem – teuren - Feld Gesetzgeber, Verwaltungen, Banken
und Medien, die ehrliche Zahlen schätzen, den Kostenkalkulationen von Projektmanagern und Gutachtern nicht trauen sollten. Zweitens sollten institutionelle Kontrollen entwickelt werden, um die Produktion weniger irreführender Berechnungen
sicherzustellen; hierzu zählen finanzielle, berufsbezogene oder rechtliche Strafen für
absehbare Kalkulationsfehler. Die Erarbeitung solcher Kontrollmechanismen hat
bereits begonnen, mit einem Fokus auf vier grundlegende Instrumente der Überprüfbarkeit: (1) erhöhte Transparenz, (2) Einsatz von Leistungsbeschreibungen, (3)
deutliche Formulierungen der Regulierungsregimes in Bezug auf Projektentwicklung
und -implementierung, (4) Einbeziehung von privatem Risikokapital auch in öffentlichen Projekten (Bruzelius et al. 1998, Flyvbjerg et al. im Druck).
32
Kostenunterschätzung bei öffentlichen Bauprojekten
Anmerkung
Eine Langfassung dieses Beitrags ist unter dem Titel „Cost Underestimation in
Public Works Projects: Error or Lie?“ in Journal of the American Planning Association Vol. 68, No. 3, Sommer 2002, S. 271-295 erschienen. Dort findet sich auch ein
ausführlicher Anhang mit detaillierten Angaben zu den angewandten statistischen
Verfahren.
Übersetzung: Simon Güntner
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Mega-Projekte und Stadtentwicklung
35
Katja Simons
GROSSPROJEKTE UND STADTENTWICKLUNGSPOLITIK:
Zwischen Steuerung und Eigendynamik - Das Beispiel Euralille
1. Einführung: Planung und Unsicherheit
Großprojekte sind Katalysatoren der Stadtentwicklung. Sie sollen die Stadtentwicklung sichtbar voranbringen und innovative Anstoßeffekte geben. Große Projekte
dienen dazu, stadtökonomisch bislang unter- bzw. ungenutzte Flächen aufzuwerten
und neu zu definieren. Sie bewirken daher einen massiven Eingriff in die bisherige
Stadtstruktur. Als Großinvestitionen binden sie beträchtliche finanzielle Ressourcen
und Aktivitäten unterschiedlicher Akteure aus Politik, Verwaltung und Wirtschaft.
Überall bietet sich ein ähnliches Bild. Auf brachliegenden Industrieflächen werden
eine neue Zukunft verheißende Freizeit-, Dienstleistungs-, Büro- und High-TechStandorte entwickelt. In Berlin wurden in den ersten drei Jahren nach der Vereinigung mehr Großprojekte begonnen als in Hamburg und München in einem Jahrzehnt (Kuhle/Fiedler 1996:27). Die Früchte dieser rastlosen Bautätigkeit lassen sich
heute bewundern: Potsdamer Platz, Regierungsviertel, neue Bürostandorte an der
Spree, neuer Zentralbahnhof – um nur einige Großprojekte zu nennen. Als einer der
großen Zukunftsprojekte der Stadt wurde ‚Berlin Adlershof – Die Stadt für Wissenschaft, Wirtschaft und Medien’ Anfang der 1990er Jahre in die Wege geleitet.
In der HafenCity in Hamburg wird zur Zeit mit „Europas größtem Bauprojekt“
geworben. Auf traditionsreichem Hafengelände soll nun ein neuer Stadtteil mit Wohnungen, Gewerbe- und Dienstleistungsflächen entstehen.
Beispiele aus dem europäischen Ausland machen diesen gleichzeitig stattfindenden
Projektboom deutlich: In Bilbao im Baskenland entsteht ein neues Hafenviertel mit
Luxuswohnungen, Unterhaltungsinfrastruktur, Büros und einem Kongreßzentrum.
Eine besondere Perle der Erneuerung stellt das neue Guggenheim-Museum dar, das
36
Großprojekte und Stadtentwicklungspolitik
bereits zu einem touristischen Anziehungspunkt geworden ist. Das ‚Kop van Zuid‘Projekt in Rotterdam beinhaltet neue Büroflächen, Gründerzentren und Wohnungen; damit wird die Hafengegend aufgewertet und durch eine neue Brücke mit dem
Stadtzentrum auf dem gegenüberliegenden Ufer verknüpft.
Großprojekte sind keine Routineaufgaben. Um die Durchführung von Großprojekten zu erleichtern und zu beschleunigen, werden neue Planungsverfahren
außerhalb der herkömmlichen Planungsstrukturen und privatrechtlich organisierte
Entwicklungsgesellschaften geschaffen. Die frühzeitige Beteiligung privater Investoren und das aktive Engagement der öffentlichen Hand bei der Durchführung der
Projekte reflektiert ein Planungsverständnis, das auf Kooperation von öffentlichen
mit privaten Akteuren setzt. Dieses Verständnis von Planung bricht mit der standardisierten Verwaltungsroutine und den traditionellen Vorstellungen von Stadtentwicklungspolitik. Planung wird dezentraler und vielstimmiger.
Im Folgenden wird zunächst erläutert, was unter Projektmanagement als Steuerungsmodell von Projekten zu verstehen ist. Dann folgt eine theoretische Skizze
zum Wandel staatlicher Steuerung, in die die Bedeutung projektorientierter Stadtentwicklungspolitik eingebettet wird. Am Beispiel von Euralille in Nordfrankreich wird
diskutiert, warum Großprojekte im Verlauf der Implementierung Eigendynamiken
entwickeln, die sich den herkömmlichen Formen politischer Steuerung entziehen.
Schließlich wird erörtert, inwiefern sich Großprojekte mit ihren externalisierten
Managementstrukturen den traditionellen Verfahren demokratischer Aufsicht entziehen.1
2. Projektmanagement: Balanceakt zwischen Effizienz und Legitimation
Projekte lassen sich in dem hier gemeinten Sinn allgemein als Vorhaben und
„Sonderaufgaben mit einem außergewöhnlich breiten Kompetenzbedarf“ definieren
(Corsten/Corsten 2000:1). Zu ihrer Lösung bedarf es daher der Zusammenarbeit unterschiedlicher Fach- und Wissensgebiete. Projekte sind durch eine Reihe von Merkmalen gekennzeichnet: Zielvorgabe, zeitliche Befristung, Komplexität und relative
Neuartigkeit. Die Komplexität eines Projektes zeigt sich darin, dass eine Vielzahl von
Teilaktivitäten und Interdependenzen wirksam werden, die schwer vorauszusehen
sind. Neben der Komplexität als struktureller Dimension ist auch die Dynamik als
zeitliche Dimension zu nennen. Sie stellen gemeinsam mit der Neuartigkeit der Aufgaben einen Unsicherheitsfaktor bei der Durchführung von Projekten dar.
Um deutlich zu machen, was unter ‚Projekt’ als neue Form des politischen Managements zu verstehen ist, gebrauchen Häußermann und Siebel (1994:32) eine maritime Metapher: Projektpolitik bedeute den Umstieg vom Tanker, der auf langfristigem Kurs stetig seine Bahn ziehe, in das wendige Motorboot. Projekte seien flexibler,
dynamischer und mediengerechter als das alltägliche Verwalten von Problemen durch
die Kommunalbehörden. Folglich stehen bei der projektorientierten Entwicklungssteuerung nicht mehr abstrakte Programme bzw. flächenhafte Pläne im Vordergrund,
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
37
die ‚von oben’ formuliert wurden, sondern einzelne Projekte, mit denen kurzfristig
auf Probleme reagiert wird. Projekte liegen zudem quer zu den bürokratischen Strukturen des Verwaltungshandelns und sind Bestandteil horizontaler, aber auch vertikaler politischer Verflechtungen.
In der Planungsdiskussion werden Projekte als neuer Typ von Planung bezeichnet,
der sich von anderen Planungsformen wie die umfassende Entwicklungsplanung und
die inkrementalistische Vorgehensweise laut Siebel, Ibert und Mayer (1999) in dreifacher Weise unterscheidet: Zum einen ist der stadtplanerische Eingriff durch Projekte
räumlich, zeitlich und inhaltlich begrenzt. Zum anderen wird das Vorhaben gleichzeitig geplant und umgesetzt, so dass die klassische Arbeitsteilung zwischen öffentlicher
Planung und privater Realisierung aufgegeben wird. Zum dritten unterscheidet sich
Projektplanung von herkömmlicher Planung, weil sie ‚weiche Strategien’ anwendet.
Anstelle hoheitlicher Steuerungsmedien treten kooperative Verhandlungssysteme
und eine informelle Planung. Um nicht den öffentlichen Steuerungsanspruch völlig
aufzugeben, bleibe aber die hierarchische Steuerung mittels rechtlicher Vorgaben
oder finanzieller Zuwendungen als „Rute im Fenster“ sichtbar (Mayntz/Scharpf
1995:29).
Bei der Steuerung von Projekten werden moderne Managementfunktionen auf
die öffentliche Verwaltung übertragen, die Sektoralpolitik durch Kooperation zu
überwinden versuchen (vgl. Fürst 1998). Durch die Einbeziehung und die Zusammenarbeit unterschiedlicher Verwaltungsabteilungen kann Wissensbreite und -tiefe
gesteigert werden (vgl. Andersch/Belzer 1998). In der Verwaltung haben Projektmanagementkonzepte zum Teil aber mit Widerständen und Reibungsverlusten zu
rechnen, die auf Eigenheiten des politisch-administrativen Systems zurückzuführen
sind. Da das Projektmanagement kaum institutionalisiert ist, sind die Anforderungen
an die Managementleistungen hoch. Während eine „starke Institutionalisierung eine
gewisse strukturelle Steuerung übernimmt (z.B. Routinen zuläßt, einen Teil der Konflikte strukturell regelt, klare Rollen zuweist, externe Einflüsse institutionell ausblendet), transferiert eine schwache Institutionalisierung eine hohe Last der Komplexitätsverarbeitung, Konsensbildung und Entscheidungsfindung auf Personen“ (Fürst
1998:250). Da innovatives Handeln in Verwaltungen noch nicht so stark ausgeprägt
ist, werden hohe Ansprüche an die Mitarbeiter gestellt. Zudem befindet sich das
Projektmanagement nach Fürst (1998:250) im „Spannungsverhältnis sach-rationaler
Effizienz und politischer Legitimation“. Politik bedarf der Kontrolle. Das Projektmanagement hingegen tendiert zum Rückzug aus politischen Gremien und damit
zur ‚Entpolitisierung’ der Entscheidungsprozesse. Dieses Spannungsverhältnis gilt es
auszubalancieren.
3. Der „kooperative Staat“
Heute gilt als selbstverständlich, dass politische Steuerung nicht ausschließlich als
hoheitliche Tätigkeit oder als hierarchische Steuerung des Staates aufgefasst werden
kann. Herkömmliche Bilder von Steuerung als „einem Steuermann, der das Steuer-
38
Großprojekte und Stadtentwicklungspolitik
ruder fest in den Händen hält und sein Schiff auf sicherem Kurs steuert“ oder einen
„Staatenlenker, der die Staatsgewalt nutzt, um das Staatsschiff über alle Klippen zu
bringen“ (Görlitz/Burth 1998:7), müssen über Bord geworfen werden. Diese Bilder
politischer Steuerung beschreiben staatliches Handeln als hierarchische Intervention
von oben mit einem umfassenden Steuerungsanspruch und dem Ziel öffentlicher
Wohlfahrt. Die Vorstellung vom Staat als homogener Einheit, die der Gesellschaft
übergeordnet ist und diese im Rahmen einer hierarchischen Beziehung steuert,
entspricht schon lange nicht mehr der Realität (vgl. Benz 1997). Moderne Staaten
sind eingebunden in ein immer dichter werdendes Geflecht innergesellschaftlicher
und transnationaler Abhängigkeiten und Verhandlungszwänge (vgl. Scharpf 1991).
Ende der 1970er Jahre, als eine Krise der regulativen Politik diagnostiziert wurde
(vgl. Mayntz 1979), fand der Begriff des kooperativen Staatshandelns Eingang in die
Diskussion: Der Staat trat vom hoheitlichen Podest des einseitig Anweisenden herab
und begab sich auf die Ebene des Austausches von Informationen und Leistungen
(vgl. Ritter 1979).
In der internationalen Debatte wird der Wandel zum kooperativen Staat als Übergang von ‚government‘ zu ‚governance‘ bezeichnet. Der Begriff ,governance‘ weist
eine „komplexe Architektur” auf und ist viel umfassender als ‘government’, wie etwa
Pierre (1998:5) feststellt: „It takes into account not just the institutions of government but also the process through which these institutions interact with civil society
and the consequences of this mutual influence between state and civil society.”
Im Gegensatz zu herkömmlichen Formen des Regierens bilden sich multiple
Machtzentren heraus (vgl. Rhodes 1997). Dabei entsteht ein Mehrstufensystem, in
dem die lokale Ebene mit unterschiedlichen Institutionen, bis hin zu supranationalen,
verflochten ist. Gleichzeitig weitet sich das Akteursspektrum auf der horizontalen
Ebene aus und bezieht eine Vielzahl an privaten und öffentlichen Akteuren ein.
Für die „Enthierarchisierung zwischen Staat und Gesellschaft“ (Scharpf 1991:
622) werden vielfältige Ursachen ins Feld geführt. Eine Argumentationslinie greift
die Steuerungskrise auf (vgl. Görlitz/Burth 1998): Die Aufgaben wachsen dem
Staat ‚über den Kopf ’. Die zunehmende Komplexität der Aufgaben und steigende
Ansprüche gesellschaftlicher Interessengruppen führen zu einer Vielzahl von Steuerungsproblemen, die mit den vorhandenen Kapazitäten öffentlicher Einrichtungen
kaum mehr zu bewältigen sind.
Für Mayntz (1996a) sind kooperative Steuerungsformen ein zentraler Ausdruck
gesellschaftlicher Modernisierung. Politiknetzwerke gehen auf die zunehmende
Bedeutung von eigenständigen Organisationen zurück. Diese haben sich im Zuge
gesellschaftlicher Modernisierung gebildet, um ein bestimmtes Maß an Autonomie
in den einzelnen Subsystemen wie Politik, Recht, Wirtschaft etc. zu gewährleisten.
Beispiele dafür sind Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen, Kassenverbände
und Kassenärztliche Vereinigungen etc. Die Handlungsfähigkeit der Organisationen
nach innen wie nach außen und die Fähigkeit über Ressourcen zu verfügen, führt
dazu, dass immer mehr Entscheidungen in der Politik durch unterschiedliche Akteure, die über eine eigene Machtbasis verfügen, geformt werden.
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
39
4. Kooperation im ‚Schatten der Hierarchie’
Diese neue Architektur von Staatlichkeit sollte nicht mit Schwächung oder Auflösung des Staates verwechselt werden. Auch wenn staatliche Instanzen als Partner
in Verhandlungssystemen beteiligt sind, haben sie dennoch weitreichende Handlungspotenziale. Es handelt sich daher meist um „Verhandlungen im Schatten der
Hierarchie“, Konstellationen, „in denen die staatliche Instanz notfalls auch einseitig
entscheiden könnte, aber aus politischer Rücksicht oder aus Informationsmangel an
einvernehmlichen Lösungen stark interessiert sein muß“ (Scharpf 1991:629). Staatliche Steuerung und gesellschaftliche Selbstregelung sind daher keine Alternativen,
sondern eine „verbreitete Mischform von Governance“ (Mayntz 1996b:160). Dies
zeigt sich darin, dass staatliche Akteure Einfluss auf die ‚Spielregeln’ nehmen und
dadurch das Kräfteverhältnis der Akteure und das Verhandlungsergebnis beeinflussen können. Sie können die Handlungsorientierungen der anderen nicht-staatlichen
Teilnehmer durch Information oder Überzeugungsarbeit beeinflussen oder auch
Entscheidungen autoritär treffen. Außerdem verdanken viele Verhandlungen ihre
Entstehung staatlicher Intervention. Von Steuerungsverzicht des Staates kann also
keine Rede sein. Auch wenn, wie Kilper (1999:42) feststellt, „vieles dafür spricht,
daß das kooperative Aushandeln von Zielsystemen und Problemlösungen zwischen
staatlichen und gesellschaftlichen Akteuren immer mehr an praktischer Bedeutung
gewinnt, werden dadurch andere Interaktionsstrukturen und Steuerungsmöglichkeiten nicht obsolet.“
Auch die Steuerungspraxis von Großprojekten macht diese Verschränkung unterschiedlicher Steuerungsformen deutlich (vgl. Simons 2003). Im Projektmanagement werden hierarchische Steuerungsinstrumente – Recht, Geld und Macht – in
die projektbezogene Kooperation integriert und verlieren daher nicht an Gewicht.
Rechtlich geregelte Planungsverfahren sind meist eine wichtige Voraussetzung für
die Entstehung der Zusammenarbeit zwischen öffentlichen und privaten Akteuren.
Finanzielle Ressourcen der öffentlichen Hand und persönliche Machtpotenziale von
Politikern sind entscheidend bei der Umsetzung der Vorhaben. Die realen Entscheidungsprozesse können folglich nicht durch eine einheitlich nicht-hierarchische Governance-Struktur charakterisiert werden (vgl. Le Galès 2000). Vielmehr überlagern sich
unterschiedliche Organisations- und Steuerungsformen. Die öffentliche Hand bleibt
ein zentraler Akteur bei der Umsetzung der Vorhaben. Gleichzeitig erhalten neue
Planungsverfahren, die auf eine kooperative Projektsteuerung setzen, Einzug in die
Planungspraxis.
5. Die lokale Ebene
In der Diskussion um das Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft nimmt die
Kommune eine „interessante Zwischenstellung“ ein (Andersen 1998:18). Sie ist traditionell stärker gesellschaftlich geprägt, aber als unterste Verwaltungsebene nicht
wirklich ‚staatsfern’. Die stärkere Bürgernähe, aber auch die Rolle der Kommune im
40
Großprojekte und Stadtentwicklungspolitik
Staat trägt zu dieser besonderen Position bei. Kommunen besitzen eine Doppelstellung als Selbstverwaltungskörperschaft und als Erfüllungsgehilfen des Staates vor
Ort. Einerseits nehmen sie Selbstverwaltungsaufgaben wahr, andererseits übertragene staatliche Aufgaben. Besonders weit gingen diese Vorgaben in den 1970er Jahren,
als die Gemeinden in die staatliche Konjunktursteuerung und in die Raumpolitik einbezogen wurden. Ihr Selbstverwaltungscharakter wurde dadurch erheblich begrenzt
(vgl. Gotthold 1978). Ab Mitte der 80er Jahre gewann in Deutschland, und auch
international, die Aufwertung der lokalen Politikebene an Bedeutung (vgl. Kleinfeld
1996). An die Stelle zentraler Entscheidungsstrukturen sollten dezentrale treten; Entscheidungskompetenzen wurden ‚nach unten’ verlagert, um die komplexer werdenden Aufgaben besser lösen zu können. Dezentralisierungsprojekte wie beispielsweise
in Frankreich veranschaulichen derartige Aufwertungen.
6. Société d’Economie Mixte in Frankreich
Die Ausbreitung von gemischwirtschaftlicher Gesellschaften (Société d’Economie
Mixte, SEM) in Frankreich hat neben der Knappheit kommunaler Mittel insbesondere mit den Reformen zur Dezentralisierung in der 1980er Jahren zu tun. Ursprünglich
unterlagen auch öffentlich-private Partnerschaften staatlicher Zuständigkeit. Daher
hatte ein staatlicher Bevollmächtigter (Präfekt) einen Sitz im Verwaltungsrat der SEM.
Städtebauliche Vorhaben wurden daher auch in Paris entschieden (vgl. Caillosse/Le
Galès/Loncle-Moriceau 1997). Das Gesetz vom 7. Juli 1983 über kommunale gemischtwirtschaftliche Gesellschaften definierte ihre Satzung neu und stärkte dabei
die Rolle der öffentlichen Hand, indem es ihr ermöglichte, bis zu 80% des Gesellschaftskapitals der SEM zu besitzen. Außerdem erleichterte es die Einrichtung von
SEMs, da die Erfordernis der vorherigen Genehmigung durch den Staat wegfiel und
ihnen die Freiheit über die vertragliche Regelung der Vergütung von SEMs und ihrer
Beschäftigten gegeben wurde. Stattdessen wurde von den neuen Gebietsentwicklungs- oder Baugesellschaften höhere Kapitaleinlagen gefordert, eine Million oder
1,5 Millionen Francs (vgl. Caillosse/Le Galès/Loncle-Moriceau 1997). Im Jahr 2000
zählte die ‚Fédération Nationale des Sociétés d’Economie Mixte’ insgesamt 1.255
gemischtwirtschaftliche Gesellschaften in unterschiedlichen Bereichen.
7. `Bigness´ als Maßstab: Euralille
Ende der 1980er Jahre begann auf einem ehemaligen Militärgelände am Rande des
alten Stadtzentrums in Lille die Planung von ‚Euralille’, einem Dienstleistungskomplex
mit einer neuen TGV-Station (Train à Grande Vitesse = Hochgeschwindigkeitszug),
die die Annäherung von Lille an Europa symbolisieren sollte (vgl. Simon 1993). Die
Projektakteure legten großen Wert auf die Imagewirkung und Außenwerbung des
Vorhabens und wählten daher den renommierten Architekten Rem Koolhaas sowie
ausgewählte Experten aus Kultur und Wissenschaft für die Projektsteuerung. Koolhaas’ Masterplan bestand aus verschiedenen Teilprojekten wie dem TGV-Bahnhof,
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
41
einem Einkaufszentrum, einer Kongresshalle, Hotels und Bürogebäude. Vorgesehen
war eine Reihe von Hochhäusern, die über der TGV-Trasse emporragen sollten. Damit knüpfte Koolhaas an seine Idee von ‚Bigness’ als höchster Form des Bauens an
(vgl. Koolhaas/Mau/Werlemann 1995). Diese Größenordnung sprengte den bisherigen Maßstab des Städtebaus in Lille. Die Altstadt von Lille in unmittelbarer Nähe ist
hingegen von einer Vielzahl öffentlicher Räume, enger Gassen und schmaler Vorderund Hinterhäuser mit ornamentalen Fassaden gekennzeichnet.
Abbildung 1: Plan der Euralille-Teilprojekte mit dem Bahnhof/Einkaufszentrum,
Quelle: Chris Couch et al. (Hg.): Urban Regeneration in Europe, Oxford 2003, S. 99
Mit der Zustimmung zur Gründung der gemischtwirtschaftlichen Gesellschaft für
das Projektmanagement wurden weitreichende Entscheidungsbefugnisse von den
öffentlichen Körperschaften auf die SEM übertragen, die unabhängig von Verwaltungsstrukturen und -vorschriften das Projekt zielorientiert realisieren konnten. Der
Charakter einer SEM ist doppelter Natur, zum einen werden im öffentlichen Auftrag
Ziele von ‚allgemeinem Interesse’ verfolgt, zum anderen Arbeitsweisen aus dem privatrechtlichen Sektor übernommen. Dadurch können flexiblere Arbeits- und Beschäftigungsstrukturen eingeführt werden. Da die öffentlichen Gebietskörperschaften per
Gesetz Mehrheitsanteile am Kapital der Gesellschaft halten müssen, verzichten sie
nicht ganz auf ihre Kontrolle. Gerade in einer gemischtwirtschaftlichen Gesellschaft
werden private und öffentliche Interessen eng aneinander gekoppelt und vermischt.
Im Fall Euralille wurde die Verflechtung zwischen SEM und Politik noch durch die
starke Führungsrolle des Bürgermeisters bei der Projektentwicklung verstärkt (vgl.
Vermandel 1995).
Die öffentliche Hand war eine prekäre Doppelrolle eingegangen: Sie war einerseits
unternehmerisch tätig, betätigte sich unmittelbar im wirtschaftlichen Bereich und
ging folglich auch wirtschaftliche Risiken ein. Gleichzeitig war sie Kontrolleur ihrer
eigenen unternehmerischen Tätigkeiten. Die Rolle der privaten Finanziers innerhalb
der SEM Euralille ging zum Teil über die eines Aktionärs hinaus, da sie auch als Berater und Sachverständiger gefragt waren und teilweise auch als Investoren gewonnen
werden konnten. Sie waren daher vor allem in der Realisierungsphase von Bedeutung.
Insgesamt darf aber der private Charakter der Vorhaben nicht überschätzt werden,
42
Großprojekte und Stadtentwicklungspolitik
da die Banken in der SEM überwiegend einen halb-öffentlichen Charakter hatten
und die öffentliche Hand vor allem in finanzieller Hinsicht, aber auch in Hinblick
auf die städtebaulichen Instrumente großen Anteil an der Umsetzung des Vorhabens
hatte (vgl. Salin/Moulaert 1998).
Die Rolle der politischen Gremien auf
kommunaler und StadtUmland-Ebene bei der
Planung des Großprojekts
lässt sich als ein kurzes
Zwischenspiel charakterisieren. Die konzeptionelle
Vorarbeit wurde innerhalb
der ‚Projektstrukturen’ geleistet, d.h. durch die private Planungsgesellschaft,
die Architektenbüros und
den städtebaulichen Qualitätszirkel, so dass der
Stadtrat von Lille erst zu
Beginn der öffentlichen
Beteiligung über Inhalt
und Form des Projekts informiert wurde (Ratsprotokoll Lille, 20.11.1989).
Die erste öffentliche Sitzung politischer Gremien
fand nach einer Phase
der Geheimhaltung auf
Stadt-Umland-Ebene
statt, die für Fragen der
Stadtplanung zuständig ist
Abb. 2/3: Ansichten von Euralille, Quelle: OMA / Rem Kolhaas / Bruce
und das letzte Wort hatte
Mau: S,M,L,XL, New York 1995, S.1206f (oben) und S. 791.
bei der Einrichtung der
konzertierten Planungszone (ZAC) und der gemischtwirtschaftlichen Gesellschaft
Euralille (SEM Euralille). Kritik wurde daher vor allem am Projektverfahren laut
(Ratsprotokoll Lille, 23.4.1990).
Die Entstehungs- und Entwicklungsdynamik von Euralille ist unmittelbar mit den
Machtnetzwerken von Politikern verquickt, insbesondere mit denen des Bürgermeisters von Lille. Seine Machtnetzwerke spiegeln die für Frankreich bezeichnende „Allmacht des Bürgermeisters“ (Hoffmann-Martinot 1999:370) wider. Als „Supernotabler“ (Mabileau 1996:88) verfügte Mauroy über Einflussmöglichkeiten und Kontakte
auf unterschiedlichen politischen Ebenen, mit denen er die Entscheidungsprozesse
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
43
kontrollieren konnte. Machtnetzwerke bestehen aus Einflussbeziehungen zwischen
verschiedenen politischen Zentren, wie zum Beispiel dem Rathaus und den StadtUmland-Verbänden, der Präfektur und der Handelskammer. Die Bedeutung von
Schlüsselfiguren wird durch einen für Frankreich typischen politisch-institutionellen
Kontext – der Möglichkeit der Ämterhäufung – verstärkt. Außerdem reichte Mauroys
Einflussbereich als ehemaliger Premierminister über den lokalen und regionalen Wirkungskreis hinaus. Seine Kontakte zur nationalen Ebene waren entscheidend in der
Phase der Verhandlungen um einen TGV-Halt in Lille.
Auch der Grundstückstransfer vom staatlichen (militärischen) in städtischen Besitz ging auf die Überzeugungsarbeit von Mauroy zurück. Ricordel (1997: 28) weist in
diesem Zusammenhang auf einen neuen Politikertyp in Frankreich hin, den „maire
entrepreneur“ – Bürgermeister, die im Zuge der Dezentralisierung an Macht gewonnen haben, Projekte initiieren und Risiken eingehen. Aber nicht nur die Rolle Pierre
Mauroys verdeutlicht, wie personenabhängig das Projektverfahren war, sondern
auch Jean-Paul Baïetto, der Direktor der SEM Euralille. Er verfügte über besondere
Qualifikationen wie Kompetenz, Charisma und Engagement, die ihn zur ‘treibenden
Kraft’ des Projekts machten.
8. Die Eigendynamik von großen Projekten
Nachdem Großprojekte begonnen werden, entwickeln sie ein Eigenleben, das
nur noch schwer zu steuern ist. Änderungen sind von einem bestimmten Zeitpunkt
an kaum noch möglich bzw. lassen sich kaum noch durchsetzen. Der ‘point of no
return’ ist daher bei Großprojekten vergleichsweise rasch erreicht. Was hat dies zu
bedeuten?
Zum einen kann dieser ‚Punkt’ von den Projektakteuren geschickt ausgenutzt
werden. In Lille wurde die Öffentlichkeit bewusst erst dann über die Stadtentwicklungsvorhaben informiert, als erhebliche Vorarbeiten geleistet, Ressourcen investiert
und Fakten geschaffen worden waren. Ab diesem Zeitpunkt war das Projekt nicht
mehr aufzuhalten, und alle weiteren Schritte konnten als unabwendbar entschuldigt
werden. Dadurch sollte es gegen Kritik und Alternativen immunisiert werden.
Zum anderen erwies sich der ‘point of no return’ insbesondere dann als problematisch, als sich die Rahmenbedingungen änderten und ein Umsteuern notwendig
wurde. Die Immobilienmarktkrise wirkte sich auf Euralille aus und bereitete einigen
Teilprojekten Realisierungsprobleme (vgl. Cherruau 1999). Wenn Großprojekte in
eine kritische Realisierungsphase geraten, schränken mangelnde Ausstiegsoptionen
den Handlungsspielraum für die politische Steuerung ein. Im Folgenden wird dies
näher beleuchtet:
• Politische Versprechen: Großprojekte sollen eine Antriebsfunktion in der Stadtentwicklung übernehmen. Bereits in der Planungsphase kommunizieren sie die mit
ihnen verknüpften Leitkonzepte, markieren strategische Schritte und präsentieren
Zukunftsentwürfe für die Entwicklung der Stadt. Mit dieser stark symbolisch auf-
44
Großprojekte und Stadtentwicklungspolitik
geladenen Bedeutungsebene lassen sich Großprojekte nach innen und nach außen
vermarkten. Euralille wurde als eine ‚turbine tertiare’ bezeichnet und steht für die
Entwicklung des Dienstleistungssektors in einer altindustriellen Ballungsregion.
Die Projekte sollen Handlungsfähigkeit demonstrieren und werden daher unter
massivem Erfolgsdruck vermarktet. Da Großvorhaben als Zukunftsprojekte betrachtet werden und damit auch den politischen Willen symbolisieren, Aufbruchstimmung zu erzeugen und neue stadtentwicklungspolitische Impulse zu setzen,
würde eine Diskussion über eine Korrektur des Vorhabens aufgrund schleppender
Nachfrage oder gar einen Ausstieg mit dem fehlenden politischen Willen gleichgesetzt werden, die Stadt zu erneuern. Abbruch oder Revision hieße demnach, dass
der Anschluss an die Zukunft bewusst verpasst bzw. verspielt würde.
• Planungssicherheit: Großprojekte stellen immer eine Mischrechnung öffentlicher
und privater Finanzierungsanteile dar. Private Investitionen sind von zentraler
Bedeutung, damit die Projektidee realisiert und auch abgeschlossen werden kann.
Die Ressourcendefizite der öffentlichen Akteure lassen ein Abhängigkeitsverhältnis zu den privaten Investoren entstehen (vgl. Cattacin 1994). Politisches
Handeln muss sich daher zumindest teilweise den Interessen privater Investoren
unterordnen und Planungssicherheit garantieren. Da Großprojekte lange Realisierungszeiträume benötigen, die über eine Legislaturperiode weit hinausgehen,
fordern Investoren von Politikern, sich dem ‚Gebot der Zuverlässigkeit‘ zu beugen. Die Rücknahme von Planungszielen oder auch nur lautes Nachdenken über
den Ausstieg könnte das Vertrauen der Investoren in das Großprojekt erschüttern. Die Diskussionen in den politischen Gremien über Euralille haben deutlich
gemacht, dass Kritikern meist vorgeworfen wurde, mit ihren Einwänden das gesamte Projekt zu gefährden. Die Projektpromotoren hatten in diesem Sinne schlagkräftige Argumente parat, mit denen um Zustimmung geworben werden konnte.
Der von den Projektakteuren eingeforderte politische Grundkonsens gegenüber
städtebaulichen Entwicklungsvorhaben, nach Kontinuität politischer Entscheidungen bedeutete eine Einschränkung der politischen Kontrolle.
• Viele Akteure: Durch die Teilnahme von Akteuren aus Wirtschaft, Politik und
Verwaltung an der Planung, Durchführung und Realisierung von Großprojekten lassen sich fragmentierte Handlungsressourcen koordinieren und bündeln.
Eine Vielzahl sich überlappender informeller oder formeller Arbeitsbeziehungen
prägt das Projekt. Durch die Einsetzung eines Projektträgers werden öffentliche
Aufgaben in privatrechtlich organisierte Gesellschaften ausgelagert. Diese gehen
wiederum vertragliche Bindungen mit Investoren ein, die sich für einzelne Standorte interessieren. Mit der Zeit werden die verschiedenen Akteure über Zuständigkeiten, Aufträge und Verträge an das Großprojekt gebunden. Allein wegen der
vielen miteinander verflochtenen Akteure und der damit verbundenen Verpflichtungen und Rechte ist eine Revision oder gar ein Abbruch des Vorhabens kaum
möglich. Beispielsweise könnten Schadenersatz- oder Entschädigungsansprüche
von Investoren geltend gemacht werden, die bereits im Vertrauen auf die Projektentwicklung investiert haben.
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
45
• Verflechtungen: Großvorhaben bestehen aus vielen Teilprojekten, die zusammen
eine Projektvision ergeben. Die einzelnen Strukturen sind daher funktional eng
miteinander verflochten. Euralille will keine Monostruktur etablieren, sondern
einen neuen Stadtteil kreieren.
Insgesamt sind die Handlungsspielräume für eine politische Steuerung großer
Projekte eingeschränkt. Selbstverpflichtende Leitbilder erzeugen einen Erfolgsdruck,
der teilweise den Blick für die Projektrealität verstellt und eine Projektrevision unter
veränderten Rahmenbedingungen erschwert; komplexe Akteursgeflechte entwickeln
ihr Eigenleben und verselbständigen sich; zusammenhängende Teilprojekte reduzieren die Anpassungsfähigkeit des Vorhabens.
9. Legitimationsdefizite großer Projekte
Die Durchführung von Großprojekten verursacht ein Legitimationsdefizit, weil
die Handlungsfähigkeit der Projektakteure von Bedingungen abhängt, die zum Teil
die Prinzipien demokratischer Legitimation wie Transparenz, Öffentlichkeit und
Partizipation verletzen. Die Fallstudie hat eine Reihe von politischen Praktiken beleuchtet, die das Problem der Selektivität, der mangelnden Kontrolle und der eingeschränkten Öffentlichkeit in Großprojekten deutlich machen:
• Kontrollverlust durch Privatisierung: Durch die Gründung von privatrechtlichen Gesellschaften wie die SEM Euralille zur Durchführung der Projekte können Ressourcen und Kräfte mobilisiert werden, die für eine zügige Realisierung notwendig
sind. Das Projektmanagement ist einerseits durch dezentrale Flexibilität gekennzeichnet und andererseits durch Regelungen zur Rückkoppelung der Aktivitäten
und an parlamentarische Gremien, z.B. durch die Mitgestaltung vertraglicher Bindungen, inhaltlicher Festlegungen und personeller Verbindungen beispielsweise in
Form von öffentlichen Vertretern in den Aufsichtsräten der Entwicklungsgesellschaften. Gerstlberger (1999:69) bezeichnet diese Rückbindungsmechanismen als
„Kompensationsmittel gegenüber zentrifugalen Tendenzen durch Ausgliederungen.“ Ein Kontrollverlust kann dadurch teilweise verhindert werden. Wegen der
Eigendynamik der externalisierten Managementstrukturen sind die Einfluss- und
Kontrollmöglichkeiten der öffentlichen Hand jedoch in Gefahr. Zudem wird die
Verfahrenstransparenz dadurch beeinträchtigt, dass privatrechtlich organisierte
Gesellschaften nicht-öffentlich arbeiten.
• ‚Old boys networks’: Schlüsselfiguren sind notwendig, um das Projekt in Gang zu
bringen und voranzutreiben. Besonders effektiv sind sie, wenn sie über Machtnetzwerke verfügen und dadurch gezielt ihre Interessen durchsetzen können.
Das soziale Kapital der Beteiligten hat für die erfolgreiche Realisierung eines
Großprojekts ähnliches Gewicht wie ökonomisches Kapital. Insbesondere die
Durchdringung verschiedener politischer Ebenen, von der lokalen über die regionale bis zur nationalen Ebene, mit netzwerkartigen Verbindungen der Schlüs-
46
Großprojekte und Stadtentwicklungspolitik
selfiguren ist für den Informationszugang, für (Vorab-)Vereinbarungen und für
die Meinungsbildung von zentraler Bedeutung in Projekten mit komplexen Akteursgeflechten. Indem sie die Rolle ‚politischer Unternehmer’ einnehmen, sich
für das Projekt einsetzen und hinter den Kulissen Überzeugungsarbeit leisten,
können informelle Entscheidungsverfahren und die Umgehung bzw. Verkürzung
formaler Verfahren erreicht werden. In Lille waren es einflussreiche Politiker, die
durch politische Einflussnahme auf eine Unterstützung des Projekts hinwirken
konnten. Ihre Kontaktstrukturen lassen sich zugespitzt als ‘old boys networks’
bezeichnen. Informelle Kooperationen leben von der Öffentlichkeitsdistanz, von
Vertraulichkeit und Vertrautheit, im Sinne einer Undurchschaubarkeit für Dritte.
Informalität, Vertraulichkeit und Exklusivität stellen wichtige Effektivitätsbedingungen in Politiknetzwerken dar. So wichtig und unverzichtbar informelle Netzwerkstrukturen für die effiziente Durchführung von Projekten in relativ starren
Verwaltungsroutinen sind, so schränken sie doch Kontrollmöglichkeiten ein und
verhindern Kritik, die Schlüsselfiguren oft nicht vertreten können.
• Bürgerbeteiligung ohne echte Kooperation: Bürgerbeteiligung fand auf formalem Weg
statt, so wie es das Baurecht vorsieht. Zudem wurden die Bürger in Ausstellungen oder Veröffentlichungen über das Projekt informiert. Die Bürgerinformation
zielte dabei auf Akzeptanzsicherung, statt auf eine erweiterte Beteiligung oder eine
‚echte’ Kooperation zwischen Projektakteuren und Bürgermeinung zu setzen. In
Lille erhielt die Bürgerbeteiligung trotz des Zeitdrucks einen relativ breiten Raum.
Weil aber eine ausführlichere und intensivere Beteiligung die Zeitkapazitäten der
Projektakteure sprengen würde und möglicherweise unversöhnliche Interessengegensätze hervortreten könnten, bleibt die Bürgerbeteiligung in Großprojekten
meist von symbolischer Art.
• Expertokratie: Die Beteiligung der Öffentlichkeit ist von einer klaren Trennung
zwischen Experten- und Laienwissen gekennzeichnet. Komplexe Großprojekte
benötigen den besonderen Sachverstand ausgewählter Experten. Zum Teil werden
auch institutionalisierte Formen der Expertenbeteiligung geschaffen, wofür der
‚Qualitätszirkel’ in Lille ein gutes Beispiel darstellt. Da effektive Expertenkooperation in einem begrenzten Kreis von Akteuren stattfindet, sind sie notwendig
selektiv und erzeugen dadurch Ausschlussmechanismen.
• Eingeschränkte Öffentlichkeit: In Lille wurde Wert darauf gelegt, das Projekt unter
Ausschluss der Öffentlichkeit vorzubereiten, um es nicht zu ‚zerreden’ und damit
zu gefährden.
Insgesamt wird deutlich, dass die Durchführung von Großprojekten von bestimmten Voraussetzungen abhängt, die wichtige Kriterien demokratischer Legitimation wie Transparenz, Öffentlichkeit und Kontrolle systematisch verletzen. Selektive
Beteiligung und reduzierte Öffentlichkeit sind ‚Nebenwirkungen’ von Sonderorganisationen, Macht- und Expertennetzen und nichtöffentlichen Taktiken, die für eine
zügige Projektrealisierung notwendig sind. Insofern stehen Großprojekte vor dem
Dilemma, dass „die formalen Bedingungen einer Demokratisierung nur auf Kosten
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
47
der funktionalen Leistungsfähigkeit“ der Projektentwicklung verwirklicht werden
können (Benz 1994:76). Großprojekte lassen sich daher nur auf eine „halbierte Legitimationsgrundlage“ stellen: Sie können entweder als besonders effektiv gerechtfertigt werden, weil sie zu akzeptierten Ergebnissen führen (was aber auch nicht immer
der Fall ist) oder man führt sie innerhalb institutionalisierter demokratischer Formen
durch, die zwar legitimiert, aber nicht so leistungsfähig sind, weil sie durch Entscheidungsblockaden bedroht werden können.
10. Schlussfolgerungen
• Risikomanagement erforderlich: Eine projektbegleitende Kontrolle ist unverzichtbarer
Bestandteil der Planung und Durchführung von Projekten, bei denen die öffentliche Hand hohe Investitionen tätigt und wirtschaftliche Risiken trägt. Neben der
parlamentarischen Kontrolle braucht das Projektmanagement effektive Kontrollmechanismen und ein ehrliches Risikomanagement, um Fehlentwicklungen zu
vermeiden (vgl. Flyvbjerg/Bruzelius/Rothenburger 2003). Zum einen kann dadurch frühzeitig erkannt werden, ob ein Umsteuern oder gar ein Ausstieg aus dem
Vorhaben organisiert werden muss; zum anderen sind Kontrollen notwendig, um
zu prüfen, ob das Vorhaben im Einklang mit öffentlichen Interessen steht oder ob
diese notfalls auch gegen den Willen des Investors durchgesetzt werden müssen.
Da traditionelle Formen der Aufsicht durch hierarchisch übergeordnete Instanzen
nur reaktiv und nachträglich wirken, muss die Kontrolle optimiert und an die neuen Strukturen des Projektmanagements angepasst werden. Die Kontrolle einer
prozesshaften und kooperativen Planung sollte daher eng mit dem Planungsprozess verbunden sein und unterschiedliche Aspekte der Projektplanung erfassen:
die Organisation, das Verfahren, die Ziele, deren Vollzug und die Wirkungen (vgl.
Benz 1998). Grundlegende Voraussetzung für eine prozessbegleitende Kontrolle
ist vor allem die Verbesserung der Kommunikation zwischen Planungsträgern
und Kontrollinstanzen und die Erhöhung von Transparenz im Planungsprozess.
Insgesamt trägt eine Kontrolle zur Legitimation der Vorhaben und ihrer Ergebnisse bei, indem sie die Korrektur von Fehlern und eine inhaltliche Verbesserung
ermöglicht.
• Bedarfsanalyse notwendig. ‘Bigness’ hat sich als ein besonderes Steuerungsproblem
von großen Projekten erwiesen. Der durch die Größe der Vorhaben verursachte
Maßstabssprung bewirkt zwar einen Bruch mit den vorhandenen, oft wenig ansprechenden Bildern der Stadt und gab dadurch neuen, spektakuläreren Fantasien
Platz. Andererseits verursacht die Größe der Projekte Probleme bei der Realisierung der Vorhaben mit der Wirkung, dass sie meist unvollendet in der Krise
stecken blieben. Nach Hall (1980:4) beruhen die meisten „Planungsdesaster“ auf
unrichtigen Prognosen über die Bedarfs- und Nachfrageentwicklung. Auch hier
sind sowohl Wissenschaft und Politik gefordert, Prüfkriterien für eine Bedarfsanalyse als auch für potenzielle Auswirkungen der Vorhaben zu entwickeln und
diese schließlich auch in der Praxis einzusetzen. Da solche Prüfungen meist nicht
Großprojekte und Stadtentwicklungspolitik
48
vorgenommen werden, sind Großprojekte oft überdimensioniert. Größe hat eine
geringere Flexibilität der politischen Steuerung zur Folge: Großprojekte sollten
daher so gestaltet werden, dass sie noch beherrschbar bleiben.
Anmerkungen
1
Die Fallstudie basiert auf leitfadenorientierten Interviews mit Experten sowie
Dokumentenanalyse (Beschlüsse und Protokolle parlamentarischer Sitzungen
und Presseberichte). Als Experten zählen Personen, die bei der Planung, Durchführung und Kontrolle des Projekts beteiligt waren und die Entscheidungsabläufe
gut kennen, wie Verwaltungsmitarbeiter, Mitarbeiter der Projektentwicklungsgesellschaft. Siehe Simons (2003) für eine ausführliche Darstellung der Fallstudie.
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Simons, Katja 2003: Politische Steuerung großer Projekte. Berlin Adlershof, Neue
Mitte Oberhausen und Euralille im Vergleich. Opladen: Leske + Budrich
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
51
Frank Scholles
PLANUNG UNTER UNSICHERHEIT
Der Risikobegriff in Theorie und Methodik der Umweltplanung
1. Einführung: Planung und Unsicherheit
Planung hat es häufig mit unvollständiger oder unsicherer Information zu tun,
d. h. an die Stelle von kausalanalytischen Beschreibungen von Zusammenhängen treten Ergebnisse, die nicht frei von subjektiven Einflüssen sind und deren Wahrscheinlichkeit kleiner als eins ist, die also nicht sicher sind.
Wirkung ist als „Veränderung eines Sachverhalts durch die Veränderung eines anderen“ (Scharpf 1982, 92) definiert. Daher sind Wirkungsanalysen nur bei Vorliegen
von Kausalbeziehungen uneingeschränkt möglich.
Da die Natur als überkomplexes System jedoch nicht einigen wenigen exakten
Regeln folgt, kann man oft nur Korrelationen feststellen. Wo Juristen und Politiker,
aber auch Gutachter gerne eindeutige Ursache-Wirkungs-Beziehungen und damit
Verursacher-Auswirkung-Betroffener-Zusammenhänge hätten, um dem individuellen Verursacherprinzip genüge zu tun, findet man langfristige, kumulative Wirkungen, die nicht eindeutig Verursachern zuzuordnen und oft erst nach mehreren Jahren
beobachtbar sind.
Schließlich ist Planung auch auf Wirkungsprognosen angewiesen, denn es sollen
Konzepte und Maßnahmen zur Behebung festgestellter Mängel entwickelt werden.
Prognosen sind inhärent unsicher.
Die Praxis der Umweltplanung wird heute im deutschsprachigen Raum methodisch von der Ökologischen Risikoanalyse bestimmt, deren Ziel die Ermittlung von
Auswirkungen von Verursachern auf die Umwelt bei unvollständiger Information
ist. Die Ökologische Risikoanalyse wurde als Methode zur Betrachtung natürlicher
Ressourcen in einem größeren Planungsraum im Rahmen eines Gutachtens im
52
Planung unter Unsicherheit
Großraum Nürnberg - Fürth - Erlangen - Schwabach entwickelt (vgl. Aulig et al.
1977; Bachfischer 1978).
In der Folgezeit wurde sie im Hinblick auf die Durchführung von Umweltverträglichkeitsprüfungen weiterentwickelt (vgl. Hoppenstedt/Riedl 1992, Kiemstedt et al.
1982, Scharpf 1982, Scholles 1997). Die Beurteilung erfolgt formal durch die Bildung
der drei Aggregatgrößen
• Intensität potenzieller Beeinträchtigung (kurz Beeinträchtigungsintensität)
• Empfindlichkeit gegenüber Beeinträchtigungen (Beeinträchtigungsempfindlichkeit) und
• Risiko der Beeinträchtigung
Eine zusammenfassende Darstellung der Methode findet sich bei Scholles (2001).
Wenn auch bisweilen der Name Ökologische Risikoanalyse vermieden wird, so finden sich doch regelmäßig ihre Elemente wieder wie die Relevanzbäume, die Präferenzmatrix, die Klassenbildung zwecks Einschätzung oder die Begrifflichkeit.
Infolge der ökologischen Orientierung der Raumordnung in den 1980er Jahren
haben Begriffe und Methodik auch in deren Praxis Eingang gefunden.
In den Vereinigten Staaten wurde das risk assessment1 entwickelt mit dem Ziel, eine
Grundlage für Entscheidungen zu schaffen, die sowohl gut begründet als auch gesellschaftlich legitim und akzeptabel sind (Andrews 1988, 85). In der Literatur zum
risk assessment unterscheidet man verschiedene Arten von Unsicherheit, die zu Risiken
führen (s. Abb. 1; vgl. Suter II et al. 1987).
Risk assessment ist nicht vergleichbar mit der Ökologischen Risikoanalyse, wie man
sie in Deutschland kennt, sondern stellt eine quantitative Abschätzung der naturwissenschaftlich-technischen Unsicherheit von Experten-Prognosen dar. Ziel ist es dabei, zur Vorbereitung politischer Entscheidungen naturwissenschaftlich-technische
Unsicherheiten im Verfahren von Wertunsicherheiten und Wertediskussionen zu
trennen (Morgan u. Henrion 1990, 323).
Aufgrund der Existenz verschiedener Risikobegriffe und der unklaren Verwendung in der Praxis soll zunächst eine begriffliche Klärung vorgenommen werden. Die
vollständige und systematische Abarbeitung des interdisziplinären Gebiets des Risikoforschung würde hier zu weit führen. Zusammenfassende Abhandlungen finden
sich u.a. bei Bechmann (1993), Beck (1986), Binswanger (1990), Morgan/Henrion
(1990) und Rowe (1977).
2. Der Risikobegriff
Der Begriff Risiko ist inzwischen im alltäglichen Sprachgebrauch gängig, nicht
zuletzt aufgrund der Werbung für Arzneimittel: „Zu Risiken und Nebenwirkungen
lesen Sie die Packungsbeilage oder fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker.“
Wissenschaftlich betrachtet, bedeutet der Begriff: Wenn ein Sachverhalt nicht mit
Sicherheit (Wahrscheinlichkeit gleich eins) erklärt werden kann, existiert ein Risiko,
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
53
Abb.1: Arten von Unsicherheit (aus: Scholles 1997, 15)
dass sich die Realität (Natur) anders verhält als erklärt2. Planungen und insbesondere
Prognosen sind folglich auf Risikoabschätzungen angewiesen. Diese müssen aber
auch als solche deutlich gemacht werden.
2.1 Naturwissenschaftliche Aspekte des Risikos
2.11 Risiko oder Gewissheit?
Aus naturwissenschaftlicher Sicht ist zunächst Risiko von Gewissheit und Ungewissheit zu unterscheiden: Sind die Umweltfolgen bekannt, d. h. lassen sich die
Wirkungen kausalanalytisch bestimmen, besteht Gewissheit, ist nur bekannt, dass
Umweltfolgen eintreten könnten, ohne Wahrscheinlichkeiten für ihr Eintreten angeben zu können, besteht Ungewissheit. In beiden Fällen kann kein Risiko bestimmt
werden.
Im Fall der Gewissheit besteht auch kein Bedarf einer Risikoaussage. Wenn z. B.
die Temperatur in einem Salmonidengewässer aufgrund einer Kühlwassereinleitung
über 25° C ansteigen wird, ist sicher, dass hier keine autochthone Bachforellenpopulation mehr existieren kann. Es besteht hier kein sehr hohes Risiko für die Tierwelt,
sondern die Gewissheit einer erheblichen Beeinträchtigung. Schwieriger zu betrachten ist der Fall der Ungewissheit, denn das Vorsorgeprinzip (Prophylaxe) stellt ja
54
Planung unter Unsicherheit
gerade auf den Fall ab, dass Schadensintensität und/oder Eintrittswahrscheinlichkeit
nicht hinreichend bestimmt oder bestimmbar sind. Sind beide Größen hinreichend
bestimmt, fallen die Untersuchungen in den Bereich der Prävention.
2.12 Unkenntnis
Unkenntnis ist der undefinierte Bestandteil der Unsicherheit. Was man nicht weiß,
kann notwendigerweise nicht abgeschätzt und daher einer Risikoabschätzung nicht
zugänglich gemacht werden.
Man muss sich aber darüber im Klaren sein, dass es immer unbekannte Phänomene gibt und risk assessment im günstigsten Fall den Stand der Wissenschaft widerspiegeln kann. Neue wissenschaftliche Erkenntnisse nach Abschluss der Planung können
einzelne Aussagen, aber auch die Gesamteinschätzung widerlegen. Eine Wahrscheinlichkeit für das Eintreffen neuer Erkenntnisse ist aber nicht kalkulierbar.
2.13 Analytische Unsicherheit
Deterministische Feststellungen können in der Praxis der Prognose selten getroffen werden. Intensität und Häufigkeit von Wirkungen müssen i.d.R. abgeschätzt werden. Es gilt also aus naturwissenschaftlicher Sicht, eine bestimmte Wahrscheinlichkeit
zu benennen, mit der eine Wirkung anders ist als erwartet. Versicherungen können
dies in Bezug auf Todesrisiken vergleichsweise genau, weil Zeitreihen und damit
Erfahrungswerte vorliegen. Für die Abschätzung ökologischer Risiken sind i.d.R. extrem wenig empirische Daten verfügbar, so dass das analytische Risiko sehr groß ist.
Es gibt keine Populationsstatistik für Fische, Amphibien oder Libellen, am ehesten
gibt es längerfristige Beobachtungen für Vögel. Darüber hinaus muss bedacht werden, dass es einige Zehntausend allein in Mitteleuropa vorkommende Spezies gibt,
die noch nicht einmal alle bekannt sind, aber miteinander und mit ihrer abiotischen
Umwelt in vielfältigen Beziehungen stehen. Die Beziehungen wiederum bestimmen
die Populationsgrößen und Pufferkapazitäten in weitgehend unbekanntem Umfang.
Absolute Prognosen von Umweltzuständen sind daher unglaubwürdig.
Es gibt verschiedene Quellen analytischer Unsicherheit (vgl. De Jongh 1988; Petzoldt u. Recknagel 1991, 336; Suter II et al. 1987):
• Modellstrukturfehler
• natürliche Varianz
• Modellparameterfehler.
Modellstrukturfehler entstehen bei der Kalkulation des Risikos. Da die Realität zu
komplex ist, um 1:1 abgebildet werden zu können, muss vereinfacht werden; dazu
werden Modelle erstellt. Diese Modelle können falsche Komponenten (Parameter
oder Indikatoren), falsche Beziehungen zwischen den Komponenten (oder nur unzureichend qualifizierte) oder unzutreffende Rahmenbedingungen enthalten. Strukturfehler sind nie ganz auszuschließen, ihre Richtung und die Höhe des Ausschlags sind
analytisch kaum zu bestimmen.
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
55
Natürliche Varianz entsteht bei der Risikoabschätzung, weil natürliche Systeme
typischerweise räumlich heterogen und zeitlich variabel sind. Die Konzentration von
Immissionen in der Luft hängt z. B. von meteorologischen Parametern wie Windrichtung oder Wetterlage ab, die kleinräumig und langfristig nicht vorherzusagen sind.
Diese Varianz kann empirisch mit Modell- oder Laborversuchen nur begrenzt
kalkuliert werden, weil diese bemüht sind, jeweils nur einen Parameter zu verändern
und alle anderen konstant zu halten. Die Wirklichkeit läuft aber nicht unter solchen
Ceteris-paribus-Bedingungen ab, sondern es ändern sich mehrere Parameter und Beziehungen gleichzeitig und in gegenseitiger Abhängigkeit.
Viele Parameter und Indikatoren, die Modelle benötigen, können nur außerordentlich schwer gemessen oder sogar nur in Größenordnungen abgeschätzt werden.
Daraus resultieren Modellparameterfehler (Mess- und Schätzfehler), die mit in die
Risikobestimmung eingehen müssen. Natürliche Varianz kann mithilfe von Zeitreihen, fuzzy sets oder Simulationen abgeschätzt werden, soweit Langzeituntersuchungen
vorliegen und die Simulationsergebnisse statistisch ausgewertet werden können. In
der Hydrologie und der Meteorologie ist dies i.d.R. der Fall. In der Ökologie sind solche Abschätzungen nur partiell möglich, die nötigen Daten sind kaum verfügbar und
außerdem nur schwierig und mit hohem Kostenaufwand zu erheben. Darüber hinaus
erlaubt die Variabilität ökologischer Systeme die Bestimmung von Parametern auch
bei beliebig hohem Messaufwand prinzipiell nur mit hoher Unsicherheit (Poethke
et al. 1993, 463). Deshalb bleibt oft nur der Weg, fehlende Daten durch begründete
Expertenmeinung zu ersetzen (De Jongh 1988, Suter II et al. 1987) oder verschiedene
Szenarien durchzuführen.
Modellparameterfehler zeigen statistisch beschreibbare Verteilungen, so dass man
sie berechnen oder zumindest eingrenzen kann, wenn die Datensammlung und die
Erhebungsmethoden dokumentiert sind. Die Verwendung undokumentierter Daten
vergrößert das Risiko von Parameterfehlern schon deshalb stark, weil die Rahmenbedingungen der Messung unbekannt sind und nicht mit denen der Standardsetzung
übereinstimmen müssen. Solche Daten und die daraus gezogenen Schlüsse sind deshalb abzulehnen.
Modellstrukturfehler sind dagegen nur schwer zu kalkulieren. Die beste Methode
ist der Einsatz des Modells mit anderen Bedingungen (Grundannahmen) oder anderen Daten. Man kann Modelle auch „rückwärts“ laufen lassen, d. h. beim derzeitigen
Zeitpunkt beginnen und bis zu einem vergangenen Zeitpunkt laufen lassen, dessen
Zustand dokumentiert ist3. Der Vergleich der Modellergebnisse mit dem tatsächlich
dokumentierten Zustand sagt einiges über die Genauigkeit des Modells aus, wenn
eine Dokumentation des vergangenen Zustands vorliegt. Durch das gezielte Verändern einzelner Daten lässt sich feststellen, welche Parameter robust gegenüber
Veränderungen sind und welche sensitiv. Mit solchen Sensitivitätsanalysen kann man
zwar das Risiko eines Strukturfehlers noch nicht kalkulieren, aber sensitive Elemente
der Prognose identifizieren. Dabei sind einfache Modelle mit wenigen Parametern
und wenigen Beziehungen meist leicht zu verifizieren. Da diese Modelle i.d.R. nur
triviale Aussagen ergeben, werden komplexere Modelle angestrebt. Höhere Modell-
Planung unter Unsicherheit
56
komplexität erhöht aber die Zahl der Parameter und Beziehungen und damit die
Möglichkeit, sich Parameterfehler einzuhandeln. Rowe (1977) bezeichnet diesen Zusammenhang als „Information Paradox“: Richtigkeit und Genauigkeit von Modellen
stehen in umgekehrt proportionalem Verhältnis zueinander. Je komplexer ein Modell
wird, je mehr man also über die Struktur der (Um-)Welt weiß, desto größer wird die
Unsicherheit, d. h. die Wahrscheinlichkeit, dass eine der Aussagen nicht zutrifft.
2.2 Versicherungstechnische Sicht des Risikobegriffs
Versicherungen beschäftigen sich professionell mit Risiken, weil sie gegen diese
versichern. Seit der Einführung der Umwelthaftung interessieren sich Haftpflichtversicherer für Umweltrisiken. Eine Versicherung von Umweltrisiken setzt voraus, dass
das Risiko (weitgehend) bekannt ist, d. h. es muss analysiert werden. Bei der Analyse
wird differenziert nach stofflichen, organisationsbedingten, standortbedingten und
betriebsbedingten Risiken (Fleck 1992, 17).
Umweltrisiko ist aus der Sichtweise der Haftpflichtversicherer „ein mit einer
Schadeneintrittswahrscheinlichkeit bewertetes Umweltgefahrenpotential“ (Fleck
1992, 16). Das bedeutet, dass im Gegensatz zur naturwissenschaftlichen Sichtweise
einerseits das potenzielle Schadensausmaß Eingang in die Risikobestimmung findet,
andererseits aber nur Risiken betrachtet werden, die hinreichend genau analysiert
bzw. analysierbar und quantitativ beschreibbar sind. Daher werden Folgewirkungen
der Technik systematisch unterbewertet (Kollert 1993, 42). Da ökologische Risiken
i.d.R. schlecht analysiert, komplex, mit hohen Schäden oder Spätschäden behaftet
sind und Umweltgesetze und Grundlagenwissen sich noch entwickeln, wird ihnen
die Versicherbarkeit abgesprochen (Helten 1991, 125). Die Bewertung eines Schadens unter Berücksichtigung seines potenziellen Ausmaßes hat in das risk assessment
und auch die Umweltverträglichkeitsprüfung Eingang gefunden.
2.3 Gesellschaftswissenschaftliche Aspekte des Risikos
Risk assessment ist eine Form der angewandten Politikanalyse und nicht reine wissenschaftliche Untersuchung. Ziel ist nicht in erster Linie, neues Wissen zu produzieren, sondern eine Akzeptanzbasis für politische Entscheidungen herzustellen. Die
Ergebnisse unterliegen zeitlichen, finanziellen und Wissensrestriktionen und sind als
Expertenmeinung normative Aussagen, die Fachleute aufgrund der Erfahrungen,
Werthaltungen und Paradigmata ihrer Disziplinen machen (vgl. Andrews 1988, 86).
Daraus resultieren weitere Quellen für Unsicherheiten und somit Risiken, die nicht
naturwissenschaftlichen Ursprungs sind.
2.31 Individuelle Betroffenheit
Manche Sachverhalte stellen subjektiv (also für ein Individuum) ein hohes Risiko
dar, obwohl sie naturwissenschaftlich gesehen ein niedriges sind, und umgekehrt.
Während analytisches Risiko nicht zwischen individuell erwünschtem Nervenkitzel
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
57
(Glücksspiel, Kräftemessen) und unerwünschtem, weil unkontrollierbarem Katastrophenpotenzial (drohende Gefahr, schleichende Gefahr) unterscheidet, liegen in der
Wahrnehmung durch die Betroffenen Welten zwischen diesen beiden Erlebnishorizonten (Renn 1993, 72).
Subjektive Risikobewertung beruht auf einer intuitiven Schätzung von Gefahren,
wie sie im Alltag vollzogen wird. Der entscheidende Faktor für diese Bewertung ist
die Kontextabhängigkeit (Abhängigkeit von Begleitumständen). Die relevanten Faktoren für die intuitive Schätzung sind (vgl. Fietkau 1990; Renn 1993, 69):
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
Gewöhnung an die Risikoquelle
Freiwilligkeit der Risikoübernahme
vermeintliche oder tatsächliche Kontrollmöglichkeit des Risikograds
wahrgenommene Natürlichkeit versus Künstlichkeit der Risikoquelle
Sicherheit fataler Folgen bei Gefahreneintritt (GAU) bzw.
der Irreversibilität der Risikofolgen
Möglichkeit von weit reichenden Folgen und vielen Betroffenen
unerwartete Folgen für die kommende Generation
sinnliche Wahrnehmbarkeit von Gefahren
Eindruck einer gerechten Verteilung von Nutzen und Risiko
Kongruenz zwischen Nutznießer und Risikoträger
Existenz verbundener Wahrscheinlichkeiten.
Eindruck
Welche Rolle die einzelnen Faktoren spielen, hängt erheblich von der Risikoquelle sowie von Wissen, Werten und Wahrnehmungsbereitschaft der Betroffenen ab.
Solche individuellen Betroffenheiten und subjektiven Risikobewertungen sind nicht
Gegenstand der naturwissenschaftlich-technischen Risikoanalyse und fließen damit
auch nicht in die naturwissenschaftliche Aufstellung von Schwellenwerten ein. Die
oft zitierten Vergleiche zwischen den beiden Risiken, aufgrund von Zigarettenrauch
oder eines GAU4 zu sterben, sind naturwissenschaftlich korrekt, auf der Basis individueller Betroffenheit aber unsinnig, denn das Risiko durch Rauchen ist freiwillig
übernommen, man glaubt es kontrollieren zu können und der Schaden liegt v. a. beim
Verursacher - alles Faktoren, die beim GAU nicht zutreffen. Politisch abgewogene
Standards enthalten solche Bewertungen jedoch in hohem Maße, denn ein politisches
Urteil muss abwägen und damit über das Expertenurteil hinausgehen, darf dieses
aber auch nicht außer acht lassen.
Eine Betrachtung, die nur die naturwissenschaftliche Unsicherheit ins Blickfeld
rückt, stellt eine vereinfachte Sichtweise des Informationsflusses im Entscheidungsprozess dar. Danach wird der Unsicherheit durch mehr und genauere (bessere)
Information, v. a. durch „bessere“ Modelle und Prognosemethoden, begegnet. Unbestimmte Rechtsbegriffe wie „Stand von Wissenschaft und Technik“ oder „Wohl
der Allgemeinheit“ werden von Technikern über private technische Regelwerke ausgefüllt, die bestimmen sollen, was sicher genug ist und welches Risiko eingegangen
werden soll.
58
Planung unter Unsicherheit
Diese Sichtweise verkennt aber, dass der Informationsbedarf vom Entscheidungsträger bestimmt wird und die Planung daher prozedurale Elemente wie die
Antragskonferenz und die Öffentlichkeitsbeteiligung kennt, in deren Rahmen erörtert wird, mit welchen Methoden welche Alternativen auf welche Auswirkungen zu
untersuchen sind. Folglich wird hier bereits eine Wertung in Form einer Gewichtung
vorgenommen.
2.32 Wertunsicherheit und Risiko
Neben den naturwissenschaftlich begründeten Unsicherheitsquellen beinhaltet
Planung immer subjektive Elemente (v. a. Werthaltungen), die zu Unsicherheit führen. Welche Auswirkungen sollten vor dem Hintergrund begrenzter Zeit und Mittel
vertieft untersucht werden? Wie sind die einzelnen Auswirkungen zu gewichten?
Die Risikoanalyse braucht für diese Gewichtungen eine Legitimation in Form von
Maßstäben. Diese sind i.d.R. keine entdeckungsbedürftigen Naturphänomene, sondern gesellschaftliche Konventionen, die mit einer wissenschaftlichen Rechtfertigung
versehen sind (vgl. Gethmann u. Mittelstrass 1992, 17). Die Existenz verschiedener
Auffassungen über Konventionen in Gesellschaften ist die Regel und in unterschiedlichen Werthaltungen begründet. Ob eine naturwissenschaftlich festzustellende
Wirkung als Schaden aufgefasst wird, ist eine gesellschaftliche Frage, die politisch
entschieden wird. Analytische Unsicherheit kann prinzipiell durch verstärkte Forschung reduziert werden, Reduktion von Unsicherheit bei Werthaltungen bedarf des
Konfliktmanagements.
Wenn Bewertung anonymisiert und mit Sachzwängen begründet wird, kann nicht
mit Vertrauen und Akzeptanz bei den Betroffenen gerechnet werden, denn: Politiker
sind dankbar für Sicherheit und Konsens; wenn diese jedoch nicht gut begründet
sind, führt das schlicht zu öffentlichem Zynismus über die Untersuchung, ohne Opposition gegen die Entscheidung zu reduzieren (Andrews 1988, 91).
Wertunsicherheit kann auch wirkungsvoll durch die Herausgabe allgemeiner
Richtlinien reduziert werden. Damit wird die Diskussion auf eine allgemeinere
Ebene verlagert. Verwaltungsvorschriften stellen vom Ansatz her einen solchen Versuch dar. Die Vorteile liegen auf der Hand: Vorgehensweisen, die vorgegeben sind,
brauchen auf der Projektebene nicht mehr diskutiert zu werden. Nachteilig ist aber,
dass nicht alle Aspekte des Einzelfalls antizipiert werden können und hohe Regelungsdichte Kreativität und die Beachtung von Besonderheiten verhindert. Hilfreich
wären Richtlinien und Standards, die Spielräume innerhalb einer bestimmten Spanne
zur Berücksichtigung des Einzelfalls lassen. Fundierte Risikoanalysen müssen nicht
nur Unsicherheit reduzieren, sondern deutlich machen, welche Unsicherheiten trotz
allem bleiben. Insgesamt kann das Hauptproblem der Wertunsicherheit nicht gelöst,
sondern nur verdeutlicht werden.
2.33
Unsicherheit über benachbarte Entscheidungen
Häufig stehen nicht einzelne Entscheidungen zu einem Vorhaben in einem bestimmten Raum zur Debatte, sondern sind Entscheidungen Teil eines größeren
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
59
Geflechts. Werden z. B. gleichzeitig ein größeres Wohn- und Bürogebiet und eine
neue Straße geplant, so geschieht dies oft durch verschiedene Behörden. Für den
Straßenquerschnitt sind insbesondere Angaben über die Höhe des zu erwartenden
neuen Verkehrs aufgrund der neuen Bebauung erforderlich und umgekehrt für die
Frage der zulässigen Wohnungs- und Büroanzahl der genehmigungsfähige Straßenquerschnitt. Wenn benachbarte Entscheidungen in unabhängigen Verfahren durchgeführt werden, dann entsteht Entscheidungsunsicherheit.
Diese kann aber durch gegenseitige Information und Koordination der Entscheidungsträger wirkungsvoll reduziert werden. Im deutschen Planungssystem kommt
diese Aufgabe der räumlichen Gesamtplanung (Raumordnung und Bauleitplanung)
zu. Der Umweltverträglichkeitsprüfung obliegt hier die Aufgabe, Wechsel- und Folgewirkungen offen zu legen, also z. B. darzulegen, inwieweit die neue Straße das neue
Wohngebiet mit Lärmbelasten wird und inwieweit sich das neue Wohngebiet auf die
Belastung des Straßennetzes auswirken wird.
2.5 Juristische Aspekte des Risikos
Entscheidungen sind häufig Gegenstand gerichtlicher Auseinandersetzung, v. a.
wenn Wertunsicherheiten bei Betroffenen nicht ausreichend berücksichtigt werden.
Zu § 12 UVPG kommentieren Erbguth und Schink (1991, 221 f.): „Gegenstand des
Bewertens ist die Beurteilung der zusammenfassenden Darstellung als Risikoabschätzung; es handelt sich also um eine Risikobewertung“. Daher ist es wichtig, auf die
Behandlung von Risiken durch die Rechtsprechung einzugehen.
Der Risikobegriff ist kein traditioneller Rechtsbegriff wie der Gefahrbegriff.
Gefahr setzt die Kenntnis von Umständen, eine Erfahrungsregel oder eine hinreichende Wahrscheinlichkeit der Schädigung von Rechtsgütern voraus. Hinreichende
Wahrscheinlichkeit wird dann als gegeben angenommen, wenn mehr dafür spricht
als dagegen. Allerdings muss das juristische Gefahrenurteil neben der rechnerischen
Wahrscheinlichkeit die Intensität und die Bedrohlichkeit eines möglichen Schadens
berücksichtigen. Kurz formuliert wird dies in der „Je-desto-Regel“: „Je gewichtiger
das gefährdete Gut und/oder je größer der zu befürchtende Schaden ist, desto geringere Anforderungen sind an die Höhe der Eintrittswahrscheinlichkeit zu stellen.“
(Kloepfer 1993, 65)
Der Risikobegriff stellt juristisch gesehen eine Erweiterung des klassischen Gefahrenbegriffs in den Bereich theoretischer Schadensmöglichkeiten hinein dar. Damit
ist Risikovorsorge ein Paralleltatbestand zur Gefahrenabwehr, zu dem es einer besonderen gesetzlichen Ermächtigung bedarf (Di Fabio 1991, 357). Juristen sprechen von
einem Risiko, wenn ein Schaden möglich ist, der Schadensverlauf und die Eintrittswahrscheinlichkeit aber nicht hinreichend sicher beurteilt werden können. Kloepfer
(1993) hat eine begriffliche Differenzierung vorgelegt, die aufgrund ihrer Bindung an
die Rechtsordnung gerade im Hinblick auf die Planung und die Umweltverträglichkeitsprüfung hilfreich ist (vgl. Kap. 3.1). Im Vergleich zum naturwissenschaftlichen
Risikobegriff ist festzustellen, dass einerseits auch beim juristischen Risikobegriff mit
Planung unter Unsicherheit
60
Unsicherheiten gearbeitet wird, andererseits aber noch Schadenshöhen und -intensitäten hinzutreten. Bei Risikoentscheidungen werden naturwissenschaftlich-technische Kompetenz und politisch-rechtliche Entscheidungsverantwortung zusammengeführt. Die Verwendung des Begriffs Risiko in der Rechtsprechung stellt also einen
Schritt hin zur Integration der natur- und sozialwissenschaftlichen Risikoaspekte dar
und fügt die rechtliche Verantwortung hinzu.
Oftmals wird hierbei aber von einer weitgehenden Trennbarkeit von fachlicher
Kompetenz und rechtlicher Bewertung ausgegangen, so dass gefordert wird, zunächst wissenschaftlich die Sachverhalte klar darzulegen, um anschließend der Politik
eine Entscheidung über das hinzunehmende (Rest-)Risiko zu ermöglichen (vgl. z. B.
Arbeitsgemeinschaft für Umweltfragen 1986).
So sinnvoll die Forderung nach Trennung von Sach- und Wertebene ist: Wird sie
zeitlich vollzogen, wird übersehen, dass Wissenschaft nicht wertfrei arbeiten kann
und daher bereits bei der Untersuchung Werthaltungen insbesondere in Form von
Gewichtungen einfließen, die gesellschaftlich abgesichert sein müssen. Anzustreben
wäre demnach eine Zusammenarbeit von Wissenschaft und Politik bzw. Rechtsprechung bei der Risikoabschätzung anstelle einer sequenziellen Abarbeitung.
2.6 Ökologisches Risiko?
Bei der Analyse und Prognose ökologischer Wirkungen besteht eine vergleichsweise große Unsicherheit, die verschiedene Quellen haben kann. Diese Unsicherheit
führt zu einem Risiko, welches bis zu einem gewissen Grad statistisch quantifizierbar
ist. Aufgrund des Ausmaßes der Unsicherheit kann man nicht a priori behaupten,
dass bei der Entscheidungsvorbereitung eine naturwissenschaftlich- technische einer
subjektiven Risikobewertung überlegen ist.
Die Methodik vergleicht i.d.R. Varianten, indem Aggregatgrößen mit „hoch-mittel-gering“ oder ähnlich eingeschätzt werden. Weil genaue Untersuchungen meist
kosten- und zeitaufwändig sind und selbst dann sichere Aussagen kaum möglich sind,
werden Begriffe wie Beeinträchtigung oder Empfindlichkeit sehr allgemein benutzt.
Abb. 2: Pfeildiagramm (fiktives Beispiel, aus Scholles 1997, 234)
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
61
Obwohl das Adjektiv „ökologisch“ zunächst eine naturwissenschaftliche Vorgehensweise nahe legt, beinhaltet Ökologisches Risiko die Ermittlung der Beeinträchtigungsintensität und damit über naturwissenschaftliche Erforschbarkeit hinausgehende Werturteile. Hierin ist ein großer Teil der Probleme begründet, die bei der
Bewertung von Umweltauswirkungen in der Praxis auftreten.
Im Gegensatz zur dargestellten naturwissenschaftlich-technischen Risikoabschätzung und zum risk assessment benutzt die Ökologische Risikoanalyse einen Risikoindex, d. h. es werden aus einzelnen partiell unterschiedlichen Beeinträchtigungsgrößen nach Wenn-Dann-Regeln, die meist als Baum oder Matrix dargestellt werden,
aggregierte Risiken gebildet. Dies trägt der komplexen Beeinträchtigungsstruktur
Rechnung. Denn durch die vielfachen Wechselbeziehungen übersteigt die Komplexität diejenige der naturwissenschaftlichen und Versicherungsrisiken um Größenordnungen. Gleichzeitig sind ökologische Wirkungen durch Spätfolgen und z. T. hohes
Schadensausmaß gekennzeichnet.
Bereits bei Bachfischer (1978) besteht eine Diskrepanz zwischen der theoretischen Fundierung des Risikobegriffs und seiner Verwendung in der Ökologischen
Risikoanalyse. Eintrittswahrscheinlichkeiten werden nicht ermittelt, so dass das Risiko der Beeinträchtigung mit dem Ausmaß der Beeinträchtigung gleichgesetzt wird,
ohne dass eine nähere Begründung erfolgt.
Die Übersichtlichkeit und leichte Anwendbarkeit der Methode hat in der Planungspraxis zu bisweilen formal-mechanistischer und wenig reflektierter Abarbeitung geführt. Einige Anwender reduzieren die Methode sogar, ihre Begriffe verzichten völlig
auf Zuordnungs- und Aggregationsregeln, so dass die Eingangsgrößen kaum nachvollziehbar sind. Als Ergebnis mehr oder weniger ausführlicher Argumentationen
und verbaler Darstellungen wird eine hohe, mittlere oder geringe Beeinträchtigung
bzw. Empfindlichkeit konstatiert. So bleibt meist außer acht, gegen welche Auswirkungen die Umweltgüter wie empfindlich reagieren. Um zu einem „Gesamtrisiko“
zu kommen, werden die Einzelrisiken dann teilweise noch ungehemmt saldiert, was
bereits formal unzulässig ist. Die Einfachheit der Methode verleitet offensichtlich
Gutachter mit geringen methodischen und inhaltlichen Kenntnissen, Umweltauswirkungen pauschal zu beurteilen (vgl. Eberle 1984; Scholles 1997, 155 ff.).
Ein Grund für das Unterlassen von Wahrscheinlichkeitsaussagen liegt darin, dass
in komplexen Systemen die Aussagemöglichkeit eng begrenzt ist und insbesondere
quantitative Bestimmungen meist unredlich sind. Morgan und Henrion (1990, 43)
beobachteten jedoch, dass der meistbenutzte Ansatz der Risikobetrachtung in der
Planung darin besteht, Unsicherheit schlicht zu ignorieren; sie bezeichnen dies als
chronische Planerkrankheit. Die Folge dieser Unterlassung kann aber auch sein, dass
bei Außenstehenden der Eindruck entsteht, als würden die aufgezeigten Auswirkungen sicher eintreten.
Die zentralen Größen Beeinträchtigungsintensität, Beeinträchtigungsempfindlichkeit und Risiko sind ordinal fünf- bis neunstufig skaliert. Hoppenstedt und Riedl
(1992) reduzieren die Zahl der Stufen der Risikoskala sogar auf drei. Diese planungstheoretisch folgerichtige Niveaureduzierung hat einerseits den Vorteil der Integrier-
Planung unter Unsicherheit
62
barkeit qualitativer Informationen, führt andererseits aber für einige Umweltgüter,
über die bessere Daten vorliegen, zu Informationsverlusten, wenn die Einzelaspekte
der Risikoeinschätzung verbal nicht vermittelt werden. Ist der Begriff „Risiko“ in der
Ökologischen Risikoanalyse also nur noch Ausdruck der „fehlenden letzten Prognosesicherheit“ (Hoppenstedt u. Riedl 1992, 30) oder muss nicht doch mehr auf gesellschaftspolitische Risikosichten eingegangen werden? Die versicherungstechnische
Sichtweise erscheint aufgrund ihrer Betonung der Berechenbarkeit für ökologische
Zusammenhänge ungeeignet.
