Der Holocaust
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Der Holocaust
Werbeseite Werbeseite DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN Hausmitteilung 6. September 1999 Betr.: Titel, Dagestan, Brussig D W. BAUER R. OLBINSKI er gebürtige Pole Rafal Olbinski, 54 – einer der weltweit bedeutendsten Illustratoren –, lebt in New York und arbeitet für Magazine wie „Time“, „Newsweek“ oder „New Yorker“. Auch für den SPIEGEL hat der vielfach ausgezeichnete Künstler schon etliche Titelbilder illu- Olbinski striert – das aktuelle Cover ist ebenfalls sein Werk. Surrealist Olbinski führt dabei eine Idee weiter, mit der New York im vergangenen Jahr für die amerikanische „Hauptstadt der Welt“ warb. Nun bekommt New York Konkurrenz: „New Berlin“. Die Anlehnung ist gewollt, hat die deutsche Kapitale doch im 21. Jahrhundert alle Chancen, für Europa das zu werden, was New York für die Neue Welt im ausgehenden Millennium war: eine kreative, pulsierende Metropole, die Menschen – Licht- wie Schattengestalten – aller Kulturen, Religionen und Ethnien anzieht. Noch herrsche in der Stadt eine „reizvoll-unbestimmte“ Atmosphäre, schreibt die Berliner Autorin Tanja Dückers, 30. Aber schon sei „Berlin wieder ganz Deutschland geworden und Deutschland Berlin“, meint Schriftsteller Cees Nooteboom, 66, in seinem Beitrag. Er glaubt, dass der Traum von einem wirklich vereinten Europa erst dann in Erfüllung gehen werde, „wenn diese Stadt, ohne sich vom Fleck zu rühren, weiter in die Mitte Dückers rutscht“ (Seite 33). I n der Kaukasusrepublik Dagestan versuchen russische Verbände, die islamistischen Rebellen militärisch zu vertreiben, und greifen dabei auch muslimisch geprägte Gebiete im Inneren des Landes an. „Anders als es Moskau darstellt, findet die Lehre des Propheten ein breites Fundament in der Bevölkerung“, berichtet SPIEGELRedakteur Christian Neef, 47. Im Ort Karamachi konnte er beobachten, wie nach der Scharia Recht gesprochen wird und religiöse Führer die öffentlichen Aufgaben regeln. Kurz nachdem Neef Karamachi verlassen hatte, bombardierten russische Flugzeuge die Stadt. „Ein für Moskau aussichtsloser Kampf“, urteilt Neef (Seite 180). D as erste Mal traf SPIEGEL-Redakteur Volker Hage, 49, den jungen Schriftsteller Thomas Brussig, 33, im Herbst 1995. Der ostdeutsche Nachwuchsliterat brachte sein Erstlingswerk mit ins „Café Pasternak“ am Berliner Prenzlauer Berg. Es hieß „Wasserfarben“, war kurz nach der Wende unter Pseudonym erschienen und hatte kaum Leser gefunden. Brussig hatte große Pläne: Zu gern, erzählte er damals dem SPIEGEL-Mann, würde er auch Drehbücher schreiben. Vier Jahre später ist Brussig am Ziel: Sein Erfolgsroman „Helden wie wir“ kommt in Kürze ins Kino und auch der Streifen „Sonnenallee“. Für den schrieb er zunächst am Drehbuch, dann folgte der Roman. „Brussig ist eine Art Chronist der untergegangenen DDR“, sagt Hage, „augenzwinkernd nostalgisch und mit einem Faible für skurrile Einfälle“ (Seite 252). Im Internet: www.spiegel.de d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 3 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite In diesem Heft Eine Metropole entsteht: Das neue Berlin Deutschland Panorama: Mini-Entschädigung für Zwangsarbeiter? / CDU-Berichte über Ostbürger .......................... 17 Regierung: Jobs schaffen – aber wie? .............. 22 Außenpolitik: Neue Nähe zu Polen ................ 25 Politiker: Oskar Lafontaine beim Zigarrenhändler................................................ 26 Grüne: Interview mit Fraktionschef Rezzo Schlauch über Rente und grüne Strategien ....... 28 Städte: Wahl-Chaos in Köln ............................ 29 Prozesse: Vor dem Urteil im Balsam-Verfahren ............................ 108 Affären: Wie die Polizei den CSU-Amigo Karlheinz Schreiber schnappte ........................ 112 Hochschulen: Professoren-Gehälter nach Leistung .................................................. 114 AP W. BAUER W. BAUER Hauptstadt: Der neue Regierungssitz wird zur Zukunftswerkstatt......................... 33 Kanzler: Gerhard Schröder in Berlin .......... 44 Essay: Cees Nooteboom über sein verändertes Deutschlandgefühl............ 48 Abgeordnete: Bonn in der Ost-Wirklichkeit .......................................... 54 Literaturtipps............................................. 57 Architektur: Einheitsware und Meisterwerke .............................................. 60 Mitte: Vom Szeneviertel zur Touristenmeile ...................................... 64 Vergangenheit: Die „Hauptstadt der DDR“ lebt................................................... 70 Sprache: Der berüchtigte Schnodderton .... 71 Reichstagskuppel Ost-West: Noch immer verläuft die Grenze in den Köpfen ........................... 74 Kultur: Orientierungshilfe für Neu-Berliner ............................................... 77 Wissenschaft: Innovationen aus Adlershof .................................................... 80 Presse: Der teure Zeitungskrieg ................ 84 Zeitgeschichte: Eine junge Jüdin führt durch die Vergangenheit............ 90 Integration: Die schrille Szene der Jungtürken ............................................ 94 Radio: Ein türkischer Sender in Berlin ...................................................... 95 Denker: Intellektuelle aus dem Osten bleiben unter sich...................... 98 Fußball: Ein Aufsteiger für die Metropole ............................................ 100 Szene: Tanja Dückers über die Berlin-Generation ................................ 102 Szenetipps................................................ 104 Schröder Potsdamer Platz Glücksritter am Neuen Markt Zwei Jahre lang boomte der Neue Markt, die Frankfurter Börse für junge Wachstumsunternehmen – zur Freude aller Beteiligten. Doch nun folgt die Ernüchterung: Viele Unternehmer können ihre vollmundigen Versprechen nicht halten, die Flops häufen sich. Die Glitzerwelt schneller Gewinne lockte auch Glücksritter und zwielichtige Geschäftemacher an, in einigen Fällen ermittelt schon der Staatsanwalt. Der lange Arm der Stasi Seite 154 6 HEGGEMANN / STERN Wirtschaft Trends: Streit um Hypo-Gutachten / Die Schmiergelder der ABB / Rückschlag für Veba-Chef................................ 117 Geld: Chancen mit Blue Chips / Lukrative Fonds fürs Alter............................... 119 Börse: Dubiose Geschäfte am Neuen Markt .... 120 Sozialpolitik: Der CDU-Politiker Gunnar Uldall fordert radikale Reformen ....... 123 Online-Dienste: AOL attackiert T-Online ....... 124 Telefon: Hohe Mieten für alte Apparate ......... 128 Computer: Der Aufstieg des deutschen Software-Unternehmers Marco Börries........... 129 Korruption: Die Gefälligkeiten des BBV-Chefs Schweickert und seiner Freunde ... 130 Seite 120 Ballonflüchtlinge (1979) d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 Vor 20 Jahren düpierten zwei DDR-Familien das SED-Regime: Mit einem Heißluftballon flohen sie in den Westen. Das Spektakel blamierte OstBerlin, Hollywood drehte über die Flucht einen Film. Doch die Stasi rächte sich: Sie schleuste den besten Freund des Ballonpiloten als IM in dessen Firma; die ging kurz darauf Pleite. Eine deutsch-deutsche Tragödie. Medien Indien: Sieg der Nationalisten? Trends: Milliarden für Kirch / Aus für „Mallorca“?........................................ 133 Fernsehen: Mehr Information bei ARD und ZDF / Grimms Märchen als Zeichentrick ........ 134 Deutsche Welle: Krach um die Sparpläne ..... 136 Zeitschriften: Seriöse „Neue Revue“?........... 151 Seite 164 Star-Philosoph Sloterdijk auf Abwegen Gesellschaft Szene: Dessous mit „Wellness“-Effekt / Eine Bar als Transvestiten-Bühne.................... 153 Stasi: Wie sich Ost-Berlin an den Ballonflüchtlingen rächte..................... 154 Adel: Die reitende Prinzessin Haya von Jordanien wirbt für ihr Land ........................... 157 AFP / DPA In Indien, dem bevölkerungsreichsten demokratischen Staat der Welt, wird vier Wochen lang gewählt. Umfragen zufolge liegt der Hindu-Nationalist Vajpayee deutlich vor Sonia Gandhi, der Kandidatin der Kongress-Partei. Nach dem siegreich überstandenen Konflikt mit Pakistan könnte die Parlamentswahl auch über Krieg und Frieden auf dem Subkontinent entscheiden. Anhänger von Premier Vajpayee in Neu-Delhi Seite 268 Peter Sloterdijk verprellt seine Anhänger. In einer skandalösen Rede schwadronierte der prominente Philosoph über genetische „Züchtung“ und vorgeburtliche „Selektion“ zum Wohle der Menschheit. Der einst linke Denker auf rechtem Holzweg? Ausland Panorama: Streit um den Terrorpaten Carlos / Osttimor – Uno-Truppen Gewehr bei Fuß....... 161 Indien: Sieg der Hindu-Nationalisten?............ 164 Venezuela: Zerschlagene Demokratie ............ 170 Europa: Neue Kommissare unter Verdacht...... 172 Russland: Milliarden-Skandal weitet sich aus ................................................. 174 Türkei: Interview mit Staatsminister Mehmet Ali Irtemçelik .................................... 176 Katastrophen: Massenbegräbnis für die Opfer des abgestürzten Swissair-Jets ............... 178 Dagestan: Russlands Krieg gegen die Muslime.. 180 Kosovo: Das deutsche Protektorat.................. 183 Das neue Image der Bundeswehr .................... 190 Spiegel des 20. Jahrhunderts Sturz in den Schlaf Seite 238 P. PLAILLY / SPL / AGENTUR FOCUS Patientin im Schlaflabor Das Jahrhundert des Faschismus: Götz Aly über den Holocaust ...................... 195 Standpunkt: Ralph Giordano über die deutsche Wehrmacht ............................. 207 Tausende Deutsche werden von eigenartigen Attacken geplagt: Mitten im Gespräch oder auch beim Vorspiel zum Geschlechtsverkehr übermannt sie urplötzlich der Schlaf. Auch Napoleon und Hitchcock litten offenbar unter der Plage, die unter dem Namen Narkolepsie bekannt ist. Jetzt haben die Genforscher den Ursprung der Krankheit im Gehirn dingfest gemacht. Milliarden aus dem Holocaust Sport Fußball: Ralf Rangnicks schwierige Mission beim VfB Stuttgart ............................. 208 Olympia: IOC-Reformer Jacques Rogge über Doping und die Samaranch-Nachfolge ............ 214 Wissenschaft + Technik Prisma: Laserpulse gegen Hirntumoren / Giftloser Kampf gegen Insekten ...................... 219 Prisma Computer: Telefonbuch mit Bilddatei / Grafik-Chip für neue Spiele-Welten ................. 220 Umweltschutz: Milliarden zur Sanierung der Emscher .................................... 222 Gentechnik: Intelligente Bio-Labormäuse ..... 230 Tiere: Ein Leben mit Schimpansen ................. 232 Medizin: Die Leiden der Schlafsüchtigen ....... 238 Psychologie: Wozu Geheimnisse?.................. 244 Seite 195 Kultur Ein riesiges Vermögen nahmen die Nazis den Holocaust-Opfern ab: Bargeld, Aktien, Policen und Immobilien im Wert von über 26 Milliarden Reichsmark kamen dem Volk der Täter zugute. Seite 157 Sie trainiert im Stall Schockemöhle und startet auf internationalen Turnieren, um Marketing zu betreiben. Die Springreiterin Prinzessin Haya, Tochter des verstorbenen Königs Hussein, will mit sportlichen Erfolgen Touristen und Investoren auf ihr Land aufmerksam machen: „Jordanien ist ein sehr moderner Staat.“ Haya Bint al-Hussein BONGARTS Die PR-Prinzessin Szene: Traumstart für Reich-Ranickis Memoiren / Neuer Roman von Isabel Allende... 249 Schriftsteller: DDR-Nostalgie mit Witz – Thomas Brussigs „Sonnenallee“-Roman......... 252 Interview mit Brussig...................................... 255 Krimis: Patrícia Melos „Wer lügt gewinnt”...... 258 Bestseller ...................................................... 259 Kino: „Wenn der Nebel sich lichtet“ .............. 260 Musical: Der Pop-Impresario Robert Stigwood und sein „Saturday Night Fever“..... 264 Intellektuelle: Mode-Philosoph Peter Sloterdijk über „Menschenzüchtung“ ...... 268 Ausstellungen: Volker Stelzmann in Leipzig .. 272 Fernsehen: Thriller mit Peter Maffay ............. 276 Briefe ................................................................. 8 Impressum................................................ 14, 280 Leserservice .................................................. 280 Chronik ........................................................... 281 Register ......................................................... 282 Personalien .................................................. 284 Hohlspiegel/Rückspiegel ............................. 286 7 Briefe Jürgen Wittmann aus Mülheim/Ruhr zum Titel „Der LKWahnsinn“ SPIEGEL-Titel 34/1999 Massiv über den Geldbeutel Nr. 34/1999, Titel: Der LKWahnsinn – Unfalltote, Staus, verpestete Luft, zerstörte Straßen; die Republik leidet unter der Landplage Lastwagen Ihr wollt alle versorgt sein! Ihr wollt auf nichts verzichten müssen! Wir sorgen dafür, dass es Euch an nichts fehlt, und wie dankt Ihr es uns??? Unsere Parkplätze werden von Pkw mit und ohne Anhänger zugestellt – wir können keine gesetzlichen Pausen machen! Wir werden lebensgefährlich ausgebremst! Ihr hetzt uns doch von einem Termin zum anderen! Jeder will sein Zeug zuerst. Nichts, was Ihr anhabt, esst, lest, besitzt, womit Ihr spielt, womit Ihr fahrt, wurde nicht irgendwann mal mit einem Lkw transportiert! In jedem Beruf gibt es schwarze Schafe und vermeidbare Unfälle, aber ausgerechnet uns das Leben und die Arbeit derart zur Hölle zu machen ist schlimmer als ein Schlag unter die Gürtellinie! Hammersbach (Hessen) Sandra Zeller Int. Kraftfahrerin Da regen sich Hinz und Kunz darüber auf, dass auf Deutschlands Straßen tausende von Lkw unterwegs sind, aber niemand fragt danach, was die Millionen von Pkw auf der Autobahn zu suchen haben. Röhrmoos (Bayern) Martin v. der Einöde Die Einführung einer Schwerverkehrsabgabe (SVA) in Deutschland hat eine europäische Dimension. Gerade die europäischen Transitländer Deutschland, Schweiz und Österreich werden besonders von der Lkw-Flut überrollt. Deshalb ist dringend politisches Handeln erforderlich. Dies fordert der VCD vehement ein. Bis zur Entscheidung über die Ausgestaltung der deutschen SVA im April nächsten Jahres machen wir Druck auf die Politik. In die Berechnung der Abgabenhöhe müssen nicht nur die Entfernung, sondern auch das zulässige Gesamtgewicht sowie Lärm und Abgas-Emissionen einfließen. Außerdem will der VCD eine Einführung auf allen Straßen, nicht nur auf Autobahnen. Bonn 8 Petra Niß Verkehrsclub Deutschland (VCD) Für einen Kunden in Altenkirchen/Westerwald sollten Acrylplatten geliefert werden. Der Bahnhof Bonn-Beuel liegt knapp 900 Meter vom Produktionsort entfernt. Eine Verladung wäre kein Problem gewesen. Aber die Bahn wollte sich für die Strecke von 90 Kilometern 52 Stunden Zeit lassen. Denn der Güterwagen wäre erst von Bonn-Beuel nach Köln-Gremberg Gbf und von dort nach Au/Sieg gebracht worden. Dort wäre der Güterwagen dann nach Altenkirchen Bf überstellt worden. Der Lkw schaffte dies in drei Stunden inklusive Auf- und Abladen. Der Expressgutversand wird bei der Deutschen Bahn AG per Lkw abgefahren. Die Güterverladung in Bonn-Beuel ist wegen Nichtinanspruchnahme stillgelegt worden. Zukunft Bahn? Bad Honnef Sven-Dirk Kreuz ten gegen die geradezu selbstverständliche, 24-stündige Unmenschlichkeit des Güterverkehrs auf der Straße führen. Beschleunigt werden müsste dieser Prozess noch durch die Erfahrung mit geschwindigkeitsüberschreitenden Lastern, etwa noch beladen mit Gefahrgut, in engsten Ortsdurchfahrten. Wann kommt die Tonnen-Kilometer-abhängige Schwerverkehrsabgabe, wann das europaweite Nachtfahrverbot? Burgwald (Hessen) Prof. Jürgen Rochlitz Verein „Förderg. d. Güterverkehrs a. d. Schiene“ Der Straßengüterverkehr ist lebensnotwendig für eine Exportnation wie Deutschland. Die Einstellung eines großen Teils der Deutschen dazu ist jedoch „typisch deutsch“. Das heißt, der Strom kommt aus der Steckdose, das Wasser aus dem Hahn, und Hauptsache ist, die Regale in den Geschäften sind voll. Egal, wer wie lange und unter welchen Bedingungen dafür zu sorgen hat. Dettenheim (Bad.-Württ.) Thomas Czemmel C. AUGUSTIN „Es ist ein Skandal, dass mit Steuermitteln erbaute angeblich hochmoderne Verladebahnhöfe schon nach einem Jahr wieder geschlossen werden sollen. Nicht immer mehr Straßen und Schienen ist die Devise, sondern die bessere Nutzung der vorhandenen Kapazitäten.“ Lkw-Verkehr in Hamburg: Druck auf die Politik Es ist nur zu hoffen, dass sich Verkehrsminister Müntefering, Bahn-AG-Vorstand und Aufsichtsrat, die Verkehrspolitiker der Bundestagsfraktionen und der ADAC-Vorstand diesen vorzüglichen, exzellent recherchierten Titel zur täglichen Erinnerung an ihre Pinnwand heften. Wahlweise oder zusätzlich bietet unser Verein für diesen Personenkreis einen mindestens einstündigen Aufenthalt in einem von Lkw-Lärm und -erschütterungen gepeinigten Haus an einer Bundesstraße an, die von den Lastern als Ausweichroute für Autobahnstaus benutzt wird. Das Erlebnis von zig Lastern pro Stunde und Ihr Artikel könnten zu ersten Schrit- Trotz der Nachteile des Fernverkehrs ist zugleich jedes zusätzliche Prozent Besteuerung beziehungsweise Verteuerung des Betriebs von Lkw ein weiterer Kostenfaktor für die deutsche Wirtschaft, die mit den ohnehin schon hohen Steuern international kaum mehr wettbewerbsfähig ist. Buenos Aires Johannes P. Faber Während die Speditionen um ihre Kunden kämpfen und bei den Preisen immer etwas Luft ist, beharrt die Bahn auf ihren überteuerten Tarifen. Es fehlt an fähigen Disponenten, die Restkapazitäten vermarkten. Stuttgart Gabriel Habermann Vor 50 Jahren der spiegel vom 8. September 1949 Theodor Heuss wird der erste Bundespräsident Der FDP-Vorsitzende hat sich als „Vater des Grundgesetzes“ einen Namen gemacht. Der frühere Reichstagspräsident Paul Löbe ist der letzte Traditionssozialist Jetzt eröffnet er als Alterspräsident den Deutschen Bundestag. Geheimnis um Molotows Ablösung als Außenminister gelüftet Er stürzte über den Ehrgeiz seiner Frau. Schließung deutscher Schulen in Süddänemark Deutschfeindliche Stimmung in Nord-Schleswig. US-Dollar als führende Währung Britisches Pfund durch Zweiten Weltkrieg ruiniert. Diese Artikel sind im Internet abzurufen unter http://www.spiegel.de Titel: Schauspielerin Hannelore Schroth, Regisseur Akos von Ratony d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Briefe Man sollte einmal den Verkehr für einige Stunden anhalten und die Planen anheben. Das Erstaunen wäre groß: Auf mehr als 50 Prozent der transportierten „Güter“ könnte die Menschheit getrost verzichten. Und ein Großteil vom Rest könnte genauso gut im Zielgebiet selbst hergestellt werden. Klaus Ankenbrand Wenn Autofahrer am Stammtisch darüber lamentieren, dass die von ihnen erbrachte Steuerleistung weit über den von ihnen verursachten Kosten liegt, dann vergessen sie gern, dass die nicht in Euro und Cent quantifizierbaren Kosten (wie Verlust an Lebensqualität oder Verschwendung des öffentlichen Raumes) auch in die Rechnung einbezogen werden müssten. Die richtige Belastung ist erst dann erreicht, wenn es sich nicht mehr lohnt, Büsumer Krabben zum Pulen nach Polen zu karren! Hannover Marc Seidel Ein überfälliger Artikel, denn mehr und mehr ist der Güter- und Personenverkehr über die Straße statt Bahn das große Problem zur Zerstörung unserer Umwelt. Und das nicht nur wegen der menschlich verständlichen Auto-Manie. Denn wir werden über fast alle Unfälle der Bahn informiert, aber nur wenig über Autounfälle.Was fehlt, ist Verdeutlichung und Bewusstmachen, dass der Prozentsatz der Unfälle mit der Bahn weit geringer ist als der auf der Straße. ULLSTEIN BILDERDIENST Dörzbach (Bad.-Württ.) Sat-1-Zentrale in Berlin Hochgradig neurotischer Jugendwahn Nur die Harten komm’n in’n Garten Nr. 34/1999, Karrieren: Privat-TV-Sender profitieren von der Arbeitswut junger Berufseinsteiger Leider erwähnen Sie kaum eine nahe liegende umwelt- und Kosten schonende Alternative, die offenbar in England schon stärker unterstützt wird, nämlich die Binnenschifffahrt. Sie ist für Massengüter aller Art die einzig vertretbare Alternative. Hier wird wunderbar klar und deutlich, mit was für Bonsai-Intellektuellen wir es bei manchen Privatsendern zu tun haben. Und ebenso klar und deutlich wird, dass obige Sender einem Jugendkult und Jugendwahn verfallen sind, den ich nur als hochgradig neurotisch empfinden kann. Nun gut, ich bin Jahrgang ’45 und gehöre, natürlich, nicht jener Zielgruppe an, die sich der größenwahnsinnige „Bureau chief“ Calsow, 29, auf seine Sat-1-Fahne gepappt hat. Aber Achtung und Warnung. Dieses permanente Leben auf der Überholspur der TV- und Online-Junkies da in leitender Position in ihren klimatisierten Studios wird Opfer fordern: Drogen, Tabletten, Alkohol, Depressionen und Ängste werden für viele so genannte jugendliche TV-Macher tägliche Begleiter werden. Einige werden dabei, pardon, draufgehen. Viele Macher und Macker werden einige Betten in einschlägigen psychosomatischen Kliniken voll machen. Und andere, wie angenehm, werden Bio-Bauern in der Toskana. Und wer bleibt übrig? Klar: Nur die Harten komm’n in’n Garten. Hannover Bad Zwischenahn (Nieders.) Selb (Bayern) Prof. Philip Rosenthal Staatssekretär a. D. Keine Fluggesellschaft käme wohl auf die Idee, eine ihrer Maschinen leer zurückfliegen zu lassen. Lkw dagegen transportieren zu 60 bis 70 Prozent doch nur Luft. Nufringen (Bad.-Württ.) Dr. Ernst Selter Dr. Jochen Ohling Europaweit müssen wieder zwei Fahrer auf den Bock! Das bringt tausende neue Jobs und macht die Straßen sicherer; die Verbraucher kostet das nur unerheblich mehr. Wiesbaden Ulrich Hegenberg Ich bemühe mich seit 21 Jahren, als Betriebsrat die Interessen der Lkw-Fahrer zu vertreten, wobei ich die Erfahrung machen musste, dass die größeren Widerstände seitens der Kollegen kamen. Denn das mangelnde rechtliche Wissen, die ausgeprägte Neigung zum Tricksen, gepaart mit fehlender Zivilcourage, der sich selbst bedauernden Kraftfahrer, hat an den Manipulationen und den daraus folgenden gefährlichen Missständen den größten Anteil. Wieselburg (Österreich) 12 Peter Martin d e r H.-D. Schmidt „Die vom Radio sind Schnarcher“, sagt RTL-Moderatorin Claudia Hessel. Woher sie das nimmt, ist mir schleierhaft; gerade beim Radio müssen Moderatoren heute unglaublich viel leisten. Sie sind nämlich nebenbei noch Techniker und müssen ihre Sendungen selbst fahren. Man muss nicht anderer Leute Licht auspusten, um das eigene leuchten zu lassen. Hamburg Ulf Ansorge Sat 1: „17:30 Live aus Hamburg“ Die beschriebenen Praktiken kann ich bestätigen, leider wirken sie sich verheerend auf die journalistische Qualität aus. Im Vorgespräch wird schnell deutlich, dass der Fragesteller das Interview nicht vorbereitet hat, seine Allgemeinbildung eigentlich nur über s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 Lücken verfügt und möglichst jedes Thema auf Sensation getrimmt werden soll. Ein Bekannter hat ein Interview abgebrochen, als die Fragestellerin seinen gängigen Namen auch im dritten Anlauf nicht fehlerfrei mit Titel aussprechen konnte. Ich habe ein „Live“-Interview viermal aufzeichnen müssen, da die Journalistin die Fragen nicht mal vom Teleprompter ablesen konnte. Den Vogel schoss eine Produktionsfirma für RTL ab: „Jetzt brauchen wir noch ein 30-Sekunden-Statement. Bitte sagen Sie ungefähr … Ich überlege mir gleich mal die Frage dazu.“ Hamburg Jörn Müller Pastor, Beauftr. f. Weltanschauungsfragen Unter voller Zustimmung Nr. 33/1999, Panorama: Kroatien Sie zitieren den Haager Ankläger Gregory Kehoe, der behauptet, der Plan für die Vertreibung von Muslimen „wurde von Franjo Tudjman entwickelt“ und General Bla∆kiƒ sei lediglich das „Werkzeug Zagrebs“ bei den Gräueltaten in Bosnien-Herzegowina gewesen. Die kroatische Staatspolitik, geführt von Präsident Tudjman, hat sich am aktivsten an der Schaffung der Föderation Bosnien-Herzegowina beteiligt. Fast die ganze humanitäre Hilfe sowie die Belieferung mit militärischer Ausrüstung zur Verteidigung von Bosnien-Herzegowina, das heißt, zur Erhaltung des kroatischen wie des bosnischen Volkes, wickelte sich unter voller Zustimmung der kroatischen Behörden über das kroatische Territorium ab. Was die Zusammenarbeit mit dem Haager Tribunal betrifft, wird Kroatien die bisherige Ebene trotz großer Bestürzung über das Plädoyer des Anklägers im Fall Bla∆kiƒ erhalten. Kroatien hat das Recht zu erwarten, dass das Tribunal seine Entscheidungen auf Tatsachen begründet und nicht auf Hypothesen und Spekulationen, die den Rahmen des Prozesses sprengen. Bonn Stjepo Bartulica 1. Botschaftssekretär der Republik Kroatien Planvoll bearbeitet Nr. 34/1999, Geologie: Japanische UnterwasserPyramide begeistert die Esoteriker T. MEYER / ACTION PRESS Im Hochland von Peru, oberhalb der Stadt Cuzco, liegt der „Kenko Grande“. Dies ist ein gewaltiger Felsbrocken aus Granit, der von den Ureinwohnern planvoll bearbeitet wurde. Auch dort zeigen die Plateaus Gefälle, auch dort „steht keine Wand im rechten Winkel“. Auch dort enden „Treppen im Nichts, und andere winden sich wie Hühnerleitern“. Der „Kenko Grande“ ist nur eines der Beispiele für unDäniken verständliche Felsbearbeid e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 tungen aus vorgeschichtlicher Zeit. Der Geologe Wichmann würde wohl auch in Peru „nichts Künstliches entdecken“. In doppelter Hinsicht bürgerfeindlich Wie Bilanzposten behandelt Mainz sicht bürgerfeindlich verwendete. Ein Staat, der um die EU-Mitgliedschaft buhlt, darf nicht Menschenrechte und die Sicherheit seiner Bürger wie Bilanzposten behandeln. Nr. 34/1999, Türkei: Die Wut des Volkes nach dem großen Beben Wächtersbach (Hessen) Karl-Heinz Grasselt Tausende Menschen, die unter den Trümmern waren, hätten gerettet werden können, wenn der Staat rechtzeitig reagiert hätte. Die Türkei hat über 800000 Soldaten, und die Hälfte davon hätte sie sofort dort einsetzen können. Sie hat dies nicht getan. Jetzt werden weltweit Spenden gesammelt. Werden sie die Verletzten und Obdachlosen erreichen? Gebt der türkischen Mafia keine Chance. Barbarische städtebauliche Ignoranz Ottobrunn (Bayern) Ismail Sahin Statt Katastrophenvorsorge zu betreiben, war es den Machthabern in Ankara wichtiger, einen teuren Krieg gegen einen Teil der eigenen Bevölkerung kurdischer Abstammung zu führen. Dieser dem Völkerrecht Hohn sprechende ethnische Kampf wurde und wird zum Teil mit Waffen aus Deutschland geführt. Für die alte Bundesregierung war das eine gute Gelegenheit, überflüssige NVA-Waffen zu verramschen. Damit sorgte unsere alte Regierung dafür, dass die mit uns verbündete Türkei einen Großteil ihrer Einnahmen in doppelter Hin- Nr. 34/1999, Panorama: Hauptstadt Kaum zu glauben, was die Amerikaner da vorhaben um die geplante Botschaft herum am Pariser Platz – Betonkübel und Zäune ausgerechnet an der Stelle, an der es schon einmal Beton und Zäune gab. Wie das aussieht, erkennt man am jetzigen Sitz der Botschaft. Grausig, grausig! Abgesehen von der geradezu barbarischen städtebaulichen Ignoranz, ist ihre historische Sensibilität offenbar auf dem Nullpunkt. Dort, wo einst Präsident Reagan das Verschwinden der Mauer gefordert hat, soll wieder ein streng bewachter Sicherheitsbereich mit einer Art Betonmauer entstehen. Berlin Ting Chen In dem Artikel wird ausgeführt: „Bis heute kann niemand erklären, warum Stephen … überhaupt noch lebt“. Diese Ausführung ist mir unverständlich. Hätten Sie etwas recherchiert, hätten Sie festgestellt, dass in der BRD circa einer von 100 000 Menschen an der Muskellähmung Amyotrophische Lateral-Sklerose (ALS) erkrankt. Wie Stephen überleben 10 bis 15 Prozent die ersten drei Jahre und können durchaus mit der Krankheit alt werden. Lübeck Hans-Adolf Fretwurst Wenn die 612 Seiten umfassende „Abrechnung“ der Ex-Frau keine belastenderen Passagen enthält als die erwähnten, dann ist das Buch allerdings eines der besten Leumundszeugnisse, die ein Mann sich nur wünschen kann. Zumal explizit erwähnt wird, dass die Ehe schließlich „über Uwe-M. Troppenz Der Streit um die Sicherheit der US-Botschaft in Berlin ist mir unverständlich. Wenn die Amerikaner den Abriss des Brandenburger Tores und des Hotels Adlon verlangen, dann hat es eben zu geschehen. Den Anordnungen der Besatzungsmacht ist widerspruchslos Folge zu leisten. Mannheim Dr. Edgar Tomson ACTION PRESS Franz Hegele Erdbebenopfer in Adapazari (Türkei) Auch in unserem Jahrhundert hat es nicht an genialen Physikern gefehlt, die ein vorbildliches Eheleben hatten. Zu nennen sind hier der indischstämmige US-Physiker und Nobelpreisträger Subrahmanyan Chandrasekhar, der sich ebenfalls mit Schwarzen Löchern beschäftigt hatte und ein Wegbereiter für Hawking war, der Mitbegründer der Quantenmechanik Niels Bohr und das Physiker-Ehepaar Joliot-Curie. Auch geniale Physiker sind Menschen, haben menschliche Stärken und Schwächen. Auch geniale Physiker sind vom Charakter so vielfältig wie die Menschen, die uns umgeben. L. HILTON / SOLO Dass nicht sein kann, was nicht sein darf, lässt sich auch in Giseh besichtigen: Die Innenflächen des Sarkophags in der Cheopspyramide sind bis in die Ecken ohne sichtoder fühlbare Bearbeitungsspuren, wie rechtwinklig aneinander gefügte Glasplatten, nur aus einem Stück „gehauen“. Ebenso unglaublich präzise gefertigt wurden die Granitquader des großen Tempels. Vielleicht ließe eine mikroskopische Untersuchung der innen liegenden Kontaktflächen dieser Blöcke Rückschlüsse auf ihre Bearbeitung zu und damit auch auf die technischen Fertigkeiten einer „Superzivilisation“, die solches zu Wege brachte. Grasbrunn (Bayern) Nr. 34/1999, Klatsch: Die Ex-Frau des Physik-Genies Stephen Hawking rechnet ab Erich von Däniken AFP / DPA Beatenberg (Schweiz) Auch geniale Physiker sind Menschen Jane Hawking, Ex-Ehemann Stephen Bestes Leumundszeugnis VERANTWORTLICHER REDAKTEUR dieser Ausgabe für Panorama, Außenpolitik, SPD, Politiker, Grüne, Titelgeschichte, Hochschulen: Michael Schmidt-Klingenberg; für Regierung, Trends, Geld, Börse, Sozialpolitik, Online-Dienste, Telefon, Computer, Deutsche Welle, Zeitschriften: Armin Mahler; für Städte, Prozesse, Affären, Korruption, Stasi, Kosovo (S. 190), Chronik: Ulrich Schwarz; für Fernsehen, Szene, Schriftsteller, Krimis, Bestseller, Kino, Musical, Intellektuelle, Ausstellungen: Dr. Mathias Schreiber; für Panorama Ausland, Indien, Venezuela, Europa, Russland, Türkei, Dagestan: Erich Wiedemann; für Katastrophen,Prisma,Umweltschutz,Gentechnik,Tiere,Medizin: Johann Grolle; für Spiegel des 20.Jahrhunderts: Dr.DieterWild; für Fußball,Olympia: Alfred Weinzierl; für die übrigen Beiträge: die Verfasser; für Briefe, Register, Personalien, Hohlspiegel, Rückspiegel: Dr. Manfred Weber; für Titelbild: Stefan Kiefer; für Layout: Rainer Sennewald; für Hausmitteilung: Hans-Ulrich Stoldt; Chef vom Dienst: Thomas Schäfer (sämtlich Brandstwiete 19, 20457 Hamburg) TITELILLUSTRATION: Rafal Olbinski für den SPIEGEL Großer Respekt Nr. 34/1999, Luxus: Prada greift nach Jil Sander Freiburg Meine von Ihnen stark gekürzten Zitate unterschlagen leider den großen Respekt, den ich vor der Leistung meiner Kollegin Jil Sander habe; bedenkt man allein die Tatsache, dass es für unseren Beruf damals keinen Background und keine Vorbildung gab. Erregung und Streitlust waren mir bei meinen Äußerungen Ihren Redakteuren gegenüber völlig fern. Potsdam 14 die Pflege des Schwerkranken zerbricht“ – also nicht an seiner „üblen Tyrannei“. d e r Wolfgang Joop s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 Sascha Lang Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit Anschrift und Telefonnummer – gekürzt zu veröffentlichen. In der Heftmitte befindet sich in einer Teilauflage ein zwölfseitiger Beihefter von C&A, Düsseldorf. In einer Teilauflage klebt ein Prospekt der NKL Werbegemeinschaft Nord, Kiel, sowie eine Postkarte des SPIEGEL-Verlages/Abo, Hamburg, bei. Einer Teilauflage liegen Beilagen der Firmen Gruner + Jahr, Hamburg, sowie der Niedersächsischen Sparkassenstiftung, Hannover, bei. Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Deutschland Panorama Z WA N G S A R B E I T E R Zehn Milliarden oder mehr CDU Berichte für Pieroth E ine clevere Wahlkampf-Idee des früheren Berliner Senators und heutigen Osteuropa-Beauftragten des Regierenden Bürgermeisters, Elmar Pieroth (CDU), droht nun dessen Ansehen im Osten Berlins zu gefährden. Pieroth hatte 1995 sogenannte Wohnzimmergespräche initiiert, bei denen Westpolitiker und Prominente Ost-Berlinern in deren Wohnungen begegnen. Dabei, so das Versprechen, wolle man offen miteinander reden. Inzwischen fanden mehrere hundert solcher Gespräche statt – aus Grün- Pieroth dass sich weitere Betriebe der Stiftung anschließen, damit die Einlage steigt. Die Stiftung rechnet aber damit, dass sich in diesem Fall die Beiträge der einzelnen Unternehmen verringern. Um das drohende Scheitern der Verhandlungen zu verhindern, die auf USSeite der stellvertretende Finanzminister Stuart Eizenstat führt, trifft Bundeskanzler Gerhard Schröder an diesem Montag in Berlin die Vertreter der Industriestiftung. Schröder will mit ihnen klären, wie weitere deutsche Betriebe zu Zahlungen veranlasst werden kön- den der Vertraulichkeit generell ohne Presse. Was die Ost-Berliner, die den Westbesuch einließen, nicht wussten: Für Pieroths Ehefrau Hannelore, die für die Organisation verantwortlich war, fassten die Gäste Berichte über die Begegnungen ab. Die Texte wecken zum Teil böse Erinnerungen an DDR-Zeiten. So schrieb Finanzstaatssekretär Peter Kurth über sein Treffen mit einem Ehepaar aus Berlin-Hellersdorf: Die Frau sei eine „interessante Schlüsselfigur für Hellersdorf“. Sie und ihr Gatte hätten offensichtlich sehr lebhaften Kontakt zur katholischen Kirchengemeinde. „Welche Kontakte gibt es dorthin?“, fragte der d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 AP Zwangsarbeiter in Bremen (1943) DPA ei den Gesprächen über die Entschädigung für ehemalige NS-Zwangsarbeiter droht ein kaum zu lösender Konflikt um die zu zahlenden Summen. Nach Berechnungen des Historikers Lutz Niethammer, der die Bundesregierung berät, müsse von bis zu 875 000 „Bezugsberechtigten“ ausgegangen werden, darunter rund 232 000, die in Konzentrationslagern einsaßen.Würden diese jeweils mit 15 000 Mark und die anderen IndustrieZwangsarbeiter mit 10 000 Mark entschädigt, müsse ein „Gesamtaufwand von 9,922 Milliarden Mark ohne Verwaltungskosten“ einkalkuliert werden. Die amerikanischen Anwälte der Opfer verlangen sogar 30 Milliarden Mark. So viel will die Industrie keinesfalls zahlen: Die 16 deutschen Konzerne, die sich bisher der „Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft“ angeschlossen haben, wollen im Höchstfall drei Milliarden Mark bereitstellen – und damit nach Niethammers Berechnungen pro KZHäftling nur wenige tausend Mark. Dies, so fürchtet der Historiker, würde die „Akzeptanzschwelle vor allem in den Vereinigten Staaten bei weitem verfehlen“. Der VW-Konzern zahlt seinen früheren Zwangsarbeitern 10 000 Mark. Der Verhandlungsführer der Bundesregierung, Otto Graf Lambsdorff, verlangt, STAATSARCHIV BREMEN B Lambsdorff, Eizenstat nen. Zudem soll besprochen werden, wie Bund und Industrie sich die Entschädigungsleistungen aufteilen. Berichterstatter bei Pieroth nach. Es sei um „ein bisschen Rückkopplung“ gegangen, erklärt Pieroth das Berichtswesen. Jeder Westler habe den Auftrag gehabt, herauszufinden, welche OstBerliner zu Wohnzimmergesprächen bereit wären. Einer der Besuchten sieht das nicht so locker: „Das liest sich wie meine Stasi-Akte.“ Zitat »Bundespräsident Roman Herzog hat nicht gesagt, es soll ein Struck durchs Land gehen.« Der grüne Bundestagsabgeordnete Werner Schulz über das Sommertheater des SPD-Fraktionsvorsitzenden Peter Struck 17 Panorama B I O WA F F E N Nicht geimpft V S. SCHULZ / RETRO or wachsenden Risiken durch biologische und chemische Waffen warnt der stellvertretende Chef der Bundeswehr-Sanitätsakademie, Thorsten Sohns. Fortschritte in der Biotechnologie machten es immer leichter, heimlich solche tückischen Substanzen herzustellen. Die Frage sei nicht mehr, „ob“ sie von diktatorischen Regimen, Terroristen oder Verbrechern eingesetzt würden, sondern „wann und wo“. Laut Sohns hat die Bundeswehr zur Abwehr zwar „Konzeptionen aufgeschrieben“, aber im Verteidigungshaushalt Bundeswehrsoldaten bei einer Übung in ABC-Schutzanzügen gebe es nicht einmal einen „eigenen Etatposten“. Besonders bei Friedenseinsätzen fern der Heimat 700 Millionen Dollar zum Schutz vor chemischen und biologisei die Truppe gefährdet, erklärte der Oberst-Arzt bei einer schen Waffen ausgeben. Fachtagung in Bonn: Nach einem Bio-Angriff mit Seuchen- Auch die jugoslawische Armee habe Kampfstoffe produziert. Erregern könnten sich „Epidemien weltweit ausbreiten und Eine „Garantie“, dass „alle sicher unter Verschluss“ lägen, gebe es nicht, so der Wehrmediziner. Daher sei „nicht auszuauch die Zivilbevölkerung bedrohen“. Die Vereinigten Staaten von Amerika wollen ihre Truppen schließen“, dass sie „in die Hände von Bürgerkriegsparteien jetzt gegen Milzbrand impfen lassen und im nächsten Jahr oder Terroristen fallen könnten“. FUSSBALL Plädoyer für Fitmacher A GES nabolika für Berufsfußballer sollten kontrolliert freigegeben werden. Das fordert der Sportmediziner Wilfried Schießler, der seit 1994 die Spieler des 1. FC Nürnberg mit betreut. Profikicker sollen sich nach einer Verletzungspause mit Anabolika in Form bringen dürfen, so Schießler, um wieder den Anschluss an ihr vormaliges Leistungsniveau zu schaffen. Die legalisierte Verabreichung verhindere, dass Kicker während der Rehabilitationsphase auf dem Schwarzmarkt zu vermeintlichen Fitmachern greifen. Denn dort, weiß Schießler, „werden sogar Viehmastmittel gemahlen und in Tablettenform gepresst“. Zu Spielen antreten dürften die Spieler aber erst wieder, wenn sich die Mittel nicht mehr nachweisen lassen. Entfacht wurde die Dopingdiskussion durch den positiven Test des Nürnberger Profis Thomas Ziemer. Der Schützling Schießlers war vier Wochen verletzt gewesen, bevor im ersten Spiel nach der Genesung in seinem Urin anabole Substanzen nachgewiesen wurden. Der Fußballer bestreitet indes, verbotene Mittel genommen zu haben. Ziemer 18 d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 B U N D E S H AU S H A LT Keine Abgabe, keine Vermögensteuer B undesfinanzminister Hans Eichel (SPD) hat trotz des Drängens zahlreicher Linker in der SPD-Bundestagsfraktion nicht vor, eine Abgabe auf Vermögen – etwa auf Haus- und Grundbesitz – einzuführen. „Wir werden das prüfen“, heißt zwar die Linie im Finanzministerium. Aber Eichel lehne, so ein Mitarbeiter, die Abgabe ebenso ab wie die Vermögensteuer. Zunächst hatten die Linken die Steuer gefordert, waren aber am Argument von Eichel und Bundeskanzler Gerhard Schröder gescheitert, diese nutze nur den Länderhaushalten, nicht dem Bund. Außerdem gebe es selbst unter den Ländern keine Mehrheit für die Wiedereinführung der 1997 abgeschafften Steuer. Eine Vermögensabgabe dagegen könnte der Bund allein einführen, allerdings nur unter drei Bedingungen: Sie müsste einen triftigen Grund haben, zeitlich befristet sein, und ihr Aufkommen müsste einer fest umrissenen Gruppe zugute kommen. Die „Gruppennützlichkeit“ hatte das Bundesverfassungsgericht in mehreren Entscheidungen zwingend vorgeschrieben. Deutschland GELDPOLITIK Mark im Kosovo D AFP / DPA ie Deutsche Mark, ohnehin das gängige Zahlungsmittel im Kosovo, ist nun von der Uno faktisch zur Hauptwährung gemacht worden. Vergangenen Freitag führte die Uno-Verwaltung im Kosovo die Mark als Zahlungsmittel für ihre offiziellen Transaktionen ein. Der Wechselkurs zum jugoslawischen Dinar wird fortan durch den freien Markt fest- gelegt und nicht mehr von Belgrad. Auf die deutsche und europäische Geldmengenpolitik hat das nach Meinung von Experten keinen Einfluß: Schon bisher sind große Teile des deutschen Bargeldbestands im Ausland im Umlauf. Allerdings, so sagt ein Mitglied des Frankfurter Zentralbankrats, wäre eine „monetäre Komplettabkopplung“ des Kosovo von Jugoslawien politisch bedeutsam: Die „monetäre Grenze“ könnte als Vorbote einer faktischen Staatsgrenze interpretiert werden – vor allem, wenn die Hauptwährung von der Siegermacht eingeführt werde. Die Serben könnten sich in dem Verdacht bestätigt sehen, die Uno betreibe mit ihrer Geldpolitik die Loslösung des Kosovo. Wie die Kosovaren später ihr deutsches Geld in Euro umtauschen sollen, ist noch unklar: Der Umtausch wird zum 1. Januar 2002 nötig. Wie dann das Bankensystem im Kosovo arbeitet, weiß niemand. „Wir haben schließlich keine Landeszentralbank in Pri∆tina“, so der Bundesbanker. Kosovaren beim D-Mark-Tausch AU S B I L D U N G Große Worte – kleiner Etat M it dem Slogan „Ausbilden werden wir alle“ wirbt die Bundesregierung derzeit in Anzeigenkampagnen um zusätzliche Lehrstellen in der Wirtschaft – und baut währenddessen selbst Ausbildungsplätze ab. Vom kommenden Jahr an will das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, das dem Innenministerium (BMI) untersteht, die Ausbildung Jugendlicher einstellen. Derzeit gibt es 164 Auszubildende in dem Amt. In einem 16-seitigen Brief hatte dessen Präsident Hans Georg Dusch dem BMI dargelegt, dass seine Behörde die geforderten rund 47 Millionen Mark zusätzlicher Einsparungen „nur über Personalabbau“ erbringen könnte. Weil die Mitarbeiter durch Arbeits- und Beamtenrecht geschützt sind, konnte Dusch nur einen konkreten Sparvorschlag in Höhe von 8,8 Millionen Mark bis 2003 machen: keine Lehrstellen mehr. Und das, obwohl sich die Bundesregierung eigentlich dafür ausgesprochen habe, „auch in den öffentlichen Verwaltungen über Bedarf“ auszubilden. Das Innenministerium stimmte zu. Hombach ohne Vertrag B islang arbeitet der Balkan-Koordinator der EU, Bodo Hombach, ohne gültigen Arbeitsvertrag. Die Kommission in Brüssel zögert mit der Vorlage eines Angebots. Ex-Kanzleramtschef Hombach will sich deshalb in dieser Woche zu einem Gespräch mit dem designierten Kommissionspräsidenten Romano Prodi treffen. Streit gibt es beiHombach spielsweise um seinen d e r Brüsseler Amtssitz. Mitte September will das Europäische Parlament über einen Antrag abstimmen, wonach Hombachs Amtssitz nicht in Brüssel, sondern im griechischen Thessaloniki liegen soll. Diesen Ort hatten sich die Griechen ausbedungen, als Bundeskanzler Gerhard Schröder die Zusage für den Koordinatorenjob Hombachs in Südosteuropa erhielt. Im Auswärtigen Ausschuss des EU-Parlaments wird sich der neue Balkan-Beauftragte am 22. September einem Hearing stellen. s p i e g e l REUTERS E U R O PA 3 6 / 1 9 9 9 19 Panorama Deutschland Am Rande Witze leben von Vorurteilen, zum Beispiel dieser hier: Was ist der Unterschied zwischen einem Türken und einem Sachsen? Ganz einfach: Der Türke hat Arbeit und kann Deutsch. Gegen Präjudizien muss man kämpfen, und da steht dem Lande Sachsen ein schwerer Kampf bevor. Die Einwohner des Freistaats sind nämlich gleich zweifach stigmatisiert: Sie sind – schlimm genug – Ossis, und sie pflegen eine Sprache, die nur erträglich ist, wenn sie von einem Gebärdendolmetscher vorgetragen wird. Soweit die Vorurteile. Nun zur Gegenstrategie: Eine Initiative „Sachsen für Sachsen“ hat in einer Anzeigenkampagne als „Argumente für den Standort Sachsen“ bis zu 176 Bürger abgebildet und je ein Sprüchlein aufsagen lassen – was wohl authentisch wirken soll, in Wahrheit aber so aussieht wie ein Plakat vom Suchdienst des Roten Kreuzes. Außerdem sagen die Bürger nur mäßig kluge Sätze – was zwar womöglich authentisch ist, aber im Sinne der Standortwerbung eher kontraproduktiv. In der „FAZ“ gibt es etwa das Statement eines Mannes aus Brockwitz: „Sachsen, wo die schönen Mädchen wachsen“, sagt er. Das wäre ein akzeptabler Werbespruch gewesen, hätte der Mann nicht angefügt: „Seit Jahren suche ich die Bäume ab, ohne Erfolg, aber es hält mich auf Trab.“ Daraus lernt der Nicht-Sachse folgendes: a) Es gibt keine schönen Frauen in Sachsen; b) Sachsen wollen immer nur das Eine; c) Sachsen wohnen auf Bäumen – oder wahlweise d) Sachsen glauben, dass Sachsen auf Bäumen wohnen. Wer, bitte, hat hier Vorurteile? 20 K.-D. FRANCKE / BILDERBERG Schönes Vorurteil Island-Pferde Z O L L FA H N D U N G Weit unter Marktpreis M ehr als 1000 Besitzer von importierten Island-Pferden sind bundesweit ins Visier der Zollfahndung geraten. Ihnen wird Betrug und Steuerhinterziehung vorgeworfen. Sie sollen die Kleinpferde zu einem Scheinwert von etwa 1000 Mark gekauft und die fälligen Abgaben – 18 Prozent Einfuhrzoll und 7 Prozent Mehrwertsteuer – lediglich auf diese Summe gezahlt haben. Tatsächlich liegt der Marktpreis der Rasse-Tiere jedoch zwischen 5000 und 250 000 Mark. P I E TÄT Bahn sprengt Gruft Die Differenz, vermuten die Ermittler, sei jeweils schwarz geflossen. Der Steuerkasse entgingen so mehrere Millionen Mark. Die vermutlichen Drahtzieher, ein Spediteur aus Nienburg/Weser und ein isländischer Kaufmann, sollen die Rechnungen gefälscht und so die Zollbehörden bei der Einfuhr der Tiere getäuscht haben. Neben Abgabenhinterziehung ermittelt der Zoll auch wegen Geldwäsche. So soll ein norddeutscher Gastronom durch den Kauf der Tiere zum offiziellen Scheinwert und den späteren Verkauf zum tatsächlichen Wert sein Schwarzgeld „gewaschen“ haben. könne durch die Arbeiten gestört werden. Die Bahn hatte den Kritikern stets versichert, es gebe keinen Grund für solche Befürchtungen. B eim Bau der neuen ICE-Strecke Köln–Rhein/Main ist der Bahn eine makabre Panne unterlaufen: Während der Bohrungen für einen Tunnel unter dem Friedhof in Sankt Augustin bei Bonn schoss plötzlich aus einem Grab Bohrflüssigkeit mit Hochdruck nach oben und übergoss rund 20 weitere Gruften mit Betonitschlamm. Das verwüstete Grab gehört ausgerechnet dem verstorbenen Kirchenvorstands-Vize Andreas Schmitz – einst Wortführer gegen die umstrittene Untertunnelung von Gotteshaus und Friedhof. Vor seinem Tod Anfang 1998 hatte sich Schmitz mit der Unterstützung des Bistums Köln im Planfeststellungsverfahren entschieden für eine andere Tunnel-Trasse ausgesprochen. Der Sankt Augustiner Ehrenbürger hatte sich unter anderem gesorgt, die Totenruhe d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 Nachgefragt Wenig exponiert Welches internationale Großereignis findet im Jahr 2000 in Hannover statt? Angaben in Prozent GESAMT Männer Frauen richtige Antwort „Expo 2000“ 51 61 42 falsche Antwort 7 7 6 weiß nicht 41 30 52 Emnid-Umfrage für den SPIEGEL vom 31. August und 1. September; rund 1000 Befragte; an 100 fehlende Prozent: ist mir egal Werbeseite Werbeseite Deutschland REGIERUNG Raus aus der Jobfalle Die von der Koalition versprochene Wende auf dem Arbeitsmarkt ist bisher ausgeblieben – und sie wird auch weiter auf sich warten lassen. Namhafte Ökonomen mahnen deshalb dringend Reformen an, das Sparen allein schaffe noch keine neuen Arbeitsplätze. H ARIS einer Flassbeck, ehedem Staatssekretär und ökonomischer Vordenker Oskar Lafontaines, sieht seit dem Abgang seines Mentors in der deutschen Wirtschaftspolitik nur noch die Kräfte des Bösen am Werk. Bundeskanzler Gerhard Schröder und sein neuer Kassenwart Hans Eichel praktizierten einen neoliberalen Kurs so radikal wie sonst nirgendwo auf der Welt. „Deren ganzes Programm besteht doch nur aus Sparen, Sparen, Sparen“, schimpft der stets um die Nachfrage bangende Privatgelehrte. Das eigentliche Ziel der Wirtschaftspolitik habe die Bundesregierung dabei völlig aus den Augen verloren: „Von der Beseitigung der Arbeitslosigkeit redet niemand mehr.“ Ähnlich kritisch fällt das Urteil der Opposition aus. „Die haben ihr angeblich wichtigstes Ziel, die Arbeits- Kanzler Schröder mit Arbeiterinnen*: „Dann haben wir es nicht verdient, wieder gewählt zu werden“ losigkeit zu senken, komplett verdrängt“, höhnt Wolfgang Schäuble, der über den Umweg niedriger Steuern und publik wurden, hatten sich die GewerkPartei- und Fraktionschef der Union. Und Sozialversicherungsbeiträge die Unter- schaften geweigert, darüber zu diskutieren. Der eigene Anspruch ist hoch. Am Abein Beamter aus dem Kanzleramt bekennt: nehmen und Arbeitnehmer auch entlastet, „In unseren internen Debatten spielt das werde erst in ein, zwei Jahren die lahmen- bau der Arbeitslosigkeit wolle er sich mesde Jobmaschine der Deutschland AG in sen lassen, hatte der Wahlkämpfer Schröganze Thema längst keine Rolle mehr.“ Der Kampf gegen das Übel der Massen- Gang bringen. Und so fürchten die Exper- der versprochen. „Wenn wir in vier Jahren arbeitslosigkeit hat derzeit keine rechte ten, dass das eigentliche Ziel des Kanzlers, die Arbeitslosigkeit nicht wirklich signifiKonjunktur. Seit Monaten wird das Regie- nämlich mehr Jobs zu schaffen, beim ver- kant zurückgeführt haben, dann haben wir rungshandeln bestimmt von den immer balen Schlagabtausch ums Sparen zuse- es nicht verdient, wieder gewählt zu werden.“ Schröders damaliger Mitregent Lagleichen Themen: vom eisenharten Kon- hends in den Hintergrund gerät. Vor allem Schröders Prestigeobjekt, das fontaine legte sogar noch einen drauf: solidierungskurs des Finanzministers, vom öffentlichen Zank um die Rente oder die Bündnis für Arbeit, dümpelt ziemlich ori- „Nach vier Jahren muss eine zwei vor dem entierungslos vor sich hin. Erst in einigen Komma stehen“, kündigte der damalige Kürzungen bei der Bundeswehr. Dass Eichel, anders als sein Vorgänger Wochen soll die Spitzenrunde wieder ta- Parteivorsitzende an. Weniger als drei MilLafontaine, den Haushalt sanieren will, gen. Noch immer sind dutzende Beamte, lionen Arbeitslose soll es demnach im Jahbringt dem korrekten Kassenwart zwar Wirtschaftsvertreter und Gewerkschafter re 2002 geben. Doch zum Besseren gewendet hat sich auch manches Lob aus der skeptischen in neun Arbeitsgruppen dabei, sich auf eine Ökonomenzunft ein; selbst die regierungs- Problemanalyse für den maladen Arbeits- bislang wenig, im Gegenteil. Seit einem kritische „Frankfurter Allgemeine“ adelte markt zu einigen. Derweil verschwanden halben Jahr steigen die Arbeitslosenzahlen, vergangene Woche den eisernen Hans für die Pläne des Kanzleramts für einen sub- wenn man sie von allen jahreszeitlichen sein 30-Milliarden-Paket: „Als Bettvorle- ventionierten Niedriglohnsektor wieder in Einflüssen bereinigt, wieder stetig an (sieder Schublade. Weil die Details vorher he Grafik). Erst bremsten die Spätfolgen ger gesprungen, als Tiger gelandet.“ der Asienkrise den Export, dann irritierte Doch Sparen allein, so mahnen die Auguren in den Forschungsinstituten, genüge * Beim Besuch der Eko Stahl AG Eisenhüttenstadt am das nervige Gezerre um Steuerreform und 630-Mark-Jobs die Investoren. auf Dauer nicht. Denn der Sparkurs, der Mittwoch vergangener Woche. 22 d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 Dezember 4,15 Oktober 1998 November 4,12 4,12 Juni Juli 4,12 4,12 Mai 4,11 April Januar 1999 März 4,08 4,08 4,09 F. R O G N E R / N E T Z H A U T ; W. M . W E B E R /A R G U S 4,08 Februar Ziel verfehlt Arbeitslose seit der Bundestagswahl in Millionen; saisonbereinigt Angaben gerundet Deshalb kann Bernhard Jagoda vorerst keine Entwarnung nach Berlin melden. Wenn er diese Woche die neuesten Zahlen aus Nürnberg vorlegt, werden erneut rund 4,03 Millionen Menschen ohne Arbeit sein, genauso viele wie im Juli. Der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit wird wahrscheinlich von einer „Seitwärtsbewegung“ sprechen, saisonbereinigt wird die Zahl sogar wieder steigen. Die trübe Lage ficht Schröder vorerst nicht an. Trotz anhaltender Beschäftigungsflaute ging er in der vergangenen Woche bei seiner ersten Pressekonferenz in Berlin in die Offensive. Im Vergleich zum Vorjahr werde die durchschnittliche Arbeitslosenzahl 1999 um 200 000 Personen sinken, stellte er in Aussicht: „Wir werden in der zweiten Hälfte dieses Jahres ein Wachstum haben, das uns insgesamt über das Jahr gesehen eher an 2 Prozent als an 1,6 Prozent heranbringen wird, was wir zu Beginn des Jahres prognostiziert hatten“, so der Bundeskanzler zuversichtlich. Noch besser sehe es im nächsten Jahr aus. Wirtschaftsfreund Schröder lässt sich mitreißen vom Optimismus der Deutschen Bank. Deren Frankfurter Ökonomen sagen für das Jahr 2000 ein Wirtschaftswachstum von drei Prozent voraus. „Die Stimmung ist ins Positive gekippt“, glaubt Ulrich Beckmann, Chef der bankeigenen Konjunkturforschung. Alle Welt sei dabei, die Prognosen nach oben zu korrigieren. Doch während die Banker in Optimismus machen, bleiben die Experten der Regierung skeptisch. Derzeit sprächen politische Gründe dafür, die Wachstumsprognose der Bundesregierung für 1999 aufrechtzuerhalten, heißt es in einem internen Vermerk des Bundeswirtschaftsministeriums. Es dürfte schwierig werden, überhaupt 1,6 Prozent zu erreichen, geschweige denn die vom Kanzler prophezeiten 2 Prozent. „Bereits ein Jahresdurchschnittswert von 1,3 Prozent setzt eine spürbare Belebung im weiteren Verlauf dieses Jahres voraus“, schreiben die Beamten von Wirtschaftsminister Werner Müller. Erst im kommenden Jahr werde sich die Konjunktur wirklich beschleunigen. Die d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 Müller-Beamten machen dabei zwei Szenarien auf: Wächst die Wirtschaft im Jahr 2000 um 2,4 Prozent, werde die Arbeitslosigkeit erstmals seit 1996 wieder unter die Vier-Millionen-Marke rutschen, auf durchschnittlich 3,91 Millionen. Doch liege auch „ein günstigeres Ergebnis in der Größenordnung von drei Prozent durchaus im Bereich des Möglichen“. Dies könnte „zu einer weiteren Reduktion der Arbeitslosigkeit um rund 50 000 führen“. Allerdings mahnen Müllers Experten zur Vorsicht: „Da sehr viel davon abhängt, dass die erwartete Entwicklung im 2. Halbjahr 1999 tatsächlich eintritt, ist es für öffentliche Ankündigungen noch zu früh.“ Auch der Rückgang der Arbeitslosigkeit in diesem Jahr, den der Kanzler fröhlich vermarktet, hat wenig mit dem „Paradigmenwechsel“ (Schröder) in der Politik zu tun. Dass die Arbeitslosenzahl in diesem Jahr um 200 000 zurückgeht, ist nicht viel mehr als eine optische Täuschung. „Der einzige Grund dafür ist das Schrumpfen des Erwerbspersonenpotenzials um 200000 Personen“, weiß Joachim Scheide, Kon23 Deutschland U. BAATZ doch solch ein Boom muss, wie das Vorbild USA anzeigt, sehr lange anhalten, damit sich Erfolge auf dem Arbeitsmarkt zeigen. Der strikte Sparkurs, der den Kapitalmarkt entlastet und so die Zinsen für Investitionen niedrig hält, kann dazu einen Beitrag leisten. Einen zusätzlichen Schub soll, so hofft Schröder, die versprochene Unternehmensteuerreform 2001 bringen. Egal wie, beide Varianten sind mit Einschnitten in Besitzstände verbunden. Der Protest der Betroffenen ist programmiert: Arbeitsminister Walter Riester erlebt dies gerade exemplarisch bei seinen Bemühungen, das Rentensystem zu reformieren. „Es ist das Dilemma einer solchen beschäftigungsfördernden Politik, dass die Belastungen sofort als schmerzlich empfunden werden, die Erfolge sich aber erst nach einigen Jahren herausstellen“, merkt Rüdiger Pohl, Präsident des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH), an. Die Regierung Schröder habe mit ihrer Entscheidung, die Reformen der alten Koalition zurückzunehmen, gleich zu Anfang die falschen Signale gesetzt, meint der frühere Wirtschaftsweise, den die Gewerkschaften Mitte der achtziger Jahre in den Sachverständigenrat entsandten. Erst in jüngster Zeit sei die Regierung mit dem Sparpaket auf dem richtigen Weg. Sie habe aber versäumt, der Öffentlichkeit klarzumachen, dass die Konsolidierung der Staatsfinanzen eine Voraussetzung auch für den Aufschwung am Arbeitsmarkt sei. Ganz ungewohnte Anerkennung wird Schröder und seinem Sanierer Eichel erstmals auch aus Washington zuteil. In seinem noch unveröffentlichten „World Economic Outlook“, der Prognose für die Weltwirtschaft, lobt der Internationale Währungsfonds (IWF) das Sparpaket der Bundesregierung. Das Ziel eines ausgeglichenen Haushalts, das Eichel für das Jahr 2006 anstrebt, findet ausdrückliche Unterstützung. Zwar seien auch die von der Bundesregierung angestrebten Reformen des Steuer- und Sozialsystems notwendig, um die Arbeitslosigkeit zu senken, heißt es da. Getan sei es damit aber noch lange nicht. Vor allem müsse die Regierung die Reform des Arbeitsmarkts angehen, mahnen die IWF-Ökonomen. Dazu gehörten Änderungen bei der Arbeitslosenunterstützung, beim Kündigungsschutz und beim Tarifverhandlungs-System. Diese Maßnahmen seien „längst überfällig“, so der Bericht. Die Empfehlungen zur Flexibilisierung des Arbeitsmarkts seien im umstrittenen Schröder-Blair-Papier zumindest angedeutet, findet IWH-Präsident Pohl. Für den Kanzler und seine Mannschaft gelte jetzt das Motto: „Nun macht doch mal.“ Arbeitsminister Riester: Erst Einschnitte, dann Erfolge? junkturexperte am Kieler Institut für Weltwirtschaft. Der sperrige Fachbegriff beschreibt eine Folge der alternden Gesellschaft: Immer mehr Erwerbstätige oder Arbeitslose verlassen den Arbeitsmarkt, weil sie das Rentenalter erreichen, immer weniger Junge rücken nach. Dieses Phänomen werde sich auch in den kommenden Jahren fortsetzen, sagt Scheide voraus. Bis zum Jahr 2002 könnte die registrierte Arbeitslosigkeit allein durch diesen Effekt auf 3,5 Millionen Personen sinken. „Das sieht dann natürlich eindrucksvoll aus“, sagt Scheide, „passiert wäre aber gar nichts.“ Deshalb sollten Politiker und Bevölkerung nicht allein auf die Arbeitslosenstatistik starren, empfehlen Wissenschaftler. Viel aussagekräftiger sei die Entwicklung der Beschäftigung – doch auch die schwächelt. Deshalb wollen Schröder und Eichel, trotz aller Sparzwänge, nun die Mittel für ABM-Kräfte auf sechs Milliarden Mark aufstocken. Das soll einen Schub am zweiten Arbeitsmarkt bringen, vor allem auch in Ostdeutschland; dort hatte Helmut Kohl die Fördergelder passend zur Wahl kräftig angehoben, im Haushalt 1999 dagegen wollte Finanzminister Theo Waigel den Posten wieder zusammenstreichen. Gleichwohl muss die Regierung auf einen außergewöhnlichen Wirtschaftsboom hoffen, damit mehr Jobs entstehen. Erst ab einem Plus von merklich über zwei Prozent schaffen deutsche Unternehmen neue Arbeitsplätze. In Ländern mit flexibleren Arbeitsmärkten, zum Beispiel in Holland und den USA, liegt diese Schwelle deutlich niedriger (siehe Tabelle). Dass der Jobmotor in Deutschland spät anspringt, hat nach Ansicht konservativer 24 Ökonomen vor allem mit den hohen Löhnen und dem unflexiblen Arbeitsmarkt zu tun. Als Beispiele nennen sie etwa den stark reglementierten Ladenschluss. Oder auch den verschärften Kündigungsschutz: Bevor die Bosse bei steigender Auftragslage neue Leute einstellten, so lautet das Argument, ließen sie lieber die vorhandene Belegschaft Überstunden machen. Aus der Jobfalle gibt es für die Regierung deshalb nur zwei Auswege: π Zum einen kann Schröders Truppe versuchen, das Wirtschaftswachstum jobintensiver zu machen. Dazu müsste der Arbeitsmarkt flexibler werden. Auch das starre Tarifrecht müsste durchforstet und durchlässiger werden. In letzter Konsequenz bedeutet dies, dass Betriebsrat und Firmenleitung ganz legal aus dem Flächentarifvertrag aussteigen können und vor Ort die Löhne aushandeln. π Zum anderen könnte der Kanzler auf ein gewaltiges Wachstumsplus bauen – Wachstum und Arbeitsplätze Was bringt ein Prozent Wirtschaftswachstum jährlich für den Zu- und Abnahme Arbeitsmarkt? der Erwerbstätigen Basis: 1990 bis 1997, Quelle: OECD Niederlande USA Österreich Dänemark Großbritannien Frankreich Deutschland Italien d e r s p i e g e l +0,68% +0,54% +0,18% +0,08% –0,04% –0,09% –0,18% –0,60% 3 6 / 1 9 9 9 Christian Reiermann, Ulrich Schäfer AU S S E N P O L I T I K Ein latenter Verdacht Sechzig Jahre nach dem deutschen Überfall auf Polen werben Bundespräsident Rau, Bundeskanzler Schröder und Außenminister Fischer um gute Nachbarschaft. Viele Menschen in beiden Ländern bleiben misstrauisch. A. VOELKEL / MELDEPRESS F ast wirkte es schon alltäglich. Zum zweiten Mal in einer Woche schüttelte der polnische Präsident Aleksander Kwaśniewski demonstrativ herzhaft die Hand eines Staatsgastes aus der Bundesrepublik und sprach ihn in einer Mischung aus Polnisch und Deutsch an: „Ich möchte Sie auch mit ,Guten Tag‘ begrüßen“, sagte er, „und damit meine ich auch ,Vielen Dank‘.“ Zwei Tage bevor der deutsche Regierungschef Gerhard Schröder am Freitag vergangener Woche in Warschau eintraf, hatte Kwaśniewski mit nahezu identischem Zeremoniell Bundespräsident Johannes Rau in Polen empfangen. Am 1. September, 60 Jahre nach dem deutschen Überfall auf Polen und dem Beginn des Zweiten Weltkriegs, kam der Pole dem deutschen Präsidenten mit ausgestreckter Hand auf der Friedensbrücke zwischen Frankfurt an der Oder und Slubice entgegen. Das Händedrücken wollte kaum enden. Vierhändig – mit den Ehefrauen – an der Oder, zweihändig noch einmal in Danzig. Die Gesten, so banal sie als Fernsehroutine wirken mochten, waren von zielgerichteter Symbolik. Als Kwaśniewski auf der Westerplatte die Rechte des Deutschen ergriff, mutete es wie eine Kopie der Versöhnung über den Gräbern von Verdun an, wo sich 1984 der französische Präsident François Mitterrand und Kanzler Helmut Kohl bei den Händen gefasst hatten. Als erster deutscher Präsident war Rau zur nationalen Gedenkfeier der Polen auf die Westerplatte geladen, wo am 1. September 1939 die ersten deutschen Granaten, abgefeuert vom Kriegsschiff „Schleswig-Holstein“, einschlugen. „Das war keine Floskel“, sagte der polnische Präsident später über die Begrüßungsworte, „darin sollte sich das Wesen unserer Beziehungen ausdrücken.“ Zum ersten Mal in der Geschichte stünden heute Polen und Deutsche als Verbündete „Schulter an Schulter“. Kwaśniewski: „Und ich bin stolz, Freunde sagen zu können.“ Die Parallele war gewollt. Wie die deutsch-französische Freundschaft gehöre auch die deutsch-polnische zu den Fundamenten jener Politik der guten Nachbarschaft, die auch von Berlin aus die Außenpolitik bestimmen werde, sagte Rau. Präsidenten Rau, Kwaśniewski in Frankfurt (Oder)*: Stolz auf die Freundschaft Warschau, seit März Mitglied in der Nato, will nun so bald wie möglich Mitglied in der EU sein. Sieben von zehn Aufnahmekriterien haben die Polen schon erfüllt, 2002 wollen sie „beitrittsfähig“ (Kwaśniewski) sein. Die politische Dramaturgie der deutschpolnischen Woche war in Berlin sorgsam entwickelt und mit den Polen einvernehmlich abgestimmt worden. Rau deckte mit seinem Besuch der Westerplatte den düsteren Part der Beziehung ab. Noch zehn Jahre zuvor waren viele der ersten Opfer des Nazi-Überfalles zu einer derart versöhnlichen Geste nicht in der Lage gewesen. Damals hatte der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Johannes Rau in Warschau gesagt: „Es gibt noch viel Hass, und es gibt noch viel Bitterkeit in den Herzen der Menschen.“ Damals musste er noch beteuern: „Wir stellen keine Gebietsansprüche, wir rühren nicht die Trommeln des Vorbehalts.“ Inzwischen haben Raus Vorgänger Richard von Weizsäcker und Roman Herzog * Mit Ehefrauen Christina und Jolanta. d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 so viel Vertrauensarbeit geleistet, dass der neue Präsident sich „stärker auf die Zukunft konzentrieren“ kann. Bundeskanzler Gerhard Schröder, der Berliner Außenpolitik im „aufgeklärten Eigeninteresse“ Deutschlands betreiben möchte, dämpfte vergangenen Freitag in einer Diskussion mit Studenten in der neuen Warschauer Universitätsbibliothek jedoch die Hoffnungen, dass der Nachbar bald in die EU aufgenommen werden kann: „Es wird wesentlich an den Polen selbst liegen, ob sie ihr Wunschziel schaffen.“ Eine Terminzusage gab Schröder nicht: „Alle Diskussionen um ein Zieldatum bringen zur Zeit überhaupt nichts.“ Polens Wirtschaftsminister Janusz Steinhoff sieht das ganz anders: „Wir erwarten den Beitritt für das Jahr 2003“, sagt er im SPIEGEL-Interview (siehe Seite 161). Im Vergleich zu Schröder ist Außenminister Joschka Fischer den Beitrittswünschen um einiges gewogener. Beim Treffen mit seinem polnischen Kollegen Bronislaw Geremek und Frankreichs Hubert Védrine in Weimar vergangene Woche gab er die staatsmännische Formel aus: „Das Ver25 Deutschland sagt Schröders außenpolitischer Berater Michael Steiner, „da nimmt die Zustimmung ab.“ In der deutschen Bevölkerung gab es andererseits schon immer Vorbehalte gegen den EU-Beitritt Polens. Für manche Deutsche hört die Zivilisation an der OderNeiße-Grenze auf. Der Untergang des Abendlandes scheint ihnen nahe, wenn sie sich vorstellen, künftig mit dem Land der Schwarzen Madonna und der Autodiebe Währung und Arbeitsplätze teilen zu müssen. Mit der Öffnung der Grenze fürchten sie den massenhaften Zustrom billiger Arbeitskräfte aus dem slawischen Kulturkreis. Kanzler Schröder gilt in Polen als nüchterner Sachwalter deutscher Interessen, der keine Geschenke Richtung Osten verteilt. Viele empfanden es als Zurückweisung, dass Schröder als EU-Ratspräsident gebremst hatte: Vor der Ost-Erweiterung der Union müsse Europa erst einmal „seine Hausaufgaben machen“. Der Besuch des Kanzlers sollte dem nächsten Nachbarn des neuen deutschen Regierungssitzes zeigen, dass Schröder durchaus ein Freund der Polen ist. Doch manchmal klappte es mit der freundschaftlichen Herzlichkeit noch nicht ganz. Nach der Diskussion mit den Studenten ergriff Regierungschef Jerzy Buzek die Gelegenheit zu einer Geste und erklärte dem Deutschen: „I am Jerzy.“ Der verdutzte Schröder begriff nicht auf Anhieb, streckte dem Polen dann jedoch umso heftiger seine Hand entgegen: „I am Gerd“, willigte er ein, „but we don’t kiss.“ POLITIKER Das Gespenst der SPD Oskar Lafontaine amtierte als Festredner auf einem „GenussSymposium“, bei Zigarren und Wein: Rückkehr in die Politik oder PR für sein neues Buch? E DPA hältnis zu Polen kann nur noch im europäischen Kontext gedacht werden.“ Dabei ist der Deutsche offenbar in Gedanken schon eine Etappe weiter: „Ich muss von meinen Beamten gelegentlich daran erinnert werden, dass Polen noch gar kein EUMitglied ist.“ So weit ist es noch lange nicht. Derzeit wächst in Polen die Skepsis gegenüber einem EU-Beitritt. Nur etwa die Hälfte der Bürger ist dafür – mit weiter fallender Tendenz, wie polnische Meinungsforscher glauben. Die Beitrittsskeptiker fürchten eine neue deutsche Gefahr: Die verlockende Mitgliedschaft in der EU sei womöglich nichts weiter als eine Falle der Deutschen. Der polnische Intellektuelle Kazimierz Wóycicki sieht bei seinen Landsleuten „eine latente Verdachtsstruktur gegen Deutsche“ wirken. Winkten nicht am Straßenrand in Danzig auffällig viele betagte Deutsche ihrem Präsidenten zu? Viele von denen, argwöhnten die Polen, halten nach ihren ehemaligen Immobilien Ausschau. Die Angst geht um, dass deutsche Vertriebene mit dem polnischen EUBeitritt einen Rechtsanspruch auf Rückga- Deutscher Überfall auf Polen 1939: „Es gibt noch viel Hass“ 26 GAMMA / STUDIO X be ihres ehemaligen Besitzes in Polen erlangen könnten. Joschka Fischer nennt solche Absichten und Forderungen zwar „anachronistisch und absurd“, aber die „Aufrechnungsgelüste“ kennt er sehr wohl. 40 000 Formulare für „Eigentumsvorbehalte“ will allein der rechtsradikale Duisburger „Bund für Gesamtdeutschland“ in einer breit angelegten Kampagne an Vertriebene verteilt haben. Reiche Deutsche, so gehen die Angstszenarien weiter, könnten nach einem EUBeitritt in großem Umfang Land, Häuser und Unternehmen aufkaufen und so große Teile Polens zurückerobern – auf zeitgemäß kapitalistische Weise. Dass ein möglicher EU-Beitritt nicht jedem Vorteile bringt, schwant ohnehin den meisten Polen. Das Erklimmen der westeuropäischen Standards bedeutet zwangsläufig den Bruch mit traditioneller und sozialistisch fundierter Wirtschaftsweise. „Jetzt sehen die Leute, dass sie keinesfalls ein Paradies umsonst bekommen“, Jürgen Hogrefe, Jürgen Leinemann Mitterrand und Kohl in Verdun 1984 Versöhnung über den Gräbern d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 s ist ihm peinlich, ganz klar. Mit säuerlichem Grinsen stapfte er in den Festsaal des Züricher Edelhotels Dolder, erleichtert, dass nur zwei Fernsehteams und zwei Fotografen seinen Auftritt für die Ewigkeit festhalten. Vor ein paar Monaten noch verkehrte Oskar Lafontaine auf Weltwirtschaftskonferenzen, jetzt lässt sich der Politpensionär als Unterhaltungskünstler vom Geldadel beschäftigen. Die Sponsoren des „Dolder GenussSymposiums“, Firmen wie Mövenpick, Crossair oder die Brauerei Feldschlösschen, haben sich für eine Menge Geld einen besonderen Spaß gegönnt und jenen Mann als Redner engagiert, den sie fürchteten, bis er im März plötzlich aus seinen Ämtern als Finanzminister und SPD-Chef geflohen ist. Motto der gequälten Veranstaltung am Freitag vergangener Woche: „In einer Welt, in der alle materiellen Werte schon da sind, ist es eine gute Zeit für Impulse zu einer echten Genusskultur in Politik und Wirtschaft.“ Da juchzt der Arbeiterführer. Immerhin kann der Politflüchtling schon mal fühlen, was ihm eine Zukunft als Vortragsreisender bringen könnte. Derzeit wird er noch in der Genscher-Klasse, bei etwa 30 000 Mark, gehandelt. Aber bleibt der Marktwert auch in Zukunft stabil, wenn Lafontaine gemeinsam mit Eppler oder Bahr wie die alten Herren aus der Muppet-Show vom hohen Balkon pestet? Jetzt sitzt Lafontaine, dunkelgrauer Anzug, weißes Hemd, tiefblaue Krawatte mit roten Tupfen, leibhaftig in der ersten Reihe und lässt erst mal eine Reihe von Referaten, darunter den Vortrag des Verlegers und Veranstalters Daniel Eggli, über sich ergehen. Der mollige Mann aus Winterthur gibt die Fresspostille „Salz & Pfeffer“ heraus und findet es witzig, dass er „märssi“ schreibt, wenn er „danke“ meint. So dröge Eggli als Vortragender ist, so brillant ist er als Marketingmensch. „Wir haben Champagner getrunken wie die Kälber“, berichtete er, nachdem der einstige deutsche Finanzminister seine Zusage als Festredner gegeben hatte. Warum nur halten es die Schweizer für Genuss, zum Preis von 460 Franken in ei- M. DARCHINGER M. LIMINA / KEYSTONE PRESS ZÜRICH beitslosigkeit nicht dem flexiblen „hire and fire“ verdanken, sondern der Geld-, Haushalts- und Finanzpolitik. Die vergleicht der Weltökonom mit „drei Pedalen, mit denen man Gas geben und bremsen kann. In Europa neigt man zum Sparen, hier tritt man auf die Bremse“. Die Amerikaner aber, behauptet er kühn und ohne Quelle, senkten „die Zinsen für Kurzfristkredite auf null Prozent, gleichzeitig verschuldeten sich die USA um 4,6 Prozent“. Die deutschen Stabilitätswächter mit ihrer Hochzins- und Sparpolitik bräuchten sich, „wie die Zahl 4711, nur zwei Ziffern merken: 0 und 4,6“. Und dann aufs Gaspedal treten. Nach dieser kleinen Nachhilfe für die Bundesregierung Festredner Lafontaine, Veranstalter Eggli: Champagner getrunken wie die Kälber aber fehlt es an der richtigen Spitze. Einmal nimmt er sich nem unterkühlten Raum mehr oder weniseinen alten Rivalen Schröger gelungenen Referaten zu lauschen, der vor, ohne ihn jedoch zu während es draußen umsonst Ruhe und nennen: „Mein großes TheSpätsommersonne gibt? ma ist die Bekämpfung der Das Publikum nämlich ist entzückt ob Arbeitslosigkeit. Ich bin des Nervenkitzels. Verstohlen gucken die überzeugt, dass das nicht das 130 Gäste immer wieder zu dem rundliAnliegen eines jeden ist. Es chen Saarländer, den das britische Masgibt Menschen, die ihr eigesenblatt „Sun“ vor gar nicht so langer Zeit nes Interesse verfolgen, die noch zum „gefährlichsten Mann Europas“ dieses Problem nie beschäfernannt hatte. Ein Schwätzchen gönnt der tigt hat.“ teure Gast dem Publikum aber nicht mal in Wenig später ist Hans Tietder Pause. meyer an der Reihe, bis zur Während sich die Teilnehmer auf die vergangenen Woche Chef Gratis-Zigarren im Foyer stürzen, hastet Autor Lafontaine, Ehefrau Christa: Hysterie geschürt? der Bundesbank: „Neulich Lafontaine die Treppe empor. Oben plauIn der vergangenen Woche versprach hat sich bei seinem Abschied einer gebrüsdert er mit einem seiner beiden Bodyguards. Der Ökonom weiß, dass er nicht sein ehemaliger Staatssekretär Claus Noé tet, dass in seiner Amtszeit der Geldwert übermäßig präsent sein darf. Mangel treibt in der „Zeit“, dass sich der Yesterday Hero sehr stabil geblieben sei. Über die Entdie Neugier hoch und damit vielleicht die alsbald wieder in die deutsche Politik ein- wicklung der Arbeitslosigkeit hat er nichts gesagt.“ Auflage seines drohenden Erinnerungs- mischen werde. Richtig lebhaft wird Lafontaine bei den Ist der Auftritt im provozierenden Ambandes. Einer, hat der Ex-Politiker schon mal streuen lassen, werde vom Buch nicht biente von teuren Zigarren und Weinen viel- Zockern an der Börse, „die immer nur auf leicht ein Signal an die einstigen Freunde Erwartungen setzen, aber nicht auf reale begeistert sein. Der Lektor? Lafontaine ist das Schlossgespenst der auf der Linken – Schröder hat doch Recht? Daten“. So ähnlich verhält es sich allerEndlich ist es Zeit für seinen Auftritt. dings auch mit Buchautoren, von denen SPD. Er genießt das Spiel mit der Angst, die die Genossen umtreibt. In vier Wochen er- Poltergeist Oskar rasselt mit den Ketten. die Erwartungen der Leserschaft gekitzelt scheint „Das Herz schlägt links“, und der Die Zähne gebleckt, strebt er zurück in werden, bevor sie tatsächlich Geschriebealte Populist schürt die Hysterie so plan- den Saal. Artig posiert er vor dem „Möven- nes liefern. Seinen nur 40 Minuten währenpick“-Logo, dann kommt schon die erste den Vortrag – die Minute also zu 750 Mark mäßig wie die Macher von „Godzilla“. – schließt der Redner mit den Worten: „Ich Der Fotograf Konrad Müller, der aus sei- Überraschung. Frührentner Lafontaine, der monatlich weiß nicht, ob ich Ihren Erwartungen genem Fundus ein Bild für das Cover stellte, mußte schriftlich zusichern, dass er kein 15724 Mark Pension aus Steuergeldern kas- recht geworden bin.“ Offenbar schon, denn dem Publikum Detail über den Einband verrate – andern- siert, gibt bekannt, dass er sein Honorar der Stiftung seiner Frau Christa Müller fällt nicht mal ein halbes Dutzend Fragen falls drohe ihm eine Konventionalstrafe. Vor zwei Wochen hatte Lafontaine be- spendet, welche die Genitalbeschneidung ein. Die einzig spannende („Wie bewerten reits vor 400 Gästen der DG Bank in Ber- afrikanischer Frauen bekämpft. Applaus. Sie die Sparpolitik Ihres Nachfolgers“) belin für 20 000 Mark referiert, Vorfreude auf Dann droht der Referent zum wohligen antwortet der Finanzexperte a. D. nur sein Schriftwerk weckend. Im Oktober Schaudern der Zuhörer, dass er „nicht die knapp: „Sie sind ja ein ganz Schlauer.“ Dann zieht sich Lafontaine wieder zum Buch-Herbst tritt er reihenweise im gängige Meinung herunterbeten will“. Doch darauf folgt nur ein endloser Ex- zurück in die Präsidentensuite – Preis: 2000 Fernsehen auf – Sabine Christiansen, Rupkurs, warum die USA ihre niedrige Ar- Franken pro Nacht. recht Esers „Halb 12“, „Boulevard Bio“. Hajo Schumacher d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 27 Deutschland GRÜNE „Schwarz-Grün ist illusionär“ Der Grünen-Fraktionsvorsitzende Rezzo Schlauch über Rentensenkungen und grüne Strategien Schlauch: Diese Diskussion ist nachvollziehbar.Aber in der Sache ist sie völlig überzogen. Wir können nicht nur die heutigen Rentner im Auge haben und die nachfolgenden Generationen vergessen. Das ganze System gerät dann in Gefahr.Was das Sparpaket angeht: Es wäre viel unsozialer, wenn wir den Verschuldungskurs fortsetzen würden. Wir wollen neue Gestaltungsspielräume für eine aktive Sozialpolitik eröffnen. M. URBAN SPIEGEL: Herr Schlauch, die Grünen stiften Verwirrung mit neuen Rentenkonzepten – obwohl der Kanzler Kurshalten befiehlt. Schlauch: Auch der Kanzler weiß, dass die mäßige Rentenerhöhung für die nächsten zwei Jahre nur der erste Schritt sein kann. Spätestens im Herbst geht es um den nächsten, da wird Walter Riester uns brauchen. SPIEGEL: Und dann wird der SPD-Arbeitsminister sich an die Grünen erinnern? Fraktionssprecher Schlauch: „Wir müssen sparen und nicht Steuern erhöhen“ Schlauch: Riester wollte ja ursprünglich eine obligatorische private Vorsorge. Das ist jetzt vom Tisch. Wir wollen private Altersvorsorge durch steuerliche Anreize fördern. Ich gehe davon aus, dass zumindest Elemente von uns in dem neuen Konzept enthalten sein werden. SPIEGEL: Die Expertin der Grünen Katrin Göring-Eckardt nennt eine Absenkung des Rentenniveaus von 70 auf 65 Prozent der Nettolöhne als Zielgröße. Wie passt eine solche Radikalkur mit den Vorstellungen der Sozialdemokraten zusammen? Schlauch: Wir wollen glaubwürdig bleiben, deshalb! Immer weniger Beitragszahler müssen für immer mehr Rentner aufkommen. Ohne umfassende Strukturreformen ist das nicht zu machen. SPIEGEL: Ihre Rentenanpassung und die große Sparaktion passen schlecht zur Gerechtigkeitsdebatte in der SPD. 28 SPIEGEL: Sind die Grünen unempfindlich geworden für soziale Ungerechtigkeit? Schlauch: Wieso ist denn die Politik der Regierung sozial ungerecht? Wir haben die kleinen und mittleren Einkommen durch die Steuerreform entlastet, das Kindergeld erhöht, 100 000 Arbeitsplätze für Jugendliche geschaffen. Wir haben die Zuzahlungen für Medikamente im Gesundheitswesen zurückgeführt. Die aktive Arbeitsmarktpolitik, insbesondere auch für die neuen Bundesländer, haben wir nicht wie die alte Regierung zurück-, sondern hochgefahren. SPIEGEL: Rot-Grün hat die Abgabenlast für Unternehmen gesenkt und will auch die Unternehmensteuer noch senken. Als Ausgleich fordern einige Sozialdemokraten die Wiedereinführung der Vermögensteuer, eine Vermögensabgabe oder eine höhere Erbschaftsteuer. Für Letzteres ist auch Ihre Vorstandssprecherin Antje Radcke. d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 Schlauch: Vermögensteuer und Vermögensabgabe werden als Zauberinstrumente gehandelt, aber der Ertrag steht in keinem Verhältnis zum Aufwand, den man betreiben muss, um sie zu erheben. Und außerdem: Wir müssen sparen und nicht Steuern erhöhen. SPIEGEL: Wie erklären Sie denn die Diskussion darüber? Schlauch: Ich glaube, das ist ein Ersatz für die längst fällige Debatte über die Grundlinien der SPD. SPIEGEL: Bei den Grünen ist ein klares Profil auch nicht zu erkennen. Schlauch: Meinen Sie. Unser Profil ist klar. Wir sind die Partei der Generationengerechtigkeit in der Umwelt-, Sozial- und Finanzpolitik. SPIEGEL: Auf einem Strategietreffen hat der Grünen-Vordenker Ralf Fücks unlängst erklärt, es gebe kein Rechts-links-Schema mehr, sondern nur noch sozialdemokratische und ökolibertäre Grüne. Wo ist für Sie der Standort der Partei? Schlauch: Ich kann mich nach keinem dieser Etiketten einordnen. Sie sind nicht sehr sinnvoll auf dem Weg einer Selbstbestimmung. Verschiedene Strömungen aber gibt es in jeder Partei, sonst gibt es keine Entwicklung. SPIEGEL: Gerade in der Doppelspitze von Partei und Fraktion sind die Strömungen immer noch verankert. Wie lange noch? Schlauch: Die anderen Parteien haben auch Doppelspitzen, bei der Union in Person von Herrn Schäuble und Herrn Stoiber. SPIEGEL: Könnten Sie sich auch einen der jungen Nachwuchskräfte an der Parteispitze vorstellen, zumal wenn Gunda Röstel nach verlorenen Wahlen in Sachsen das Handtuch werfen muss? Schlauch: Mit Verlaub! Gunda Röstel ist nach Kurt Biedenkopf die bekannteste Politikerin in Sachsen. Sie macht einen guten Wahlkampf. Es wäre deshalb töricht, sie für die Schwierigkeiten unserer Partei im Osten insgesamt verantwortlich zu machen. Dass junge Leute kommen, die uns alten Säcken das Revier streitig machen, finde ich gut. SPIEGEL: Gehört zur neuen Identitätsfindung Ihrer Partei vielleicht auch die Perspektive einer schwarz-grünen Koalition? Schlauch: Ich verfolge die Entwicklung der Union genau. Die Reformer sind auf dem Rückmarsch in die Bedeutungslosigkeit. Spärliche Ansätze zur Modernisierung werden in dem schwarzen Koloss alle erdrückt. Schwarz-Grün halte ich zum jetzigen Zeitpunkt für vollkommen illusionär. SPIEGEL: Sie bleiben lieber in der babylonischen Gefangenschaft der SPD? Schlauch: Ich fühle mich nicht als Gefangener, trotz aller Schwierigkeiten mit dem Partner.Aber ich kann auch nicht verstehen, dass die Sozialdemokraten, die in Köln ihren Oberbürgermeisterkandidaten verloren haben, nicht beherzt für die grüne Kandidatin werben. Rot-Grün ist keine Einbahnstraße. Interview: Paul Lersch, Hajo Schumacher S TÄ D T E Auf der Titanic Nach dem Debakel des OBKandidaten der SPD herrscht in Köln politisches Chaos – nun darf eine Grüne auf rote Stimmen hoffen. KRACKHARDT / KÖLNER EXPRESS G Heugel-Plakat H. SACHS / VERSION enerationen lang hatte zu Köln am Rhein die Allgemeine Lebensregel Nummer eins Bestand: „Et hätt noch immer jot jejange.