Es sollte versucht werden, sowohl die naturwissenschaftlich-technische als auch
die gesellschaftswissenschaftlicher Sichtweise bei gleichzeitiger Berücksichtigung juristischer Umsetzbarkeit in die planungsrelevante Risikoanalyse zu integrieren. Die
Planung als entscheidungsvorbereitendes und vorsorgeorientiertes Instrument kann
sich nicht nur auf analytische Unsicherheit beschränken, sondern muss auf Wertunsicherheiten und subjektive Wertungen eingehen, um damit einen Beitrag zum Konfliktmanagement leisten zu können. Gesellschaftliche Gesichtspunkte des Risikobegriffs können behandelt werden, wenn Verhandlungen über zu erwartende Wirkungen und insbesondere Vermeidungs-, Verminderungs- und Ausgleichsmaßnahmen
stattfinden. Diese Verhandlungen sind durch wissenschaftliche Untersuchungen und
Abschätzungen zu unterstützen und abzusichern. Um dies leisten zu können, müssten bei der Einschätzung des Ökologischen Risikos Phasen der wissenschaftlichen
Untersuchung mit solchen der Verhandlung abwechseln (vgl. De Jongh 1988).
2.7 Zwischenfazit
Die oben dargestellten Sichtweisen des Risikobegriffs lassen sich verallgemeinernd wie folgt charakterisieren (Scholles 1997, 24):
• Die naturwissenschaftliche Sichtweise zielt auf Unsicherheiten bei der Analyse
und Prognose von Wirkungen.
• Die versicherungstechnische Sicht stellt die Berechenbarkeit in den Mittelpunkt.
• Die gesellschaftswissenschaftliche Sicht stellt die Akzeptabilität von und Konsensbildung über Risiken in der Vordergrund.
• Die juristische Sicht beschäftigt sich mit staatlichem Eingreifen und muss dazu
sowohl Eintrittswahrscheinlichkeit als auch Schadenshöhe berücksichtigen.
• Planung soll Unsicherheit reduzieren, akzeptiert werden und rechtssicher sein.
Daraus ergeben sich als die beiden zentralen Größen für die Risikobestimmung
die Eintrittswahrscheinlichkeit und die Schadensintensität und somit:
Risiko = Schadensintensität * Eintrittswahrscheinlichkeit
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
63
3. Weiterentwicklung der Ökologischen Risikoanalyse
3.1 Eintrittswahrscheinlichkeit
Die Anforderung, Eintrittswahrscheinlichkeiten von Wirkungen bei Verträglichkeitsprüfungen abzuschätzen, ergibt sich aus zwei Gesichtspunkten:
• Die Wahrscheinlichkeit der Beeinträchtigung ist Bestandteil fast aller Risikodefinitionen (s. o.).
• Die Abschätzung ist z. B. bei der Umweltverträglichkeitsprüfung rechtlich gefordert.
Alle theoretischen Risikodefinitionen lassen sich auf einen Zusammenhang zwischen Schadensintensität und Eintrittswahrscheinlichkeit zurückführen. Ziel der
Planung muss es sein, für politische Entscheidungen eine rationale Grundlage abzuliefern, die sowohl gut begründet als auch von der Öffentlichkeit als legitim und
akzeptabel betrachtet wird (Andrews 1988, 85). Das heißt, auch die Genauigkeit der
Abschätzung der Eintrittswahrscheinlichkeit muss entscheidungsorientiert sein.
Scholles (1997, 215ff.) hat einen Vorschlag zur ordinalen Klassifizierung von
Eintrittswahrscheinlichkeit im Rahmen von Verträglichkeitsprüfungen unterbreitet.
Er orientiert sich dabei an den umweltpolitischen Prinzipien Vorsorge, Gefahrenabwehr, Sanierung als minimaler Aussagegenauigkeit und schlägt vor, nur in Einzelfällen, soweit redlich und verhältnismäßig, weiter gehende Aussagen zu treffen.
Dabei zielt die Gefahrenabwehr i.d.R. auf wahrscheinliche Auswirkungen, während Umweltvorsorge auch auf mögliche Auswirkungen abzustellen hat - in Abhängigkeit von der Schadensintensität. Daraus resultiert der in Tabelle 1 vorgestellte
Vorschlag.
Die Extremwerte sicher und unmöglich sind klar zu definieren, dürften aber in der
Natur selten zu prognostizieren sein, da man es i.d.R. mit mehr oder weniger großen
Unsicherheiten zu tun hat. Die Abgrenzung zwischen wahrscheinlichen und möglichen
Auswirkungen ist ebenfalls leicht zu definieren: die Auswirkungen, die mit mehr als
50% Wahrscheinlichkeit eintreten, also statistisch in mehr als der Hälfte der Fälle, sind
wahrscheinlich, solche, die in weniger als der Hälfte der Fälle eintreten, sind möglich,
d. h. die Wirkung kann eintreten, sie kann nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden. Eine vorsorgeorientierte Einschätzung und Bewertung hat solche
Auswirkungen einzubeziehen, v. a. wenn sich die Bewertung auf Zulässigkeitsvoraussetzungen wie die Eingriffsregelung stützt, die das Wort „kann“ beinhalten. Die Differenzierung von Wahrscheinlichkeit und Möglichkeit ist inzwischen auch rechtlich
weitgehend anerkannt (Kloepfer 1993, 57ff.; Kolodziejcok u. Recken 1977ff., 1125,
Rnr. 6; Peters 1994, 32). Eine Berücksichtigung wahrscheinlicher Auswirkungen wird
also anders aussehen als eine Berücksichtigung lediglich möglicher Auswirkungen.
Darüber hinaus kann es in der Praxis sinnvoll erscheinen, für sehr wahrscheinliche
und sehr unwahrscheinliche Auswirkungen weitere Prädikate einzuführen, statistisch
Planung unter Unsicherheit
64
gesehen also für die Bereiche der Gaußschen Normalverteilung, die asymptotisch
verlaufen. Daher wird vorgeschlagen, für Auswirkungen, die nicht sicher sind, aber
nach den Maßstäben praktischer Vernunft eintreten werden, sowie für solche, die
nicht unmöglich sind, aber nach denselben Maßstäben kaum eintreten werden, die
Begriffe sehr wahrscheinlich bzw. unwahrscheinlich einzuführen. Mit besonders hoher
Wahrscheinlichkeit eintretende Auswirkungen sind in der Abwägung besonders zu
berücksichtigen, sehr wenig wahrscheinliche i.d.R. nicht. Schließlich dürften immer
noch Fälle verbleiben, in denen die Kenntnislücken so groß sind, dass eine Aussage
nicht vertretbar ist. Diese sollen als unwägbar bezeichnet werden. Wenn nicht alle Stufen belegbar sind, sollte deren Anzahl einzelfallorientiert reduziert werden.
Die vorgeschlagene ordinale, an rechtlichen Kategorien orientierte Herleitung
dürfte sowohl gutachterlich leistbar als auch entscheidungsrelevant sein. Sie ist zwar
pragmatisch, gewährleistet dadurch aber die Vergleichbarkeit der einzelnen Aussagen.
Dass hier naturwissenschaftliche und juristische Gesichtspunkte im Vordergrund stehen, ist beabsichtigt. Gesellschaftliche Anforderungen können in Aggregationsvorschriften nicht abgebildet werden; sie sollten durch die Prozeduralität des gesamten
Vorgehens aufgenommen werden.
3.2 Klassifikation von Belastungen
Bei der Einschätzung des Zustands der Umweltgüter sind spezifische, fachwissenschaftlich begründete Vorgehensweisen für jedes Umweltgut notwendig. Teilweise
können hierzu Umweltgesetze oder untergesetzliche Regelungen herangezogen werden, jedoch sind die hierin enthaltenen Rechtsbegriffe meist für eine direkte Umsetzung zu abstrakt.
Zur fachlich begründeten Klassenbildung werden naturraumspezifische Referenzen benötigt, die aus regionalen oder kommunalen Umweltqualitätszielen abzuleiten
sind, insbesondere bei der Einschätzung des Zustands der Umweltgüter. Dies gilt
sowohl für die Einschätzung des aktuellen Zustands (der Vorbelastung) als auch für
die Einschätzung prognostizierter Zustände (Entlastungen oder Zusatzbelastungen
durch das Vorhaben bzw. die verschiedenen Varianten). Durch die Orientierung an
Umweltqualitätszielen, die nicht durch den Gutachter gesetzt werden, wird die geforderte Entscheidungserheblichkeit der Untersuchungen erreicht. Damit können die
Relevanzbäume der Risikoanalyse zumindest teilweise auf sicherere und legitimierte
Füße gestellt werden. Absolute, aus Umweltqualitätszielen abgeleitete Aussagen sind
gegenüber relativen vorzuziehen, weil sie durch die meisten Rechtsbegriffe gefordert
werden und daher entscheidungserheblich sind. Die Ökologische Risikoanalyse ermöglicht die Verwendung mehrerer, unterschiedlich anspruchsvoller Maßstäbe auf
einer Skala. Die Skalierung sollte mithilfe eines Relevanzbaums verdeutlicht werden.
Für das Umweltgut Pflanzen soll hier beispielhaft die Kaule-Skala (s. Tab. 2) angeführt werden, die inzwischen allgemein anerkannt ist. Sie wurde für den hier betrachteten Zusammenhang mit geänderten Codes für die Stufen versehen (Scholles 1997,
212 f.).
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
65
3.3 Ökologisches Risiko der 2. Generation
Ökologisches Risiko ergibt sich aus der Verknüpfung der ordinal skalierten
Größen Beeinträchtigungsintensität und Eintrittswahrscheinlichkeit. Beeinträchtigungsintensität wiederum ergibt sich aus der logischen Addition von Vor- und
Zusatzbelastung. Da die Einschätzung entscheidungsrelevant sein soll, sind Begriffe
anzustreben, die sowohl fachlich als auch juristisch interpretierbar sind. Die in Tabelle 3 aufgeführten und definierten Begriffe können Rechtsfolgen auslösen. Die auch
rechtlich verwendbaren Begriffe werden hier fachlich belegt, ebenso wie die Naturwissenschaft fachliche Vorgaben für politisch zu beschließende Umweltqualitätsziele
macht (Fürst et al. 1992). Die Behörden sind daran nicht gebunden und können zu
anderen Ergebnissen kommen.
In erster Näherung kann man die drei Handlungsebenen der Umweltpolitik Sanierung - Gefahrenabwehr - Vorsorge unterscheiden (s. Tab. 3). Sanierung greift bei eingetretenen Beeinträchtigungen, Gefahrenabwehr bei drohenden Beeinträchtigungen,
Vorsorge ist bemüht, Beeinträchtigungen (auch langfristig) gar nicht erst entstehen
zu lassen. Weil Vorsorge Risiken möglichst gering zu halten versucht, ist eine Differenzierung des Risikobegriffs sinnvoll. Dabei wird im Wesentlichen Kloepfer (1993)
gefolgt. Weiter gehende Erläuterungen finden sich bei Scholles (1997, 232 ff.).
Ob die Aufstellung einer Präferenzmatrix als Aggregationsvorschrift sinnvoll ist,
muss im Einzelfall geklärt werden. Es bedarf auf jeden Fall einer Erläuterung durch
eine verbale Argumentation. Die vorgeschlagene Skalierung beruht darüber hinaus
auf drei Größen (Wertigkeit des Umweltguts, Intensität der Beeinträchtigung und
Eintrittswahrscheinlichkeit), so dass die Matrix durch einen Quader ersetzt werden
müsste. Dieser ist jedoch kaum noch übersichtlich darstellbar. Die zwingende Verwendung klar definierter Begriffe soll intuitive Einschätzungen verhindern.
Für die Entscheidung wird nicht nur die Information über das Ökologische Risiko
durch das Vorhaben von Interesse sein, sondern auch die Veränderung gegenüber
dem Zustand, so dass sich eine Veranschaulichung anhand von Pfeildiagrammen in
Anlehnung an Krämer und Lohrberg (1994) anbietet (s. Abb. 2).
Die Einschätzung des Ökologischen Risikos soll für jedes Umweltgut und darüber
hinaus für strukturelle und stoffliche Veränderungen getrennt erfolgen; eine weiter
gehende Aggregation sollte man unterlassen. Dieser Schritt muss der (umweltinternen) Abwägung nach vorangehender Gewichtung vorbehalten bleiben. Die Aggregation muss daher separat erfolgen.
3.4 Ökologische Risikoanalyse und fuzzy sets
Da wir es in der Umweltplanung häufig mit unsicherer und unscharfer, nur ordinal
skalierter Information zu tun haben, bietet sich die Untersuchung an, ob fuzzy logic
logic,
die sich mit unscharfen Begriffen und Regeln befasst, speziell der Ökologischen Risikoanalyse weiterhilft. Die auf dem unscharfen Denken beruhenden fuzzy sets wurden
ab 1965 durch Lotfi Zadeh in die Diskussion gebracht.
66
Planung unter Unsicherheit
Im Hinblick auf unseren Zusammenhang ist von vornherein klarzustellen, dass
fuzzy sets Qualitäten beschreiben, die nicht eindeutig sind, indem sie den Grad der
Mitgliedschaft eines Objekts zu einer Menge angeben. Sie haben jedoch nichts mit
Wahrscheinlichkeiten, also dem Grad des Zutreffens einer Aussage oder des Eintritts
eines Ereignisses zu tun. Daher können wir uns mit ihnen nur den unscharfen Begriffen und Regeln der Risikoanalyse widmen, nicht jedoch Eintrittswahrscheinlichkeiten
berechnen.
Ein gewichtiges Problem der Ökologischen Risikoanalyse ist der Informationsverlust durch Klassifizierung bei genaueren, kardinal skalierten Inputdaten, wie z. B.
Lärmbelastung in dB(A), stoffliche Belastung von Boden, Wasser, Luft. Hier wird
mithilfe von tabellarischen Zuordnungen oder Relevanzbäumen klassifiziert, Resultat
sind ordinal skalierte Daten. Nötig ist dies, um die Aggregation mit unpräzisen, von
vornherein nur ordinal vorliegenden Daten vornehmen zu können.
Fuzzy sets bieten hier eine Alternative, indem sie mithilfe der Fuzzyfizierung kardinale in ordinale Größen umskalieren, diese mithilfe von Wenn-Dann-Regeln, wie sie
auch die Ökologische Risikoanalyse verwendet, aggregieren und den ordinal skalierten
Output durch Defuzzyfizierung in ein kardinal skaliertes Ergebnis zurückskalieren.
Zu den Einzelheiten s. z. B. Drösser (1994) oder Kruse et al. (1995). Fuzzy logic hat
inzwischen in der Regelungs- und Steuerungstechnik weite Verbreitung gefunden.
Damit bieten sich folgende Einsatzfelder innerhalb der Ökologischen Risikoanalyse an:
• Aggregation von kardinal mit ordinal skalierten Daten mit geringerem Informationsverlust
• Klassifizierung kardinal skalierter Inputdaten bei fließenden Übergängen, dabei
Ersatz fester Grenzen durch sich überlagernde fuzzy sets, damit Ersatz des Relevanzbaums bei kardinal skaliertem Input.
• Bestimmung der Intensität von Auswirkungen, wenn genaue Messungen nicht
möglich oder unverhältnismäßig sind und Expertenurteile voneinander abweichen
• Bestimmung von Eintrittswahrscheinlichkeit, wenn diese nicht berechnet werden
kann
• Interpretation des Ergebnisses, wenn es nahe am Rand einer Klasse liegt oder die
Klassenzugehörigkeit unklar ist, also ob z. B. Zerstörung oder „nur” Schaden (s.
Tab. 3) festzustellen ist.
Eine eingehende Untersuchung dieser Potenziale steht noch aus. Eine erste Fallstudie von Eberle (1994) ist ermutigend verlaufen. Es zeigen sich jedoch auch bereits
Probleme:
• Die Bestimmung des Grads der Mitgliedschaft (membership
membership degree
degree) ist nicht frei von
Willkür und schwer nachvollziehbar.
• Die Zahl der nötigen Wenn-Dann-Regeln kann enorme Ausmaße annehmen.
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
67
Wenn Vor- und Zusatzbelastung jeweils einschließlich „nicht erhoben” zehn und
Eintrittswahrscheinlichkeit sieben Klassen hat, dann ergeben sich theoretisch
700 Einzelregeln für die Ermittlung des Risikos. Allerdings sind nicht alle Regeln
sinnvoll: wenn irgendwo ein X (für nicht erhoben oder unwägbar) auftritt, muss
immer X (Forschungsbedarf) das Ergebnis sein. Und nicht jede Eintrittswahrscheinlichkeit ist bei jeder Belastung relevant.
• Morgan und Henrion (1990, 61) bezweifeln, ob fuzzy sets menschliche Vorstellungen gut abbilden. Sie empfehlen, sprachliche Unklarheiten durch intensiveres
Nachdenken zu beseitigen. Allerdings passt die unscharfe Logik auch nicht in
ihren insgesamt naturwissenschaftlichen, auf mathematische Genauigkeit ausgerichteten Ansatz der quantitativen Risikobehandlung.
Anmerkungen
1
2
3
4
vgl. z. B. Andrews (1988); Morgan u. Henrion (1990); Starr (1969); Suter II (1990);
Suter II et al. (1987)
dass z. B. die Arznei nicht nur die gewünschten und bekannten Wirkungen hat
„use a selected method against a known standard” (De Jongh 1988, 70)
Größter anzunehmender Unfall in einem Kernkraftwerk
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Stufe
Bezeichnung Erläuterung
quantifi Beispiel
ziert 1
A
sicher
Wirkung wird
n=100 Verlust der
definitiv eintreten. %
Grundwasserneubildungsfunktion bei
Überbauung
B
sehr
Wirkung wird
95% < Zerschneidung von Amphiwahrschein- nach praktischer n <
bien-Teilhabitaten durch Straßenbau
lich
Vernunft
100% zwischen Wald und Tümpel
eintreten.
C
wahrschein- Wirkung wird in 50% < Intensivierung der landwirtschaftlichen
lich
mehr als der
n<
Nutzung infolge Flächenverlusts
Hälfte der Fälle
95%
eintreten.
D
möglich
Wirkung kann
5%< n Bodenkontamination durch
eintreten, d. h. in < 50% wassergefährdende Stoffe infolge von
weniger als der
Verkehrsunfällen
Hälfte der Fälle,
ihr Eintritt ist
jedoch nicht von
der Hand zu weisen.
E
unwahrWirkung wird
0% < n Bodenkontamination oder Gewässerscheinlich
nach praktischer < 5% verunreinigung durch Sabotage einer
Vernunft nicht
Anlage
eintreten.
F
unmöglich
Wirkung kann
n=0% Schadstoffeintrag ins Grundwasser bei
nicht eintreten.
Vollversiegelung
X
unwägbar
Eine Abschätzung ???
Krebs als Folge des Wohnens in der
ist aufgrund von
Nähe von Freileitungen
Unkenntnis nicht
vertretbar.
1
Wenn die Eintrittswahrscheinlichkeit berechnet werden kann, sollte der errechnete
Wert zusätzlich angegeben werden.
Tabelle 1: Eintrittswahrscheinlichkeit (aus: Scholles 1997, 216)
Stufe
A
Bezeichnung
international bzw.
gesamtstaatlich bedeutsam
Erläuterung
NP, BR (Zone I), NSG, § 20c-Biotope, FFH-Schutzgebiete.
Seltene und repräsentative, natürliche und extensiv
genutzte Ökosysteme. I.d.R. alte und/oder oligotrophe
Ökosysteme mit Spitzenarten der Roten Listen, geringe
Störung, große Flächen (soweit vom Typ möglich)
B
landesweit bedeutsam
BR (Zone I), NSG, ND, § 20c-Biotope, wie A, jedoch
weniger gut ausgebildet sowie Einzelschöpfungen
C
regional bedeutsam
LSG, BR (Zone II), kleinere NSG, größere LB. Nicht oder
extensiv genutzte Flächen mit Arten der Roten Liste
zwischen Wirtschaftsflächen, regional zurückgehende
sowie oligotraphente Arten, Restflächen der Typen von A
und B, Kulturflächen, in denen regionale zurückgehende
Arten noch zahlreich vorkommen
D
lokal bedeutsam
ggf. LB, kleinere Ausgleichsflächen zwischen
Nutzökosystemen (Kleinstrukturen). Unterscheidet sich von
C durch Fehlen oder Seltenheit von oligotraphenten und
Rote-Liste-Arten. Bedeutend für Arten, die in den eigentlichen Kulturflächen nicht mehr vorkommen
E
verarmt
Nutzflächen, in denen nur noch wenig charakteristische
Arten vorkommen. Die Bewirtschaftungsintensität überlagert die natürlichen Standorteigenschaften. Grenze der
"ordnungsgemäßen Land- und Forstwirtschaft"
F
stark verarmt
Nutzflächen, in denen nur noch Arten eutropher Standorte
bzw. die Ubiquisten der Siedlungen oder die widerstandsfähigsten Ackerunkräuter vorkommen. Randliche
Flächen werden belastet
G
belastend
Nur für sehr wenige Ubiquisten nutzbare Flächen, starke
Trennwirkung, sehr deutlich Nachbargebiete belastend
H
stark belastend
Fast vegetationsfreie Flächen. Durch Emissionen starke
Belastungen für andere Ökosysteme von hier ausgehend
I
weitgehend unbelebt
Vegetationsfreie Flächen. Durch Emissionen sehr starke
Belastungen für andere Ökosysteme von hier ausgehend
X
nicht erhoben
Nicht Bestandteil des Untersuchungsgebiets, nicht
zugänglich oder Entwicklung unklar
Tabelle 2: Klassifikation der Vorbelastung und Zusatzbelastung des Schutzguts Pflanzen (aus:
Scholles 1997, 224, nach Kaule 1986).
Stufe
A
Umweltpolitisches
Prinzip
Sanierung
Bezeichnung
Zerstörung
Erläuterung
katastrophale Schutzgutausprägung, Schutzgut
vollständig irreversibel verändert
B
Schaden
Schutzgut in Teilen irreversibel verändert,
Gefährdung sicher, Sanierungsbedarf
C
Gefahren- Gefahr
Beeinträchtigung des Schutzguts erkennbar,
abwehr
Gefährdung sehr wahrscheinlich oder
wahrscheinlich (und aus Umweltsicht nicht
hinnehmbar)
D
GefahrengleiBeeinträchtigung eines gewichtigen Schutzguts
ches Risiko
erkennbar, Gefährdung wahrscheinlich oder
möglich (und aus Umweltsicht nicht hinnehmbar)
E
Vorsorge
GefahrenBeeinträchtigung des Schutzguts erkennbar,
verdacht
Überschreiten der Gefahrenschwelle möglich,
Überschreiten der Restrisikoschwelle sehr
wahrscheinlich
F
Risiko i.e.S.
Schleichende, nicht direkt erkennbare
Beeinträchtigung des Schutzguts, Überschreiten
der Gefahrenschwelle unwahrscheinlich,
Überschreiten der Restrisikoschwelle
wahrscheinlich
G
Risikomöglichkeit Beeinträchtigungen können durch Maßnahmen
weitgehend vermieden oder ausgeglichen werden,
Überschreiten der Restrisikoschwelle möglich
H
Restrisiko
Veränderungen bleiben innerhalb der regionalen
Schwankungsbreite, Schutzgutbeeinträchtigung
unwahrscheinlich, staatliches Eingreifen nicht
möglich
X
Forschungsbedarf
keine Risikoeinschätzung möglich
Tabelle 3: Klassifizierung des Ökologischen Risikos (aus: Scholles 1997, 231)
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
71
Jochen Hanisch
DAS ELEND DER RAUM- UND UMWELTPLANUNG IM
PRAKTIZIERTEN NEOLIBERALISMUS:
Das Beispiel der Erweiterung der Airbus-Produktionsanlagen
in Hamburg
1. Planungstheoretische Fragestellungen
1.1 Der Fall Airbus und seine Implikationen für die Planungstheorie
Die Erweiterung der Airbus-Produktionsflächen in eine Flachwasserbucht der
Elbe ist von überregionalem Interesse:
• Mit der EADS- Entscheidung für den Super-Airbus (Post-Jumbo-Klasse) und für
den Bau einer eigenständigen westeuropäischen Version eines weltweit einsetzbaren Militärtransportflugzeugs soll das letzte US-amerikanische Monopol im
Militär- und Zivilflugzeugbau gebrochen werden.
• Die norddeutschen Regierungschefs träumen davon, an der Unterelbe eine Technologieregion zu etablieren, die sich mit dem Boeing-Standort Seattle und der
Airbus-Zentrale Toulouse den Weltluftfahrzeugmarkt teilt.
• Mit der „Jahrtausendentscheidung” (weniger pathetisch: Jahrhundertentscheidung) für eine Teilfertigung des A 380 in Hamburg wird die „patriotische“ Verpflichtung beschworen, kleinkrämerische Bedenken zugunsten der industriepolitischen Zukunft ganz Norddeutschlands zurückzustellen.
• Vorläufiger Höhepunkt der Kampagne ist der Appell einer Allianz aus Wirtschaft
und Gewerkschaften, in der es heißt, zwischen Gewerkschaften und Unternehmensverbänden passe kein Blatt Papier in der Frage um den Bau des Super-Air-Bus
A 380 in Hamburg (Hamburger Abendblatt v. 27./28.1.01). (Alle diese Aussagen
72
Das Elend der Raum- und Umweltplanung im praktizierten Neoliberalismus
gehen auf Presseveröffentlichungen der Hamburger Lokalpresse zurück).
Trotz des Wertschöpfungsanteils von nur 5 % am Bau des Super-Airbaus A 380
war eine ganze Region von der Vorstellung euphorisiert, zu einem zweiten „SiliconValley, Seattle und Toulouse“ gleichzeitig werden zu können. Folgerichtig demonstrierte in Hamburg im Januar 2002 ein Bündnis aus Unternehmerverbänden, Parteien
und Gewerkschaften für das industrielle Großprojekt „Airbus-Flächenerweiterung“.
Kritischen Einwendern wurde und wird kleinkrämerischer Provinzialismus vorgeworfen, der, sollte er sich durchsetzen, zum Zusammenbruch der norddeutschen
Ökonomie führen würde.
Das Airbus-Projekt steht paradigmatisch für das Konzept der „wachsenden
Stadt“, wonach sich Hamburg in die Reihe von Städten und Metropolregionen einreiht, die sich erfolgreich vom allgemeinen Trend der „Schrumpfung“ abkoppeln.
Allen Beschwörungen der Weltgeltung der „Metropolregion“ zum Trotz ist mit dem
Projekt „Airbus-Erweiterung“ auch eine kommunale Kirchturmspolitik verbunden,
in der eifersüchtig darauf geachtet wird, dass jeder externe Euro oder Dollar innerhalb der Grenzen der Hansestadt investiert wird.
Das hat System: Eine Koordination der norddeutschen Länder und Hafenstädte
um Flussvertiefungen, Hafenausbauten und Industrieflächenausweisungen kam nie
zustande und aktuell zeichnet sich ein Remake des bekannten Schlagers „Elbevertiefung“ ab. Während in Niedersachsen an einem Tiefwasserhafen gebaut wird, der den
Hamburgern Anteile am Container-Verkehr abjagen soll, wird es in Hamburg wieder
zu patriotischen Pflicht, Steuermittel für Flussvertiefungen und Hochwasserschutzmaßnahmen auszugeben, damit die öffentlichen Investitionen in Niedersachsen
möglichst erfolglos bleiben. Wie das System funktioniert, hat Jörg Heimbrecht (1984)
in seinem Buch „Das Milliardending“ unvergesslich dokumentiert – kein Wunder,
dass das Buch nur noch antiquarisch zu erhalten ist.
Im Fall Airbus gibt es eine Analogie. Der Standort Rostock-Laage galt lange Zeit
als ebenso geeignet, den Super-Airbus zu lackieren und mit Sitzreihen auszustatten.
Eine kooperative Lösung (Entwicklungsarbeiten und Teilefertigung in Hamburg,
Endfertigung und Auslieferung in Rostock) hätte zu einem Demonstrationsprojekt
für ein Planungskonzept werden können, das den Namen „regionale Entwicklungsplanung“ wirklich verdient hätte und mit dem die Steuermillionen möglicherweise
wirkungsvollere Struktureffekten gehabt hätten.
Der Vorwurf des standort- und industriefeindlichen Provinzialismus nutzt sich in
der Realität aber ab. Immer wieder gibt es Projekte, die zu Jahrhundertgelegenheiten
stilisiert wurde: Vor wenigen Jahren war es der Transrapid zwischen Hamburg und
Berlin, der Hamburgs Weltgeltung unterstreichen und fördern sollte und der dann
aus betriebswirtschaftlichen Gründen von der interessierten Industrie fallen gelassen
wurde (siehe unten). Dann war (und ist) es die Umwandlung eines Hafenareals zur
Cityerweiterung nach 1996 als „HafenCity“. Mit Hilfe der Olympischen Spiele sollte
das Großprojekt HafenCity per Huckepack-Prinzip zu einem Megaprojekt der Umwandlung des mittleren und östlichen Freihafens und zur städtebaulichen Anbindung
des südlich gelegenen Harburg befördert werden. Die HafenCity muss, wie sich ge-
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
73
zeigt hat, ohne die Olympiade auskommen, hilfsweise erhoffen sich die Stadtstrategen nun einen Impuls durch eine Internationale Gartenbauausstellung (IGA), die im
Jahre 2012 in Wilhelmsburg stattfinden soll.
Heute verlautet aus gut informierten Kreisen, dass das Mega-Projekt HafenCity
an strukturellen Problemen krankt, vom „Scheitern“ der ambitionierten städtebaulichen Ziele bedroht sei und man über kurzfristige Rettungsstrategien nachdenken
müsse.1 Wer weiß, welche Mega-Projekte in den kommenden Jahren für Aufregung
und Publicity sorgen werden.
Am Beispiel des Transrapid wird immer wieder auf den Bürokratismus und die
„rückwärtsgewandten Fortschrittsverhinderer“ verwiesen, die daran Schuld seien,
dass zukunftsweisende Technologien in Deutschland keine Chance hätten. Tatsache
ist, dass die Transrapid-Strecke Hamburg-Berlin unter dem Regime der Planungsbeschleunigung in sehr kurzer Zeit durch die Planungsinstanzen getrieben und fast
vollständig „planfestgestellt“ worden war. Dass die Strecke nicht gebaut wurde, lag
daran, dass Bund, Länder und Deutsche Bahn AG ihre Bereitschaft zur Übernahme
der ökonomischen Risiken deutlich begrenzt hatten und sich die private Wirtschaft
ohne weitere staatliche Absicherung vom Projekt zurückzog (aber das wäre ein eigenes Kapitel der Geschichte über die mythischen Wirkungen von Großprojekten).
Tatsache ist auch, dass das Großprojekt „Airbus-Industrieflächenerweiterung“
nur zustande kam und kommt, weil der Staat die Planungs- und Erschließungskosten
in Höhe von bisher bekannten ca. 6-800 Mio € aus Steuermitteln finanziert – ohne
dass die Industrie ihrerseits einklagbare Verpflichtungen eingehen musste.
Wir erleben gegenwärtig eine paradoxe öffentliche Situation. Der Staat soll sich
als „planende und steuernde Instanz“ zurückziehen, die Steuerlast soll weiter gesenkt
werden (große Konzerne vermögen durch Verlustabschreibungen von Teilbetrieben
ihrer Steuerpflicht sogar ganz zu entgehen – aber auch das wäre ein eigenes Kapitel)
während gleichzeitig vom Staat enorme direkte und indirekte Steuerbeihilfen bei Investitionsentscheidungen abverlangt werden. Bund, Länder und Kommunen müssen
unter erheblichem Druck Projekte subventionieren, deren Erfolg nicht gesichert ist,
ohne gleichzeitig die Möglichkeit zu haben, „öffentliche Mittel“ zurück erstattet zu
bekommen, wenn versprochene Ziele nicht erreicht werden. Der „Staat“ wird reduziert auf die Rolle des „Investitionsermöglichers“, ohne über die Potenzen zu verfügen, über das „ob, wo und wie“ eines Vorhabens mit entscheiden zu können. Die
planungstheoretisch zu behandelnden Fragen sind bei unserem Fall also (vorerst):
• Hätte es für die Entscheidung in Hamburg für die Erweiterung des Airbus-Geländes in die Flachwasserbucht der Elbe (Mühlenberger Loch) eine sinnvolle Alternative gegeben?
• Stehen die Investitionen der öffentlichen Hand in das Planungsverfahren und die
Industrieflächenerschließung von ca. 600-800 Mio € in einem rational vertretbaren
Verhältnis zu dem zu erwartenden Nutzen?
• Sind die „enteignungsgleichen” Folgen des Vorhabens (Wertminderungen an
Grundstücken in Hamburg und Niedersachsen), Lärm, Schadstoffeinträge in
Das Elend der Raum- und Umweltplanung im praktizierten Neoliberalismus
74
Freizeit- und Erholungsgebiete und hochwertige Landwirtschaftsflächen usw.
legitimiert durch einen adäquaten Nutzen für die Allgemeinheit?
• Gibt es „Sicherheiten” für den Staat, dass seine Investitionen aus Steuermitteln
für den Fall, dass die erhofften Projektwirkungen nicht eintreten, von der subventionierten Industrie rückerstattet werden?
Und allgemeiner:
• Kann angesichts der behandelten Projektdimensionen von einer staatlichen (gesellschaftlichen) Gestaltungsmacht gesprochen werden?
• Spielen im gegenwärtigen Wirtschafts- und Sozialstrukturwandel und dem begleitenden gesellschaftspolitischen Wandel normative Ziele wie „Nachhaltigkeit“ (im
Sinne der Rio-Konvention) überhaupt noch eine nennenswerte Rolle?
• Lassen sich nach den Prinzipien einer diskurs- und kooperationsorientierten Planungskultur (perspektivischer Inkrementalismus) strukturelle Machtungleichgewichte ausgleichen?
• Oder: Müssen wir nicht neu über „umfassende” (comprehensive)
comprehensive) Planungs- und
comprehensive
Steuerungsansätze nachdenken?
1.2 Wissenschaft und Technik als Garanten des Fortschritts
Wenn sich die ökonomische Basis durch die Verbindung von wissenschaftlichem
und technologischem Fortschritt verändert, folgen daraus soziale Umwälzungen,
die zu Konflikten führen, die geregelt werden müssen. Solche Umwälzungen können revolutionären Charakter annehmen. Diese Erkenntnis wurde von Karl Marx
und Friedrich Engels (1997) im kommunistischen Manifest von 18472 formuliert
– wegen der Aktualität der Formulierungen sei es gestattet, ein ausführlicheres Zitat
als Fußnote anzufügen. Die Begleiterscheinungen solcher Veränderungen machen
regulierende gesellschaftliche Eingriffe notwendig. Wir leben in einer solchen grundlegenden Transformationsphase, für die schon einmal der Begriff der neoliberalen
Revolution geprägt worden ist.3 Die planungstheoretische Debatte kreist seit Jahren
um die Frage, ob und wieweit auf gesellschaftliche Transformationsprozesse planerisch reagiert werden kann bzw. soll.
In der mittlerweile als klassisch geltenden Planungsgeschichte von Gerd Albers
(1993) wird dargestellt, wie sich die staatliche Stadt- und Regionalplanung in Abhängigkeit von den Reproduktionsanforderungen der Ökonomie entwickelte. Bei allen
Differenzen im Detail besteht hierin breite Einigkeit. Der Streit zwischen Albers
und Selle, ob es diese Geschichte als Phasen- oder Schichtenmodell (Selle 1996: 55)
adäquat zu beschreiben sei, berührt nicht die Substanz der Grundaussage. Die von
Albers für die Zeit bis ca. 1960 skizzierte Anpassungsplanung vermochte die strukturellen Verwerfungen in den westlichen Industriegesellschaften seit Anfang der 60er
Jahre nicht mehr zu bewältigen. Die Krise war umso gefährlicher, als sich das östliche
Konkurrenzmodell des europäischen Fortschrittsparadigmas trotz Kriegszerstörun-
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
75
gen, ökonomischer Blockade und Kaltem Krieg als relativ stabil behauptete.
Zwei Ursachen bildeten den Hintergrund für den Wandel des Planungsverständnis
in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts: erstens der technologische und ökonomische
Strukturwandel, der die alten Montanregionen Ruhr- und Saargebiet in eine tiefe Krise stürzten und dessen soziale Folgen bis heute, ein halbes Jahrhundert später, noch
immer nicht bewältigt sind (Bömer 2000) und zweitens die gesellschaftspolitische
Diskussion um die Szenarien über das „Ende des Wachstums“ aufgrund allgemeiner
Ressourcenerschöpfungen und Umweltvergiftungen. Die Lösung der Umwelt- wie
der ökonomischen Strukturprobleme verlangte nach umfassenden Reformen des Bildungs-, Wissenschafts- und Planungssystems (vgl. Küppers et al 1978). Im Auftrag
der Bundesregierung arbeitete eine Expertenkommission seit 1971 (Kommission
1977) an Konzepten zur Bewältigung des Wirtschafts- und Sozialstrukturwandels.
Darin wurden die Elemente einer umfassenden Entwicklungsplanung entwickelt.
Der hohe Stellenwert, den die Wissenschaft in dieser Periode erlangte, sei hier
hervorgehoben. Ganz selbstverständlich – und eher unbewusst – wurde unterstellt,
dass die Verwissenschaftlichung der Politik zu demokratischen und zu materiellen
Fortschritten führen würde. Damit knüpfte die Gesellschaft an die Tradition neuzeitlicher Wissenschaften an, wonach diese einen Beitrag zum technischen und humanen
Fortschritt leisten müssten (Francis Bacon im 17. Jahrhundert, vgl. Böhme 1993:9ff).
Das Baconsche Programm erfüllte sich im 19. und 20. Jahrhundert, zumindest, was
die technische Beherrschung der Natur betraf, und fand im „wissenschaftlichen Sozialismus“ und in der Planungs-, Bildungs- und Wissenschaftspolitik der 70er Jahre
in den westlichen Industriestaaten seinen Höhepunkt.
In der Wirkungsgeschichte hat sich das Baconsche Bild verändert, wissenschaftlicher und technischer Fortschritt haben sich zunehmend vom „humanen“ Fortschritt
abgekoppelt (z.B. Anders, G. 1982, 1988; Rohbeck 1993). Böhme spricht in diesem
Zusammenhang vom Ende des Baconschen Zeitalters, und heute wird Wissenschaft
und Technik „ganz unverblümt unter dem Gesichtspunkt ökonomischer und militärischer Konkurrenz“ diskutiert (Böhme 1993:20).
1.3 Der blockierte Fortschritt in der Raumplanung
Bezogen auf die räumliche Planung sollte der gesellschaftliche Fortschritt mit
rationalen (wissenschaftlich fundierten) Planungs- und Entscheidungsprozessen erreicht werden. Mit dem Konzept der „umfassenden Entwicklungsplanung“ wurden
fachgebietsübergreifende Planungs- und Steuerungssysteme geplant, mit denen die
prognostizierten Krisen vermieden werden sollten.
Die Implikationen dieses Ansatzes entfalteten indes offene und subtile Sprengkraft gegenüber fest gefügten gesellschaftlichen Machtstrukturen – das Modell der
„umfassenden Entwicklungsplanung“ wurde, kaum, dass erste Schritte zu seiner
Umsetzung unternommen waren, fallengelassen. Wissenschaftsintern boten wichtige
Einwände gegen das Konzept einen Begründungsrahmen (Schönwandt 2002), und
man kehrte zu der planerischen Normalität des Inkrementalismus zurück, allerdings
76
Das Elend der Raum- und Umweltplanung im praktizierten Neoliberalismus
geadelt um seine Orientierung an Leitbildern, fortan bezeichnet als „perspektivischer
Inkrementalismus“.
Diese Abwendung vom Modell der umfassenden Entwicklungsplanung war, so
meine These, nicht allein den wissenschaftlichen und methodischen Widersprüchen
des Konzepts geschuldet. Der Anspruch auf reale materielle Steuerung und Gestaltung räumlicher Nutzungsstrukturen wird dem neoklassischen Paradigma einer
möglichst unregulierten Marktsteuerung geopfert. Auf die öffentlich finanzierte (also
prinzipiell von äußeren Zwängen freie) Wissenschaft erhöht sich der Druck, „marktgängige“ Produkte und Strategien zu entwickeln – unter diesen Bedingungen fällt es
immer schwerer, Forschung, Lehre und Praxis mit dem Baconschen Programmpunkt
des „gesellschaftlichen und humanen Fortschritts“ in Übereinstimmung zu bringen.
Diesen Fortschritt stellt der kapitalistische Marktprozess aus strukturellen Gründen
nicht her (Fritsch et al. 2003, Altvater/Mahnkopf 1997, 2002). Diese Erkenntnis
beunruhigt die etablierte Wissenschaft, weshalb darüber, wenn überhaupt, nur sehr
verklausuliert und wenig öffentlichkeitswirksam geschrieben wird. In seiner Studie
„Die Stunde der Wahrheit?“ hat Peter Weingart (2001) diese Problematik auf den
Punkt gebracht.
Wenn schon die ersten Ansätze der „Entwicklungsplanung“ gescheitert sind und
kaum noch Anstrengungen unternommen werden, diesen planungstheoretischen Ansatz weiter zu verfolgen, zu verbessern und seine immanenten Mängel zu beheben,
bleibt nur noch der „perspektivische Inkrementalismus“ mit seinen vielen kleinen
Schritten als ultima ratio der Raumplanung. Die Ziele sind formuliert: Nachhaltigkeit
für alle Menschen dieser Welt im Sinne der Rio-Konferenz von 1992. Die methodischen Grundlagen und Praxisanforderungen sind ebenfalls formuliert: Informationsund systemtheoretische Grundlagen zur Erfassung (Modellierung) und Bewertung
komplexer gesellschaftlicher und naturaler Sachverhalte, Kommunikationsfähigkeit,
diskursive Überzeugungskraft und Kompromissfähigkeit.
Der technische Fortschritt liefert ein gewaltiges Innovationspotential im Bereich
des Ressourcenschutzes, moderne Kommunikationstheorien und -technologien ermöglichen neuartige Kooperations- und Vernetzungsmodelle auf allen Maßstabsebenen. Die Anpassung der modernen Industriegesellschaften an die neuen technischen
Potentiale wird begleitet von Begriffen wie Flexibilisierung, lebenslanges Lernen,
Patchwork-Biografien, Deregulierung und Individualisierung usw. Das „fordistische“
Akkumulationsregime, das durch flächendeckende Tarif- und Sozialversicherungssysteme die Teilhabe der arbeitenden Bevölkerung am „Produktivitätsfortschritt“ – und
damit deren Konsumtionskraft für die Produkte der Industrie – gewährleistete, wird
unter dem wachsenden Einfluss globaler Kommunikations- und Logistiksysteme
abgebaut. Hier finden wir wieder das eingangs zitierte Diktum von Karl Marx und
Friedrich Engels, wonach technologische Revolutionen im Produktionsbereich zu
grundlegenden Umwälzungen des gesellschaftlichen Überbaus führen. Die zaghaften
Ansätze, der Internationalisierung der Waren-, Dienstleistungs- und Finanzströme
durch ein aqäquates übernationales Regulationssystem einen Rahmen zu setzen, sind
bislang gescheitert.4
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
77
1.4 Neue Instrumente der Raumplanung im Spiegel des Neoliberalismus
Als Planungsinstrumente dieser Ära werden Überzeugungs- und Konsensbildungstechniken für „good governance“ auf allen Ebenen, Methoden zur Organisation regionaler Vernetzungen von Unternehmen, Schaffung von Win-Win-Situationen,
Förderung der endogenen Potentiale in ökonomischen Kristallisationskernen und
Kompetenzzentren usw. entwickelt. Wichtige planungstheoretische Themen sind
dann Fragen nach der Struktur der Öffentlichkeit, nach der prinzipiellen Planbarkeit sozialer Systeme und danach, ob und wie gewährleistet werden kann, dass bei
planerischen Modellbildungen die Alltagswirklichkeit nicht ausgeblendet wird (zum
Überblick Selle 1996 und Schönwandt 2002). Diese Ansätze gehören in die große
Schublade der „handlungs- und entscheidungstheoretischen“ Planungstheorien, die
ihren Schwerpunkt in den Bereichen haben, die heute umschrieben werden als: umsetzungsorientiert, pragmatisch, konsensorientiert, kleinmaßstäblich und korrekturfreundlich.
Müssten die Planungswissenschaften konzedieren, dass die – hier nur mit wenigen
Stichworten - skizzierten Theorie- und Methodenansätze die strukturellen Ursachen
von Problemen und Konflikten, die Planung überhaupt erforderlich machen, nicht
zu lösen vermögen, dann stellt sich die Frage nach effektiveren Theorien und Methoden. Gernot Böhme fordert die Einführung ethischer und sozialer Normen für „wissenschaftlich-technisches Handeln“ (Böhme 1995:405ff) und befindet sich damit in
guter Gesellschaft einer wachsenden Menge von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen, die ihren eigenen Fortschrittsbegriff und die ethische Verantwortung der
Wissenschaften reflektieren (Rohbeck 1993, Weingart 2001 u.a.).
2. Das industriepolitische Großprojekt Airbus in Hamburg
Luft-, Raumfahrzeugbau und Rüstung gelten als Hochtechnologie-Produktionen
mit hochkomplexen Entwicklungs- und ausdifferenzierten Produktionsstandorten
mit Zukunft. Wer sich von dem großen Kuchen dieser Branchen etwas abschneiden
kann, gilt als Gewinner im großen Spiel um Geld und Macht.
Die norddeutschen Bundesländer sehen in der Entwicklung des Super-Airbus
A 380 und in der Konsolidierung der Airbusproduktion für kleinere Flugzeuge in
Norddeutschland die historische Chance, industriepolitisch in die Weltliga der Hochtechnologie-Standorte aufzusteigen.
2.1 Der Traum von der Größe
2.11 Großprojekte als Beleg für städtische und regionale Bedeutung
Große technische Artefakte üben einen unwiderstehlichen Reiz auf Politiker und
Öffentlichkeit aus. Der Glaube an den Fortschritt durch die moderne Technik und
Wissenschaft ist ungebrochen, so scheint es.
Die Krise der Bundesrepublik Mitte der sechziger Jahre weckte bei den Wirtschaftsplanern in Norddeutschland die Phantasie, daraus als große Gewinner her-
78
Das Elend der Raum- und Umweltplanung im praktizierten Neoliberalismus
vorzugehen: Billige Energie- und Rohstoffressourcen aus der ganzen Welt brauchen
doch nicht, so die Überlegungen der Wirtschaftsplaner, in die alten Industrieregionen
im Binnenland transportiert zu werden. Stattdessen sollte die Küstenregion (Hamburg und Unterelbe, Bremen und Unterweser) zu einer zusammenhängenden großen
Industrieregion ausgebaut werden.
Längs der Unterelbe wurden Kristallisationskerne einer umfassenden Industrialisierung geplant und infrastrukturell erschlossen: in Hamburg (Aluminium, Stahl),
Stade (Chemie) und Brunsbüttel (Öl- und Chemie). Den Höhepunkt bildete das
Projekt einer künstlich aufgeschütteten Insel mit Tiefwasserhafen im Wattenmeer
bei der Insel Neuwerk (wurde jedoch nie realisiert). Mehrere Atomkraftwerke wurden gebaut, um ausreichend Strom für den industriellen Verbrauch bereitzustellen,
Krümmel, Stade, Brockdorf und Brunsbüttel. Für die infrastrukturelle Erschließung
mussten Deiche bis an die Elbe vorverlegt und die Fahrrinne der Elbe laufend vertieft werden (Hanisch 1983).
Nicht alle Blütenträume der Industrialisierungspolitik haben sich verwirklicht, die
mit großem staatlichen Förderaufwand realisierten Standorte blieben Solitäre, von
einer sich selbst tragenden und stimulierenden Industrialisierung kann keine Rede
sein.
Die Hamburger Ökonomie blieb von den Erscheinungen des allgemeinen Wirtschafts- und Sozialstrukturwandels nicht verschont. So ist beispielsweise der Schiffsneubau fast komplett aus Hamburg verschwunden. Die Werften, die den Strukturwandel überlebt haben, leben, bis auf eine Ausnahme, vom Spezialschiffsbau und als
Reparatur- bzw. Modernisierungswerften. Im Hafen wurde früh auf die ContainerTechnologie gesetzt, mit großem quantitativem aber zweifelhaftem ökonomischem
Erfolg (vgl. Deecke 2001:50-56).
Die Stadt erlebte nach der Öffnung Osteuropas einen Zuwachs an Attraktivität
und Bevölkerung. Hier konzentrieren sich Medien- und Werbeunternehmen, von
einer weitgehenden Tertiärisierung der Hamburger Ökonomie war lange die Rede;
dies blieb aber ein nicht erfüllbarer Traum: Dienstleistungen bleiben nach wie vor an
produktive Sektoren gekoppelt.
Mehrere Großprojekte – in dem Einleitungskapitel wurde darüber berichtet – dienen jeweils als Projektionsfläche für Visionen. Die Beteiligung des Hamburger Airbus-Werks an dem Bau des neuen Super-Airbus A 380 ist eine solche Projektionfläche. Mit der Flugzeugindustrie erhofft sich die Hamburger Politik den Duchbruch zu
einem der größten und bedeutendsten Luft- und Raumfahrtzeugstandorte der Welt.
Der Traum von der großen Industrie in der Unterelberegion ist also noch längst nicht
ausgeträumt.
2.12 Die Geschichte des Hamburger Flugzeugbaus.
Im äußersten Südwesten der Stadt, direkt gegenüber dem Nobelstadtteil Blankenese, liegt Finkenwerder, ein ehemaliges Fischerdorf. Bereits in den 1930er Jahren
wurden hier von der Werft Blohm&Voss Flugzeuge gebaut.
Nach dem Krieg diente das Finkenwerder Werk für die britische Armee für die
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
79
Reparatur von Panzern. Seit Mitte der 50-er Jahre gründete Walther Blohm die
Hamburger Flugzeugbau GmbH, die später mit der Weser Flugzeugbau und der
Siebel ATG zu den Vereinigten Flugzeugwerken (VFW) zusammengelegt wurden
(http://walther-blohm-stiftung.de/ geschichte.htm – vom 13.8.03).
Airbus wurde später integriert in den Luft-, Raumfahrt- und Rüstungskonzern
EADS, der „European Aeronautic Defence and Space Company N.V.“, die am 10.
Juli 2000 aus der Fusion der deutschen DaimlerChrysler Aerospace AG, der französischen Aerospatiale Matra und der spanischen CASA hervorging. Im Jahr 2002
erwirtschaftete die EADS einen Umsatz von 29,9 Milliarden Euro. Davon wurden
etwa 80 Prozent auf dem zivilen und 20 Prozent auf dem militärischen Markt erzielt.
Das Unternehmen beschäftigt an mehr als 70 Produktionsstandorten über 100.000
Mitarbeiter, vor allem in Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Spanien
(http://www.eads.net/ eads/ de/ index.htm).
In Hamburg-Finkenwerder werden vor allem kleinere Airbusse gefertigt und ausgeliefert. Die Airbus-Familie soll ergänzt werden durch einen Großraumjet, der die
Post-Jumbo-Ära einläuten soll. Mit dem A 380 würde die europäische Luftfahrtzeugindustrie das letzte US-amerikanische Monopol brechen.
Das Airbus-Werk in Hamburg-Finkenwerder ist mittlerweile der bedeutendste
Standort des zivilen Flugzeugbaus in Deutschland. Von den rund 15.000 Mitarbeitern der EADS Airbus GmbH arbeiten etwa 7.000 in dem Werk am südlichen Elbufer (aus: http://www.spiegel.de/ wirtschaft/0, 1518,118616,00.html).
Der starke Anteil deutscher Konzerne an der EADS-Familie und die lange Tradition der Airbus-Produktion in Hamburg-Finkenwerder prädestinierten den „Standort Deutschland“, aktiv an der Entwicklung und dem Bau des Super-Airbus teilzuhaben.
Mit dem Hamburger Fertigungsanteil (Innenausbau und Lackierung) sollen mindestens 4.000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Eine Zahl, die denkbar ungesichert ist. Es kursieren die abenteuerlichsten Prognosen von bis zu 30.000 direkten
und indirekten Arbeitsplätzen.
2.2 Autosuggestion als Bestandteil der Politik
Für den Hamburger Senat erschien die Möglichkeit, an dem „historischen“ Industrieprojekt Anteile in die Stadt zu holen, als eine einmalige Chance, eine langfristige,
an Hochtechnologien gekoppelte Industriebasis zu sichern. Es ist ein bekanntes Muster, dass die etablierte Politik sich von großen Projekten bedeutende wirtschaftliche
Segnungen für ihre Regionen versprechen. Großprojekte haben auch die Funktion,
eine Stadt und/oder eine Region in einen Zustand der Selbstsuggestion über die eigene Größe zu versetzen. Neben der „Jahrtausendentscheidung“ für die Hamburger
Beteiligung am Bau des Super-Airbus A 380 gibt bzw. gab es weitere Großprojekte,
mit denen sich Hamburg als weltweit bekannte Metropole zu profilieren beabsichtigte (siehe einleitende Bemerkungen).
80
Das Elend der Raum- und Umweltplanung im praktizierten Neoliberalismus
2.3 Der Konflikt um die Ausweitung der Airbus-Produktionsfläche 5
Der Beschluss, den Super-Airbus zu bauen, darf nicht ohne die parallele Entwicklung einer westeuropäischen Version eines Langstrecken Militärtransportflugzeugs
betrachtet werden. Mit den Entscheidungen für die militärischen und zivilen Großflugzeuge signalisieren die Europäer ihre Entschlossenheit, auf allen Technologiesektoren des Luft-, Raumfahrt- und Militärflugzeugwesens eigene Produktlinien zu etablieren und gegen die US-amerikanische Konkurrenz auch weltweit zu vermarkten.
Abb.1: Erweiterung des Airbus-Geländes im Mühlenberger Loch,
Quelle: www.spiegel.de/wirtschaft/0.1518.druckbild-82735-195703.00.html
Dies ist der Hintergrund für die erbitterte Konkurrenz europäischer Industriestandorte um Beteiligung an diesen Projekten. Die allseitige Begeisterung über die
Entscheidung, den Innenausbau und die Lackarbeiten des neuen Großraumjets
A 380 (Beschluss vom 23.Juni 2000 des europäischen Konsortiums EADS) nach
Hamburg-Finkenwerder zu vergeben, bedeutet, dass die Entscheidungsträger im
Prinzip davon ausgehen, dass weitere Aufträge folgen werden.
Es heißt, dass der hamburgisch-norddeutsche Anteil an der Wertschöpfung am
neuen Airbus A 380 nur 5% beträgt. Wenige Tage nach dem Planfeststellungsbe-
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
81
schluss für den Ausbau des Mühlenberger Lochs verkündete der hamburgische
Rechnungshof öffentlich seine Zweifel, ob die öffentlichen Investitionen für dieses
Projekt überhaupt „preisangemessen“ seien 6.
Gegen dieses Großprojekt hat sich eine ungewöhnliche Oppositionsbewegung
gebildet. Beteiligt daran sind Naturschützer, zahlreiche Bürgerinitiativen aus dem
Alten Land – und, das ist das Ungewöhnliche, zahlreiche Bürger des hamburgischen
Establishments. Einige der Argumente:
• Im Spiegel Nr. 3 vom 15.01.01 heißt es mit Verweis auf konzerninterne Planungen, dass auch ohne die geplante Erweiterung der Produktionsflächen in das
Mühlenberger Loch 80–90 % der vorgesehenen Fertigungsanteile in Hamburg
bleiben könnten.
• Die Arbeitsplatzprognosen sind unseriös – es wird befürchtet, dass viele Arbeitsplätze durch interne Umbesetzungen bei Airbus-Industries besetzt werden.
• Der Wertschöpfungsanteil von ca. 5 % für Hamburg rechtfertigt nicht die hohen
öffentlichen Investitionen.
• Die hohen staatlichen Vorleistungen stehen in keiner vernünftigen Relation zum
fiskalischen Ertrag. Airbus-Industries übernimmt keine keine verbindlichen Verpflichtungen gegenüber Staat und Öffentlichkeit.
• Der Senat spielt nicht mit offenen Karten. Lange wird behauptet, dass die bereits vorhandene Start- und Landebahn in Finkenwerder nicht verlängert werden
muß. Nun, da die Aufhöhung im Mühlenberger Loch abgeschlossen und die
ersten
Produktionshallen errichtet sind,
wird das Planfeststellungsverfahren für die
Startbahnverlängerung
eingeleitet.
• Die Einflugschneise
für die Airbus-Anlage verläuft direkt
über die Wohnviertel
von Blankenese und
Klein-Nienstedten mit Abb.2: Der Übergang vom Sandwatt zum Schlickwatt, Quelle: http://
www.umwelt.schleswig-holstein.de/servlet/is/12826/, Zugriff 07.01.2004
erheblichen Lärmauswirkungen und damit verbundenen Werteinbußen für Grundstücke und Häuser.
• Das betroffene Mühlenberger Loch wurde wegen seiner hervorgehobenen Bedeutung als Flachwasser- und Ruhezone für das kohärente europäische Naturschutzprojekt Natura 2000 gemeldet („FFH-Fläche“) und müsste deshalb einem
besonderen Schutzstatus unterworfen werden.
• Jede Verringerung von Retentionsflächen für Hochwasser erhöht potentielle Sturmflutgefahren in der Unterelberegion und für Hamburg – mit der Folge hoher
öffentlicher Nachfolgekosten durch die Verstärkung von Hochwasserschutzanla-
82
Das Elend der Raum- und Umweltplanung im praktizierten Neoliberalismus
gen. Dieses Argument wird noch wichtiger vor dem Hintergrund einer geplanten
weiteren Vertiefung der Fahrrinne in der Elbe.
• Für diesen Standortausbau gab es – aus hamburgischer Sicht – mindestens eine
sinnvolle Alternative: Ein Kombinationsprojekt aus Hamburg-Finkenwerder und
Rostock-Laage. Dies hätte die Vorteile beider Standorte kombiniert. Das AirbusKonsortium hat durch mehrere öffentliche Statements deutlich gemacht, dass
eine solche Entscheidung möglich gewesen wäre.
Politik und Wirtschaft Norddeutschlands konnten sich nicht dazu durchringen,
eine regional koordinierte Entwicklungspolitik durchzusetzen, wonach in Hamburg
die Entwicklungsarbeiten und in Rostock die Produktion und Endfertigung angesiedelt sein würden. Angesichts einer Arbeitslosigkeit in Mecklenburg-Vorpommern
von ca. 20 % und dem damit verbundenen sozialen Konfliktpotential wäre eine
Kombinationslösung aus norddeutscher Sicht zu bevorzugen gewesen.
Wie schnell sich industriepolitische und raumplanerische Argumente mit nationalstaatlichem Pathos einer wiedererlangten Weltgeltung mit Hamburg im Mittelpunkt
(„Ein zweites Silicon Valley an der Unterelbe“) vermischten und vermischen ließen
und wie leicht sich in Hamburg eine faktische Gleichschaltung aller relevanten Gruppierungen samt Medien vollzog, das war, neben den weiteren Irrationalitäten des
hier zu beschreibenden Falles das eigentliche Ereignis. Das allerdings bis heute nicht
angemessen diskutiert worden ist.
2.31 Das Planfeststellungsverfahren als Voraussetzung für die
Umsetzung der Ausbaupläne
Bevor Airbus sich entscheiden würde, so die Forderung des Konzerns, müssten
die potentiellen Standorte „gültiges Planrecht“ schaffen. Das heißt, dass der Hamburger Senat für die Ausbaupläne im Mühlenberger Loch ein Planfeststellungsverfahren durchführen und abschließen musste.
In einem solchen Verfahren werden alle Genehmigungen, Erlaubnisse, Auflagen
usw., die für ein solches Projekt nach unterschiedlichen gesetzlichen Vorschriften
erforderlich sind, zusammengefasst („Konzentrationswirkung“) und in einem Abwägungsprozess abschließend, d.h. rechtsverbindlich, geregelt.
Die Verfahrenskosten (Planungsverfahren bis zum Planfeststellungsbeschluss)
sowie die baulichen Vorbereitungsmaßnahmen (Teilzuschüttung des Mühlenberger
Lochs, infrastrukturelle Erschließung, naturschutzrechtliche Ausgleichsmaßnahmen)
belaufen sich insgesamt auf ca. 600-800 Mio €., die aus Steuermitteln aufgebracht
werden.
2.32 Ist der Planfeststellungsbeschuss rechtlich sicher?
Die Rechtsgültigkeit des Planfeststellungsbeschlusses ist bis heute nicht abschließend gerichtlich geklärt. Der juristische Streit geht um zwei Komplexe.
Erstens, ob das Vorhaben tatsächlich im Interesse des Gemeinwohls liegt oder ob
es sich um ein privatnütziges Vorhaben eines Industrieunternehmens handelt und
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
83
zweitens darum, ob ein Planfeststellungsbeschluss rechtliche Gültigkeit erlangen
kann, ehe nicht die dazu gehörigen Elemente des naturschutzrechtlichen Ausgleichs
auch als rechtssicher abgeschlossen gelten.
Träfe zu, wie die Gegner behaupten, dass das Vorhaben privatnütziger Natur sei
(also im legitimen Interesse eines Industriekonzerns), gälten schärfere Normen im
Umgang mit Betroffenen. Enteignungen oder enteignungsgleiche Eingriffe (hohe
Lärmbelastung mit Grundstücks- und Immobilienwertverlusten, Schadstoffimmissionen mit Einbussen an Ertragsqualität in der Landwirtschaft) müssten – in gesetzlich
normierten Grenzen - nur im Falle des Gemeinwohls hingenommen werden.
3. Die Schwäche des Staates und die Zuspitzung der kommunalen Konkurrenz als Ursache für Konflikte
Die kommunale und regionale Konkurrenz um jeden Arbeitsplatz, um jeden
Umschlagscontainer und um jede Industrieansiedlung versetzt jeden Investor in
Entzücken, kann er doch die „Standorte“ gegeneinander ausspielen. Wenn der eine
potentielle Standort die Voraussetzungen nicht schafft, dann geht der Investor dahin,
wo die Bedingungen besser sind.
Der Airbus-Chef Humbert hat dies recht deutlich in seinem Interview im Hamburger Abendblatt vom 20.12.1999 zum Ausdruck gebracht, als er meinte: „Die Erweiterung muß in engster logistischer Anbindung an das vorhandene Werksgelände
erfolgen (...) Wenn man das nicht realisiert, hat man keine optimale Bewerbung und
damit weniger Chancen gegenüber den anderen Bewerbern Toulouse, St. Nazaire,
Sevilla und Rostock“ (Hervorh. d. Verf.).
Unterstellen wir, dass wir es uns aus ökologischen Gründen leisten können, der
Welt einen weitgehenden Freibrief zur Ausweitung des globalen Flugverkehrs auszustellen und gehen wir weiter davon aus, dass sich die Beteiligung an der Fertigung am
Großflugzeugbau erfolgreich etabliert und in Zukunft ausweitet
Die patriotische Vision (Handelskammer, HA, Juni 2000), Hamburg zum drittwichtigsten Flugzeugbau-Standort der Welt, neben Seattle und Toulouse, zu etablieren, würde im Erfolgsfall das Obstanbaugebiet „Altes Land“ gründlich umstrukturieren. Damit gingen neben traditionellen Arbeitsplätzen in der Landwirtschaft
(Obstanbau) auch Arbeitsplätze im Freizeit- und Erholungssektor verloren. Das Alte
Land ist traditionelles Ausflugsziel für Kurzzeit- und Wochenenderholung für Hamburg und damit ein bedeutender „weicher“ Standortfaktor, der nicht unwesentlich
zur Attraktivität Hamburgs beiträgt.
Ob eine regionale Arbeitsmarktbilanz auf längere Sicht ebenso positiv bewertet
wird wie die Hamburgische, ist auf längere Sicht alles andere als sicher..Nimmt man
die verschiedenen Äußerungen der Politiker zur Situation und Zukunft des Industriestandortes Hamburg zur Kenntnis, dann ist der häufigst benannte Zusammenhang
der des Wettbewerbs und der regionalen „Konkurrenz“ (Mirow im HA v. 28.12.00,
Bürgermeister Runde im HA v. 29.12.00, Drucksache 17/7460 d. Hmb. Bürgerschaft
zur Hamburger Standort- und Hafenentwicklung vom 20.05.97). Danach muss sich
84
Das Elend der Raum- und Umweltplanung im praktizierten Neoliberalismus
Hamburg für den wachsenden Konkurrenzdruck wappnen, der aus der Globalisierung und der europäischen Integration folgt.
Ob der neue Super-Airbus wirklich alle die sozial- und wirtschaftspolitischen
Wohltaten für die Region Hamburg und Norddeutschland bringen wird oder nicht,
wird so zu einem Hoffnungs- bzw. Spekulationsfall. An keiner Stelle ist zu vernehmen, dass sich die Industrie zu nachprüfbaren Gegenleistungen verpflichtet.
3.1 Das politisch-administrative System beschneidet sich selbst seiner
Entscheidungsmöglichkeiten
Fachwissenschaftlicher Sachverstand in Form von Gutachten- und Beratungsaufträgen wird immer weniger dafür eingesetzt, eine möglichst klare Risikoabschätzung
erarbeitet zu bekommen. Niemand geringeres als der Sachverständigenrat für Umweltfragen äußerte sich im Jahresgutachten 1994 zu den „Experten in der Sache“
(ebda. S. 160, insbes. Ziff. 383), der sehr gut in den hier skizzierten Zusammenhang
passt. Danach ist das Expertenwissen nämlich im Bewusstsein der Öffentlichkeit „in
eine tiefgreifende Krise“ geraten. „Der Experte gilt für viele eben nicht mehr als der
unabhängige Sachverständige, sondern vermittelt bei ihnen eher die Vorstellung des
Interessenvertreters, der sich zum Erfüllungsgehilfen bestimmter vorgefasster gesellschaftlicher, ökonomischer oder politischer Zielsetzungen macht. […] Unter solchen
Voraussetzungen kann es zwischen Experten und Entscheidungsträgern zu durchaus
fragwürdigen Verbindungen kommen. Der Experte wird dann vom Entscheidungsträger nicht nach Kompetenz, sondern nach vermutetem Konsens ausgesucht“.
In unserem Hamburger Beispiel hält bislang der bewährte Verbund einschlägiger
Koalitionen aus Parteien, Gewerkschaften, Unternehmensverbänden und Experten.
Das gesamte Beziehungsgeflecht aus politischen und ökonomischen Interessengruppen und den damit verbundenen Experten und Expertinnen, die Geschichte der
Region, deren Abhängigkeiten von nationalen und internationalen ökonomischen
Trends aufzuarbeiten und darzustellen ist an dieser Stelle ebenso wenig möglich, wie
die Präsentation einer abgeschlossenen planungstheoretischen Analyse der Situation,
die etwa der Systematik einer Politikfeldanalyse (Schubert/Bandelow 2003) zu folgen
hätte.
Bereits jetzt lässt sich jedoch feststellen, dass der Bau des Super-Airbus und seiner
militärischen Entsprechung als strategisches Projekt eines international agierenden
Konzerns gewertet werden muss. Weiterhin zeigt sich, dass die kommunale Planungs- und Entscheidungsautonomie und die daraus folgenden Interessenstrukturen
der lokalen und regionalen Akteure ein kooperatives staatliches Handeln faktisch
unterbinden. Kommt noch als Folge der allgemeinen „Deregulierung“ und einer
konjunkturellen (?) Krise eine allgemeine Knappheit öffentlicher Finanzmittel hinzu,
verwundert es nicht, wenn die kommunale Politik zu den Mitteln der Festivalisierung
und des Stadtmarketings greift und potentielle Großprojekte, wie beschrieben, für
die eigenen Zwecke zu instrumentalisieren versucht. In Hamburg scheint seit einiger
Zeit wenigstens das zu gelingen: Unabhängig von den tatsächlich nachweisbaren ma-
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
85
teriellen Resultaten erscheint die Stadt „erfolgreich“ an ökonomischer und kultureller
Bedeutung und damit an aktiver Bevölkerung zu wachsen.
4. Schlussfolgerungen für die Planungstheorie
Kommen wir abschließend auf die eingangs aufgeworfenen Fragen zurück. Die
Rostock-Variante wäre eine Alternative gewesen, für die aus struktur- und arbeitsmarktpolitischen Gründen einiges gesprochen hätte und für die – dem Vernehmen
nach – keine naturschutzrechtlichen Verrenkungen nötig gewesen wären.
Damit wären wahrscheinlich zwar höhere Organisations- und Managementkosten
für Airbus entstanden, ob diese aber höher gewesen wären als die jetzt öffentlich aufgebrachten Infrastrukturaufwendungen für die Ansiedlung im Mühlenberger Loch,
müsste überprüft werden. Dass damit in einer Region, die unter ganz erheblichen
strukturellen Defiziten leidet, ein Entwicklungsimpuls gesetzt worden wäre, kann
konstatiert werden, selbst wenn man aus anderen Gründen die Ausweitung des Flugzeugbaus ablehnt.
Ebenfalls nicht beantwortet werden kann, ob Airbus-Industries sich überhaupt
auf die regionalpolitisch sinnvollere Variante eingelassen hätte, wenn die öffentliche
Hand (vertreten vom Bund, den beteiligten Ländern und Hamburg) nur entschieden
genug darauf bestanden hätte. Fest steht, dass sich die „Politik“ nicht getraut hat, ein
solches Alternativ-Szenario auf die Tagesordnung zu setzen.
Wie die Arbeitsplatzbilanzen aussehen (werden), kann auch noch nicht beurteilt
werden - niemand weiß, ob und in welchem Umfang tatsächlich Arbeitsplätze in
der Landwirtschaft (Obstbau) im Freizeit- und Erholungssektor wegfallen werden
und/oder ob diese Verluste durch die neuen industriellen Arbeitsplätze tatsächlich
überkompensiert werden.
Ein ähnliches Prognosedilemma ergibt sich aus ökologischer Sicht: Ob der Ausbau sich negativ auf die Flussdynamik auswirkt, mit Folgen für Flora und Fauna und
zunehmender Hochwassergefahren für Hamburg, kann nicht eindeutig beantwortet
werden. Niemand würde bestreiten, dass Hochwasserrisiken steigen – vor allem in
Verbindung mit der avisierten erneuten Vertiefung der Fahrrinne der Elbe.
Dass die Zunahme des Flugverkehrs global-ökologisch schädlich ist, bleibt unbestritten - nur, darauf nimmt momentan niemand Rücksicht. Die europäische Antwort
argumentiert mit Wirkungsgraden. Danach sind die Airbus-Flugzeuge technologisch
so hochwertig, dass sie bei gleicher Leistung deutlich weniger umweltbelastend wirken als die Konkurrenz.
In letzter Konsequenz kann ein solches Projekt nur normativ entschieden werden. Etwa wie folgt: Als Staat fördern wir das Projekt nur, wenn eine aktive Regionalförderung
damit verbunden ist, die auch die strukturschwachen Regionen in Mecklenburg-Vorpommern mit
einschließt. Wir wollen für die interessierte Industrie zu Verhandlungslösungen kommen, wonach
die Verwendung öffentlicher Mittel am gesamträumlichen Ergebnis gemessen/bewertet wird und
die nutznießende Industrie Subventionen rückerstattet, wenn versprochene Ziele nicht verwirklicht
werden. (Das derzeit zu beobachtende Desaster um die Autobahn-Maut zeigt, wie an-
86
Das Elend der Raum- und Umweltplanung im praktizierten Neoliberalismus
gesichts bestehender Marktmacht der beteiligten Konzerne selbst Bundesministerien
hilflos agieren – was kann dann von der Durchsetzungskraft kommunaler Entscheidungsträger erwartet werden?).
Nun wird es grundsätzlich. In der Geschichte der Raumplanung in Deutschland,
sagen wir seit etwa Mitte der 1970er Jahre, setzte sich der allgemeine Konsens durch,
wonach die Ansätze einer umfassenden staatlichen/gesellschaftlichen Entwicklungsplanung zugunsten einer Schritt-für-Schritt-Strategie im Rahmen kleinerer Projekte
aufgegeben werden müssten. Angesichts der hier dargestellten Konfliktlagen zwischen kommunalen und regionalen Akteuren und Weltkonzernen stellt sich die
planungstheoretisch grundsätzliche Frage danach, ob und wie Raumplanung/Wirtschaftsplanung als aktives staatliches/gesellschaftliches Handeln ausgestaltet werden
muss.
Vergleiche hinken bekanntlich, aber sie helfen, Gedankengänge zu illustrieren:
Aus der Geschichte der Natur- und Technikwissenschaften gibt es zahllose Beispiele
über Forschungsansätze und gescheiterte Experimente. Ein fehlgeschlagener Versuch
animiert die Forschergemeinde zu erneuten Anläufen – bis ein Problem erfolgreich
gelöst worden ist (die Geschichte über die Lösung des Fermatschen letzten Satzes
bietet spannende Anschauung für diese Feststellung, vgl. Singh 1998).
Wenn wir zur Kenntnis nehmen müssen, dass Probleme der Regionalentwicklung, der ökologischen und sozialen Nachhaltigkeit, der intra- und intergenerativen
Gerechtigkeit usw. sich aus strukturellen Gründen (Stichwort: Marktversagen) nicht
auf dem kooperativen oder Verhandlungsweg lösen lassen, dann müssen wir nach
praktikablen und umsetzungsfähigen Modellen für die Planung suchen.
So wie für die Lösung des Fermatschen Problems nach zahllosen vergeblichen
Anläufen ganz neue Zahlentheorien entwickelt werden mussten (Singh 1998), muss
für die gesellschaftliche Planung und Steuerung nach neuen theoretischen, methodischen und praktisch-politischen Ansätzen gesucht und damit solange experimentiert
werden, bis die Probleme besser gelöst werden können, als zur Zeit.
Auf diesem Weg gibt es das Risiko des „Scheiterns“: Z .B. nutzt Airbus seine
politisch-ökonomische Macht und investiert nicht mehr in Deutschland, oder die
Rostock-Planung beruht auf falschen Annahmen und erweist sich als mangelhaft.
Die Komplexität der Teilsysteme Natur und Gesellschaft jeweils für sich und erst
recht in der wechselseitigen Verschränkung als Verhältnis von Gesellschaft und Natur haben dazu geführt, dass heutige Planungswissenschaft und –theorie gar nicht
mehr mit dem Anspruch auftritt, dieses Verhältnis im Sinne eines normativen Ziels/
Leitbilds auch regulieren zu wollen. Die „freie“, möglichst unregulierte Marktwirtschaft hat sich – vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit dem realen Sozialismus
– als paradigmatische Grundlage aller weiteren Überlegungen durchgesetzt. Die modernen diskursorientierten Planungsmodelle, die sich Transaktionskosten senkend
und Handlungseffizienz steigernd auf Kontextsteuerungen, Verhandlungsstrategien
und Regionalisierungsstrategien konzentrieren, verlieren den Grundwiderspruch aus
dem Blick: Eine Ökonomie, die nur funktioniert unter sich verschärfenden Konkurrenzbedingungen und nur angesichts einer permanenten Androhung der ökonomi-
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
87
schen und dann auch existenziellen Vernichtung, wird aus sich heraus die Probleme
und Konflikte nicht lösen können. Dies war eine der Erkenntnisse der Phase der
„Planungseuphorie“, und dies war der wichtigste Anlass dafür, alle Theoriekonzepte,
die an der Überwindung dieses Grundwiderspruchs arbeiteten, zunächst wissenschaftsimmanent auszuhebeln.
Denn wer würde die immensen systemischen Probleme bestreiten, die sich auf
diesem Wege auftun – auch hier böten die Erfahrungen des realen Sozialismus reichlich Anschauungsmaterial. Nach der wissenschaftlichen Kritik folgte die sich demokratietheoretisch verkleidende Kritik, die den Anspruch einer rationalen Regulierung
des Mensch-Natur-Verhältnisses vorläufig endgültig beerdigen half.
In der Habilitationsschrift von Görg (2003) findet sich der Satz von der „Refeudalisierung“ der Politik in unserer Zeit: Verhandlungsstaat, Kontextsteuerung und
Deregulierung bedeutet eben nicht mehr Demokratie und Teilhabe für alle, sondern
„competition of the fittest“ auf allen Planungsebenen.
Das Leitmotiv für die Erörterung unserer Thematik soll mit folgenden Anmerkungen skizziert werden:
1. Die Ausdifferenzierung gesellschaftlicher, raumstruktureller und ökologischer
Probleme nimmt mit dem Wirtschafts- und Sozialstrukturwandel zu. Solche Prozesse planerisch steuern zu wollen, erfordert, wenn die Eingriffe nicht destruktiv
wirken sollen, ein adäquat ausdifferenziertes Eingriffsinstrumentarium. Man muss
also wissen, mit welchen Methoden und Instrumenten „geplant und gesteuert“
werden soll/kann – die Erfahrungen und Ergebnisse der Planungsforschung der
letzten 30 Jahre sind wichtig, reichen aber nicht aus.
2. Verhandlungs-, Konsens- und Partizipationsstrategien sind wichtige Elemente
einer demokratischen Planungskultur – die angesichts der politisch-ökonomischen Rahmenbedingungen selbst gefährdet sind. Man muss für ihre Erhaltung und
Weiterentwicklung arbeiten.
3. Die Gesetze der internationalen Konkurrenz setzen sich auch auf lokaler Ebene
durch und zwingen die handelnden Akteure zu einem bestimmten Verhalten.
Diese strukturellen Rahmenbedingungen lassen sich nicht durch Konsens- und
Partizipationsstrategien überwinden. Es bedarf einer neuen „Planungskultur”, mit
der den international „entfesselten” Marktkräften ein normativer Rahmen gesetzt
wird. Damit sind lokale und regionale Akteure überfordert.
4. Wissenschaftliches Wissen (Expertenwissen) über die Möglichkeiten einer effizienten Planung und Steuerung räumlicher Nutzungsstrukturen entsprechend
den Nachhaltigkeitszielen der Rio-Konvention bedarf der gründlichen interdisziplinären Analyse der Funktions- und Wirkungsweisen des Wirtschafts- und
Sozialstrukturwandels, um zu tragfähigen Lösungskonzepten und Arbeitsmethoden finden zu können.
5. Die dafür erforderlichen Forschungs- und Praxisprojekte müssen unabhängig von
den unmittelbaren Notwendigkeiten lokaler/regionaler Entscheidungssituationen
bearbeitet werden können. Es fällt der universitären „Planungstheorie“ als Auf-
Das Elend der Raum- und Umweltplanung im praktizierten Neoliberalismus
88
gabe zu, diese Forschungs- und Experimentierarbeiten zu übernehmen – denn
wer sonst sollte die dafür erforderliche Unabhängigkeit aufbringen können.
Anmerkungen
1
2
3
Kritische Planer und Planerinnen ärgern sich an dieser Stelle: Auf die potentiellen
Probleme wurde vor Jahren aufmerksam gemacht und diese wie gewohnt nicht
zur Kenntnis genommen.
„Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die
Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend
zu revolutionieren. Unveränderte Beibehaltung der alten Produktionsweise war
dagegen die erste Existenzbedingung aller früheren industriellen Klassen. Die
fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung
aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet
die Bourgeoisepoche vor allen anderen aus. Alle festen eingerosteten Verhältnisse
mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden
aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen
sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit
nüchternen Augen anzusehen.
Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt
die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel. Überall muß sie sich einnisten, überall
anbauen, überall Verbindungen herstellen. Die Bourgeoisie hat durch ihre Exploitation des Weltmarkts die Produktion und Konsumption aller Länder kosmopolitisch gestaltet. Sie hat zum großen Bedauern der Reaktionäre den nationalen
Boden der Industrie unter den Füßen weggezogen. Die uralten nationalen Industrien sind vernichtet worden und werden noch täglich vernichtet. Sie werden
verdrängt durch neue Industrien, deren Einführung eine Lebensfrage für alle
zivilisierten Nationen wird, durch Industrien, die nicht mehr einheimische Rohstoffe, sondern den entlegensten Zonen angehörige Rohstoffe verarbeiten und
deren Fabrikate nicht nur im Lande selbst, sondern in allen Weltteilen zugleich
verbraucht werden.
An die Stelle der alten, durch Landeserzeugnisse befriedigten Bedürfnisse treten
neue, welche die Produkte der entferntesten Länder und Klimate zu ihrer Befriedigung erheischen. An die Stelle der alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander. Und wie in der materiellen, so auch in der
geistigen Produktion. Die geistigen Erzeugnisse der einzelnen Nationen werden
Gemeingut. Die nationale Einseitigkeit und Beschränktheit wird mehr und mehr
unmöglich, und aus den vielen nationalen und lokalen Literaturen bildet sich eine
Weltliteratur“ z.B.: Informationen zur politischen Bildung (Heft 226), Neoliberale Revolution
und wirtschaftliche Integration in den neunziger Jahren
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
4
5
6
89
Bericht aus der Humanité vom 23.10.1998: Rencontre Lafontaine- Strauss-Kahn
– Les ministres allemand et français des Finances ont annoncé hier un renouveau
de la coopération franco-allemande, (…). La France et l‘Allemagne préparent ainsi
un document commun sur la réforme du système financier international“. – Wie
wir wissen, trat Minister Lafontaine kurz danach spektakulär von seinen Ämtern
zurück, die erhoffte Kooperation kam nicht zustande.
Eine Übersicht über alle Argumente finden sich unter http://www.schnittgerorgel.de
/html/ presse_2.html
Im Anhang befindet sich ein Artikel vom 3.4.2001, der einen Überblick gibt über
diesen Problemkomplex.
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Weingart, P. (2001): Die Stunde der Wahrheit) Zum Verhältnis der Wissenschaft zu
Politik, Wirtschaft und Medien in der Wissensgesellschaft, Velbrück
Anhang
Hamburger Abendblatt vom 3. April 2001:
Macht sich der Airbus je bezahlt? - Bis zu 1,3 Milliarden Mark investiert die Stadt in den A380.
Aber die in Hamburg vorgenommenen Arbeiten an dem Flugzeug machen nur fünf Prozent seines
Wertes aus.
Im Mühlenberger Loch wird gebaut - doch die Diskussion geht weiter. Vor allem
die Tatsache, dass die Stadt bis zu 1,3 Milliarden Mark für die Erweiterung der Airbus-Produktionsflächen, für Deiche, Kaianlagen und ökologische Ausgleichsflächen
aufbringen muss, wirft eine Frage auf, die inzwischen auch den Rechnungshof interessiert: Macht sich diese Investition je bezahlt?
Zweifel daran sind berechtigt. Denn: Alle in Hamburg vorgenommenen Arbeiten am Super-Airbus A380 machen gerade mal fünf Prozent seines Wertes aus. Zu
finden ist diese Zahl in dem von der Wirtschaftsbehörde in Auftrag gegebenen Gutachten der Prognos GmbH. Es ist Grundlage für das Planfeststellungsverfahren und
Gerichtsbeschlüsse.
Gegner des A380-Projekts im Mühlenberger Loch argumentieren schon länger
mit diesen fünf Prozent. Ein derart geringer Anteil des Hamburger Werks an der
Fertigung des A380 werde weder zu den versprochenen 2000 Arbeitsplätzen im Werk
noch zu den weiteren 2000 in Zulieferbetrieben führen, sagen sie.
Auch beim Landesrechnungshof macht man sich offenbar Gedanken über das
Verhältnis von Kosten zu Nutzen. „Es laufen Überlegungen ob und wieweit wir
prüfen werden“, sagt sein Sprecher Wolfgang Buhk. So wie bei anderen Behörden
sei das allerdings nicht möglich. Grund: Die von der Wirtschaftsbehörde eigens für
die Werkserweiterung gegründeten Projektierungs- und Realisierungsgesellschaften,
die sich mit der Herrichtung der Flächen und deren Vermietung an die Airbus-Bauer
befasst, seien als GmbHs privatrechtlich organisiert. Dafür aber müsse der Rechnungshof mit dem Senat eine Prüfungsvereinbarung treffen, sagt Buhk.
Wie gering der in Hamburg am A380 entstehende Wertanteil ist, mögen auch
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
91
diese Zahlen verdeutlichen: Danach werden - so ist bei Airbus zu hören - die fünf
Prozent nämlich nicht vom Verkaufspreis des Fliegers, rund 220 Millionen Dollar,
berechnet, sondern vom Herstellungspreis ohne die Triebwerke. Da die Triebwerke
allein etwa ein Viertel des Flugzeugwertes ausmachen und zwischen Verkaufspreis
und Herstellungspreis der Gewinnanteil liegt, dürften die fünf Prozent weniger als
acht Millionen Dollar (etwa 16 Millionen Mark) bedeuten. Das heißt: Wenn die Produktion 2006 mit 16 Maschinen im Jahr beginnt, wird in Hamburg ein Wert von etwa
260 Millionen Mark geschöpft. Ein Jahr später mit 34 Maschinen dürften es etwa 545
Millionen Mark sein.
Dennoch: Die Frage, ob diese Zahlen 2000 neue Arbeitsplätze bedeuten, hat
Prognos zuletzt Ende Dezember in einer Plausibilitätsprüfung bejaht. Ausgangsannahme der Berechnung war, dass ein A380-Arbeitsplatz denselben Produktionswert
erwirtschaftet wie ein durchschnittlicher Arbeitsplatz in der deutschen Luft- und
Raumfahrt-Branche. Dabei wurde allerdings eine Basisproduktionsrate von 46 Maschinen angenommen und die Aussicht, dass bei entsprechendem Verkaufserfolg
auch 92 Einheiten pro Jahr realistisch seien.
Mögen die Arbeitsplatzzahlen noch optimistisch stimmen, die in Hamburg verbleibenden Steuereinnahmen aus der Lohn- und Einkommensteuer der zusätzlichen
Arbeitsplätze im Werk Finkenwerder sind laut Prognose eher mager: 1,6 Millionen
Mark bei der Basisproduktion von 46 Maschinen, 2,9 Millionen Mark bei Produktionsverdopplung. 60 Prozent der Airbus-Mitarbeiter pendeln über die Landesgrenze,
insbesondere nach Niedersachsen. Unternehmensteuern dürften gar nicht anfallen,
Sitz der Konzernzentrale ist Amsterdam.
Und auch diese Zahlen relativieren die 2000 A380-Arbeitsplätze im Finkenwerder
Werk: In ganz Deutschland sind nach Airbus-Angaben direkt 47 000 Menschen mit
dem Super-Vogel beschäftigt, in Europa sind es 145 000 und weltweit 225 000 Menschen. 30 Prozent des Flugzeugwertes, sagt ein Hamburger Airbus-Sprecher, würden
in den USA hergestellt. Neuerdings sollen sich auch die Japaner zum Beispiel für die
Lieferung von Tragflächen interessieren.
Die 35 Prozent, mit denen Deutschland am Bau des A380 beteiligt ist, verteilen
sich auf sieben Standorte: Hamburg, Bremen, Nordenham, Stade, Varel, Buxtehude
und Laupheim. Wenn Hamburgs Anteil an der Wertschöpfung des A380 fünf Prozent beträgt, ist das genau der Durchschnitt. Das bedeutet aber: Es muss auch einen
oder mehrere Standorte geben, deren Anteil größer ist als der von Hamburg.
Und das offenbar ohne die von Senat und Bürgerschaft getätigte Milliarden-Investition. (scho)
92
Luftverkehrsinfrastrukturen
Charlotte Halpern
LUFTVERKEHRSINFRASTRUKTUREN ZWISCHEN
ÖKONOMISCHEM WETTBEWERB UND POLITISCHER
INTEGRATION
Das Beispiel des Flughafens Paris - Charles de Gaulle
Wie kann man heutzutage große Verkehrsinfrastrukturprojekte in Angriff nehmen
und ausgestalten in Gesellschaften, von denen es heißt, sie seien „nicht steuerbar“?
Wie können verschiedene Interessen und Investitionen integriert werden, ohne dass
das Projekt seine Substanz verliert oder nach einem zehn Jahre währenden Konflikt
schlichtweg beerdigt wird? Diese Fragen bereiten den Entscheidern und Trägern
großer Verkehrsinfrastrukturprojekte wahres Kopfzerbrechen. Unter dem fortwährenden Druck der internationalen und europäischen Wettbewerbsfähigkeit hat
sich für alle europäischen Staaten die Notwendigkeit erwiesen, ihre Transport- und
Kommunikationsinfrastrukturen zu modernisieren oder auszubauen, um einen guten
Standort innerhalb der internationalen oder europäischen Transport- und Kommunikationsinfrastruktur zu bieten.
Die Projekte der Hochgeschwindigkeitstrassen für die Bahn, der Flughäfen oder
der Hafeninfrastrukturen breiten sich über das Gebiet der EU aus und werden als
„Tore“ zum Rest der Welt bezeichnet, die hochmobile Personen-, Güter- und Kapitalströme aufnehmen können.
Die Ausgestaltung und Umsetzung dieser Projekte und insbesondere ihre geographische Verortung waren vielfach Auslöser von Konflikten und Kontroversen zwischen Projektträgern und lokaler Bevölkerung. Diese Konflikte sind wahrlich kein
neues Phänomen und spiegeln die Spannungen wider, die durch die wachsende Kluft
zwischen dem Globalen und dem Lokalen entstanden sind. Ihr inzwischen systematischer und wiederkehrender Charakter sowie die neuerdings wohlwollende Einstellung der nationalen öffentlichen Meinungen gegenüber Bewegungen, die früher als
egoistisch und partikularistisch gegolten hätten, weisen darauf hin, dass ein neues
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
93
Kräfteverhältnis zwischen den vorhandenen Akteuren existiert.
Dieser Beitrag untersucht die Transformation öffentlichen Handelns in den
europäischen Staaten bei der Ausgestaltung und Umsetzung großer Verkehrsinfrastrukturprojekte. In diesem Zusammenhang werden zwei Hypothesen entwickelt.
Die Formen der Ausgestaltung und Umsetzung öffentlichen Handelns haben sich
unter der Einwirkung der Privatisierung der großen Verkehrsunternehmen und der
wirtschaftlichen Liberalisierung gewandelt (1). Die Finanzierung und der Betrieb von
Verkehrsinfrastrukturen erfordern in der Tat die zunehmende Intervention privater
Akteure entlang des gesamten Entscheidungsprozesses und tragen damit zusätzlich
zum Verantwortungswirrwarr zwischen den öffentlichen und projektbetreibenden
Behörden bei.
Die Vervielfältigung von Regierungsebenen in allen EU-Staaten sowie die Machtzunahme nationaler Subsysteme beeinträchtigen das politische und technische Monopol der nationalen oder regionalen Regierungen in Hinblick auf die Ausgestaltung
großer Verkehrsinfrastrukturprojekte (2). Die zunehmende Politisierung der Debatten
um diese Projekte zeigt die Schwächung eines Legitimierungs- und Rechtfertigungsentwurfs, der traditionell von den öffentlichen Behörden geltend gemacht wurde und
allein auf technischen und ökonomischen Elementen basierte. Jeder dieser Aspekte
wird kurz im Lauf der folgenden Abschnitte entwickelt, bevor ein empirischer Fall
analysiert wird: das Projekt der Erweiterung des Flughafens Paris - Charles de Gaulle
zwischen den Jahren 1991 und 2002.
1. Internationalisierung, Privatisierung, Dezentralisierung: das
fragwürdige Allgemeininteresse
Die Hypothese, dass sich die Mechanismen öffentlichen Handelns im Bereich der
Verkehrsinfrastrukturen verändert haben, stellt den Ausgangspunkt unserer Analyse
dar. In der Tat beeinflusst der politische und institutionelle Rahmen, in dem große
Verkehrsinfrastrukturprojekte umgesetzt werden, die Strategien, die von den Akteuren eingesetzt werden, um den betreffenden Entscheidungsprozess zu beeinflussen.
Außerdem haben sich die Vorstellungen, die mit dem Sektor verbunden sind, gleichermaßen im Verlauf der vergangenen Jahrzehnte weiterentwickelt. Das öffentliche
Vorgehen, das von den nationalen Behörden traditionell zur Legitimation großer
Verkehrsinfrastrukturprojekte angewandt wurde, scheint dem neuen Gleichgewicht
im Aushandlungsprozess nicht mehr zu entsprechen.
Dieses neue Gleichgewicht während des Entwicklungsprozesses basiert auf einem
veränderten Kräfteverhältnis zwischen öffentlichem und privatem Sektor und der
Zivilgesellschaft, wenn die Frage nach dem allgemeinen Interesse verhandelt wird.
Dies lässt sich anhand der folgenden drei Aspekte erklären: der Rolle der nationalen
und regionalen Verwaltungen bei der Definition des Allgemeininteresses, den Beziehungen zwischen eben diesen Verwaltungen und dem Transportsektor sowie schließlich den Zugangsmöglichkeiten zum Entscheidungsprozess, über die Projektgegner
verfügen.
94
Luftverkehrsinfrastrukturen
1.1. Wenn sich das Allgemeininteresse mit dem Monopol von Fachwissen
und Information verbindet: die Ära der Technokraten
Der kognitive Rahmen, in dem die nationalen Verkehrsinfrastrukturpolitiken bis
vor kurzem entwickelt wurden, war von den Gegebenheiten der Nachkriegszeit bestimmt. Die politischen Entscheidungen, deren Effekte bis heute spürbar sind, sollten die Entwicklung und die Modernisierung der Verkehrsinfrastruktur mit Hilfe des
zeitgenössischen technologischen Fortschritts ermöglichen. Dieser bewusste Ansatz
nahm trotz extrem unterschiedlicher politischer und institutioneller Kontexte in allen
EU-Staaten ähnliche Formen an (vgl. Montricher 1995). Ganz am Anfang stand der
Vorrang eines Allgemeininteresses, das in den Dienst der harmonischen Entwicklung des nationalen Territoriums gestellt und durch die zentrale Rolle der nationalen
– bzw. im Fall der Föderalstaaten regionalen – Verwaltungen gewährleistet wurde.
Diese Schlüsselrolle erklärt sich durch die Einflussmöglichkeiten der öffentlichen
Akteure oberhalb des Entscheidungsprozesses: der Filtermechanismus in dem Moment, in dem ein Problem auf die Tagesordnung gesetzt wurde, die Zuordnung der
Anträge auf öffentliche Intervention sowie die Platzierung intersektoraler Netzwerke, deren Langlebigkeit im Großen und Ganzen die der Politik überschreitet und den
Fortbestand intersektoraler Beziehungen auch mit dem privaten Sektor erlaubt.
Die Existenz privilegierter Beziehungen zwischen der öffentlichen Hand, den
großen nationalen Verkehrsunternehmen und den Infrastrukturbetreibern während
des gesamten Entwicklungsprozesses dieser großen Projekte stellt ein zweites Kennzeichen des Gleichgewichts dar, das die Nachkriegszeit vererbt hat. Die allergrößte
Mehrheit dieser Akteure wurde durch den öffentlichen Sektor gestärkt, sei es, weil
ihre Entwicklung als strategisch für die Entwicklung des nationalen Gebietes angesehen wurde, sei es, weil es sich um einen noch instabilen Sektor im Stadium der
Strukturierung handelte (vgl. Muller 1989). Die Entscheidungen, die diese Akteure
im Bereich der Verkehrsinfrastruktur trafen, waren größtenteils abhängig von den
Zielen, die durch die nationalen oder regionalen Autoritäten festgelegt wurden, und
zwar entweder aus Finanzierungsgründen oder aus Gründen, die mit der Art der
Beziehung zwischen den öffentlichen Einrichtungen und ihrer jeweiligen administrativen Vorrangstellung zusammenhingen. Diese „Logik des Arsenals“ (vgl. Cohen
1992) führte die Behörden dazu, einen großen Teil ihrer Kompetenzen im Bereich
des technischen Fachwissens und der Information an die nationalen „Günstlinge“
zu delegieren (vgl. Hayward u. a. 1995). Auf diese Weise führten die zunehmenden
Querverbindungen zu der Entstehung eines Entscheidungszusammenhangs, in dem
Behörden, Infrastrukturbetreiber und nationale Transportunternehmen in der Lage
waren, ihre Strategien im Namen des Allgemeininteresses (als politische Legitimation) und der technologischen Innovation (als technische Legitimation) auf den Weg
zu bringen.
In einem solchen System öffentlichen Handelns, in dem die politische Legitimität
mit einer technischen Legitimität gekoppelt wurde, verfügten die Gegner der Verkehrsinfrastrukturprojekte über nur wenige institutionalisierte Zugangsmöglichkei-
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
95
ten zum Entscheidungsprozess (vgl. Feldman 1985). In jedem Fall erforderten diese
Zugangsmöglichkeiten, ohne auf die Details eingehen zu wollen, wichtige organisatorische und finanzielle Ressourcen, z. B. wenn es vor Gericht ging, oder einen
privilegierten Zugang zu verschiedenen Druckmechanismen wie den Medien oder
den Abgeordneten von regionalem oder sogar nationalem Format (vgl. Nelkin 1974,
Rucht u. a. 1984). Deshalb gelang es, abgesehen von einigen Erfolgen, zahlreichen
AnwohnerInnen und anderen lokalen Projektgegnern nicht, ihre Stimmen hörbar zu
machen oder im gleichen Maße wie die ausreichend legitimierten Akteure an die Öffentlichkeit zu treten, um ihr Partizipationsrecht bei der Entscheidungsfindung zur
Verkehrsinfrastruktur durchzusetzen.
1.2. Wenn das ökonomische Interesse das Allgemeininteresse ersetzt:
Die Ära der Betreiber
Einige interne und externe Faktoren haben wesentlich dazu beigetragen, dass die
Zentralität des nationalen institutionellen und politischen Rahmens abgenommen
und das öffentliche Handeln im Bereich Verkehrsinfrastruktur sich gewandelt hat.
Die Auffassungen, die mit diesem Bereich verbunden sind, haben sich weiterentwickelt: Die Verkehrsinfrastruktur dient zwar immer noch den internationalen und europäischen Ambitionen der nationalen Behörden, aber gegenwärtig widerspricht ihre
Entwicklung regelmäßig dem Ziel einer harmonischen Entwicklung des nationalen
Territoriums. Die Globalisierung der Tauschbeziehungen und die Internationalisierung der Wirtschaft haben die Rekonzentration des sekundären und tertiären Sektors in der Nähe von Verkehrsinfrastrukturen mit europäischer oder internationaler
Reichweite vorangetrieben, so dass die anderen Gebiete, die zwar durchquert, aber
nicht versorgt werden, mehr und mehr durch eine „Tunnelwirkung“ Einbußen hinnehmen müssen (vgl. Veltz 1997). Die Zunahme der Konkurrenz zwischen den europäischen Staaten und auch innerhalb der nationalen Grenzen hat zu der Entstehung
bzw. Verstärkung neuer räumlicher Ungleichheiten im Hinblick auf die Profite, die
durch eine erfolgreiche Bindung internationaler hochmobiler Investitionen zustande
kommen, geführt.
Dieser Prozess der Rekonzentration um die großen multimodalen Verkehrsdrehscheiben herum wird durch die Strategien der nationalen Verkehrsunternehmen oder
der großen internationalen Firmen verschärft. Die große Mehrheit der nationalen
Verkehrsunternehmen wurde oder wird unter dem Druck des internationalen Wettbewerbs mit Hilfe der Institutionen der Europäischen Gemeinschaft, und besonders
der mächtigen Generaldirektion, privatisiert. Alle großen Verkehrsunternehmen
haben ihre internen Strukturen und ihre jeweiligen Strategien allmählich angepasst:
Interne Hierarchien und betriebliche Personalsystem wurden gestärkt, eigene Entwicklungsstrategien ausgearbeitet etc. Gleichzeitig hat die öffentliche Hand begonnen, neue Formen der Finanzierung von Verkehrsinfrastrukturen zu prüfen, um den
Bau und den Betrieb zu optimieren. Diese Strategie hat die Ausbreitung hybrider
Strukturen, die mit der Organisation der Rentabilität und der Attraktivität der be-
96
Luftverkehrsinfrastrukturen
troffenen Infrastruktur befasst sind, bewirkt. Bahnhöfe, Flughäfen oder Häfen sind
zu autonomen ökonomischen Entwicklungspolen geworden, die häufig wenig in ihre
Umgebung integriert sind. Diese neue Entwicklung hat die Beziehungen und die
Gewohnheiten umgewälzt, die bisher den öffentlichen und privaten Sektor in der
Finanzierung und dem Betrieb der großen Verkehrsinfrastrukturen miteinander verweben konnten, und zur Verschleierung der Verbindungen beigetragen, die zwischen
den Behörden und ihren alten „Günstlingen“ aufrecht erhalten worden sind (vgl.
Hayward u. a. 1995).
Die Umverteilung von Macht zwischen öffentlichem und privatem Sektor bei der
Gestaltung und dem Betrieb großer Verkehrsinfrastrukturprojekte wird begleitet von
einer wachsenden Fragmentierung öffentlicher Akteure. Obgleich der industrielle
Sektor im Allgemeinen und die Verkehrsinfrastruktur im Besonderen als Apanage
den nationalen Behörden verblieben sind (vgl. Wright/Cassese 1996), unterliegen sie
von jetzt an einem supranationalen institutionellen und regulativen Rahmen. Diese
Reglementierungen betreffen nicht mehr nur die technischen Aspekte der Infrastruktursysteme, sondern haben auch Verfahren und Instrumente mit sich gebracht,
die nationalen Traditionen gelegentlich zuwider laufen. Neben der Privatisierung
bestimmter nationaler Unternehmen, der oben erwähnten Günstlinge, oder der
Ausbreitung hybrider Strukturen wie public private partnerships haben diese Reglementierungen bestimmte intranationale Ebenen gestärkt und einige Regeln in Bezug auf
Transparenz und Information der BürgerInnen eingeführt. Diese supranationalen
Regeln, verbunden mit Dezentralisierungstendenzen, die in allen europäischen Staaten zu beobachten sind, haben es den intranationalen Regierungsebenen erlaubt,
Stück für Stück Partizipationsmöglichkeiten bei der Entwicklung großer Infrastrukturprojekte mit internationaler oder europäischer Reichweite zu schaffen.
Diese Transformationsprozesse neueren Datums tragen zu der Infragestellung der
Art und Weise öffentlichen Handelns im Bereich der Verkehrsinfrastruktur bei, die
vorher um die nationalen Autoritäten zentriert waren. Die Akteure verfügten über
ein Monopol in Bezug auf Fachwissen und technische Informationen, das über ihre
administrative Vorreiterrolle hinausging, und legitimierten ihre Strategien im Namen
des allgemeinen Interesses. Die fortschreitende Autonomisierung der großen Verkehrsinfrastrukturen und der Infrastrukturbetreiber beeinträchtigten diese Vorreiterrolle, so dass seither vielfach Kritik geäußert wurden, die die wachsende Kluft zwischen politischer und technischer Legitimität bei der Entwicklung großer Verkehrsinfrastrukturprojekte thematisierte. Abgeordnete, Akteure der lokalen Wirtschaft,
Umweltbewegungen und Initiativen von AnwohnerInnen bekräftigten ihren Willen,
ein lokales Interesse im Gestaltungsprozess des allgemeinen Interesses zu vertreten.
Die nationalen Subsysteme verbanden sich um das Ziel der lokalen nachhaltigen Entwicklung herum. Dieses Konzept, das manchmal wie eine Zauberformel verwendet
wird, impliziert die Einbeziehung vielfältiger Anliegen, die mit der Entwicklung von
Verkehrsinfrastruktur verbunden sind. Es handelt sich entsprechend um eine stufenweise wachsende Kluft zwischen dem sehr Globalen und dem sehr Lokalen bei
der allmählichen systematischen Integration der politischen, ökonomischen, sozialen
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
97
und ökologischen Dimensionen im Entscheidungsprozess. Dieser multidimensionale
Ansatz impliziert gleichzeitig ein neues Verständnis der Legitimität, in deren Namen
große Verkehrsinfrastrukturprojekte umgesetzt werden, und die Entwicklung von
Mechanismen öffentlichen Handelns, die dem neuen Kräfteverhältnis zwischen öffentlichem und privatem Sektor sowie der Zivilgesellschaft gerecht werden. Diese
fortschreitende Anpassung hat sich besonders in den Versuchen niedergeschlagen,
Konflikte bei der Umsetzung und Ausgestaltung bestimmter Verkehrsinfrastrukturprojekte zu lösen. Dieser Artikel betrachtet hier insbesondere den Flughafensektor.
2. Die Entwicklung von Luftfahrt-Drehscheiben in einem
Kontext extrem fragmentierter metropolitaner Interessen
Die großen Drehscheiben der Luftfahrt von internationaler Bedeutung stellen eine
potentielle Konfliktquelle par excellence dar. Diese Infrastruktur befindet sich im
Allgemeinen in geringer Entfernung zu oder sogar mitten in den großen Ballungsräumen, wodurch die oben
angesprochenen Merkmale verschärft werden. Die
wirtschaftliche Entwicklung der Metropolenräume sowie ihre Integration
in die internationalen und
europäischen Verkehrsund Kommunikationsnetze stellt ein Hauptinteresse der nationalen
Regierungen dar. Dieses
Interesse wird in den europäischen Staaten durch Abb.1: Roissy - Übersicht des Flughafen Charles de Gaulle,
Quelle: www.paris-cdg.com Zugriff am 12.11.2003
die Tatsache verstärkt,
dass die Luftverkehrsnetze von internationaler Bedeutung nur diejenigen Städte versorgen, die den Status einer Hauptstadt haben: sei es in politischer (London, Paris)
oder ökonomischer Hinsicht (Amsterdam, Frankfurt), um nur die wichtigsten zu
nennen (vgl. Tabelle 1). Diese Motoren der nationalen wirtschaftlichen Entwicklung
stellen ein strategisches Element für alle Regierungsebenen von der kommunalen bis
zur nationalen Ebene dar.
Außerdem wird die Rekonzentration rund um die großen Metropolenräume im
Fall des Luftverkehrs durch die Strategien der Luftfahrtunternehmen selbst bestärkt.
Die Privatisierung der nationalen Luftfahrtunternehmen und die Stärkung der Wettbewerbspolitik durch die Europäische Kommission lassen es nicht zu, dass die europäischen Staaten die Entwicklung ihrer ehemaligen nationalen Günstlinge in vollem
Ausmaß direkt unterstützen. Die Politik der Zuteilung von Marktlücken sowie die
Entscheidungen über die Luftfahrtinfrastruktur sind die letzten Hebel, über die die
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Luftverkehrsinfrastrukturen
nationalen Behörden die Strategien der Luftfahrtunternehmen noch unterstützen
können. Ende der 1980er Jahre haben diese massiv in eine Struktur investiert, die in
Anlehnung an die nordamerikanische Konkurrenz „Hub and Spokes“ genannt wird:
Amsterdam-Schiphol für KLM, London-Heathrow für British Airways und Paris
– Charles de Gaulle für Air France.1 Die Flughafeninfrastrukturen sind ein wichtiger
Trumpf in der Strategie der Luftfahrtunternehmen, ihre internationale und europäische Wettbewerbsfähigkeit zu sichern, bei der sie durch ihre nationalen Regierungen
unterstützt werden. Die Rekonzentration des Luftverkehrs ist entsprechend der Auslöser für große politische und soziale Konflikte, deren Ausmaß die Fragmentierung
von Interessen in den großen Metropolenräumen widerspiegelt.
In der Tat sind diese Gebiete als Motoren der nationalen Wirtschaftsentwicklung
genau diejenigen großflächigen geographischen Gebiete, in denen sich verschiedene
Regierungsebenen, zahlreiche Bevölkerungsgruppen, Interessen und verschiedene
Vorstellungen über die Raumnutzung überschneiden (vgl. Lévy 1994). Nicht alle
Interessen verfügen über dieselben politischen, ökonomischen, sozialen oder auch
nur technischen Ressourcen, um sich in einem komplexen institutionellen Zusammenhang Gehör zu verschaffen. Der Entscheidungsprozess bei der Entwicklung
einer Flughafeninfrastruktur, und insbesondere bei der Auswahl ihres Standorts,
stellt entsprechend eine Quelle der Frustration für einige Akteure dar, die bis dato
kaum Einfluss nehmen konnten. Der Frust wird verstärkt durch die Befürchtungen,
die mit den unausweichlichen negativen Folgen dieser Flughafeninfrastrukturen verbunden sind: Tag und Nacht Fluglärm, Luft- und Wasserverschmutzung, Abwertung
der Immobilien oder Zerstörung von Landschaft. In der Tat liegen die Anlagen der
Flughafeninfrastruktur häufig an den Rändern der Metropolenräume im Herzen von
Gemeinden, für die die ökonomischen Erträge des Flughafens sehr unsicher sind,
während sie einen maximalen Preis für die negativen Auswirkungen bezahlen.
Die Existenz eines Flughafens in diesen bereits fragilen Gebieten bedeutet zum
großen Teil ein zusätzliches Stigma und keineswegs eine Quelle für Wohlstand. Es
liegt also in der Hand der öffentlichen Akteure, eine politische Entscheidung zu
treffen, die innerhalb des supranationalen Regulierungsrahmens mehr als nur die
rein technischen und ökonomischen Dimensionen des betreffenden Projektes berücksichtigt. Eine politische Entscheidung erfordert die fortlaufende Vermittlung
zwischen globalen Anstrengungen zur Förderung der nationalen ökonomischen
Wettbewerbsfähigkeit und den lokalen Bemühungen um die Wahrung von Lebensqualität für die BürgerInnen im Verlauf des gesamten Umsetzungsprozesses eines
Flughafenprojektes. Um diesen gegensätzlichen Erwartungen gerecht zu werden, haben die nationalen Regierungen verschiedene Strategien entwickelt, um das Problem
der Standortwahl für eine konfliktträchtige Infrastrukturanlage zu lösen. Im Fall
München z. B. wurde die Entscheidung getroffen, einen neuen Flughafen mehr als
50 km von der Innenstadt entfernt zu bauen – zu dem Preis der Schließung des alten
Flughafens, der nicht erweitert werden konnte. Das Beispiel des Flughafens Stansted
in London illustriert seinerseits die Strategie, in der Hoffnung auf eine Verkehrsverlagerung und eine Entlastung der vorhandenen Flugplätze einen neuen Standort in
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
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mehr als 80 km Entfernung von der Innenstadt zu schaffen. Diese Streuung hat dennoch die Entwicklung von London–Stansted gestärkt, dessen Aufschwung vor allem
mit der Entstehung der Billigfluglinien einsetzte. Schließlich konnte die Erweiterung
bestehender Infrastruktur im Fall Paris – Charles de Gaulle nur dadurch gegenüber
den AnwohnerInnen durchgesetzt werden können, dass wichtige ökonomische und
soziale Zugeständnisse gemacht wurden, die indessen nicht so weit gingen, die Erfordernis eines dritten internationalen Flughafens einzugestehen oder Nachtflüge
aufzugeben.
Die großen Verkehrsinfrastrukturprojekte erfordern enorme Anstrengungen in
den Gesellschaften der Gegenwart, die von einer extremen Fragmentierung gekennzeichnet sind: Wie schafft man einen institutionalisierten politischen Raum zur Verhandlung und Gegenüberstellung der mit der Entwicklung dieser Infrastrukturanlagen verbundenen Interessen? Wie integriert man die technische Seite dieses Sektors
in eine politische Dimension? Die Partizipation am gesamten Entscheidungsprozess,
der mit der Flughafenplanung zusammenhängt, verlangt ein hohes Niveau technischer Kenntnisse, den Zugang zu Informationen und die Erstellung von Gutachten,
die sowohl durchdacht als auch durch alle vorhandenen Akteure legitimiert sind.
Der Verkehrssektor war lange Zeit durch die Konzentration von Informationen
und Fachwissen in den Händen einer nationalen technisch-administrativen Elite gekennzeichnet. Die Einbeziehung neuer Akteure, auch einfacher BürgerInnen oder
militanter UmweltschützerInnen mit einer minimalen Organisationsstruktur, in ein
„Netz öffentlichen Handelns“ (Le Galès/Thatcher 1995), das bis dato technisch oder
sektoral ausgerichtet war, erfordert einen langen Lernprozess: die Hinterfragung der
Machtverhältnisse innerhalb des Netzes, das Teilen von Fachwissen und Information sowie die Wiederanerkennung der Legitimität lokaler Interessen. Dieser Beitrag
will zeigen, dass die Gestaltung und Umsetzung eines Flughafens abhängig ist von
der Fähigkeit des Netzwerkes aus öffentlichen Luftverkehrsakteuren, divergierende
Akteure und Interessen zu integrieren, um gemeinsam eine Neuformulierung der
Vorstellungen in Bezug auf die Entwicklung dieses Sektors und die Beziehungen der
zum Netzwerk gehörenden Akteure untereinander zu erreichen. Diese Hypothese
wird im Folgenden entlang der Analyse des Entwicklungsprojektes Paris – Charles de
Gaulle zwischen den Jahren 1991 und 2002 entwickelt.
3. Der Flughafen Paris – Charles de Gaulle:
Die allmähliche Integration eines extraterritorialen Raumes2
Das Projekt der Erweiterung des Flughafens Paris – Charles de Gaulle, genannt
„Roissy 3“, wurde im Jahr 1992 von der Gesellschaft Aéroports de Paris (ADP) – einer öffentlichen Einrichtung mit industriellem Charakter und der Aufgabe, seit dem
Jahr 1945 die zivilen Flugplätze in der Pariser Region zu stärken – der Öffentlichkeit
vorgestellt. Das Projekt sah den Bau dreier zusätzlicher Startbahnen vor mit dem
Ziel, 80 Mio. Passagiere aufnehmen zu können (ADP 1992a). Nach der Bekanntmachung wurde eine Reihe von Einwänden gegen das Projekt erhoben, und zwar
100
Luftverkehrsinfrastrukturen
sowohl von nationalen Umweltverbänden als auch von Luftverkehrsexperten, die
eine nationale Debatte über die Zukunft des Luftverkehrs forderten. Die Kampagne gegen die Erweiterung des Flughafens Paris – Charles de Gaulle begann. Der
Konflikt illustriert, wie die Schwächung der traditionellen Beziehungen innerhalb des
Netzwerkes öffentlichen Handelns im Luftverkehrssektor vor dem Hintergrund der
wirtschaftlichen Internationalisierung und der Liberalisierung des Transportsektors
bewirkt hat, dass speziell dieses Projekt auf die Tagesordnung gelangte und die französische Luftverkehrspolitik ganz allgemein überdacht wurde. Dieser Prozess lässt
sich mit Hilfe einer Analyse der Entwicklung der Beziehungen zwischen Aéroports
de Paris und seinen verschiedenen Geschäftspartnern in der gesamten Entwicklungsgeschichte von Paris – Charles de Gaulle erklären. Dieses Beispiel wird entsprechend
in drei Etappen präsentiert. Zuallererst erfolgt ein Rückblick auf den Machtgewinn
von Aéroports de Paris bei den Entscheidungen über die Zukunft des Flughafens
(1957-1985).
Dieser historische Zugriff erscheint notwendig, um das Ausmaß des Konflikts
zu verstehen, der durch die Bekanntmachung der geplanten Projekterweiterung im
Jahr 1992 erzeugt wurde. In dieser Periode kristallisierten sich die Interessen, die
Akteurskoalitionen und die Vorstellungen, die mit der Entwicklung der Flughäfen
verbunden waren, heraus. Dann kehren wir zur Schlüsseletappe zurück, in der sich
der Status der Flughafenbehörde im Kontext des Machtgewinns der lokalen Umweltverbände und der Anwohnerbewegungen von einem Bauherrn zu einem Betreiber
veränderte (1986-1995). In der letzten Periode (1996-2002) stand die Frage einer
möglichen Privatisierung der Aéroports de Paris regelmäßig auf der Tagesordnung,
und die öffentliche Einrichtung wurde zu einem der wichtigsten Akteure aus dem
öffentlichen Bereich auf dem Feld der regionalen Wirtschaftsförderung.
3.1 Die Entstehung eines extraterritorialen Raumes (1957-1985):
Die Rolle von Paris – Charles de Gaulle in der Entwicklung der Region Paris
Das Projekt, in der Region Paris einen dritten Flughafen – zusätzlich zu den Flughäfen Orly und du Bourget – zu bauen, wurde erstmalig im Zuge der Entwicklung
eines strategischen Entwicklungsplans für die Region Paris angedacht. Die damalige
Regierung wollte die Entwicklung der nördlichen Pariser Region rund um die großen
öffentlichen Infrastrukturen organisieren und strukturieren und betraute den Bezirk
Paris mit der Ausarbeitung des Entwicklungsplans.3 Diese Etappe unter der Federführung von Paul Delouvrier stand für den Wunsch, den Flughafen du Bourget, 15 km
von der Pariser Innenstadt entfernt, zu schließen, um einen großen Wohnkomplex
und einen Park zu errichten.
Der Bezirk schlug Aéroports de Paris vor, dieses Gebiet gegen eine andere Fläche
auszutauschen, auf der der neue Flughafen erbaut werden konnte. Sobald die prinzipielle Entscheidung für einen neuen Flughafen durch die Regierung Pompidou im
Jahr 1963 getroffen worden war, wurde die Flughafenbehörde mit einem groben Entwurf des Projektes Paris-Nord beauftragt. Bei dieser Gelegenheit bestimmten drei
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
101
Aspekte die Projektentwicklung: die Abschirmung städtischer Gebiete gegenüber
dem zukünftigen Flughafen, das rapide Wachstum des Sektors im Sinne einer reinen
Erweiterung und die Eignung für Überschallmaschinen. Entsprechend wurde es sehr
schnell offensichtlich, dass der Bezirk Paris nicht in der Lage sein würde, den zukünftigen Flughafen in den Masterplan Raumordnung und Städtebau der Pariser Region
(SDAURP), der im Jahr 1965 verabschiedet worden war, mit allen seinen Entwicklungsmöglichkeiten zu integrieren. Obwohl der Flugplatz ursprünglich als Mittel zur
Entwicklung des nationalen Gebiets gedacht war, wurde er bis in die 1990er Jahre hinein ein Werkzeug zur Entwicklung des Nordostens der Region Paris. Zwei Faktoren
scheinen diesem Wandel des Projekts, das von Aéroports de Paris entwickelt wurde,
zu den Zielen, die durch den Bezirk Paris definiert wurden, zugrunde zu liegen: die
fehlende Koordination in der französischen Zentralverwaltung und die Opposition
der lokalen Honoratioren.
3.11 Die Einflussnahme der Flughafenbehörde auf die
Entwicklung des Flughafens
Die Wahl eines Gebietes, das für den Bau des neuen internationalen Flughafens
25 km nordöstlich von Paris reserviert wurde, reflektiert die damaligen Überlegungen über die Grenzen des Pariser Ballungsraumes (vgl. Larroque/Margairaz/Zembri
2002). Das Ziel war die Wiederherstellung eines Gleichgewichts bei der Entwicklung des Ballungsraums Paris Richtung Osten und Westen und die Verdichtung des
urbanen Gewebes im kleinen Kranz – rund um sechs „Umstrukturierungszentren“
– und im großen Kranz – um acht Neubaugebiete (SDAURP 1966). Trotz seines
Ausnahmestatus gelang es dem Bezirk Paris weder, einen Dialog mit den großen
öffentlichen Einrichtungen wie der Régie autonome des transports parisiens (RATP)
oder Aéroports de Paris (ADP) zu initiieren, noch diese enger in die Erstellung des
SDAURP einzubeziehen. Der Bezirk Paris hatte die Entwicklung des Nordens der
Pariser Region um die neue Autobahn A1 herum vorgesehen, die eine direkte Verbindung mit dem Norden Europas darstellte, und nicht um den zukünftigen Flughafen
Paris–Nord herum. Darüber hinaus wurde der Bau neuer Wohnparks, Büros und
Gewerbegebiete um die Neubaugebiete herum konzentriert, um eine Zersiedelung
und die Ausweitung vereinzelter Wohnbebauung zu vermeiden. Aus diesem Grund
wurde die Entwicklung der Gebiete um den zukünftigen Flughafen herum eingefroren und Baugenehmigungen wurden genau dosiert. Dies bestätigt ein Städtebauer in
der Geschäftsführung des Département Seine-Saint-Denis zu dieser Zeit (Département 93) 4:
„Niemand konnte sich zu dieser Zeit vorstellen, dass die Entwicklung des neuen Flughafens so
überwältigend verlaufen würde! Ich will damit sagen, dass Orly gerade eröffnet worden war und es
immer vorgesehen war, die Entwicklung dieses Flughafens fortzuführen! Zu dieser Zeit interessierten
sich die Städtebauer für die ‚wichtigeren’ Dinge wie die Entwicklung der Gebiete am Rande der
Autobahn A1.“
102
Luftverkehrsinfrastrukturen
Das Projekt, das durch die Aéroports de Paris entwickelt wurde, spiegelt die o.g.
fehlende Koordination zwischen dem Bezirk Paris und anderen öffentlichen Einrichtungen, die in der Pariser Region tätig waren, wider. Die ADP bestand zuerst darauf,
eine sehr große Parzelle – 3.100 ha oder ein Drittel der Gesamtfläche von Paris intra
muros – innerhalb der Grenzen der Pariser Region zu erhalten: Eine Fläche außerhalb der Region Paris wurde von den Behörden der damaligen Zeit niemals wirklich
in Betracht gezogen, ein Phänomen, das sich etwa 40 Jahre später bei der Diskussion
um einen eventuellen dritten Flughafen im Pariser Becken wiederholte. Eines der
Argumente, das durch die ADP zur Rechtfertigung der Größe der erforderlichen
Fläche angeführt wurde, war die Wahrung eines Puffers zwischen dem Flugplatz und
den Nachbarkommunen, um die Gemeinden vor Fluglärm zu schützen. Indessen
wurde bereits Ende der 1960er Jahre offensichtlich, bevor noch überhaupt das erste
Flugzeug von Paris – Charles de Gaulle gestartet war, dass dieses Ziel nicht erreicht
werden konnte, wenn man die Struktur des Flughafens selbst betrachtete. Tatsächlich wurde die für die Motorenversuche reservierte Fläche nur wenige Meter von der
Gemeinde Roissy-en-France entfernt angelegt (vgl. Val d’Oise, Département 95),
während der äußerste Rand der Flugbahn Nord mit West-Ost-Ausrichtung direkt an
die Kommune Goussainville (95) grenzte. Entsprechend hätte eine Pufferzone zum
Schutz der Anliegergemeinden reserviert werden können, wenn nicht die Struktur
des Flughafens selbst dem widersprochen hätte, die in Wirklichkeit nur auf einem
letzten, und zwar einem sehr halboffiziellen, Argument beruhte, nämlich der Sicherung der finanziellen Rentabilität des Standorts.
Durch den Status der ADP als öffentlicher Einrichtung stand ihr ein autonomes
Budget sowie das Recht zu, zur Aufbesserung des Budgets die wirtschaftliche Auslastung der Flughafenterminals, mit denen sie betraut war, zu betreiben (vgl. Notes
et Etudes Documentaires 1962). Folglich wurde der Flughafen so organisiert, dass
er von den bösen Zungen der Zeit „das größte Kommerzzentrum im Norden der
Pariser Region“ genannt wurde. Die ADP baute einen riesigen Komplex aus Banken,
Hotels, Geschäften, Restaurants und Lagerhallen. Auf dem Papier schlug das Projekt genau die entgegengesetzte Richtung von dem ein, was in den Richtlinien des
SDAURP definiert wurde. In dem Moment, in dem die betreffenden Flächen für den
Bau eines neuen Flughafens unter Federführung der ADP reserviert waren, hätte nur
noch ein starker politischer Wille für die Berücksichtigung der Ziele des SDAURP
sorgen können.
Aber trotz aller Kritiken, die gegen die Merkmale des neuen Flughafens geäußert wurden, unterstützten die politischen Autoritäten Frankreichs die Entwicklung dieser Infrastruktureinrichtung in der Form, wie es die ADP geplant hatte, in
Übereinstimmung mit ihrer administrativen Vorreiterrolle im Namen der nationalen
Gebietsentwicklung. In der Folge wurde innerhalb der Flughafeneinfriedung selbst
überhaupt keine Pufferzone eingeplant, und die ADP begann, die Bauten in der lautesten Zone – um die 7.500 ha - systematisch aufzukaufen, um sie abzureißen und
eine Schutzzone außerhalb der Flughafengrenzen aufzubauen (vgl. Feldman 1984).
Um die Spannungen zwischen den Anliegergemeinden und der ADP zu beheben
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
103
und die anliegende Bevölkerung vor dem Lärm zu schützen, wurde die Erteilung von
Baugenehmigungen in diesen Gemeinden ab dem Jahr 1965 durch den Bezirk Paris
komplett blockiert.
3.12 Die Mobilisierung der Nachbargemeinden gegen
die geplante Auflösung ihrer Kommunen
Zunächst sahen sich die betreffenden Kommunen nicht in der Lage, dem eigenen
allmählichen Verschwinden entgegenzutreten. Dafür gab es vor allem zwei Gründe:
die Rolle der Eigentümer und der Landwirte im Nordosten der Pariser Region sowie
die Fragmentierung von Politik und Verwaltung. Das gewählte Gebiet befand sich
auf einem Hochplateau, das für die Landwirtschaft (vor allem Weizen und Zuckerrüben) reserviert und daher kaum bewohnt gewesen war: ein einziger Bauernhof wurde
abgerissen. Die Enteignungsverhandlungen waren durch die Dominanz der Eigentümer und Landwirte im Nordosten der Pariser Region geprägt, die sich in einem
Verband zusammengefunden hatten. Der Verband repräsentierte 500 Eigentümer,
die für ihr Land entschädigt werden mussten, und 50 Landwirte, die für ihre Ertragsverluste entschädigt werden mussten und deren Pacht zu ersetzen war. Er handelte
mit dem Finanzministerium eine Pauschalsumme für die 6.000 betroffenen Parzellen
aus (vgl. Le Figaro vom 31.01.1964 und 09.10.1964). Die Kommunen selbst wurden
für den mit dem Flughafen verbundenen Ressourcenverlust, für die Verschmutzung
und ihre Ungelegenheiten mit den Bauarbeiten, noch bevor der Flughafen eröffnet
worden war, nicht entschädigt (vgl. La Croix vom 21.11.1971). Einer der Gründe für
den schwachen Mobilisierungsgrad der betroffenen Kommunen hängt besonders
mit ihrer Bevölkerungszahl (vgl. Tabelle 3) und ihrer politischen und administrativen
Fragmentierung zusammen: es handelt sich um acht Kommunen und drei Départements.5 Außerdem entschieden sich viele, vor allem junge Teile der Bevölkerung
dieser Kommunen für einen Umzug und eine Niederlassung anderswo, weil sie die
Konsequenzen des Fluglärms und die fehlende städtische Entwicklungsperspektive,
die mit der Blockade aller Baugenehmigungen einherging, fürchteten. Ein Bürgermeister fasst dies so zusammen: 6
„Der Flughafen wurde zu einem wahren Trauma für unsere Dörfer, noch bevor die
Flugzeuge kamen. Durch die Baustellen wurde unser Leben für drei Jahre zu einem
richtigen Alptraum. Zu der Zeit arbeitete man auch noch an den Wochenenden! Es
war unmöglich geworden, auf die Zukunft zu hoffen, zudem unsere Auflösung sehr
gewissenhaft organisiert wurde. Die Jungen gingen, sobald sie konnten, und niemand
wollte neu hierher ziehen. Die einzige Art und Weise des Überlebens war für uns, den
höchstmöglichen Profit, der sich aus dem Flughafen schlagen ließ, herauszuholen.“
Trotz der politischen und administrativen Fragmentierung organisierten sich die
Kommunen unabhängig voneinander, um ihre Identität zu wahren und ihre Entwicklung zu sichern. Diese Strategie wurde durch die allmähliche Ablösung der festgelegten Ziele durch den Bezirk Paris erleichtert, die u. a. mit dem Eintreffen von Albin
Chalandon im Ministère de L’Equipement et du Logement im Jahr 1968 und den
Dezentralisierungsgesetzen im Jahr 1982 einherging. Albin Chalandon befürwortete
104
Luftverkehrsinfrastrukturen
eine bessere Aufteilung öffentlicher und privater Investitionen bei der Entwicklung
der Region Paris. Diese Stellungnahme resultierte in der Wiederzulassung von Baugenehmigungen außerhalb der Gebiete, die der SDAURP vorsah – insbesondere
den Neubaugebieten. Diese Gelegenheit wurde von den Anliegerkommunen des
Flughafens ergriffen, um den kollektiven und individuellen Wohnungsbau voranzutreiben (Louvres, Goussainville) und Industrie- und Gewerbeparks zu schaffen (Aulnay-sous-Bois, Garges-lès-Gonesse, Mitry-Mory). Da die zentralen Wohnungs- und
Infrastruktur-Verwaltungen und ihre lokalen Niederlassungen vom Bezirk Paris bei
der Erstellung des SDAURP ignoriert worden waren, gaben sie dessen Hauptziele
schnellstmöglich auf. Im Gegensatz zu der ursprünglichen Planung hörten die Bevölkerung und die Wohnparks der Anliegerkommunen von Paris – Charles de Gaulle
zwischen 1975 und 1990 nicht auf zu wachsen (vgl. Tabelle 3 und 4), bevor sie ab dem
Jahr 1985 unter ein Gesetz über Städtebau im Umfeld von Flugplätzen fielen (vgl.
Zeitleiste). Darüber hinaus vergrößerte sich die Ungleichheit zwischen den Anliegerkommunen, wobei einige von ihnen sehr stark vom finanziellen Manna, das durch
die Gewerbesteuern der auf ihrem Gebiet ansässigen Unternehmen erzeugt wurde,
profitierten. Diese Ungleichheiten lassen sich anhand der Bevölkerungsentwicklung
dieser Kommunen zwischen den Jahren 1975 und 1990 und durch die Wohnparkentwicklung zwischen den Jahren 1982 und 1990 erklären.
Am Vorabend der Bekanntmachung des Erweiterungsprojektes für den Flughafen
Paris – Charles de Gaulle war dieser also schon ein zentraler Knoten wirtschaftlicher
Aktivitäten für die Region Ile-de-France geworden: 38.500 Beschäftigte im Jahr 1991,
davon 7.300 als Flugpersonal, bei fast 500 Unternehmen (vgl. ADP 1992:52-54). Bei
seinem Ausbau profitierte der Flughafen vor allem von dem schwachen Niveau politischer und administrativer Koordination zwischen den verschiedenen Staatsebenen,
das mit einer geringen Integration des Flughafens in seine lokale Umgebung bezahlt
wurde. Die betroffenen lokalen Behörden waren aufgrund der hohen politischen und
administrativen Fragmentierung und der allmählichen Entstehung einer unbarmherzigen Konkurrenz zwischen den jeweiligen Gebieten um Investitionen nicht in der
Lage, diesen Prozess aufzuhalten.
3.2 Die Entstehung eines wichtigen ökonomischen Entwicklungspols
für die nationale Gebietsentwicklung (1986-1995)
Ab Mitte der 1980er Jahre legte die französische Regierung ein neues Entwicklungsziel für die ADP fest: den Wandel von der Bauherrenaufgabe zu der Aufgabe
eines Managers im Export von Know-how im Bereich Flughafenbetrieb und bei der
Förderung der Attraktivität des Standorts Paris für ausländische Investitionen. Laut
Jacques Douffiagues, dem damaligen Verkehrsminister, ging es für die ADP vor allem
um die Sicherung der Rentabilität und der Wettbewerbsfähigkeit der Anlagen, für
die sie zuständig ist (vgl. La Tribune de l’Economie vom 07.08.1986). Dieser Wandel
spiegelt den Ideenstand der französischen Führung Mitte der 1980er Jahre wider. In
einem Kontext verlangsamten Wachstums und ökonomischer Internationalisierung
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
105
musste der Sektor nach Wegen zur Selbstfinanzierung suchen und die Wettbewerbsfähigkeit auf der internationalen und europäischen Wirtschaftsbühne organisieren.
Es ging um die Konkurrenz um den zweiten Platz in Europa hinter London–Heathrow zwischen Paris – Charles de Gaulle und Frankfurt und die Einrichtung der
ersten europäischen Umsteigeknoten. In diesem neuen Kontext entwickelte die ADP
ein Erweiterungsprojekt für den Flughafen Paris – Charles de Gaulle, bei dem der
Infrastrukturausbau selbst nur ein Teil war. Ziel war die Unterstützung von Air France, dem nationalen Luftfahrtunternehmen, sowie die Positionierung der Region Paris
auf der internationalen und europäischen Leiter. Der Flughafen Paris – Charles de
Gaulle wurde in den Augen der Regierungen, die in den Jahren von 1986 bis 1995
aufeinander folgten, ein strategisches Element, was durch den Status „Zentrum mit
europäischer Reichweite Region Ile-de-France“ symbolisiert wird, der ihm im neuen
Generalplan aus dem Jahr 1994 zugesprochen wurde (vgl. DREIF 1994). Die Vorbereitungsarbeiten zum neuen Generalplan der Region Ile-de-France (SDRIF) zeigen
den Willen des Staates, seine Rolle bei der Organisation und der Entwicklung der
Region Ile-de-France neu zu definieren, und dies umso mehr, als dass er der Hauptinvestor war. Diese Rolle musste angesichts der Veränderungen neu definiert werden,
die durch die Dezentralisierungsgesetze im Jahr 1982 ins politische und administrative
Feld geführt wurden. Dadurch erhielten die Kommunen neue Kompetenzen bei der
städtischen Raumordnung und wirtschaftlichen Entwicklung, so dass die Region Ilede-France, die im Jahr 1976 gegründet worden war und im Jahr 1986 eine gewählte
Vertretung erhielt, sich als kompetente Stufe im Bereich der Regionalplanung förmlich aufdrängte. So trägt die Entwicklung der Region Paris, die immer noch durch die
dominante Rolle des Staates gekennzeichnet ist, den zentralen Anliegen der lokalen
Gebietskörperschaften gleichermaßen Rechnung: dem Schutz der Landschaft, dem
Schutz des Lebensraumes und dem Kampf gegen Umweltschäden.
3.21 Die Entwicklung des Flughafens Paris – Charles de Gaulle im Namen
der ökonomischen Wettbewerbsfähigkeit und technischer Erfordernisse
Das Projekt der Erweiterung des Flughafens Paris – Charles de Gaulle zielte
darauf ab, Bedingungen zur ökonomischen Wettbewerbsfähigkeit auf internationalem und europäischem Niveau zu schaffen: ein Investitionsprogramm von 12 Mrd.
Franc, gestaffelt zwischen 1991 und 1995, wurde in Zusammenarbeit mit einem auf
Gewerbeimmobilien spezialisierten Beratungsbüro auf den Weg gebracht (vgl. Le
Monde vom 15.06.1989). Einer der ersten Schritte bestand in der Erhöhung der Abfertigungskapazitäten, um das jährliche Verkehrsaufkommen in Roissy – Charles de
Gaulle zu verdoppeln und im Jahr 2015 etwa 80 Mio. Passagiere abfertigen zu können
(vgl. ADP 1992a) – im Vergleich zu 25 Mio. im Jahr 1992. Diese Kapazitätserhöhung
sollte durch den Bau von drei neuen Startbahnen gelingen, die das ursprüngliche
Projekt aus dem Jahr 1960 vervollständigen sollten. Diese Ergänzungen sollten der
Air France die Möglichkeit geben, einen zentralen Umsteigeknoten in Paris – Charles
de Gaulle einzurichten und ihre finanzielle Situation zu stabilisieren (vgl. Les Echos
vom 27.02.1996). Dieses Drehscheiben-Projekt, finanziert in einer Höhe von 52 Mio.
106
Luftverkehrsinfrastrukturen
Franc durch Investitionen der Air France und 72 Mio. Franc durch Investitionen der
ADP, sollte der Region Ile-de-France die wichtige Bedeutung innerhalb des internationalen und europäischen Luftraums sichern. Ein zweiter Schritt sollte außerdem
darin bestehen, die Attraktivität für internationale Unternehmen auf der Suche nach
einem Standort für ihre europäische Niederlassung zu erhöhen. Ein Beispiel ist der
Fall Fedex aus dem Jahr 1995. Zu diesem Zweck trieb die ADP ab dem Jahr 1988
das Projekt Roissypôle voran, das 60.000 m² Bürofläche am Fuße der Startbahnen
anbietet, von denen seit dem Jahr 1995 mehr als ein Drittel vor allem durch kleine
und mittlere Unternehmen belegt ist. Schließlich erhielt der Flughafen im Jahr 1994
einen TGV-Bahnhof und wurde damit eine der ersten multimodalen Plattformen in
Europa. Diese allmählichen Ergänzungen beschleunigten die Ablösung des Flughafens Orly durch Paris – Charles de Gaulle (vgl. Tabelle 2), was insbesondere durch
die Verlagerung des Sitzes von Air France in den Süden von Paris – Charles de Gaulle
im Jahr 1994 symbolisiert wird. Dieser Umzug beschert der Kommune Trembly-enFrance 20 bis 25 Mio. Franc jährlich aus Gewerbesteuern.
Die Politik der Entwicklung und Selbstfinanzierung, die von der ADP zwischen
den Jahren 1986 und 1995 verfolgt wurde und aus ökonomischer und finanzieller
Perspektive als Erfolg gewertet werden kann, hat vielfältige Kritik hervorgerufen.
Indessen erschien der Flughafen Paris – Charles de Gaulle als ein unverwüstliches,
selbstgenügsames Imperium, eine richtige „Stadt in der Stadt“, so dass die ADP von
ihren zahlreichen Gegnern als „Staat im Staate“ bezeichnet wurden. Die fortschreitende Unabhängigkeit der ADP führte zunächst zu einem veränderten Kräfteverhältnis
innerhalb des Luftverkehrs zwischen der Flughafenbehörde, der für die zivile Luftfahrt zuständigen Zentralverwaltung und Air France. Während die ADP zunehmend
für die Rolle des Mediators zwischen den lokalen Gebietskörperschaften, Anliegern
und dem Luftzentrum optierte, hat sich die öffentliche Einrichtung im Kern aller
Polemik wiedergefunden und wurde beschuldigt, ihre Aufgabe, der Öffentlichkeit zu
dienen, im Namen ihrer wirtschaftlichen Entwicklung zu vernachlässigen. Obgleich
die letzten beiden Schritte der Entwicklung durchgeführt werden konnten, ohne heftige Reaktionen auszulösen, mussten bei der Kapazitätserweiterung des Flughafens
anderweitig Abstriche hingenommen werden.
3.22 Die politische Mobilisierung der Anwohner
und der lokalen Gebietskörperschaften
Die Heftigkeit des Protests gegen das Erweiterungsprojekt des Flughafens Paris–
Charles de Gaulle erklärt sich durch ein merkliches Wachstum des Alltagsverkehrs
um den Flughafen, eine Zunahme der Anliegerbevölkerung um mehr als 21 Prozent
zwischen den Jahren 1975 und 1990 (vgl. Tabelle 3) und fortgeschrittene Kenntnisse
der Projektgegner in Hinblick auf Zugangsmöglichkeiten zum Entscheidungsprozess,
die ihnen der französische institutionelle und juristische Rahmen eröffnet. Dank der
Entwicklung des gesetzlichen Rahmens verfügen die lokalen Gebietskörperschaften
und die Anwohnerverbände zunehmend über ausreichende Kompetenzen, um das
Projekt der Flughafenerweiterung zu blockieren. Dabei wurden 97 Kommunen, die
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
107
durch städtebauliche Restriktionen vom Projekt betroffen sein würden, im Verlauf
der Beratungen über den öffentlichen Nutzen zu einer Abstimmung für oder gegen
das Projekt, wie es von der ADP vorgebracht worden war, aufgerufen: Eine Mehrheit
von 50 Kommunen stimmte gegen das Projekt.7 Diese Kommunen, die vornehmlich
im Westen des Flughafens liegen und besonders von seinen negativen Auswirkungen
– Fluglärm, Verschmutzung etc. – betroffen sind, wurden in ihrer Ablehnung durch
drei Organisationen bestärkt, um hier nur die wichtigsten zu nennen: die Assoziation
zum Schutz der Umwelt und zur Begrenzung von Umweltschäden (APELNA, 20
Kommunen, gegründet im Jahr 1991), die Assoziation zur Verteidigung von Vald’Oise gegen die Luftbelästigung von Roissy (ADVOCNAR, 23 Bürgerkommitees
der AnwohnerInnen von Roissy) und das interkommunale Syndikat für Entwürfe
und Programmgestaltung der Entwicklung im Osten von Val-d’Oise (SIEVO, 32
Kommunen, gegründet im Jahr 1990).
Die Mobilisierung organisierte sich zunächst um die Aktionen der Abgeordneten
zur Entwicklung des neuen SDRIF herum. Diese schlossen sich zusammen, um für
eine bessere Verteilung der finanziellen Ressourcen, die durch den Flughafen generiert werden, und einen besseren Zugang zu Arbeitsplätzen am Flughafen für die Bevölkerung der Umgebung zu plädieren. Indem sie ihre Fähigkeit bewiesen, ihre internen Rivalitäten hinter sich zu lassen, zeigten sich die lokalen Gebietskörperschaften
von der Notwendigkeit überzeugt, eine konzertierte Aktion durchzuführen, um den
ADP-Projekten für den Flughafen Paris – Charles de Gaulle, die durch den Staat über
den neuen SDRIF unterstützt wurden, einen Strich durch die Rechnung zu machen.
Ein Bürgermeister, Mitglied von SIEVO, drückt es folgendermaßen aus:8
„Man muss verstehen, dass alle Anstrengungen zu der Zeit darauf gerichtet waren, dass es gelang,
den Staat in seinen Projekten zur Gebietsentwicklung zu bezwingen. Wenn wir uns nicht bewegt
hätten, hätten wir uns mit einem Städtebau abfinden müssen, der uns komplett entgleitet. Dank der
Mobilisierung von 32 Bürgermeistern innerhalb der SIEVO konnten wir wirklich entscheidungsstark werden. Es waren die Opposition und die Mobilisierung, die es uns auch erlaubt haben, konstruktiv zu werden. Wir waren einverstanden damit, die Grundzüge des SDRIF zu akzeptieren,
aber wir wollten die Aufgaben und Funktionen unter uns aufteilen und sie über alle Kommunen der
Gegend gleichmäßig zu verteilen.“
Zu dieser konzertierten Aktion der lokalen Abgeordneten, die die Schaffung richtiger interkommunaler Strukturen ab dem Jahr 1998 bereits andeutete, kam die Mobilisierung der Region Ile-de-France hinzu, die sich als unumgänglicher Partner des
Staates und der Départments zur Koordination öffentlichen Handelns auf regionaler
Ebene erwies (vgl. Le Galès/Estèbe 2001). Diese Anwandlungen der Region standen
in direkter Konkurrenz zu der von den Départements gelenkten Aktion, und insbesondere der von Val d’Oise (95).
In diesem Département befindet sich ein Großteil der Kommunen, die zu abgelegen vom Flughafen sind, um von den Hilfen zur Schallisolierung für öffentliche
Gebäude und Wohnungen oder von den ökonomischen und steuerlichen Erträgen
108
Luftverkehrsinfrastrukturen
des Flughafens zu profitieren, die aber nichtsdestotrotz genauso unter dem Lärm
des Luftverkehrs leiden. Diese Kommunen zeigten das höchste Engagement bei der
Organisation kollektiver, sogenannter „unkonventioneller“ Aktionen wie Demonstrationen, Petitionen, lokalen Referenden und auch konventioneller Aktionen wie der
Anrufung der Justiz oder der Veröffentlichung von Pressekommuniques, die in den
nationalen Medien übertragen wurden. Diese kollektiven Aktionen wurden überlagert durch eine Zahl von Einzelaktionen, die sich in den interkommunalen Wettbewerb einreihten, der Mitte der 1980er Jahre zu einem Paradox geworden war. Dies
ist insbesondere in der Gemeinde Tremblay-en-France (Département 93) der Fall,
die ab dem Ende der 1980er Jahre die Basis für eine konstante Kooperation oder
ein städtisches Projekt mit der ADP verwarf, die 400 lokalen Unternehmen mit dem
Flughafen zu verbinden.
Vor der Zunahme der Ansprüche beschleunigte ADP die Inangriffnahme seines
Umweltplans, der über fünf Jahre verteilt Investitionen von 450 Mio. Franc (3,6
Prozent der Investitionen von ADP und 1,7 Prozent der Geschäftszahlen der öffentlichen Einrichtung) vorsah. Der Plan sah eine Reihe von Maßnahmen vor, die
den Fluglärm in der Umgebung eindämmen und die Anwohnerschaft informieren
sollten: die Schaffung eines Echtzeit-Kontrollsystems des Lärms und der Flugbahnen (SONATE), das der Anwohnerschaft zugänglich sein sollte, die Eröffnung eines
Hauses der Umwelt von Roissy (vgl. Mars 1995), die Veröffentlichung eines jährlichen Berichts über die Umweltpolitik der ADP und die Zeitschrift Entre Voisins
(Unter Nachbarn). Dem Umweltengagement des ADP-Projektes gelang es nicht, das
Ausmaß der lokalen Forderungen zu begrenzen. Diese Forderungen, die im Großen
und Ganzen nichts anderes als den Kampf gegen den Fluglärm betrafen, entwickelten sich schnell in Richtung einer politischen Auseinandersetzung mit dieser Angelegenheit. Durch die gemeinsame Aktion der lokalen Gebietskörperschaften und der
Anwohnerverbände erschien der Konflikt, der mit der Erweiterung von Paris – Charles de Gaulle zusammenhing, ab dem Jahr 1994 auf der nationalen politischen Szene
und erforderte die Wiederaufnahme des Entwurfs auf höherem Niveau.
Diese zweite Etappe in der Entwicklung des Flughafens Paris – Charles de Gaulle
unterstreicht die Transformation der Vorstellungen, die mit der Vorreiterrolle dieser
Infrastruktureinrichtung zur Förderung der Region Paris innerhalb der internationalen Wirtschaft verbunden werden. Diese Entwicklung besteht zunächst in einem
Rückgang öffentlicher Investitionen in diesem Bereich und der Notwendigkeit für
die ADP, die Rentabilität und Wettbewerbsfähigkeit der Flughafeninfrastruktur zu
sichern.
Die Umsetzung dieser Politik ging einher mit der Stärkung der Autonomie der
öffentlichen Einrichtung hinsichtlich ihrer administrativen Vorreiterrolle. Der Kurswechsel hin zu einer Logik des Marktes liegt quer zu ihrer Aufgabe, der Öffentlichkeit zu dienen, d. h. der ökonomischen, sozialen und räumlichen Integration der
Infrastruktur in ihre Umgebung. In diese Bresche sind die Gegner des Erweiterungsprojektes über die Mobilisierung verschiedener Strategien erfolgreich gesprungen,
um der Flughafenbehörde einen politischeren Weg aufzuzwingen. Die Politisierung
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
109
eines Dossiers, das eminent technisch gestaltet war, verwandelte sich dann durch die
Einführung einer neuen Prioritätenliste anlässlich der Weiterentwicklung der französischen Luftfahrtpolitik in Ile-de-France, die von nun an eine öffentliche Schlichtung
durch den Premierminister erforderlich machte.
3.3 Auf dem Weg zu einer nachhaltigen Entwicklung des
Flughafens Paris – Charles de Gaulle?
Die Politisierung der Anstrengungen zur Entwicklung des Flughafens Paris
– Charles de Gaulle manifestiert sich in der Wiederaufnahme des Projektes durch
die sich zwischen den Jahren 1996 und 2002 ablösenden Regierungen und in der
Entwicklung einer neuen Strategie der ADP. Das Konzept der „nachhaltigen Entwicklung der Pariser Flughäfen“ entstand unter dem Druck einer Koalition von
Akteuren, die an der Entwicklung der Flughafenpolitik in der Region Ile-de-France
beteiligt werden wollten. Dieses Konzept, das häufig als Beschwörungsformel verwendet wird, spiegelt indessen eine alternative Vorstellung von der Entwicklung der
Luftfahrtinfrastrukturen wider, die auf einer Linie liegt mit den Maßnahmen, die seit
den Verträgen von Maastricht zum Prinzip der Integration durch die europäischen
Institutionen ergriffen wurden. Diese „weiche“ Interpretation des Konzeptes der
nachhaltigen Entwicklung erlaubt die Gleichgewichtung ökonomischer, sozialer und
ökologischer Anstrengungen bei politischen Entscheidungen über die Verkehrsinfrastruktur. Der Fortschritt, der bei der Strategie der ADP im Besonderen und beim
öffentlichen Aktionsnetz „Luftverkehr“ im Allgemeinen erzeugt wurde, zeigt den
Machtgewinn dieser neuen Vision der Welt, die sich im Anschluss an einen langen
Lernprozess und den Bruch der Koalition zwischen den lokalen Gebietskörperschaften und den Anwohnerverbänden durchsetzte.
3.31 Der offizielle Widerruf der von den Flughafenbehörden
betriebenen Politik in Ile-de-France
Die Wiederaufnahme des Projektes zur Flughafenerweiterung Paris – Charles de
Gaulle brachte vielfältige Gutachten und Ratschläge hervor, die von den wechselnden
Verkehrsministerien zwischen den Jahren 1994 und 1998 in Auftrag gegeben wurden,
um eine Untersuchung über den öffentlichen Nutzen vorzubereiten. Der Umgang
mit dieser Angelegenheit erschien den französischen politischen Autoritäten umso
dringlicher, als sie die nächsten kommunalen und regionalen Wahlergebnisse des
Jahres 1995 beeinflussen würde. Wenn man die Wahlen wegen des Flughafens nicht
gewinnt, kann man sie verlieren:
Das ist die harte Lektion, die eine Reihe lokaler Abgeordneter lernen musste, die
z. T. schon seit mehreren Jahrzehnten tätig gewesen waren und nun zusehen mussten, wie ihre jungen Gegner der grünen und sozialistischen Parteien ihre Sitze im Generalrat oder der Stadtverordnetenversammlung einnahmen. Die Wahlen zeigen die
Ankunft einer neuen Generation von Abgeordneten, die in Bezug auf Fragen, die mit
der Flughafeninfrastruktur zusammenhingen, sehr informiert waren und von jetzt an
110
Luftverkehrsinfrastrukturen
über zahlreiche institutionalisierte Mechanismen verfügten, die Flughafenpolitik in
der Ile-de-France zu beeinflussen. Die Abgeordneten setzten sich für die Forderungen nach einer besseren Verteilung der ökonomischen und steuerlichen Erträge des
Flughafens Paris – Charles de Gaulle ein, ohne die Existenz des Flughafens selbst zu
hinterfragen. In ihren Forderungen wurden sie durch das Umweltministerium unterstützt, das schon seit mehreren Jahren die Beteiligung an politischen Entscheidungen
im Verkehrssektor gefordert hatte (vgl. Lolive 1999). Für die Akteure, die eine stärkere Einbeziehung der Umweltbelange favorisierten, sollte die Verkehrsinfrastruktur
von nun an eine wichtige Rolle bei der räumlichen Entwicklung besitzen und nicht
nur Teil einer Strategie sein, die von der Luftfahrtbehörde mit Blick auf die ausländische Konkurrenz entwickelt wurde.
Die Mobilisierung dieser Akteurskoalition drückt sich in einer Korrektur des von
der ADP entwickelten und durch die entsprechende Verwaltung unterstützten Erweiterungsprojektes nach unten aus, unmittelbar gefolgt von einer Entscheidung von
Premierminister Alain Juppé (RPR), die auf den Schlussfolgerungen der Kommission Douffiagues im Oktober 1995 basierte.
Diese Kommission unter dem Vorsitz des ehemaligen Verkehrsministers Jacques
Douffiagues erinnerte bei dieser Gelegenheit an das Ziel der „Minimierung von
Geräuschemissionen“ (vgl. Douffiagues 1996, Vol. 1). Zum ersten Mal in der Geschichte der französischen Flughafenpolitik wurde die Entwicklung einer Infrastruktur mit den Ausmaßen des Flughafens Paris – Charles de Gaulle im Namen einer
besseren ökonomischen und sozialen Integration in ihre Umgebung begrenzt. Trotz
der Machtübernahme einer neuen politischen Mehrheit in der Regierung wurde diese
Entscheidung auch von der Regierung Jospin im September 1997 aufrecht erhalten
und bestärkt (vgl. Les Echos vom 24.09.1994). Das Projekt zur Erweiterung des
Flughafens Paris – Charles de Gaulle wurde eingeschmolzen: nur zwei Flugbahnen
mit Ost-West-Ausrichtung, kürzer als im Originalprojekt vorgesehen und nach Osten
verlegt, um die Kommunen im Westen des Flughafens zu schützen (Département
95), wurden der vorhandenen Infrastruktur angefügt. Die Errichtung von zwei doppelten Startbahnen in dieser Form sollte die Wettbewerbsfähigkeit des Umsteigeknotens von Air France und des französischen Luftfahrtstandortes sichern. Andererseits
sollte die Infrastrukturerweiterung von einer ganzen Serie von Maßnahmen begleitet
werden, die darauf ausgerichtet waren, den Schutz der Anlieger vor dem Fluglärm
– durch Hilfen zur Schallisolierung, Verbote oder Beschränkungen von Nachtflügen
für die lautesten Flugzeuge – und eine bessere Verteilung der ökonomischen Erträge
des Flughafens – durch die Schaffung eines lokalen Fonds zur Umverteilung von
Ressourcen, die außer den Gewerbesteuern durch den Flughafen erzeugt wurden
– zu gewährleisten.
Das Projekt der Erweiterung, das von der Regierung Juppé angepasst und dann
von der Regierung Jospin vervollständigt worden war, bedeutete den Widerruf der
Strategie, die bis dahin durch die Flughafenbehörde verfolgt worden war, und zeigt
den Willen des Staates, neue Regulationsmechanismen im Feld öffentlichen Handelns
einzuführen. Diese Politik legitimierte zuallererst die systematische Einbeziehung des
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
111
Umweltministeriums in die mit der Flughafeninfrastruktur verbundenen Entscheidungen sowohl bei im Kabinett des Premierministers geführten Diskussionen als
auch bei der Entwicklung einer französischen Position, die dann mit den Gemeinden
debattiert wird. Der Kampf zwischen Umwelt- und Verkehrsverwaltungen stellt einen Aspekt dar, der im Entscheidungsprozess zu allen Verkehrsinfrastrukturen und
anderen Großprojekten regelmäßig wiederkehrt (vgl. Lolive 1999, Lascoumes 1999).
Die Zunahme der Konflikte zwischen diesen beiden Verwaltungen in Hinblick
auf Fachwissen und politische Legitimität wurde gekrönt durch die Schaffung einer
Behörde zur Kontrolle von Fluglärmbelästigungen (ACNUSA) im Jahr 1999. Diese
Institution, deren politisches Gewicht sich erst noch zeigen wird, hat die Aufgabe
sicherzustellen, dass die Entwicklung des Luftverkehrs in Frankreich die Anwohnerschaft nicht belästigt, und verfügt deshalb über Sanktionsmöglichkeiten gegenüber
denjenigen Akteuren, die dieses Prinzip nicht berücksichtigen. Außerdem haben die
politischen Autoritäten ihren Willen betont, die Entwicklung des Flughafens Paris
– Charles de Gaulle zu begrenzen, um ein Gleichgewicht zwischen der ökonomischen Logik – als Antwort auf die Anforderungen des Luftverkehrsmarktes – und
einer Logik der Raumordnung – ökonomische und soziale Kohäsion – herzustellen.
Dieser Wille fand Ausdruck in den Grenzen, die der Rekonzentration des Luftverkehrs in Ile-de-France gesetzt wurden, und der Aufrechterhaltung von Paris–Orly,
dem Flughafen im Süden von Paris. Obgleich die Air France den Wunsch hatte, ihren
Umsteigeknoten in Paris – Charles de Gaulle zu errichten und ihre gesamten Aktivitäten dorthin zu verlagern – Berufsausbildung, Luftfracht etc. -, wurde das Luftunternehmen im Jahr 1998 im Namen seines öffentlichen Auftrages zur Ordnung gerufen,
was den Fortbestand eines permanenten Gleichgewichts zwischen unternehmerischer und raumordnerischer Logik impliziert: „Air France muss ihr Gleichgewicht
bei der Standortwahl verbessern. Das Unternehmen kann nicht einfach sagen: Mein
Flughafen ist Roissy“ (vgl. Le Monde vom 31.07.1998). Obwohl die Forderung der
AnwohnerInnen nach einem Nachtflugverbot in Paris – Charles de Gaulle nicht erfüllt wurde, war das Prinzip der Begrenzung der Flughafenerweiterung von nun an
Konsens zwischen den verschiedenen vorhandenen Akteuren.9 Dieses Ziel wurde
einige Jahre später durch die Regierung Raffarin im Rahmen der Politik „Für eine
nachhaltige Entwicklung der Pariser Flughäfen“ wieder aufgegriffen, die am 25. Juli
2002 vorgestellt wurde:10
„Um seine Entwicklung zu schützen und seine Attraktivität zu erhöhen, muss Frankreich über
eine leistungsfähige Luftverbindung verfügen und entsprechend über eine Flughafeninfrastruktur, die
sich auf der Höhe seiner Ambitionen und Bedürfnisse befindet. Die Flughäfen Roissy – Charles
de Gaulle und Orly sind natürlich dazu vorbestimmt, einen Großteil der nationalen Bedürfnisse zu
befriedigen. Aber auch solche Infrastrukturen können weder funktionieren noch sich entwickeln, wie
sie wollen, und vor allem nicht auf Kosten der Umweltqualität für die Anwohnerschaft.“
Das Ende der 1990er Jahre markiert wieder einen Wandel in Bezug auf die neoliberale Logik, die von den Akteuren des Luftverkehrs verfolgt wurde. Der Macht-
112
Luftverkehrsinfrastrukturen
gewinn der Anwohnerschaft und der lokalen Abgeordneten, verstärkt durch das
Umweltministerium oder durch die politischen Spitzen der grünen Partei, brachte
die aufeinander folgenden Regierungen zu der Einführung neuer Regulierungsmechanismen. Diese Maßnahme erlaubte den Übergang von einer technischen und
ökonomischen Herangehensweise zu einem Ansatz der Raumordnung. Dieser Wandel fand seinen Ausdruck in der Rückbesinnung auf die eigentliche Aufgabe des
Luftfahrtunternehmens und der ADP, den Dienst an der Öffentlichkeit, und in der
Schaffung einer Behörde für die Kontrolle und die Fachexpertise im Luftfahrtsektor,
die alle Aktivitäten der französischen Flughafeninfrastrukturen eingrenzt. In diesem
Kontext beschleunigte die ADP ihre Umstrukturierung, um sich als einer der Hauptförderer des Nordostens der Region Ile-de-France zu präsentieren.