“ Doch nun ist er da, der Fall der Fälle: In Deutschlands viertgrößter Stadt herrscht das blanke Chaos. Am Sonntag sind in Nordrhein-Westfalen Kommunalwahlen, und auf den Stimmzetteln für die 714000 wahlberechtigten Kölner Bürger wird der Name des Sozialdemokraten Klaus Heugel, 63, ganz obenan stehen, obwohl der Kandidat für das Amt des Oberbürgermeisters zurückgetreten ist. Ein folgenschwerer Schritt: Genossen prügeln Genossen, Christdemokraten fabulieren nach Jahrzehnten erzwungener Enthaltsamkeit über die absolute Mehrheit, selbst die grüne OB-Prätendentin hat plötzlich Siegeschancen – im rheinischen Dreieck von Kirche, Karneval und Kommerz ein eigentlich unvorstellbarer Gedanke. Kölner Wirren anno 1999. Noch am vorvergangenen Wochenende, nach seiner Beichte über verbotene Insidergeschäfte und dem damit verbundenen Gewinn von knapp 15000 Mark (SPIEGEL 35/1999), hatte Heugel den Macher markiert – trotz staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen, trotz Hausdurchsuchung. Er bleibe Spitzenkandidat, „das ist gar keine Frage“. Während die Kölner SPD-Führung zunächst schützend an Heugels Seite stand, machte sich bei den sozialdemokratischen Landesherren in Düsseldorf Entsetzen breit. Stündlich wuchs der Druck – bis sich Heugel bereit erklärte, „alle Aktivitäten als Direktkandidat einzustellen“. Laut NRW-Kommunalwahlgesetz dürfen Kandidaten, wenn die Frist verstrichen ist, nicht ausgetauscht werden. Es sei denn, der Bewerber stürbe oder würde in dieser Zeit rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr verurteilt. So entfaltete Heugels Rückzug politische, aber keine rechtliche Wirkung: Er kann und wird am Sonntag Stimmen bekommen; rund 20 000 sollen ihn per Briefwahl bereits gewählt haben. Der unverhofft zum aussichtsreichsten Anwärter avancierte CDU-Mann Harry Blum, 54, genießt derweil, milde lächelnd, den ungewohnten Rummel um seine Person. Im Kölner Senats-Hotel posierte er mit einem neuen Werbeplakat, das Heugels Aktienaffäre persifliert – Slogan: „Der Kurs von Köln muss wieder steigen“. Grüne Lütkes Kölner OB-Kandidaten „Et kütt, wie et kütt“ Das Reden überließ er lieber seinem umfänglichen Hofstaat aus Abgesandten der Kölner und nordrhein-westfälischen CDU-Spitze. Während Blum ein Rosinenküchlein knabberte, referierten die Mitglieder seiner Entourage, der Fall Heugel sei nur „die Spitze des Eisbergs“ gewesen. Und aufs Stichwort präsentierte der Kandidat eine Papptafel mit dem passenden Werbespruch „Die Spitze ist weg, der Eisberg nicht“. Plakate von Blum-Kontrahent Heugel werden indessen mit Bananen verziert – als liege Köln in der gleichnamigen Republik. d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 Kandidatin Nummer drei, die bis zur Heugel-Demission chancenlose grüne Juristin Anne Lütkes, 51, frohlockt derweil über die „irre neue Situation“. Erstmals in der Republik könnte eine Grüne vielleicht sogar die Regentschaft einer Millionenstadt übernehmen. Das „Mehrheitspotential“ sei „völlig orientierungslos“, sagt Lütkes und schwenkt ein Kölsch-Glas mit der Aufschrift: „Voll dabei“. Nach Heugels Verzicht ging die Anwältin Lütkes mit sich selbst ins Gericht. Prüfend stellte sie die Frage, ob bei ihr nicht auch „noch ’ne Leiche im Keller“ sei. Bei der Gewissenserforschung fielen ihr zwei Prozesse ein, die sie gegen Mieter ihrer Wohnungen geführt hatte. Einmal habe ein Mieter ausziehen müssen, weil ihre Mutter in das „unheimlich schöne Haus“ einziehen wollte. Im anderen Fall sei für ihre Schwägerin Platz gemacht worden. Der Mieter habe wohl „um eine Abfindung gepokert“, erinnert sich Lütkes. Beide Male kam es zum Vergleich. Auch sei sie wegen angeblicher Urkundenfälschung angezeigt worden. Vielleicht macht sie sich zu viele Gedanken – denn ohne SPD-Unterstützung ist das OB-Amt für die Grüne trotz des Heugel-Debakels noch in weiter Ferne. Die Kölner SPD hat den Bürgern vorerst nur empfohlen, wen sie nicht wählen sollen – ihren Heugel. Offen hat sich bislang allein der Kölner SPD-Regierungspräsident Franz-Josef Antwerpes dafür ausgesprochen, nun bei der Grünen das Kreuz zu machen. Die Kritik, die er dafür auch von Parteifreunden bezog, sei ihm „scheißegal“, verkündete der für seine pralle Sprache berühmte Rheinländer. Ohne ein sozialdemokratisches Votum für Lütkes, lästert der grüne NRW-Bauminister Michael Vesper, steuere die Kölner SPD auf „Titanic-Kurs“. In Stuttgart sei vor drei Jahren ein blasser Unionsmann Oberbürgermeister geworden, nur weil die Sozialdemokraten sich zierten, den Grünen Rezzo Schlauch zu unterstützen. „Wir stellen ihnen ein Rettungsboot zur Verfügung“, spottet Vesper, „aber sie wollen lieber Musik hören – bis zum Untergang.“ Schafft am 12. September kein OB-Kandidat in Köln die absolute Mehrheit, kommt es 14 Tage später zur Stichwahl unter den beiden Bestplatzierten. Sollte Heugel darunter sein, müsste auch er wohl oder übel in die zweite Runde. Falls er dabei die meisten Stimmen bekommen sollte, wird er die Wahl nicht annehmen. Das zumindest hat sein Kölner Parteichef versprochen. Dann müsste der Stadtrat eines seiner Mitglieder wählen – vielleicht sogar einen Sozialdemokraten. In diesem Fall träte zu Köln die Allgemeine Lebensregel Nummer zwei in Kraft: „Et kütt, wie et kütt“, in freier Übersetzung: Gewisse Wege sind unergründlich. Georg Bönisch, Barbara Schmid, Andrea Stuppe 29 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Das Deutschlandgefühl P. ADENIS / G.A.F.F. Wird Regieren anders, wenn in dieser Woche die Abgeordneten aus Bonn im Reichstag ihre Arbeit beginnen? Von der hektisch-kreativen Baustelle der Nation könnte eine neue Aufbruchstimmung ausgehen. Reichstag, Brandenburger Tor INHALT W. BAUER Die neue Zukunftswerkstatt . . . . . . . . . 34 Stadtplan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 Gerhard Schröder in Berlin . . . . . . . . . . 44 Cees Nooteboom über sein verändertes Deutschlandgefühl . . . . . . . . . . . . . . . 48 Bonner in der Ost-Wirklichkeit . . . . . . . . 54 Literaturtipps . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Meister-Bauwerke und Einheitsware . . . 60 Szene und Touristen in Berlin-Mitte . . . . 64 Die Hauptstadt der DDR lebt . . . . . . . . 70 Der berüchtigte Schnodderton . . . . . . . 71 Die Grenze in den Köpfen. . . . . . . . . . . 74 Orientierungshilfe für Neu-Berliner . . . . . 77 Innovationen aus Adlershof . . . . . . . . . 80 Der teure Zeitungskrieg . . . . . . . . . . . . 84 Eine junge Jüdin und die Vergangenheit . 90 Die schrille Szene der Jungtürken . . . . . 94 Ein türkischer Sender in Berlin . . . . . . . 95 Ost-Intellektuelle bleiben unter sich . . . 98 Der Aufsteiger-Club Hertha BSC . . . . . 100 Tanja Dückers über die Berlin-Generation 102 Szenetipps . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Besucher in der Reichstagskuppel d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 33 Metropole Labor der Zukunft Bonn ist in Berlin angekommen. Noch wissen die Zuzügler nicht recht, wie sie mit der quirligen, unberechenbaren Metropole leben sollen. Sicher aber ist: Die neue alte Hauptstadt ist die Werkstatt, in der schon heftig am Deutschland des 21. Jahrhunderts gebastelt wird. eit nach Mitternacht ist es plötzlich so weit: Berlin ist im Netz. Musik, aufgelegt von DJs im Club „Maria am Ostbahnhof“, ist samt Bildern weltweit im Internet zu hören und zu sehen. Vielleicht lauscht und guckt jetzt gerade ein Team von Aktien-Analysten an der Wall Street, eine Horde neureicher indischer Kids aus Bangalore oder ein einsamer australischer Surfer auf der Homepage „betalounge.com“, was in dem Berliner Club abgeht. Die Tüftler der Nacht heißen Ian Raikow, 32, und Ole Lütjens, 32. Dank einer von ihnen entwickelten Hard-and-Software-Technik können nun Freaks in aller Welt, wenn sie denn wollen, den Klängen vom „Ostbahnhof“ lauschen. Solche Neuerungen sind es, die Berlin zu einer der aufregendsten Städte der Welt machen werden. In der alten, neuen deutschen Haupt- REUTERS W stadt versammelt sich, was man bislang nur in den USA vermutete: Ideen, Hightech, Tempo und manchmal sogar Geld. Da „basteln Gründer an Entwürfen für die Märkte von morgen und die Techniken von übermorgen“, schwärmt Bundeskanzler Gerhard Schröder über die Helden der Hinterhöfe. So wünschen sich Wirtschaft und Regierungschef den deutschen Nachwuchs: kreativ, international und immer vorn – Symbolfiguren der Berliner Republik. Raikow und Lütjens haben eine Firma mit Sitz in Hamburg und San Francisco. Aber nirgendwo finden sie so gute Voraussetzungen für ihre Kreativität wie im quirligen Berlin. Hier, sagt Lütjens, „triffst du im Moment die meisten verrückten Kreativen“. Und darauf sind seine Bekannten aus dem Silicon Valley neidisch. Sie halten Berlin für den „hippsten“ Ort der Welt. Das neue Berlin. Der große Ideologienkampf des 20. Jahrhunderts, zwischen Ka- 34 d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 pitalismus und Kommunismus, der hier so schroff und direkt wie nirgends sonst ausgetragen wurde, ist vorbei. Die Stadt ist so plötzlich aus der lähmenden Vergangenheit erwacht, als hätte sie ein Medien-Prinz geküsst. Überall wird an der Zukunft gebastelt. Neue Hauptstadt, neue Regierung, neues Jahrtausend und jeden Tag eine neue Umleitung – in einem Kreis von fünf Kilometern rund ums Brandenburger Tor sucht man vergebens nach Deutschlands trübstem Markenzeichen, dem Stillstand. Wo sonst Skepsis herrscht, ist hier Aufbruch, wo sonst Lähmung lastet, blüht der Spaß am Neuen, vor allem aber die Lust am Tempo. Die 669 Abgeordneten des Deutschen Bundestages, die Plenarsaal im Reichstag sich in dieser Woche zur ersUnbestimmtes ten regulären Arbeitssitzung in Berlin versammeln, mögen Gefühl von sich noch ängstigen über den Aufbruch W. BAUER Täglich bis zu 60 000 BundesUmzug ins Ungewohnte, den Ver- Inlineskater bürger standen in der vorverganlust der Bonner Heimeligkeit. Un- vor dem sicher und ungewiss gucken sie Brandenburger genen Woche geduldig vor dem Reichstag Schlange, um das Parlasich um, was das Neue wohl bringt. Tor ment zu besichtigen. Bis spät in Eine klare Richtung hat die Der hippste Ort die Nacht schraubte sich, kilo neue Zentrale nicht, aber gewiss der Welt meterweit sichtbar, eine endlose ist: Hier beginnt eine Zukunft. Veränderung ist vorerst die einzige Kon- Prozession aufwärts durch die strahlend stante. Vielleicht ergreift die positive Stim- helle Kuppel des Reichstagsgebäudes, das mung der Hauptstadt, aus der nach Mei- seit der Erbauung 1894 „Dem Deutschen nung Restdeutschlands bislang nie Gutes Volke“ gewidmet ist. Immer ringsherum um den gewaltigen bespiegelten Zapfen kam, noch die ganze Republik. Die Neugier auf das Neue ist da – dieses zog es die Menschen in die Spitze der ganz andere Deutschlandgefühl. Als woll- Macht, bis ganz oben. In Berlin können die Deutschen ihren ten sich die Bürger im Spiegel ihrer Metropole ein Bild verschaffen von sich selbst, Volksvertretern aufs Dach steigen. Das und strömen sie in diesem Sommer in Scharen der Blick auf die historischen Stätten und herbei und inspizieren ihre Kanzleramts- die gigantischen Baustellen in der Umgebaustelle, ihr Bundespräsidenten-Oval und bung verdichten sich zu einem unbedas Sonntagsshopping am Potsdamer Platz. stimmten Gefühl von Aufbruch und Stolz. Schon jetzt ist die Kuppel im SpreeIst das auch wirklich alles echt, was zu Haubogen zum Symbol der Berliner Republik se über ihre Bildschirme flimmert? d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 geworden. Wenn die ach so stabile Deutsche Mark der Inbegriff des Wirtschaftswunderlandes war, dann könnte die transparente Aufwärtsspirale der neuen Hauptstadt Signal sein für das vereinigte Deutschland und seine Suche nach Zukunft. Wer vom Reichstag über Berlin blickt, bekommt die volle Dosis Metropole. Vor ihm breitet sich – vom Pariser Platz am Brandenburger Tor, dem künftigen Holocaust-Mahnmal und dem Ehrenmal des russischen Soldaten bis zur Siegessäule und der fernen Gedächtniskirche – nicht nur das Panorama der unheilvollen deutschen Geschichte aus. Der Berlin-Besucher sieht auch – vom Potsdamer und Leipziger Platz im Süden, auf dem Areal des Lehrter Bahnhofs in nördlicher Nachbarschaft, am Alexanderplatz im Osten und am Bahnhof Zoo im Westen – eine neue Skyline heranwachsen. Nahezu wö35 W. BAUER 36 d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 konnte wohl nicht anders sein. Das war nicht mehr sein Berlin. Dieser aufgekratzten Stadt gehörte die Zukunft, einer Generation, die er nicht verstand und die in ihm weniger einen Politiker als einen altmodischen Onkel sah. Tränenden Auges hatte der mächtige CDU-Kanzler in der Nacht zum 3. Oktober W. BAUER chentlich verändert sich derzeit TV-Aufnahmen war nie ein populäres Gebäude, nicht im preußischen und nicht im die Silhouette der Stadt. vor dem Weimarer Berlin. Zwar galt die Die Nachbarn aus Warschau Reichstag* Ruine der Roten Armee 1945 noch und Prag werden dieses Berlin, das Jagd nach als die eigentliche Siegestrophäe natürlich immer auch Synonym für der exklusiven bei der Niederringung des HitlerPreußen, Hitler, Ulbricht und den Topstory Regimes, doch im geteilten Berlin Kalten Krieg bleibt, kaum wieder erkennen. Die Stadt, vom deutschen Dog- der Nachkriegszeit staubte der in den sechma der Planbarkeit scheinbar wundersam ziger Jahren rigoros renovierte Bau unemanzipiert, erzeugt pausenlos neue und mittelbar westlich der Mauer vor sich hin. Bis Christo und Jeanne-Claude kamen. außerordentliche Gefühlswallungen. Nicht, dass der alte Glanz zurückgekehrt Wenn es – nach dem Fall der Mauer – eiwäre, wie es sich die Berliner seit Jahr und nen Moment gab, an dem sich das träge Tag von ihren Leierkastenspielern vordu- alte, in seine Vergangenheit verstrickte deln lassen. Die einst größte Industriestadt Berlin in eine Stätte der Hoffnung verDeutschlands ist nahezu vollständig ge- wandelte, dann waren es diese Sommerschleift. Die Banken bleiben in Frankfurt. wochen 1995. Gegen den Willen von BunFast jeder sechste Berliner ist arbeitslos. Der deskanzler Helmut Kohl, aber mit ZuHaushalt ist ruiniert und das politische Per- stimmung der Mehrheit des Bonner Bunsonal ohne Flair. Und trotzdem: „Berlin liebt destages verwandelten die Aktionskünstler den zum Umbau vorbereiteten Reichstag dich!“, singt das örtliche Trio „Surrogat“. Das neue Berlin ist vor allem ein Le- mit 100 000 Quadratmetern Silberstoff in bensgefühl. Die deutsche Demokratie ein riesiges Überraschungspaket. Insgesamt fünf Millionen Besucher feidrückt sich ausgerechnet in jenem Spreebogen als Architektur aus, wo Hitlers Bau- erten Tag und Nacht das glänzende Raummeister Albert Speer den triumphalen Mit- schiff im Spreebogen. Was hernach ausgetelpunkt seiner Nazi-Hochburg „Germa- packt wurde, das spürten sogar die anfangs skeptischen Berliner, war nicht mehr Ruinia“ gestalten wollte. Vorhersehbar war das nicht. Der Reichs- ne, sondern Bauplatz, leere tag, der nach der Machtübernahme der Stelle im Herzen der Stadt, Besucher im Nazis 1933 abgefackelte Parlamentspalast, die darauf wartete, mit Sinn Reichstag aufgeladen zu werden. Die volle Dass Helmut Kohl die Dosis * Interview mit Wolfgang Thierse für das ZDF-„Morgenmagazin“. Christo-Aktion verteufelte, Metropole M. DARCHINGER M. DARCHINGER 1990 vor dem Reichstag die Deutsche Einheit gefeiert, Extreme ein pfälzischer Bismarck, Erfahrungen sentimental und ambitioallenthalben niert. Ihn faszinierte mehr die gebaute Ordnung der alten Preußen-Herrlichkeit, die mit ihrer Säulenpracht wenigstens ein bisschen an London, Paris und vor allem Washington erinnert, als die Aussicht auf eine unfertige, widersprüchliche, laute Metropole, die Berlin jetzt zu werden verspricht. Helmut Kohl wollte keine „Berliner Republik“. Er wollte eine vergrößerte Festspiel-Version des Bonner Alltags, an den sich die Deutschen so gewöhnt hatten. In Bonn warf sich die Macht im geduckten braunen Kanzleramt aus den Zeiten von Helmut Schmidt den trügerischen Gestus der Bescheidenheit über, dort stand jede Antwort fest, bevor die Frage überhaupt gestellt war, dort versicherte sich das Land, dass alles schon fertig sei. Alles Vergangenheit. Der historische Zufall, dass sich mit dem Umzug auch ein Generationenwechsel in der politischen Führung vollzogen hat, macht den Aufbruch leichter. „Wir wissen um das, was war“, sagt der Bundeskanzler. Aber es hemmt nicht mehr (siehe Seite 44). „Wenn die Medien künftig von Berlin sprechen, dann ist nicht mehr nur die Stadt gemeint“, sagt Schröder ganz unbefangen, „der Name wird eine Kurzformel für die deutsche Politik, so wie es in Bonn war.“ So nett wie am Rhein wird es freilich nie wieder. In Bonn bedurfte es schon eines besonderen Geschicks, um nicht an jeder Grüne Fischer, Künast* * Links: am 23. August bei Fischers Amtsantritt in Berlin, mit einem von den dortigen Grünen geschenkten Präsentkorb; rechts: auf dem Weg zur ersten Kabinettssitzung im neuen Kanzleramt, dem mit ArbeiterkampfSzenarien geschmückten ehemaligen Staatsratsgebäude. Ecke auf Abgeordnete, Minister Koalitionäre nisteriums Joseph Goebbels’, das und Spitzenbeamte zu stoßen. Im Müller, nun zum Arbeitsministerium WalHauptstadtgewusel gehen die Poli- Schlauch* ter Riesters wird, in Hermann Götiker im Publikum auf. Die Men- Denken in rings ehemaligem Reichsluftfahrtschen sind nicht mehr „draußen im Optionen und ministerium – jetzt Sitz des Hans Lande“, sondern gleich nebenan. Experimenten Eichel – lauert die Versuchung, sich Das könnte viele an Abstand geden Realitäten zu entziehen. wöhnte Regierende verschrecken und verDoch sobald die neuen Berliner Herren leiten, sich im Spreebogen und den neuen etwa die gemauerte „Gigantomanie“ (Eiministeriellen Herrschaftsburgen gegen Le- chel) des Göring-Bauwerks an der Wilben und Medienneugier zu verschanzen. helmstraße verlassen, stoßen sie wieder Neben den überregionalen Blättern wer- auf das richtige Leben. den täglich zehn lokale Zeitungen, mehr Zu laut, zu krass und zu eng drängt sich als ein Dutzend Rundfunkstationen und in Berlin die Großstadt an die Politik hersieben Fernsehsender auf Jagd nach der an. Während in Bonn Blumenkübel und exklusiven Topstory sein, werden Neben- Zierhecken das Bild bestimmten, guckt in sätze zu Staatsaffären hochpusten. Berlin die Bildungsministerin Edelgard Schon wird in Parteien, Ministerien und Bulmahn auf die Straßenhuren an der OraFraktionen beratschlagt, wie der medialen nienburger Straße. Innenminister Otto Hyperfunktion zu begegnen sei. Sicher Schily teilt sich die Einfahrt zu seinem scheint, dass es jene Transparenz des Poli- Dienstsitz mit den Einkäufern des betischen, die Architekt Axel Schultes mit nachbarten Supermarkts. seinem durchsichtigen Kanzleramt suggeExtreme Erfahrungen allenthalben. Für rieren will, in der Hauptstadt nicht geben den ostdeutschen SPD-Abgeordneten Marwird. Wie die Regierenden in Paris, Lon- kus Meckel ist sein Gang vom Abgeordnedon oder Washington werden auch die tenbüro Unter den Linden zum Plenum Berliner Amtsinhaber weiter nichts sa- im Reichstag, auch zehn Jahre nach dem gende Soundbites fallen lassen, noch mehr Fall der Mauer, noch täglich mehrmals ein Events für noch weniger Informationen „staunenswerter Übergang von Ost nach kreieren und sich zurückziehen hinter West“. Drei Minuten zwischen zwei Welelektronische Wachanlagen und gebaute ten, immer noch. Schlupfwinkel. Die grüne Abgeordnete Margareta Wolf Die Hauptstadt-Architektur ermöglicht war „tief berührt“, als sie am Bahnhof der Politik auch Flucht vor dem Wähler. Im Friedrichstraße von einem freundlichen älReichstag, sagt der Pariser Politologe Alfred teren Herrn angesprochen wurde, der sich Grosser, haben „die Abgeordneten durch als Jude zu erkennen gab und seinen Stolz Übergänge, durch Untergänge, durch Zwi- bekundete über die moderne, lebendige, schengänge die Möglichkeit, sich zu bewe- offene Stadt. Seit 30 Jahren fühle er sich, gen, ohne dem Bürger zu begegnen“. wie es John F. Kennedy damals formuliert Und auch die zu Bundesministerien um- hatte: „Ich bin ein Berliner.“ funktionierten Hitler-Bauten bieten sich Wenn sich Bürger und Staatsmacht in als Trutzburgen an. Hinter den dicken Berlin näher kommen, ist das eine Chance Mauern des vormaligen Propagandami- für die ganze Republik. Denn die Abged e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 37 38 gefällig. Aber in der neuen Hauptstadt kreuzen sich eben auch die Wege der Geheimdienste, der Drogen- und Waffenschieber, hier schlagen sich die Schwarzarbeiter aus Osteuropa durch – und jeder hat seine eigene kleine Welt. Toleranz, auf Kirchentagen oft eingefordert, wird in Berlin überlebensnotwendige Praxis. Zwei maßgebliche Strömungen der Postmoderne, die Angst vor den Fremden und die Lust am Fremden, wechseln in der Hauptstadt derart schnell, dass sich Hass bisher nicht zur politischen Haltung verfestigen konnte. Rechte Parteien hatten in Berlin, wo jeder siebte keinen deutschen Pass hat, bislang kaum eine Chance. Dafür wächst die Attraktivität des neuen Berlin weltweit. An jedem Wochenende wird die Vielfalt noch um hunderttausende zusätzlich bereichert – 400000 kamen zur Homosexuellen-Parade am Christopher Street Day, 1,5 Millionen verspaßter Kids zur Love Parade. Doch die Wiederauflage der Ri- Neu-Berliner Hier, vermuten immer mehr Neuvalität aus der grauen Vorzeit, als Eichel* gierige aus allen Teilen der Repunoch die Mauer stand, ist bizarr. Phase des Im Berliner Wahlkreis Mitte/Prenz- unberechenbaren blik und den Nachbarländern, geschehen Dinge, die sie zu Haulauer Berg, in dem das Regierungs- Schicksals se nicht erleben. Mehr als 8000 viertel liegt, gaben bei der Bundestagswahl 27,5 Prozent dem SED-Erben Bonner, bislang gewohnt, sehr wichtig zu sein, fallen nicht weiter auf. Und sie wissen Gregor Gysi und seiner PDS die Stimme. Das globalisierte Berlin, viel zu unor- auch noch gar nicht, wie sie mit dieser Stadt dentlich für eine deutsche Stadt, beher- zurechtkommen sollen. Nichts leichter, als diesen kulturellen bergt heute eine große, zufällige Zahl von Stämmen, die ziemlich friedlich nebenein- Boom, dieses Multi-Media-Lebensgefühl ander an den Baugruben vorbei balancie- mit tristen Statistiken zu widerlegen oder ren. Der Mix entfaltet eine anregende bitter zu verhöhnen. Denn bis in die WohnKraft, doch gute Nerven braucht man auch. bezirke in Kreuzberg, bis nach Neukölln Nicht nur zwei deutsche Gesellschaften oder nach Hellersdorf ist der Aufbruch nicht muss die 3,4-Millionen-Stadt aushalten, die gekommen. Armut, Bildungsnot und ein sich zehn Jahre nach der Einigung gewiss hoffnungsloser Rückstand in Sachen Zunicht herzlicher zugetan sind als davor. Eine kunft bleiben Berlins Alltag. So ist die Stadt dritte Gesellschaft von fast einer halben vor allem eine Projektionsfläche für WünMillion nichtdeutscher Bürger kommt dazu. sche und Erwartungen, eine Stadt im Futur. Aber die Aufbruchssignale zu überhören Am 30. Juni dieses Jahres waren laut Statistischem Landesamt in Berlin 132306 Tür- und zu übersehen ist schwer: So undeutsch ken, 27 970 Polen, 10 059 Amerikaner, 6895 optimistisch scheinen sich Tüftler und TauIraner, 7035 Libanesen, 8111 Vietnamesen, genichtse, Kapital-Youngster und Künstler, 67 683 Menschen aus dem ehemaligen Ju- Ossis und Wessis, Deutsche und Ausländer goslawien, 14 289 Russen und Ukrainer, insgeheim darauf verständigt zu haben, auf 14 518 Afrikaner, 18 Turkmenen und 11 012 den Brachen der Nachwendezeit die ZuMenschen ungeklärter Herkunft gemeldet. kunft möglichst groß, lärmend und schnell Die Illegalen mitgerechnet, dürften es anzuschieben. Nichts, was derzeit in dieser Hauptstadt noch mal so viele sein. Zuweilen liest sich der Polizeibericht wie eine Multi-Kulti-Par- im Umbruch abläuft, taugt als direktes Vorodie: „Wedding – Durch die Aufmerksam- bild für Feuchtwangen oder Buxtehude. keit eines Iraners konnten zwei Algerier Und doch hat die Stadt als Versuchslabor gestellt werden. Diese hatten einer Mon- für überfällige Veränderungen in der golin unbemerkt die Geldbörse gestohlen.“ gelähmten Republik eine neue, wichtige Politisch klingen die Floskeln von der Rolle. „Berlin ist deutsch-deutsche Über„Menschenwerkstatt“ Berlin und der gangsgesellschaft en miniature“, sagt der Drehscheibe zwischen Ost und West sehr Historiker Karl Schlögel, „die Folgen des weltgeschichtlichen Wandels vollziehen sich in nächster Nachbarschaft.“ * Mit Berlins Regierendem Bürgermeister Eberhard REUTERS ordneten, die sich freuen, noch abends im Kulturkaufhaus an der Friedrichstraße Bücher kaufen zu können, kriegen zugleich eine Ahnung von jener umwälzenden Neuordnung des Lebens, wie sie dem ganzen Land bevorsteht. Schätzungsweise gerade mal die Hälfte aller Berliner Arbeitsverhältnisse entspricht noch der Legende vom unbefristeten Vollerwerbsjob, den Gewerkschaften und traditionelle Sozialdemokraten aus einer fernen Zeit ins nächste Jahrtausend hinüberretten wollen. Von den vielen anderen, die sich durchschlagen mit zwei, drei, vier Jobs, sind die Politiker mit ihrem 14-StundenTag so weit entfernt wie selten zuvor. Das aufkommende pulsierende, quirlige Neu-Berlin ist von der alten Tristesse der restlichen Republik nicht minder weit weg. Wen trifft schon das Sparpaket, die Rentenund Steuerreform? Die meisten Mitglieder jener Computerszenen, von deren Pioniergeist Kanzler Schröder schwadroniert, haben in ihrem Leben bislang weder viel Steuern noch Sozialbeiträge bezahlt. Von der staatlichen Wohlfahrt verlangten sie auch kaum etwas. Sparen mussten sie schon immer. „Soziale Gerechtigkeit“ halten sie für eine schöne, aber wirklichkeitsfremde Idee. So tickt die „Generation Berlin“, die der Soziologe Heinz Bude in den dynamischen Labors der Postmodernen entdeckt hat. Der „schicksalsfreie Wohlstand“ der Bonner Ära werde von einer Phase des „unberechenbaren Schicksals“ abgelöst, die Ähnlichkeiten hat mit den zwanziger Jahren. Budes Fazit: „Es wird härter als früher, aber auch spannender.“ Damit wird die Bestimmung dessen, was das Neue sein soll, zu einer der Hauptaufgaben der Regierung Schröder. Statt einer „kritischen wird sie eine definitorische Haltung einnehmen müssen“, glaubt Forscher Bude. Was heißt soziale Gerechtigkeit, was individuelle Freiheit, was sind Pflichten des Staates und welche fallen dem Bürger zu? Vom Dogma der Unfehlbarkeit staatlichen Entscheidens wird man Abschied nehmen müssen. Bude erwartet „vermehrtes Denken in Optionen und Experimenten unter bewusster Inkaufnahme gelegentlichen Scheiterns“. Das wäre der wahre Ruck, den Ex-Präsident Roman Herzog immer gefordert hatte. Und der Staat? Welcher Staat überhaupt? In das Leben der meisten Menschen mischt er sich im Übermaß. Aus dem anderer klinkt er sich aus. Es gehört zu den zahllosen Paradoxien der Stadt, dass der lebendigste Flecken der Republik immer noch den Status quo verteidigt und vom grauesten Personal verwaltet wird. Der antiquierte Wahlkampf zwischen den Beharrungskünstlern Eberhard Diepgen (CDU) und Walter Momper (SPD) gibt sich zwar poppig als Show-Wettlauf zwischen Ebi, dem Jogger, und der Glatze – diesmal ohne roten Schal. Diepgen. d e r Jürgen Leinemann, Hajo Schumacher s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite A r c h i t e k t u r , Po l i t i k u n d K u l t u r Lenin-Büste im Hof der russischen Botschaft Kartengrundlage: GrafikBüro Adler & Schmidt FOTOS: W. BAUER Die Mitte der Hauptstadt Neptunbrunnen vor dem Roten Rathaus Regieren in Berlin Neubau (ab 1990) Bestand (bis 1989) Regierung, Bundestag, Ministerien Botschaften, Landesvertretungen Parteien, Stiftungen, Verbände sonstige Gebäude 500 Meter Lehrter Bahnhof Innenministerium Alt-Moab it Kanzlerpark S-Bahnhof Bellevue Abgeordneten-Büros an der Spree S e pr Bundeskanzleramt e 1 Wohnungen für Bundesbedienstete Bundespräsidialamt Tunnelprojekte unter dem Regierungsviertel Schloss Bellevue Straße des 17. Juni Siegessäule TIERGARTEN Grabung am Schlossplatz, Dom, Palast der Republik Philharmonie Tiergartenstraße Botschaftsviertel Verteidigungsministerium Land Gendarmenmarkt mit Deutschem Dom 40 d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 2 wehrkanal Danzige Prenzlauer Berg r Straße Kollwitzplatz Wirtschaftsministerium Inv a laue r All ee Innenministerium ns lide tra Rosenthaler Platz BERLIN ße Pren z Verkehrsministerium 12 Bildungs- und Forschungsministerium ehemaliger Mauerverlauf Oran ienb 4 urge r Str aße 7 Hackescher Markt Alexanderplatz S p re e 5 Bahnhof Friedrichstraße Bundestagsbüros Umweltministerium Schillingstraße 8 Bundespresseamt 9 Palast der Republik Berlin-Mitte Ebertstraß e Brandenburger Tor den Unter den Lin 6 Pariser Platz Landwirtschaftsministerium Arbeitsministerium Potsdamer Platz aße lmstr Wilhe Bundesrat 11 Friedrichstraße Bundestag Schlossplatz 10 Auswärtiges Amt ehemaliges Staatsratsgebäude der DDR/ provisorisches Kanzleramt Jannowitzbrücke Familienministerium Kultur im Zentrum Gesundheitsministerium 1 Haus der Kulturen der Welt 2 Neue Nationalgalerie 3 Martin-Gropius-Bau 4 Deutsches Theater Justizministerium ße Leipziger Stra 5 Berliner Ensemble 6 Komische Oper 7 Friedrichstadtpalast Finanzministerium 8 Museumsinsel 9 Maxim-Gorki-Theater 3 10 Staatsoper Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit Unter den Linden 11 Deutsches Historisches Museum 12 Volksbühne d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 41 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Ka n z l e r dass die Berliner frischgrünen Rollrasen in sein Blickfeld drapiert und eine Baumreihe gepflanzt haben, wo einst das Schloss stand. Schröder braucht keine ondulierte Natur, die langweilte ihn schon in Bonn. Ihn reizt der leere Platz. Auf dem könnte man was machen. Warum nicht wieder ein Schloss? Über Drahtzäune, Bretterwände und Steinhaufen hinweg schweift der Blick hunderte von Metern bis zum barocken Zeughaus, den Säulen des Alten Museums und dem wilhelminischen Schwulst des Berliner Doms. Der Mann am Fenster kann sich nicht satt sehen an dieser chaotischen Stätte. „Glücklich“ fühlt er sich. Es ist, als ob er Energie aus den Schründen des Platzes anBundeskanzler Gerhard Schröder ist „glücklich“ in Berlin. Er liebt das sauge. Es geht nicht um die Welt der Markgrafen, Kurfürsten, Kaiser und Könige, die Tempo von heute und die Erfolgsmythen von gestern. Die Dynamik der einst den Ort bevölkerten. Ihn fasziniert, dass Touristen winken, Arbeiter herüberStadt soll seiner Politik Auftrieb geben. Von Jürgen Leinemann starren, Autos vorbeirauschen. Leben, Abchlossplatz Nr. 1, eine Adresse cher Freude über die weite wüste Brache, wechslung, Bewegung. So hat er sich die wie aus dem Monopoly-Spiel. auf der einmal das Palais der Hohenzollern neue Hauptstadt vorgestellt. Und er mitGewinner ist Gerhard Schröder, gestanden hat. „Berlin“, sagt er, „fand ich tendrin. „Es ist ja nicht so sehr der Ort, der für mich Berlin ausmacht“, sagt er, „es ist Bundeskanzler, der in einer Ba- immer schon doll.“ Gewiss, wenn da das Schloss stände, mit das Tempo.“ racke am Rande eines dörflichen Dass der Kanzler, dessen Amtssitz für Fußballplatzes aufwuchs. Vor ei- seinen Türmen, Giebeln und Portalen, das ner halben Stunde ist er einge- würde ihm noch besser gefallen als der das neue Jahrtausend noch nicht fertig ist, zogen ins ehemalige Staatsratsgebäude der Blick auf den bräunlich-trüben Torso des Unterschlupf findet in Erich Honeckers altem Herrschaftsgebäude, das längst DDR, jetzt steht er hinter der mächtigen abgewrackten Palastes der ehemamuseal verstaubt ist, beschäftigt Panzerglasscheibe seines provisorischen ligen deutschen Republik Ost am Neu-Berliner Schröders Phantasie nicht wegen Büros in Berlin und blickt mit fast kindli- Rand des Platzes. Das sagt er auch Schröder* an diesem Tag ganz unverhohlen. Sehen irgendwelcher historischer DelikaUm Schönheit geht es ihm dabei tessen – Geschichte ist ihm piepe, und gesehen * Ende August mit Ehefrau Doris bei einer Stadtrundnicht. Letztlich ist es ihm auch egal, werden wie die Berliner sagen. Ihn törnt fahrt am Brandenburger Tor. Das Neue ist die Größe S A. SCHOELZEL ULLSTEIN BILDERDIENST W. BAUER das Unfertige an, der Um-, Ab- und Aufbruch. Links hämmern die Triumph und Verfall, live Handwerker an Joschka Fiaus Berlin schers Außenamtsneubau, der sich mächtig vor Hjalmar Schachts Nazi-Reichsbank auftürmt. Rechts rattern Saugrotoren, die den „Palazzo Prozzo“ der einstigen Arbeiter-undBauern-Macht vom Asbest befreien und zum Skelett abtakeln. Arbeitsalltag. Und zugleich ein aufdringliches Gleichnis für das Drama der Macht – Triumph und Verfall, live aus Berlin. Der Kanzler, dem bis zu seiner Ankunft wahrlich wenig Erfolg beschieden war, scheint aufzuleben im neuen Ambiente. Die aggressive Dynamik der Stadt inhaliert er wie eine Droge. Seine Instinkte reagieren präziser, als er mit Worten auszudrücken vermag. Fast unwillig fährt seine Hand über eine Büste Willy Brandts, die neben ihm am Fenster steht, den Blick auf seinen Schreibtisch gerichtet. „Den will ich austauschen“, sagt er abrupt. Es ist aber nicht „der Alte“, der den politischen Enkel stört, es ist die behäbig pausbäckige Version eines jungen melancholischen Willy. Im Parteivorstand suchen sie jetzt einen Brandt nach seinem Geschmack. Kraftvoll und voller Spannung sollte die Büste sein, zu allen dreien müsste sie passen, lässt Schröder durchblicken: zu Willy, zu Berlin und zu ihm. In der lokalen Presse wird Gerhard Schröder in den folgenden Tagen wahrgenommen, wie er es gern hat: als Berühmtheit zwar, aber als eine wie du und ich. Umgekehrt lässt sich gewiss nicht sagen, dass der Zugereiste aus der Provinz sich der alten Reichs- und neuen Bundeshauptstadt Berlin mit besonderer Ehrfurcht genähert hätte. Als handele es sich quasi Neubau des Kanzleramtes* um eine Begegnung von Gleich zu Gleich, auf. Händeschütteln. Lächeln. Triumphale turtelt er mit der Stadt herum. Selbstbestätigung. Berlin und er brauchten sich nicht zu suEinen Tag später, als ihn am Brandenchen, um sich zu finden, heißt die Botschaft, burger Tor Berlin-Besucher mit „Gerhard“in Wahrheit sind sie von gleicher Art. So Sprechchören feierten, drehte er sich trienergiegeladen und respektlos, so show- umphierend zu den Journalisten um: gierig, zäh und rüde, so stillos und erfolgs- „Also, irgendwie haben die Meinungsumbesessen, auftrumpfend und zugleich un- fragen nicht Recht.“ aufgeblasen wie diese Stadt sieht Schröder Seinen von Diepgen erwarteten „Beitrag sich auch. Was Theodor Fontane 1870 über zur Identitätsfindung der Stadt“ blieb den Berliner Ton geschrieben hat, gilt ohne Schröder zunächst allerdings schuldig. Im jeden Abstrich für Gerhard Schröder heute: Gegenteil – er bewegte sich auf seinen „Offen sein, wahr sein. Dahinter verbirgt „Entdeckungsreisen“ durch die Stadt wie sich viel Schlauheit.“ Und die hat Methode. jemand, der umgekehrt von Berlin AnreMacht braucht und schafft Distanz. Das gungen zur eigenen Rollenfindung erhofft. gilt für Monarchien und Diktaturen wie für Der Kanzler spielte ein bisschen Staatsdemokratische Systeme. Die Kanzler der mann und ein bisschen Tourist, gab ein weBundesrepublik, von Adenauer bis Kohl, nig den Wahlkämpfer und auch den Geauch die Sozialdemokraten Willy Brandt schäftsreisenden, der im ersten Haus am und Helmut Schmidt, wussten im näheseli- Gendarmenmarkt wohnt und sich nebengen Bonn durchaus auf Abstand zu halten. an zum Arbeitsessen verabredet, mit RotSchröder hatte damit Schwierigkeiten. wein und Zigarre. Dass Walter Momper, Einerseits nervte ihn „dieses enge Aufein- der SPD-Bürgermeister-Kandidat, zu einer andersitzen“, das dazu führte, „dass jeder Stadtrundfahrt die Schröders mit den Worvon jedem etwas wusste“. In Berlin, glaubt ten willkommen hieß: „Ich begrüße Doris er, „wird man sich mit anderen Dingen aus- und den Bundeskanzler“, machte die Uneinander setzen müssen als mit der Frage, deutlichkeiten unfreiwillig kenntlich. wer wann vom Unterabteilungsleiter zum Gerhard Schröder selbst irritiert sein Abteilungsleiter befördert werden wird und schillerndes Bild nicht im Geringsten. Im welche Gründe das wohl haben könnte“. Gegenteil – er fühlt sich mit seiner LässigAndererseits war es ihm lästig, sich in keit, einer ebenso demonstrativ zur Schau seinem Kanzleramt im schönen Bonner getragenen wie tatsächlich genossenen EntPark vor solchen Klüngeleien zu ver- spanntheit, in Berlin richtig. Ob im Reichsstecken, an denen er ja als junger Abge- tag oder am Brandt-Grab, beim Zwetschordneter reichlich beteiligt gewesen war. genkuchen im Garten mit Genossen oder Schröder braucht Öffentlichkeit als Bühne. winkend auf der Friedrichstraße – immer Er muss raus. Sehen und gesehen werden, hat er den passenden Ausdruck im Gesicht. nicht nur im Wahlkampf. Er weiß instinktsicher, wann er grimmig Am Tage seiner Ankunft in Berlin streb- gucken und kantig aussehen muss, wann te der Kanzler, kaum hatte ihn der Regie- sein Tonfall besser bescheiden unwissend rende Bürgermeister Eberhard Diepgen und charmant neugierig ist, wann ruppig mit einer Marzipantorte und süßlichen Re- und kalt. den im Hof des Staatsratsgebäudes Hat er Visionen, wenn er durchs begrüßt, zielstrebig durch die Hal- Reichskanzler Brandenburger Tor fährt? Fühlt er le seines neuen Amtssitzes zur Vor- Ebert* sich ein bisschen wie Wilhelm Zwo, dertür, wo sich Berliner Bürger und Unheilvoll der einst hier durchritt? „Nee, nee. Touristen die Nasen an der Glas- aufgeladene Ich kann ja nicht reiten.“ Auch sind scheibe platt drückten. Macht mal Bilder Uniformen und mit Federbüschen * Oben: mit Ausblick auf das Reichstagsgebäude; unten: im Dezember 1918 bei der Begrüßung von Frontsoldaten aus dem Ersten Weltkrieg. d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 45 46 rung und zur Auseinandersetzung mit dem Teil der deutschen Geschichte, der mehr als unglücklich gelaufen ist.“ Nein, Schröder ist weder Willy Brandt noch Wilhelm Zwo. Er hat kein geschlossenes Weltbild und keine reflektierte Sicht auf die Geschichte. Sein postmoderner Politikstil benutzt SprachEhepaar bilder und Beispiele aus der Schröder* Historie unbekümmert um „Ich fand ihre emotionale Aufladung. Berlin schon Vor zehn Jahren hat Friedimmer doll“ rich Dürrenmatt „Deutschland“ einen Begriff genannt, „den es nur noch in der Erinnerung gibt, in der Nostalgie, im Sentimentalen, in der Vergangenheit endlich“. Mit dem Umzug nach Berlin und der Diskussion um die „Berliner Republik“ ist er zurückgekommen, und Schröder, der Enkel, verwendet ihn ohne Zaudern: „Das Deutschland, das wir repräsentieren, wird unbefangen sein, in einem guten Sinne vielleicht deutscher sein.“ Jeden Umzugsgegner, der Berlin als Stätte unheilvoller Wiedergeburten beargwöhnt, müssen solche Sätze alarmieren. Denn aus ihnen scheinen die Geister des preußischen Zentralismus und die wilhelminischer Großmannssucht zu sprechen, die angeblich noch hinter Säulen und Fassaden in mächtigen Gebäuden lauern. Ist nicht schon jetzt der freie Atem des Bundestags hinter den klotzigen Mauern des Reichstages schwächer geworden? Mit schwarz-rot-goldenen Kordeln versuchen sie die Journaille auf Distanz zu halten. Undenkbar in Bonn. Freilich auch erfolglos in Berlin, bis jetzt. Und wird nicht auch dieser Kanzler künftig aus einem Amt regieren, dessen pathetische Machtgeste sich im Rohbau provokant ausnimmt? „Ein bisschen arg monumental“ findet auch Schröder das Bauwerk. Von der Qualität und den Plänen seiner Schöpfer Axel Schultes und Charlotte Frank ist er beeindruckt, zumal das künftige Berliner Kanzleramt deutlicher auf Öffentlichkeit angelegt ist als das Bonner. Trotzdem: „Wenn ich dabei gewesen wäre, hätte ich gesagt: Haben Sie es nicht ein bisschen kleiner?“ Wahr ist wohl, dass kein sozialdemokratischer Kanzler sich getraut hätte, so klotzig Staat zu machen, auch Schröder nicht. Es war Helmut Kohl, der erregt die Pläne der Architekten verwarf, das Kanzleramt ästhetisch und räumlich an die Bundestagsbauten anzuhängen, gleich hoch. Er wolle „einen Solitär“, polterte er, doppelt so hoch wie vorgesehen und in klarem Abstand zu den Parlamentsbauten. Jetzt hat ihn Schröder, der seinem Einzug mit gemischten Gefühlen entgegensieht: „Je mehr er Gestalt annimmt, um so mehr haut es einen um.“ M. URBAN „Machtworten“ zunimmt und er selbst den Deutschen flott die „Normalität“ einer „erwachsenen Nation“ bescheinigt, die schon mal wilhelminisch kräftig das Wort führen darf.Was neu sein wird in Berlin, hat Schröder vor seinem Umzug gesagt, „ist Größe. Das Deutschland ist größer geworden“. Ist das die Sprache der „Berliner Republik“? Der Kanzler offenbart eine Unbefangenheit gegenüber der deutschen Geschichte, die einen das Gruseln lehren könnte, stünde dahinter eine andere Person. Für das Nachkriegskind Schröder indes ist der Frieden in Europa so sehr eine Selbstverständlichkeit, dass ihm der Gedanke an ein neues deutsches Vormachtstreben gar nicht kommt. Die KonkurrenzGeneration der Enkel findet ihren robusten Redestil einfach „modern“. Als Walter Momper bei einer Stadtrundfahrt dem Kanzler die Siegessäule auf der Straße des 17. Juni erklären wollte – „Die erinnert an den deutsch-französischen Krieg von 1870/71“ – fragte Schröder fröhlich: „Gewonnen?“ „Ja.“ Na bitte, signalisierte da die Mimik des Neu-Berliners, es geht doch. Ein Tabubruch? Helmut Kohl wäre schockiert gewesen. Genau solche Reaktionen will Schröder provozieren. Für ihn ist die Nachkriegszeit endgültig vorbei, das tragische Geschichtspathos seines Vorgängers hat sich überlebt. 70/71? Ein Krieg von anno dunnemals. Schröder redet darüber wie über ein Fußball-Länderspiel. In einer Mischung aus Unschuld und Provokation steht er zu seiner Gleichgültigkeit gegenüber der Vergangenheit. „Ich bin schließlich nicht Willy, der das alles miterlebt hat“, pflegt sich das Nachkriegskind Schröder zu rechtfertigen, als könne er sich damit aus der Verantwortung für die deutsche Geschichte herausstehlen. Warum sollte es ihn beeinflussen, wenn er Deutschland aus historisch kontaminierten Gebäuden regiert? Im Staatsratsgebäude empfindet er nichts, selbst in Hitlers Reichskanzlei, stünde die noch, wäre er wohl eingezogen. „Das zwingt doch auch zur ErinneF. OSSENBRINK verzierte Helme wirklich nicht seine Requisiten der Macht. Das Deutschland, von dem Schröder an der Spree schwärmt, wenn er über Vergangenheit redet, ist keine politische Größe: Sein historisches Berlin ist eine vage kulturelle Zauberformel, nostalgisch verklärte Beschwörung der „Goldenen Zwanziger“, mehr Stimmung als Realität, Selbstanfeuerung zwischen historischen Kulissen. Irgendwie ändert sich alles, nur Berlin bleibt doch Berlin. Und Schröder Kanzler. Schon jetzt ist absehbar, wie der NeuBerliner Regierungschef den bunten Hintergrund der Metropole, die kulturellen und sozialen Umbrüche und Übergänge, den Glanz von damals und den Flitter von heute, zu einer neuen Inszenierung seiner Person benutzen wird. Die Politiker werden sich hier ändern müssen, glaubt er, die „kulturelle Vielfalt der Stadt, das Aufeinanderprallen unterschiedlicher Kulturen“ zwingen der Politik einen veränderten Stil auf. „In Berlin wird die Dynamik sichtbar, die in unserem Lande steckt“, sagt Schröder. Und keine Frage, er wird sie verkörpern. Schröders Herrschaftsinsignien sind Mikrofone und TV-Kameras, in die er seine Einschätzungen locker hinein sagt. Mag er auch noch so sehr tun, als sei er eins mit seiner Umwelt, Gerhard Schröder ist sich immer bewusst, dass diese Gemeinsamkeit künstlich ist. Er ist der Star, ist zugleich Inhalt und Verkäufer seiner Politik, die als permanente Vorabendserie verabreicht wird: „Unter den Linden“ – statt „Lindenstraße“. Säkularer Kult. Der Kanzler als poppigprofaner Ersatzheiliger. Das mochte harmlos, ja liebenswert provinziell wirken vor dem Hintergrund der rheinischen Idylle. Aber mit den historisch unheilvoll aufgeladenen Bildern der ehemaligen Schröder- Reichshauptstadt im HinterVilla* grund, könnte das Schröder-Bild Glanz von leicht bedrohliche Züge kriegen. damals, Flitter Vor allem, wenn das Geschrei von heute nach „kraftvoller Führung“ und d e r * Oben: Ende August im Garten von SPD-Bürgermeister-Kandidat Walter Momper; unten: in Berlin-Dahlem. s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Essay Berlin meldet Z Von Cees Nooteboom ULLSTEIN BILDERDIENST weimal ist es in den letzten Wochen vorgekommen, Form von Autos und Heerscharen von Urlaubern in das kleine, zunächst in einer spanischen, danach in einer amerikanivom Krieg herabgewürdigte und in seiner Souveränität verletzte schen Zeitung. Beim ersten Mal ging es um die deutsche Nachbarland strömten, was natürlich auch wieder Konsequenzen Weigerung, entgegen den Ukassen der Europäischen in Form rachsüchtiger Bemerkungen und bitterer Scherze hatte, Union britisches Rindfleisch zu importieren. Beim so dass es schien, als werde sich das Verhältnis zum früheren zweiten Mal um eine Entschädigung für Holocaust-Opfer in MilFeind und neuen, mächtigen europäischen Verbündeten nie wieliardenhöhe, die die deutsche Regierung zu leisten hätte. Nur, in der normalisieren. beiden Fällen stand nicht mehr „Deutschland“ oder „die deutWährenddessen war mir 1956 in Budapest exemplarisch vor Ausche Regierung“ da, sondern einfach „Berlin“, ein metonygen geführt worden, wie ein Heilssystem, an das so viele meiner mischer Gebrauch dieses zweisilbigen Wortes, das man seit Freunde bis dahin geglaubt hatten, in Wirklichkeit aussah, eine Erdem Zweiten Weltkrieg so nicht mehr gehört hatte. „Berlin May fahrung, die bei Besuchen in Ost-Berlin noch bestätigt wurde, wo Pay Billions to Holocaust Survivors.“ Es war also so weit. BerDeutsche lebten, die so taten, als hätten sie mit dem ganzen Krieg lin war wieder ganz Deutschland geworden und Deutschland nichts zu tun gehabt – oder es sogar glaubten, und sich folglich Berlin. an der Grenze in ihren Uniformen unbekümmert so aufführten Das letzte Mal, als ich das wie die Klischees unserer bittersgehört hatte, war als Kind ten Witze, mitsamt Hunden und während des Krieges: Berlin Gewehren und Stimmen, mit desagt, Berlin meldet – Berichte in nen sie vom Fleck weg als Statisdem wenigen, was noch als Zeiten für den erstbesten stumpftung übrig war, Stimmen im Rasinnigen Kriegsfilm hätten engadio. Danach zerbrach nicht nur giert werden können. Es ist nicht das Land, sondern auch die immer von Vorteil, so lange zu Stadt. Wenn jetzt von Berlin geleben, dass man das alles noch sprochen wurde, so waren es weiß, vor allem nicht, weil es Stimmen aus Washington, Paris, später so unvorstellbar wird: UlMoskau, London sowie aus eibricht, Grotewohl, die freudigen ner komischen kleinen ProvinzGesichter der an den Ehrenstadt, deren Name nicht in die tribünen Vorbeimarschierenden Reihe dieser Metropolen zu auf der einen Seite, die nackten gehören schien. Rom blieb Rom Studentinnen auf dem Podium und Tokio Tokio, Deutschland bei Adorno, die Berufsverbote, Hitler am Brandenburger Tor (1939) hingegen hatte sich versteckt Baader/Meinhof, Morde und oder ging auf Zehenspitzen umGeiselnahmen auf der anderen. her, Militärs in fremden Uniformen hatten ein wachsames Auge Unterdessen jedoch lief die träge, oft so langweilige, uninterauf alles, und der neue Mann an der Spitze war ein Kölner Oberessant wirkende Maschinerie weiter, die des besten aller schlechbürgermeister unverdächtiger Provenienz, der so nahe bei den ten Systeme, der Demokratie. Häufig besetzt mit mittelmäßigen, Niederlanden wohnte, dass fürs Erste niemand mehr auf den kleinkarierten Maschinisten mit hie und da einer genialen AusGedanken an Macht oder an Berlin verfiel.Was vor noch gar nicht nahme, ohne machtpolitische und globale Prätentionen, noch so langer Zeit ein Reich gewesen war, wurde jetzt eine getarnte immer leicht getarnt. Provinz, in der schweigend, aber mit einer unvorstellbaren EnerWas mich selbst betrifft, so wurde ich 1989 vom Deutschen gie der Wiederaufbau in Angriff genommen wurde. Akademischen Austauschdienst nach Berlin eingeladen, und ich Den Rest der Geschichte kennen wir, ich jedenfalls kenne ihn nahm diese Einladung an, eine der besten Entscheidungen, die auswendig: Wirtschaftswunder und Mauer, Luftbrücke und RAF, ich in meinem Leben getroffen habe. Für einen anarchistischen die Gruppe 47 und Willy Brandts Kniefall in Warschau, die RadiAmsterdamer galt es anfangs, sich umzustellen: Als Fußgänger kalisierung der Studenten, die in einer Generation alles wieder an der roten Ampel warten, auch wenn nichts kommt, die eigegutmachen wollten, was ihre Väter falsch gemacht hatten, die Inne Frau nicht mehr auf dem Gepäckträger mitnehmen (verbotellektuellen, die aus falsch verstandenem Schuldbewusstsein die ten!), an den Marktständen vorsichtig das genaue Ende der wahre Natur des Zwangssystems, neben dem sie lebten, nicht erSchlange suchen, um keine protokollarischen Fehler zu machen. Doch schon bald fand ich es wunderbar und begann die Stadt zu kennen wollten – ich sah es, las es, und zugleich blieb es weit weg. lieben. Die geschichtlichen Ereignisse überstürzten sich, und ich Zwar reiste ich ein paarmal nach Deutschland, doch seinem saß in der Loge. Kern kam ich nicht auf die Spur, ich hatte Freunde, die im KonVon einer Unfähigkeit zu trauern, die etliche Jahre zuvor zentrationslager gewesen waren, in meinem Land gab es endlose noch so viel Staub aufgewirbelt hatte, merkte ich nichts, im Dokumentarberichte im Fernsehen, die die Unterdrückung und Gegenteil, es schien, als nehme die Beschäftigung mit der den Widerstand beleuchteten, es gab die alljährliche TotengeVergangenheit bisweilen fast orgiastische Formen an, als könne denkfeier, die die Gefühle verschärfte, Meldungen über Nazis in kein Mahnmal groß genug sein, um der Trauer über das Unneuen deutschen Regierungen oder in deren Nähe sowie breit denkbare Form zu geben. Vergessen wurde dabei Nietzsches ausgewalzte Berichte über die NPD. Zudem wurde schon bald eine Warnung, dass die vitale Kraft zum Handeln verliert, wer sich neue Wirtschaftsmacht erkennbar, deren ostentative Symbole in obsessiv in der Vergangenheit verankert, wobei natürlich daÜbersetzung: Helga van Beuningen. hingestellt bleibt, ob Nietzsche sich diese Vergangenheit hätte 48 d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite J. RÖTZSCH / OSTKREUZ MELDEPRESS vorstellen können und was er in dem Fall gesagt ich von diesem schmelzenden Land Abschied nehmen muss, hätte. aber ich kann es noch nicht, zu viel ,unfinished business‘ gibt es Im Übrigen schien es an dieser vitalen Kraft nach wie vor nicht noch. Kennen wir Deutschland? Kennt es sich selbst? Weiß es, was zu mangeln, Deutschland war zum wirtschaftlichen Motor Euroes werden will, wenn es groß ist?“ pas geworden, während es noch immer auf Strümpfen zu gehen Verschiedene Male bin ich seitdem wieder in Berlin gewesen. schien, die in einer Bonner Fabrik gestrickt worden waren. Doch Beim Anblick des Potsdamer Platzes hatte ich das Gefühl, dass an auf der anderen Seite hatte es Zeitungen, die zu den besten und einem Turm zu Babel gebaut wurde (oder an einem Tunnel nach bestinformierten ganz Europas gehörten, großartiges Theater, Moskau). Bei einer dieser Gelegenheiten wurde ich in einer Talkeine Fülle beneidenswerter Kunstfördermaßnahmen. Kurzum, show gefragt, was ich bei dem Satz „Die Deutschen kommen“ das Land war zu beneiden, gerade diese Bonner Politik hatte es dächte. Meine Antwort lautete, das hätte ich schon einmal erlebt, in den Kreis der Völker Europas zurückgeführt. Es setzte sich für als ich sechs Jahre alt war. Die nächste Frage betraf das neue Selbstdie Einheit ein, war sogar bereit, seine heilige Mark dafür zu opbewusstsein, von der die neue Regierung spreche. Meine Antwort fern, man brachte ihm Vertrauen und Respekt entgegen. Nur darauf war, wenn man es hätte, bräuchte man nicht darüber zu sprezweifelte es noch ein wenig an sich selbst und wollte daher imchen, und meines Wissens habe Kohl nie darüber gesprochen. mer von Ausländern hören, was diese nun eigentlich von ihm Heute lese ich in meiner spanischen Zeitung, dass der Bunhielten, eine Frage, die einem Engländer nie in den Sinn käme, weil deskanzler seine Amtsgeschäfte in Berlin aufnimmt. Daneben ist es ihm gleichgültig ist, wie andere über ihn denken. ein Foto von ihm auf dem Fahrrad, in Hemdsärmeln, wie es sich Da war nur noch eines: dieses gehört. Wie es aussieht, fährt er merkwürdige Schwesterland, so schnell, dass er an seinem das sich an den Rücken des Büro vorbeizufahren droht, was großen Landes schmiegte, und ich verstehen kann, warten dort in ihm Berlin als geteilter Zankdoch etliche heikle Probleme apfel. Man fuhr mit einem leichauf ihn, wie die spanische Zeiten Schauder dorthin und kehrtung fein bemerkt, zum Beispiel te mit einem Gefühl der Bestürdie unterschiedlichen Gehälter zung zurück. Es schien normal, bei seinen eigenen Beamten, konnte es aber unmöglich sein. wobei die aus dem Westen mehr Plötzlich geschah das ganz bekommen als die aus dem und gar Unerwartete, der töOsten, die im selben Gebäude nerne Koloss begann zu tauarbeiten, oder der Streit in seimeln. Dann war es so weit, und ner eigenen Partei, der darum ich war dabei. Sich zu freuen geht, den Mitgliedern zu sagen, war nicht schwer: Erstens hatte dass das böse 21. Jahrhundert ich das wahrscheinlich absurde nun tatsächlich begonnen hat. Bundeskabinett im Staatsratsgebäude Gefühl, der Krieg sei nun endDas Geheimnis jenes Dritten lich vorbei, zweitens, dass EuWeges, den der Bundeskanzler ropa jetzt die Chance habe, wirklich vereint zu werden. Doch da und sein englischer Kollege Tony Blair jetzt entdeckt haben, hätwar auch noch etwas anderes, und das hing mit einem Gefühl für te ihnen allerdings schon vor Jahren der niederländische Premier Logik zusammen, etwas, das schwieriger zu erklären ist. Große Wim Kok verraten können. Länder haben ein spezifisches Gewicht, und das bedeutete, ohne Die vorläufige Antwort auf meine rhetorische Frage damals in dass ich dafür eine Gesetzmäßigkeit anführen könnte, dass es in den „Berliner Notizen“ ist also fürs Erste ein Mann auf dem Fahrdiesem Fall nur natürlich wäre, wenn dieses geteilte Land wierad, der, auch wenn er noch so viel tun kann, genauso wie ich der eine Einheit würde. So hatten auch stets alle Lippenbewird abwarten müssen, was geschieht, da die Demokratie nun mal kenntnisse gelautet. ein Spiel oder Kampf zwischen Kräften ist, die ein Mann, und Doch nun war es auf einmal so weit, die Geschichte hatte eine mag er noch so mächtig sein, nicht alle in einer Hand halten kann. rasend schnelle Pirouette gedreht, und plötzlich zeigte sich, dass Ich meine, er steht nun buchstäblich vor der wirklich großen poder Status quo vielen wunderbar in den Kram gepasst hatte. Für litischen Herausforderung seiner Regierung, der Erweiterung der viele Intellektuelle aus dem Westen wäre diese Vereinigung abEuropäischen Union nach Osten. solut nicht nötig gewesen, was dem niederländischen Historiker Als die Mauer gerade gefallen war, zeichnete ein deutscher und Chef des Deutschland-Instituts in Amsterdam, Maarten Freund eine Karte des neuen, wieder vereinigten Deutschland auf Brands, zufolge von einem frustrierten Verhältnis in Deutschland einen Bierdeckel. Unangenehm nahe der Linie, die die Grenze zwischen „Geist“ und „Macht“ beziehungsweise zwischen Inzu Polen darstellen sollte, malte er einen kleinen Punkt. Das tellektuellen und dem Staat herrührt, wobei der Staat in den Auwar Berlin, die Stadt, deren Name nun als Pars pro toto für ganz gen der Intellektuellen für gewöhnlich wenig richtig machen Deutschland benutzt wird. Der kann. „Nach der Wende“, schreibt Brands in seinem Essay, „sind Traum von einem wirklich vereinsie durch die neue Situation, die sie ja gerade nicht gewollt hatten Europa wird erst in Erfüllung ten, offensichtlich in Verlegenheit gebracht worden. Dies fällt gehen, wenn diese Stadt, ohne sich am stärksten bei sogenannten Linksintellektuellen auf. Gerade vom Fleck zu rühren, weiter in die bei ihnen schien der Ideenreichtum vor 1989 so groß, während Mitte rutscht. sie jetzt zur Diskussion über Deutschlands gegenwärtige Position und angestrebte Zukunft sehr wenig beitragen. Schweigende Nooteboom, 66, lebt als Schriftsteller in Wortführer werden sie genannt.“ Amsterdam und in Spanien. Von 1989 Jedenfalls erinnere ich mich, dass ich Schwierigkeiten damit bis 1993 wohnte der Niederländer in hatte, weil hier ein großer historischer Augenblick, dessen BeBerlin. Er beschrieb seine Erfahrungen deutung weit über die spezifisch deutsche Wirklichkeit hinausaus der Zeit der Wiedervereinigung in ging, von kleinlichem Gezänk zwischen Ossis und Wessis über den „Berliner Notizen“. Dieses Jahr erGeld und über unterschiedliche Vergangenheiten getrübt wurde, schien bei Suhrkamp sein überwiegend und ich fragte mich, wie das weitergehen würde. Nicht ohne Pain der Hauptstadt spielender Roman thos schrieb ich in meinen „Berliner Notizen“: „Ich weiß, dass „Allerseelen“. 50 d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite A b g e o rd n e t e Umzug ins echte Leben D sich in der Hauptstadt im ver- Abgeordnete trauten Westen oder den Janz, Niehuis, schon gewesteten Bezirken SonntagPrenzlauer Berg oder Mitte Wolgast niedergelassen. Sehn se mal, Der Bundeskanzler a. D. wat hier im Helmut Kohl etwa kaufte sich Osten los is eine Wohnung im teuren Grunewald, wo die West-Berliner Baulöwen und andere Besserverdiener residieren. Wolfgang Schäuble zog ebenfalls nach Grunewald; Gerhard Schröder ins ebenso noble Dahlem. Rita Süssmuth und Franz Müntefering haben sich in Plattenbauten unweit des Brandenburger Tores eingemietet; die Grüne Antje Vollmer erwarb eine Altbauwohnung im bürgerlichen Charlottenburg. Antje-Marie Steen hingegen hatte sich schon unmittelbar nach dem Umzugsbeschluss von 1991 vorgenommen, in den Osten zu ziehen. Die Probleme der neuen Bundesbürger den Parlamentariern auch im Alltag nahe zu bringen war schließlich das wichtigste Argument für die alte und neue Hauptstadt. Und in Friedrichshain, wo seit der Wende über 20 000 Industrie-Jobs verloren gingen, sind die Volksvertreterinnen dem Volk entschieden näher als der Kaschmir-Kanzler und seine „neue Mitte“. Ilse Janz, SPD-Linke und Kind einer Arbeiterfamilie, sagt: „Ich mag es, eine normale Umgebung zu haben.“ Die Bewohner des Samariterviertels, hat Janz beobachtet, „sind gelassener und weniger hektisch als im Westen“. Edith Niehuis stellte im Gegensatz zu den verbreiteten Bonner Ängsten vor den ungehobelten Berlinern fest: „Die Leute hier sind ausgesprochen nett und offen.“ Auch Cornelie Sonntag-Wolgast, die anW. BAUER as Samariterviertel rund um die sche Bundestagsabgeordnete vor ein paar Bänschstraße im Ost-Berliner Be- Wochen zur Avantgarde der Berliner Subzirk Friedrichshain wirkt wie kultur gestoßen. Aus der Loggia eines 1902 im Jugendstil Kreuzberg in den siebziger Jahren – nur ohne Türken. Von Rudeln erbauten Mietshauses in der Bänschstraße, großer Hunde umlagert, vor bunt bemal- die nach einem von den Nazis ermordeten ten und mit Graffiti überzogenen Häu- antifaschistischen Schlosser benannt ist, sern, hängen Punks ab. Arbeitslose nähren blickt Antje-Marie Steen aus Holstein auf sich strikt nach der Devise: Bier is och die backsteinrote Samariterkirche. Zu Stulle. Der Naturkostladen „Grünezeiten“ DDR-Zeiten organisierte ihr heutiger CDUwirbt für das Brot der Woche, gleich da- Kollege Rainer Eppelmann dort Bluesneben offeriert der „Mami-Grill“ fettigen messen, Umwelttage und andere dissidenDöner oder der „Lolly-Pub“ billigen te Veranstaltungen. Im selben Hause haben sich die ParlaAlkohol. In dem traditionsreichen Arbeiterquar- mentarische Geschäftsführerin Ilse Janz tier, inzwischen der viertärmste Bezirk der und die beiden Abgeordneten und StaatsHauptstadt, haben sich seit der Wende Au- sekretärinnen Cornelie Sonntag-Wolgast tonome, Alternative und Raver, Studenten und Edith Niehuis eingemietet. Ein Beamund Singles angesiedelt. Friedrichshain ist ter des Auswärtigen Amtes und eine Fraktionsmitarbeiterin komplettieren hip wie kein anderer Berliner Bedie kleine Bonner Kolonie im zirk, weit mehr als die moderni- Bänschstraße Samariterviertel. sierten und von Touristen über- in Friedrichshain Mit der Wahl ihres Quartiers rannten einstigen Trendquartiere Vorstoß zur fallen die Neu-Friedrichshainer Mitte und Prenzlauer Berg. Avantgarde deutlich aus dem Rahmen, denn Ohne dies zu beabsichtigen, der Berliner die meisten Abgeordneten haben sind auch vier sozialdemokrati- Subkultur ARIS Viele Bonner Politiker zogen in bürgerliche Viertel West-Berlins oder in die verwestlichte Mitte. Vier SPD-Abgeordnete und Staatssekretärinnen haben sich in Friedrichshain eingemietet, wo der Osten noch Osten ist. Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Literaturtipps („Sie sind alle gleich und alle gleich schlimm“) und Mit 1000 Adressen und verraten die Orte, an denen Empfehlungen. Rowohlt Ver- sich schon mancher sponlag; 1999; 39,80 Mark. tan und nachhaltig in Berlin Wer vor dem Verschwinden verliebte – ein amüsanter der Currywurst noch mal Klassiker für Ankömmlinge. dieses Traditionsgericht genießen will, wird zu den ver- Rosemarie Köhler meintlich besten Buden ge- BRENNESSELSUPPE UND ROSINENBOMBER führt. Neben weiteren RatDas Berliner Notkochbuch. schlägen zum Essen viele Eichborn Verlag; 1999; klassische Einkaufstipps. 39,80 Mark. Michael Bienert Tagebuchnotizen und BERLIN – WEGE DURCH DEN Zeitungsschnipsel schildern TEXT DER STADT den Überlebenskampf Klett-Cotta Verlag; 1999; während der Hungerjahre 36 Mark. von 1945 bis 1949. Bei Bei sieben Stadt-Spazierden mehr als 200 Originalgängen stellt der Autor lirezepten schwankt der terarische Texte vor, die in Leser zwischen Schaudern Berlin oder über Berlin geund Neugier. Es muss nicht schrieben wurden: Er illugerade Tee aus Tannennastriert den Kreuzberger deln des Grunewalds oder „Bosporus“ anhand von Grieß mit Gräten als Ersatz Theodor Fontane, erlebt für Kaviar sein. Aber warum den Wilden Osten durch nicht mal den Salat aus Alfred Döblins Franz BiberGänseblümchen probieren? kopf oder inspiziert mit Michael Sontheimer Uwe Kolbe den früheren BERLIN, BERLIN DDR-Grenzübergang BornDer Umzug in die Hauptholmer Straße. stadt. Wolfram Mach, Bernd Tonn SPIEGEL-Buchverlag; 1999; BERLIN IM INTERNET 29,90 Mark. Bebra-Verlag; 1998; Pünktlich zum Beginn der 19,90 Mark. „Berliner Republik“ läßt Ein immer noch informatiSPIEGEL-Autor Sontheimer ver Helfer für Einsteiger und die Ereignisse seit dem BerKenner, die im virtuellen lin-Beschluss des BundestaBerlin.de surfen möchten. ges 1991 Revue passieren. Enthält wichtige Adressen Das Geschichten-Buch zum aus Politik, Wirtschaft und „Jahrhundertumzug“. Kultur – von hoch offiziell SECOND HAND STADTPLAN bis tief untergründig. Herausgegeben von Frank Carmen Böker, Silvia Meixner Schumacher. WIE WERDE ICH EIN 1998; 9,80 Mark. BERLINER? Wer gute Augen hat, findet In 55 Schritten zum Haupt- in diesem Faltblatt jede städter. Menge Antiquariate, TröBostelmann & Siebenhaar delläden und Geschäfte für Verlag; 1999; 24,80 Mark. gebrauchte Designer-Mode, Frech und lebensnah beRäder, Computer, Schmuck schreiben die Autorinnen oder Teddys. alle zutreffenden Klischees KÜNSTLER-LITERATEN-STADT(„Die Freundlichkeit wurde PLAN VON BERLIN in Berlin nicht erfunden“), Edition Gauglitz; 1998; warnen vor Zielen wie den 24,80 Mark. permanenten Volksfesten BERLIN IM GRIFF d e r In welchem Haus hat Albert Einstein gewohnt? Wo ließ Friedrich Ludwig Jahn den ersten öffentlichen Sportplatz errichten? Was ist noch zu sehen von Heinrich Heines Stammlokal, wo liegt Marlene Dietrich begraben? KIND IN BERLIN Ausgabe 1999/2000. Herausgegeben von Mars. Companions Verlag; 1999; 19,80 Mark. Windelservice, Bauernhöfe und Bäder, Drachenläden, Oma-Hilfsdienst, Museen, Rummel und Rikscha – nützliche Informationen für Kids und ihre Eltern. Leider fehlt das Thema Schule. BAHNHOF BERLIN Herausgegeben von Katja Lange-Müller. dtv; 1997; 16,90 Mark. In dieser Anthologie mit Texten aus den neunziger Jahren erzählen 35 Schriftsteller und Dichter – darunter viele Shooting Stars – von „ihrem“ Berlin. BERLIN: OFFENE STADT Herausgegeben von den Berliner Festspielen und der Architektenkammer Berlin; 1999; 24,80 Mark. Fußgänger können auf zehn Routen die Veränderungen Berlins seit dem Mauerfall erkunden. Wer sich für Architektur und Städtebau interessiert, kommt an diesem Buch kaum vorbei. Es besticht durch eine gelungene Auswahl sowie gute Karten und Beschreibungen der Bauprojekte. Claudia Wahjudi METROLOOPS Berliner Kulturentwürfe. Ullstein Verlag; 1999; 22 Mark. Die Autorin, Jahrgang 1965, führt durch Galerien, Clubs, Kneipen und Lounges der „unabhängigen Kulturszene“. Eine etwas wirre Collage über wirre Zeiten. s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 W. BAUER Julius Grützke, Thomas Platt sonsten im vornehmen Har- Abgeordnete vestehude in Hamburg behei- Steen, matet ist, fühlte sich auf An- Nachbar hieb in Friedrichshain wohl. Gelassen „In sechs Wochen“, sagt sie, und weniger „habe ich hier schon mehr hektisch vom echten Leben mitgekriegt als all die Jahre im Bonner Regierungsviertel.“ Dass die vier Sozialdemokratinnen so tief im Osten gelandet sind, haben sie ihrem Genossen Eckhard Fischer zu verdanken. Der Referent der SPD-Fraktion für Wirtschaft und Tourismus kaufte im Sommer 1996 das Haus in der Bänschstraße und sanierte es mit viel eigener Arbeit und tatkräftiger Unterstützung seiner Eltern. „Ich bin Sozialdemokrat“, sagt er, „und strebe keine Gewinnmaximierung an.“ Die Mieten in seinem Haus liegen so auch nach der Modernisierung bei unter zehn Mark warm pro Quadratmeter und sind sozial gestaffelt: Die Abgeordneten zahlen mehr, bei angestammten Bewohnern wird nur ein Teil der Sanierungskosten umgelegt. Die Mieter sind zufrieden. Auch die Nachbarn reagieren freundlich auf den Zuzug. Birgit Bosse, Geschäftsführerin eines Sozialprojekts, wohnt im Haus nebenan und sagt: „Ich finde es gut, wenn die Bonner sich hier untermischen.“ Selbst die Bierbüchsenhalter haben keine Einwände: „Mir is det zwar schleierhaft, warum die gerade zu uns kommen“, sagt einer von ihnen vor dem „Lolly-Pub“, „aber von mir aus könn’ se ruhig. Sehn se mal, wat hier im Osten los is.“ Das größte Problem haben die Bonnerinnen bislang mit ihren Dienstwagen. Ilse Janz, die tapfer eine halbe Stunde zu ihrem Büro Unter den Linden radelt, riet ihrer Mitbewohnerin Niehuis: „Lass dich hier bloß nicht ständig mit dem Dienstwagen abholen.“ Die Kollegin Steen lässt die Limousine der Bundestagsfahrbereitschaft vorsichtshalber schon ein paar Straßen vorher stoppen und läuft dann zu Fuß in die Bänschstraße. Michael Sontheimer 57 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Architektur die neue, helle Architektur des Plenarsaals von Günter Behnisch und die konservativen Wahrer der traditionell steinernen Architektur Berlins gegenüber. Es ging darum, ob Avantgarde und Experiment die baulichen Formen bestimmen sollten oder „neue Einfachheit“ und „preußischer Stil“, ob geschwungene Form und Leichtigkeit aus Glas und Stahl oder Disziplin, Geradlinigkeit, Schwere und Solidität sich durchsetzen könnten. Das Unglück der von Widersachern als „Blockwarte“ verhöhnten Traditionalisten: Sie zogen aus der richtigen Analyse die Berlin, die Baustelle der Nation, sucht zwischen Vergangenheit und falschen Schlüsse. Da sie die BauverbreZukunft eine neue Identität. Neben der Einheitsware der Investoren-Ästhetik chen, von der Nachkriegszeit bis in die siebziger Jahre, nicht wiederholen wollten, entstehen auch eigenwillige Meisterwerke. Von Jürgen Neffe entzogen sie der modernen Architektur inmal mehr erhebt sich diese Stadt len historischen Phasen sind zumindest und ihrem Formenkanon generell das Verüber ihre Vergangenheit. Auf der Fragmente erhalten, Ruinen hier, restau- trauen. Gleichwohl behielten die VerfechSuche nach einer Identität und rierte Bauten dort. Triumphe und Desaster ter der „Europäischen Stadt“ die Obergefangen im eigenen Mythos, der spiegeln sich im Stadtbild wider. Die ganze hand – was den Büros ihrer Propagandisten ohnehin nie mehr war als eine Verwirrung der Welt im 20. Jahrhundert, wie Oswald Mathias Ungers, Jürgen SaMetapher für unbestimmte Sehnsüchte, auch sie gebündelt in dieser Stadt. Doch so wade, Josef Paul Kleihues und Hans Kolldurchlebt Berlin seine Metamorphose gut sie ihr Woher kennt, so schwer tut sie hoff einträgliche Aufträge bescherte. Die von ihnen geforderte „kritische Rezur europäischen Hauptstadtmetropole sich nach wie vor mit dem Wohin. Über diese Frage entlud sich der Berli- konstruktion“ der Stadt mit einheitlicher im Taumel zwischen Befreiung und Niener Architekturstreit, ein ideologischer Traufhöhe und geschlossener Blockbederlage. bauung auf altem Grundriss wurde Wenn es stimmt, dass „eine Stadt“, wie Grabenkrieg, wie ihn die Republik als neue Berliner Baupolitik von Wolf Jobst Siedler in seinem 1998 erschie- in Sachen Städtebau noch nicht er- Neubauten nenen Buch „Phoenix im Sand“ anmerkt, lebt hat. In der seit 1993 äußerst am Potsdamer der Verwaltung streckenweise mit eiserner Hand durchgesetzt – und „die steingewordene Gesellschaft der in polemisch geführten Debatte über Platz zwar nirgendwo so konsequent wie ihr Lebenden“ ist, dann ist Berlin das deut- den Neuaufbau der Hauptstadt Mirakel und in der Friedrichstadt, dem Viertel sche Troja, in dem die Schichten der Ge- standen sich die Vertreter des pro- Debakel dicht zwischen Brandenburger Tor und schichte offen zu Tage liegen. Aus fast al- gressiven Bonn unter Berufung auf beieinander Metamorphose der Metropole E W. BAUER grammdisketten für FassaDagegen herrscht selbst in der neuen dengestaltung stammen, Daimler-Stadt am Potsdamer Platz trotz wie sie die Flachglasin- ihrer missglückten Shopping-Arkaden seit dustrie an ihre Kunden dem Eröffnungstag quicklebendige Aktiverschickt. Selbst die noch vität. Dort haben Kinos, Kasino, Musical, zu DDR-Zeiten entstande- Geschäfte, Gaststätten und Hotel bei hoher nen historisierenden Plattenbauten am Bürodichte offenbar die richtige Mischung Gendarmenmarkt machen gegen die Kon- und kritische Masse für Magnetwirkung sum- und Büroklötze keine schlechte Figur. erreicht. Das ist vor allem dem italieniAldo Rossi versuchte im „Quartier schen Stararchitekten Renzo Piano zu verSchützenstraße“, wenn auch puppenstu- danken. Mit der scheinbaren Leichtigkeit benhaft verspielt, gegen den Trend anzu- seiner voluminösen Bauten und seinen mebauen und die frühere Struktur der Fried- diterran anmutenden Plätzen und Innenrichstadt aufzugreifen. Seinen Block hat er höfen ist es ihm gelungen, dem steinernen konsequent wieder in teilweise äußerst Berlin eine fast heitere Note zu geben. schmale Parzellen zerlegt und collagenhaft Rund um den Potsdamer Platz lassen mit unterschiedlichen Haustypen bebaut. sich Mirakel und Debakel der jüngsten BerDeren oft übertrieben wirkende Farbig- liner Gründerzeit in direkter Nachbarkeit, ein Markenzeichen des Italieners, lässt schaft in Augenschein nehmen. Mehr als das Ensemble allerdings mitunter wie eine sechs Millionen Menschen haben die rote Persiflage wirken – kitschige statt kritische „Info-Box“ auf dem Leipziger Platz bislang Rekonstruktion. aufgesucht, um draußen den Baufortschritt Überzeugender gelingt den und drinnen die fertigen Viertel per Ost-Berliner Architekten Götz DG Bank am Computer-Animation zu begutachten. Bellmann und Walter Böhm, Pariser Platz Ein herber Verlust für Berlin, wenn dieRossis früheren Mitarbeitern, im Aufregende se architektonische Einmaligkeit Ende „Neuen Hackeschen Markt“ un- Architektur ins nächsten Jahres ihren Dienst getan haweit des Alexanderplatzes eine Innere verlegt ben und abgerissen werden wird. Rückbesinnung auf den traditionellen Städtebau. Ihr Spiel mit der Kleinteiligkeit innerhalb dieses in acht Vorderhäuser gegliederten Komplexes mit unterschiedlichen Dächern, Farben, Geschoss- und Traufhöhen fügt sich mit geschickter Vermischung von Läden, Kneipen, Büros und Wohnungen bestens in die enorme bauliche Dichte der Gegend, die ganz Schnelle schon zum Soho Berlins erklärt haben. In der Friedrichstadt dagegen findet solche Differenzierung vor allem unter der Erde statt, in den Kellern jener drei monumentalen Quartiere, die zu den „Friedrichstadtpassagen“ verbunden sind. Gleichsam als Kompensation für die Deckelung himmelwärts setzen sich etliche Häuser des Viertels unterirdisch über drei bis fünf Tiefetagen fort – in der Gesamtheit mit zwei Sockel-, vier Ober- und zwei bis drei Staffelgeschossen nichts anderes als eingegrabene kleine Hochhäuser. Die zur „Flaniermeile“ hochstilisierte Friedrichstraße, die sich in puncto Urbanität mit dem Kurfürstendamm im Westen nicht messen kann, zerrt ihre Passanten in die Tiefe. Statt Urbanität zu schaffen, wie sie die Gegend um den Zoo auszeichnet, wird hier die Idee von der Shopping Mall auf grüner Wiese in verfeinerter Form in die Tiefe der Stadt transformiert. Friedrichstraße Gendarmenmarkt, Unter den Linden und Checkpoint Charlie. So richtig es war, gerade dort Wildwuchs zu verhindern und das Gedächtnis des historischen Kerns zu bewahren, so fatal nehmen sich die Resultate von städtebaulicher Planwirtschaft und ästhetischen Säuberungskampagnen nun aus. Nicht Bauherren, die neben ihrem Geld auch ein wenig Stolz in die Gestaltung von Gebäuden stecken, haben die meisten der neuen Baukörper errichtet, sondern Investorengemeinschaften, die sich für Renditen interessieren, nicht für das Gesicht einer Siedlung. Zwar ließen sich namhafte Baumeister aus der ganzen Welt gewinnen, doch unter dem Druck der strengen Vorschriften und vor allem dem Zwang, maximale Nutzflächen zu erzielen, lieferten die Koryphäen Architektur von der Stange, kalt und charakterarm. Das Bild, welches Friedrichstraße und Umgebung heute abgeben, straft das Konzept der kritischen Rekonstruktion Lügen. Formalitäten wie alte Straßenführung oder maximale Gebäudehöhe können allein den Geist einer Gegend, ihre Vitalität und Vielfalt nicht wiederbeleben. Vor dem Zweiten Weltkrieg gab es in der Straße mehr Lokale als Hausnummern. Ein Häuserblock war selber ein Stück Stadt, das aus einer Vielzahl unterschiedlich bebauter Parzellen bestand. Jede Fassade war anders beschaffen, die Häuserhöhen variierten. Da der Senat in Aufbau-Eile allen Warnungen zum Trotz oft ein ganzes Straßenkarree nur einem Bauträger überließ, ist die Parzelle heute verschwunden – der gesamte Block ist nun das Gebäude. Mögen diese in ihrem Innern teilweise auch ansprechend gestaltet sein – die Außenhäute mit ihren notorischen Steintapeten aus vorgehängtem Travertin, Granit oder Sandstein in nichts sagender Repetition immer gleicher Raster könnten von den Pro- W. BAUER P. LANGROCK / ZENIT Städtebauliche Planwirtschaft, ästhetische Säuberung d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 61 P. LANGROCK / ZENIT 62 d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 ARCHITEKTUR-TOUREN W. BAUER Der Blick von deren Dachterrasse macht in der Praxis deutlich, worum es im Architekturstreit noch theoretisch ging: Gleich im Süden entstehen nach den Plänen von Giorgio Grassi die „Park Kolonnaden“, ein disziplinierter Riegel gleichförmiger düsterer Bauten in roter Backsteinverkleidung. Der Mailänder hielt sich streng an die Vorgaben der Traditionalisten – sein Ensemble wird nicht zu Berlins einladendsten Quartieren gehören. Wie schön, stil- und detailsicher trotz Architekten Schultes, Frank der enormen Masse das steinerne Bauen sein kann, zeigt Hans Kollhoffs Kopfbau chen der Kriegsbombardements einen zum Potsdamer Platz. Das Hochhaus von eigenen, zukunftweisenden Platz. Beim fast 100 Meter Höhe mit seinen sorgfältig Neubau der DG Bank am Pariser Platz in der Klinkerfassade versenkten großen musste der Amerikaner Frank Gehry sein Holzfenstern und seinen horizontalen gestalterisches Können ins Innere des Feingliederungen erinnert an das Chi- Gebäudes verlegen – aufregende Archilehaus in Hamburg. Mit seinen nach tektur versteckt sich nun hinter einer langWesten ausgerichteten, in zwei Stufen weiligen Hülle. Als Altmeister Philip Johnson den abfallenden Flügeln wirkt es wie ein freundlicher Riese, der vor der legendären Auftrag bekam, in der Friedrichstadt einen Bürokomplex zu errichten, empfahl Kreuzung auf die Knie gegangen ist. Das glasharte Sony Center des Deutsch- der New Yorker den Stadtplanern, Beramerikaners Helmut Jahn auf der anderen lin ein Wahrzeichen zu geben. „Wir Straßenseite dagegen lässt die Vorbehalte brauchen Masse, keine Wahrzeichen“, der Traditionalisten im Nachhinein verste- bekam er zur Antwort und stellte den hen. Seine entnationalisierte Architektur Berlinern am Checkpoint Charlie sein setzt sich eitel und eiskalt über alles hin- klobiges, blutleeres „American Business weg, was das Ideal der „Europäischen Center“ hin. Wie recht Johnson hatte, zeigt sich wie Stadt“ ausmachen soll. Spannend wird die neue Berliner Archi- nirgendwo sonst am Reichstag mit seiner tektur dennoch meistens dort, wo kritische neuen Kuppel. Das gläserne Halb-Ei des Sir Rekonstruktion und steinernes Berlin nicht Norman Foster ist zum Symbol des neuen hinreichen, wo eher Künstler als Ingenieu- Berlin geworden, Einheimische und Gäste re am Werk sind und Bauwerke errichten, drängen seit der Eröffnung in Schlangen nach denen sich die Menschen umsehen – über die Rampen nach oben. Das Regierungsviertel hält sich bewusst etwa das von den Berlinern „Gürteltier“ getaufte Ludwig-Erhard-Haus am Zoo nicht an das Korsett der „Kritischen Reoder das GSW-Hochhaus am Rande der konstruktion“ – die Wettbewerbssieger Axel Schultes und Charlotte Frank haben Friedrichstadt. Einige der neuen Botschaftsgebäude ihr 100 Meter breites, ein Kilometer langes wie das Ensemble der Vertretungen Skan- „Band des Bundes“ über den Spreebogen mit Kanzleramt, Abgeordnetenhaus dinavischer Staaten am Tiergarten oder – noch im Entwurf – Skandinavische und Parlamentsbibliothek gegen den historisch belasteten StadtRem Koolhaas’ spektakulärer Botschaften grundriss geplant. Würfel für die niederländische Zukunft Die neue Mitte des Staates disGesandtschaft an der Spree, auf der tanziert sich von der Berliner Bauschaffen sich auf den Leerflä- Leerfläche tradition ebenso deutlich wie von der Architektur der Bonner Republik. Schultes baut dem Kanzler ein Amt des Dritten Wegs, einen orientalisch anmutenden, stellenweise märchenhaft verspielten Palast, der in seiner Wuchtigkeit allerdings mit dem nahen Reichstag symbolträchtig konkurriert. Ein solches Gebäude haben die Bundesrepublik und erst recht Berlin noch nicht gesehen. Ein Träumer hat die Regierungszentrale des neuen Deutschland entworfen – und Schultes’ Motto als Architekt klingt arglos: „Nur Narr, nur Künstler“. Das kann aber auch eine Drohung sein. KULTUR BÜRO BERLIN Das „Kultur Büro Berlin“ (030/444 09 36) bietet während der Berliner Mammutausstellung „Das XX. Jahrhundert“ vom 4. September 1999 bis zum 9. Januar 2000 Busführungen zur Architektur in Berlin. Da die Stadt für eine KomplettTour zu groß ist, stehen die vier Himmelsrichtungen oder die Route „Zentrum“ zur Wahl. STATTREISEN Von April bis September macht „StattReisen“ (030/455 30 28) Spaziergänge durch Berlin. Neben ungewöhnlichen Stadtteil-Touren wie „Steile Platte. Marzahns Zukunft“ und diversen Themenrundgängen werden auch literarische Abendspaziergänge und Einblicke in die „Nachtwelten“ der Szene-Bezirke Mitte und Kreuzberg geboten. GANGART BERLIN Mit „Gangart Berlin“ (030/32 70 37 83) lassen sich die „Großbaustelle Spreebogen“ erkunden, alte und neue Regierungsbauten besichtigen oder per Bus die Spuren der Mauer verfolgen. Wer schon immer mal Fernsehen live erleben wollte, kann die Tour „Film, Fernsehen und Kulisse“ buchen, die unter anderem in die Studios des Filmparks Babelsberg führt. ART:BERLIN Einen Blick in feine Berliner Hotels, Salons und Kunstgalerien erlaubt „art:berlin“ (030/ 28 09 63 90). Architekturführungen, Mauerspaziergänge oder ein Rundgang durch die russische Kolonie in Potsdam stehen ebenso auf dem Programm. REBELLISCHES BERLIN Wer Berlin am liebsten per Schiff und am Sonntag erkunden möchte, kann von Mai bis September Orte des „Rebellischen Berlins“ vom Wasser aus betrachten, mehr vom jüdischen Leben in Berlin erfahren oder sich zu Themen wie „Immer den Frauen nach!“ oder „Hoppla, wir sind vereinigt“ durch die Kanäle schippern lassen von der „Berliner Geschichtswerkstatt“ (030/215 44 50). PLUS PUNKT Mit Bus, Schiff, Fahrrad oder zu Fuß durch Berlin führen die Touren von „plus punkt“ (030/774 40 81). Angeboten wird eine reiche Auswahl zum Thema Architektur und Städtebau, aber auch zur Kulturgeschichte der alten, neuen Hauptstadt. Werbeseite Werbeseite FOTOS: W. BAUER tumsverhältnisse der Häuser abschließend geklärt waren, erstritt Weitz für ihre Interessenten geeignete Objekte: etwa die Bar „Hackbarth’s“ des Ost-Berliner Künstlers Uwe Redigd, heute 37, und des West-Berliner Sozialarbeiters Jörg Breburda, 43. Einst eine muffige Ladengruft, ist die frühere Bäckerei mit dem üppigen Messingtresen und den goldumränderten blauen Fliesen an der Wand heute die Kultstätte in der inzwischen berühmten Auguststraße. Im „Hackbarth’s“, wo es bis jetzt keine ordentliche Registrierkasse gibt und sich die Bedienungen am Ende der Nacht selbst das Honorar ausbezahlen, herrscht noch immer ein wenig die Illusion, Szene-Viertel dass alles ist wie damals, am Mitte Anfang in Mitte: ein Raum Die Claims ohne Regeln, ohne Zwang sind und Hierarchie. „Hier war nichts, und nieabgesteckt mand hatte was zu sagen, wir haben uns jeden Tag selbst neu erfunden, und wir allein waren der Boss“, erinnert sich der inzwischen ebenfalls zu Ruhm gekommene Galerist Harry „Judy“ Lybke, 38, dem Weitz zu Wendezeiten unweit vom „Hackbarth’s“ zu Ausstellungsräumen verhalf. Die von Lybke Betreuten, darunter viele Unbekannte aus dem subversiven Künstlermilieu der DDR, gehören heute fast schon zu den Saturierten des Kunstbetriebs. Viele der damals von Abenteurern aus Ost und West besetzten Wohnruinen in Mitte sind nun frisch getünchte YuppieResidenzen. Dazwischen erhält das Amt für Denkmalschutz eine der abgeblätterten Häuserfassaden im Originalzustand – als Andenken an die wilden Zeiten. Da wurden noch fast alle Bar-Besitzer Kneipen illegal betrieben wie zuletzt die sogenannte MonBreburda Illusion eines tagsbar. Im Drei-Tage-Takt wechselten dort höchst eiRaums ohne genwillige Ausstellungen und Regeln Theaterexperimente. Inzwischen sind in den einstigen Raum der OffKultur-Szene Architekten gezogen, der frühere Mitbetreiber und Filmwissenschaftler Marc Glöde, 30, stieg zum Kurator und Lehrbeauftragten an der Kunsthochschule in Dresden auf. Professionalisierung und „Vermainstreamung“ ist in Mitte voll im Gange, beobachtet der gelernte Autoschlosser und diplomierte Philosoph Olaf „Gemse“ Kretschmer, 37, aus Chemnitz, der 1993 das legendäre „Delicious Doughnuts“ in der Rosenthaler Straße eröffnete. In dem mit witzigen 60er-Jahre-Möbeln zusam- Andenken an die wilden Zeiten Vom Szene-Geheimtip zur Touristenmeile: Im Viertel um die Oranienburger Straße prallen die Gegensätze der Hauptstadt voll aufeinander. lötzlich war Mitte das neue Mitte. Das Zentrum des Ostens direkt hinter der Mauer wurde in wenigen Monaten nach der Grenzöffnung zum magischen Quartier der Ateliers, Galerien, Bühnen und Bars – und das verdankt Berlin-Mitte einer zierlichen blonden Frau aus der Gewerberaumabteilung der Kommunalen Wohnungsverwaltung der DDR. Jutta Weitz, 50, verfügte über 2000 meist baufällige, leer stehende Läden und Fabriken im alten Herzen von Berlin rund um die Oranienburger Straße. Und als Mitte nun wieder wirklich die Mitte der vereinten Stadt war, lenkte die Sachbearbeiterin unauffällig, aber energisch die Entwicklung des Viertels, so dass heute die Touristen noch staunend die Spuren der In-Szene suchen. Kommerz und Kapital, SexShops und Videotheken hatten bei der im Sozialismus sozialisierten Raumverwalterin keine Chance. Von Kunst und Punks hatte sie kaum eine Ahnung, P 64 aber dass man „den Lebensentwürfen der Menschen einen Platz“ geben müsse, davon war die DDR-Bürgerin überzeugt. Wer hier heute etwas hat und etwas ist, verdankt es meist der heimlichen Macherin von Mitte. In nächtelangen Konferenzen mit dem Bezirksamt und meist bevor die Eigen- Werbeseite Werbeseite G.A.F.F. mengezimmerten LiveMusik-Club entstanden damals noch Gegenwelten zur kommerziellen Musikszene des Techno, sogenannter Acid Jazz. Alles Geschichte. „Heute ist das Nachtleben ein Industriezweig“, sagt „Gemse“. Orte, an denen „etwas wirklich Neues beginnt“, gibt es nur noch wenige. Im Jahre zehn nach der Wende ist die Experimentierphase in Mitte so gut wie abgeschlossen, die Claims sind abgesteckt. „Wir Älteren, die wir zuerst hier waren, haben den Finger am Colt, damit die jüngere Generation nicht zu schnell nach oben kommt“, bekennt sich Galerist Lybke zur Verteidigung der eroberten Auguststraße eleganten Ausstellungsort gemacht Pfründen. hat, stellt Biesenbach für verschieNirgendwo Kunst aus Berlin-Mitte ist in- so krasse dene Veranstaltungen zur Verfüzwischen ein nachgefragter Arti- Gegensätze gung: mal gegen Entgelt wie für kel geworden, weltweit. Niemand eine Kommerz-Party von Wolfhat dafür mehr getan als der ehemalige gang Joop, mal kostenlos wie für einen KulMedizinstudent Klaus Biesenbach, der seit tur-Event der Berliner CDU. der Wende eine atemberaubende KarrieLangsam erwacht auch das jüdische Lere vom interessierten Laien zum interna- ben wieder, das in Berlin-Mitte sein deuttionalen Kunstmanager vollzog: Der sches Zentrum hatte und bis zur Nazi-Zeit Rheinländer erfand die „Berlin Bienna- die flirrende Vielfalt des gesellschaftlichen le“, eine Schau von Nachwuchskünstlern, Lebens prägte. Dass die Deutschen offenund ist mit 33 Jahren bereits „Senior-Cu- bar weit entfernt sind vom selbstverständrator“ im New Yorker Ausstellungszen- lichen Umgang mit den Juden, zeigt nicht trum PS1. nur die massive Polizeipräsenz vor den jüDurch seine Kontakte zur internationa- dischen Gebäuden. len Kunstszene entscheidet Biesenbach Lara Dämmig, 35, im Ostteil der Stadt heute mit, ob Christoph Schlingensief ans aufgewachsen und heute Mitarbeiterin der Museum of Modern Art nach „Ronald S. Lauder Foundation“ des New „Newton“- New York gelangt oder Chris- Yorker Kosmetik-Erben, stört mittlerweile Bar tine Hill zur Documenta nach schon die „Folklorisierung“ des Jüdischen. Fama von Kassel. Seine „Kunst-Werke“, Plötzlich spielten Nichtjuden zur Unterder ewigen eine ehemalige Margarinefa- haltung nichtjüdischen Publikums die geParty brik in Mitte, aus der er einen rade angesagte Klezmer-Musik. Jedes zwei- te Café auf der Oranienburger Straße werde wie das „Silberstein“ oder „Mendelssohn“ nach berühmten Juden benannt, kritisiert Dämmig, auch wenn man dort Schweinegeschnetzeltes serviere und es keinerlei Bezug zum jüdischen Leben gebe. Kreative und In-People aus der ganzen Welt hat die Fama angelockt von der ewigen Party, die jeden Tag neu gefeiert wird. Geborene Berliner sind in Berlin-Mitte ohnehin eine rare Spezies. Über 10 000 der 74 500 Einwohner ziehen jährlich wieder von dort fort, dafür kommen mehr als 9000 neue. Seit fast 200 Jahren lockt das Zentrum die mobilen, unruhigen Wahlberliner an. Hier hat 1838/39 der Jurastudent Karl Marx aus Trier gewohnt. Der junge Feuerkopf verkehrte im „Doktorclub“ und dichtete: „Alles möcht ich mir erringen. Nur nicht dumpf so gar nichts sagen und so gar nichts wolln und tun.“ Bis heute gibt es in der mehr als DreiMillionen-Stadt Berlin nirgendwo sonst so krasse soziale Gegensätze wie in Mitte. Rund um die Hackeschen Höfe und das Scheunenviertel hinter der Oranienburger Straße leben die gut verdienenden Singles neben Studenten, Kreativen und kleinen Angestellten. Arbeitslose versammeln sich hier morgens um neun Uhr am Elektrizitätskasten zum Bier, die schönen SzeneMenschen abends in der „Newton“-Bar. Gleiche Chancen für alle, weiß Jutta Weitz, bis heute Mitarbeiterin der Wohnungsbaugesellschaft Mitte, wird es hier so schnell wohl nicht wieder geben. „Zehn intensive Jahre waren das“, sagt sie, „was jetzt kommt, ist nicht aufzuhalten.“ Vor ihrer kleinen Wohnung in der Auguststraße parken inzwischen die roten Sportcabriolets der In-People, und demnächst zieht Außenminister Joschka Fischer auf den Kiez. Susanne Koelbl GALERIEN IN BERLIN-MITTE GALERIE NEU Charitéstraße 3, 10117 Berlin Telefon 285 75 50 NEUGERRIEMSCHNEIDER Linienstraße 155, 10115 Berlin Telefon 30 87 28 10 SCHIPPER & KROME Auguststraße 91, 10117 Berlin Telefon 28 39 01 39 GALERIE BARBARA THUMM Dircksenstraße 41, 10178 Berlin Telefon 28 39 03 47 GALERIE EIGEN + ART Auguststraße 26, 10117 Berlin Telefon 280 66 05 K. THIELKER KUNST-WERKE BERLIN Auguststraße 69, 10117 Berlin Telefon 28 17 325 66 d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Ve r ga n g e n h e i t schleift wird, hat es die von Ulbricht erbaute Prachtstraße der Arbeiter zum „Europäischen Kulturdenkmal“ gebracht. Der Hauptweg des Arbeiter-und-Bauern-Staates trägt heute unverfänglichere Namen: Karl-Marx- und Frankfurter Allee. Die Besitzerin des Zeitungsladens dort am U-Bahnhof Weberwiese wirkt wie ein Ausstellungsstück aus dem DDR-Freiluftmuseum. Selbst in der Sanierung des Straßenzuges kann sie westdeutsche Knechtung erkennen. Das mit dem Denkmalschutz, erklärt die studierte Psychologin und Ökonomin, die seit der Wende ihre Kenntnisse über Marktwirtschaft erfolgreich anzuwenden weiß, Löffeln auf Ostdeutsch FOTOS: W. BAUER Überall im Ostteil Berlins finden sich die Reste der „Hauptstadt der DDR“ – nicht nur zu Stein geworden in der einstigen Stalinallee oder am Majakowskiring, sondern auch in den Köpfen der Menschen. ahnenmasten stehen Spalier in Pankow, am Schloss Niederschönhausen, vor verlassenen Gästehäusern am Majakowskiring und im Garten des Wohnhauses mit dem Metallschild „Ulbricht“ an der Pforte. Die Fahnenmasten stehen stramm, als sei der dunkelblaue Volvo noch unterwegs, der schwarze Tschaika oder die graugrüne Staffel der Volkspolizei. Doch nur eine kleine Frau mit weißem Haar dreht eingehakt in den Arm ihrer Begleiterin ihre Runde an der einstigen Protokollstrecke der DDR. „Das ist unsere Lotte“, erklärt die Frau von der benachbarten Bundesforstverwaltung. Lotte Ulbricht, 96, die Witwe des einstigen Staatsratsvorsitzenden Walter, wohlauf, aber nicht so gesprächig wie in der Pankower PDS-Basisgruppe, schlurft durch jenes Viertel, das Konrad Adenauer veranlasste, die DDR das „Pankower Regime“ zu schimpfen. Dem Bundesvermögensamt, dem hier fast alles gehört, was sich einst die DDR angeeignet hatte, sei Dank: Der Renovierungswahn kapitalistischer Investoren konnte sich in dem beamtenverwalteten Viertel noch nicht austoben. So bleibt F 70 in der Hauptstadt der Berliner Republik ein Stück „Aufopfernde Hauptstadt der DDR erhalten. Arbeit der Überall im Ostteil der SowjetStadt gibt es solche Markmenschen“ steine einer gar nicht so vergangenen Epoche: Von den Helden der Arbeit, in Bronze gegossen und in die Parks verteilt, bis zum Überschuss an Kindergartenplätzen reicht das DDR-Angebot. Stalins Sprüche über die „aufopfernde Arbeit der Sowjetmenschen“ leuchten noch immer in Blattgold am Treptower Ehrenmal für die sowjetischen Soldaten – nicht mal eine kleine Tafel hingegen erinnert am Schloss Niederschönhausen an den „Runden Tisch“, der die Demokratisierung der DDR hier voranbrachte. Gerüste stehen am „Palast der Republik“, verspottet als Erichs Lampenladen, Gerüste auch an der einstigen Stalinallee, durch die Berliner Bauarbeiter am 17. Juni 1953 demonstrierend zogen. Doch während der Palast, in dem die ersten und letzten frei gewählten Volkskammerabgeordneten sich 1990 kurz in Demokratie übten, von Asbest befreit und dann wohl ganz geThälmannDenkmal d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 sei der neueste Kniff der Weltzeituhr am Wessis: „Die mauern uns Alexanderplatz sogar die Müllschlucker „Die mauern zu.“ Aus Gründen der Hy- uns zu“ giene? „Angeblich“, kontert sie knapp und verzieht vielsagend den Mund. Gewiss kommen Ost und West in Berlin auch zusammen, an den Universitäten, an denen Dozenten nicht mehr nach der Herkunft der Studenten fragen, oder im Grünen-Kreisverband von Prenzlauer Berg, der inzwischen mehr west- als ostdeutschstämmige Mitglieder hat und in dem mehr Schwäbisch als Sächsisch gesprochen wird. Doch wie in keiner anderen Stadt hält sich in Berlin, der einstigen DDR-Vorzeigemetropole, neben der neuen Normalität zugleich ein Bewusstsein, das in der DDR nicht nur wurzelt, sondern auf dem alten Humus weiterwächst. Dietrich Mühlberg, früher der Papst der DDR-Kulturwissenschaftler an der Humboldt-Universität und nun abgewickelter Professor, hat die ostdeutschen Besonderheiten zu einer Art Rassentheorie des Ossis verquirlt. Was ostdeutsch ist und wer ostdeutsch ist, erkennt er wenigstens auf den zweiten Blick. Und natürlich ist es besser als westdeutsch. Seine Tochter, erzählt Mühlberg, wolle nichts mehr mit dem Osten zu tun haben. „Da habe ich ihr gesagt: Alle zehn Sekunden kann ich dir anmerken, dass du aus dem Osten kommst.“ Er nimmt den Löffel in die Hand und führt vor, wie östlich und wie westlich eine Suppe gelöffelt wird. Der Westler führe den Löffel vom Körper weg in den Teller, dann weit weg und erst im hohen Bogen in den Mund. Der Ostler hingegen löffle zügig in sich hinein. „So löffeln eben kleine Leute.“ Westler sagen Sex mit hartem, Ostler mit weichem S, Westler brauchen mehr Platz, größere Arbeitszimmer („Sonst fühlen die sich eingesperrt“), Westler haben kein gutes Verhältnis zum Körper. Mühlberg ist heute wieder wer: In der einstigen Hauptstadt der DDR, in der nun auch Rheinländer heimisch werden wollen, organisiert er „Ostdeutsche Kulturtage“. Von seinen schlagenden Beweisen ist es nur ein Steinwurf bis zu offenem Hass gegen die Wessis. In den dicht besiedelten und immer wieder als „Szeneviertel“ titulierten Bezirken Friedrichshain und Prenzlauer Berg haben sich vermeintlich linke Aktivisten an die Spitze einer Bewegung gesetzt, die sich gegen die Verdrängung sozial Schwacher aus den Quartieren wehrt. Ideologisch aufbereitet, wird aus dem berechtigten Protest ein verdächtig völkisches Aufbegehren: gegen die angeblich nicht einzudämmende Flut von Westdeutschen, die gen Osten strömt. Solche Sorgen kennt man nicht am Majakowskiring. Die öffentliche Hand als Vermieter oder Hausbesitzer ist nicht viel anders als die KWV, die Kommunale Wohnungsverwaltung der DDR. Alte Mietverträge sichern alten Kadern einen ruhigen Lebensabend rund um den Majakowskiring. In dem Haus, in dem einst Justizministerin Hilde Benjamin wohnte, lebt heute ihr Sohn Michael. Der sitzt nun an demselben Schreibtisch, an dem vormals Hilde arbeitete, die rote Hilde, berüchtigt für ihre harte Prozessführung in den fünfziger Jahren. Zwei Todesurteile hat sie verhängt. Benjamin junior arbeitet an einer Biografie seiner Mutter, die mit dem Bruder des Schriftstellers Walter Benjamin verheiratet war. Er will seine Mutter nicht reduziert sehen auf ihre Zeit als Richterin und Ministerin. Schließlich hat sie nicht nur harte Urteile verfasst, sondern auch einfühlsame Erinnerungen an die jüdische Dichterin Gertrud Kolmar. Auch Benjamin, Mitglied der „Kommunistischen Plattform“ und des Parteivorstandes der PDS, ist ein Teil der DDR, die Bestandteil der Bundesrepublik Deutschland geworden ist. Mit der Ost-Berliner Straßenbahn kann er nun vom Majakowskiring bis in den West-Berliner Wedding vordringen. Stefan Berg Lizenz zum Meckern Seit der Wende breitet sich der Berliner Schnodderton wieder aus. Nun hat der gefürchtete Witz ein neues Hassobjekt: die Ankömmlinge aus Bonn. angsam einsteigen is nich. „Wird dit türlichen Feind des neuen Berlin. Autonoheute noch ma wat? Komm inne me und Normalos, Ossis und West-BerliHufe!“ U-Bahnstation Hermann- ner, so sehr sie einander auch verachten, platz, Neukölln. „Ssurückbleim!“ kennen ihre Gegner: Ist es vielleicht doch die falsche Modernisierer und Dynamiker allgeRichtung? Suchender Blick auf den U- meiner Art. Dazu jene, die Berlin nicht für Bahnplan an der Waggondecke. Ellenbogen den einzig lebbaren Ort der nördlichen bohren sich in den Rücken, drücken ins Hemisphäre halten. Und schließlich alle, Abteil. „Gloobs wohl, du biss alleene uff die durch schiere Anwesenheit die Idylle der Welt, wa?“ im Kiez bedrohen. Die echten Balina. Bei Tucholsky kamen So weben von Charlottenburg bis Kösie noch aus Posen oder Breslau und hat- penick Visionäre am real existierenden ten keine Zeit. Heute stammen sie von vor Angstszenario der Hauptstadtwerdung: oder hinter der Mauer und wissen nicht Schlipstragende Karrieristen machen die mehr, wo’s langgeht. Also sind sie ruppig. Mieten kaputt und ziehen in DachwohUnverdrossen sagt ihnen der Volksmund nungen. Da wohnt er am liebsten, der BonHerz hinter der Schnauze nach. Verborgen ner. Dachgeschosse sind sein „Terraing“. unter einem proletenhaften Panzer aus res- Als Chef im Büro oder als Kundin im Lapektloser Schnodderigkeit soll irgendwo den terrorisieren sie die Alteingesessenen das Gute sitzen. Nähere Auskünfte erteilt und führen dabei Tabuwörter wie „SerIhre freundliche Berlin-Werbung. vice“ im Mund. Een Service kommt aba Seit jeher fühlt sich der Balina als Held aus Meißen und steht bei Omma innen des Alltags. Gewappnet mit sarkastischSchrank. lakonischen Sprüchen à la Heinrich Kein Zweifel, seit der Wende ist Zille, hat er preußische Zensur Berlinern wieder auf dem Vorund die Blockade ausgesesmarsch. Vom Ostteil der sen, die Bomben und die Stadt, wo das Berlinische viBonzen. Wie ein Fluch hängt taler geblieben ist, erobert es über der Stadt, dass alle undie Stadtsprache im Westen – jemein jewitzt sein müssen. als Lizenz zum Meckern. Und schlagfertig. Gut genörgelt ist halb Humoa? Grobheit, kommuniziert. Beim genicht selten gefolgt meinsamen Schimpfen kommt man sich schnell von Nötigung, Körnahe. Man kann sagen, perverletzung und dass Konversation in Berlin Sachbeschädigung. meist über etwas Drittes, „Du verschissene störend dazwischen GerateRussenfotze, du nes erfolgt. Darüber regen Scheiß-Sau.“ Wie sich alle Beteiligten auf, um von Sinnen tobte ein dann zufrieden gegenüber Kreuzberger Rentner, Neuankömmlingen auszuals er sah, wie eine rufen: Sehn Se, dit is Balin! Lada-Fahrerin ein VorMeckern und das Bederauto beim Einparken leicht touchierte. Es war nicht Zille-Figuren meckerte lieben. Nach Ordnung schreien und das Chaos mal sein eigenes. Und wenn sich ein Türke vor dem scharf gemachten Pit- dulden. Hauptstädter sein wollen und probull gerade noch in sein Auto retten kann, vinziell denken. Hilfsbereitschaft mit feixt dessen Neuköllner Herrchen breit- Schnoddrigkeit übertünchen. Das ist die beinig: „Verstehen keen Spaß, die Ka- berlinische Dialektik. „Jeht’s nich noch größer?“, nörgelte ein nacken, der will doch nur’n Döner!“ Allen Mythen zum Trotz ist der Berliner Busfahrer, als ein Fahrgast nur mit einem gleichwohl kein Großstadtbürger. Sein Hundertmarkschein bezahlen konnte. UnMisstrauen gilt dem Neuen. Seine Frem- ter Maulerei über fehlendes Wechselgeld, denfeindlichkeit ist solide. Sorgsam hegt die Dreistigkeit und überhaupt wurde der er eine Kleinstadtborniertheit, die er nach Fahrgast schließlich durchgewinkt und um30 Jahren Inseldasein für seine Mentalität sonst transportiert. Sehn Se, ooch dit is hält. Das macht den Alt-Berliner zum na- Berlin! Adrienne Woltersdorf L d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 71 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Ost-West Trotz und Vorurteil Wo einst die Mauer stand, ist kaum noch zu erkennen. Doch Ost- und WestBerliner fremdeln noch immer. s war einer dieser warmen SommerVieles hat sich im vergangenen JahrSonntage. Der West-Berliner Kunst- zehnt getan. Und doch ist „der Graben“ historiker hatte sich mit Ostver- zwischen der alten Frontstadt West-Berlin wandten an einem See getroffen, und der ehemaligen Hauptstadt der DDR man hatte zusammen gegessen, ge- „tiefer geworden“, sagt Axel Schmidt-Göredet, gelacht. Wir können doch mal delitz, Leiter des Berliner Büros der Friedschnell baden gehen, schlug schließlich ei- rich-Ebert-Stiftung. ner vor, und eh der Charlottenburger so Der Abgrund existiert vor allem in den richtig begriff, hatten sich seine Ostbesu- Köpfen. Besonders wer auf der einen oder cher schon splitternackt ausgezogen. der anderen Seite der geteilten Stadt bis Er war fassungslos. Nicht dass er prü- zur Lebensmitte geprägt wurde, „lauert“ de wäre, nackt baden am FKK-Strand, oftmals, so Schmidt-Gödelitz, „nur auf bitte sehr, aber „so überall und an jedem zwei, drei Stichworte, die alles, was an VorOrt“, das sei doch nun wirklich „eine Stil- urteilen schon da war, bestätigen“. frage“. Die Westler sind berechnend, oberDie fehlende Badehose als Ost-West- flächlich und arrogant, heißt es im Osten. Konflikt – selbst in der Sprechstunde der Und im Westen wollen viele einfach nicht Ost-Berliner Familientherapeutin Anna- verstehen, warum „die da drüben“ nicht Margarete Krätschell, 56, war der textile endlich so sind „wie wir“. Unterschied schon mehrmals heiß umFür den „normalen West-Berliner“, sagt kämpftes Thema. West-Partner kämen Klaus Schütz, 72, zwischen 1967 und 1977 „mit dem freien Umgang“ ihrer Ost-An- Bürgermeister der Teilstadt, finden die Vergetrauten nicht klar, hat die Beraterin fest- änderungen rund um den Potsdamer Platz gestellt. „Die sind viel prüder als die DDR- „eigentlich nicht statt“. Das, so der SoziLeute“, glaubt sie, und ihr Mann Werner, aldemokrat, „ist ein reiner Tourismusvorein 59jähriger Theologe, fügt hinzu: „Die gang“. Westler halten uns für Affen, die sich ins Hatte man sich in den ersten Jahren Wasser stürzen, ohne Rücksicht auf das nach dem Fall der Mauer noch gestritten Schamgefühl der Menschen.“ und gegenseitig gekränkt, so gehen sich Berlin, zehn Jahre nach dem Fall der Ost- und West-Berliner inzwischen am liebMauer. Der ehemalige Grenzstreifen ist sten ganz aus dem Wege. fast zugebaut, in der Ost-Berliner FriedUnd wer sich doch jenseits der imarichstraße funkeln die Kontor- und die ginären Grenze auf ein Fest verirrt, dem Konsumpaläste, in Marzahn haben kann es passieren, dass er den Vorsich die riesigen Plattenbauten mit Wandspruch in stoß schnell wieder bereut. freundlich-hellem Anstrich und Ost-Berlin Immer wieder müsse er auf großen Balkonen eine heitere „Was ist denn da West-Partys „gleich für den Note zugelegt. ganzen Osten geradestehen“, sagt bei euch los?“ FOTOS: W. BAUER E Dabei sind die Krätschells alles andere als DDR-Nostalgiker. Im zweiten deutschen Staat waren der ehemalige Superintendent von Pankow und seine Frau Mittelpunkt einer aktiven Friedens- und Oppositionsbewegung. Aber wie vielen, die sich jahrelang an der DDR gerieben haben, war ihnen lange nicht bewusst, dass ihnen mit dem Staat auch ihr vertrautes Wertesystem verloren gehen könnte. Eine „merkwürdige Identitätskonstruktion“ hat der Ost-Berliner Kunsthistoriker Matthias Flügge, 47, ausgemacht: „Bei allem Abstand und Widerwillen, bis hin zum Kotzen, wenn man den Fernseher anmachte“, habe man eben doch „viel Strahlung von Nestwärme in sich aufgenommen“, sagt der Vizepräsident der Berliner Akademie der Künste. Auf eine verquere Art geht es den West-Berlinern ganz ähnlich. Jahrzehntelang konnten sich Dietmar Volk, 37, Ost-Berliner Grü- Straßenfest die Bewohner der von ostdeutnen-Abgeordneter im Stadtparla- in Ost-Berlin schen Kommunisten umstellten ment. Rechtsradikale in Branden- „Unter uns ist Teilstadt besonderer, vor allem auch finanzieller Fürsorge vom burg? Unfreundliche Kellner auf Rü- es doch am Rhein sicher sein. Die Folge: In gen? Alle gucken ihn empört an: schönsten“ West-Berlin ging es immer et„Sag mal, was ist denn da bei euch los?“ „Wieso denn bei euch?“, fragt er was gemächlicher zu als in der Bundesdann entgeistert zurück und versucht, nicht republik. Nun, nach dem Fall der Mauer, ist die allzu beleidigt dreinzuschauen. Schließlich will er am Ende nicht auch noch als „Jam- alte Gemütlichkeit weg und die Berlin-Zulage auch. Stattdessen sind die Ost-Berliner mer-Ossi“ einsortiert werden. Wenn Familienberaterin Krätschell und dazugekommen, und die erscheinen den Ehemann Werner zum Jahresende zu Westbewohnern enttäuschend undankbar: Weihnachtsplätzchen und Christstollen in Mehr als 40 Prozent votierten bei der Euihr Haus nach Pankow einladen, werden ropawahl für die PDS. „Dafür“, sagt der Westler so fein dosiert dazugebeten, als West-Berliner Schütz, „gibt es hier kein gelte es, ein bedrohtes Biotop vor dem Verständnis.“ In Wahrheit, meint Hans-Henner Becker, Umkippen zu bewahren. Mehr als ein, zwei Ehepaare West, sagen die Krätschells, der das Ost-Berliner Wahlkreisbüro des Soseien nicht zu verkraften. Und das auch zialdemokraten Wolfgang Thierse leitet, nur, wenn die Gäste Ost-Erfahrung mit- seien Ostler und Westler in ihren Alltagssorgen nicht mehr zu unterscheiden – wohl brächten. Meist kracht es dennoch. Etwa wenn die aber in der Art ihrer Wahrnehmung. Bei ehemaligen DDR-Bürger in Erinnerungen Ost-Berlinern, so der gebürtige Rheinlänan ihr privates Glück im untergegangenen der mit Wohnsitz Prenzlauer Berg, sei die Staat schwelgen und davon, wie sehr man Erwartung an die Politiker deutlich hösich gegenseitig geholfen habe, und die her als im Westen – und die Enttäuschung Westler meinungsstark mit Bemerkungen über unerfüllte Wünsche auch erheblich über Schießbefehl und Mauer dazwi- größer. „Wir sind groß geworden mit dem Geschengehen. Die aus dem Westen brächten „ständig fühl, es gibt irgendwo die ideale Geselldie Ebenen durcheinander“, ärgert sich schaft“, sagt die Ost-Berliner Grüne MariWerner Krätschell dann. „Die wissen nicht, anne Birthler, und die Sehnsucht danach was kaputtgegangen ist in diesen Menschen habe die DDR überlebt. Eine „Wolke von Schwermut“ registriert hier.“ Doch es sind nicht nur Verständnis- die ehemalige Bürgerrechtlerin deshalb geprobleme, die das Ost-Berliner Ehepaar legentlich in ihren Versammlungen. „Ist schließlich zu dem Bekenntnis verlei- es nicht alles schlimm“, frotzelt die Ostten: „Unter uns ist es doch am schönsten.“ Berlinerin dann ihre Zuhörer an, „und Sie wollten da „wohl auch noch was man kann nicht mal einen Ausreiseanfesthalten“, hat Werner Krätschell er- trag stellen.“ Die Antwort ist ein tiefes Seufzen. kannt. Karen Andresen d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 75 Werbeseite Werbeseite Kultur Sexy Shaker Nights W. BELLWINKEL Berlins Kulturleben zwischen Staatsoper, Hanf-Parade und Techno-Club ist so vielfältig wie chaotisch. Eine kleine Orientierungshilfe für den aufgeschlossenen Neu-Berliner. herzliche Freude, daß die Welt nicht untergegangen ist.“ Es ist also alles schon mal Erlebnissucht da gewesen, jede Angst und der neuen jedes Glück. Jeden MittMitte woch aber findet die einzige Berliner BLADE-NIGHT statt, zu der sich mehrere tausend Inline-Skater aller Klassen, Geschlechter und Altersstufen spontan gegen 21 Uhr am S-Bahnhof Tiergarten versammeln, um dann in wilden Haufen die Straße des 17. Juni in Richtung Siegessäule hinunterzufahren, rechts am Brandenburger Tor vorbei, das Hotel Adlon umkurvend, schließlich Unter den Linden weitersausend bis fast vor den frisch verlegten Rollrasen am provisorischen Bundeskanzleramt. Wer’s etwas gemächlicher mag, umkreist zu Fuß die MUSEUMSINSEL zwischen Lustgarten und Monbijoupark, um dann ins Innerste der „Stiftung Preußischer Kulturbesitz“ vorzustoßen: Pergamonmuseum, Altes Museum, Bodemuseum – die alte Nationalgalerie ist wegen Sanierung geschlossen. Ein paar Schritte weiter, im Kronprinzenpalais gegenüber dem Zeughaus Unter den Linden 3, residiert vorübergehend das DEUTSCHE HISTORISCHE MUSEUM (DHM), das seit 1988 interessante, teils umstrittene zeitgeschichtliche Ausstellungen realisiert hat – von der „Auftragskunst“ in der DDR bis zur aktuellen Schau der besten Fotografien von Barbara Klemm zwischen 1968 und 1998. Titel: „Unsere Jahre“. Im MARTIN-GROPIUS-BAU an der Wilhelmstraße, gleich neben der Gedenkstätte „Topographie des Terrors“, ist noch bis zum 3. Oktober die spektakuläre Revue zum 50. Geburtstag der Bundesrepublik zu sehen, die das DHM in zweijähriger Arbeit zustande gebracht hat – ein beeindruckender Erlebnispark der jüngsten deutschen Geschichte, kaum 50 Meter entfernt von den Resten der GestapoZentrale. Solange es noch warm ist, hält sich der Berliner gern draußen auf – am Wochen- W. BELLWINKLEL Galerie Neugerriemschneider er neu ist in Berlin und sich für Kulturelles interessiert – von der großen Operninszenierung bis zum intimen Club-Event –, dem ergeht es nicht viel anders als neugierigen Stadtnovizen in Paris, London oder New York: Die schiere Fülle des Angebots, nimmt man es zum Nennwert, erzeugt Augenbrennen, Herzrasen und Ohrensausen. Frei nach Ernst Bloch: Wohin gehen wir bloß? Auch der geübte Pfadfinder im Großstadtdschungel, der sich mit Hilfe von Stadtillustrierten, Broschüren aller Art, „Underground“-Flyern, Mundpropaganda und Internet zu orientieren versucht, erlebt den Overkill als ständige Herausforderung. Denn wer weiß schon, ob man die „Sexy Shaker Night“ in der GOLDMINE (Mitte, Dircksenstraße 37) ansteuern soll, die „Glam-Fashion“-Party im 90 GRAD (Schöneberg, Dennewitzstraße 37) oder doch lieber die „Tiger-Lillies“, die in der BAR JEDER VERNUNFT (Wilmersdorf, Schaperstraße 24) gastieren. Dann aber hätte man schon die „1. Potsdamer Schlössernacht“ verpasst, die Ende August immerhin 40 000 kunstsinnige Nachtwandler anzog. Gleichzeitig rief die „Akademie der Künste“ zum „Internationalen Tanzfest“ und die „Kalkscheune“, direkt hinter dem Friedrichstadtpalast, zum W „Bimmler von West-Bérlôen“ mit Special Guest Biggy van Blond. Und drei Orientalische Wochen lang feiern nun Konzertnächte auch noch die 49. Berliner und EventFestwochen „Junges TheaKultur überall ter aus Osteuropa“. Schon genug? Zwei Grundregeln sollte der Neu-Berliner beherzigen. Erstens: Die Stadt ist nur zu Fuß und per Fahrrad zu entdecken. Hier hilft der gerade erschienene Bildband „Sprung in die Zukunft. Das neue Berlin: Die Veränderungen im Stadtbild“ (JaronVerlag). Zweitens: Auch in schwierigen Augenblicken, etwa, wenn wieder einmal schwebende Teile der Fensterfront von den Galeries Lafayette auf die Friedrichstraße stürzen, gilt es, gelassen zu bleiben. Die Tugend des Gleichmuts, die prinzipielle Unerschrockenheit des Metropolenbewohners, lehrt schon ein kurzer Blick zurück. „Wo liegt Berlin?“, fragte bereits vor 100 Jahren Alfred Kerr ahnungsschwanger, dessen „Briefe aus der Reichshauptstadt“ im Aufbau-Verlag erschienen sind. „In der Mentalität seiner Bewohner“, könnte die Antwort lauten. Wenige Tage vor dem Jahrhundertwechsel, am 19. November 1899, notierte der Theaterkritiker und leidenschaftliche Flaneur kurz und trocken: „In Berlin herrscht allgemeine Performance im Jüdischen Museum d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 77 Das nicht weit entfernte HAUS DER KULTUREN DER WELT (John-Fos- W. BAUER ter-Dulles-Allee 10) wiederum, ein Ort ebenso vielseitiger wie anspruchsvoller Veranstaltungen – von orientalischen Konzertnächten mit männlichen Bauchtanzvirtuosen bis zu internationalen Symposien über den „Clash of Civilizations“ –, hat viele kleine Dirigenten und feiert dennoch dieser Tage sein zehnjähriges Jubiläum. An seiner bemerkenswerten architektonischen Sprache, die vom Berliner Volksmund im Bild der „schwangeren Auster“ dechiffriert wurde, ist es unschwer zu erkennen. Am frühen Abend, wenn Rembrandt, Raffael und die Orient/Okzident-Problematik die Kehlen ausgetrocknet haben, ist es Zeit für ein Kölsch. Der kürzeste – und sicherste – Weg dahin führt an den Schiffbauerdamm vis-à-vis dem S-Bahnhof Friedrichstraße. STÄNDIGE VERTRETUNG , kurz „StäV“, heißt der geräumige, stets gut gefüllte Laden, der Exil-Bonnern und nicht nur ihnen das Gefühl vermittelt, daß der Westen den Kalten Krieg doch nicht verloren hat: ein lukullischer wie innenarchitektonischer Triumph des rheinischen Kapitalismus mit jeder Menge Adenauer, Brandt, „halven Hahn“ und Riefkooche. Doch diese krude Mischung hat nach wie vor ihre unerbittlichen Feinde. Rechtzeitig zur Jahrtausendwende ruft das BERLINER ENSEMBLE am Bertolt-Brecht-Platz, nur ein paar Kölsch-Längen von der StäV entfernt, unter seinem neuen Chef Claus Peymann zum zeitkritischen Gegenwartsstück à la Peter Handke – wie ein widerständiger „Reißzahn“, so der vom Wiener Burgtheater an die Spree gewechselte StarIntendant, solle das altehrwürdige, aber runderneuerte Brecht-Heiligtum die politische Kultur der frisch gebackenen Hauptstadt aufmischen. Weniger verbalradikal, dafür mehr auf direkte Schockeffekte abonniert, ist das jugendlich-freche Tandem Thomas Ostermeier/Sasha Waltz, das die traditionsreiche West-Berliner SCHAUBÜHNE am Lehniner Platz übernimmt. Unvergessen bleibt, wie Sigrid Löffler im „Literarischen Quartett“ gar nicht genug davon kriegen konnte, Ostermeiers Aufsehen erregende Inszenierung des britischen Stücks „Shoppen und Ficken“ immer wieder wohl artikuliert beim Namen zu nennen. Gespannte Erwartung also hier wie dort. Ihren Ruhm geerntet hat dagegen längst die blühende Galerienszene rund um August-, Linien- und Sophienstraße im alten jüdischen Scheunenviertel. So beherbergt die SAMMLUNG HOFFMANN (Sophienstraße 21) einen der größten deutschen Privatschätze W. BAUER Pergamonmuseum Kunst am Bau in der Kollwitzstraße (Prenzlauer Berg) ende, wenn nicht gerade Love Parade, Christopher Street Day, Karneval der Kulturen oder Hanf-Parade ist, auch „janz weit draußen“, kurz „jwd“, sprich „jotwedee“. Wochentags heißt das: auf den holzbankbestückten Bürgersteigen, wo noch irgend Platz ist zwischen Zehlendorf und Pankow oder an der ORANIENBURGER STRASSE, der Rennstrecke für erlebnissüchtige Besserverdienende zwischen dem Zentralorgan der neuen Mitte, den HACKESCHEN HÖFEN, und der alternativ geschäftstüchtig belebten TACHELES-Ruine. Auch am POTSDAMER PLATZ, der dabei ist, trotz aller Kulissenhaftigkeit ein wirklicher Anziehungspunkt des neuen Berlin zu werden, trifft sich das Freiluft-Berlin. Im Februar 2000 werden dort erstmals die Internationalen Filmfestspiele der „Berlinale“ stattfinden – in unmittelbarer Nähe eines weiteren Zentrums der Künste, dem ewig unvollendeten Ensemble des KULTURFORUMS (Matthäikirchplatz 8) am südlichen Rand des Tiergartens. Dort locken, auch ohne das erhitzte Event-Marketing einer „Langen Nacht der Museen“ mit integriertem Shuttle-Service, die 1998 eröffnete „Gemäldegalerie“ klassischer Meister, die NEUE NATIONALGALERIE des Moderne-Pioniers Mies van der Rohe und Hans Scharouns PHILHARMONIE an der Herbertvon-Karajan-Straße 1, Heimstätte der legendären Berliner Philharmoniker – Simon Rattle will hier von 2002 an als Chefdirigent für ganz neue Töne sorgen. 78 d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 moderner Kunst, darunter Werke von Sigmar Polke,A. R. Penck, Gerhard Richter und Andy Warhol. Unter derselben Adresse zeigt die Galerie CONTEMPORARY FINE ARTS junge britische Kunst. In der Auguststraße 69, einer ehemaligen Margarinefabrik mit barockem Vorderhaus, präsentiert die Galerie KUNSTWERKE Arbeiten des Amerikaners Dan Graham – ein Café im prunkvoll restaurierten Hof ist Teil des Gesamtkunstwerks. Alterspräsident der Szene ist Judy Lybke (EIGEN+ART, Auguststraße 26), der als Pionier aus Leipzig kam, sah und siegte. „Asphalt, Straßenspülung, Haustorschlüssel, Luftheizung, Warmwasserleitung“, so hat Karl Kraus einmal seine Ansprüche an die urbane Organisation des modernen Lebens formuliert und mürrisch hinzugefügt: „Gemütlich bin ich selbst.“ Wie von selbst gemütlich aber, soviel steht fest, ist es nach wie vor im alten Westen der unruhigen Hauptstadt, in Charlottenburg – sieht man von jenen Ecken in Wilmersdorf ab, wo sich die letzten Kriegerwitwen „Gute Nacht“ sagen. Ob im LITERATURHAUS in der Fasanenstraße, im ZWIEBELFISCH am Savignyplatz oder im englisch-eleganten Jazzclub A-TRANE, Ecke Bleibtreu-/Pestalozzistraße – das Leben erscheint hier, allen hektischen Umbrüchen der „Berliner Republik“ zum Trotz, doch wieder wie ein langer ruhiger Fluss. Reinhard Mohr MUSICAL-TIPPS MUSICAL THEATER BERLIN Potsdamer Platz, Telefon 0180/544 44 „Der Glöckner von Notre Dame“. Victor Hugo mag sich im Grabe umdrehen – die Schnulze läuft. THEATER DES WESTENS Im Theater der Freien Volksbühne, Schaperstraße 24, Telefon 0180/599 89 99 „Rent“ Junkies, Transvestiten und Aids-Kranke kämpfen um ihr prekäres Glück im New Yorker East Village. FRIEDRICHSTADTPALAST Friedrichstraße 107, Telefon 030/23 26 22 84 „Elements“ Mega-Revue mit Unterwasserballett und tänzerischer Akrobatik. RENAISSANCE-THEATER Hardenbergstraße 6, Telefon 030/312 42 02 „Marlene“ Judy Winter in der Paraderolle des Filmstars Marlene Dietrich. GRIPS THEATER Altonaer Straße 22, Telefon 030/391 40 04 „Linie 1“ Mit Tempo, Witz und Musike einmal quer durch Berlin. Werbeseite Werbeseite Wissenschaft Wilde Mischung Auf dem Gelände der früheren DDR-Akademie der Wissenschaften in der Forschungsstadt Adlershof machen einstige Tüftler des Sozialismus ihre ersten Millionen mit Hightech-Apparaten. P. LANGROCK / ZENIT universitäre Forschungseinrichtungen. Von der angewandten Chemie über die Photovoltaik bis zur Rechnerarchitektur und Planetenerkundung sind gut zwei Dutzend Disziplinen vertreten. In den kommenden drei Jahren werden die naturwissenschaftlichen Fakultäten der HumboldtUniversität hinzukommen. Mit dem Fachbereich Informatik ist der Nachwuchs für die derzeit wichtigste Boombranche schon vor Ort. Daneben haben die staatlichen Zukunftsvisionäre Forscher unter Einsatz von knapp eiJaeschke* ner halben Milliarde SteuGute Laune, er-Mark eine fast schon luPioniergeist xuriöse Infrastruktur für und Erfolg Unternehmensgründer und Hightech-Firmen aller Art geschaffen. An die hundert Forscherunternehmer sind im Innovations- und Gründerzentrum (IGZ) untergekommen, wo sie Labortechnik und teure Messgeräte günstig mieten können sowie eine kostenlose Rundumberatung erhalten. Auch die 1998 eröffneten Fachzentren für Informatik, Photonik sowie Umweltund Energietechnologie sind schon zu 80 Prozent ausgebucht. Allein in den vergangenen sechs Monaten haben sich 30 neue Gründer eingemietet. er Physiker und weltweit anerkannte Fachmann für Ionenforschung schwärmt von der „extremen Brillanz“ des Röntgenlichts und „dem ganzen Zoo von Computern“. Die Begeisterung von Eberhard Jaeschke gilt einem ringförmigen Teilchenbeschleuniger, eingebaut in einen futuristisch anmutenden Kreisbau mit 120 Meter Durchmesser. „Bessy II“ ist das technologische Herz eines in Deutschland und Europa einmaligen Projekts: der Forschungsstadt Adlershof. Und für die schwärmt Jaeschke auch, für das „einmalig breite Forschungsspektrum, das hier zusammenkommt“. Am Südostrand Berlins, nicht weit vom Flughafen Schönefeld, bauen Bund und Senat seit acht Jahren am – neben dem Regierungsviertel – wichtigsten Entwicklungsvorhaben der Stadt. Gleich hinter dem S-Bahnhof Adlershof, westlich der Bahnstrecke nach Grünau, empfängt den Besucher eine wilde Mischung aus preisgekrönter Glas-, Stahl- und Farben-Architektur und aufgepeppten Plattenbauten. Da harren auf der einen Seite der Straße noch die Kasernen des einstigen StasiWachregiments „Feliks Dzierzynski“ der Sanierung, und gegenüber steht auf gut 100 Meter Länge Berlins größtes Gründer- und Ost-West-Kooperationszentrum, mal in blendendem Weiß, mal in dunkel getöntem Backstein gehalten. Insgesamt konzentrieren sich auf dem 78 Hektar großen Gelände zwölf große außer- D Max-Born-Institut für Nichtlineare Optik und Kurzzeitspektroskopie Institut für Kristallzüchtung Wista-Management GmbH Institut für Spektrochemie und angewandte Spektroskopie Forschungsstadt Adlershof Institut für RechnerInstitut für Gewäsarchitektur serökologie und Hahn-MeitnerBinnenfischerei InstitutsgeInstitut, Abtlg. bäude der Photovoltaik HU Berlin Zentrum für Photonik Innovations- und Gründerzentrum Ost-West-Kooperationszentrum Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt Te lto wkan al d e r s p i e g e l Zentrum für Umweltund Energietechnologie Brandenburgische Technische Universität Cottbus, Arbeitsgruppe Luftchemie ee Rudower Chauss Bessy II Zentrum für Ferdinand-Braun- Institut für AngeInformatik Institut für Höchst- wandte Chemie frequenztechnik Adlershof * Vor dem Speicherring der Anlage „Bessy II“. 80 Wissenschaft und Wirtschaft, Forscher und Unternehmer im großen Stil zusammenzuführen und den Erfolg an der Fortschrittsfront gewissermaßen planmäßig herbeizuführen, so etwa lautet das Konzept Adlershof. Und das Erstaunliche ist: Es funktioniert. „Adlershof kann eines der ganz großen europäischen Projekte werden“, urteilt Jenoptik-Chef Lothar Späth. Noch 1990 sprach wenig für diese Vision. Geboren wurde die Idee aus der Not nach der Abwicklung der DDR-Akademie der Wissenschaften. Zwar überlebten noch elf Institute die Prüfung durch den bundesdeutschen Wissenschaftsrat.Aber über 3000 Wissenschaftler, Techniker und Angestellte verloren ihre Arbeit. Vielen blieb keine andere Wahl, als sich selbständig zu machen, um ihr Know-how auf dem Markt zu Geld zu machen. Der Senat wollte Hilfestellung leisten, und so entwickelte der damalige Berliner WirtschaftsStaatssekretär Hans Kremendahl den Plan vom staatlichen Wissenschaftsbetrieb mit angeschlossenem Gründerzentrum. BessyTechnikchef Jaeschke und seine Kollegen schließlich entdeckten Adlershof und das Wissen vieler DDR-Wissenschaftler für ihren ohnehin geplanten Elektronenbeschleuniger der zweiten Generation. Die Adlershofer Mischung beherbergt eine für Berlin ganz ungewöhnlich hohe Dichte von guter Laune, Pioniergeist und Erfolg – bei immerhin jetzt gut 4500 Beschäftigten. Schon rund drei Dutzend der bislang knapp 300 ansässigen neuen Unternehmen „sind echte High Flyer mit Wachstumsraten von 30 Prozent und mehr“, schätzt der Patentanwalt Jürgen Hengelhaupt, dessen Kanzlei eigens ein Büro mit zwei Anwälten auf dem Gelände unterhält, um den Tüftlern die rechtliche Absicherung ihrer Erfindungen zu verschaffen. Die Erfolgreichsten sind bislang jene Ostdeutschen, die unter dem Druck des Hightech-Embargos gegen den Ostblock zum Erfinden verdammt waren. Gert Kommichau, 47, beispielsweise. Wenn der einstige „Technologe“ des DDR- 3 6 / 1 9 9 9 Bundesanstalt für Materialforschung und Prüfung * Fachzentrum für Photonik. d e r s p i e g e l BEGREIFBARE TECHNIK W. BAUER Gut bedient fühlt sich auch Izzet Furgaç, dessen Firma Alligator Sunshine gerade durchstartet und gemeinsam mit dem Baustoffkonzern Eternit in die Serienproduktion besonders preiswerter und kompakter Solarheizungen einsteigt. „Vor vier Jahren haben wir hier wie Bill Gates in einem alten Schuppen aus Akademie-Zeiten angefangen zu basteln“, erzählt Furgaç stolz. Jetzt residiert seine Firma im Dachgeschoss des repräsentativen Zentrums für Umwelttechnologie. Der Business-Plan an der Wand kalkuliert zehn Millionen Mark Umsatz im kommenden Jahr. Die meisten Firmen am Ort sind Lehrbuchbeispiele für die neue Netzwerk-Ökonomie. Vielfach besorgen sie selbst nur noch einen geringen Teil der eigentlichen Produktherstellung. Stattdessen organisieren sie das Know-how und die Vermarktung, sind selbst entweder Teil oder Steuerkopf eines weit gespannten Firmennetzwerks. Die meisten neuen Jobs schaffen sie gar nicht in Adlershof selbst, sondern bei ihren Auftragnehmern. Das erklärt wohl auch, warum bislang außer der Siemens-Tochter für Postautomation keiner der großen Namen aus der Konzernwelt auf den Firmenschildern prangt. „Die Vorstellung von konzerneigenen Forschungszentren ist veraltet“, erklärt Adlershof-Fan Späth. „Die kaufen die Innovationen aus solchen Forschungs-Clustern, das ist billiger und flexibler.“ An neuen Ideen jedenfalls scheint in Adlershof kein Mangel. „Eine solche Grundsubstanz haben wir in Europa nirgendwo“, versichert Stefan Jähnichen, Direktor des Instituts für Rechnerarchitektur und Softwaretechnik und derzeit Sprecher der Adlershofer Forschergemeinde. Die Resonanz im Ausland sei „viel größer, als wir je erwartet haben“. Die beiden neuen Gästehäuser für ausländische Wissenschaftler sind das ganze Jahr über ausgebucht. Neubau in Den großen Durchbruch Adlershof* zur internationalen SpitZoo von zenstellung, so hofft JähniComputern chen, werde die Einbindung studentischen Nachwuchses in die Großinstitute bringen. „Die jungen Leute sind das Salz in der Suppe.“ Nicht immer freilich kommen die Ergebnisse der staatlich herbeisubventionierten Ideenschmiede auch dem Standort zugute. Jähnichens Doktorand Bernhard Schölkopf, dessen Dissertation als beste Informatikstudie des Jahres 1997 ausgezeichnet wurde, hat Berlin verlassen. Schölkopf arbeitet jetzt für Microsoft in den USA. W. BAUER Zentrums für wissenschaftlichen Gerätebau seine Geschichte erzählt, kommt er aus dem Lächeln gar nicht mehr heraus. Gerade mal 98 000 Mark Startkapital brachten er und seine zwölf Partner aus eigenen Ersparnissen zusammen; damals, 1991, als sie beinahe über Nacht ihre Firma Röntec gründen mussten. Weil die DDR keine Großrechner importieren konnte, hatten sie einen Weg gefunden, die komplexen Signale eines Rasterelektronenmikroskops mit Hilfe einfacher PC zu verarbeiten. Das war für den Start genau das richtige Produkt. Nun, acht Jahre später, sind die 13 Partner Inhaber eines weltweit präsenten Hightech-Unternehmens. Auf drei Etagen des Photonik-Zentrums beschäftigt die Röntec heute 46 Mitarbeiter und erzielt mit ihren Röntgenspektrometern acht Millionen Mark Jahresumsatz in 18 Ländern. „Dieser Standort war unsere große Chance“, freut sich Kommichau, „wir ahnten, dass hier was Irres entstehen würde.“ Die Zusammenarbeit mit den Forschern des Bessy und der angeschlossenen Institute bringe „mehr Erfindungen hervor, als wir allein auf den Markt bringen können“. Mit drei Weltneuheiten ist die Firma im Markt. Nun hat sich eine Venture-Capital-Firma beteiligt, der Börsengang wird vorbereitet. Auf den Aktienmarkt wollen irgendwann auch die Informatikexpertin Petra Werr und ihre Kollegen. In ihrer Firma Verysys haben 31 Fachleute aus den USA und Europa den neuesten Hit der Mikrochip-Fertigung ausgebrütet: ein mathematisch abgeleitetes Programm, verspricht sie, „mit dem wir die Fehlerfreiheit neuer Chip-Konstruktionen garantieren können“. Zwei Investmentgesellschaften haben bereits „mehrere Millionen Mark“ bereitgestellt. Vorsichtshalber gründeten Werr und ihre Partner parallel eine Niederlassung in Kalifornien. „Aber hier war es unbürokratischer“, versichert sie und lobt das Adlershofer Beraterteam: „Das ist das bestgeführte Gründerzentrum Deutschlands.“ Deutsches Technikmuseum COMPUTER- UND VIDEOSPIELE MUSEUM Rungestraße 20 (Mitte) Telefon 279 33 51 Das kleine, aber liebevoll gestaltete Museum zeigt die Entwicklung der elektronischen Spiele und Geräte. Ausprobieren ist erlaubt. DEUTSCHES TECHNIKMUSEUM BERLIN Trebbiner Straße 9 (Kreuzberg) Telefon 25 48 40 „Warum ist der Himmel blau?“ Diese und viele weitere Fragen werden im Science Center Spectrum (Eingang Möckernstraße 26) beantwortet. Dazu historische Exponate aus Verkehr und Technik von internationalem Rang. ZEISS-GROSSPLANETARIUM Prenzlauer Allee 80 (Prenzlauer Berg) Telefon 42 18 45 12 Eines der größten und modernsten Sterntheater Europas mit dem rechnergesteuerten Planetariumsprojektor „Cosmorama“ von Zeiss Jena. Dazu Naturwissenschaft als unterhaltsames Programm mit Lesungen und Musik. MUSEUM FÜR NATURKUNDE Invalidenstraße 43 (Mitte) Telefon 20 93 85 44 Mit rund 25 Millionen Objekten das größte seiner Art in Deutschland: Mineralien, Meteoriten und der berühmte Sauriersaal. BERLINER MEDIZINHISTORISCHES MUSEUM AN DER CHARITÉ Schumannstraße 20/21 (Mitte) Telefon 28 02 25 42 Der Horror der Anatomie: deformierte Schädel, entstellte Embryonen und jede Menge Skelette sowie chirurgische Instrumente aus dem Nachlass von Rudolf Virchow. BOTANISCHER GARTEN Königin-Luise-Straße 6 (Steglitz) Telefon 83 00 60 Ein Park als Zentralinstitut der Freien Universität: unter anderem Gartenkunst im Stil von Peter Lenné und ein Duft- und Tastgarten für Sehbehinderte. Harald Schumann 3 6 / 1 9 9 9 81 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite W. BAUER Presse „Wohin mit dem Papier?“ Jahrelang stritten die Berliner Blätter mit riesigem Aufwand um den ominösen Titel der „Hauptstadtzeitung“ – die Leser flohen in Scharen. en Beweis hat er immer griffbereit im Schrank – falls wieder mal Zweifel aufkommen, wer den Berliner Zeitungskrieg vom Zaun gebrochen hat. „Das war wohl ich“, sagt Torsten-Jörn Klein, Verlagsleiter der „Berliner Zeitung“, und zieht den roten Prospekt aus einer Tüte. Fett gedruckt steht da „ANGRIFF!“. Der bestand darin, dass Klein die Immobilienanzeigen fast verschenkte und der Konkurrenz so das Geschäft verdarb. Nirgendwo wurde in den vergangenen Jahren aggressiver um Leser und Anzeigenkunden geworben als in der Hauptstadt, wo gleich zehn Zeitungen erscheinen. Von der alternativen „taz“ über das PDS-Organ „Neues Deutschland“, vom ehemaligen FdJ-Sprachrohr „junge Welt“ bis zu den Boulevardzeitungen „Berliner Kurier“ (Gruner + Jahr) und „B.Z.“ (Springer) reicht das Angebot. Zu schätzen wissen es die Berliner bislang nicht: In kaum einer anderen deutschen Großstadt wird so wenig Zeitung ge- D 84 lesen wie hier. Allein in den letzten fünf Jahren entschied sich eine viertel Million Leser, auf die tägliche Lektüre ganz zu verzichten. Woran die Verlage nicht unschuldig sind. Den Umzug der Regierung vor Augen, rüsteten sie zum Kampf um einen Titel, den sie sich selbst ausgedacht hatten: den der „Hauptstadtzeitung“. Doch jetzt, wo die Regierenden angekommen sind, schwant den Weltblatt-Machern, dass es im Zeitungskrieg keine Sieger gibt. Laut Prognosen wird die Einwohnerzahl in den nächsten Jahren eher sinken als steigen, und nicht mal die zuziehenden Beamten müssen unbedingt ein Regionalblatt abonnieren, schließlich sind selbst die Überregionalen der „Berlinmania“ („Weltwoche“) anheim gefallen. Die „Süddeutsche Zeitung“ erscheint mit einer täglichen kolumnensatten Berlin-Seite. Die „Frankfurter Allgemeine“ klotzt mit einem sechsseitigen Hauptstadtteil, in dem selbst die Fütterungszeiten der Krokodile im Zoo nicht fehlen. d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 „Der Kuchen, um den sich in Berlin alle balgen, wird verdammt klein“, bekannte der „Welt“-Chefredakteur Mathias Döpfner schon vor Monaten. Nach immensen Investitionen wildert der Springer-Verlag lieber im Segment der Überregionalen. In der Hauptstadt muss schon die kiezselige „Berliner Morgenpost“ Federn lassen. Besonders hart trifft das weitgehende Ausbleiben neuer Leser die „Berliner Zeitung“, in die Gruner + Jahr etliche Millionen gesteckt hat. Der damalige Chefredakteur Michael Maier – inzwischen fulminant beim „Stern“ gescheitert – hatte viele Ost-Redakteure durch teure WestImporte ersetzt und dem ehemaligen SEDBlatt ein edles Layout verordnet. Damit auch dem Letzten klar war, wohin die Reise geht, klemmte sich der Österreicher gern ein „Wall Street Journal“ unter den Arm. So vertrieb der Ösi nicht Chefredakteure nur die Ossis in der Redaktion, sondern auch in Süskind, der Leserschaft. Seit der di Lorenzo Im Zeitungskrieg Wende verlor die „Berliner Zeitung“ fast die Hälfgibt es te der Alt-Abonnenten – keine Sieger die Auflage sank während der letzten fünf Jahre um über 40 000 – auf 209574 Exemplare im vergangenen Quartal. Ein Ende der Talfahrt ist nicht abzusehen. „Wir waren zu betont ein West-Blatt“, sagt der neue Chefredakteur Martin E. Süskind, zuvor Chef des „Kölner Stadt-Anzeigers“. Nun predigt er Umkehr: „Es Marktführer unter Druck Auflagen Berliner Tageszeitungen und der Berlin-Ausgaben überregionaler Tageszeitungen in Tausend jeweils 2. Quartal 343,6 301,7 279,3 236,3 209,6 185,6 170,9 163,6 144,5 132,8 137,8 125,9 31,8 21,1 14,4 1991 92 93 94 95 96 97 98 99 25,0 16,6 13,0 Werbeseite Werbeseite früher nicht mal unter Folter eingefallen“, frohlockt der Chef, aber nun strahle man „in den besten Momenten neben Seriosität sogar etwas wie Wärme aus“. Verglichen mit den Bemühungen der Konkurrenz, sind die Ausgaben beim „Tagesspiegel“ gering, die Neugestaltung des Blattes geht vorsichtig voran. Neue Leser gewinnt man so nicht, aber wenigstens bleiben die alten. Seit Jahren stagniert der Absatz bei rund 130 000 Exemplaren. Die Verlage sind bescheiden geworden: „Die Auflagen werden nicht dramatisch nach oben gehen“, sagt Gruner + JahrMann Klein, sein Kollege beim „Tagesspiegel“ sieht es ähnlich. Dort freut man sich schon, dass die Leser neuerdings mal schmunzeln können – der „Berliner Zeitung“ wäre es einstweilen genug, die am stärksten politische Stimme unter den Regionalblättern zu werden. Sollte die Auflage trotzdem weiter fallen, darf Besuch aus Gütersloh fest eingeplant werden. Denn noch vor dem Hauptstadtfieber kommt bei der Konzernmutter Bertelsmann die Gesamtkapitalrendite. Vergebens war die Presseschlacht dennoch nicht. Unter dem Konkurrenzdruck sind die Zeitungen eher besser geworden – und zum Teil wuchsen ganz seltene Blüten heran. Der „B.Z.“-Chefredakteur FranzJosef Wagner etwa, der Springers Traditions-Boulevardblatt seit Mitte letzten Jahres leitet und sich Tag für Tag eine eigene Metropole erschafft. Ein Berlin wie in den zwanziger Jahren, in dem gehurt, gesoffen und gescheitert wird – und der Mann im Chefredakteursbüro so aussieht, als würde er dabei ordentlich mittun. „Pandabärin unfruchtbar – Aber Schumi zweites Baby“: Über solche Schlagzeilen freuen sich des Abends beim Ruccola-Salat die versammelten Hauptstadtjournalisten. Doch was nützt es Wagner. Auch bei ihm fällt die Auflage heftig – so dass er sich bisweilen zu später Stunde fragt, wer eher die Nerven verliert: „der Verlag oder ich“. Oliver Gehrs mangels Recycling-Container panisch fragt: „Wohin mit dem Papier?“ Auf Frau Gutzmann ist man beim „Tagesspiegel“ gar nicht scharf. „Wir brauchen nicht jeden, sondern die besten Leser“, sagt Geschäftsführer Joachim Meinhold – wo er die findet, weiß er ziemlich genau. Mitten in Hellersdorf (Ost) gebe es inzwischen eine ganz interessante Gruppe – wogegen ganz Neukölln (West) mit rund 300000 Einwohnern bisher eine „komplette Nullfläche“ sei. Zu viele Ausländer, zu wenig Entscheider. Um auf die anrückende Bonner Intelligenzia nicht zu lustlos zu wirken, engagierte der Holtzbrinck-Verlag mit Giovanni di Lorenzo immerhin einen neuen Chefredakteur, der nun mühelos die Klatschspalten der anderen Zeitungen füllt. Einen Jaguar als Dienstwagen soll der ehemalige Ressortleiter der „Süddeutschen Zeitung“ und charmante Talkmaster („III nach neun“) fahren, eine PradaHandtasche für 3000 Mark spazieren führen. Soviel Glamour sorgt in „Bulgarien“ – wie der stilsichere Chef das hässliche Redaktionsgebäude getauft hat – zuweilen für Irrita„B.Z.“-Cheftionen. Denn dort sitzt redakteur zum größten Teil noch die Wagner alte Truppe, die ihr Leben Tag für Tag lang für den Rechtsanwalt die eigene aus Zehlendorf geschrieMetropole ben hat und für niemanden schaffen sonst. Immerhin darf sie nun unter der Aufsicht von neu installierten „Redakteuren für besondere Aufgaben“, die sich di Lorenzo von der „Süddeutschen“ mitgebracht hat, die eine oder andere lustige Überschrift basteln. „Dem ,Tagesspiegel‘ Sinnlichkeit zu attestieren wäre einem R. LUTTER / BZ macht wenig Sinn, seine Herkunft zu verschweigen. Die alten Leser werden verärgert, und den neuen macht man was vor.“ Dass die Zeiten, zu denen man die Abbestellungen aus Marzahn eher als Lob denn als Mahnung nahm, endgültig vorbei sind, wurde den Redakteuren vor drei Wochen bewusst: Da tauchte Verlagsleiter Klein plötzlich in der Konferenz auf und beschwor die Anwesenden, nicht mehr von „den Ostdeutschen“ zu schreiben, sondern besser: „von den Leuten in den neuen Bundesländern“. Immerhin darf die „Berliner“ für sich in Anspruch nehmen, die einzige gesamtstädtische Tageszeitung zu sein. Denn während der Abonnentenstamm im Osten wegbrach, schaffte man im Westteil der Stadt einen ansehnlichen Zugewinn von nahezu 50 000 Käufern. Zur Zeit gilt folgende Arbeitsteilung: Im Blatt elaborieren die Feuilletonisten seitenweise für die neue Mitte, derweil der Chefredakteur am Lesertelefon abtrünnige Ost-Abonnenten beruhigt. Wie etwa „Frau Gutzmann aus Berlin-Buch“, die sich ZU GAST BEIM FERNSEHEN SABINE CHRISTIANSEN FILMPARK BABELSBERG ARD-Talkshow mit der ehemaligen Moderatorin der „Tagesthemen“. Immer sonntags im Studio Berlin, Budapester Straße 38. Die Tickets kosten 15 Mark, zu bestellen unter Telefon 030/43 03 22 50 oder 0180/524 32 49. Täglich Führungen mit Stuntshow, U-Boot-Simulation und Action-Kino. Geöffnet noch bis zum 31. Oktober 1999 von 10 bis 18 Uhr. Erwachsene zahlen 28 Mark, Schüler und Studenten 25 Mark. Eingang: Großbeerenstraße, 14482 Potsdam. Telefon 0331/7212750. SPÄTH AM ABEND Talkshow auf n-tv mit Lothar Späth. Produktion alle zwei Wochen ab 18 Uhr an wechselnden Orten. Der Eintritt ist frei. Tickets erhält man werktags von 9.30 Uhr bis 18.30 Uhr bei „AVE“ unter Telefon 030/20 26 71 24. F. HENSEL ARD-HAUPTSTADTSTUDIO Modell für Metropolis-Film in Babelsberg 86 d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 Die unregelmäßigen Besichtigungstermine werden in der roten Info-Box am Potsdamer Platz ausgehängt. Das Foyer ist ständig für Besucher geöffnet. Adresse: ARD, Wilhelmstraße 67 a. Telefon 030/228 80. Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Zeitgeschichte Jung, jüdisch, deutsch M. TRIPPEL / OSTKREUZ Die Neue Synagoge an der Oranienburger Straße ist zur Touristenattraktion geworden. Eine jüdische Studentin konfrontiert die Besucher mit der Nazi-Vergangenheit – und wird damit konfrontiert. einer Nacht mitten in Berlin. Die 1866 an Stelle der alten, zu klein gewordenen, fertig gestellte Neue Synagoge in Berlin-Mitte, Oranienburger Straße – von den Nazis angezündet, von alliierten Bomben zerstört –, hat nicht nur eine dramatische Geschichte, sondern auch eine schillernde, irritierende Gegenwart, als eine Art irisierende „Dauerpräsentation unserer Schande“ (Martin Walser). Julia Friedrich, deren Mutter in Israel geboren wurde, repräsentiert eine neue Generation in Deutschland: jung, jüdisch, deutsch. Sie lebt in der Gegenwart der beginnenden „Berliner Republik“ und wird immer wieder konfrontiert mit der Vergangenheit „ihres“, des jüdischen Volkes. Bis 1945 wurden von Berlin aus 55 000 Juden in den Tod geschickt – daran erinnert ein schlichter Gedenkstein an der Großen Hamburger Straße, auf den täglich tausende von Szenegängern und Touristen schauen. Die Synagoge im selben Viertel galt einst als Zeichen eines emanzipierten und zugleich integrativen Judentums in Berlin. Bismarck wohnte ihrer feierlichen Einweihung bei, Albert Einstein schaute während eines Konzertes Anfang 1930 auf ihren kostbaren ToraSchrein, Erich Honecker legte 1988 den Grundstein für die Rekonstruktion, und Kofi Annan, Uno-Generalsekretär, hat ihr jüngst einen Besuch abgestattet. Einst zählte die Synagoge mit über 3000 Sitzplätzen zu den größten jüdischen Gotteshäusern Europas. Nachdem sie 1995 in Teilen aufwendig wiederhergestellt wurde, ist sie zur gut beNeue wachten Touristenattraktion Synagoge Ein Fanal, das geworden. Über 700 000 Vergangenheit Menschen haben sie inzwischen besichtigt. Wie ein Faund Zukunft nal, das Vergangenheit und verbindet Zukunft verbindet, leuchtet die große goldene Kuppel der Neuen Synagoge über Berlins alter, neuer Mitte. „Woran erkennt man denn überhaupt Juden?“, fragt Julia Friedrich unverblümt die Schüler einer neunten Klasse aus Ost-Berlin, die sie durch Eingangshalle, Männervestibül und Vorsynagoge führt. „Dunkle Haare“ und „krumme Nase“ kommt als Antwort zurück – „das klassische ,Stürmer‘-Bild“, kommentiert sie später. „Sie wissen es eben nicht besser.Aber das lässt sich ja beheben.“ Seit eineinhalb Jahren erklärt sie Besuchergruppen aus aller Welt die Geschichte des Hauses – ob Gymnasiasten aus BerlinGrunewald, amerikanischen Juden aus Chi- ie alte Dame ist gerührt. Sie erinnert das „alles so an Israel“. Als Mitglied einer katholischen Katechetengruppe hat sie gerade eine Führung durch die Neue Synagoge glücklich hinter sich gebracht. Aber Julia Friedrich, 23, Studentin der Kunstgeschichte und Jüdischer Studien, die gerade eine Stunde lang über dieses Stück Berliner Geschichte doziert hat, muss lachen. Denn sie ist geborene Deutsche und hat von ihrem Land, von Deutschland erzählt. Doch die begeisterte Dame ist nicht zu bremsen. Sie kann sich kaum satt sehen an all den restaurierten Säulen und Kapitellen, den prächtigen Treppenaufgängen, den orientalischen Fresken, den Stuckfragmenten und der Studentin nur leicht beschädigten silFriedrich bernen „Ewigen Lampe“. Selbstbewusst Ein kleines Erweckungsinmitten von wunder aus Tausendund- Widersprüchen 90 W BELLWINKEL D Werbeseite Werbeseite cago oder Hausfrauen aus Degerloch. „Die meisten, vor allem die Jugendlichen aus Marzahn oder Treptow, haben in ihrem Leben noch keinen einzigen Juden gesehen. Deshalb sind sie vorurteilsgeprägt, aber auch offener und direkter als Erwachsene.“ Beim Fall der Mauer 1989 lebten etwa 5000 Juden in Berlin – Anfang 1933 waren es 160 000. Schlimmer noch als die monströse Unbildung der Schüler – „selbst Jesus und die Rolle der Bibel sind vielen unbekannt“ – sei die Ignoranz etlicher Lehrer: „Viele wissen absolut nichts und haben sich auch kein bisschen vorbereitet.“ Stets sorgt eine eigenartige Mischung aus Neugier und Befangenheit dafür, dass die Ebene der musealen Information rasch verlassen wird und die Grundakkorde anklingen: Auschwitz, Holocaust-Mahnmal, Walser/Bubis-Streit, Israel und, oft im Flüsterton vorgetragen: „Juden in Deutschland – wie ist das überhaupt?“ Schließlich kommt es heraus: Das blonde, blauäugige „Kindchen“, wie ältere Frauen Julia Friedrich titulieren, ist selbst Jüdin, geboren und aufgewachsen im grünen Westen Berlins. „Plötzlich kann man das Schild ,Vorsicht!‘ aufleuchten sehen, die meisten treten im Geiste einen Schritt zurück, die Befangenheit wächst.“ Und es stimmt ja: Vor fast 60 Jahren wurden hun- derttausende solcher Kindchen in die Vernichtungslager deportiert. Dabei versucht gerade diese junge Deutsche aus Berlin-Wilmersdorf, die viele nichtjüdische Freunde hat und „deutsche Pünktlichkeit und Verlässlichkeit“ schätzt, so sachlich wie möglich zu bleiben. Doch unweigerlich und wider Willen fungiert sie als Projektionsfläche aller möglichen Ressentiments und Ängste, Schuldgefühle und Erlösungswünsche. Auffallend sei, dass weniger Fragen gestellt als Statements abgegeben würden. „Es ist ja schön, dass sich die Juden nicht wieder so abschließen“, heißt es öfter, wenn von der benachbarten Schule die Rede ist, in der jüdische und nichtjüdische Kinder gemeinsam unterrichtet werden. Eine subtile, wahrscheinlich unbewusste, jedenfalls ungeheuerliche Geschichtsklitterung. Unvermeidlich auch die Spezies der von Philosemitismus durchdrungenen schwäbisch-protestantischen Mittsechzigerin, die ihre persönlichen Israel-Erfahrungen ausbreitet – „ein wunderschönes Land“ – und begeisterte Zustimmung erwartet; ähnlich jener beichtstolzen Bekennerin, die erzählt: „Meine Mutter hat ja so geweint, als ihre beste jüdische Freundin abtransportiert wurde.“ In solchen Augenblicken, sagt Julia Friedrich, „fühle ich mich wie ein Priester, der die Absolution erteilen soll“. Manchmal kommt es aber auch ganz anders. Da bricht die verfolgte deutsche Unschuld mit Macht aus tiefsten Tiefen hervor: „Sie junges Gemüse, ich werde Sie feuern lassen!“, rief hoch erregt ein Rentner aus der früheren DDR, als sie den latenten Antisemitismus im SED-Staat zur Sprache brachte. Immerhin hielt ein WestPensionär dagegen: „Seien Sie doch froh, dass Sie hier überhaupt Ihre Meinung frei sagen können.“ Das konnte freilich den DDR-Veteranen nicht davon abhalten, sich bei der Direktion des Hauses zu beschweren. „Wie kannst du als Jüdin überhaupt hier leben?“, fragen jüdische Besucher aus Amerika. Ihre Antwort ist eindeutig: Sie fühlt sich wohl in Berlin. „Deutschland ist meine Heimat“, sagt sie, „hier wird meine Sprache gesprochen, hier leben meine Freunde.“ Und, nicht ohne Ironie: „Deutschland braucht seine Juden – zum Beweis der Läuterung und als unfreiwillige moralische Instanz.“ Freilich kennt sie auch junge Juden, „die sich auf ihrem Jüdisch-Sein ganz humorlos ausruhen“ und ernsthaft an ihre selbst entwickelte Sicherheitsformel glauben: „In Deutschland kann dir als Jude nichts passieren“ – eben weil schon alles passiert ist. Verrückte Dialektik der Geschichte. Julia Friedrich mag dieses arrogante Elitebewusstsein nicht, das Herkunft und Re- LEBEN UND VERGANGENHEIT DES JÜDISCHEN BERLIN NEUE SYNAGOGE BETH-CAFE Oranienburger Straße 28 Die einstige Hauptsynagoge zeigt nun eine Dauerausstellung des Centrum Judaicum über die Geschichte des Ortes und des jüdischen Lebens in Berlin. Tucholskystraße 40 Koscheres Essen und Trinken in Mitte. RESTAURANT OREN JÜDISCHER FRIEDHOF PRENZLAUER BERG M. WEISS / OSTKREUZ Oranienburger Straße 28-30 Nicht nur koschere Speisekarte. Mit Innenhof neben der Synagoge. Restaurant Oren ligion plötzlich selbst zum wesentlichen Unterscheidungsmerkmal erklärt und seinerseits die Schoah mythisch überhöht. Viele von ihnen, etwa die Mitglieder im jüdischen Studentenverband, leben fast ausschließlich in einem homogenen jüdischen Freundes- und Bekanntenkreis. Wie sehr diese Art von „hermetischer Öffentlichkeit“ zur Falle werden kann, zeigt ein Beispiel aus der jüdischen Künstlergruppe „Meshulash“: Eltern verboten ihrer Tochter, sich öffentlich als Jüdin zu erkennen zu geben. Schwer zu sagen, was hier Hysterie und Paranoia, was Angst und JÜDISCHER FRIEDHOF WEISSENSEE BAGELS + BIALYS Rosenthaler Straße 46-48 Imbiss à la New York. Schönhauser Allee 23-25 Besteht seit 1827, mit den Gräbern der Verlegerfamilie Ullstein, des Komponisten Trauma sind. Ein Zeichen von Souveränität, gar Normalität ist es sicher nicht. Julia Friedrich jedenfalls lebt selbstbewusst inmitten jener Widersprüche und Ambivalenzen, die sie bei sich wie anderen kritisch registriert: Hier der ganz normale Antisemitismus, mit dem sie bei ihren Führungen durch die Synagoge konfrontiert wird, dort die Wahrnehmungen einer allzu bequemen, manchmal selbstgerechten Haltung jüdischer Würdenträger. Da rutscht ihr schon mal das Wort von der „Auschwitzkeule“ heraus. Doch dann braucht nur irgendein Mitglied einer so- Giacomo Meyerbeer und des Malers Max Liebermann. Herbert-Baum-Straße 45 Großanlage der Gemeinde seit 1880. Zahlreiche Pioniere der Moderne sind dort begraben wie der Maler Lesser Ury oder Eugen Goldstein, dessen Entdeckungen zur Entwicklung des Fernsehens führten. zialdemokratischen Besuchergruppe an sie heranzutreten und zu brummen: „Warum muss man eigentlich das Holocaust-Mahnmal unbedingt auf das wertvolle Gelände am Brandenburger Tor bauen?“ – und schon rollt sie, die das Denkmal gar nicht unbedingt verteidigen möchte, mit ihren blauen Augen und verzeichnet die Worte in ihrer imaginären Ewigenliste unseliger Sprüche. Diesen Monat tritt sie einen einjährigen Studienaufenthalt in Venedig an. Auch eine Möglichkeit, Abstand von Deutschland zu gewinnen. Reinhard Mohr I n t e g ra t i o n Erregend anders Die jungen Türken in Berlin haben eine Welt für sich gegründet – weder türkisch noch deutsch. Sie betreiben Bars und Baufirmen und sorgen mit ihrer Musik für heiße Ohren in der Stadt. Von Alexander Smoltczyk Manche bildeten Banden zur Selbstfindung wie die „36er“ oder die „Warriors“. Erotik des Irgendwann fuhren sie in Zeigens und die Türkei und merkten, Versteckens dass es kein Zurück mehr gab: „Du Türke? Du bist Deutschländer.“ Und heute fühlen sie sich zu Hause in ihrer Hybridkultur: „Icke bin icke.“ Die Grenzen sind gewandert. Fatma Souad sagt, er laufe auch tagsüber als Transvestit durch die Oranienstraße. „Auch die Türkenmama vom Fenster gegenüber grüßt mich.“ Aber durch den Ostteil Berlins würde er nicht laufen, nicht nachts. Auch durch die Waldemarstraße nicht. Die liegt zwei Ecken vom „SO 36“ entfernt. Da sieht die Welt anders aus. Alles fließt, nichts ist so, wie es scheint. Ein paar Leute von den Warriors, der Kreuzberger Streetgang, nennen sich jetzt „Frankfurter Schule“ und sehen sich von dem Amerikaner Daniel Goldhagen bestätigt: Den Deutschen liegt ihr Nationalismus in den Genen. Kann man nichts machen. Muss man mit leben. Muss man selbst was unternehmen: „Kanak attak!“ Das ist die Parole. Der Kieler Autor Feridun Zaimoglu hat sie ausgegeben: Gegen „gramschnäuzende Alt-Exilanten, MultiTutti-Frutti-Lallerköppe und goldbehängte Spielotheken-Mahmuts“. Es sollte eine Bewegung werden. Eine Art Black Power, nur bunter. Mit dem Ghettoslang aus Comicblasen, frisch geschöpften Stegreifwörtern und die Sätze rhythmisiert von „ey, alter Mann“. Aus der Bewegung ist bisher nichts geworden. Man ist wohl zu verschieden. Zu unübersichtlich. Was haben eine lesbische Inderin und ein Muckibuden-Youngster schon gemein? Aber mit dem Manifest „Kanak Attak“ ist ein neuer Ton angegeben worden. Zaimoglu schreibt: „Es gibt im Moloch Metropole weder Identität noch Kultur im Plural, aber den harten Beat, den Rhythmus, das Stakkato, das heiße Ding, den supercleveren Abzock.“ Gefährlich fremd? Erregend anders und fremd nur dem, der nicht sieht, wie sich mit jeder Generation das Bild weiter auffächert, aus der Nähe verwirrend unscharf und nur von weitem klar konturiert. Einer der „36er“-Straßenkrieger macht jetzt Filme: Neco Çelik, der sein Leben im DJ H-Khan (im „Limon“) FOTOS: K. THIELKER m Rinnstein der Oranienstraße sitzt eine Person. Es ist zwei Uhr morgens vorbei, und niemand würde jetzt auf die Idee kommen, Fatma Souad mit „Ey, Türke“ oder Ähnlichem Reverenz zu erweisen. Nicht bei dem Tante-KätheDutt. Nicht bei dem Rock, dem Lidschatten und den lippenstiftverschmierten Bartstoppeln. „Deutsch und türkisch, Mann und Frau, Schein und Sein, Tuntigkeit und Transendasein – such dir aus, was du willst: Ich bin alles zusammen“, sagt er und sagt sie, und irgendwann ist das Make-up wirklich nicht mehr zu halten, löst sich auf bei der Hitze, wie sich alles auflöst, wenn im „SO 36“, dem früheren Punk-Schuppen in Kreuzberg, einmal im Monat „Gayhane“ ist. I 94 Da tanzen TürkentranTürkische sen und das Pärchen um Transvestiten die Ecke, Heten und LesWie Black ben und Machos und ein Power, nur Mädchen, dessen Kopftuch bunter in der Garderobe hängt. Ein Araber tanzt mit einer Colaflasche auf der Stirn, auf der Bühne schlängeln sich Haremsjünglinge, und als Live-Act gibt es anatolischen Halay-Tanz. Das ist Gayhane, und Fatma Souad hat es organisiert. Er erzählt vom Mauerfall und der anschließenden Immigration von 17 Millionen Ostdeutschen. Da wurde alles anders für die jungen Türk-Berliner. Erst versuchten sie, sich türkischer zu fühlen, als sie waren: „Ich bin Türke.“ d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 Günaydin, Kreuzberg In Berlin sendet die erste türkische Radiostation außerhalb der Türkei: 94,8 Metropol FM macht Quote mit viel Service und wenig Politik. W. BAUER Kreuzberger Straßendreieck Pückler, Köpenicker, Skalitzer verbracht hat und zu gut aussieht, um unter die Räder gekommen zu sein. Neco ist gelernter Schildermaler, heute Sozialarbeiter im Jugendtreff Naunynritze und gerade dabei, einen Film für den WDR zu drehen: „Keinen sozialkritischen Scheiß, keine Folklore. Harte Unterhaltung. In der die Power der Leute zu spüren ist.“ Wie die Briten das machen. Und die Berlin-Türken. Filme mit wahren Geschichten und echten Gesichtern. Thomas Arslan („Dealer“), Kutlug Ataman („Lola und Bilidikid“) und Yüksel Yavuz („Aprilkinder“). Necos Frau ist Info-Telekom-Kauffrau. Sie trägt Kopftuch. Freiwillig, sagt sie. Sie ist Deutsche. Wo ist das Klischee? Natürlich gibt es die „B-MW“-Jungtürken, die schon auf dem Nummernschild mit der Marke ihres Autos protzen. Die sperren in der Niemetzstraße in Neukölln ihre Köter in die Wagen und trommeln auf dem Dach herum, bis die Tiere genauso durchdrehen wie die Nachbarn. Neuköllner Brauchtum eben. Aber es gibt auch die „Abitur-Türken“. Die wurden Unternehmer und schufen Arbeitsplätze, weil sie die Uni nicht schaffen würden. Aus den Kasetçi, den Kassettenbuden ihrer Väter, machen sie moderne CD-Läden. Sie werden Optiker, Unternehmensberater, Spediteure, gründen Dampfbäder oder handeln mit Software. Die neue Generation will nicht mehr nur den Döner-Spieß drehen. Mehr als 5000 deutschtürkische Betriebe gibt es in Berlin, mehr als 5000 Hybridmotoren der hiesigen verschlafenen Wirtschaft. Man muss schon zweimal hinschauen. Die Jazzkneipe „A Trane“, die „Rote Laterne“ am Heinrichplatz, das Touristen„Café Orange“ in der OraFilmemacher nienburger, die Kreuzberger Çelik (mit „Mokkabar“, das „Ossena“ Familie) – alles Türkencafés und so gut Wahre getarnt als Szenekneipen, ItaGeschichten lo-Restaurants, Rockerschupohne Folklore pen, dass Wurzelschau und Der Nachrichtenblock bei 94,8 er Ort, von dem aus Berlins Moderatorin Radiomarkt aufgemischt Baldede (r.), fängt immer mit Berlin an, dann kommt Deutschland, dann Eurowird, ist gut 15 Quadratme- Kollegin ter groß und hat ein Fenster Gefühlvolles pa, dann erst die Türkei. Auch beim Wetter: „Berlin 30 Grad, Antalya zu einem schäbigen Innenhof. Im aus dem 32.“ Nicht kommentiert werden hintersten Zimmer einer Jugend- hintersten kontroverse politische Themen wie stilwohnung mit hohen Decken Zimmer etwa der Prozess gegen PKK-Chef sitzt Jale Baldede, 28, und lächelt wie eine Märchenfee. Sie hat rehbraune Abdullah Öcalan. Fast jeder fünfte Türke Augen und ist der Star von 94,8 Metropol in Berlin ist Kurde, und „diese Gruppe FM, der einzigen türkischsprachigen Ra- wollen wir nicht ausgrenzen“, erklärt Nachrichtenredakteur Ceyhun Kara, doch diostation außerhalb der Türkei. „Günaydin“, sagt Jale. Das heißt „Guten über eine einheitliche Sprachregelung Morgen“, und so ist auch der Titel ihrer zum Thema PKK ist nie richtig diskutiert Frühsendung von montags bis freitags. Am worden. Wichtiger für 94,8 ist der Service, und Wochenende von 20 Uhr bis 1 Uhr moderiert Jale „Ak≠ami“, eine Sendung, in der das heißt vor allem Erklären: Was ist „ich meine Lieblingslieder spiele und wit- eine Verbraucherzentrale, wie funktioniert das neue Staatsbürgerschaftsrecht, wie zig bin“. Jale hat Arzthelferin gelernt, aber das wirkt sich die Rentenreform aus? „So etlangweilte sie. Über ein Praktikum kam was steht nie in den Zeitungen“, sagt sie zum Radiosender Kiss FM, wo sie ein- Kara. Der Privatsender zielt auf die zweite mal in der Woche die „Turkish Kisses“ moderierte – unter jungen Türkberlinern Generation der deutschen Türken, will eine Kultsendung, die aber eingestellt wur- aber auch die Jüngeren erreichen, die fest de, als sie nicht mehr ins Konzept passte. in der deutschen Kultur verwurzelt sind und nicht einmal richtig Türkisch spreAlso ging Jale zu 94,8. „Diesen Sender musste es endlich ge- chen. Moderatorin Jale sieht darin kein ben“, sagt sie. Berlin hat die größte türkische Problem: Sie selbst fühlte sich anfangs Gemeinde außerhalb der Türkei, 170 000 sehr türkisch, dann sehr deutsch, bis sie Berliner sind Türken. Für Jale gibt es 56 Mo- feststellte, „dass es die beiden Extreme scheen und seit Anfang Juni den Radiosen- gar nicht gibt“. Entscheidend ist die Abgrenzung zum der auf UKW 94,8. Durchschnittlich rund 45 000 Hörer pro Stunde zählt das Non- deutschen Einerlei. „Türken wollen türkiStop-Programm, Tendenz steigend. Auch sche Lieder hören“, sagt Jale Baldede, Werbekunden fanden sich schnell unter den „und keine Ballermann-Hits.“ Die Lieder mehr als 5000 türkischen Firmen in Berlin: müssen schmachtvoll ans Herz gehen: Immerhin gehören 82 Prozent der Türken, „Was sich für deutsche Ohren wie Geleier die in der Hauptstadt leben, zur umworbe- anhört – für uns Türken ist es gefühlvoller Gesang.“ nen Gruppe der 14- bis 49-Jährigen. Maik Großekathöfer D d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 95 Werbeseite Werbeseite d e r dung gefragt vor allem im Bauchbereich. In jeder Straße der Innenbezirke stehen die Bräunungszentren und Muskelbuden. Aber türkische Buchläden gibt es gerade zweieinhalb in der Stadt. „DJ H-Khan“ kam 1986 nach Berlin, da hieß er noch Harkan und war 17. Er jobbte tagsüber als Detektiv beim KaDeWe und legte nachts schwarze Musik auf in den Ku’damm-Discos, wo für seinesgleichen galt: Wir müssen draußen bleiben. „Vor sechs Jahren machte die erste türkische Disco in Berlin auf. Da liefen noch diese Dorf-Lieder. Dann boomte die Popmüzik in der Türkei. Wir haben House-Beats und Black Music druntergemischt, und die Leute wurden verrückt danach. Das ist Orient House. Typisch Berlin.“ Wenn DJ H-Khan im Club „Limon“ auflegt, direkt gegenüber der Deutschen Oper, dann ist da kein autistisches Massenpendeln über eiskaltem Beat. Bei Orient House kommt es vor, dass die Texte mitgesungen werden. Man tanzt in Ketten, fasst sich an. Im „Limon“ trifft sich auch das „Neuköllner Fräuleinwunder“, das der Berliner Sittenforscher Helmut Höge ausgemacht hat: hoch gewachsene, vollkommene Gestalten, mit makellosem Make-up, High-Heels und hautKünstler engen Bodys, das Haar Cantürk (im versteckt unterm Tuch, „Tacheles“) Nicht mehr nur der Bauchnabel frei. Gefährlich fremd in der Berden Dönerliner Stillosigkeit. Sie traSpieß drehen gen das Tuch, um von den Testosteron-Schwitzern im „Café Marmara“ nicht angemacht zu werden. Das Kopftuch ist Tarnkappe, Code und Fashion. Es sagt: Wir sind anders. Anders als die Deutschen. Anders als die Türken. Sie sind die Meisterinnen in der Erotik von Zeigen und Verstecken. Ihr Privatleben organisieren sie sich per Handy, damit die Eltern nicht merken, dass es nicht die beste Freundin ist, wo Töchterchen heute nacht schläft. Die Mädchen wissen, was sie wollen. „Vor allem einen Mann und Familie. Daran hat sich nichts geändert“, sagt DJ H-Khan. „Die kommen nachts in die Disco, sind gepierced und haben Sex und alles. Aber sobald sie verheiratet sind, ist Schluss damit. Die meisten sind dorfmäßig in ihrem Kopf. Die denken wie ihre Mütter.“ Und wie verträgt sich das mit Sex? „Junge, es gibt Möglichkeiten.“ Und seien es die Jungfernhaut-Feinstopfer vom Kottbusser Damm. s p i e g e l K. THIELKER Herkunftsgrübelei wirklich keinen Sinn mehr machen. Es gibt die Schauspieleragentur „Foreign Faces“. Es gibt im „Tacheles“, der alternativen Kulturruine an der Oranienburger Straße, einen russischen Künstler, der ist gar kein Russe, sondern heißt Kemal Cantürk. Die ganze Organtransplantation in Berlin wird von einem 33jährigen Anästhesisten namens Onur Küçük koordiniert. Es gibt türkischstämmige Rechtsanwältinnen in Mitte und gleich um die Ecke, in der Tucholskystraße, eine Cocktail-Jazz-Bar „Jubinal“, mitgegründet von Perri Aliabbasaglu, einer türkischen Kurdin alewitischen Glaubens und aufgewachsen in Oberbayern. Perri sagt: „Für junge Türken hört Berlin in Mitte auf. Der Osten ist bedrohlich, nur in Mitte trifft sich die türkische Intelligenz. Sofern sie nicht schon nach Zehlendorf emigriert ist. In Kreuzberg sind die Fronten klar. In Mitte nicht. Hier fängt jeder von vorn an.“ Das „Jubinal“ ist die neue Mitte. Hier sitzt der Schauspieler Birol Ünel, der in Heinrich Breloers „Todesspiel“ einmal Captain Mahmud in der entführten „Landshut“-Maschine war und Kafka fürs Theater bearbeitet: „Türke? Deutscher? Ich bin Fellache, Alter.“ Das neue Selbstbewusstsein der jungen Deutschtürken ist die Sonnenseite einer ansonsten gescheiterten Integration. Fast die Hälfte der Berliner Türken ist jünger als 25. Es knirscht an allen Ecken. In Berlin haben mehr als die Hälfte der jungen Frauen ohne deutschen Pass keine abgeschlossene Ausbildung. Seit Anfang der Neunziger verschlechtert sich das Deutsch der türkischen Schulanfänger. Schuld sind, diesmal wirklich, die Medien: „Wir von der zweiten Generation kamen als Kinder nach Deutschland. Wir mussten Deutsch lernen. Es gab keine türkischen Medien. Wer es schaffen wollte, der musste besser sein als die Deutschen“, sagt Sermin Döganan vom Bezirksamt Kreuzberg. „Seit es türkisches Kabelfernsehen gibt und rund um die Uhr 94,8 Metropol FM, werden die Türkischkenntnisse der Leute hier immer besser. Außerdem kommt man in Kreuzberg auch ohne Deutsch bestens durch.“ Die dritte Generation will nicht sein wie irgendjemand anderes. Sie will sie selbst sein, und das heißt vor allem: Aussehen. Gut aussehen. Bodystyling machen, Tanzen. Der Körper ist alles und gute Ausbil- 3 6 / 1 9 9 9 97 D e n ke r Geist und Stütze Wie zu Beginn des Jahrhunderts ist Berlin wieder Anziehungspunkt für Intellektuelle aus Osteuropa. Doch ihr Einfluss auf das Kulturleben der Hauptstadt ist minimal. ut aufgehoben und von zwei Bordellen in die Mitte genommen, steht das „Hegel“ am Savignyplatz, eigentlich viel zu verbraucht als Existenzbeweis einer „Intelligenzija-Szene in Berlin“ – säße da nicht Mascha am Klavier: Absolventin des Moskauer Konservatoriums, entschwunden nach Jerusalem und von dort wieder aufgetaucht in Berlin, weil Berlin Europa ist. Im Antlitz alter „Prawda“-Titelseiten lässt Mascha Chopin durch den Kneipenrauch ziehen, dass es Gänsehaut macht. „Hegel“-Wirtin Lucinka Wichmann lauscht verzückt. Am Tresen steht Software-Entwickler Oleg, dessen Frau acht Sprachen spricht, aber nicht arbeiten darf. Ist das „Russki Berlin“? Oder doch eher das „Russische Haus“ an der Friedrichstraße, einst Hort der „Deutsch-Sowjetischen-Freundschaft“, wo neun Mitarbeiter durch 29 000 Quadratmeter bester Lage gespenstern, wo die Lifte knirschen und die Räume anheimelnd sind wie ein verlassener Bahnhof? Seit Kriegsende haben nie so viele Osteuropäer in Berlin gelebt: 24 000 Exilanten aus der ehemaligen Sowjetunion (nicht gezählt die klandestinen), 28 000 Polen sowie 8000 Tschechen, Bulgaren, Ungarn und Slowaken. Es sind auch große Namen darunter. Doch stehen sie an den Klingelschildern der Sozialwohnungen, nicht in den Veranstaltungshinweisen. Alexander Askoldows Film „Die Kommissarin“ lief in den Berliner Kinos, als Gorbatschow ein Popstar war. Jetzt lebt Askoldow in Berlin, und keiner nimmt von G 98 K. THIELKER W. BAUER ihm Notiz. Ebenso wenig wie von den Schriftstellern Friedrich Gorenstein, Giwi Markwilaschwili, Boris Rochlin, alles Neu-Berliner, die mit den Möbeln und Freunden auch ihren Ruhm hinter sich gelassen haben. Zu Zeiten von „Charlottengrad“, in den Zwanzigern, lebten mehr als 300 000 Russen in Berlin; es gab 86 russische Verlage in der Stadt. Russen waren spannend, den Rechten als Schreckgestalten, der linken Boheme als Botschafter eines Neuen. Mit Russen ließ sich im Café „Prager Diele“ über die Zukunft reden wie Wirtin heute mit Bewohnern des Wichmann Silicon Valley. Ist das Heute sind die KulturRusski Berlin? häuser der osteuropäischen Staaten verwaist, die Dissidentenzirkel arbeitslos und ihrer Aura verlustig. Dass die Akademie der Künste vom Ungarn György Konrád geleitet wird, täuscht über die wirkliche Ausstrahlung der Exil-Intelligenz hinweg. György Dalos, der jetzt die Leitung des ungarischen Kulturzentrums abgibt, sagt: „Seit Radio Freies Europa eingestellt wurde, kommt die ungarische Wirklichkeit nur noch veraltet hier an. Die Zeitungen brauchen eine Woche. Budapest ist heute weiter von Berlin weg als je zuvor.“ Kein osteuropäisches Projekt, das nicht mit einem Bein im Grabe stünde. Selbst das hoch gerühmte „Theater Kreatur“ von Andrej Woron, wo alle Völkerschaften Europas auf der Bühne stehen, ist gefährdet. Die russisch-deutschen Kulturzeitschriften in Berlin, „Serkalo Sagadok“ oder „Studija“, sind außerhalb ihres Zirkels unbekannt. Der Verleger von „Studija“ lebt von Sozialhilfe. Frank Berberich, Herausgeber der Kulturzeitschrift „Lettre International“, sagt: „Ein wenig ist die Neugier mit dem Geheimnis verschwunden.