3.32 Die allmähliche Einfügung des Flughafens in seine Umgebung
Die Umstrukturierung der ADP seit dem Jahr 1995 hängt sehr mit dem Druck
zusammen, der im französischen politischen und institutionellen Kontext ausgeübt
wurde, wie in den vorigen Absätzen beschrieben wurde, aber auch mit einer Selbstvergewisserung der öffentlichen Einrichtung. Die Führung der ADP erkannte sehr
Abb. 2:Bodennutzung im Nordosten von Paris 1999, im Südwesten Paris, im Nordosten der Flughafen Charles de Gaulle
Quelle: www.plaindefrance.fr/ressources/Telechargement/Territoire/cartes/cartes_epa_6.pdf
schnell die Reichweite der herannahenden Transformationen: die ökonomische
Entwicklung der Flughafenanlage durch ihre ökonomische und soziale Integration in ihre räumliche Umgebung. Außerdem musste der Eingriff möglichst schnell
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
113
geschehen, so dass die politischen Autoritäten nicht veranlasst würden, unter dem
Druck der öffentlichen Meinung Maßnahmen zu ergreifen, die den Interessen der
ADP widersprachen. Das folgende Zitat eines Beauftragten der ADP spiegelt diese
Entwicklung:11
„Aéroports de Paris muss seine Entscheidungsstrukturen, die Autorität, Hierarchie und Entscheidungen im Namen eines rationalen allgemeinen Interesses verbinden, verändern in Richtung auf
solche, die andere Quellen der Legitimität finden, im Respekt, Zuhören, der Nähe, dem Gefühl,
Rechenschaft ablegen zu müssen, verantwortlich zu sein und in der bereit, kontrolliert zu werden (...)
Der Flughafen ist zuallererst ein Ökosystem, ein mehr und mehr ausbalanciertes Kräfteverhältnis
zwischen allen vor Ort vorhandenen Akteuren, sowohl den auf ihm selbst als auch den in seiner
Umgebung wirkenden.“
Diese Politik zeigte sich zum ersten Mal, als sich um die ADP ein Netz aus Akteuren der Wirtschaftsentwicklung bildete, um für die BewohnerInnen der angrenzenden Gemeinden einen privilegierten Zugang zu den Arbeitsplätzen zu gewähren: die
Information über Berufe im Luftverkehr, die Schaffung von Berufsausbildungszentren, die Entwicklung von spezifischen Ausbildungsketten in den Schuleinrichtungen
der Umgebung, die Stärkung des öffentlichen Verkehrs zwischen dem Flughafen und
den umgebenden Kommunen etc. Diese Initiativen wurden stark unterstützt von den
angrenzenden lokalen Gebietskörperschaften, die ihr Engagement auf eine bessere
Umverteilung der ökonomischen und steuerlichen Erträge, die durch den Flughafen
erzeugt wurden, ausgerichtet hatten. Diese Politik bleibt zu relativieren angesichts der
tatsächlichen Veränderungen im Zugang der Bevölkerung der umliegenden Départements zu den verfügbaren Arbeitsplätzen im Flughafenkomplex. Die Ausweitung
von Initiativen in diesem Sinne sowie die Verhärtung der Kommunikationsstrategie
der ADP beschönigen die zuweilen schwachen Resultate. Zwischen den Jahren 1997
und 2002 sind 18.800 Arbeitsplätze auf dem Flughafen Paris – Charles de Gaulle geschaffen worden, aber nur 2.900 dieser Arbeitsplätze wurden an BewohnerInnen der
drei benachbarten Départements vergeben, was auf 49 Prozent aller Arbeitsplätze im
Flughafenbetrieb hinausläuft (vgl. ADP 2002).
Trotz dieser Einschränkung ist die Politik der Öffnung der ADP bei den anliegenden lokalen Gebietskörperschaften begrüßt worden, die diese Initiative in Abstimmung mit ihren institutionellen Kompetenzen, finanziellen Mitteln und jeweiligen
Interessen unterstützt haben, um sich als ernstzunehmende Partner zu behaupten.
Dies wurde erleichtert durch die Einführung verschiedener interkommunaler Strukturen, die Kooperation zwischen den Kommunen institutionalisierten und die Wahl
von Repräsentanten vorsah, die ermächtigt waren, direkt mit der Abteilung für räumliche Beziehungen in der ADP zu verhandeln. Die interkommunalen Strukturen, für
die der Kommunalverband Roissy – Porte de France das bis heute weitreichendste
Beispiel darstellt, haben das Kräfteverhältnis, das vorher zwischen den sehr kleinen
Kommunen und der Flughafenbehörde herrschte, umgekehrt. In diesem Zusammenhang nahmen die Kommunen auch die Rationalisierung ihres Wohnungs- und
114
Luftverkehrsinfrastrukturen
Büroflächenangebots auf dem interkommunalen Gebiet in Angriff, um ihre jeweiligen Bevölkerungen gegen den Lärm zu schützen und Unternehmen aus der ganzen
Welt anzuziehen. Außerdem wurde ein internes Umverteilungssystem eingerichtet,
das ein gewisses Gleichgewicht zu den Kommunen, die nicht direkt von den Steuereinnahmen durch den Flughafen profitieren, gewährleisten sollte. Die offensive
Strategie bestimmter interkommunaler Strukturen funktionierte nicht, ohne neue
Ungleichgewichte zwischen den lokalen Gebietskörperschaften auf die Kosten der
Gebiete, die vom Fluglärm betroffen sind, aber mehr als 25 km vom Flughafenterminal z. B. im Vallée de Montmorency liegen (Val d’Oise), zu schaffen. Die Strategie
provozierte darüber hinaus den Bruch der gemeinsamen Protestfront aus lokalen
Gebietskörperschaften und Anliegerverbänden, die sich von nun an darauf zurückzogen, den Rechtsweg zu beschreiten sowie die Abgeordneten und die lokale Bevölkerung über die Politik im Kampf gegen die Lärmbelästigungen zu informieren. Der
Fortbestand der Ungleichheiten im Umgang mit der Anwohnerschaft angesichts des
Fluglärms müsste zukünftig auf nationalem und EU-Niveau im Rahmen der Umsetzung der europäischen Direktive über Umweltlärm, die im Juli 2002 erscheinen sollte,
thematisiert werden. Diese Direktive impliziert die Entstehung eines dezentralisierten Betriebssystems für die europäischen Flughäfen im Rahmen der Ziele, die in den
institutionellen und rechtlichen Rahmen der Staaten und der Gemeinschaft festgelegt
wurden. Im Kontext eines erhöhten Konkurrenzrisikos zwischen den Flughäfen haben diese Ziele die Funktion, ein gleichmäßiges Verteilungssystem zu schaffen, das
die Gleichheit im Umgang mit Anliegern über das gesamte nationale und europäische Gebiet garantiert. Die Umsetzung dieser Direktive im Rahmen einer nationalen
Politik mit dem Anliegen der „nachhaltigen Entwicklung der Pariser Flughäfen“ gibt
der Idee einer eventuellen Privatisierung von Aéroports de Paris wieder neuen Schub.
Diese Entscheidung hätte den Vorteil, dass die Kompetenzen und die jeweiligen Verantwortlichkeiten der Flughafenbehörde und ihrer Verwaltung bei dem Betrieb der
betreffenden Infrastrukturen geklärt würden. Außerdem wäre es der ADP dann nicht
mehr möglich, die Verfolgung einer ökonomischen Rentabilität im Namen des allgemeinen Interesses zu rechtfertigen.
Zweifellos ist es noch zu früh, den Grad der Institutionalisierung eines Systems
aus Akteuren, die von der Entwicklung des Flughafens Paris – Charles de Gaulle betroffen sind, genau auszuwerten. Obwohl man die Reichweite der erfolgten Veränderungen seit dem Beginn der 1990er Jahre nicht leugnen kann, ist doch unbestreitbar,
dass das Projekt der Flughafenerweiterung im heutigen Kontext im Wesentlichen ein
Projekt der ADP bleibt und streng genommen kein kollektives Projekt, um das eine
Form lokaler governance entstehen könnte. Eine solch ambivalente Situation spiegelt
die Veränderungen der Regulierung öffentlicher Politik in diesem Bereich seit dem
Ende der 1980er Jahre wider. Der Zentralitätsverlust des nationalen Rahmens unter
dem vereinten Druck der Europäischen Union und der intranationalen Regierungsebenen zeigt sich bei der Suche nach der Ebene, die am besten geeignet ist, neue
Regulationsmechanismen hervorzubringen, die eine Verbindung zwischen dem Globalen und dem Lokalen darstellen könnte. Es ist keineswegs offensichtlich, dass die
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
115
regionale Regierungsebene in einem so besonderen Fall wie der Ile-de-France die
beste Ebene für diese Aufgabe ist. Angesichts der umfänglichen Ressourcen, über die
bestimmte Einrichtungen verfügen, die privatisiert worden sind oder es demnächst
sein werden, verfügt der regionale Rat über keine ausreichende institutionelle und
Abb.3: Ansicht des Hyatt Regency Hotel
Quelle: www.paris-cdg.com Zugriff am 12.11.2003
Abb. 4: Ansicht des Stade de France (St. Denis)
Quelle: www.plainedefrance.com Zugriff am 12.11.2003
politische Legitimität, um die vorhandenen Interessen um ein kollektives Projekt auf
der Ebene der Metropole Paris zu organisieren. Ohne eine solche koordinierende
Stufe scheint der Zentralstaat immer noch der einzige Akteur zu sein, der in der Lage
ist, diese Mechanismen der politischen Regulation zugunsten ökonomischer und sozialer Kohäsion gegen zuweilen gegenläufige Weltanschauungen zu entwickeln.
4. Schlussfolgerungen
Die Liberalisierung der Ökonomie und die Privatisierung des Sektors haben die
Kräfteverhältnisse, die bis dahin die Beziehungen zwischen öffentlichen Verwaltungen, Infrastrukturbetreibern und großen Verkehrsunternehmen charakterisierten,
umgewälzt. Die partielle oder totale Privatisierung der beiden letzteren Akteure hat
die öffentlichen Verwaltungen ohne einen großen Teil ihres technischen Wissens und
ihrer Vorreiterrolle zurückgelassen. Außerdem passen sich die Strategien, die von den
Flughafenbetreibern und den Luftverkehrsunternehmen entwickelt wurden, in die
unternehmerische Logik ein, die sich an die europäische und internationale Konkurrenz richtet, aber gelegentlich bis in politische nationale und europäische Entscheidungen zur Raumordnung hineinreicht. Die wachsende Kluft zwischen unternehmerischer und raumordnerischer Logik sowie technischer und politischer Legitimität
ist Ursache für zahlreiche politische und soziale Konflikte, die die Notwendigkeit
illustrieren, neue Formen der Interessenorganisation zu entwickeln, die ein gewisses
Niveau sozialer und räumlicher Kohäsion garantieren.
Das Beispiel des Flughafens Paris – Charles de Gaulle und der konfliktreichen
Beziehungen zwischen Aéroports de Paris und den Akteuren der räumlichen Umgebung zeigen die vorher allgemein beschriebenen Transformationen. Die allmähliche
Entstehung neuer intra- und supranationaler Regierungsebenen hat einen Zentralitätsverlust auf nationalem Gebiet bewirkt, so dass die Legitimität von Entschei-
Luftverkehrsinfrastrukturen
116
dungen über Flughafeninfrastruktur im Namen des allgemeinen Interesses gelitten
hat. Die Stärkung der Europäischen Union sowie die Entstehung von nationalen
Subsystemen hat Anliegerverbänden, denen es vorher nicht gelungen war, auf
nationaler politischer Bühne Gehör zu finden, neue Gelegenheiten geboten. In einem beweglichen institutionellen und politischen Rahmen konnten die Gegner der
ADP-Erweiterungspolitik Verbündete finden, die über ausreichende institutionelle,
politische und finanzielle Ressourcen verfügten: lokale Gebietskörperschaften, junge
KandidatInnen bei nationalen und lokalen Wahlen, das Umweltministerium, lokale
Akteure der Wirtschaftsförderung etc. Die Entstehung einer solchen Allianz führte
zu einer Ausdehnung der Forderungen vom reinen Kampf gegen den Fluglärm hin
zu der Einsetzung eines Systems zur Umverteilung ökonomischer und steuerlicher
Ressourcen, die durch den Flughafen generiert wurden – eine Strategie, die langfristig
fruchtbar wurde. Es ist noch zu früh, mit Sicherheit festzustellen, ob die im Laufe der
vergangenen Jahre eingeführten Veränderungen im Entscheidungssystem über den
Flughafen Paris – Charles de Gaulle tatsächlich die Integration in seine Umgebung
garantieren.
Auf jeden Fall hat die Heftigkeit dieses Konfliktes die Notwendigkeit ans Licht
gebracht, mit der Neuverteilung von Kompetenzen und Verantwortlichkeiten zwischen öffentlicher Hand, Infrastrukturbetreibern und Luftfahrtunternehmen fortzufahren. Es wird nur über vollständige Information, eine verstärkte Kontrolle und
die Durchsetzung von Sanktionen im Fall von Umweltbeeinträchtigungen oder
Nichteinhaltung der Regeln zur Lärmminderung möglich sein, das Vertrauen der
Anwohnerschaft in die Legitimität politischer Autoritäten und der Flughafenbehörden wieder herzustellen.
Anmerkungen
1
2
Diese Strategie, die Mitte der 1980er Jahre in den Vereinigten Staaten entwickelt
wurde, besteht darin, vernünftige Umsteigezentren zu schaffen, um die Kurz-,
Mittel- und Langstreckenflüge einer Luftfahrtlinie zu optimieren. Diese Linien
werden gestärkt durch einen zentralen Umsteigeknoten (Hub) und eine dortige
Umverteilung der Passagiere mit verschiedenen Zielen (Spokes).
Die Fallstudie wurde im Rahmen einer Doktorarbeit am Institut d’Etudes Politiques de Paris durchgeführt. Erste Presseanalysen erlaubten es, die grobe Entwicklung der Flughafeninfrastruktur in der Region Paris seit 1945 durchzuführen.
Wir stützen uns auf eine vorhandene Auswahl der Fondation nationale des Sciences Politiques (Dossier „Transport aérien“, 553/12, 9 tomes), die die in der
nationalen wöchentlichen und monatlichen Presse erschienenen Artikel enthält.
Eine ergänzende Analyse wurde in der lokalen, regionalen und spezialisierten
Presse durchgeführt. Darüber hinaus wurden systematische Dokumentenanalysen, die von den verschiedenen Organisationen, die am Entscheidungsprozess
beteiligt waren, ebenso wie Rechtsverordnungen herangezogen. Wir versuchten,
diese Erhebungen durch drei Gesprächsreihen mit den Akteuren des Konfliktes,
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
3
4
5
6
7
8
9
117
die zu dem einen oder anderen Zeitpunkt am Entscheidungsprozess beteiligt
waren, zu vervollständigen. Diese 65 Gespräche wurden im Frühjahr und Herbst
2001 in der Region Ile-de-France und im Herbst 2002 in der Region Ile-de-France,
in Toulouse und in Lyon geführt. Die Personen sind in diesem Artikel anonymisiert worden.
Die Schaffung des District de la Région parisienne oder Bezirk Paris erfolgte durch
das Gesetz vom 02.08.1961. Er wurde direkt unter die Kontrolle von General de
Gaulle, dem damaligen Präsidenten der Republik, und seinem Premierminister
Michel Debré gestellt. Er wurde von Michel Debré als „bewaffnete Arm des Staates in der Region Paris“ bezeichnet (vgl. Larroque/Margairaz/Zembri 2002: 226)
und symbolisierte die Übernahme der Pariser Region durch den Staat angesichts
der Rolle dieses Gebiets als ein Motor der nationalen Entwicklung. Es lag auch
an diesem Ausnahmestatus, dass der Bezirk Paris größere Schwierigkeiten hatte,
einen Dialog mit den großen Verkehrsunternehmen (RATP, SNCF) zu initiieren,
die ihn als einen Störenfried betrachteten, oder auch mit der zentralstaatlichen und
den lokalen Verwaltungen, die darunter leiden, dass sie aus den vorbereitenden
Diskussionen über den Regionalentwicklungsplan des Großraums Paris ausgeschlossen sind.
Gespräch am 13.03.2002
Der administrative Neuzuschnitt der Region Paris trat mit dem Gesetz vom
10.07.1964 in Kraft, mit dem per Erlass am 08.10.1966 acht Départements geschaffen wurden. Ab diesem Datum waren die 3.109 ha des Flughafens Paris
– Charles de Gaulle auf acht Kommunen und drei Départements verteilt: 1.518 ha
in Seine-et-Marne (Gemeinden Compans, Le Mesnil-Amelot, Mauregard und Mitry-Mory), 838 ha in Val d’Oise (Gemeinden Epiais-les-Louvres, Roissy-en-France,
Louvres) und 735 ha in Seine-Saint-Denis (Gemeinde Tremblay-en-France).
Gespräch am 19.11.2002
Die Untersuchung über den öffentlichen Nutzen ist ein Verfahren, das durch
eine Vorschrift im Jahr 1958 eingeführt wurde, um eine frühe Information der
Öffentlichkeit und eine möglichst umfassende Information der Verwaltung zu
sichern. Das Verfahren wurde im Laufe der Zeit ständig verbessert in Hinblick
auf eine bessere Information der Öffentlichkeit (1976), den Umweltschutz (1977),
die sozio-ökonomische Dimension (1984) und die Beteiligung der Öffentlichkeit
an der Projektumsetzung (1985). Aber erst seit dem Bianco-Rundschreiben vom
15.12.1992 zur Durchführung großer nationaler Infrastrukturprojekte und dem
Barnier-Gesetz vom 02.02.1995 über die Durchsetzung des Umweltschutzes kann
mit dem Verfahren der öffentlichen Anhörung eine öffentliche Debatte organisiert werden, die über den Raumordnungsentscheidungen mit weitreichenden
sozio-ökonomischen und Umweltauswirkungen steht (vgl. Prieur u.a. 1990).
Gespräch am 19.11.2002
Bei dieser Gelegenheit wurde auch das wirkliche Ungeheuer der Schaffung eines
dritten internationalen Flughafens in Ile-de-France wieder aufgescheucht:. Diese
rein politische Entscheidung lebte mehrmals wieder auf, um durch die Regierung
Luftverkehrsinfrastrukturen
118
10
11
8
Raffarin – vorläufig? – endgültig zu den Akten gelegt zu werden (vgl. Le Monde
vom 24.05.2002).
In einer Pressemitteilung angekündigte Politik durch Gilles de Robien, den aktuellen Verkehrsminister
Gespräch am 23.01.2001 Les Sem – société d’économie mixte – ont deux caractéristiques importantes. D’une part, il s’agit de sociétés anonymes dont le capital est
composé par la collectivité locale, actionnaire majoritaire, et par des partenaires
économiques et financiers. D’autre part, ce sont des entreprises publiques mais
soumises aux règles du droit privé. Cette formule juridique vise à structurer un
type de partenariat public/privé qui associe la prise en compte de l’intérêt général représenté par la collectivité publique et la prise en compte des valeurs et des
logiques du marché et de l’entreprise. Il existe en France plus de 1200 SEM qui
réalisent un chiffre d’affaire annuel global de 13 milliards d’euros (juillet 2002).
Elles interviennent dans les secteurs qui recouvrent des missions d’intérêt général : aménagement du territoire, réseaux et environnement (eau, gaz, électricité,
câble…), gestion d’équipements sportifs et culturels, logement, transports en
commun… La Fédération Nationale des Sem (FNSEM) se rapproche de la KFS
en Suède ou de la VKU en Allemagne.
In Frankreich hat eine lokale Gebietskörperschaft nicht das Recht, kommerzielle
Investitionen zu tätigen.
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Veltz, Pierre (1997), Mondialisation, villes et territoires. L’économie d’archipel, coll. «
économie en liberté », 2ème ed., PUF : Paris.
Wright, Vincent, Cassese, Sabino (dir.) (1996), La recomposition de l’Etat en Europe,
coll. Recherches, La Découverte : Paris.
La Croix (21/11/1971): 5 minutes avec M. Raymond Oisée, Maire de Roissy-enFrance.
La Tribune de l’économie (07/08/1986) : Jacques Douffiagues définit 4 priorités
pour les aéroports parisiens.
Le Figaro (31/01/1964) : Dans 10 ans « Paris – Nord », premier aéroport français :
une interview de M. Marc JACQUET, Ministre des Travaux publics et des Transports.
Le Figaro (09/10/1964) : Quand Paris sera à 3 heures de New York.
Le Monde (15/06/1989) : Roissy, l’aéroville.
Le Monde (31/07/1998) : Orly craint qu’Air France ne choisisse de se délocaliser à
Roissy.
Le Monde (24/05/2002) : Mr. Bussereau confirme le rejet du troisième aéroport
parisien.
Les Echos (27/02/1996) : Air France peaufine son projet de plate-forme à Roissy.
Les Echos (24/09/1997) : Jean-Claude Gayssot autorise la construction de deux pistes supplémentaires à Roissy.
Luftverkehrsinfrastrukturen
120
Flughafen
Passagiere
(in Mio.)
Fracht und Postdienste
(in 1.000)
Bewegungen
(in 1.000)
London
106,9
1.726,6
918,9
Paris
71
1.706,1
741,6
Frankfurt
48,6
1.613,2
456,5
Amsterdam
39,5
1.234,2
416,5
Tabelle 1: Erfasste Aktivitäten in den wichtigsten europäischen Flughäfen im Jahr 2001
Quelle: Aéroports de Paris, Annual Report 2001, Februar 2002, S. 70-79
Flughafen
Passagiere
(in Mio.)
Fracht und Postdienste
(in 1.000)
Bewegungen
(in 1.000)
Paris - CDG
47.9
1,363.5
215.5
Paris - Orly
23
99.8
515.1
Tabelle 2: Aufteilung des Luftverkehrs in der Ile-de-France im Jahr 2001
Quelle: Aéroports de Paris, Annual Report 2001, February 2002, S. 70-79
1975
1982
1990
Saldo 1975-1990
Seine-et-Marne
755.762
887.112
1.078.166
+ 43 %
Compans
325
345
507
+ 56 %
Mauregard
198
208
226
+ 14 %
Le Mesnil-Amelot
1.458
823
705
- 52 %
Mitry-Mory
13.741
12.731
15.205
+ 11 %
Seine-Saint-Denis
Tremblay-enFrance
Val d‘Oise
1.322.127
1.324.301
1.381.197
+ 4,5 %
26.846
29.644
31.385
+ 17 %
840.885
920.598
1.049.598
+ 25 %
Roissy en France
1.362
1.401
2.054
+ 51 %
Epiais-les-Louvres
151
84
80
- 47 %
Louvres
7.961
7.385
7.508
-6%
Total Ile-de-Fran9.878.565
10.073.059
10.660.554
+ 8%
ce
Tabelle 3: Bevölkerungsentwicklung in den Nachbarkommunen von Roissy – Charles de Gaulle von 1975 bis 1990
Quelle: Bevölkerungserfassung der l’Ile-de-France durch INSEE in den Jahren 1975, 1982, 1990
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
121
Zeitleiste
1945
1957
1961
1973
1974
1982
1985
1991
1993
1983
1995
1996
1997
1998
1999
Schaffung der Aéroports de Paris, einer autonomen öffentlichen Einrichtung
zur Förderung der zivilen Flugplätze in der Region Paris
Raumordnungsverfahren für einen Flugplatz im Nordosten der Region Paris
durch Aéroports de Paris
Inbetriebnahme des Flugplatzes Orly im Süden von Paris, Schaffung des Bezirks Paris
Annahme eines Generalflughafenplans durch die Regierung und das Dekret
zur „Einsetzung einer parafiskalischen Steuer zur Schadenslinderung für die
Anwohnerschaft der Flughäfen Roissy und Orly“ (JO 27/02/1973)
Inbetriebnahme des ersten Abfertigungsgebäudes des Flughafens von ParisNord, genannt „Paris - Charles de Gaulle“, und der Startbahn Nord
Inbetriebnahme des zweiten Abfertigungsgebäudes des Flughafens Paris
- Charles de Gaulle und einer zweiten Startbahn von 3.700 m Länge für 13
Mio. Passagiere jährlich
Verabschiedung eines Gesetzes über „Städtebau im Umfeld von Flughäfen“,
das allen zivilen und Militärflughäfen die Schaffung eines Schutzstreifens,
in dem das Bauen stark eingeschränkt ist, auferlegt. Das Instrument hierzu
ist der Plan d’Exposition au Bruit (PEB), der auf der Basis von Indikatoren
konzentrische Zonen A, B und C umgrenzt, in denen die Auflagen entsprechend der Lärmintensität variieren. Der PEB wird alle 15 Jahre an die technische Entwicklung und die Verkehrsentwicklung angepasst.
Vorbereitung des Erweiterungsprojektes für den Flughafen Paris - Charles
de Gaulle durch Aéroports de Paris, der ein Jahr später unter dem Namen
„Roissy 3“ veröffentlicht wird.
Vorbereitung der Erklärung des öffentlichen Nutzen.
Öffnung des TGV-Bahnhofs „Aéroport Charles de Gaulle“. Veröffentlichung des Fève-Berichts, der den Bedarf der Vergrößerung des Flughafens
Paris - Charles de Gaulle erklärt, aber Begleitmaßnahmen empfiehlt.
Bericht der Kommission Douffiagues, die „das Ziel geringerer Geräuschimmissionen“ bei der Umsetzung des modifizierten Erweiterungsprojektes für
den Flughafen empfiehlt. Die Regierung Juppé folgt diesen Empfehlungen
und kündigt eine Reihe von Begleitmaßnahmen an.
Öffentliche Verhandlung der Entwicklung des Flughafens Paris - Charles de
Gaulle (Rapport Carrère).
Öffentliche Anhörung, die eine positive Rückmeldung unter verschiedenen
Bedingungen erreicht, insbesondere eine verbesserte Information der Öffentlichkeit und die Kontrolle der Geräuschimmissionen. Die Maßnahmen
wurden durch die Regierung Jospin entwickelt.
Eröffnung des Terminals 2F, der für Air France und ihre Partner reserviert
ist. Bauarbeiten an zwei neuen Flugbahnen.
Schaffung einer Behörde zur Kontrolle der Fluglärmemissionen
122
Floridea di Ciommo
DER NORDEN VON PARIS
Auf dem Weg zu einer interkommunalen Zusammengehörigkeit?
In Bezug auf die komplexe Frage nach einer Regierbarkeit des Großraums Paris,
die mit den sich vervielfältigenden Quellen institutioneller Konflikte auf der regionalen Ebene zusammenhängt (Lefèvre 2002) weist die nördliche Peripherie von Paris,
einstmals das industrielle Herz, Anzeichen größter institutioneller Kohärenz und der
Handlungsfähigkeit der lokalen Regierungen auf, einer Fähigkeit, die dank der Realisierung von Maßnahmen und Projekten im Bereich der städtischen Revitalisierung
durch eine Entwicklung von intensiven Beziehungen zwischen der Politik und der
Ökonomie in der letzten Zeit gestärkt worden ist. Bezüglich der städtischen governance ist die Analyse der Beteiligung von Akteuren aus dem privatwirtschaftlichen
Sektor (Handelskammer, Verbände, größere und kleinere Unternehmen) an solchen
politischen Strategien, die eine Bedingung für die Regierbarkeit der Region darstellt.
Was auf der Ebene des Großraums ein schwieriges Unterfangen zu sein scheint,
nämlich die Schaffung neuer Regierungsinstitutionen, scheint sich in einem enger
begrenzten Gebiet wie dem Norden von Paris verwirklichen zu lassen. Aus diesbezüglichen Analysen lässt sich ablesen, dass dort die Beteiligung der Akteure aus der
Privatwirtschaft an der Revitalisierungspolitik zu einer gewissen Autonomie dieses
Teils der Region gegenüber der Gesamtregion Paris geführt hat. Tatsächlich hat die
Beteiligung „Ad-hoc“-Instrumente zur Durchführung von Revitalisierungsstrategien
und –projekten unterstützt, die eine Autonomie gegenüber den anderen politischen
Ebenen wie der Region, dem Département und den Kommunen aufweisen. Auf diese Weise ist im Jahre 1999 der interkommunale Zusammenschluss Plaine Commune
von fünf Gemeinden in der nördlichen Peripherie von Paris entstanden (Saint-Denis, Aubervilliers, Pierrefitte, Epinay-sur-Seine, Villetaneuse). Diese neue öffentliche
Verwaltungsstruktur vereinigt die vormals bei den Gemeinden liegenden Kompe-
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
123
tenzen in den Bereichen Wirtschaftsentwicklung und Stadtplanung. Mittels dieser
Kompetenzen wird Plaine Commune zum passendsten Ort für die Durchführung
von Revitalisierungsstrategien und den zugehörigen Projekten, der die verschiedenen
planerischen und wirtschaftsförderungsbezogenen Aktivitäten des nördlichen Pariser
Großraums aufeinander abstimmt.
Eine gründliche Untersuchung der Entstehung dieser neuen Verwaltungseinheit
unterstreicht die Bedeutung einer Entwicklung der Beziehungen zwischen den Akteuren des politischen und des privatwirtschaftlichen Bereichs, die in den letzten zehn
Jahren (1993-2003) stattgefunden hat. Die zuvor offen konfrontativen Beziehungen
zwischen den kommunistischen Lokalpolitikern und den Eigentümern der Großunternehmen haben sich seitdem entspannt und sind von der ausgeprägten Fähigkeit
der Akteure aus der Politik gekennzeichnet, den Bedürfnissen der Privatwirtschaft
Gehör zu schenken. Diese Veränderungen der Beziehungen haben die privaten Unternehmer dazu gebracht, insbesondere im Hinblick auf ihre Standorte ihre Stimme
zu erheben und sich loyal zu verhalten (Strategiebündel voice-loyalty, vgl. Hirschman
1970). Die offenere Haltung der Politiker in Bezug auf die der Privatwirtschaft stellt
sich schließlich als Ausgangspunkt für die Veränderung ihrer Reputation heraus, auf
der wiederum das inzwischen erworbene Vertrauen der traditionellen wirtschaftlichen
und die Herausbildung neuer regionsbezogen organisierter wirtschaftlicher Akteure
wie des partnerschaftlich getragenen Verbands St. Denis Promotion aufbaut.
1. Rahmenbedingungen städtischer Revitalisierungspolitik
Der Ursprung der Beteiligung der Akteure aus der Privatwirtschaft an der Politik
und an der Revitalisierungspolitik liegt in der Natur dieser Strategien und Projekte.
Tatsächlich sucht die Revitalisierungspolitik durch die Neuplanung von ehemals
industriell genutzten und dann durch Schließung oder Standortwechsel von Unternehmen brach gefallenen Arealen nach komplexen Lösungen im Zusammenhang
mit lokalen Wirtschaftsförderungsmaßnahmen, die neue wirtschaftliche Aktivitäten
stimulieren sollen. Diese Notwendigkeit integrierter Lösungen verstärkt eine Zusammenarbeit von Politik und Wirtschaft. Dabei wird die Lokalpolitik und die Autonomie der betroffenen Areale während des Revitalisierungsprozesses gestärkt: Auf der
einen Seite ignorieren die Kernstädte die Probleme der deindustrialisierten Areale
tendenziell, auf der anderen Seite begreifen die Politiker der betroffenen Gemeinden, die aufgrund der Folgen der wirtschaftlichen Krise zur Suche nach Lösungen
gezwungen sind, Revitalisierung als eine Chance, die Bedeutung ihres politisches
Mandats auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene zu stärken.
Eine Analyse der Sozial- und Wirtschaftspolitik macht deutlich, welche Grenzen
einer lediglich von Akteuren aus der Politik formulierten Strategie innewohnen. Tatsächlich erfordert ein Umgang mit Deindustrialisierung und Revitalisierung auch
eine Veränderung der Ausbildung von Fachkräften im Hinblick auf die Berücksichtigung der Bedürfnisse, die neu entstehende produktive Aktivitäten haben. Überall in
Frankreich, aber insbesondere im Großraum Paris wird Revitalisierungspolitik über
124
Der Norden von Paris
die Realisierung von städtischen Großprojekten betrieben, im Rahmen derer sowohl
Akteure aus der Politik als auch aus der Wirtschaft berücksichtigt werden: Die Politiker bevorzugen bei der Umsetzung der Projekte vor Ort ansässige Unternehmen,
die wiederum der Politik Aufstiegsmöglichkeiten für ihre lokalen Führer bieten. Wie
einige Autoren unterstrichen haben (Ascher 1992), haben partnerschaftliche Ansätze in Frankreich in der Stadtpolitik vor allem Infrastrukturprojekte zum Inhalt, wie
etwa die Entwicklung von Stadtquartieren oder Verkehrsprojekte. In diesem Umfeld
sind offenbar zwei Merkmale der Akteurskonstellation ausschlaggebend für eine erfolgreiche städtische Revitalisierungspolitik: Zunächst und in erster Linie ist dies ein
System lokaler Akteure, das aus Akteuren aus der Wirtschaft und Privatleuten besteht, heterogen strukturiert ist und sich auf vielfältige Kompetenzen stützt, während
in zweiter Linie eine Zusammenarbeit der Politiker und Unternehmer auch in den
Stadtbereichen möglich wird, in denen traditionellerweise ideologische Positionen die
Etablierung solcher Beziehungen erschwert hat. In gewisser Hinsicht zeigen die empirischen Daten, dass diese beiden Voraussetzungen im Norden von Paris vorliegen.
Die Akteure aus der Privatwirtschaft, die sich in die Stadtentwicklungspolitik einbringen, sind vielfältig: von schließungsbedrohten Betrieben über Unternehmensverbände kleiner, mittlerer und großer Unternehmen bis hin zu Organisationen wie
der gemischtwirtschaftlichen St. Denis Promotion, die für einen räumlich definierten Wirkungsbereich eingerichtet werden. Trotz der Heterogenität dieser vor Ort
vorfindbaren Akteure kann sich eine gewisse Interessenüberschneidung zwischen
öffentlichen und privatwirtschaftlichen Akteuren herausbilden wie diejenige zwischen den kleinen und mittleren Unternehmen, die sich um einen Standort auf von
Großbetrieben aufgegebenen Flächen bemühen einerseits und der Lokalregierung
andererseits, die die Revitalisierungspolitik federführend betreibt. In Fällen wie dem
im Norden von Paris haben die beiden Akteurstypen tatsächlich ein gemeinsames
Ziel: den Bodenpreis zu begrenzen.
2. Die industrielle Vergangenheit des Pariser Nordens
Die Deindustrialisierung des Pariser Nordens hat sich hingezogen: Eine industrielle Dezentralisierung ab den 1950er Jahren, also eine Verlagerung der Produktionsaktivitäten, folgte auf die Schaffung des staatlichen Verfahrens des agrément (Übereinkunft) zur Ansiedlung produzierender Betriebe in der Region Paris (Ile-de-France)
und hat allmählich zu einem Abbau der industriellen Aktivitäten im städtischen
Raum geführt, was zu Problemen der sozioökonomischen Entwicklung vor Ort
geführt hat. Im Laufe der Zeit hat diese Dynamik zu einer fortschreitenden Deindustrialisierung dieser Region und dabei vor allem ihres nördlichen Teils geführt, der
grob die Gemeinden Saint-Denis, Aubervilliers und Courneuve umfasst. Zu dieser
zentralstaatlich geförderten und auf einen Ausgleich zwischen der großen französischen Metropole und dem Rest des Landes (Gravier 1947) abzielenden industriellen
Dekonzentration kam Anfang der 1970er Jahre die Ölkrise, die die Produktion in den
traditionellen Sektoren wie der Stahl- und der Maschinenbauindustrie am stärksten
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
125
getroffen hat. Der Wille der staatlichen Politik zur Dezentralisierung der Industrie
und die wie in allen westlichen Ländern negative Situation der Weltkonjunktur bilden
mithin zwei wichtige Elemente des Niedergangs im Pariser nördlichen Randbereich.
Insbesondere bis zu den 1990er Jahren ist mit der Abwanderung der Industrieunternehmen dort keine Tertiärisierung der Ökonomie einhergegangen, wie dies etwa in
der Kernstadt von Paris oder im Westen der Metropolregion der Fall war. In Abwesenheit von Merkmalen ökonomischer Umstrukturierung erlebte der Norden von
Paris damit einen unerbittlichen Niedergang.
Abbildung 1: Bautätigkeit (neu in Angriff genommene Baustellen) im Bürodienstleistungssektor in der Region Ile-de-France
Im Jahre 1985 schafft die damalige sozialistische Regierung unter Fabius das verbindliche Zustimmungsverfahren beim Bau von Büroflächen in der Region Ile-deFrance ab, zu einem Zeitpunkt, da die allgemeine Wirtschaftskrise die Notwendigkeit
einer Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung auch im Pariser Ballungsraum nahe
legt, ganz unabhängig von der Frage nach einem wirtschaftspolitischen Ausgleich
zwischen Paris und der Provinz. Diese Modifizierung des gesetzlichen Rahmens erleichtert den Übergang von einer industriell geprägten zu einer tertiären Wirtschaftsstruktur. Wenn man die Entwicklung der Bautätigkeit für Büroflächen und Produktionsgebäude vergleicht, stellt man die stärkste Dynamik im Bereich der Büroflächen
fest, was der Prozess der wirtschaftlichen Tertiärisierung auch nahe legt. Durch die
Abschaffung des Zustimmungsverfahrens soll die wirtschaftliche Entwicklung in der
Ile-de-France wieder ins Lot gebracht werden (vgl. Abb. 1 und 2).
In den 1990er Jahren reicht diese Veränderung im staatlichen Genehmigungsverfahren nicht aus, um einen neuen Aufstieg der darnieder liegenden Teilregion
herbeizuführen, da das eigentliche Problem eher im sozioökonomischen Profil ihrer
Bewohner liegt, deren zu einem beträchtlichen Teil auf den traditionellen Industrie-
126
Der Norden von Paris
sektor ausgerichtete Qualifikationen ihrer Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt
über die neuen Unternehmen im tertiären Sektor oder im Hochtechnologiebereich
im Wege steht (Beckouche, 1999). Die ansässige Bevölkerung gehört den untersten
sozioökonomischen Schichten an. Ein Vergleich der durchschnittlichen Einkommen
macht deutlich, dass im Norden von Paris ärmere Leute leben als in den örtlichen
Unternehmen beschäftigt sind. Betrachtet man die lokale Wirtschaftsstruktur im
Detail, so wird deutlich, dass zwei Drittel der vorhandenen Arbeitsplätze nicht von
Bewohnern der Region eingenommen werden.
Abbildung 2: Bautätigkeit bei Produktionsgebäuden in der Region Ile-de-France
Dies liegt an der Diskrepanz zwischen dem Qualifikationsprofil der Bewohner und
den nachgefragten Fähigkeiten. Nur ein Drittel der Bewohner hat Zugang zu den vor
Ort angebotenen Arbeitsplätzen, und dieses Drittel gehört überdies den untersten
Einkommensschichten an (Insee/Iaurif, 2001). Auf diese Weise ist das Ungleichgewicht innerhalb des Ballungsraums vorgezeichnet. In den 1990er Jahren tut die in der
gesamten industrialisierten Welt lange Zeit andauernde Rezession ein Übriges dazu.
Ein Indikator für die Verschlimmerung der Situation ist die Zunahme der Arbeitslosenquote im Norden von Paris von 5 % im Jahre 1975 auf 18,5 % im Jahre 1999 im
Vergleich zu der der Gesamtregion, die bei 11,5 % liegt (Insee, 2001). Noch beunruhigender ist die Tatsache, dass 28 % der unter 25-Jährigen arbeitssuchend ist, während der Vergleichswert für die Region bei 19,7 % liegt. Die Verwerfungen zwischen
dem Norden von Paris und dem Ballungsraumdurchschnitt sind damit deutlich geworden. Die Entwicklungen erklären auch die Abwanderung, unter der der Norden
von Paris leidet, ein junges Gebiet mit einem Anteil von 37 % der Bevölkerung im
Alter von unter 25 Jahren, in dem in den 1990er Jahren ein starker Abwanderungssaldo von 91.005 Personen zu verzeichnen ist (Insee/Iaurif, 2001). Eine solche Zahl
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
127
bedeutet, dass der Teil der aktiven Bevölkerung, der eine Beschäftigung findet, den
Norden von Paris verlässt, um seine wirtschaftliche Situation zu verbessern, und sich
in anderen Départements der Region Ile-de-France niederlässt. Die lokalpolitischen
Verantwortlichen sind sich dieser Problematik immer mehr bewusst und versuchen,
nicht mehr eine Politik zu fördern, die Zuzug fördern, sondern über eine Verbesserung der Lebensbedingungen vor Ort die ansässigen Bewohner halten will.
3. Der Ursprung des Verbands „Plaine Commune“: die Notwendigkeit einer territorialen Zusammengehörigkeit
Abbildung 3: Der Norden von Paris und der Stand der interkommunalen Zusammenarbeit
128
Der Norden von Paris
Der Gemeindeverband Plaine Commune wird im November 1999 mit der Einrichtung eines interkommunalen Rats und der Annahme einer Satzung und einer
Geschäftsordnung gegründet. Fünf Gemeinden aus dem kleinen Ring im Norden
von Paris beteiligen sich an dieser Initiative: St. Denis (86.000 Einwohner), Aubervillieurs (63.000 Einwohner), Epinay-sur-Seine (46.000 Einwohner), Pierrefitte (26.000
Einwohner) und Villetaneuse (11.000 Einwohner). Die Initiative reiht sich in den
Kontext der im Loi Chevènement im Juli 1999 festgelegten Rahmenbedingungen ein
(vgl. Abb. 3).
Die Wahl der interkommunalen Zusammenarbeitsform entsteht aus dem Vorgängermodell „Plaine Renaissance“, das von den Gemeinden St. Denis, Aubervilliers
und St. Ouen getragen wurde. Diese Organisation hatte die Entwicklung der Ebene
von Saint Denis anlässlich des Baus des Stade de France im Lauf der 1990er Jahre
zum Ziel. Die wirtschaftliche Dynamik von Aubervilliers und Saint Denis ist unterschiedlich, und letztere profitiert einseitig vom Wirken des Verbands. In den 1990er
Jahren steigt nämlich das Aufkommen der lokalen Umsatzsteuer von Aubervilliers
zwar um 10 %, doch das der Gemeinde Saint Denis wächst nachhaltiger und stärker,
nämlich in einem Umfang von etwa 40 %. Dieses Ungleichgewicht ist der Tatsache
geschuldet, dass der größte Teil der Bauunternehmen in der Gemeinde Saint Denis
liegen, wo sie auch ihre Umsatzsteuer entrichten. Das so entstandene Problem der
steuerlichen Ungleichheit zwischen den beiden Gemeinden will der neue Verband
lösen, indem er wie alle interkommunalen Zusammenschlüsse auf der Grundlage des
Loi Chevènement eine einheitliche Umsatzsteuer mit zusammengelegten Einnahmen
vorsieht. Die Gemeinden Epinay-sur-Seine, Pierrefitte und Villetaneuse schließen
sich der Initiative ebenfalls an. Die Gemeinden von Saint-Ouen und Courneuve
dagegen, die vor einigen Jahren eine Erklärung zur interkommunalen Entwicklung
unterzeichnet haben, sind entschlossen, dem stärkeren und damit auch stringenteren Gemeindeverband fern zu bleiben. Sie haben dafür unterschiedliche Gründe.
Während Courneuve sich aus ideologischen Gründen geweigert hat, Teil von Plaine
Commune zu werden, weil sein Bürgermeister der traditionellsten Strömung der
französischen kommunistischen Partei angehört, will die Gemeinde St. Ouen eine
gewisse ökonomische Unabhängigkeit beibehalten und den lokalen Umsatzsteuersatz
gegenüber den anderen Gemeinden im Norden von Paris niedriger ansetzen (16,6 %
im Vergleich zu 20 % im Durchschnitt des Départements), um so eine Brüskierung
der zahlreichen Handelsunternehmen in ihrem Gemeindegebiet zu vermeiden.
Wie einige Autoren unterstreichen (Pontier 2002), wird die Entwicklung von Plaine Commune von finanziellen Fragen bestimmt: Tatsächlich ist die Globalzuweisung
des Staats nun höher und erreicht 38 Euro pro Einwohner im Vergleich zu dem früheren Wert von 18, womit die neu gegründete interkommunalen Vereinigung 8,4 Mio.
Euro überwiesen erhält. Somit darf man den Einfluss der wirtschaftlichen Sphäre
auf die Schaffung von Plaine Commune nicht unterschätzen. Einige Bürgermeister
setzen ihre Beziehungen zu den örtlichen Unternehmen ein, um eine Revitalisierung
ihrer verfallenen Stadtgebiete erreichen zu können. Im Zusammenhang mit Großprojekten (Stade de France, Plaine St. Denis) entsteht ein institutioneller Zusammen-
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
129
schluss von Unternehmen und den örtlichen Gemeinschaften: St. Denis Promotion
mit seinem ersten Direktor Philippe Pion, Beamter der Gemeinde St. Denis, und
dem Präsidenten Francis Dubrac, Bauunternehmer und Direktor von „Dubrac und
Brüder“. Später erhält Pion die Verantwortung für die lokale Wirtschaftsförderpolitik von Plaine Commune, und der Verband St. Denis Promotion zieht in das gleiche
Gebäude wie Plaine Commune. Im Jahre 2002 wird dieser Zusammenschluss von
Unternehmen und Gemeinden zu „Plaine Commune Promotion“.
4. Die Funktionsweise der interkommunalen Strukturen
Plaine Commune erhält mit seiner Gründung zwei Hauptaufgaben, die Förderung
der wirtschaftlichen Entwicklung und die räumliche Planung, Kompetenzen, die
die Mitgliedsgemeinden an den Verband delegieren. Was die Wirtschaftsförderung
betrifft, so werden ihm die Beschäftigungsangelegenheiten und die Vermittlung
zwischen Gemeinden einerseits sowie Forschungseinrichtungen und Universitäten
andererseits übertragen. Im Bereich der Planung wird er lediglich verantwortlich für
die übergemeindliche Verkehrsinfrastruktur und für das Instrument der Stadtverträge zur räumlichen Entwicklung. Schließlich ist mit der Transformation von Plaine
Commune in einen vollwertigen Gemeindeverband auch der soziale Wohnungsbau
in den Kompetenzbereich von Plaine Commune übergegangen.
In diesem Zusammenhang richten sich die Diskussionen zwischen den Akteuren
aus dem politisch-administrativen und dem ökonomischen Bereich auf die möglichen Verbindungen zwischen Unternehmenserfolg und öffentlicher Wohnungspolitik. Sie konzentrieren sich dabei auf eine Anpassung der Wohnungspolitik. Die
Kernfrage lautet: Ist es besser, neue Bewohner anzulocken, und dabei vor allem
Manager und Führungskräfte, die zu den reicheren Schichten zählen, oder sollte
man lieber auf eine Verbesserung der sozioökonomischen Verhältnisse der Ortsansässigen setzen? Da die spontanen Versuche der Wohnungspolitik, die genannten
Leistungsträger anzuziehen, sich als Fehlschlag erwiesen haben und letztere nur in
einem geringen Ausmaß zur Belebung des genannten Raums der Seine um Saint
Denis beigetragen haben, verändern die zu Plaine Commune gehörigen Gemeinden
ihre Stadtentwicklungsstrategien in Zusammenarbeit mit einigen in Verbänden zusammengeschlossenen Akteuren aus der Wirtschaft und Bildungseinrichtungen (wie
die Universitäten Paris VIII und Paris XIII sowie Berufsbildungseinrichtungen im
Bereich des Handwerks) durch eine Verknüpfung der sozioökonomischen und der
räumlich-planerischen Dimension. Auf diese Weise ist vorgesehen worden, dass der
Zugang der örtlichen Jugendlichen zu einer Ausbildung auf der Grundlage der von
den Unternehmen geäußerten Bedürfnisse und einer Revitalisierung der niedergegangenen Industriegebiete erleichtert werden soll, um letztere wieder in den stadträumlichen Zusammenhang zu reintegrieren. Die Aufgaben sind dabei auf zwei Gruppen
von öffentlichen Beschäftigten verteilt, die eine unterschiedliche Herkunft haben.
Die Gruppe, die sich mit der örtlichen Wirtschaftsentwicklung befasst, besteht aus
Personen, die zuvor in den gemeindlichen Wirtschaftsämtern tätig waren, während
130
Der Norden von Paris
die Planer neu eingestellt wurden. Dieser organisatorische Unterschied unterstreicht
die wirkliche Übertragung der gemeindlichen Entwicklungsaufgaben auf die interkommunale Organisation, während die Übertragung der Planungskompetenzen nur
teilweise stattfindet. Die Gemeinden bevorzugen es nämlich, ihre stadtplanerischen
Kompetenzen als politisches Instrument im Verhältnis zu den Bürgern beizubehalten, um ihre Wählerbasis zu sichern. Hierdurch besteht das echte Risiko eines Kompetenzwirrwarrs im Bereich der Planung.
5. Das sozioökonomische Ungleichgewicht im Bereich von
Plaine Commune
Die Analyse statistischer Daten über den Gemeindeverband unterstreicht, dass
die von den beiden Gemeinden Saint Denis und Aubervilliers ursprünglich gebildete
Achse weiterhin den stärksten Teil des Verbandsgebiets darstellt, und zwar sowohl
im Hinblick auf die Bevölkerung (beide Städte zusammen vereinigen 149.000 der
232.000 Einwohner des gesamten Verbandsgebiets auf sich) als auch auf die Fläche
(29,5 km² der insgesamt 40 km²) und die wirtschaftliche Lage, nämlich durch die
Präsenz von Großunternehmen wie Siemens, Rhodia und, kürzlich hinzugekommen,
AFNOR, die das Gebiet wegen seiner guten Anbindung an den öffentlichen Verkehr
und die Straßeninfrastruktur (Autobahnen, Tangenten) an sich binden konnte. Wegen dieser eher ungleichgewichtigen Verteilung von Wirtschaftsunternehmen und
Infrastruktur werden Anstrengungen zu einer besseren Integration der anderen Gemeinden unternommen. In diesem Sinne kann man die Wahl des Bürgermeisters von
Villetaneuse zum Präsidenten des Amts für lokale Entwicklung von Plaine Commune
verstehen. Die Entwicklung von Plaine Commune wird vom Gesamtstaat und der
Region Ile-de-France mit großem Interesse verfolgt, da der Verband eines der ersten
Beispiele für einen organisierten und starken interkommunalen Zusammenschluss in
der Region Paris darstellt.
6. Politische Führung im Norden von Paris
Im Lauf der Zeit, insbesondere zwischen 1950 und 1990, haben die unterschiedlichen Denkweisen der deutlich kommunistisch inspirierten Lokalpolitik und der
vorrangig von Großunternehmen bestimmten Wirtschaft im Norden von Paris
einen freien Meinungsaustausch der Akteure aus der Wirtschaft über die Stadtentwicklungspolitik erschwert. Bis Anfang der 1990er Jahre waren die Gemeinden dort
scharfe Gegner eines „marktwirtschaftlich orientierten“ Ansatzes. Seit Beginn der
Realisierung der Grands Projets mit dem Bau des Stade de France im Mittelpunkt
(1993) findet dagegen ein Austausch zwischen dem politisch-administrativen Sektor
und der Wirtschaft statt. Insbesondere die Akteure aus der Wirtschaft werden von
der neuen Herangehensweise der kommunistisch geführten Stadt St. Denis angezogen, die im Gegensatz zur bisherigen Skepsis den neuen Kurs einer Zusammenarbeit
mit der lokalen Wirtschaft eingeschlagen hat. Die Politik hat weiterhin die Förderung
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
131
städtischer Konversionsprojekte genutzt, um der lokalen Wirtschaftsförderung einen neuen Schub zu geben und die interkommunale Vereinigung Plaine Renaissance
gegründet, an der neben St. Denis auch Aubervilliers und Saint-Ouen beteiligt sind.
Diese Ansätze der Politik haben die Wirtschaft dazu gebracht, sich an dem Konversionsprozess zu beteiligen, angetrieben vor allem durch die Fähigkeit von Patrick Braouezec, Bürgermeister von St. Denis (gewählt 1996), externe Ressourcen zu mobilisieren, wie zum Beispiel eine Finanzierung des Staats bei der Realisierung der Grands
Projets, und selbst die damit verbundenen politischen Risiken zu übernehmen, indem
er sich von seiner parteipolitischen Herkunft distanziert und eine neue Phase der
Wirtschaftsförderpolitik vorschlägt, die sich auf die Entwicklung der lokalen Wirtschaft und mithin auf eine Partnerschaft mit den örtlichen Wirtschaftsunternehmen
stützt. Diese Fähigkeit zur Erneuerung findet schließlich 2001 nach den letzten Kommunalwahlen ihren Niederschlag im Rahmen einer neuerlichen Kandidatur von Patrick Braouezec auf der Liste der französischen Kommunisten: Die neuen Initiativen
in der Wirtschaftspolitik erlauben schließlich einen neuen Kurs in der Sozialpolitik.
Nachdem er die Akteure aus der Wirtschaft von einer Erneuerung der Politik überzeugt hat, bringt er in der ursprünglichen sozialen Tradition der Kommunisten den
sozialen Willen zur Reform der Stadtpolitik auf die Tagesordnung.
In diesem Sinne kann man die Entwicklung von konzertierten Initiativen auf der
Ebene der Teilregion wie St. Denis Promotion und Objectif Travail erklären. Die
erstere entsteht wie bereits erwähnt im Zusammenhang mit dem Bau des Stade de
France und ist das Ergebnis einer Zusammenarbeit von St. Denis und einem örtlichen Unternehmerverband mit dem bedeutenden Vorsitzenden Francis Dubrac. Die
letztere hat einen stärker sozialen Ursprung, nämlich eine Organisation zu gründen,
die die Suche nach und Schaffung von Arbeitsplätzen für die Entlassenen aus den
im Lauf der Zeit bis Anfang der 1990er Jahre geschlossenen traditionellen Großbetrieben, häufig Langzeitarbeitslosen, fördern soll, und dazu die ohnehin vorhandene
örtliche Wirtschaftsstruktur beispielsweise in den Bereichen Film und Multimedia
stärken will.
Die in die Stadtumbaupolitik einbezogenen Akteure aus der Wirtschaft erwecken
den Anschein einer Koalition aus privaten und öffentlichen Akteuren, die lediglich
die Förderung der Wirtschaft im Sinn haben. Fallstudien zeigen, dass Politiker häufig
die Unterstützung der Wirtschaft suchen, um Großprojekte zu realisieren. In diesem
Zusammenhang bildet sich eine informelle, aber dennoch über längere Zeit stabile
Gruppe von Akteuren, die Zugang zu institutionellen Ressourcen besitzen, die ihnen
politisches Gewicht verleihen (Stone 1989). Dieses Gewicht zielt auf eine Erreichung
spürbarer Resultate ab, wie das „instrumentelle“ urbane Regime im Norden von Paris, das die Errichtung des Stade de France und die Revitalisierung der Ebene von
Saint Denis zum Hauptziel hat. Ein Interpretationsproblem ist nicht lösbar: Weder
Wachstumskoalitionen noch urbane Regime berücksichtigen den Faktor der ideologischen Annäherung zwischen der politischen und der wirtschaftlichen Sphäre, die
eine fundamentale Rolle bei der Beteiligung der Akteure aus der Wirtschaft an der
Stadtumbaupolitik gespielt hat. Im Norden von Paris entsteht mit dem Bau des Sta-
132
Der Norden von Paris
de de France eine neues politisches Projekt. Es beruht auf der Konversionspolitik,
die auf eine Schaffung weitreichender strategischer Bündnisse angewiesen ist. Nach
der Einrichtung der gemischtwirtschaftlichen Organisation St. Denis Promotion im
Jahre 1993 und der bereits 1985 geschaffenen Organisation Plaine Renaissance ist es
1999 zur Gründung von Plaine Commune gekommen, der von mehreren Gemeinden getragenen Organisation, die 2000 zu einer Großgemeinde mit einer Scharnierfunktion für die Wirtschaftsförderung und die Planung der angehörigen Gemeinden
wird. Sie ist die stabilste Akteurskoalition, gerade vor dem Hintergrund ihrer starken
Verbindungen zu St. Denis Promotion. Trotz der Interessenkonvergenz zwischen
politischer und ökonomischer Sphäre im Hinblick auf die lokale Entwicklung bleiben Konflikte. Im Kontrast zu den starken gemeinsamen Interessen ist insbesondere
die Vereinheitlichung der Umsatzsteuer unter den Gemeinden von Plaine Commune
auf den Widerstand der Unternehmen gestoßen, die ihren Sitz in den Gemeinden
haben, die den Steuersatz nach oben getrieben haben.
Die Weiterentwicklung der gesamtstaatlichen Politik der französischen Kommunisten durch einige ihrer Vertreter sowie die interkommunale Zusammenarbeit, die
durch die gesamtstaatlichen Gesetze aus dem Jahre 1999 befördert wird, verändern
die lokalpolitischen Rahmenbedingungen in Frankreich grundlegend (Baraize/
Négrier 2001). Einige Kommentatoren wie beispielsweise die Vertreter des Verbands
der französischen Großstädte unterstreichen den innovativen Gehalt der neuen interkommunalen Instrumente, die eine Neuordnung des Systems der lokalen Körperschaften herbeiführen. Andere wie die Mitglieder der Union der Industrie- und
Handelskammern drücken dagegen ihre Verwunderung aus, da sie eine neue Verwaltungsebene und zusätzliche Bürokratie befürchten (ACFCI 2001).
Patrick Braouezec verfolgt im Norden von Paris eine „pragmatische Utopie“, die
sich zum einen um die Bewohner der am stärksten von Verfall betroffenen Stadtgebiete zuwendet und zum anderen die lokale Wirtschaft im Stadtumbauprozess
hervorhebt. Eine solche Vorgehensweise stützt sich auf ein gegenseitiges Vertrauen
zwischen der Politik und der Zivilgesellschaft, die die Bewohner der heruntergekommenen Gebiete wie der Akteure aus der lokalen Wirtschaft gleichermaßen umfasst
(Braouezec 2001). Die Abwesenheit eines klaren politischen Programms der Kommunisten auf der gesamtstaatlichen Ebene legitimiert Braouezec bei der Durchführung seines eigenen lokalpolitischen Programms. Diese Vorgehensweise akzeptiert
einen sozialdemokratischen Weg als einen möglichen Weg, sich immer noch gegen
eine übermäßige Annäherung an eine liberalistische Logik zu verwahren. Deshalb
beharrt Braouezec darauf, dass die erhöhte Wertschätzung der Marktwirtschaft mit
den Werten der lokalen Solidarität zusammengedacht werden muss.
7. Fazit
In einem Governance-Zusammenhang bildet der Norden von Paris ein interessantes Beispiel zum Verständnis der Entwicklung der Beziehungen zwischen Akteuren
aus dem privatwirtschaftlichen und dem politisch-administrativen Bereich. Auf die
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
133
Deindustrialisierung reagierte die nationalstaatliche Politik mit einer Inwertsetzung
der Potentiale des nördlichen Pariser Umlands, die in der Nähe zur florierenden Metropole und der vielfältigen verkehrlichen Infrastruktur (Flughäfen, Bahnhöfe der
Fernbahn und des Nahverkehrs) lagen, und förderte die Ansiedlung neuer Unternehmen des tertiären Sektors. Aus den Vorteilen des Nordens von Paris sind jedoch
Nachteile für die Bevölkerung geworden, die wegen ihrer ungünstigen Qualifikationsstruktur nicht in der Lage waren, vom Übergang aus einer fordistisch geprägten
in eine postindustrielle Wirtschaft zu profitieren, die sich auf die in den betreffenden
Region neu ansiedelnden Unternehmen aus dem Dienstleistungs- und dem Logistikbereich stützt.
Eine solche wirtschaftliche Entwicklung führt zur Nachfrage nach neuen höherwertigen Qualifikationen, die der Norden von Paris nicht anzubieten in der Lage ist.
Für die Unternehmen ist das kein Problem, können sie doch auf die anderen Teile
der Pariser Region zurückgreifen, während die ortsansässige Bevölkerung von hoher
Arbeitslosigkeit betroffen bleibt. Die neue Wirtschaftsförderpolitik zielt daher immer
mehr auf Bildung und Ausbildung ab, mit dem Ziel einer Erhöhung des Qualifikationsniveaus. Derzeit versuchen die Unternehmen, ihre eigenen Bedürfnisse deutlich
zu machen, also mitzuteilen, welche Fachkräfte sie benötigen, und bei der Entwicklung passender Ausbildungsangebote mitzuwirken. Panasonic hat beispielsweise festgestellt, dass es sich stärker um die städtischen Räume im Innern des Unternehmensstandorts kümmern muss, und versucht auf diese Weise positive Nebeneffekte zu
erzielen, wie dies auch von den vor Ort tätigen Wirtschaftsverbänden wie St. Denis
Promotion gefordert wird.
Literatur
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Monde
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134
Der Norden von Paris
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l‘agglomération, l‘Harmattan, Paris, pp. 157-191.
Stone, C. (1989): Regime Politics, University Press of Kansas, Lawrence, KA.
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
135
Wulf Tessin
KRAFT DURCH FREUDE?
Wolfsburgs Weg aus der Arbeits- in die Freizeitgesellschaft
1. Die Gründung der ‚Stadt des KdF-Wagens’
Am 1. Juli 1938 entstand am Mittellandkanal zwischen dem Landstädtchen
Fallersleben und dem Flecken Vorsfelde, 30 km nordöstlich von Braunschweig, in
einer ausgedehnten, bis dahin fast ausschließlich agrarisch bestimmten Gegend eine
neue Stadt, die den vorläufigen Namen „Stadt des KdF-Wagens“ erhielt. Vorausgegangen war die Entscheidung Hitlers, in dieser Gegend eine Automobilfabrik für
den ‚Volkswagen für alle Deutsche’ zu errichten. „Auf Grund des Widerstands der
Automobilindustrie gegen das Projekt entschied Hitler, den Volkswagen durch die
Deutsche Arbeitsfront (DAF) herstellen zu lassen und mit dem Volkswagenwerk das
größte und modernste Automobilwerk in Europa zu bauen. Da die Freizeitorganisation der DAF ,Kraft durch Freude’ Träger der Produktion und des Vertriebs sein
sollte, erhielt das Auto den Namen ,KdF-Wagen’.“ (Reichold 1998:14). Ende Mai
1938, also noch vor der Gründung der neuen Stadt, erfolgte die Grundsteinlegung
des heutigen Volkswagenwerks.
Die Entscheidung, Werk und Stadt gerade in dieser Gegend, fern aller Ballungszentren, erfolgte mit Blick auf die (für das damalige Reichsgebiet) zentrale Lage und die
günstige Verkehrslage am Mittellandkanal, an der D-Zugstrecke Ruhrgebiet-Berlin
und in der Nähe der Autobahn. Diese zentrale Lage im Reichsgebiet war umso wichtiger, als die Vorstellung bestand, dass sich die Käufer ihren KdF-Wagen selbst im
Werk abholen sollten.
Nach dem Zusammenbruch im Jahre 1945 stand die Stadt Wolfsburg vor unlösbar erscheinenden Aufgaben. Die Zukunft des Volkswagenwerkes, der einzigen Existenzgrundlage der Stadt, war ungewiss. Das Volkswagenwerk war durch Bombenan-
136
Wolfsburgs Weg aus der Arbeits- in die Freizeitgesellschaft
griffe zu fast 70 % zerstört, dem Werk drohte mehrere Jahre lang die Demontage
durch die Siegermächte. Trotz dieser Unsicherheiten begannen gleich nach dem
Krieg wieder die Arbeiten im Werk. Die Korea-Krise, Anfang der 50er Jahre, verlangsamt noch einmal das Tempo der Entwicklung, aber dann beginnt der Aufstieg des
VW-Werks zu einem der größten Automobilhersteller der Welt. Die jährliche Fahrzeugproduktion stieg von 105.000 Autos im Jahre 1951 auf rund 1.000.000 (1964).
Die Beschäftigtenzahlen im VW-Werk stiegen von rund 10.000 (1949) auf knapp
60.000 Ende der 60er Jahre.
Wolfsburg hatte 1960 eine Bevölkerungszahl von 65.000 EW und damit gegenüber
1950 seine Einwohnerzahl mehr als verdoppelt: Wolfsbug - eine ‚Boomtown’! Dennoch zeichneten sich um 1960 bereits auch die ersten Grenzen des Wirtschafts- und
Bevölkerungswachstums in Wolfsburg ab. Bereits 1954/55 war zu erkennen, dass zur
Deckung der starken Nachfrage nach Volkswagen die Expansionsmöglichkeiten der
Produktion in Wolfsburg nicht mehr ausreichen würden. Die Betriebsgröße des VWWerkes in Wolfsburg hatte bereits in den 1950er Jahren das technisch-wirtschaftliche
Optimum erreicht (Mickler u. a. 1980:60). Deshalb entstanden nach und nach VWProduktionsstätten in anderen Städten Niedersachsen bzw. Nordhessens (Hannover,
Kassel, Emden, Salzgitter). Neben der Dezentralisierung der Produktion wurde die
Gründung von in- und ausländischen Tochtergesellschaften vorangetrieben: Vertriebs- und später dann z.T. Produktionsgesellschaften entstanden z. B. in Südafrika,
Brasilien, Mexiko, Nigeria, in den USA usf.; darüber hinaus erwarb VW die Aktienmehrheit in der Audi NSU Auto Union AG, 1986 die spanische Automobilfirma
SEAT. 1990 übernimmt VW die tschechische Automobilfirma Skoda; es folgen die
englische Firma Bentley, die italienische Lamborghini. Mitte 1998 war VW der drittgrößte Automobilkonzern der Welt geworden mit über 2,8 Millionen ausgelieferten
Automobilen.
Diese Entwicklung zu einem nationalen und internationalen Konzern, zu einem
‚Global Player’, war für die Stadt Wolfsburg höchst bedeutsam: Die erklärte Politik
des Konzerns richtete sich zunehmend darauf, eventuell notwendige Produktionsausweitungen auf die anderen in- und ausländischen Produktionsstätten umzulenken
und die Produktionskapazität des VW-Werkes in Wolfsburg quasi ‚einzufrieren’.
2. Zum Verhältnis von Stadt und Werk
Wolfsburg ist als ‚Stadt des KdF-Wagens’ gegründet worden, und sie ist bis
heute die ‚Stadt des Volkswagens’ geblieben. Die strukturelle Abhängigkeit und
Determiniertheit der Wolfsburger Kommunalpolitik durch das VW-Werk ist offenkundig. Das Werk setzte von Beginn an bis heute die entscheidenden Rahmenbedingungen für die Stadtentwicklung, es produziert die zentralen Problemstellungen
der Stadt, die die Kommunalpolitik aufzuarbeiten hat, es eröffnet oder schafft aber
zugleich auch Problemlösungskapazitäten, derer sich die Kommunalpolitik bedienen
kann (und um die andere Kommunen Wolfsburg sicherlich beneiden). Dies soll an
einigen ausgewählten Beispielen illustriert werden:
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
137
Haushaltspolitik: Das VW-Werk ist nicht nur die unmittelbare Einkommensbasis für
rund 60% der Wolfsburger Privathaushalte, sondern es ist zugleich rahmensetzend für
die finanzielle Lage der Stadt Wolfsburg. Die Stadt Wolfsburg stand hinsichtlich der
Gewerbesteueraufbringungskraft je Einwohner immer mit an der Spitze der kreisfreien Städte in der Bundesrepublik. Wolfsburg war spätestens seit Mitte der 50er Jahre
eine ‚reiche Stadt’, wenn auch eine mit hohem Investitionsbedarf, denn es galt ja noch,
die Stadt überhaupt erst auf- und auszubauen. Dennoch hat diese enorme VW-bedingte Finanzkraft die Stadt nicht nur instand gesetzt, diese Investitionsaufgaben zu
erledigen, sondern darüber hinaus viele kommunal- und stadtentwicklungspolitische
Probleme zu lösen. Zugleich aber hat diese gewerbesteuermäßige Abhängigkeit der
Stadt vom VW-Werk die kommunale Haushaltslage auch immer abhängig gemacht
von der Automobilkonjunktur. Das war bis in die 60er Jahre hinein jedoch kein reales
Problem, insofern das VW-Werk fast ununterbrochen Wachstumsraten auswies.
Wirtschaftspolitik: Ziel der kommunalen Wirtschaftsförderungspolitik war und ist
es, die VW-bestimmte Monostruktur der Stadt zu überwinden. Ihr Problem war es
zugleich von Anfang an, dass im Schatten von VW kein anderer Industriebetrieb
gedeihen konnte. Das Lohnniveau und die sonstigen Sozialleistungen im VW-Werk
sind so überdurchschnittlich, dass kein ‚normaler’ Betrieb im Werksschatten existieren kann. Selbst eine VW-bezogene Zuliefererindustrie hat sich im Wolfsburger
Raum nur ansatzweise entwickeln können. Dieser Rahmenbedingungen eingedenk
hat sich die Wolfsburger Wirtschaftspolitik dann auf zwei Perspektiven konzentriert. Zum einen auf die Förderung des VW-Werkes am Standort Wolfsburg, zum
anderen auf den Ausbau des Dienstleistungsbereiches in der Stadt. Der Ausbau der
Innenstadt, die Ansiedlung von Behörden und Ausbildungsstätten wurde immer mit
großen Nachdruck, wenn auch (lange Zeit) ohne großen nachhaltigen Erfolg betrieben. 1961 waren z. B. 3.600 Personen im Handel beschäftigt, 1988 waren es auch
nur 4.700. Anfang der 90er Jahre belief sich der Anteil der im Dienstleistungssektor
Beschäftigten in Wolfsburg noch immer auf bloß 25 %!
Infrastrukturpolitik: Das VW-Werk bestimmt als Industriebetrieb die Sozialstruktur
der Stadt (Wolfsburg ist nach wie vor ‚Arbeiterstadt’ mit einem auch heute noch fast
60-%-igen Arbeiteranteil an den Erwerbstätigen!) und ist damit rahmensetzend für
die kommunale Politik im Schul-, Kultur- und Freizeitbereich. Es galt, für die beim
Werk Beschäftigten optimale Wohn- und Freizeitmöglichkeiten zu schaffen und ein
spezifisches Kultur- und Bildungsprogramm zu entwickeln, das von ‚breiten Schichten der Bevölkerung’ akzeptiert wird. Zugleich war es aber auch notwendig, gerade
für die höheren Angestellten des VW-Werkes, bestimmte Schul-, Kultur- und Freizeitstandards zu erfüllen, sollte es gelingen, diese Gruppen längerfristig an das Werk
bzw. die Stadt zu binden und die Standortnachteile Wolfsburgs (vor der Wiedervereinigung Zonenrandlage, keine attraktive Großstadt, keine Universität etc.) etwas
zu abzumildern. Das VW-Werk hat denn auch nie einen Zweifel an der Bedeutung
gelassen, die man diesem Bereich beimisst und wichtige Infrastruktureinrichtungen
finanziell unterstützt, z.T. ‚geschenkt’ (Stadthalle, Theater, VW-Bad, Planetarium,
Kulturzentrum, Kunstmuseum usf.).
138
Wolfsburgs Weg aus der Arbeits- in die Freizeitgesellschaft
Abb. 1:Ansicht von Zeithaus (links) und KonzernForum (rechts) in der Autostadt Wolfsburg
Quelle: www.wolfsburg-tourist/Autostadt/Autostadt_Wolfsburg.htm
Mit diesen Hinweisen sollte deutlich geworden sein, dass die Frage nach dem
‚Einfluss’ des VW-Werks auf die Stadtentwicklungs- und Kommunalpolitik in Wolfsburg, sofern damit nur die persönliche werksseitige Einflussnahme auf kommunale
Entscheidungsprozesse gemeint ist, immer schon zu kurz griff. Tatsächlich wirkt
das Werk nicht sozusagen ‚von außen’ auf die Wolfsburger Kommunalpolitik ein,
sondern es war (von Beginn an) immer schon von vornherein deren integraler Bestandteil, d. h. in den sich entwickelnden materiellen und normativen Strukturen der
Stadt war und ist das Werksinteresse immer schon enthalten und aufgehoben und
brauchte nur von Fall zu Fall durch direkte, persönliche Intervention ‚von außen’ in
die Kommunalpolitik eingebracht werden: „Was gut ist für das Werk, ist gut für die
Stadt“ - das war und ist auch heute noch ganz allgemeine Auffassung in Wolfsburg.
3. Stadtentwicklung als ‚joint venture’: die Wolfsburg AG
Stadt und Werk haben neben Boomphasen auch immer wieder schwere Rezessionen erlebt. Vor allem die Zeit zwischen 1965 und 1975 war gekennzeichnet durch
drei aufeinanderfolgende, sich in ihrer Brisanz steigernde Rezessionen. Die beiden
Krisen von 1966/67 und 1971/72 führten - erstmals in der VW-Geschichte Wolfsburgs - zum Abbau der Belegschaft im Werk. Die bisher größte wirtschaftliche Krise
erlebte das VW-Werk (und damit die Stadt) jedoch in der ersten Hälfte der 90er Jahre,
vor rund zehn Jahren. In der Zeit zwischen 1990 und 1996 sah man sich gezwungen,
die Belegschaft von rund 60.000 (1986 noch 65.000 Beschäftigte!) auf rund 45.000
Beschäftigte abzubauen. Die Arbeitslosenquote der Stadt stieg im gleichen Zeitraum
um mehr als das Doppelte von 7,5% auf 17,5%. Und es gab Szenarien bei VW, die
von einem noch weitergehenden Abbau der Stellen im Werk bis herunter auf 22.000
Beschäftigte sprachen. Die Lichter schienen in Wolfsburg auszugehen, Werk und
Stadt am Abgrund.
Brauchte man in der Vergangenheit in einer VW-Krise - pointiert formuliert - nur
darauf zu hoffen, dass die Autokonjunktur wieder anzog, so machte die 92/93er
Krise deutlich, dass der Globalisierungsprozess und die internationale Verflechtung
des VW-Konzerns diesen Mechanismus zunehmend aushebelte: Selbst wenn mehr
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
139
Volkswagen abgesetzt werden, bedeutet dies nicht unbedingt mehr Arbeitsplätze und schon gar nicht automatisch mehr Arbeitsplätze am Standort Wolfsburg. Die internationale Wirtschaftskonkurrenz macht Auslagerungen von Teilen der Produktion
oder sogar ganzer Modellpaletten an kostengünstigere Standorte immer attraktiver.
Tatsächlich entschied man im Konzern, die Belegschaft in Wolfsburg - wie auch
immer die Automobilbranche sich wieder entwickeln würde - bei rund 50.000 Beschäftigten einzufrieren und stattdessen (sofern erforderlich) die Produktionskapazitäten an anderen Standorten auszubauen. Diese Grundsatzentscheidung hätte bei der
nahezu vollkommenen VW-Abhängigkeit der Wolfsburger Wirtschaftsstruktur das
Ende eines weiteren Wachstums der Stadt bedeutet, im Angesicht der damaligen VWKrise Arbeitslosigkeit von 15 und mehr Prozent. Eine Zeit lang schien es so, als ob
dem Konzern diese stadtentwicklungspolitischen Konsequenzen seiner betriebswirtschaftlichen Kalküle gleichgültig sei. Dann setzte sich jedoch die Einsicht durch, dass
man die Stadt ‚nicht einfach hängen’ lassen könne. Der politische Druck des Landes
Niedersachsen als höchst relevanter Aktionär des VW-Konzerns (20-%-iger Stimmanteil am Aktienkapital) dürfte mit zu dieser ‚Einsicht’ auf Seiten der Konzernspitze beigetragen haben. Auch wäre der Imageschaden für den Volkswagen-Konzern
‚beim Volk’ erheblich gewesen, wenn man sich - als ursprünglich einmal ‚Staatsbetrieb’, dann qua ‚Volksaktie’ privatisiertes Unternehmen - so schnöde ‚aus der Verantwortung’ gestohlen hätte. Man schien sich im Verlauf der VW-Krise auch darüber
klargeworden zu sein, dass eine Konzernsitzverlagerung (etwa nach Berlin) politisch
nicht durchsetzbar sein würde und ein ‚global player’ wie VW schlecht in einer Stadt
residieren könne, der Armut, Niedergang und Provinzialität sofort anzumerken wäre.
Auch im Zusammenhang der im Jahr 2000 in Hannover geplanten EXPO-Weltausstellung, an der sich das VW-Werk als ein zentraler Sponsor engagieren und in deren Rahmen man sich auch in Wolfsburg der Weltöffentlichkeit präsentieren wollte,
schien es im Konzerninteresse sinnvoll, die Stadt etwas aufzumöbeln, deren eigene
Mittel - nicht zuletzt auf Grund der VW-Krise (Gewerbesteuer, Soziallasten) - nicht
ausreichen würden, das selbst zu bewerkstelligen.
Da man andererseits aber die Beschäftigtenzahl im VW-Werk in Wolfsburg nicht
wieder nennenswert auf über 50.000 Beschäftigte anheben wollte, gelangte man zu
Überlegungen, dass der Abbau der Arbeitslosenquote in Wolfsburg dann logischerweise nur außerhalb des VW-Werks stattfinden könne, was durchaus im Interesse
der Stadt war, sich zumindest ein Stück weit von der einseitigen Abhängigkeit vom
VW-Werk zu lösen. In der Folge erfuhr das Verhältnis und Stadt und Werk dann eine
grundlegende Veränderung, die der damalige Oberstadtdirektor und heutige Oberbürgermeister als Wandel hin zu einer „symbiotisch geführten Stadt“ charakterisiert
und die 1999 zur Gründung der sog. Wolfsburg AG führte.
In dieser Wolfsburg AG („Gesellschaft für Beschäftigungs- und Strukturförderung“) treten Stadt und Volkswagen AG als alleinige Gesellschafter auf (derzeitiges
Gründungskapital € 10,1 Mio). Zu Zielen der Wolfsburg AG heißt es in der Satzung
lapidar: Gegenstand des Unternehmens ist die Förderung der Wirtschaftsstruktur
und Beschäftigungsentwicklung schwerpunktmäßig am Standort Wolfsburg und in
140
Wolfsburgs Weg aus der Arbeits- in die Freizeitgesellschaft
der Region. Damit ist die Wolfsburg AG einerseits ein weitgehend typisches Beispiel
für heute weithin üblich gewordene Public-Private-Partnership-Modelle (vgl. hierzu z. B.