“ Früher vermuteten viele West-Berliner Intellektuelle hinter dem Schleier der politischen Kontrolle eine Schattenhöhle der Geistesgenies. Aus dem Osten erwartet man nun nichts außer guten Musikern und Tänzern. Die Russen-Kneipen der Stadt sind ausgestattet wie Kostümfilme. Sie heißen „Voland“, „Gorki Park“ oder „Nostalghia“ und sind voll mit Deutschen, die Russland mit der Seele suchen und dabei Borschtsch löffeln wollen. Von Avantgarde keine Spur. Es gibt Cliquen, keine Szene. Da sind die Kontingent-Juden, die Russlanddeutschen und die Georgier, da sind die Nostalgiker, eingepuppt in ihre Verachtung des Westens, da sind übrig gebliebene Nomenklatura-Russen und Neu-Russen von der Kantstraße und junge hungrige Maler aus Odessa – und keiner möchte mit den anderen auch nur zusammen genannt werden. „Intellektuellen-Szene in Berlin? Alle, die etwas können und mehr wollen als nur Sozialhilfe, gehen nach New York. In Deutschland bleibt das Mittelmaß“, sagt Sonja Margolina, eine der wenigen OstIntellektuellen, die an deutschen Debatten beteiligt ist. „Aber das ist die Schuld der Deutschen. Das Ausländerrecht verhindert, dass die Intelligenz aus Osteuropa einen Platz findet.“ Igor Chamiev vom „Jüdischen Kulturverein“ hält die Erwartung einer osteuropäischen Boheme in Berlin für verfrüht: „Die russischen Zuwanderer haben alles zurückgelassen. Sie sprechen kein Deutsch. Sofern sie nicht sehr berühmt sind, brauchen sie Jahre, um überhaupt auf die Füße zu kommen.“ Chamievs Vater war Chefarzt in Baku. Jetzt, mit 77 Jahren, muss er zum Sozialamt. „Wir sind noch nicht lang genug in Berlin“, sagt Chamiev. „Unsere Kinder werden ihren Platz finden. Sie werden Deutsche sein.“ Und keine Exil-Bohemiens. Wie jetzt schon Wladimir Kaminer von der Dichtergruppe „Neue proletarische Kunst“: Von Dalos oder Konrád hat er noch nie etwas gehört und findet im Übrigen, dass Exil-Zeitschriften Auslaufmodelle sind: „Ich will ein breites Publikum, keinen SubkulturDichter Mief.“ Wladimir Kaminer Kaminer Verschwundenes schreibt auf Deutsch. Geheimnis Alexander Smoltczyk Werbeseite Werbeseite Fußball Hertha-Zauber in Blau-Weiß FOTOS: W. BAUER Zum Regierungsumzug hat die Hauptstadt nun auch einen Erfolgsclub in der Bundesliga. er Stadionsprecher kennt seine alten Hertha-Fans: „Die Toilettenbenutzung im Olympiastadion ist kostenlos. Für den Fall der Fälle.“ Der einstige Proletenverein Hertha BSC will Hauptstadtclub werden, und das Publikum muss sich mit ihm nach oben entwickeln. Dass Schiedsrichter bei Fehlentscheidungen nicht mit „Jude, Jude“-Rufen bedacht werden sollen, wissen schon die meisten Zuschauer, aber die verfeinerten Umgangsformen der Harn-Entsorgung in geschlossenen Räumen müssen noch gepaukt werden. Doch solche Rückfälle sind selten geworden. Hertha BSC Berlin, die ehemalige Skandalnudel der Liga mit schlechtem Ruf und schlechten Finanzen, von Lizenzverweigerungen regelmäßig stärker bedroht als von Leistungssteigerungen, hat sich aufgeschwungen zum Himmelsstürmer der Bundesliga. In der Saison 1998/99 spielte sich die Mannschaft unter Trainer Jürgen Röber – hinter den Erfolgsclubs Bayern und Bayer – an die Tabellenspitze und in die Herzen der Fans. Rechtzeitig zum Regierungsumzug nach Berlin hat die Stadt einen Club, passend zu ihrem neuen Image als internationale Metropole. D 100 Der Kaiser höchstpersönlich adelt die Alles ohne Berliner Fußballer mit Rücksicht seltenem Lob: „Herauf Traditionen tha BSC“, so Franz umgekrempelt Beckenbauer, „könnte uns irgendwann mal den Rang ablaufen.“ Schon bieten die Herthaner auf der Homepage des „Fanclubs Schlumpfhausen“ Devotionalien der ganz Großen des Weltfußballs für ein Stück vom Hertha-Zauber in Blau-Weiß: „Tausche Brasilien, Juventus Turin oder Roberto Baggio Trikots“, schreibt da ein Maximillian, „gegen Hertha BSC Trikot.“ Woche Hertha-Spielstätte Olympiastadion d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 für Woche bejubeln jetzt im Schnitt 50 000 Fans die neuen Stars: Torschützenkönig Michael Preetz, Mittelfeld-Wiesel Dariusz Wosz und Jungstar Sebastian Deisler (von der „BZ“ liebevoll „Basti Fantasti“ getauft). Und sie feiern den Abschied von der eigenen Mittelmäßigkeit. Fünf Jahre ist es erst her, da kannte Hertha außer ein paar hartgesottenen Fans nur der Gerichtsvollzieher. In das gigantische Olympiastadion verloren sich an manchen Wochenenden gerade mal 3000 bis 4000 unverbesserliche Zuschauer. Aber just als der Verein an seinem sportlichen wie finanziellen Tiefpunkt angelangt schien, investierte das Bertelsmann-Vermarktungsunternehmen Ufa Sports GmbH 1994 in den maroden Club an der Spree. 4,5 Millionen Mark steckte der Konzern in das Projekt und bis heute rund 35 Millionen. Dafür kassieren die Bertelsmänner bis zum Jahr 2009 jährlich 40 Prozent der Marketingeinnahmen. Seither ist die Lachnummer der Zweiten Liga systematisch zum professionellen Erfolgskonzern aufgebaut worden. Mit dem sagenumwobenen Robert Schwan kam ein ebenso skurriler wie ambitionierter Aufsichtsratsvorsitzender, der den Club wie einst die Bayern auf Erfolgskurs manövrieren sollte. Dieter Hoeneß wurde als Manager für eine rentable Einkaufspolitik verpflichtet. Außerdem setzten die Ufa-Bosse ihre eigenen Leute in die muffige Geschäftsstelle. Fans von Bald schon protestierte Hertha BSC die Basis gegen das FaceAbschied von Lifting der alten Dame der eigenen Mittelmäßigkeit Hertha: „Die kamen hin und ham allet umjekrempelt, ohne Rücksicht auf Traditionen.“ Aber zwischen den Sehnsüchten der alten Fans, die Fußball als proletarisches Volksgut verehren, und den Visionen der Strategen, die im Fußball die kalkulierte Investition in der Unterhaltungsbranche sehen, steht Trainer Jürgen Röber als Symbol der echten Hertha. Allen Anfeindungen und Demütigungen zum Trotz hat Röber den Club vom 10. Tabellenplatz der Zweiten in die Erste Liga und in die Geld verheißende Champions League geführt. Röbers Meisterstück verdankt der Club dem Aufstand der Basis – denn erst die StreikDrohungen der Fans und die Solidaritätsbekundungen der Spieler haben den ruhigen, aber kompetenten Röber in Berlin gehalten. Der pessimistischen Kritik der notorischen Nörgler hat Röber ebenso wenig Glauben geschenkt wie dem euphorischen Wahn der Fans – er weiß, dass der Weg von der Königsliga zurück in die Kreisklasse schneller ist als der mühsame Kampf nach oben. Von Mailand nach Meppen ist es näher als umgekehrt. Carolin Emcke Werbeseite Werbeseite Szene Spaßhaus Mitte A Von Tanja Dückers 102 d e r meine Entspanntheit ausgebreitet; das persönliche Wohlbefinden im Augenblick – in dieser Wohnzimmerbar auf dem etwas zerschlissenen Brokatsofa mit Blubber-Musik und netten Freunden – steht über beruflichem Ehrgeiz oder dem Engagement für kollektive Ziele. Man tuckert zwischen One-Night-Stand und Langbeziehung, zwischen Single-Haushalt und Friedrichshainer Chaos-WG, zwischen Open-Air-Concert und Kellerloch-Event, zwischen Ecstasy und Vitamin C, gurkt nach Indien oder an die Ostsee, man kriegt Kinder oder lässt es bleiben – ohne eine Ideologie daraus zu destillieren. Und jedes Jahr scheint es eine neue Parade zu geben. Nachdem die Love Parade immer mehr zum Kommerz-Touristen-Blödmann-Event verkommen ist, zu dem die Junge Union einen Wagen schickt, ist man auf den Christopher Street Day (ob schwullesbisch oder nicht) und den „Karneval der Kulturen“ (dieses Jahr 300 000 Feiernde), die „SexParade“ und die „Hanf-Parade“ umgestiegen. Spanische Verhältnisse in Berlin: jede Woche Fiesta. Südliches Flair hat die Stadt ergriffen, allerorts eröffnen brasilianische, mexikanische und spanische Restos und konkurrieren mit den hiesigen Buletten-Bars, jede zweite Kneipe stellt Stühle auf den Bürgersteig, und auch die Bordsteinkante ist von den Kids wiederentdeckt worden. Anstatt teure Drinks in blöden Stehlocations, die eigens für abgehetzte Yuppies geschaffen worden sind, hinunterzukippen, gehen wir zum Spätkauf auf der Kastanienallee, setzen uns mit Freunden, Bier und Gummibärchen an den Straßenrand und labern bis zum Morgengrauen. Das Lebensgefühl der Teens, Twens und Young Thirts findet sich zum Beispiel in den ehemals besetzten Häusern. Ihre Bewohner sind keineswegs, wie noch in den Achtzigern und zu Wendezeiten, schwarzgekleidete PolitRhabarberer, sondern Leute mit Sony-Discman und BlinkerTurnschuhen, und ihre Buden etablieren sich zu richtigen Spaßhäusern. In den kalt-heißen Achtzigern (jetzt ist die Temperatur sommerlich-mild) und auch noch zu Beginn der Neunziger herrschte ein anderer Tenor vor, die besetzten Häuser am Einsteinufer oder in der Marchstraße umwehte ein trüber Nihilismus, ein pathetischer Ernst schwang mit auf den großen, von der damaligen U-Bahnlinie 2 für jeden zu lesenden Plakaten. Eine s p i e g e l REUTERS ls mich im Mai 1990 ein Trupp von Hausbesetzern fragte, ob ich einen Bau in Berlin-Mitte mitbeziehen wollte, überlegte ich nicht lange und entschied mich stattdessen für eine Hinterhauswohnung in Neukölln. Nein, mir war Mitte damals viel zu grau und trostlos. Da gibt’s doch kaum eine Bar, kaum ein Resto, nicht mal eine Straßenlaterne, dachte ich, und jeder nickte zustimmend. Gerade mal neun Jahre ist dies nun her. Heute unvorstellbar, dass jemand den „Slumbezirk“ Neukölln – damals noch Einzugsgebiet von Kreuzberg als Mekka der Nacht – dem Szeneviertel Mitte vorziehen könnte. Die Öffnung des Ostens – räumlich und kulturell – war für die West-Teens und -Twens erst mal eine enorme Erweiterung ihres Freizeitangebots. Ost-Berlin wurde zu einer Art großem Abenteuerspielplatz. Jede Woche machte eine neue illegale Bar auf, zu der man nur über ein Dach oder ein Kellerloch Zugang hatte, wurde ein neues Haus gefunden, besetzt, gefeiert. Auch ich zog dann doch hinüber an die Schönhauser Allee. Wir fanden alte OstAkten, kurioses Geschirr, Sportmedaillen und Kleidung in haarsträubenden Farben, kletterten halsbrecherisch durch Dachluken, schleppten den gefundenen Krempel mit selbstgebauten Flaschenzügen ab und fühlten uns ein bisschen wie Tarzan und Jane. Mittlerweile herrscht im Ostteil der Stadt ein verwirrend-betörendes Nebeneinander von neu eröffneten Banken und ehemals besetzten Häusern mit bunten Fassaden, von Ost-Bierstuben und Feinschmecker-Restos. In der U 2 tuckern Rasta-Tanten und Bürolinge Side by Side. Die Parallelität von Trash und Money, von Bonzen- und Ranzbackentum macht die Stadt spannender denn je. Da geben Freunde 200 Mark für eine Sonnenbrille aus, aber kurven auf Love Parade (im Juli) einem von einem Junkie für 25 Mark abgekauften Klapperrad herum. Sie shoppen im „Eisdieler“ (teurer Klamottenladen in Mitte) und bei „Rudis Reste Rampe“, probieren den „Modellhut“ (schickes Resto in der Alten Schönhauser) und lassen auch den Nachtisch „Mandel-Brotpudding mit grünem Oliveneis“ nicht aus. Doch die nächsten Wochen wird wieder gedönert und geburgert. Teens und Twens führen den Lebensstil vor, den sich viele 1968 gewünscht haben. Ohne zwanghafte Polygamie, Gemeinschaftsküche oder Kinderladen hat sich in der Stadt eine allge- 3 6 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite auf das (vermeintlich) Wesentliche reduzierte PolitSprache, das Leben mit extrem begrenztem finanziellen Spielraum, die Abschottung gegenüber der Außenwelt – so war diese Epoche der Berliner Linken. Ganz anders die von Vitalität, Neugierde, Hedonismus in den Osten getragene Hausbesetzerszene der Neunziger. In einem dieser Häuser in Mitte habe ich kaum einen Politspruch, kein „Bullen – verpisst Euch“, keinen „Schwanz ab“-Spruch gelesen, sondern schlicht: „Wir sind Gott.“ Jeder lebt in seinem Kosmos, macht Kunst oder das, was er oder sie dafür hält, „verwirklicht sich selbst“, egal, was dabei rauskommt, geht zu Demos, meist ohne konkrete Anliegen, freut sich, Leute wieder zu treffen, hofft dort, einen Kneipenflirt wieder zu sehen und sich zu amüsieren, während „Spießer“ grimmig-neidisch von Balkons herunterlugen. Die meisten dieser Besetzerkids, die mir über den Weg liefen, kamen Anfang der Neunziger aus dem Westen. Wenn der Ostteil der Stadt zu anstrengend oder bedrohlich wurde, konnten sie immer noch bei den Eltern oder Freunden in W-Berlin kurz ein Wochenende abspannen, dreckige Sachen in die Waschmaschine und sich selbst in die Badewanne befördern. Ich kannte jemanden, der eine Wohnung in Schöneberg angemietet hatte und gleichzeitig ein oder mehrere Zimmer in einem besetzten Haus für sich in Anspruch nahm. Allerdings wurden solche Auswüchse an Egoismus meist doch mit Rauswurf aus der WG geahndet. Schien die Suche nach politischer Freiheit in den Sechzigern, Siebzigern und Achtzigern oft ein Vorwand, um in Ruhe seinen Privatismus, wie auch immer er sich gestaltete, zu zelebrieren, schämt sich jetzt niemand mehr, dies offen zuzugeben. Die Leute verbrämen ihre ureigenen Träume, Konflikte und Pläne nicht mehr mit geborgten Parolen, sondern krakeln einfach „Spaßhaus“ an den Schornstein. Der gemeinsame Feind aller Kids, ob aus dem Westen oder Osten, ob turnschuhmäßig drauf oder in Nostalgie-Oma-Tripplern, sind die „Spielverderber“; das können je nach Lage Skinheads, Lehrer, Polizisten, lärmempfindliche Nachbarn, BVG-Ärsche oder Eltern sein. Für die jetzt 20-Jährigen ist die Geschichte des vereinten Deutschland genauso lang wie die des geteilten Landes.Viele wissen nicht mehr, wo genau die Mauer verlief, und oft lässt es sich wirklich nicht mehr an den Häusern, den Geschäften, den Menschen ablesen. Es gibt eine Art internationaler Jugendkultur, die auf Raves geht oder Drum’n’Bass hört, bunte T-Shirts von H & M und fette Turnschuhe trägt, die wirkliche und virtuelle Grenzen schlicht ignoriert. Viel Charme hat diese naive Vergesslichkeit, die den Mauerfall zu einem Datum unter vielen anderen im Geschichtsbuch werden lässt. Kirchenspaltung, Wiener Kongress, Weimarer Republik, Hitler und Co., Mauer hin, Mauer weg, FreiZeit. Es gibt Tausende Ost-West-Beziehungen, man feiert und arbeitet zusammen, manchmal macht man gute oder doofe Witze übereinander, so richtig interessiert das nicht mehr, ob jemand östlich oder westlich der Mauer seinen Hintern in die Welt gesetzt hat. Natürlich gibt es jammernde Nischenbewohner auf beiden Seiten. Leider müssen in diesem Zusammenhang ein paar Kreuzberger Provinzeier erwähnt werden, die sich und 80 Millionen anderen allen Ernstes die Mauer wieder an den Hals wünschen, um das Gefühl, am Rande der Gesellschaft zu leben, aufrechterhalten zu können. Dennoch bekennt „die Szene“ sich – das steht nicht in einem Gegensatz zur übernationalen Clubculture, sondern ergänzt sie hier zu einer „besonderen Mischung“ – zum regionalen Standort. In Bars hängt nicht Brad Pitt, sondern Gorbatschow an den Wänden, in der „Hohen Tatra“ spielten die Hamburger „Sterne“, OstGut wie Plastikspieße im Fernsehturmdesign stecken in FruchtCocktails, und der absolute Kultclub derzeit in Friedrichshain hat keinen weltläufigen englischen No-Name, sondern heißt schlicht: „Maria am Ostbahnhof“. 104 d e r Berlin für Neugierige Kneipen, Bars und Clubs in der Szene s p i e g e l CHARLOTTENBURG GAINSBOURG – BAR AMERICAIN Savignyplatz 5, S-Bahnhof Savignyplatz. On aime Serge! Chef Frido Keiling gehört zu den Dauersiegern bei Cocktail-Wettbewerben. SCHLEUSENKRUG Müller-Breslau-Straße/Tiergartenschleuse, S-Bahnhof Tiergarten. Auf drei Terrassen gemütliches West-Berlin. Selbstbedienung bei Lamm und Würstchen vom Grill. FRIEDRICHSHAIN DIE TAGUNG / CUBE CLUB Wühlischstraße 29, S-Bahnhof Warschauer Straße. Für Ostalgiker die Friedrichshainer Szenekneipe schlechthin: Honecker-Porträt mit Trauerflor! Ein Stock tiefer kann getanzt werden. im „Privat Club“ Konzerte, Versteigerungen und Lesungen statt. WÜRGEENGEL Dresdner Straße 122, U 1/8/15 Kottbusser Tor. Gemütlich-elegante Bar in sattem Bordeaux-Rot. MITTE BAUHÜTTE GEMÜTLICHKEIT SCHMALZWALD Schlegelstraße 26/27, U 6 Oranienburger Tor. Szenetreff in einer ehemaligen Garage der Betriebsfeuerwehr. Alltagsmuseum und Work-inProgress-Kulturstätte. CAFE ADLER Friedrichstraße 206, U 6 Kochstraße. Direkt gegenüber dem ehemaligen Checkpoint Charlie gelegene Gemütlichkeitsoase. MARIA AM OSTBAHNHOF SUPAMOLLY Straße der Pariser Kommune 8 - 10. S-Bahnhof Ostbahnhof. Konzerte von Dub bis Minimal Techno, Drinks in der Flittchenbar. KREUZBERG Jessner Straße 41, U 5/S-Bahnhof Frankfurter Allee. Angesagter Konzertkeller mit Hausbesetzer-Flair. Musikalisches von Reggae über Punk zu Techno. ANKERKLAUSE HACKBARTH’S Maybachufer/Ecke Kottbusser Damm, U 8 Schönleinstraße. Von Seemannsliedern bis Easy Listening. Szenepromi-Treff in ehemaliger Prolltränke. Donnerstags die beste Funk-TrashPop-Party der Stadt. Auguststraße 49a, S 1/2/25 Oranienburger Straße. Erst Bäckerei, dann Yuppie-Eckkneipe, jetzt meist knüppelvoll. Trotz schlechtem Service guter Zwischenstopp auf Mittes „In“-Straße. FÔGO JUBINAL Arndtstraße 29, U 7 Gneisenaustraße. Karibisch angehauchte Strandbar mit Sandfußboden. Häufig spontane Live-Sessions mit Seventies-Touch. August-/Ecke Tucholskystraße, U 6 Oranienburger Tor. Cocktails und ausgezeichnete Weine, siebziger Jahre Ambiente. Zeitgemäßer, unaufdringlicher Live-Jazz. FRIENDS OF ITALIAN OPERA Fidicinstraße 40, U 6 Platz der Luftbrücke. Kleines englischsprachiges Theater mit internationalen Gastspielen vielversprechender Künstler. HAIFISCHBAR Arndtstraße 25, U 7 Gneisenaustraße. Blue-Note-Ambiente. Cocktail-Bar mit Sushi-Tresen. WELTRESTAURANT MARKTHALLE Pücklerstraße 34, U 1/15 Görlitzer Bahnhof. Deftiges an großen Wirtshaustischen. Einen Stock tiefer finden 3 6 / 1 9 9 9 JULIETTES LITERATURSALON Gormannstraße 25, U 8 Weinmeisterstraße. Buchangebot kleiner Verlage jenseits des Mainstreams. Regelmäßig Literaturprojekte mit Lesungen und Inszenierungen. KURVENSTAR Kleine/Ecke Große Präsidentenstraße 3, S-Bahnhof Hackescher Markt. Kühle Angelegenheit für markenbewußte HipHopper. Angesagte Club-Location mit Sushi-Bar. REINGOLD Novalisstraße 11, U 6 Oranienburger Tor. Coole Cocktail- und Austernbar im Leder- und Samtstil der dreißiger Jahre. Einlass nur mit gepflegtem Äußeren. WMF Johannisstraße 20, U + S-Bahnhof Friedrichstraße. Ehemaliges Gästehaus des DDR-Ministerrats. Jeden ersten Mittwoch im Monat: Mikro Lounge. Internationale Gäste diskutieren das Zeitalter des Internets. Hochkarätige Musik aus zwei Bars. NEUKÖLLN CAFE RIX IM SAALBAU NEUKÖLLN Karl-Marx-Straße 141, U 7 Karl-Marx-Straße. Trutzburg wider das (verrufene) Neukölln! Gemütliches Café im aufwendig restaurierten Jugendstilsaal. Gute Tageskarte. CAFE XENZI Selchower Straße 31, U 8 Boddinstraße. Anachronistisches Einraumerlebnis mit Bollerofen, erfreut sich seit Jahren geradezu unwirklicher Beliebtheit. PRENZLAUER BERG LA BODEGUITA DEL MEDIO Lychener Straße 6, U 2 Eberswalder Straße. Hemingway lässt grüßen. Kubanische Kneipe im Stil der zwanziger und dreißiger Jahre. Hier soll es die besten Mojitos Berlins geben. wer, wie auf dem Sozialamt, eine Nummer gezogen hat. KONNOPKES IMBISS Schönhauser Allee, U 2 Eberswalder Straße. Ost-Berlins unter der Hochbahn gelegene Kult-Wurstbraterei. Beste Currywurst der Stadt! MARY JANE BAR Kastanienallee 24, U 2 Eberswalder Straße. Spaciger Tip für frühe Morgenstunden: Chill-out am PlüschTresen mit Drum’n’Bass und House-Musik. PRATER/BASTARD Kastanienallee 7-9, U 2 Eberswalder Straße. Für Liebhaber Alt-Berliner Wirtshäuser. Das Bastard ist eigentlich das Foyer einer Spielstätte der Volksbühne, fungiert an Wochenenden als Club. SCHÖNEBERG CAFE SAVARIN Kulmer Straße 17, U + S-Bahnhof Yorckstraße. Köstliche Pasteten, Gemüsetorten und Kuchen. Schlemmen wie in Omas guter Stube. GREENDOOR Winterfeldtstraße 50, U 1/2/4/15 Nollendorfplatz. Unter Cocktailfans und Liebhabern eleganter Innenarchitektur absolut bekannt. LUKILUKI Motzstraße 28, U 1/2/4/15. Herren bedienen als Damen oder mit nacktem Oberkörper. Nette Stimmung bei schlechtem Essen. HEADHUNTER PINGUIN CLUB Stargarder Straße 76, S-Bahnhof Schönhauser Allee. Alle Frisuren zum Einheitspreis von 20 Mark, bedient wird nur, Wartburgstraße 54, U 7 Eisenacher Strasse. Reminiszenz der Amerikaverehrung des alten West-Berlin. d e r Dückers, 30, wurde in West-Berlin geboren und lebt als Autorin in Prenzlauer Berg. Sie veröffentlichte dieses Jahr im Aufbau-Verlag einen Roman über die neue BerlinGeneration, „Spielzone“. s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 W. BAUER K. THIELKER Szenetreff „Bauhütte Gemütlichkeit Schmalzwald“ Vielleicht wird Berlin nie eine „Weltstadt“? Aber wie definiert sich das schon, Glastürme statt Ruinen, Anglizismen statt „Treptower Park“ („Treptowers“-Kreation der Immobilienwerbung), Fußbodenheizung statt Kachelöfen? So ostzugewandt und gleichzeitig international, so reiselustig und mondän sich viele junge Berliner geben, so wenig interessieren sie sich für „Restdeutschland“ (=Westdeutschland). Nicht ohne Arroganz lässt man sich höchstens mal zu einem WeekendTrip nach Hamburg überreden, weil dort ein berühmter DJ auflegt oder Massive Attack spielt, aber andernorts hat man, abgesehen von weihnachtlichen Elternbesuchen, nichts verloren. Bayern ist ferner als das Mittelmeer, Budapest und Prag näher als der Rhein. Lange wird sich das reizvoll-unbestimmte „Alles ist möglich“ in dieser Stadt mit permanentem Baustellenstatus wohl nicht mehr halten. Den massiven Umbau ihrer Stadt betrachten viele Leute, die ich kenne, skeptisch bis wütend: Sie haben das ungute Gefühl, einfach nie dazu gefragt worden zu sein. Seit Jahren kannten die jungen Berliner ihre Stadt, ob Heimat oder Wahlheimat, als Ort der Unbestimmtheit, der chronische Baustellenstau wurde ihr Markenzeichen. War in dieser Unbestimmtheit noch Raum für die verschiedensten Vorstellungen von „Berlin“, jagt die Konkretisierung dieser Ideen, die mit dem Umzug des Regierungssitzes einen weiteren Meilenstein passiert, Angst ein. Natürlich fürchten die jüngeren Berliner auch, die lieb gewonnenen Spaßnischen zu verlieren. Die illegale „Montagsbar“, ein Kellerloch um die Ecke mit Sixties-Mobiliar, hat dichtgemacht, den Trödelmarkt am Tacheles gibt es nicht mehr, stattdessen nervt ein blinkender Rummel, die blöde Hausverwaltung reißt den netten quietschorangenen Kachelofen aus der Wand und setzt eine teure, hässliche Zentralheizung in die Bude, und nebenan macht ein von dicken Krawattis bevölkertes Stehlokal mit bescheuertem französischen Etepetete-Namen auf. Doch auf das „neue Berlin“ entstehen auch wieder ganz eigene ironische Antworten. Schuppen machen auf, die sich „DaimlerChrysler“ oder knapp „Die Schweiz“ nennen, Besetzer in der Tucholskystraße verpackten ihr Haus in frappierend ähnlicher Silberfolie wie Christo zeitgleich den Reichstag (Es gehen Gerüchte um, dass mancher Japaner mit Fotos von diesem Christo nach Hause flog) und hängten in Augenhöhe für Touristen ein Schild vor ihre Tür: „Abenteuersafari Tucholsky 30 – Erleben Sie freilebende Hausbesetzer – Bei einer Führung lernen Sie prickelnd hautnah eine der seltensten Menschengattungen in ihrem natürlichen Lebensraum kennen! Tucho Tours: 39,90 Mark für jeden Teilnehmer.“ Die Subkultur reagiert ironisch-witzig, nicht depressivverstimmt, heimlich fühlt sie sich den Neuankömmlingen überlegen. Wenn die sich für Berlin und seine Bewohner interessieren, ist man ihnen einigermaßen freundlich gesinnt, wenn sie aber mit dem Gestus des Rattenlochsäuberers auftreten, wünscht man sie schleunigst zurück in das Unland der Fußbodenheizungen und elektrischen EiAnpiker. 105 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Deutschland Angeklagter Balsam (M.), Verteidiger, Prozessakten: „Es muss endlich Schluss, Schluss, PROZESSE „Irgendwo steckt noch Geld“ Der spektakulärste deutsche Wirtschaftsprozess geht zu Ende. Doch der Haupttäter ist verschwunden, und viele Rätsel der Milliardenpleite der Balsam AG bleiben ungeklärt. A FOTOS: TEUTOPRESS m 190. Verhandlungstag bat der An- Blatt Beweismaterial gesichtet. Der Mamgeklagte mit der schmalen Lese- mutprozess offenbarte, dass deutsche Gebrille die Richter um Gehör. Lang- richte selbst bei sorgfältigster Arbeitsweiatmig trug er der 9. Großen Strafkammer se überfordert sind, komplexe Betrügereides Landgerichts Bielefeld zunächst Alt- en von Spitzenmanagern aufzuklären. bekanntes vor: Er habe sich nie etwas zu In der Balsam AG wurde so filigran mit Schulden kommen lassen, und „von den Luftbuchungen, gefälschten Belegen und Machenschaften“ in seinem Betrieb habe Urkunden jongliert, dass selbst der vom er nichts gewusst. Gericht eingesetzte Wirtschaftsprüfer nicht Dann brach es aus dem ehemaligen Un- mehr durchblickte. Kleinlaut musste der ternehmer Friedel Balsam, 57, heraus. „Es bestellte Sachverständige seinen Vortrag muss Schluss, Schluss, Schluss sein“, rief er vor Gericht nachträglich in mehreren aufgeregt. Noch immer werde der Name Punkten revidieren. Balsam regelmäßig durch den Schmutz geSchon vor den prozessualen Diskussiozogen, die Belastungen seien „unerträg- nen um das Zahlen-Wirrwarr hatte sich der lich, alle sind ausgelaugt“. Korruptionsskandal in einen spielfilmreifen Nach dem Wortschwall nahmen Bal- Wirtschaftskrimi gewandelt. Am 16. Nosams Anwälte alle zuvor gestellten Be- vember des vergangenen Jahres war bei den weisanträge zurück. Kommende Woche Richtern ein Brief eingegangen: Absender wird das Verfahren über die Pleite des Klaus Schlienkamp, der Hauptbeschuldigte. ostwestfälischen Sportbodenherstellers, In krakeliger Schrift teilte der ehemalige Fibei dem rund zwei Milliarden Mark ver- nanzchef der Strafkammer mit: „Wenn Sie sickert sind, zu Ende gehen – und damit diesen Brief erhalten, werde ich nicht mehr einer der spektakulärsten deutschen Wirt- am Leben sein.“ Mit seinem Geständnis habe er einen „Schlussstrich unter die Verschaftsprozesse. Nach über drei Jahren Dauer sitzt von ursprünglich sieben Beschuldigten nur noch Balsam auf der Anklagebank, die anderen sechs wurden zuvor freigesprochen oder milde abgeurteilt – der Hauptangeklagte aber ist verschollen. Rund zehn Millionen Mark kostete das Verfahren, fast 200 Zeugen wurden befragt und 400 000 Schlienkamp, Firmengelände: Flucht oder Selbstmord? 108 d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 FOTOS: B. THISSEN Schluss sein“ gangenheit ziehen wollen“. Doch dies sei wohl nicht möglich gewesen: „Ich will nicht mehr, für mich ist alles zu Ende.“ Seitdem rätseln Ermittler, Richter und Anwälte, ob sich Schlienkamp in die Karibik abgesetzt oder tatsächlich Selbstmord begangen hat. In seinen 20 Arbeitsjahren bei Balsam hatte Schlienkamp Aufstieg und Fall des Unternehmens betrieben. Mit einem Bruttogehalt von 2000 Mark fing der Industriekaufmann 1974 als Kalkulator bei dem von ihm als „Motzkopf“ gefürchteten Balsam an. Die Firma expandierte, Schlienkamp übernahm neue Geschäftsfelder in den USA und bald auch die Verantwortung, als der einstige Familienbetrieb durch rapides Wachstum in „Liquiditätsenge“ geriet. Schlienkamps Methoden der „wundersamen Geldvermehrung“ waren anfangs noch völlig legal: Eingegangene Auftragsbestätigungen schickte er an die Wiesbadener Finanzierungsfirma Procedo weiter. Der Inkassobetrieb streckte vor und lieh sich seinerseits das ausgelegte Geld bei verschiedenen Banken. Aufsteiger Schlienkamp fühlte sich als Retter der angeschlagenen 1600-Mann-Firma, als eine „Figur wie Robin Hood“. Im Betrieb habe das Motto gelautet: „Kläuschen, du machst das schon.“ Als das Unternehmen immer mehr Kapital benötigte, manipulierte Schlienkamp die Auftragsbestätigungen. Ein Geschäft in den USA erhöhte er kurzerhand von 569 000 auf 9,56 Millionen Dollar. Und als die Fälschungen nicht mehr ausreichten, erfand Schlienkamp Projekte irgendwo auf der weiten Welt. Regelmäßig bekämpfte er samstags seine Skrupel mit Rotwein, Obstbrand und Cognac, fuhr ins Büro und erstellte am Schreibtisch virtuelle Aufträge. Im Juni 1994 brach Schlienkamps Münchhausen-Gebilde zusammen. Der Finanzvorstand war geständig: Unter der Überschrift „Das Milliardengrab“ verfasste er in der Untersuchungshaft ein 230-seitiges Werk über die Abzockerei. Die Tatsache, dass ein alkoholkranker Kaufmann mit simplen Tricks fast 50 Band e r ken betrügen konnte, habe, so Oberstaatsanwalt Klaus Pollmann, „die Finanzwelt zutiefst erschüttert“. Doch schon kurz nachdem die Wirtschaftsstrafkammer im April 1996 mit der Aufarbeitung begann, war klar, dass es dem Gericht nicht gelingen würde, der Wahrheit auf den Grund zu kommen. Nach und nach dünnte sich bei allerdings noch nicht rechtskräftigen Urteilen die Anklagebank aus: π Wirtschaftsprüfer Rolf Muscat, Bilanzprüfer von Procedo, wurde im Mai vom Vorwurf des Betrugs freigesprochen. π Die Verfahren gegen die Balsam-Vorstände Dietmar Ortlieb und Horst Bert Schultes wurden im Juni gegen Zahlung von je 100 000 Mark eingestellt. π Procedo-Chef Dieter Klindworth und sein Prokurist Ulrich-Helmut Brandenberger erhielten am 1. Juli wegen Kreditbetrugs zweieinhalb Jahre beziehungsweise 21 Monate Haft. Schlienkamp hatte nach seinem umfänglichen Geständnis auf einen Deal mit den Richtern, zumindest aber auf eine schnelle Aburteilung gebaut. Als Vorbild sah er das Verfahren gegen den englischen Finanzjongleur Nick Leeson, der mit seinen Devisenspekulationen die Londoner Barings Bank in den Ruin getrieben hatte. Der geständige Banker war von einem Gericht in Singapur nach nur einem Verhandlungstag zu sechseinhalb Jahren Haft verurteilt worden. Aber die Bielefelder Richter bestanden darauf, dass sich Schlienkamp in die Reihe der Angeklagten, die jede Mitschuld bestritten, einzureihen habe. Mit der Zeit wurde er immer ungeduldiger. „Egal, ob er am Ende geflüchtet ist oder ob er sich getötet hat“, sagt Schlienkamps Anwalt Michael Rietz, „alle Prozessbeteiligten müssen sich fragen, ob sie nicht dazu beigetragen haben, dass er verschwunden ist.“ Er mache keinen Hehl aus seinem Glauben, sagt Staatsanwalt Pollmann, dass Schlienkamp noch lebt und „dass irgendwo noch Geld steckt“. Doch obwohl seine Leute jedem Hinweis nachgegangen seien, hätten sie dies bis heute nicht belegen können. Nur in der Heimat kamen die Ermittler Schlienkamp noch einmal auf die Schliche. Zumeist bei Bekannten hatte er mit Hilfe seiner Ehefrau 1,8 Millionen Mark eingesammelt, um zu spekulieren. Im letzten Oktober war das Geld bis auf 78 000 Mark verzockt – einen Monat später verschwand er. Mit all diesen unappetitlichen Vorgängen werde er als Namensgeber des Verfahrens immer in Verbindung gebracht, beschwerte sich Friedel Balsam, für den die Staatsanwaltschaft neun Jahre und sechs Monate Haft beantragt hat. Selbst als sich kürzlich Dieter Zurwehme in Ostwestfalen herumgetrieben hat, sei er sofort ins Visier der Öffentlichkeit geraten. Wie selbstverständlich sei sein ehemaliges Anwesen „als Zufluchtsort“ für den flüchtigen Mörder ausgemacht worden. Udo Ludwig s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 109 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite M. STILLER / SÜDDEUTSCHE ZEITUNG Geschäftspartner Schreiber, Max Strauß*: „Fanatiker der Diskretion“ A F FÄ R E N „Ganz schön Bewegung“ Nach der Verhaftung des CSU-Amigos Karlheinz Schreiber wird es für dessen Vertrauten Pfahls eng: Auch der flüchtige Ex-Verfassungsschutzchef muss die BKA-Zielfahnder fürchten. * 1979 in Mexiko. 112 gen Flugzeug- und Panzergeschäften die vielleicht entscheidende Wende. „Wir haben nun die zentrale Figur des gesamten Komplexes“, konstatiert der Chef der Augsburger Staatsanwaltschaft, Reinhard Nemetz, 48. „Deshalb könnte jetzt ganz schön Bewegung in die Sache kommen.“ Insbesondere die Spitze der Christsozialen im Freistaat muss vor dem Fortgang des Ermittlungsverfahren 502 Js 127135/95 bangen – schließlich sollen sich gleich drei prominente Parteimitglieder von Schreiber mit Millionen haben schmieren lassen: Max Josef Strauß, 40, Sohn des früheren Ministerpräsidenten, soll wenigstens 500 000 Mark, Ludwig-Holger Pfahls, 56, Strauß’ einstiger Bürochef in der Staatskanzlei, 3,8 Millionen, und der ehemalige Bundestagsabgeordnete Erich Riedl, 66, eine halbe Million Mark kassiert haben.Alle drei beteuern ihre Unschuld. Besonders eng dürfte es für Pfahls werden, der seit Frühjahr wegen Bestechlichkeit und Steuerhinterziehung mit internationalem Haftbefehl gesucht wird Panzer „Fuchs“, CSU-Mann Pfahls (in Singapur 1998) und in Südostasien unterge- „Verteidigungsbereitschaft gefährdet“ S. MÜLLER-JÄNSCH D er ältere, 1,70 Meter große, kräftige Herr mit den braunen Augen und dem kanadischen Reisepass Nr. EM 258819 hatte gerade sein RauchfleischSandwich verzehrt und dazu ein Bier getrunken. Seinem Gegenüber, einem Reporter der Zeitung „National Post“, schilderte er – wieder einmal –, dass er zu Unrecht verfolgt werde. Da näherten sich im Restaurant des Prince Hotel in Toronto zwei Beamte der Royal Canadian Mounted Police (RCMP) und setzten sich unaufgefordert an den Tisch. „Herr Schreiber, Sie sind verhaftet“, eröffnete einer der beiden Polizisten das Gespräch. Der Mann erhielt kurz Gelegenheit, über Handy seinen Anwalt in Edmonton und seine Frau Barbara anzurufen. Dann führten ihn die Beamten ab. Seit Dienstagabend vergangener Woche sitzt Karlheinz Schreiber, 65, in der kanadischen Metropole im Gefängnis. Dort muss der CSU-Amigo und einstige Spezl des verstorbenen bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß nun erst mal darauf warten, ob Kanada ihn an seine Heimat ausliefert. Mit der Verhaftung Schreibers nimmt die seit Jahren schwelende Affäre um angeblich millionenschwere Schmiergeldzahlungen an deutsche Politiker und Industrielle im Zusammenhang mit fragwürdi- taucht ist. Der einstige Verfassungsschutzchef soll nach Erkenntnissen der Augsburger Ermittler von Schreiber die Millionen dafür kassiert haben, dass er sich 1990 und 1991 als Rüstungs-Staatssekretär im Bonner Verteidigungsministerium für die Lieferung von „Fuchs“-Spürpanzern nach Saudi-Arabien einsetzte (SPIEGEL 29/1999). Pfahls habe sich für die Ausfuhr der von Thyssen Henschel hergestellten Kriegswaffen verwendet, so die Ermittler, „obwohl er wusste, dass es von Seiten des Heeres erhebliche Widerstände gegen die Lieferung dieser Panzer aus Bundeswehrbeständen gab und das Heer die Verteidigungsbereitschaft der Bundesrepublik Deutschland durch die Abgabe der Panzer als gefährdet ansah“. Durch die Verhaftung Schreibers, hoffen die Fahnder, hat sich für sie auch die Chance verbessert, Pfahls ausfindig zu machen. Dessen Spur verliert sich bislang am Abend des 5. Juli im Transitbereich des Flughafens Hongkong. Um Schreiber zu fassen, brauchten die Fahnder Jahre. Nach der Durchsuchung seines Hauses und seiner Firmen im bayerischen Kaufering im Oktober 1995 setzte er sich zunächst nach Pontresina in der Schweiz ab, wo er eine Wohnung besitzt. Vor dreieinhalb Monaten floh Schreiber nach Kanada, weil er sich auch in der Alpenfestung nicht mehr sicher fühlte. In Übersee, ließ Schreiber Bekannte wissen, könne ihm d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 Deutschland nichts passieren. Schließlich sei er nicht nur kanadischer Staatsbürger, sondern habe in dem Land auch einflussreiche Freunde. Zu denen zählen der konservative frühere Regierungschef Brian Mulroney und Frank Moores, Ex-Premier der Provinz Neufundland. Doch ob die ihm jetzt helfen, ist fraglich. Schließlich haben auch sie Ärger mit der Justiz. Die prüft, ob die beiden, ebenfalls von Schreiber, im Zusammenhang mit Airbus-Geschäften Geld bekommen haben, was beide energisch bestreiten. Die deutschen Behörden haben 45 Tage Zeit, Kanada die Unterlagen für das Auslieferungsverfahren gegen Schreiber vorzulegen. Schon der Antrag auf „vorläufige Inhaftnahme“, den das Bundeskriminalamt (BKA) am Freitag vorvergangener Woche nach Ottawa geschickt hatte, hat es in sich. Insbesondere der Haftbefehl des Amtsgerichts Augsburg vom 7. Mai 1997 Schreiber trug bei der Verhaftung 37 000 Mark an Bargeld bei sich enthält Vorwürfe gegen Schreiber, die – sollten sie stimmen – in Deutschland für bis zu 15 Jahre Gefängnis reichen könnten. Demnach hat der einstige Teppichhändler und spätere Airbus-Verkäufer allein zwischen 1988 und 1993 mehr als 46 Millionen Mark Provision bei fünf Großprojekten eingestrichen und vor dem Fiskus verheimlicht. Dadurch habe er binnen sechs Jahren 25,7 Millionen Mark Steuern hinterzogen. Um die Zahlungen „zu verschleiern“, habe Schreiber ein „Lügengebäude“, bestehend aus zwei von ihm beherrschten Briefkastenfirmen, errichtet: der International Aircraft Leasing (IAL) in Vaduz in Liechtenstein sowie der ATG Investment in Panama. An die seien die Gelder jeweils auf dem Papier geflossen. Konkret wirft die Staatsanwaltschaft Schreiber in den Auslieferungsunterlagen unter anderem vor, für die Vermittlung des Verkaufs von 34 Flugzeugen des Typs Airbus A 320 an die Air Canada 6,8 Millionen US-Dollar kassiert zu haben. Weitere zwei Millionen US-Dollar habe er für den Abschluss eines Airbus-Vertrages mit der Thai Airways International erhalten, an dessen Zustandekommen auch Max Strauß beteiligt gewesen sei. Die größte Summe, 24,4 Millionen Mark, soll Schreiber von 1991 bis 1993 von der Essener Thyssen Industrie AG „für die erfolgreiche Vermittlung eines Vertrags über die Lieferung“ von 36 „Fuchs“Panzern von Thyssen Henschel nach Saudi-Arabien erhalten haben. Einen Großteil hiervon leitete Schreiber laut den Ermittlungen jedoch weiter: Neben Pfahls habe der einstige CDU-Schatzmeister Walther Leisler Kiep, 73, eine Million Mark kassiert. Elf Millionen beziehungsweise 1,5 Millionen Mark hätten die damaligen Thyssen-Manager Jürgen Maßd e r mann, 56, und Winfried Haastert, 58, bekommen, beide derzeit gegen Kaution auf freiem Fuß. Auch diese drei bestreiten, von Schreiber Zahlungen erhalten zu haben. Schreiber selbst beteuert, keine Schmiergelder verteilt zu haben. Außerdem stecke er weder hinter der IAL noch der ATG. Auf Schreibers Spur kamen Zielfahnder des BKA. Bis Mitte Mai, soviel wussten die Beamten auf Grund von Telefonüberwachungen, hielten sich Schreiber und seine Frau in Pontresina auf. Mehrmals täglich erhielten sie dort Anrufe aus Deutschland. Auf einmal jedoch verlor sich, für zwei Monate, die Fährte des Gesuchten. Es gab keine registrierten Telefonate mehr. Schreiber reiste zu dieser Zeit durch Kanada, um eine neue Spaghetti-Maschine an Restaurants zu verkaufen. Mitte Juli konnten die Zielfahnder, die mittlerweile auch Pfahls nachspüren, Schreiber plötzlich wieder orten. Seine Familie rief aus Kaufering mehrfach die Nummer eines Mobiltelefons an, das einem Kanadier namens Greg A., einem SchreiberFreund in Toronto, gehört. Am Montag vergangener Woche schließlich gelang es den BKA-Beamten gemeinsam mit kanadischen RCMP-Kollegen, Schreiber in einem luxuriösen Appartementkomplex in der Bloor Street West in Toronto ausfindig zu machen. In die Suite Nummer 511 waren der Geschäftsmann aus Bayern und seine Frau unter dem Namen „Hermann“ eingezogen. Einen Tag lang observierte die RCMP Schreiber, dann griffen die Beamten zu. Umgerechnet rund 37 000 Mark in bar in acht verschiedenen Währungen trug der Gesuchte in diesem Moment bei sich, dazu zwei Pässe. Außerdem führte er Wecker, Kompass und eine Notdecke zur Übernachtung im Freien mit. Als der Mann aus Kaufering tags darauf, die Hände in Handschellen auf dem Rücken, ohne Gürtel, erstmals dem Haftrichter vorgeführt wurde, murmelte er: „Ich weiß nicht, was ich Ihnen sagen soll“ und verwies auf seinen Anwalt. Schreiber, soviel wurde bei der zweiten Haftprüfung am Freitag in Toronto klar, wird sich der Auslieferung nach Deutschland mit allen Mitteln widersetzen. Nach Einschätzung von Experten könnte er das Verfahren auf bis zu drei Jahre hinauszögern. Am Dienstag will der Haftrichter seine Entscheidung verkünden, ob er Schreiber gegen Kaution freilässt. Die für den Fortgang der Ermittlungen entscheidende Frage ist, ob Schreiber nun redet. Vertrauten freilich gilt es als unwahrscheinlich, dass der umtriebige Geschäftsmann über das bayerische AmigoGeflecht auspackt. Schließlich sei der Kaufmann nicht nur heimatverbunden („Ich liebe den Freistaat Bayern“), sondern geradezu ein „Fanatiker der Diskretion“. s p i e g e l Wolfgang Krach, Georg Mascolo, Mathias Müller von Blumencron 3 6 / 1 9 9 9 113 Deutschland HOCHSCHULEN Geld für die Guten A n amerikanischen Elite-Universitäten wie Yale oder Harvard müssen Professoren mindestens einmal im Jahr zum Rapport beim Chef: „Wie viele Aufsätze haben Sie publiziert? Wie viele Examensarbeiten und Promotionen betreut? Wie viele Drittmittel eingeworben?“ Wer gut arbeitet, bekommt viele Dollar – bei den Faulen wird gestrichen. Die Bezahlung der meisten US-Hochschullehrer ist von ihrem wissenschaftlichen Erfolg abhängig. Unterschiede von über 100 Prozent sind keine Seltenheit. Was die Mehrheit der deutschen Professoren als Angriff auf die Freiheit von Forschung und Lehre versteht, soll nun auch an den Hochschulen zwischen Kiel und Konstanz eingeführt werden: das leistungsbezogene Gehalt. Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn (SPD) plant, das starre und überkommene Dienstrecht für Hochschullehrer zu erneuern. Eine Expertenkommission wird bis Mitte nächsten Jahres Vorschläge erarbeiten. Im Jahr 2001 soll dann ein flexibleres Besoldungssystem verabschiedet werden. „Mein Ziel ist es, leistungssteigernde Bestandteile in das Gehalt einzuführen“, so Bulmahn. Oder wie der Berli- K.-B. KARWASZ Professoren sollen endlich nach ihrer Leistung bezahlt werden. Vielen Experten geht die geplante Reform nicht weit genug. Ministerin Bulmahn, Professoren (an der Universität Greifswald*): „Wie viele Aufsätze haben ner Wissenschaftssenator Peter Radunski (CDU) formuliert: „Die Guten soll man belohnen, die Schlechten bestrafen.“ Bisher gilt an deutschen Universitäten und Fachhochschulen die Maxime: Dienstlich unauffällig altern und mehr verdienen – in 15 Stufen steigt das professorale Salär alle zwei Jahre. Dabei spielt es keine Rolle, ob ein Dozent in der Science Community als internationale Kapazität gilt oder als akademischer Tiefflieger, ob er 50 oder keinen Studenten pro Jahr durchs Examen bringt. Erst vor kurzem erregte Klaus Landfried, Präsident der Hochschulrektorenkonferenz, Aufsehen mit der Forderung, „faule Professoren“ als „allerletztes Mittel“ auch entlassen zu können. Immer noch gehen Dozenten während des Semesters auf Vortragsreise, legen sich in Forschungssemestern in die Sonne oder lassen ihre Vorlesungen vorsätzlich ausfallen. Ex- perten schätzen, dass mindestens 10 bis 15 Prozent der Hochschullehrer ihren Dienstpflichten nicht oder nicht vollständig nachkommen. Den akademischen Drückebergern drohen künftig empfindliche Sanktionen. Für die Fleißigen gibt es hingegen Belohnungen. Alle Professoren sollen in Zukunft ein festes Grundgehalt bekommen: wahrscheinlich zwischen 7000 und 8500 Mark. Die Erhöhungen entsprechend dem Dienstalter entfallen. Stattdessen sind, so die Absicht von Ministerin Bulmahn, je nach Leistung Zulagen von mehr als 20 Prozent vorgesehen. Hamburgs grüne Wissenschaftssenatorin Krista Sager schlägt gar Prämien von bis zu 60 Prozent vor. Als Kriterien für die Bewertung der Professoren sind im Gespräch: die Zahl ihrer Studenten, Doktoranden und Prüfungen, * 1994 bei der Einführung des Rektors. M. MEYBORG / SIGNUM / LAIF Sie publiziert?“ die Qualität der Lehre, die Zahl der Forschungsprojekte, die Bedeutung der Veröffentlichungen und die Höhe der Drittmittel, die sie lockermachen konnten. Prüfen soll nicht die Verwaltung, sondern die jeweilige Hochschulleitung zusammen mit anderen Professoren, auch von fremden Universitäten, und den Studenten. Die Chancen für eine Reform stehen gut: Bund und Länder sind sich über die Parteigrenzen hinweg weitgehend einig. Das Bundesinnenministerium, zuständig für das Beamtenrecht, hat sein Wohlwollen bekundet, die Hochschulrektorenkonferenz zieht mit. Selbst der Hochschulverband, das Kartell der professoralen Besitzstandswahrer, kommt in Bewegung – wenn auch nur, um noch einschneidendere Veränderungen zu verhindern. Alle Beteiligten wissen: Die Zeit drängt. Bis zum Jahr 2005 gehen rund 50 Prozent aller Professoren in den Ruhestand. Ge- chen Dienstes sein, wie etwa der Parlamentarische Staatssekretär im Bildungsministerium Wolf-Michael Catenhusen (SPD) meint. Viele Fachleute halten weit höhere Zulagen für nötig. Schon heute unterscheiden sich die Einkünfte von Professoren oft um ein Vielfaches – allerdings nicht durch das staatliche Gehalt, sondern auf Grund von Nebentätigkeiten, die oft zu Lasten des Lehrauftrags gehen. So kassieren Naturwissenschaftler mehrere zehntausend Mark für ein Gutachten. Chefärzte an Uni-Kliniken verdienen nicht selten über eine Million Mark jährlich mit Privatpatienten. Volkswirte beraLohn der Wissenschaft ten Interessenverbände der Industrie, Architekten wickeln Bauvorhaben ab – Was Professoren an Hochschulen verdienen alles hoch bezahlte Jobs. monatliches Grundgehalt einer C4- Professur, Stand Juni 1999 Die geplanten Unterschiede bei der staatlichen Besoldung von 20 oder auch WEST- OSTDEUTSCHLAND mehr Prozent sind da nach Auffassung Anfangsgehalt von Hans-Dieter Daniel, Hochschulwächst automatisch 6791 Mark 5874 Mark mit den Dienstjahren forscher an der Universität Kassel, viel zu gering. Zwar kann ein anerkannter Endgehalt nach 30 Dienstjahren 11 111 Mark 9611 Mark Wissenschaftler durch geschickte Berufungs- und Bleibeverhandlungen einige tausend Mark mehr im Monat verDazu kommen Familienzuschläge, für jedes dienen. „Das“, so Daniel, „spiegelt Kind rund 200 Mark monatlich. Erfolgreiche aber nicht im Geringsten die wissenHochschullehrer können ihr Einkommen schaftlichen Leistungsunterschiede durch Berufungs- und Bleibeverhandlungen zwischen den Professoren wider.“ darüber hinaus um bis zu 8000 Mark Aus Dozentenbefragungen in den monatlich steigern. achtziger und neunziger Jahren hat Daniel die Erkenntnis gewonnen, dass ist das Beamtenrecht mit seiner lebens- produktive Hochschullehrer zum Teil langen Unkündbarkeit ein „Relikt aus dem zehnmal mehr Vorträge halten und Bücher schreiben als ihre Kollegen. Einige Profes19. Jahrhundert“. Doch bei dem alten Brauch wird es soren würden 20- oder 30-mal mehr Kanwohl bleiben – die mächtige Lobby der didaten prüfen als andere. „Von einer leistungsorientierten BezahBeamten wird die Abschaffung unter allen Umständen verhindern. Denn das neue lung“, so Daniel, „kann bei der geplanten Dienstrecht für Professoren kann ein Mo- Reform noch längst nicht die Rede dell für die Reform des gesamten Öffentli- sein.“ Joachim Mohr lingt es nicht, vor diesem Generationswechsel ein neues Dienstrecht zu installieren, sind die jetzigen Regelungen für die nächsten Jahrzehnte zementiert. Denn für bestehende Verträge gilt Bestandsschutz. Zahlreiche Experten halten die angestrebte Reform jedoch bei weitem noch nicht für ausreichend. So fordern die meisten Wissenschaftsminister mehr oder weniger offen, den Beamtenstatus der Professoren abzuschaffen. Für Michael Daxner, Soziologe in Oldenburg und Mitglied der Expertenkommission für die Reform, Werbeseite Werbeseite Wirtschaft Trends A F FÄ R E N ABB zahlte 21 Millionen D N. NORDMANN Ehemalige Hypo-Zentrale in München BANKEN Vertraulichkeit verletzt? Z wischen der HypoVereinsbank nen Objekte nur pauschal analysiert (HVB) und der Wirtschaftsprüfer- haben. Juristen der fusionierten Bank firma Wedit bahnt sich ein Rechtsstreit unter Leitung von Albrecht Schmidt um das 3,5-Milliarden-Loch aus riskan- prüfen zurzeit, ob sie die Wedit wegen ten Immobiliengeschäften der früher Rufschädigung verklagen. In dem Gutvon Eberhard Martini geachten werden erstmals Zahführten Hypo-Bank an. Auslen zu einzelnen Objekten löser ist ein Gutachten, das und die kompletten Wertdie Wedit bei zwei bayeriberichtigungen ausgebreitet. schen Wirtschaftsprofessoren Nach Ansicht der HVB wain Auftrag gegeben hat. Mit ren die Wedit-Prüfer zur Verder Fleißarbeit wollte die traulichkeit verpflichtet. Die Gesellschaft testierte noch Wedit den Verdacht der 1998 zusammen mit der Staatsanwaltschaft entkräfPrüffirma KPMG den Jahten, sie habe die Immobilien resabschluss des fusionierin der 97er-Bilanz der Hypo Martini, Schmidt ten Instituts. Sollten potenviel zu hoch bewertet. Kritiker sehen die Arbeit als Gefälligkeits- zielle Käufer das Gutachten nutzen, um gutachten, seit bekannt wurde, dass ei- die Verkaufspreise der Immobilien zu ner der Autoren im Wedit-Aufsichtsrat drücken, erwägt die HVB sogar, bei der sitzt und die Wissenschaftler die einzel- Wedit Schadensersatz einzufordern. DPA P. REINHARDT / ZEITENSPIEGEL er ABB-Konzern hat nicht nur für Aufträge des General-Motors- und des VW-Konzerns Provisionen gezahlt, sondern auch für Verträge mit Chrysler und der französischen Firma LAB in Lyon. Das ergeben Ermittlungen in der Schmiergeldaffäre „Netzwerk“. So zahlte ABB für einen Auftrag des mexikanischen Chrysler-Werks 575 000 Mark Provisionen. Für Aufträge der Firma LAB überwies ABB 2, 3 Millionen Mark Provisionen. Die Firma geht davon aus, dass der Ex-Chef der ABB-Oberflächentechnik, Michael Rudnig, zumindest einen Teil dieser Provisionen nicht weitergereicht, sondern in die eigene Tasche geleitet habe. ABB reichte Klage gegen Rudnig ein und setzte beim Landgericht Darmstadt ein Verfügungsverbot durch, das es Rudnig untersagt, seine Wohnungen zu verkaufen. ABB zahlte von April 1994 bis März 1995 Provisionen über 21 ,1 Millionen Mark – für Aufträge der VW-Tochter koda 4,8 Millionen, der GM-Tochter Saab 4,6 Millionen, eines GM-Werks in Mexiko 4,6 Millionen, der VW-Fabrik Emden 3 047 500, des Opel-Werks Bochum 724 500 Mark und der GM-Fabrik in Portugal 424 925 Mark. Rudnig bestreitet, das Geld teilweise für sich behalten zu haben. ABB-Firmensitz in Mannheim T V- K A B E L Deutsche Bank kauft zu m Kaufverfahren um das TV-Kabelnetz hat die Deutsche Bank mit ihrer Tochter DB Investor neue Maßstäbe gesetzt. So bot das Finanzhaus, das sich um alle neun Regionalgesellschaften bewirbt, allein für das Berliner Kabelnetz über drei Milliarden Mark. Offenbar geht es der Bank im Kampf gegen Mitbewerber wie der niederländischen Kabelgesellschaft UPC, Mannesmann und Rupert Murdoch darum, auf die „Short list“ zu gelangen – die Liste mit den Fir- R. ZENSEN I Sommer d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 men, die für die nächste Runde in Frage kommen. Gleichzeitig will die Bank das Kabelnetz TSS des Augsburger Kabelunternehmers Peter Stritzl mit 1,4 Millionen Haushalten kaufen; sie akquirierte bereits das Netz von Telecolumbus (1,7 Millionen Haushalte). Telekom-Chef Ron Sommer will nach den neuesten Plänen in allen Regionen eine Sperrminorität halten und nirgendwo einen Mehrheitsgesellschafter zulassen. Überall soll je eine Finanz- und eine Kabelfirma zum Zuge kommen. Für die Bewertung der Angebote sollen unter anderem externe Unternehmensberater hinzugezogen werden. 117 Trends SPONSORING Glauben verloren D SPORTIMAGE Radprofi Pascal Richard 118 Großflughafen Berlin-Schönefeld (Simulation) F L U G H A F E NA F FÄ R E Massive Forderungen N ach einem Scheitern der Privatisierung des Flughafens Berlin-Schönefeld kommen auf die beteiligten Länder Berlin und Brandenburg massive Schadensersatzforderungen der Investorenkonsortien zu. Kilian Krieger, Finanzvorstand der Flughafengesellschaft BBF, nannte Mitgliedern des Aufsichtsrats jetzt eine Größenordnung von 120 Millionen Mark. Das brandenburgische Oberlandesgericht hatte den Verkauf und damit den weiteren Ausbau des Flughafens im vergangenen Monat gestoppt. Die Richter monierten schwere Verfahrensfehler bei der beabsichtigten Vergabe an ein Konsortium um den Baukonzern Hochtief. Sowohl die Hochtief-Gruppe als auch das unterlegene Konsortium um den Mischkonzern IVG werden voraussichtlich ihre bisher entstandenen Planungs- und Personalkosten geltend machen, falls die Flughafenprivatisierung komplett neu aufgerollt wird. KONZERNE Hartmann ausgebremst V eba-Chef Ulrich Hartmann musste vergangene Woche bei dem Spitzengespräch in der Bayerischen Staatskanzlei über die geplante Fusion mit der Münchner Viag-Gruppe eine herbe Niederlage einstecken. Der ehrgeizige Konzernchef hätte seinem Aufsichtsrat am liebsten schon am Mittwoch dieser Woche eine Einigung präsentiert. Bei der Sitzung soll auch sein Vorstandsvertrag verlängert werden. Doch Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber machte dem Veba-Chef einen Strich durch die Rechnung. Der CSU-Chef möchte sich nicht unter Zeitdruck setzen lassen und erst abwarten, ob VebaKonkurrenten wie der französische Gigant Eléctricité de France bereit sind, für das 25,1-Prozent-Paket des Freistaats an der Viag einen höheren Preis zu zahlen. Der französische Energieriese will sich ohnehin um die geplante Privatisierung des baden-württembergischen Regionalversorgers EnBW bewerben und in Deutschland eine Südallianz bilden. Auch die Telekommunid e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 DPA ie Dopingskandale im Radsport zeigen bei Sponsoren Wirkung: Credit Suisse steigt nach 22 Jahren als Geldgeber der Tour de Suisse aus. Das Schweizer Bankinstitut reagiert damit auf eine zunehmende Zahl von Kundenbeschwerden und auf Meinungsumfragen, nach denen 90 Prozent der Befragten glauben, „dass Doping im Radsport gang und gäbe sei“. Die Basis des Geschäfts, argumentieren die Bankmanager, sei Vertrauen – es gehe schließlich um das Geld der Kunden. „Wir haben den Glauben verloren, dass in absehbarer Zeit eine Besserung eintreten würde“, sagt Urs Wyss, bei der Credit Suisse für Sportsponsoring verantwortlich. Die Leute im Radsportgeschäft, klagt Wyss, „haben den Ernst der Lage nach wie vor nicht begriffen“. In Deutschland ist die Meinung über den Profiradsport geteilt. Teambesitzer wie die Deutsche Telekom oder der Getränkehersteller Gerolsteiner stehen in Treue fest zu ihren Fahrern. Auch langjährige Sponsoren wie die Frankfurter Brauerei Henninger halten die Schweizer Zahlen für „nicht übertragbar auf Deutschland“. Neue Werbepartner wird die Branche indes künftig kaum akquirieren können. Laut einer Studie der Vermarktungsfirma ISPR sahen von 189 Unternehmen und Agenturen voriges Jahr 73 Prozent im Radsport „hervorragende Entwicklungsperspektiven“. In diesem Jahr halten nur noch 44 Prozent der Manager die Rennfahrer für ein lohnendes Medium. Simson, Hartmann kationstochter Viag Interkom erwies sich bei dem Gespräch als Knackpunkt. Hartmann möchte sich aus der heiß umkämpften Branche langfristig zurückziehen, nachdem ihm das Telefongeschäft in der Vergangenheit Milliardenverluste beschert hat. Doch Stoiber und Viag-Chef Wilhelm Simson wollen, dass die Viag Interkom in einem fusionierten Konzern verbleibt und nicht verkauft wird. Derart unter Druck gesetzt, musste Hartmann schließlich einlenken. Die Düsseldorfer würden auf jeden Fall mitbieten, signalisierte Hartmann gegen Ende des Treffens, wenn der Freistaat sich gegen die Fusion entscheidet und sein Viag-Paket meistbietend verkauft. Geld Highflyer an der Wall Street in Dollar 70 70 70 60 60 60 60 50 50 50 50 40 40 40 40 30 30 30 30 20 20 20 20 10 10 10 10 1980 1990 1999 1980 1990 1999 US-AKTIEN Knick in den Charts J ahrzehntelang galt alles als richtig, was der Multimilliardär Warren Buffett anfasste. Zur Freude der Börsianer stiegen die Kurse von Walt Disney, Coca-Cola oder Gillette schier unaufhaltsam. Doch inzwischen sind die einstigen Wachstumschampions weit von ihren Höchstständen entfernt, die Kurse etlicher Blue Chips sind um mehr als 25 Prozent eingebrochen. Der Knick in den Charts sei eher zufällig, erklären Analysten: Beim in Millionen 23 19 17 1 11 0,5 0,3 Quelle: Thieme Associates 70 80 90 00 10 PROGNOSEN Goldene Zeiten B W 2 rechte Skala örsenguru Heiko Thieme ist für seinen notorischen Optimismus berühmt – in der Vergangenheit hat er Recht behalten. Jetzt legt er nach: Sein bisheriges Kursziel für den amerikanischen Dow-Jones-Index von 25 000 Punkten im Jahr 2010 sei wohl „zu konservativ“, sagt der New Yorker Börsenexperte, ein Anstieg von derzeit knapp 11 000 auf 50 000 Punkte sei denkbar. Thiemes These: Seit 1950 sei ein enger Zusammenhang zwischen dem US-Aktienindex und der Zahl der 45- bis 50jährigen Amerikaner erkennbar. Diese 20 2030 Thieme aktive Bevölkerungsgruppe aber wachse im kommenden Jahrzehnt weiterhin kräftig, bevor dann auch in den Vereinigten Staaten der Pillenknick einsetzt. Entsprechend stark, folgert der Guru, werde auch der Dow Jones zulegen. Ob die versprochenen goldenen Zeiten wirklich anbrechen, ist Glaubenssache. Ganz so eng, wie Thieme suggeriert, ist der Zusammenhang nämlich, rein statistisch betrachtet, nicht (siehe Grafik): Er vergleicht eine normale lineare (links) mit einer logarithmischen Skala (rechts), bei der sich die Abstände nach oben immer weiter verengen. Dadurch wird der eigentlich noch viel steilere Anstieg der Aktienkurse optisch abgebremst. d e r 1999 Gut gestartet 5 13 1990 AS-FONDS 10 Dow Jones Index 15 1980 Medien-Multi Walt Disney fehlen derzeit die Kassenschlager und beim Rasierklingen-Konzern die Absatzmärkte für elektrische Zahnbürsten. Der gute Ruf von Coca-Cola ist durch belgische Abfüllanlagen beschädigt, und der Zigarettenproduzent Philip Morris muss viel Schadensersatz zahlen. Außerdem schichten Großanleger wie Fondsmanager ihre Depots kräftig um, weiß Pierre Drach von Independent Research. Die alten soliden Papiere würden oft achtlos liegen gelassen, frische Mittel bevorzugt in vermeintliche Zukunftswerte gesteckt, etwa in Internet-Aktien. Doch das könnte sich ändern. Die Kurse einiger Blue Chips wie Pepsico, Boeing oder Exxon haben sich von den Rückschlägen fast schon wieder erholt. 50 30 20 US-Bevölkerung zwischen 45 und 50 Jahren 60 1999 in Tausend linke Skala 9 1950 1990 D. OTFINOWSKI 21 1980 American Home Products Quelle: Datastream 70 s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 er jeden Monat 500 Mark in einen AS-Fonds zur Alterssicherung anlege, rechnet der Bundesverband Deutscher Investment-Gesellschaften vor, verfüge nach 30 Jahren über ein Endkapital von mehr als 1,3 Millionen Mark. Das lehre die Erfahrung mit deutschen Aktienfonds. Tatsächlich sind die meisten AS-Fonds, die erst 1998 aufgelegt wurden, gut gestartet. Mehr als die Hälfte der rund 40 Fonds glänzen sogar mit zweistelligen Zuwachsraten. Nun bieten auch Konzerne wie DaimlerChrysler ihren Mitarbeitern AS-Fonds zur betrieblichen Altersvorsorge an. Die fünf besten AS-Fonds seit Anfang 1999 Veränderung in Prozent DWS Vorsorge AS-Dynamik +33 DWS Vorsorge AS-Flex +24 Adig-Zukunft 1 +21 AS-Aktiv Dynamik +19 Deka-Privat-Vorsorge AS +19 Quelle: Datastream 119 AP Wirtschaft TV-Star Feldbusch an der Frankfurter Börse*: Viele Unternehmen können ihr Versprechen nicht halten BÖRSE Die Geldmaschine stottert Der Neue Markt, der Umschlagplatz für Wachstumsaktien, fasziniert solide Investoren wie geldgierige Spekulanten. Doch bei vielen stellt sich inzwischen Enttäuschung ein: Auch Reichwerden will gelernt sein. R eto Francioni, der stellvertretende Vorstandsvorsitzende der Deutschen Börse, liebt flotte Sprüche. „Wettbewerb ist kein Nullsummenspiel, sondern eine Win-Win-Situation“, sagte der Schweizer gern, wenn er den Erfolg der Wachstumsbörse Neuer Markt erklären sollte. Lange Zeit sah es wirklich so aus, als wären am Neuen Markt die Gesetze der Marktwirtschaft aufgehoben. So mancher Jungunternehmer, der kaum mehr als eine Idee und seine Träume mitbrachte, wurde durch den Börsengang ein reicher Mann. Banken verdienten stattliche Provisionen. Anleger fühlten sich wie Lottogewinner, wenn sie bei den Neuemissionen ein paar Aktien zugeteilt bekamen, deren Kurs sofort zu klettern begann. Der Neue Markt verblüffte und faszinierte Profis und solide Sparer gleichermaßen. Hier schien eine Geldmaschine zu arbeiten, die nicht nur jungen Unternehmen die Chance zum Aufbruch und zur Expansion bot, sondern auch Gewinne versprach, die mit keiner Lebensversicherung * Bei der Einführung der Telegate-Aktie am Neuen Markt am 22. April. 120 Grenzen des Wachstums Neuer-Markt-Indizes Nemax 50 Die 50 wichtigsten Unternehmen am Neuen Markt 4000 3000 2000 Nemax All Shares Alle Unternehmen am Neuen Markt 1000 Quelle: Datastream 1998 d e r s p i e g e l 1999 3 6 / 1 9 9 9 und mit dem Sparbuch schon gar nicht zu erzielen sind. Der Neue Markt veränderte und belebte den Geldbasar. Er wurde zugleich zum Tummelplatz von Zockern und Abenteurern. Die Kurssprünge schlugen alle bisherigen Rekorde an den Börsen, es schien nur noch nach oben zu gehen. Im vergangenen Jahr stiegen die Kurse am Neuen Markt um 174 Prozent und bis Ende Februar noch einmal um 40 Prozent. Die Stars unter den Neulingen, wie Mobilcom-Chef Gerhard Schmid und die Familie Haffa, Mehrheitseigentümer der Medienfirma EM-TV, wurden praktisch über Nacht Börsenmilliardäre. Auch Anleger, die auf den Boom setzten und rechtzeitig wieder ausstiegen, konnten Millionen verdienen. Doch seit einigen Monaten stottert die Geldmaschine. Manche Unternehmen verloren innerhalb weniger Wochen mehr als die Hälfte ihres Firmenwertes. Bei hoch gehandelten Aktien wie der Internet-Bank Consors oder Mobilcom schrumpfte der Marktwert gleich um mehrere Milliarden. Börsenneulinge wie Wizcom, ein israelischer Hersteller von elektronischen Über- Absteiger am Neuen Markt Unternehmen am Neuen Markt, deren Aktienkurs um mehr als 50 Prozent unter den ersten Schlusskurs gerutscht ist Stand: 3. September 1999, Kursangaben in Euro 37,30 7,14 Beta Systems 52,66 16,44 Artnet 50,20 18,45 Graphisoft 34,26 13,60 117,34 49,40 Transtec 98,68 45,00 Technotrans 94,08 43,00 Utimaco 218,00 100,00 Wizcom 16,50 8,00 Elsa Veränderung in Prozent –80,9 –68,8 –63,3 –60,3 –57,9 –54,4 –54,3 –54,1 –51,5 Oft sorgt die Gier der Altaktionäre, die hohe Aktienkurse möglichst schnell zum Ausstieg nutzen wollen, für die größten Probleme in den Unternehmen. So wirft die Deutsche Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz (DSW) einigen Altaktionären des Internet-Kunsthändlers Artnet und von Metabox, eines Herstellers von InternetTV-Hardware, vor, dass sie nicht einmal die Sperrfrist von sechs Monaten eingehalten haben. Die Deutsche Börse prüfte die Vorwürfe, konnte aber bisher niemandem ein Vergehen nachweisen. Da sich die Kontrollmöglichkeiten als mangelhaft erwiesen, will das für den Neuen Markt zuständige Vorstandsmitglied Francioni diese Woche schärfer gefasste Regeln veröffentlichen. Fast schon Tradition ist es, dass die Unternehmer nach der Sperrfrist eilig Kasse machen. In Deutschland muss das im Gegensatz zu den USA bei kleineren Aktienverkäufen nicht offen gelegt werden – „ein Anachronismus“, sagt Ulrich Hocker von der DSW. So wurde etwa der geplante Teilausstieg der LHS-Altaktionäre erst in den USA bekannt, weil das Software-Haus auch an der Wall Street notiert ist. Der Aktienkurs sackte daraufhin ab. Zurzeit verschafft der Berliner Hersteller von Logistik-Software PSI vielen Altaktionären die Möglichkeit, aus dem Unternehmen auszusteigen. Pierre Drach, Chef der Analysefirma Independent Research, vermutet, dass der Aktienkurs bis zum Ende der Umplatzierung eines großen Aktienpakets künstlich hochgehalten wird. Das wäre der Anlass für einen weiteren Kurssturz. „Wir meiden Unternehmer, bei denen das eigene pekuniäre Interesse im Vord e r s p i e g e l 71 125 3 6 / 1 9 9 9 WestLB Deutsche Bank 159 Kling, Jelko, Dr. Dehmel; Robert Fleming Deutschland 275 Deutsche Bank 335 Dresdner Bank 297 HypoVereinsbank 168 Dresdner Bank 350 Sal. Oppenheim jr. & Cie. 122 Bank J. Vontobel & Co.; Sal. Oppenheim jr. & Cie. 40 Tiptel 35 in Euro 30 25 20 3. Sept. 1999 15 10 5 13. Mai 1998 Tiptel-Aufsichtsrat Erhard Schäfer 28 Netlife in Euro 24 3. Sept. 1999 20 16 Netlife-Chef Claus Müller 55 12 Quelle: Datastream Juni Juli Aug. Refugium 45 in Euro 35 3. Sept. 1999 25 15 5 25. Aug. 1997 Ex-Refugium-Chef Paul Kostrewa 121 DPA; R. BRAUN; J. H. DARCHINGER Tiptel aktueller Kurs UR F Erstnotierung Marktkapitalisierung in Millionen Mark Konsortialführer EN TW setzungshilfen, oder der Spezialist für elektronischen Zahlungsverkehr OTI fielen, kaum waren sie an der Börse notiert, unter den Emissionskurs. „Es war ein Kettenspiel“, kommentiert ein Banker. „Die Letzten beißen die Hunde.“ Viele Anleger sind zu Höchstkursen eingestiegen und warten nun oft vergebens darauf, dass die Kurse sich wieder erholen. „Allenfalls 30 Prozent der Unternehmen werden sich auf Dauer positiv entwickeln“, sagt Kurt Ochner, Fondsmanager beim Bankhaus Julius Bär. Zunehmend werde sich die Spreu vom Weizen trennen. Vor zweieinhalb Jahren gründete die Frankfurter Börse den Neuen Markt als Kapitalquelle für Unternehmen mit großen Wachstumsaussichten. Doch Wachstum ist nicht garantiert, viele Unternehmen können ihre Versprechen nicht halten. Und hier wie überall sind unter den vielen Unternehmern auch einige, die nur schnell und auf Kosten anderer reich werden wollen. So muss bisweilen schon der Staatsanwalt eingreifen. Gegen Paul Kostrewa etwa, den langjährigen Vorstandsvorsitzenden und einstigen Großaktionär des Seniorenheimbetreibers Refugium AG, wird in Bonn ermittelt. Ihm werden fortgesetzte Bilanzmanipulationen zur Täuschung der Aktionäre vorgeworfen, ein neu berufener Vorstand musste für das erste Halbjahr einen Verlust von 72,1 Millionen Mark ausweisen. Emissionsberater der Gold-Zack-Gruppe hatten das Unternehmen 1997 an die Börse gebracht, zunächst den Aufsichtsratsvorsitzenden gestellt und im Frühjahr auch noch eine Kapitalerhöhung im Markt platziert. Seitdem fiel der Aktienkurs von Refugium noch einmal um 44 Prozent. Der Vorstandsvorsitzende der Datadesign, Stefan Pfender, 28, musste zurücktreten. Statt eines angekündigten Gewinns von 4,5 Millionen Mark plant das Münchner Software-Haus, ein weiterer GoldZack-Kunde, nun einen Verlust von 8,1 Millionen Mark ein. „Pfender landete in unserer Folterkammer unter der Knute“, sagt Lothar Mark, Chef der Gontard & Metallbank und Aufsichtsratsvorsitzender bei Datadesign. Immerhin wird Pfender, der mit seiner Familie 39 Prozent der Aktien hält, vom Misserfolg seines Unternehmens genauso hart getroffen wie die übrigen Aktionäre. Durch einen Poolvertrag gebunden, darf er in den nächsten Jahren nur in Abstimmung mit Gold-Zack ein größeres Aktienpaket verkaufen. So wie Gold-Zack griff auch die Deutsche Bank bisweilen daneben. Kaum hatte sie den Software-Hersteller Graphisoft an den Neuen Markt gebracht, musste die Firma eine Gewinnwarnung abgeben. Eine andere Neuemission der Deutschen Bank, FortuneCity, die virtuelle Städte im Internet bauen will, notiert inzwischen weit unter Ausgabekurs. 122 d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 W. M. WEBER dergrund steht“, sagt Investmentbanker Goldrausch hätte langfristig nur der verElmar Thöne, der für die DG Bank schon dient, der die Werkzeuge verkaufte. Einige Banker, die den Eingang in die viele Unternehmen an die Börse begleitet hat. Schließlich müsste den Firmen, Goldmine offenbar nur unzureichend kondie in zukunftsträchtigen Branchen wie trollieren, werden angesichts überzogener dem Internet arbeiten und manchmal Ausgabekurse unruhig. „Die Emissionsmehr Verluste als Umsätze vorweisen, je- banken haben eine treuhänderische Verde Mark für Investitionen zur Verfügung pflichtung nicht nur gegenüber den Unternehmen, sondern auch gegenüber den Anstehen. Doch je höher die Emissionserlöse im legern“, warnt Stefan Jentzsch, Managing Neuen Markt, desto mehr scheint aus- Direktor von Goldman Sachs. Rund 15 Unternehmen aus den USA, Isschließlich die Aussicht auf schnelles Geld viele Unternehmer beim Gang an die Bör- rael oder der Schweiz sind mittlerweile am se zu motivieren. Dabei gehen sie durchaus Neuen Markt verzeichnet, weil nirgendwo sonst auf der Welt der Firmenwert so draerfindungsreich vor. Die vier Gründungsgesellschafter des matisch hochschnellen kann. Viele von ihSoftware-Hauses Netlife verkauften zum nen notieren unter Ausgabekurs, weil die Beispiel Ende vergangenen Jahres für 100 Anleger mit Recht fragen, warum nicht geMillionen Mark ihre Netlife GmbH an die nug Kapital an den Heimatmärkten der Netlife AG, die dafür einen Kredit auf- Unternehmen aufzutreiben war. nahm. Als am 1. Juni der Börsengang gelang, flossen vom Emissionserlös rund 16 Millionen Mark auf die Konten der Jungunternehmer, weitere vier Millionen an einige Mitarbeiter und Risikoinvestoren. Die restlichen 80 Millionen Mark Schulden sollte das Unternehmen im Laufe der nächsten Jahre an seine Großaktionäre rückerstatten. Die Zinszahlungen von rund drei Millionen Mark im Jahr entsprechen fast dem Umsatz, den die Netlife im vergangenen Jahr erzielt hat. „Das hatte rein steuerliche EM-TV-Großaktionär Haffa: Über Nacht Börsenmilliardär Gründe“, behauptet der Netlife-Vorstandsvorsitzende Claus Müller, Firmen wie die Telekommunikationsfirdas sei im Emissionsprospekt sauber dar- ma Tiptel lassen sich von anderen Teilgelegt worden. Erst als viele Aktionäre märkten auf den Neuen Markt umbuchen, empört absprangen und der Kurs steil in der Hoffnung auf eine bessere Börsennach unten sackte, verzichteten die Groß- zukunft. Tiptel hatte nur kurzfristig etwas aktionäre auf die Rückzahlung von 63,5 davon: Seit März 1998 fiel der Kurs zeitMillionen Mark. weise senkrecht von 70 auf 14 Mark. Solche Tricks werden öfter angewandt. Zu oft lässt die Zulassungskommission Auch die sechs Gründungsgesellschafter der Deutschen Börse, bei der sich die Kandes Unternehmens Das Werk, das die digi- didaten für den Neuen Markt vorstellen tale Bildbearbeitung revolutionieren will, müssen, offensichtlich ungeeignete Kandiverkauften ihre GmbHs an die AG und kas- daten passieren. „Da ist kein Qualitätsfilsierten zusammen 28 Millionen Mark. ter mehr“, sagt Markus Straub, VorstandsTrotz aller Pannen, trotz dubioser Ge- mitglied der Schutzgemeinschaft für schäfte und flüchtiger Gewinne hat der Kleinaktionäre. Das Regelwerk des Neuen Neue Markt an Reiz für Investoren und Marktes, immerhin 33 Seiten stark, müsse Spekulanten nicht verloren. Die 150 Un- dringend überholt werden. ternehmen, die inzwischen an der neuen Die wirksamste Kontrolle werden aber Börse notiert sind, haben Vermögen im letztlich die Anleger ausüben, wenn sie Wert von 59 Milliarden Dollar geschaffen, auch bei Neuemissionen nicht mehr unberechnet das US-Magazin „Business Week“ sehen zugreifen. Außerdem hilft es gerade vor. Im September wollen weitere 20 Un- bei Wachstumsunternehmen, immer wieternehmen an die Wachstumsbörse. der die Versprechen mit dem Erreichten Doch warnende Stimmen werden lau- zu vergleichen. Wird die Diskrepanz zu ter. „Schon im nächsten Frühjahr werden groß, „muss man auch einmal einen satten viele Seifenblasen platzen“, sagt Ulrich Verlust in der Spekulationsfrist realisieHocker, Geschäftsführer der DSW. Dann ren“, rät Aktienexperte Hocker. Seit Anmüssten die Unternehmen testierte Bilan- fang des Jahres, so sein Trost, können diezen vorlegen und könnten oft ihre Ver- se Verluste steuerlich mit anderen Gewinsprechungen nicht einhalten. Auch beim nen verrechnet werden. Christoph Pauly Wirtschaft Entfesselte Kräfte Der CDU-Politiker Gunnar Uldall hat sich den Sozialstaat vorgenommen: Er fordert die Abkehr von alten Dogmen – und schlägt radikale Rezepte vor. LASA D er Mann fürs Soziale war irritiert. Christian Wulff, Chef der niedersächsischen CDU, wusste nichts von jenem provokanten „Diskussionspapier“ zur Sozialpolitik, das in den Schubladen der Unions-Bundestagsfraktion in Berlin lagert. Dabei soll Wulff im Auftrag des Parteivorsitzenden und Fraktionschefs Wolfgang Schäuble genau dieses Thema für die CDU besetzen: „Sozialstaat 21“ heißt die Kommission, die er leitet, zuständig für alles, was mit Rente, Arbeitsmarkt, Pflege- oder Krankenversicherung zu tun hat. Erst 2001 soll die Runde ihre Ergebnisse abliefern. Allzu genau dürften die Konzepte ohnehin nicht ausfallen, wenn es nach Schäuble geht. „Unser Koordinatensystem wird nicht verändert“, sagt der Unionschef gebetsmühlenartig. Nur die grobe Richtung will er beschreiben, aber keine konkreten Gesetzentwürfe vorlegen. Doch vielen in der Fraktion reicht das nicht. Und so prescht nun ausgerechnet Gunnar Uldall mit eigenen Vorschlägen vor – jener Mann, der als Verfechter einer radikalen Steuerreform von sich reden gemacht hatte. Gemeinsam mit Bernd Protzner, dem einstigen Generalsekretär der CSU, hat der wirtschaftspolitische Sprecher der Bundestagsfraktion heikle Sozialstaatsthesen verfasst. Sie könnten seine Partei zu einer ähnlich heißen Debatte zwingen, wie sie in der SPD zwischen Modernisierern und Traditionalisten läuft. Die beiden Parlamentarier fordern nichts anderes als die Abkehr von traditionellen Dogmen, die bei den sozialdemokratischen Dreßlers ebenso galten wie bei den christdemokratischen Blüms. Frech postulieren sie: „Sozialpolitik darf nicht länger gegen den Markt gerichtet werden“; sie dürfe die Marktkräfte nicht einengen, sondern müsse sie entfesseln. In der Praxis gebe es einfach zu viele Fehlanreize. Letztlich unterstellen Uldall und Protzner der eigenen Partei sogar, dass sie sich in 16 Regierungsjahren in Bonn peu à peu vom Erbe Ludwig Erhards verabschiedet habe. So heißt es in dem Thesenpapier über das „Grundprinzip der Sozialen Marktwirtschaft“ wörtlich: Der Einzelne soll sich in der Gesellschaft frei entfalten können, er trägt für Sozialreformer Uldall „Rückgriff auf Reserven“ π bei der Sozialhilfe „den Anreiz zur Arbeitsaufnahme für alle, die arbeitsfähig sind“, wieder in den Mittelpunkt zu stellen; so sollte gelten: „Wer öffentliche Leistungen erhält, muss dafür auf jeden Fall öffentliche Arbeit verrichten.“ Einen Kurswechsel fordern Uldall und Protzner auch bei der Rente. Während Norbert Blüm sich stets gegen einen Wechsel des Systems wehrte („Die Rente ist sicher“), fordern die beiden Unionsleute nun eine „Überleitung zum Kapitaldeckungsverfahren“, also den Aufbau eines Kapitalstocks fürs Alter: „Jeder Arbeitnehmer, Selbständige, Beamte, Student etc. muss neben seiner bisherigen Altersvorsorge einen festen Betrag pro Monat zur Altersversicherung anlegen.“ Das klingt bei Walter Riester ganz ähnlich, doch stärker noch als der SPD-Arbeitsminister fordern die beiden Unionsleute „weitgehende Gestaltungsfreiheit hinsichtlich der Anlageform“. Am besten solle gleich auch noch die Pflegeversicherung durch einen privaten Kapitalstock ergänzt werden: Uldall und Protzner wollen dazu als „Einstieg“ die bislang aufgelaufenen Überschüsse der Pflegekasse auf die einzelnen Versicherten verteilen; diese sollen auch in Zukunft privat für eventuelle Pflegefälle sparen. „Tritt ein Pflegefall nicht ein, kann das Guthaben vererbt werden“, heißt es. Geradezu apodiktisch fordern die Unions-Vordenker zudem eine „Neuverschuldung gleich null“. Während Hans Eichel einen ausgeglichenen Haushalt frühestens im Jahr 2006 für machbar hält, fordern Uldall und Protzner: „In Deutschland muss dieses Ziel in vier bis sechs Jahren zu ereichen sein“ – also womöglich schon 2004. Schließlich gehe es darum, Sozial- und Finanzpolitik „engstens“ zu verzahnen. Dass der Unionsspitze diese Thesen ungelegen kommen, wissen Uldall und Protzner nur zu genau. Doch forsch fordern sie, die Union müsse ihre Rolle als Opposition endlich annehmen. Dazu gehörten nun mal „kreative Ideen“ und eine „klare Profilierung“. Tina Hildebrandt, Ulrich Schäfer sich die Verantwortung. Die Gemeinschaft hilft dem Einzelnen, wenn er nicht für sich selber sorgen kann, und gleicht soziale Ungerechtigkeiten aus. Dieses Prinzip, das immer wieder als Basis unserer Politik beschrieben wurde, gilt in der realen Unionspolitik schon lange nicht mehr. Deshalb sei eine radikale Wende vonnöten: Sozialpolitik müsse „die Eigenvorsorge wieder in den Vordergrund rücken“, sie solle lediglich „die Risiken des Einzelnen sichern und so seine Risikobereitschaft erhöhen“ – das wäre die Abkehr vom staatlich alimentierten Fürsorge-Modell. Wie das konkret aussehen könnte, haben Uldall und Protzner Punkt für Punkt aufgezählt. So schlagen sie etwa vor, π in der Arbeitslosenversicherung „nicht länger Arbeitslosigkeit zu subventionieren“; so sollten Arbeitslose im ersten Monat ohne Job keine Leistungen mehr erhalten und diese Zeit durch den „Rückgriff auf Reserven“ überbrücken; π in der Krankenversicherung alle Leistungen zu begrenzen, „die über das notwendige Maß hinausgehen“; so sollten die Zuzahlungen für Medikamente erhöht werden, jeder solle zudem, wie bei einer Teilkaskoversicherung für Autos, einen jährlichen Selbstbehalt von 300 Mark übernehmen; CDU-Politiker Schäuble, Wulff: „Koordinaten nicht ändern“ d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 123 W. SCHMIDT / NOVUM SOZIALPOLITIK Wirtschaft ONLINE-DIENSTE „Operation Jump“ Preiskrieg im Internet, die Tarife sind im freien Fall: Mit gewaltigem Aufwand und aggressiven Angeboten versucht AOL, die Vorherrschaft von T-Online zu brechen. Die Telekom-Tochter schlägt zurück, auch sie baut ihr Geschäft im Netz kräftig aus. D merce-Anbieter, die Provisionen gewähren, wenn die Online-Kunden bei ihnen per Mausklick direkt bestellen. Auf diese Weise erwirtschaftet AOL in den USA bereits eine Milliarde Dollar pro Jahr. Deutschland hinkt hinterher: Hier bremsten bis vor kurzem die hohen Telefonpreise den schnellen Siegeszug des Internet. Viele gingen deshalb nur abends online, wenn die Telefongebühren niedriger waren. Es habe „in der Vergangenheit Preissünden gegeben“, sagt selbst T-Online-Chef Wolfgang Keuntje, 42. Nun aber sind die Tarife im freien Fall, und das liegt am harten Wettbewerb der Vermittler von Online-Zugängen (Internet Service Provider) wie Nacamar und Okay.Net. Gegen spezielle Online-Gebühren und Telefonkosten AOL-Manager Schmidt: „Langfristig die Nummer eins“ bringen sie die Kunden ins der Deutschen Telekom sowie dem Ge- Netz, ohne jegliche Zusatzleistungen. spann Bertelsmann, America Online Zudem müssen sich diese Firmen der (AOL), das in Europa eine Gemeinschafts- Attacken von Telefongesellschaften wie firma betreibt, begonnen. In der Online- Mannesmann Arcor erwehren, die ihre freiWelt werden künftig, so die Szenarien en Kapazitäten zunehmend mit Angeboten der Konzerne, viele Millionen Menschen für Internet-Nutzer auslasten – zu einem E-Mails und Faxe verschicken, Nachrichten günstigen Komplettpreis. Anschluss gesucht Eine Kaarster Werbeagentur will ihren lesen und Börsenkurse beschauen, Kleider Online-Kunden sogar Geld zahlen, wenn bestellen und mit Freunden plaudern. Weil vielen die Welt im Netz zu un- sie den eigenen Internet-Service „Adone“ 3,4 durchsichtig ist, abonnieren sie Online- benutzen – für ein Kleinhonorar von 60 3,0 2,7 Dienste wie AOL oder T-Online: Die bie- Pfennig pro Online-Stunde wird der Klien2,5 Mitglieder ten neben dem Zugang ins Internet eine tel freilich reichlich Werbung aufgezwunin Deutschland 1,9 Vielzahl eigener Online-Unterhaltungs- gen, die am unteren Bildschirmrand per2,0 in Millionen und -Serviceangebote, eine geordnete klei- manent eingeblendet wird. 1,35 1,5 Die Deutsche Telekom, jahrelang ein ne Parzelle im weltweiten Dschungel. 0,97 0,9 Natürlich müssen die Kunden diese Diens- Hüter hoher Preise, musste auf die neuen 1,0 0,6 0,4 te bezahlen, aber das richtige Geld bringen Herausforderer reagieren. Seit April ver0,5 künftig die großen Konzerne, die in dieser langt sie von ihren Online-Kunden nur 0,15 August Netz-Welt werben wollen, sowie E-Com- noch sechs Pfennig pro Minute, ein Nach1995 96 97 98 99 lass von bis zu 50 Prozent. „Wir machen Deutschland zum Internet-Valley“, verMonatliche Kosten für... TarifGrundpreis Verbindungs- Kosten spricht Vorstandschef Ron Sommer, 49. beispiele im Monat aufbau pro Minute ... 5 Std. ...10 Std. ...50 Std. Im Sommer kündigte Online-Manager Keuntje zudem Sonderkonditionen für die T-Online eco 8,00 DM 6 Pf 6 Pf 19,40 DM 38,00 DM 186,80 DM Handynutzer der Telekom an. Wer künftig über den konzerneigenen Mobilfunkdienst 6 Pf 3,9 Pf 22,20 DM 34,50 DM 132,90 DM AOL 9,90 DM D1 ins Internet geht, soll für Online-Mi- 124 O. JANDKE / CARO er frühere Bundesgrenzschützer Andreas Schmidt, 38, liebt große und deftige Worte. Zum Beispiel „Guerrilla-Marketing“: den Feind attackieren, wo er es am wenigsten erwartet. Die jüngste Attacke lässt der Europachef des Online-Unternehmens AOL Bertelsmann in Fernsehspots und Zeitschriftenanzeigen gar als „Revolution“ feiern. Noch nie, so die Botschaft, war es so billig, im Internet zu surfen, noch nie war es so einfach, einen Computer zu bekommen. Mit massivem Geldeinsatz – allein die klassische Werbung in den nächsten Monaten kostet 50 Millionen Mark – will der Ex-Chefredakteur der Zeitschriften „TV Movie“ und „TV Today“ die Deutschen überzeugen, ins Netz zu gehen. Die „Operation Jump“ (interner Aktionsname) soll den bisher eher bescheidenen AOL-Kundenstamm bis Mitte 2000 um fast 80 Prozent auf 1,6 Millionen hieven. In vier Jahren will das Unternehmen sogar den Marktführer T-Online, eine Tochter der Deutschen Telekom, überholen. Das ist noch ein weiter Weg: Der Telefonkonzern, mit dem Online-Vorläufer Btx schon seit 1983 auf dem Markt, erreicht rund 3,4 Millionen Kunden. „Wir weichen deren Monopol auf“, sagt Schmidt, „langfristig sind wir die Nummer eins.“ Eine beispiellose Materialschlacht um den Zukunftsmarkt Internet hat zwischen d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Wirtschaft nuten nichts extra zahlen müssen – Internet zum Nulltarif. Der studierte Nachrichtentechniker Keuntje, der lange Zeit beim Konzern Alcatel SEL arbeitete, hat für die Attacke von AOL („unser größter amerikanischer Wettbewerber“) nur milden Spott übrig. Der Abstand sei riesengroß, sagt Keuntje: „Die müssen jetzt etwas tun, sonst werden sie sich aus dem Markt herauskatapultieren.“ „Die Telekom war schon immer ein Ankündigungsweltmeister“, kontert AOLChef Schmidt, „wir aber setzen Fakten.“ Sein letzter Fakt: Preise runter um bis zu 46 Prozent. Von Oktober an verlangt AOL für die Online-Nutzung nur noch eine Monatspauschale von 9,90 Mark – bislang hängen diese Kosten von der Nutzungszeit ab. „Wir haben eine Uhr abgeschaltet“, freut sich Schmidt. Eine andere Uhr freilich tickt weiter: Für Telefondienste sind weiterhin 3,9 Pfennig pro Minute zu zahlen. Erst mittelfristig soll es eine totale Pauschale von rund 30 Mark im Monat für Telefon und Online geben. Mit der Preisattacke, die AOL publikumswirksam auf der Internationalen Funkausstellung in Berlin startete, kappte Schmidt gleichzeitig fast alle Geschäftsbeziehungen mit der Telekom. Er will nun mit anderen Netzbetreibern kooperieren – Sommers Truppe gehen somit über 100 Millionen Mark Umsatz im Jahr verloren. Unter dem großen AOL-Dach hat Schmidt („Wir sind einer der wenigen Blue Chips in Europa“) drei Marken gebündelt: AOL für die Familie, Compuserve für Geschäftskunden, Netscape für junge Internet-Freaks. Ein Marketing-Etat von stolzen 200 Millionen Mark soll den Deutschen dieses Angebot näher bringen; als großer Handelspartner ist dabei die Metro-Gruppe („Media-Markt“) verpflichtet. Schmidt: „Man wird AOL überall sehen können.“ Voraussichtlich im Oktober, rechtzeitig zum Weihnachtsgeschäft, will AOL den po- „Das Produkt muss für die Leute so einfach wie ein Radio sein“ tenziellen Online-Surfern Computer zu extrem günstigen Preisen offerieren – wenn sie mehrjährige Serviceverträge unterschreiben. Potenzieller Partner: der japanische Computerbauer Fujitsu. Das Modell praktiziert AOL mit Erfolg in den USA. Dort erhalten Neukunden, die einen Dreijahresvertrag für AOL signieren, in bestimmten PC-Handelsketten einen 400-Dollar-Gutschein. In der weltweit größten Internet-Nation sind solche Angebote gang und gäbe. Das Unternehmen Directweb etwa verschenkte 25 000 Computer mit einer Bedingung: Der Weg ins Internet musste für die Beschenkten über die Directweb-Startseite führen. Und bei der New Yorker Firma One Stop Communications verpflichteten sich die Empfänger von 25 000 Gratis-Computern, im firmeneigenen Online-Kaufhaus monatlich für mindestens 100 Dollar zu shoppen – und das drei Jahre lang. Auch in Deutschland breiten sich solche Angebote aus. So übernahm die Schleswiger Telefonfirma Mobilcom die Computerkette Comtech, um dort ihren Internet-Kunden künftig PC zum Nulltarif zu liefern. Von den 38 Millionen deutschen Haushalten haben mittlerweile zwar 24 Prozent einen Computer – aber nur 13 Prozent einen Internet-Anschluss. Doch das soll sich schon bald ändern: „Das ist ein beginnender Massenmarkt“, glaubt Schmidt, „das Produkt muss für die Leute nur so einfach wie ein Radio sein.“ Sein Großgesellschafter Bertelsmann soll ihm dabei helfen. Die Verlagsblätter von Gruner + Jahr („Stern“, „Geo“, „Brigitte“) sollen tüchtig werben, Abonnenten gewinnen und Inhalte beisteuern. Und wer künftig CDs von Stars der Bertelsmann Music Group wie Whitney Houston oder Puff Daddy kauft, kann die Silberscheiben auch in den Computer einlegen – und damit AOL starten. Um die Kunden noch stärker in der geschlossenen AOL-Welt zu halten, arbeitet zu dem inzwischen über 200 Shops gehören. Dort gibt es unter anderem handgearbeitete spanische Schuhe, bügelfreie Hemden im Dreier-Pack sowie viele Dessous („außergewöhnliche Wäsche für eine außergewöhnliche Nacht“). Spezielle Angebote für Jugendliche („Fun & Action“) und Geschäftsleute sollen folgen, und für Stadtmenschen will T-Online zusammen mit dem Axel Springer Verlag Internet-Startseiten mit regionalen Informationen entwickeln. Keuntjes Konzept: „Das Internet ist eine Programmzeitschrift.“ Auch ein neues Tarifmodell hat sich die Telekom ausgedacht: 20 Online-Stunden pro Monat sollen künftig, alles inklusive, nur 39,90 Mark kosten, wieder ein Nachlass von 50 Prozent. Im erbitterten Preiskampf verfolgt T-Online ein ehrgeiziges Ziel: Ende des Jahres will die Telekom-Tochter unbedingt 4 Millionen Kunden haben, und nur wenige Jahre später sollen es 15 Millionen sein. Das Geld für die Expansion will sich die Firma im nächsten Jahr an der Börse holen – so wie auch Rivale AOL. Schon beginnt der nächste Wettlauf gegen die Zeit. OGANDO / LAIF das Unternehmen an neuen Angeboten wie ausführlichen Aktienanalysen und Computer-Tipps. Drei Dutzend Journalisten wurden eingestellt. Auch die eigene Startseite ins Internet soll schöner werden: Dort lockt als Highlight heute die „Nachricht des Tages“, etwa dass Modell Naomi Campbell ein eigenes Parfum auf den Markt bringt. „AOL ist wie RTL, modern und schnell“, bilanziert Schmidt, „T-Online dagegen ist wie das ZDF: immer korrekt, oft aber staubtrocken.“ Die Spitze zielt auf das alte Btx-Image der Telekom, jenen alten Datendienst, der schon Ende der achtziger Jahre antiquiert wirkte, der jedoch lange Zeit als Einziger Homebanking ermöglichte. Seitdem es für solche Geldgeschäfte aber einen offenen technischen Standard gibt, bieten viele Internet-Firmen diesen Service an – und T-Online verlor seinen Hauptvorteil. Die Telekom entschloss sich zum Strategiewechsel. Nun sieht sie ihre Zukunft als weltweit größter Internet-Zugangsanbieter, als Lotse für die Geschäfte im Netz der Computernetze. Die eigene Online-Redaktion verschwindet zum Jahresende. Künftig sollen die Kunden über rund 20 spezielle Internet-Startseiten („Portale“) an das Unternehmen gebunden werden, die T-Online mit Partnern produziert. Durch solche „Mehrwerte“ T-Online-Manager Keuntje: „Führendes Tor“ sieht Keuntje sein Unternehmen „hervorragend positioniert“, die Marke T-Online sei „das führende Tor zum Internet“. Eine interne Studie der Telekom hatte Ende 1998 schonungslos die eigenen Schwächen bei Inhalten, E-Commerce und Internet-Service aufgezählt. Die Expertise ergab auch: Hauptgegner sind AOL und Bertelsmann – das „in Deutschland im Internet-Geschäft aktivste Verlagshaus“. Seit Mai hält T-Online mit einem speziellen Online-Einkaufsangebot dagegen, Hans-Jürgen Jakobs TELEFON Sofortiger Austausch T. BARTH / ZEITENSPIEGEL Noch immer benutzen Millionen Verbraucher gemietete Telekom-Apparate – für den Ex-Monopolisten ein gutes Geschäft. S chon in der alten Wohnung hatte Jörg Tauss sein Sinus 11 gemietet. Seit über zehn Jahren zahlt der Karlsruher Bundestagsabgeordnete Monat für Monat 25 Mark für das mittlerweile ziemlich altmodische Telefon, zunächst an die Bundespost, später an die Telekom. „Auf meiner Rechnung war mir dieser Posten bisher nie aufgefallen“, sagt der SPD-Politiker, der sich im Forschungsausschuss besonders für neue Kommunikationstechniken engagiert. Tauss will die Telekom bitten, ihm das Gerät zu schenken. Immerhin hat er dem Konzern über all die Jahre insgesamt mehr als 3000 Mark für den längst veralteten Apparat überwiesen. Neun Jahre nach der Liberalisierung des Endgerätemarkts kassiert die Telekom noch immer reichlich Miete für Telefone, von denen viele noch aus den Zeiten der alten Post stammen. Die meisten Kunden nehmen den monatlichen Posten nicht zur Kenntnis – und die einstige Monopolfirma unternimmt kaum etwas, um den Verbrauchern klar zu machen, dass die aufgelaufene Gesamtmiete den Wert der Geräte oft erheblich übersteigt. Der Telekom ist das Thema peinlich, genaue Zahlen will das Bonner Unternehmen nicht verraten. Schließlich sei man keine „gläserne Behörde“ mehr, sondern stehe im harten Wettbewerb, erläutert ein Telekom-Sprecher die Zurückhaltung. Firmen-Insider schätzen, dass an mindestens der Hälfte der rund 30 Millionen Privatanschlüsse in Westdeutschland noch Telekom-Kunde Tauss Erstaunliche Preise Mietgeräte hängen. Es könnten aber auch zwei Drittel sein, wie die Regulierungsbehörde für Telekommunikation und Post schätzt. Viele Telekom-Kunden haben sich auch ein modernes schnurloses Gerät gekauft, aber den alten Apparat nicht zurückgegeben – die Miete läuft weiter. Selbst bei vorsichtiger Hochrechnung summieren sich deshalb leicht Einnahmen von über 500 Millionen Mark pro Jahr, den die Altgeräte der Telekom bescheren – wahrscheinlich aber sind es noch viel mehr. In Deutschland begann die Liberalisierung des Telekommunikationsmarktes im Juli 1990, bei den Endgeräten fiel das Postmonopol zuerst. Bis dahin hatten nahezu alle Privatkunden ihr Telefon vom Staatsunternehmen gemietet, seither können sie selbst entscheiden, von wem sie ihr Telefon beziehen. Bei den Mietgeräten blieb die Monopolstellung im Privatkundenbereich jedoch de facto bestehen, da nur die Telekom über die Möglichkeit verfügt, die häufig niedrigen Mieten zusammen mit der Telefonrechnung einzuziehen. Um die technischen Voraussetzungen für einen Wechsel des Kaufen oder mieten? Die „Innovationsmiete“ der Deutschen Telekom Bei einer Vertragslaufzeit von fünf Jahren kann der TelekomKunde sein altes Mietgerät nach drei Jahren gegen ein neues eintauschen. 128 T-Concept CPA720 T-Easy C310 T-Easy P210 ISDN-Telefon, Kombinationsgerät schnurloses Telefon einfaches Telefon, schnurgebunden Kaufpreis 799,95 Mark 219,95 Mark 49,95 Mark monatlicher Mietpreis Mietpreis für fünf Jahre 45,30 Mark 12,70 Mark 4,50 Mark 2718,00 Mark 762,00 Mark 270,00 Mark Reparaturservice inbegriffen Grundservice inklusive Gerät abgezahlt ab 18. Monat 18. Monat 12. Monat Einsparung durch Kauf 1918,05 Mark 542,05 Mark 220,05 Mark d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 Endgeräts zu schaffen, begann die Bundespost bereits 1987 mit dem Einbau von Telekommunikations-Anschluss-Einheiten (TAE), die nicht nur den problemlosen Austausch der Telefone ermöglichen, sondern es dem Kunden auch erlauben, Zusatzgeräte wie Fax oder Anrufbeantworter zu nutzen. Doch bei der Öffnung des Endgerätemarktes 1990 waren erst acht Millionen der damals 28 Millionen Hauptanschlüsse mit einer solchen TAE-Buchse ausgestattet. Fast drei Viertel der Anschlussinhaber blieben also zunächst technisch von einem Wechsel ausgeschlossen. Das Bundesministerium für Post und Telekommunikation forderte die Telekom zwar auf, bis Ende 1994 alle Anschlüsse umzustellen, aber vier Jahre nach der Marktöffnung waren die Telefone immer noch in 44 Prozent der Privathaushalte in Westdeutschland ohne Stecker an der Buchse befestigt. So öffnete sich der Markt nur schleppend, und nur zögernd nahmen die Verbraucher die neue Freiheit wahr und kauften sich ein eigenes Telefon. Auch heute noch vermietet die Telekom Telefone. Zu erstaunlichen Preisen: Das Telekom-Telefon T-Easy P 210 wird in den T-Punkt-Läden für 49,95 Mark angeboten. Mietet man dagegen das Telefon mit einer Mindestlaufzeit von fünf Jahren, werden jährlich 54 Mark fällig. Zwar ist im Mietpreis ein Serviceangebot enthalten, aber der unterscheidet sich kaum vom einjährigen Garantieanspruch des Kaufgeräts. Bei Altverträgen, die noch vor der Liberalisierung abgeschlossen wurden, bietet die Telekom meist überhaupt keinen Service mehr. Weil bei den Postgeräten keine „Mindestüberlassungsdauer“ mehr besteht, kündigt sie den Vertrag im Schadensfall auf und bietet ihren Kunden statt dessen ein neues Miettelefon zu neuen Konditionen an. Wie wenig Interesse das Kommunikationsunternehmen auch an funktionierenden Geräten hat, bekam der Kölner Dietrich Woermann zu spüren. Als er sich im März dazu entschloss, sein „farngrünes“ Posttelefon FeTAp 11 A abzubestellen, wollte niemand den alten Apparat bei ihm abholen. Dass Woermann jedoch nicht zum Monatsersten, sondern erst am 5. März gekündigt hatte, stellte ihm die Telekom äußerst penibel in Rechnung: 48 Pfennig sollte er für die fünf Tage bezahlen. Von der Möglichkeit, dass er sein altes Telefon auch für sechs Monatsmieten kaufen kann, hatte Woermann – wie die meisten Kunden – all die Jahre nichts gehört. Unternehmenssprecher Walter Genz erklärte nun gegenüber dem SPIEGEL, dass die Telekom die Geräte, „die älter als zehn Jahre sind“, bei künftigen Kündigungen dem Kunden kostenlos überlassen werde. Bisher wissen das aber weder die Mieter noch die Mitarbeiter in den T-PunktLäden. Peter Onneken Wirtschaft COMPUTER Brücke in die neue Welt A. GARRELS / ACTION PRESS Mit dem Kauf der deutschen Software-Firma Star Division will der US-Konzern Sun die Vorherrschaft von Microsoft brechen. A AP n Visionen hat es Marco Börries nie gefehlt. Schon als 16-Jähriger war sein Lebensweg für ihn klar: Er wollte Software-Unternehmer werden. Bei einem Besuch in Kalifornien hatte er erkannt, wie leicht und schnell man „mit der richtigen Software Geld verdienen kann“. „Die Welt“, verkündete Börries fortan, „will eine Alternative zu Microsoft.“ Verbissen bemühte er sich jahrelang, die Alternative zu entwickeln. Doch kaum jemand nahm den Unternehmer aus Hamburg richtig ernst, und außerhalb Deutschlands blieb Börries ein Nobody. Vergangene Woche war plötzlich alles anders. Börries, 31, stand im Rampenlicht der Computerwelt. In fließendem Amerikanisch verkündete er in einem Fernsehstudio in New York: „Wir bauen die Brücke von der alten in die neue Software-Welt.“ Die von Börries gegründete Star Division wird dabei nur noch Historie sein. Für einen dreistelligen Millionenbetrag hat der Hamburger seine Firma an den Computerkonzern Sun verkauft. Gleichzeitig soll er als einer der Vizepräsidenten unter SunChef Scott McNealy die Internet-Strategie der US-Firma weiterentwickeln. Kontrahenten Gates, McNealy Empfindliche Stelle getroffen In Wahrheit war er von der Traummarke weit entfernt. Erst mit sechs Jahren Verspätung erreichte Börries das für 1992 anvisierte Ziel. Dabei war es fast ein Wunder, dass die Firma so lange durchhielt. Denn selbst weit größere Konkurrenten wie Corel oder Lotus gaben unter dem Druck von Microsoft auf oder wurden geschluckt. Mit einem Marktanteil von gut 90 Prozent beherrscht Bill Gates heute den Weltmarkt für Bürosoftware. Das Wunder verdankt Börries seiner Weitsicht. Anfang der neunziger Jahre beschloss er, seine zum Office-Paket gewachsene Programmsammlung als so genannte Objekt-orientierte SoftFirmengründer Börries: „Stern im Sonnensystem“ ware völlig neu zu konzipieren. „Nicht des Geldes wegen“, versichert Diese Programmiertechnik erlaubt es nun, Börries, habe er den Deal abgeschlossen, binnen kurzer Zeit neue Versionen von sondern „um meine Vision weiterzuent- „Star Office“ zu entwickeln und gleichwickeln“. Und die hat sich nicht verändert. zeitig für verschiedene Computersysteme Nur die Möglichkeiten seien größer ge- auf den Markt zu bringen. Die Flexibilität will jetzt auch Sun nutworden, glaubt der neue Multimillionär: „Jetzt sind wir ein glänzender Stern im zen, um sich gegen den Erzrivalen Microsoft zu profilieren. Die Verbindung des Sonnensystem.“ Sun will die von Börries übernommene deutschen Software-Unternehmens mit der Software-Sammlung „Star Office“, die ne- US-Firma hat Tradition. Schon 1992 hatte ben der Textverarbeitung auch eine Tabel- Andreas von Bechtolsheim, einer der lenkalkulation, ein Präsentationsprogramm Gründer von Sun, eine 20-Prozent-Beteilisowie Terminkalender und Datenbanken gung an Star Division erworben. Und vor enthält, im Internet für jedermann kosten- vier Jahren gab es erste Übernahmeverlos zur Verfügung stellen. Und dabei, be- handlungen. Doch da passte Bürosoftware tont McNealy, „geht es nicht um eine Start- noch nicht in die Strategie der Kalifornier. Das hat sich durch den Run auf das Inup-Firma, wir haben ein ausgereiftes Proternet geändert. In McNealys Vorstellungen dukt gekauft“. Der Deal mit dem US-Konzern ist der ist der Anwender bald nicht mehr auf lang ersehnte Ritterschlag für den ehrgei- schwerfällige Endgeräte und teure Softzigen Deutschen, der 1985 im heimatlichen ware angewiesen, sondern arbeitet mit Lüneburg mit 2000 Mark Startkapital, das Netzcomputern oder Multimedia-Handys. er zur Konfirmation geschenkt bekommen Die für die jeweilige Arbeit nötige Softhatte, ins Software-Business eingestiegen ware lädt er aus dem Netz. Sun verdient war. Das Geschäft mit einem kleinen am Service und am Verkauf leistungsstarSchreibprogramm, das ein befreundeter ker Rechner, die das Internet steuern. Sollte der von McNealy propagierte „PaProgrammierer entwickelt hatte, begann beachtlich. Schon nach einem Jahr setzte radigmenwechsel“ gelingen, würde Microdie Star Division genannte Firma mehr als soft an einer empfindlichen Stelle getrofeine Million Mark um, und bald musste so- fen. Denn mit der Bürosoftware verdient gar Papas Garage als Warenlager herhalten. Microsoft fast die Hälfte seines Umsatzes. Der Riese aus Redmond reagierte Zur Entschädigung schenkte der Teenie schnell. Während Gates vor drei Jahren seinem Vater einen Mercedes. Zwei Jahre vor dem Abitur schmiss der monatelang tatenlos zusah, wie der NewSternenkämpfer die Schule. Er verließ die comer Netscape mit einem kostenlosen Garage, um sich in eigenen Büroräumen Browser das Internet-Geschäft aufrollte, selbständig zu machen, denn nun war er ließ er dem neuen Herausforderer nur zwei Tage Zeit. „Wir werden aggressiv investieauch offiziell geschäftsfähig. Da sein Programm deutlich billiger war ren“, kündigte Vizechef Steve Ballmer an, als Microsofts „Word“ oder das damals und „bestimmt auch Büroanwendungen im noch führende „Word Perfect“ von Corel, Netz zur Verfügung stellen.“ Börries lässt sich von der Drohung nicht fand „Star Writer“ vor allem bei Studenten und PC-Discountern Freunde. Und Bör- beirren. „Wir haben ein Jahr Vorsprung“, ries hob ab: „Wenn das Auslandsgeschäft meint er. Und die schnelle Reaktion von hinzukommt, werden wir spätestens Ende Gates beweise doch nur eins: „Wir sind 1992 weltweit 100 Millionen Mark Umsatz ganz sicher auf dem richtigen Weg.“ machen“, verkündete er 1990. Klaus-Peter Kerbusk d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 129 Wirtschaft KORRUPTION Persönliche Geste Der Skandal um den BBV-Chef Schweickert und seinen Spezi Kaaf zieht weitere Kreise: Von den Machenschaften profitierten Manager und Politiker. zwei Millionen Mark. Für die ausgebufften Immobilienprofis Kaaf und Ernst war der Erwerb ein Verlustgeschäft; beim Weiterverkauf 1994 sollen sie rund 300 000 Mark verloren haben. Zimmermann beteuert, es gebe „keinerlei Zusammenhang“ mit dem Objekt Grillparzerstraße. Außerdem habe er seinen Vorgesetzten, den damaligen Thyssen Handelsunion-Chef Dieter Vogel, persönlich über das Privatgeschäft mit Kaaf und Ernst informiert. Vogel, heute Aufsichtsratsvorsitzender der Deutschen Bahn AG, bestreitet das. er 1998, kurz vor seinem Tod, unplanmäßig zurückzahlte. Die übliche Strafgebühr musste er vertragsgemäß nicht berappen. Auch Streibl-Freund Schweickert achtete im Geschäftsleben stets auf Occasionen. Bevor er 1990 für die BBV Aktien der Heidelberger Textilholding Pegasus kaufte, stellte der Assekuranz-Chef in Anbahnungsgesprächen lapidar fest, es müsse sich auch für ihn lohnen, wie sich der damalige Verkäufer erinnert. So blieb es nicht bei einigen zehntausend Aktien für die BBV zum Stückpreis von 300 Mark; gleichzeitig gingen 1500 Ak- W. v. BRAUCHITSCH 130 d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 G. LUKAS M it Verdruss liest Hans Jakob Zimmermann, 55, jeden Tag die Schlagzeilen über die Korruptionsaffäre rund um den Immobilienmakler Berthold Kaaf. Der Bonner Grundstückshändler und dessen Geschäftspartner Klaus Dieter Schweickert, früherer Chef der Bayerischen Beamten Versicherung (BBV), sitzen seit Wochen in Haft. Beide stehen im Mittelpunkt einer der größten Schmiergeldskandale der Republik (SPIEGEL 33/1999). Zu denen, die von Kaafs Geschäftsgebaren profitierten, gehörte offenbar auch Manager Zimmermann, seit einem Jahr Geschäftsführer bei einer Tochter der Frankfurter Metallgesellschaft. Zimmermann, bis Ende 1995 Vorstandsmitglied der Dortmunder Thyssen Schulte GmbH, hatte Kaaf bei einem Millionendeal kennen gelernt. Beim profitablen Ehemalige Zimmermann-Villa in Euskirchen: Aufschlag für Eiche rustikal Verkauf eines ThyssenSchulte-Grundstücks an der Zimmermann habe ihn nur tien zum Vorzugspreis von 240 Mark an Grillparzerstraße in Münbeiläufig über den Verkauf die Liechtensteiner Briefkastenfirma Botchen waren sich die Herren seines Privathauses unter- tag Anstalt, die Schweickert über einen näher gekommen. Ende Seprichtet und dabei keine Na- Treuhänder installiert haben soll – Preistember 1990 erwarb die Immen genannt. Jedenfalls er- vorteil: 90 000 Mark. Auch die damaligen mobilienfirma Terreno, an fuhr die Thyssen-Innen- BBV-Vorstände Wolfgang Werner und der Kaaf und der Heidelberrevision nichts von der Eus- Heinz Scheller freuten sich über 500 Billigger Bauträger Roland Ernst kirchener Transaktion, als aktien, der Prokurist und spätere Finanzbeteiligt waren, das Areal Manager Zimmermann Zimmermann 1995 unter vorstand Josef Dinauer immerhin noch von Thyssen für rund 72 MilDruck den Konzern verließ, über 200. Der Fakt sei „nicht zu leugnen“, lionen Mark, um dort einen gigantischen weil er beim Bau seiner neuen Villa in Es- konstatiert Dinauer und will den kulanten Bürokomplex hochzuziehen. sen von einer Baufirma bevorzugt behan- Kauf als „persönliche Geste“ des Verkäufers verstanden haben. Just drei Monate später hatte Zimmer- delt worden sein soll. Zu einer persönlichen Geste ähnlicher mann ein weiteres Erfolgserlebnis: Für 1,85 Das Gemauschel hatte in Kaafs Kreisen Millionen Mark kauften Kaaf und Ernst im offenbar Methode: Auch Kaafs Geschäfts- Art sah sich auch die frisch gegründete Dezember 1990 privat Zimmermanns Eus- partner Schweickert war bei privaten Pro- Leasing-Gesellschaft BBV Finanz GmbH kirchener Villa. Die hatte der Thyssen- blemen gern gefällig, etwa dem damaligen 1990 veranlasst, an der die BBV 41 ProMann zwei Jahre lang über Makler und bayerischen Ministerpräsidenten Max zent hielt. Als Firmensitz in repräsentativer Zeitungsannoncen feilgeboten – ohne Er- Streibl. Der hatte ihm im Juli 1992 den Lage konvenierte just ein Haus aus folg. Für die Innenausstattung, darunter Bayerischen Verdienstorden verschafft. Im Schweickerts Privatvermögen an der RuKüchenzeilen in Eiche rustikal, spendierten Februar 1993 erhielt Streibl für sein Haus an gendasstraße im Münchner Stadtteil Solln. die Baulöwen 250 000 Mark extra. der Malsenstraße 72 im noblen Münchner Bis heute tappt die BBV im Dunkeln, wie Bei dem Deal waren auch zwei hoch- Viertel Gern ein günstiges Baudarlehen der hoch die Miete für das Objekt ihres inzwirangige Thyssen-Mitarbeiter zu Diensten. BBV: Ein Kenner des Vertrags berichtet von schen entlassenen Vorsitzenden war. Was man von dem Vorgang zu halHausjurist Burkhardt Höper prüfte den pri- rund 900 000 Mark Kredit zu sechs Prozent vaten Kaufvertrag. Thyssen-Immobilien- effektivem Jahreszins – rund 1,8 Prozent- ten hat, weiß Konzernsprecher Peter experte Klaus Tiedemann erstellte in seiner punkte unter dem damaligen Marktniveau, Nützel heute immerhin: „Das war Freizeit unentgeltlich ein Wertgutachten fest auf zehn Jahre. Rund 80 000 Mark Er- saublöd.“ Jürgen Dahlkamp, Felix Kurz,Wilfried Voigt und taxierte die Zimmermann-Villa auf sparnis hatte das Streibl schon gebracht, als Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Medien Trends FILMHANDEL J. OBERHEIDE / ARGUM Neue Fusion in München? E inen starken Partner will der Medien-Unternehmer Herbert Kloiber aufnehmen. Potenziellen Interessenten gegenüber nannte er bereits einen Wert von zwei Milliarden Mark für seine Tele-München-Gruppe. Den Filmstock bewerteten die Wirtschaftsprüfer von KPMG, andere Firmenteile die Investmentbanker von Morgan Stanley. Am weitesten fortgeschritten sind die Gespräche mit dem Börsen-Aufsteiger EMTV des Münchner Unternehmers Thomas Haffa. Die bisher auf den Kinderund Jugendmarkt spezialisierte EM-TV soll, so der Plan, einen Minderheitsanteil übernehmen. Als weitere Kandidaten für Tele-München (Umsatz 1998: über 400 Millionen Mark) sind die Bertelsmann-Tochter CLT-Ufa, die Kirch-Gruppe und TV-Tycoon Rupert Murdoch im Gespräch, dem Kloiber bereits 66 Prozent des Senders TM 3 verkauft hat. Die dort nötigen Investitionen für die Champions League sowie der geplante Aufbau einer Pay-TV-Plattform belasten die Bilanz. Kloiber bestätigt, er werde „im Laufe des Herbstes ohne tunliche Eile“ vielleicht einen Neu-Gesellschafter finden, „wenn sich denn einer anbietet, bei dem das sinnvoll ist“. TeleMünchen müsse bei Produktionen stärker werden. Ein Börsengang sei nicht geKloiber Kirch PAY- T V Milliarden für Kirch D PWE VERLAG er TV-Unternehmer Leo Kirch will über den Kapitalmarkt sechs Milliarden Mark für den Ausbau des PayTV-Senders Premiere World finanzieren – und sich damit aller Finanzsorgen entledigen. Die Bayerische Landesbank, die zu 50 Prozent dem Freistaat Bayern gehört, teilt sich das Risiko mit internationalen Banken in einem Kreditkonsortium; vier Milliarden Mark sollen zusammenkommen. Damit wird eine Milliarden-Bürgschaft der Landesbank für den Kauf von Premiere abgelöst. Eine Hauptrolle spielt die Investmentbank Morgan Stanley Dean Witter, die zudem eine hochverzinsliche Anleihe über rund zwei Milliarden Mark begibt. Kirch hofft nun auf einen geglückten Neustart seines Pay-TV-Geschäfts im Oktober. Der Start der Fußball-Bundesliga jedenfalls war, anders als früher, diesmal kein Knüller: Der Sender gewann in den ersten beiden Wochen brutto nur 25 000 neue Abonnenten. DA I LY S O A P Stars am Strand N PRO 7 achdem die tägliche Pro-Sieben-Soap „Mallorca“ als Mega-Flop in die Sendergeschichte einzugehen droht, soll nun nachgebessert werden. Die Serie sei bisher zu kompliziert und negativ gewesen, kritisiert Programmdirektor Borris Brandt – zudem seien 18 Hauptakteure einfach zu viel. „Die sterben jetzt wie die Fliegen.“ Auch Pro-Sieben-Fernsehvorstand Ludwig Bauer möchte die Daily Soap „konsequenter an die Lebenswelten der Zuschauer anpassen“ und sonnige Urlaubsgeschichten erzählen lassen. Außerdem sollen Stars mit Szene aus „In bed with Madonna“ plant, im Sommer hätten Banken nur ihre Ideen dazu präsentiert. Kloiber ist an den Sendern RTL 2, Wien 1 und TV 2 (Ungarn) beteiligt; im Filmhandel ist er mit 4800 Spielfilmen (zum Beispiel „In bed with Madonna“) und 19 300 Programmstunden zweitgrößter Anbieter. Gastauftritten für das ersehnte Quotenhoch sorgen. So wird für eine der neuen Folgen, die von September an laufen, die Schlager-Fee Nicole zum Urlaubsflirt an der Strandbar ausrücken. Am liebsten wäre es Programmchef Brandt, „wenn irgendwann mal Mario Basler auftaucht“. Viel Zeit zur Neupositionierung hat die Produktionsfirma Grundy / Ufa allerdings nicht. Bereits Mitte Oktober will der Vorstand über die Zukunft der Soap entscheiden. Für eine Fortsetzung muss die Quote dann bei zehn bis zwölf Prozent der 14- bis 49-Jährigen liegen – ungefähr das Doppelte des derzeitigen Marktanteils. Sonst geht die südliche Sonne für immer unter. Pro-Sieben-Serie „Mallorca“ 133 Medien QUOTEN Dumme Hunde Mehr Information bei ARD und ZDF W Programmarten in der Hauptsendezeit Anteile in Prozent; 1998 ARD ZDF 11,0 37,0 28,6 10,9 ProSieben 9,2 10,3 22,3 46,4 25,5 23,6 26,6 4,0 26,6 8,5 39,7 9,7 4,0 50,5 21,6 4,9 49,9 Quelle: Media Perspektiven Information und Bildung Fiction Unterhaltung PROJEKTE Die mit dem Wolf fühlen P sychoanalytiker wie Bruno Bettelheim („Kinder brauchen Märchen“) sind sich sicher: Gerade in der Härte der von den Brüdern Grimm gesammelten Geschichten liege deren reinigende und Kinderseelen stärkende Kraft. Erzieherisch gut gemeinte Abschwächungen, Mitleid mit dem Bösen oder die Verbannung tödlicher Strafen nähmen den lieben Kleinen die Möglichkeit, den Zugang zu den eigenen Ängsten und Phantasien zu finden. Wenn vom Herbst einige Journalisten geführt hat – und zwar an der Nase herum. „Simsala Grimm“-Trickfilmszene 134 Sat 1 5,9 6,8 16,7 RTL Sport d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 Sonstiges/Werbung an im Kinderkanal 26 Zeichentrickfilme mit Grimmschen Märchen laufen, dürfte von der archetypischen Deutlichkeit der Geschichten wenig übrig bleiben. Unter dem Orient und Okzident vermischenden Titel „Simsala Grimm“ hat die Münchner Produktionsfirma Greenlight eine Welt bewegter Cartoons zusammengemixt, die die Märchen dem modernen Infotainment ausliefern: Schneewittchen ist nicht nur von sieben Zwergen umgeben, sondern auch von einem Harlekin namens Yoyo und einem Bücherwurm. Zwischendrin gibt’s Actionszenen. Sozialpädagogisch verwässert wird das Märchen vom Rotkäppchen: Um die Großmutter aus dem Bauch des Wolfs zu holen, kommt nicht der Jäger mit dem Gewehr, sondern der Arzt. Auf dem Operationstisch unter Vollnarkose wird die Oma befreit. In der anderen Grimmschen Geschichte „Der Wolf und die sieben Geißlein“ wird für Verständnis für Isegrimms Mordlust geworben – er sei leider in einer Fleischfresser-Gesellschaft sozialisiert worden. GREENLIGHT MEDIA Die schönsten Geschichten schreibt immer noch das Leben, die zweitschönsten aber stehen im Berliner Boulevardblatt „BZ“. Vergangene Woche beispielsweise berichtete die „BZ“ von dem wahrscheinlich dümmsten Blindenhund der Welt, einem Labrador namens Lucky. Der Hund hat das Pech, nun schon sein fünftes Herrchen zu bekommen, er selber kann aber auch nicht gerade als Glücksbringer bezeichnet werden: Die ersten vier führte er geradewegs in den Tod. Nummer eins leitete er gegen einen fahrenden Bus, mit Nummer zwei ging er auf einem Pier spazieren – und darüber hinaus, was Herrchen nicht überlebte. Mit dem dritten stand Lucky auf einem Bahnsteig. Als der Zug einlief, sprang der Hund vor Freude am Herrchen hoch – bis dieser das Gleichgewicht verlor und auf die Gleise stürzte. Nummer vier schließlich sollte von Lucky über eine verkehrsreiche Straße geführt werden, auf einer Verkehrsinsel verlor der Hund die Orientierung und irrte so lange hin und her, bis Herrchen tot war. Nun wird Lucky nachgeschult, Herrchen Nummer fünf wartet schon – angeblich. Die „BZ“-Meldung stammt aus einer englischen Zeitung, die hat sie von der Agentur Reuters. Allerdings lief dieselbe Meldung 1998 schon einmal durch die Gazetten und im Internet findet sich eben diese Geschichte bereits mit Datumsangabe Oktober 1993. Damals war Lucky noch ein Schäferhund und kein Labrador. Man darf also annehmen, dass Lucky niemals einen Blinden, sondern allenfalls enn die Statistiker nachzählen, kommt bisweilen anderes heraus als das, was den Zuschauer dünkt: Ausgerechnet das ZDF war im vergangenen Jahr der Sender mit dem höchsten Informationsanteil in der Hauptsendezeit (46,4 Prozent), deutlich vor der ARD (37,0). Bei den Privaten führt in dieser Kategorie RTL (25,5) mit Abstand vor Sat 1 (9,2). Nach den Berechnungen des Fachblatts „Media Perspektiven“ waren 1998 die Fiction-Programmanteile der öffentlich-rechtlichen Anstalten im Vergleich zu 1997 rückläufig: bei der ARD minus 9,5 Prozent, beim ZDF minus 8 Prozent. Serien, TV-Movies und Action-Formate machten dagegen bei Sat 1 (50,5) und RTL (39,7) den Löwenanteil aus. Die Präsenz dieses Genres hatte sich gegenüber 1997 sogar noch ausgeweitet. Fernsehen Vo r s c h a u Einschalten Fußball Mittwoch, 20.15 Uhr, ARD Aus Dortmund: EM-Qualifikation Deutschland – Nordirland. Diamanten küsst man nicht Dead Man Walking Dienstag, 20.15 Uhr, Sat 1 Tim Robbins’ aufwühlender Film (USA 1995) gegen die Todesstrafe – mit Susan Sarandon in der Rolle einer kämpferischen Nonne. Meret Becker, die unglückliche Lesbe aus Helmut Dietls „Rossini“, spielt in diesem gelungenen TV-Stück (Buch: Martin Rauhaus, Regie: Uli Stark) eine Diamantendiebin, die die Finger einfach nicht von den Klunkern lassen kann. Sie besticht durch anrührende Direktheit – immer Becker ein wenig gerupfter Vogel, den man allerdings nicht zu sehr bemitleiden sollte, denn er hat es faustdick hinter den Ohren. Themenabend: Picasso Dienstag, 20.45 Uhr, Arte Am Ende dieser Hommage an den großen Maler, um 0.10 Uhr, Henri-Georges Clouzots und Claude Renoirs Film von 1956: „Das Wunder Picasso“ – genial und im Unterhemd wirft der Meister mit den alles sehenden Augen seine Figuren auf eine Glasscheibe vor der Kamera. Freitag, 22.45 Uhr, ZDF Stahlnetz – Die Zeugin Sonntag, 20.15 Uhr, ARD und bedrückende Atmosphäre. Dem Regisseur Thomas Bohn ist es streckenweise gelungen, an den Geist der famosen Geschichten um den englischen Psychowühler „Fitz“ zu erinnern, den Robbie Coltrane grimmig, stiernackig und virtuos vor einiger Zeit auch vor dem deutschen TV-Publikum hingelegt hatte. Die beiden Polizisten, die blonde Andrea (Suzanne von Borsody) und Rudolf (Michael Roll), kämpfen bei ihren Ermittlungen mit der eigenen Verzweiflung. Es geht um Mord, aber in Wahrheit um das Erziehungselend und die Einsamkeit eines jungen Mädchens (Julia Hummer), die unter einer überforderten Mutter (Brigitte Karner) leidet. Unter alten Hüten schlummern oft Kostbarkeiten. Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet unter dem Logo aus sehr alten Fernsehzeiten – „Stahlnetz“, von Jürgen Roland und Wolfgang Menge entwickelt, war in den frühen sechziger Jahren einer der ersten StraßenfegerKrimis – eine aufregende TV-Innovation steckt. Von ihren Vorgängern haben die neuen „Stahlnetz“-Geschichten zwei Dinge übernommen: Sie arbeiten mit einem Erzähler aus dem Off, und sie konzentrieren sich auf die Polizeiarbeit. Doch dann hören die Gemeinsamkeiten auf: Besonders das heutige Stück mit dem Untertitel „Die Zeugin“ vermittelt eine sehr dichte Borsody, Roll mit Kai Maertens (M.) in „Stahlnetz“ Ausschalten Die MorningShow Montag, 6.30 Uhr, Pro Sieben Wer im Frühtau zu Berge nur höchst ungern das Fallera schmettert, hat nun noch mehr Grund, die Finger von der Fernbedienung zu lassen. Denn seit heute gibt es zum Tagesbeginn eine wochentägliche Comedy-Morgensendung, in der Komiker wie Wigald Boning, Steffen Hallasch- Hallaschka, Jebsen, Boning, Bazman in „MorningShow“ ka und Ken Jebsen als Bei Aufschlag Mord schräge Reporter ihre Scherze treiben Mittwoch, 20.15 Uhr, Sat 1 und Arzu Bazman den Scherzkeksen Ein Leibwächter (Hansa Czypionka), den Kaffee kocht. Die Comedy findet eine ehrgeizige Tennisdame (Katja solche Frauenrolle komisch. d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 Studt), ein cholerischer Onkel (Diether Krebs) und eine mysteriöse Entführung – Sat 1 will mit diesem Film (Regie: Bernhard Stephan) das Match um die Zuschauer gewinnen. Leider entdecken nicht nur Sportfreunde schnell, dass Katja Studt trotz noch so verbissener Bemühungen dem Publikum nicht weismachen kann, dass sie wie eine Spitzenspielerin aufschlägt. Vielleicht grinst der Leibwächter der Tennisdame deshalb den ganzen Film über so satt in sich hinein, die Handlung jedenfalls erschließt seine stille Dauerfreude leider nicht. Bärbel Schäfer Freitag, 15.00 Uhr, RTL „Ich will deinen Body und nicht dein Herz!“ Bodysmus – die letzte Religion nach allen Religionen. 135 OGANDO / LAIF Intendant Weirich (vor dem Kölner Funkhaus der Deutschen Welle): Schwarzen Peter nach Berlin weitergereicht DEUTSCHE WELLE Das Krawall-Konzept Die Deutsche Welle muss kräftig sparen, doch dagegen wehrt sich Intendant Dieter Weirich. Im erbitterten Streit mit Schröders Kulturminister Michael Naumann bleibt eine Frage offen: Welchen Sinn hat dieser Sender? 136 d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 Drei Tage später, am Mittwoch vergangener Woche, hat er es sich anders überlegt. „Ich lege ausdrücklichen Wert darauf festzustellen“, schreibt Naumann dem SPIEGEL, „dass weder Sie noch einer Ihrer Kollegen im SPIEGEL oder aus anderen Medien diesen Satz von mir gehört haben können.“ Zu spät. Längst schon haben „Frankfurter Rundschau“ und „Kölner Stadtanzeiger“ die Äußerung weiterverbreitet, mit der Naumann den Konflikt um die Deutsche Welle (DW) auf die Auseinandersetzung zweier Männer mit gesteigertem Geltungsdrang reduziert. Der Gegner des Staatsministers residiert im 31. Stock eines hässlichen Hochhauses am Rande von Köln: Dieter Weirich, 54, früherer CDU-Bundestagsabgeordneter und seit zehn Jahren Intendant der öffentlich-rechtlichen Deutschen Welle, deren gesetzlicher Auftrag es ist, den „Rundfunkteilnehmern im Ausland ein umfassendes Bild des politischen, kulturellen und wirtT. RÜCKEIS / DER TAGESSPIEGEL E ine tolle Erfindung, dieses Online-Suchsystem, das die Deutsche Welle mit EU-Fördermitteln entwickelt hat. Stichwort in den Computer eingeben, und schon spuckt die Maschine alle Beiträge aus, die Europas Rundfunkanstalten zu diesem Thema gesendet haben. Wunderbar geeignet, die eigene Bedeutung abzufragen. „Naumann“, tippt Naumann ein und lässt die großen, braunen Staatsministeraugen erwartungsfroh auf dem Bildschirm ruhen. Bingo – ein Treffer! Leider der Falsche: Naumann, Klaus (Ex-General). Das urlaubsgebräunte Gesicht von Nau- Minister Naumann*: „Ökosteuer für Kurzwelle“ mann, Michael, 57 (Staatsminister für Kultur und Medien), verdüstert sich. Probleme der Deutschen Welle“, sagt der Sein segensreiches Wirken ist von den eu- Herr Staatsminister, und ein halbes Dutropäischen Rundfunkanstalten offensicht- zend Journalisten schreibt mit, „lassen sich auf zwei Punkte reduzieren: Es gibt einen lich nicht wahrgenommen worden. Seit über zehn Minuten besucht er nun Sparzwang, und es gibt einen Intendanten. schon den Stand des deutschen Auslands- Damit ist alles gesagt.“ senders auf der Berliner Funkausstellung, und es ist höchste Zeit, ein Statement * Am vergangenen Montag am Stand der Deutschen grundsätzlicher Natur abzusondern. „Die Welle auf der Internationalen Funkausstellung in Berlin. Medien Im Sender hat man Weirichs Strategie durchschaut. Bei seinem „KraDie Deutsche Welle, der öffentlich-rechtliche Auslandssender wall-Konzept“ gehe es ihm ausDeutschlands, beschäftigt derzeit rund 1700 Mitarbeiter aus schließlich darum, „dass das Blut 70 Nationen in der Kölner Zentrale und in Berlin. an den Richtigen spritzt“, sagt ein Mitarbeiter. Programme Zwar rufen die Gewerkschaften DW-Radio seit 1953 650 nun zum Marsch aufs Kanzleramt – Hörfunk-Programme weltweit in Deutsch und Gesamtetat der samt begleitendem Motorrad-Kor631 627 Englisch, regional in 34 weiteren Sprachen von Deutschen Welle so. Der Zorn der Belegschaft richtet Albanisch bis Urdu; Empfang über Kurzwelle in Millionen Mark sich aber vor allem gegen den eige606 oder Satellit 600 nen Chef. Anstatt an der aufgeblähDW-TV seit 1992 ten Verwaltung zu sparen, kürze 581 Informations- und Nachrichtensendungen, Weirich fast ausschließlich am Pro563 Dokumentationen und Magazine in Deutsch gramm, mäkelt der Personalrat. 556 550 und Englisch, in Nord- und Südamerika auch in 546 Auch im Kanzleramt wird WeiSpanisch; Empfang über Satellit und Kabel richs Schnellschuss eher als Arbeitsverweigerung denn als ernst DW-online seit 1994 Kürzung gegenüber zu nehmendes Angebot gesehen. Internet-Angebot mit Programmvorschau, 500 dem Haushalt 1999 Abteilungsleiter Nevermann rechInformationsseiten und der Möglichkeit DWnet fest damit, dass sich der kalBeiträge zu laden („Audio- und Video-on-Demand“) –25 –43 –50 –60 kuliert aufgebrachte Intendant bis Millionen Mark zur Sitzung von Verwaltungs- und 450 Rundfunkrat am 6. Oktober – ebenso kalkuliert – wieder beruhigt. 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 Schließlich weiß auch Weirich, dass seine Unions-Parteifreunde in schaftlichen Lebens in Deutschland“ zu das einen „Angriff auf die Freiheit und den Aufsichtsgremien die Mehrheit verUnabhängigkeit der Presse“ witterte. loren haben. vermitteln. Dass aus den Kürzungen „ein in „Die Weirich-Vorlage wird das Licht der Mit einem Etat von über 600 Millionen Mark und 1700 Mitarbeitern produziert die der Geschichte des öffentlich-rechtlichen Welt nicht erblicken“, sagt Bremens StaatsDeutsche Welle Radioprogramme in 36 Rundfunks bisher einmaliger Vorgang rat Erik Bettermann (SPD), der als Vertreverschiedenen Sprachen (von Albanisch wird“ – wie Weirich in einem Brandbrief ter des Bundesrates dem DW-Verwalbis Urdu), einen Fernsehkanal (in Deutsch, an die „lieben Kolleginnen und Kollegen“ tungsrat angehört. Und: „Man muss ihn Englisch und Spanisch) und ein aufwendi- schäumt –, dafür sorgte der Intendant frei- dazu bringen, diese polarisierenden Spielges Online-Angebot. Im Gegensatz zu lich höchstpersönlich: Als bekennender chen aufzugeben.“ Selbst der langjährige VerwaltungsratsARD und ZDF wird der Sender nicht durch Nahkämpfer ersann er gemeinsam mit seiGebühren, sondern durch den Bundes- nen Direktoren einen Sparplan, der Politi- vorsitzende Franz Schoser, der der Union zugerechnet wird, mahnt – von haushalt finanziert – und ist damit Opfer kern und Mitarbeitern einen maximalen Schrecken einjagen „Der Sparplan den Streitigkeiten zwischen der Berliner Sparpolitik. Auf dem Schreibtisch von Naumanns soll: Gleich 745 Arbeitsplätze soll Politikern Naumann und Weirich dauerhaft genervt – zur Vernunft: Kultur-Abteilungsleiter Knut Nevermann will Weirich an den Standorten und muss es heißen: runter schrumpft das Problem DW auf eine Ma- Köln und Berlin einsparen – darMitarbeitern „Jetzt von den Bäumen und über ein thematikaufgabe zusammen. Wenige Zei- unter 163 Festangestellte. einen mittelfristiges Konzept nachgeMit feinem Gespür für die len unter dem Etat fürs Egerland-Museum maximalen dacht. Wir brauchen keinen (500 000 Mark) oder den ostdeutschen Ga- außenpolitische Tagesordnung Schrecken kurzfristigen Krisenplan.“ Den lerien (null) stehen jene Zahlen, die den setzte Weirich genau dort den einjagen“ benötigt man allenfalls für die Mitarbeitern des Senders seit Monaten den Rotstift an, wo er mit lautem Wiinformellen Treffen, bei denen Schlaf rauben: 606 Millionen für dieses derspruch rechnen konnte. So Jahr, nur noch 546 Millionen für 2003. „Ge- sollen ausgerechnet die Hörfunksendun- viel Zeit dafür aufgewandt wird, Naumann nau so viel weniger“, freut sich Never- gen in Polnisch, Tschechisch, Slowakisch und Weirich auf Distanz zu halten. Schomann, „wie vom Finanzminister vorge- und Ungarisch eingestellt oder reduziert ser: „Ich weiß auch nicht, warum die sich werden – was hinsichtlich einer Osterwei- so verharkt haben.“ schrieben.“ Wahrscheinlich wissen sie es selbst nicht. Hans Eichel dürfte also zufrieden sein, terung der EU besonders wenig Sinn dafür hat Gerhard Schröders Naumann macht. Außerdem auf Weirichs Abschuss- Mit der Sache hatte es auf jeden Fall wenun den DW-Intendanten Weirich am Hals liste: Programme für Indonesien, Albanien nig zu tun – von Anfang an. So schwadro– und gegen den ist der Finanzminister ein und Serbien, allesamt Krisenregionen, in nierte Naumann bereits in einer Bundesdenen kein freier Informationszugang tagssitzung am 2. Dezember vergangenen Ausbund an Gemütlichkeit. Jahres über „solare Flecken“ und eine „Offen und direkt (Nahkämpfer)“, ant- gewährleistet ist. Prompte Proteste sind Weirich hoch will- Ökosteuer für Kurzwellen-Transmitter. wortete der kettenrauchende Senderchef Auf die Frage nach dem TV-Programm vor vier Jahren auf die Frage des „FAZ- kommen: Sie ermöglichen es ihm, den Magazins“ nach seinem Hauptcharakter- Schwarzen Peter umgehend nach Berlin der DW wusste er von einer „Dekultiviezug („Wie möchten Sie sterben?“ „In den weiterzureichen. So ließ er den wegen der rung“ zu berichten – „um es einmal ganz Sielen“). Dieser Selbsteinschätzung ver- Streichungen im spanischsprachigen Pro- krass auszudrücken“. Jedenfalls habe er gramm protestierenden Botschafter von das „aus der Deutschen Welle und übrigens sucht er nun gerecht zu werden. „Naumann nutzt die Deutsche Welle als Venezuela wissen, dass er dessen Unmut auch von Schriftstellern gehört“. Schon einen Monat zuvor hatte SchröSteinbruch für neue Subventionen im Kul- teile, aber – leider, leider – durch Nauturbereich“, poltert der Intendant – se- mann zu „radikalen Schritten“ gezwun- ders Mann fürs Kulturelle auf einer Podiumsdiskussion Bemerkenswertes zu bekundiert vom CSU-Organ „Bayernkurier“, gen sei. Neue Spar-Welle d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 137 richten: Die Äthiopien-Redaktion der – rechtlich fragwürdige – Zusammenarbeit Deutschen Welle („wunderschöne Men- mit ARD und ZDF. schen“) habe mit ihren Sendungen auf KosDabei hatte der ARD-Vorsitzende Peter ten des deutschen Steuerzahlers den da- Voß bereits vor Wochen klargestellt, man maligen Kaiser Haile Selassi gestürzt. Im wolle nicht den finanziellen Lückenbüßer Übrigen übertrage die DW eine halbe spielen, um Etatprobleme des Bundes zu Stunde täglich Sendungen in Sanskrit, ei- kompensieren. ner Schriftsprache: „Man könnte genauso Auch bei den anderen öffentlich-rechtligut auch Maya-Hieroglyphen versenden.“ chen Anstalten hält sich – aus Sorge um das DW-Intendant Weirich wies die Behaup- pralle Gebührensäckel – die Begeisterung tungen in einem Brief erbost zurück – und für den Auslandsfunk in überschaubaren reizte den Bildungsbürger Naumann damit Grenzen. ZDF-Chef Dieter Stolte könnte umso mehr: „Über Sanskrit müssen Sie sich zwar eine umfangreichere Programmmich nicht belehren…Ihre Behauptung, die zulieferung vorstellen, macht aber deutPhonetik von Sanskrit sei identisch mit der lich, dass attraktive Sendungen auch entvon Hindi, ist spekulativ. Wir wissen auch sprechend teuer sind. Und dem NDRnicht, wie die Römer gesprochen haben.“ Intendanten Jobst Plog schwebt gar ein Naumann, der in den sechziger Jahren als freier Mitarbeiter bei der Deutschen Welle gearbeitet hatte, legte sich auch weiter keinerlei Zurückhaltung auf. Mal bezeichnete er den Sender als „eine der teuersten und größten Rundfunkanstalten in Europa“ (Weirich: „In der Liste der 20 größten Sendeanstalten Europas tauchen wir gar nicht auf“), dann wieder bezichtigte er den Intendanten, viele Bereiche in GmbHs ausgliedern zu wollen. „Vermutlich haben Sie die Radiohörer (in Afrika): Sendungen in 36 Sprachen Deutsche Welle mit dem Mitteldeutschen Rundfunk verwechselt“, paneuropäischer TV-Kanal vor, zu dem mutmaßte der Verwaltungsratsvorsitzende die Auslandssender des Kontinents verFranz Schoser in einem Brief an den Kul- schmelzen sollen – ein bürokratischer Koturbeauftragten. loss der Sonderklasse. Den jüngsten Fauxpas lieferte Naumann Schließlich legte eine gemeinsame Aram Dienstag vergangener Woche in Ber- beitsgruppe, besetzt mit Vertretern von lin. Ihm sei es völlig egal, ob an der DW- ARD, ZDF und DW, Ende Juni ein Konzept Spitze ein CDU-Mann stehe, sagte der vor, das einen gemeinsam gestalteten TVStaatsminister. Der Sparzwang sei schließ- Auslandskanal vorsieht, der sich an Toulich nicht parteipolitisch motiviert. „Von risten, Auslandsdeutsche und – selbstvermir aus kann der Intendant auch in der ständlich – „die Eliten von Politik, Kultur DVU sein“, zitiert ihn der Berliner „Ta- und Wirtschaft der Bestimmungsländer“ gesspiegel“. richtet. Was die mit volkstümlichen ZDFDer Ego-Streit der beiden „Brummkrei- Serien wie „Der Landarzt“, „Unser Lehrer sel“ (Verwaltungsrat Bettermann) verhin- Dr. Specht“, „Schlosshotel Orth“ oder der dert bisher, dass man sich gemeinsam Ge- windigen Teenie-Klamotte „Die Stranddanken über ein vernünftiges Konzept zur clique“ anfangen sollen, lässt das ThesenZukunft des Auslandsrundfunks macht – papier offen. in Zeiten knapper Kassen. Fraglich ist auch, ob sich die beiden Welche Aufgabe kann er erfüllen, wenn Kontrahenten Weirich und Naumann tatdie Zuschauer in aller Welt ohnehin bald sächlich dazu durchringen können, geARD und ZDF über Satellit empfangen meinsam an der Zukunft der Deutschen können? Wer soll mit den Auslandspro- Welle zu arbeiten. grammen erreicht werden: die Eliten oder Mit Naumann habe sich Schröder die Massen? Und welchen Sinn macht ein schließlich bewusst einen „bunten Vogel“ Fernsehprogramm, das schon aus Budget- ins Kabinett geholt, sagt sein Mitarbeiter gründen (Branchenspott: „CNN light“) Nevermann. „Er kann doch kein Interesse qualitativ weit hinter den Weltkanälen daran haben, dass aus Naumann jetzt ein CNN und BBC zurückbleiben muss? Brathähnchen wird.“ Nevermann denkt Auf diese Fragen gibt es bisher keine kurz nach – von seiner eigenen FormulieAntworten, stattdessen wird ein Sammel- rungskraft berauscht. „Poularde“, sagt er surium von Vorschlägen debattiert, darun- dann, „Poularde ist noch besser.“ ter ein Notgroschen für die DW oder eine Oliver Gehrs, Konstantin von Hammerstein 138 d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 F. STARK / DAS FOTOARCHIV Medien Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Medien Stabreim und Stutenkrieg Ex-„Bild“-Chef Peter Bartels will der Sexpostille „Neue Revue“ zu neuer Illustriertenherrlichkeit verhelfen – mit Politprosa und Tiergeschichten. N eulich hat sich Peter Bartels wieder ärgern müssen. Als er am Flughafenkiosk nach der „Neuen Revue“ suchte und sie nicht zwischen „Stern“ und „Bunte“ fand, sondern wie gehabt in der Ecke mit den Schmuddelblättchen. Obwohl doch keine halbnackte Frau den Titel schmückte, sondern ein respektabler Coverboy. „Es ist mir ein Rätsel, wie man den Kennedy zwischen all die Brüste stecken kann“, wundert sich der ehemalige „Bild“-Chefredakteur. Der hatte die „Neue Revue“ erst im Mai übernommen – mit dem Auftrag, dem über Jahrzehnte zum bedeutungslosen Sexheftchen verkommenen Traditionstitel aus dem Bauer-Verlag zu alter Illustriertenherrlichkeit aufzuhelfen. In seinen besten Tagen verkaufte das Blatt mit einer Mischung aus politischen Reportagen, Sex und Crime bis zu 1,7 Millionen Exemplare – danach ging’s bergab. Erfolglos versuchte man mit bumsfidelen Rubriken wie „Rudi Rammlers Rüttelreimen“ gegen die Konkurrenz zu bestehen. Im Laufe der Jahre schrumpfte der Absatz auf derzeit rund 360000 verkaufte Exemplare. Das Anzeigenaufkommen tendiert gar gegen null. Den wohl letzten Versuch, das Blatt neu zu positionieren, wagt nun der Boulevard-Rambo Bartels. Der tunkte einst die „Bild“Zeitung gemeinsam mit Hans-Hermann Tiedje in Schwarzrotgold und machte mit schlichten Schlagzeilen wie „Jaaa! Deutschland balla, balla!“ ordentlich Auflage. Nach Querelen mit Tiedje zog Bartels samt 4,5 Millionen Mark Abfindung zum Ossi-Krawallblatt „Super“. Einer der letzten ganz großen Krachmacher also, dessen bloße Nennung in der „Neue Revue“-Redaktion bereits im Früh- Für derartige Stammeleien ist unter anderem Bartels Spezi Reginald Rudorf zuständig, im Hauptberuf Chefredakteur des Medien-Dienstes „rundy“, in dem die neue „Neue Revue“ bereits als „journalistisch perfekt“ gewürdigt wird. Beim Stopfen der „Lücke zwischen ‚Stern‘ und ‚Bunte‘“ (Bartels) hilft neuerdings auch ein Tierarzt aus der Lüneburger Heide, der die Leser darüber aufklärt, ob „Hühner Pipi machen“ und, wenn ja, wie. Auch was galoppiert oder erhaben in der Savanne herumsteht, bekommt viel Platz eingeräumt. So gibt es im hinteren Teil des Heftes Neues aus der Welt der Büffel und Zebras – praktisch für die Großwildjäger unter den Lesern, also zum Beispiel für Bartels selbst. Quasi als Allzweckwaffe fungiert der „Bild“-Fernsehkritiker Josef Nyary, der für „Neue Revue“ exklusiv an und unter der Gürtellinie arbeitet. Da werden aus Fernsehmoderatoren „SpaßSpastis“, die „herumzappeln, als säße Michael Jackson auf dem elektrischen Stuhl“. Für Bartels „köstlichster Lesestoff“, den er der Redaktion schon mal als Lehrmaterial empfiehlt. Die steht dem Krawallkurs von Bartels’ betagtem Freundeskreis eher skeptisch gegenüber. Zum einen fürchtet sie angesichts der wöchentlichen Verbalausfälle die Rache der Promis, zum anderen fühlt sie sich seit Bartels’ Amtsantritt schlichtweg überflüssig. „Der haut zwar jedem hier auf die Schulter, nimmt aber niemanden ernst“, sagt ein Redakteur, dem es zu peinlich ist, sich mit „Neue Revue“ am Telefon zu melden. Bauer Verlag klingt besser. Bartels ficht die Kritik nicht an. Solange er die Krankengeschichte von Raissa Gorbatschowa vor „Bunte“ und Chefredakteur Bartels: „Wie eine Bazooka“ „Gala“ im Blatt hat, kann so Agitation („Grün, rot, tot“), Tier- viel nicht falsch laufen. „Wir haben uns geschichten und Frontberichten von der alten Tittentradition verabschieaus dem „Stutenkrieg zwischen det“, frohlockt der spät berufene MagaVerona & Naddel“, der Ex- und zinmacher und prophezeit gar „ein Revival der gegenwärtigen Gespielin von Popgröße der Wundertüte“. Immerhin ist die steile Abwärtsbewegung der Auflage einem ZickDieter Bohlen. Wo früher die nackten Pärchen von ne- zackkurs gewichen. Ausschläge nach oben benan in den Nahkampf gingen, darf nun signalisieren dem verunsicherten Verlag: die Ex-Grüne Jutta Ditfurth ihren einstigen Das Blatt zuckt noch. „Die Auflage interessiert im Augenblick Parteifreunden „einen Geruch von Verwesung“ attestieren und so für ein bisschen nicht“, macht sich Bartels Mut – in zwei Wirbel im Sommerloch sorgen. Die Dit- Jahren aber will er den Verkauf am Kiosk furth habe „eingeschlagen wie eine Ba- verdoppelt haben. Und wenn er sein Heft zooka“, freut sich Bartels, der in manchen am Kiosk eigenhändig zwischen „Stern“ Randspalten sogar in Reimform gegen die und „Bunte“ legen muss. Oliver Gehrs Regierung schießen lässt: „Morgens pafft Schröder Havanna, abends kreischt die Röstel Banana.“ jahr für „Herzflimmern“ gesorgt hatte, wie sich ein Redakteur schaudernd erinnert. Umso erstaunter war man, als Bartels, statt zu brüllen, so leise sprach, als habe er es mit Schwerkranken zu tun – und im Halfter am Kroko-Gürtel nur ein Handy stecken hatte. Das wahre Erweckungserlebnis aber ereilte die Redaktion wenige Wochen später, als Verleger Heinz Bauer persönlich durch die Räumlichkeiten schritt. „Früher haben wir Staub gedruckt“, sagt Vize-Chefredakteur Armin Zipzer – immerhin mehrere Jahre dabei –, aber nun sei „die Luft wie Superbenzin“. Auch Bartels ist voll des Lobes. „Ich dachte, ich komme auf ein Totenschiff, statt dessen finde ich starke Ruderer vor. Die durften nur nicht, wie sie konnten.“ Nun dürfen sie immerhin Bartels Bekannten dabei zuschauen, wie die das Heft füllen – mit einer Mischung aus politischer W. GRITZBACH ZEITSCHRIFTEN d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 151 Werbeseite Werbeseite Gesellschaft Szene LEBENSHILFE DESSOUS Gelassener warten W ie Wartezeit zu verkürzen sei, darüber wird immer neu nachgedacht, denn Wartezeit gilt als tote Zeit. Dass dem nicht so sein muss, lehrt der Essay „Einer wartet immer“ der Publizistin Emma Godeau (Aufbau-Verlag), deren Pseudonym als Hommage an Flaubert und Beckett zu verstehen ist. Die Autorin, die von sich behauptet, den Weg von einer nervösen zur gelassenen Wartenden hinter sich gebracht zu haben, analysiert typisches Warteverhalten wie hektisches Telefonieren, unkonzentriertes Zeitunglesen oder ergebnisloses Grübeln und sucht Rat in der Literatur, auf der Bühne und im Film. Bei ihren Streifzügen entdeckt sie unterschiedliche Archetypen des Wartens und der darin sich offenbarenden Illusionen: von Flauberts Emma Bovary, die sich durch einen Geliebten Erlösung aus ihrem Ehealltag erhofft, über Tschechows drei Schwestern, die von einem erfüllteren Leben in Moskau träumen, bis zu Becketts Figuren, bei denen Warten zum Selbstzweck geworden ist, da nicht einmal sie mehr wissen, wer der stoisch erwartete Godot sein könnte. Im Italo-Western „Spiel mir das Lied vom Tod“ bringt es Charles Bronson auf den Punkt: „Einer wartet immer.“ Der Essay zeigt, dass sich wenig geändert hat an der Befindlichkeit der Wartenden – trotz Fax, Handy und E-Mail. Warten sollte als Chance begriffen werden, lautet der diskrete Vorschlag der Autorin, denn es biete Gelegenheit, einmal „guten Gewissens nichts zu tun“ – nicht einmal zu warten. Carola Josten, 40, über ihre Berliner Transvestiten-Bar Carolas Treff SPIEGEL: Frau Josten, Sie haben in Berlin eine Bar für Transvestiten eröffnet. Gibt es dafür genügend Publikum? Josten: Wir haben 40 Stammgäste, jedes Wochenende kommen neue dazu. Inzwischen rufen auch Geschäftsleute aus dem Ausland an, die auf Dienstreise in Berlin sind und kurz mal als Transvestit Kraft schöpfen wollen. Manche Besucher trauen sich nicht sofort rein, sondern beobachten das Ganze erst mal skeptisch von außen. SPIEGEL: Die gehen vor dem Lokal auf und ab? Josten: Ja, oder sie bleiben eine Stunde im Auto sitzen, bis ich auf sie zugehe und sie hereinhole. Oft sind es Ehepaare, die das mal ausprobieren wollen. is vor kurzem galt auch für Unterwäsche: Wer schön sein will, muss leiden. Es gab solche, die Männern gefiel, und solche, die Frauen gern auf der Haut trugen. Seit das harte Sprichwort durch das aus den Vereinigten Staaten importierte Zauberwort „Wellness“ abgelöst wurde, bemühen sich Designer, aus Strumpfmaterial Unterwäsche zu entwickeln, die den Körper nicht malträtiert. Der Konkurrenzkampf um die sanfteste Art, den weiblichen Körper zu modellieren, ist hart. Erste Erkenntnis: Nahtlos muss das Körbchen sein und weich wie Samt, dann stellt sich ein „unvergleichliches Wohlgefühl ein“ (Wolford, Österreich) oder einfach ein „neues Gefühl des Wohlbefindens“ (Lovable, Italien). Das Ziel: Wäsche sollte sich so wenig bemerkbar machen, dass man glatt vergisst, dass man sie überhaupt angezogen hat. Deutsche Firmen können in diesem Sinnlichkeitswettbewerb offenbar noch nicht mithalten. Model in „Wolford“-Dessous Der Mann hat seine Kleider mit, möchte aber erst wissen, ob es bei uns eine Garderobe gibt, in der er sich umziehen kann. Die gibt es selbstverständlich. SPIEGEL: Die Ehefrau spielt mit? Josten: Natürlich, meistens schminken die Frauen ihre Männer. SPIEGEL: Und dann kommen zwei Frauen da wieder raus? Josten: Das ist der Sinn der Sache. SPIEGEL: Sie selbst sind Transvestit, aber heterosexuell. Was sagt Ihre Freundin zu Ihrem Hobby? Josten: Die ist noch ein bisschen unsicher auf dem Parkett. Den Liebsten mit Perücke und in Frauensachen zu sehen ist ja auch ziemlich gewöhnungsbedürftig. Josten d e r A. HAUSCHILD / OSTKREUZ Frau schminkt Mann B A. HAUSCHILD / OSTKREUZ H AU P T S TA D T Unvergleichliches Wohlgefühl Gäste bei Carolas Treff s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 153 Gesellschaft S TA S I „Was habe ich verbrochen“? Vor 20 Jahren flohen zwei Familien mit einem selbstgebauten Heißluftballon aus der DDR nach Bayern. Die Stasi rächte sich für die spektakuläre Blamage: Sie schleuste einen Freund des Ballonpiloten in dessen Firma, die wenig später pleite ging. D 154 STERN W. SCHREIBER / INTERNEWS Die Stasi sorgte dafür, dass Dier wegen marode Unternehmen. Und Strelzyk musser kleine Laden am Ende der Ludwigstraße in Bad Kissingen wirbt „Fluchthilfe“ ins Gefängnis kam. Alles, was te sich einen Job suchen, bei dem er mögmit schlichten Angeboten um mit der Ballonflucht zusammenhing, war lichst viel Geld verdienen konnte, um seiKundschaft. Toaster, Rasierapparate und inzwischen zu einem deutsch-deutschen ne Schulden abtragen zu können. 1986 sieKaffeemaschinen stehen dicht beieinander Politikum geworden. Strelzyk („Lasst end- delte er mit seiner Familie ins schweizeriin der Auslage. Auch gebrauchte Fernseh- lich meinen Freund raus“) intervenierte schen Liestal über. Die Männerfreundschaft zu Dier hatte geräte führt Elektro Dier in der Fußgän- bei Bundeskanzler Helmut Schmidt. Der Bad Kissinger CSU-Abgeordnete Eduard sich mittlerweile eingetrübt, die Familien gerzone des bayerischen Kurorts. Hinter der Ladentheke bedient der Chef Lintner, damals deutschlandpolitischer sahen sich kaum noch. Doch dann fiel die selbst. Jürgen Dier, 57, ein Mann in karier- Sprecher der Union, reiste in die DDR, um Mauer, und Strelzyk beantragte Einsicht tem Baumwollhemd und mit grauem Voll- Dier öffentlichkeitswirksam zu besuchen. in seine Stasi-Akte. Anfang 1982 kam Dier frei, wenige MoIrgendwie hatten die Strelzyks immer bart, nimmt sich Zeit für seine Käufer, ohne nate später durfte er in den Westen aus- geargwöhnt, dass die Stasi sie auch im Wesihnen etwas aufdrängen zu wollen. „Man darf sich selbst nicht so wichtig nehmen“, sagt er, „immer unauffällig bleiben und bescheiden.“ So ist auch sein ganzes Leben in der Provinz: Privat fährt Dier einen Audi A4 und bewohnt eine Doppelhaushälfte. Mit der Unauffälligkeit dürfte es jetzt vorbei sein: Die Vergangenheit holt den bescheidenen Geschäftsmann aus dem ostdeutschen Pößneck ein. Dier spielt die Hauptrolle in einer der abenteuerlichsten Episoden der deutsch-deutschen Geschichte – er ist darin Täter und Op- Familie Strelzyk in ihrem Elektroladen (1981), Todesstreifen an der DDR-Grenze, Fluchtballon, Strelzyk-Freund fer in einem. Am 16. September 1979 flohen zwei Fa- reisen. Strelzyk, der sich in der Zwi- ten unter Kontrolle hatte. In den dicken milien mit einem selbstgebastelten Heiß- schenzeit selbständig gemacht hatte, war Bänden der Gauck-Behörde fanden sie die luftballon aus der DDR nach Bayern. Es glücklich. Er stellte ihn sofort bei sich ein. Beweise. Insgesamt sieben Aktenordner Dass er sich damit quasi die Stasi ins hatte das MfS über sie angelegt, alles abwar einer der spektakulärsten Wechsel über die mit Stacheldraht, Minen und Haus geholt hatte, ahnte Strelzyk nicht. geheftet im Operativen Vorgang „Birne“. Die Passagen über „Diener“ trafen DoSelbstschussanlagen gesicherte Grenze. So- Dier hatte sich im Knast dem Ministerium gar Hollywood fand die Geschichte aufre- für Staatssicherheit als Inoffizieller Mitar- ris und Peter Strelzyk wie ein Schlag. In gend und drehte einen Film („Mit dem beiter verpflichtet – das war eine Bedin- Ost-Berlin, Neustadt/Orla, Pößneck und Wind nach Westen“) über den rund 30 Ki- gung für Freilassung und Übersiedlung in Salzwedel, so steht es in den Akten, hatte lometer langen Nachtflug der vier Er- den Westen. Als Deckname wählte er sich sich der IM nach seiner Ausreise immer den Namen „Karl Diener“. wieder heimlich mit seinen Führungsoffiwachsenen mit vier Kindern. Ab 1984 berichtete „Diener“ seinen Auf- zieren getroffen und dabei haarklein über In der Bundesrepublik wurde die waghalsige Flucht zur „Hymne auf die Frei- traggebern in Ost-Berlin über viele Details den geschäftlichen Misserfolg von Strelzyk heit“ („Süddeutsche Zeitung“) hochstili- im neuen Leben des Ballonflüchtlings. Ne- geplaudert. 120 000 Mark Schulden habe benher vermeldete er seinen Führungsof- der Flieger nach Aufgabe des Geschäfts gesiert, die Ballonfahrer waren Helden. Der Osten hingegen empfand den Flug fizieren stolz, er habe es in Strelzyks Elek- habt. Nur Spenden aus der bayerischen in den Westen als üble Schmach. Die trogeschäft bis zum Geschäftsführer ge- Staatskanzlei von Franz Josef Strauß und vom Verleger Axel Springer hätten eine Stasi fahndete nach Helfern und Mitwis- bracht. Wenig später ging Strelzyks Laden plei- Katastrophe verhindert. sern und stieß dabei auch auf Jürgen Auch über intime Einzelheiten wusste Dier. Der Elektrofachmann war ein Freund te – sehr zur Freude der Genossen, die jevon Peter Strelzyk, dem Initiator der des Scheitern eines Flüchtlings im Westen die Stasi Bescheid. IM „Diener“ lieferte Ballonreise. Beide arbeiteten im VEB als Beweis der eigenen Überlegenheit pro- Skizzen von der Wohnung und berichtete pagandistisch feierten. Dier übernahm das über das politische Engagement des DDRPolymer. d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 STERN E. BARTL schäft sitzt, „aktiv den Niedergang des Elektroladens betrieben“? Der Treuebruch des Freundes ist nicht die einzige Hiobsbotschaft, die von den Flüchtlingen in ihrer Stasi-Akte gefunden wurden. Auch Strelzyks Schwester (IM „Sabine Unger“) und sein Bruder (IM „Klaus Voght“) haben sich der Stasi zur Verfügung gestellt. Doch das kann das Ehepaar noch verstehen: Ganz klar, die beiden seien „unter Druck gesetzt worden“. Dier aber habe sich im Westen „ohne eigene Not“ hergegeben, um „eine ganz normale Familie auszuhorchen“. Aber der ehemalige Spitzel wehrt sich. Er könne ja die Enttäuschung verstehen, sagt Jürgen Dier, natürlich habe „ich versagt, moralisch betrachtet“. Doch was ihm nun widerfahre, sei ebenfalls „eine RiesenSchweinerei“; er werde fertig gemacht mit Lügen und Verleumdungen – Methoden, mit denen auch die Stasi gearbeitet habe. Dier vor seinem Geschäft in Bad Kissingen: „Wenn ich dem erzählt hätte, was ich gemacht habe, hätte der mich platt gemacht“ Flüchtlings. Er informierte die Stasi, dass Strelzyk „große Mengen starken Bohnenkaffee trinkt“, wie viel Alkohol er zu sich nahm und dass ihn der Magen plagte. Der Ballonfahrer beabsichtige, nach Südafrika überzusiedeln, wo er mehr Geld verdienen könne. Auch beruhigende Kunde hatte der IM für Ost-Berlin. Strelzyk, so seine Botschaft, sei dank seiner psychisch miserablen Verfassung „nicht in der Lage, Vorträge über seine Ballonprovokation zu halten oder anderweitig öffentlichkeitswirksam in Erscheinung zu treten“. Strelzyk hat den Verrat bis heute nicht verkraftet. Dier, so glaubt er, habe aus „enormer Geldgier“ gehandelt – und um sich an ihm zu rächen. Sein ehemaliger Freund habe ihm immer übel genommen, dass er wegen der Ballonflucht ins Gefängnis gekommen sei. Seit er seine Stasi-Akte gelesen hatte, hat Strelzyk einen bösen Verdacht: dass sich „Diener“ bei ihm eingenistet habe, um ihn im Auftrag der Stasi zu ruinieren. Als Beleg dient ihm dafür ein Plan des Ministeriums für Staatssicherheit. Darin heißt es, dass Dier, „auf die Geschäftstätigkeit der Firma des Strelzyk derartig Einfluss nehmen wird, dass es spätestens im Jahre 1985 zu einem Konkurs mit den ungünstigsten Bedingungen für Strelzyk kommt“. Strelzyk erinnert sich an seltsame Dinge: Nachdem Dier bei ihm angefangen hatte, habe auf einmal Geld in der Kasse gefehlt. Auch hätten sich hohe Benzinrechnungen in den Büchern gefunden, die durch Diers „private Spritztouren“ verursacht worden seien. Strelzyk kehrte nach der Wende in seine thüringische Heimat zurück und arbeitet dort als Vertreter eines Kunststoffmaschinen-Herstellers. Ihn quält nach wie vor die Frage: War die Pleite von Bad Kissingen nur eigenes Unvermögen, oder hat der Mann, der noch heute in seinem alten Ged e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 „Fakt bleibt doch“, dass er wegen Strelzyk zwei Jahre gesessen habe. Im Gefängnis sei auch er massiv unter Druck gesetzt worden. Mitmachen oder seine Familie aufs Spiel setzen, sei damals seine Alternative gewesen. „Ich hatte immer Angst“, beteuert Dier, vor der Stasi im Osten wie im Westen, später auch vor dem Zorn des unberechenbaren Freundes. „Wenn ich dem erzählt hätte, was ich gemacht habe, hätte der mich platt gemacht“, sagt er leise und holt einen Ordner mit Bilanzen und Verträgen aus der untersten Schublade seines Schreibtisches. Die Dokumente sollen belegen, dass nicht er für den Ruin des Ballonfliegers verantwortlich ist. Als er nach Bad Kissingen gekommen sei, habe Strelzyk schon 500 000 Mark Schulden gehabt. Als Geschäftsführer, so sieht Dier die Dinge, hätte er im Namen von Strelzyk einen vernünftigen Vergleich herausgehandelt. Zum Preis von rund 155 100 000 Mark habe er seinem in Not geratenen Arbeitgeber schließlich die Firma abgekauft. Dann kommt der Satz, den (fast) jeder ertappte Stasi-Spitzel sagt: „Was habe ich denn verbrochen? Ich habe ihm nicht geschadet, habe mir eher auf die Zunge gebissen, als ihn in die Pfanne zu hauen.“ Und wie alle Zuträger der Stasi hoffte er, dass die von ihm angefertigten Berichte vernichtet worden seien – vergeblich. Als sich Dier und Strelzyk im Januar 1995 das letzte Mal trafen, war es längst zu spät für ein Versöhnungsgespräch. Über die Unterhaltung in einem Restaurant in Bad Kissingen gehen die Erinnerungen auseinander. Strelzyk berichtet, Dier habe gesagt: „Ich gebe dir Geld, wenn du die Klap- „Das kann zu meinem Ruin führen, ich müsste den Laden aufgeben“ pe hältst.“ Dier behauptet, Strelzyk habe „120 000 von mir verlangt, sonst würde er die Sache publik machen“. Dier zeigt einen Einschreibebrief vom März 1995 vor. „Konzept zu einer außergerichtlichen Rehabilitierung“ lautet die Überschrift auf dem Papier, das „eine wirtschaftliche Lösung für die Stasi-Problematik“ fordert. Darin heißt es: Unter „Einhaltung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit mahne ich ein Schmerzensgeld von 120 000 DM an“. Absender, sagt Dier, sei Peter Strelzyk aus Pößneck gewesen. Zwei Monate später kommt eine letzte Mahnung. Doch Dier „will sich nicht erpressen lassen“. Zwei Wochen nach Ablauf der Frist erscheint im Lokalblatt von Bad Kissingen eine ganzseitige Enthüllungsgeschichte mit dem Titel: „Die Stasi, der IM, der Flüchtling“. Den Klarnamen nennt die Zeitung nicht, doch in Bad Kissingen wissen die Leute, wer gemeint ist. Lintner, der noch im Bundestag sitzt, ist auch ein Opfer Diers geworden. Die beiden freundeten sich an, die Stasi befahl Dier, ihn auszuhorchen. Dennoch ist Lintner zurückhaltend: „Natürlich bin ich enttäuscht, aber ich will ihn nicht verurteilen.“ Bis heute kauft er bei Dier ein. Wirtschaftlich habe er die Attacke von 1995 überstanden, sagt Dier. Doch ihn treibt die Furcht, ob er so etwas noch einmal überlebt: Doris und Peter Strelzyk haben ein Buch* geschrieben, in dem sie mit der Stasi und mit IM „Diener“ abrechnen. Dier: „Das kann zu meinem Ruin führen, ich müsste den Laden aufgeben.“ Dann hätte die Stasi – später Sieg – ihr Plansoll übererfüllt. Udo Ludwig, Georg Mascolo * Doris und Peter Strelzyk: „Schicksal Ballonflucht. Der lange Arm der Stasi“. Ullstein-Verlag, Berlin; 192 Seiten; 39,90 Mark. d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 Gesellschaft ADEL „Mein Vater wollte das so“ J. RÖTTGER / VISUM Sie reitet auf internationalen Turnieren, hofft auf einen Start in Sydney und betreibt Marketing besonderer Art: Prinzessin Haya von Jordanien, Tochter des verstorbenen Königs Hussein, wirbt um Investoren und Touristen für ihr Land. gungen für Einzelreiter. „Trotzdem“, sagt sie, „kann ich es noch schaffen. Ich bin in einer guten Position.“ Natürlich ist sie das. Sie ist schließlich Prinzessin und hat ein paar Probleme weniger als gewöhnliche Athleten. Die Pferde zum Beispiel. Weder der Iraner noch der Ägypter haben bisher eines, das die Olympia-Norm erfüllt. Wenn das so bleibt bis zum 1. Januar 2000, sieht Prinzessin Haya ihre Chance – denn: „Ich habe vier.“ Ein trüber Tag in Mühlen, in der nieselnden norddeutschen Tiefebene; eine braunäugige, 1,58 Meter große Prinzessin mit Armmuskeln wie ein Möbelpacker empfängt im Schockemöhle-Gestüt und erzählt die traurige Geschichte, wie kurz vor Falsterbo ihre Pferde eines nach dem anderen krank geworden sind. Wie sie gezwungen war, den unzuverlässigen „Let’s Talk About“ zu satteln. Wie sie bewiesen hat, dass sie eine Kämpferin ist: „Niemand hat geglaubt, dass ich den Parcours überhaupt zu Ende bringen würde, Paul nicht, meine Familie nicht. Aber ich kam durch.“ Paul: Das ist Schockemöhle. Die Familie: Das ist das jordanische Königshaus. Verständlich, dass Veranstalter sie gern mitreiten sehen. 25 ist sie, sehr hübsch und Tochter des verstorbenen Königs Hussein und seiner dritten Frau Alija; sie hat einen Stammbaum, der rund 1400 Jahre direkt auf den Propheten Mohammed zurückgeht – so jemand macht sich gut im Starterfeld. Seit Anfang der neunziger Jahre reitet die Prinzessin auf internationalen Turnieren; ihr größter Erfolg war eine Bronzemedaille bei den Panarabischen Spielen in Damaskus vor sieben Jahren. „Ihr Charme“, schrieb die „Süddeutsche Zeitung“, „übertrifft ihre reiterlichen Erfolge bei wei- Sportlerin Haya Bint al-Hussein: „Ich bin hier, um Neugierde zu wecken“ gen ist Haya Bint al-Hussein nach Deutschland gezogen. Deswegen trainiert sie im Stall von Paul Schockemöhle im oldenburgischen Mühlen. Deswegen reiste sie mit dem störrischen „Let’s Talk About“ nach Falsterbo, wo die Springreiter des Nahen Ostens um ihre Olympia-Tickets kämpften. Leider holten sich ein Ägypter und ein Iraner die beiden Startberechti* Mit Halbbruder König Abdullah, Königin Rania und Bruder Prinz Ali im Juni. d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 SYGMA A ls Nummer 41 kamen sie ins Ziel: eine kleine, erschöpfte Prinzessin auf einem großen, widerborstigen Pferd. Am ersten Hindernis schon hatte „Let’s Talk About“ verweigern wollen, Nummer zwei und drei nahm er gerade noch so eben, beim vierten blieb er stehen: Sehr eindrucksvoll hat der braune Wallach beim Grand Prix im schwedischen Falsterbo verhindert, dass sich seine Reiterin für Sydney qualifiziert. Da will sie unbedingt hin, zu den Olympischen Spielen im Sommer 2000. Deswe- Prinzessin Haya, Familie* Abgesandte der Monarchie 157 A. RENTZ / BONGARTS unter der Armutsgrenze lebt. König Hussein hat es 46 Jahre lang regiert, nach Patriarchenart – er ließ mehr Bürgerrechte zu als viele Nachbarstaaten, aber er änderte nichts daran, dass der jordanische König das Recht hat, Minister zu ernennen und das Kabinett aufzulösen. Jetzt, nach seinem Tod, ist sein ältester Sohn Abdullah an der Macht. Der verspricht Reformen, verhandelt mit Staatschefs im Westen um Schuldenerlass und wirbt für die ökonomische Zukunft seines Landes. Dasselbe tut seine Halbschwester Haya, nur auf anderem Parkett. Sie wisse, sagt die Prinzessin, dass es „ganz und gar nicht denselben Effekt hätte, wäre einer meiner Brüder in Europa als Springreiter unterwegs“. Immer noch staunen die Leute, wenn sie eine arabische Frau in engen Hosen auf einem Pferd sitzen sehen, Reiterin Haya, Hengst „Come On“: „Er passt auf mich auf“ das hat sie häufig erlebt: „Die sagen: Sie müssen aber tem.“ Aber das macht nichts. Nicht viel modern sein. Wie kommt es, dass Sie das dürfen?“ jedenfalls. Man darf alles Mögliche, als Tochter aus Sie hat einen anderen Job als Kollegen wie Ludger Beerbaum oder Franke Sloot- königlich haschemitischem Haus. Sie war haak oder Helena Weinberg, die gewinnen sechs, als sie von ihrem Vater das erste Pony wollen und können. Bei ihr geht es nicht bekam; mit zwölf ritt sie das erste Pferd aus bloß um Oxer und Wassergräben. Haya der Schockemöhle-Zucht, später wollte sie Bint al-Hussein ist nicht nur Athletin, son- Dressurreiterin werden, bis sie merkte, „dass dern eine Hoheit, die sich nützlich macht: das zu langweilig ist für einen arabischen „Ich bin hier, um Neugierde zu wecken. Hitzkopf wie mich“. So entschied sie sich Auf mich, auf mein Land, auf alles, was für den Springsport. Ihr Vater hatte nichts dagegen, nur sagte er: „Gut. Aber wenn du Geschäftsleute interessiert.“ Sie ist nicht das erste Mitglied eines Herr- es machen willst, dann mach es richtig.“ Richtig, das hieß: als Abgesandte der heischerhauses, das sich um einen Platz für Olympia bewirbt, aber sie tut das mit neu- mischen Monarchie. Sie war in England er Intention. Wenn Albert von Monaco in zur Schule gegangen, hatte in Oxford Poliseinen Vierer-Bob stieg oder Anne von tik, Philosophie und Wirtschaft studiert Großbritannien aufs Military-Pferd, dann und zog nach Irland zum Trainer Paul Dardiente das ihrem Vergnügen am Sport, sonst ragh, um professionelle Springreiterin zu nichts. Der Fall Haya Bint al-Hussein liegt werden: „Weil es ein kleines Land ist und anders. Jordanien braucht PR, braucht In- ein sehr traditionelles. Und weil Darragh vestoren und Handelspartner, braucht das auf mich aufpassen konnte – ein Mann aus Erstaunen über diese orientalische Prin- guter Familie, der mir sagen konnte, mit zessin, die in Europa auf Tour geht und welchen Leuten man sich einlässt im Proüberall mit reizendem Lächeln verkündet: fi-Sport und mit welchen besser nicht. Mein Vater wollte das so.“ „Jordanien ist ein sehr moderner Staat.“ Stil. Eleganz. Guter Sitz im Sattel. Das Jordanien – das ist dieses Stück Land im Vorderen Orient, eingeklemmt zwi- vor allem war wichtig in den Augen des schen Saudi-Arabien, Israel, Syrien und Trainers Darragh. Kopf hoch, Fersen runter, dem Irak; abhängig von irakischem Erd- Hände ruhig halten, das predigte er seiner öl, von israelischem Wasser und vom Wohl- Schülerin. Wenn sie vom Pferd fiel, war das wollen der USA. Ein armes Land, mit nicht so schlimm – solange das auf damen7 Milliarden Dollar Auslandsschulden, mit hafte Weise geschah. Sie sollte nicht siegen offiziell 14 Prozent Arbeitslosen und lernen damals, sondern vor allem gut ausmit einer Bevölkerung, die zu 30 Prozent sehen auf dem Pferd. Sie habe immer ge158 d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 wusst, sagt Prinzessin Haya, „wenn man gewinnen will, dann muss man die Ärmel aufkrempeln und kann nicht dauernd daran denken, eine Lady zu sein. Vielleicht klappt es ja sogar – aber vielleicht endest du auch auf dem Boden, mit dem Gesicht im Matsch“. Sie kauft Pferde auf, gründet ihr „Team Harmony“, das finanziert wird von einer Gruppe jordanischer Geschäftsleute, aus der Tourismusbranche vor allem – Unternehmer, die sich durch die reitende Prinzessin PR versprechen. Sie besucht Turniere, wird bestaunt und befragt und als exotische Neuheit bewundert, aber dann reicht es bald nicht mehr, dass sie als schlichte Teilnehmerin dabei ist. „Es wurde Zeit“, sagt sie, „dass ich nicht nur mitreite, sondern weiter vorn mitmischen kann.“ Deshalb Schockemöhle. Der hat ja nicht nur Stars wie Sloothaak und Beerbaum ausgebildet, sondern kann auch mit Amateuren: mit den Saudi-Arabern zum Beispiel, die hat er zur Olympiareife gebracht. Im Schockemöhle-Stall wird sie nicht umhegt und beschützt wie im Palast und später auch in Irland noch, Prinzessin hier, Prinzessin da. Mühlen, sagt Haya Bint alHussein, sei „der härteste Trainingsort in Europa“, und Paul Schockemöhle sagt: „Ich habe von Anfang an klar gemacht, dass ich mich nicht um alles kümmern kann. Es gibt keine Sonderbehandlung. Das hat sie akzeptiert.“ Jetzt also Deutschland. Das ist für Jordanien „eines der wichtigsten Länder“, ein bedeutender Markt. Haya Bint al-Husseins Job ist es, Kontakte herzustellen zu jordanischen Hotelbesitzern oder Schiffsfrachtunternehmern; wie andere für Milchschokolade oder Armbanduhren, so wirbt sie für ein ganzes Land. Vermitteln will sie, so sagt sie, „dass ich nicht anders bin als die anderen Frauen in meinem Land“. Schwierig, dieses Deutschland. Da spukt immer noch das Bild der Prinzessin aus 1001 Nacht durch die Köpfe, da wundert man sich wortreich, dass keine verhüllte Person mit Scheich und Schleier auftritt. Da soll sie dauernd erzählen, wie sie gerade kochen, putzen und bügeln lernt in ihrer Mühlener Zweizimmerwohnung. Und dann kommen ständig diese Fragen über die Frauenrechte in ihrem Land. Jordanien, sagt sie dann immer, hat doch längst schon ein Gleichberechtigungsgesetz verabschiedet. Frauen dürfen wählen und Auto fahren, sie selbst hat den LkwFührerschein und ist Ehrenvorsitzende der Transportgewerkschaft, und früher hat sie in der Jugendliga Fußball gespielt. Frauen „können alles werden, was sie wollen“, betont die Prinzessin, „im Gericht, im Senat, in der Politik“. Aber es gibt noch Überreste aus dem traditionellen Stammesrecht, den Artikel 340 zum Beispiel, der sich auf die „Tötung aus Ehrengründen“ bezieht. Diese Vorschrift lässt einen Mann mit milder Gesellschaft trifft, so hat sie beschlossen, das als Vorteilzu betrachten: „Jetzt kann mir niemand mehr vorwerfen, dass ich nicht stilistisch perfekt geritten bin.“ Sie habe, so sagt sie, mit „Come On“ einen Kompromiss ausgehandelt: „Ich lasse ihn ausschlagen. Er lässt mich reiten.“ Bei der Olympia-Qualifikation im Juli in Falsterbo war der Hengst leider nicht einsatzfähig, bei den Panarabischen Spielen im August, die zu Ehren des verstorbenen König Hussein in Jordanien stattfanden, war er auch noch nicht so weit. So muss sie zufrieden sein mit dem vierten Platz der Jordanier im Nationenpreis. Sie muss hoffen, dass „Come On“ bald wieder fit ist, denn ein bisschen Erfolg braucht sie schon. Wenn sie Sydney vollends abschreiben muss, wenn sie bei den wichtigen Ereignissen nur kläglich abschneidet, dann wird sie ihr wichtigstes Ziel nicht erreichen. Und das ist, sagt Haya Bint al-Hussein, „dass ich bekannt werde als Frau aus meiner Region, die es wirklich geschafft hat im internationalen Sport. Und nicht als eine Prinzessin, die gescheitert ist“. Barbara Supp P. BISCHOFF Strafe oder straffrei davonkommen, wenn perten fanden. Obendrein hat er eine üble er seine Frau beim Ehebruch erwischt und Gewohnheit: Er schlägt aus. tötet. Er schützt auch einen Bruder, der „Das macht Spaß“, sagt die Reiterin und seine Schwester umbringt, weil sie verge- lächelt fein. „Jeder sagte: Das ist verrückt. waltigt worden ist. Der Artikel soll jetzt, möglicherweise, abgeschafft werden, Frauengruppen kämpfen seit langem darum, Prinzessin Haya kommentiert das lieber nicht: „Das ist ungeheuer kompliziert.“ Sie darf, das weiß sie, „nicht Partei sein“. Sie muss sich zurückhalten, muss aufpassen, dass sie die Menschen zu Hause im Palast nicht zu sehr erschreckt. Sie darf nicht zu europäisch werden, sie hat sich ja schon verändert. „Ich bin nicht mehr so höflich und abwartend, sondern kann eine ausgewie- Hussein-Besuch im Schockemöhle-Stall*: „Mach es richtig“ sene Nervensäge sein, wenn ich etwas brauche, und man gibt es Und jetzt?“ Jetzt schwärmen die anderen mir nicht.“ mit ihr vom perfekten Galopp des SchimGelegentlich gestattet sich die Prinzessin mels, von der Sprungkraft, der eleganten kleine Rebellionen, die Vorliebe für „Come Statur.Von seinem Charakter, sagt die PrinOn“ beispielsweise, von dem fast sämtliche zessin, der so sanftmütig sei: „Er passt auf Fachleute ihr abgeraten hatten. Das ist mich auf.