Heinz 1998), andererseits ist sie ein absoluter Sonderfall schon allein von der komplexeren Aufgabenstellung her. Gegenstand des Unternehmens ist nicht die Durchsetzung einer konkreten städtebaulichen Entwicklungsmaßnahme, nicht der Betrieb
einer Einrichtung der Abfallwirtschaft, der Stadtentwässerung oder des Flugverkehrs
o. ä., sondern sehr viel umfassender: kommunale Beschäftigungs- und Strukturförderung. Ja, mit Blick auf das Unternehmensziel ‚Erhöhung der Attraktivität der Stadt
Wolfsburg’ (bei extensiver Auslegung) zielt die Wolfsburg AG potenziell auf Stadtentwicklungspolitik schlechthin. Darin liegt ohne Frage eine Einmaligkeit der Wolfsburg AG und natürlich in der Tatsache, dass hier nicht eine Stadt mit irgendeinem
lokalen Unternehmen der Abfallwirtschaft oder der Bauwirtschaft oder mit der ‚lokalen Wirtschaft’ als Ganzer kooperiert, sondern mit einem einzigen Unternehmen,
das zugleich ein ‚global player’ ist mit enormen finanziellen und sonstigen Möglichkeiten.
Durch die Wolfsburg AG übernimmt das Werk also nicht nur eine erhebliche und
sozusagen ganz offiziell Verantwortung für die Stadt, sondern macht gleichzeitig seinen Anspruch auf einen Einfluss auf die zukünftige Stadtentwicklung geltend. Diesen
Einfluss gab es, wie gesagt, seit jeher, aber nach der Gründungs- und Nachkriegsphase, nach der Ära Nordhoff (dem „König von Wolfsburg“) und mit der zunehmenden
Globalisierung der VW-Produktion hatte sich doch der direkte (persönliche) Einfluss
des VW-Werkes auf die Wolfsburger Stadtentwicklung deutlich verringert. Aus VWSicht ‚funktionierte’ die Stadt leidlich. Nach Herstellung des Autobahnschlusses der
Stadt (A39) an die Dortmund-Hannover-Berlin-Autobahn (A2), der Gebietsreform,
die 1972 zu einer Versechsfachung des Wolfsburger Stadtgebietes und zu einer Erhöhung der Einwohnerzahl auf zunächst 130.000 EW geführt hatte (heute um die
120.000 EW), gab es keine allzu drängenden, das VW-Interesse tangierenden Probleme der Wolfsburger Stadtentwicklung mehr. Die Wiedervereinigung hatte auch
Wolfsburgs strukturelles Standortproblem ein Stück weit gelöst: aus der vormaligen
‚Zonenrandlage’ war mit einem Schlage wieder eine zentrale Lage geworden: Wolfsburg im Zentrum eines wiedervereinten Deutschlands, ja Europas (noch dazu mit
einem neugeschaffenen ICE-Anschluss). Verschiedene amerikanische Studien (vgl.
hierzu z. B. Warren 1963:253) hatten schon vor Jahrzehnten feststellen können, dass
die ökonomischen Eliten sich aus der Kommunalpolitik zurückziehen, wenn die Gesellschaften ‚absentee-owned’ oder stark in den nationalen oder gar internationalen
Markt integriert sind. Dies schien genau das zu sein, was in Wolfsburg im Zuge des
Aufstiegs des VW-Werks zu einem internationalen Konzern passiert war. Mit dem
Vorschlag der Gründung der Wolfsburg AG vollzog die Konzernspitze in bezug auf
die Wolfsburger Stadtentwicklung also so etwas wie einen Paradigmenwechsel.
In der Stadtverwaltung Wolfsburgs verbanden sich mit dieser, was die Zusammensetzung der Partner und die Zielsetzungen anbetrifft, vollkommen außergewöhnlichen Public-Private-Partnership verschiedene Erwartungen, die sich insbesondere auf
fünf Dimensionen beziehen:
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
141
• Erstens erwartete man sich, dass die zukünftige Stadtentwicklung nur so in einer
ganz neuen Dimension erfolgen könne (Großprojekte).
• Zweitens versprach man sich eine Beschleunigung der Stadtentwicklung, da die
Entscheidungswege verkürzt werden.
• Drittens erhofften sich die städtischen Akteure durch die Wolfsburg AG einen
Zugang zu effektiveren Management-Methoden, Erfolgsorientierung und damit
eine stärkere Betonung betriebswirtschaftlicher Handlungslogiken. Die Gewinnerzielungsabsicht der Wolfsburg AG setze ein effektives und kostenbewusstes
Denken voraus, was dann auch Ausstrahleffekte auf die städtischen Gremien zur
Folge habe.
• Viertens sah man in der Wolfsburg AG eine Möglichkeit, die Verwaltung zu
entlasten, indem verschiedene Aufgaben schlichtweg ausgegliedert werden. So
wurde nicht nur die Wirtschaftsförderung - außer bei nicht automobilbezogenen
Betrieben (also einer für Wolfsburg vergleichsweise unbedeutenden Branche) nahezu komplett auf die Wolfsburg AG übertragen, sondern auch Elemente der
zukünftigen konzeptionellen Stadtentwicklung (Stichwort ‚Erlebniswelt’).
• Fünftens versprach man sich nicht nur eine Mobilisierung privaten Kapitals für
die Realisierung der Vorhaben, sondern auch eine Erwirtschaftung von Gewinnen, was allerdings nach vier Jahren (2002) noch nicht eingetreten ist.
4. Das AutovisionsKonzept
Im Mittelpunkt der
Arbeit der Wolfsburg AG
steht die Umsetzung der
sog. ‚Autovision’. Dahinter verbirgt sich ein Konzept, das verschiedene
Aspekte der Wirtschaftsund Standortförderung
integriert und außerdem
die
Repräsentationsfunktion Wolfsburgs als
Stammsitz von VW durch Abb. 2: Nachtansicht von der Autostadt Wolfsburg
Quelle: www.autostadt.de/info/cda/main/0,3606,1.htm
die Betonung des Erlebnischarakters der Stadt forciert und damit auch zu einer Imageverbesserung beitragen
will. Die Idee dazu stammt von Volkswagen. Zwar waren bei der Konzeption auch
einige städtische Vertreter dabei, doch die Entwicklung fand vorrangig in Kooperation von VW und dem Beratungsunternehmen McKinsey statt. Das Konzept zielt auf
die Halbierung der Arbeitslosigkeit in Wolfsburg innerhalb weniger Jahre und besteht
aus vier sog. ‚Modulen’:
142
Wolfsburgs Weg aus der Arbeits- in die Freizeitgesellschaft
1. Innovationscampus: Ziel ist hier, den Austausch von Ideen und Know-how sowie Existenzgründungen zu fördern. Auf dem Innovationscampus (auf dem VW-Werksgelände) sollen für Existenzgründer Bedingungen geschaffen werden, damit sie
sich in ihrer Startphase nicht nur mit anderen Unternehmen vernetzen können,
sondern auch ausreichende Finanzmittel, Gründungsberatung, die notwendige
Infrastruktur inklusive Räumlichkeiten und alle erforderlichen Dienstleistungen
vorfinden. Gleichzeitig ist ein kurzer Weg zur VW-Abteilung ‚Forschung und Entwicklung’ gewährleistet. Außerdem soll in Wolfsburg langfristig eine (private) Eliteuniversität möglichst in der Nähe des Innovationscampus angesiedelt werden.
Im Mai 2002 waren 47 Gründerfirmen auf dem Campus eingezogen.
2. Lieferantenansiedlung: Ausgehend von der Tatsache, dass VW 75 % weniger Zulieferer in der Nähe hat als Automobilunternehmen an anderen Standorten, soll die
Ansiedlung von Automobilzulieferern in Wolfsburg, insbesondere von Teilbereichen der Fahrzeugentwicklung und -produktion, über die bereits bestehenden
Aktivitäten hinaus gefördert werden. Dies ist Ausdruck veränderter Zuliefererund Logistikkonzepte bei Volkswagen, bei denen mit outsourcing,
outsourcing just-in-time-Lieferungen und insbesondere auch der Aufbrechung der gewachsenen Lieferantenverbindungen durch Ausschreibungen eine verbesserte Kostenstruktur in diesem
Bereich hergestellt werden soll. Neu angesiedelte Lieferanten sollen in Zukunft
gemeinsam arbeiten („Simultaneous Engineering Zentrum“) und ebenso wie VW
von der engen Verflechtung und Kooperation vor Ort profitieren. Durch Bereitstellung von Büros und Hallen zur Anmietung für einen befristeten Zeitraum
soll Zulieferern ein Anreiz geboten werden, sich direkt in Wolfsburg anzusiedeln.
Gleichzeitig werden Dienstleistungen wie Wachdienste, Verpflegung, EDV und
Logistik angeboten. Bis März 2003 sind über 94 Zuliefererfirmen mit rund 2.700
Arbeitsplätzen in Wolfsburg angesiedelt worden.
3. Personalserviceagentur: Aufgabe der Personalserviceagentur ist es, die Anforderungen der neu geschaffenen Arbeitsplätze mit den vorhandenen Qualifikationen der Arbeitslosen in Einklang zu bringen und mit bewährten Ansätzen wie
Personalver mittlung, Zeitarbeit und Qualifizierung bedarfsgerechte Personallösungen anzubieten. Existenzgründer und Lieferanten sollen sich ihr Personal über
die Personalserviceagentur beschaffen können. Urlaubs- und Krankheitszeiten
ebenso wie saisonale Spitzenzeiten sollen mit Hilfe der Personalserviceagentur
überbrückt werden. Qualifizierungsmaßnahmen wird die Personalserviceagentur allerdings nicht selbst durchführen, sie versteht sich vielmehr als Mittler und
Schaltstelle zwischen den Institutionen. Bis März 2003 wurden über die Personalserviceagentur am Standort Wolfsburg 1.198 Beschäftigungsverhältnisse begründet.
4. Erlebniswelt Wolfsburg: Die sog. ‚Erlebniswelt’ soll nicht nur die Attraktivität der
(Innen-)Stadt steigern und sie zu einem überregional attraktiven Besucherziel
machen, sondern auch ein Kristallisationspunkt für weiterführende Aktivitäten
werden. Dazu sollen mehrere auf das Stadtgebiet verteilte und miteinander verbundene Themenwelten mit breiten Erlebnis-, Unterhaltungs- und Lernangebo-
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
143
ten geschaffen werden. Die dezentralen Parks sind gekoppelt mit einer zentralen
Erlebnis- und Einkaufswelt am Nordkopf und der ‚Neuen Autostadt’ (vgl. hierzu
weiter unten). Gemeinsam ergeben sie die Erlebniswelt Wolfsburg. Im Rahmen
dieses Programms wurden inzwischen die VW-Arena und ein außergewöhnliches
Freizeit- und Erlebnisbad im Allerpark fertiggestellt. Weitere Investitionen wie ein
sog. Multidome sind in Planung.
Abb. 3: Luftbild von der Autostadt Wolfsburg
Quelle: www.autostadt.de/info/cda/main/0,3606,2.htm
Die ersten drei Module des ‚Autovisions’-Konzeptes kann man noch ziemlich
gut unter dem Begriff des ‚Outsourcing’ fassen, also einer zunächst einmal werksseitig interessanten Strategie, bestimmte Bereiche des Produktionsprozesses (inkl.
Forschung) aus dem Werk auszulagern bzw. dem Werk anzulagern (Zuliefererpark).
Das heißt zugleich, dass die dabei geschaffenen Arbeitsplätze formell zwar keine
VW-Arbeitsplätze sind (auch keine VW-Entgelte bezahlt werden müssen), dass aber
dennoch die ökonomische Abhängigkeit vom Werk unmittelbar ist - wenn auch mit
der Chance und erklärten Absicht, sich aus dieser Abhängigkeit zu emanzipieren.
Gemessen an der zentralen (arbeitsmarktpolitischen) Zielsetzung der Wolfsburg
AG, der Halbierung der Arbeitslosenzahl in der Stadt innerhalb weniger Jahre,
scheint ihre Arbeit erfolgreich gewesen zu sein: Es wurden am Standort Wolfsburg
über 5.000 Arbeitsplätze geschaffen. Die Arbeitslosenquote liegt derzeit bei 8,1 %
und damit knapp bzw. deutlich unter dem Landes- und Bundesdurchschnitt und um
mehr als 50 % unterhalb der Quote aus den Jahren 1997 - und zwar ohne dass primär
Arbeitsplätze im VW-Werk selbst geschaffen wurden. Allerdings hatte man sich ursprünglich einmal vorgenommen, rund 10-12.000 Arbeitsplätze im Rahmen des Autovisions-Konzeptes zu schaffen. Die erfolgreiche Senkung der Arbeitslosenquote ist
also nicht allein bzw. nur indirekt auf die Arbeit der Wolfsburg AG zurückzuführen.
144
Wolfsburgs Weg aus der Arbeits- in die Freizeitgesellschaft
5. Die ‚Neue Autostadt’ und die neue erlebnisorientierte Stadtentwicklungspolitik
Das Autovisions-Konzept - soweit es die Module InnovationsCampus, PersonalServiceAgentur und Lieferantenansiedlung anbetrifft - leuchtet aus VW-Sicht schnell
ein: outsourcing. Aber was hat es mit dem Modul ‚Erlebniswelt Wolfsburg’ auf sich?
Welches Interesse könnte das VW-Werk daran haben, Wolfsburg als ‚Erlebniswelt’ zu
inszenieren?
Diese Frage lässt sich nur mit Blick auf das VW-Großprojekt ‚Neue Autostadt’
beantworten. Bereits Mitte der 90er Jahre plante das VW-Werk - ohne dass damals
auch nur an eine Wolfsburg AG gedacht worden wäre - ein werksnahes Auslieferungslager seiner Autos, wo also die Käufer sich ihr Auto selbst ‚ab Werk’ abholen
konnten, also genau das, was schon bei der Gründung des Werks, zu Zeiten des KdFWagens, geplant, aber dann nie wirklich verfolgt worden war. Anvisiert war dieses
Auslieferungslager zunächst in Gifhorn, nicht weit von Wolfsburg entfernt gelegen.
Auf harsche Intervention seitens der Stadt (es war die Zeit der großen VW-Krise)
entschloss sich das VW-Werk, dieses Auslieferungslager dann doch auf dem eigenen
Werksgelände in Wolfsburg zu errichten. Dabei entstand nach und nach im Rahmen
neuerer Absatzstrategien der Automobilindustrie, die emotionale Bindung des Kunden an das Produkt zu steigern, die Konzeption, das Autoabholen zu einem ‚event’
zu machen. Nur mit einem solchen zusätzlichen Event-Erlebnis schien es realistisch,
die Käufer eines VWs davon zu überzeugen, dass es Spaß machen könnte, sich das
Auto nicht beim Vertragshändler in der Heimatstadt, sondern direkt beim Werk, in
Wolfsburg abzuholen. Folgerichtig präsentiert der Konzern in der ‚Neuen Autostadt’
- so die Idee - seine Produkte in einem auf Spaß und Erlebnis ausgerichteten Umfeld.
In einem rasanten Tempo wurde diese Idee, die Expo-Weltausstellung stand bevor,
umgesetzt: „ein architektonisches ‚Mixtum compositum’ (..): ein Kunden-Center,
ein Konzernforum, ein Kongresszentrum, ein Automuseum, die ‚VW-Markenwelt’,
Auto-Stapeltürme und ein Luxushotel. All dies wird durch eine künstliche japanische
Garten-Seen-Landschaft gerahmt“ (Brandenburger 1998,948). Insgesamt 850 Mio.
Mark investierte VW in dieses Projekt, das inzwischen zu einem Publikumsmagnet
geworden ist: über 2 Mio. Besucher wurden im Jahr 2002 in der Autostadt gezählt.
Um diesen zunächst ja nicht absehbaren Erfolg zu gewährleisten, waren aus Sicht
des VW-Werks allerdings Komplementärinvestitionen der Stadt vor allem im Bereich
des Wolfsburger Bahnhofes notwendig. Die Autoabholer würden ja (ganz genau wie
seinerzeit es sich die Verantwortlichen der Kraft-durch-Freude-Organisation gedacht
hatten) mit der Bahn in Wolfsburg ankommen und sich dann über den Mittellandkanal hinweg auf das Werks-Gelände und in die Neuen Autostadt bewegen. Also
musste der Bereich um den Bahnhof entsprechend hergerichtet werden, der sich
bis dahin in einem völligen stadtentwicklungspolitischen Abseits befand und mehr
einem ‚Unort’ glich. Ende 1996 präsentierte das VW-Werk der Stadtverwaltung ihr
Autostadt-Konzept inklusive ihrer damit verbundenen Umgestaltungswünsche im
Bahnhofsbereich.
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
145
Die Stadt hatte immer schon im Bereich des Bahnhofes etwas machen wollen,
umso mehr als der Bahnhof inzwischen zum ICE-Haltepunkt auf der Strecke Dortmund-Hannover-Berlin aufgewertet worden war. Zugleich begrüßte die Stadt aus
ureigenstem Interesse die Autostadt-Investition des VW-Werkes, interpretierte sie
doch - zu Recht - das Projekt als Bekenntnis von VW zum ‚Standort Wolfsburg’.
Nicht das war also das Problem, sondern der zeitliche Druck, den das Werk auf die
Stadt ausübte: Fertigstellung der Umgestaltungsmaßnahmen im Bahnhofsbereich bis
zur Einweihung der Neuen Autostadt zur Weltausstellung EXPO im Jahr 2000! Das
war natürlich nicht zu schaffen und wurde auch nicht geschafft. Lange Zeit war nicht
einmal klar, in welche Richtung die Umgestaltungsmaßnahme gehen könnte.
In Bezugnahme auf die zu erwartenden Käufer- und Touristenströme zur Autostadt einerseits und aufgrund der traditionellen Technikorientierung der Stadt
andererseits entwickelte sich städtischerseits allmählich – die ‚Erlebnisorientierung’
der Autostadt-Konzeption aufgreifend - die Idee einer publikumsnahen Präsentation von Naturwissenschaft und Technik („edutainment“). Das sog. ‚Science Center’
soll in einem architektonisch ambitionierten und großzügigen Neubau verwirklicht
werden und wird als eine Dokumentation des „Selbstbehauptungswillens der Stadt
gegenüber VW“ gesehen. Es soll als Publikumsmagnet jährlich etwa 260.000 Besucher anziehen. Beim ‚Science Center’ soll es sich um eine überregionale Kultur- und
Erlebnisinstitution („Haus der Entdeckungen“) handeln, die Menschen die Möglichkeit bieten will, naturwissenschaftliche Phänomene zu erfahren und Neues über sich
selbst in wissenschaftlichen Zusammenhängen zu lernen. Das ‚Science Center’ soll
sowohl vom baulichen Niveau (Architektin: Zaha Hadid) als auch von den dargebotenen Inhalten zu einem (weiteren) Highlight der Stadt werden. Es wird von städtischer Seite die größte Investition seit langem werden und als „Meilenstein für das
Profil einer jungen Stadt“ (Guthardt 1999,3) gesehen.
Die Neue Autostadt auf dem VW-Werksgelände und das Science Centre im Bereich des Wolfsburger Bahnhofes haben offensichtlich ein gemeinsames Merkmal:
ihre Erlebnisorientierung, die „Produktion von Erlebnis, Vergnügen und Träumen“
(Hatzfeld 1997) und ihre Ausrichtung auf Ortsfremde oder Touristen - eine für die
Stadt Wolfsburg gänzlich neue Zielsetzung. Bislang war Wolfsburg touristisches Niemandsland und die Kultur- und Freizeitinfrastruktur zielte ganz überwiegend auf die
ortsansässige, ‚werktätige’ Bevölkerung. Mit der Autostadt-Investition (im Vorlauf
vielleicht schon mit dem Bau des Kunstmuseums von 1994 mit rund 50-100.000
Besuchern pro Jahr) wird die Erlebnisorientierung zum Leitmotiv der Wolfsburger
Stadtentwicklung, wobei die Neue Autostadt den Attraktionskern und Dreh- und
Angelpunkt bildet: 1-2 Mio. Besucher pro Jahr. Das Erlebniswelt-Modul im weiter
oben beschriebenen Autovisions-Konzept der Wolfsburg AG mit seinen VW-Arena-, Multidome- und Freizeit- und Erlebnisbad-Projekten wird nur verständlich als
Abstützung, Abrundung, aber auch als Erweiterung der mit der Neuen Autostadt
verbundenen stadttouristischen Neuausrichtung der Wolfsburger Stadtentwicklungspolitik. In den Worten eines Akteurs der Wolfsburg AG:
„Wir haben den Leuten dreier Agenturen gesagt: hier habt Ihr einen Stadtplan,
146
Wolfsburgs Weg aus der Arbeits- in die Freizeitgesellschaft
macht was! Wir wollen das und das. Wir möchten irgendwann 3 Millionen Besucher
hier nach Wolfsburg holen; d. h. 1,4 Mio. für die Autostadt und noch einmal das
Doppelte für unsere Erlebniswelten. Wie muss man Wolfsburg verändern, um dieses
Ziel zu erreichen? Wir müssen mit dem Ganzen Geld verdienen. Es kann sich also
nicht um eine Stadtverschönerungsmaßnahme handeln.“
6. Würdigung
Sicherlich ist es noch zu früh, diese neue Art von Stadtentwicklungspolitik in
Wolfsburg zu würdigen, die - wie ausgeführt – organisatorisch als ‚joint venture’ zwischen Stadt und Werk angelegt ist und inhaltlich eindeutig auf ‚Erlebnisorientierung’
setzt.
• Zunächst ist schon mal erstaunlich, dass doch bereits so viel von dem verwirklicht
wurde, was zwischen 1995 und 2000 geplant worden war. Allein darin und in der
Kurzfristigkeit, mit der das alles umgesetzt wurde, kann man einen Riesenerfolg
sehen.
• Während in anderen Städten Stagnation oder gar Rückbau ansteht, blüht Wolfsburg geradezu auf (nicht zuletzt mit Blick auf die Landesgartenschau, die 2004 in
Wolfsburg stattfinden wird). Ein Bauboom und eine neue Gründerphase ist ausgebrochen - wenn auch beschränkt auf den Bereich von Freizeitgroßanlagen.
• Die Arbeitslosigkeit in Wolfsburg hat sich - ‚wie versprochen’ - halbiert.
• Der Anteil der Arbeitsplätze im Dienstleistungsbereich hat sich innerhalb weniger
Jahre von rund 25 auf deutlich über 30 % erhöht.
• Die Neue Autostadt ist zu einem Publikums- und Touristenmagnet geworden.
• Die nationale Presse berichtet von den erstaunlichen Entwicklungen in Wolfsburg: „Wolfsburg gibt Gas“ (Uhrig 2003). Eine gewisse Imageaufwertung der
Stadt dürfte inzwischen eingetreten sein: Wolfsburg auf dem Weg, das Image als
‚Arbeiterstadt’ und ‚Provinz’ abzulegen.
Angesichts dieser ‚Erfolge’ tut sich jedwede Kritik schwer und wird denn auch in
Wolfsburg als ‚Bedenkenträgerei’ abgetan. Man hat sich für einen Weg entschieden
und eine einmalige Chance ergriffen. Dabei liegen die bangen Fragen auf der Hand:
• In welchem Verhältnis stehen Aufwand und Ertrag? Es ist sehr viel Geld investiert
worden, aber die (langfristige) privat- wie stadtwirtschaftliche Bilanz steht noch
aus. Ein Wolfsburger Ratsherr: „Wenn das alles klappt, dann sind die Aussichten
für Wolfsburg fantastisch! Wenn nicht, dann haben wir hier einen Verschiebebahnhof.“
• Wie sieht Risikoverteilung aus? Die Skeptiker befürchten, dass sich die einseitige
Abhängigkeit der Stadt vom VW-Werk noch weiter vergrößert hat. „All die
Großprojekte der Stadt sind nur finanzierbar, wenn die gute Autokonjunktur
anhält. Wenn nicht, haben wir sofort eine Deckungslücke im Haushalt. Mögli-
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
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147
cherweise wären einige Projekte dann auch nicht mehr zu bezahlen“, so ein Kommunalpolitiker.
Wie sieht es mit dem bürgerschaftlichen Engagement aus? Das ‚Modell Wolfsburg’
setzt einzig und allein auf VW und (erhoffte) Großinvestoren nach dem Motto:
VW wird es schon richten. Ist das Element bürgerschaftlicher Partizipation im
Rahmen eines solchen ‚urbanen Regimes’ (Franz 1997) obsolet geworden?
Wie sieht es mit dem Verhältnis von Stadt und Werk aus? Wird die Wolfsburg AG
zum eigentlichen stadtentwicklungspolitischen Entscheidungszentrum, der Rat
der Stadt zum bloßen ‚Akklamationsorgan’?
Wer funktionalisiert wen für seine eigenen Zwecke: Stadt oder Werk?
Das ‚Modell Wolfsburg’ setzt vor allem auf Großprojekte (Neue Autostadt, Science Center, Erlebniswelten) und zielt einerseits auf ‚events’, andererseits auf auswärtige Zielgruppen. Aber liegt im ‚Städtetourismus’ die Zukunft gerade dieser
Stadt? Wie dauerhaft und durchgreifend ist der Trend zur ‚Erlebnisgesellschaft’
(Schulze 1992)?
Bleibt der Touristenstrom auf die neugeschaffenen ‚Erlebnisenklaven’ beschränkt
oder profitiert auch die Innenstadt von diesem primär ja erlebnis- denn einkaufsorientierten Stadttourismus?
Wieviel inszenierte Erlebnisqualität verträgt diese Stadt, ohne dass die Bürger die
Identifikation mit ihr verlieren?
Lässt sich der Charakter, das Image einer Stadt ändern oder wird Wolfsburg das
bleiben als was es immer schon angesehen wurde: „Großprotzendorf“.
Diese Fragen und Bedenken, die sich derzeit allesamt nicht beantworten lassen,
relativieren sich jedoch nicht nur angesichts der sich bisher schon abzeichnenden
‚Erfolge’, sondern auch angesichts der fehlenden Alternativen: ohne das stadtentwicklungspolitische VW-Engagement liefe in der Stadt vermutlich außer ein paar
Selbsthilfegruppen und lokalen Beschäftigungsgesellschaften gar nichts. Mit dem
VW-Werk im Rücken kann die Stadt als ‚Hauptstadt des VW-Imperiums’ zumindest
noch hoffen, in der nationalen, vielleicht sogar internationalen Standortkonkurrenz
ein Stück weit Anschluss zu halten. In Bezug auf den Sonderfall Wolfsburg gilt zunächst einmal das, was Selle (1992:39) in Bezug auf Public-Private-Partnerships als ‚Innovationskoalitionen’ ausgeführt hat:
„Dort, wo sich günstige Voraussetzungen bieten, wo wesentliche Beteiligte zum
Schritt nach vorn bereit sind, werden exemplarische Lösungen realisiert. Damit können die zähesten Vorbehalte der ‚Routinekartelle’ (‚...das geht doch nicht, das rechnet
sich nicht, das haben wir noch nie so gemacht’) sozusagen experimentell widerlegt
werden.“
Wolfsburg ist gerade dabei, dies zu tun.
148
Wolfsburgs Weg aus der Arbeits- in die Freizeitgesellschaft
Literatur
Brandenburger, D., 1998: Infotainment in Wolfsburg, Das VW-Großprojekt „Autostadt“, S.948-955, in: Bauwelt H.17/18
Franz, P., 1997: Was kann die Stadt heute noch leisten? Integration, urbane Regimes
und die Durchsetzbarkeit von Leitbildern, S.294-311, in: Die Alte Stadt, 24.Jg.,
H.4
Guthardt, W., 1999: Das Science Centre. Meilenstein für das Profil einer jungen Stadt,
in: Wolfsburg AG, Hg., ErlebnisWelt-Journal, Ausgabe 2, Wolfsburg
Häußermann, H., Siebel, W., Hg., 1993: Festivalisierung der Stadtpolitik. Stadtentwicklung durch große Projekte, in: Leviathan (Sonderheft 13), Opladen
Harth, A., u.a., 2000: Wolfsburg: Stadt am Wendepunkt. Eine dritte soziologische
Untersuchung, Opladen
Hatzfeld, U., 1997: Die Produktion von Erlebnis, Vergnügen und Träumen. Freizeitgroßanlagen als wachsendes Planungsproblem, S.282-308, in: Archiv für Kommunalwissenschaften (AfK), Bd.II
Heinz, W., 1998: Public Private Partnership, S. 210-238, in: Archiv für Kommunalwissenschaften (AfK), Bd.II
Herlyn, U. u.a., 1982: Stadt im Wandel - Eine Wiederholungsuntersuchung der Stadt
Wolfsburg nach 20 Jahren, Frankfurt
Herlyn, U., Tessin, W., 2000: Faszination Wolfsburg 1938-2000, Opladen
Hilterscheid, H., 1977: Industrie und Gemeinde - Die Beziehungen zwischen der
Stadt Wolfsburg und dem Volkswagenwerk und ihre Auswirkungen auf die kommunale Selbstverwaltung, Berlin
Mickler, O., u.a., 1980: Ökonomische Bedingungen und soziale Folgen des Einsatzes
von Industrierobotern, Göttingen
Reichold, 0., 1998: ...erleben, wie eine Stadt entsteht. Städtebau, Architektur und
Wohnen in Wolfsburg 1938-1998, Braunschweig
Selle, K., 1992: Vom ‚sparsamen Umgang’ zur ‚Vision offener Räume’ - Stadtentwicklung und Freiraumpolitik für die 90er Jahre (Vorträge, Texte, Materialien), Werkbericht No.29 der Arbeitsgruppe Bestandsverbesserung, Hannover/Dortmund
Uhrig, N., 2003: Wolfsburg gibt Gas, Autostadt, Landesgartenschau 2004 und Touareg-Teststrecke, S.21-24, in: Garten+Landschaft, H.7
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
149
Frank Roost
METROPOLEN ALS STANDORTE IMAGEORIENTIERTER GROSSPROJEKTE
Das Beispiel Tokyo
Struktur und Antlitz einer Metropole sind heute mehr denn je nicht nur von ihren
politischen und kulturellen Institutionen geprägt, sondern auch von den dort ansässigen Wirtschaftunternehmen. Dies gilt insbesondere seit im Zuge der Globalisierung
die Konzentration von Anbietern hochwertiger Unternehmensdienstleistungen in
denjenigen Metropolen, die als Schaltstellen der weltweit vernetzten Wirtschaft fungieren, drastisch zugenommen hat. Zu den in der Stadtforschung untersuchten Folgen der verstärkten Präsenz der Konzerne in diesen als „Global Cities“ bezeichneten
Metropolen gehören neben der Veränderung des Arbeitsmarkts und der Sozialstruktur der jeweiligen Stadt auch die erhöhte Nachfrage nach Büroraum und deren Auswirkungen auf die baulichen Aktivitäten insbesondere im Rahmen von Großprojekten (z.B. Fainstein 1995). Doch während sich die Präsenz global agierender Konzerne
im Stadtbild während der achtziger und neunziger Jahre zumeist noch auf deren
Produkte, Werbeplakate und Bürogebäude beschränkte, hat sie in letzter Zeit dadurch noch einmal zugenommen, dass die Unternehmen immer öfter die Großstadt
als Bühne für werbewirksame Auftritte nutzen: So kommt heute kaum eine größere
Veranstaltung ohne Sponsor aus; in den Stadtzentren präsentieren die Konzerne ihre
Produkte in repräsentativen showrooms oder flagship stores; und manchmal werden - wie
am Potsdamer Platz - komplette Quartiere von Konzernen gebaut und nach ihnen
benannt. Im diesem Beitrag soll deshalb untersucht werden, wie es zu dem verstärkten Bemühen der Unternehmen um Präsenz im städtischen Raum kommt, welche
verschiedenen Typen von imageorientierten Bauprojekten die Konzerne mittlerweile
entwickelt haben und welchen Stellenwert solche Investitionen für die Stadtentwicklung erlangen könnten.Zu diesem Zweck werden im Folgenden zunächst die zu
150
Metropolen als Standorte imageorientierter Großprojekte
Grunde liegenden Veränderungen der Produktions- und Vermarktungskonzepte der
Konsumgüterindustrie beschrieben, aus denen die verstärkten Werbebemühungen in
Großstädten resultieren. Im zweiten Schritt soll dann dargestellt werden, warum es
ausgerechnet Metropolen sind, und nicht Klein- oder Mittelstädte, die als Standorte
für die werbewirksamen Maßnahmen und imageorientierten Projekte ausgewählt
werden. Und schließlich soll im dritten Teil am Beispiel der japanischen Metropole
Tokyo, in der besonders viele solcher werbeträchtigen Präsentationsräume zu finden
sind, untersucht werden, wie es zu einer solchen Konzentration imageorientierter
Projekte kommt, welche Orte innerhalb der Stadt von den Unternehmen dabei bevorzugt werden, ob sich hieraus Impulse für die Stadtentwicklung ergeben können
und welchen Einfluss die Stadtplanung auf die Standortwahl der Konzerne hat.
1. Vermarktungsstrategien der Konsumgüterindustrie
Im Zuge der Globalisierung geben viele Konsumgüterhersteller wesentliche Teile
ihrer Produktionsaktivititäten an Zulieferfirmen ab, die meist in Ländern ansässig
sind, in denen das Lohnniveau niedriger ist. Dieses Outsourcing umfasst aber zunehmend nicht nur einzelne Teile oder Baugruppen, sondern den gesamten Produktionsprozess. So wird von etablierten Unternehmen der Elektronikindustrie wie
Philips oder Sony die Herstellung von kompletten Produkten an so genannte „Electronic Manufacturing Services“ (EMS) übertragen. Diese stellen, wie beispielsweise
die in den USA ansässige Firma Solectron, in Südostasien und Lateinamerika Unterhaltungselektronikprodukte her, die dann von den europäischen und japanischen
Konzernen unter ihrem Markennamen auf dem Weltmarkt verkauft werden (vgl. Just
2001). Besonders konsequent setzte das schwedische Traditionsunternehmen Ericsson diese Strategie um und hat (bereits vor seiner kürzlich begonnenen Kooperation
mit Sony) seine gesamte Handy-Produktion an einen in Singapur ansässigen EMS
namens Flextronics verkauft, der schon länger als Zulieferer für Siemens, Nokia und
Motorola Handy-Bauteile produzierte. Ericsson selbst konzentriert sich dagegen auf
Produktentwicklung, Vertrieb und Marketing (vgl. Wolff 2001).
Was für die alteingesessenen Unternehmen gilt, trifft bei jüngeren Firmen erst
recht zu. Insbesondere im Bereich des Schuh- und Bekleidungsgewerbes haben in
den vergangenen zwanzig Jahren fabriklose Unternehmen expandiert, die wie Nike
oder H&M von Anfang an keine eigenen Produktionsstätten besessen haben und deren unternehmerische Aktivitäten dementsprechend vor allem aus Design, Vertrieb
und Marketing bestehen. Durch den harten Wettbewerb zwischen den Zulieferern
kommt es aber zu einem internationalen Lohndumping, so dass der Anteil der Produktionskosten an der Wertschöpfung immer geringer wird, während die Bedeutung
der Werbeausgaben ständig steigt (vgl. Klein). So beträgt beispielsweise bei Schuhen
von Adidas oder Nike der Anteil der Produktionslohnkosten heute weniger als 1 %
des Verkaufspreises, während der Mehrwert der Marke (inklusive Werbung und Design) etwa ein Drittel des Preises ausmacht (vgl. Krull 2002).
Dadurch dass Konkurrenten wie Philips und Bang&Olufsen die Herstellung ihrer
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
151
Unterhaltungselektronik gleichzeitig zu dem selben EMS auslagern (ebenfalls Flextronics), oder Sportbekleidung für Adidas und Nike in den selben indonesischen Fabriken zusammengenäht wird, werden die Produkte natürlich tendenziell austauschbarer. Umso wichtiger ist es deshalb für die Unternehmen, die scheinbare Differenz,
die der Kunde sich durch den Kauf von Markenprodukten erhofft, durch verstärkte
Werbemaßnahmen zu vermitteln. Dementsprechend werden die Konzerne, die früher
Walkman- oder Turnschuhproduzenten waren, heute zunehmend zu Image-Produzenten, die ständig auf der Suche nach neuen Möglichkeiten sind, den Bekanntheitsund Beliebtheitsgrad ihrer
Marke bei den Konsumenten zu erhöhen. Da
diese aber angesichts einer an Überfluss grenzenden Auswahl und einer
immensen Werbeflut in
Print- und Digitalmedien immer schwerer vom
Kauf ganz bestimmter
Produkte überzeugt werden können, versuchen
Abb.1: Produktion in einem „Sweat-Shop“,
neuerdings
zahlreiche
Quelle: Naomi Klein: No Logo, London 2000, S. 194.
Unternehmen,
potentielle Kunden durch den Bau von Unterhaltungseinrichtungen zu erreichen (vgl.
Hinterhuber/Pechlaner 2001). Dies erweist sich als ein durchaus effektiver Weg der
Unternehmenskommunikation, da - anders als bei herkömmlicher Werbung - mit dem
Besuch der Entertainmenteinrichtung auch eine physische Erfahrung verbunden ist,
die sich umso intensiver im Bewusstsein der Besucher einprägt (vgl. Grötsch 2001).
Das auf diese Weise erzeugte positive Erlebnis soll dann auf die Marke transferiert
werden und sich zu einer emotionalen Bindung an das Unternehmen entwickeln.
Die imageorientierten Projekte sollen also gar nicht direkte Gewinne durch Eintrittsgelder oder den Verkauf vor Ort erwirtschaften, sondern vielmehr die Kundenloyalität langfristig sichern und Kaufentscheidungen noch Jahre nach dem Besuch
der Einrichtung beeinflussen. Dementsprechend wird der Eintritt dort meist gering
gehalten und ist manchmal sogar kostenlos. Um diese Art von Projekten von den
herkömmlichen, auf direkten Profit ausgerichteten Urban Entertainment Centers der
Unterhaltungsindustrie zu unterscheiden, verwende ich den Begriff Corporate Image
Center, der als Oberbegriff für die verschiedenen Formen imageorientierter ProjekCenter
te der Konsumgüterindustrie zu verstehen ist (vgl. Roost 2001). Der Ausdruck soll
ermöglichen, das Phänomen zu beschreiben, ohne dass jedes Mal die verschiedenen
Typen wie showroom, flagship store und brandpark aufgezählt oder die in der Immobilienconsultingbranche für diesen Zweck üblichen, etwas umständlichen Umschreibungen wie „Erlebniswelten als Instrument der Unternehmenskommunikation“ (vgl.
Kipp 2002) verwendet werden müssen.
152
Metropolen als Standorte imageorientierter Großprojekte
2. Standorte imageorientierter Projekte
Mit der globalisierungsbedingten zunehmenden Bedeutung von Investitionen zur
Förderung des Markenimages haben sich in den letzten Jahren verschiedene Typen
von Corporate Image Center herausgebildet, die zunächst noch auf den beiden schon
lange etablierten Vorgängerformen basierten: dem klassischen Autosalon und der
traditionellen Werksführung. Zwar existieren schon seit den zwanziger Jahren Autosalons, die sich große Firmen in herausragenden Lagen wie der Fifth Avenue oder
dem Kurfürstendamm als Repräsentationsräume leisten, ohne dass sie direkt vor Ort
große Umsätze erwarten (vgl. Bell 2001). Doch in den letzten Jahren mutieren die
einst elegant-nüchternen Autosalons nach und nach zu Mega-showrooms, die potentielle Kunden mit allerlei Entertainmentelementen locken. Begonnenen hat diese Entwicklung in den achtziger Jahren in Tokio, als die japanischen Automobilhersteller
ihre traditionellen showrooms vergrößerten oder durch Neubauten ersetzten, wie zum
Beispiel Toyota mit seinem Amlux-Center, in dem den Kunden auf sechs Geschossen nicht nur Dutzende von Toyota-Modellen geboten werden, sondern auch Unterhaltungselemente (wie z.B. ein High-Tech-Kino, in dem zu den Filmszenen passende
Düfte versprüht werden).
Mittlerweile wird dieses Konzept auch in anderen Metropolen umgesetzt. So renoviert und vergrößert beispielsweise Citroën derzeit seinen 1928 eröffneten und
lange Zeit vernachlässigten Autosalon auf den Champs-Elysées, und auch in Berlin
sind nach der Wende in touristisch attraktiven Lagen wie der Friedrichstraße oder
Unter den Linden neue showrooms von VW, Opel, Peugeot, Audi und Mini entstanden.
Daimler-Chrysler ging gleich noch einen Schritt weiter: Der größte Industriekonzern
der Bundesrepublik hat neben seinem neuen showroom am Potsdamer Platz auch den
bestehenden am Kurfürstendamm ausgebaut sowie die Mercedes-Benz-Niederlassung am Salzufer in Charlottenburg zu einer kleinen Auto-Erlebniswelt weiterentwickelt, in der mit Unterhaltungselementen wie Oldtimer-Ausstellung, Restaurant,
Kletterwand, Formel-1-Simulator und Kinder-Verkehrsschule potentielle Kunden
aus allen Altersstufen angesprochen werden sollen.
Ähnlich wie sich aus den einstigen Autosalons die heutigen showrooms entwickelten, sind auch viele traditionelle Werksführungen mit angegliedertem Verkauf in
den letzten Jahren um Unterhaltungselemente angereichert und zu so genannten
Industrieerlebniswelten weiterentwickelt worden (vgl. Steineke 2001). So hat beispielsweise der Schokoladenhersteller Cadbury die Besucherführung seines Werks im
mittelenglischen Bourneville zu einer Cadbury World genannten Süßwaren-Erlebniswelt ausgebaut, und in Wattens bei Innsbruck präsentiert der Glasnippes-Hersteller
Swarovski seine Produkte in einem vom Event-Spezialisten André Heller gestalteten
brandpark namens Kristallwelten.
In der Automobilindustrie wird dieses Konzept in noch großzügigeren Dimensionen umgesetzt. Während Mercedes-Benz und BMW sich bisher damit begnügen, am
jeweiligen Stammsitz neue Besucher- und Auslieferungszentren sowie spektakuläre
Automuseen von prominenten Architekten bauen zu lassen, ist Volkswagen noch
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
153
einen Schritt weiter gegangen und hat am Stammsitz Wolfsburg all diese Einrichtungen in seiner so genannten „Autostadt“ miteinander kombiniert und um weitere Unterhaltungselemente sowie einen Park mit Ausstellungspavillons der einzelnen Konzernmarken ergänzt. Dieser weltweit bisher größte brandpark ist in kürzester Zeit eine
der meistbesuchten Touristenattraktionen der Bundesrepublik geworden und hatte
allein in den ersten zwei Jahren nach seiner Eröffnung über fünf Millionen Besucher.
(vgl. Meyrhöfer 2003)
Auch wenn Volkswagens brandpark die
wachsende
Bedeutung
des Phänomens Corporate
Image Center gut verdeutlicht und in der Branche
als Vorbild gepriesen
wird, dürften Projekte
dieser Größenordnung jedoch eher Ausnahmen
darstellen, die auf wenige Konzerne und deren
Standorte
beschränkt
bleiben. In weitaus mehr
Städten, und dort insbesondere in Citylagen,
ist dagegen ein weiterer
Typus von Corporate Image
Center anzutreffen, den
vor allem Unternehmen
der Bekleidungsindustrie
errichten: die so genannten flagship stores wie Levi’s
Store, Niketown oder
Adidas Original Store.
Dabei handelt es sich um
großzügig dimensionierte,
Abb. 2: Innenansicht des Nike-Shops in Berlin, Quelle: Frank Roost
auffallend gestaltete und
Abb. 3: Nike-Shop in Melbourne, Quelle: Frank Roost
mit
Entertainmentelementen ausgestatte Geschäfte in touristisch attraktiven Lagen, in denen zwar auch
Waren verkauft werden, deren Umsätze jedoch die hohen Investitionskosten kaum
rechtfertigen würden. In den flagship stores geht es aber auch gar nicht um Verkäufe
vor Ort, sondern vielmehr darum, das Image des sorgfältig ausgewählten und von
den Marketingspezialisten als trendsetzend ausgemachten Standortes auf die Bekleidungsmarke zu übertragen. So können indirekte Gewinne aus der Investition resultieren, wenn die Besucher zurück im Heimatort sind und sich für Produkte dieses
154
Metropolen als Standorte imageorientierter Großprojekte
Unternehmens entscheiden, weil sie dessen Marke bewusst oder unterbewusst mit
dem modischen Image des besuchten Ortes und dem positiven Erlebnis des Besuchs
verbinden.
Dieses Marketingkonzept führt dazu, dass die investierenden Unternehmen für
ihre flagship stores möglichst imageträchtige Standorte finden müssen. Deshalb kommen vor allem touristisch attraktive Orte und kulturell herausragende Metropolen
für solche Projekte in Frage. Auffallende Konzentrationen von (standortunabhängigen, also nicht wie die Industrieerlebniswelten an den Produktionsort gebundenen)
Corporate Image Centers sind dementsprechend in Orten wie New York, London oder
Berlin und dort in zentralen Einzelhandelsdistrikten zu finden. Solche Ballungen von
Corporate Image Centers können den Immobilienmarkt stark beeinflussen und eine planerische Steuerung erfordern, insbesondere wenn es sich um großflächige Projekte
handelt. Wie weitreichend die Auswirkungen dieser Entwicklung sein können, ist
besonders gut am Beispiel Tokyo nachzuvollziehen, denn dort haben sich Corporate
Image Center in den vergangenen Jahren zu einer treibenden Kraft bei der Durchführung von Großprojekten entwickelt und dabei zumindest zeitweise eine Funktion
eingenommen, die bis dahin den einst dominanten Büronutzungen zuzuordnen war.
3. Corporate Image Center an Tokyos neuer waterfront
Mit über acht Millionen Einwohnern und weiteren 14 Millionen im Umland bildet
Tokyo den Kern der weltweit bevölkerungsreichsten Metropolenregion, die, trotz
steigender Zahl von Dienstleistungsarbeitsplätzen, auch den bedeutendsten Industriestandort der Welt darstellt. Darüber hinaus ist die Stadt spätestens in den achtziger Jahren zu einem der wichtigsten globalen Finanzplätze geworden (vgl. Fujita
1991). Im Zuge dieser Entwicklung zur global city und der damit verbundenen überproportionalen Zunahme von Arbeitsplätzen im Finanzdienstleistungsgewerbe kam
es zu einer immensen Nachfrage von hochwertigen Büroflächen und dementsprechend zu starken Investitions-, aber auch Spekulationsaktivitäten auf innenstadtnahen Grundstücken. Dabei hat sich aus dem traditionell polyzentrischen Stadtgefüge
ein multifunktionaler Innenstadtbereich mit einem Haupt- und mehreren Subzentren herauskristallisiert. Neben dem historischen Stadtzentrum mit dem Ginza- und
dem Marunouchi-Quartier entwickelten sich vor allem die Standorte an den großen
Pendler-Umsteigebahnhöfen. An den Stationen entlang der die Innenstadt ringförmig umschließenden Bahnlinien bildeten sich so mehrere Cluster mit einer extremen
Konzentration von hochwertigen Einzelhandels- und Büroflächen (vgl. Cybriwsky
1998).
Dieser Entwicklungsschub betraf jedoch vor allem die nordwestlich gelegenen
Subzentren wie Shinjuku oder Shibuya, während die teilweise von Industrieflächen
geprägten südöstlichen Stadtviertel in Hafennähe erheblich weniger Investitionen
anzogen. Um das Wachstum von den dominanten und überlasteten Standorten in
die anderen Stadtbezirke zu verlagern, entwickelte die Stadtverwaltung Tokyos in den
achtziger Jahren ein Ringstadt-Konzept, das mit Hilfe staatlicher Infrastrukturmaß-
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
155
nahmen ermöglichen sollte, in den nahe der Bucht gelegenen Vierteln große neue
Subzentren zu schaffen. Der Wichtigste dieser neuen Dienstleistungsstandorte war
unmittelbar an der Bucht von Tokyo geplant, wo auf einer Aufschüttungsfläche ein
neues Waterfront
Waterfront-Stadtviertel entstehen sollte. Auch wenn die Idee des Stadtwachstums durch Flächengewinnung am Rande der Bucht durchaus in der Tradition der
japanischen Stadtplanung stand (vgl. Flüchter 1985), handelte es sich doch um ein
Projekt von bisher unbekannten Dimensionen. Auf über 440 Hektar sollten nicht
weniger als 110.000 Arbeitsplätze und Wohnraum für 60.000 Menschen entstehen
(vgl. Hohn).
Vorbild für das Teleport genannte Vorhaben waren die zur selben Zeit in Bau
befindlichen Projekte der beiden anderen führenden global cities, die Londoner
Docklands und die Battery Park City in New York. Anders als dort sollte bei Tokios
Teleport allerdings gar nicht erst versucht werden, urbane Qualitäten historischer
Stadtquartiere zu imitieren oder zumindest gestalterisch anzudeuten. Geplant war
vielmehr ein architektonisch wie telekommunikationstechnisch hochmoderner Distrikt, der den ökonomischen und technologischen Führungsanspruch Japans weltweit
demonstrieren sollte. Der Teleport kann somit als das wichtigste der in den achtziger
Jahren begonnenen Großprojekte gelten, die politisch gefördert und mit der GlobalCity-Funktion legitimiert wurden. Auch die Gigantomanie des Projektes wurde mit
dieser Argumentation begründet und dabei von Seiten der Stadtverwaltung in den
Vordergrund gestellt, dass es für die wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung Tokios und ganz Japans notwendig sei, die Bedeutung der Hauptstadt als globales Finanzdienstleistungszentrum noch weiter zu erhöhen und so dafür zu sorgen, dass Tokyo
in jeglicher Hinsicht zu den Metropolen New York und London aufschließen könne.
Diese Begründung stand zwar vordergründig ganz in der japanischen Tradition des
ewigen Versuchs, die westlichen Industrienationen ein- bzw. überholen zu können.
Letztendlich handelte es sich dabei aber primär um die Legitimationsstrategie einer
Gruppe aus Finanz- und Bauindustrie sowie diesen Wirtschaftszweigen nahe stehenden Politikern der Liberaldemokratischen Partei, die sich von solchen Großprojekten
vor allem eigene wirtschaftliche Vorteile erhofften (vgl. Machimura 1998).
Eben diese Interessenverquickung zwischen Wirtschaft und Politik war es letztlich
auch, die dazu führte, dass die Grundstücksspekulation fast unbegrenzt zunehmen
konnte und schließlich zur überhitzten „bubble economy“ der achtziger Jahre führte,
deren Spätfolgen seit dem Platzen der Spekulationsblase Anfang der neunziger Jahre
die bis heute nur langsam wieder Dynamik gewinnende japanische Wirtschaft prägen.
Dieser Wandel betraf das Teleport-Projekt ganz besonders, denn mit dem Zusammenbruch des Immobilienmarktes wurden die ursprünglich geplanten Bürogebäude
unvermarktbar. Dementsprechend stieg auch der politische Druck, die Planungen zu
modifizieren, so dass schließlich Mitte der neunziger Jahre die Zielzahlen revidiert
wurden. Insbesondere wurden die angestrebte Dichte drastisch verringert und die
Zahl der avisierten Arbeitsplätze und Wohnungen für einige Teilbereiche halbiert.
Außerdem wurden der Anteil der Büroflächen am Gesamtprojekt verringert sowie
neue Grünflächen mit ins Bauprogramm aufgenommen (vgl. Hohn 2000).
156
Metropolen als Standorte imageorientierter Großprojekte
Doch trotz der vorgenommenen Revisionen und dem Versuch, dem Projekt auch
durch eine Namensänderung von Teleport Town zu Rainbow Town einen neuen
Schub zu geben, kommt das Vorhaben bis heute nur sehr langsam in Fahrt. Zwar
sind vonseiten der Stadt und des Staates erhebliche Infrastruktur-Maßnahmen durchgeführt worden, doch die Vermarktung der Grundstücke, insbesondere für Bürogebäude, verläuft weiterhin nur schleppend. Dementsprechend stellen sich Teile der
Rainbow Town nach wie vor als eine seltsame Landschaft aus leeren Grundstücken
zwischen nagelneuen Autobahnen, fertig gestellten S-Bahnhöfen und hochmoderner
Einschienenbahn dar. Eine der wenigen Ausnahmen bildet der Odaiba genannte zentrale Bereich des neuen Stadtteils, in dem nicht nur Büros, sondern auch konsumorientierte Nutzungen geplant wurden. Hier sind in den letzten Jahren erhebliche Investitionen vorgenommenen worden, denn Odaiba wurde wegen seiner repräsentativen
Wasserlage (mit Blick auf das Tokioter Stadtzentrum und die neue, den Hafen überspannende „Rainbow Bridge“) von einigen der führenden japanischen Unternehmen
als hervorragend für neue Corporate Image Center geeigneter Standort erkannt.
Das erste Projekt dieser Art in Odaiba war das Gebäude von Japans größtem
Privatfernsehsender Fuji TV. Der mit seiner Aluminiumfassade futuristisch anmutende, nach einem Entwurf von Kenzo Tange errichtete Komplex enthält nicht
nur Fernsehstudios und Verwaltung, sondern wurde von vornherein als touristische
Attraktion konzipiert. Besuchern wird u. a. eine Studiotour, Medienevents auf einer
großen Freifläche, Souvenirshops, ein Aussichtsdeck mit spektakulärem Blick auf das
Zentrum Tokios und ein kugelförmiges Restaurant auf der obersten Etage geboten.
Auf dem Grundstück unmittelbar nebenan eröffnete der Sony-Konzern im Sommer 2000 ein Corporate Image Center mit dem Namen Mediage, das sich mit einer farbenfrohen Fassade gegenüber dem mit Metall und Glas verkleideten Fuji-Gebäude
zu behaupten sucht. Der Komplex spiegelt die Doppelstruktur des Konzerns wieder, der einer der weltweit bekanntesten Konsumgüterhersteller ist und gleichzeitig
eines der größten Medienkonglomerate bildet. Deshalb verknüpft Sony bei seinem
Projekt in Odaiba, wie zuvor bereits bei ähnlichen Projekten am Potsdamer Platz in
Berlin und am Yerba Buena Park in San Francisco (vgl. Roost 2000), Elemente eines
als Werbemaßnahme dienenden flagship stores und eines auf Gewinn ausgerichteten
Urban Entertainment Centers miteinander. Dementsprechend finden sich im MediageCenter neben großzügig präsentierten Sony-Fabrikaten ein Multiplexkino, Restaurants, Kinderspielecken, Unterhaltungs- und Erlebnisbereiche für Jugendliche sowie
ein auf junge Erwachsene ausgerichtetes Shoppingcenter. Auf diese Weise kann
Sony seine Elektronikprodukte potentiellen Kunden präsentieren und nebenher mit
Unterhaltungseinrichtungen Geld verdienen, um einen möglichst hohen Anteil der
Investitionskosten wieder herein zu bekommen.
Sonys größter Konkurrent Panasonic hat das Werbepotential solcher Einrichtungen ebenfalls erkannt und versucht nun mit einem ebenfalls in Rainbow Town gelegenen, kürzlich eröffneten Corporate Image Center gleichzuziehen. Auch hier werden
Elektronikprodukte in einem Umfeld präsentiert, das vor allem für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene unterhaltsam sein soll. Zu diesem Zweck finden sich
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
157
dort u. a. eine Dinosaurier-Ausstellung, eine Videospielhalle, Internetcafé und ein so
genanntes Kreativ-Laboratorium. Außerdem gibt es einen gesonderten Bereich, in
dem Produkte der Marke Will ausgestellt werden. Die neue, bisher nur in Japan angebotene Marke Will ist ein Gemeinschaftsprojekt von fünf Konzernen aus verschiedenen Branchen, die mit der lifestyle-orientierten Marke versuchen, junge Kunden
anzusprechen. Die Marke umfasst alle möglichen verschiedenen Produkte wie Unterhaltungselektronik, Computer, Haushaltsreiniger und Bier bis hin zum Will-Auto,
das von Toyota hergestellt wird (vgl. Ono 1999).
Toyota selbst betreibt mittlerweile ebenfalls ein Corporate Image Center in Odaiba.
Der Palette Town genannte Komplex ist um ein Vielfaches größer als die bisherigen
Toyota-Showrooms
Showrooms und stellt sogar die größte Einrichtung dieser Art in Japan dar.
Anders als die Elektronikunternehmen konnte sich der Automobilhersteller jedoch
nicht zum Bau eines dauerhaften Gebäudes entschließen. Stattdessen pachtete Toyota
gemeinsam mit dem Developer Mori eines der für zukünftige Büronutzungen vorgesehenen Grundstücke für zehn Jahre und errichtete dort einen einfach konstruierten
und daher kostengünstigen Komplex, der später wieder schnell abgerissen werden
kann. Dafür ist er jedoch umso größer und enthält umso mehr verschiedene Entertainmentelemente, die nicht nur automobilinteressierte Männer anlocken, sondern
gleich die ganze Familie unterhalten sollen. Dementsprechend finden sich in dem
Komplex verschiedene Teilbereiche mit Attraktionen für alle Familienmitglieder: ein
Vergnügungszentrum mit Karussells und Riesenrad; ein besonders auf junge Frauen
zugeschnittenes Einkaufszentrum namens Venusfort, in dem vor allem europäische
Mode verkauft wird; eine Oldtimeraustellung; und schließlich ein Auto-Showroom
Showroom mit
Hunderten von Toyota-Modellen, Fahrsimulatoren und einer Probestrecke für Kleinwagen.
Mit dieser Ballung von Corporate Image Centers zieht Rainbow Town mittlerweile
täglich Tausende von Tagesausflüglern und Touristen an und übertrifft bereits einige der etablierten Subzentren als Freizeit- und Shoppingdestination. Anders als
ursprünglich geplant haben sich also die imageorientierten Projekte zumindest für
eine Übergangsphase zur treibenden Kraft für die Entwicklung von Rainbow Town
entwickelt und so die den Büronutzungen zugedachte Rolle eingenommen. Rainbow
Town stellt dabei aber nur einen extremen Fall dar, der eine Entwicklung besonders
gut verdeutlicht, die sich in abgeschwächter Form auch bei anderen Bauvorhaben in
Tokyo erkennen lässt. Schließlich zeichnen sich auch alle anderen erst kürzlich vollendeten oder derzeit in Bau befindlichen Großprojekte in Tokio dadurch aus, dass
sie keine reinen Bürostandorte sind, sondern multifunktionale Komplexe, die fast
immer einen erheblichen Anteil an Konsum- und Freizeiteinrichtungen aufweisen
(vgl. Hohn 2002), und auch in den traditionellen Einzelhandelslagen Tokyos werden
ständig neue flagship stores eröffnet, die oft in Aufsehen erregender Architektur realisiert werden und deswegen teilweise sogar, wie der von Renzo Piano gestaltete Hermès-Turm im Ginza-Quartier, weltweit Beachtung finden (vgl. Meyer 2002).
Allgemeiner ausgedrückt führt Tokyos Metropolenfunktion also nicht nur zu einer erhöhten Nachfrage nach Büroraum für globale Finanzdienstleistungsunterneh-
158
Metropolen als Standorte imageorientierter Großprojekte
men, sondern ebenso zu verstärkten Bemühungen von Konzernen, diesen Standort
für ihre langfristigen Imagestrategien zu nutzen. Zwar ist nicht zu erwarten, dass
Corporate Image Center je den Immobilienmarkt einer Großstadt so sehr prägen können
wie die Bürogebäude der Finanzdienstleistungsunternehmen. Doch ist zumindest
festzustellen, dass die baulichen Aktivitäten der global agierenden Konzerne sich in
Großstädten voraussichtlich immer seltener auf Bürokomplexe beschränken werden
und stattdessen zunehmend von imageorientierten Projekten verschiedenster Art
und Größe ergänzt werden dürften.
4. Fazit
Imageorientierte Großprojekte von Konsumgüterproduzenten stellen einen an
Bedeutung zunehmenden Faktor in Wirtschaft und Gesellschaft dar. Je nach Typ
sind für solche Einrichtungen verschiedene Standorte möglich. Traditionelle Produktionsstandorte kommen vor allem für Industrieerlebniswelten und kleinere brandparks
in Frage. Größere brandparks dagegen werden wohl auch in den für herkömmliche
Themenparks üblichen „Grüne Wiese“-Lagen realisiert werden (wie kürzlich das
neue Legoland bei Günzburg). Showrooms, flagship stores und ähnliche Großkomplexe,
in denen Produktverkauf und -präsentation mit Unterhaltungselementen verknüpft
werden, dürften dagegen einen Domäne touristisch bedeutender und kulturell herausragender Großstädte bleiben. Die vielfältigen politischen, ökonomischen und kulturellen zentralen Funktionen von Metropolen werden also um eine weitere ergänzt.
Dies trifft insbesondere auf Städte mit positivem modischem Image zu, die einen
Bedeutungsschub und ökonomischen Impuls dadurch erhalten, dass sie nun auch als
Standorte von Image-Produktionsstätten global agierender Konzerne dienen.
Angesichts der langfristig angelegten Vermarktungskonzepte und der damit verbundenen Unabhängigkeit von direkten Profiten unterliegen die Investitionsentscheidungen für Corporate Image Center allerdings ganz anderen Regeln als die herkömmlichen, auf Umsatz vor Ort ausgerichteten Einzelhandelseinrichtungen oder Urban
Entertainment Center
Center. Es bleibt zu untersuchen, inwiefern dies eher eine Chance oder
eine Gefahr für die betroffenen Städte darstellt. Einerseits können dadurch natürlich
neue Impulse für Innenstadtlagen geschaffen werden, denen ansonsten ein Attraktivitätsrückgang durch die zunehmende Suburbanisierung des Einzelhandels droht.
Andererseits kann es in Extremfällen aber auch zu einer touristischen Monofunktionalität kommen, da die auf Repräsentation und Imagegewinn bedachten Konzerne
natürlich höhere Mieten zahlen können als herkömmliche Einzelhändler - wie in
einigen Straßenzügen von Midtown Manhattan, wo es zwischen lauter showrooms und
flagship stores kaum noch andere Geschäfte gibt.
Deshalb gilt es, bei Planungen für Corporate Image Center zu hinterfragen, wie sie
sich auf die Umgebung auswirken, ob ihre Dimensionierung mit bestehenden städtischen Strukturen verträglich ist und welches Verhältnis sie zum öffentlichen Raum
haben. Dies gilt erst recht im Falle von Großprojekten, bei denen möglicherweise,
wie in Tokio, die öffentliche Hand Vorleistungen erbringt und zu untersuchen ist, ob
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
159
diese Mittel für solche Projekte wirklich sinnvoll eingesetzt sind. Ironischerweise besteht nämlich die Gefahr, dass die beteiligten Stadtverwaltungen viel zu voreilig sein
könnten, den Bau von Corporate Image Centers zu unterstützen, da sie in Zeiten einer
globalen Standortkonkurrenz sehr um ihr eigenes Image als global city bemüht sind
und sich auch selbst einen Imagegewinn dadurch erhoffen, dass sie die Image-Produktionsstätte eines globalen Konzerns anzusiedeln helfen. Bei soviel Blendwerk auf
beiden Seiten des Verhandlungstisches ist es umso notwendiger, den Planungsprozess nüchtern zu analysieren - eine Aufgabe, die immer öfter auf die Stadtforschung
zukommen dürfte, denn angesichts der voranschreitenden Globalisierung und der
immer weiter zunehmenden Bedeutung von globalen Marketingkampagnen ist damit
zu rechnen, dass Großstädte in Zukunft noch viel häufiger Standort imageorientierter Projekte werden.
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Mega-Projekte und Stadtentwicklung
161
Bob Beauregard
DER WIEDERAUFBAU DES WORLD TRADE CENTER
1. Einleitung
Im Juli 2002 veröffentlichte die Lower Manhattan Development Corporation (LMDC)
eine Reihe vorläufiger Pläne für den Wiederaufbau des World Trade Center in New
York City. Die Pläne wurden einstimmig abgelehnt. Die Öffentlichkeit, Wahlbeamte,
die Presse, die Familien der Opfer des Terroranschlages, der die Gebäude zerstört
hatte, die Bewohner der umliegenden Nachbarschaft, sowie Architekten und Stadtplaner in der ganzen Stadt und darüber hinaus bekundeten ihr Missfallen. Noch
während der Vorsitzende der LMDC die Pläne, die seine Organisation in Auftrag
gegeben hatte, vorstellte, entzog er ihnen seine Unterstützung.
Dies war eine nationale Bloßstellung. Hier ging es um ein Stadtentwicklungsprojekt,
das mit Symbolik überfrachtet war. An dieser Stelle hatte einer der zerstörerischsten
und traumatischsten Terrorakte auf U.S.-amerikanischem Boden stattgefunden, ein
Akt, der ein weltbekanntes Wahrzeichen der Moderne – die Doppeltürme des WTC
– ausgelöscht hatte. Das Ereignis war in der ganzen Welt live verfolgt worden. Die
Zerstörung des WTC als einem Symbol für U.S.-amerikanischen Kapitalismus und
Kultur bedeutete einen Affront gegen den ökonomischen und militärischen Überlegenheitsanspruch des Landes. Die lokalen Auswirkungen, zusätzlich zu den Tausenden von Menschen, die starben, waren überwältigend. Die unmittelbaren Kosten gingen in die Milliarden. Die Stadt war traumatisiert. Unternehmen begannen die Stadt
in Richtung Vororte zu verlassen und die wirtschaftliche Rezession, die sich bereits
ankündigte, verschärfte sich. Die Stadtregierung stand einem enormen Haushaltsdefizit und einer drohenden Finanzkrise gegenüber.
Der Wiederaufbau schien eine nationale Verpflichtung zu sein. Er würde das
Selbstvertrauen in die Vereinigten Staaten wiederherstellen, den Willen des Landes
– sowie die Missachtung der Terroristen – demonstrieren und New York den wirt-
162
Der Wiederaufbau des World Trade Center
schaftlichen Wiederaufschwung ermöglichen. Trotz alledem produzierte die erste
Phase des Wiederaufbauplanes keinen öffentlich annehmbaren Plan.
Dieses Scheitern stellt keine fallspezifische Besonderheit und auch keinen „Unfall“
dar. Phase 1 fiel einem gesellschaftlichen Defizit zum Opfer, das lokale Regierungen
in den Vereinigten Staaten andauernd verfolgt. Dieser Aufsatz benutzt den Planungsprozesss in dieser ersten
Phase, um die Grenzen
öffentlicher Planung zu
reflektieren, indem er sowohl die öffentliche Marginalisierung der Planung
als auch die dauerhafte
Unklarheit des Verständnisses von öffentlichem
Interesse beleuchtet. Ausgangpunkt ist eine Idealvorstellung von öffentlicher Planung – eine robuste öffentliche Planung,
Abb. 1: Twin Towers des World Trade Center vor dem Anschlag
welche eine „vernünftige
Gemeinsamkeit“ (reasonable commonality, Merrifield 2002:68-73) zwischen widerstreitenden Interessen auslotet, die Vielfältigkeit der Stadt beachtet, auf die substanziellen
Interessen der Stadt abzielt – diejenigen Interessen, ohne die die Stadt nicht mehr in
der Lage wäre, ein „gutes Leben“ zu ermöglichen –, demokratische Praktiken unterstützt und sich um Gerechtigkeit und Gleichheit bemüht (Friedmann 2002:103-118,
Marcuse 2002, Young 1990).
2. Planung: Phase 1
Der Terroranschlag des 11. September forderte ungefähr 2.800 Tote und zerstörte
die 110 Stockwerke hohen Türme des WTC. Fünf weitere Gebäude wurden zerstört,
und dreizehn weitere Gebäude fielen entweder teilweise zusammen oder wurden stark
beschädigt. Über 1 Mio. m² Büro- und Verkaufsfläche wurden in wenigen Minuten
ausgelöscht. Der immobilienwirtschaftliche Verlust betrug über 4 Mrd. US-Dollar bei
geschätzten Versicherungszahlungen in einer Höhe von 40 bis 60 Mrd. US-Dollar.
Dies war das zweite Mal, dass Terroristen versucht hatten, das WTC zusammenstürzen zu lassen. Das erste Mal war im Februar 1993. Damals starben jedoch nur sechs
Menschen, und nur Teile der Tiefgarage wurden zerstört. (Siehe Quellennotiz für die
Materialien, die zur Erstellung dieses Fallbeispiels benutzt wurden.)
Man sprach sofort über einen Wiederaufbau. Beide Türme und Nr. 7 WTC (ein
nahegelegenes Bürogebäude) gehörten Larry Silverstein, einem der größten Grundstücksbesitzer und Bauunternehmer der Stadt. Silverstein Properties hatte die Türme
vom ursprünglichen Besitzer, der Port Authority1 von New York und New Jersey, im
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
163
Juli 2001 für 3,2 Mrd. US-Dollar gekauft. Die Port Authority hatte dem Unternehmen
jedoch nicht das Grundstück selbst verkauft. Stattdessen behielt die Port Authority
das Eigentum am Grundstück und verpachtete das Land für 99 Jahre für ungefähr
120 Mio. US-Dollar Jahresmiete. Westfield America, ein Einkaufszentrumsbetreiber,
hatte einen 99-Jahres-Pachtvertrag für die Verkaufsfläche von etwa 40.000 m² in der
unteren Halle des Komplexes.
Der Wiederaufbau sollte nicht einfach sein. Die Räumung der Fläche dauerte Monate (und endete offiziell im Mai 2002), und staatliche und lokale Verantwortliche
bestanden darauf, dass vor einer Neubebauung erst ein Plan entwickelt werden muss.
Außerdem verfügte niemand allein über die Fläche, und Silverstein, Westfield America und die Port Authority hatten alle bedeutende finanzielle Interessen, die sie nicht
aufgeben wollten. Die Bedürfnisse der Port Authority hatten zudem öffentliche Konsequenzen: Die Einkünfte aus den Pachtverträgen werden benutzt, um den Regionalverkehr, die Flughäfen und andere Einrichtungen zu subventionieren. Die finanzielle
Stabilität und die Kreditwürdigkeit der Port Authority waren ebenfalls bedroht.
Von Anfang an war die Regierung des Bundesstaates New York ein wichtiger
Beteiligter am Wiederaufbau. Der Gouverneur Pataki teilte sich die Kontrolle über
die Port Authority mit dem Gouverneur von New Jersey. Er kontrollierte außerdem
den Eingang der Mittel aus dem Hilfsfonds der Bundesregierung und die wichtigste
Wirtschaftsförderungsbehörde des Staates New York, die Empire State Development
Corporation (ESDC), über die diese Mittel verteilt werden würden. Noch wichtiger war
es, dass das Parlament des Bundesstaates das Recht hatte, eine öffentliche Aufsichtsbehörde für Planung und Wiederaufbau zu gründen.
Die ESCD übernahm es, den Firmen, die von dem Terroranschlag betroffen waren, zu helfen. Die Versorgungsunternehmen, die Metropolitan Transit Authority (MTA,
Regionaler Verkehrsbetrieb), die für die Untergrundbahnen und Busse der Stadt
verantwortlich ist, und die PATH-Behörde, die für den Regionalverkehr nach New
Jersey zuständig ist, begannen sofort mit der Wiederherstellung ihrer Einrichtungen.
Im Dezember 2001 kündigte Gouverneur Pataki die Gründung der Lower Manhattan Development Corporation (LMDC) an. Als eine Tochter der EMDC sollte sie die
federführende Behörde bei der Planung des WTC-Wiederaufbaus sein.
Pataki bestellte John Whitehead, einen pensionierten Firmenchef der Wall-StreetInvestitionsfirma Goldman & Sachs, als Vorstandsvorsitzenden. Der Gouverneur
und der Bürgermeister bestimmten dann einen 16-köpfigen Vorstand, der sich
hauptsächlich aus Immobilien- und Unternehmerkreisen zusammensetzte. Whitehead versprach, einer großen Bandbreite von Ansichten Gehör zu schenken und
bestellte im Februar 2002 einen Beirat aus lokalen und bundesstaatlichen Politikern,
Geschäftsleuten und einem einzigen Arbeitnehmervertreter.
Die Stadt war anfangs ein nachgeordneter Partner beim Wiederaufbau. Der Vorstandsvorsitzende des Stadtplanungsausschusses (City
City Planning Commission
Commission) wurde
weder in den LMDC-Vorstand noch in den Beirat berufen. Außerdem hatte Stadt
auf Projekte der Port Authority keinen planerischen Zugriff im Rahmen von Flächennutzungs- und Bebauungsplanung, und planerische Vorgaben kamen nicht zum
164
Der Wiederaufbau des World Trade Center
Tragen, so lange die Developer den Wiederaufbau innerhalb bestehender Vorschriften - „as of
right“ - vornahmen.
Der
Bürgermeister
Rudolph Giuliani, der bis
vier Monate nach dem
Terroranschlag im Amt
war, konzentrierte sich
mehr auf die Familien
der Opfer als auf den
Wiederaufbau. Giuliani
kündigte sogar an, dass er
am liebsten die ganze Fläche zur Gedenkstätte erklären würde. Bis zu dem
Zeitpunkt, als Michael
Bloomberg ihn im Januar
2001 als Bürgermeister
ablöste, stand die Stadt
am Rande des Planungsprozesses.
Es gab verschiedene
Abb. 2: Entwurf für den Wiederaufbau des WTC von Daniel Libeskind
Gruppen, die ein Interesse am Wiederaufbauprozess hatten und an den öffentlichen Anhörungen teilnahmen,
aber sie hatten wenig direkten Einfluss. Community Board 1, das offizielle Beratungsgremium, das für Flächennutzungs-, Bebauungsplanungs- und Verkehrsfragen im
Stadtbezirk zuständig ist, konnte gemäß der Gesetzeslage nur Stellungnahmen zu
den vorgestellten Plänen abgeben und hatte keine Möglichkeit mitzuwirken. Die
Downtown Alliance (der business improvement district für den Bezirk), die Familien der Opfer, verschiedene für städtebauliche Qualität eintretende Organisationen, der (nichtstaatliche) Regionalplanungsverband Regional Plan Association und andere meldeten
sich zu Wort, waren aber nicht Teil des inneren Zirkels der Entscheidungsträger.
Gouverneur Pataki (und die ESCD unter seiner Kontrolle), die Port Authority und
die LMCD waren die wichtigsten Entscheidungsträger.
Es wurde eine Reihe von öffentlichen Foren abgehalten, um zu entscheiden, was
gebaut werden sollte, aber diese waren gegenüber dem eigentlichen Planungsprozess
nebensächlich. Im Juli 2002 brachte die Civic Alliance to Rebuild Downtown NY mehr als
4.000 Leute in der Kongresshalle der Stadt zusammen, um über den Wiederaufbau
zu beraten (Civic Alliance 2002). Darüber hinaus formierte sich eine Vielfalt weiterer
Gruppen, um die Zukunft von Lower Manhattan zu diskutieren: das Labor Community
Advocacy Network, R-DOT (Rebuild Our Town Downtown), New York, New Visions
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
165
(ein Zusammenschluss von Architektur-, Planungs-, und Designinitiativen), Imagine
NY, und September’s Mission (Familien der Opfer, die sich mit der Gedenkstätte befassNY
ten), um nur einige zu nennen. Die LMDC holte sich weiterhin informellen Rat von
einer große Bandbreite von Leuten.
Der erste Schritt im Wiederaufbauprozess bestand in der Erstellung eines Plans.
Er schien in der Verantwortung der LMCD zu liegen. Als jedoch im April 2002 der
für die Planung zuständige Vizepräsident die Durchführung und Betreuung des
Planungsprozesses öffentlich ausschrieb, erhob die Port Authority Einspruch. Ihr
gehörte schließlich das Grundstück, und ohne ihre Zustimmung konnte es keine
Planung geben. Die Ausschreibung wurde zurückgezogen und erst dann erneuert,
als die LMDC und die Port Authority eine Vereinbarung unterzeichnet hatten, in der
ihre gemeinsame Verantwortung in dem Prozess formal abgesichert wurde.
Die revidierte Ausschreibung wurde im Mai 2002 veröffentlicht. Fünfzehn Architektur- und Planungsfirmen reichten Angebote ein. Innerhalb von Wochen verpflichtete die LMDC die Architekturfirma Beyer Blinder Belle damit, den Planungsprozess
zu managen, und Peterson Littenberg (eine Architektur- und Planungsfirma) mit der
Herstellung der vorläufigen Pläne zu produzieren und der Bewertung ihrer Folgen
für Lower Manhattan. Beyer Blinder Belle wiederum verpflichtete Parsons Brinkerhoff als Verkehrplaner und Ysrael Seinuk als ingenieurstechnischen Berater. Beyer
Blinder Belle sollte sechs Planungsalternativen für das Areal und die umliegenden
Baublöcke entwickeln.
Seit September 2001 hatte es stadtweite Diskussionen in verschiedenen Foren und
in der Presse gegeben. Und es schien Konsens rüber einige grundlegende Dinge zu
herrschen, von denen einige von der LMDC übernommen wurden: Erstens sollte
der Prozess transparent sein. Die Pläne sollten der Öffentlichkeit vorgestellt werden, zu der mehr als die Bewohner von Lower Manhattan gerechnet werden sollten.
Zweitens musste die Neubebauung eine Gedenkstätte für die Opfer einschließen.
Drittens wollte kaum jemand 110 Stockwerke hohe Turmhäuser, egal ob als Zwillingstürme ausgeführt oder nicht, und zwar aus all den offensichtlichen symbolischen
und Sicherheitsgründen. Außerdem sind derart hohe Gebäude auf dem U.S.-amerikanischen Immobilienmarkt von Natur aus weniger profitabel als nur halb so hohe
Gebäude. Die meisten Leuten akzeptierten jedoch die vorgesehene Errichtung von
Bürogebäuden.
Viertens erwarteten alle, dass die ÖPNV-Infrastruktur (PATH-Regionalbahn, UBahn) wiederhergestellt werden würde, obwohl keine Einigkeit darüber bestand, ob
Lower Manhatten ein bedeutenderer Knoten für den Regionalverkehr werden sollte.
Als ein solcher muss die Fläche mit der Long Island Railroad verknüpft werden, welche die Pendler der östlichen Vororte bedient. Ein solches Szenario würde jedoch
eine Stärkung der kommerziellen Aspekte des Projekts bedeuten und somit im Widerspruch zu der Entwicklung von Lower Mahattan als Wohnstandort stehen.
Fünftens gab es eine Reihe von Gruppen, die für mehr Wohnen plädierten, insbesondere Sozialwohnungen. Der Wohnungsmarkt war in New York City in den
späten 1990er Jahren insgesamt angespannt, bedingt durch ein städtisches Bevöl-
166
Der Wiederaufbau des World Trade Center
kerungswachstum (ausgelöst durch Immigration), steigende Börsenkurse, die die
Wohnungsmarktpreise nach oben trieben, und das dürftige Ausmaß des Wohnungsbaus in Manhattan. Schließlich war der „Superblock“, der im Zuge der Errichtung
der Doppeltürme entstanden war, weithin kritisiert und für mit dem umliegenden
Straßen- und Bebauungsmuster nicht kompatibel befunden worden. Deshalb gab es
Vorschläge, die Straßen, die weggenommen worden waren, wiederherzustellen und
existierende Straßen zu verlängern.
Obwohl der Planungsprozess unter der Schirmherrschaft einer halböffentlichen
Institution stand, war er nicht öffentlich. Phase 1 wurde nicht geheimgehalten, aber
auch nicht breit in die Öffentlichkeit getragen. Bewohner, Planungsinitiativen und
vor allem der Stadtplanungsausschuss wurden in die Durchführung nicht einbezogen. Während die LMDC mit der Öffentlichkeit in Kontakt stand, entwarfen Beyer
Blinder Bell und deren Consulting-Firmen die Pläne.