“ Was das lästige Gezappel bedieser 14-jährige Schimmelhengst, ein riesiges Tier, das „überhaupt nichts für * Tochter Haya, Vater König Hussein, Trainer Paul eine Amazone“ sei, wie wohlmeinende Ex- Schockemöhle im April 1998 in Mühlen. Werbeseite Werbeseite Ausland Panorama OSTTIMOR Chaos auf der Kaffee-Insel AP ndonesiens Armeeführung will nun doch „unter Umständen einer schnellen Entsendung von Uno-Friedenstruppen“ nach Osttimor zustimmen. Truppen dafür stehen schon bereit: In der Nähe der australischen Hafenstadt Darwin trainieren seit Wochen Eliteeinheiten für einen möglichen Einsatz auf der unruhigen Insel. Bis nach Dili, der Hauptstadt Osttimors, sind es von Darwin gerade 90 Flugminuten. Noch bevor das Ergebnis des Referendums bekannt gegeben wurde – 78,5 Prozent der Bevölkerung stimmten für die Unabhängigkeit –, mussten gut 500 Pro-indonesische Miliz im Straßenkampf unbewaffnete Uno-Beobachter mit ansehen, wie pro-indonesische Milizen die Insel erneut mit Terror „Wir werden es rückgängig maüberzogen. Inzwischen bereitet die indonesische Armee eine chen.“ Viele der Milizionäre große Evakuierungsaktion für bis zu 250 000 Menschen vor. sind ehemalige Soldaten der Schon vor der Abstimmung hatten die Milizen mit Bürgerkrieg indonesischen Armee, die seit auf der Kaffee-Insel gedroht – falls sich eine Mehrheit der gut 1975 in einem blutigen Krieg Getöteter Einwohner in Dili 800 000 Einwohner für die Lostrennung von Indonesien ent- die Unabhängigkeitsbewegung scheide. „Das Referendum ist nichts anderes als eine Ver- niederzuschlagen versuchten. Wenn Osttimor selbständig wird, schwörung der Uno, um den indonesischen Staat zu Fall zu müssen sie damit rechnen, dass sie für ihr brutales Vorgehen zur bringen“, erregte sich Milizensprecher Basilio Dias Araujo: Rechenschaft gezogen werden. E U R O PA Polen setzt auf den Kompromiss Der polnische Wirtschaftsminister Janusz Steinhoff, 53, über die Forderung seines Landes nach Sonderregelungen für den EU-Beitritt soll die Übergangsfrist immerhin 18 Jahre betragen. Mit freier Marktwirtschaft hat das nichts zu tun. Steinhoff: Der Bodenpreis in Polen ist sehr niedrig und entspricht bei weitem nicht dem tatsächlichen Wert. Dies ist der einzige Grund für diese relativ lange Frist. SPIEGEL: Herr Minister, wann wird Polen Mitglied der EU? das Jahr 2003. Jede Verschiebung dieses Termins würde negative Reaktionen der polnischen Bevölkerung auslösen. SPIEGEL: Polen verlangt zahlreiche Sonderregelungen und Übergangsfristen. Der einheitliche Binnenmarkt kann so nicht funktionieren. Steinhoff: Wir brauchen in einigen Bereichen Übergangsfristen. Konsequent zum Beispiel liberalisieren wir den Außenhandel, obwohl unser Defizit 1999 fast elf Milliarden US-Dollar betragen wird. Wir finanzieren so 440 000 Arbeitsplätze in den EU-Ländern. SPIEGEL: Für den freien Erwerb von landwirtschaftlichen Böden in Polen R. KLIMKIEWICZ / FORUM Steinhoff: Wir erwarten den Beitritt für Präsident Kwaśniewski, Steinhoff* SPIEGEL: Baut Polen Maximal-Positionen auf, um der EU Konzessionen beim freien Personenverkehr abzupressen? Steinhoff: Polen führt die Verhandlungen mit dem Willen zum Kompromiss. * Mit Opel-Generaldirektor Gary Cowger (r.), bei der Eröffnung einer Opel-Fabrik in Gliwice 1998. d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 Ich halte die Furcht vor einer Welle billiger polnischer Arbeitskräfte für unberechtigt. SPIEGEL: Wie auch die Ängste Polens über den Ausverkauf seines Bodens? Steinhoff: Ich will das nicht ausschließen. Beide Seiten fürchten sich vor großen Problemen. SPIEGEL: Es gibt sie gewiss in der unproduktiven polnischen Landwirtschaft, in der immer noch 25 Prozent der Erwerbstätigen des Landes beschäftigt sind? Steinhoff: Die Umstrukturierung unserer Landwirtschaft wird umso schneller vorangehen, je größer das Engagement der EU-Länder ist. Der polnische Staat kann seine Bauern auch nicht annähernd so stark unterstützen, wie die EU-Bauern durch Brüssel subventioniert werden. Wir wollen als EU-Mitglied voll gleichberechtigt sein. SPIEGEL: Das wird zu teuer. Die EUKommission argumentiert, der polnische Landwirt produziere unterhalb des Weltmarktpreises, brauche also die direkten Einkommensbeihilfen nicht. Steinhoff: Das akzeptieren wir nicht. Polens Bauern dürfen nicht diskriminiert werden. Polen muss die gleichen Subventionen erhalten wie alle anderen. 161 REUTERS I Panorama FRANKREICH Gerangel um Carlos F SIPA PRESS rankreich, Österreich und Venezuela streiten um den in Paris zu lebenslanger Haft verurteilten Terroristen Ilich Ramírez Sánchez alias Carlos. Am Donnerstag entscheidet die französische Justiz, ob sie den Venezolaner an Österreich ausliefert – das ihn wegen der Geiselnahme der Opec-Ölminister 1975 in Wien vor Gericht stellen will. Die Franzosen wären den lästigen Gefangenen gern los, können aber mit Rücksicht auf die Öffentlichkeit einen zweifachen Polizistenmörder nicht ohne weiteres an einen anderen Staat weiterreichen. Carlos selbst will unbedingt in Frankreich bleiben. Er hofft auf seinen größten Fan – Venezuelas Staatspräsidenten Verletzter Terrorist Klein nach Anschlag auf das Opec-Gebäude 1975 Terrorist Carlos (1998) dient kolumbianischen Guerrilleros, Drogenhändlern und Paramilitärs als Korridor zum Schmuggel von Waffen und Kokain. Washington fürchtet, dass die Guerrilleros den Kanal blockieren könnten – durch den auch Tankschiffe aus Venezuela Öl an die amerikanische merikanische Kongressabgeordnete Westküste befördern. Bislang überwaund Drogenexperten drängen darchen die USA das Grenzgebiet von ihauf, auch nach der Übergabe des Panarer Luftwaffenbasis Howard in Panama, makanals Ende des Jahres Soldaten in die vertragsgemäß im November gedem mittelamerikanischen Land zu staschlossen werden soll. Der Wunsch der tionieren. Sie sollen verhindern, dass Amerikaner, auch nach dem 31. Dezemder kolumbianische Bürgerkrieg auf ber vor Ort zu bleiben, könnte Panamas Panama übergreift. Das Grenzgebiet Präsidentin Mireya Moscoso in BeUSA drängnis bringen. Moscoso, die erst 1000 km vorige Woche das höchste Staatsamt übernahm, hat Nachverhandlungen Mexiko Atlantischer mit den Amerikanern stets ausgeOzean schlossen. Nun will die neue PräsiPanamakanal dentin den US-Militärs angeblich Landepisten in Panama vermieten. PA N A M A USA Amerikaner wollen Bleiberecht am Kanal Wahlkampfhilfe für Hillary Clinton Panama Bürgermeister Giuliani, Autor Koch N Kolumbien Brasilien M. GONZALEZ / LAIF Pazifischer Ozean FOTOS: N. BERMAN / SIPA PRESS (li.); D. OTFINOWSKI A Panamakanal 162 d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 ew Yorks ruppiger Bürgermeister Rudy Giuliani, republikanischer Kandidat für die Senatorenwahl im November 2000, verspürt neuen Gegenwind. Nachdem mit First Lady Hillary Clinton eine ernsthafte Konkurrentin in den Kampf um den wichtigen Posten einsteigen will, hat sich nun Ex-Bürgermeister Ed Koch massiv in den Wahlkampf eingeschaltet. Das New Yorker Original, das die Stadt von 1978 bis 1989 regierte, warf vorige Woche sein neuestes Buch auf den Markt. Titel: „Giuliani: Ein abscheulicher Mensch“*. Es enthält eine Sammlung unterhaltsamster Beschimpfungen, die Kolumnist Koch für die Boulevard-Blätter „New York Post“ und „Daily News“ verfasste. Einst hatte UPI Ausland UNO Hugo Chávez, der dem Landsmann per Brief seine Solidarität versicherte und ihn heimholen will. Chávez setzt Paris mit Protesten zu: Die Franzosen hätten Carlos 1994 im Sudan einfach gekidnappt. Er dürfe zudem nicht in Wien vor Gericht, weil das exterritoriale Opec-Gebäude nicht österreichischem Recht unterliege. Die Wiener bedrängen ebenfalls Paris: Sie wollen von Carlos wissen, welcher Staat hinter dem Anschlag 1975 stand. 24 Jahre nach der Tat kennen sie als Verantwortliche nur den Rädelsführer Carlos und den Deutschen Hans-Joachim Klein. Carlos-Anwältin Isabelle CoutantPeyre zum SPIEGEL über das Gerangel um ihren Mandanten: „Nichts weiter als politische Machenschaften.“ Schuldenberg in Milliardenhöhe D en Vereinten Nationen droht Zahlungsunfähigkeit, wenn die säumigen Mitglieder nicht endlich ihre ausstehenden Beiträge – fast drei Milliarden Dollar – überweisen. Die Weltorganisation selbst schuldete Ende 1998 insgesamt 73 Ländern, die Truppen und Material für Friedensmissionen bereitstellten, über 870 Millionen Dollar. Im Sommer mussten sich Uno-Vertreter Klagen über Zahlungsverzögerungen, so beim Aufbau einer Zivilverwaltung im Kosovo, gefallen lassen. Mit Abstand größter Schuldner (aber auch Beitragszahler) ist seit Jahren die US-Regierung. Ende Juli stand sie noch immer mit rund 1,7 Milliarden Dollar in der Kreide. Das sind etwa zwei Drittel der gesamten UnoAußenstände. Es folgten Japan, Russland und Brasilien. Deutschland ist nur noch mit rund acht Millionen Dollar Altlasten aus DDR-Zeiten im Debet. Die Mitgliedsbeiträge setzen sich aus Geldern für den normalen Uno-Haushalt, für Tribunale und für Friedenseinsätze zusammen. Manche Staaten, wie Frankreich, löhnen nur für das „regular budget“ pünktlich. Die USA machen ihre ordnungsgemäßen Zahlungen schon seit Jahren von einer Reform der Uno abhängig, insbesondere von drastischen Personaleinsparungen und einer Neubemessung der Beitragssätze. Sie wollen ihren Anteil von 25 auf 20 Pro- Kandidatin Clinton Koch gegen den schwarzen Mayor David Dinkins gestänkert und sich für dessen Herausforderer Giuliani stark gemacht: Dinkins habe die Stadt verkommen lassen. Bald jedoch ging er auf Distanz zu dem Mann, der die Stadt mit eiserner Faust regiert und Bürgerrechtler zu Protestmärschen provoziert. Giuliani ist heute für Koch ein kleinlicher Tyrann, „der seine Gegner zerstören will und als Kind wahrscheinlich Fliegen die Flügel ausgerissen hat“. Insgesamt: „ein Versager als Bürgermeister“. Nach letzten Umfragen liegt Giuliani hinter Hillary Clinton zurück. * Ed Koch: „Giuliani: Nasty Man“. Barricade Books, New York; 14,95 Dollar. Palästinas Fahne über Ost-Jerusalem? K 1700 USA Japan Russland Brasilien Frankreich Argentinien 296 139 61 28 22 Finanzierung der Uno Die größten Schuldner der Uno Ausstehende Beträge in Millionen Dollar Angaben gerundet USA Japan 25,0% 19,9% Deutschland 9,8% 25,7% übrige Länder Spanien 2,6% Frankreich 6,5% 5,4% Italien 5,1% Großbritannien von PLO-Chef Jassir Arafat bevorzugten Vorort Abu Dis werden sich lediglich einige Ministerien etablieren. Seine Residenz könnte der Palästinenser-Präsident im heftig umstrittenen Orienthaus nehmen. Im Gegenzug verzichtet Arafat bis auf weiteres auf die einseitige Ausrufung eines Palästinenser-Staates. Die Vereinbarungen über Jerusalem sind in dem Abkommen vom Freitag aber noch nicht schriftlich fixiert. urz vor Beginn des jüdischen Sabbats haben Israelis und Palästinenser doch noch eine Einigung über das Zusatzprotokoll zum Wye-Abkommen erzielt. In letzter Minute wurden die zwei Hauptstreitpunkte geklärt: Statt der geforderten 400 werden nun 356 palästinensische Häftlinge aus israelischen Gefängnissen entlassen; Ende Oktober beginnt die Endphase der Friedensgespräche. Auch im Streit um Jerusalem fand sich offenbar ein Kompromiss: Über der Aksa-Moschee und der Grabeskirche wird die palästinensische Fahne gehisst, verwaltet aber wird der islamische Ostteil der Stadt gemeinsam mit den Israelis. In dem Aksa-Moschee A. BRUTMANN REUTERS NAHOST zent kürzen – vor allem zu Lasten der EU-Staaten. Deutschland liegt schon jetzt mit 9,8 Prozent auf Platz drei hinter Japan. Inzwischen hat der US-Senat seine Bereitschaft signalisiert, in den nächsten drei Jahren gut 800 Millionen Dollar nachzuzahlen, doch ist die endgültige Entscheidung im Repräsentantenhaus umstritten. Zumindest ein Teilbetrag bis zum Jahresende würde, wie schon öfter in der Vergangenheit, Washington vor Sanktionen schützen: Länder, deren Schulden zwei Jahresbeiträge überschreiten, müssen eine Einschränkung ihres Stimmrechts fürchten. d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 163 Ausland INDIEN Ein Mann für eine Milliarde Dramatische Vorzeichen für die Wahlen im volkreichsten demokratischen Land der Welt: Nach dem Sieg im Grenzkrieg gegen Pakistan schwappt eine nationalistische Welle über Indien. Erhält die Aufrüstung mit Atomraketen Vorrang vor dem Kampf gegen die Armut? E unuchen kandidieren, „weil in der indischen Politik erkennbar beide Geschlechter versagt haben“. Verbrecher schicken aus dem Gefängnis ihre Verwandten ins Rennen, um „alle juristischen Fehlurteile dieses Landes zu korrigieren“. Gurus bewerben sich um einen Parlamentssitz mit dem Versprechen, „jedem Interessierten das Schweben“ beizubringen. Die alteingesessene Janata-Dal-Partei will, wie schon 1996, Ornithologen anheuern, die mehreren hundert Papageien politische Slogans eintrichtern sollen, auf dass die bunten Vögel die wahre Botschaft bis ins letzte Dorf tragen. Neue Gruppen streiten um das attraktivste Symbol für den Stimmzettel, das die 48 Prozent Analphabeten beeindrucken könnte – gerade hat sich bei der staatlichen Kommission jemand die Krawatte als Kennzeichen gesichert. Große Parteien wie die BJP und der Kongress treten mit ihren traditionellen Logos an, mit Lotusblüte beziehungsweise Hand. Sie sind auch sonst weiter: Sie werben mit eigenen Websites im Internet. Wahlkampf in Indien, dem bevölkerungsreichsten und gleichzeitig ärmsten demokratischen Staat der Welt: Das ist Vishnu und Video, Schlangenbeschwörung und Software; das ist eine Mischung von Auftritten politischer Clowns und seriöser Gladiatoren, die in einer karnevalistischen Show um die Gunst ihres Volkes buhlen. In diesen Tagen sind 606 Millionen Inder zum Urnengang aufgerufen. Sie werden aus Sicherheitsgründen nicht gleichzeitig, sondern vom 5. September bis zum 3. Oktober – an fünf aufeinander folgenden Wochenenden – aus über 4000 Kandidaten 543 Abgeordnete für die Lok Sabha, das Unterhaus, wählen. Ausgezählt werden die versiegelten Umschläge erst nach der letzten Stimmabgabe. Spannung bis zum Countdown: Nach dem 6. Oktober dürfte klar sein, welche Regierung das Milliardenvolk der Inder ins nächste Jahrtausend führt. 164 Der Wahlsieger von Neu-Delhi muss die Welt diesmal besonders interessieren: Er könnte die Weichen für den ersten Krieg zwischen zwei Atommächten stellen. Seit ihren erfolgreichen Tests im Mai 1998 gehören Indien und sein Erzfeind Pakistan zu den Nuklearstaaten. Sie haben sich gerade einen erbitterten konventionellen Grenzkrieg geliefert. Wie der Abschuss eines pakistanischen Spionageflugzeugs vor rund vier Wochen durch die indische Armee zeigt, kann der Konflikt jederzeit wieder aufflammen. Im eisigen Himalaja verläuft die „heißeste“ Grenze der Welt. Wahlhelfer schwärmen aus. Sie bringen die eng bedruckten Zettel und Urnen mit Ponys in die abgelegenen Täler von Kaschmir. Im Kanalland des südlichen Kerala benutzen sie schlanke Boote, in der Thar-Wüste Landrover. Sie kämpfen sich durch den Dschungel auf den AndamanenInseln und die Slums der Megastädte Bombay und Kalkutta. Manchmal geht es nur noch zu Fuß weiter: In einsamen Regionen von Madhya Pradesh ist der Weg zum Wahllokal bis zu 55 Kilometer weit. Indiens Ministerpräsident Atal Behari Vajpayee, Auch 1999 sind in Indien wieder alle Zutaten vorhanden für ein elektrisierendes Spektakel, für einen Zirkus Nationale. Doch diesmal wollen die Funken nicht so sprühen, Veranstaltungen vor allem der kleineren Parteien sind schlecht besucht. Mit Apathie dürfe das nicht verwechselt werden, meint der Sozialwissenschaftler George Mathew in Neu-Delhi. Er hält es für möglich, dass die Wahlbeteiligung 62 Prozent wie im Jahr 1998 erreicht – eine Quote, von der Politiker in den USA nur träumen können. Es sind schon die dritten Parlamentswahlen in drei Jahren, und das ermüdet Gute Aussichten für Vajpayee Indischer Babyboom SITZVERTEILUNG im indischen Unterhaus BEVÖLKERUNG in Millionen Wahl 1998 274 BJP und Allianz 145 1999 KongressPartei und Allianz 1266,8 1500 1477,7 1250 Prognose CHINA 124 1528,9 sonstige 1000 543 gewählte Sitze 1999 Prognose im August Allianz: BJP und 12 weitere Parteien 1999 322 132 bis bis 336 146 Allianz: KongressPartei und 5 weitere Parteien sonstige 70 bis 80 Parteien s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 750 INDIEN 500 554,8 357,6 1950 60 70 80 90 2000 10 Quelle: „India Today“ d e r 998,1 Quelle: Uno 20 30 40 2050 250 FOTOS: REUTERS (li.); AP (re.) Konkurrentin Sonia Gandhi (mit Tochter Priyanka): Vishnu und Video, Schlangenbeschwörung und Software im Wahlkampf selbst die wahlerprobten Inder: Die Menschen lassen sich nicht mehr mit jedem Seiltrick in die Arena zerren. Viel spricht dafür, dass die meisten ihre Entscheidung diesmal frühzeitig getroffen haben. Gute Nachricht ist das nur für einen – für den Regierungschef, der nach gerade 13 Monaten Amtszeit im April eine Vertrauensabstimmung im Parlament verlor und seither ein Interimskabinett führt. Glaubt man den Berechnungen des Nachrichtenmagazins „India Today“, steht Atal Behari Vajpayee mit seiner hinduistisch-nationalistischen BJP vor einem Triumph. Die Meinungsforscher trauen der BJP im Verbund mit ihren Alliierten 330 Unterhaussitze zu. Das wäre ein Fünftel mehr als bei ihrem knappen Wahlerfolg im März 1998. Der oppositionelle Kongress mit seinen Verbündeten verliert nach diesen Voraussagen einige Mandate und dürfte im neuen Parlament nur noch mit 140 Abgeordneten vertreten sein. Die anderen Parteien, unter ihnen die Kommunisten, müssen damit rechnen, dass sich ihr Delegiertenanteil stark reduziert. Sie kommen kaum mehr auf 80 Sitze. Der Premier ist weit beliebter als seine Partei; selbst ein Viertel derer, die die Opposition wählen, würden ihn gern als Regierungschef behalten. Intellektuelle und Analphabeten, Frauen wie Männer aller Altersstufen feiern ihn wie einen Nationalhelden. Selbst Skeptiker schwören auf den Politiker, den sie früher für einen gefährlichen Fundamentalisten hielten. Da- mals grassierte die Angst, eine Hasswelle gegen die Muslime und andere Minderheiten würde unter seiner Führung über das Land schwappen und den säkularen Staat zerstören. Wer ist dieser Atal Behari Vajpayee, 72, der es vom Schattenmann zum Supermann der indischen Politik brachte? Hat er sich so gewandelt – oder sein Volk? Drei Gründe könne man für die enorme Popularität des Premiers nennen, für dessen neuerdings unumstrittenen Status als seriöser Staatenlenker, sagen indische Kommentatoren: Kargil, Kargil und Kargil. Das ist der Ort im Himalaja, den islamistische Freischärler vor vier Monaten mit der logistischen Hilfe der pakistanischen Armee überfielen. Er liegt in dem Teil des umstrittenen Kaschmir, der von Indien verwaltet wird. Eine von der Uno seit 1948 geforderte Volksabstimmung in dem hauptsächlich von Muslimen bewohnten Gebiet hat Delhi immer verhindert. Pakistan hat schon zwei ausgewachsene Kriege wegen Kaschmir gegen Indien verloren. Dass die Kampfhandlungen diesmal – trotz ihrer Dauer von über 60 Tagen, trotz mehr als 1300 Opfern – relativ begrenzt blieben, ist Vajpayee zu verdanken. Er zeigte sich entschlossen bei der Rückeroberung der Gebiete und widerstand der Versuchung, Landgewinne zu machen, als die militärische Überlegenheit Indiens klar wurde. Es war ein Sieg ohne Triumphgeheul: So sah es jedenfalls nach außen hin aus. d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 Innenpolitisch freilich schürte die BJP den patriotischen Taumel. Ein Erfolgsrezept, das jetzt für die Regierung aufzugehen scheint. Indien ist zwar nicht im Wahlfieber, aber es kocht vor Nationalstolz – ein Land mit gefährlich erhöhter Temperatur. Ganz Jodhpur steht Kopf: Er kommt. Die staubige Metropole im Bundesstaat Rajasthan ist in ein Meer von Safrangelb getaucht, die Farbe der Hindu-Partei. „Unsere Nation, unsere Armee, unser Premier: Dreieinigkeit“, steht auf Wahlplakaten. Sie zeigen nie eine Mannschaft, sondern immer nur den Ministerpräsidenten. Vorredner heizen die Spannung an und versprechen, der hohe Gast werde pünkt- Intellektuelle und Analphabeten feiern den Premierminister als Nationalhelden lich ankommen. Kaum einer nimmt das ernst, in Indien ist auf wenig so viel Verlass wie auf Verspätung. Doch dann ertönt tatsächlich auf die Minute genau Hubschrauberlärm, Türen werden aufgerissen, ein Raunen geht durch die Menge. Vajpayee steigt aus dem Helikopter herab wie ein Deus ex Machina. Winkt huldvoll in die Menge. Befiehlt als erstes, dass die in der Hitze wartenden Fotografen Wasserflaschen bekommen – ein Gott auch der kleinen Dinge. Vajpayee ist kein Volkstribun, der die Massen aufpeitscht. Er wirkt eher wie der 165 DPA J. LEIGHTON / NETWORK / AGENTUR FOCUS muslimischen und den 23 Millionen christlichen Bürgern Indiens machte diese religiöse Spielart des Nationalismus Angst. Vajpayee praktiziert als Regierungschef Toleranz, wo das Parteimanifest Intoleranz predigte. Er verurteilte vereinzelte Übergriffe gegen Christen wie Muslime scharf. Er stellte den provozierenden Bau eines Tempels in Ajodhja – eine Forderung früherer BJP-Parteiprogramme – auf unbestimmte Zeit zurück. An dieser mehreren Religionen wichtigen Stätte hatte 1992 ein aufgehetzter Hindu-Mob eine Moschee abgerissen und eine anschließende Gewaltorgie gegen Muslime provoziert. Pragmatisch schob Vajpayee auch das Wirtschaftsprogramm seiner Partei beiseite. Er pocht nicht mehr auf „Swadeshi“, die Eigenständigkeit Indiens um jeden Preis. Mit diesem ökonomischen Konzept sollte nur ausgesuchten Firmen Zugang zum indischen Markt verschafft werden. Stattdessen schraubte der Regierungschef den Protektionismus zurück und öffnete die Pakistanische Kanonen in Kaschmir: 62 Tage Krieg mit über 1300 Opfern Wirtschaft in vorsichtigen Schritten nette Onkel von nebenan, in dessen Obhut auch den Multis. Nachbarn gern ihre Kinder lassen. Der Die heimische InLehrersohn hat sich frühzeitig für Politik dustrie zeigte sich interessiert. 1942 wurde er wegen Agitain Branchen wie tion von der britischen Kolonialmacht inder Computertechhaftiert, 1957 schaffte der studierte Jurist nik durchaus konerstmals den Sprung ins Parlament von kurrenzfähig. Der Delhi. Berühmt wurde Vajpayee durch sei„Sensex“, der Akne Gedichte – kaum einer schreibt und tienindex der Börse spricht ein so gepflegtes Hindi wie er, savon Bombay, schoss gen indische Intellektuelle. seit Beginn des JahIn Jodhpur zischelt es vom Podium, als res um fast 50 Prohätte der Redner gerade seine zweiten zent in die Höhe. Zähne verloren: Das ist Teil des VajpayeeVajpayee würdigt Geheimnisses. Er spricht so undeutlich und bei seinem Wahlso leise, dass sich alle anstrengen müssen, kampfauftritt die ihn zu verstehen. Und er lässt Gedanken in politische Konkurder Luft hängen, die das Publikum zu Ende denken soll – ein Meister-Rhetoriker, der Indischer Atombombentest (im Mai 1998): „Eine Lektion erteilen“ renz keines Wortes. Erst eine Minute bedie Menschen in seinen Bann ziehen kann. Wie er etwas sagt, ist allerdings eindrucks- vorragende Ernte. Indien kann sich selbst vor er wieder entschwebt, macht er eine ernähren. Die staatlichen Devisenreserven Bemerkung, die sich auf die Opposition voller als das, was er sagt. Der Premier beginnt und endet mit den haben beachtliche 31 Milliarden Dollar er- münzen lässt: „Die großen Führer für dieses Land werden auch in diesem Land „Märtyrern“ von Kargil, die im Kampf ge- reicht. Aber wie so viele indischen Politiker geboren.“ Eine Spitze gegen die einzige gen Pakistan „so heldenhaft ihr Leben ließen“. Das Vaterland werde sich auch verspricht dann auch Vajpayee das Blaue Person, die Vajpayee bei den Wahlen noch künftig „mit allen Mitteln“ gegen Angrif- vom Himmel: Trinkwasser für alle Dörfer, gefährlich werden könnte: Sonia Gandhi, fe verteidigen. Sein zweites großes Thema Elektrizität, Schulen. Wie er das schaffen die neue Kongress-Präsidentin mit dem ist Stabilität: Nur er sei im Stande, eine will, verschweigt er. Ideologisches klam- magischen Familiennamen – gebürtig aus starke und dauerhafte Regierungskoalition mert er ganz aus, von den Grundsätzen Orbassano bei Turin. Gandhi, 52, tourt wie ihr großer Gegenzu bilden und damit den Kreislauf der seiner Hindu-Partei ist nicht die Rede. Kein Wunder, denn Vajpayee ist als spieler in den Tagen vor der Wahl durch schnellen Neuwahlen zu durchbrechen. Von einer Alleinregierung der BJP ist nicht Regierungschef deshalb erfolgreich, weil Rajasthan. Der Terminplan für den „Sonia die Rede – der Premier gibt sich als er ziemlich genau das Gegenteil dessen Blitzkrieg“ (so heißt der Kongress-Wahlmachte, was seine BJP immer gefordert kampf parteiintern) ist noch hektischer als Brückenbauer und Integrationsfigur. bei der Konkurrenz. Mehr HelikopterVajpayee muss die Wahrheit nicht allzu hatte. „Hindutva“ hieß der Begriff für die Vor- Stopps, weniger Redezeit. 40000 Menschen sehr verbiegen, wenn er von „rosigen ökonomischen Aussichten“ spricht. Nachdem herrschaft der Hindu-Kultur in der indi- haben sich in der Wüstenstadt Sikar zu noch im letzten November die rapide an- schen Nation. Das BJP-Manifest las sich ihrem Empfang versammelt; das ist einsteigenden Zwiebelpreise die Menschen wie ein fundamentalistischer Gegenent- drucksvoll, aber nicht überwältigend. Sie kommt im Sari, ganz Landeskind. auf dem Land so aufbrachten, dass sie bei wurf zum weltlichen und multikulturellen Regionalwahlen die BJP abstraften, ist die Staatskonzept der Nehrus und Gandhis, Und gibt sich auch so, obwohl ihre KenntInflation 1999 unter zwei Prozent gefallen. das Indien bisher geprägt und zusammen- nisse des Hindi alles anderes als perfekt Dank eines guten Monsuns gab es eine her- gehalten hat. Vor allem den 120 Millionen sind: „In Indien habe ich geheiratet, hier 166 d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Ausland starben meine Schwiegermutter Indira Gandhi und mein Mann Rajiv ihren Opfertod. Jeder Blutstropfen sagt mir: Das ist mein Land.“ Die Witwe erobert die Sympathien des Publikums – aber deshalb noch lange nicht seine Stimmen. Viele wollen nicht begreifen, warum eine politisch unerfahrene, in Italien geborene Frau, die bei einem Sprachkurs in England zufällig den Spross der Nehru-Gandhi-Dynastie kennen gelernt hat, Indiens Ministerpräsidentin werden soll. Gegen den übermächtigen Premier Vajpayee hat sie es schwer. Sie versucht es mit einem schier unmöglichen Seiltrick: Sie preist die „Märtyrer“ und Indiens siegreiche Armee, verurteilt gleichzeitig ihren Konkurrenten aufs Schärfste. Vajpayee sei für die hohe Anzahl der indischen Opfer verantwortlich, weil der militärische Geheimdienst den Angriff der Guerrilleros nicht früher entdeckt hätte. Sicherheitsexperten halten den Vorwurf sogar für berechtigt. Für den Wahlkampf taugt er denkbar schlecht: Die Nation feiert ihren Sieg, sie will nichts hören von eigenen Fehlern. Und welchen Trost soll es den Frauen der Gefallenen bieten, dass ihre Männer ihr Leben wegen der Schlafmützigkeit der eigenen Landsleute verloren? Sie spricht leise, gehetzt, fast scheu, als erfülle sie eine Pflicht, die ihr aufgelegt Die indische Nation feiert ihren Sieg über Pakistan und will nichts hören von eigenen Fehlern wurde. Sie will die Armen von ihrer Not befreien, Brunnen graben und Schulen bauen lassen. Selbstverständlich verspricht auch sie Stabilität. Kein Wort dazu, wie sich ihre Wirtschaftspolitik von der Vajpayees unterscheiden würde. Nach 18 Minuten Ansprache ist alles vorbei. Höflicher, aber distanzierter Beifall begleitet sie zu ihrem Hubschrauber. Sonia Gandhi hofft wohl, dass die notorisch unberechenbaren indischen Wähler in letzter Minute die Seiten wechseln. Wie eine Siegerin wirkt sie nicht. Wenn sie bei ihren Auftritten mal liebevoll, mal Hilfe suchend zu ihrem Sohn Rahul und zu ihrer Tochter Priyanka blickt, ist zu spüren, dass sie diese Tortur nur der Kinder wegen auf sich nimmt: Als Kongress-Präsidentin kann sie den politisch interessierten Youngstern den Weg ebnen. Sie selbst bewies bisher wenig Gespür für die Windungen und Winkelzüge der indischen Politik. Da war ihr Streit mit Sharad Pawar, dem mächtigen Ex-Chefminister des Bundesstaates Maharashtra. Sie konnte ihn nicht in den Reihen der Partei halten und muss nun fürchten, dass Pawar ihr mit seiner neu gegründeten Partei wichtige Stimmen abspenstig macht. Dann die peinliche Anbiederung bei Jayalalitha, der zwielichtigen 168 d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 Ex-Chefministerin von Tamil Nadu. Im bevölkerungsreichsten Bundesstaat Uttar Pradesh schließlich, der mit seinen 150 Millionen Einwohnern 85 Unterhaus-Mandate vergibt, fand die Kongress-Vorsitzende gar keine nennenswerten Partner. Weil sie nicht wusste, in welchem Wahlkreis sie kandidieren sollte, ließ sie sich nach langem Zögern in zweien nominieren. Meinungsforscher halten für möglich, dass sie sowohl im nordindischen Amethi wie auch im südlichen Bellary scheitert. Würde landesweit direkt zwischen ihr und Vajpayee als Premier gewählt, läge die Kongress-Kandidatin um bis zu 30 Prozentpunkte zurück. Ein Erdrutschsieg der BJP könnte gefährliche Folgen haben. Zwar hat sich Vajpayee als Gemäßigter gezeigt, aber die dubiosen Parteiideologen hinter dem Premier werden im Falle eines totalen Triumphes nicht mehr lange stillhalten. Sie verlangen neue Prioritäten in der indischen Politik: eine sofortige Aufrüstung mit Nuklearraketen, die zu Land und zur See in permanenter Einsatzbereitschaft gehalten werden sollen. Eines ihrer Sprachrohre ist die Zeitschrift „Panchjanya“, die jetzt öffentlich den Abwurf von Atombomben auf den Feind forderte: „Wenn Pakistan nicht hört, müssen wir ihm eine Lektion erteilen. Wozu haben wir sonst die Bombe?“ Die Scharfmacher haben Vajpayee einen Spitznamen verpasst: „die Maske“. Als das wahre Gesicht der BJP sehen sie sich selbst. Sie haben die militante Hinduisierung Indiens nur hintangestellt, solange sie in Koalitionen eingebunden sind. Die Ideologen schleusen ihre Leute als Abteilungsleiter ins Innenministerium. Sie schreiben an neuen nationalistischen Schulbüchern. In Uttar Pradesh, wo die BJP regiert, hatte der Marsch in die Intoleranz schon begonnen: An den dortigen Schulen sollte den Kindern ein hinduistisches Gebet aufgezwungen werden – auch den 17 Prozent Muslimen. Die Radikalen zählen auf L. K. Advani, den Innenminister. Er gilt als großer Gegenspieler des Premiers, obwohl er öffentlich jede Meinungsverschiedenheit mit ihm leugnet. Hinter den Kulissen drängt Advani den Premier, er solle doch um Himmels willen nicht Indiens Atomwaffenprogramm international einschränken lassen. Vajpayee scheint bereit, zumindest den Teststoppvertrag zu unterschreiben. Er hat die einmalige Chance erkannt, die eine veränderte weltpolitische Konstellation Indien bietet: Die USA, langjährige Verbündete Pakistans, sind nach der Aggression im Mai offensichtlich zu einem dramatischen Schwenk in Richtung Indien bereit. Washington sieht Islamabad in das Fahrwasser der radikalen Islamisten abgleiten. Die US-Regierung sucht in Asien auch wegen der immer selbstbewusster auftretenden Volksrepublik China einen mächtigen Partner. Bill Clinton hat sich in Delhi für Anfang nächsten Jahres zum Staatsbesuch angesagt, Indien winken Milliardenkredite – wenn es sein Atomwaffenprogramm einfriert und auf die Stationierung von Raketensystemen verzichtet. Indien könnte einen solchen Schub von außen dringend gebrauchen. Das Volk wächst so schnell, dass ein sechsprozentiges Wirtschaftswachstum wie 1998 kaum mehr als ökonomischen Stillstand bedeutet. Ein Meilenstein ist erreicht: In diesen Tagen wurde nach Uno-Berechnungen der milliardste Inder geboren. Weil Indiens Geburtenrate noch immer viel höher ist als die im bevölkerungsreichsten Staat der Erde, könnte es um das Jahr 2040 sogar mehr Inder als Chinesen geben. Noch leben 74 Prozent auf dem Land, und so spricht viel dafür, dass das Milliarden-Baby in einem Dorf zur Welt kam – in einem Kaff wie Khetolai. Die einzige asphaltierte Straße nach Khetolai geht in einen staubigen Feldweg über, am Horizont ein paar Steinhäuser, ein Brunnen, eine Schule. Zwischen halbnackten Kindern traben Ochsen und heilige Glühende Erde sollte vom Testgelände gekratzt und durch ganz Indien geschickt werden Kühe. Khetolai in Rajasthan ist ein bisschen besser dran als ein indisches Durchschnittsdorf. Die hier lebende Glaubensgemeinschaft der Bishnois ist umweltbewusst; die Ur-Grünen verbieten das Abhacken von Bäumen und haben so ihre Wasserversorgung gesichert. Khetolai ist aber aus anderen Gründen ein ganz besonderer Ort, eine Front-Siedlung: Keine zehn Kilometer von hier detonierte am 11. Mai 1998 die unterirdische Atombombe. In den Häusern sind noch viele Risse zu sehen. Die Armee hat die Menschen an dem Tag, als die Erde bebte, mit vorgehaltenen Waffen auf den Dorfplatz getrieben. Keiner erklärte den Bauern, was vor sich ging. Sie bekamen später einige der Schäden ersetzt – 25 Prozent der Reparationskosten, insgesamt 70 000 Mark für 2000 Menschen. Dass fast alle im Dorf seit den Detonationen unter Hautkrankheiten leiden, scheint niemanden zu interessieren. Die Regierung war so stolz, dass glühende Erde vom Testgelände gekratzt und durch ganz Indien geschickt werden sollte. Bauer Hanuman Ram berichtet von missgebildeten neugeborenen Kälbern. Er ist ein Patriot, aber ohne Illusionen: „Was da passiert ist, war vielleicht gut für unser Land, aber für uns eine Katastrophe.“ Erich Follath d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 169 REUTERS AP Polizeiwache vor dem Parlament, Präsident Chávez: Kein Platz mehr für die Abgeordneten VENEZUELA Orkan Hugo Staatspräsident Chávez entmachtet das Parlament und die Justiz. Sein Volk ist begeistert. J eden Donnerstag erteilt der Comandante Lebenshilfe. Im Fernsehprogramm „Von Angesicht zu Angesicht mit dem Präsidenten“ nimmt Hugo Chávez, 45, Anrufe der Zuschauer entgegen. Ein Mann klagt über die bestechlichen Zöllner; eine Lehrerin bittet um Versetzung; eine Mutter will ihren Sohn für eine Operation nach Kuba schicken. Der Präsident lässt alle Anrufe notieren und verspricht Hilfe. Sechs Stunden pro Woche ist der Comandante auf Sendung. Neben der Fernsehshow hat er noch ein Radioprogramm und eine eigene Zeitung. In allen Medien führt „Rambo“, wie er sich gern nennen lässt, einen Kreuzzug für die „Wiederauferstehung Venezuelas“. Wenn das rote Klage-Telefon neben ihm nicht klingelt, liest er aus der Bibel, singt patriotische Lieder und schimpft auf „korrupte Minister“. Zum Leitmotiv hat sich der ehemalige Troupier den Kampf gegen die Vetternwirtschaft gewählt. Wie ein Wirbelsturm fegt der von den heimischen Medien als „Orkan Hugo“ titulierte Militär durch die Institutionen der Republik. Nach seinem überwältigenden Sieg bei den Wahlen zu einer Verfassunggebenden Versammlung Ende Juli hat Chávez damit begonnen, systematisch alle Gewalt im Staate an sich zu reißen. Das fiel ihm nicht schwer. Denn 120 der 131 Mitglieder zählenden „Constituyente“ sind seine Parteigänger. 170 Zunächst unterstellte er das Oberste Gericht einer Kontrollbehörde. Aus Protest trat dessen Präsidentin zurück. Sie sagte zum Abschied, das Gericht begehe „Selbstmord, um nicht ermordet zu werden“. Dann entmachtete die Verfassunggebende Versammlung per Notverordnung das Parlament. Für die Abgeordneten sei kein Platz mehr, beschieden die ChávezAnhänger die Politiker. Ob sie ihr Mandat behalten dürften, hänge vom Ergebnis einer Volksbefragung ab. Die Gesetze macht nun allein die Chávez hörige Truppe. Der nächste Schritt zur totalen Machtübernahme ist schon vorbereitet: Die Constituyente arbeitet an einer Notstandsverordnung, die alle Staatsangestellten zwingen soll, sich einer dauernden „Überprüfung durch das Volk“ zu unterziehen. Und die Mehrzahl der Venezolaner findet das offenbar richtig. Umfragen zeigen, dass Chávez Rückhalt bei 70 Prozent seiner Bürger hat. Die Bevölkerung ist der als korrupt verschrieenen Parteien, die seit dem Ende der Diktatur 1958 das Land regieren, überdrüssig. Politiker und Staatsbeamte haben den reichen Ölstaat zielstrebig ausgeplündert. Über 80 Prozent der Venezolaner verfügen heute nicht mehr über die Mittel, ihre Grundbedürfnisse zu finanzieren. Als Anführer einer Gruppe rebellierender Offiziere hatte Chávez 1992 versucht, den damaligen Präsidenten Carlos Andrés Pérez zu stürzen. Doch Pérez entkam durch einen Seitenausgang aus dem Präsidentenpalast, Chávez wurde zu zwei Jahren Haft verurteilt. Im Gefängnis plante Chávez dann seine friedliche Machtübernahme. Während der Haft wuchs sein Mythos. Im Dezember 1998 wurde er zum Präsidenten gewählt. Wie Perus Staatsoberhaupt Alberto Fujimori, der die demokratischen Institutionen seines Landes ebenfalls bald nach seiner Wahl im kalten Putsch vom April 1992 aushebelte, will auch Chávez viele Jahre an d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 der Macht bleiben. Doch anders als der Peruaner, der die Wirtschaft mit einer neoliberalen Rosskur sanierte, kann Chávez nicht auf die Unterstützung durch die Unternehmer bauen. Seit seinem Amtsantritt sind die Investitionen dramatisch zurückgegangen. Mit einem Gesetzesvorhaben, das Enteignungen für „soziale Zwecke“ vorsieht, hat der Präsident die Wohlhabenden und potenziellen Arbeitgeber gegen sich aufgebracht. Hunderttausende Stellen gingen seit Februar verloren. Weil er den Grenzverkehr ins Guerrilla-umkämpfte Nachbarland Kolumbien stark einschränkte, hat der venezolanische Außenhandel empfindliche Einbrüche erlitten. Chávez zieht unermüdlich gegen den Neoliberalismus zu Felde. Er trifft damit einen empfindlichen Nerv: Nach einem Jahrzehnt der Stabilisierungs-Experimente schlägt das Pendel in den meisten lateinamerikanischen Ländern nun zurück. Von Ecuador bis Argentinien herrscht Arbeitslosigkeit; breite Schichten der Bevölkerung rutschten in Armut ab. Gebannt blicken die Regierenden deshalb nach Caracas. Wenn Chávez sich durchsetzt, könnte er Nachahmer in Lateinamerika finden. Brasiliens Arbeiterführer Luís Inácio Lula da Silva ergeht sich ebenso in Lobeshymnen auf den Venezolaner wie Kolumbiens gefürchteter Guerrillaführer Manuel Marulanda, genannt „Sicherer Schuss“. Auch zu Fidel Castro pflegt Chávez exzellente Beziehungen. In seinen Reden appelliert der Populist an den volkstümlichen Nationalismus der Venezolaner und ihre Verehrung für den Befreiungshelden des Halbkontinents vom Joch der Kolonialherren, Simón Bolívar. Nun möchte er sein Land in „Bolivarianische Republik Venezuela“ umtaufen. Doch das geht selbst seinen Anhängern zu weit. Sie sagen, die Neubeschriftung aller staatlichen Publikationen und Symbole sei viel zu teuer. Jens Glüsing Werbeseite Werbeseite W. v. CAPPELLEN / REPORTERS / LAIF Ausland Europäisches Parlament in Brüssel: „Das Letzte, was wir gebrauchen können, ist eine hässliche Überraschung“ E U R O PA Gelbe Karte für Prodi Risiko-Kandidaten, von peinlichen Affären umwittert, erschweren den Start der neuen EU-Kommission. G rillfest der Demokratie: Drei Stunden lang heizten die Abgeordneten des Europäischen Parlaments (EP) am vergangenen Mittwoch dem belgischen Kandidaten Philippe Busquin ein. Und immer wieder tat der Anwärter auf das Forschungsressort in der neuen EU- Kommission den Mitgliedern des Industrieausschusses kund, dass er keine Ahnung habe – weder von seinem künftigen Fachgebiet noch von den unappetitlichen Schmiergeld- und Korruptionsaffären seiner wallonischen Sozialisten. Busquins Hände begannen sichtbar zu zittern, als er stets nur wiederholte: Die Vorgänge seien ihm unbekannt oder sie seien von ihm nicht zu verantworten, er sei nicht angeklagt worden. Dann musste der Belgier vor die Tür, die Parlamentarier fällten ihr Urteil in Klausur. Die Sprecher der Konservativen, der Grünen, der Liberalen wie der Unabhängigen hatten schwerste Bedenken. „Eine ganz klare Mehrheit“, berichtete der CDU-Abgeordnete Werner Langen, habe sich gegen die Berufung Busquins gewandt. Aber der Ausschussvorsitzende, der spanische Sozialist Carlos Westendorp, weigerte sich beharrlich, in seinem Bewertungsbrief an die Parlamentspräsidentin von einer Mehrheit gegen den Parteifreund Busquin zu berichten. Stattdessen schrieb er, „viele“ Ausschussmitglieder hätten Busquins Befähigung angezweifelt, „viele andere“ hätten ihn jedoch für kompetent gehalten. Deshalb könne er keine Stellungnahme abgeben. Der Anwärter sei also nicht förmlich abgelehnt worden, folgerte am Donnerstagabend der designierte Kommissionspräsident Romano Prodi, als er im Kreise von Vertrauten seine Chancen kalkulierte. Laut EU-Vertrag kann das Plenum des Europäischen Parlaments nur die ganze Kommission akzeptieren oder ablehnen, nicht aber einzelne Kommissare. Sicher ist sich Prodi seiner Sache dennoch nicht, obgleich bislang keiner der Nominierten durchfiel. Die vom Europapar- REUTERS ter ihres Ministeriums unrechtmäßig an EU-Subventionen für den Flachsanbau bedienten. Barsch und arrogant wies die konservative Kommissionsnovizin jegliche politische Verantwortung von sich: Ein Untersuchungsausschuss zu Hause habe ihr Freispruch erteilt. Doch sie verschwieg, dass jenes Votum von Madrid mit denkbar knapper Mehrheit durchgepeitscht wurde. Der spanische Generalstaatsanwalt ermittelt jetzt. „Die Europäer haben die Skandale einfach satt. Das Letzte, was wir gebrauchen können, ist eine hässliche Überraschung in einigen Monaten oder Jahren“, warnt die linksliberale Abgeordnete Lousewies van der Laan aus den Niederlanden. An diesem Montag wird ihr Landsmann, der designierte Binnenmarktkommissar Frits Bolkestein, von den Ausschüssen befragt – auch er ein Mann mit Vergangenheit. Bolkestein, ein bekennender Anti-Europäer, hatte noch vor wenigen Jahren sein Amt als liberaler Fraktionsvorsitzender im Haager Parlament mit einer bezahlten Tätigkeit als Pharma-Lobbyist verquickt. Er hatte die niederländische Gesundheitsministerin Els Borst um den Gefallen gebeten, ein bestimmtes Blutdruckmittel Kandidat Busquin, designierter Präsident Prodi auf die Positivliste der Lasten der Vergangenheit Krankenkassen zu setzen. „Davon können wir noch eingeholt wer- Bolkestein rechtfertigte sich mit der Deviden“, warnt die Vorsitzende des EP-Haus- se, was in einer Demokratie nicht verboten haltskontrollausschusses, die deutsche sei, sei erlaubt. Ein verschwundenes Protokoll belastet Christdemokratin Diemut Theato. 30 AltAffären hängen beim EU-Betrugsbekämp- den Amtsantritt des neuen Handelsfungsamt an, und einige davon reichen tief kommissars und französischen Sozialisten in die Sphäre der kommenden Top-Leute Pascal Lamy. In dem Papier geht es um einen Ablasshandel in Lamys Ära als der Gemeinschaft. Die künftige Verkehrs- und Energie- Kabinettschef des früheren Kommissionskommissarin Loyola de Palacio geriet als präsidenten Jacques Delors. Im Januar 1994 ehemalige spanische Landwirtschaftsminis- war einer französischen Exportfirma, die terin in den Verdacht, sie habe wegge- bei Butterbetrügereien mit Russland und schaut, als sich die Familien hoher Beam- Polen aufgefallen war, großzügig die fälliA. ROMANELLI / MODUS lament durchgesetzten Hearings haben, demokratisch vorbildlich für andere Parlamente, Klarheit geschaffen: Auch in der neuen Kommission sind Risikokandidaten. Es wird kein Start, frei von den Lasten der Vergangenheit. Selbst wenn er den Belgier in seiner Equipe halte, rechnete der Italiener, bleibe ihm eine Mehrheit mit den Stimmen der Sozialisten, der Grünen und auch der Liberalen. Der irische Liberalen-Fraktionschef Pat Cox hatte Prodi signalisiert, man werde der Mannschaft „die gelbe Karte, nicht aber die rote“ zeigen, trotz Busquin. Die deutschen Christdemokraten und die britischen Tories würden ihm wohl die Zustimmung verweigern; vielleicht bekomme er, so Prodi, etwa die Hälfte der konservativen Fraktion auf seine Seite. ge Strafgebühr reduziert worden. Zuvor hatten französische Politiker zu Gunsten der Firma in Brüssel interveniert, das Kabinett Lamy riss die Sache an sich. Dem Chefjuristen der Kommission wurde seinerzeit ein Schlüssel aus dem Büro entwendet, ein anderer Mitarbeiter fand seine Computerprogramme zerstört vor. Die EU-Betrugsbekämpfer ermitteln noch im Butterfall, vergangene Woche wurde auch der Rechnungshof eingeschaltet. Lamy will selbst in die Angelegenheit nie verwickelt gewesen sein. Er habe lediglich delegiert, sagt er – zuständig waren immer die anderen. Mit solchen Argumenten wand sich bisher auch Busquin aus den belgischen Parteienfinanzierungsskandalen. Ausgerechnet er soll nun das von Affären gebeutelte Forschungsressort der Französin Edith Cresson übernehmen und über einen Etat von fast vier Milliarden Euro gebieten. Zu seiner Zeit als wallonischer Minister waren engste Mitarbeiter in der sogenannten Inusop-Affäre ins Visier geraten, unter anderem wegen Scheingutachten eines Forschungsinstituts, über die sich sozialistische Politiker in Belgien finanzieren ließen. Weil Verjährungsfristen verstrichen waren, wurde Busquin juristisch nicht belangt. In den nächsten Monaten wird ein neuer Prozess gegen den Schatzmeister der sozialistischen Partei in der Schmiergeldaffäre der Rüstungskonzerne Agusta und Dassault eröffnet. Busquin übernahm 1992 den Vorsitz der wallonischen Sozialisten, sein Schatzmeister ein schwarzes Millionen-Konto bei einer Luxemburger Bank. Dass dort Korruptionsgelder geparkt waren, will keiner gewusst haben. Im Fall Busquin sind auch Prodi Zweifel gekommen. Ins Wochenende nach Italien nahm er Videokassetten von der dreistündigen Anhörung des Belgiers mit. Gelangt er zu tief greifenden neuen Erkenntnissen über Mängel des Kandidaten, will er die belgische Regierung um den Austausch ihres Kommissionsvertreters ersuchen. Dirk Koch, Sylvia Schreiber Ausland RUSSLAND Märchen für den Kindergarten K reditklau, Geldwäsche, Kumpanei von Staat und Kriminellen. Den Internationalen Währungsfonds (IWF) focht das alles nicht an. Trotz der Affäre um die Schweizer Baugesellschaft Mabetex, die Korruption im Kreml und die Milliarden-Transfers über die Bank of New York will IWF-Generaldirektor Michel Camdessus die nächste Kredittranche von 4,5 Milliarden US-Dollar für Russland pünktlich anweisen. Die schweren Vorwürfe, so sagt Camdessus, müssten erst mal bewiesen werden. Das hört Außenminister Igor Iwanow gern. Er hat sein Urteil zur Sache längst gefällt: „Bestimmte Kreise, die nicht wollen, dass unser Land seine ihm angemessene Rolle als Großmacht in dieser Welt spielt“, hätten eine monströse Schmierenkampagne inszeniert. Russische „bisnesmeni“ fanden die Reaktionen ihrer Politiker noch viel zu lasch. Milliardär Boris Beresowski, Mitglied des Jelzin-Clans, der selbst im Verdacht millionenschwerer Durchstechereien steht, ließ über seine Zeitung „Kommersant“ erklären: „Nach der sowjetischen Gefahr kommt jetzt eine neue Mode auf – die russische Mafia“, mit diesem Klischee lasse sich „gutes Geld verdienen“, wenn nur lange genug behauptet werde, die „russische Mafia und russisches Unternehmertum seien ein und dasselbe“. Das Volk hat – unbeschadet aller bitteren Erfahrungen mit der Moral der Obrigkeit – keine Freude an der KremlSchelte aus dem Westen. Im Jubeljahr des 200. Geburtstags ihres Nationaldichters und -helden Alexander Puschkin mag es sich an dessen Credo halten: „Ich verachte mein Vaterland natürlich von Kopf bis Fuß. Aber es ist mir unangenehm, wenn ein Ausländer mein Gefühl teilt.“ * Mit Bank-of-New-York-Großaktionär Bruce Rappaport (Mitte). 174 REUTERS Die Kreml-Nomenklatura reagiert auf den Moskauer Milliarden-Skandal: mit Propaganda gegen die Ermittler. Ermittler Wolkow, Kollegin Del Ponte Ein Zimmer voller Akten Dabei sind gewisse Grundtatbestände unter Kennern nicht strittig. Es darf als verbürgt gelten, dass gigantische Summen illegal aus Russland abgeflossen sind und dass die russische Zentralbank einen Teil ihrer Devisenreserven auf der Kanalinsel Jersey parkte. Kein Zweifel auch, dass die Einlassungen des schwer belasteten KremlGeschäftsführers Pawel Borodin zur Sache „Märchen für den Kindergarten“ sind, wie Staatsanwalt Georgij Tschuglasow dem SPIEGEL sagte. Wenn in der Schweiz ein Konto auf seinen Namen existiere, so hatte Borodin erklärt, dann müsse es wohl ein Unbekannter für ihn eröffnet haben. US-Finanzminister Larry Summers ist – anders als Camdessus – für eine harte Gangart. Er tönte letzte Woche vollmundig, er werde angesichts der Vorwürfe gegen den Kreml und russische Regierungsbeamte weitere Kredite an Russland nicht mehr befürworten – zumindest nicht ohne ausreichende Sicherheiten. Schweizer Bankern geht das amerikanische Handling der Affäre gegen den Strich. „Die Amerikaner sind doch eine scheinheilige Bande“, schimpft der Chefsyndikus einer Züricher Bank, „jahrelang kam das meiste kriminelle Geld aus den USA zu uns – und selbst heute ist der Anteil noch beträchtlich.“ Die Bank of New York hat, nachdem die Bombe geplatzt war, ihre Londoner Osteuropa-Referentin Lucy Edwards wegen angeblicher Fälschung von Unterlagen gefeuert. Frau Edwards hatte Konten der von ihrem Ehemann geleiteten Firma Benex Worldwide geführt, auf denen die Milliarden angekommen und von wo sie weitergeleitet worden waren. Benex-Kompagnon Semjon („Sewa“) Mogiljewitsch, 53, soll mit gleich zwei Industrie- und Mediengruppen verbunden sein, die sich gegenseitig bekämpfen: mit dem Jelzin-Finanzier Boris Beresowski und mit der Firmengruppe „Sistema“, die zum Teil Eigentum der von Oberbürgermeister Jurij Luschkow geführten Moskauer Stadtverwaltung ist. Nikolai Wolkow, Ermittler für Sonderangelegenheiten der russischen Generalstaatsanwaltschaft, war vorige Woche bei seiner Kollegin Carla Del Ponte in Bern, um sich ein Zimmer voller Akten in Sachen Mabetex anzusehen. Sein Kollege Tschuglasow, der erheblich besser im Stoff steht und der für den Fall eigentlich zuständig ist, durfte nicht mit. Er bekam einen Tag vor dem geplanten Abflug in die Schweiz Reiseverbot. Sicher scheint: Die Affäre hat ihren Höhepunkt noch vor sich. Das US-Magazin „Newsweek“ zitierte vorige Woche eine Geheimdienstquelle, nach der Mogiljewitsch auch Geschäftsbeziehungen zu Ex-Premier Tschernomyrdin und zu Ex-Vizepremier Tschubais unterhalten hat. Am Freitagabend teilte der vom Dienst suspendierte Generalstaatsanwalt Juri Skuratow mit, er sei im Besitz von Dokumenten, aus denen hervorgehe, dass Jelzin und seine Töchter Geld von Mabetex erhalten hätten. Kreml-Chef Jelzin hat dies stets bestritten. Jörg R. Mettke, Außenminister Iwanow, Chef Jelzin*: Kampagne inszeniert? d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 Fritjof Meyer, Wolfgang Reuter Werbeseite Werbeseite Ausland TÜRKEI „Ein neues Zeitalter“ Irtemçelik, 49, Abgeordneter der Mutterlandpartei (Anap), ist türkischer Staatsminister für EuropaAngelegenheiten und Menschenrechte. Jetzt ist der Zeitpunkt, das Steuer herumzureißen. SPIEGEL: Eine Naturkatastrophe als Beginn einer politischen Katharsis? Irtemçelik: Absolut. Für uns hat ein neues Zeitalter begonnen. Ich würde die Auswirkungen dieses Erdbebens fast mit dem Einschlag der Atombomben in Hiroschima und Nagasaki vergleichen.Wir wissen nun, dass wir unsere Probleme – auch im Südosten der Türkei – jenseits von politischem Opportunismus lösen und unser Land auf den Stand der modernen Zivilisation bringen müssen. Dabei brauchen wir Europas Hilfe, aber auch unsere Unabhängigkeit. SPIEGEL: Der Erfolg der Nationalisten bei den Wahlen im April war doch ein deutliches Signal des Protestes gegen Europa. Irtemçelik: Die Europäische Union hat uns auf dem Gipfel von Luxemburg 1997 ohne Angabe von Gründen zurückgewiesen … SPIEGEL: … und Sie fühlten sich in Ihrer nationalen Ehre gekränkt. Irtemçelik: Wir waren verletzt, ja geschockt, doch diese Gefühle lassen nach. Die Erdbebenhilfe hat dazu enorm beigetragen, sie war ein sehr positives Signal. SPIEGEL: Herr Minister, geologisch ist Anatolien nach dem Erdbeben vom 17. August Europa zwei Meter näher gerückt. Hat sich die Türkei auch politisch nach Westen bewegt? Irtemçelik: Das kann man wohl sagen. Die humanitäre Hilfe, die Großzügigkeit und die emotionale Wärme der Europäer haben uns sehr berührt und beeindruckt. Eines unserer Sprichwörter heißt: „Der Türke hat keinen Freund außer dem Türken.“ Dieses Vorurteil ist in den vergangenen Wochen gründlich revidiert worden. SPIEGEL: In Deutschland gibt es eine Debatte, ob Berlin ausreichend Hilfsleistungen bewilligt hat. Irtemçelik: Alle westlichen Länder, auch Deutschland, haben getan, was sie konnten. Das lässt sich von unseren muslimischen Nachbarn nicht im gleichen Maße sagen, auch wenn einzelne – Ägypten, selbst Syrien, Iran und der Irak – vorbildlich waren. SPIEGEL: Die Probleme zwischen Brüssel und Ankara bleiben auch nach der Katastrophe dieselben: Menschenrechte, Demokratie, der Kurden-Konflikt, Zypern, der Streit um die ägäischen Inseln. Irtemçelik: Sogar in diesen Fragen hat die Tragödie ein neues Bewusstsein geschaffen. Europa nämlich hat erkannt, wie nahe wir in Wirklichkeit beieinander sind – geografisch, menschlich, kulturell. Die Türkei wiederum sieht deutlicher denn je, Bebenschäden bei Izmit: „Das Steuer herumreißen“ wie sehr sie auf eine demokratische, sozial gerechte, zivile Gesellschaftsord- SPIEGEL: Ihr Kollege, Außenminister Ismail nung angewiesen ist. Cem, hat allerdings vergangenen Freitag SPIEGEL: Den Opfern des Erdbebens nützen offen gedroht, den Antrag auf Mitgliedschaft in der EU zurückzuziehen, falls solche Einsichten wenig. Irtemçelik: Die Leistungen des Staates Brüssel die Türkei weiter hinhalte. bei der Katastrophenhilfe waren wahrlich Irtemçelik: Wir erwarten, dass man uns den nicht sehr erfolgreich, die Anstrengungen Status eines Kandidaten einräumt – ohne des Volkes und aller zivilen Vereine und Wenn und Aber. Wir sind keine Kinder. Stiftungen hingegen schier übermensch- Wenn man uns weiter hinhält, werden wir lich. Mittlerweile ist allen klar: Unser Land unser europäisches Engagement völlig neu ist viel zu groß geworden, als dass man bewerten und auch zu neuen Schlüssen es nur noch von oben regieren könnte. kommen. Interview: Bernhard Zand 176 d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 DPA M. GÜLBIZ / AGENTUR FOCUS Staatsminister Mehmet Ali Irtemçelik über die Auswirkungen des Erdbebens auf die Beziehungen Ankaras zur Europäischen Union Werbeseite Werbeseite AP SYGMA Ausland Bergung von MD-11-Wrackteilen (1998), Gedenkstein am Grab der Opfer: Nur ein Passagier war erkennbar K ATA S T R O P H E N Eine Tonne Mensch Monatelang mühten sich Gerichtsmediziner, die Opfer des Swissair-Absturzes vor Halifax zu identifizieren – die letzten Überreste wurden jetzt beigesetzt. S ie waren Teil der See und des Himmels; mögen sie in Frieden ruhen.“ So lautet die Inschrift auf dem grauen Granitblock am Westufer der Bucht von St. Margaret in der kanadischen Provinz Neuschottland. Die Grundlinie des Gedenksteins weist auf den fünf Seemeilen entfernten Ort, an dem vor einem Jahr ein Swissair-Jet vom Typ MD-11 vom Himmel stürzte und auf dem Meer zerschellte. Die Namen von 227 der 229 Opfer des Flugs SR 111 sind auf der glänzenden Oberfläche eingemeißelt; zwei Namen fehlen auf Wunsch der Angehörigen. Auf der meerabgewandten Seite des Denkmals waren am Dienstag letzter Woche Gräben für 24 Metallsärge ausgehoben. Zu Grabe getragen wurden kleine, namenlose Haut- und Knochenteile. Vor der Aufgabe, sie alle zu identifizieren, hatten die Gerichtsmediziner kapituliert. Mit der Zeremonie am SR-111-Memorial nahe des Fischerdorfs Bayswater wurde gleichsam der menschliche Teil der Katastrophe beendet, deren technische Ursachen bislang nur annähernd geklärt sind. Wie Glas war das 230 Tonnen schwere Flugzeug beim Aufprall aufs Wasser zersplittert. Die meisten Wrackteile sind in dutzenden von aufgestapelten Pappkartons in einem Hangar der nahe gelegenen 178 kanadischen Luftwaffenbasis Shearwater archiviert. In einem zweiten Hangar richtete der leitende Gerichtsmediziner der Provinz Neuschottland, John Butt, noch in der Nacht des Absturzes ein behelfsmäßiges Labor ein. Dorthin lieferten die Tauchtrupps die schauerlichen Überreste, die allein sie von Passagieren und Besatzung bergen konnten – abgerissene Arme und Rumpfteile, Unterkiefer, Füße, gebrochene Schienbeine. Schließlich waren 15 000 einzelne Körperteile erfasst, viele davon so klein, dass sie in honigtopfgroßen Gläsern Platz hatten. Nur ein einziger toter Passagier konnte „durch Inaugenscheinnahme“ identifiziert werden, wie es im Jargon der forensischen Medizin heißt. Um Name und Leichenteile der anderen 228 Opfer einander zuzuordnen, kurbelten die kanadischen Mediziner ein bisher wohl einmaliges Untersuchungsprogramm an. Eine Einheit der Royal Canadian Mounted Police bat Angehörige um medizinische Unterlagen: Röntgenaufnahmen der Zähne, Hinweise auf verheilte Knochenbrüche oder Operationsnarben. Verwandte spendeten Blut, ihre Erbsubstanz wurde mit derjenigen der Opfer verglichen. Auf DNS-Suche gingen auch Polizisten in zwölf Heimatländern der Opfer. Sie sammelten in deren Wohnungen etwa Zahnund Haarbürsten ein, die Partikel zur Erbgut-Analyse enthalten mochten. Zudem suchten die Fahnder nach Fingerabdrücken: 200 dieser individuellen Linienbilder sandten sie an ihre Kollegen in Halifax. Amtshilfe leistete das FBI in Washington, das Namen und Fingerabdrücke mit den Daten seiner Computer verglich. Insgesamt 22 der Opfer ließen sich anhand von Fingerabdrücken identifizieren. In 12 dieser Fälle steuerte das FBI den entscheidenden Nachweis bei. Erfolgreicher waren die Röntgenologen: Beim Abgleich von prä- und postmortalen d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 Zahnaufnahmen gelang es ihnen, 90 Insassen des abgestürzten Jets zu benennen. Bei 8 Opfern halfen Spuren vergangener Operationen, wie ein Nagel im Oberschenkelknochen, eine Schraube im Fuß oder ein amputierter Zeh. Am hilfreichsten erwies sich die DNSAnalysetechnik. 1370 DNS-Proben schleusten die Experten durch ihre Geräte. Am Ende hatten sie, oft mit Hilfe der Blutproben von nächsten Verwandten, charakteristische Erbgutmerkmale von mehr als 100 Opfern aufgespürt, unter anderem auch die sämtlicher Kinder, einschließlich der beiden Zwillingspaare an Bord. Schon zehn Wochen nach dem Unfall waren 90 Prozent der Opfer identifiziert und einzelne Körperteile zusammengeführt. Inzwischen konnten die Gerichtsmediziner jeder der hinterbliebenen Familien zumindest ein Stück Körper ihrer verstorbenen Angehörigen zusenden, damit diese es nach den Riten ihres Glaubens bestatten konnten. Trotzdem blieben Überreste der Toten übrig, die mit der DNS-Technik zu bestimmen einige Jahre gedauert und die Labors überlastet hätte. Chefuntersucher Butt empfahl daher, die verbliebene Tonne Mensch in einem würdevollen Massenbegräbnis beizusetzen. Die Angehörigen stimmten mehrheitlich zu, ebenso, allerdings nach längerer Bedenkzeit, die Vertreter der Kirchen, denen die Opfer angehört hatten. Angehörige mosaischen Glaubens müssen beispielsweise in einem schlichten, ohne Nägel gezimmerten Holzsarg beerdigt werden, der zerfällt und dem Verstorbenen die Wiederauferstehung ermöglicht. Diesem Wunsch der Rabbis mochte die Provinzregierung nicht folgen. Sie verfügte eine Beisetzung in Metallsärgen, um die Möglichkeit einer späteren Exhumierung sicher zu stellen. Rainer Paul Werbeseite Werbeseite Ausland RUSSLAND „Wir bitten nicht um Gnade“ FOTOS: P. J. KASSIN Moskaus Jubel über den Sieg in Dagestan war voreilig. Die Muslime haben weite Gebiete der bettelarmen Kaukasusrepublik islamisiert. Russische Soldaten in Dagestan: „Es gibt hier keinen Hausherrn mehr“ D ie erste Begrüßung in Gimry ist freundlich. „Allahu akbar“ steht mit grüner Schrift auf einer Tafel, die das Ortsschild ersetzt: „Allah ist groß“. Die Russen in ihren Panzerwagen, die nach Dagestan gekommen sind, um „islamistische Terroristen“ zu jagen, nehmen es als Folklore. Sie lassen sich auch vom zweiten Schild nicht irritieren. Darauf steht ein Spruch des Propheten: „Jeder muss sterben, aber nicht alle haben wirklich gelebt.“ Die Panzer sind auf dem Weg in die Berge: Der Konflikt mit den muslimischen Rebellen an der Grenze zu Tschetschenien, der von der Armeeführung schon für „weitgehend“ beendet erklärt worden war, ist gleich an mehreren Stellen wieder aufgeflammt. In Gimry kam einst der Imam Schamil zur Welt. Der legendäre Feldherr hatte bereits vor anderthalb Jahrhunderten den Widerstand gegen die „Ungläubigen“, damals die zaristischen Eroberer, organisiert. Jetzt stehen Gimrys Einwohner stumm vor ihren Häusern und beobachten, wie der gepanzerte Wurm der Russen Schlag180 löcher in die mühsam planierte Schotterstraße reißt. Nicht, dass sie überschäumende Sympathie für den Tschetschenen Schamil Bassajew empfänden, dessen Freischärler seit Wochen Dagestan in Aufregung versetzen. Aber die Russen sind hier schon gar nicht erwünscht. Was haben sie Dagestan bisher auch gebracht? „Nichts“, sagt Mohammed Abdulhadschijew, ein Arbeiter aus dem Wasserkraftwerk, der die stählerne Prozession vor der Dorfmoschee verfolgt. Das Bethaus mit angeschlossenem „islamischem Bad“ ist ein Werk seines Ururgroßvaters Scheich Abdul Hadschi. Der war in Gimry zur Jahrhundertwende Imam, er hat die Straße für den Viehauftrieb gebaut und Weingärten angelegt, bevor ihn die Russen deportierten. „Seitdem hat niemand mehr irgendetwas für Gimry getan“, sagt Abdulhadschijew. „Die Sowjets haben in ihren 70 Jahren kein Haus und keine Schule erbaut, und auch der dagestanische Staat war hier nie präsent.“ Mohammed fährt nicht mehr in das abgelegene Kraftwerk, seit 20 Monaten schuldet ihm die Führung in der Hauptstadt Machatschkala den Lohn. Die meisd e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 ten Kollegen haben den Job aus Angst vor Kidnappern quittiert. Dagestan, das kaukasische Babylon, in Russlands Wohlstandsstatistik auf dem drittletzten Platz aller 89 Provinzen, versinkt in Korruption und Kriminalität. Ohne Bakschisch geht nichts in Machatschkala. Ethnische Clans haben Ölwirtschaft, Fischerei und Banken, auch die Schlüsselposten in Politik, Polizei und Justiz unter sich aufgeteilt. Opposition wird gnadenlos bestraft: In der neuerbauten Dschuma-Moschee von Machatschkala ermordeten Unbekannte voriges Jahr den dagestanischen Mufti. Ein Sprengsatz, der dem Bürgermeister zugedacht war, verfehlte nur knapp sein Ziel. Dafür blieben 17 tote Anwohner und mehrere zerstörte Häuser zurück. „Es gibt hier in Dagestan keinen Hausherrn mehr“, sagt Scharullah Hadschibagomedow, „und daran sind die Russen Schuld.“ Neulich erst war er in Wolgograd, dem ehemaligen Stalingrad. Dort sei inzwischen die ganze Bevölkerung dem Suff verfallen. Warum? „Wenn sie nüchtern seien, würden sie von den alltäglichen Problemen erdrückt, haben mir die Russen geantwortet. Von diesem Volk, den Okkupanten des Kaukasus, wollen wir Dagestaner nicht mit in die Tiefe gerissen werden.“ Scharullah ist 34, sieht mit seinem wuschigen schwarzen Bart aber eher aus wie 50. Er trägt eine kurzläufige MPi neben dem Sprechfunkgerät, genagelte Springerstiefel und ein grünsamtenes Barett. Im Dorf nennen sie ihn „General Scharullah“, er ist Militärkommandant von Karamachi, einer 5000-Seelen-Gemeinde im Hochland von Zentraldagestan. Karamachi versteht sich seit vorigem Jahr als „unabhängiges islamisches Territorium“. „Achtung!“, warnt ein Schild am Ortseingang: „Alle Verletzungen der öffentlichen Ordnung werden vor einem Scharia-Gericht verhandelt.“ Das Kampfgebiet der BassajewFreischärler ist 100 Kilometer entfernt. Doch auch hier, eine Autostunde südlich von Machatschkala, dröhnen jetzt Kanonen. Fauchend bohren sich Fliegerraketen in die Felder vor dem Dorf. Wie das benachbarte Tschabanmachi gilt Karamachi als Hort des puritanischen Islam – ein Zentrum des „Wahhabismus“, wie die Russen in schlichter Vereinfachung sagen. Sie nutzen die Gunst der Stunde, um unter dem Vorwand, tschetschenische Invasoren zu bekämpfen, im Landesinnern die Islamisten auf Vordermann zu bringen. Doch jetzt haben es die Soldaten mit eingesessenen Bauern zu tun, die ihren eigenen Grund und Boden verteidigen. Viele dagestanische Gemeinden haben die Lehre des Propheten zur einzig gültigen Ideologie erklärt. Moskaus Bemühen, den Muslimen mit Feuer und Schwert beizukommen, ist so aussichtslos wie der Kampf mit dem siebenköpfigen Drachen. Karamachi galt bis vorige Woche als das bekannteste islamische Dorf. Bevor die 50 km Kaspisches Meer R U S S L A N D Tschetschenien D a g es ta n Grosny Botlich Machatschkala Buinaksk Tschabanmachi Karamachi GEORGIEN Tiflis ASERBAIDSCHAN „Islamisches Territorium Karamachi“ in Zentraldagestan: „Auch Russlands Rettung liegt in Allahs Hand“ Die Machthaber in Machatschkala, die Russen kamen, wehte vor dem Gebäude sucht. Auch ihm verhelfen die grünen Richdes alten Dorfsowjet die grüne Fahne des ter zu seinem Recht. „Sieben Jahre hat die noch vor wenigen Jahren den Bau von MoPropheten. Die Baracke nebenan, früher Staatsanwaltschaft die Sache nicht geklärt, scheen verhinderten und Bärtige für voein Dorfladen, war Behelfsmoschee – „da- wir haben es an einem Tag geschafft“, freut gelfrei erklärten („Ein Wahhabit ist schlimmit die Händler vom Markt schnell mal be- sich General Scharullah. „Die Menschen mer als hundert Ungläubige“), hatten vor ten gehen konnten“, sagt der General. Er wollen ehrlich leben, der Glaube an Allah genau einem Jahr die Oberhoheit über Karamachi zurückzugewinnen versucht – mit streift die Schuhe ab und verneigt sich gen hilft ihnen dabei.“ Mekka, als säße er noch immer am SchreibSeine Leute haben im Nachbarort einem Großaufgebot an Polizei und einer tisch des ehemaligen Dorfvorsitzenden. Waruch auch die Felder abgemäht, auf de- wilden Schießerei. Dann willigten sie in eiDabei hat er diesen Platz inzwischen mit nen sechs Bauern für die Mafia der Kreis- nen Kompromiss ein: Im Sowjet, im Zimeiner Hügelstellung einen Kilometer wei- stadt Buinaksk Opium-Mohn anbauten. mer neben Scharullah, amtierte pro forma ter östlich vertauscht. Als die Russen an Jahrelang sah die Polizei tatenlos zu. Dann ein weltliches Dorfoberhaupt. „Der Mann der tschetschenischen Grenze ihre Panzer nahm sich Scharullahs Trupp der Schutz- kümmerte sich um Renten und Kinderbeiwendeten, um auch mit den „Extremisten“ gelderpressung auf der Kreisstraße an, wo hilfen und führte den Briefverkehr mit den von Karamachi abzurechnen, hat Scharul- Kriminelle vorbeifahrende Lkw auszu- Behörden, das war’s“, sagt der General. Die Herren im fernen Moskau freilich lah das Dorf räumen lassen. „Sie verstehen rauben pflegten. Er machte die Erpresser nichts von uns“, seufzt der General. „Wir ausfindig, brachte sie in die Moschee von haben sich nie mit den Feinheiten kaukawollen hier die Gesetze Allahs durchset- Karamachi und drohte, sie vor versam- sischer Lebensart befassen mögen. So wie zen. Es geht nicht darum, allein den meltem Volk in Stücke zu hauen. Die der Kreml die Tschetschenen mit den Folgen des letzten Krieges allein ließ und daRücken in der Moschee zu beugen, uns Wegelagerei ließ spürbar nach. geht es um eine neue Lebensweise.“ Die Dörfler hatten das Land der Kolcho- mit Muslim-Zeloten wie Bassajew Zulauf Was das in der Praxis bedeutet, kann se „Leninscher Komsomol“ unter sich auf- verschaffte, verweigert er jetzt in Dagestan man im Scharia-Gericht besichtigen. Eine geteilt, das Inventar verkauft und für den jeden Dialog mit den Islamisten. Kaum glaubten die Russen, die tscheFrau aus Karamachi hat einen Hirten auf Erlös eine Gasleitung in den Ort gelegt. Schadensersatz verklagt, sie hatte ihm eine Bis vorvoriges Wochenende noch buddel- tschenischen Stoßtrupps besiegt zu haben, Kuh anvertraut. Doch während der Hirte ten sie neben prachtvollen Kohlfeldern die setzten sie zum Schlag gegen die islamischlief, fraß sich die Kuh auf dem Nachbar- neuen Kartoffeln aus. Das Gemüse war bei schen Dörfer in Innern des Landes an. Raacker so mit Kartoffeln voll, dass sie an russischen Händlern begehrt, im Sommer masan Abdulatipow, einziger dagestaniqualvollen Blähungen verstarb. Das Gericht mussten Saisonkräfte angeheuert werden. scher Minister im Jelzin-Kabinett, hatte vor einer solchen Wende gekommt schnell zum Urteil: Der warnt: In Dagestan werde miMann habe die Kuh zu ersetzen. litärische Gewalt nichts bewirDie Frau ist zufrieden, früher ken, sondern sämtliche ethnihätte sie hunderte Rubel Beschen Geschwüre des Vielvölstechungsgeld gebraucht, um kerstaates aufbrechen lassen. vielleicht nach Monaten in der „Wir bitten nicht auf Knien Kreisstadt überhaupt bis zum um Gnade“, sagt Scharullah, Gerichtssekretär vorzudringen. der seit einer Woche mit Der Hirte nimmt den Spruch Maschinengewehren und Graohne Widerstand hin – die neue natwerfern den Widerstand geörtliche Macht, mit den Waffen gen die russische Armee dirider voriges Jahr aus dem Dorf giert. Auf beiden Seiten gibt es gejagten Polizisten ausgerüstet, bereits über 50 Tote. Der Gelässt nie mit sich spaßen. neral spürt trotzdem Rückhalt: Dann kommt ein Mann aus „Nur Allah weiß, wie es weiWolgograd zu Wort, er hat seit tergehen wird.“ Auch Russlands 1992 bei einem der Bauern verRettung liege allein in Allahs gebens Geld für geliefertes Hand. Viehfutter einzutreiben ver- Straßenposten bei Karamachi: „Sie verstehen nichts von uns“ Christian Neef d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 181 Werbeseite Werbeseite FOTOS: K. MÜLLER / MAGMA Bundeswehr-Löschtrupp, brennendes Serben-Haus in Prizren: „Die Stadt schluckt unheimlich viele Kräfte“ KO S OVO „Wo war denn hier der Krieg?“ Im erstaunlich vitalen deutschen Sektor der jugoslawischen Provinz läuft fast nichts ohne das Know-how der Bundeswehr. Die dankbaren Albaner umarmen ihre Beschützer – aber die Stimmung könnte kippen. Von Hans-Joachim Noack A uf der Fahrt in die Ortschaft Mush- sen ans Gehirn gedacht“, wie sich der heitisht, wo er mit seinem Team ausge- kle Job am besten erledigen lasse, sagt im brannte Häuser in Stand setzt, gerät Hauptquartier der Brigade in Prizren der der kleine Mann ins Schwärmen. Rupert Presseoffizier Peter Michalski – und nun Neudeck, unter den Repräsentanten der solche Elogen. Vor Ort dürfen sich die Solweltweit operierenden Hilfsorganisationen daten aus Schwerin oder Schweinfurt einer eine der streitbaren Figuren, bekennt sich größtenteils dankbaren albanischen Bevölkerung gegenüber immer noch als Bemilde zu seinen „völlig neuen Gefühlen“. Schon ziemlich eigenartig, wenn einer freier empfinden, während in der Heimat wie er – „und das noch bei meiner die Fronten erstaunlich ruhig blieben. Dass die Berliner Republik auf dem BalHerkunft!“ –, wundert sich der bärtige Sprecher des Komitees Cap Anamur kan „derzeit im Wesentlichen mit Olivgrün und bekennende Pazifist, die Bundes- assoziiert wird“, bestätigt auch der Vertrewehr lobe. So sei das aber: „Ich bin sogar ter des Auswärtigen Amtes Bernd Borchardt – eine Entwicklung, die dem proein bisschen stolz auf die Jungs.“ Neudecks überraschende Töne gelten dem deutschen Kontingent der Kfor, das seit Mitte Juni im Kosovo stationiert ist. Der erste Einsatz out of Area, bei dem den annähernd 5000 Mann starken Truppen im Südwesten der jugoslawischen Chaos-Provinz die schwierigen Aufgaben einer Ordnungsmacht zuerteilt worden sind, stimmt jetzt selbst die vormals ärgsten Bedenkenträger um. Man habe sich die Köpfe darüber zermartert und „Bla- Einkaufsstraße in Prizren: Bezahlt wird in D-Mark d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 fessionellen Wohltäter Rupert Neudeck allerdings weniger behagt. Er attackiert die Bundesregierung, weil sie von Anfang an darauf verzichtete, wie im bosnischen Mostar eine politische Autorität zu benennen („Ein kapitaler Fehler“). Denn bei der deutschen Präsenz im Kosovo – und dort vor allem in ihrem eigenen, von rundum 400 000 Menschen bewohnten Sektor – geht es ja nicht nur um das rein militärische Engagement. Die maßgebliche Resolution 1244 des Uno-Sicherheitsrats vom 1o. Juni verpflichtet die Staatengemeinschaft zugleich zu enormen zivilen Anstrengungen. In der darniederliegenden Region soll eine Übergangsverwaltung aufgebaut werden, die die Merkmale eines halbwegs intakten Gemeinwesens trägt, nur bis auf weiteres laufen alle Fäden beim Befehlshaber der multinationalen Brigade, General Wolfgang Sauer, 55, zusammen. Der in seinem Habitus bedächtige Bayer und die ihm anvertrauten Einheiten haben ein Gebiet zu befrieden, das infolge seiner Nähe zu Albanien jahrelang die blutigsten Auseinandersetzungen erlebte, und daran wird er gemessen. Als Konsequenz daraus ergibt sich, wie zum Beispiel der in Orahovac eingesetzte Leiter des Technischen Hilfswerks, Klaus Buchmüller, leise 183 Ausland Nächtliches Stadtzentrum von Prizren: Ein endloses Open-Air-Festival klagt, ein „viele andere Initiativen erstickender militärischer Überhang“. Natürlich macht in Prizren und Umland auch die schillernde und zuweilen mit berechtigtem Argwohn beäugte Helferszene auf sich aufmerksam. Da die spendablen Deutschen für die leidgeprüfte Provinz mehr als 200 Millionen Mark herausrückten, halten die sogenannten Non-Government Organizations vom Roten Kreuz bis zu den ungezählten kleinen und winzigen Gruppen nach geeigneten Projekten Ausschau. Doch in einem im direkten wie übertragenen Sinne gefährlich verminten Gelände ist die Kfor Dreh- und Angelpunkt. Soldaten erproben sich nicht nur als Feuerwehr oder Polizisten respektive im Notfall als Gefängniswärter. Sie legen sich darüber hinaus für eine im Wesentlichen funktionierende Infrastruktur ins Zeug – vom kenntnisreich reparierten Elektrizitätswerk bis zur Müllabfuhr. Eine ähnlich durchschlagende Wirkung wie zurzeit das deutsche Militär erzielt zumindest in den Städten allein die deutsche Währung. In den verblüffend gut gefüllten Läden wird für alle Erzeugnisse von einigem Wert nur noch bei älteren Leuten der heimische Dinar und fast nie der Dollar akzeptiert. Als Zahlungsmittel – und das bis in die Pfennigbeträge hinein – gilt die begehrte D-Mark. Was den Handel und die Geschäftigkeit anbelangt, entwickelt sich das Zentrum des von der Bundeswehr unter Kontrolle gehaltenen Bezirks, das früher „Kleinparis“ geheißene Prizren, zu einer Art Boomtown. Auf beinahe schon irritierende Wei184 se scheinen sich die Zukunftsängste, wie sie unmittelbar nach der Rückkehr tausender geflüchteter Kosovo-Albaner grassierten, erledigt zu haben. Allabendlich ergießt sich stattdessen bei sinkender Sonne zu beiden Seiten des von Kirchen und Moscheen gesäumten Flüsschens Bistrica ein gewaltiger Strom seltsam heiter anmutender flanierender Menschen. Die Straßencafés in der stark orientalisch geprägten Innenstadt sind stets besetzt – während bis zur Ausgangssperre um Mitternacht im Freien immer gleichzeitig mehrere Kapellen wie zu einem endlosen Open-Air-Festival aufspielen. Kann es da verwundern, wenn sich in der zersplitterten serbischen Provinz zunehmend herumspricht, in „Deutsch-Südwest“ („Die Zeit“) werde eifrig an einem Musterländle gearbeitet? In und um Prizren ist es spürbar sauberer als in den an- Kfor-Zonen im Kosovo SERBIEN Frankreich Mitrovica MONTENEGRO Italien Großbritannien Peƒ Pri∆tina K O S O V O USA Deutschland ALBANIEN Prizren MAZEDONIEN 25 km d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 deren Regionen. In keinem Sektor weht zum Zeichen bereits fertig gestellter Dachstühle in größerer Zahl die vor kurzem noch verbotene rote Flagge mit dem schwarzen Doppeladler. Sicher hatten es die Deutschen von der ersten Stunde an leichter als die übrigen Kfor-Truppen. Deren Parteinahme zu Zeiten Hitlers für die Unabhängigkeit der Albaner haben die heute noch lebenden Jahrgänge absichtsvoll zu einer geschichtlich beglaubigten Bruderschaft verewigt und an ihre Enkel weitergereicht. Ehrensache selbst für die Jüngsten, die auf ihren Kleinpanzern, Typ „Wiesel“, patrouillierenden Soldaten mit einem lauten „Hallo, wie geht’s?“ zu begrüßen. Die derart fest ans Herz gedrückten vermeintlichen Freunde fühlen sich ermuntert. Ihre Bestrebungen, nicht allein den Albanern, sondern der Menschheit insgesamt nahe zu bringen, „was wir hier für tolle Sachen machen“ (so der Oberleutnant Michael Godel), geben sich in einem eigenen Rundfunkprogramm zu erkennen. Jeweils von 18 bis 21 Uhr verantwortet der Soldat aus Oldenburg auf dem einzigen verfügbaren Kanal von Radio Prizren die „operative Information“. Neben viel frischer Musik werden die Einheimischen zur immerhin besten Sendezeit (und in dieser Phase ohne Alternative) „ein bisschen auf die pädagogische Schiene“ gehoben. Um „langfristig Verhaltensänderungen zu erzeugen“, lässt Godel im Plauderton über die schöne Bundesrepublik und die Demokratie berichten. Den Abschluss bildet der offenbar unsterbliche Hit der Lale Andersen von „Lili Marleen“. Die Albaner zeigten sich „hellauf begeistert“, sagt Godel, und überhaupt kann man mit ihnen die nötigen Konzepte vorantreiben. Wie gelehrig die sich anstellen und welche „prima Mentalität“ denen eigen ist, hat in Mushtisht der von Cap Anamur engagierte Zimmermann Hubertus Thoennes aus Köln erfahren: „Im Grunde sind das Deutsche.“ Zumindest scheint sie ein tief sitzender Wunderglaube an die Power und die Managementfähigkeiten ihrer gegenwärtigen Schirmherren zu beseelen. Schon am ersten Tag seines neuen Jobs in Prizren wird dem privat wohnenden Abgesandten des Berliner Presseamtes Klaus Brambach der bestens versorgte Sohn des Vermieters vorgestellt: Dessen Bekleidung Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite im Grunde überforderten Mistammt ebenso aus Spenden litärs sehen das ebenso. Er ervon Bundesbürgern wie die achte die Beziehungen in der Milchration. von ihm zu überschauenden Re„Aus Ihrem Lande kommt algion für „zu vergiftet“, sagt achles Gute“, lobt der dankbare selzuckend selbst der undramaGastgeber, während er seinen tische General Wolfgang Sauer. Filius in einen von der Kfor und „Ein Leben mit den Serben ist den Johannitern gemeinsam erda nicht mehr vorstellbar.“ richteten Kindergarten schickt. Denn jenseits der ermutigenDas Militär und in seinem den Bilder von der in Prizren Schlepptau zivile Organisatioüberschäumenden Lust an der nen leiten in der Kreisstadt das Krankenhaus – sie finanzieren Flussbettreinigung in der Bistrica: „Im Grunde sind das Deutsche“ neuen Freiheit, die man die Tagseite der Stadt nennen könnte, aber auch albanische Gelegenheitsarbeiter, die das Flussbett der Bistrica ge-Bezirk gepäppelt, drohe der ungebrems- gibt es nach wie vor die ziemlich erte Zuzug aus anderen Regionen – ein im schreckenden Nächte. Noch immer und reinigen. „Sollen die Germanen den Distrikt doch allgemeinen Durcheinander „gefährlicher unter den Augen andächtig verharrender Schlachtenbummler fackeln vermutlich gleich ganz übernehmen“, fordert allen Ehrgeiz“. Und die Anzeichen dafür, dass auf die von der UÇK gesteuerte Albaner die Ernstes ein aus Traunstein in seine Geburtsstadt Suva Reka heimgekehrter junger omnipräsente Kfor nach den Monaten ei- verbliebenen Häuser ihrer ehemaligen Gaststättenbesitzer. „Für ein, zwei Jahr- ner überraschend harmonisch verlaufenen Peiniger ab. „Die Stadt schluckt unheimlich viele zehnte ein in den Süden verlängertes Bay- Besetzung fremden Terrains ernste Schwieern“ zu schaffen würde nicht allein nach rigkeiten warten, häufen sich ja auch be- Kräfte“, sorgt sich Sauer – er müsse sie leiseiner Überzeugung dem maroden Balkan reits. Vor allem die in den letzten Wochen der „zusperren, weil wir sonst der Feuer deutlich aggressiver auftretende kosovo- und der Toten nicht mehr Herr würden“. am ehesten aufhelfen. Doch die zunehmend sich verbreitende albanische Befreiungsarmee UÇK denkt Und er hat ja schließlich noch einen poliMeinung, die Deutschen seien halt tüchti- nicht daran, sich den Staat aus der Hand tischen wie humanitären Auftrag zu erfüllen: Um den an die Kfor gestellten Anforger als etwa die Franzosen oder Briten, nehmen zu lassen. Die Vorgaben der Vereinten Nationen derungen wenigstens einigermaßen gerecht könnte Folgen haben. Der Koordinator der Gesellschaft für Technische Zusammenar- und der Nato, der jugoslawischen Provinz zu werden, schützen seine Soldaten die beit (GTZ) Paul Weber spricht bereits von ihren multiethnischen Ursprung zu be- nun ihrerseits um ihr Leben bangenden wachsender Unzufriedenheit im Lande. wahren, stoßen sich immer empfindlicher Serben oder löschen unermüdlich die Werde der Sektor weiter zu einem Vorzei- an den herrschenden Realitäten – und die Brände. erheblich ramponierten Häuser In solchen Augenblicken, in und zum Teil völlig ausgebranndenen etwa den Feldwebel aus ten Bergdörfer hält er durchaus dem Thüringischen „die Sinnfür schlimm, doch „makroökofrage“ seines Einsatzes quält, nomisch nicht so relevant“. schwindet bei manchen KosovoWeit wichtiger erscheint dem Albanern die vielbeschworene Experten aus Hessen „die AbNähe zu ihren deutschen Mittrennung des Kosovo von Serstreitern. Greifen die Feldjäger bien“ – eine Annahme, die die einen der noch bewaffneten Vereinten Nationen und die Guerrilleros auf und konfiszieNato bisher zwar noch strikt ren, was sie bei ihm finden, entzurückweisen – , die er aber um steht nun schon viel zu oft eider „Arbeitshypothese“ willen ne regelrecht feindselige Atmo- Party im Hotel Theranda: „In den Süden verlängertes Bayern“ als sicher unterstellt. Und das sphäre. Mit der UÇK und ihrem Verhalten, lau- an dem vorbeizugehen sich nur „die umso mehr, als die von ihm analysierte „absolute Albanisierung“ in gerade mal eitet einer der Lehrsätze unter den Friedens- Blauäugigen“ leisten. Der weit gereiste Agrar-Ingenieur, der nem Vierteljahr eine Energie freigesetzt truppen, stehe und falle das von beträchtlichen Hoffnungen begleitete Kosovo- im Namen eines vom Bund betriebenen hat, die er „einfach umwerfend“ findet. Der Wirklichkeit im deutschen Sektor Projekt. „Eine glaubwürdige Bereitschaft Instituts die Entwicklungsfähigkeit der dieser Leute, ihre Selbstauflösung zu be- heimgesuchten Provinz taxiert, kommt des Kosovo nachzuspüren ist so offenbar treiben, erkenne ich nicht“, sagt der Kfor- auch ansonsten in vielerlei Hinsicht zu eine Frage der „speziellen Draufschau“. General – seine bis auf weiteres augen- höchst eigenen und überraschenden Er- Nördlich von Prizren liegt das Dorf Bela gebnissen. Sosehr ihn die unsäglichen Cerkva, ein einziger Steinhaufen, und dascheinlich größte Sorge. Was darf man einer immerhin nach tau- menschlichen Schicksale anrühren, sieht neben eines der größten Massengräber. senden zählenden Gruppe von Menschen er zum Beispiel in der Notwendigkeit, die 64 Menschen starben hier bei einem Masabverlangen, die sich schließlich als Be- Infrastruktur zu erneuern, keinen über- saker nach den ersten Bombenangriffen auf Serbien. freier ihres Landes empfindet und nicht mäßigen Schwierigkeitsgrad. „Wo war denn hier der Krieg?“, fragte Die in einem Weindepot am Ortsausgang zuletzt als deren eigentliche Elite? Selbst in den Kreisen der deutschen Helfer schei- sich Weber nach seiner ersten Erkundungs- lagernden Zigmillionen Liter „Amselfelder“ den sich in der heißen Diskussion darüber tour durch den deutschen Sektor, auf der er sind dagegen unversehrt geblieben. Noch ist mehr und mehr die Geister. Für den GTZ- weder zerstörte Brücken noch im Umfeld nicht endgültig geklärt, wem sie gehören – Mann Paul Weber etwa ist die einstige Un- von Prizren irgendwelche anderen gravie- aber aus der Bundesrepublik melden sich tergrundorganisation schlicht ein Faktor, renden Schäden entdeckte. Die Zahl der schon die potenziellen Aufkäufer. Ausland wendig“. Und die Menschen vor den Bildschirmen beschlich ein zartes Gefühl von Stolz, dass es den Gegner und nicht die eigenen Jungs erwischt hatte. Der geschmeidige General verkörperte bis zuletzt, als er sich in Prizren von seinen Soldaten verabschiedete, den modernen Führer. Sein Auftrag ist erfüllt: Die BunMit einem moderaten Führungsstil, modernem Management deswehr im Auslandskampfeinsatz ist Norund cleverer Medienpolitik im Kosovo gelang malität. Doch der Kommandeurswechsel ist mehr als nur ein routinemäßiger Persoes der Bundeswehr, ihr Ansehen in der Heimat aufzubessern. naltausch – er bedeutet auch einen Programmwechsel. Denn ganz so geschlossen, wie es nach außen erscheint, ist die neue Truppe im Innern nicht. Was zu Hause in den Medien als Diplomatie und Umsicht ihrer Führung interpretiert wurde, erschien vielen Soldaten, die täglich im Kampf gegen Plünderer, Brandstifter und Mörder den Kopf hinhalten müssen, nicht selten als Entscheidungsschwäche. Sie bauen darauf, dass Korffs Nachfolger, Brigadegeneral Wolfgang Sauer, die Defizite vor Ort beseitigt – nach bewährter Art: weniger Diplomatie, mehr Befehle. Die elektrisierende Spannung am Anfang und der glühende Eifer der Soldaten, die in diesem Chaos virtuos improvisierten und einen beeindruckenden Balanceakt zwischen Sensibilität und Stärke demonstrierten, weichen langsam der Alltagsroutine. Für alles gibt es jetzt ein Formular und eine Regel. Die Feldjäger schreiben in Prizren jeden Falschparker unter den Kameraden auf, vor dem Stabsgebäude werden Fußgänger zurückgepfiffen, wenn sie Deutsche Truppen beim Einmarsch in Prizren*: „Diesmal waren wir die Guten“ nicht den Bürgersteig benutzen. Während die ersten Soldaten von Beitze flirrt auf dem Asphalt des Mi- der Heimat zu einer Art Pop-Star der Melitärflughafens von Skopje. Die dien. Beinahe täglich war er, zur besten ginn an bis zur Erschöpfung dafür sorgten, deutschen Soldaten des ersten Sendezeit, auf allen Kanälen ein begehrter Ordnung und Sicherheit in Prizren so weit wie möglich zu garantieren, jäten ihre Kosovo-Kontingents stehen dem Alphabet Gesprächspartner. Vor wenigen Jahren noch hatte das Bun- Nachfolger heute vor den Zelten Blumennach in einer Reihe und verstauen ihre Sturmgewehre G36 in Kisten – die Stim- desverfassungsgericht entschieden, dass die beete und entstauben im Hauptquartier mung ist heiter, nach wochenlangem Ein- Äußerung „Soldaten sind Mörder“ nicht Blatt für Blatt die Zierpflanzen. Für den unbedingt strafbar sei. Jetzt erklärte Korff hauseigenen Teich wird stadtweit nach satz im Kosovo geht es nach Hause. „Ich kann jetzt sagen, dass ich stolz bin, der Fernsehnation in ruhigem, ernstem Goldfischen gesucht. „Bald steht der erste ein Deutscher zu sein, ohne dafür in die Ton, warum deutsche Soldaten am 13. Juni Gartenzwerg“, prophezeit Kommandeur rechtsradikale Ecke gestellt zu werden“, um 19.40 Uhr – erstmals seit Ende des Sauer, „so sind wir halt.“ Die Truppe ist immer weniger bereit, an sagt Heimflieger Ralf Herrmann, 26, Ober- Zweiten Weltkriegs – im Auslandseinsatz feldwebel aus München, der bislang eher einen Menschen erschießen mussten: ei- einer medienwirksamen Inszenierung für links als konservativ wählte. Auch Haupt- nen serbischen Freischärler. „Tragisch“ sei „karrieregeile Offiziere“ mitzuwirken, wie gefreiter Tino Kempf, 23, aus dem baden- dies gewesen, aber auch „richtig und not- sich ein Soldat vom Fallschirmjägerbataillon aus Wildeshausen bei württembergischen Hartheim ist mit seiBremen ärgert. Feldjäger-Manem Werk zufrieden: „Diesmal waren wir jor Andreas Naschke, 38, aus auf der richtigen Seite. Wir waren die Gudem mecklenburgischen Haten – und alle haben es gesehen.“ Im Ferngenow hält den „Schmusesehen. kurs“ gegenüber den AlbaJubelnde Albaner beim Einzug der nern ohnehin für gescheitert: Deutschen – solche Aufnahmen haben das „Wir sind kein Stück weiter öffentliche Bild der Bundeswehr nachhalals noch vor ein paar Wotig verändert. Die neue Truppe bewies chen, da muss man endlich nicht nur als Ordnungshüter Qualität, sie hart durchgreifen.“ war auch an der medialen Front ungeWochenlang kritisierte in wöhnlich erfolgreich. Der erste deutsche seinen täglichen LageberichKommandeur der Multinationalen Brigade, ten an die Militärchefs FallGeneral Fritz von Korff, 56, avancierte in schirmjäger-Zugführer Ober* Mitte Juni. Bundeswehrsoldaten beim Essenausteilen: Zwei Gesichter leutnant Konstantin SpalM. MATZEL / DAS FOTOARCHIV „Möglichst gut rauskommen“ K. MÜLLER / MAGMA H 190 d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite lek, 29, die „Handlungsunsicherheit“ befahl Harff serbischen Offizieren den Abseiner Leute. Es änderte sich nichts, vor zug aus dem Grenzgebiet. „Jetzt sind es allem nicht am in Bonn durchaus gebillig- noch 28 Minuten.“ ten zurückhaltenden Umgang mit der KoEr („Ich argumentiere nicht als Diplosovo-Untergrundarmee UÇK. Korff, glau- mat, sondern als Christ“) hat nie ein Geben die Soldaten, habe notwendige Kon- heimnis daraus gemacht, dass er den Luftfrontationen gescheut, „um hier möglichst krieg für „unmoralisch und falsch“ hielt, sauber rauszukommen“. weil dabei unschuldige Menschen starben. Mitunter bekamen die Soldaten täglich Während der Kosovo-Massaker dachte neue Anweisungen, wie mit Gesetzesbre- Harff gegenüber politischen Besuchern laut chern zu verfahren sei. Zunächst befahl über den Einmarsch von Bodentruppen der Einsatzstab in Prizren etwa, den Treib- nach: „Ist das Leben einer vergewaltigten, stoffverkäufern aus Albanien, den „fah- massakrierten Frau etwa weniger wert als renden Benzinbomben“, die Kanister ab- das eines Soldaten, der zur Verteidigung zunehmen, dann wurde die Order rück- ausgebildet ist?“ gängig gemacht. Die Grenzstation war bis Die zwei Gesichter dieser Armee finunters Dach mit Benzinkanistern gefüllt den sich auch bei der jungen Generation. und drohte selbst in die Luft zu fliegen. Am deutlichsten bei Leutnant David F., Fortan wurden die Kraftstoffhändler ein- 24, vom Gebirgsjägerbataillon aus Schneefach wieder zurückgeschickt. Eigentlich hatten die Soldaten Befehl, an der albanischen Grenze jedem Kosovaren, der mehr als fünf Stangen Zigaretten besitzt, die Ware abzunehmen. Dann schnappten sie Schmuggler mit 8000 Kartons. Es dauerte Stunden, bis der Stab darüber entschied, was mit ihnen geschehen sollte. Die Schmuggler mussten am Ende mitsamt der Ware laufen ge- Scheidender General von Korff*: Pop-Star der Medien lassen werden. Welcher Führergeist dieser Armee im berg, der am Tag nach dem Einzug das Grunde ihres Soldatenherzens lieber ist, Gefühl genoss, als Befreier der Stadt Prizzeigt die Doppelstrategie der ersten Wo- ren willkommen zu sein. Wenige Stunchen: Der Inspekteur des Heeres, Helmut den später gab er den Schießbefehl, als Willmann, hatte durchgesetzt, dass neben zwei serbische Freischärler aus ihrem geldem jovialen Frontmann und Medienlieb- ben Lada das Feuer auf seine Leute erling Korff stets von Mazedonien aus der öffneten. Nationale Befehlshaber Helmut Harff, 60, Anschließend rekapitulierte F. seine Entals Zuchtmeister im Hintergrund wachte. scheidung mit beachtlicher Sachlichkeit: Der Fallschirmjäger-General ist ein Hau- „Es ist nichts Persönliches zwischen mir degen vom alten Schlag, der auch vor dra- und diesem Menschen gewesen. Ich habe matischen militärischen Aktionen nicht nicht getötet, weil ich es wollte, sondern zurückschreckt. weil ich es musste – und glatt getroffen. Zwei Ein-Sterne-Generale – einer für die Wenn schon, denn schon.“ HeeresinspekMedien und einer für die Pflicht. Allzu häu- teur Willmann verlieh ihm bei einem Befig waren sich die beiden uneins über such in Prizren die höchste Auszeichnung, Arbeitsteilung und die Umsetzung des Auf- die die Bundeswehr zu vergeben hat: das trags und machten sich gegenseitig das Ehrenkreuz in Gold. Leben schwer. Der Abgesandte aus dem Mit Genugtuung registrieren die SoldaVerteidigungsministerium für humanitäre ten die aktuelle Aufwertung ihres BerufsAufgaben, Walter Kolbow, kündigte bereits standes. „Wir wurden früher lächerlich an, dass es eine solche Konstellation „nie gemacht“, sagt der Kommandeur des Fallschirmjägerbataillons 313 aus Varel, Oberstwieder“ geben dürfe. Seinen berüchtigten Führungsstil („Heu- leutnant Peer Luthmer, 42. Dennoch prete schon geharfft worden?“) hatte die Fern- digt er seinen Soldaten, sich von der sehnation bereits am ersten Tag des Ein- öffentlichen Meinung unabhängig zu mamarsches der Bundeswehr in das Kosovo chen. Ihm sei es lieber, „auf dem Kölner miterlebt. „Sie haben 30 Minuten Zeit, Bahnhof wegen der Uniform mit Bier überEnde der Diskussion“, mit diesen Worten gossen, als zu Hause auf dem Marktplatz mit Blumen empfangen zu werden“, sagt Luthmer, „Heldenverehrung ist mir pein* Am 3. August in Prizren mit dem Kfor-Oberkommanlich.“ dierenden Michael Jackson und Nachfolger Sauer. Susanne Koelbl 192 d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 K. MÜLLER / MAGMA Ausland Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite FOTOS: GREENWOOD / GAMMA / STUDIO X (li. o.); JAD WASCHEM (li. u.); GAMMA / STUDIO X (re. o.); EUPRA PRESS SERVICE (re. u.) XI. DAS JAHRHUNDERT DES FASCHISMUS: 1. Von Weimar zu Hitler (33/1999); 2. Europas Verführer (34 /1999); 3. Hitler und die Deutschen (35/1999); 4. Der Holocaust (36/1999) Judenstern; Opfer im Konzentrationslager Dachau (1945); brennende Synagoge (in Siegen 1938); Hitler, Himmler auf dem Reichsparteitag (1938) Das Jahrhundert des Faschismus Der Holocaust Die beispiellose Ermordung von sechs Millionen europäischen Juden während des Dritten Reiches entsprang Hitlers rassenpolitischem Wahn. Aber der konfiszierte Besitz der Opfer brachte dem nationalsozialistischen Staat und damit Millionen Volksgenossen auch gewaltigen materiellen Nutzen. d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 195 Das Jahrhundert des Faschismus: Der Holocaust Das unbewältigte Verbrechen Die Ausrottung der europäischen Juden / Von Götz Aly Noch vergeht kein Tag, an dem nicht in Europa über die Folgen des deutschen Rassenkrieges geschrieben, gesprochen und diplomatisch verhandelt würde. Mehr als ein halbes Jahrhundert danach können die zwölf kurzen Jahre des Dritten Reichs noch immer nicht zur Geschichte gerechnet werden. Die Unfähigkeit der nachgeborenen Generationen, das Geschehene zu begreifen, lässt diese zwölf Jahre Gegenwart bleiben. Die vergleichsweise folgenarme Diktatur Ulbrichts verfestigt sich längst zur Geschichte, ebenso die Ära Adenauer – nicht die Regierungszeit Hitlers. Noch immer ist der Skandal notwendig, um einzelne Menschen, Banken oder Unternehmen, die Wehrmacht oder selbst die Historikerschaft zum Nachdenken zu bewegen. Noch immer ist es notwendig, mit denjenigen zu streiten, die es sich in einsichtsarmen Vorstellungen von den „braunen Machthabern“ bequem gemacht haben, die noch immer von der unbefleckten Soldatenehre oder wahlweise von der vergewaltigten, allenfalls verführten Arbeiterklasse erzählen. Ganz gerecht geht es in der Hitze der Debatte nicht immer zu. Falsch ist es zum Beispiel, wenn in der aktuellen öffentlichen Diskussion der Eindruck erweckt wird, als hätten von Zwangsarbeit und Arisierung in erster Linie Großkonzerne profitiert und seien allein dafür haftbar. Wer nicht von den Vorteilen spricht, die Millionen sogenannter Volksgenossen aus dem kollektiven Raubmord wie auch der Massenverschleppung von Arbeitssklaven gezogen haben, wird die innere Logik des nationalsozialistischen Umverteilungsstaates nicht verstehen. Heinrich Himmler bezeichnete dieses Prinzip als „Sozialismus des guten Blutes“ und sorgte dafür, dass die Vernichtung der europäischen Juden dem Volkswohl zugute kam: „Wir haben das ganze Vermögen, das wir bei den Juden beschlagnahmten – es ging in unendliche Werte –, bis zum letzten JAD WASCHEM Spiegel des 20. Jahrhunderts O hne Inschrift wird vorläufig das Mahnmal bleiben, das im neuen Berliner Parlaments- und Regierungsviertel an das frühere, durchaus volksverbundene Regierungsprojekt „Endlösung der Judenfrage“ erinnern soll. So als gelte Himmlers Verbot noch immer, über die Ausrottung der europäischen Juden öffentlich zu sprechen, so als handle es sich um ein außergeschichtliches Ereignis, an dem jeder Versuch einer Aufklärung scheitern müsste. Wie also könnte die Inschrift lauten? Zwischen 1941 und 1945 ließ die deutsche Regierung sechs Millionen Menschen ermorden, weil sie Juden waren. Sie starben durch Hunger, Massenexekutionen und in Lagern, deren einziger Zweck die Vernichtung war. Hunderttausende Deutsche halfen mit – jeder an seiner Stelle –, dieses beispiellose Verbrechen zu begehen. Die Täter verstanden ihre Tat als Teil eines Jahrhundertwerks zur ethnischen und sozialen Neuordnung. Ungarische Juden an der Rampe des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau (1944): Kollektiver Raubmord 196 d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 BPK Pfennig an den Reichswirtschaftsminister abgeführt.“ Das stimmte zwar nicht ganz, weil Bereicherung und Unterschlagung auch in der SS verbreitet waren, bezeichnet aber die Tendenz. Am Ende waren allein aus jüdischem Besitz Summen erbeutet worden, die die Höhe des Jahreshaushalts des Deutschen Reiches von 1939 – 26,6 Milliarden Reichsmark – weit überstiegen. Im Kleinen fand die Raublust ihren Ausdruck in der Versteigerung von jüdischem Hausrat auf dem Treppenabsatz. Sonderzuweisungen von Mangelwaren aus jüdischem Besitz gingen an die NS-Volkswohlfahrt und das Winterhilfswerk. Die Konfiszierung von Pelzmänteln im eiskalten Warschauer Ghetto nützte den Soldaten an der Ostfront. Jüdische Kleinkinder bekamen keine Milch, damit ihre gutrassigen Altergenossen in den Zeiten des Mangels mehr hatten. In das von Luftangriffen schwer getroffene Hamburg wurden zwischen März 1942 und Juli 1943 allein aus Holland 45 Schiffsladungen mit insgesamt 27 227 Tonnen „Judengut“ transportiert – Möbel, Einrichtungsgegenstände, Kleidung. Die Reichsbahn lenkte 2699 Waggons mit ähnlicher Ladung dorthin, zum Teil aus Frankreich – unbürokratische Soforthilfe für Bombengeschädigte. Mindestens 100 000 Haushalte aus dem Raum Hamburg profitierten damals auf diese Weise von der Ermordung der europäischen Juden, wie der Historiker Frank Bajohr in seiner Studie „Arisierung in Hamburg“ herausgearbeitet hat. Für Zwangsarbeiter entrichteten die Unternehmen in aller Regel Lohn, und zwar an die Staatskasse, für polnische und jüdische Arbeitssklaven seit 1940 zusätzlich zu allen üblichen Abgaben eine weitere „Sozialausgleichsabgabe“ in Höhe von 15 Prozent. Sie bezweckte die Sanierung der infolge des Krieges stark strapazierten Unfall-, Kranken- und Rentenversicherungen zum Nutzen der arischen Solidargemeinschaft. Auch die einbehaltenen Pensions- und Rentenansprüche der vertriebenen und später in den Tod deportierten Juden speisten die sozialen Sicherungssysteme. Die angesparten Lebensversicherungen waren oft in Dollar, Pfund oder Schweizer Franken abgeschlossen worden. Einbehalten haben die Assekuranzgesellschaften davon nichts – doch sie wurden ihrer jüdischen Versicherungsnehmer entledigt. Die waren schließlich, rein versi- Antisemitisches Plakat (1937) „Sozialismus des guten Blutes“ Verhöhnung jüdischer Opfer in Polen (1939) „Durch schnell wirkendes Mittel erledigen“ cherungstechnisch gesprochen, zu schlechten Risiken geworden. Sieht man von wenigen nachrichtenlosen Policen ab, so überwiesen die Versicherer den Rückkaufswert jeder von einem Juden abgeschlossenen Lebensversicherung an die zuständige Oberfinanzdirektion. Jeder Krankenhausaufenthalt eines Deutschen, jede Rente, jede Soldzahlung wurde zu einem nicht unerheblichen Teil aus solchen Staatseinnahmen finanziert. Ähnlich verhält es sich mit dem Beutegold. Die Organisatoren der Vernichtung führten es an die Reichsbank ab. Die Privatbanken, die diese Bestände dann zum Teil übernahmen, bezahlten dafür. Ihre Gewinnspannen waren enorm; sie betätigten sich, das verdient keine Nachsicht, als Hehler. Für die erlösten Devisen oder für das Gold selbst wurde in Schweden Eisenerz erworben, in der Schweiz Butter und Maschinen, in Ungarn Getreide, Speiseöl und Aluminium. Am Ende hatte jeder Deutsche etwas von dem auf seinem Teller, was mit den Barschaften, Guthaben, Eheringen und Goldfüllungen der Ermordeten bezahlt worden war. Der Nationalsozialismus gewann seinen Rückhalt aus der betonten Orientierung am Gemeinwohl der deutschen Mehrheit. Die Politik der Massenvernichtung stand im Dienst dieses Zieles und machte sie, ohne dass die Begünstigten darüber reden und nachdenken mussten, mehrheitsfähig. Im Sommer 1942 setzte der spätere Kriegsernährungsminister Herbert Backe die Lieferung riesiger Mengen von Getreide und Kartoffeln durch, und zwar aus dem besetzten, vom Hunger schon schwer betroffenen Zentralpolen („Generalgouvernement“). Er begründete das am 23. Juni, einen Tag nach einem Treffen mit Himmler: „Im Generalgouvernement befinden sich noch 3,5 Millionen Juden. Polen soll noch in diesem Jahre saniert werden.“ Die Zahl war stark übertrieben, oder es handelt sich um einen Schreibfehler. Jedenfalls gab Backes Verhandlungspartner in Krakau neun Wochen später die richtigen Zahlen mit derselben, deutlicher ausgesprochenen Begründung zu Protokoll: „Die Versorgung der bisher mit 1,5 Millionen Juden angenommenen Bevölkerungsmenge fällt weg, und zwar bis zu einer angenommenen Menge von 300 000 Juden, die noch im deutschen Interesse als Handwerker oder sonst wie arbeiten.“ Das war die Grundlage, auf der Backes Forderungen erfüllt wurden. Die älteren Deutschen erinnern sich auf ihre Weise an den Erfolg dieser Politik, wenn sie mit anklagendem Unterton erzählen: „Im Krieg haben wir nie gehungert, erst danach!“ Liest man dazu das 53 Seiten lange Wirtschaftsgutachten, das das Reichskuratorium für Wirtschaftlichkeit (RKW) im Februar 1941 über das Warschauer Ghetto erstellte, dann wird auch hier der Zusammenhang von materiellem Nutzen und „Die Belagerung hat gegenwärtig den Zweck, die Juden zur Herausgabe ihrer Waren, Gold und Devisenvorräte zu zwingen.“ Aus einem Gutachten über das Warschauer Ghetto, Februar 1941 d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 197 Rassenmord deutlich: „Der j. W. (jüdische Wohnbezirk) gleicht in seiner heutigen Konstruktion einer belagerten Festung. Die Belagerung hat gegenwärtig den Zweck, die Juden zur Herausgabe ihrer Waren, Gold und Devisenvorräte zu zwingen. Ist dies erfolgt, so tritt als wirtschaftliche Aufgabe die Ausnutzung der im j. W. vorhandenen Arbeitskraft in den Vordergrund. Zur Zeit ist aber im Generalgouvernement, von Facharbeitern abgesehen, kein Mangel an Arbeitskraft, sondern ein starker Überschuss vorhanden. Es darf daher bei der Versorgung mit Arbeit nicht eine einseitige Bevorzugung des j. W. erfolgen.“ Ungelöst blieb für den Gutachter, der schon die rücksichtslose Arisierung in Wien besorgt hatte, neben dem Problem des Überschusses von Arbeitskräften das der Ernährung, für das er zwei politische Entscheidungsalternativen anbot: Entweder man versuche „durch eine einigermaßen ausreichende Ernährung die Arbeitskraft der Insassen bezw. besonders bevorzugter Teile zu erhalten“, oder man sehe „den j. W. als ein Mittel an, das jüdische Volkstum zu liquidieren“. Am Ende schlug der Gutachter des RKW drei politische Entscheidungsmöglichkeiten vor. Die radikalste lautete: „Man lässt Unterversorgung eintreten ohne Rücksicht auf die sich ergebenden Folgen.“ Von solchen Wirtschaftsexpertisen war es nicht weit zu dem oft zitierten Brief vom 16. Juli 1941, in dem der Verwaltungsjurist Rolf-Heinz Höppner, der für das Ghetto Lodz zuständig war, an seinen Dienstvorgesetzten Adolf Eichmann schrieb: „Es besteht in diesem Winter die Gefahr, dass die Juden nicht mehr sämtlich ernährt werden können. Es ist ernsthaft zu erwägen, ob es nicht die humanste Lösung ist, die Juden, soweit sie nicht arbeitseinsatzfähig sind, durch irgendein schnell wirkendes Mittel Deportation Würzburger Juden (1942), Auktionsbesichtigung von konfisziertem jüdischem ropäischen Juden begann erst zu dem Zeitpunkt, als sich die wirtschaftlichen, sozialpolitischen und kriegerischen Interessen mit der antisemitischen Staatsideologie trafen. Am 11. April 1942 beschwerte sich Carl Lehmann, ein Galiziendeutscher, beim Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop tief erschüttert über die weithin öffentlichen Erschießungen von mehreren zehntausend Juden in und um Stanislau: „Dieselbe Taktik hat der Herr Krüger auch in anderen Ortschaften des Kreises Stanislau geübt, nämlich in Tatarow, Delatyn, Kossow, Kolomea, Rohatyn und anderen Städten, wo tausende von Juden wurden hingeschossen und lebendig begraben.“ Einer der Referenten Ribbentrops nahm das Himmler in Dachau (1938): Beispielloses Verbrechen Schreiben mit folgender zu erledigen. Auf jeden Fall wäre dies an- Randnotiz zu den Akten: „Über die gegen die Juden im Generalgouvernement ergenehmer, als sie verhungern zu lassen.“ Es ist lange behauptet worden, das Be- griffenen Maßnahmen dürfte an zust. Stelsondere am Holocaust sei die Vernichtung le hinreichende Kenntnis bestehen.“ So und nur so konnte das Projekt „Endum der Vernichtung willen gewesen, das Fehlen jedes materiellen Interesses. Davon lösung“ funktionieren, das hohe SS-Führer kann, das hat die neuere Forschung gezeigt, und Ministerialbeamte am 20. Januar 1942 keine Rede sein: Die Ausrottung der eu- auf der Wannseekonferenz besprochen hatGAMMA / STUDIO X Spiegel des 20. Jahrhunderts Das Jahrhundert des Faschismus: Der Holocaust 198 d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 ten: arbeitsteilig im normalen ministerialen Ablauf, kaltherzig in der sterilen Sprache der Maßnahme. Was Carl Lehmann vom Berliner Ministerialbeamten unterschied, war seine Herzensbildung. Der in dem Brief erwähnte Herr Krüger hieß mit Vornamen Hans, damals 33 Jahre alt, Angehöriger der Sicherheitspolizei und 1941 Leiter des Grenzpolizei-Kommissariats Stanislau. Er war im Gymnasium gescheitert und hatte dann eine Landwirtschaftslehre absolviert; das Landgericht Münster verurteilte ihn 1968 zu lebenslanger Haft, aus der er erst 1986 entlassen wurde. Eine typische SS-Karriere in dieser Zeit – doch hinter den Schreibtischen saß der akademische Nachwuchs. In der Zivilverwaltung des besetzten Ostgalizien waren die Landräte, nach der österreichischen Verwaltungstradition Kreishauptleute genannt, für den Massenmord administrativ zuständig – überwiegend Juristen. Anders als die Chargen der Polizei wurde nach 1945 nicht einer von ihnen bestraft. Ihre soziale Zusammensetzung zeigt sich in den Nachkriegsfunktionen: Oberregierungsrat in Hildesheim Heinz Albrecht, Kreisdirektor von Wipperfürth Viktor von Dewitz, Rechtsanwalt in Düsseldorf Hermann Görgens, angesehener links-liberaler Journalist in Hamburg Klaus Peter Volkmann (Pseudonym Peter Grubbe), Staats- YIVO / USHMM PHOTO ARCHIVES Besitz: „Unendliche Werte bis zum letzten Pfennig beschlagnahmt“ sekretär in Niedersachsen Otto Wendt, Leiter des Deutschen Industrie-Instituts Ludwig Losacker (ehemals Amtschef beim Distriktgouverneur in Lemberg), Geschäftsführer der Gesellschaft für Kernforschung Josef Brandl, Richter am Bundesverwaltungsgericht Hans-Walter Zinser, Sozialminister in Schleswig-Holstein Hans-Adolf Asbach. Diese Herren, die in den ersten Jahrzehnten zur Elite der Bundesrepublik gehörten, hatten sich alle kraft Amtes mit der Vernichtung von insgesamt 500 000 ostgalizischen Juden befasst. Sie waren es, die laut Protokoll in „stürmischen Beifall“ ausbrachen, als der Generalgouverneur des besetzten Polen, Hans Frank, nach den großen Deportationen das Thema „Juden“ im Lemberger Opernhaus mit dem ihm eigenen Ton streifte: „Es war heute keiner mehr zu sehen. Ihr werdet doch am Ende nicht böse mit denen umgegangen sein? (Große Heiterkeit).“ Einer dieser heiteren Kreishauptleute hatte zuvor nach Hause geschrieben: „Zur Zeit siedle ich meine 7000 Juden um. Wie das geschieht, muss ich einmal mündlich berichten.“ Ein anderer hatte einschlägige Völkermordsonette verfasst: „Kugeln klatschen pfeifend in das Nackte.“ In Ostgalizien, das bis zum Juni 1941 sowjetisch besetzt gewesen war, hatte man aus dem Ghettogutachten des RKW für Warschau und einem ähnlichen des Reichsrechnungshofs für Lodz gelernt. Deshalb zeichneten dort bald die Leiter der deutschen Arbeitsämter für die Abwicklung des Mordens verantwortlich. Als Herren über Leben und Tod schritten sie in Ostgalizien zur sogenannten ABC-Registrierung der jüdischen Bevölkerung. „A“ stand für Facharbeiter in deutschen Institutionen, „B“ für allgemein Arbeitsfähige, „C“ für nicht Arbeitsfähige. Folgerichtig bezeichnete man die beschleunigte Massenexekution selbst der Kinder als „Arbeitsamtsaktion“. Am 15. März 1942 begann in Ostgalizien die Deportation „aller entbehrlichen Juden“, nachdem die Erschießungen im Dezember unterbrochen worden waren, weil der Frost das Ausschachten der Massengräber behinderte. Das Vernichtungslager Belzec, in dem die Juden mit Hilfe von Motorabgasen erstickt wurden, war mittlerweile fertig gestellt worden. Bald registrierte die Oberfeldkommandantur in Lemberg die Niedergeschlagenheit der dort beschäftigten jüdischen Zwangsarbeiter: „Es dürfte sich inzwischen herumgesprochen haben, dass die Evakuierten das Aussiedlungsgebiet niemals erreichen.“ Ein Unteroffizier notierte im August 1942 über die Bahnfahrt von Lemberg nach Lublin: „Wir sind am Lager Belzec vorbeigefahren“, plötzlich rief eine Mitreisende: „Jetzt kommt es!“ Zu sehen war dem Bericht zufolge nur eine Hecke und ein offener, mit Kleidung gefüllter Schuppen, zu bemerken aber „ein starker süßlicher Geruch“. – „Die stinken ja schon, sagte die Frau. Ach Quatsch, das ist das Gas, lachte der Bahnpolizist.“ In den gehobenen Kreisen von Partei und Staat kommunizierten die Beteiligten sachlicher. Zum Beispiel berichtete Reinhard Heydrich, Chef des Reichssicherheitshauptamts, am 6. Mai 1942 in Paris im kleineren Kreis deutscher Diplomaten und Offiziere über den Stand der „Endlösung“. Einer der Zuhörer notierte: „Busse, die für den Transport von Juden bestimmt sind und in die man während der Fahrt tödliches Gas einströmen lässt. Ein Versuch, der zum Leidwesen von Heydrich an unzureichender Technik scheitert. Die Busse sind zu klein, die Todesraten zu gering, dazu kommen noch andere ärgerliche Mängel. Weshalb er zum Schluss größere, perfektere, zahlenmäßig ergiebigere Lösungen ankündigt.“ Tatsächlich begannen die Massenvergasungen in Auschwitz im März 1942. Das Vernichtungslager Belzec wurde gleichzeitig in Betrieb genommen, Mitte April aber bereits für sechs Wochen geschlossen, um die tägliche Tötungskapazität auf 2000 Personen zu erhöhen, sie also zu verdreifachen. Die Vernichtungsfilialen Sobibór und Treblinka waren im Bau. Auch die von Heydrich erwähnten Gaswagen wurden verbessert – in einer Expertise vom 5. Juni 1942 fachsimpelte der zuständige SS-Offizier über die technischen Probleme, Begriffe wie „Beschickung“ und „Stückzahl“ umschreiben Juden: „Die Beschickung der Wagen beträgt normalerweise 9 – 10 pro m2. Bei großräumigen Saurer-Spezialwagen ist eine Ausnutzung in dieser Form nicht möglich, weil dadurch zwar keine Überlastung eintritt, jedoch die Geländegängigkeit sehr herabgemindert wird. Vorstehende Schwierigkeit ist nicht, wie bisher, dadurch abzustellen, dass man die Stückzahl vermindert. Bei einer Verminderung der Stückzahl wird nämlich eine längere Betriebsdauer notwendig, weil die freien „Es wird hier ein ziemlich barbarisches Verfahren angewandt, und von den Juden selbst bleibt nicht mehr viel übrig.“ Joseph Goebbels, Tagebuch, 27. März 1942 d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 199 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite sekranken mindestens zweimal diskutiert die Hypothese begründen, dass der Mord worden, deutsche Amtsärzte und Fürsor- an den europäischen Juden der unter gebeamte erwogen, „mit ihnen so zu ver- Kriegsbedingungen vorgezogene und am fahren wie mit den Juden“. Im Sommer weitestgehend realisierte Teil viel größerer 1941 erstellten deutsche Wissenschaftler Vernichtungspläne war. Allerdings sollten ein Gutachten zum Thema „Die Aussied- die Millionen Nichtjuden, die zu Objekten lung aller Polen“. deutscher Rassenpolitik wurden, nicht Ende November desselben Jahres no- prinzipiell und nicht insgesamt ausgerottet tierte sich der Hamburger Bürgermeister werden. Vielmehr wurden die Praxis und Carl Vincent Krogmann über die von der Wehrmacht beabsichtigte Konsequenz der Belagerung Leningrads: „Man nimmt an, dass der größte Teil der Menschen, ca. 5 1/2 Millionen, verhungern werden.“ Schon zu Anfang des Russlandfeldzuges hatte ein Vertreter der Einsatzgruppen gegenüber Führungsoffizieren der Heeresgruppe Mitte den Plan erwogen, dass in einem „Brandstreifen“ um Moskau 20 Millionen MenExekution in Lettland (1941): „Ausrottung des jüdischen Volkes“ schen mittels einer organisierten Hungersnot den Tod finden soll- Planung des Mordens je nach Kriegs- und ten. Am weitesten wurden diese Pläne im Interessenlage korrigiert. rückwärtigen Besatzungsgebiet ebendieDas trifft auch auf die verfolgten Sinti ser Heeresgruppe realisiert, in Weiß- und Roma zu. Die mittlerweile immer öfrussland: In diesem Land, das 9,2 Millio- ter wiederholte Behauptung, der nazistinen Einwohner zählte, ermordeten Wehr- schen Zigeunerpolitik seien „eine halbe machts-, Polizei- und SS-Truppen in knapp Million“ Menschen zum Opfer gefallen, ist drei Jahren 700 000 sowjetische Kriegsge- deutlich zu hoch gegriffen. Realistisch kann fangene, mindestens 500 000 Juden, 340 000 angenommen werden, dass etwa 200 000 Bauern und 100 000 Angehörige anderer Sinti und Roma im Namen der deutschen, Bevölkerungsgruppen. Gleichzeitig wur- slowakischen, rumänischen und kroatiden 380 000 weißrussische Männer und schen Rassenpolitik ermordet wurden. In Frauen zur Zwangsarbeit ins Reich ver- den deutsch besetzten Ländern schonte schleppt. man die sozial angepassten, die sesshaften Bezieht man diese hier nur angedeute- Roma nicht selten; seit 1943 gab es dafür ten Ausrottungsprojekte ein, so lässt sich eine ganze Serie ausdrücklicher Befehle. Das ändert nichts an der Schwere auch dieses Völkermordes – jedoch sind im Fall der europäischen Juden solche Einschränkungen nicht erlassen worden. Die Besonderheit dieses Verbrechens ergibt sich aus der Konsequenz der Mörder, aus dem 1941/42 endgültig formulierten Ziel, ausnahmslos alle Menschen auszurotten, die als Rassejuden eingestuft wurden. Wie schlimm die Lage einzelner Völker unter deutscher Herrschaft auch immer war, die Juden hatten die mit Abstand geringsten Überlebensaussichten. Ebendeshalb liegt in ihrem Schicksal etwas Absolutes. Es wird schamhaft-abstrakt als Holocaust eher umschrieben als bezeichnet, weil es die Vorstellungskraft sprengt und jede Annäherung bis heute fragmentarisch bleiben lässt. Die Zeitgenossen der Tat hielten sich an die Beschönigung „Judenevakuierung“. Deutsche Verwaltungsbeamte benutzten den etwas deutlicheren Begriff „Endlösung der Judenfrage“. Selbst in seinem Tagebuch behielt Joseph Goebbels die indirekJüdische Zwangsarbeiter in Weißrussland (1941): „Ausnutzung der Arbeitskraft“ Räume auch mit CO angefüllt werden müssen.“ Bei Christian Gerlach, einem hervorragenden Kenner der nationalsozialistischen Gewaltpolitik, findet sich die folgende kontrafaktische Überlegung: „Hätte das NSRegime im Mai 1941 ein plötzliches Ende gefunden, wäre es vor allem durch die Morde an 70 000 Kranken und Behinderten, an mehreren zehntausend jüdischen und nichtjüdischen Polen und an vielen tausend Konzentrationslagerinsassen im Deutschen Reich berüchtigt geblieben. Zum Ende des Jahres 1941 war die Zahl der Opfer der deutschen Gewaltpolitik um über drei Millionen Menschen angewachsen (die Gefallenen der Roten Armee nicht gerechnet) – darunter etwa 900 000 Juden, neun Zehntel davon in den besetzten sowjetischen Gebieten, und annähernd zwei Millionen sowjetische Kriegsgefangene.“ Erst danach, im Laufe des Jahres 1942, wurden die europäischen Juden zur größten Gruppe unter den Opfern der deutschen Vernichtungspolitik. Man kann noch weiter gehen und fragen, was wäre geschehen, wenn NaziDeutschland sich nicht 12, sondern 24 Jahre gehalten hätte.Viel spricht dafür, dass die Vernichtungspolitik dann noch erheblich ausgeweitet worden wäre. Innenpolitisch stand seit 1941 die Beseitigung von zwei Millionen „Asozialen“ zur Diskussion. In den besetzten Gebieten des Ostens sollten die slawischen Völker um mindestens 30 Millionen Menschen „reduziert“ werden, wobei nicht wenige Bevölkerungsökonomen die Meinung vertraten, die Zahl sei aus Gründen der Nahrungsmittelversorgung, des deutschen Lebensstandards und der für die Ostsiedlung vorgesehenen Hofgrößen deutlich zu niedrig angesetzt. Seit 1942 war im besetzten Polen die Vergasung aller ansteckenden Tuberkulo- BUNDESARCHIV A. BRUTMANN Spiegel des 20. Jahrhunderts Das Jahrhundert des Faschismus: Der Holocaust 202 d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite te Redeweise bei: „Es wird hier ein ziemlich barbarisches, nicht näher zu beschreibendes Verfahren angewandt, und von den Juden selbst bleibt nicht mehr viel übrig.“ Heinrich Himmler, der diese Aufgabe federführend, aber in Kooperation mit anderen Behörden übernommen hatte, sprach nur einmal, im allerengsten Kreis seiner SS-Führer, wortwörtlich von der „Ausrottung des jüdischen Volkes“. Ansonsten achtete er peinlich genau auf sprachliche Sterilität. Die Technik der geheimen Maßnahme war bereits 1939 für die „Euthanasie“-Morde entwickelt worden. Vor der politischen Entscheidung zur Ermordung geistig Be- 1 jüdische Bevölkerung wird vielleicht in ganz später Zeit sich einmal überlegen können, ob man dem deutschen Volke etwas mehr darüber sagt. Ich glaube, es ist besser, wir – wir insgesamt – haben das für unser Volk getragen, haben die Verantwortung auf uns genommen (die Verantwortung für eine Tat, nicht nur für eine Idee) und nehmen dann das Geheimnis mit in unser Grab.“ Die breite Akzeptanz in der deutschen Gesellschaft konnte nur in einer passiven, unausgesprochenen Komplizenschaft erreicht werden. Mehr war aber auch nicht nötig. Die Vernichtungsprogramme mussten daher, wie durchsichtig auch immer, als kriegsbedingte Maßnahmen verschlei- Norwegen Jahr der Volkszählung 1359 758 Zahl der von den Nazis ermordeten Juden (realistische Schätzung nach 1 Wolfgang Benz „Dimension des Völkermords“) Sowjetunion Niederlande 111917 102000 1 Deutsches Reich Belgien Staatsgrenzen 1939 Polen 499682 3 165000 3020171 6 2100000 2732573 2 2700000 90000 7 Tschechoslowakei 28518 Luxemburg 4 3144 356830 1 1200 143000 Österreich Frankreich Ungarn 206000 5 300000 7 725000 8 65459 76134 550000 Rumänien 756930 1 211214 Jugoslawien Italien 46656 6513 Jahr der Volkszählung 1 1930 5 1938 2 1931 6 1939 3 1933 7 1940 4 1935 8 1941 68405 2 60000 bis 65000 Griechenland 69591 7 59185 hinderter in Gaskammern hatte sich Hitler von seinem Leibarzt Theo Morell eine sächsische Umfrage aus den zwanziger Jahren auswerten lassen. Damals waren die Eltern schwer behinderter Kinder – ausdrücklich hypothetisch – von einem Anstaltsdirektor gefragt worden, ob sie „in die schmerzlose Abkürzung des Lebens ihres Kindes einwilligen“ würden. Die Antworten hatten ergeben, dass eine Reihe der Befragten durchaus einverstanden gewesen wären, aber Wert darauf legten, nicht in die Entscheidung einbezogen zu werden. Ihnen sei es lieber, hatten sie gesagt, wenn man ihnen mitteilte, ihr Kind sei den Folgen seiner schweren Leiden erlegen. Morell folgerte daraus für seinen überlieferten Vortrag bei Hitler: „Man darf nicht denken, dass man keine heilsame Maßnahme ohne das Placet des Souveräns Volk ausführen könnte.“ Ganz ähnlich argumentierte Himmler, als er 1943 den Reichs- und Gauleitern über die Judenvernichtung berichtete: „Man 204 5 d e r ert bleiben. In der sprachlichen Tarnung, in der Deklarierung als „Geheime Reichssache“, lag eine Offerte an jeden Einzelnen: Er brauchte sein Gewissen damit nicht zu belasten und konnte sich so aus der Mitverantwortung stehlen. Wenn später fast alle damals erwachsenen Deutschen auf den Vorwurf „Ihr müsst das gewusst haben!“ mit selbstsicherem „Nein“ reagierten, dann deshalb. Die richtige Frage lautet: Warum wollte die Mehrheit der Deutschen so wenig wissen? Die Diskussion der letzten Jahre um die Restitution jüdischen Eigentums brachte Belege dafür, dass die Komplizenschaft über die Deutschen hinausging. Bürger und Institutionen vieler Staaten dieses Kontinents profitierten von der deutschen Judenverfolgung. In Warschau, Amsterdam oder Paris gelangten jüdische Wohnungen, Läden und Kleinbetriebe, Gemälde, Schmuck und Antiquitäten vielfach unter deutscher Besatzung in einheimischen Besitz. Nur deshalb hält zum Beispiel die Tschechische Republik die Ari- s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 Deutsche beim Anblick ermordeter russischer Gefangener, US-Soldaten (1945)*: Unausgesprochene Komplizenschaft * Auf amerikanischen Befehl hatten zuvor Zivilisten aus dem westfälischen Suttrop die Leichen aus einem Massengrab geborgen. LITERATUR Saul Friedländer: „Das Dritte Reich und die Juden. Die Jahre der Verfolgung 1933 – 1939“. C. H. Beck Verlag, München 1998; 458 Seiten – Die für diesen Zeitabschnitt beste Synthese. Christian Gerlach: „Krieg, Ernährung, Völkermord. Forschungen zur deutschen Vernichtungspolitik im Zweiten Weltkrieg“. Hamburger Edition, Hamburg 1998; 308 Seiten – Aufarbeitung bisher unbekannter Quellen. belegen diese Zusammenhänge.Viele deutsche Historiker übergehen solche Dokumente, mitunter weil sie nicht in ihr Weltbild passen, meistens aber um den Eindruck nationaler Selbstentlastung zu vermeiden. Es stellt sich jedoch die Frage, inwieweit das Projekt „Endlösung“ die deutsche Gewaltherrschaft im besetzten Europa stabilisierte und eher zur Integration als zum Widerstand der unterworfenen Völker beitrug. In diesem Zusammenhang müssen auch am Volkswohl orientierte Ideen zur Eigentumsumverteilung gesehen werden, die ganz Europa beherrscht haben. So gingen die politischen Leitbegriffe des gemeinnützigen Raubes – in Russland die „Sowjetisierung“, in Polen die „Polonisierung“, in der Tschechoslowakei die „Tschechisierung“ – dem erst später entwickelten Schlagwort „Arisierung“ um mehr als ein Jahrzehnt voraus. Die Enteignung stigmatisierter Minderheiten und Klassen gereichte, bei aller Unterschiedlichkeit der jeweiligen Praxis, stets zum Vorteil des kollektiv geadelten Staatsvolks. Sie war lange vor der NS-Herrschaft in vielen Staaten Europas populär. Für den Erfolg der NSDAP bildete die Idee vom nationalen Sozialismus die wichtigste politische Grundlage. Sie stützte sich auf die Lehre von der Ungleichheit der Rassen und versprach den Angehörigen der Herrenrasse – und das war die übergroße Mehrheit der Deutschen – im selben Atemzug mehr Chancengleichheit und bessere Aufstiegsmöglichkeiten als während der Kaiserzeit und noch in der Republik. So gesehen ist der Rassismus – einschließlich des beispiellosen Staatsverbrechens der „Endlösung der Judenfrage“ – eine Spielart des Egalitarismus, also einer der stärksten Tendenzen des 20. Jahrhunderts. Wassili Grossman, Ilja Ehrenburg (Hrsg.): „Das Schwarzbuch. Der Genozid an den sowjetischen Juden“. Rowohlt Verlag, Reinbek 1994; 1150 Seiten – 1944/45 im Auftrag des Jüdischen Antifaschistischen Komitees, Moskau, erarbeitete Dokumentation. Raul Hilberg: „Die Vernichtung der europäischen Juden“. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1994; drei Bände, 1350 Seiten – Pionierwerk von 1961. Dieter Pohl: „Nationalsozialistische Judenverfolgung in Ostgalizien 1941 – 1944. Organisation und Durchführung eines staatlichen Massenverbrechens“. Oldenbourg Verlag, München 1996; 456 Seiten – Die bislang gründlichste Regionalstudie. Leni Yahil: „Die Shoah. Überlebenskampf und Vernichtung der europäischen Juden“. Luchterhand Verlag, München 1998; 1056 Seiten – Gesamtdarstellung, die viele Zeugnisse der Ermordeten und Entronnenen berücksichtigt. d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 Der Autor Götz Aly, 52, Privatdozent an der FU Berlin und Redakteur der „Berliner Zeitung“, veröffentlichte „‚Endlösung‘. Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden“ (S. Fischer Verlag, 1995). BERLINER ZEITUNG sierungsakten bis heute eisern unter Verschluss. Die Ablehnung der Deportation ihrer jüdischen Staatsbürger durch die dänische Regierung oder durch das faschistische Italien blieben Ausnahmen. Französische Polizisten trieben die todgeweihten Juden im besetzten und unbesetzten Frankreich zusammen. Holländische Bürokraten lieferten den Besatzungsherren jene Personendateien aus, die Auskunft über das religiöse Bekenntnis gaben. Lettische und ukrainische Hilfsverbände stellten die Mannschaften zahlloser Exekutionskommandos, bald schon wurden „fremdvölkische Hiwis“ des Völkermords aus den Reihen gefangener Rotarmisten angeworben. Die Deportation von 440 000 ungarischen Juden bewältigte Adolf Eichmann 1944 binnen drei Monaten mit einem Stab von 60 deutschen Mitarbeitern, gestützt auf die hoch motivierte Gendarmerie des Landes. Unzählige Primärquellen, Zeugenvernehmungen und Berichte Überlebender 205 Spiegel des 20. Jahrhunderts XXP / DER SPIEGEL Das Jahrhundert des Faschismus: Der Holocaust Werbeseite Werbeseite Das Jahrhundert des Faschismus: Der Holocaust STANDPUNKT Des Teufels Armee Von Ralph Giordano Spiegel des 20. Jahrhunderts von ihnen missachteten Paragrafen Widerstand leistende Okkupierte wahllos zu erschießen (während bei umgekehrtem Kriegsverlauf natürlich jeder deutsche Partisan als Nationalheld gefeiert worden wäre). Auch die Männer des 20. Juli sind längst missbraucht als Galionsfiguren eines nie exemplarischen Widerstands der Hitlerwehrmacht. Subjektiv: Natürlich ist die Verantwortungsskala für den Angriffskrieg, für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit hierarchisch abgestuft. Ganz oben auf der Leiter steht die politische und die militärische Führung, auf den unteren Sprossen vor allem die jungen Soldaten, die von Kind an der NS-Indoktrination ausgesetzt waren. Und natürlich ist deshalb auch kein wahres Wort an dem absichtsvoll diskriminierenden Anwurf der Wehrmachtsapologeten, die Wehrmachtskritiker stempelten jeden Soldaten zum Verbrecher. Doch wenngleich die Kampfmotivation des Wehrmachtsmuschiks und vieler Offiziere wohl kaum darin bestanden haben dürfte, Himmlers Mordgesellen und Tätern in den eigenen Reihen den Raum freizuschießen – genau das war die Folge ihres Kampfes unter dem Hakenkreuz. Es gab Adolf Hitler nicht zweimal – der Bauherr von Auschwitz war in Personalunion auch Schöpfer der Wehrmacht und ihr Oberster Befehlshaber. Mag die Erkenntnis angesichts so vieler eigener Gefallener noch so bitter sein – die Wehrmacht war, in Abwandlung eines berühmten Zuckmayerschen Dramentitels, nie etwas anderes als „des Teufels Armee“. BPK W ehrmacht und Krieg sind, torialgewinne der Wehrmacht – erst ihre wenngleich neuerdings ziem- Siege schufen die Voraussetzungen für lich abgemagert, die letzten die ungeheuerliche Ausweitung des Heiligen Kühe in der langen Chronik Opferpotenzials. Der Massenmord war arbeitsteilig deutscher Verdrängungskünste nach 1945. Ihre Codewörter: „Sauberer Waf- zwischen Wehrmacht und SS geregelt. fenrock“, „Wertfreier Kampf“, „Zeitlo- Dazu zählten von der Wehrmacht in se soldatische Tugenden“ – als hätte der jeder eingenommenen Ortschaft angeAnschlag Hitlerdeutschlands auf die brachte Aufforderungen zur RegistrieWelt in einer Art historischem Vakuum rung aller Juden. Diese Maßnahme befähigte die perstattgefunden. Dazu ist objektiv festzustellen: Die sonell eher schwach ausgestatteten TöWehrmacht war das Schwert, das ge- tungskommandos der vier Einsatzgrupfährlichste Instrument in den Händen pen A, B, C und D nach ihren eigenen der verbrecherischen NSReichsführung zur Realisierung ihres Angriffskrieges und seiner Eroberungs-, Raub- und Unterdrückungspläne. Die Wehrmacht hat das kriminelle Nazi-System mit Waffengewalt über die deutschen Grenzen hinaus bis an die Wolga und den Polarkreis, den Rand der Sahara und die Atlantikküste katapultiert, vom ersten Schuss an unermessliches Leid über die langjährig besetzten Völker gebracht und Exekution von Russen (1942): Himmlers Mordgesellen durch ihren militärischen Kampf Millionen Menschen Leben, Ge- Ereignismeldungen an die Schaltzentrale Reichssicherheitshauptamt, 1941/42 sundheit, Hab und Gut gekostet. Unabhängig davon, dass es bis auf den hinter der Ostfront innerhalb weniger heutigen Tag der weiße Fleck im histo- Monate Hunderttausende, meist Juden, rischen Bewusstsein einer deutschen umzubringen. Nur wo zuvor der Landserstiefel hinMehrheit geblieben ist: Der Krieg war das NS-Hauptverbrechen, selbst wenn getreten hatte, konnten die mobilen die Wehrmacht keinem einzigen Zivili- Mordkommandos der SS operieren, die sten auch nur ein Haar gekrümmt hätte. stationären Todesfabriken errichtet werDas Hauptverbrechen war der Krieg, den, und schließlich, überwältigend doaber auch deshalb, weil er den Rahmen kumentiert, auch Teile der Wehrmacht für den industriell betriebenen Massen- unvorstellbare Verbrechen an Zivilisten und Völkermord abgesteckt hat – der begehen, vor allem unter dem DeckRadius des Vernichtungsapparats war bei mantel der Partisanenbekämpfung. Die gleichen Okkupanten, deren AnVormarsch und Rückzug stets identisch griffskrieg jedes Völkerrecht und alle inmit dem der deutschen Fronten. Kein Holocaust, keine Massaker an ternationalen Abmachungen gebrochen nichtjüdischen Slawen, an Kriegsgefan- hatte, fühlten sich makabrerweise begenen, Sinti und Roma ohne die Terri- rechtigt, unter Berufung auf ebendiese Giordano, 76, ist Schriftsteller („Die Bertinis“). DIE THEMENBLÖCKE IN DER ÜBERSICHT: I. DAS JAHRHUNDERT DER IMPERIEN; II. … DER ENTDECKUNGEN; III. … DER KRIEGE; IV. … DER BEFREIUNG; V. … DER MEDIZIN; VI. … DER ELEKTRONIK UND DER KOMMUNIKATION; VII. … DES GETEILTEN DEUTSCHLAND: 50 JAHRE BUNDESREPUBLIK; VIII. … DES SOZIALEN WANDELS; IX. … DES KAPITALISMUS; X. … DES KOMMUNISMUS; XI. DAS JAHRHUNDERT DES FASCHISMUS; XII. … DES GETEILTEN DEUTSCHLAND: 40 JAHRE DDR; XIII. … DER MASSENKULTUR d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 207 Sport FUSSBALL Philosoph in der A-Klasse FOTOS: H. RUDEL Mit Ralf Rangnick als Trainer sollte alles besser werden beim VfB Stuttgart. Doch hinter dem missionarischen Eifer des Sportlehrers steckt auch Naivität. Die Mannschaft ist Tabellenletzter, etliche seiner Ideale hat der Coach bereits zurückgestellt. Trainer Rangnick, VfB-Spieler Dundee, Bordon, Balakow: Seltsame Mischung aus Innovationseifer und konservativen Gesten D er Mann verspricht Wiedergutmachung. Sein Gesicht erscheint überlebensgroß auf der Videowand des Gottlieb-Daimler-Stadions. Der Blick ist ernst und entschlossen, aber nicht unfreundlich. „Wir alle wissen, dass wir in Hamburg einen Riesenscheiß zusammengespielt haben“, schallt es durch das Oval. Und: „Wir sind heute hier, um diese Scharte auszuwetzen.“ Zwei Stunden später ist der Blick noch ernster. Es hat wieder nicht geklappt. Wie er so dasteht in den Katakomben der Arena, in der langen roten Turnhose, die ein, zwei Nummern zu groß ist, den weißen Joggingschuhen und der einfachen Sportuhr am Handgelenk, sieht Ralf Rangnick, 41, aus wie ein Mitglied des Betreuerstabs, das für die Zubereitung der isotonischen 208 Getränke Verantwortung trägt. Aber er ist der Trainer des Bundesligavereins VfB Stuttgart, der sich gerade einem Fernsehinterview stellt. Der Flur ist schrecklich schmal. Zweimal muss die Befragung unterbrochen werden, weil dienstbare Geister dicke Alukoffer durch die Menge bugsieren. Rangnick lässt sich dadurch in seiner wohlformulierten Analyse nicht stören. Als das Gespräch vorbei ist, nickt er dem Journalisten kurz zu, dreht sich um und geht. Kein Schulterklopfen, keine überflüssigen Worte. Ein neuer Ton ist eingezogen beim schwäbischen Traditionsclub. Ausgerechnet ein Herr Unauffällig im Trainingsanzug sollte die launische Diva aus Stuttgart wieder auf den rechten Weg führen. Doch d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 nach drei Spieltagen hat sich der VfB auf dem letzten Tabellenplatz eingenistet – ein Vereinsrekord der negativen Art. Fast zwangsweise fragt sich die kurzatmige Fußballbranche, wie lange die Liaison noch hält. In der vergangenen Saison brauchte Präsident Gerhard Mayer-Vorfelder vier Trainer, um am letzten Spieltag den Abstieg zu vermeiden. In seiner 24-jährigen Regentschaft ist Rangnick die Nummer 20. Fußball-Pädagogen verschiedenster Prägung hat der Christdemokrat über die Jahre an seinen Hof gelockt: Charmeure und Dampfplauderer, Motivationskünstler und Weltmänner – und nun einen examinierten Sport- und Englischlehrer, der nie ein Spiel als Fußballprofi bestritten oder gar eine Erstligamannschaft trainiert hat. Joachim Löw, VfB-Trainer von 1996 bis 1998, war so ein Typ. Eigentlich sollte der Assistent des zurückgetretenen Rolf Fringer nur bis zur Ernennung eines neuen Chefs die Elf führen, doch dann geschah Unverzeihliches: Das Team gewann Spiel um Spiel – und Mayer-Vorfelder musste den Interimscoach befördern. Als die Erfolgskurve dezent kippte, setzte der Vereinsboss den beliebten Löw vor die Tür. Auch Rangnick hat so seine Erfahrungen mit dem Führungsstil des politischen Rechtsaußen. Anfang der neunziger Jahre arbeitete er als A-Jugendtrainer und Jugendkoordinator für den VfB. Nach vier Jahren zog Rangnick beleidigt davon, weil er seine Vorstellungen nicht durchsetzen konnte. In Ulm durfte sich der ehemalige Amateurkicker verwirklichen. Den örtlichen SSV von 1846 führte er rasch in die Zweite Bundesliga und an deren Tabellenspitze. Das reichte, um als strategischer Genius in die Schlagzeilen zu stürmen. Und es reichte, um von Mayer-Vorfelder – und auf Druck von dessen Vorstandskollegen – als neuer Heilsbringer für die marode VfBTruppe präsentiert zu werden. Jetzt versucht Rangnick zu beweisen, dass man „erfolgsorientierten“ Fußball nicht nur in der beschaulichen Provinz, sondern auch im ungemütlich anspruchsvollen Stuttgart „anders“ betreiben kann. Während einige seiner Kollegen mit prall gefüllten Geldkoffern durch die Welt reisen, predigt er seiner vergleichsweise namenlosen Mannschaft die „ballorientierte Raumdeckung“ – seine Philosophie von modernem Fußball, in der jeder Akteur eine wichtige Rolle spielt, aber keiner unersetzbar ist. Der Star ist das System. Rangnick ist kein impulsiver Gefühlsmensch. Worte wie „Der Rasen muss brennen“, die Vorgänger Schäfer so gern bemühte, sind ihm ein Gräuel. Der Backnanger spricht zwar den Dialekt der Fans, aber er spricht nicht ihre Sprache. Wenn er über Fußball redet, könnte man meinen, er doziere über Schach: „Wenn der Gegner den Ball besitzt, muss bei uns die ganze Mannschaft mit einem gemeinsamen Zug reagieren und entsprechend vorausdenken.“ Er ist ein akribischer Arbeiter, der einen Sportpsychologen der Uni Heidelberg ins Trainingslager einlud, um seine Spieler dafür „zu sensibilisieren, dass der Kopf mitkicken muss“. Er ist ein Perfektionist, bei allem, was er tut. Wenn er Autogramme gibt, schreibt er immer seinen Vornamen aus. Selbst das K des Nachnamens bringt er noch so aufs Papier, wie er es in der Grundschule gelernt hat. Umso mehr wurmt es ihn, dass schon nach drei Spieltagen sein ausgeklügeltes System im Zentrum der Kritik steht. Nach dem Totalausfall beim 0:3 in Hamburg schienen ihm die ersten Profis bereits die Gefolgschaft zu verweigern. „So geht es nicht“, stöhnte Stürmer Pavel Kuka, „es ist zu kompliziert, wir müssen wieder einfachen Fußball spielen.“ Rangnick kann so etwas nicht nachvollziehen. Bayerns Trainer Ottmar Hitzfeld habe nach der Niederlage gegen Leverkusen doch auch niemand gefragt, ob er die richtige Spielform gewählt habe. Dass es bei Rangnick aber so gekommen ist, hat er sich selbst eingebrockt. Im vergangenen Dezember trat er im „Aktuellen Sport-Studio“, damals noch in Diensten des SSV Ulm, an eine Magnettafel und kündete der Nation von der richtigen Taktik für die Zukunft des Fußballs. Rangnick hat seitdem nicht mehr nur noch Freunde. In der Szene wird er von vielen zynisch „Professor“ genannt; sogar DFB-Teamchef Erich Ribbeck, dessen strategische Kreativität als leicht überschaubar gilt, tadelte den Nobody. „Damit kann ich leben“, sagt er tapfer. Aber es nervt. Heute würde er eine solche OberlehrerNummer nicht mehr machen, auch wenn er die ganze Aufregung nicht verstehen will. Nach der Sendung, sagt er, hätten sich bei ihm unheimlich viele Frauen gemeldet und dafür bedankt, dass er ihnen die ballorientierte Raumdeckung etwas näher gebracht habe. „Vielleicht“, so Rangnick, sei „die heftige Reaktion des DFB-Teamchefs auch so zu erklären, dass ihn seine Frau nachher gefragt hat: Warum habt ihr nicht so gespielt?“ Mit einer seltsamen Mischung aus Innovationseifer und konservativen Gesten will Rangnick auf der Bundesligabühne bestehen. Er setzt auf Werte, die im Fußballgeschäft nicht mehr zu den alltäglichen Tugenden gehören: „Der gegenseitige Respekt und das Interesse für den Mitspieler müssen vorhanden sein.“ Wenn er morgens vor dem Training die Kabine betritt, reicht er jedem Spieler die Hand und erkundigt sich nach dem persönlichen Befinden. Am Anfang haben ihn einige Profis ziemlich verdutzt angesehen, weil sie so viel Zuwendung bisher nicht gewohnt waren. Für Rangnick ist das völlig normal, „ein Teil meines Selbstverständnisses“. Auch bei der Suche nach neuen Spielern ging der Fußball-Lehrer Wege, die durchaus einleuchten – in der Branche aber zu Irritationen führen: Rangnick klingelte einfach bei einem Wunschkandidaten durch. Kurz darauf bekam er einen Anruf * Bei der Vorstellung von VfB-Trainer Winfried Schäfer am 21. Mai 1998. Präsident Mayer-Vorfelder* d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 BAUMANN „Wir waren uns in allen Gremien einig, dass dieser Mann genau unser Anforderungsprofil des neuen Trainers erfüllt“, begründete Mayer-Vorfelder im Politjargon die Wahl. Das verblüfft insofern, weil der emeritierte Landesminister sich stets zu schillernden Persönlichkeiten wie Arie Haan, Christoph Daum, Jürgen Sundermann oder Winfried Schäfer hingezogen fühlte. Mit feineren Charakteren vom Schlage Rangnicks konnte der derbe, trinkfeste Schwabe nie etwas anfangen. Vier Trainer in einer Saison 209 ZDF Sport Studiogast Rangnick, Moderator Steinbrecher*: Nachhilfe vom Oberlehrer von dessen Berater, der einen strengen Tadel erteilte. Rangnick ist im Schwabenländle forsch angetreten. „Wenn Frank Verlaat geht, gehe ich auch“, hatte er gedroht. Der Libero wurde für acht Millionen Mark an Ajax Amsterdam verkauft; der Trainer ist geblieben. Es sollte, so wünschte er, kein Kicker verpflichtet werden, mit dem er nicht wenigstens auf Englisch kommunizieren könne. Jetzt sind mit den beiden Brasilianern Marcelo Bordon und Didi und dem Rumänen Viorel Ganea drei neue Spieler im Kader, die weder Deutsch noch Englisch beherrschen. Dolmetscher vermitteln die Taktik. Um den „Charakter der Mannschaft“ zu ändern, wollte der Reformer einige der saturierten Stars loswerden. Für die meisten fand sich jedoch kein Käufer – so muss Rangnick mit einem auf 30 Mann aufgeblähten Kader arbeiten. Der Personalüberhang ist beim Einstudieren des fortschrittlichen Spielsystems eher hinderlich. Der Neuaufbau, so hat Rangnick einsehen müssen, dauert länger als vorgesehen. Doch der Novize, der „jeden Samstag ein Happening im Stadion“ angekündigt hatte, genießt viel Kredit in Stuttgart. Mayer-Vorfelder weiß, dass ein erneuter Trainerwechsel ihn wohl sein Präsidentenamt kosten würde. Der Aufsichtsrat will unter allen Umständen an Rangnick festhalten. Umso unbegreiflicher, dass sich der Coach nach nur drei Spielen selbst in Frage stellte. Am kommenden Samstag in Unterhaching stehe nicht nur für die Mannschaft, sondern auch für den Trainer viel auf dem Spiel. So reden Fußball-Lehrer, die schon weidwund sind. * Im „Aktuellen Sport-Studio“ des ZDF am 19. Dezember 1998. 210 d e r Offenkundig wollte Rangnick besonders lebensnah wirken, als er betonte, dass „die Mechanismen der Branche“ auch bei ihm greifen werden. Die Äußerung geriet zum Eigentor. Genüsslich nahm „Bild“ die Steilvorlage auf und titelte: „Rangnick weiß: Es geht schon um seinen Job“ – und der Trainer lamentierte über die böse Macht der Medien. So schimmert hinter dem sympathisch Missionarischen an Rangnick bisweilen Naivität durch. In einer Disziplin ist er längst medaillenverdächtig: im Zurückrudern. Um die Dekadenz im Bundesliga-Business zu bekämpfen, logiert der VfB im „Natürlich werde ich einem Balakow nicht vorschreiben, was er für ein Auto fahren darf“ Hotel zwar jetzt mit einem Stern weniger. Die Einzelzimmer für ein paar verwöhnte Stars wurden gestrichen. Doch die Vision, dass er seinem Personal die teuren Autos und pausenlos klingelnden Handys abgewöhnen könne, hat er wie etliche andere Vorsätze längst aufgegeben. „Natürlich werde ich einem Balakow nicht vorschreiben, was er für ein Auto fahren darf.“ Dafür ist es längst zu spät. Bei den jungen Spielern, immerhin, hofft der Weltverbesserer noch Gehör zu finden. Bisher kam jeder Stuttgarter Spieler nach seinem Bundesliga-Einsatz gleich in den Genuss der großzügigen Leasing- und Kaufkonditionen des DaimlerChryslerKonzerns. Künftig solle kein Spieler, der am Freitag sein Debüt gibt, montags ein teures Cabriolet bestellen. Solchen Kandidaten will Rangnick „zum Einstieg eine AKlasse“ anempfehlen. Alfred Weinzierl s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Sport O LY M P I A „Den Gigantismus bekämpfen“ B. ESPOSITO / KEYSTONE PRESS ZÜRICH IOC-Reformer Jacques Rogge über Korruption, Doping und seine Ambitionen, Präsident Juan Antonio Samaranch zu beerben Olympia-Funktionär Rogge*: „Keine Gesellschaft ändert sich ohne Revolution“ Rogge, 57, nahm als Segler an drei Olympischen Spielen teil, wurde einmal Weltmeister im Finn-Dinghy. Der Chirurg aus Gent, vom belgischen König zum Chevalier geschlagen, ist Mitglied der Exekutive des Internationalen Olympischen Komitees (IOC). Er gehört zu einer Reform-Arbeitsgruppe, zu der auch Henry Kissinger und Boutros Boutros-Ghali zählen, die die künftige Struktur des IOC entwickelt. SPIEGEL: Herr Rogge, schon im Dezember soll die Vollversammlung die neue Struktur des IOC verabschieden. Haben es die Olympier so eilig, weil sie sonst ihre Entmündigung fürchten? Rogge: Weil es da eine Anhörung vor dem Handelsausschuss des US-Senats gab? Weil die Bundespolizei FBI ermittelt? Nein. Diese Gefahr sehe ich nicht, ich kann keine Tendenz zur feindlichen Übernahme entdecken, weder durch die Wirtschaft noch durch die Politik. SPIEGEL: In den USA, wo die meisten Olympia-Sponsoren sitzen, wird der Status des IOC als gemeinnützige Organisation * Am 28. April bei einer Pressekonferenz in Sydney. 214 von weit reichenden Reformen abhängig gemacht. Rogge: Verlieren wir diesen Status, dann schadet das am Ende den US-Athleten. Das kann gesunder Menschenverstand nicht wollen. Das amerikanische Olympiakomitee erhält vom IOC mehr Mittel als alle anderen 199 nationalen Komitees zusammen. Und was die Reformen betrifft, sagen viele: Ihr ändert ja nur etwas, weil es Kritik gibt. Denen antworte ich: Natürlich. Keine Gesellschaft der Welt ändert sich ohne eine Revolution. Man brauchte die Französische Revolution, um den König enthauptet zu sehen. SPIEGEL: Wozu braucht es eine Reformkommission in Kompaniestärke? Rogge: Ich war auch anfangs skeptisch. 80 Leute – wie kann man da effektiv arbeiten? Aber es funktioniert. Leute wie Kissinger, Boutros-Ghali oder Gianni Agnelli geben uns eine Menge Hilfe. SPIEGEL: Welche zum Beispiel? Rogge: Viele dachten, wir müssten künftig zu hundert Prozent Repräsentations-Mitglieder im IOC haben. Also gewählte Vertreter der Nationalen Olympischen Komitees, der Athleten, der Verbände. Das sei d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 total demokratisch. Der Rat dieser Leute von außen aber war: Ihr braucht eine Mehrheit von unabhängigen Mitgliedern, die keiner Interessengruppe verantwortlich sind. Sonst, hieß es, werdet ihr sein wie die Vereinten Nationen, wo eine Gruppe gegen die andere arbeitet. SPIEGEL: Stimmt es, dass Sie selbst nie eine Olympia-Bewerberstadt besucht haben? Rogge: Ja, ich hatte immer schon das Gefühl, dass die ganze Atmosphäre rund um diese Besuche für das IOC nicht gut sei. Schon wegen der Gerüchte über Geschenke und Bestechung. Ich wollte damit nicht in Verbindung gebracht werden und denke noch immer: Ich kann über die Vergabe der Spiele mit entscheiden, ohne die Städte besucht zu haben. SPIEGEL: So denken nicht alle Ihre Kollegen. Rogge: Ich verstehe das. Die beste Lösung wären deshalb Gruppenbesuche. Alles bezahlt und kontrolliert vom IOC, nicht von der Kandidatenstadt. Eine Art Guided Tour also, bei der es keine Geschenke und damit keine Probleme geben kann. SPIEGEL: Haben die Korruptionsskandale Ihre Ambitionen verstärkt, Präsident Samaranch in zwei Jahren zu beerben? Rogge: Als ehemaliger Athlet habe ich den Reflex eines Wettkämpfers. Und ich habe den Reflex eines Arztes: Die Leute kommen mit Problemen zu mir, und ich versuche, sie zu lösen. Das ist in meinem Leben hart trainiert worden, berufsmäßig bin ich ein Troubleshooter. Ich liebe diese Periode im IOC nicht. Ich war geschockt von den Vorfällen, empört. Das hat aber nicht den Willen gemindert, die Dinge zu lösen. SPIEGEL: Also treten Sie an? Rogge: Ich entscheide das nach den Spielen in Sydney. Mein Job lehrt mich, im Leben demütig zu sein. Auch meine Vergangenheit als Athlet: Ich habe mehr Rennen verloren als gewonnen. Was ich meine, ist: Niemand würde antreten, der keine Chancen hätte, gewählt zu werden. Wir haben viele gute Leute, und ich bin nicht so pessimistisch, dass ich dächte, die Zukunft des IOC hinge von einem durch die Vorsehung bestimmten Mann ab. Außerdem ist es kein angenehmer Job, für die Lebensqualität eher ein Desaster. Aber wenn man eigene Visionen realisieren will, ist es nötig, in dieser Position zu sein. SPIEGEL: Wie sieht das IOC in Ihren Visionen aus? Rogge: Das IOC sollte sich darauf konzentrieren, die bestmöglichen Spiele für die Athleten zu organisieren und die olympische Philosophie zu verbreiten. Das ist genug. Es ist falsch zu glauben, wir seien die Regierung des Sports. Durch die Reformen können wir uns in der Kommunikation verbessern, transparenter und nüchterner werden.Wir müssen den Gigantismus bekämpfen und neu definieren, wie groß die Spiele sein dürfen. Eine riesige Aufgabe ist es, den Athleten nach der Karriere zu helfen, in ein berufliches und soziales Leben zu L. BONGARTS / BONGARTS Weltmeister Anton*: „Wir haben unsere Lektion gelernt“ SPIEGEL: Politiker wie der deutsche Innen- minister Otto Schily sehen das anders. Sie wehren sich dagegen, dass die Agentur am IOC-Sitz Lausanne installiert werden soll. Rogge: Wir haben Herrn Schily erklärt, dass wir in Fragen des Agentur-Sitzes keinerlei Forderungen stellen. Wir sind einverstanden, wenn es nicht Lausanne ist. SPIEGEL: Wie gehen Sie mit den Boykottdrohungen mancher Politiker um, die Millionengelder in den Sport investieren? Rogge: Manchmal ist es gar nicht so schlecht, wenn die Staaten intervenieren. Nehmen Sie die Doping-Verfolgung bei der Tour de France im vergangenen Jahr. Die Sportbewegung hat kein Recht, in ein Hotelzimmer zu gehen und den Koffer eines Athleten zu öffnen. Die Polizei kann das. SPIEGEL: Die ethischen Werte wie Fair Play sind beim IOC unter die Räder gekommen. Wie kann die olympische Idee ihre Glaubwürdigkeit zurückgewinnen? Rogge: Wenn Sie mich fragen, ob der Sport weniger glaubwürdig ist als 1920, dann ist meine Antwort: Nein. Früher entschied das Geld, wer an Olympischen Spielen teilnehmen konnte. Das war die Zeit des Amateurismus. Es waren Aktivitäten von Reichen, der Sport war sehr unsozial. Und bis zu den Spielen in Los Angeles 1984 hatten die Entwicklungsländer praktisch keinen Zutritt. Wir hatA. HASSENSTEIN / BONGARTS finden. Und in Sachen Doping kann sich auch mehr bewegen. SPIEGEL: Die olympische Kernsportart Leichtathletik hat es da heftig erwischt. Zuletzt berichtete der spanische Marathonläufer Pablo Sierra von organisiertem Epo-Doping, der Portugiese Domingos Castro hält 80 Prozent der Topathleten für gedopt; auch Weltmeister Abel Anton wird verdächtigt. Rogge: Es wäre naiv zu glauben, irgendeine Sportart wäre von Doping-Problemen unberührt. Leider wissen wir nicht, wie groß das Problem wirklich ist. Wir können Epo und Wachstumshormone nicht aufspüren. Deshalb hat das IOC entschieden, noch einmal zwei Millionen Dollar in die wissenschaftliche Forschung zu stecken. SPIEGEL: Wird es bei Olympia in Sydney Bluttests geben? Australiens Sportministerin Jackie Kelly sieht da gute Chancen. Rogge: Wenn Frau Kelly Recht hat, bin ich der glücklichste Mensch. Nur, als Mediziner muss ich Ihnen sagen: Ich wäre sehr überrascht, wenn es bis Sydney so weit wäre. Das Problem ist ja, künstlich hergestelltes Wachstumshormon von körpereigenem zu unterscheiden. SPIEGEL: Der Münchner Endokrinologe Christian Strasburger hat so ein Nachweisverfahren entwickelt. Rogge: Das Wachstumshormon baut sich im Körper schnell ab. Die Chance, dass ein Athlet so dämlich ist, es kurz vor dem Wettkampf zu nehmen, ist beinahe null. Zum anderen können Mediziner leicht sagen, sie hätten einen Test mit 98 Prozent Gewissheit. Aber der Richter, der einem Athleten die Goldmedaille wegnehmen muss, will 100 Prozent Gewissheit. SPIEGEL: Wann endlich kommt die internationale Anti-Doping-Agentur? Rogge: Ich fürchte, nicht vor Ende des Jahres. Nicht unseretwegen dauert das so lange. Es sind die Regierungen, mit denen wir laut Resolution zusammenarbeiten wollen, die uns wissen ließen: Wir brauchen Zeit. Nun haben wir eine Menge Deklarationen, aber es passiert nichts. IOC-Präsident Samaranch (r.)* „Der Stil muss sich ändern“ * Oben: bei seinem Sieg im Marathonlauf in Sevilla am 28. August; links: bei einem Empfang in der deutschen Botschaft mit LeichtathletikWeltverbandspräsident Premio Nebiolo und Bundesinnenminister Otto Schily am 28. August in Sevilla. d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 ten die politische Ausnutzung der Spiele 1936 in Berlin, später die Periode der politischen Boykotte. Sie sehen, zu jeder Zeit hatten wir Probleme mit der Gesellschaft. Und was das IOC angeht: Wir haben unsere Lektion gelernt. Wir haben die Leute, die unethisch gehandelt haben, ausgeschlossen. SPIEGEL: Hätte Samaranch nicht zurücktreten müssen? Rogge: Ein neuer Präsident braucht immer ein paar Jahre, um seine Macht aufzubauen. Außerdem macht Samaranch in dieser Sache einen guten Job. Als die Krise hochkam, hatten wir eine Exekutivsitzung. Samaranch schaute während des Mittagessens in die Dokumente. Er kam zurück und entschied sofort, dass wir den ganzen Skandal aufklären und aufräumen müssten. Dies ist ja keine glückliche Periode zum Ende seines insgesamt sehr erfolgreichen Mandats. Er hatte die Wahl, abzuhauen oder es anzupacken. Er packte es an – meine Gratulation! SPIEGEL: Worin sollte sich ein künftiger IOC-Chef von dem Marques de Samaranch unterscheiden? Rogge: Er müsste Samaranchs Qualitäten haben – und darüber hinaus ein leicht anderes Verhalten, einen zeitgemäßen Stil. SPIEGEL: Inwiefern? Rogge: Samaranch führt ein sehr einfaches Leben. Er isst kaum etwas, geht jeden Abend um halb zehn zu Bett, trainiert jeden Morgen. Wenn ich Stil sage, meine ich den Stil der Kommunikation und der öffentlichen Darstellung. Das ist keine Kritik. Samaranch hat seine Art zu kommunizieren, das ist die Art seiner Generation. Interview: Jörg Kramer 215 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Wissenschaft Prisma MEDIZIN Mikroexplosionen zerstören Hirntumoren D V. STEGER ie schonende und präzise Entfernung von lebensbedrohlichen Hirntumoren soll künftig ein computergesteuertes Lasersystem ermöglichen. Eine Arbeitsgruppe von den Universitäten Bonn und Köln sowie vom Deutschen Krebsforschungszentrum unter Leitung des Physikers Josef Bille testet einen Pikosekunden-Laser, der das Krebsgewebe mit nur Billionstel von Sekunden währenden Pulsen schichtweise wie eine Zwiebel abschält, ohne gesunde umliegende Regionen zu verletzen. Im Gegensatz zu gewebeschädigenden thermischen Laserstrahlen zerreißen die ultrakurzen Lichtblitze mit Mikroexplosionen die molekula- Laser-OP-Versuch (am Kalbshirn) ren Strukturen des kranken Gewebes und zerbröseln es. Bei dem neuen Verfahren wird durch eine nur wenige Millimeter große Schädelöffnung unter der Kontrolle eines Kernspintomografen eine das Laserlicht leitende Sonde bis zur Geschwulst geführt. Störende, den Tumor durchziehende Blutgefäße zeigt ein LaserScanning-Mikroskop an, das in die Sonde integriert ist und zur Operationskontrolle eingesetzt wird. Darüber hinaus enthält die Sonde eine Spül- und Absaugvorrichtung, mit der sich die abgelösten Partikel entfernen lassen. Nach Angaben der Forscher soll schon im nächsten Jahr der erste Patient mit den kalten Strahlen behandelt werden. MUSEEN Sauerstoffentzug für Schädlinge FRAUNHOFER INSTITUT R Alternative Stromerzeugung in Argentinien SOLARENERGIE Sauberes Wasser mit Sonnenhilfe W eltweit haben 1,3 Milliarden Menschen keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Besonders in den ländlichen Gebieten der Entwicklungsländer fehlt es an Energie und technischen Mitteln, um das mit Schadstoffen und Krankheitserregern verseuchte Wasser aufzubereiten. Wissenschaftler vom Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme installierten jetzt im argentinischen Wüstendorf Balde de Sur de Chucuma erstmals eine Solaranlage zur Wasserförderung und -desinfektion. Bei dem mit EU-Hilfe finanzierten Pilotprojekt fördert eine mit Solar- und Windstrom betriebene Pumpe Wasser aus einem Brunnen. Zugleich speist der Strom auch eine Wasserentkeimungsanlage, die das Trinkwasser der Dorfschule durch Bestrahlung mit UV-Licht keimfrei macht. d e r s p i e g e l abiat, aber umweltschonend geht eine italienische Ingenieursfirma mit ungebetenen Gästen in Museen und Bibliotheken um: Sie dreht Käfern und anderen niederen Kunstbanausen, die sich in Gemälden und Büchern einnisten, den Sauerstoff zum Atmen ab. Das von dem Genueser Unternehmen Resource Group Integrator (RGI) entwickelte Verfahren sieht vor, befallene Ausstellungsstücke luftdicht in Plastikfolie zu verpacken. Dem Behältnis wird dann durch ein Spezialgerät von der Größe eines Hi-Fi-Lautsprechers („Veloxy“) der Sauerstoff entzogen, bis auf ein Hundertstel der Ausgangskonzentration in der Luft. „Nach zwei bis drei Tagen sterben alle ausgewachsenen Insekten, nach einer Woche alle Eier, nach 10 bis 14 Tagen alle Larven und Puppen“, sagt RGI-Chef Ercole Gialdi. Die Methode sei sanft, simpel, ungefährlich und mache Insektenvernichtungsmittel überflüssig. Museen und Sammlungen in Italien, Schweden, Spanien und Großbritannien beteiligen sich Gialdi zufolge an der Erprobung des AbsaugSystems. In der venezianischen Marciana-Bibliothek etwa seien „600 000 extrem wertvolle Bücher“ vor gefräßigen Käferlarven gerettet worden – „mit hundertprozentigem Erfolg, aber geringen Kosten“, wie Gialdi versichert. Schädlingsbekämpfung im Archiv 3 6 / 1 9 9 9 219 Prisma Computer PROZESSOREN Chip fürs Detail E rst Anfang des Jahres befriedigten der „Voodoo3“- und der „Riva TNT2“-Chip den wachsenden Hunger nach potenter Grafikleistung für immer realistischere Computerspiele. Schon im Von Grafikkarten berechnete Bilder (rechts mit „GeForce“-Chip, links ohne) Herbst will Grafikprozessor-Hersteller „Nvidia“ nachrüsten. Der „GeForce 256“ erzeugt virtuelle Welten aus 15 brikanten herkömmlicher Prozessoren die Konkurrenz nicht fürchten. Computerspiele der nächsten Generation sollen sich Millionen Dreiecken mit zusammen 480 Millionen Bildpunkten pro Sekunde. Für die Großrechnerleistung stopfte „Nvidia“ durch noch bessere Nachbildung physikalischer Gesetze ausdoppelt so viele Transistoren in den Chip, wie in die neueste zeichnen, die simulierten Monster durch gesteigerte RaffinesProzessor-Generation „Pentium III“. Die Transistormassen ent- se im Kampf gegen menschliche Spieler glänzen. Die neuen falten, auf einer Steckkarte untergebracht, sehr gute Grafik- Grafikkarten können den Hauptprozessor des Systems entlasgeschwindigkeit auch auf älteren PC. Trotzdem müssen die Fa- ten und so für die notwendige Rechenkapazität sorgen. INTERNET MINIRECHNER ARCHIVE Online zur Hinterbank Stift als Wort-Sauger Harmlose Rundfahrt? J etzt erlaubt das Netz weltweite Transparenz auch in der Politik: Das Programm „GovernMail“ von der USSoftware-Firma „Vista X“ versammelt die Regierungen der Welt an einem Online-Ort. Der Internet-Browser hält die aktuellen, offiziellen E-MailAdressen dutzender Regierungen parat. Lettland ist in „GovernMail“ vertreten, das Eu„GovernMail“ ropaparlament allerdings nicht. Darüber hinaus sorgen Direkt-Verbindungen zu politischen Online-Publikationen wie der „New York Times“ und dem kanadischen „Toronto Star“ für Hintergrundinformationen. Einen besonders direkten Draht stellt das Programm zu US-Volksvertretern her. Gleich im Bündel kann der Wähler Protestnoten als GruppenE-Mail schicken, wahlweise an alle Demokraten oder alle Republikaner. M anche lesen mit dem Finger, andere folgen den Zeilen, indem sie farbige Markerstriche übers Papier verteilen. Eine moderne Variante der Merk- und Lesehilfe sind digitale Lesestifte. Die schwedische Firma „C Technologies“ bringt nun den „C-Pen 200“ (499 Mark) heraus. In ihm steckt ein vollständiger Rechner, der Adressen und Notizen in verschiedenen Sprachen verwaltet. Der Leser muss dabei den Stift nur zeilenweise über den Text führen. Bis zu 100 Seiten speichert das Gerät. Per InfrarotVerbindung lassen sich die aufgesaugten Buchstaben auf einen Tischrechner übertragen. So erstaunlich der knapp 80 Gramm leichte Minirechner scheinen mag: Wichtige Textpassagen möchte man ihm nicht anvertrauen, dafür C-Pen macht er zu viele Fehler. www.governmail.com 220 d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 D ie Datenschützer waren alarmiert. Ein schwarzer Bus kurvte durch deutsche Städte und fotografierte systematisch alle Straßen, alle Häuser. Unbeeindruckt von Gerichtsprozessen und Bedenken, bringt die hannoversche Firma Tele-Info jetzt ihre Bilddatenbank mit angeschlossenem Telefonbuch auf den Markt. Die Software namens „Talk Show“ (Motto: „Nicht kleckern, sondern klotzen“) liefert auf 11 CD-Roms das Bild zur Telefonnummer. Auf 23 000 Straßenkilometern trugen die hannoverschen Sammler 1,5 Millionen Einzelbilder aus zehn Großstädten zusammen. Zum Ausspähen lohnender Diebstahlsobjekte taugten die Scheiben indes schlecht. Das Material sei so ausgedünnt, dass die Zuordnung von Hausnummer und Bild so gut wie nie möglich sei und die Aufnahmen nur in schlechter Qualität auf dem Bildschirm erschienen. Da die Lichtverhältnisse nur im Sommer zum Fotografieren ausreichten, verdecken Bäume die oberen Stockwerke der Gebäude. Das Projekt, so ein Sprecher von Tele-Info, sei auch mehr als Demonstration gedacht. Werbeseite Werbeseite Wissenschaft U M W E LT S C H U T Z Kloaken in Bäche verwandeln Das Ruhrgebiet macht sich daran, seine übelste Öko-Altlast zu sanieren: die Emscher. Mit Milliardenaufwand wird der 80 Kilometer lange, biologisch tote Abwasserkanal in einen Fluss zurückverwandelt. Was heute Tabuzone ist, soll zur Erholungslandschaft werden. S A L L E F OTO S : D AS F OTOA R C H I V ie stinkt nicht mehr. Vorbei die Zeiten, als Anwohner ihre Fenster geschlossen halten mussten, wenn der Wind vom Fluss her stand. Heute sondert sie selbst bei Sommerhitze allenfalls einen leichten Modergeruch ab. Wer die Augen schließt, mag an Sumpfland denken, an Röhricht und quakende Frösche. Aber wenn man die Augen öffnet, ist da noch immer diese Rinne, in der trübes Wasser dahineilt, je nach Licht zwischen schlammbraun und schiefergrau changierend. Mitunter treibt eine Damenbinde vorbei oder ein Stück Melonenschale, einem Schiffchen gleich. Lebenszeichen geben einzig ein paar Möwen, die sich um ein aufgeweichtes Brötchen balgen. Nein, auch wenn sie nicht mehr stinkt, appetitlich macht das die Emscher noch lange nicht. Wie seit den ersten Tagen des Kohleabbaus im nördlichen Ruhrgebiet schluckt sie nach wie vor alles, was an flüssigem Dreck aus Haushalten und Fabriken quillt. Und doch markiert das Verschwinden der Fäulnisdämpfe den Beginn einer fast unglaublichen Metamorphose: Der Abwasserkanal Emscher, die wohl übelste Öko-Altlast Westdeutschlands, verwandelt sich zurück in einen Fluss; die Kloaken, die ihn speisen, werden wieder zu Bächen. Wo heute Mauerwerk und Beton die Ufer säumen, soll Röhricht wachsen; wo jetzt Fäkalien schwimmen, sollen einmal Fische gründeln. Während der Traum vom „blauen Himmel über dem Revier“ fast von selbst wahr wurde, weil der Strukturwandel Zechen, Hüttenwerke und Kokereien zu Dutzenden dahinraffte, fordert das Projekt „blaue Emscher“ enormen Einsatz: 8,7 Milliarden Mark soll der ökologische Umbau des Emschersystems kosten, 1,8 Milliarden davon sind bereits ausgegeben. Zwei neue Klärwerke verdauen schon jetzt genug Dreck, um den Gestank zu tilgen. Im nächsten Schritt gilt es, aus einer Emscher zwei zu machen: einen sauberen, oberirdischen Fluss und eine jaucheführende Rohrleitung unter Tage, die längste der Welt. Der Emscherumbau zählt zu den Kernideen der Internationalen Bauausstellung (IBA) im Ruhrgebiet, die diesen Sommer ihr Finale feiert. In 15 oder 20 Jahren werden die Grünstreifen entlang der heutigen Abwasserkanäle das Flickwerk von Stadtparks, Naturschutzgebieten und Industriebrachen voller Wildwuchs zu einem „Emscher Park“ vernetzen. Dann sollen nicht nur Tiere und Pflanzen, sondern vor allem die Menschen das Niemandsland zurückerobern. Denn obwohl sie auf ihrem Weg von Dortmund-Holzwickede zum Rhein das gesamte Ruhrgebiet der Länge nach quert, ist die Emscher für die meisten Revierbewohner ein Phantom. Man sieht sie nicht, allenfalls von Straßenbrücken aus, und wer ihren Lauf verfolgen will, braucht einen Stadtplan. Selbst Anlieger blicken meist über den Fluss hinweg auf grünbegraste Deiche. Ein Detektiv muss sein, wer sich auf die Suche nach einem der Zuflüsse begibt. Wer kennt Läppkes Mühlenbach? Wer weiß, wo der Ostbach bleibt, nachdem er auf der einen Seite der Schillerstraße im Gully verschwunden ist, auf der anderen aber nicht wieder ans Licht kommt? Verrohrt fließt er durch die gesamte Herner Innenstadt, taucht unter dem Rhein-HerneKanal durch, um dann in die Emscher zu münden. Polder: Flächen, die ohne dauerndes Abpumpen unter Wasser stünden RECKLINGHAUSEN HERTEN GLADBECK DINSLAKEN Emscher Kläranlage Rh Emscher BOTTROP n ine Em sch ehemalige Mündungsarme er DUISBURG Ruhr h BOCHUM Läppkes Mühlenbach MÜLHEIM ac GELSENKIRCHEN OBERHAUSEN mscher te E l A tb HERNE ei Kle Os 0 ESSEN 2,5 Kilometer 5 FOTOS: R. MEISEL / PLUS 49 / VISUM (li.); EMSCHER GENOSSENSCHAFT (re.) Kanalisierter Oberlauf der Emscher, Läppkes Mühlenbach nach Renaturierung: Von der „Köttelbecke“ zum Froschparadies Stabile Zäune, insgesamt 700 Kilometer lang, schirmen derzeit die Emscher und jeden einzelnen Bach von der Außenwelt ab. „Trennende Systeme“ heißen sie in der Sprache der Planer. Der „Meideraum“, den sie eingrenzen, reißt Stadtviertel auseinander und zwingt Anwohner zu Umwegen, wollen sie nicht die Warnschilder ignorieren: „Es besteht Lebensgefahr“. Die Variante für Analphabeten zeigt ein kreischendes Männchen, das rücklings ins Wasser purzelt. Wer, zumal nach einem Sturzregen, die steile Böschung hinab- CASTROPRAUXEL schlittert, hat wenig Chancen, sich aus der reißenden Brühe zu retten. Diese Tabuzone zum Naherholungsgebiet umgestalten zu wollen, mutet kühn an. Doch es sind keine Visionäre, die der Emscher ein grünes Make-up verpassen wollen, sondern die nüchternen Wasserbauingenieure der Emschergenossenschaft. Im Gegensatz zu den IBA-Planern schwärmen sie nicht vom „Neuen Emschertal“, noch von Renaturierung. Sie reden von Nachholinvestitionen. „Man darf die Erwartungen nicht zu hoch schrauben“, sagt Werner Geisler. Geisler leitet das Projekt „Abwasserschiene Emscher“, das Herzstück des Umbaus. Unter seiner Aufsicht entstehen 51 Kanalkilometer parallel zum Fluss, von Dortmund zur neuen Bottroper Kläranla- geplanter Abwasserkanal Deininghau se Bach r Emscher D O RTM U N D Holzwickede Gequältes Gewässer Der Weg der Emscher durch das Ruhrgebiet ge mit ihren Faultürmen, die verspiegelten Riesenostereiern gleichen, in denen Myriaden von Bakterien sich an Schlamm laben, und weiter zum Klärwerk Emschermündung. Von diesem „außergewöhnlichen Bauwerk“, so Geisler, werden 350 Kilometer weitere Kanäle abzweigen, denn nicht nur die Emscher selbst, auch jeder ihrer Zuflüsse erhält einen unterirdischen Zwilling. Wie U-Boote wühlen sich bemannte Bohrköpfe bis zu 33 Meter tief in die Erde, um Platz zu schaffen für Betonrohre, in denen Spaziergänger bequem flanieren könnten – und dies auch tun, wenn die Emschergenossenschaft mal wieder zum „Tag des offenen Kanals“ einlädt. 