Die im Juli 2002 von der LMDC veröffentlichten sechs Alternativen waren im
wesentlichen Variationen zu einem Thema. Es war klar, dass sie alle von drei programmatischen Überlegungen bestimmt waren. Eine war die Bedingung der Port
Authority, dass die gesamte Büro- und Einzelhandelsfläche wiederhergestellt werden
sollte. Für die Port Authority waren Einkommen das wichtigste, jeder Quadratmeter
verlorener Fläche musste ersetzt werden. Dies bedeutete, dass es eine oder mehrere
Bürohauskonzentrationen geben würde. Die zweite Überlegung war, dass es eine
ebenerdige Gedenkstätte geben musste, zusammen mit der impliziten Vorgabe, dass
diese von einer Freifläche umgeben sein würde. Drittens ging es um die neuerliche
Flächenwidmung für Durchgangsstraßen, die während der Erstellung des „Superblocks“ weggefallen waren. Das verfügbare Bauland wurde damit noch über die
Gedenkstätte hinaus eingeschränkt, so dass eine zusätzliche Konzentration der Bürohäuser entstand und diese noch höher wurden.
Jeder der verschiedenen Pläne hatte zwischen vier und sechs Bürotürme. Sie variierten zwischen 32 und 80 Stockwerken Höhe. Der „Memorial Square“-Plan wies
einen Turm mit 80 Stockwerken auf, zwei mit 70 Stockwerken und einen mit 56
Stockwerken zusammen mit einer 40.000 m² großen Plaza, die von zehnstöckigen
Gebäuden eingerahmt wurde. Der „Memorial Promenade“-Plan hatte zwei Türme
mit 63 Stockwerken und vier mit 32 Stockwerken mit vielen Freiflächen dazwischen
sowie einen großen ovalen Park, der über eine große Nord-Südachse gebaut war.
Die Kritik kam umgehend und fiel eindeutig aus: zu viele Bürotürme, zu wenig
Bürgerbeteiligung, zu wenig neues Wohnen und zu viel Augenmerk auf Gewinnmaximierung zum Nachteil einer gesamtgesellschaftlichen Vision für die Fläche.
Gouverneur Pataki und Bürgermeister Bloomberg verteidigten die Vorschläge nicht,
sondern kritisierten sie. Pataki schlug sogar vor, dass die Abdrücke der Türme bewahrt werden sollten, eine bedeutende Aussage, wenn man seinen Einfluss auf den
Wiederaufbauprozess bedenkt. Noch während er sie vorstellte, begann Whitehead
sich von den Vorschlägen zu distanzieren. Die Städtebau-Szene war rundherum
kritisch eingestellt. Die Leitartikel der Zeitungen sprachen sich ebenfalls gegen die
Pläne aus.
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
167
Eine von der Civic Alliance und der LMDC gesponsorte großangelegte öffentliche
Zusammenkunft von mehr als 5.000 Menschen erbrachte ein paar Tage später einen
breiten Konsens darüber, dass die Pläne ad acta gelegt werden mussten. Eine Mehrheit der Teilnehmer befürwortete soziales Wohnen und sprach sich für eine vielfältige
Gewerbestruktur als Teil der Neubebauung aus; sie wollten ein rund um die Uhr lebendiges Stadtviertel. In Reaktion darauf kündigte die LMDC an, dass sie die Phase 2
– die Weiterentwicklung der vorläufigen Pläne – zurückstellen und mehr Architekten
und Planer am Prozess beteiligen würde.
Um die offenbar riesige Hürde der Erstellung eines annehmbaren Planes zu überwinden, bot die Stadtverwaltung der Port Authority einen Landtausch an. Für die
Fläche des WTC wollte die Stadt der Port Authority das Land unter seinen beiden
Flughäfen JFK International und LaGuardia abtreten, das die Port Authority gepachtet hatte. Die Port Authority schien interessiert, aber der Vorschlag zerschlug
sich schnell. Ein Flächentausch hätte zwar die Besitzstruktur geändert, aber nicht
die finanzielle Verwertbarkeit der Fläche. Ein weiterer innovativer und kostspieliger
Vorschlag war die Verlegung der Büronutzung über einen Autobahntunnel; das heißt
eine Verlegung außerhalb des Areals. Variationen dieser „off-site“-Option wurden
später Teil der neuen Wiederbebauungsvorgaben.
Die LMDC kündigte daraufhin an, dass sie einen Wettbewerb mit zusätzlichen
Architektur- und Planungsfirmen ausschreiben würde (Knack 2003). Die Entwerfer
sollten ermutigt werden, innovativere Lösungen anzustreben. Mehr als 400 Teams
reichten Bewerbungen ein, und im Oktober wurden sechs Teams ausgesucht, die 27
verschiedene Firmen repräsentierten. Sie erhielten revidierte Entwurfsvorgaben mit
neuen Bestimmungen für die Büroflächen, einem Minimum von 64.000 m² Einzelhandelsfläche und 64.000 m² Hotelnutzung (die jeweils bis zu 107.000 m² ausgeweitet
werden konnten), einer Gedenkstätte sowie den Haupttrassen des öffentlichen Verkehrs und den Haltestellen. Zusätzlich war es möglich, einen Teil der Gewerbeflächen außerhalb der Fläche (off-site)
off-site) anzusiedeln.
off-site
Wohnnutzung wurde nicht angesprochen, bis auf das Verbot, diese innerhalb des
Areals anzusiedeln. Jedes der Teams sollte 40.000 US-Dollar bekommen, verglichen
mit dem 3-Millionen-US-Dollar-Vertrag mit dem Beyer-Blinder-Belle-Team. Die Pläne mussten bis November 2002 eingereicht werden. Diese zweite Runde der Phase 1
wurde Ende Februar 2003 mit der Auswahl des Entwurfs des Studios Daniel Libeskind abgeschlossen (Goldberger 2003).
Im Sommer 2002 war die Vorstellung abweichender vorläufiger Pläne jedoch keine
Leistung, sondern eine Peinlichkeit. Die ursprünglichen Pläne stellten die Fehler im
Prozess, die Grenzen der für die Planung verantwortlichen Organisationen und die
institutionellen Voreingenommenheiten bloß, denen großflächige öffentliche Planungsprojekte in den Vereinigten Staaten nur mit großen Schwierigkeiten oder Glück
entkommen können. Was war passiert?
168
Der Wiederaufbau des World Trade Center
3. In Abwesenheit von Planung
Phase 1 war eindeutig mit Fehlern behaftet. Der Großteil der negativen Medienberichterstattung konzentrierte sich auf die Höhe der Büro- und Gewerbeflächen, die
die Port Authority verlangt hatte, und die damit zusammenhängende Abwertung der
Fläche für die Gedenkstätte. Die Planer hatten ein kommerzielles Projekt vorgestellt,
wohingegen die Öffenlichkeit erwartet hatte, dass die Pläne zeigen sollten, wie das
Areal der Opfer gedenken würde.
Die generelle Unzufriedenheit wurde verstärkt durch das Gefühl, dass, obwohl die
LMDC sich Input geholt hatte und sich der Existenz der vielen Bürgerversammlungen in der Stadt bewusst war, der eigentliche Planungsprozess parallel dazu verlaufen war und sich nur schwach an der öffentlichen Debatte orientiert hatte (Szenayz
2002). Außerdem behandelten die Planer und Architekten das Areal im Grunde als
isoliert von seiner Umgebung. Insbesondere wurde der möglichen Neuentstehung
eines Wohnviertels in Lower Manhattan zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Wohnnutzungen wurden aus dem Areal ausgeschlossen, da dafür die Port Authority angeblich nicht zuständig war.
Die Kritik stellt die Ablehnung des Planes als Sonderfall dar. Im Grunde versagten
die Planer, da sie das falsche Programm anwandten, Bürgermeinungen zu wenig Aufmerksamkeit schenkten und Überlegungen ignorierten, die die umliegenden Flächen
einbezogen. Dies sind einfach zu behebende Beurteilungsfehler. Das Misslingen der
ersten Phase wird somit zu einer zwischenzeitlichen Abweichung von dem Weg, den
die Planung hätte gehen sollen.
Das Scheitern war jedoch keine Anomalie, keine Abweichung vom Normalfall.
Abrams (2000:354) argumentiert: Planung ist gekennzeichnet durch ein „dauerhaftes
Versagen, die Ordnung zu erreichen, die ihre Existenz rechtfertigt“ (a constant failure
to achieve the order that rationalizes its existence
existence). Der Prozess stützte sich in der Tat auf
„best practices“. Die LMDC gründete eine Entwicklungsgesellschaft, ein Vorgehen,
das in den letzten 40-50 Jahren bevorzugt angewandt worden ist. Sie verpflichtete
kompetente Firmen für die Planung und holte umfassende Ratschläge ein. Das Planungsteam durfte ohne politische Einflussnahme und abseits von der Kakophonie
der widerstreitenden Ideen arbeiten, die für den Wiederaufbau vorgeschlagen wurden. Und die LMDC unterbreitete der Öffentlichkeit die sechs Alternativen zur Begutachtung. Zudem waren die sechs Vorschläge nicht an sich fehlerhaft, sie verletzten
keine Kernprinzipien des Städtebaus. In den meisten Städten kann dies als gute Planung bezeichnet werden.
Phase 1 fiel in sich nicht deswegen zusammen, weil die Pläne mangelhaft oder der
Prozess abgeschottet war, sondern weil öffentliche Planung in den Vereinigten Staaten institutionell marginalisiert und somit verfassungsmäßig außerstande ist, große,
symbolische Entwicklungsprojekte zu bewältigen. Diese einfache Tatsache ist dafür
verantwortlich, dass öffentliche Planungen meist hinter den Erwartungen zurückbleiben.
Die Marginalisierung von Planung ist von verschiedenen Kommentatoren analy-
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
169
siert worden (Beauregard 1989, Fainstein and Fainstein 1987, Foglesong 1986). Die
Hauptgründe liegen in einer Kultur und in einem institutionellen Milieu, in welchem
der Staat dem Kapital den Vortritt lässt, während Eigentumsrechte und Individualismus ideologisch privilegiert sind. Obwohl staatliche Planer in der Lage sein mögen,
mit der Immobilienentwicklung umzugehen und somit einen Besitzer vor einem anderen zu schützen, bleibt es ihnen versagt, die Kontrolle über die Bodennutzung zu
übernehmen und grundsätzlich öffentliche Entscheidungen darüber zu fällen, wie
Grund- und Immobilienbesitz verwendet werden soll.
In den Vereinigten Staaten existiert öffentliche Planung unter der Obhut eines
„schwachen“ Staates, der dazu tendiert, die Interessen von Unternehmen und großen Investoren zu unterstützen und den grundsätzlichen Vorrechten des Kapitals
– was soll investiert werden, wo soll investiert werden – tendenziell keine „gesellschaftlichen“ Werte aufzwingen kann (Krasner 1978:55-70). Stadtentwicklung und
–erneuerung werden im Wesentlichen vom Privatsektor bestimmt. Die verschiedenen Ebenen des Staates – national, bundesstaatlich und lokal – spielen eine schwache
regulative Rolle und üben fast gar keinen vorausschauenden Planungsdruck auf die
zukünftige Form der Stadt aus. Und obwohl es lokale Unterschiede in diesen Rahmenbedingungen gibt, existieren diese nur in einem kleinen Rahmen.
Diese institutionelle Marginalität wird verstärkt durch einen Individualismus, der
Grund- und Immobilieneigentümer dazu ermuntert, ihre Rechte als vorrangig vor
gemeinschaftlichen Eigentumsrechten anzusehen (Plotkin 1987). Ein starkes Gefühl
von „Lokalismus“ ist die Konsequenz. Während öffentliche Planung als Mittel zum
Schutz lokaler Eigentumsrechte Wurzeln geschlagen hat, hat sie dies auf höheren
Verwaltungsebenen, auf denen Eigentumsrechte weniger oft angefochten werden,
nicht getan. Ein bundesstaatlicher, regionaler oder staatlicher Rahmen, der Konflikte
zwischen verschiedenen Kompetenzbereichen auflösen könnte, existiert so gut wie
gar nicht. Es gibt keine nationale Städtebaupolitik, und nur ein paar Bundesstaaten
haben Wachstumsmanagementpläne ((growth
growth management plans
plans),
), von denen die meisten
aber keine gesetzgebende Kompetenz haben, Entwicklungen zu bestimmen oder
auch nur zu leiten. Im Ergebnis bekommt lokale Planung nur sehr wenig Unterstützung „von oben“.
Öffentliche oder private Aktivitäten, die räumliche Ebenen und Gemeindegrenzen
überqueren, werden als Externalitäten vernachlässigt. Lokale Planer sind insbesondere anfällig für private Akteure, die an mehreren Stätten operieren, Wachstum und
Wohlstand versprechen und unabhängigen Zugang zu politischen Führungskräften
haben.
Öffentliche Planung ist weiterhin eingeschränkt durch den steuerlichen Föderalismus, der in den Vereinigten Staaten regiert (O’Cleireacain 1993). Gemeinden
müssen sich vor allem auf eigene Einnahmen verlassen (Steuerbasis innerhalb des
eigenen Einzugsbereiches), um für öffentliche Dienstleistungen zu bezahlen. Es gibt
zwischenstaatliche Ausgleichszahlungen, aber diese sind keine wesentliche Quelle gemeindlicher oder bundesstaatlicher Einkommen. Lokale und staatliche Regierungen
müssen somit Investitionen innerhalb der eigenen Grenzen anregen. Die führt zu
170
Der Wiederaufbau des World Trade Center
zwischengemeindlichem bzw. –staatlichem Wettbewerb um Investoren. Da Gemeinden ihre Steuerbasis in erster Linie aus Grundsteuern beziehen, ist Immobilienentwicklung ein wichtiger Faktor für die Einnahmenrechnung gewählter Beamter.
Obwohl Verwaltungen Regelungen in Form von Bebauungs- und Flächennutzungsplänen, Umweltrichtlinien und (in einigen Gemeinden) Entwicklungsbeschränkungen getroffen haben, sind diese eben nur Richtlinien. Sogar Flächennutzungspläne
sind verhandelbar, besonders wenn städtische Beamte glauben, dass das Versäumnis,
sie zu lockern Investoren abschrecken und die Stadt als wachstumsfeindliche Stadt
abstempeln würde. Im besten Falle fungieren Planungsbehörden als Mediatoren zwischen Staat, Bürgerschaft und Kapital. Im problematischeren Falle koordinieren sie
private Investitionen.
Öffentliche Planung entbehrt somit der Werkzeuge, um große Entwicklungsprojekte, die signifikante wirtschaftliche Konsequenzen haben, zu managen, private Investoren einzubeziehen und gleichzeitig öffentliche Verantwortlichkeiten
aufzuzeigen. Die Schwierigkeiten verschlimmern sich, wenn die Projekte (wie das
WTC) gleichzeitig eine hohe symbolische Bedeutung haben und somit einflussreiche
Bürgerbeteiligung und Aufsicht verlangen. Planern stehen wenige Mechanismen zur
Verfügung, um von der Stadt vertretenen Interessen dahingehend zu erweitern, dass
verschiedene Kulturen und geschichtliche Zeugnisse anerkannt und demokratische
Praktiken sowie eine robuste und allumfassende Zivilgesellschaft erhalten werden
(Friedmann 2002). Gesellschaftliche Tugend und das Streben nach einer „vernünftigen Gemeinsamkeit“ (reasonable
reasonable commonality
commonality), die Unterschiede respektiert (Merrifield
2002:69-73), werden ignoriert.
Das „öffentliche Interesse“ ist immer eine Schwachstelle öffentlicher Planung in
den Vereinigten Staaten gewesen. Planer denken – und werden dazu ausgebildet so
zu denken – dass sie der Öffentlichkeit dienen. Sogar Anwaltsplaner, die mit benachteiligten oder entmachteten Gruppen arbeiten, glauben, dass das, was sie tun, einem
öffentlichen Interesse dient, in diesem Fall größerer Gerechtigkeit und Gleichheit.
Für Planer ist das öffentliche Interesse jedoch nicht die Summe der Interessen
der Bewohner der Stadt, sondern eher ein immanentes Interesse an der Stadt als
Ganzem. Planung hat sich traditionell um die ureigenen (organic)
organic) oder die Gesamtinorganic
teressen (unitary
unitary interests
interests) der Stadt gekümmert, das heißt, die Interessen, die es der
Stadt ermöglichen, in ihrer Gesamtheit zu funktionieren und sich zu fortzuentwickeln. Gleichzeitig herrscht jedoch ein Utilitarismus in den politischen Kreisen der
Vereinigten Staaten, der es für Planer schwierig macht, für ein öffentliches Interesse
zu argumentieren, welches sich nicht durch das Agieren atomisierter Individuen oder
Interessengruppen manifestieren kann.
Ohne Mechanismen, die eine vernünftige Gemeinsamkeit verlangen und ohne Institutionen, die öffentliche Planung ins Zentrum der Entscheidungsfindung rücken,
sind mächtige Gruppen in der Lage, die Kontrolle über große Entwicklungsprojekte
zu erlangen oder – was ebenso aussagefähig für das Versagen öffentlicher Planung ist
– benachteiligte und Randgruppen sind in der Lage, sie aufzuhalten.
Die Marginalisierung öffentlicher Planung hat sich während der ersten Phase der
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
171
WTC-Planung auf verschiedene Weise manifestiert. Die Entscheidung der Bundesregierung, eine nationalstaatliche Kontrolle über das Areal nicht in Erwägung
zu ziehen, wurde nicht diskutiert und kaum öffentlich erwähnt. Die Regierung in
Washington gewährte Hilfe aus Bundesmitteln, aber macht keine Anstrengungen,
Planung und Wiederaufbau zu einer „staatlichen“ Aktivität zu machen, trotz der nationalen Bedeutung des Areals. Ein einziger Kommentator erwähnte beiläufig, dass
„wenn es jemals ein Stück Land gegeben hat, das als öffentlicher Besitz behandelt
werden sollte, ... es dieses [ist]“ (Goldberger 2002b:29). Nationale, staatliche oder
lokale Regierungen sind weder darauf vorbereitet, in expansiver Weise über den öffentlichen Charakter von Entwicklungsprojekten nachzudenken, noch sich gegen die
Vorherrschaft von Eigentumsrechten zu stellen – egal ob sie private Investoren oder
halbstaatliche Einheiten wie die Port Authority betreffen.
Aber sogar solchen institutionalisierten Machtungleichgewichten könnte entgegengetreten werden. Im hier diskutierten Fall ließen die Stadtverwaltung und der
Stadtplanungsausschuss jedoch die Erlangung der Kontrolle über das Areal seitens
der LMDC und der Port Authority und den Ausschluss des Stadtplanungsausschusses vom Planungsprozess zu. In New York City ist öffentliche Planung traditionell
immer eher reaktiv als proaktiv gewesen, insbesondere angesichts einer starken Immobilienwirtschaft und international hohen Grundstücks- und Immobilienpreisen
(Fainstein und Fainstein 1987, Fitch 1993, Goldberger 1983, Lentz 2002). Ein Kommentator bemerkte, dass New York City „bis auf [Anstrengungen], die lokale Zonenbauordnung zu reformieren, wenig Interesse an [breitangelegter] Planung hat“ (except
for [efforts] to revise the zoning code, displays little interest in [broad-based] planning
planning) (Fainstein
2001:8). Sogar diejenigen, die glauben, dass der Stadtplanungsausschuss erfolgreich
gearbeitet hat, argumentieren, dass seine Stärke in seiner Kompromissfähigkeit besteht (Birch 1996, Garvin 2000).
Die Rolle der Stadt innerhalb des Prozesses wurde weiterhin marginalisiert aufgrund von politischen Erwägungen. Die Amtszeit des während der Tragödie amtierenden Bürgermeistes Rudolph Giuliani lief im Januar 2002 ab, und sein wahrscheinlichster Nachfolger war eine Person (Mark Green), mit der Giuliani zahlreiche öffentliche Auseinandersetzungen gehabt hatte und dessen linksliberale Politik ihm ein
Gräuel war. Giuliani lehnte Mark Green so sehr ab, dass er nicht wollte, dass Green
beim Wiederaufbau des WTC Einfluss erhält. Giuliani bemühte sich daher nicht um
eine Einbeziehung der Stadt. Gleichzeitig bevorzugte Giuliani eine Umwidmung des
gesamten Areals zu einer Gedenkstätte.
Sowohl Bürgermeister Giuliani als auch sein Nachfolger, Michael Bloomberg, ließen dem Gouverneur den Vortritt. Die Entscheidungsgewalt der Stadtregierung ist
durch die des Bundesstaates beschnitten. Und praktisch gesehen war Gouverneur
Pataki beliebt und politisch mächtig. Da sich eine Rezession ankündigte und die Stadt
sich den ökonomischen und steuerlichen Spätfolgen der Zerstörung des WTC stellen
musste, brauchte Bürgermeister Bloomberg die Regierung des Bundesstaates und
den Gouverneur, um jedwede Steuer- und Haushaltskrise abzuwehren.
Bloombergs Regierungsstil war nicht konfrontativ, sondern vorsichtig und ver-
172
Der Wiederaufbau des World Trade Center
söhnlich. Er stellte sich als Manager und nicht als Innovator dar, und dies war auch
seine Art, den Wiederaufbau des WTC anzugehen. Er ließ dem Gouverneur den Vortritt und trat nicht für eine größere Einbeziehung des Stadtplanungsausschusses ein.
Es wurde daher keine „öffentliche“ Position in den von der LMDC bestimmten
Planungsprozess eingespeist. Der Stadtplanungsausschuss blieb außen vor, ausgelagert aus strukturellen und eher noch aus politischen Gründen, einschließlich der
Tatsache, dass örtliche Pläne für die Port Authority und die bundesstaatliche Regierung nicht galten. Und obwohl die neue, von Bürgermeister Bloomberg eingesetzte
Vorsitzende des Stadtplanungsausschusses verkündet hatte, dass ihr Ausschuss „entwicklungsfördernd“ ((pro-development
pro-development)) eingestellt sein würde, reichte dies nicht aus, um
pro-development
eine formal beratende Rolle zu erlangen (Lentz 2002).
Die Ironie der ersten Phase war, dass die Port Authority gegründet worden war,
um einem öffentlichen Interesse zu dienen (Doig 2001). Ihr ursprünglicher Auftrag
war das Management des Hafens. Der Auftrag wurde später auf regionale Infrastrukturen wie Flughäfen, Brücken, Tunnel und ÖPNV ausgeweitet. Mit der Zeit nahm
die Port Authority die Rolle eines „Entwicklungsstaates“ innerhalb des Metropolraumes an (Erie 2002), und erlangte eine relative Unabhängigkeit von Wirtschaftsinteressen (obwohl sie bei der Aufnahme von Krediten von der Finanzwirtschaft abhängig
blieb) und von der bundesstaatlichen und städtischen Regierung. Das öffentliche
Interesse, das die Port Authority verteidigte und ausbaute, war in diesem Fall jedoch
ein eng gefasstes Interesse, das nicht mit dem weiter gefassten, von der Öffentlichkeit
vertretenen Interesse kompatibel war.
Die Port Authority war in der Lage, ihre Agenda ohne nennenswerten Widerstand
zu verfolgen. Sie war nicht nur politisch mit dem Mantel des öffentlichen Interesses
versehen, sondern konnte auch von dem symbolischen (und daher politischen) Kapital zehren, das ihr aus ihrem Beitrag zum regionalen Wachstum entstand – und der
sich daraus ergebenden Notwendigkeit, haushaltstechnisch im Reinen zu bleiben, um
unverzichtbare Infrastruktureinrichtungen erhalten zu können. Gouverneur Pataki
überließ der Port Authority das Wiederaufbauprogramm, woraus sich die Definition
des Areals als kommerzielle Fläche ergab. Er tat dies aufgrund des institutionellen
Charakters der Port Authority und ihrer Beziehung zu staatlichen Stellen, zu den Finanzmärkten und zur regionalen Ökonomie.
In Ermangelung einer gegenhaltenden Kraft behielt die Sichtweise der Port Authority die Oberhand. Das Resultat war die öffentliche Ablehnung der sechs ersten
Planungsvorschläge. Das Problem war die Abwesenheit einer robusten öffentlichen
Planung, die empfänglich für die nicht-ökonomischen Gesamtinteressen der Stadt
und das Bedürfnis nach einer „vernünftigen Gemeinsamkeit“ gewesen wäre. Die
Ursachen waren nicht eine Funktion besonderer, während des Wiederaufbaus getroffener Entscheidungen, sondern institutionell, bedingt durch die marginalisierte
Position öffentlicher Planung.
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
173
4. Schlussbemerkung
Beim zweiten Anlauf wurde Phase 1 abgeschlossen. Fast ohne Verlautbarung von
Gegenstimmen wählte Gouverneur Pataki für das Areal den Entwurf des Büros von
Daniel Libeskind. Die Öffentlichkeit schien zufrieden. Und obwohl der Entwurf
nicht die erste Wahl der LMCD war, gab auch diese nach. Im Großen und Ganzen
wollten alle, dass es vorangeht.
Können wir nun Phase 1 als Erfolg bezeichnen? Ich denke nicht. Es gab keine bedeutenden Änderungen im Planungsprozess (Goldberger 2003). Die LMDC änderte
einfach ihre Strategie und führte einen internationalen städtebaulichen Entwurfswettbewerb durch. Der Stadtplanungsausschuss war immer noch marginalisiert, und
obwohl der Wettbewerb breit publiziert wurde und die Öffentlichkeit die Möglichkeit
hatte, die Entwürfe zu begutachten und zu bewerten, arbeiteten die Entwurfsteams
nach wie vor mit der LMDC und nicht mit Bürgergruppen.
Nachdem der Wettbewerb abgeschlossen und ein Entwurf ausgewählt worden
war, feierten verschiedene Kommentatoren den Prozess. Sie argumentierten, dass er
eine großartige gesellschaftliche Übung in städtebaulicher Bildung gewesen sei. Die
logische Schlussfolgerung war, dass dies der Grund war, weshalb ein Entwurf von
Weltklasseformat ausgewählt werden konnte. Dies war eine Wunschvorstellung. Eine
robuste öffentliche Planung war immer noch nicht Teil des Prozesses, die Agenda
der Port Authority war im Wesentlichen intakt, auch wenn sich diese nun über das
Areal hinaus erstreckte, und die Kontrolle über den Wiederaufbau verblieb bei der
Port Authority, der LMDC und (zunehmend) bei Larry Silverstein, dem Eigentümer
der Immobilienrechte. Man kann die Annahme des Libeskind-Entwurfs kaum als
Planungserfolg bezeichnen.
Übersetzung: Deike Peters
Anmerkungen
1
Anm. d. Übers.: Obwohl in der deutschen Presse generell als „Hafenbehörde“
betitelt, ist diese wörtliche Übersetzung insofern missverständlich, als die Port Authority von New York und New Jersey keineswegs vornehmlich hafenbezogene
Aufgaben wahrnimmt, sondern heute als quasi-staatliche Behörde vielmehr für die
wichtigsten Verkehrsinfrastrukturen um New York herum – Flughafen, Brücken,
Tunnel etc. – verantwortlich ist. Vgl. auch die Ausführungen in Abschnitt 3.
Quellenhinweis
Soweit nicht anders angegeben, wurde das Material für diese Fallstudie aus Zeitungsartikeln zusammengestellt, die in Crain’s New York Business, The New York Observer
und The New York Times erschienen, sowie aus dem Besuch verschiedener Foren in
der Stadt. Goldberger (2002b) war sehr hilfreich. Für generelle Hintergrundinfor-
174
Der Wiederaufbau des World Trade Center
mationen zur Stadtentwicklung in New York während der letzten 50 Jahre siehe
Fainstein, Fainstein und Schwartz (1989), Mollenkopf (1992:44-68) und Sorkin und
Zukin (2002).
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176
Territorium, Stadt, Großereignisse
Renzo Lecardane
TERRITORIUM, STADT, GROSSEREIGNISSE
Das Beispiel der Expo 1998 in Lissabon
1. Großereignisse und Stadtentwicklungspolitik
Unter den wichtigsten Umbrüchen in der räumlichen Organisation der Städte
von heute finden wir immer wieder herausragende Events. Dabei handelt es sich um
bewusst veranlasste, vorgesehene oder geplante Gelegenheiten: Olympische Spiele,
Weltausstellungen, Fußballmeisterschaften, Jubiläen usw. Die kulturellen oder sportlichen Großereignisse stellen für viele die einzigen Instrumente dar, die dazu in der
Lage sind, planerisches Handeln zahlreicher Verwaltungseinrichtungen auszulösen,
die häufig langsam und uneffektiv arbeiten, und zwar wegen der Befolgung etablierter Routinen und bestimmter Interessen, die ein schnelles und effektives Handeln im
städtischen Maßstab verhindern.
Anerkannte Autoren sprechen sich stattdessen für die Notwendigkeit eines aus
zahlreichen kleineren Projekten zusammengesetzten Gesamtplans aus, die auf eine
Vervollständigung der existierenden infrastrukturellen Netze und die Zentren stärken. In diesem Zusammenhang bilden Großereignisse für die austragenden Länder
heutzutage ein machtvolles Instrument zur Unterstützung der internationalen Ausstrahlung und zur Förderung wirtschaftlicher und kultureller Aktivitäten durch die
Ereignisse selbst. Die Mehrzahl der Events, die von europäischen Städten während
der letzten 20 Jahre veranstaltet worden sind, von Sevilla bis Hannover, von Barcelona bis Lissabon, von London bis Berlin, Rom oder Paris, sind mit Sicherheit ein
Beweis für das Interesse der Metropolen daran, sich dieser im Rahmen neuer stadtpolitischer Strategien zu bedienen.
In diesem Beitrag werden als Ausschnitt aus diesem Spektrum die großen internationalen oder Weltausstellungen untersucht, die von vielen Beobachtern als Vorwand
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
177
der austragenden Städte zur Verbesserung ihrer internationalen Wettbewerbsfähigkeit angesehen werden. Es handelt sich dabei im Unterschied zu Sportereignissen
wie Olympischen Spielen oder Fussballweltmeisterschaften um eine Begegnung der
beteiligten Nationen in den Bereichen des kulturellen Fortschritts und eine Schau der
Möglichkeiten der Menschheit in der jeweiligen Epoche1.
Zunächst werden wir die Ziele von Großereignissen zusammentragen und systematisieren: Ziele im Hinblick auf das Image und die internationale Anerkennung,
ökonomische und fremdenverkehrsbezogene Ziele sowie Umbau bzw. Revitalisierung vernachlässigter Stadtquartiere. Mit diesen Zielen hängt die beschleunigte
Durchführung von Stadtumbauprojekten zusammen, die mit traditionellen Planungsinstrumenten nur schwer realisierbar sind.
Die großen Weltausstellungen in Paris im 19. Jahrhundert haben einen Teil des
westlichen Stadtgebiets umgeformt und in der Stadtlandschaft der französischen
Hauptstadt dauerhaft einige symbolische Spuren hinterlassen. Unter den Veränderungen, die heute noch im Stadtbild erkennbar sind, erinnern wir uns beispielsweise
an die Besiedlung des Hügels von Chaillot, der 1878 in Trocadéro umbenannt wurde,
die reguläre Gestaltung des Marsfelds, das die großen Ausstellungshallen und die
Pavillons der beteiligten Länder beherbergen sollte, den Bau des Eiffelturms und der
Maschinengalerie im Jahre 1889 sowie anlässlich der Ausstellung von 1900 an den
Bau der nach Alexander III. benannten Brücke, des Großen und des Kleinen Palais
sowie die Eröffnung der ersten Linie der U-Bahn2.
Dennoch waren die Ausstellungen des 19. Jahrhunderts nicht nur eine Gelegenheit
zur Realisierung von Stadtumbauprojekten oder der Errichtung von beispielhaften
Gebäuden, sondern standen für die Präsentation des menschlichen Fortschritts im
internationalen Maßstab und trugen damit zur Entwicklung und der gründlicheren
Auseinandersetzung mit damals neuen Themen bei. Insbesondere wurden die Stadtumbaumaßnahmen von Ideen der Moderne sowie dem Interesse der Politik einer
Wohnungsversorgung der Arbeiter an den ausgestellten Innovationen begleitet3.
Im 20. Jahrhundert wurden für die Großereignisse nunmehr auch Stadtrandgebiete in Betracht gezogen und die Ereignisse mit einer Planung des Ballungsraums
verknüpft. In der jüngsten Zeit wurde anlässlich der Olympischen Spiele in Barcelona
1992 das Sportereignis zum Ausgangspunkt für eine Entwicklung der vernachlässigten Hafengebiete gemacht, die an das historische Zentrum der Stadt angrenzen.
Die neue Stadterneuerungspolitik, deren Umsetzung in jenen Jahren anlässlich der
Olympischen Spiele begonnen wurde, war ausschlaggebend für die Realisierung eines
strategischen Plans für den Ballungsraum, der die Erneuerung von vier der 13 im Ballungsraum für das Ereignis ausgewählten Zentren in kürzester Zeit vorsah. Auf diese
Weise ist das Modell der strategischen Planung, das anlässlich des Großereignisses
angewandt wurde, zum ersten Mal zu einem der zeitgenössischen Referenzpunkte
auf dem Gebiet des Stadtumbaus geworden.
Im Rahmen der Expo 1998 in Lissabon4 sah die Planung für die Weltausstellung die
Umwandlung eines Teils des östlichen Stadtgebiets der portugiesischen Hauptstadt
vor. In Lissabon war der Rahmenplan für die Weltausstellung mit der Entscheidung
178
Territorium, Stadt, Großereignisse
Abb. 1: Luftaufnahme vom zentralen Bereich des Expo-Geländes
für einen dauerhaften Ausstellungsbereich der Ausgangspunkt für die Gestaltung des
öffentlichen Raums und den Bau von neuen temporären und längerfristig stehenden
Gebäuden in einem neuen monumentalen Viertel der Stadt5.
Der Stadtumbau im Umfeld der Expo, der von der portugiesischen Staatsregierung
und der Stadtverwaltung Lissabon gemeinsam unterstützt wurde, folgte zwei Hauptzielen. Erstens wurde mit dem Zeithorizont der Ausstellungseröffnung ein kurzfristig
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
179
angelegter Rahmenplan für das Expo-Gelände erarbeitet. Zweitens wurde langfristig
die Errichtung von Neubauten auf den freien, noch nicht bebauten Flächen bis zum
Jahr 2010 vorgesehen. Diese beiden Pläne, die in den Jahren vor der Expo ausgearbeitet wurden, fanden Eingang in einen strategischen Stadtentwicklungsplan für den
Ballungsraum Lissabon, der die planerische Wiedergewinnung und Aufwertung der
Flussuferbereiche in der Stadt vorsieht.
Wenngleich auf der internationalen Ebene in Städten wie Barcelona, Sevilla, Lissabon oder Athen aktuelle Erfahrungen mit Stadtumbauprojekten gesammelt werden,
verfolgen heutzutage viele Städte umso mehr eine Festivalisierungspolitik, bei der sie
einige der damit verbundenen Risiken ausblenden. Häufig besteht dabei das Risiko,
dass sich in Abwesenheit einer kohärenten Planungsstrategie für die Gesamtstadt die
planerischen Eingriffe lediglich im Umfeld des Austragungsorts konzentrieren und
auf diese Weise die bestehenden sozialen Disparitäten in der Stadt verschärft werden.
In diesem Zusammenhang verweisen die Unterstützer der Großereignisse darauf,
dass die anlässlich der Events vorgeschlagenen Bauarbeiten und planerischen Eingriffe ohnehin für die Stadt erforderlich sind und dass erst durch die Großereignisse
eine hinreichende Mobilisierungsfähigkeit für die Durchführung der Maßnahmen
entsteht. Im Widerspruch zu dieser These scheint es jedoch so zu sein, dass die Großereignisse keineswegs derart außergewöhnliche Ereignisse darstellen; häufig setzen
sie vielmehr eine bestehende Kontinuität der stadtentwicklungspolitischer Strategien
fort, die ihnen vorausgehen oder sich gerade in der Umsetzung befinden.
Wenigstens zwei Fragen gehen der Zukunft der Großereignisse und der sie durchführenden Städte nach: diejenige nach den Wirkungen, die die für sie durchgeführten
Stadtumbaumaßnahmen und die darauf folgenden Versuche einer Integration der
umgebauten Gebiete in die Stadt nach dem Event besitzen einerseits und andererseits diejenige nach den außergewöhnlichen Lehren, die aus solchen und ähnlichen
Anlässen gezogen werden können. Der Wettbewerb und die Gegenüberstellung der
Veranstalterstädte erfordert eine komplexe Bewertung, die die temporären wie die
anhaltenden Auswirkungen der Ereignisse sowohl im internationalen wie im lokalen
Maßstab berücksichtigt. Die folgende Fallstudie zu Lissabon könnte einen Beitrag
zur kritischen Reflexion der allgemeineren Thematik der Großereignisse leisten.
2. Expo und Stadtentwicklung in Lissabon
2.1 Ein erster Blick auf Ausstellung und Ausstellungsgelände
Der Umbau des Ausstellungsgeländes in Lissabon kann in die Kategorie der Großereignisse eingeordnet werden, deren Durchführung dazu dient, der Stadt ein neues
internationales Image zu verleihen und den Wettbewerb zwischen den europäischen
Hauptstädten zu stimulieren.
Die vom 22. Mai bis zum 30. September 1998 in Lissabon durchgeführte Expo
98 war eine „Weltausstellung“6 nach den international geltenden Richtlinien und hatte das Thema „Die Ozeane, Ein kostbares Gut der Zukunft“. Das Event gab den
180
Startschuss für ein wahres
städtisches Laboratorium
vor dem Hintergrund der
jahrzehntelangen Abwesenheit einer Reflexion
über die Stadt, die Lissabon im Vergleich zu anderen europäischen Hauptstädten ins Hintertreffen
geraten lassen hatte.
Die
Wertschätzung
der internationalen Dimension war in Lissabon
Ausgangspunkt für die
Planung von Stadtumbaumaßnahmen und bezog
sich insbesondere auf
einige bebaute oder vernachlässigte Stadtviertel
im Nordosten der Hauptstadt, die als Potentialflächen für die Schaffung
einer neuen Zentralität
angesehen wurden. In
den 1990er Jahren zeigte
die vergleichende Bewertung der großen europäischen Städte, die von der
DATAR7 vorgenommen
worden war, dass Lissabon den 22. Platz unter
den europäischen Hauptstädten einnahm. Diese
auf einem Bündel von
Parametern und Entwicklungsindikatoren
beruhenden Einschätzungen
haben die dominierende
Rolle der portugiesischen
Hauptstadt im nationalen Maßstab deutlich
gemacht, aber auch die
Notwendigkeit zum poli-
Territorium, Stadt, Großereignisse
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
181
tischen Handeln vor dem Hintergrund ihrer geringen internationalen Wettbewerbsfähigkeit aufgezeigt.
Unter den bedeutenden Eingriffen, die in den vergangenen 15 Jahren realisiert
worden sind oder sich heute in der Umsetzung befinden, soll hier beispielhaft den
Wiederaufbau des Chado-Viertels im historischen Zentrum Lissabons, die Realisierung des Kulturzentrums von Bélem im Südwesten und das anlässlich der Expo 98
errichtete Stadtviertel Parque das Naçoes im Nordosten der Stadt sowie die Brücke
Vasco da Gama erinnert werden, die die Halbinsel von Lissabon und das gegenüber
gelegene Setubal verbindet.
Auf den jüngsten Erfahrungen mit den Stadtumbaumaßnahmen in Sevilla (Expo
92) und Barcelona (Olympische Spiele 1992) aufbauend, sollte die Expo 98 in Lissabon im Gegensatz zu den vergänglichen und länger währenden Auswirkungen der
Ausstellung selbst nunmehr Anlass für eine ehrgeizige und prestigeträchtige Stadtumbaustrategie sein, die sich auf die Nähe des Flusses Tejo stützte.
Fünf Jahre nach dem Ende der Ausstellung ist das neue Stadtviertel Expo Urbe
heute ein von bedeutenden Hochhäusern gekennzeichneter Wachstumspol in der
portugiesischen Hauptstadt. Lissabon ist es in der Tat gelungen, hierfür ein ganzes
Maßnahmenbündel umzusetzen: den internationalen Umsteigebahnhof von Santiago Calatrava, den Pavillon der Meereskunde von João Carrilho da Graça, den Pavillon Portugals und die überdachte Piazza von Alvaro Siza, das staatliche Tanztheater
von Manuel Salgado, das Mehrzweckgebäude von Recino Cruz und SOM und den
Pavillon der Ozeane von Peter Chermayeff. Mit diesen Großbauten sind Aufwertungsmaßnahmen im öffentlichen Raum, die landschaftsplanerische Umgestaltung
entlang des Tejo-Ufers von Hargreaves Associates und PROAP und die Gestaltung
der Pflasterung und der Oberflächen von Manuel Salgado und RISCO verbunden.
Sie stellen eine Beziehung zu den öffentlichen Räumen in traditionellen Quartieren
der Stadt her. Um dieses Ziel zu erreichen, haben die gefundenen Detaillösungen bei
der Pflasterung nicht nur Anleihen bei den überkommenen öffentlichen Räumen in
der Stadt genommen, sondern auch im Hinblick auf die verwendeten Materialien
(Kalkstein und Basalt) eine harmonische Einheit mit den bestehenden Fußgängerbereichen in Lissabon hergestellt8.
Im Stadtentwicklungsplan von Lissabon aus dem Jahre 1992, der dem neuen Flächennutzungsplan von 1994 zugrunde lag, wurde das Interesse an der Aufwertung
der östlichen Stadtränder der Hauptstadt zum Ausdruck gebracht. Es handelt sich
dabei um eine Übergangszone, in der sich viele emittierende und gefährliche Betriebe
der Stadt fanden. Bei dieser Gelegenheit wurde der Teilbereich für die Beherbergung
sämtlicher für eine moderne Metropole notwendiger Infrastrukturen ausgewiesen.
In diesem Sinne rief Antonio Cardoso e Cunha, der Generalbeauftragte für die
Expo 98 zum „Bau einer neuen modernen Hauptstadt und zum ersten Mal einer
am Fluss gelegenen Stadt“ auf. Die Expo war also eine Gelegenheit, sich der Hafenund Industriegebiete anzunehmen, von denen sich die Stadt wegen der schwierigen
Zugänglichkeit, der Barrieren in Form von Stadtautobahnen und Eisenbahntrassen
sowie der Autonomie der Hafenverwaltung lange Zeit abgewandt hatte.
Territorium, Stadt, Großereignisse
182
Im Licht dieser Überlegungen wurde das Gelände für die Durchführung der Expo
98 im Herzen der Tejo-Bucht auf einem riesigen, lang gestreckten Gebiet mit einer
Fläche von 350 ha und einer Länge von etwa 5 km ausgewählt. In ihrem Zentrum
sollte auf einer Fläche von 50 ha der Kernbereich der Expo liegen. Im Rahmenplan,
der die Errichtung einiger permanenten Gebäude im Herzen eines in sechs einzelne
Plangebiete aufgeteilten Projektgebiets vorsieht, bilden die natürlichen Voraussetzungen des Geländes und die fußgängerorientierte Planung der öffentlichen Räume
und des Flussufers die tragenden Elemente des gesamten Konzepts.
Heute, aus größerer kritischer Distanz betrachtet, kann man einige Merkmale des
Stadtumbauprojekts neu interpretieren und die Nachnutzungsproblematik untersuchen. Dabei geht es also darum, die Implantation eines neuen Wachstumspols in die
Stadt neu zu überdenken und zu verstehen, ob sich die Umbaustrategie und die Lehren, die sich aus der Expo 98 ziehen lassen, auch modellhaft in andere Metropolen
übertragen lassen.
2.2 Vorgeschichte des Ausstellungsgeländes
Ein kurzer Überblick über die Veränderungen, die sich auf dem vorgesehenen
Expo-Gelände abgespielt haben, erlaubt es, das Ausmaß der Stadtumbaumaßnahmen in ihrer Ganzheit besser zu verstehen. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts bildete
eine große Industrie- und
Hafenzone den östlichen
Teil von Lissabon. Das
betrachtete Gebiet durchlebte wie viele andere Hafen- und Industriegebiete
zwischen 1920 und 1970
entscheidende funktionale und gestalterische Veränderungen.
Seit Anfang der 1950er
Jahre wurden in dem industriell geprägten Gebiet
die beiden Schlafstädte
Olivais und Chelas geAbb.3: Ansicht des Expo-Geländes vom Tejo
plant, in denen wie in vielen anderen europäischen Stadtvierteln aus dieser Zeit sozial benachteiligte Schichten
untergebracht wurden. In diesem Zusammenhang stellte die Stadt im Jahre 1955
einen Plan für die von der portugiesischen Regierung finanziell unterstützte Errichtung des Stadtviertels Olivais-Nord mit 2.500 Wohneinheiten auf einer Fläche von
40 ha auf. Einige Jahre später wurden auf einer Fläche von 185 ha weitere 8.500
Wohneinheiten errichtet, die das Viertel Olivais-Sud bildeten. Die Wohngebäude mit
einer „zellulären Struktur“ in Ringform sollten innen liegende Plätze umschließen
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
183
und waren in fünf Gruppen gegliedert, die jeweils eine Grundschuleinheit bildeten.
Die zahlreichen anderen Infrastruktureinrichtungen wurden auf das gesamte Gebiet
verteilt.
Die letzte Zwiebelschicht der östlichen Peripherie von Lissabon bildet das Stadtviertel Chelas. Südlich von Olivais angeordnet, erstreckt es sich über 510 ha bis an
die äußerste Siedlungsgrenze und beherbergt 11.500 standardisierte Wohneinheiten.
Das Viertel besteht im Wesentlichen aus linear angeordneten Großbauten mit getrennten Netzen für den motorisierten und den Fußgängerverkehr, die sich rigide in
das naturräumliche Relief
einschreibt.
Die beiden Viertel des
öffentlichen Wohnungsbaus sind von weniger
dicht besiedelten Gebieten umgeben und erstrecken sich auf den Hügeln
am östlichen Stadtrand.
Da sie vom Flussufer
durch die dort gelegenen Industriegebiete und
vom öffentlichen Verkehr
durch einen beträchtlichen Höhenunterschied
Abb.4: Abendansicht der Wasserfront
getrennt sind, werfen sie
offensichtliche soziale Probleme auf, die den Zusammenhang zwischen den unterschiedlichen Teilen des Stadtgebiets noch komplizierter gemacht haben.
Auf dem im Rahmen der Expo 98 ausgewählten Stadtumbaugebiet, das sich vom
Flussufer bis zum Eisenbahnviadukt erstreckt, sollten die aufgegebenen und nicht
mehr benötigten schwer verseuchten Industriegebiete umgenutzt werden. Wie in anderen Umnutzungsprojekten auf Hafenflächen im internationalen Maßstab bekannt,
sah die Stadtentwicklungsstrategie auch hier den Abbau der bestehenden Industrieanlagen auf dem Gelände und die Verlegung der brach gefallenen Hafenflächen an
den Nordrand der Stadt vor. Unter den anderen Zielen der Aufwertungsstrategie
findet sich eine bessere Vernetzung des neuen Zentrums um das Expo-Quartier mit
den offensichtlich gestalterisch und sozial degradierten Wohnvierteln.
Zwei Strategien werden hierbei wie erwähnt zu einem Gesamtprogramm integriert:
eine kurzfristige, die mit der Durchführung der Ausstellung endet, und eine langfristige, die darauf abzielt, das neue Viertel der Stadt zurückzugeben. Trotz dieses umfassenden Ansatzes hat im Ergebnis der Umbau des Quartiers zu einer Verlagerung
des Interesses zugunsten der Schaffung eines neuen isolierten Zentrums geführt, das
sich formal und funktional außergewöhnlich monumental darbietet. Tatsächlich sind
die bedeutsamen Fragen nach der Vernetzung mit dem Stadtgebiet und einer sozialen
Aufwertung der bestehenden Wohnquartiere mit dem neu entstehenden Stück Stadt
184
Territorium, Stadt, Großereignisse
nicht mit dem gleichen Nachdruck und der gleichen Effektivität verfolgt worden wie
bei der konzeptionell und technisch sehr erfolgreichen Altlastensanierung und der
Planung der großen Kultureinrichtungen.
2.3 Von der neueren Planung für den Ostteil von Lissabon zur Expo 98
Aufbauend auf den Entwicklungszielen des Regionalen Plans zum Umbau des
Großraums Lissabon aus dem Jahre 1990 und entgegen dem alten Flächennutzungsplan von 1977 hat der aus Anlass der bevorstehenden Expo 98 verabschiedete Stadtentwicklungsplan von 1992 recht allgemeine Ziele für den Umbau des Ballungsraums
festgelegt. Von vielen im Hinblick auf seinen Regelungsgehalt als schwacher Plan
angesehen, hat dieses Entwicklungsmodell, das auf der Idee der Umsetzung eines
städtischen Großprojekts aufbaut, für die zukünftige Ordnung der Hauptstadt vier
Entwicklungszonen im Großraum ausgewiesen. Das größte Potential stellte das auf
dem riesigen Industrie- und Hafengelände um die geplante Expo 98 im Nordosten
dar. Das Ausstellungsprojekt schlug auf dem zwischen dem Flusstal und den hochgelegenen Bahnanlagen eine beachtliche Altlastensanierung sowie eine soziale und
wirtschaftliche Entwicklung vor, die aus dem industriell geprägten Areal ein kulturell
geprägtes machen sollten. Somit wurde für die Expo die Anwendung von städtischen
Konversionsstrategien angepeilt.
Die neuere Stadtplanung in Lissabon will hier eine spürbare Aufwertung des Ostteils der Hauptstadt einleiten. Die von dem neuen Bürgermeister Jorge Sampaio geleitete Stadtverwaltung thematisiert 1990 die Stadtentwicklung als Möglichkeit zum
Umbau der Stadt und erwägt dabei die Vorbereitung eines Großereignisses zur Feier
des 500. Jahrestags der Entdeckung des Seewegs nach Indien durch den portugiesischen Seefahrer Vasco da Gama. Nach einigen vorbereitenden Machbarkeitsstudien
wird das Gelände Doca dos Olivais dafür ausgewählt, wo während der 1930er und
1940er Jahre die Wasserflugzeuge in die überseeischen Kolonien Portugals abflogen.
Entlang des Flusses Tejo befindet sich hier neben den im Osten der Stadt konzentrierten Hafen- und Industrieanlagen eine Reihe von Nutzungen, für die bis dahin kein anderer Standort gefunden werden konnte: der städtische Schlachthof, die
Müllkippe, eine Ölraffinerie, große Lagerflächen u. a. Die Umwandlung, die durch
die Expo-Entscheidung ansteht, deutet sich damit als ein Laboratorium der Stadtentwicklung auf verschiedenen Eingriffsebenen an, das sich nicht auf den engeren
Ausstellungsbereich beschränkt. Um die durchgeführten Maßnahmen verstehen zu
können, sollen im Folgenden die Instrumente und die Eingriffstypen vorgestellt werden, die von der Organisation bis zur Realisierung der Expo Anwendung fanden.
Die endgültige Ausrichtung des Plangebiets an den Entwicklungsachsen der Flussuferbereiche im Osten der Stadt, die 1994 in den Flächennutzungsplan der Stadt
Lissabon und ihrer Nachbargemeinde Loures Eingang fand, verfestigt nun die Entwicklungsstrategie einer Nutzung der Ausstellung zur Unterstützung der generellen
Entwicklungsleitlinien. Im Plan von 1994 werden einige programmatische Festlegungen für den östlichen Stadtbereich getroffen: die Integration in das gesamtstädtische
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
185
Netz der Infrastruktur mit einer Verbindung zum Zentrum, die Entwicklung eines
Nutzungsmixes mit Wohnungen und Versorgungseinrichtungen an den Zwischenräumen des städtischen Gewebes in den Schlafstädten, Altlastensanierung der verseuchten Flächen und Umnutzung der Industriegebiete in ein Gebiet mit vorwiegend
kultureller Nutzung. Es geht überdies darum, die beiden Eigentümergemeinden
in Planung, Bau und Finanzierung des Umbauprojekts einzubeziehen, auf deren
Gelände die Ausstellung stattfinden soll. Nach den damaligen Erwartungen soll
die Durchführung der Expo selbst einen Großteil der Kosten des groß angelegten
Programms einspielen. Der Ausnahmecharakter der Ausstellung, die von vielen als
eine Gelegenheit zur Realisierung großer städtebaulicher Aufwertungsmaßnahmen
in relativ kurzer Zeit angesehen wurde, gestattet es, das ausgewählte Areal als eine
Schlüsselfläche der Aufwertung zu deklarieren, die bis zur Durchführung der Expo
fertig gestellt sein müsse.
Zu diesem Zweck wird die Verantwortung für die Ausarbeitung des Umsetzungskonzepts der privatrechtliche Entwicklungsgesellschaft Parque Expo 98 AG übertragen, die durch eine Verordnung der portugiesischen Regierung mit öffentlichen
Mitteln gegründet wird. Sie wird auch mit der dem Management und dem Wiederverkauf fertig gestellter Teilprojekte an Private betraut und führt die Konversionsmaßnahme in mehreren Phasen wie folgt durch: Organisation eines Ideenwettbewerbs
für das Stadtumbauprojekt der Expo, Vermessung des Geländes, Grunderwerb, Altlastensanierung, Abriss von Industriegebäuden, Herrichtung der sanierten Flächen,
Wiederverkauf an private Bauherren und schließlich Koordination aller infrastrukturellen und baulichen Maßnahmen auf dem Gelände der Expo.
Die Entwicklung eines riesigen Gebiets von 350 ha, genannt Eingriffszone, wird
nun für einige Jahre zum Schauplatz der Erarbeitung einer Reihe von Studien und
Projektvorschläge: Vorstudien, internationale eingeladene Ideenwettbewerbe, Erarbeitung eines Rahmenplans, Ausarbeitung von sechs Teilbebauungsplänen für die
Eingriffszone. Unter den Projektideen einiger Fachleute soll hier an die anfangs bei
dem Stadtplaner Nuno Portas in Auftrag gegebene Vorstudie erinnert werden, der
bereits das Projekt „Europäische Kulturhauptstadt Lissabon“ koordiniert hatte. In
dieser Studie wurde die Schaffung einer diagonalen Achse vorgeschlagen, an der
sich die Ausstellungsbereiche aufreihen sollten. Der schließlich abgelehnte Vorschlag
verkörperte eine vom Flussufer ausgehende Verbindung, die zunächst das ExpoGelände durchquert, dann die bestehende Barriere der Eisenbahn überwunden und
schließlich eine Verknüpfung zu den Wohnquartieren hergestellt hätte.
Der endgültige Rahmenplan für die Expo, ausgearbeitet von dem Stadtplaner Vassalo Rosa, schlug stattdessen eine orthogonale städtische Struktur9 vor, die in sechs
Teilgebiete aufgeteilt war. Die Leitprinzipien des Plans sind die Verlängerung einiger
Straßen von Lissabon in die Industriezone mit der Schaffung zweier zum Fluss paralleler Hauptachsen, die das gesamte Expo-Gelände durchqueren, sowie dazu und zum
Fluss senkrecht verlaufende Nebenstraßen, die auf die Plätze, die Pavillons und die
Fußgängerverbindung zum Tejo führen. Die erste von ihnen, die Avenida Marechal
Gomez da Costa,ist eine Schnellverkehrsstraße, die in Ost-West-Richtung die Grenze
186
Territorium, Stadt, Großereignisse
der Eingriffszone zu den Hügeln markiert. Die zweite ist eine zentrale Fußgängerstraße, die das Rückgrat des Konversionsprojekts bildet und auf die sich der große
Teil der Pavillons ausrichtet.
Entlang dem Tejo-Ufer verbindet ein landschaftsplanerischer Umgestaltungsbereich die beiden äußersten Enden der Eingriffszone, den öffentlichen Park Tejo y
Tranção sowie den Fußgängerweg Marina, und überquert dabei das künstliche Hafenbecken Doca dos Olivais in einer Passerelle. Das Hafenbecken im Zentrum dieser
Verbindung bildet das zentrale Element des Kernbereichs der Ausstellung, der von
den 50 ha des Bebauungsplans PP2 („Recinto“) erfasst wird. Der Recinto-Plan des
Architekten Manuel Salgado beherbergt die öffentlichen Räume und die Pavillons die
die Besucher während der Ausstellung empfangen haben.
Mit dem Projekt wird die städtische Infrastruktur neu geordnet. Der Plan, der einige Hauptziele zur Realisierung des zentralen Ausstellungsbereichs formuliert, schafft
ein neues Stück Stadt mit repräsentativer Form und Nutzung10. Sein erstes Hauptziel
ist mithin die Reorganisation der Infrastruktur im regionalen Maßstab, das zweite die
Festlegung des orthogonalen Rasters und das dritte schließlich eine ausgesprochene
Aufmerksamkeit für die monumentale Dimension der neu gebauten Architektur. Gemäß diesen Prämissen werden die repräsentativen Gebäude, die Wohngebäude und
die Serviceeinrichtungen auf einzelnen Parzellen entlang der neuen Straßentrassen
errichtet, damit sich das neu entstehende Stadtquartier an die traditionellen Stadträume der bestehenden Stadt anlehnt.
Die Gesamtheit der Baumaßnahmen ist auf einer Fläche von 240 der gesamten
350 ha konzentriert, während die restlichen 110 ha dem großen Stadtpark Tejo y
Tranção für die Einrichtung kleiner Themengärten, dem Uferweg und vor allem
dem System der öffentlichen Räume zugeschlagen werden, die um die monumentalen Gebäude im Recinto-Gebiet entstehen. An öffentlichen Gebäuden entstehen
Dienstleistungen und Einrichtungen von gesamtstädtischer Bedeutung (Bahnhof,
Ozeanarium, Tanztheater, Mehrzweckhalle usw.) und Nahversorgungseinrichtungen
(Schulen, Supermärkte, Sporthallen). Dazu kommen Serviceeinrichtungen und kleinere Geschäfte, Büros, Hotels und die Luxuswohnviertel Vila Expo im Norden und
Marina im Süden, so dass insgesamt 12.000 neue Wohneinheiten auf etwa 53 % des
Bruttobaulands entstehen11.
3. Versuch einer Bilanz
Die Parque Expo 98 AG hat sich zur Realisierung der gesamten Baumaßnahmen
des project financing bedient12. Diese Finanzierungsstrategie hat jedoch die soziale Seite
des Vorhabens vernachlässigt. Zu den Zielen einer Aufwertung des Lissaboner Ostens gehörte in der Tat die Vernetzung der bislang von der Stadt isolierten Schlafstädte Olivais und Chelas mit dem Zentrum von Lissabon und dem Expo-Gelände.
Die Aufwertungsmaßnahmen im Zuge der Expo-Planung haben sich, obwohl eine
soziale Stadterneuerung des gesamten Lissaboner Ostens vorgesehen war, dagegen
zum großen Teil auf die Herrichtung und Konversion des neuen Expo-Geländes
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
187
konzentriert, so dass sich die Aufwertungsmaßnahmen für die peripheren Stadtteile
auf ein Minimum beschränkten. Wie man im Rahmenplan erkennen kann, besteht
nur ein unzureichendes Interesse an der Thematik einer Verknüpfung der peripheren
Stadtteile mit der Stadt. Die symbolische Trennung durch das Eisenbahnviadukt und
der Höhensprung, der das Expo-Gelände von den benachbarten Stadtvierteln trennt,
sind planerisch ohne spürbare Veränderungen angepackt worden.
Der Plan hat sich tatsächlich nur an einigen isolierten Punkten mit der Verknüpfung zwischen den unterschiedlichen Teilen des Stadtgewebes beschäftigt. Die Fußgängerüberführungen im Zusammenhang mit dem Ostbahnhof und ein paar Tunnel
unter der Eisenbahn erlauben heute eine zuvor abgeschnittene fußläufige Querung
des Eisenbahnviadukts und der neuen Schnellstraßen. Wenn man die Realisierung
des Quartiers aus Büro- und luxuriösen Hoteltürmen hinzunimmt, das im Bebauungsplan PP1 festgesetzt wurde13, bemerkt man, dass derzeit eine neuerliche Trennung stattfindet. Der Blick vom Fluss auf die Hügel im Osten Lissabons wird gerade
von Hochhäusern in einer etwas ungewöhnlichen Form abgeschnitten.
Die Ausnahmesituation der Expo, die die theoretischen und praktischen Voraussetzungen für den aktuellen und zukünftigen Umbau eines Teils des Großraums Lissabon geschaffen hat, führte zu keinem uneingeschränkten Konsens, sondern auch
zu einer Serie von kritischen Kommentaren, die man in zwei Hauptlinien zusammenfassen kann: die Schaffung des neuen städtischen Wachstumspols, der praktisch
ausnahmslos aus monumentalen Gebäuden mit gesamtstädtischen Funktionen besteht – diese Kritik richtet sich vor allem gegen die Anordnung des neuen Zentrums
tertiärer Nutzungen – und die mangelhafte Integration des neuen Stücks Stadt in sein
Umfeld aus bestehenden Wohnvierteln. Es sind Kritikpunkte, bei denen man länger
verweilen muss, weil sie Fragen berühren, die bei vielen Großprojekten in Europa
eine Rolle spielen. Es gilt, herauszufinden, bis zu welchem Grad Stadtumbaustrategien andere Städte beeinflussen und gewissermaßen zum Referenzmodell werden, das
auch bei anderen Gelegenheiten Anwendung findet14.
Kommt man auf die grundlegenden Fragen eines der fortschrittlichsten Versuche
des zeitgenössischen Stadtumbaus zurück, so kann man erkennen, wie „einige Gebäude, und seien sie auch von Qualität, allein keine Stadt erzeugen können“ (NICOLIN 1983), und weiterhin eine Kritik an der Idee der Stadtproduktion durch Großereignisse generell formulieren. Ein Punkt, der für mich hervorhebenswert scheint, ist
die Tatsache, dass Lissabon in erheblichem Umfang materielle, intellektuelle und politische Ressourcen in den Bau und die Umgestaltung des öffentlichen Raums investiert hat. Dies ist wohl der wesentliche und schwierigste Teil des Versuchs, mit einem
„strategischen Gesamtprojekt“ einen Prozess der Wiedergewinnung und Umstrukturierung des ökonomischen und sozialen Gewebes der Stadt einzuleiten. Auch dank
dieser Konnotationen zeigt das Beispiel Lissabon, wie eine zusätzliche Dosis durch
große Ausstellungen mobilisierter Ressourcen - wie im Falle der Olympischen Spiele
in Barcelona - dazu genutzt werden kann, einen ganzen Stadtteil umzustrukturieren.
Der Widerspruch zwischen dem stadtplanerischen und dem architektonischen
Betrachtungsmaßstab hat zu Formen inkohärenter Planung geführt, sei es beim
Territorium, Stadt, Großereignisse
188
Anspruch nach einer präzisen Festlegung der zukünftigen Merkmale der Stadt ohne
Einschätzung der Entwicklungsmöglichkeiten der Peripherie, sei es im Zusammenhang mit der Illusion von einer formalen Lösung bei der Planung von Einzelgebäuden in der neuen Stadt. Ein Exzess an formalem Überschwang kann Jahre später als
sinnentleerte Form erscheinen, der die Inhalte fehlen, die die Ausstellung ausgemacht
haben, und das könnte eine neuerliche Phase planerischer Eingriffe auslösen, die
man als „von der Expo zur Stadt“ bezeichnen könnte.
Die derzeit laufenden Stadtumbaumaßnahmen eröffnen Raum für Diskussionen
über stadtplanerische Projekte, die Architektur und ihre Zwecke sowie über ihre Entwicklung in der letzten Zeit. Die Erfahrungen mit Großprojekten erlauben es, einige
Ideen über die wichtigen Elemente der Stadt von heute voranzubringen, die als die
Träger ihrer zukünftigen Form gelten können, die Teile oder Strukturen, denen Innovationsfähigkeit in dem Sinne innewohnt, als sie zum Gegenstand einer in Schritten
vorgenommenen Entwicklung werden können, ohne zwangsläufig den Bezug zu den
Zielen des gesamten Projekts verlieren zu müssen. Der Fall Lissabon muss in diesem
Sinne als eine weitere Erfahrung aus dem Bereich der zunehmenden Beschäftigung
mit den Möglichkeiten einer Überwindung der Stagnation in den europäischen Städten und der Anwendung einer fortschrittlichen Modernisierungsstrategie angesehen
werden.
Anmerkungen
1
2
3
4
5
6
Im Jahre 1954 definierte der Rat des Bureau International des Expositions internationale und Weltausstellungen wie folgt: „Eine Ausstellung ist eine nicht
regelmäßige Veranstaltung, die zum Ziel hat, die Gesamtheit der Fähigkeiten zu
versammeln, über die die Menschheit verfügt, um die Bedürfnisse einer Zivilisation zu befriedigen und damit den Fortschritt zu zeigen, der in einer bestimmten
Epoche realisiert wurde, die zum Vergleich herangezogen wird und eine rationale
Präsentation sicherstellt“, vgl. GALOPIN 1997.
Vgl. BOUIN/CHANUT 1980.
Vgl. KAMOUN 1999.
Die Entwicklung des Projekts Expo 98 in Lissabon und die Aufteilung des Rahmenplans von Stadtplaner Vassalo Rosa, in TRIGUEIROS 1996.
„Das Expo-Gelände ist heute eine Insel der Exzellenz, es bleibt aber immer noch
eine Insel. Der größte Mangel des Expo-Projekts besteht darin, dass es ein isoliertes Stadtfragment hervorgebracht hat.“ Interview des Autors mit Manuel Salgado, verantwortlicher Städtebauer für den Recinto-Plan der Expo 98 in Lissabon
am 12. April 2002, vgl. LECARDANE 2002.
Die Expo 98 war anfangs eine „spezialisierte Ausstellung“, eine Einstufung, die
wie die der „Weltausstellung“ vom Protokoll der Allgemeinen Regularien für Ausstellungen vom Bureau International des Expositions aus dem Jahre 1972 stammt. Im
Jahre 1996 trat eine neue Richtlinie von 1988 in Kraft, die die Ausstellungen nicht
mehr wie zuvor einstuft, sondern in Bezug auf das gewählte Thema und den Bau
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
7
8
9
10
11
12
13
14
189
der nationalen Pavillons die neue Bezeichnung Weltausstellung Lissabon festgelegt
hat, die als Expo’98 Lisboa abgekürzt wurde.
Für die Studie der Délégation à l’Aménagement du Territoire et à l’Action Régionale (DATAR) aus den 1990er Jahren vgl. DATAR 1992.
Interview des Autors mit Manuel Salgado, verantwortlicher Städtebauer für den
Recinto-Plan der Expo 98 in Lissabon am 12. April 2002, vgl. LECARDANE
2002.
Auf einem vollständig von industriellen Aktivitäten befreiten Gelände wird das
neue Stadtfragment im Geiste des Stadtviertels Baixa realisiert. Diese Unterstadt
im Zentrum von Lissabon wurde durch den Marquis von Pombal mit einem orthogonalen Raster nach der vollständigen Zerstörung des Zentrums durch das
Erdbeben von 1755 wiederaufgebaut.
Die Gesellschaft PARQUE EXPO’98 S.A., die 1998 ihre Türen offiziell für
Besucher geöffnet hat, setzt derzeit ihre Stadtumbautätigkeit bis zum Ende des
Jahres 2010 fort.
Diese Vielfalt wurde konzipiert, um der Expo 98 das zu einem Stadtfragments
der Exzellenz zu verleihen, das im Jahre 2010 ca. 25.000 Einwohner beherbergen
kann. Vgl. CARRIERE 2002.
Die Bezeichnung Project financing soll eine Umwandlung des Geländes zum Nulltarif
garantieren, indem die Expo 98 aus den Erlösen von Immobiliengeschäften finanziert wird. Diese Strategie hat nur teilweise funktioniert, indem mit Unterstützung
der EU der Staat Portugal sowie die Städte Lissabon und Loures einen Großteil der Herrichtung und der Konversion mit einem minimalen Kostenaufwand
durchführen. Interview des Autors mit João Paulo Veles, dem Verantwortlichen
des Verwaltungsrats der Gesellschaft PARQUE EXPO S.A in Lissabon am 9.
April 2002.
Dieser Plan ist von dem Architekten und Stadtplaner Tomás Taveira entworfen
worden.
In den letzten Jahren zeigt sich ein Interesse der asiatischen Metropolen und der
osteuropäischen Hauptstädte an einer offiziellen Bewerbung um eine Weltausstellung. Interview des Autors mit Vincentes González Loscertales, Generalsekretär
des Bureau International des Expositions (BIE) in Paris am 26. März 2003.
Übersetzung: Uwe Altrock
Literatur
AA.VV., Atlas des villes européennes, DATAR- Ed. Reclus, Montpellier, 1992.
AA.VV., Projet rapport Lisboa 1998, Edizione Bureau International des Expositions, Paris,
1998.
BOUIN, Philippe, CHANUT, C.P., Histoire française des foires et expositions universelles,
Paris, 1980.
CARRIERE, Jean-Paul, « Projet urbain et grands projets emblématiques: réflexions à
190
Territorium, Stadt, Großereignisse
partir de l’exemple de l’Expo’98 à Lisbonne », in ders. (Hg.), Villes et projets urbains
en Méditerranée, Maison des Sciences de l’Homme « Villes et Territoires » Université
de Tours, 2002CARRIERE, Jean-Paul (Hg.), Villes et projets urbains en Méditerranée,
Maison des Sciences de l’Homme « Villes et Territoires » Université de Tours,
2002.
COLLOVÀ, Roberto, Lisbona 1998 Expo, Edizione Testo&Immagine, Turin, 1998.
FERREIRA, Vítor Matias (Hg.), Lisboa a metrópole e o rio, Editorial Bizâncio, Lissabon,
1997.
FERREIRA, Vítor Matias / INDOVINA, Francesco (Hg.), A cidade DA EXPO’98,
Editorial Bizâncio, Lissabon, 1999.
GALOPIN, Marcel, Les Expositions Internationales au XXème siècle, et le Bureau International des Expositions, Paris, 1997.
GOTLIEB, Carlos, « Lisbonne 1998. Une banlieue devenue phare », in Diagonal 136,
März/April 1999, S. 43-46.
KAMOUN, Patrick, « 1867-1912. Le logement à l’exposition », in Diagonal 136,
März/April 1999, S. 40-42
LECARDANE, Renzo, « Da Expo à cidade / Entrevista com Arq. Manuel Salgano »,
in ARCHITECTI 60, Oktober-Dezember. 2002, S. 6-9.
NICOLIN, Pier Luigi, „Tra le due città“, Quaderni di Lotus 2, Electa, 1983
PAQUOT, Thierry, « L’invité Nuno Portas », in Urbanisme 312, Mai/Juni 2000, S. 1825.
PORTAS, Nuno ; MENDES, Manuel, Portogallo. Architettura, gli ultimi vent’anni
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SALGADO, Manuel, « Expo 98 in Lisbon », in Topos vom 23, Juni 1998, S. 75-83.
TRIGUEIROS, Louis (Hg.), Lisbon Expo ’98, Projects, Edizione Blau, Lissabon,
1996.
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
191
Uwe Altrock
DIE UNENDLICHE GESCHICHTE VOM WIEDERAUFBAU DES STADTSCHLOSSES IN BERLIN IM LICHT DER
GROSSPROJEKTFORSCHUNG
1. Einführung
Megaprojekte, so die gängige Einschätzung, sind in der Lage, Entscheidungsträger
mit Ressourcen zu mobilisieren und durch Schaffung vollendeter Tatsachen Hindernisse der Realisierung aus dem Weg zu räumen, um auf diese Weise der Wahrnehmung hoher Risiken, die sich nicht hinreichend aussagekräftig abschätzen lassen,
die argumentative Schärfe zu nehmen und so den von den Befürwortern gesehenen
Chancen zum Durchbruch zu verhelfen. Die Faszination, die von Megaprojekten für
die planungswissenschaftliche Forschung ausgeht, hat sicherlich nicht zuletzt mit der
Gratwanderung zu tun, auf der sich alle Beteiligten im Entscheidungsprozess begeben. Dabei zerfällt die schreibende Profession in zwei schier unversöhnliche Lager.
Die notorischen Optimisten wenden sich unter dem Leitbegriff der „Handlungsfähigkeit“ der Frage zu, unter welchen Umständen quengelige Kritikaster besänftigt
und Projekte erfolgreich auf den Weg gebracht werden können. Die notorischen
Pessimisten betonen dagegen beinahe verschwörerisch die Eindämmung von partizipativen und diskursbezogenen Elementen des Planungsprozesses und mithin den
Verlust der Lufthoheit ihres Leitbegriffs „Planungskultur“, um dann zum Ergebnis
zu kommen, das jeweilige Projekt sei schon allein deshalb nicht gut zu heißen, weil es
ja in geradezu autoritärer Weise entschieden worden sei. Mit anderen Worten trennt
die beiden Lager im Wesentlichen ihr Begriffsverständnis von „Entwicklung“, das
die Optimisten im Sinne von „Voranschreiten“ und „Auf den Weg Bringen“ interpretieren, die Pessimisten dagegen als „Integrative Steuerung und Abwägung“. Beide
haben teilweise Recht, wobei in der gängigen Debatte um Einzelprojekte und deren
192
Der Schlossplatz in Berlin im Licht der Großprojektforschung
Evaluierung üblicherweise keine der beiden Seiten die oben angedeutete Risikoproblematik hinreichend in den Griff bekommt. In diesem Sinne ist auch die besondere
Würdigung des Risikobegriffs in dieser Ausgabe der Planungsrundschau zu verstehen. Was die beiden Lager so polarisiert, ist nicht zuletzt die Tatsache, dass beide ein
normatives Verständnis von der Rolle der öffentlichen Hand als Entscheidungsträger
formulieren, denn selbst bei privat getragenen Megaprojekten fällt die zentrale Bedeutung des politisch-administrativen Systems für die Justierung planungsrechtlicher,
finanzieller und anderer Stellschrauben auf, ohne die die privaten Investoren in
Mitteleuropa kaum in der Lage wären, ihre Projekte zu realisieren. Die Debatte um
Megaprojekte ist also vor allem eine um das angemessene Selbstverständnis der Legislative und der Exekutive angesichts einer potenzierten Unsicherheit über Chancen
und Risiken einer einzigen meist irreversiblen Entscheidung. Ausgehend von diesem
Verständnis liegt es nahe, sich zu fragen, was denn passiert, wenn ohne „Druck“ der
Privaten hinsichtlich des Versprechens von Arbeitsplätzen o. ä. das politisch-administrative System weit reichende Entscheidungen über Megaprojekte fällt.
Auch die weitgehend
öffentlichen
Projekte
sind natürlich nicht frei
von ökonomischen und
Arbeitsplatzwirkungen.
Versucht man jedoch
diejenigen Projekte herauszufiltern, bei denen
sie die geringste Rolle spielen, landet man
mehr oder minder bei
den Projekten mit politischer Symbolkraft. Sie
haben immer noch eine
relevante Dimension in
finanzieller Hinsicht – wie
viel öffentliches Geld soll
Abb.1: Luftbild des Schlossplatzes / Unter den Linden 1999.
ausgegeben werden, um
Quelle: SenStadt/BMVBW 2002a, S. 11
mehr oder minder nutzbare Güter und Dienstleistungen herzustellen, die aber einen herausragenden symbolischen Zweck erfüllen, und unter welchen Umständen ist dieser meist ebenfalls
umstrittene symbolische Zweck statthaft?
Die Diskussion um einen möglichen Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses
und die Erhaltung von Teilen des Palasts der Republik stellt hierbei geradezu das
Paradebeispiel dar. Viel ist bereits hierzu gesagt und geschrieben worden, so dass
die Gefahr besteht, durch den neuerlichen Aufguss des Themas zu ermüden. Doch
bei aller Kontroverse um die Sache steht eine reflektierende Bewertung des Verlaufs
der Debatte und ihrer Struktur noch aus, gerade vor dem Hintergrund von Fragen
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
193
danach, warum heute die Zukunft des Schlossplatzes in Berlin offener denn je erscheint, aber zur gleichen Zeit Optionen verstellt und Sachzwänge in einem Umfang
geschaffen worden sind, deren Tragweite einen vor dem Hintergrund der Zukunftsoffenheit schwindeln machen. Die folgende Fallstudie will also versuchen zu ergründen, welche Spezifik „rein öffentliche“ Megaprojekte aufweisen und was das für die
Produktion symbolischer Orte bedeutet.
2. Die Debatte um das Stadtschloss und
den Palast der Republik
An dieser Stelle soll nicht die gesamte Chronologie der Debatte dokumentiert
werden. Vielmehr kommt es darauf an, wesentliche Elemente und gewichtige Argumente für die verschiedenen Positionen und ihre Konjunktur zu belegen.
2.1 Vom Ort der Stadtbewohner zum Ort staatlicher Repräsentation
Der heutige Schlossplatz und vormalige Marx-Engels-Platz war in zweierlei Hinsicht in der DDR Ort der Stadtbewohner: wegen der allseits betonten Volksnähe des
Palasts der Republik und wegen der Nutzbarkeit der Platzfläche selbst als Pkw-Stellplatz. Keineswegs soll hier behauptet werden, dass es sich dabei wegen dieser Volksnähe um eine optimale Nutzung des Platzes handelte. Im Sinne des späten Sozialismus, dessen Rituale und Symbole wohl als endgültig sinnentleert angesehen werden
müssen, handelte es sich zumindest im Alltag und abgesehen von den wenigen Tagen
mit staatlich organisierten Aufmärschen und Paraden sowie der angrenzenden staatlichen Einrichtungen meistens um einen praktikabel nutzbaren Ort ohne übermäßige Behaglichkeit, aber
insbesondere vor dem
Hintergrund des vergleichsweise hohen Rangs
der im Palast abgehaltenen Veranstaltungen um
einen bedeutsamen Ort
mit zentraler Funktion.
Der Umgang des realsozialistischen Städtebaus mit
Räumen und dem Zentrengefüge gab ihm den
Anschein der innerstädtischen Peripherie, und sein
noch unentschlossenes
Verhältnis zum AutomoAbb.2: Veranstaltung zum X. Parteitag der SED 1981 im bil begrenzte die Aufenthaltsqualität des Orts und
großen Saal des Palastes, Quelle: S. 28
194
Der Schlossplatz in Berlin im Licht der Großprojektforschung
seine Integration in die Stadt doch beträchtlich.
Die Gründe für die früh einsetzende Debatte um den Ort sind die sich nach der
Vereinigung ergebende Eigentümerstruktur sowie das Unbehagen der (im Westen
sozialisierten) Berliner Stadtplaner an den städtebaulichen und gebäudebezogenen
Merkmalen des Platzes und weniger ein sich manifestierender Gestaltungswille oder
gar eine konsistente konzeptionelle Vision. Ja, selbst die später vielfach bemühte Formel, es handle sich um „die Mitte Berlins“, muss sich erst im öffentlichen Diskurs
herausbilden. So wird der Schlossplatz mit dem Hauptstadtbeschluss des Deutschen
Bundestags einerseits zum Gegenstand der Suche nach geeigneten Flächen für Bundeseinrichtungen – der Bund ist Eigentümer einiger Grundstücke, auf denen die
überkommenen Gebäude staatlicher Einrichtungen der DDR stehen, wohingegen
dem Land Berlin der Platz selbst gehört. Die im Zuge der Hauptstadtplanung geschaffenen gesetzlichen Grundlagen für eine besondere Rolle des Bundes bei der Gestaltung des Sitzes seiner künftigen Machtzentrale als Gegenpol zur Planungshoheit
des Stadtstaates Berlin und die damit einhergehende Entmachtung des Stadtbezirks
Mitte drücken dabei de facto lediglich formalisiert das aus, was im Verhältnis zwischen öffentlichen und privaten Akteuren ansonsten gang und gäbe ist: die Aufteilung der Machtressourcen auf den öffentlichen Plangeber und den privaten Investor,
die bis zu einem Grad in eine Zusammenarbeit gezwungen sind. Diese Konstellation
hält allerdings in Berlin nach der Vereinigung erst insofern allmählich Einzug, als
in beiden Stadthälften das planerische Geschehen in den Jahren der Teilung zum
größten Teil durch den weitgehend in der Regie von mehr oder weniger als Teil der
öffentlichen Hand zu begreifenden Akteuren liegenden öffentlich subventionierten
Wohnungsbau dominiert wird und nunmehr private Investoren auf den Büro- und
Einzelhandelsflächenmarkt drängen, und ist daher für viele Beteiligte zunächst ungewohnt.
Andererseits entspinnt sich früh und katalysiert durch die Hauptstadtplanung
ein eher destruktiv orientierter Diskurs, der nach dem an den Protagonisten der
Großen Koalition gescheiterten Versuch der Denkmalpflege, das aus Palast der
Republik, Staatsratsgebäude und DDR-Außenministerium bestehende Ensemble
um den Marx-Engels-Platz unter Schutz zu stellen, ohne Gewissheiten über die Zukunft des Bereichs seine sämtlichen Elemente in Frage zu stellen beginnt. Trotz der
offensichtlichen Sympathie eines Großteils der Berliner Bürger für den Palast der
Republik gelingt es der Fachöffentlichkeit nur, das DDR-Staatsratsgebäude vor einer
verschärften Abrissdebatte zu bewahren. Ironischerweise erhält sie dabei Unterstützung durch den Denkmalstatus des Gebäudes, den dieses nicht zuletzt durch die
eingebaute Spolie des Stadtschlossportals bereits in der DDR erlangt hat. Zwar stützt
sich die Fachöffentlichkeit in ihrer Argumentation auf die Bedeutung des Gebäudes
für die Herausbildung einer eigenständigen Gestaltungskraft der DDR-Architektur
in den 1960er Jahren und stilisiert es damit zum herausragenden Geschichtszeugnis,
doch gelingt es auf der anderen Seite keiner der zahlreichen Initiativen, eine ähnliche
argumentative Lufthoheit in der Debatte über den Palast oder das Außenministerium zu erlangen. Für das als hässlich und unfunktional gebrandmarkte Außenminis-
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
195
terium mag trotz seiner unmittelbaren Nachnutzbarkeit so recht kaum jemand das
Wort ergreifen, versperrt es doch die Blickachse Unter den Linden und steht auf
dem Territorium der erst in der DDR-Zeit abgerissenen legendären Bauakademie
von Schinkel, der wie kaum ein anderer als legitimer historischer Referenzpunkt und
argumentativer Konsensstifter in der Stadt gelten darf (vgl. hierzu insbesondere Leinauer 1996, Bodenschatz 1996). Der Palast wiederum steht einer bestimmten städtebaulichen Sichtweise im Wege, die auf eine Harmonisierung und Abrundung des
Straßenzugs „Unter den Linden“ abzielt, ohne jemals die zur Verfügung städtebaulichen Möglichkeiten für eine Neuordnung des Übergangs zwischen der ehemaligen
Berliner Altstadt östlich des Palasts und der westlich gelegenen Friedrichstadt systematisch zu untersuchen. Langfristig wird sich so – wiederum ironischerweise und
wegen einer noch zu untersuchenden kuriosen Verbindung von pro- und reaktiven
Elementen des Politikbetriebs – eine Position durchsetzen, die wegen einer formalen
Lesart der Kriterien des Denkmalschutzes genau dem Teil des Palasts als einzigem
noch einen langfristigen Erhalt in Aussicht stellt, der durch seinen hermetischen und
sperrigen räumlichen Charakter sowohl funktional als auch wegen seiner Lage an
dem verbreiterten Straßenzug Unter den Linden – Karl-Liebknecht-Straße und damit
seines die historisch bedeutsamen Sichtbeziehungen „störenden“ Charakters städtebaulich einen der schwierigsten Bereiche des gesamten Ensembles bildet: den durch
die „einzige demokratische Wahl in der DDR“, nämlich die zur Volkskammer am 16.
März 1990, geadelten Volkskammersaal, dem historische Bedeutung auch dadurch
zukommen soll, dass in ihm die deutsche Einigung beschlossen wurde (wie dies lediglich Bruno Flierl in der Schlossplatz-Kommission schließlich auf den Punkt gebracht
hat, vgl. SenStadt/BMVBW 2002a:44f). Als ob dem Raum selbst hierfür eine Bedeutung zukäme, wurde die schon 1989 von Willi Brandt angeregte Unterschutzstellung
der Berliner Mauer als Baudenkmal (vgl. Berliner Zeitung vom 09.11.1996) später
beinahe nur unter dem Gesichtspunkt der Dokumentation des menschenverachtenden Charakters der deutschen Teilung vorgenommen, dagegen das historisch im
breitesten Sinne der Volkskammerwahl vorausgehende Ereignis der „Erstürmung“
und Besetzung der Mauer vollständig außen vor gelassen, so dass die Reste der Mauer
heute streng isolierte Reservate bilden, denen es entweder an Authentizität gebricht
oder die in ihrer Sterilität die Stadtentwicklung entschieden hemmen wie im Falle der
East Side Gallery.
So wird von seinem Eigentümer, dem Deutschen Bundestag, der Abriss des Palasts der Republik bereits sehr früh und kaum so recht ernst genommen beschlossen,
einem Gremium, dem es wie Unternehmen mit auswärtigem Hauptsitz an der Bereitschaft zu einer ernsthaften Auseinandersetzung mit dem genius loci gebricht, die ihm
mühsam von der Berliner Verwaltung abgetrotzt werden muss.
Der Schlossplatz als Herzstück und Scharnier im innerstädtischen Straßenraster
wird mithin zum Zentrum des Spreeinsel-Bereichs, der aufgrund der Eigentumsverhältnisse, des Vorhandenseins von wenig bebauten oder offenbar zur Disposition
stehenden Potentialflächen und eines assoziativen Anknüpfens an wenig hinterfragte
historische Traditionslinien neben dem Spreebogengelände in der Nähe des Reichs-
196
Der Schlossplatz in Berlin im Licht der Großprojektforschung
tags zu einem der vielversprechenden Schauplätze der angepeilten baulichen Manifestation des Umzugs von Parlament und Regierung auserkoren wird. Die planerische Fokussierung der Spreeinsel bringt zwar eine schier unübersehbare Fülle von
Umsetzungshindernissen zutage, doch drückt sie dem Ort bereits Anfang der 1990er
Jahre einen nicht mehr auslöschbaren Stempel auf und macht ihn erneut zum Ort
der staatlichen Repräsentation.
2.2 Vom Ort staatlicher Repräsentation zum Ort
restaurativer Identitätsstiftung
Ansonsten passiert erst einmal lange nichts Wesentliches. Nachdem schnell erkannt
wird, dass die Neuplanung und Wiederbebauung eines äußerst sensibel zu behandelnden Bereichs gewissermaßen im Mittelpunkt der Nation reifliches und u. U. sogar
jahrzehntelanges Nachdenken benötigen könnte, sich einflussreiche Repräsentanten
des Bunds ob der Verortung von Ministerien auf der Spreeinsel ernsthaft streiten
und die komplizierten Planungsprozesse zur Umsetzung des Hauptstadtbeschlusses zwangsläufig Jahre in Anspruch nehmen, während derer ein zunehmender und
durch das planerische Vakuum beschleunigter Entwertungsprozess am Schlossplatz
einsetzt, gelingt es restaurativen Kräften aus verschiedenen Strömungen, die Gunst
der Stunde zu nutzen und sich auf vorentscheidende Weise bestimmter Schlüsselressourcen zu bedienen, die das Schicksal des Platzes zu besiegeln scheinen. Alles ande-
Attrappe: Blick auf die Schlosssimulation 1993/94, Quelle: S. 43
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
197
re ist danach planerisch nur noch Geplänkel, bleibt aber vor dem Hintergrund einer
parallel absehbaren Kostendebatte weiterhin im Ergebnis fast völlig offen.
Die Rede ist von den letztlich ineinander greifenden Initiativen zur Asbestsanierung des Palasts und der Simulation der Schlossfassade. Der an sich in der Ummantelung des Tragskeletts festgebackene Asbest war letztlich lediglich durch abbröckelndes Material und die Hitze der Scheinwerfer im Veranstaltungssaal aufgewirbelt
und damit zur Gefahr geworden. Die schwer durchschaubare und lang anhaltende
Debatte um die angemessene Sanierungstechnologie führt am Ende sicher nicht
zufällig zur Auswahl einer kostenaufwendigen Methode, die überdies eine Entkernung und damit eine Demontierung der wesentlichen Ausstattungsmerkmale des
Palasts nach sich zieht, während der aus der gleichen Zeit stammende und von seinen
innenräumlichen und funktionalen Merkmalen nicht minder umstrittene Bau des
„Internationalen Congress Centrums“ (ICC) am West-Berliner Funkturm bis heute
unangetastet geblieben ist – einschließlich des in ihm verbauten Asbests. Mag die damalige Bautechnik besser gewesen sein als die der am Palast beteiligten Schweden, so
dass der Asbest dort keine Gefahr darstellt, die beiden entscheidenden Unterschiede
der beiden Gebäude sind ihre Lage und ihr Eigentümer. Außerhalb des symbolischen
Zentrums der Hauptstadt lässt sich ein als Bausünde empfundenes Gebäude leichter
ertragen. Und der Bund als neuer Eigentümer ist wohl kaum darauf vorbereitet, wie
die weiter bestehende Messegesellschaft der westlichen Stadthälfte ein multifunktionales Veranstaltungszentrum zu betreiben, dem überdies die Synergien zu den angrenzenden Messehallen fehlen.
Doch die bewusste kulturelle Entwertung ohne gleichzeitige Auslotung planerischer Möglichkeiten über Aufwertungsmöglichkeiten – ein Ersatz der goldbedampften Scheiben hätte dem Palast beispielsweise mit geringem Aufwand sein 1970er-Jahre-Stigma nehmen können und es wesentlich transparenter erscheinen lassen – findet
erst durch die inzwischen legendäre Schlossfassaden-Attrappe des (Hamburgers!)
Wilhelm von Boddien ihre strategisch kongeniale Ergänzung, die zu einer vorher
undenkbaren Mobilisierung von Anhängern einer historischen Neuinterpretation
(in deren eigenen Worten: Wiederherstellung) des identitätsstiftenden Bereichs und
den Boulevard Unter den Linden führt, in einer Stadt, die doch ansonsten bereits
so zerschunden sei und die eine neuerliche Welle der formalen Entfremdung angezettelt durch den Büroflächenboom um die Friedrichstraße durchlebe. Nicht, dass
etwa zuvor keine Historisten in der Stadt zu finden gewesen wären – die wesentliche
Wendung, die Boddien herbeiführen kann, ist deren öffentliche Thematisierung in einem Umfeld, das zuvor von der Hegemonie der preußen- und historismuskritischen
Fachöffentlichkeit geprägt ist, in der die Idee eines Wiederaufbaus des Schlosses
nicht denkbar gewesen ist. Ach ja, Schloss wäre ja auch ganz schön, so die an immer
mehr Stellen aufkeimende Meinung, die in den Köpfen von Touristen und damals
noch Bonner Parlamentariern verankert wird, die vermutlich vorher keine Ahnung
hatten, welche Spielräume bei der Wiedergewinnung des Stadtraums bestanden. Auf
einmal ist Interesse für den vergessenen Ort da, und zwar auch außerhalb der Berufsbetroffenen aus Bund und Berliner Senat. Die Schlossfassade hat die mentale Land-
198
Der Schlossplatz in Berlin im Licht der Großprojektforschung
karte der Beteiligten also neu justiert: Er hat darauf hingewiesen, dass man sich nicht
damit begnügen solle, den künftigen Generationen die Gestaltung des Platzes zu
überlassen, sich Zeit zu lassen bei der Reformulierung eines der schwierigsten Stadträume in Berlin, sondern ihn wieder begreifen sollte als symbolisches Zentrum der
Hauptstadt, mit dem Glanz und Elend der preußischen und deutschen Herrschaftsgeschichte wie mit keinem anderen Ort verbunden sei. Während also andernorts,
nämlich am Reichstag, unaufhaltsam und mit Erfolg die Berliner Republik in ihrem
demokratisch-transparenten und geschichtskritischen Anspruch Gestalt annimmt
und damit Kernelemente der zurückgelassenen Bonner Republik hinüberrettet, wird
durch die Thematisierung der Schlossfrage der inzwischen politisch bedeutungslos
gewordene Ort zur offenen Wunde in der Staatssymbolik stilisiert, eine Wunde, in
die noch wirkungsvoll immer wieder das Salz des Verlusts auch der städtebaulichen
Mitte gestreut wird.
Die entscheidende Schwäche der Schlossgegner ist in der öffentlichen Debatte
die Heterogenität ihrer Bewegung bzw. ihres Programms. Nur scheinbar bilden sie
eine konsensuale Front. In Wirklichkeit stehen hinter ihr die vielen Palast-Anhänger,
eine Art „schweigende Minderheit“ in den östlichen Teilen der Stadt, von der – wie
zumeist im Falle mittelbar beteiligter Bürger - keine Visionen für die Weiterentwicklung des Schlossplatzes als Ganzem zu erwarten sind, weiter die für die Rettung des
Palastes eintretende Fachöffentlichkeit, die nach dem Erfolg der Rettung des Staatsratsgebäudes erstens nicht mehr mit einem weiteren harmonisierenden Nachgeben
der Politik rechnen darf und zweitens nunmehr viel stärkerem argumentativen Gegenwind ausgesetzt ist als bei dem mehr oder minder am Rande des Geschehens
stehenden Staatsratsgebäude. Die dritte Strömung wiederum sind die zahlreichen
Anhänger einer Neuinterpretation des gesamten Platzes, die sich insbesondere um
die Architektenschaft scharen und ihrerseits zu einem beträchtlichen Teil aus jungen
Architekten bestehen. Ihnen ist der Palast zunächst völlig wurscht, beeinträchtigt er
doch vermeintlich die Wirkungsmöglichkeiten der Profession bei der Wiedergewinnung des städtischen Raums. Und der Wiederaufbau des Schlosses ist für sie ohnehin
Teufelszeug, Historismus, nicht nur restaurativ-symbolische Rehabilitierung der Hohenzollern-Dynastie mit ihrem Imperialisten Wilhelm II., sondern überdies auch ein
Anknüpfen an der als überkommen angesehenen städtebaulichen Vorstellung von
einer hierarchischen Ausrichtung des Straßenrasters auf einen zentralen Punkt wie
im Absolutismus, mithin die Verkörperung alles dessen, von dem man sich nur zu
gerne architekturtheoretisch abgrenzt und überdies ein Eingeständnis der eigenen
Überflüssigkeit und konzeptionellen Schwäche, sollte der Anspruch aufgegeben werden, durch zeitgenössische Architektur in der Lage zu sein, bedeutende Stadträume
wegweisend auszugestalten. Populär, allerdings ohne sichtbaren argumentativen oder
gar weitergehenden Erfolg, macht diese Auffassung der Altmeister der unabhängigen
„modernen“ Architekturkritik, Manfred Sack, durch seinen im ZEIT-Magazin (vgl.
ZEIT-Magazin 48/1995) gewürdigten inoffiziellen Wettbewerb unter NachwuchsArchitekten um einen Neuentwurf des von Schinkel definierten Bauakademie-Würfels in der Architektursprache der heutigen Zeit und damit in Abgrenzung zum weit
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
199
Abb.3: Städtebauliches Modell von Niebuhr, Quelle: S. 47
verbreiteten Wunsch nach einer Wiederherstellung des Gebäudes in der Formensprache des „zu seiner Zeit und bis heute radikal modernen“ Schinkel, so die verbreitete
Berliner Sprachregelung. Man kann das Scheitern von Sack als ein Abprallen am Kartell der „steinern“ denkenden Berliner Architekturelite begreifen, doch ist aus finanziellen Gründen bis heute keine Fraktion entscheidende Schritte weiter gekommen.
Eine verbindende planerische Vision bringen die Schlossgegner also nicht zuwege
– auch die politischen Kräfte, die sich zu ihnen zählen, wie etwa die PDS oder auch
Teile der Bündnisgrünen, erkennen gar nicht die Definitionsmacht von Bildern und
setzen Boddien nie etwas entsprechendes entgegen. Es bleibt also der seit der Mitte
der 1990er Jahre und mithin seit dem Scheitern einer Reihe hochfliegender Investitionshoffnungen schwelenden Zwischennutzungsfrage überlassen, sich zehn Jahre
später des inzwischen durch die Asbestsanierung völlig ausgebeinten Palasts zu bemächtigen, nunmehr aber wiederum nicht eigentlich konzeptionell, sondern in Form
des apolitischen Architekten Philipp Oswalt, der weniger stadtentwicklungsplanerische als eventkünstlerische Ideen über das zum Abriss bestimmte Skelett stülpt und
ihm noch einen mediengerechten und würdigen Abgang verschaffen möchte (vgl.
www.oswalt.de).
Im Zusammenhang mit der beschriebenen Mobilisierungskraft der Schlossattrappe ist allerdings noch eine weitere entscheidende Wendung zu erwähnen, die den
Schwung für die Schlossbefürworter erst vollständig erklärt: das Scheitern des Wettbewerbs Spreeinsel. Trotz der weit verbreiteten Ablehnung eines Schloss-Wiederaufbaus lässt sich alles, was Rang und Namen hat, auf Wettbewerbsvorgaben ein – der
Wettbewerb erreicht einen weltweiten Teilnehmerrekord -, die zumindest städtebaulich in das restaurative Horn stoßen, argumentativ gestützt durch den Rettungsanker
200
Der Schlossplatz in Berlin im Licht der Großprojektforschung
des Stadtgrundrisses als Gedächtnis der zerschundenen Stadt in der Flut unüberschaubarer Möglichkeiten einer Weiterentwicklung des von vielfältig überlagerten
Zeitschichten geprägten Zentrums (SenStadt/BMVBW 2001:44). Eine Zerstörung
der im Senat als wenig tragfähig erachteten sozialistischen Raumvorstellungen ist
so als Nebenprodukt einer Neuordnung der Spreeinsel für die unterzubringenden
Bundesbehörden zu erhalten, und ein weiteres Mal wird der Abriss des Palastes unter
wenig reflektierten und sich überdies auf die ebenso wenig reflektierte Schlosskubatur stützenden Rahmenbedingungen sanktioniert. Zum ersten Mal zeigt sich im
Ergebnis des Wettbewerbs, wenn auch noch ohne nachhaltigen Erfolg, eine Facette
der Stadtpolitik, die sich später (vgl. 2.3) endgültig Bahn bricht und dabei kein Spezifikum der Spreeinsel-Planung ist: rudimentäre Konsensfindung als Schleifung der bedrohlichsten Konflikt-Spitzen in einer pseudoharmonisierenden Agglutinierung von
Angeboten an alle Seiten. Dieser Mechanismus des „jedem etwas zugestehen und keinem über die Maßen schaden“ spiegelt die hyperpluralistische Entscheidungskonstellation, in der sich die Stadt befindet, idealtypisch wieder, kommt allerdings nur dann
zum Tragen, wenn sich über Mobilisierungsmechanismen – welcher Art auch immer
– eine Vielzahl von unterschiedlichsten Stimmen zu Wort meldet, also Hyperpluralismus überhaupt im Entscheidungsprozess spürbar wird und bildet dann offenbar den
einzigen erfolgsträchtigen Ausweg, also vor allem bei planungspolitischen Entscheidungen von herausragendem Interesse und in zentralen Lagen. Der Mechanismus
wirkt in der Wettbewerbsjury, die hinter den Sieger auch konkurrierende Vorstellungen vom Stadtgrundriss auf die weiteren prämierten Plätze setzt (darunter sogar den
Erhalt von Palast und Staatsratsgebäude, in den Wettbewerbsvorgaben praktisch dem
Abriss preisgegeben) und mit dem Architekten Niebuhr einen Sieger kürt, der formal
alle Vorgaben erfüllt, aber als Bonbon zwei zusätzliche Merkmale mit sich bringt:
möglicherweise wegen der Anonymität des Wettbewerbs nicht ganz kalkulierbar die
Prämierung des jungen ideologiefreien Nachwuchses (sogar aus Berlin!) einerseits,
aber andererseits und meines Erachtens ausschlaggebend für den Ausgang des Wettbewerbs die Idee des ellipsenförmigen Innenhofs im neuen Schlossareal als Absage
an eine historistische Wiederherstellung des Schlosses (ohne dabei die Möglichkeit
einer Wiederherstellung der straßenseitigen Fassade auszuschließen) und Bekenntnis
zum Gestaltungswillen der in klarsten Urformen denkenden zeitgenössischen Architektenprofession. Der Wettbewerb ist somit in der Lage, alles offen zu halten und
ein formal-städtebauliches Bekenntnis zum Schloss zu stabilisieren. Wegen der sich
überschlagenden Änderungen in den Nutzungsvorstellungen der Bundesministerien
scheitert er schließlich (SenStadt/BMVBW 2001:44) und gibt überdies mit dem Erhalt des Staatsratsgebäudes eines seiner wichtigsten Ziele, die Wiederherstellung des
Stadtgrundrisses auf der Spreeinsel, ebenfalls preis (das Staatsratsgebäude hatte die
Verbindung der Brüderstraße mit dem Schlossplatz überbaut, weshalb sein Abriss für
erforderlich gehalten worden war). Vom Rand her werden allmählich weitere Flächen
wie am heutigen Auswärtigen Amt definiert, doch für den eigentlichen Kern der
Spreeinsel, den Schlossplatz, fehlen immer noch tragfähige offizielle Programme, die
die Debatte entscheidend bestimmen könnten.
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
201
2.3 Vom Ort restaurativer Identitätsstiftung zum Ort des materialisierten
Hyperpluralismus
Während also die Zukunft des Schlossplatzes offen bleibt, stehen sich lediglich
Eckpunkte einer künftigen Nutzung gegenüber: das provozierende Angebot eines
Schloss-Wiederaufbaus und das öffentliche Bekenntnis zum Abriss des Palasts. Befürworter eines Palast-Erhalts aus dem inneren Zirkel der Entscheider begnügen sich
wie Peter Conradi, damals im Bundestagsausschuss zum Hauptstadtumzug wegen
seiner Herkunft aus der Architekturprofession einflussreiche Stimme der SPD, mit
Hinweisen auf den finanziellen Wahnsinn eines Schloss-Wiederaufbaus und den
schon damals klammen Bundeshaushalt, der solche Ideen als Luftnummern entlarve,
kommen dabei aber an der Schaffung unabänderlicher Fakten und einer Veränderung
der argumentativen Rahmenbedingungen durch die anstehende Asbestsanierung des
Palasts sowie der symbolischen Kraft identitätsstiftender Gebäude, die sich in der
Spendenkampagne für den Wiederaufbau der Dresdener Frauenkirche ausdrücken
und so die Erprobung die öffentlichen Haushalte schonender stadtentwicklungspolitischer Realisierungsvarianten für Großprojekte auslösen wird, nicht vorbei. Mit der
allmählichen Konkretisierung der Standorte für Bundeseinrichtungen verliert der
Schlossplatz an Bedeutung, da an eine schnelle Bebauung und damit für den angepeilten Hauptstadtumzug pünktliche Bereitstellung von Büroflächen für ein Ministerium schon wegen der erforderlichen Asbestsanierung des Palastes nicht zu denken
ist.
So schießen angesichts der Ratlosigkeit über eine Nutzung der wie auch immer
künftig aussehenden Gebäude auf dem Platz die Ideen aus allen Richtungen ins
Kraut. Jetzt dürfen sich auch andere öffentliche Akteure wie Einrichtungen des Landes Berlin Hoffnungen machen, während niemand weiß, wie die Finanzierung von
Neubauten aussehen könnte und deshalb als cash cows erstmals auch private Investoren
als Partner erwogen werden. Mannigfache Probleme tun sich auf, aber insbesondere
hat die durch die Schlossattrappe heraufbeschworene Symbolik des Orts inzwischen
ein argumentatives Eigenleben entwickelt, das nun einer schnöden Kapitalisierung
des Projekts Schlossplatz massiv im Wege steht.
In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre verändert sich dann das argumentative Umfeld am Schlossplatz. Die gewandelte Thematisierung – zu den Fachleuten in den zuständigen Verwaltungen einerseits und den interessierten Bürgern andererseits treten
die Produzenten des gesamten Areals nationaler Symbolik aus Politik und Feuilleton
– verschiebt die Debatte. Erwähnenswert ist hier insbesondere die Serie von Entwürfen, die die Berliner Zeitung „Der Tagesspiegel“ ab Ende 1996 durch renommierte
Architekten erarbeiten lässt (SenStadt/BMVBW 2001:70ff).
Doch weiterhin wird versucht, die Frage der Zukunft des Platzes „intern“ zu
lösen. Bereits im Mai 1996 beschließen die Bundesregierung und der Berliner Senat in ihrem Gemeinsamen Ausschuss ein Konzept für Nutzung und Finanzierung
einer Bebauung, das ein „internationales Konferenzzentrum, eine große Bibliothek, Flächen für Wechselausstellungen sowie Geschäfte und Restaurants“ umfasst
202
Der Schlossplatz in Berlin im Licht der Großprojektforschung
(SenStadt/BMVBW 2001:110). Erstmals wird unmittelbar deutlich, wie eine Lösung
durch Anfüllung des neuen Projekts mit einer Vielfalt unterschiedlichster öffentlicher
und kommerzieller Nutzungen ermöglicht werden soll, noch auf die Spitze getrieben
durch den Versuch einer öffentlich-privaten Finanzierungslösung, wenngleich das
nachfolgende Interessenbekundungsverfahren 1997/1998 „zu keinen umsetzbaren
Ergebnissen [führte]“ (SenStadt/BMVBW 2001:110). Eine Analyse der Entwürfe
(vgl. dazu beispielsweise SenStadt/BMVBW 2001:112ff) würde deutlich machen, wie
problemlos sich teilnehmende Investoren darauf einlassen, diese Konfliktvermeidungsstrategie mitzuspielen und Versatzstücke von Schloss und Palast aneinander
zu kleben. Doch die gesamte Bandbreite der eingereichten Konzepte, die von einem
völlig neu errichteten „Weltenforum“ (SenStadt/BMVBW 2001:118f) bis hin zu einer relativ strengen Fassadenrekonstruktion (SenStadt/BMVBW 2001:116f) reichen,
deutet darauf hin, dass es auch die hohen kommerziellen Flächenanteile sind, die den
öffentlichen Auslobern nicht schmecken und eine Realisierung verhindern (vgl. auch
SenStadt/BMVBW 2002a:14).
Abb.4: Ansicht des Modells der Gruppe Deutsche Bank u.a. im Interessenbekundungsverfahren,
Quelle: S. 112
Der Schlossplatz gerät nach dem tatsächlich vollzogenen Hauptstadtumzug Ende
der 1990er Jahre noch stärker ins Blickfeld unterschiedlichster Akteure auf höchster
politischer Ebene bis hin zu Bundeskanzler Gerhard Schröder, der zunächst seinen
Amtssitz im Staatsratsgebäude nimmt und auf eine scheinbare städtebauliche Wüste
schaut, der durch ein vermeintlich schönes Gebäude wohl neues Leben einzuhauchen sei. Neben städtebauliche, nutzungsbezogene, kulturkritische, denkmalpflegerische und architektonische Überlegungen treten verstärkt identitätsbezogene, die
sich mit Boddien bereits angedeutet hatten, doch geht es nicht mehr allein um die
Identität des Ensembles Unter den Linden, sondern mehr und mehr um die der Na-
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
203
tion. Eine auf dieser Ebene geführte Debatte wird aber zusehends weniger steuerbar
und verliert an argumentativer Schärfe. Meinungsäußerungen und unausdiskutierte
Bekenntnisse sind durchaus mediengängig und haben im Gegensatz zu den längst
ausgetauschten und erstarrten Argumentationslinien der vorausgehenden Jahre eine
neue Frische. Dies erklärt wohl mindestens zum Teil, warum oberflächliches auf einmal so viel Gehör erhält.
Das Angebot der Schaffung neuer Flächen, für die es eigentlich keine richtigen
Nutzungen gibt, ruft in dem beschriebenen Umfeld potentielle Nutznießer einer Umgestaltung auf den Plan, die gerade in dem merkwürdigen Konglomerat von Zielen
sinnvoll operieren, das sich herausgebildet hat. Ein Ort nationaler Identität, der überdies als Immobilie funktionieren soll, so lässt sich das Zielkonglomerat interpretieren,
muss reichlich Kultur enthalten, massengängig sein und sich vermarkten lassen, also
letztendlich auch ein Touristenort sein. Nicht zufällig kommt so mit Nachdruck die
Verlagerung der Museen in Dahlem (Völkerkunde, außereuropäische Kunst usw.) ins
Gespräch, um die Museumsinsel zu einem der bedeutendsten Kulturstandort Europas aufzurüsten – die alte Hybris Berlins im Vergleich mit Paris erwacht zu neuem
Leben (vgl. Frank 2002).
Der unauflösbare Konflikt zwischen Palast- und Schlossbefürwortern ist zu ernsthaft, als dass ein vages Projekt, für das weder Haushaltsmittel des Bundes noch des
Landes vorhanden sind und das wegen seiner symbolischen Bedeutung nicht leichtfertig in die Hände privater Investoren oder in die Obhut von privaten Spendensammlern gegeben werden soll, die Kraft besäße, die verständliche Unsicherheit der
Entscheidungsträger zu überwinden. Risikovermeidung ist wie an vielen anderen Stellen die Maxime der öffentlichen Hand, die hier als Eigentümerin auftritt und damit
ganz anderen Mechanismen unterliegt als ein privater Investor, den die Zinsen seines
Grundstückserwerbs drücken. Risikovermeidung lässt sich aber sinnvoll nur durch
Vermeidung übergroßer Provokationen einzelner Interessengruppen erreichen.
Die Einsetzung der Schlossplatz-Kommission Anfang 2001 ist vor diesem Hintergrund überaus konsequent. Scheinbar lässt sich durch Einbeziehung von Experten aus allen Richtungen bis hin zum Unternehmerlager Legitimation der Tätigkeit
erreichen, wenngleich die in der Kommission später vollzogenen Abstimmungen
zum entscheidenden Punkt „Palast vs. Schloss“ knappe und sogar mehr oder minder
zufällige Mehrheiten produzieren, die in einer Frage von der hier in Rede stehenden
Tragweite kaum angemessen scheinen – noch weniger vor dem Hintergrund, dass offenbar der Eine oder Andere in der Kommission dieser entscheidenden Abstimmung
gar nicht beiwohnen wollte. Der Auftrag der Kommission ist –trotz der Berufung
auf das bereits 1996 im Gemeinsamen Ausschuss beschlossene Konzept (SenStadt/
BMVBW 2002a:11) - breit gesteckt und verschafft mit der Untersuchung sowohl der
nutzungsbezogenen als auch der städtebaulich-gestalterischen und der finanziellen
Seite des Projekts erstmals eine ernsthafte Bündelung der zuvor jahrelang unverbunden ablaufenden Entscheidungsstränge. Er sichert hinreichendes Konsenspotential,
so dass es überhaupt vielversprechend erscheint, die umstrittene Frage nach der Architektur und die kaum lösbare nach der Finanzierung anzugehen.
204
Der Schlossplatz in Berlin im Licht der Großprojektforschung
Die Kommission verteilt schließlich an alle Seiten Bonbons, indem sie einen
postmodern mit Zitaten aller Vorgängerbauten beladenen Hybrid vorschlägt, der
überdies innen noch modern sein darf. Die Auslotung der finanziellen Möglichkeiten führt zu keinem befriedigenden Ergebnis, und das Scheitern kann nur durch die
Hoffnung auf eine Mischfinanzierung abgewendet werden. Scheinbar mangels Alternative stellen sich die Entscheidungsträger hinter das Konzept, dessen städtebaulicharchitektonischer Teil sich nur auf eine sehr mäßige Kommissionsmehrheit stützen
kann – bis hin zu auffälligen Minderheitenvoten der „linken Architekten“ Conradi,
Eichstädt-Bohlig und Flierl (vgl. SenStadt/BMVBW 2002a:33, 38). Man ist versucht
zu vermuten, dass ein paar der Kommissionsmitglieder der Schlussabstimmung deshalb fernbleiben, damit sie bei den anderen nicht als Spielverderber dastehen. So
schlägt sich im Ergebnis die aus der Risikovermeidung geborene Agglutination von
widersprüchlichen Zielen nieder: Postmoderne Buntheit als Ausdruck einer hyperpluralistischen Gesellschaft, einschließlich der ihr innewohnenden Abneigung gegen
autoritäre Entscheidungsmechanismen, wo diese ohne Not vermieden werden können (aber auch nur da). Hinter der Hartnäckigkeit, mit der die engagierten Architekten (Conradi, Eichstädt-Bohlig und Flierl) immer wieder auf Wettbewerbslösungen
beharren, ist sicher mehr als bloßer Architekten-Lobbyismus, aus ihr spricht eine
konsequente und respektwürdige Haltung. Es sind jedoch Zweifel erlaubt, ob an
dieser Stelle die Mechanismen von Wettbewerbs-Jurys und der Zeitgeist des Augenblicks wirklich langfristig die tragfähigsten Resultate bringen würden. Die Fixierung
auf das etablierte Instrument des Wettbewerbs mag seinen Protagonisten an dieser
Stelle sogar insofern geschadet haben, als sie nicht bereit waren, für die anerkanntermaßen schwierige Aufgabe neue Entscheidungsmechanismen in der Kommission zu
entwickeln und zu vertreten, auf die sich auch die anderen Beteiligten in ihrer ebenso
redlichen Verantwortung für den Ort und seine Symbolik eingelassen hätten.
Dessen ungeachtet ist zu würdigen, welche Einmütigkeit die Kommission im Hinblick auf die Stabilisierung des Nutzungskonzepts kennzeichnete. Das schließlich
empfohlene „Humboldt-Forum“ aus Außereuropäischen Museen (derzeit Dahlemer
Museen), Berliner Zentral- und Landesbibliothek und Wissenschaftssammlungen der
Humboldt-Universität (vgl. SenStadt/BMVBW 2002a:24ff) ist insofern verlockend,
als es die Nähe zu existierenden Nutzungen kultureller Art aufgreift. Dies verschafft
wiederum Legitimation. Bei allen verbalen Bekenntnissen zu der „Volkshaus“-Idee
(SenStadt/BMVBW 2002a:23), die die Nostalgiker des Palasts der Republik integrieren soll, fällt doch auf, dass trotz des ebenfalls in allernächster Nähe befindlichen
Deutschen Historischen Museums offenbar eine Art „Museum der DDR“ nicht in
Erwägung gezogen worden ist, obwohl sich in diesem Sinne die Innenausstattung des
Palasts zwanglos hätte zu neuem Leben erwecken lassen. Stattdessen soll Geschichte
ein neuer Filter übergestülpt und ein „kleines Museum ..., das die geschichtliche und
baukulturelle Bedeutung des ehemaligen Berliner Schlosses und des Palastes der Republik würdigt“ (SenStadt/BMVBW 2002a:28) eingerichtet werden.
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
205
2.4 Die neue Ratlosigkeit, die bewährten Revitalisierungsrezepte und die
Realgeschichte als Parallelstruktur
Trotz der Sorgfalt ihrer Arbeit lässt sich auf die Empfehlungen der SchlossplatzKommission noch kein erfolgreiches Projekt gründen. Die blanke Not, die sich in
der Haushaltslage des Jahres 2003 sowohl in Berlin als auch im Bund widerspiegelt,
vereitelt ein klares Bekenntnis zu dem gewonnenen Scheinkonsens. Noch ehe weitere
Schritte eingeleitet sind, macht der Berliner Stadtentwicklungssenator deutlich, dass
auf dem Schlossplatz erst einmal gar nichts passieren wird (vgl. Berliner Zeitung
07.11.2003, 10.11.2003). So wird er statt zum Konglomerat der Ansprüche zum
Konglomerat der Ratlosigkeiten und der Torsi, ein Angebot an die siebengescheiten Journalisten der nächsten Generation, wieder einmal den Entscheidungsträgern
„Planungsfehler“ nachzuweisen, ohne zuzugestehen, dass es die ungünstigen Rahmenbedingungen waren, die Alternativen verhindert haben – zumindest unter einer
Voraussetzung, für die die Planung beinahe gar nichts kann: Die jahrelange (politische) Verbreitung der Illusion, es handle sich bei einem Megaprojekt, das die öffentliche Hand in schwierigen Zeiten schultern möchte und an das höchste Ansprüche
angelegt werden, um einen Ort, den man eben nur „machen“ muss, der also per
Planungsverfahren und dessen Implementation herstellbar ist. Diese vermeintliche
Normalität hat in Berlin gerade noch am Potsdamer Platz unter den Rahmenbedingungen großer Euphorie bei privaten Investoren funktioniert, während bereits die
Weiterentwicklung des Alexanderplatzes „hängt“ (so dass man am Schlossplatz nicht
mit der Schwäche der öffentlichen Hand argumentieren kann, will man den derzeitigen Stillstand treffend analysieren). Megaprojekte scheitern nicht nur an schwierigen
Entscheidungsstrukturen, was die häufige Etablierung abgeschirmter Arenen nach
sich zieht, die dann nachträglich als undemokratisches Element ihrer Durchsetzung
analysiert werden. Sie scheitern auch an einer Unterschätzung der im Entscheidungsund Umsetzungsprozess zu schaffenden Rahmenbedingungen. Interessant am Fall
des Schlossplatzes ist die jahrelange Parallelität, in der unabhängig von einander die
städtebaulich-gestalterische, nutzungsbezogene und finanzielle Seite des Projekts diskutiert wurden, um nur punktuell zu einem Strang zusammenzulaufen. Gerade die
Hartnäckigkeit, mit der über Jahre die finanziellen Probleme eines Schloss-Wiederaufbaus in der öffentlichen Debatte ignoriert wurden, verblüfft doch ein wenig. Und
der Wiederaufbau der Dresdener Frauenkirche mit Spendengeldern stellt insofern
kein Vorbild dar, als hier kein massiver Konflikt unter den Beteiligten überwunden
werden musste.
Die Entwicklung großer Flächen lässt sich auch in einem flexiblen Umfeld von
einer Vielzahl von Akteuren über einen längeren Zeitraum des „Wachsens“ bewerkstelligen, wie zahlreiche erfolgreiche städtebauliche Entwicklungsmaßnahmen zeigen.
Die Voraussetzung ist allerdings auch der Abschied von der geradezu absolutistisch
anmutenden Machbarkeitsvision einer Umsetzung „aus einer Hand“. In diesem Sinne
ist der Wiederaufbau des Schlosses vielleicht nicht ausschließlich deswegen problematisch, weil er ahistorisch an ein verlorenes Gebäude auf einem inzwischen „um-
206
Der Schlossplatz in Berlin im Licht der Großprojektforschung
codierten“ Gelände, sondern weil er überdies an die nicht rückholbaren politischen
Bedingungen seiner Entstehung (nicht zufällig zu einem beträchtlichen Teil während
des Absolutismus) anknüpft. Zwar gibt es auch heute öffentliche Megaprojekte, die
erfolgreich realisiert werden. Ihnen gebricht es jedoch an der Komplexität der Aufgabe, wie etwa der Wiederbebauung des Spreebogens oder der Museumsmeile in Bonn
an symbolträchtigen Vorgängerbauten, die noch heute in der öffentlichen Debatte
stehen, der Leipziger Messe oder dem Flughafenbau im Erdinger Moos, die man als
quasi öffentliche Projekte ansehen kann, an der symbolischen Aufladung (ihre Realisierung war kompliziert genug), und wo die Situation ähnlich komplex ist wie am
Schlossplatz in Berlin, zeichnen sich auch vergleichbare Schwierigkeiten ab, so etwa
beim Projekt Stuttgart 21. Wo ein Ort durch ein Megaprojekt massiv umgestaltet
werden soll und man ihm in seiner existierenden Form die gesellschaftliche Wertschätzung abspricht, kann man nicht davon ausgehen, dass aus dieser Entwertung
bereits die „Kraft“ zur Neugestaltung erwächst und muss daher auf neue Wege der
Veränderung setzen, will man nicht jahrzehntelange Übergangsphasen in Kauf nehmen, die am Stuttgarter Hauptbahnhof oder in München-Riem noch vergleichsweise
unproblematisch gewesen sind. Das Problematische an der Illusion von der Normalität des Verfahrens ist die Tatsache, dass sie andere Ansätze einer Inbesitznahme und
Wiedergewinnung des Orts ausschließt. Nicht zufällig ist bis vor wenigen Monaten
über eine Zwischennutzung des Palasts nicht ernsthaft debattiert worden, und auch
derzeit steht sie in den Sternen. Doch gerade aus ihr kann sich ein möglicher neuer
Zugang zum Ort entwickeln, der allerdings wiederum die Möglichkeit des Scheiterns
des Wiederaufbauprojekts in sich trägt. Hier wirkt das oben angesprochene Phänomen der Schaffung abgeschotteter Entscheidungsarenen bei Großprojekten.
3. Eine Analyse des Verlaufs der Debatte
Das Erstaunliche an der Schlossplatzdebatte ist, dass die zunächst in Berlin geradezu tabuisiert erscheinende Position für einen Wiederaufbau Raum greift und sich
mehr oder minder durchsetzt, allerdings mit einigen aufschlussreichen Kompromissen, die teilweise bewusst gesucht werden, teilweise mehr oder minder entstehen. Die
Konkretisierung und Hegemonialisierung eines Projekts, das von Anfang an nicht
nur auf (zurückhaltenden) Widerstand stößt, sondern überdies gegen den schwerwiegenden Makel des hohen finanziellen Aufwands ankämpfen muss, ist nicht ohne
Besonderheiten des Debattenverlaufs zu verstehen, der im Folgenden aus einigen
entscheidungsrelevanter Blickwinkeln in zugespitzter Form analysiert werden soll.
3.1 Wer strukturiert die Debatte und unter welchen Rahmenbedingungen
läuft sie ab?
Die Debatte wird nicht von den „üblichen Verdächtigen“ des Stadtentwicklungsprozesses strukturiert. Hierfür gibt es einige manifeste Gründe. Die symbolische
Bedeutung des Projekts verschafft angesichts des öffentlichen Eigentums und der
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
207
vorgeschalteten Asbestsanierungsfrage der Auseinandersetzung Zeit in großem Umfang. Der dadurch ausgelöste stadtentwicklungsbezogene Stillstand wird als misslich
empfunden und erlaubt schließlich die Formulierung von Missbehagen gegenüber
dem weiteren Nachdenken auch ohne sich abzeichnenden planerischen Konsens. So
gewinnen Lösungsvorschläge an Boden, die in weiten Teilen konzeptionelle Lücken
aufweisen und dennoch die zur Langsamkeit verurteilten Entscheidungsträger unter Druck setzen. Nicht die Lösung von Teilproblemen bringt also Dynamik in die
Debatte, sondern die Mobilisierungsfähigkeit von selektiven „Entscheidungsangeboten“. Als Schlüssel ist sicherlich anzusehen, dass einer der wesentlichen Eigentümer
der Immobilien am Platz, der Bund, über lange Zeit keine einheitliche Position zu
formulieren in der Lage ist, sondern gewissermaßen mit anderen Akzentsetzungen
die innere Spaltung der Stadtgesellschaft oder gar der Nation widerspiegelt. Nach der
allmählichen Konsolidierung der Umzugskonzeption fallen die Ministerien als Katalysatoren von Entscheidungsprozessen aus, und das Vakuum wird kaum ernsthaft
gefüllt. Verwertungsdruck herrscht nicht, eher Verwertungsangst, da eine bauliche
Nutzung des Platzes zunächst hoher Anfangsinvestitionen bedarf.
Das Land Berlin wiederum, verkörpert zumindest durch die zuständige Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, kann dem übermächtigen Bund keine Debatte
aufzwingen und wäre gar nicht in der Lage dazu, durchschlagende Positionen gegen
ein Konzept des Bunds für oder gegen den Palast zu beziehen. Sie ist allerdings
Schlüsselakteurin bei der Thematisierung von Randthemen, die die langfristige Einbindung des wie auch immer geplanten Ensembles sicherstellen sollen, und befördert
in diesem Sinne die Wiederherstellung des Lustgartens und den Wiederaufbau der
Schinkelschen Bauakademie. Gegen Sachzwänge ist sie machtlos und erwägt einen
verkehrlichen Rückbau des Raums nicht ernsthaft. An eine starke Argumentation für
ein bestimmtes Konzept aus der Sicht der Aufenthaltsqualität für Bewohner oder
Gäste ist mithin gar nicht zu denken, auch wenn vereinzelte Maßnahmen dazu einen
Beitrag leisten (wie etwa gerade der Umbau des Lustgartens).
Die offensichtlich schwierige städtebauliche Aufgabe wird so zum Betätigungsfeld einer Phalanx von Architekten, deren Vorschläge aber sämtlich wieder schnell
in Vergessenheit geraten, da ihr Beitrag zur Lösung der Kernprobleme (Nutzungsverteilung, Finanzierung, Gliederung des öffentlichen Raums) auf der gewählten
Maßstabsebene gar nicht überzeugend vorgebracht werden kann. Dagegen sind die
anschaulichen Polarisierungen für den Palast bzw. das Schloss, wiederum ohne ihrerseits weitergehende konzeptionelle Beiträge zu leisten, schnell in der verkürzten
öffentlichen Debatte transportierbar. Dass sie überhaupt geäußert werden, hat mit
der hohen Symbolkraft des Orts zu tun. Das Projekt weist diesbezüglich ganz andere
Ausgangsbedingungen als große Infrastrukturprojekte auf, die häufig außerhalb der
Stadt liegen sollen. Während dort Umweltschützer oder Anrainer mobilisiert werden
können, zeigt sich am Beispiel des Schlossplatzes, wer sich überhaupt so stark für
das Berliner Zentrum interessiert und dabei weder berufsbetroffener Architekt noch
Anwohner ist (die gibt es praktisch nicht), dass er oder sie bereit ist, sich mit ungewissem Ausgang für den nur mittelbar der eigenen Lebenswelt zuzurechnenden Ort
208
Der Schlossplatz in Berlin im Licht der Großprojektforschung
einzusetzen. Stadtkulturelle Argumentationen gewinnen hierbei an Boden, weil sie
reklamieren können, einen Kern des Entscheidungsproblems zu thematisieren und
weil ihnen keine mächtigen ökonomischen Interessen entgegenstehen. Die historistisch argumentierenden Wiederaufbau-Anhänger mögen ein für manche Beteiligten
merkwürdiges Kulturverständnis haben, doch unterliegen sie den gleichen Rahmenbedingungen im Kampf um Aufmerksamkeit. Genau aus diesem Grund, der eingehenden Thematisierung der stadtkulturellen Bezüge, können sie als „Experten“ nicht
mehr ignoriert werden, was sich insbesondere an der Rolle von Goerd Peschken ablesen lässt, der über alle Anfeindungen erhaben ist, die beispielsweise dem Umfeld der
Gesellschaft Historisches Berlin e.V. zuteil werden. Von beachtlicher Bedeutung für
den Verlauf der Debatte ist sicherlich auch die Beteiligung von Bundestagsabgeordneten, die weder Berliner sind noch aus dem Bereich Bauen und Planung stammen.
Einzelpersonen können auf einmal völlig überraschend erscheinende Positionen ins
Spiel bringen, die dem in langen Jahren in Berlin erarbeiteten Fachkonsens entgegenstehen – etwa die restaurativ wirkende Kulturpolitik von Antje Vollmer oder die „Das
Schloss wäre schön“-Rhetorik von Gerhard Schröder.
3.2 Welche Fragestellungen werden überhaupt diskutiert?
Auffällig ist die bereits erwähnte Reduzierung der Debatte auf die bildliche Wirkung des Platzes, also letztlich auf die Fassaden und – bereits in eingeschränktem
Umfang – die städtebauliche Ausrichtung - des Palastes und des Schlosses. Dabei
werden typischerweise Nutzungs- und Finanzierungsfragen außen vor gelassen bzw.
parallel diskutiert. Dies ist zwar keine Spezifik des Schlossplatzes, vielmehr die Tatsache, dass das Fehlen eines Nutzungskonzepts und eines potenten Investors die dominierende Stellung der Fassadendebatte zumindest in der öffentlichen Diskussion
konstituiert. Man mag dies beklagen, doch stellt es sich bei der Produktion symbolischer Orte als wiederkehrendes Muster heraus. Es wäre also weniger zu fragen, ob
die Diskussion so hätte verlaufen sollen, sondern ob die zugeschriebene Symbolik
dem Ort angemessen ist und wenn ja, wer an der Reformulierung dieser Symbolik
nach dem Ende des Kalten Kriegs beteiligt hätte werden sollen. Eine Ausgrenzung
von Beteiligungsmöglichkeiten ist jedenfalls im Vergleich mit anderen Megaprojekten
nicht ernsthaft zu konstituieren. Die Schloss-Befürworter waren allerdings eher in
der Lage, informelle Bündnisse mit einflussreichen Personen und Organisationen zu
schließen, die ihnen erlaubten, die wieder gewonnene Symbolik des Schlosses als positive Perspektive in kultureller, städtebaulicher und nutzungsbezogener Art zu verkaufen – zumindest wenn man diese mit den angebotenen Alternativen vergleicht.
Zwei Elemente des Entscheidungsprozesses verdienen an dieser Stelle besondere
Erwähnung. Gabi Dolff-Bonekämper (Dolff-Bonekämper 2003) hat erstens darauf
hingewiesen, dass der Palast durch seinen Innenraum und das Schloss durch seine äußere Erscheinung die jeweiligen Anhänger beeindruckt. Das stadträumliche Erlebnis
des Schlosses ist offenbar eher in der Lage gewesen, Handlungsdruck zu produzieren, als es – gerade unter dem Damoklesschwert der anstehenden Asbestsanierung
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
209
– die Erinnerung an die Nutzbarkeit des Palast-Innenraums vermochte. Dass darüber
eine Neubaulösung am Platz nicht schmackhaft gemacht werden konnte, dürfte wieder – neben den bereits gemachten Anmerkungen – auf die Risikovermeidung der
öffentlichen Hand (hier vor allem der Bund) zurückzuführen sein, die unterschiedlichste Ziele möglichst zwanglos in ihr Konzept integrieren möchte (daher auch die
Rede von einer möglichen Sanierung einzelner Fassaden des Schlosses, die aus der
Kommissionsempfehlung abzulesen ist), die Schwäche der Architekten, ohne konkreten Auftrag über schematische Klötzchen in Modellen hinaus massenwirksame
Raumkonzepte zu transportieren, die Befürchtung, ein Neubau werde der Symbolik
des Orts nicht gerecht u.v.m.
Zweitens stellt die Berufung auf die traditionellen Größen – insbesondere Schinkel
und Schlüter - im geschundenen Berlin immer wieder ein Reservoir der Konsensstiftung dar. Obgleich also Schlüter durch sein Münzturm-Debakel als Schlossbaumeister gescheitert ist, schart er mit seiner vom römischen Palazzo Madama adaptierten
Fassade noch immer heterogene Fangemeinden hinter sich. In der Tradition der
Hagiographie werden von Fachleuten bis hin zu dem ehemaligen Obersten Denkmalpfleger Berlins Engel immer neue Interpretationen produziert, die sich an Details
der „Größe“ bestimmter Entwürfe festbeißen und damit den Beurteilungsrahmen
für einen Ort völlig neu strukturieren – eine Diskussion über Neubauten muss gegen
diese Art der Debatte erst mühsam eingefordert werden, die suggeriert, es könne nur
darum gehen, sich im Rahmen einer Rekonstruktion an der Qualität der Altvorderen
zu messen (vgl. hierzu beispielsweise Engel 1998). In einer solchen Debatte kommt
sicher der publizistischen Rolle schöner Bildbände eine wichtige Rolle zu – also gewissermaßen der wenigstens teilweise konsensstiftenden Rolle eines Begriffs von
„Schönheit“, wie in beispielsweise Hoffmann-Axthelm in seinen Vorstellungen von
Denkmalpflege immer wieder deutlich macht (vgl. Altrock 2001).
Alle genannten Merkmale der Debatte scheinen gewissermaßen statisch die Kräfteverhältnisse und Positionen zu benennen, also sozusagen die Möglichkeiten eines
Debattenverlaufs. Doch Debatten werden jenseits der Einzelauffassungen durch die
lancierten Fragestellungen erst „gemacht“. Und hier ist erstaunlich, dass die von
vornherein absehbare Dauer des Entscheidungsprozesses nicht von den federführenden Akteuren dazu genutzt wurde, die Irreversibilität bestimmter Einzelentscheidungen wie der Asbestsanierung des Palasts oder die grundsätzliche Definition des
Projekts als zusammenhängendes Großprojekt in Frage zu stellen, im Rahmen dessen städtebauliche, nutzungsbezogene, architektonische und finanzielle Fragen als
Block zu begreifen seien. Im Vergleich dazu sei beispielsweise angemerkt, dass gerade
am Potsdamer Platz, der wegen des Engagements privater Investoren viel eher nach
einer Gesamtlösung zu rufen scheint, das Instrument des Koordinierungsbebauungsplans erdacht und angewendet wurde (vgl. Sichter 2000), um die Komplexität
des Projekts in der Umsetzung zu reduzieren und lediglich erste grobe Fixpunkte
verbindlich zu machen, so dass in diesem Rahmen später Einzelprojekte weiterentwickelt werden können. Und das äußerst umstrittene Planwerk Innenstadt hat von
Anfang an deutlich gemacht, an welcher Stelle es auf welche Art der Parzellierung es
210
Der Schlossplatz in Berlin im Licht der Großprojektforschung
setzt und damit auch, welche Finanzierungsmodelle überhaupt denkbar sind (Größe
der Parzellen und zugehörige Investorenstruktur!) (Vgl. SenSUT 1997). Man mag das
Planwerk für die dabei getroffenen inhaltlichen Festlegungen kritisieren, doch hat es
die betreffende Frage überhaupt erst thematisiert, was deutlich macht, dass auch ein
öffentlicher Eigentümer nicht gezwungen ist, gluckenhaft über sein Territorium zu
walten, bis auch die letzte Detailentscheidung gefallen ist.
3.3 Welche Ressourcen spielen eine Rolle?
Da finanzielle Ressourcen bislang am Schlossplatz keine Rolle gespielt haben, sieht
die Verteilung einflussreicher Ressourcen im Entscheidungsprozess ganz anders aus
als üblich. Dabei ist erfolgreich, wer Perspektiven auf Problemlösung vermitteln
kann – geradezu paradigmatisch verkörpert in der Schlossfassade von Boddien, die
keinerlei ausgearbeitete Lösung für den Platz anbietet, sondern eben eine Hoffnung
auf die Möglichkeit der Lösung transportiert. Dies gilt auch für die Ressource Geld.
Das Versprechen der Sammlung von Spenden kann nicht ignoriert werden und verleiht der Idee des Schloss-Wiederaufbaus einen legitimen Platz in der Debatte. Architektonische Ideen in Form von Modellen bleiben Schall und Rauch, wenn sie nicht an
anderen Akteuren und ihren Problemen anknüpfen, wie zeitweise der Wettbewerbssiegerentwurf von Niebuhr und das in seinem ovalen Innenhof geäußerte Versprechen auf kreativen Einsatz des architektonischen Formenrepertoires. In umgekehrter Richtung kann ein Lösungsvorschlag nicht verfangen, wenn er keine Perspektive
für die Frage nach der städtebaulichen Scharnierfunktion Unter den Linden – KarlLiebknecht-Straße bietet. Wird diese Perspektive vermittelt, sind auf einmal wieder
vielfältigste und teilweise in sich widersprüchliche Teillösungen denkbar wie der Erhalt des Volkskammersaals neben der wieder aufgebauten Lustgartenfassade, die die
Linden eigentlich würdig abschließen soll und nun immer noch das Erscheinungsbild
des negativ stigmatisierten Palastes an der prominenten Stelle in der Blickachse der
Linden transportieren soll (vgl. die Kommissions-Empfehlungen zu einer Prüfung
des Erhalts des Volkskammersaals in SenStadt/BMVBW 2002a). Und wiederum gilt
das Gesagte auch für die Palastanhänger, die in der Debatte so lange marginalisiert
werden, wie sie keine Perspektive für die Lösung der als drängend empfundenen Probleme des Schlossplatzes anbieten.
3.4 Auf welche Weise werden die Konflikte abgearbeitet und warum?
Konfliktbearbeitung im Fall des Schlossplatzes wahrt stets den Schein der erreichbaren Gesamtlösung. Eine prozessuale Herangehensweise, die aus den feststehenden
Konsensen unter den Akteuren bereits bauliche Aktivitäten ableiten kann, ist lediglich an den Rändern des Platzes ablesbar und inzwischen – nach Umgestaltung des
Lustgartens, der Debatte um die Nachnutzung des Staatsratsgebäudes und dem Bau
des Auswärtigen Amts - in ihrer Definitionskraft erschöpft. Für den Platz selbst werden Konflikte dagegen ohne Wirkung für die reale Entwicklung durch Abspaltung
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
211
von Teilentscheidungen allmählich auf den Kern des Dissenses zurückgeführt, der
in der gestalterischen Lösung der Fassade und der Finanzierung liegt und offenbar
wegen der Unversöhnbarkeit der Einzelpositionen nicht lösbar ist. Dies betrifft vor
allem die Nutzung der Gebäude, die jedoch lange Zeit auf wackeligen Füßen bleibt.
In einer Gesamtbetrachtung wird deutlich, dass der Schein von entscheidungsrelevanter Tätigkeit in der Kommission und anderen verantwortlichen Gremien unter
dem „Druck“ der Öffentlichkeit, insbesondere der Schloss-Anhänger, aufrechterhalten werden soll. Die nutzungsbezogene Debatte entbehrt einer hinreichenden Solidität, da von allen Seiten lediglich Partiallösungen vorgeschlagen werden, die insgesamt
aber den materiellen Entscheidungsprozess ganz jenseits aller Überlegungen zur
Fassade überfordern: Die Überlegungen zu einer öffentlich-privaten Partnerschaft
lassen die Vorbehalte gegenüber einer Kommerzialisierung außen vor, die Nutzung
als Erweiterung für die Museumsinsel vernachlässigt ernst zu nehmende Überlegungen zur dann ungeklärten Zukunft des Dahlemer Museumsstandorts (Frank 2002),
die Nutzung als Bibliothek und Kulturzentrum wiederum die Finanzierung usw.
Die Kommission hat hier einen verdienstvollen Anlauf gewagt, die bestehenden
nutzungsbezogenen Ansätze zu verzahnen und zu versöhnen, ist aber bei diesem Verfahren in ihren begrenzten Rahmenbedingungen stecken geblieben. Auch sie konnte
die Finanzierungsbedingungen trotz ihrer umfangreichen Modelle nicht klären und
scheiterte letztlich daran, dass sie den Ort zu einem Zeitpunkt als Gesamtprojekt begreifen musste, da der Eigentümer der entscheidenden Immobilie, der Bund, bereits
seine wesentlichen konsensstiftenden Nutzungsangebote anderweitig untergebracht
hat. Der Widerspruch zwischen symbolischem Anspruch an den Standort und Nichtvorhandensein von Nutzungsideen mit hinreichender Symbolik bleibt unauflösbar.
Betrachtet man die Leistungsfähigkeit des Planungssystems, das oft wegen seiner
Neigung zur Übergewichtung von Bedenkenträgerei kritisiert wird, muss man eigentlich konstatieren, dass es im Fall des Schlossplatzes seine ganzen Stärken ausspielen
konnte – es hat eine riesige Menge von Einzelaspekten berücksichtigen können. Zum
Ziel ist man dadurch aber dennoch nicht gekommen. Handlungsfähig würde es erst
dann, wenn – wie in der Verwaltungswissenschaft als Forderung nicht unüblich – der
Regelungsgegenstand und die dafür verfügbaren Ressourcen zu einander passen würden. Das ist im vorliegenden Fall aber nur durch übergroßen Konsens erreichbar, da
ansonsten nicht mit einer Bereitstellung von öffentlichen Mitteln zu rechnen ist.
Eine Reifung der Ideen, die Anfang der 1990er Jahre von einem Verzicht auf
schnelle Entscheidungen erhofft worden war, ist eingetreten, doch ist sie überlagert
von der Erosion von zugeschriebenen Bedeutungen und selektiver Erinnerung. Möglicherweise hat es dem Verfahren daran gefehlt, über die Schloss-Attrappe hinaus
unterschiedliche Visionen modellhaft ausprobieren zu können. Gerade neue Architektur hatte auf diese Weise keine Chance, die immer wieder im Zusammenhang mit
ihr geäußerten Befürchtungen zu zerstreuen. Eine aktive Festivalisierung im besten
Sinne ist am Schlossplatz ausgeblieben – er konnte eigentlich keine Identität gewinnen, für die dann schließlich ein Gebäude notwendig hätte werden können. So ist
er eigentlich „Restfläche“ geblieben, in die alle überquellenden Flächenansprüche
212
Der Schlossplatz in Berlin im Licht der Großprojektforschung
hinein diffundiert sind und dann zu dem Nutzungskonglomerat der Kommissionsentscheidung geführt haben. Das muss nicht schlecht sein, steht aber in einem
merkwürdigen Widerspruch zum Anspruch, der an den symbolträchtigen Ort immer
wieder gerichtet wird.
4. Eine Zukunft für den Schlossplatz?
Der Wiederaufbau des Schlosses ist zumindest vorübergehend gescheitert. Ein
schlüssiges Konzept liegt auch mit der Kommissionsempfehlung über ein Jahrzehnt
nach der Vereinigung nicht vor. Eine Dynamisierung des Prozesses, die die stufenweise Weiterentwicklung des Projekts erlauben würde, etwa durch Aufteilung des
Platzes in verschiedene Nutzungszonen und deren allmähliche Entwicklung durch
die öffentliche Hand, große Investoren und Mittelständler, also eine Interpretation
des Orts als komplexes städtisches Gefüge anstatt als Einzelstandort, ist niemals
ernsthaft erwogen worden, so dass immer noch auf das Ei des Kolumbus in Form
einer Lösung aus einem Guss gewartet wird. Die nun mittelfristig vorgesehene Wiese
ist der schlagende Ausdruck des Scheiterns von Politik insofern, als sie über ein Jahrzehnt nach Beginn des Diskussionsprozesses anvisiert wird. Wo liegen die Ansätze
für einen neuen Anlauf jenseits der Perspektive auf die neuerliche Überhöhung des
sozialistischen Raumverständnisses in der Berliner Mitte, die sich in der Verknüpfung
des Marx-Engels-Forums, des Lustgartens und des schon jetzt nach Westen erweiterten Schlossplatzes durch die zukünftige Palastwiese zu einer städtebaulichen Leere
im historischen Zentrum der Stadt ausdrückt, die von ihren Ausmaßen selbst den
Roten Platz in Moskau als Inbegriff der Verfügbarkeit von Raum für sozialistische
Massenversammlungen verschiedenster Art übertrifft?
Wenn der (sozialmarktwirtschaftliche) Staat auf dem Rückzug und die Zivilgesellschaft im Kommen ist, wie vielfach immer wieder geplappert wird, dann ist angemessene Symbolik in Deutschland nur noch von einer Rückgabe des Orts an die Zivilgesellschaft zu erwarten. Das muss nicht zwangsläufig die Rettung des Palasts der
Republik bedeuten, wenngleich der Autor dieser Lösung über die Jahre eine Menge
abgewinnen konnte und sie mit gewissen Eingriffen auch heute noch befürworten
würde. Eine zielgerichtete Rückgabe ist aber offenbar unvereinbar mit dem großen
Gesamtwurf. Rückgabe an die Zivilgesellschaft würde die Gründung eines Kuratoriums Schlossplatz bedeuten, die Kriterien für die Auswahl von Bewerbern für Teile
des Grundstücks entwickelt, Kriterien im Sinne einer zivilgesellschaftlichen Symbolik,
die dem Ort angemessen erscheint. Dieses Kuratorium würde die Vorgaben für eine
kleine Liegenschaftsgesellschaft formulieren, die mit der Planung, Aufteilung, Vergabe und Vermarktung des Orts betraut wird, einem Träger, dem nicht der zweifelhafte
Ruf der Treuhand anhaften dürfte, der auch nicht an einer Maximalverwertung des
Orts interessiert sein müsste, zumal ein Marktpreis für einen Ort der Öffentlichkeit
nicht allein nach den Kriterien der Preisbildung bei den umliegenden Grundstücken
unterliegen dürfte. Im Ergebnis würde neu gebaut, aber nicht gleich in erschlagenden Schloss-Ausmaßen. Städtebauliche Grundanforderungen – wie etwa die Frage
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
213
der Scharnierfunktion Unter den Linden – Karl-Liebknecht-Straße ließen sich ohne
Schwierigkeiten planerisch lösen, da das Konzept nicht von vielfältigen Ansprüchen
überfrachtet wäre. Ein Ensemble könnte entstehen, das viel eher das Volk repräsentiert als ein nur für auswärtige Staatsgäste zugänglicher Gästehauskomplex, wie
er etwa zur Füllung eines wiedererrichteten Schlosses als symbolische Nutzung aus
der Erkenntnis des fehlenden Pendants zum Bonner Petersberg-Komplex in Berlin
mit einigem Scharfsinn ausgeheckt worden ist (aber schließlich vom Bund gar nicht
benötigt wird, vgl. SenStadt/BMVBW 2002a:23). Ein Aufbrechen in Einzelbausteine
des Komplexes würde Spielraum für eine Weiterentwicklung von Konzepten geben.
Anknüpfungen an die Museumsinsel und andere öffentliche Nutzungen im Umfeld,
etwa die Theater, wären möglich, ohne dem Ort die auftrumpfende Großspurigkeit
des „größten Museumskomplexes in Europa“ zu geben. Die Vitalität der Zivilgesellschaft wäre an einem der wichtigsten Orte der Hauptstadt präsent und zugänglich,
sie würde als ergänzende Kraft der Politik auch räumlich spürbar und könnte innere
Vernetzungen aufbauen, und zwar nicht vorrangig als lobbyistischer Großkomplex,
obwohl es nicht ohne Reiz ist, dass sich die Sitze von Spitzenverbänden sogar in der
Nähe befinden – man denke an das ebenfalls auf der Spreeinsel befindliche Haus der
Industrie. Gewissermaßen würde es sich also sogar um einen Gegenpol zur immer
stärker werdenden Macht der Lobbyisten in der Politik handeln.
Wer wären die möglichen Nutzer in einem solchen Zusammenhang? Sie könnten
reichen von Nichtregierungsorganisationen bis zu Vertretungen der Wissenschaft
und Forschung. Sie könnten ungeachtet der derzeitigen Abrisspläne für den Palast
der Republik in der Entwicklungsphase des Komplexes ergänzt werden durch kulturelle Zwischennutzer von Gebäuden oder Freiflächen. Die Multikulturalität, die
sich in Museen, Kultureinrichtungen und der Nähe des Auswärtigen Amts schon
heute widerspiegelt, ließe sich ergänzen durch einen dauerhaften Ort der Begegnung
zwischen den Kulturen, gewissermaßen als Mischung aus Dauer-Expo, politischer
Repräsentanz der Welt in Berlin mit Konsularabteilungen der Botschaften und Dauer-Tourismus-Börse. Länder, Städte und Gemeinden in Deutschland könnten den
Ort ihrerseits für Veranstaltungen und zur Selbstdarstellung nutzen. Damit würde
dem Ort nicht einfach durch Masse eine zusätzliche museale Attraktivität verliehen,
sondern er würde eine neue Qualität erhalten, die den Höhepunkten der Museumsinsel an die Seite gestellt werden könnte.
Die Vielgliedrigkeit der Nutzungsfacetten würde einerseits eine Kleinteiligkeit der
baulichen und städtebaulichen Struktur nach sich ziehen. Andererseits ist sie gerade
in idealer Weise mit ephemeren Bauten zu kombinieren, ja sogar der Rest des Palasts der Republik in seiner heutigen Form könnte einer neuen würdigen Nutzung
zugeführt werden. Kleinteiligkeit bedeutet Reversibilität von architektonischen Fehlgriffen, ohne die Gesamtlösung in Frage stellen zu müssen. Ephemere Strukturen
erlauben Weiterentwicklung und Konsolidierung. So würde eine vielversprechende
Verzahnung von Nutzungsstruktur und baulich-städtebaulicher Strategie entstehen,
die den Ort bereits von Anfang an zu beleben und mit Sinn zu erfüllen in der Lage ist.
Privates Kapital, das am Schlossplatz investiert, wäre auch mittelständisches Kapital
214
Der Schlossplatz in Berlin im Licht der Großprojektforschung
und nicht Immobiliengroßkapital allein. Abhängigkeiten von Einzelinvestoren und
einseitigen Verwertungskonzepten wären nicht zu befürchten. Das Warten auf eine
Ergänzung durch viele Einzelbausteine von kleineren Nutzern und Investoren würde
zur Kultur. Prozessuale Stadtentwicklung würde wieder einen Sinn bekommen und
nicht wegen des horror vacui auf nur teilbelegte Flächen starrender Entscheidungsträger dadurch beendet, dass man sich in die vermeintlich rettenden Arme eines das
eigene Konzept verwässernden und oftmals dennoch nicht erfolgreichen anonymen
Investors wirft. Gestalterische Entwicklung würde durch funktionale Entwicklung
angetrieben und nicht umgekehrt zwanghaft nach Nutzungen gesucht werden, die
sich in einem Schloss-Großbau verwirklichen lassen und die dennoch nicht den Ruch
des preußischen Autoritarismus bergen. Eine Mitnutzung von Freiflächen würde deren sinnvolle Integration bedeuten, ohne krampfhaft nach weiteren Zelten suchen zu
müssen, die man wieder einmal für ein paar Monate auf dem Schlossplatz abladen
kann, um dort die innerstädtische Version einer La-Strada-Melancholie der verarmten
italienischen Peripherie aus einer längst vergangenen Zeit auferstehen zu lassen.
Diese Vision, man mag sie für vielversprechend oder problematisch halten, wird
sich nicht bewahrheiten. Sie bedeutet bei aller Offenheit des Konzepts nämlich eines
ganz explizit: eine Absage an den Wiederaufbau des Schlosses, der offenbar trotz
aller Schwierigkeiten des Konzepts, die oben geschildert wurden und die nicht allein
auf die Finanzschwäche des Bunds zurückzuführen sind, zu einflussreiche Anhänger
besitzt, obwohl diese dem Prozess einer Sinnstiftung für den Schlossplatz in den vergangenen Jahren – wie inzwischen wohl deutlich geworden sein dürfte - massiv im
Wege gestanden sind.
5. Der Schlossplatz und die Großprojektforschung
Wenngleich sich die Debatte um den Schlossplatz in die Großprojektforschung
einordnen lässt, wird doch deutlich, dass letztere um ein Kernelement ergänzt werden muss: die Erklärung des Erfolgs oder Scheiterns von offenen Projekten. Alle kritischen wie positiven Analysen der Mobilisierungs- und Bündnisfähigkeit von Akteuren und der Veränderung von Entscheidungsroutinen im Falle von Großprojekten
gehen davon aus, dass eine ganz spezifische Aufgabenstellung, die Organisation von
handlungsfähigen Bündnissen zwischen wesentlichen Ressourcenträgern, erfolgreich
oder weniger erfolgreich gelöst wird. Dies betrifft die Ausgrenzung und selektive
Berücksichtigung von Bürgern im Falle eines Flughafenneubaus gleichermaßen wie
beim Scheitern des Transrapid-Projekts. Sie verbindet die Tatsache, dass das Projekt
prinzipiell feststeht und gegen Widerstände aus den verschiedensten Reihen einschließlich der eigenen (Verfügbarmachung der eingeplanten Ressourcen!) durchgesetzt werden soll, im Zweifelsfall eben unter Inkaufnahme von Kompromissen oder
nach Diskussion von Alternativen. Die Formung der Politik eines Großprojektes
selbst führt zu gänzlich anderen Mechanismen, die bei der Untersuchung der prinzipiell feststehenden Projekte außen vor bleiben, aber im Falle des Schlossplatzes von
zentraler Bedeutung sind.
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
215
Es bleibt die Frage, ob ähnliche Situationen häufig vorkommen oder ob der
Schlossplatz einen Sonderfall darstellt. Gerade öffentliche Bauvorhaben mit hohem
symbolischem Widerhall gehören in diese Kategorie, so dass sich schnell eine ganze
Reihe von Fallstudienobjekten nennen lässt, etwa die Frage nach den Gründen für
die Entwicklung der Ost-West-Achse in Paris und die sich daran anknüpfende mobilisierende Kraft von hergebrachten städtebaulichen Traditionen bzw. von Brüchen
mit ihr, die Debatte um das Holocaust-Mahnmal in Berlin und die Rolle von vielfältigen symbolischen Interpretationen bzw. der Möglichkeit, kulturwissenschaftlich
analysierend Bedeutungen zu stiften oder zu beeinflussen (man denke an die Debatte
um den Standort des Mahnmals und die Kritik an der Nähe zum Führerbunker,
die aber keine Wirkung entfalten konnte), die Frage nach der Wiederbebauung des
Spreebogens in Berlin für Parlament und Regierung und die Rolle von Wettbewerben
als Katalysatoren für die Herausbildung eines hegemonialen Projekts, den Umgang
mit dem Mauerstreifen in Berlin und die Rahmenbedingungen dafür, ein Projekt
überhaupt als zusammenhängendes Großprojekt zu begreifen, die IBA Emscher
Park und die Möglichkeiten und Grenzen, vor Ort Projektzusammenhänge über die
Fachwelt hinaus als Ganzes zu vermitteln, das Projekt „Sprung über die Elbe“ in
Hamburg (vgl. www.wachsende-stadt.hamburg.de) und die Frage nach den Chancen,
über die Konkretisierung einer graphisch inspirierten hypertrophen Stadtentwicklungsidee Ressourcen für die Verbesserung der Lebensbedingungen in benachteiligten Stadtquartieren zu mobilisieren usw. Diese kurze Aufzählung zeigt, dass eine Verbreiterung der Großprojektforschung sich noch einer ganzen Reihe unbeantworteter
Fragen zuwenden sollte. Im Folgenden werden stellvertretend einige von ihnen kurz
angerissen, ohne an dieser Stelle auf umfassende Antworten hinaus zu wollen.
• Produktion symbolischer Orte: Durch die hohe Aufladung des Schlossplatzes mit Symbolwert haben sich die Entscheidungsträger davor gescheut, wie in anderen Fällen
nach einem schleppenden Prozess letztlich irgendwann Entscheidungen zu treffen
und nicht mehr länger auf öffentliche Kommentare zu hören. Symbolische Orte
ziehen häufig offene Projekte nach sich. Ob sich daraus eine besondere Vorsicht
im Prozess ergibt wie im Fall des Schlossplatzes und unter welchen Bedingungen,
ist erst noch näher zu hinterfragen. Wie sich Symbolik mit neuer Architektur konsensfähig herstellen lässt, offenbar ebenfalls, wenn nicht die Erwartungen anfangs
niedrig sind – man mag sich nicht vorstellen, wie der Entscheidungsprozess bei
der Planung des Centre Pompidou ausgegangen wäre, wenn von Anfang an und
durch das Konzept der spätere Erfolg garantiert hätte werden müssen, die Erwartungen also extrem hoch gewesen wären.
• Örtliche Bindung von Entscheidungskriterien: Die Kritik an Großprojekten richtet sich
häufig explizit gegen die Lebenswelten ortsansässiger Bewohner. Der Widerspruch
zwischen gesamtstädtischen oder gar regionalen Belangen, die gewissermaßen
utilitaristisch in der planerischen Entscheidungsfindung verarbeitet werden, und
lokalen Belangen ist paradigmatisch bei der Auseinandersetzung um Stadtautobahntrassen manifest geworden, spielt aber in viele andere Projekte hinein wie in
216
Der Schlossplatz in Berlin im Licht der Großprojektforschung
Berlin etwa die Debatte um die Umgestaltung des Alexanderplatzes. Mit seiner
Auflösung ist nicht zu rechnen. Großprojekte fordern ihn geradezu neu heraus.
• Sinn und Wirkung von Planung ohne Entscheidungszwang: Es ist offen geblieben, wie
ohne Druck bzw. unter vagen Rahmenbedingungen Konzepte „reifen“ können.
Während bei hohem Entscheidungsdruck häufig von Kritikern eine Marginalisierung von unbequemen Akteuren im Beteiligungsverfahren beklagt wird, hat
der Prozess am Schlossplatz trotz der verfügbaren Zeit, einer der wichtigsten
Voraussetzungen für „Planungskultur“, diese nur phasenweise herbeigeführt. Ja
selbst die mustergültig aussehende Kommissionsarbeit ist bei näherem Hinsehen
von kaum verrückbaren Positionen vieler Mitglieder bestimmt (und von deren
sehr unterschiedlicher Leidenschaftlichkeit für das Thema).
• Angemessene Form der Beteiligung: In offenen Projekten lassen sich Belange der Bewohner wesentlich leichter als in vorentschiedenen einspeisen, doch ist zu fragen,
welcher Stellenwert ihnen bei Projekten von hoher Symbolkraft angemessen ist.
Überdies ist zu fragen, welche realen Mitentscheidungsmöglichkeiten Bürger bei
Projekten haben sollten, die ihre Lebenswelt nur mittelbar betreffen, nämlich solche in Stadtzentren, in denen kaum gewohnt wird, die aber dafür von einer großen
Anzahl von Bürgern zu verschiedensten Zwecken immer wieder genutzt werden.
• Möglichkeiten der Komplexitätsreduktion bei öffentlichkeitswirksamen Großprojekten: Es
wurde deutlich, dass die ausstehende Gesamtlösung am Schlossplatz die weitere
Entwicklung blockiert hat. Dies muss nicht so sein. Konsens über einige Essentials bestand bereits vor Jahren. Es stellt sich die Frage, unter welchen Rahmenbedingungen vergleichbare Teilkonsense Kräfte in der Debatte freisetzen und
wann sie hemmend sind. Da ohnehin bei vielen Projekten mit der Beteiligung von
privaten Akteuren gerechnet werden muss, wäre es interessant, die Möglichkeiten
von Komplexitätsreduktion durch Abschichtung von Entscheidungsbestandteilen
auf diese Privaten zu erwägen, die am Schlossplatz unter der immer wieder neu
ins Spiel gebrachten Forderung nach einer beinahe vollständigem öffentlichen
Gesamtfinanzierung (vgl. Berliner Zeitung 25.09.2003) nicht ernstlich ausgelotet
wurden.
• Verbindung von pro- und reaktiven Elementen des Politikbetriebs: Offene Großprojekte
sind von Elementen einer reaktiven Politikgestaltung gekennzeichnet. Risiken wie
z.B. öffentlicher Kritik werden vermieden, wenn kein großer Entscheidungsdruck
besteht. Symbolische Projekte eröffnen gegenüber anderen Großprojekten häufig
eine zusätzliche Flanke für Kritik, indem sie eine intensive kulturkritisch motivierte Debatte herausfordern. Die Entscheidungsstärke, die Großprojekten durch
die Mobilisierung der Entscheidungsträger und Ressourcen anhaftet, wird dadurch
relativiert. Die Durchsetzbarkeit erscheint schwer vorhersagbar. Eine Analyse des
Zusammenwirkens dieser Elemente proaktiver und reaktiver Politik steht bislang
noch aus.
Auch im Falle des Schlossplatzes sind einige der genannten Fragen noch nicht
beantwortet. Ihre eingehende Behandlung, möglichst im Vergleich mit anderen Projekten, kann vermutlich zu einer Qualifizierung von ermüdend wirkenden Entschei-
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
217
dungsprozessen beitragen und wäre daher äußerst wünschenswert.
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sprung_elbe_hamburg.html (12.11.2003): Unterlagen zum Leitbild der Stadt
Hamburg
ZEIT-Magazin 48/1995
218
Rundschau
Margit Mayer
DER HÖHENFLUG DES SOZIALKAPITAL-KONZEPTS:
Gründe und Folgerungen für das Verständnis von Städten, Gemeinschaften und städtischen Bewegungen
(Besprechung von Sandra Huning)
Erschienen als: Margit Mayer: The Onward Sweep of Social Capital: Causes and Consequences
for Understanding Cities, Communities, and Urban Movements. In: International Journal of Urban and Regional Research, Vol. 27.1 (March 2003), S. 110-132
Der Begriff Sozialkapital spielt heute in vielen - auch planerischen -Handlungszusammenhängen eine Rolle. Obgleich die theoretischen Ansätze, die ihm zugrunde
liegen (vor allem von Robert D. Putnam, vgl. z.B. Putnam 1993, Putnam 1995, Putnam 1996), in der US-amerikanischen – vor allem politikwissenschaftlichen – Literatur bereits seit Ende der 1990er Jahre kritisiert und zahlreiche Schwachstellen
aufgezeigt wurden (vgl. z.B. das dazu von Foley/Edwards 1997 herausgegebene Heft
Nr. 5, Vol. 40 des American Behavioral Scientist), ist Sozialkapital in der deutschen
Planerdiskussion nach wie vor positiv besetzt. Sozialkapital gilt vor allem auf städtischer Quartiersebene als Potential, das entweder brach liegt oder zu wenig vorhanden
ist und in jedem Fall planerisch gefördert werden sollte. Dabei wird die analytische
Komponente des Ansatzes häufig mit der normativen positiven Bewertung vermischt
oder gar verwechselt. Aktuelle Veröffentlichungen aus der deutschen Planungsszene
thematisieren Sozialkapital als Potentiale ostdeutscher Kleinstädte (vgl. Hannemann
2002), aber auch in Hinblick auf die soziale Stadterneuerung (vgl. Schnur 2003) und
auf place-making (vgl. Kools / Zimmermann). Dabei gilt Sozialkapital als Ressource,
deren Aktivierung – stark verkürzt – zu der Entstehung einer lokalen Gemeinschaft
beiträgt, die Kommunikation zwischen den BewohnerInnen stärkt und damit automatisch Selbsthilfe- und Selbstorganisationspotentiale freisetzt. Die Kritikpunkte
werden im Allgemeinen vernachlässigt.
Worum geht es in der Kritik? Erstens wird der unterstellte Automatismus bei
der Umwandlung von Sozialkapital in politisches Engagement hinterfragt (vgl. z.B.
Boggs 2001, Evers 2002, Foley/Edwards 1997). Zweitens ist überzeugend erwiesen
worden, dass Sozialkapital keineswegs nur positiv bewertet werden kann, sondern
grundsätzlich eher ungerichtet ist und zu „guten“ wie „schlechten“ Zwecken eingesetzt werden kann (vgl. z.B. Berman 1997a, Berman 1997b, Woolcock 1998). Drittens scheinen die Konsequenzen, die sich aus einer hohen Sozialkapitaldichte für die
Individuen ergeben, zwiespältig zu sein und zwischen Befähigung und Eingrenzung
zu liegen (vgl. z.B. Kapphan 2000, Sassen 2000, Edwards/Foley 1997). Viertens wird
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
219
die Selektivität der Verfügbarkeit von Sozialkapital und damit die Machtdimension
(vgl. z.B. Bourdieu 1983, Geißel 2001) in der Regel vernachlässigt. Fünftens, und damit last but not least, sind das Verhältnis der verschiedenen „Aggregations-Ebenen“
von Sozialkapital zueinander und ihre verschiedenen Wirkungen ungeklärt (vgl. z.B.
Evers 2002, Rich 1999).Kritik an dem Konzept Sozialkapital auf einer noch grundsätzlicheren Ebene formuliert Margit Mayer in dem im Folgenden in einer deutschen
Zusammenfassung wiedergegebenen Artikel, der im Frühjahr 2003 im International
Journal of Urban and Regional Research veröffentlicht wurde. Sie ergänzt die bisherige Diskussion aus der Perspektive der Kapitalismuskritik und zeigt, dass Sozialkapital-Ansätze nicht nur in sich problematisch, sondern auch vor dem Hintergrund ihres
Entstehungskontextes kritisch zu bewerten sind.
1. Der Erfolg von Sozialkapital: Ursachen und Konsequenzen
für das Verständnis von Städten, Gemeinschaften und städtischen Bewegungen
Seit vielen Jahren fordern städtische Bewegungen, in der Regel ohne größeren Erfolg, stärkere Beteiligungsmöglichkeiten und eine Demokratisierung der Politik. Inzwischen scheinen die Forderungen der Bewegungen Wirklichkeit geworden zu sein:
Akteurinnen und Akteure aus Politik, Stadtforschung und Stadtentwicklung betonen
die Bedeutung von Bürgerbeteiligung und Empowerment bei der Behebung städtischer Probleme. Städtische Exklusion ist endlich auf der städtischen Tagesordnung,
und politische Programme zur Lösung städtischer Programme unterstützen gemeinwesenorientierte Interessen und lokale Aktivierung.
Was so aussieht wie die Erfüllung der Forderungen früher Basisbewegungen, ist
in Wirklichkeit Teil neuer Governance-Strategien zur Steuerung vernachlässigter und
benachteiligter städtischer Gegenden und Gemeinschaften. Ihre „Exklusion“ gilt als
multidimensionaler im Vergleich zu dem vorher mit Ungleichheit und Segregation
bezeichneten Zustand. Sozialkapital-Konzepte spielen eine Schlüsselrolle bei diesen
neuen Politiken, weil sie lokale Partizipation, basierend auf horizontalen Netzwerken
und Reziprozität, mit positiven Ergebnissen wie Wirtschaftswachstum und Demokratie – sogar oder insbesondere in benachteiligten Gebieten – zu verbinden scheinen.
Durch den Nachvollzug der Art und Weise, wie Sozialkapital durch ForscherInnen
und PraktikerInnen im Bereich städtischer Bewegungen und Gemeinwesenentwicklung angewendet wird, enthüllt dieser Artikel die wirkungsmächtige und auf viele Arten effektive Rolle, die das Konzept bei der gegenwärtigen Neuverhandlung lokaler
Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft spielt, insbesondere in Bezug auf die
Entwicklung des Dritten Sektors. Soziale und politische Perspektiven werden in einer ökonomischen Sichtweise aufgelöst, indem diverse Formen zivilen Engagements
vornehmlich positiv bewertet werden und dabei ein neuer Rahmen für den Umgang
mit städtischer Ungleichheit und Armut geschaffen wird, der Bottom-up-Mobilisierung
zu beinhalten scheint, dies jedoch auf eine extrem eingeschränkte und tendenziöse
Weise.
Rundschau
220
Der Artikel untersucht zuerst den Mehrwert des Sozialkapitalansatzes für die
Stadtentwicklungsanalyse und erklärt die Rolle und die Funktion lokaler Bewegungen. Er spürt die Defizite und Bedarfe auf, auf die mit Sozialkapitalansätzen reagiert
wird. Dann beschreibt er die blinden Flecken und problematischen Konsequenzen,
die sich aus den Sozialkapitalansätzen ergeben, und zeigt, wie ihre Widersprüche unser Verständnis gegenwärtigen städtischen Wandels beeinflussen und beschränken.
Indem bestimmte Formen zivilen Engagements bevorzugt und andere ignoriert werden, werden die aktuellen Rekonfigurationen in den Verbindungen zwischen Zivilgesellschaft, Staat und Markt auf eine bestimmte Art gefiltert, so dass die Ausbreitung
der Marktkräfte über die Reichweite des Kapitals hinaus befördert wird. Drittens
wird die Rolle des neuen Diskurses bei der Analyse von städtischem Wandel und
Gerechtigkeit beleuchtet. Die Vermeidung „traditioneller“ Kategorien wie Macht,
Herrschaft, Ausbeutung und die Thematisierung von Marginalisierung als Problem
unzureichender Mobilisierung von Sozialkapital verlagern die Aufmerksamkeit auf
die Selbstaktivierung und die Potentiale verschiedener Gemeinwesen, sei es als ziviles
Engagement gutsituierter Freiwilliger oder in Form von Aktivierung/Reintegration
der Marginalisierten (in den Niedriglohnsektor des Arbeitsmarktes). Beide Formen
der mobilisierten Aktivitäten in dem hochgradig inhomogenen „Dritten Sektor“
helfen, wie zu zeigen sein wird, nicht nur dabei, den lokalen (Wohlfahrts-)Staat zu
entlasten, sondern auch bei der Unterstützung von Marktkräften in Bereichen, die
vorher außerhalb ihrer Reichweite lagen.
2. Das Versprechen von Sozialkapital
Die Geschwindigkeit, mit der Sozialkapitalkonzepte aus akademischen Studien
(Coleman 1990, Putnam 1993) in Politik, Medien und Aktivistendiskurse eingedrungen sind, beweist seine enorme Attraktivität. Es scheint wichtige Bedarfe in einer
Reihe von Zusammenhängen zu befriedigen. Bevor die Bedarfe aufgezeigt werden,
wird hier das Konzept selbst dargestellt.
2.1 Was ist an dem Konzept dran?
Wenn der Kapitalbegriff um den Zusatz „sozial“ erweitert wird, entsteht eine soziale Variante von Kapital, die mit den anderen Kapitalformen gemein hat, dass sie
sich durch Gebrauch vermehrt. Sobald nun Vereinsarbeit und soziale Ressourcen als
eine Form von Kapital bezeichnet werden, erhalten diese einen ökonomischen Touch
– ein sprachlicher Effekt, den die aktuellen Diskurse in der Regel nicht explizit machen, der aber die Art und Weise beeinflusst, wie nun Vereinsarbeit wahrgenommen
wird.
Obgleich die genaue Bedeutung von Sozialkapital im Laufe der Begriffsverwendung transformiert und differenziert worden ist, ist sie dadurch nicht präziser geworden. Während für Coleman (1988, 1990) noch eine funktionelle, ökonomische Definition dominant war, ist die Bedeutung über den Export nach Italien mit anschlie-
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
221
ßendem Re-Import in die USA durch Putnam in eine wertende, normative Kategorie
transformiert worden, von deren Vorhandensein oder Fehlen das Wohlergehen von
Individuen, Gemeinwesen, Städten, Regionen und Nationen abhängt. Während Coleman Sozialkapital als Ressource ansah, die es individuellen und kollektiven Akteuren erlaubte, Ziele zu erreichen, die ohne sie nicht erreicht werden konnten, erweitert
Putnam den Begriff Sozialkapital um eine neue Dimension, dass nämlich die gesamte Gemeinschaft in ökonomischer, ziviler und demokratischer Hinsicht von seiner
Existenz profitiert (vgl. Putnam 1993:185; 2000:349). Netzwerke und ihre Normen,
Reziprozität und Vertrauen erscheinen als produktiv und positiv; und es scheinen
sowohl empirische als auch theoretische Zusammenhänge zwischen Mitgliederzahlen
in Freiwilligenorganisationen und generellem zivilen Engagement und demokratischer Beteiligung zu bestehen. Im Grunde argumentiert die Sozialkapitalperspektive,
dass sowohl die Qualität demokratischer Politik als auch die Dynamik der regionalen
Ökonomie abhängig ist von dem Maße, in dem die Bevölkerung über Sozialkapital
verfügt. Eine wichtige Grundlage hierfür bilden Vereine und Verbände. Und diese
Art von Sozialkapital kann durch staatliche Intervention befördert werden.
Trotz der normativen Aufwertung durch Putnam hat das Konzept seine ökonomistische Ausrichtung nicht verloren. Es reduziert soziale Beziehungen auf eine
Form von Kapital. Sehr unterschiedliche Arten von Verbänden – von Chören hin zu
rechtsradikalen Fußballfanclubs – werden so theoretisch und politisch vergleichbar,
weil sie Vertrauen und Reziprozität produzieren und zur Generierung von Sozialkapital beitragen. Anders ausgedrückt, wird Sozialkapital so nicht nur ein produktiver
Wirtschaftsfaktor, sondern unabhängig von den jeweiligen Zielen und Kontexten
werden ihm pro-soziale Konsequenzen zugeschrieben (vgl. Putnam 2001:22), so dass
sowohl individuelle als auch öffentliche Güter entstehen. Obgleich Putnam inzwischen zugesteht, dass auch unerwünschte Effekte auftreten können (vgl. ebenda),
bleibt die Tatsache bestehen, dass durch diese normative Definition von Sozialkapital
eine differenzierte Betrachtung erschwert wird.
Trotz der Thematisierung dieser Probleme (z.B. durch Skocpol 1996, Foley/
Edwards 1997a) und der Behebung einiger konzeptioneller Unausgegorenheiten
durchzieht eine zentrale definitorische Schwäche die Literatur: die Verwechslung von
Sozialkapital mit den Ressourcen, die dadurch erzeugt werden. Ursache, Funktion
und Folgen werden in einer zirkulären Argumentation verwoben (OECD 2001:43).
Dieser tautologische Gebrauch des Begriffs als Erklärung und zu erklärendes Objekt
gleichzeitig erscheint in vielen Abhandlungen über das Konzept. Darauf beruhen
auch häufig die vorgefundenen statistischen Korrelationen. Diese Schwächen sind in
der Rezeption im Allgemeinen übernommen worden.
2.2 Weshalb die Attraktivität des Konzeptes?
Das Konzept scheint auf bestimmte vorhandene Bedarfe zu reagieren. Staats- und
Marktversagen haben Aufmerksamkeit für die Verbindung des Ökonomischen und
des Sozialen über Markt und Staat hinaus erzeugt. Das Interesse hinter den scheinbar
222
Rundschau
nicht-ökonomischen Bedingungen richtet sich jedoch nach wie vor auf bessere ökonomische Leistungen. Gegenwärtige Diskussionen über die Stadt beschreiben nicht
nur neue Probleme und Handlungsansätze, sondern weisen auch einen sprachlichen
Wandel auf. Anstatt von Armut wird von sozialer Exklusion gesprochen, anstatt von
sozialer Gleichheit von Inklusion, anstatt von Integration von sozialer Kohäsion.
Urbane Probleme sind nun weniger Anzeichen städtischen Versagens, sondern vielmehr Hemmnisse ökonomischen Erfolgs. Ein Instrument für die Erreichung sozialer
Kohäsion ist die umfassende Mobilisierung der Bevölkerung und die Entwicklung
sozialen Kapitals. Dieser Ansatz ist inzwischen fast allgegenwärtig. Eine wichtige
Rolle hat dabei die Weltbank gespielt.
Indem die positiven, demokratie- und effektivitätsfördernden Auswirkungen zivilgesellschaftlicher Netzwerke betont werden, werden Sozialkapitalkonzepte für PolitikerInnen attraktiv, die nach nicht-ökonomischen (kostengünstigen) Lösungen für
soziale Probleme suchen. Die verbindende Analyse sozialer und ökonomischer Faktoren erhöht die Anziehungskraft auch für die sozialwissenschaftliche Forschung, die
in vergleichenden Studien eine Reihe nicht-ökonomischer Faktoren für wirtschaftlichen Erfolg identifiziert hat. Dies ist auch die Folge einer Abkehr von postmodernen
Ansätzen und dem Wunsch nach einem stärkeren Bezug zur „realen“ Welt.
Sozialkapitalansätze sind insbesondere im städtischen oder lokalen Konzept gut
angekommen, vor allem in den USA mit einer ausgeprägten kommunitaristischen
Tradition. Da sich die meisten der entsprechenden Studien auf Putnam beziehen,
ist hier bereits eine Reihe von Kritik geäußert worden. Doch die allgemein positive
Rezeption weist darauf hin, dass dieses Sozialkapitalkonzept einen Mehrwert in die
Analysen von Stadterneuerung und -entwicklung bringen muss. Dies bezieht sich
vor allem auf die Organisationen des Dritten Sektors und die lokalen Bewegungen,
denen ein besonderer Beitrag zum Sozialkapital unterstellt wird. Hier leistet das Sozialkapitalkonzept einen wichtigen analytischen Beitrag. Es beleuchtet nicht nur die
Einbettung kultureller Faktoren in Sozialstrukturen auf der Meso-Ebene wie Nachbarschaften, Kirchen, freiwillige und gemeinnützige Organisationen, sondern indem
die vermittelnden Ebenen der Sozialstruktur in die Analysen heutiger Demokratien
einbezogen werden, ist ein besseres Verständnis von Zusammenarbeit und Kooperation und der Entstehung von Unternehmensgeist in sozialen Bewegungen möglich.
Gleichzeitig – wie gezeigt werden wird – lenkt es jedoch die Aufmerksamkeit davon
ab, wie soziale und politische Bedingungen diese Assoziationen beeinträchtigen und
strukturieren.
3. Auslassungen der Sozialkapitalperspektive bei der Betrachtung städtischer Bewegungen
Die Sozialkapitalperspektive hat Probleme mit bestimmten Formen zivilen Engagements: Protestbewegungen und konfliktreiche Auseinandersetzungen tauchen
selten in der Forschung und so gut wie nie im politischen Diskurs auf. Dadurch
verrät sich die einseitige normative Konzeption des Verhältnisses zwischen Staat und
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
223
Zivilgesellschaft, die für die Sozialkapitalperspektive so charakteristisch ist. Darüber
hinaus wird die scheinbare Kontextunabhängigkeit zum Problem, wenn die ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen für zivilgesellschaftliche Aktivitäten
dethematisiert werden. Obwohl sich das Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft
enorm gewandelt hat, reflektiert die Sozialkapitalperspektive diesen Wandel nicht,
obgleich er die Grundlage für ihre Entstehung und ihre Attraktivität darstellt.
3.1 Blindheit gegenüber Gegenbewegungen – eine Betrachtung gegenwärtiger Aktivitäten enthüllt eine unharmonische Zivilgesellschaft
Empirisch werden bei Studien, die auf Sozialkapitalkonzepten basieren, immer
eine große Spannweite von Aktivitäten des Dritten Sektors und zivilgesellschaftlichem Engagement betrachtet, aber eine spezielle Gruppe zivilen Engagements bleibt
systematisch außen vor: Gegenbewegungen und Protestmobilisierungen werden bis
auf wenige Ausnahmen herausgefiltert. Selbst diejenigen KritikerInnen, die politische
Bewegungen explizit als wichtige Akteure der Demokratie und effektiver Steuerung
anerkennen, haben Probleme damit, das Sozialkapitallabel auf Protestbewegungen
anzuwenden, obgleich durchaus erwiesen ist, dass auch diese Vertrauen schaffen
und z.T. auch auf wirtschaftlicher Basis operieren (vgl. Kreuz u.a. 1984, Roth 1994,
Cress/Snow 1996, Rucht u.a. 1997, Heider 2002). Dieser blinde Fleck in der Sozialkapitalperspektive – die Vermeidung von Gegenbewegungen – hat mit der Ambivalenz von Protestmilieus zu tun, die auf der einen Seite soziale Netzwerke darstellen,
durch die Sozialkapital mobilisiert werden kann, andererseits aber auch Konflikte
nach außen tragen und dabei gegenüber anderen Gruppen Sozialkapital herausfordern. Im Gegensatz zu Kegelvereinen und Chören werfen diese Bewegungen die
Frage „Sozialkapital für wen und wozu?“ auf (ebenso wie: „Inklusion für wen?“)
und problematisieren dadurch ein Konzept von Zivilgesellschaft, das konfliktfrei und
interessenneutral zu sein scheint. Nicht alle Bewegungen passen in das spezielle Verständnis eines harmonischen Verhältnisses zwischen Staat und Zivilgesellschaft, das
die Sozialkapitalperspektive zeigt.
Der Sozialkapitaldiskurs thematisiert fast ausschließlich die institutionalisierteren
gemeinschaftsorientierten Organisationen, die ihre Zusammenarbeit mit lokalen und
anderen Regierungsebenen routinisiert haben (vgl. Cortés 1993, Laville/Gardin 1996,
Wallis 1998, Wallis u.a. 1998, Sampson 1999, Evers u.a. 2000, Taylor 2000, Chaskin
u.a. 2001, Silverman 2001). Die Tatsache, dass die Bildung von Sozialkapital besonders für ressourcenarme Gruppen wichtig erscheint, ist in der Entwicklungsdiskussion von hoher Bedeutung. Dagegen wird die Erkenntnis, dass auch die Bewegungen
ressourcenarmer Gruppen zur Bildung von Sozialkapital beitragen, ausgeblendet.
Gruppen, die konfrontative Methoden anwenden (wie z.B. die Obdachlosenproteste,
vgl. Wagner 1993, Wright 1997), sind jedoch durchaus manchmal erfolgreich – nicht
nur bei der Entwicklung von Sozialkapital, sondern auch bei der Schaffung kollektiven Bewusstseins. Dies gilt insbesondere, wenn ressourcenreiche Gruppen sich
dieser Probleme annehmen oder professionelle Akteure ihre Ressourcen für solche
224
Rundschau
„Arme-Leute-Organisationen“ zur Verfügung stellen (vgl. Cress/Snow 1996). Auch
andere lokale Netzwerke fallen aus der Betrachtung heraus, obwohl eine kausale Beziehung zwischen der Arbeit dieser Bewegungen und Demokratieeffekten erst einmal
offensichtlicher ist als bei den Vereinen und NGOs, die von der Weltbank bevorzugt werden. Diese Bewegungen greifen vernachlässigte und unterdrückte Bedarfe
auf, ziehen PolitikerInnen zur Verantwortung und scheuen keine Konflikte mit der
Staatsmacht. Sie zeigen, dass die Gesellschaft nicht so harmonisch kooperiert, wie
dies eine Welt der SozialkapitalistInnen suggeriert, in der die Kategorien Ausbeutung
und Macht keinen Raum haben und weder multinationale Unternehmen und Banken
noch Oppositionsbewegungen jemals als Akteure auftreten.
3.2 Aktuelle Restrukturierungsprozesse bedrohen das Versprechen lokalen Sozialkapitals
Die durch das Sozialkapitalkonzept gewonnenen Erkenntnisse haben also ihren
Preis. Während ziviles Engagement in einer sozialen Ökonomie wertvoll erscheint,
lenkt es von politökonomischen Prozessen ab, die diese Formen zivilen Engagements
gerade transformieren. Die wenigen vorhandenen wissenschaftlichen Erkenntnisse zeigen, dass dieses Engagement keineswegs statisch ist und sich ebenso wie die
ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen verändert. Es scheint, dass
Projekte und Initiativen, die sich in ihrer Zahl und Vielfalt angesichts zunehmender
sozialer Bedürfnisse enorm vermehrt haben und die sich vornehmlich marginalisierten Gruppen oder benachteiligten Quartieren widmen, sich in ihrer Orientierung
und Arbeitsweise verändert haben. Während sie anfangs vor allem komplementär zu
staatlichen Programmen und sozialen Dienstleistungen arbeiteten, sind sie nun unter
Druck geraten, diese öffentlichen Dienstleistungen zu ersetzen oder sich dafür als
Partner anzubieten.
Dadurch sind die Basisbewegungen zu reinen Dienstleistern geworden, die ihre
Klienten im Durchkommen statt im Vorankommen unterstützen. Oft verbleiben sie
„in Ghetto-Ökonomien, wo sie dazu beitragen, benachteiligte Gemeinschaften weiter zu benachteiligen, indem sie sie in einen lokalen Kapitalkreislauf einbinden, der
nicht mit der Mainstream-Ökonomie verbunden ist“ (vgl. Amin u.a. 1998). Sie entwickeln Strategien, die soziale Desintegrationsprozesse nicht nur anerkennen, sondern
möglicherweise sogar in einem neuen Ausmaß verstärken. Das zeigt sich z.B. in den
deutschen „Quartiermanagement“-Programmen (vgl. Walther 2002). Im angelsächsischen Raum, wo politische Programme die Arbeitsmarktintegration in städtischen
Entwicklungsprogrammen eine Zeit lang in den Vordergrund gestellt haben, haben
Wohlfahrtsorganisationen gelernt, ihre Rolle als Beschäftigungs- und Bildungsagenturen zu differenzieren. Sie platzieren ihre „Klienten“ im Niedriglohnsektor oder der
sozialen Ökonomie, wo – vor allem in Metropolregionen – der Bedarf für Dienstleistungen auf dem Bau und anderswo geradezu explodiert ist. Ehemalige Forderungen
nach selbstbestimmten Arbeitsbedingungen und sozial wertvollen Produkten sind
durch „Work first“-Ansätze ersetzt worden. EU-Programme, die solche Organisati-
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
225
onen fördern, unterstreichen in ihrer politischen Rhetorik die Ziele einer neuen sozialen Ökonomie, aber worauf es bei der Implementierung und der Praxis des Nachbarschaftsmanagement und der Gemeinschaftsrevitalisierung ankommt, ist die Instrumentalisierung von Innovativität und lokalem Wissen dieser Organisationen, um
den armen und benachteiligten StadtbewohnerInnen neue (Wiedereingliederungs-)
Programme zu vermitteln. Da sie in einen informellen Austausch, Reziprozität und
Umverteilung eingebunden sind, werden sie als prädestiniert angesehen, um lokale
Bedarfe und Ressourcen („Sozialkapital“) ebenso wie den Jobzugang und das Überleben zu organisieren. Wie dem auch sei, während sie diese Güter und Dienstleistungen
zur Verfügung stellen, wird es schwierig für sie, Kreativität und Engagement zu beweisen bzw. die Defizite und Ambivalenzen des Staates und der Förderprogramme in
Frage zu stellen. Die Gruppen und Agenturen, die bei der Beschäftigungsschaffung
und innovativen Diensten besonders erfolgreich sind, werden in wettbewerbsfähige
Unternehmen der Mainstream-Ökonomie transformiert oder werden durch größere
Privatunternehmen aufgekauft. Viele arbeiten über ihre Kräfte als Reparaturnetzwerke gegen die zunehmende ökonomische und politische Desintegration.
3.3 Das nicht-vorhandene Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft
Die Ablenkung vom aktuellen politökonomischen Kontext, der das Verständnis für
die Attraktivität von Sozialkapitalkonzepten gerade erklärt, dessen Effekte jedoch die
Verheißungen zivilen Engagements bedrohen, ist nicht nur für politische Vorschläge,
sondern auch für einen Teil der Stadtforschung charakteristisch. Den Auslassungen
liegt eine Missachtung konkreter und spezifischer historischer Kontexte zugrunde.
Diese scheinbare Kontextunabhängigkeit drängt nicht nur bestimmte Formen zivilen Engagements aus dem Blickfeld, sondern auch den politökonomischen Kontext
der Sozialkapitalperspektive. Indem diese Vertrauen und den beziehungsstiftenden
Aspekt betont, werden „positive“ konsensorientierte Typen zivilen Engagements
bevorzugt, so dass es schwierig wird, positive Konsequenzen mit konfliktreichen und
nicht-kooperativen Formen geselligen Zusammenseins zusammenzubringen. Globalisierung, Neoliberalismus und die „New Economy“ scheinen kaum eine Rolle zu
spielen, weil die ökonomische Nützlichkeit des Sozialkapitalansatzes über Zeit und
Raum erwiesen ist. Auf jeden Fall wird dem Staat sowohl in der Sozialkapitaltheorie
als auch in der Praxis eine wichtige Rolle zugewiesen, ohne dass dem Politischen die
gleiche Bedeutung zugemessen würde. Das generelle Interesse besteht eher darin,
„Potentiale und Ressourcen“ von Problemnachbarschaften zu identifizieren und zu
mobilisieren, als darin, aktuelle Ursachen und Agenten hinter den neuen Formen von
Exklusion und Polarisierung zu analysieren und auszuräumen (vgl. URBAN 21 2001,
OECD 1998, Campbell 1999, Lloyd u.a. 1999). Die Analyse der Vorbedingungen von
Sozialkapital bleibt in der Regel außerhalb der Sozialkapitalperspektive. Gegenwärtig
definiert der Staat seine Aufgaben in Bezug auf viele soziale und ökonomische Probleme in Städten und armen Quartieren neu: Ehemals zentral organisierte Aufgaben
werden auf die lokalen und Bezirks-Ebenen verlagert. Im institutionellen Bereich hat
226
Rundschau
dies Auswirkungen auf die Stärkung subnationaler Ebenen und der zunehmenden
Einbeziehung nicht-staatlicher Akteure. Die Maßnahmen sind zunehmend auf die
Wettbewerbsfähigkeit ausgerichtet, und auch Programme zur sozialen Kohäsion werden darunter subsumiert. Diese Verlagerungen werden in der Sozialkapitalperspektive ignoriert, obgleich sie enorme Auswirkungen auf die vermeintlichen positiven
Effekte zivilen Engagements haben. Bewegungen, die direkt im Bezug zu den neuen
Wettbewerbsstrategien von Städten und ihrem aggressiven Marketing entstanden
sind, zeigen die neue Diversität zivilen Engagements. Zu den lokalen Bewegungen
gehören auch die illiberalen und partikularistischen Gruppen, die keineswegs zur
öffentlichen Problemlösung und dem Allgemeinwohl beitragen, obgleich für ihre
Mitglieder durchaus auch Sozialkapital entstehen mag. Sie zeigen, wie ungeeignet das
Sozialkapitalkonzept ist, um Konflikte und Ambivalenzen heutiger sozialer Bewegungen zu erfassen, zu denen NIMBY-Initiativen, umweltbewusste, inklusive, fortschrittliche, aber auch fremdenfeindliche, rassistische oder selbstbezogene Gruppen
zählen. Häufig setzen sich Mittelklassegruppen in den Gebieten gegenüber ärmeren
Gruppen oder Minderheiten durch (vgl. Mayer 1999b).
Zusammengefasst heißt das, dass die Sozialkapitalperspektive nicht hilfreich ist,
um die Quellen und die Dynamik neuer Konflikte, die aus ökonomischen und politischen Restrukturierungsprozessen hervorgehen, zu verstehen, weil es die Transformationen im Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft außer acht lässt. Es gibt hier
keine Selbstreflexivität, die jedoch erforderlich wäre, um für das Verständnis städtischer Prozesse und in Bezug auf städtische Politik hilfreicher zu sein.
4. Die aktuelle Karriere des Konzeptes und seine Rolle in der
Stadt(entwicklungs)politik
Als in den 1970er Jahren die Grenzen von Staat und Markt aufgezeigt wurden,
wurden neue Lösungen in den OECD-Ländern gesucht, die einen ersten Höhepunkt
unter Reagan und Thatcher erreichte und mit den verschiedenen Formen von Sozialreformen und Arbeitsmarktflexibilisierung fortgeführt wird. Um die sozialen Kosten
des neoliberalen Projektes abzufedern, wurden sowohl von einzelnen Regierungen
als auch durch die EU, UNESCO und die Weltbank Erneuerungspolitiken auf kommunaler Ebene angeschoben. In diesem Zusammenhang kommt lokalen Verbänden
und Organisationen des Dritten Sektors eine besondere Bedeutung zu, und daher
erscheint auch das Sozialkapitalkonzept besonders attraktiv.
Seit den lokalen Wirtschaftsentwicklungsprogrammen in den USA und Großbritannien in den späten 1970er Jahren im Kontext der neuliberalen Deregulierung und
Privatisierung sind nicht-marktgesteuerte Strategien auf die lokale Agenda gerückt,
um Marktversagen zu begegnen und aktive Kooperationen zwischen Staat, Kapital,
Arbeitskräften und BewohnerInnen zu entwickeln. Basierend auf diesen Erfahrungen haben Autoren wie Eisenschitz und Gough (1996) einige Wechselwirkungen
solcher Strategien bereits aufgezeigt. Trotz oder möglicherweise genau wegen ihres
neo-keynesianischen Designs, das einige negative Konsequenzen der Deregulierung
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
227
aufhebt, verhelfen sie dem neoliberalen Projekt zu einer besseren Umsetzung bei der
Schaffung flexibler Arbeitsmärkte, der Unterstützung des Kapitalflusses zwischen
Sektoren und Regionen und der Kreierung neuer Unternehmen. Gleichzeitig wurden
dadurch verschiedene Akteure und Gruppen auf der lokalen Ebene quasi gezwungen, angesichts des enormen Drucks von außen zu kooperieren: Das Lokale wurde
beschworen, um besser um mobiles Kapital zu konkurrieren und endogene Unternehmen zu stützen. So wurden auch zivilgesellschaftliche Akteure in neue GovernanceStrategien einbezogen, um integrierte Bemühungen lokaler, zivilgesellschaftlicher
und privater Akteure zu erreichen. Während diese ihre Außenwirkung zwar verstärken konnten, bleibt jedoch ihr Input auf die lokale Ebene beschränkt.
Indem die Marginalisierten und Ausgegrenzten selbst in den Mittelpunkt gestellt
werden, nicht aber die Ursachen für ihre Ungleichheit und Marginalisierung, und
indem sie als Akteure ihres Überlebens definiert werden, sind diese Gruppen dazu
angehalten, für ihre eigene (Re)Integration in den Arbeitsmarkt aktiv zu werden
(sei es der Niedriglohnsektor, Kleinstunternehmen oder in die soziale Ökonomie).
Urbane benachteiligte Gruppen werden also von potentiellen Akteuren sozialer
Bewegungen, die eine Anerkennung ihrer sozialen Rechte verlangen, zu „SozialkapitalistInnen“, deren Zugehörigkeit abhängig ist von der Mobilisierung ihrer einzigen
Kapitalressourcen. Die Konzentration auf die „Ausgeschlossenen“ impliziert, dass
alle Parteien Zugang zu Kapital, wenn auch verschiedenen Formen, erlangen können
und dass angemessene Investitionen in Sozialkapital große Ungleichheiten in der
Ausstattung mit Finanzkapital wettmachen können (vgl. Smith/Kulynych 2002:167)
– als ob die Ressourcen der gemeinwesenorientierten Verbände das flicken könnten,
was das Finanzkapital zerschlagen hat. Da die Zivilgesellschaft permanent als eine
Welt ohne trennende materielle Interessen wahrgenommen wird, in der jedeR von
ökonomischem Wachstum, Gemeinschaft, gemeinsamer Problemlösung und individueller Selbstverwirklichung profitiert, besteht der Trick darin, die fundamental andere Situation der Armen/Ausgegrenzten darin sowohl anzusprechen als auch auszusetzen und in einer ökonomischen Perspektive aufzulösen. Sozialkapitalkonzepte
helfen bei der Quadratur dieses Kreises, weil es trotz seiner scheinbaren Neutralität
normativ besetzt ist.
Das Ziel der Akkumulation von Sozialkapital ist nicht ökonomische Sicherheit für
die Armen oder der Abbau von Unsicherheit, sondern „Empowerment“ und „Inklusion“. Zwar ähnelt dieses Ziel dem der Oppositionsbewegungen, aber die Bedeutung
hat sich verändert. In der „ersten“ wie in der „dritten“ Welt machen aktuelle politische Programme implizite Versprechungen über die Fähigkeiten lokaler Netzwerke
über das Empowerment armer und marginalisierter Gruppen und die Überwindung
sozialer Beziehungen, die ihre Exklusion befördern. Während die erwünschte „Mobilisierung von unten“ rhetorisch an die Oppositionsbewegungen erinnert, redefiniert sie diese Tradition auf eine bestimmte, eingeschränkte, formale Weise. Einer
der führenden Vertreter des Sozialkapitalkonzeptes in den USA, William Schambra,
macht seine Definition der Basisbewegungen deutlich: Sie seien „zu beschäftigt mit
der Arbeit mit den Armen, um Koalitionen gegen die Armut beizutreten“ (Schambra
228
Rundschau
1998: 49). Dies hat auch ehemalige soziale Bewegungen erreicht.
Dieser Spracheffekt des Sozialkapitaldiskurses bewirkt eine Naturalisierung der
Transformationen auf der Makro-Ebene, die auf Städte einwirken (Globalisierung, regionaler Wettbewerb etc.). Die Krise des Wohlfahrtsstaates oder der Städte
erscheint so als Ergebnis objektiver, unvermeidbarer Ereignisse, und alle Akteure
scheinen gleichermaßen von diesen Herausforderungen betroffen zu sein. Gemeinschaften, Nachbarschaften, Frauen, ArbeiterInnen wie Arbeitslose – alle müssen sich
gleichermaßen diesen äußeren Entwicklungen anpassen, müssen flexibler werden,
lernen, sich selbst „empowern“ und Druck auf städtische Verwaltungen ausüben
– sprich: ihr Sozialkapital entwickeln. Dann würde städtische Armut, die allmählich
als Produkt ineffektiver lokaler Steuerung und unterentwickelten sozialen Kapitals
anzusehen ist, schließlich abgeschafft. Eine richtige Kombination der Mobilisierung
von unten und der Schaffung von Ermöglichungsstrukturen von oben könnte dann
die Probleme ungleicher Entwicklung und Marginalisierung lösen und einen Kreislauf von Sozialkapital, Wirtschaftswachstum und sozialer Kohäsion einleiten.
Wie wir jedoch gesehen haben, können die positiven Effekte lokaler ziviler Netzwerke nicht einfach als automatisch vorausgesetzt werden. Tatsächlich gibt es Anlass
zu fragen, inwiefern die aktuellen Programme Sozialkapital nicht eher zerstören als
aufzubauen helfen. Deshalb müssten auch die nicht-intendierten Nebeneffekte dieser Programme untersucht werden. Erste Eindrücke in dieser Hinsicht zeigen nicht
nur Verbesserungen der Lebenssituation und Beteiligungsmöglichkeiten marginalisierter Gruppen, sondern auch Verdrängung, Gentrifizierung und der Ausschluss
„unerwünschter“ Gruppen (vgl. Lanz 2000). Die Tatsache, dass bestimmte Zusammenschlüsse wie z.B. die von sogenannten problematischen Gruppen im Verlauf der
Implementierung solcher Programme regelmäßig zerstört werden, wird im Allgemeinen tabuisiert, während der Fortschritt in Hinblick auf Partizipation und Artikulationsmöglichkeiten für erwünschte Gruppen breit diskutiert und gefeiert werden.
Nie zuvor waren zivilgesellschaftliche Netze, lokaler Aktivismus und ziviles Engagement so prominent in politischen Programmen zur Förderung einer nachhaltigen Entwicklung und wirtschaftlichen Wachstums. Ihre Definition als Sozialkapital
macht sie brauchbar für Bemühungen, die darauf ausgerichtet sind, das neoliberale
Projekt in der Gesellschaft zu verankern und seine Kosten besser zu managen. Nicht
nur werden soziale und politische Ziele den Marktprioritäten und ökonomischer
Wettbewerbsfähigkeit untergeordnet, es werden auch lokale Aktivitäten in Form gebracht, so dass diese nicht stören, sondern das entstehende wettbewerbsorientierte,
post-nationale Regime unterstützen und voranbringen (vgl. Jessop 1993, 1999, Peck
2001). Städte und die kommunale Ebene spielen hier eine herausragende Rolle:
• Sie sind zentrale Agenten bei der Produktion von Wettbewerbsfähigkeit und
fungieren als Motoren ökonomischen Wachstums.
• Wenn Sozialpolitik sich von Transferzahlungen ab- und einem flexibilisierten Arbeitsmarkt zuwendet, kommt den Kommunen die Aufgabe zu, innovative Sozialund Beschäftigungsstrategien zu entwickeln, um endogenes Humanpotential zu
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
229
aktivieren und dabei ihre Standortvorteile ausbauen.
• Das Modell baut weiterhin auf einer aktiven Kooperation zwischen Zivilgesellschaft, Staat und Marktakteuren auf lokaler Ebene auf: diese public-private partnerships betonen die Arbeit mit den Kräften des Marktes (anstatt gegen sie).
Dieses entstehende Regime, seine Dynamik und die charakteristischen Spannungen formen den Kontext, in dem städtische Aktivitäten – das gesamte Spektrum
zivilen Engagements bis hin zu Protestbewegungen – stattfinden. Wenn dieses Engagement wirklich zu mehr Demokratie anstatt zu weiterer Exklusion beitragen soll,
müssen auch der Druck und die Auswirkungen dieses Kontextes auf ihre Entwicklung berücksichtigt werden. Das würde heißen, dass sowohl die Sozialwissenschaften
als auch politische Debatten die blinden Flecken und Widersprüche innerhalb der
Sozialkapitaldiskurse wahrnehmen; die Interessen von politischen und von Oppositionsbewegungen müssten genauso einbezogen werden wie die der weniger konfliktbehafteten zivilgesellschaftlichen Gruppen. Die spezifischen Potentiale gemeinschaftlicher Problemlösungen müssten ergänzt werden durch ein entsprechendes
Rechts- und Regierungsumfeld. Dann mag dieses Konzept eine Chance haben, zur
Stärkung einer lebendigen zivilen Gemeinschaft beizutragen.
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Rundschau
BUCHBESPRECHUNGEN
Urbane Praktiken
Yvonne P. Doderer: Urbane Praktiken. Strategien und Raumproduktionen feministischer Frauenöffentlichkeit. Verlagshaus Monsenstein & Vannerdat, Münster 2003, 18,80€
Yvonne P. Doderer widmet ihre Dissertation, die hiermit als Buch vorgelegt wird,
der sehr spannenden Frage, „welche Beziehungsgeflechte zwischen urbanen Räumen
und gesellschaftspolitischen Bewegungen bestehen.“ (S. 9) Als empirisches Beispiel
dienen der Architektin und Stadtforscherin die Projekte der neuen Frauenbewegung
seit den 1970er Jahren in vier westdeutschen Großstädten und in Berlin. Mittels einer
aufwendigen Recherche in Frauenkalendern, Adress- und Branchenbüchern sowie
durch eine eigene Fragebogenerhebung unternimmt sie den Versuch, „bestehende
Raumvorstellungen zu erweitern und neue Perspektiven eines gesellschaftspolitischen
Zugangs zu Stadträumen und ihren Subjekten aufzuzeigen“ (S. 10). Die Fragestellung
hat eine hohe Relevanz für aktuelle politische und auch planerische Bestrebungen, in
bezug auf einen konkreten stadträumlichen Kontext die Selbstverantwortung und
-organisation der Bürgerinnen und Bürger zu stärken (wenn wir hier mal annehmen,
dass diese ernst gemeint sind). Sie befindet sich in einem Spannungsfeld zwischen
feministischer Planungstheorie und Raumsoziologie (und eigentlich auch Ansätzen
zur Erforschung sozialer Bewegungen; diese kommen aber nicht zur Sprache), die
beide in den Dienst der empirischen Untersuchung gestellt werden, allerdings ohne
vorher systematisch und auf ihrem aktuellen Stand aufbereitet und für die Empirie
instrumentalisiert worden zu sein.
Der theoretische Zugang erfolgt über das Konzept von Henri Lefebvre, das der
Autorin deshalb sympathisch ist, weil es auch die Produktion von städtischen Räumen
einbezieht. Das Konzept wird von ihr um den Machtbegriff, wie er von Foucault
verwendet wird, erweitert, um die Berücksichtigung der Geschlechterperspektive zu
ermöglichen. Macht ist demnach nicht statisch, sondern wird regelmäßig reproduziert, und zwar innerhalb von urbanen = gesellschaftlichen Räumen, die die Autorin
ebenso wie die Kategorie Geschlecht als Dispositive begreift. Die neue Frauenbewegung stellt sich vor dem Hintergrund dieser Dispositive als widerständige Bewegung
dar, die „konservative wie emanzipatorische Momente“ aufweist und in „heterotopischen“ Räumen mit entsprechenden Öffnungen und Schließungen verortet ist.
Sehr ausführlich wird die Entwicklung der neuen Frauenbewegung seit den 1970er
Jahren nachvollzogen. Hervorgehoben wird ihr Verzicht auf eine zentrale Organisationsform zugunsten einer Organisation in lokalen, basisdemokratisch strukturierten
Gruppen (S. 45). Parallel zu inhaltlich veränderten Schwerpunktsetzungen – u.a. hin
zu der Anerkennung der Unterschiede zwischen Frauen, die seit den 1980er Jahren
diskutiert wird – ist im Laufe der Zeit eine differenzierte Bandbreite von Frauenprojekten mit einer Vielzahl von Zielen und Themen entstanden. Dennoch stellt
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
233
die Autorin fest, dass die feministische Planungstheorie sich nach wie vor eher des
Wohnbereiches und -umfelds annimmt als der urbanen Strukturen, wodurch die
emanzipatorischen Potentiale, die diese den Frauen bieten (könnten), unberücksichtigt bleiben. Die Teilhabe an städtischer Öffentlichkeit, die häufig normativ als Raum
von Mitsprache und Mitgestaltung definiert wird, stellt für Städterinnen heute also
immer noch eine Herausforderung dar. Dabei war genau sie ursprünglich eins der
wichtigsten Ziele der neuen Frauenbewegung: die Kreation eines herrschaftsfreien
Raumes für emanzipatorisch-politisches Denken, Sprechen und Handeln unter Gleichen, ähnlich der Polis im antiken Griechenland, wie sie bei Hannah Arendt beschrieben wird. Dass eine Realisierung nicht gelang, führt die Autorin auf das „Fehlen klar
definierter Räume politischen Handelns“ zurück.
Gleichzeitig wird jedoch deutlich, dass eine Bewegung wie die Frauenbewegung
– und zwar nicht als soziale, sondern als politische Bewegung – fast zwangsläufig ein
urbanes Phänomen ist, da der urbane Raum Potentiale bereitstellt, die im ländlichen
Raum nicht zu finden sind: „Die Großstadt bietet ihren BewohnerInnen, im Gegensatz zum Dorf, vor allem Momente der Begegnung mit Neuem, Unbekanntem, ‚Anderem’ und Gleichem ... Das urbane Terrain ist vielfältig genug, um auch Frauen den
Ausbruch zu ermöglichen“ (S. 73). Mit dem Begriff „Frauenöffentlichkeit“ meint
die Autorin in diesem Zusammenhang eine Öffentlichkeit mit einem gemeinsamen
Gegenstand – Frauen- und Lesbenpolitik, Emanzipation, Feminismus – unter vielen
anderen mit anderen Themen und Bezugspunkten. Eine solche Herangehensweise
soll es der Autorin in der weiteren Studie ermöglichen, eine offene Suche nach den
Orten und Praktiken der Frauenöffentlichkeit durchzuführen, ohne das Verhältnis
verschiedener Öffentlichkeiten untereinander einbeziehen zu müssen.
So weit, so spannend (wenn auch in den Formulierungen bisweilen ein wenig verklausulierend, wie dies leider häufig bei feministischen Texten der Fall ist). Inhaltlich
schlägt die Autorin von hier aus einen etwas unerwarteten Weg ein: An die Stelle
der Suche nach Orten und Praktiken der Frauenöffentlichkeit tritt eine umfassende
empirische Untersuchung des Bestandes, der räumlichen Situiertheit und der inhaltlichen Ausrichtung von Frauenprojekten in fünf deutschen Großstädten. Ein Zusammenhang zur Frauenöffentlichkeit (sprich: zu Austausch und Vernetzung zwischen
den Projekten über ihren gemeinsamen Gegenstand, s.o.) wird nur am Rande hergestellt. Die Wechselwirkungen mit urbanen Strukturen beziehen sich im folgenden
vornehmlich auf die Standorte der Projekte und ihre Standortbedingungen, nicht aber auf
ihre Außenwirkung als eine städtische Teilöffentlichkeit. Dabei wäre doch eigentlich
erst einmal davon auszugehen, dass ein Projekt, und selbst fünf Projekte im räumlicher Nähe zueinander und in vergleichbaren Räumlichkeiten, nicht notwendigerweise
auch eine Öffentlichkeit herstellen – dies ist natürlich nicht ausgeschlossen, jedoch sicherlich auch nicht automatisch damit verbunden. Der Richtungswechsel hin zu den
Standorten und Standortbedingungen von Frauenprojekten hängt meiner Meinung
nach mit der gewählten Methode zusammen: mit einem teilstandardisierten Fragebogen sind komplexere Zusammenhänge wie z.B. das Thema Vernetzung weniger gut
zu erfassen als z.B. durch die Durchführung von Expertinneninterviews (es sei denn,
234
Rundschau
der Fragebogen basiert auf einer vorgeschalteten explorativen Phase). Vielleicht ließe
sich die Frage nach Frauenöffentlichkeiten eher durch eine qualitative Fallstudie in
nur einer Stadt beantworten.
Die Autorin hat sich jedoch dafür entschieden, ihr Augenmerk im folgenden auf
die Frauenprojektekultur zu richten. Sie geht bei ihrer Empirie in zwei Schritten
vor: Zuerst zeichnet sie am Beispiel der fünf Großstädte Berlin, Frankfurt/Main,
Hamburg, München und Stuttgart mit Hilfe des seit dem Jahr 1975 regelmäßig erscheinenden Frauenkalenders die Entwicklung von Räumen feministischer Frauenöffentlichkeit nach. Zweitens wertet sie knapp 140 teilstandardisierte Fragebögen
(ein sehr guter Rücklauf von 40% der von ihr angelegten Vollerhebung) aus diesen
Städten in bezug auf die Frage aus, wie und wo Frauenprojekte in urbanen Räumen
verortet sind. Ergebnis ist eine Vielzahl von zwischen den Städten vergleichenden
Aufzählungen: welcher Bandbreite von Themen sich die Projekte annehmen, welche
Rechtsformen sie gewählt haben, wie viele lesbische Frauen bei ihnen mitarbeiten
etc. Hier entsteht leider verschiedentlich der Eindruck, dass die Autorin sich in ihrer
Empirie verliert und damit ihr eigentliches Ziel gelegentlich aus dem Blickfeld gerät.
Andererseits erhält die Leserin dadurch einen sehr differenzierten und meistens sehr
interessanten Einblick in die aktuelle Situation der Frauenprojektekultur in den untersuchten Großstädten
Die Autorin stellt fest, dass „sich mit der Ausdifferenzierung der Neuen Frauenbewegung kaum noch eindeutig am rein Politischen ausgerichteten Frauenorte
mehr feststellen lassen – das Politische hatte sich längst in die verschiedenen gesellschaftlichen Anliegen und Forderungen ... vervielfältigt“ (S. 95). Insbesondere die
aufgezeigte Bandbreite an Projekten im sozialen Raum ist beeindruckend, aber auch
im kulturellen Bereich ist eine Vielzahl von Projekten zu finden; erst seit den 1990er
Jahren werden Frauenprojekte auch vermehrt im ökonomischen Bereich aktiv. Den
besten „Versorgungsgrad“ mit Frauenprojekten weist wie erwartet Berlin auf.
In bezug auf das Standortverhalten und die Versorgung der Projekte mit physischem Raum wird gezeigt, dass viele Frauenprojekte sich im Altbau und in Quartieren
mit sogenannten sozialen Brennpunkten befinden, wie viel Quadratmeter Nutzfläche
die Projekte durchschnittlich zur Verfügung haben, dass sie sich selten in der Innenstadt, aber meist in innenstadtnahen Quartieren mit einer guten ÖPNV-Anbindung
befinden und die Nähe zu anderen Projekten eine Rolle bei der Standortwahl spielt.
Die Autorin schließt ihre Auswertung mit der Feststellung, dass es zur Etablierung
der Projekte offenbar einer urbanen Situation bedarf, „die weder zu homogen ist,
noch zu viele Ausschlussmechanismen aufweist und die ein Klima zulässt, das für
politische und kulturelle Praktiken offen ist...“ (S. 251).
Als Ergebnis konstatiert die Autorin unter anderem, dass städtischer Raum gesellschaftlicher Raum sei und umgekehrt (S. 255f) – damit trägt sie aus einer feministischen Position heraus zu einer Diskussion der Stadtsoziologie bei, die sich dieses
Themas in verschiedenen Zusammenhängen bereits spätestens seit den 1990er Jahren angenommen hat; ein Bezug wird hier jedoch nicht hergestellt. Der Beitrag dieser
Studie zu aktuellen planungstheoretischen und raumsoziologischen Diskussionen be-
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
235
steht zum einen in der Forderung an die feministisch orientierte Planungstheorie, die
emanzipatorischen Potentiale urbanen Lebens stärker zu berücksichtigen, und zum
anderen in einem Modell der „urban-gesellschaftlichen Topologie“, das hegemoniale
und subversive Aneignungsformen städtischer Räume gegenüberstellt, die jeweils
verschiedene Ausprägungen und Spielarten von Differenz zulassen. Es geht der Autorin hier um eine Beförderung von Räumen „transitorischer Differenz“, in denen
Übergänge die Regel und nicht nur die Ausnahme darstellen und eine größtmögliche
Aneignungsmöglichkeit gegeben ist: „Es wird die Aufgabe sowohl jetziger als auch
zukünftiger Frauenöffentlichkeiten und Frauenbewegungen sein, zur Realisierung
solcher Räume mit beizutragen“ (S. 269).
Das Buch leistet eine wichtige und wertvolle Standortbestimmung (im doppelten
Sinne) der neuen Frauenbewegung und der Frauenprojekte in Großstädten. Darüber
hinaus leitet es aus der Betrachtung räumlicher Voraussetzungen und Bedingungen
für Frauenprojekte Konsequenzen für die Produktion und Gestaltung urbaner Räume ab, die über das konkrete Beispiel hinausweisen. Die Frage nach den Wechselwirkungen zwischen (Frauen-) Öffentlichkeiten und urbanen Strukturen sowie ihrer
(Re-) Produktion wird hier jedoch nur gestreift und in weiteren Forschungen noch zu
beantworten sein.
Sandra Huning
Rübergeklappt
Matthias Bernt: Rübergeklappt. Die „Behutsame Stadterneuerung“ im Berlin der 90er Jahre. Berlin 2003, Schelzk&Jeep architext 6, 300 Seiten und einige Grafiken, € 19,80
Wie der plastische Titel der Untersuchung des Berliner Politikwissenschaftlers
ironischerweise suggeriert, stellte sich die Übertragung des „Erfolgsmodells“ Behutsame Stadterneuerung aus dem Kreuzberg der 1980er Jahre auf die riesigen
Altbaubestände Ost-Berlins nicht so einfach dar, wie sich das bestimmte Akteure in
West-Berlin vorgestellt hatten. Inzwischen dürfte sich herumgesprochen haben, dass
die Stadterneuerung vor der deutschen Vereinigung unter ganz anderen Vorzeichen
stand, insbesondere was die Eigentümerstruktur anbetrifft. In West-Berlin hatte es
sich um eine mit hohem Subventionsaufwand betriebene Erneuerung unter der Ägide der Internationalen Bauausstellung gehandelt, die davon profitieren konnte, dass
die öffentlichen Wohnungsbaugesellschaften, nach ihren Kahlschlagorgien früherer
Zeiten einmal politisch auf Linie gebracht, vergleichsweise zahme Partner waren,
die sich den Sanierungszielen der öffentlichen Verwaltung fügten und wegen ihrer
Gemeinnützigkeit ohnehin kein Interesse an hohen Mieten haben mussten. In den
1990er Jahren haben die Rahmenbedingungen der deutschen Vereinigung dagegen
schließlich eine weitgehend private Eigentümerstruktur in den Ost-Berliner Altbau-
236
Rundschau
gebieten hervorgebracht, die nur noch eingeschränkt durch das Sanierungsinstrumentarium beeinflusst werden konnte. Zwangsläufig musste die öffentliche Hand
reagieren, wollte sie weiterhin ihren Steuerungsanspruch aufrechterhalten und die
bestandsorientierte Erneuerung behutsam gestalten.
Wie dies geschah und welche Kräfte sich dabei politisch durchsetzen konnten,
beschreibt Bernt an einigen in eine ausführliche Chronologie eingebetteten Fallstudien recht plastisch. Ausgehend von einem politikwissenschaftlichen Ansatz, der
Regimetheorie, Diskursanalyse und Regulationstheorie zur Erklärung der Berliner
Geschehnisse heranzieht, nimmt die theoretische Betrachtung jedoch nie so stark
überhand, dass die Untersuchung von ihrem Gegenstand über Gebühr abstrahieren
würde. Sie bleibt vielmehr eng an den Geschehnissen in den Sanierungsgebieten und
in der Szene und damit gut nachvollziehbar. Selbst für Leser, die Vorkenntnisse im
Feld der Stadterneuerung haben, wird die Vorgeschichte der 1980er Jahre mit einigen
interessanten Detailinformationen und Interpretationen gespickt, um den Wechsel
hin zur stärker privatwirtschaftlich geprägten Ära der 1990er Jahre verständlich zu
machen. Für das Verständnis der späteren Ereignisse unerlässlich ist dabei die Würdigung, die Bernt dem Altbausanierungsgeschehen in Ost-Berlin vor der Vereinigung
angedeihen lässt, gerade vor dem Hintergrund einer Verengung der bisherigen Sanierungsgeschichtsschreibung auf die IBA und Kreuzberg.
Schon frühzeitig nach dem Fall der Mauer war die Notwendigkeit der Mobilisierung privater Mittel den Verantwortlichen in (West-)Berlin klar, so dass sich schließlich nach anfänglichen Versuchen einer radikaleren Thematisierung der Eigentumsund Verfügungsrechte bis in die Instandsetzungs- und Modernisierungspraxis hinein
– ausgelöst durch die Bewohnerinitiativen vor Ort, die in Ost-Berlin eine bedeutende
Rolle der Modernisierung in Selbsthilfe kennen gelernt hatten - ein doch ein recht
vorsichtiger Umgang mit potentiellen Investoren durchsetzte. Die Verhandlungsposition, in der sich die öffentliche Hand befand, war demgemäß relativ schwach. Bernt
zeigt an der Diskussion über neue Sanierungsleitlinien, wie Versuche der Senatsverwaltung für Bau- und Wohnungswesen zu einer deutlichen Senkung der sozialen
Ansprüche an die Stadterneuerung aufgrund der sich abzeichnenden schwierigen
Haushaltssituation vom intakt gebliebenen Sanierungsregime abgewehrt werden
können, aber im Zuge dessen insbesondere die Beteiligung der vor Ort ansässigen
Initiativen auf ein eher routineorientiertes Maß zurückgeschraubt wird und dabei
das ursprüngliche Ziel einer umfassenden Beteiligung verloren geht. An der Diskussion um Mietobergrenzen wird wiederum deutlich, dass zwar einerseits gravierende
Mietsteigerungen im Zuge der Sanierung kein Thema sind, aber eine ernsthafte Begrenzung und Orientierung an den Möglichkeiten der ärmeren Bevölkerung vor Ort
auch nicht mehr stattfindet.
Der Begriff der Behutsamkeit, so der Autor, entleert sich so immer weiter seines
ursprünglichen Gehalts, indem die West-Berliner Szene allein und ohne Berücksichtigung der Ost-Berliner Bewohnerschaft über einen Kurswechsel verhandelt, der sich
den eigentumsrechtlichen und finanziellen Gegebenheiten bis zu einem gewissen
Grad beugt. Das Urteil über die Stadterneuerung im Berlin der 1990er Jahre muss
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
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dementsprechend gemischt bis kritisch ausfallen. Einem solchen Urteil ist zunächst
ohne Einschränkungen zuzustimmen, doch muss wohl anerkannt werden, wie gering
einerseits die Spielräume für eine andere Politik waren und wie andererseits selbst
die Szene immer wieder betont, dass die Stadterneuerung der 1980er Jahre mit völlig
überzogenem finanziellem Aufwand betrieben worden sei. So kann – bei allem Respekt für die Feststellung, dass die eigentlich Betroffenen im Ost-Berlin der 1990er
Jahre viel zu wenig Mitspracherechte hatten – die Bilanz der 1990er Jahre auch als
„Normalisierung“ nach den üppigen West-Berliner Jahren interpretiert werden. Der
Autor stellt sich dieser Interpretationsfrage nicht, will er doch zunächst den Wandel
selbst erklären und verstehen helfen.
Sucht man allerdings nach Folgerungen und der Möglichkeit einer Übertragung
der Resultate auf andere vergleichbare Situationen, bleibt mithin die ernüchternde
Feststellung, dass die politischen Kräfteverhältnisse einer Großen Koalition, ergänzt
um die verschiedensten lobbyistischen Einflüsse in ihrem Umfeld, offenbar ganz
folgerichtig eine Kompromisspolitik produzieren, der die „Zähne fehlen“, wenn es
um reformerische Ansprüche geht. Wenn man, wie der Autor an zahlreichen Stellen
durchblicken lässt, die Folgen eines solchen Politikwandels im Umfeld reduzierter
Spielräume für Verteilungspolitik kritisch sieht und schon die sich nunmehr einstellenden Mietniveaus in Prenzlauer Berg und Friedrichshain für die sozial benachteiligte Klientel als inakzeptabel betrachtet, in einem quantitativ entspannten Wohnungsmarkt aber mit diesem Ansinnen kaum ein öffentliches Echo erzielen wird, fragt man
sich natürlich, auf welche Weise dann überhaupt noch engagierte Politik für die sozial
Benachteiligten möglich ist. Diese Frage am Beispiel einer Facette der räumlichen
Planung erneut aufgeworfen zu haben, ist ein wichtiges Verdienst des Autors.
Doch über Auswege (Konsequente politische Dezentralisierung? Noch stärkere
Subjektförderung? Ausgleich für die erlittenen Belastungen von Verdrängung durch
größere Selbstbestimmungsmöglichkeiten in den Zielgebieten der Verdrängten? Globalisierungskritik und kommunale Finanzreform? Verstärkte nicht geldwirtschaftlich
organisierte Unterstützungsnetze?) werden sich noch viele Experten, vermutlich leider oftmals ohne Erfolg, den Kopf zerbrechen müssen.
Uwe Altrock
Entdeckung der mittelalterlichen Stadtplanung
Klaus Humpert / Martin Schenk: Entdeckung der mittelalterlichen Stadtplanung. Konrad Theiss
Verlag, Stuttgart 2001, 272 S., 250 kolorierte Abb., 21 x 28 cm, Gebunden mit Schutzumschlag, mit CD-ROM, ISBN 3 8062 1464 6, € 39,90
Auf dieses Buch hat man geradezu gewartet. Was Klaus Humpert und vor allem
sein Mitarbeiter Martin Schenk aufbauend auf zunächst zufälligen Entdeckungen in
238
Rundschau
jahrelanger Kleinarbeit zusammengetragen haben, ist mit „verblüffend“ äußerst zurückhaltend charakterisiert. Haarklein wird in ausführlichen Zeichnungen rekonstruiert, dass die scheinbar organischen und „gewachsenen“ Grundrisse mittelalterlicher
Städte häufig Ergebnis eines Gründungsakts sind, dem eine präzise und umfassende
Aufmessung des Territoriums folgt. In ihrem Rahmen werden nicht nur geometrische Bezüge zwischen dem Verlauf von Straßen, Wegen und Mauern sowie dem
Standort von Kirchen, Toren oder Brunnen hergestellt. Noch überraschender ist die
Tatsache, dass offenbar selbst viel später besiedelte Vorstädte bereits von Anfang an
mit geplant wurden.
Die Autoren geben selbst zu, dass sich in ihre Resultate einzelne Fehler eingeschlichen haben mögen, und bei aufmerksamem Studium der dargestellten beinahe universellen Vermessungstechnik fallen einem manchmal auch plausiblere Erklärungen für
den einen oder anderen Standort oder Verlauf ein. Dies tut der schier erdrückenden
Fülle von zusammenhängenden Belegen, die die Autoren vorlegen, jedoch in keiner
Weise einen Abbruch. Aus ihnen ergibt sich ein Bild, das das bisherige Verständnis
von der Entstehung mittelalterlicher Städte heftig erschüttern könnte. Dennoch erscheint der Untertitel des Bandes, „Das Ende vom Mythos der ‚gewachsenen Stadt’“,
effekthascherisch. Weder bestreiten die Autoren, dass Städte auch über eine Vielzahl
von kleineren Planungsentscheidungen im Detail jahrhundertelang „wachsen“, noch
wurde bislang – spätestens seit Wolfgang Braunfels - die Existenz planerischer Regeln im Mittelalter grundsätzlich bestritten.
Wer hätte jedoch gedacht, dass die fein abgestimmten Bögen von Gebäudefluchten und der gekrümmte Verlauf von Gassen und sogar die Stadtmauern und Bäche
einem praktikablen System folgen, das im Wesentlichen auf der Aneinanderreihung
von Kreissegmenten aufbaut? Zu vielgestaltig und für heutige Planer vielleicht geradezu abwegig war wohl dieses System der Vermessung mit einfachen Seilen, als dass
es vorher entdeckt worden wäre.
Führt man sich vor Augen, dass es vor der Einführung moderner Vermessungstechniken keineswegs trivial gewesen sein dürfte, im freien Feld über große Entfernungen für eine Besiedlung ökonomische Parzellen zu erzeugen, und macht man
sich klar, dass dafür der Herstellung eines rechten Winkels eine Schlüsselbedeutung
zukommen musste, dann leuchtet schnell ein, dass unter Verwendung einfachster
mathematischer Zusammenhänge (Satz von Pythagoras), umgesetzt durch lange
Messseile, modulartige Netze entstehen konnten, innerhalb derer eine Vielzahl
bedeutender Messpunkte sehr einfach erzeugt wurden. Frappierend ist dabei, dass
offenbar auch die Städte der Antike, wichtige Einzelgebäude und selbst Gemälde im
Mittelalter auf eine ähnliche Weise durch modulare Kombination von geraden und
kreisförmigen Linien entstanden.
Die einleuchtend wirkenden Erkenntnisse stellen die Autoren mit einer Fülle von
Beispielen dar, die nicht immer so spannend bleiben, wie die Materie es verdient hätte. Durch die beigegebene CD, die die Konstruktionsprinzipien veranschaulicht, werden sie zwar verständlich präsentiert, doch hätte man sich unter Verzicht auf ein paar
Beispiele vielleicht zusätzliche Interpretationsansätze gewünscht, die nicht nur das
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
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Vermessungsverfahren erklären, sondern auch die Motivation, die hinter ihm steht.
Das Buch wirft diesbezüglich eine Reihe von Fragen auf, die es gilt, durch weitere
Forschungsarbeiten zu beantworten, um seinen Erkenntnissen erst zu voller Tragweite zu verhelfen. Sind die Mauern der mittelalterlichen Städte deshalb so verschachtelt
krumm, um sich an die Topographie oder Verläufe von Gewässern anzupassen? Sind
die erzeugten Parzellen wirklich die wirtschaftlichsten, wie die Autoren vermuten?
Dem Buch sei eine Reihe von Lesern gegönnt, die durch Aufklärung solcher Fragen
zusätzliche wertvolle Einblicke in die Planung und das Leben des Mittelalters geben
könnten.
Uwe Altrock
Shadows of Power
Jean Hillier: Shadows of Power. An Allegory of Prudence in Land-Use Planning. London:
Routledge 2002, XVIII+348 Seiten, US-$ 31,95
Selten war ich bei der Lektüre eines Buches so hin- und hergerissen wie hier.
Jean Hillier, bekannt durch ihre jahrelange eingehende planungspolitische und planungstheoretische Auseinandersetzung mit Entscheidungsprozessen vor allem in
Westaustralien, hat in der recht neuen, von Cliff Hague, Robin Boyle und Robert
Upton herausgegebenen RTPI Library Series ein Werk vorgelegt, das eine große Zusammenschau dieser Arbeit darstellt und zur gleichen Zeit das Fundament zu einer
Planungstheorie bilden will, die die kommunikativen Ansätze in der Tradition von
Jürgen Habermas und die machttheoretischen Ansätze in der Tradition von Michel
Foucault verzahnen und weiterentwickeln möchte. Dabei greift Hillier ganz wesentlich auf das Habitus-Konzept von Bourdieu zurück, das für sie gewissermaßen den
Schlussstein zur Integration der beiden anderen Ansätze bildet.
Das Buch beginnt mit einer Zusammenfassung der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den relevanten Konzepten von Habermas und Foucault. Es wird
deutlich, wie stark sich – und wohl nicht nur nach Auffassung der Autorin – die
englischsprachige Planungstheorie in den letzten Jahren auf Habermas gestützt
hat. Dabei konnte es nicht ausbleiben, dass dessen Gedankengut verfremdet und
vielleicht sogar überschätzt wurde. Habermas ist nun einmal ein Philosoph und Sozialwissenschaftler und kein Planungstheoretiker. Wieder einmal tut sich eines der
Grundprobleme der Politikwissenschaft auf: Analytische und normative Konzepte
werden nicht sauber getrennt. Und dann wird dem normativ arbeitenden Habermas
mehr oder minder vorgeworfen, er erfasse die Realität nicht. Das tue schon Foucault
besser, der sich intensiv mit der Machtfrage auseinandersetzt. Nun, Habermas hier
mehr oder minder explizit Naivität vorzuwerfen, finde ich eher müßig. Ihn auf den
Thron zu stellen aber ebenfalls. Eine kritische Auseinandersetzung sollte lieber nach-
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Rundschau
fragen, was er selbst eigentlich mit seinen Schriften erreichen wollte.
Vor diesem Hintergrund gelingt es Hillier, die Dinge ein wenig gerade zu rücken,
wenngleich Restzweifel bleiben. Zwar ist es sinnvoll, neben kommunikative Ansätze
auch machttheoretische zu stellen, wenn man sich der planungspolitischen Wirklichkeit annähern möchte. Aber das ist doch eigentlich mindestens seit den 1950er Jahren
gängig in der Politikwissenschaft, wie immer man deren Ergebnisse bewerten mag.
Hillier bezieht sich auf diese gar nicht. Und, ganz Kind der Postmoderne, haut sie
einem die Literaturhinweise nur so um die Ohren, dass einem am Ende der Einführung der Kopf schwirrt. Man weiß aber nicht recht einzuschätzen, wie relevant die
genannten Werke jeweils sind. Die Ergänzung um Bourdieu ist sinnvoll, doch auch
hier fragt man sich, ob sich der Aufwand der Auseinandersetzung lohnt, da man auf
der einen Seite kein richtiger Bourdieu-Kenner wird, auf der anderen Seite aber die
oberflächliche Ergänzung der kommunikativen und der Machttheorie um die stärker
an der politischen Kultur orientierte Habitus-Konzeption in einer solchen Zusammenschau nicht viel eindrucksvoller werden kann, als man sich das ohnehin schon
dachte und es von anderen Forschern längst ebenfalls zusammen gedacht wird.
Aufbauend auf den ersten Kapiteln trägt Hillier ihre Erfahrungen aus Planungsprozessen vor allem in Australien zusammen. Hier wird es richtig anschaulich und interessant. Aufgrund der Raffung der Auseinandersetzung, ihres zwangsläufig punktuellen Charakters und der Isoliertheit der Fälle gegenüber vielen anderen existierenden
Fallstudien, die Hillier im Gegensatz zu den zahlreichen planungsphilosophischen
und im engeren Sinne postmodern-gesellschaftstheoretischen Beiträgen anderer Kolleginnen und Kollegen kaum würdigt, gelingt ihr aber nur stellenweise mehr als eine
erläuternde Untermauerung der theoretischen Auseinandersetzung. Die von ihr selbst
angekündigte Unterstützung von Praktikern durch die systematische Analyse dessen,
was in der Praxis vorkommen kann, hätte eine etwas eingehendere Betrachtung erfordert. Als kleiner Höhepunkt kann die Einbeziehung völlig anderer Sichtweisen auf
Planungsprozesse angesehen werden, die sich aus der Auseinandersetzung mit den
Auffassungen und Bedeutungszuschreibungen der Aborigines ergibt.
Hillier geht es mit ihren Ausführungen hauptsächlich darum zu zeigen, dass Planungsprozesse nicht unabhängig von den sozial konstruierten, subjektiven raumbezogenen Identitäten, Bedeutungen und Werten der Bewohner und der Planer selbst
verstanden werden kann. Sie stellt sich wie viele andere Autor/inn/en vor ihr explizit
gegen die technokratische Vorstellung von einem linearen, zielgerichteten und objektiven Planungsprozess.
Gegen Schluss wird es dann ein wenig redundant. Das würde nichts machen,
wenn es lediglich der Festigung des zuvor ausgebreiteten theoretischen Fundaments
dienen würde. Man hat aber eher den Eindruck, der Autorin sei unterwegs ein Stück
weit die Puste ausgegangen. Eine heroische Leistung war es sicherlich, diese riesige,
wenngleich selektive Literaturschau und das große Gedankengebäude in weniger als
einem halben Jahr zusammenzutragen. Nichtsdestoweniger fragt man sich, um wie
viel weiter die Planungstheorie hier wirklich gekommen ist. Hillier als weit vernetzte
Theoretikerin scheint viele Bezüge und den Stand der Theorie gar nicht einbeziehen
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
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zu wollen. Vielleicht unterschätzt sie auch nur die Kolleginnen und Kollegen, denen
sie teilweise wenig tief schürfendes als Neuigkeiten verkauft. Die komplizierten Begriffe, die abgehobenen postmodernen Ansätze und die Ästhetik der Sophisterei in
der Anlage des Buchs sind sicherlich Geschmackssache. Viele Hinweise auf Denkschulen und ein riesiges Literaturverzeichnis auf dem Feld der Planungsphilosophie
bleiben eines der großen Verdienste beim Verfassen des Buchs. Eine Kritik an isolierten Ansätzen und einer Überschätzung der Anwendbarkeit von Habermas auf die
Planungstheorie sind ebenfalls sinnvoll, wie viele andere zupackende Einzelbausteine
des Buchs. Schade, dass dieses anregende Konglomerat sich selbst zu mehr stilisiert,
als es tatsächlich zu leisten vermag.
Uwe Altrock
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AUTORINNEN UND AUTOREN
Uwe Altrock, Prof. Dr.-Ing., BauAss., Juniorprofessor für Stadterneuerung an der
BTU Cottbus
Robert Beauregard, Ph. D., Architekt und Stadtplaner, Professor an der Milano
Graduate School of Management and Urban Policy, New School for Social Research
Director, Leiter des PhD-Programms Public and Urban Policy, u. a. Autor und Herausgeber von Büchern wie The Urban Moment: Cosmopolitan Essays on the Twentieth Century City, Voices of Decline: The Postwar Fate of U.S Cities und Revitalizing Cities
Søren Buhl, Associate Professor für Mathematik and der Universität Aalborg/
Dänemark, Mitarbeiter des Forschungsprogramms für Verkehrsgroßprojekte,
Schwerpunkt Statistik
Floridea DiCiommo Doktorandin an der Ecole Nationale des Ponts et Chaussées,
Laboratoire Techniques, Territoires et Sociétés LATTS, Paris/Frankreich, Stadtplanerin und Sozialwissenschaftlerin, ehemalige Mitarbeiterin der Provinz Cremona/
Italien und freie Beraterin
Bent Flyvbjerg, Professor für Planung an der Universität Aalborg/Dänemark,
Direktor des Forschungsprogramms für Verkehrsgroßprojekte, Autor von Rationality
and Power und Making Social Science Matter
Simon Güntner, Dipl. Soz.-Wiss. MSc, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut
für Soziologie der TU Berlin, Fachgebiet Stadt- und Regionalsoziologie
Charlotte Halpern, Politikwissenchaftlerin, Doktorandin am Institut d‘Etudes
Politiques de Paris (CEVIPOF), Fachgebiet politische Soziologie und public policy
Jochen Hanisch, Prof. Dr.-Ing., Landschaftsplaner, Gastprofessor für Planungstheorie an der TU Berlin, Inhaber eines freien Landschaftsplanungsbüros
Mette Skamris Holm, Assistant Professor für Planung an der Universität Aalborg/
Dänemark, Forschungsmitarbeiterin des dortigen Forschungsprogramms für Verkehrsgroßprojekte, Schwerpunkt ökonomische Tragfähigkeit von Projekten
Sandra Huning, Dipl.-Ing., Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der TU Berlin, Fachgebiet Stadt- und Regionalsoziologie
Renzo Lecardane, Architekt, Doktorand an der Ecole Nationale des Ponts et
Chausées in Paris/Frankreich, Forschungsschwerpunkt Ausstellungsgroßprojekte
Mega-Projekte und Stadtentwicklung
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Deike Peters, PhD, Master of Urban Planning, Master of International Affairs,
wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Stadt- und Regionalplanung der TU
Berlin
Frank Roost, Dipl.-Ing. Stadt- und Regionalplanung (TU Berlin, Columbia University / New York), seit Oktober 2000 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachgebiet
Planungs- und Architektursoziologie der TU Berlin, Forschungsaufenthalte u.a. am
United Nations Institute for Advanced Studies in Tokyo
Frank Scholles, Dr. rer. hort., Landschafts- und Freiraumplaner, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Landesplanung und Raumforschung der Universität
Hannover, Forschungsschwerpunkte Methoden der Raum- und Umweltplanung,
Umweltverträglichkeitsprüfung, Umwelt- und Planungsinformatik, Nachhaltige Entwicklung, eLearning
Katja Simons, Sozialwissenschaftlerin, seit September 2003 als Projektmanagerin
für den Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) in New York, Promotion an der Ruhr-Universität Bochum, ehemalige wissenschaftliche Mitarbeiterin im
Bereich Stadt- und Regionalsoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin
Wulf Tessin, Prof. Dr., Professor für planungsbezogene Soziologie an der Universität Hannover, Veröffentlichungen zum Verhältnis von Stadt Wolfsburg und Volkswagenwerk und von Büchern wie Faszination Wolfsburg : 1938-2000 und Umsetzung und
Umsetzungsfolgen in der Stadtsanierung
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BISHER ERSCHIENEN:
Ausgabe 01, Winter 2001
Ausgabe 02, Sommer 2001
Ausgabe 03/04, Winter/Frühjahr 2002
(Thema: Berlin nach der Wahl)
Ausgabe 05, Herbst 2002
(Thema: Alternative Mobilität)
Ausgabe 06, Winter 2003
(Thema: Planungssysteme in Europa im Wandel)
Ausgabe 07, Juni 2003
(Thema: Turbulenzen in der Planung)