4,2 Milliarden Mark sind allein für den Bau des Abwasserlabyrinths eingeplant. Zur Finanzierung steuerte das Land Nordrhein-Westfalen in den letzten fünf Jahren 250 Millionen bei, den größten Teil der Summe muss die Genossenschaft jedoch selbst aufbringen. Einigen Spielraum bieten die Abwassergebühren, denn das Entsorgungssystem Emscher war über Jahrzehnte hinweg konkurrenzlos billig. Letztes Jahr zahlten Haushalte im Revier 4,08 Mark pro Kubikmeter Abwasser, der Landesdurchschnitt lag bei 5,77 Mark. In etwa zwölf Jahren soll die Hauptader der Schmutzpipeline fertig sein. Dann wird die Emscher der Gewässergüteklasse 2-3 genügen („mäßig bis stark verunreinigt“). Bislang entzieht sie sich der Berechnung ihrer Wasserqualität, weil kein Kleinlebewesen, geschweige denn ein Fisch, es als Indikator in der Giftbrühe aushält. Ab 2013 wollen die Bauingenieure mit dem ökologischen Feinschliff beginnen. „Wie der Fluss letztendlich aussehen wird, ist noch nicht sicher“, erklärt Geisler, „wir arbeiten daran, die Vision in eine Planung umzusetzen.“ Im Grunde betreibt Geisler nichts anderes, als die Aufgabe der Emschergenos223 Wissenschaft und gründeten die Emschergesenschaft seit bald hundert JahNeu gebaute Natur nossenschaft, den ersten Wasren fortzuführen: Wasserläufe Emscher serwirtschaftsverband Deutschhin- und herzuschieben, sie mal Bach Deich Hochwasser Deich Hochwasser lands. unter die Erde zu leiten und Der Kaiser selbst besiegelte dann wieder hinaufzupumpen. mit seiner Unterschrift unter das Nur dass es heute nicht mehr VORHER Sondergesetz „betreffend Bildarum geht, den Dreck in den In ihren gemauerten Betten strömen die Emscher und ihre Zuflüsse dung einer Genossenschaft zur Fluss zu bringen, sondern ihn reißend schnell dahin, von Abwässern verunreinigt. Regelung der Vorflut und zur herauszuholen. Abwässerreinigung im EmBis Mitte des letzten Jahrschergebiet“ die Vergewaltigung hunderts standen dort, wo heueines ganzen Fluss-Systems. Es te Asphalt und Abraumhalden gab allerdings kaum eine Alterdie Landschaft prägen, üppige Abwasserkanal native: Das Abwasser musste an Auwälder aus Schwarzerlen und Abwasserkanal der Oberfläche fließen, da unWeiden. In Schleifen strömte die NACHHER terirdische Kanäle wegen der Emscher dem Rhein entgegen, Nach dem Umbau fließt das Schmutzwasser unterirdisch ab. Bergsenkungen auseinandergeträge wegen ihres geringen GeWährend sich die v-förmigen Bäche renaturieren lassen, bietet die brochen wären. fälles von nur 122 Metern auf Emscher selbst nur innerhalb der Hochwasserschutz-Deiche Raum für 1906 begann die Emscherge109 Kilometer Fließstrecke. eine naturnähere Gestaltung mit Tief- und Flachwasserzonen. nossenschaft ihre Bauarbeiten, Häufig trat sie über die Ufer. In die bis heute kein Ende fanden. dem Überschwemmungsgebiet gab es keine größeren Orte, nur Wasser- benwasser ergoss sich in die Emscher. Die Im Laufe der Jahrzehnte verlegten die Inmühlen und ein paar Bauernkaten. So ab- aber spuckte den Dreck regelmäßig wieder genieure zweimal die Flussmündung – gelegen war die Sumpfniederung, dass sie aus. Bei jedem Hochwasser stand der Un- einst traf die Emscher in Duisburg auf den rat in den Straßen. Ruhr, Typhus und Cho- Rhein, heute mündet sie zehn Kilometer Wildpferden ein Refugium bot. Der Kohleboom tilgte diesen Rest Ur- lera grassierten, in den stinkenden Lachen stromabwärts bei Dinslaken. Sie bauten Deiche und mauerten das Flussbett ein, natur schnell und gründlich. Schlote und vermehrten sich Malariamücken. Den Industriellen waren die Eskapaden schnitten Mäander ab und verkürzten den Fördertürme bohrten sich in den Himmel, rings um die Zechen wucherten Arbeiter- der Emscher lästig – die Seuchen schwäch- Flusslauf um ein Viertel auf 81 Kilometer. siedlungen. Innerhalb von 50 Jahren ver- ten die Arbeitskraft ihrer Handlanger. Am Unter ihrem Regime behielt kein Bach sein sechzehnfachte sich die Einwohnerzahl. 14. Dezember 1899 versammelten sich des- natürliches Gesicht. Was übrig blieb, heißt im Volksmund Ein Strom von Fäkalien und Fabrikabfäl- halb Abgesandte von Gemeinden, Zechen len, von Schlämmen und salzigem Gru- und Fabriken im Bochumer Ständehaus „Köttelbecke“ – Schmutzfänger, wie mit Meter hohen ehemaligen Bahndamm abgetragen, um Platz zu schaffen für die Wiedergeburt des Bächleins. Jetzt hört Schwarz tagsüber zwar den Autolärm herüberschallen, nachts aber kann er Froschkonzerten lauschen: „Dafür wohn ich doch auffem Land.“ Nicht jeder Wasserlauf lässt sich in ein ländliches Idyll zurückverwandeln. Paradoxerweise drohen manche Bäche gerade als Folge der Säuberungsaktion zu versiegen. Denn da ein Drittel des Ruhrgebiets begraben liegt unter Straßen, Eigenheimen und Fabriken, läuft ein beträchtlicher Teil des Regenwassers an der Oberfläche ab. Statt im Erdreich zu versickern und Bäche zu speisen, rauscht es als Hochwasserwelle emscherabwärts. Mitunter schwillt der Kanalbau in Bottrop: Wie U-Boote durchs Erdreich Fluss um das 20-fache an. Und weil „Hochwasserschutz weiterhin bis zu 30 Meter abgesackt, ganze HäuserPriorität hat“, wie Genossenschaftsspre- blocks rutschten, sagt Höffeler, „wie mit cher Höffeler beteuert, wird auch die schö- dem Fahrstuhl“ in die Tiefe. Eine Fläche ne blaue Zukunftsemscher in Deiche ein- von 330 Quadratkilometern ist so zu Polgezwängt bleiben. Durch die Wühlarbeit dern geworden, über Wasser gehalten nur der Bergleute sind Teile des Reviers um durch pausenlosen Einsatz von 95 Pump- EMSCHER GENOSSENSCHAFT dem Lineal in die Landschaft gekerbt. Fachleute sprechen von Bächen mit „VProfil“, und allein dieser Begriff reicht, einem Gewässerökologen die Gänsehaut über den Rücken zu treiben. Nun, da sich die vielfach durchlöcherte Erde des Reviers beruhigt hat, heißt es: Kommando zurück. Nicht, dass sich die Dirigenten der Wasserläufe ihrer Vergangenheit schämten. „Damals ging es um trockene Füße“, sagt Sprecher Heinz-Gerd Höffeler, „aber heute können wir den Menschen keine offenen Abwasserrinnen mehr zumuten.“ Zu Füßen des Kohlekraftwerks „Gustav Knepper“ in Castrop-Rauxel gluckst der Deininghauser Bach, fast versteckt im dichten Klee. Stichlinge flitzen durchs Wasser, Kamillenduft hängt über der Wiese, und die Kühe sehen aus, als seien sie einer Allgäu-Postkarte entsprungen. Abgesehen von dem geradezu alpin aufragenden Kühlturm des Kraftwerks eine völlig unspektakuläre Szenerie, trotzdem ein Wunder: Noch vor fünf Jahren floss hier Abwasser durch eine Betonrinne, eine Emscher en miniature. „Frösche, Fische, wir ham alles“, sagt Klaus Schwarz, Wirt vom nahe gelegenen Gasthaus Lindenhofpark, „dat is doch härlich.“ Klar habe der Bachumbau „den Wohnwert gesteigert“, auch wenn manch ein Nachbar nörgelte, als die Erdarbeiten begannen. Die Bagger haben einen fünf Wissenschaft Eine dritte Generation von Natur, nach der ursprünglichen Vegetation und der bäuerlichen Kulturlandschaft, wächst hier heran – Tier- und Pflanzengesellschaften, wie sie in dieser Zusammensetzung nirgendwo sonst auf der Erde existieren. Obwohl die IBA eigens eine „Route Industrienatur“ ausgewiesen hat, obwohl naturkundliche Exkursionen zu ehemaligen Zechen und Sammelbahnhöfen viel Zulauf finden, fehlt es vielen an Wertschätzung für die neu entstandenen Landschaften. Kommunalpolitiker möchten auf ihren zahllosen Industriebrachen lieber Gewerbegebiete ausweisen, auch wenn das Flächenangebot den Bedarf um wenigstens das Doppelte übersteigt. „Jeder hofft, dass ausgerechnet seine Brache das neue Silicon Valley wird“, klagt Biologe Köhler. M. VOLLMER / DAS FOTOARCHIV werken. Dürfte die Emscher frei fließen, verwandelte sich die Heimat von 2,4 Millionen Menschen in eine Seenplatte. Städte wie Bottrop und Gelsenkirchen versänken in den Fluten. Keine Chance daher für die Rückkehr von Auwäldern und Wildpferden. „Die Emscher wird immer ein technisch geprägter Fluss bleiben“, erklärt Bauingenieur Geisler. Deshalb plädiere er dafür, „die klare Linienführung“ beizubehalten. Zwischen den Deichen aber könne man ihr durchaus mehr Raum geben, die Böschungen sanfter modellieren und die symmetrische Rinne ersetzen durch Tief- und Flachwasserzonen. Naturschützer sind geteilter Meinung, ob sich für ein so bescheidenes Ziel der Aufwand lohnt. „Manche sagen, man sollte das schöne Geld dort investieren, wo Faulturm der Bottroper Kläranlage: Myriaden von Bakterien laben sich am Schlamm noch etwas zu retten ist“, sagt Richard Köhler von der Biologischen Station Östliches Ruhrgebiet, „aber man darf eben nicht mit dem klassischen Artenschutzansatz an die Sache herangehen.“ Zweck der Übung sei vielmehr, eine „Grundausstattung von Natur“ in die Emscherödnis zurückzuholen. Wie schnell Tiere und Pflanzen die scheinbar unwirtlichsten Relikte des Industriezeitalters in Besitz nehmen, ist überall im Ruhrgebiet zu beobachten: Turmfalke und Gartenrotschwanz nisten auf dem Gelände stillgelegter Kokereien; Königskerze, Natternkopf und Salbei färben Schotterflächen bunt, von denen noch die Phenoldämpfe der Altlasten aufsteigen. Selbst Orchideen wurden schon gesichtet. 226 d e r Es fällt schwer umzudenken, wahrzunehmen, dass es überhaupt wieder so etwas wie Natur gibt im kaputten Ruhrgebiet. Vielleicht hängt es damit zusammen, dass sich so wenige Revierbewohner interessieren für die Rückverwandlung der „Schwatten“, deren Pesthauch sie all die Jahre geärgert hat. Vielleicht können deshalb so viele nichts anfangen mit den Meter für Meter mühsam wiederhergestellten Bächen, als Dosen hineinzuwerfen und Kühlschränke. „Das ärgert uns wirklich“, sagt HeinzGerd Höffeler, „aber dem Umbau der Emscher muss wohl der Umbau in den Köpfen folgen.“ Das Ufer des Deininghauser Bachs jedenfalls haben sie erst mal wieder eingezäunt, sicherheitshalber. Alexandra Rigos s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Wissenschaft GENTECHNIK Lernfähig bis zum Tod Amerikanische Biologen haben per Genmanipulation schlauere Mäuse produziert. Kann auch die Intelligenz des Menschen gentechnisch verändert werden? D ie Labormäuse von Joe Tsien bewiesen ihre Intelligenz durch zielgerichtetes Strampeln. „Schon beim dritten Versuch“, schwärmt der amerikanische Neurobiologe, hätten die Nager in einem Becken mit trübem Wasser eine knapp unter der Wasseroberfläche versteckte Platt- Nager nicht nur in der Lage, sich schneller als normale Mäuse aus ihrer feuchten Notlage zu befreien. Weitere Tests bewiesen: Sie merken sich auch Gegenstände besser und speichern neues Wissen länger. Tsiens Studie, jetzt im Magazin „Nature“ veröffentlicht, zeigt erstmals zweifelsfrei, dass Intelligenz gentechnisch beeinflusst werden kann. „Einzelne Gene spielen eine zentrale Rolle bei der Steuerung von Lernen und Gedächtnis“, sagt der Forscher. Neue Strategien im Kampf etwa gegen Schizophrenie oder Alzheimer seien denkbar. Sollte eine Welt ohne Vergesslichkeit möglich sein? Entstehen dereinst Genies in den Petrischalen der Wissenschaft? Seit einiger Zeit schon versuchen Forscher, geistige Fähigkeiten künstlich zu mehren. Bislang jedoch beschränkten sie sich dabei auf die Entwicklung von Medikamenten. So haben Pharmakologen der University of California in Irvine eine Substanz Test-Maus*, Genforscher Tsien form direkt angeschwommen. Normale Mäuse brauchen sechs Anläufe, um sich die Position des rettenden Eilandes einzuprägen. Der „Wasser-Labyrinth“ genannte Test aus dem Repertoire der Verhaltensforscher zeigt: Tsiens Mäuse, im Labor genetisch verändert, sind schlauer als ihre Artgenossen. Ein einziges Gen hatten der Forscher und seine Kollegen vom Institut für Molekularbiologie der Princeton University im US-Bundesstaat New Jersey zum Erbgut der Tiere hinzugefügt. Danach waren die * Im Lernversuch bekommt die Maus fünf Minuten lang zwei Objekte zu sehen. Einige Tage später wird sie erneut mit ihnen konfrontiert, aber eines von ihnen ist ausgetauscht. Untersucht das Tier das neue Objekt länger, so zeigt es damit, dass es sich an das alte noch erinnert. 230 entdeckt, die im Gehirn die Weiterleitung elektrischer Impulse beschleunigt. Ratten verhalf der chemische Schlaumacher zu Spitzenwerten im NagerIQ-Test. Inzwischen wird das Medikament an AlzheimerPatienten erprobt. Tsiens neue Studie geht jedoch einen Schritt weiter: Im Kampf gegen die Vergesslichkeit griff er direkt ins Erbgut ein. Das von den Forschern manipulierte Gen mit dem Kürzel NR2B kontrolliert die Fähigkeit des Gehirns, ein Ereignis mit einem anderen zu verknüpfen – die entscheidende Voraussetzung des Lernens. Mit Hilfe seiner Mäuse, nach einer altklugen Figur aus dem US-Fernsehen „DooT. EVERKE Genies aus der Petrischale? d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 gies“ genannt, hat Tsien nicht nur die direkte Wirkung eines Gens auf das Lernen nachgewiesen. Sein Versuch zeigt zudem, dass im Gehirn offenbar ein einziger Mechanismus zur Speicherung unterschiedlichster Formen von Erinnerung existiert. Egal, ob die Maus hört, sieht oder fühlt – die Verknüpfung der Informationen funktioniert immer gleich. Das von Tsien benutzte ErinnerungsGen steuert die Produktion eines Rezeptors, der die Verbindung zweier Reize, etwa den Anblick eines brennenden Streichholzes und den dazugehörigen Schmerz, ermöglicht. Durch Wiederholung wird die Verknüpfung verstärkt. Wer immer wieder den Finger in die Flamme hält, legt gleichsam eine Dauerspannung an die beiden im Gehirn beteiligten Nervenzellen an. Die Folge ist Erinnerung. Tsiens „Doogie“-Mäuse, mit Extrakopien des Gens NR2B ausgestattet, erinnerten sich ausnehmend gut sowohl an Objekte als auch an Töne und leichte Stromschläge, die ihnen im Lernversuch zugefügt wurden. Das überraschendste Ergebnis jedoch: Sogar ausgewachsen behielten die Super-Mäuse ihr überdurchschnittliches Lern- und Erinnerungsvermögen. Normalerweise lässt die Aktivität des ErinnerungsGens mit dem Alter nach – ein Grund für Altersvergesslichkeit bei Mensch wie Maus. Bei seinen Versuchstieren manipulierte Tsien das eingeschleuste Gen jedoch so, dass mit fortschreitendem Lebensalter die Konzentration des Erinnerungsschmierstoffs im Gehirn nicht abnimmt. Die Folge: Die Nager bleiben lernfähig bis zum Tod. Wird sich der Rentner der Zukunft also ohne Mühe dem Studium des Altchinesischen widmen können? Tsien ist skeptisch. Zwar sei die Funktion des Erinnerungs-Gens bei Mensch und Maus „fast identisch“. Menschliche Intelligenz gentechnisch zu verändern hält der Forscher jedoch noch für Zukunftsmusik. Klar scheint allerdings, dass die Gentechnik das Verhalten von Tieren als neues Versuchsfeld entdeckt hat. Erst kürzlich rüsteten Wissenschaftler Labormäuse mit einem Gen der Prärie-Wühlmaus auf, deren Männchen in Monogamie leben und bei der Pflege der Jungen helfen. Die Mäuseriche, sonst untreue Partner und achtlose Väter, legten nach der Genkur prompt artfremdes Verhalten an den Tag: Fremde Weibchen verschmähten sie, stattdessen wandten sie sich plötzlich fürsorglich ihrem Nachwuchs zu. Philip Bethge Werbeseite Werbeseite FOTOS: M. NEUGEBAUER decker von Urmenschenfossilien, zur Feldforschung inspirieren ließen: Weil sie geduldiger als ihre männlichen Kollegen und teilnehmend, nicht unterwerfend beobachteten, schickte der Anthropologe drei junge Frauen aus, das Verhalten der großen Affenarten zu erkunden. Zunächst Goodall, dann die Amerikanerin Dian Fossey, die Gorillas studierte, und schließlich die Kanadierin Biruté Galdikas, die sich auf Orang-Utans spezialisierte. Auf der Suche nach ihren Studienobjekten kletterte und kroch die 26jährige Jane durch den zerklüfteten Bergurwald von Gombe, tagsüber reichte ihr eine Hand voll Rosinen als Proviant. Nachts, mit einem Kessel, etwas Kaffee und Zucker ausgerüstet, lauschte sie den Rufen der Schimpansen, die in den Gipfeln ihre Schlafnester bezogen hatten, und spähte sie schon in der ersten Dämmerung aus. Allmählich, nach mehr als einem Jahr, Autorin Goodall, Studienobjekt: „Uaah, uaah, uah uhhhh“ verloren die Tiere ihre Scheu vor dem fremden weißen Affen, es begann „die Zeit TIERE der Entdeckungen“, in der Goodall täglich „etwas spannendes Neues über die Schimpansen erfuhr“. „David Greybeard“, wie sie ein älteres Männchen genannt hatte, ließ es als Erster zu, dass die Forscherin auf seinen Streifzügen durchs LianenEin Vierteljahrhundert forschte sie im Urwald, seither wirbt sie ihm dickicht folgte. Eines Tages sah sie sich ihm weltweit für ihre Affen: Jane Goodall, Primatologin und Kultunvermittelt an einem Bach gegenüber: figur, hat den Bericht ihres abenteuerlichen Lebens geschrieben. „Er saß am Wasser, als hätte er auf mich gewartet,“ erinnert sich die Primatologin. ane, glauben Sie, es besteht noch Hoff- und für die Forscherin „Grund zur Hoff- „Ich sah ihm in die großen, glänzenden, nung?“ Auf die häufigste Frage, die der nung“. So überschreibt Goodall ihre jetzt weit auseinander stehenden Augen; sie Forscherin auf ihren Weltreisen gestellt erschienene Autobiografie, die Geschichte schienen seine ganze Persönlichkeit auswird, kann Jane Goodall, 65, schwerlich einer einzigartigen Karriere*: Das Mäd- zudrücken, seine gelassene Selbstsicherchen von der Ärmelkanal-Küste, das sich heit, seine angeborene Würde.“ mit purem Optimismus antworten. Mensch und Affe kommunizierten bei Als die Engländerin 1960 zum ersten mit 13 Jahren in Tarzan verliebt und immer Mal nach Tansania kam, um das Leben schon mit Menschenaffen leben wollte, ver- dieser Begegnung „in einer Sprache, die der Schimpansen zu erkunden, waren wirklicht nach einigen Jahren als Kellnerin viel älter ist als Worte, einer Sprache, die die Hänge am Tanganjika-See noch dicht und Sekretärin seinen Traum und taucht 25 uns mit unseren prähistorischen Ahnen bewaldet. Heute erstreckt sich dort Jahre lang ins „grüne Dämmerdunkel“ verbindet“, erinnert sich Goodall. „David“ baumlose Ödnis. Mit jedem Regen wird (Goodall) des afrikanischen Urwalds. Un- griff aus ihrer Hand die angebotene reife Erdboden in den See gespült, wo er als studiert und unerfahren, wird sie beste Ölpalmenfrucht. Dann ließ er die Gabe falSchlick die Brutstätten der Fische unter Kennerin und zugleich Gefährtin der len und „nahm dafür sanft meine Hand“ – sich begräbt. Von Raubbau und Abholzung Schimpansen – eine Nähe, die zuvor kein eine beruhigende Geste, die zeigen sollte, dass er die Nuss nicht wollte, aber wusste, ausgespart blieb nur der Gombe-Na- Primatologe erreichte. Goodall war die erste der später dass sein Gegenüber es gut meinte. tionalpark, der auch zum Refugium für „Flo“ mit der Knubbelnase, „William“ die einst weit verbreiteten Schimpansen berühmt gewordenen „Trimaten“, die sich von Louis Leakey, 1972 gestorbener Ent- mit dem langen, traurigen Gesicht, die wurde. scheue „Olly“ mit ihrer elfenhaften, „Wir haben nicht mehr viel Zeit“, überschäumend fröhlichen Tochter warnt die jung gebliebene Frau mit „Gilka“, der kämpferische, kühne dem grauen Pferdeschwanz. Des„Goliath“ oder der alte, kahl gehalb jagt sie in schonungslosem Mawordene „Mr. McGregor“, der stets rathon von einem Vortrag und FundLust zum Streiten hatte – hinter jeraising-Dinner zum anderen. Überdem Namen, den Goodall ihren all sind die Säle ausverkauft: Längst Schimpansen gab, offenbarte sich ein ist Goodall, die ihre Zuhörer mit Individuum und intelligentes Wesen. dem wilden Crescendo des SchimDoch mit dieser Sicht stieß sie in pansenrufs begrüßt („Uaah, uaah, den sechziger Jahren noch weitgeuah uhhhh“), zur internationalen hend auf Ablehnung: „Affen hatten Kultfigur geworden. damals keine Persönlichkeit“, „Jeder Einzelne kann etwas beschreibt Goodall, „das gab es nur wirken“: Ihre Botschaft ist einfach bei Menschen.“ Als sie ihre erste Veröffentlichung für die Fachzeit* Jane Goodall: „Grund zur Hoffnung“. Riemann Verlag; 352 Seiten; 39 Mark. Schimpansengruppe in Gombe: Leben im Dämmerdunkel schrift „Nature“ zur Durchsicht Marathon für Schimpansen J 232 d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Wissenschaft zurück bekam, fand sie ihre Schimpansen die Abkehr vom Leben und Forschen im „sogar des Geschlechts beraubt“: Weil Tie- tansanischen Regenwald. In einer „radikare als Neutrum galten, waren „er“ und len Wende“ verschrieb sich die gefeierte „sie“ jeweils zum „es“ geändert. Wissenschaftlerin dem Arten- und NaturKühle Distanz zum tierischen For- schutz, nachdem Vorträge über den drastischungsgegenstand war damals selbstver- schen Rückgang der Schimpansen-Populaständlich, und so wurde die Einfühlsam- tionen in ganz Afrika die Tagungsteilnehkeit der Nichtakademikerin, die erst nach mer geschockt hatten: Etwa zwei Millionen fünf Jahren der Feldforschung in Cam- Schimpansen hatten noch um die Jahrbridge Studium und Promotion nachholte, hundertwende in 25 afrikanischen Staaten lange belächelt und zurückgewiesen. gelebt. Nun waren die Bestände durch RoDoch die in Film und Foto festgehalte- dungen, kommerzialisierte Jagd und Tiernen Beobachtungen der Schimpansen- handel auf weniger als 150 000 gefreundin enthüllten Aufsehen erregende schrumpft, nur in 5 Ländern gab es noch Erkenntnisse, etwa die Tatsache, dass die Populationen von mehr als 5000 Tieren. Primaten Werkzeuge benutzen – eine Der Schreck über das Leiden der nächsFähigkeit, die bislang dem Menschen als ten Menschen-Verwandten ließ die For„homo faber“ vorbehalten schien: „David scherin fortan nicht mehr los. Nur geleGreybeard“ riss Grashalme ab, um im Termitenhügel nach Leckerbissen zu angeln; auch knickten die Affen zu diesem Zweck kleine belaubte Zweige ab und befreiten sie von ihren Blättern. Während sich in Gombe aus bescheidenen Anfängen ein interdisziplinäres Forschungszentrum entwickelte, musste die Wissenschaftlerin aber auch erfahren, dass die Schimpansen „wie wir eine dunkle Wesensseite haben“: Brutale Aggressionen, die in Mord und Kannibalismus kumulierten, zeigten, dass der „edle Affe“ ebenso Mär ist wie der „edle Wilde“: So wurden Goodall und ihre Mitarbeiter Mitte der siebziger Jahre Zeugen des „vierjährigen Krieges“, der ausbrach, als sich eine ihr vertraute Schimpansengemeinschaft zu teilen begann. Lange litt die Forscherin nach diesen Erlebnissen unter Alpträumen. Bilder von Gewalt verfolgten sie: Das Weibchen „Passion“, wie es mit blut- Drohender Schimpanse: „Dunkle Wesensseite“ verschmierten Lippen von einem toten Säugling aufblickt; das Männchen „Fa- gentlich kehrt sie noch ins Forschungscamp ben“, wie es das gebrochene Bein des Fein- von Gombe zurück. Nach einem Vierteldes im Kreis herumdreht. jahrhundert im Paradies, sagt Goodall, Sie habe damals nur erkunden wollen, wohne sie nun im Flugzeug. Weltweit setzt „wie weit die Schimpansen den menschli- sie sich durch persönliche Auftritte für Tierchen Weg, der zu Hass, Bosheit und Krie- rechte ein, sammelt Spenden und wirbt für gen schlimmsten Ausmaßes geführt hat, die von ihr gegründete Jugend-Umweltschon gegangen“ seien, schreibt Goodall. organisation „Roots and Shoots“, die Sie selbst glaubt, „dass es zwecklos ist, die schon zehntausende von Mitgliedern zählt. angeborene Neigung des Menschen zur Zu ihren vielen Zukunftszielen gehört Aggressivität und Gewalt abzuleugnen“. auch die Einrichtung einer Stiftung, mit deDie Wut, die sie selbst instinktiv überkam, ren Hilfe die Arbeit in Gombe, auf den anwenn ihr in Afrika aufgewachsener klei- deren afrikanischen Affen-Schutzstationen ner Sohn bedroht war, sei ihr dafür Beweis und die Hilfsprogramme für die Bewohgenug. ner der angrenzenden Dörfer langfristig Wissenschaftliche Versuche hätten je- fortgeführt werden kann. doch auch gezeigt, „dass aggressive VerPathetisch und bescheiden zugleich ist haltensmuster ziemlich leicht zu erlernen das Resümee, das Goodall am Ende des sind“ – ein guter Grund, so mahnt die Pri- Berichts von ihrem abenteuerreichen matologin, Kinder vor Gewalt im Fernse- Lebens zieht: Sie habe sich bemüht „ein hen zu bewahren. wenig von der Schuld abzutragen, in „Gombe zu verlassen war immer der wir alle durch unsere Unmenschschmerzlich“, berichtet sie. Und doch lichkeit gegenüber Mensch und Tier stebrachte 1984 eine Konferenz in Chicago hen“. Renate Nimtz-Köster 234 d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Wissenschaft MEDIZIN Mächtige Kobolde im Kopf Rund 50 000 Deutsche leiden an einer kaum bekannten Krankheit: Beim Essen, im Gespräch oder beim Sex versinken sie unvermittelt in Schlaf. Auch Hitchcock und Napoleon sollen Opfer der Schlafsucht gewesen sein. Jetzt wecken Funde von Genforschern Hoffnung auf eine Therapie. tet soviel wie „vom Schlaf ergriffen“. Zwischen 40 000 und 50 000 Narkoleptiker, so schätzen Experten, leben in Deutschland. Das unheimliche Leiden ist der zweithäufigste Grund für extreme Tagesmüdigkeit – nach der „obstruktiven Schlafapnoe“, den immer wieder auftretenden Atemaussetzern der Schnarcher. Die Krankheit gilt bis heute als unheilbar. Jüngste Funde von Genforschern wecken nun erstmals Hoffnungen auf eine Therapie. Bisher aber kennen viele Mediziner die Symptome des Schlummerleidens nicht und bringen sie fälschlich mit Erkrankungen wie Multipler Sklerose, Depressionen, Schizophrenie, Schilddrüsen- und Stoffwechselstörungen in Zusammenhang. Nur in jedem zehnten Fall von Narkolepsie stellen deutsche Ärzte die richtige DiaNarkolepsie-Patient im Schlaflabor: Sog in die Tiefe gnose. In den USA versuchen Schon vor über 100 Jahren hat der fran- Selbsthilfegruppen seit kurzem, mit bunzösische Neurologe Jean-Baptiste Gélineau desweiten „Weck-Aktionen“ auf die Prodas Krankheitsbild der Narkolepsie be- bleme der Kranken aufmerksam zu maschrieben. Der unglückliche Fasshändler, chen. Noch immer, so klagen Sprecher der der ihm eines Tages auf der Schwelle ent- Selbsthilfe-Initiativen, „können 15 Jahre gegentorkelte, war sein Modellpatient. Die vom Auftreten der ersten Symptome bis Bezeichnung für die Krankheit, die Männer zur Diagnose vergehen“. wie Frauen gleichermaßen befallen kann, So drollig der Schlummerzwang scheistammt aus dem Griechischen und bedeu- nen mag, den Opfern der Krankheit maF. STOCKMEIER / ARGUM E r war ein Kraftkerl und Choleriker gewesen. Bei Wirtshausdebatten konnte er seine Gegner schon einmal mit der trocken geschlagenen Rechten auf die Dielen schicken. Doch seit einiger Zeit war der 38-jährige Fassverkäufer nur noch ein Schatten seiner selbst. Orpheus saß dem Unglücklichen wie ein Dämon im Nacken. Bis zu 200-mal am Tag riss ihn ein unwiderstehlicher Zwang in den Schlaf. Bleierne Müdigkeit stürzte wie eine Urgewalt unvermittelt über ihn. Kaum eine Mahlzeit, bei der ihm nicht mehrmals Messer und Gabel aus der Hand glitten. Einen gerade begonnenen Satz konnte er oft nur mit Mühe vollenden, dann fiel ihm der Unterkiefer herunter. In einigen Situationen, so schien es, waren die Schlafkobolde in seinem Kopf mächtiger als sonst. Schon beim Gedanken an ein gutes Geschäft etwa knickten ihm die Beine weg. Ebenso erging es ihm, wenn er lachte, beim Kartenspiel ein gutes Blatt bekam oder einen Freund traf, den er lange nicht mehr gesehen hatte. Schließlich suchte er Rat beim Arzt: Sein 13-jähriger Sohn hielt ihn auf dem Weg dorthin durch Schütteln und Zwicken wach. Doch an der Schwelle zum Sprechzimmer wurde der Blick des Mannes unstet, er taumelte, schwankte und fiel schlafend in einen hingeschobenen Stuhl. Auch sein jüngstes Kind, verriet er dem Mediziner in einer kurzen luziden Phase, habe er in einer Zwischenwelt aus Schlafen und Wachen mehr schlecht als recht gezeugt. AKG zeichnen, reicht freilich nicht aus, das rätselhafte Leiden zu diagnostizieren. Andere Symptome müssen hinzukommen. Bei über 80 Prozent der Narkoleptiker gesellen sich zu den Schlafattacken sogenannte kataplektische Anfälle: Die Haltemuskulatur der Patienten erschlafft, die Kranken klappen zusammen wie Marionetten, bei denen die Schnüre durchtrennt sind. Narkoleptiker lallen bei einer Kataplexie wie hoffnungslos Betrunkene, ihre Zunge schwillt zu einem Bleiklumpen. Doch nur die Muskeln versinken in Schlafstarre, das Bewusstsein ist, anders als bei einem epilepNarkoleptiker Napoleon: Schlafattacken bei Audienzen tischen Anfall, hellwach. Erst wenn sie nach 10, 20 oder 30 Minuten von selbst wieder auf die Beine kommen, können sie die oft peinliche Situation erklären. „Die Umstehenden“, erläutert Geert Mayer, Neurologe an der Hephata-Klinik im hessischen Treysa, „sind bei Kataplexien fast immer fassungslos. Auch im Repertoire der Rettungsdienste oder Notfallmediziner kommen diese Attacken nicht vor.“ Heftige Emotionen sind, wie bei Gélineaus Fasshändler, meist die Auslöser für die Körperstarre. Narkoleptiker können nach einem Kompliment „wie ein Narkoleptiker Hitchcock: Alpvisionen beim Einnicken? nasser Sack“ zu Boden gehen, so eine Betroffene. Sie entdecken gen, sogar auf dem Höhepunkt von Ent- im Fußballmatch eine Lücke zum Tor oder scheidungsschlachten. Gelegentlich gab er treffen beim Basketballspielen in den Korb ihr nach und schlief 20 Minuten auf einem – und schon sinken sie mit erschlafftem KörBärenfell. Oder er verharrte quälend lang per in sich zusammen. in merkwürdiger Starre, in der er nichts um Ein guter Witz kann den „Lachschlag“ sich herum mehr wahrzunehmen schien. auslösen, wie der Volksmund das Phäno„Imperative Tagesschläfrigkeit“, wie die men einst bezeichnete. Andere Opfer Mediziner das Verschwimmen der Gren- sind unfähig, den in Flammen stehenden zen zwischen Wachen und Schlafen be- Christbaum zu löschen, weil sie der Schreck CORBIS chen die Auswirkungen das Leben zur Hölle. Viele verfallen in Depressionen, kapseln sich ab oder müssen sich immer wieder Vorwürfe wegen ihrer Faulheit oder ihres vermeintlich schlechten Lebenswandels gefallen lassen. Mindestens alle zwei Stunden treten die Schlafattacken auf. Die Opfer nicken bei Gesprächen mit Kunden ein, brabbeln mitten im Satz wirres Zeug, fügen sinnlose Wörter in Notizen und Manuskripte ein. Die meisten Schlummersüchtigen sind schon nach dem Frühstück so müde, dass ihnen die Augen zufallen. Sie überstehen keinen Kongress, keinen Gottesdienst, keine Autofahrt wach: „Je stärker ich gegen den Schlafzwang ankämpfe“, erzählt ein Narkolepsiepatient, „desto unaufhaltsamer zieht er mich hinunter.“ Narkolepsiekranke Mütter verbinden ihr Handgelenk und die Wohnungstür mit einer Schnur, um zu verhindern, dass ihre Kleinen während eines Anfalls unbemerkt auf die Straße laufen. Oft ist das Sexleben der Kranken gestört, weil sie schon das Vorspiel zum Geschlechtsverkehr nicht wach überstehen. Innerhalb von Sekunden verschlingt der Schlaf seine Opfer. Auch vor Prominenten macht die Krankheit nicht Halt. Der Regisseur Billy Wilder behauptete, die Hollywood-Legende Alfred Hitchcock sei Narkoleptiker gewesen. Tatsächlich nickte der Meister der Suspense häufig im Regiestuhl ein. Bei einem öffentlichen Essen sank sein schwerer Kopf zum Erstaunen der Gäste in den Suppenteller. Der französische Gelehrte Jean François Champollion, Entzifferer der ägyptischen Hieroglyphen, litt seit seinem 20. Lebensjahr unter extremen Schlafattacken. Oft fanden ihn seine Begleiter in den Grabmälern der Pharaonen schlafend zwischen seinen verstreuten Manuskripten. Selbst beim Disput mit Gelehrten rissen Champollion die Anfälle wie ein Sog in die Tiefe. Napoleon versank tagsüber immer wieder in minutenlangen lethargischen Schlaf. Die Müdigkeit ereilte den französischen Kaiser bei Audienzen, festlichen Empfän- Wissenschaft dest bei den ersten Attacken geraten sie in panische Angst und fürchten, dass sie tagelang in der Wohnung liegen und sich wie in einem Film beim Verhungern und Verdursten zusehen müssen – mindestens jeden vierten Narkoleptiker quälen derartige Scheintoderlebnisse am Morgen. Die Mediziner können die Narkolepsie nicht heilen, doch immerhin lindern Medikamente den Schrecken. Die Muntermacher Ephedrin und Amphetamine dämpfen die Schläfrigkeit. Antidepressiva unterdrücken die mit dem Traumschlaf assoziierten Kataplexien, Schlaflähmungen und Halluzinationen. Auch die Kranken selbst entwickeln Strategien, den Angriffen aus der Schlafwelt möglichst zu entgehen. Sie reduzieren den Nachtschlaf und legen tagsüber bewusst Nickerchen ein. Viele Opfer gehen intensiven Gefühlsregungen aus dem Weg, verlassen fluchtartig den Raum, wenn Witzbolde zu einer komischen Geschichte ansetzen. F. STOCKMEYER / ARGUM innerhalb von Sekunden in Starre versetzt. Auch Champollion versagten am 14. September 1822 die Beine den Dienst, jenem Tag, an dem er seinem Bruder in einem Brief vom Sieg über das Geheimnis der ägyptischen Schriftzeichen berichtete. Hinter den angeblich epileptischen Anfällen Napoleons, von denen manche Biografen und Zeitgenossen sprechen, könnten sich in Wirklichkeit Kataplexien verborgen haben. Halluzinationen schieben sich bei über 40 Prozent der Kranken am Abend vor dem Einschlafen oder beim Aufwachen am Morgen wie Ausläufer einer Endmoräne ins Wachsein. „Man sieht Bilder“, berichtet eine Narkoleptikerin, „von denen man nicht sagen kann, ob sie Traum oder Wirklichkeit sind.“ Häufig sind die Einsprengsel aus der Traumwelt bis zum Bersten mit Horrorszenarien gefüllt. Eine von Halluzinationen gequälte OP-Schwester beispielsweise berichtet, dass sie immer wieder schmerz- Neurologe Mayer, Narkolepsie-Patient: Dünner Vorhang zwischen Traum und Wirklichkeit haft erlebt, wie Ärzte in ihren Körper schneiden. Andere klagen darüber, dass Ratten an ihnen nagen oder Schlangen über ihren Körper kriechen. „Man spürt es richtig“, erzählt eine Kranke. Wieder andere sprechen in der Übergangswelt zwischen Traum und Wirklichkeit mit Menschen, die schon lange tot sind. Das Treffen treibt ihnen eine Gänsehaut über den Rücken, ihr Herz jagt. „Man hat das Gefühl, als würden sie kommen und einen holen, ich glaube, so muss der Tod sein“, berichtet eine Frau. Bei „Schlaflähmungen“ am Morgen sind viele Kranke unfähig, sich zu bewegen oder zu sprechen. Ihr Geist ist klar, nur ihr Körper weilt noch in Traumschlafregionen und ist steif wie ein Waschbrett. Die Opfer der Schlafstarre driften oft bis zu einer halben Stunde in diesem Gruselszenario. Mayer: „Sie haben ein Gefühl, als seien sie lebendig begraben.“ Zumin240 In den über 160 Schlaflabors in Deutschland lässt sich nachweisen, dass die Kranken nur ein fadenscheiniger Vorhang vor dem Neuronengewitter der Träume schützt: Während Gesunde bis zu zwei Stunden benötigen, um aus den Tälern des Tiefschlafs (Non-REM-Schlaf) in die Traumwelten des REM- oder Traumschlafs zu gelangen, durchrasen Narkoleptiker diesen Schritt in wenigen Minuten. Sie schlafen schneller ein, dafür ist ihre Nachtruhe häufig von Wachphasen unterbrochen. Gut jedes 20. Narkolepsieopfer ist ein Kind unter zehn Jahren. Vor allem hinter vielen hyperaktiven Kindern stecken Opfer der Schlafkrankheit, die in einer Art von Autostimulation gegen die quälende Müdigkeit anhampeln. „An Narkolepsie“, kritisiert Mayer, „wird bei Kindern viel zu wenig gedacht.“ Dennoch könnten auch die jüngsten Opfer der Orpheusschen Umarmungen ged e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 nauso viel leisten wie gesunde Kinder, wenn ihnen Lehrer oder Eltern die Möglichkeit gäben, mehrmals am Tag gezielt ein wenig Schlaf zu tanken. Schon lange vermuten die Mediziner, dass das Schlummerleiden vererbt wird. Die Krankheit tritt in vielen Familien gehäuft auf. Nahe Verwandte von Narkoleptikern tragen ein hundertfach erhöhtes Risiko, ihrerseits zu erkranken. In den achtziger Jahren fanden japanische Forscher auf dem kurzen Arm des Chromosoms 6 ein Gen, das für die SchlafWach-Störung verantwortlich sein könnte. In 98,9 Prozent der Fälle fanden die Wissenschaftler bei Narkoleptikern diesen Übeltäter, „die höchste Assoziation eines Gens mit einer Erkrankung überhaupt“, wie Narkolepsie-Experte Mayer beteuert. Doch auch im Erbgut jedes dritten Gesunden gelingt es den Medizinern, das Gen nachzuweisen. Der letzte Schlüssel zum Narkolepsierätsel fehlt deshalb noch. Den könnten US-Forscherteams vor wenigen Wochen unabhängig voneinander gefunden haben. Wissenschaftler der Stanford University entdeckten bei Dobermann-Pinschern und Labrador-Retrievern nach zehnjähriger Forschungsarbeit ein Gen, das die Erbinformation für einen speziellen Rezeptor auf der Oberfläche von Neuronen im Hypothalamus enthält. Ein zweites Team von der University of Texas stieß bei Mäusen auf die schlafregulierende Wirkung eines Hormons (Hypocretin), das zu ebendiesem Rezeptor im Hypothalamus passt wie der Schlüssel zum Schloss. Ist das Hormon nicht in ausreichender Menge vorhanden oder kann es an die Neuronen in der zwischen Hirnstamm und Großhirn liegenden Steuerungszentrale für den Schlaf nicht andocken, weil beim Bau der Rezeptoren Fehler unterlaufen, dann ist das Verhalten gestört, starreähnliche Schlafphasen schieben sich immer wieder übergangslos ins Wachsein. Mit speziellen Medikamenten, die die Hypocretin-Konzentration im Gehirn erhöhen, könnte sich die Narkolepsie deshalb eines Tages heilen lassen. „Ich bin sicher“, erklärt Stanford-Forscher Emmanuel Mignot, „dass Hypocretin auch beim Menschen eine Rolle spielt.“ Stand Hitchcock, wie Wilder es meinte, mit der Horrorwelt der Narkoleptiker auf vertrautem Fuß? Hat der geniale Inszenator des Schreckens die Angstträume seiner Filme aus dem Fundus von Halluzinationen geschöpft? Die Spekulation scheint zumindest nicht ganz abwegig, denn die Angst etwa vor dem Sturz ins Leere, wie sie in Hitchcocks „Vertigo“ thematisiert ist, könnte nichts anderes sein als das maßlose Entsetzen des Schlummersüchtigen, bei einer Kataplexie wie in einem Aufzug, bei dem die Seile gerissen sind, in die Tiefe zu stürzen. Günther Stockinger Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite F. HELLER / ARGUM experten. Zwei Mal haben sie sich bereits zu „Workshops“ getroffen, jetzt auch ein Buch zum Thema herausgegeben*. Einig sind sich die Gelehrten nicht, denn die Ergebnisse der Befragungen, Feldforschungen, Sozial- und Sprichwortanalysen sind voller Widersprüche. Ist am Ende nur der verschwiegen, dem nichts anvertraut wurde? Sind Geheimnisse segensreich? Das glauben vor allem die staatstragenden Bürger, die von Amts wegen allerlei Geheimnisse sammeln. „Arcana imperii“, Geheimnisse der Herrschenden, gelten seit der Antike als die bestbewachten; „Arcana naturae“ als weitgehend enträtselt; Gottes Geheimnisse („Arcana dei“) interessieren nur mehr beamtete Theologieprofessoren. Dem gewöhnlichen Bürger sichert der deutsche Staat zwar eine Privatsphäre zu, die offiziell – durch das Brief-, Steuer-, Vom US-Geheimdienst CIA genutzte Abhöranlage in Bad Aibling bei München Bank-, Beicht- und Ärztegeheimnis, den Datenschutz, die „informationelle PSYCHOLOGIE Selbstbestimmung“ – geschützt wird. Zugleich saugt der Staat die Geheimnisse seiner Bürger auf und archiviert sie in GeheimarchiWarum bleiben Geheimnisse ven. Die Bundesrepublik so selten geheim? Weil sie das Unschützt ihre „Arcana impeterfutter für Klatsch und rii“ am liebsten mit einem Tratsch, Lüge und Verrat sind. doppelt gemoppelten Stempel: „Geheime Verschlusssache“. uf der Wartburg beim BibelüberWie riskant ein Geheimsetzen hat sich der entlaufene Auniskult sein kann, lehrt das gustiner-Eremit Martin Luther 1521 Beispiel der DDR. Alle Indas schöne deutsche Wort „Geheimnis“ formationen von Interesse ausgedacht. Der vogelfreie Mönch, mit der Beichtstuhl in katholischer Kirche waren dort geheim – die „Reichsacht“ belegt und vor den kaiserliZahl der Geheimpolizisten chen Häschern auf der Flucht, wählte als des Ministerium für StaatsKern des neuen Begriffs das sehnsuchtssicherheit (90 000) und ihrer volle Wort „Heim“. Es bedeutete ihm Verinoffiziellen Mitarbeiter trautheit, Geborgensein, im übertragenen (173 000) ohnehin; aber auch Sinn: „nicht für andere bestimmt“. Wohnort, Einkommen und Darüber hat Sigmund Freud 1905 nur Lebensstil der Partei- und müde gelächelt. Der Entdecker des UnbeStaatsführer; das Sozialprowussten, der Männer und Frauen auf der dukt und die StaatsschulCouch zum Reden brachte, urteilte: „Wer den; sogar die Zahl der Augen hat zu sehen und Ohren zu hören, Selbstmörder und die Menüberzeugt sich, dass die Sterblichen kein ge des Altpapiers. Geheimnis verbergen können. Wessen LipWeil der DDR-Bürger 40 pen schweigen, der schwätzt mit den FinJahre lang auf Geheimhalgerspitzen.“ tung gedrillt wurde, herrscht Dabei hat das gewahrte Geheimnis in den neuen Bundesländurchaus gute Seiten: Es sichert dem Ge- Schließfächer in Schweizer Bank dern auch heute noch ein heimnisträger einen Wissensvorsprung, der Geheimnisvolle Orte: Segensreiche Errungenschaft? nahezu vollständiges Beihm Vorteile verschafft; und wer etwas auszuplaudern hat, der nutzt es, um sein So- element, das Geheimnis, womöglich nur schweigen der Vergangenheit. So bleibt zialprestige zu festigen. Auch Georg Sim- eine Fiktion ist, wird in Deutschland seit auch die Erkenntnis des Soziologen Simmel, Großvater der deutschen Soziologen, Jahren wissenschaftlich erforscht. Nestor mel unerörtert, dass eine von Geheimnishat sich noch zu Kaisers Zeiten für das Ge- der Geheimnis-Analytiker ist der Gieße- sen durchweg beherrschte Gesellschaft heimnis mächtig begeistert: Es sei „eine ner Psychologe Albert Spitznagel, 70. Um nicht entwicklungsfähig ist. Offenbar ist der größten Errungenschaften der Mensch- ihn scharen sich mehrere Enthüllungs- die Deutsche Demokratische Republik auch an ihrer Geheimhaltungswut geheit“, denn es biete „die Möglichkeit einer storben. zweiten Welt neben der offenbaren.“ * Albert Spitznagel (Hrsg.): „Geheimnis und GeheimDieses Leiden ist jedoch kein Monopol Wie groß diese unsichtbare Welt ist, ob haltung“. Hogrefe-Verlag, Göttingen; 340 Seiten; 59 der Realsozialisten. Derzeit grassiert das sie zu- oder abnimmt und ob ihr Struktur- Mark. Zweite Welt P. VAUTHEY / SYGMA GALAZKA A 244 d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Wissenschaft Y. ARSLAN / DAS FOTOARCHIV Übel in der Schweiz: Dort hat die Armee nach und nach gesprächsweise aufgeho– sie hält alles geheim, vor allem die 21 000 ben wird. Bunker und Festungsanlagen – einen miSiebzig Prozent aller Gesprächsinhalte litärischen Geheimdienst, der noch viel beschäftigen sich nach amerikanischen Ungeheimer agiert. Einer seiner Hauptmän- tersuchungen mit Beziehungen und perner namens Dino Belassi hat innerhalb sönlichen Erfahrungen – die Hälfte davon von fünf Jahren gut acht Millionen Fran- gilt Personen, die gerade nicht anwesend ken abgezweigt. Nur dieser Eidgenosse sind. Das sei lebenswichtig, sagt der USweiß, ob die 200 Pistolen und Gewehre, die Professor Robin Dunbar, denn nur so lerer unter der Hand gebunkert hat, das Ar- ne man eine möglichst große Zahl von senal eines supergeheimen Geheimdiens- Menschen und unterschiedlichen Verhaltes sind, von dem der offizielle Geheim- tensweisen kennen – eine Art Überlebensdienst nichts wissen sollte. training, das nicht ohne Geheimnisverrat Noch hält der Delinquent mit der auskommt. Wahrheit hinterm Berg. Womöglich Weil jedes Geheimnis auf der Zunge stärkt ihn die arabische Weisheit: „Hast juckt, hat auch die Lüge Konjunktur. Sie du ein Geheimnis, ist es dein Gefangener. mildert den Schock bei der Aufdeckung des Lässt du es frei, so bist du sein Gefan- Geheimnisses, beschleunigt die Abwicklung gener.“ des Alltags, und befördert den sozialen AufIn einer Welt, in der, wie stieg. Eine augenzwinkernneuere Forschungen zum de Zustimmung, die Sprachverhalten der GeKlatsch und Tratsch freischlechter ergeben haben, spricht, gibt es für die Lüge der Mann täglich durchallerdings nicht. Diese beschnittlich rund 12 000 droht das Vertrauen und Worte macht – die Frau die persönliche Integrität. 23 000 –, ist die UnverDie strengste Ansicht sehrtheit eines Geheimnisdazu hat der Philosoph ses permanent bedroht. Immanuel Kant (1724 bis Als Viererbande, die fast 1804) hinterlassen: „Wahrjedem Mysterium den Garhaftigkeit in Aussagen, die aus macht, gelten Klatsch man nicht umgehen kann, und Tratsch, Lüge und Verist formale Pflicht des Menrat. schen gegen jeden, es mag Erziehung und Benimmihm oder einem anderen Bücher ächten all das undaraus auch noch so großer terschiedslos. Doch Klatsch Nachteil erwachsen.“ Das und Tratsch sind oft wertist weithin Theorie, denn volle Zugaben des Alltags. Autor Spitznagel heutzutage gehen vier von Sie dienen, darüber sind fünf Lügen anstandslos sich die Psychologen einig, dem Erhalt durch, vor allem deshalb, weil die Mobilität sozialer Gruppen und bauen Aggressionen der Gesellschaft zu- und die Vorbildfunktion ab. Für den Gießener Soziologen Jörg der Eltern und Lehrer abgenommen hat. Bergmann ist „Klatsch die Sozialform der Selbst schützenswerte Geheimnisse geldiskreten Indiskretion“. Albert Spitznagel ten den psychologischen Experten als zuist sich sicher, dass es „in westlichen nehmend gefährdet. Spitznagel hat volksKulturen inhaltsbezogene Geheimhal- tümliche Sprichwörter zu Geheimnissen tungshierarchien“ gibt. Am riskantesten und Geheimnisverrat durch Befragungen sei die Offenbarung „sexualitätsbezogener untersucht und dabei gefunden, dass der Inhalte“. Verrat im Sprichwort und im wirklichen In jedem besseren Büro kommt in der Leben als der ärgste Feind jeder VertrauRangfolge des Interesses nach dem Sex die lichkeit gilt. Verrat ist demnach keine entschuldbare Gehaltsstruktur. Der Klatsch darüber kann beide Themen entschärfen helfen und Form der List, wie das die Geheimdienste Loyalitätskonflikte unter Freunden lindern den Überläufern suggerieren, sondern ein – nur muss er halbwegs geheim geschehen Angriff auf zwei fundamentale menschliund offiziell geächtet bleiben. Wird Klat- che Kategorien: das Vertrauen und die schen bewusst zu einer Psycho-Strategie Treue. Die Treue – definiert als Tugend der erwählt, verliert es seine wohltätige Wir- Beständigkeit im sittlichen Leben, der Zuverlässigkeit und des Festhaltens an einer kung. Auch in Familien bestimmen, wie die versprochenen Bindung – wird durch den amerikanische Therapeutin Evan Imber- Verrat ausgehebelt. Im traditionsbewussten England gilt Black lehrt, „Wissen und Nichtwissen um Geheimnisse“ die Choreografie. der Verrat noch immer als das schlimmste Stigmatisierende Episoden – dazu zählen aller Verbrechen (in Frankreich ist es der Drogenmissbrauch, Adoption, Abtreibung, Vatermord, bei uns der Sexualmord an Gemütskrankheit, Aids, Sterbehilfe – wer- Kindern). Einig sind sich die Völker im den nicht mehr schmerzvoll als Tabu Sprichwort: „Vom Verräter frisst kein durchlitten, wenn die Geheimhaltung Rabe.“ Hans Halter 246 d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Kultur Szene FILM Fernsehen 2000 DANA PRESS ährend im deutschen Fernsehen hirntote Musiksendungen und seichte Serien das Hauptabendprogramm dominieren, riskieren die TV-Sender in Dänemark ausgerechnet zur Jahrtausendwende, dem Regisseure Kragh-Jacobsen, Levring, Vinterberg, von Trier Renommiertermin schlechthin, ein Experiment: Die für ihre radikale Schlicht- sammenzappen. Auch die britische BBC will Teile dieser Fernheit hoch gelobten dänischen Regie-Erneuerer der „Dogma seh-Innovation in ihr weltweit ausgestrahltes „Millennium’s 95“-Schule um Thomas Vinterberg und Lars von Trier („Das Day Broadcast“-Programm aufnehmen. „Die Handlung kenFest“, „Idioten“) sollen zum Jahreswechsel das Programm ge- nen wir selbst noch nicht“, erläutert Vinterberg, „es soll ein stalten. Dazu schicken Trier, Vinterberg sowie Sören Kragh-Ja- Spiel sein, ein Dogma-Spiel.“ Später wollen die vier Dogmacobsen und Kristian Levring in der Silvesternacht je einen Filmer aus den insgesamt 280 Fernsehminuten einen Kinofilm Schauspieler los, von der Kamera begleitet; am Neujahrsabend zusammenstellen. Auch ein Scheitern des mit umgerechnet werden diese vier Filme zur besten Sendezeit parallel in vier knapp 900 000 Mark vergleichsweise günstigen Filmexperidänischen TV-Programmen ausgestrahlt. Die Fernsehzuschau- ments hat Trier einkalkuliert: „Dann brauchen wir nur 1000 er können sich so ihren individuellen Dogma-Film selbst zu- Jahre zu warten, bis wir den Versuch wiederholen können.“ BUCHMARKT KLASSISCHE MUSIK Sein Leben, sein Erfolg Sopran für Archäologen M. KLIMEK enn er in seiner Kritikersendung Bücher lobt, werden am folgenden Tag die Buchhandlungen gestürmt, so heißt es schon lange in der Verlagsbranche, und Marcel Reich-Ranicki, 79, hätte vielleicht früher darauf kommen sollen, dass er sich die Bestseller am besten selbst schreibt. Mit seiner Autobiografie jedenfalls, erst seit drei Wochen im Handel, macht der temperamentvolle Literaturjournalist ordentlich Kasse. Am achten Verkaufstag war die gesamte Startauflage (75 000) vergriffen, Ende vergangener Woche waren 160 000 Exemplare weg, weitere 70 000 im Druck, und der Verlag bestellt bereits Papier für die vierte Auflage. Damit sich nicht alle die Mühe machen müssen, sein Leben nachzulesen, gibt der SelbstdarstelBestsellerautor Reich-Ranicki lungsprofi bereitwillig mündlich Auskunft: In diesen Wochen wird er in allen wichtigen Talkshows von Böhme bis Biolek zu sehen sein – fehlt eigentlich nur noch, dass die Kritikerkollegen Hellmuth Karasek und Sigrid Löffler sich im „Literarischen Quartett“ zu „Mein Leben“ äußern. d e r s p i e g e l S o etwas hatten die verwöhnten New Yorker noch nicht erlebt: Da trat die kleine Marcella Sembrich mit einer Violine aufs Podium der Metropolitan Opera und geigte bravourös ein hochromantisches Konzert. Dann wurde ein Flügel hereingerollt, und sie spielte mit Verve Masurkas von Chopin. Schließlich kehrte die 26-jährige Polin noch einmal wieder, sang in glockenreinem Koloratursopran eine schwere Rossini-Arie – und erntete zu Recht Orkane von Beifall. All das passierte 1884, kurz nach Gründung der Met, und die Sängerin gilt bei Kennern seither als Geheimtipp unter den Diven der Jahrhundertwende. Jetzt können Gesangs-Archäologen das Stimmwunder endlich wieder würdigen: Die Firma Nimbus hat soeben in ihrer „Prima Voce“-Serie eine CD mit Aufnahmen von 1904 bis 1912 herausgebracht. Verblüffend rauschfrei erklingen Opern-Kraftstücke, aber auch „Home Sweet Home“ und ein Schubert-Lied; dazu die Koloratur-Fassung von Johann Strauß’ „Frühlingsstimmen“-Walzer, die der begeisterte Komponist eigens für Sembrich (1887) Madame Sembrich schrieb. 3 6 / 1 9 9 9 249 AKG W ARTHAUS W Szene L I T E R AT U R KUNST Küchenlatein des Lebens Horror im Kinderzimmer Isabel Allende: „Fortunas Tochter“. Aus dem Spanischen von Lieselotte Kolanoske. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main; 496 Seiten; 49,80 Mark. 250 D VG BILD-KUNST, BONN 1999; FOTO: M. WITT as Labyrinth wirkt noch harmlos. Der Besucher flaniert durch verschachtelte hüfthohe Gänge, tapeziert mit rosafarbenen Kristallen. Doch dann muss er noch durch einen engen, schwarzen Tunnel kriechen. An dessen Ende blinkt in einem Aluminiumraum ein durchgedrehtes Polizeilicht, strahlt abwechselnd rot und blau auf eine Folterbank und ein Regal mit Sexspielzeugen. Der amerikanische Provokations-Künstler Mike Kelley, 45, ließ sich für seine raumgreifende Installation „Sublevel“ vom Grundriss einer Kunstakademie in Los Angeles inspirieren, die er einst besuchte; für ihn ist sie der Inbegriff eines typischen Schulgebäudes. Mit seiner skurrilen Hommage will er auf drastische Weise auch an dokumentierte Fälle von Misshandlungen in US-Schulen Kelleys Plüschtiere-Objekt „Deodorized Central Mass with Satellites“ (1991/99) Kino in Kürze „Der dreizehnte Krieger“. „Das Einzige, was diesen Film sehenswert macht, ist die drastische Darstellung von Enthauptungen und ähnlicher Gewalt“, teilt ein Amateur-Filmkritiker aus dem amerikanischen Mittelwesten der Welt per Internet mit. „Blut spritzt aus Hälsen, und Köpfe werden weggeschleppt.“ Mehr Erfreuliches weiß aber selbst dieser Splatter-Fan nicht über das abenteuerlich zusammengehauene Leinwandgemetzel zu berichten, das tapfer als mittelalterliches Action-Drama angepriesen wird: „Braveheart“ trifft „Beowulf“ und „Highlander“. Zwischen dem Filmemacher John McTiernan („Stirb langsam“) und dem Autor der Buchvorlage Michael Crichton („Jurassic Park“) kam es offenbar während des Drehs zu heftigen Kämpfen – das Ergebnis ist epischer Murks. Budget: rund hundert Millionen Dollar. Zwölf Krieger hätten auch gereicht. KINOWELT E liza ist ein Geschöpf voller wunderbarer Widersprüche, ausgestattet mit einer berauschend abenteuerlichen Vita. Eliza ist eben eine typische Romanheldin von Isabel Allende, 57, sie ist „Fortunas Tochter“, Titelfigur des neuesten Romans der Chilenin. Als Findelkind lag Eliza am 15. März 1832 halbnackt in einem Seifenkarton vor der Tür der wohlhabenden Geschwister Jeremy und Rose Sommers in der britischen Kolonie der chilenischen Stadt Valparaíso. Die skurrile, unverheiratete Rose will das Mädchen zu einer englischen Oberschicht-Lady ausbilden lassen, aber der bedächtige Jeremy glaubt, dass man der Adoptivtochter immer ihre armselige Abstammung anmerken werde. Und wirklich, Eliza lässt das Erziehungsprogramm mit Klavierstunden und Haltungstraining nur widerwillig über sich ergehen, stattdessen treibt sie sich lieber in der Küche herum, bei Mama Fresia, die ihr das Kochen und das Küchenlatein des Lebens beibringt. Eliza wird beides brauchen. Denn als in Kalifornien der Goldrausch ausbricht, zieht sie ihrem Geliebten hinterher, dem Glücksritter Joaquín Andieta. Und zwischen Abenteurern und Halunken reift die Halbwüchsige zur selbstbewussten Frau. Fast so kitschig und klischeebeladen, wie sie die Eckpunkte des Roman-Lebens dieser Pendlerin zwischen den Welten konstruiert hat, malt die Allende auch deren Geschichte mit bunten Bildern im Detail aus. Ausladend und mit unnützen historischen Exkursen befrachtet, kommt dieser Entwicklungsund Emanzipationsroman nur mühsam in Gang. Die Autorin gibt ihrem Roman, dem ersten nach sieben Jahren, eine dramatische Dimension, die sie aber auf die große erzählerische Distanz nicht zu meistern versteht. Und am Ende bleiben Heldin und Leser gleichermaßen die Erkenntnis, die jede bewältigte Krise zu einem biografischen Bonus veredelt: „Jetzt bin ich frei …“ Szene aus „Chucky …“ d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 „Chucky und seine Braut“. Wenn die Heldin eines Horrorfilms zu einem Ratgeber namens „Voodoo für Idioten“ greifen muss, kann es nicht allzu gruselig zugehen. Diese vierte Folge der 1988 gestarteten Filmserie um die Killerpuppe Chucky profitiert vom Revival der Gattung – und hat seine Grundidee erfolgreich bei „Scream“ abgeschaut: immer kräftig zitieren, und alles nicht so ernst nehmen. Diesmal hat der Mini-Killer eine Lebenspartnerin (Jennifer Tilly), mit der er durch Blut und Böse waten darf; darum ist „Chucky“ (Regie: Hongkong-Filmer Ronny Yu) eigentlich ein erbaulicher Lehrfilm über die Freuden der Liebe und die Gefahren der Ehe: Auch ein Serienkiller kann sich nicht ungestraft um den Abwasch drücken. Kultur erinnern. Seine SchockStrategie, mit der er das kollektive Verdrängen bezwingen will, nennt er „schwarze Nostalgie“. Mit Vorliebe benutzt er als Gedächtnisstützen auch putzige Plüschtiere – die er als 300 Kilo schwere Knäuel an Decken hängt und vom Parfum einer Elektroduftmaschine umwehen lässt. Knopfäugige Teddybären, so sieht es jedenfalls Kelley, sind nur das Symbol eines idealisierten, sauberen Kindchenschemas: Spielzeug, das nicht den Kleinen, sondern deren Eltern gefallen soll – und dem Künstler den Ruf eines gehobenen Kinderzimmerfetischisten einbrachte. In seiner aktuellen Ausstellung im Kunstverein Braunschweig (bis 31. Oktober) hat er seine neuesten Kindheitsdevotionalien, darunter auch Fingermalereien, versammelt und mit ihnen ein buntes Schreckenskabinett gebaut. Kelley-Installation „Sublevel“ (1999) AU S S T E L L U N G E N Eine militärische Karriere E MUSEUM KARLSHORST BERLIN r hat in der Geschichte Berlins nur für gut sieben Wochen eine Rolle gespielt, aber diese Zeit war „ein Moment der grundsätzlichen Weichenstellung“: Der sowjetische Generaloberst Nikolai Bersarin war Bersarin (1945) vom 24. April 1945 bis zu seinem tödlichen Motorradunfall am 16. Juni 1945 Berliner Stadtkommandant. Während dieser Zeit ließ er Trümmer beseitigen und stellte eine – wenn auch knappe – Lebensmittelversorgung her. In den Wohnungen gab es wieder fließendes Wasser und für ein paar Stunden elektrisches Licht. Mit Fotos, Plakaten und Originaldokumenten erinnert von Montag an das deutsch- Am Rande Monas Neurose M. WITT S russische Museum Berlin-Karlshorst an das Leben des Soldaten, der 1975 vom Ost-Berliner Magistrat zum Ehrenbürger der Stadt ernannt wurde (bis 22. November). Nikolai Bersarin, geboren 1904 in St. Petersburg, trat mit 14 in die Rote Armee ein. Er kämpfte in Ostsibirien gegen die Japaner und wurde im Mai 1941, kurz vor dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion, Oberkommandierender der 27. Armee. Als Heerführer der 5. Stoßarmee war Bersarin beteiligt an der Befreiung Moldawiens, an der Oder-WeichselOperation und dem Sturm auf Berlin. „In den Grenzen seiner historischen Denk- und Handlungsmöglichkeiten“, so heißt es im Vorwort des Begleitbandes zur Ausstellung, „war Bersarin vielleicht mehr als das Produkt und der Funktionsträger eines abzulehnenden Systems.“ Zitat »Das Buch ist zum Lesen das ideale Interface.« Christof Erhart, Manager für Electronic Commerce bei Bertelsmann, über die Zukunft des gedruckten Wortes. d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 o richtig schlau geworden ist man ja noch nie aus ihr: Lächelt unentwegt, obwohl besorgte Liebhaber sie eingesperrt haben hinter Panzerglas. Schweigt viel sagend, trotz täglich tausender Bewunderer, die sich schwitzend vor ihr drängeln. Und sieht eigentlich auch noch ganz gut aus für ihr Alter – demnächst feiert die Dame ihren 500. Geburtstag. Nein, die Rede ist nicht von der offenbar unsterblichen Queen Mom; die Unvergleichliche heißt Mona Lisa, wurde gemalt von Leonardo da Vinci, hängt seit Jahrhunderten faul im Pariser Louvre herum. Und lächelt und lächelt. Dachte man bisher. Doch jetzt hat ein italienischer Dottore für alle Zeiten das sibyllinische Mona-Grinsen dechiffriert: Eine Angstneurose sei ihr ins Gesicht geschrieben, hat der Arzt Filippo Surano herausgefunden, „sie war gestresst und sehr unglücklich“. Deshalb habe die gute Lisa schon in jungen Jahren, vor allem nachts, unbewusst mit den Zähnen geknirscht. Kopfschmerzen seien die Folge gewesen, außerdem, igitt, eine Mundinfektion sowie eine Nierenentzündung, die ihr Gesicht und ihre Hände anschwellen ließ. Mona Lisa, Traumfrau, schön und schön still – ein Fall für die PsychoCouch? Doch vor wem oder was hatte sie Angst? Vor dem harten ModelAlltag im 16. Jahrhundert? Etatkürzungen bei der Künstlersozialkasse? Dem Röntgenblick Leonardos? Wir wissen es nicht, Dr. Surano weiß es nicht, und auch Feldforschungen bei zeitgenössischen Dauer-Grinsern wie Gerhard Schröder und Peter Hahne führen nicht weiter – das sind echte Männer, und die kennen keine Angst. Aber noch ist Hoffnung: „Jahre opfern können für das Lächeln einer Frau, das ist Glück“, verheißt, nein, diesmal nicht Goethe, sondern Hermann Hesse. In diesem Sinne: Dr. Surano, forschen Sie weiter! Mona Lisa wird Ihnen dankbar sein. Und am Ende, ganz bestimmt: lächeln. 251 Kultur SCHRIFTSTELLER Der Westen küsst anders Blick zurück ohne Zorn: Thomas Brussig hat die Vorlagen für zwei Spielfilme geschrieben, in denen überraschend farbig vom Alltag in der DDR erzählt wird – sein neues Buch erlaubt sich provozierend nostalgische Töne. Von Volker Hage S talin wollte unbedingt ein Stück von ihr haben: von der Sonnenallee. Eine Straße mit einem derart schönen Namen konnte man nicht einfach den Amerikanern überlassen. Damals, im Sommer 1945, als er mit seinen alliierten Mitstreitern Truman und Churchill in Potsdam zusammensaß, um die Zukunft Deutschlands zu erörtern, mühte Stalin sich zunächst vergebens, dem US-Präsidenten die Straße abzuringen. Der britische Premier stand gerade an der Wandkarte, als ihm Stalin geistesgegenwärtig Feuer für die erloschene Zigarre gab – der also beglückte Churchill verhalf prompt dem Sowjet-Diktator zu einigen Metern der fünf Kilometer langen Straße. War es so? Der Schüler Michael Kuppisch stellt es sich so vor. Der Held aus Thomas Brussigs neuem Prosawerk „Am kürzeren Ende der Sonnenallee“ muss nämlich mit dem absurden Ergebnis der Straßenteilung leben: in der DDR, direkt neben der Mauer, in einem Fragment von Straße**.Wie anders ließe sich so ein Unsinn sonst erklären? Brussig, 33, bekannt durch seinen Roman „Helden wie wir“, ein Autor, der grelle Übertreibungen und skurrile Einfälle liebt, hat sich zwar die Stalin-Szene, nicht aber die aufgeteilte Sonnenallee ausgedacht. Sie existierte so bis zur Wende, sogar mit durchgehender Nummerierung: Die Hausnummern 1 bis 370 gehörten zum West-, die restlichen bis 411 zum Ostteil * Mit Alexander Scheer, Teresa Weißbach (3. u. 4. v. l.) als Micha und Miriam. ** Thomas Brussig: „Am kürzeren Ende der Sonnenallee“. Verlag Volk & Welt, Berlin; 160 Seiten; 28 Mark. Autor Brussig: „Herzerfrischendes Gelächter“ Brussig-Verfilmung „Sonnenallee“*: „Es war von vorn bis hinten zum Kotzen, aber wir haben uns amüsiert“ 252 d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 der Stadt – dazwischen stand die Mauer. Das kürzere Ende der Sonnenalle: kein schlechter Schauplatz für einen Blick zurück auf die Jugendzeit im Arbeiter-undBauern-Paradies. Der Berliner Schriftsteller hat die Geschichte von Michael und seinen Freunden, die im Schatten der Mauer heranwachsen und der Westmusik und den Ostmädchen (besonders einem) hinterherjagen, zunächst als reinen Kinostoff vor Augen gehabt, als Stoff für einen „wirklich liebevollen, bekennenden, nostalgischen Film“ (siehe Interview Seite 255). Und von dieser Idee konnte er immerhin den Theaterregisseur Leander Haußmann überzeugen, der sich mit „Sonnenallee“ an sein Spielfilmdebüt wagt: Am 7. Oktober soll das Werk in die deutschen Kinos kommen. Für die gemeinsame Arbeit am Drehbuch wurden Brussig und Haußmann zu Beginn dieses Jahres mit dem Drehbuchpreis der Bundesregierung ausgezeichnet. Dann aber packte Brussig offenbar die Lust, die Geschichte noch einmal in eigener Regie zu erzählen, ohne Einspruch, allein am Schreibtisch – und so entstand ein eigenständiges und herrliches Stück Prosa. Im Gegensatz zu DELPHI U. MAHLER / OSTKREUZ Romane zur deutschen Einheit: Unbekümmert über die Zeiten nach der Wende dem Bestseller „Helden wie wir“ ist es ein sehr stilles Buch geworden. Brussigs „Helden“-Roman von 1995 ist das muntere Satyrspiel auf den Untergang der DDR: klotzig, klamaukig, obszön. Der Protagonist Klaus Uhltzscht, ein ehrgeiziger, um seine Manneskraft besorgter Bursche, der gern bei der Stasi Karriere gemacht hätte, leitet, so die Pointe des Buches, ungewollt das Ende der DDR ein: als Exhibitionist, der mit seinem Riesenpenis die Grenzwächter aus der Fassung bringt. Kapitelüberschriften wie „Der geheilte Pimmel“ (Verulkung des Romantitels „Der geteilte Himmel“ von Christa Wolf) zeigen, dass Brussig mit dem getragenen Ernst der alten DDR-Literatur wenig am Hut hat. Wolf Biermann begrüßte „Helden wie wir“ denn auch als „ein herzerfrischendes Gelächter“ (SPIEGEL 5/1996), und die „Frankfurter Allgemeine“ erkannte darin gar eine Groteske „von der intelligenten Unverschämtheit und dem treffsicheren Spott der Shakespeareschen Narren“. Nur einige wenige Kritiker taten den Witz des Romans als „Pubertätshumor“ („taz“) ab. Das Buch, dessen Auflage heute bei 200000 Exemplaren liegt, ist ebenfalls verfilmt worden und soll am 9. November, termingerecht zum zehnten Jahrestag des Mauerfalls, Premiere haben – auch hier wirkte der fleißige Brussig am Drehbuch mit. Gegen den vulgären Ich-Erzähler Uhltzscht jedenfalls wirkt Michael, der Junge aus der Sonnenallee, den seine Freunde Micha nennen, geradezu keusch und romantisch. Seine Geschichte wird von Brussig unspektakulär, in der dritten Person, erzählt – vielleicht auch, weil ihm dieser jugendliche Held näher steht als der monströse Verbalerotiker. Kein Wort mehr von „Pimmel“ oder „Kolben“. Das Gegenprogramm ist angesagt: Micha hat sich in seine Mitschülerin Miriam verliebt und traut sich nicht, es ihr zu sagen. Das Problem ist nämlich, dass sie, neu an der Schule, die Begehrteste ist – sämtliche Freunde Michas sind ebenfalls hoffnungslos in sie verliebt. Und Miriam ermutigt die Jungs aus der Sonnenallee nicht gerade. Gleich auf der ersten Schuldisco knutscht sie demonstrativ mit einem Jungen herum, der, als die Schulleiterin empört das Licht anknipst, nicht mehr verbergen kann: Er ist d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 Westler. Der Bursche trägt nämlich ein T-Shirt des John-F.-Kennedy-Gymnasiums. Da trifft es sich gut, dass Micha längst wegen antisozialistischer Unbotmäßigkeit zu einer Rede vor versammelter Schülerschaft verdonnert worden ist: Miriam muss ebenfalls antreten. Hinter der Bühne geschieht das Unfassliche. Sie nähert sich ihm mit den Worten: „Die im Westen küssen ganz anders“ – und will ihm das offenbar gerade vorführen, als sie zum Rednerpult gerufen wird. „Irgendwann zeig ich’s dir!“, ruft sie ihm noch zu. Dieses Versprechen lässt ihn nicht mehr los, auch wenn Miriam gar nicht daran denkt, es so bald einzulösen. Sie macht geradezu eine Philosophie daraus. „Dann hast du immer etwas, worauf du dich freuen kannst“, sagt sie zu Micha, als er einmal vergeblich daran erinnert. „Wenn du weißt, dass ich dich irgendwann küssen werde, wirst du nie traurig sein müssen.“ Brussig vermag es, dieser so unendlich oft erzählten Geschichte von der ersten großen Liebe Anmut und Witz zu geben. Wie die ganze Jungenbande zur Tanzstunde marschiert und sich um Miriam balgt, wie der den Ausweis kontrollierende ABV (der Abschnittsbevollmächtigte) Micha ein entscheidendes Rendezvous vermasselt, wie schließlich noch ein Nebenbuhler aus dem Westen auftaucht und mit immer teureren Schlitten bei Miriam vorfährt (am Ende wird er als hochstaplerischer Hotelboy enttarnt) – das ist DDR-Nostalgie der feinen Art. Die Figuren werden ganz von allein zu komischen Gestalten, da muss Brussig nur ein wenig nachhelfen: die Mutter, die den Sohn zum Studium nach Moskau schicken will und dafür sogar das „Neue Deutschland“ abonniert, die „Existenzialistin“, die einen der Sonnenallee-Jungs verführt und ihre Nische in der DDR gefunden hat – auch der Westverwandte, der bei Besuchen jedes Mal schweißgebadet die Grenzkontrolle passiert. Bisweilen ist der Prosa die Herkunft vom Filmplot noch anzumerken: ein wenig zu pointenselig, auch wackelt die Erzählperspektive an einigen Stellen. Vom Ende der DDR ist dabei gar nicht die Rede – das wird bei Brussig als heimlicher Fluchtpunkt der Geschichte vorausgesetzt. Zehn Jahre ist es her, seit sich dieses Ende mit der Maueröffnung konkret ab253 zuzeichnen begann. Brussigs Buch ist denn auch nicht das einzige Werk der Saison, in dem der Wende literarisch gedacht wird. „Deutsche Einheit“ nennt, ganz ohne Scheu, der aus Hamburg stammende, in München lebende Schriftsteller Joachim Lottmann seinen zweiten Roman; „Das vereinigte Paradies“ heißt nicht ohne Ironie der Erstlingsroman der Autorin Marcia Zuckermann, die in Berlin aufwuchs*. In beiden Fällen wird munter und unbekümmert von Nachwendezeiten in Berlin erzählt, und Vereinigung bedeutet jeweils auch deutsch-deutsche Paarung: Bei Zuckermann, 42, ist es der arbeitslose Ossi Frank, der sich Geld mit der Synchronisation von Pornofilmen verdient, und mit Claudia, der Emanze aus dem Westen, seine Schwierigkeiten hat; bei Lottmann, 44, greift der westliche Ich-Erzähler am Ende gar zu Viagra, um die schöne Maren auf ihren „hässlichen DDR-Karokissen“ von sich zu überzeugen – hier wie dort wirkt die Munterkeit im Erzählton bisweilen etwas angestrengt. Getragen dagegen schon der Titel von Jürgen Beckers erstem Roman: „Aus der Geschichte der Trennungen“**. Becker, 67, bisher hauptsächlich als Lyriker bekannt, betreibt Spurensuche: Sein Alter Ego Jörn Winter fährt seit dem Fall der Mauer regelmäßig in den Osten, wo er einen großen Teil seiner Kinderjahre verbracht hat. Doch weder lassen sich Vergangenheit und Gegenwart, noch Ost- und Westerfahrungen leicht miteinander versöhnen – Einheit, so zeigt dieses Buch, ist psychisch nicht so einfach herzustellen. In seiner ruhigen, mitunter fast schwerfälligen Art ist Beckers Roman das Gegenstück zu den Versuchen der jüngeren Autoren, das deutsche Thema von der leichten Seite zu nehmen. Auf den umfassenden Roman über das einst geteilte Land oder auch nur über die in zwei Hälften getrennte Stadt Berlin, den gerade erst wieder der US-Autor Tom Wolfe im Fernsehen von den deutschen Schriftstellern gefordert hat, müssen jene, die ihn sich dringend wünschen, auch in diesem Herbst vergebens warten. Da kann selbst Brussigs „Am kürzeren Ende der Sonnenallee“ nicht aushelfen. Und doch lässt sich der DDR, die ein Kuriosum war wie die einst geteilte Sonnenallee, auf diese Weise wohl am besten beikommen: fröhlich und mit Happy End – zumindest für Micha und Miriam. „Es war von vorn bis hinten zum Kotzen“, resümiert der junge Held später, „aber wir haben uns prächtig amüsiert.“ * Joachim Lottmann: „Deutsche Einheit“. Haffmans Verlag, Zürich; 384 Seiten; 39 Mark. Marcia Zuckermann: „Das vereinigte Paradies“. Deutscher Taschenbuch Verlag, München; 320 Seiten; 28 Mark. ** Jürgen Becker: „Aus der Geschichte der Trennungen“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M.; 344 Seiten; 39,80 Mark. d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 Kultur „Jubelfeiern wird’s geben“ Der Schriftsteller Thomas Brussig über die verflossene DDR, die Zusammenarbeit mit Leander Haußmann, über Ehrgeiz, Misserfolge und verkäufliche Literatur SPIEGEL: Herr Brussig, gleich zwei Spiel- Brussig: Der Misserfolg hat meinen Ehrgeiz angestachelt, das stimmt. „Wasserfarben“ war nicht so schlecht, dass es diesen Misserfolg verdient hätte. Was die „Wasserfarben“ an Aufmerksamkeit zu wenig gekriegt haben, das haben die „Helden wie wir“ dann doppelt wieder reingeholt. SPIEGEL: Nun ist Ihr drittes Buch da: „Am kürzeren Ende der Sonnenallee“. Was war zuerst da: die Film- oder die Buchidee? Brussig: Mir kam die Idee zu diesem Stoff 1992/93. Ich sah das als Film vor mir: die DDR im Stil von Woody Allens „Radio Days“, in einem wirklich liebevollen, bekennenden, nostalgischen Film.Aber was nimmt man anstelle des Radios, das bei Allen eine Art Leitmotiv ist? Die Mauer – für mich das DDR-Phänomen schlechthin! Und die Sonnenallee ist eine fünf Kilometer lange Straße in Berlin, quer durch Neukölln – nur die letzten Meter, die sind in Treptow, also im Osten. Ich dachte mir, das wäre der richtige Ort für eine Art Mauerkomödie: das kürzere Ende der Sonnenallee. Ich bin damit zu Leander Haußmann gegangen, und er hatte Lust, das zu machen. SPIEGEL: Immerhin Haußmanns Debüt als Spielfilmregisseur. Brussig: Ja, aber Mauerkomödie war nicht so sein Ding. Er hat sich da auf ein paar Episoden spezialisiert, die ihm besonders gefallen haben. So sind während der Arbeit am Drehbuch viele Episoden auf der Strecke geblieben. Mein Verleger sagte: „Mach doch ein Buch daraus!“ So konnte ich end lich wieder am Schreibtisch sitzen, ganz allein verantwortlich. Das ist also kein Buch zum Film. SPIEGEL: Aber es sind, laut Danksagung, Ideen eingeflossen, die während der Drehbucharbeiten kamen. Wie gestaltete sich die Zusammenarbeit mit Haußmann? DELPHI ULLSTEIN BILDERDIENST film-Rückblicke auf die DDR sind jetzt nach Ihren Vorlagen entstanden und werden im Herbst in die deutschen Kinos kommen: „Sonnenallee“ im Oktober, „Helden wie wir“ im November. Sind Sie der Generalbevollmächtigte für Nostalgie zum zehnten Jahrestag des Mauerfalls? Brussig: Ich mache die Filme ja nicht. „Helden wie wir“ ist die Verfilmung meines 1995 erschienenen Romans, und der „Sonnenallee“-Stoff ist von Leander Haußmann, dem Regisseur, stark mitgeprägt worden. SPIEGEL: Ihre Bescheidenheit in allen Eh- Berliner Grenzübergang Sonnenallee (1972) ren, aber ohne Sie würde es die Filme nicht „Die herrlichsten Storys von damals“ geben. nachlässigter Geschichten. Und komiBrussig: Ich bin doch nur der Autor. SPIEGEL: Und am liebsten ein Chronist der scherweise werden gerade die überall auf der Welt verstanden. untergegangenen DDR? Brussig: Zu viel der Ehre. In beiden Fällen SPIEGEL: Ihr erfolgreicher Roman „Helden ist die Geschichte fiktiv. Bei „Helden wie wie wir“ war nicht Ihr Debüt. Ihr Erstling wir“ könnte man geradezu von einer Ge- „Wasserfarben“ erschien zunächst unter schichtslüge sprechen: der Mauerfall als einem Pseudonym. Eine Art Stiefkind? Werk eines Einzeltäters. Und auch der Brussig: Ich habe das in der DDR ge„Sonnenallee“-Stoff geht nicht in die ei- schrieben und bin mit dem Manuskript zum gene Falle: Er versucht nicht zu schildern, Aufbau-Verlag gegangen, dem damals wie die DDR war, sondern erzählt, wie sie wichtigsten Verlagshaus bei uns. Als das gern erinnert wird. Buch dort tatsächlich erschien, für mich ein Traum, gab es die DDR nicht mehr, SPIEGEL: Ist die DDR so spannend? Brussig: „Oststoffe interessieren nicht“, und niemand wollte noch ein Buch von sagte mir nach der Wende ein Fernseh- einem Ostdebütanten lesen. redakteur. Und als ich „Helden wie wir“ SPIEGEL: Ihr Erstling ist ein stilles Buch. Hat schrieb, glaubte ich das fast auch schon: Sie der Misserfolg beflügelt, bei „Helden die DDR und Stasi – dafür interessiert wie wir“ mehr auf den Putz zu hauen? sich kein Mensch. Ich war vom Erfolg dieses Buches Brussig-Verfilmung „Sonnenallee“: „Erzählen, wie die DDR gern erinnert wird“ dann selbst überrascht. Möglich, dass ich wegen dieses Erfolgs später auf offene Ohren gestoßen bin, als ich mit dem „Sonnenallee“Stoff kam. SPIEGEL: Was hat sich geändert? Brussig: Als die DDR existierte, wurde sie ständig an ihrem Selbstverständnis gemessen und tief schürfenden Analysen unterzogen. Jetzt, da es vorbei ist, bemerken wir plötzlich, dass sich die DDR ganz gut anhand ihrer Profanitäten und Lächerlichkeiten erzählen lässt. Die DDR hatte einen Alltag, und sie hatte ein konkretes Interieur, und darin stecken jede Menge guter, bislang ver- Kultur land der neunziger Jahre, und da der Osten dazugekommen ist, muss er auch in einer groß angelegten Chronik der Neunziger vorkommen. Dass wir zu verschiedenen Generationen gehören, ist der geringere Grund. Ich denke, dass Edgar Reitz, der 66 ist, mit seinem Feuereifer und seiner geistigen Beweglichkeit zu den jüngsten Filmemachern Deutschlands gehört. SPIEGEL: Mit welchem Gefühl blicken Sie heute auf die DDR zurück? Brussig: Sehr präsent ist sie nicht mehr, aber sie beschäftigt mich ständig, und viel mehr, als mir lieb ist. Dabei hat es in den letzten zehn Jahren so viel interessante, geradezu umstürzende Veränderungen gegeben: Es gibt das Internet, die digitale Revolution, es gibt Kleinanleger, Einschaltquoten, deutsche Soldaten im Krieg und die neue Mitte. Aber im SENATOR FILM Brussig: Ich habe sehr gern mit Leander gearbeitet, weil wir so verschieden sind. Unvergessen ist, wie ich in seiner Bochumer Wohnung am Computer schrieb, während er im Nebenzimmer auf dem Bett lag und sich durch CD-Hören Erinnerungen heraufspülen ließ, die ich dann gleich ins Drehbuch einarbeiten sollte. Aber ich habe Leander auch als echten Leitwolf erlebt. Er hat den „Sonnenallee“-Stoff wirklich geliebt und sich in einem Maße engagiert, wie das keiner für möglich gehalten hätte. SPIEGEL: Es gibt noch ein drittes Filmprojekt, an dem Sie mitarbeiten. Brussig: Ja, eines Tages rief Edgar Reitz an und fragte, ob wir uns treffen könnten. Allein schon das hat mich stolz gemacht. SPIEGEL: Es geht immerhin um die Fortsetzung seiner „Heimat“-Serie, um ein Brussig-Verfilmung „Helden wie wir“*: „Es gibt genug Ostalgiekreise“ ambitioniertes, ehrgeiziges Projekt. Wie arbeiten Sie zusammen? Brussig: Wir sitzen meistens in München an den Drehbüchern. Am Flughafen holt mich ein Auto ab, dann geht es in Klausur. Ich werde gewissermaßen eingesperrt. Ich kriege zwar gut zu essen, ich darf einmal am Tag auch raus in den Englischen Garten. Aber ansonsten wird nur geschrieben, geredet, gelesen, also wirklich gearbeitet. Und das geht nun seit über zwei Jahren so. Dann trennen wir uns wieder für ein paar Wochen und kommunizieren per Telefon oder per E-Mail. SPIEGEL: Wie ist Reitz auf Sie gekommen? Sind Sie auch für ihn der Ostexperte? Brussig: Der Ostexperte ist sicher ein Grund. Wir schreiben über das Deutsch* Mit Daniel Borgwardt und Xenia Snagowski. 256 d e r Osten wird immer nur über den Osten geredet, als wäre die Zeit stehen geblieben. SPIEGEL: Immerhin machen Sie Ihre DDRVergangenheit literarisch fruchtbar. Brussig: Ich werde die Herkunft nicht los und sehe das auch als Chance. Es gibt da die Erfahrung des Bruches. Aber in der Zusammenarbeit mit Edgar Reitz stehe ich auch vor der Aufgabe, mich mit der Bundesrepublik auseinander zu setzen. Gewiss, Filme haben ihre eigenen Gesetze. In der literarischen Arbeit hätte ich wahrscheinlich einen anderen Blickwinkel – vielleicht hätte ich einfach andere Fragen als die Westdeutschen, die in dieses System hineingeboren wurden. Es gibt viele Dinge, die ich an der Bundesrepublik schätzen gelernt habe. Man begegnet hier einer angenehmen Form von Zivilität. Oder auch der Fähigkeit, genießen zu können. s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 SPIEGEL: Ist mit der DDR-Literatur nach der Wende zu streng umgegangen worden? Brussig: Die Auseinandersetzung unter den DDR-Intellektuellen um Mitverantwortung und moralisches Versagen blieb leider aus. Das Buch, das beispielhaft die Geschichte der Verblödung erzählt – wie jemand in diese DDR-Ideologie hineingeriet, wieso sich da so gut mitschwimmen ließ und wieso sich die DDR so lange hinschleppen konnte –, ist leider von den DDR-Autoren nicht geschrieben worden. Natürlich hat der Westen auch gern auf den Osten eingeschlagen, um der Auseinandersetzung mit der eigenen verkorksten Lebensweise, mit all der Verlogenheit, dem Zwang zur Verstellung, aus dem Wege zu gehen. Die deutsche Einheit gründet auf einer unseligen Allianz. Es lässt sich benennen, aber nicht ändern. SPIEGEL: Wird es in diesem Herbst Nostalgiefeiern für die DDR geben? Brussig: Ich halte es fast für ausgeschlossen, dass es zu einer wirklichen Auseinandersetzung mit der DDR noch einmal kommen wird. Das hätte längst passieren müssen. Und die Jubelfeiern, das kann ich Ihnen garantieren, die wird’s geben. Da gibt es genug Ostalgiekreise. Doch die sind längst nicht so politisch, wie sie aussehen. Solche Ostalgiepartys zelebrieren die Vergangenheit genau wie eine Siebziger-JahreParty. Die DDR war immer noch harmlos genug, so dass heute mit ihren Symbolen halbwegs unschuldig Party gemacht werden kann. SPIEGEL: Sie haben gerade in Berlin erstmals aus dem Buch „Am kürzeren Ende der Sonnenallee“ gelesen. Reaktionen? Brussig: Schon bei Drehbuchbesprechungen erlebte ich, dass alles im fröhlichen Erzählen von Geschichten mündete. Auch nach der Buchpremiere kamen alle, aus Ost und West, ins Erzählen. Die herrlichsten Storys von damals. Alle waren entspannt und fröhlich. Ich habe das Gefühl, dass im „Sonnenallee“-Stoff etwas Krampflösendes liegt, das über das Buch hinausgeht: ein Friedensangebot an die DDR-Vergangenheit. Ich wollte ein Buch schreiben, mit dem sowohl Wolf Biermann als auch Karl Eduard von Schnitzler gut leben können. SPIEGEL: Wie steht es mit der deutschen Gegenwartsliteratur? Brussig: Die jüngeren deutschen Autoren werden nicht mehr so leicht an die Subventionstöpfe gelassen. Ich habe mich mit einem Kapitel aus „Helden wie wir“ um ein Stipendium beworben – und es natürlich nicht gekriegt. Also, ich freue mich über Verkaufserfolge von Kollegen: Es soll sich unter den Lesern herumsprechen, dass sich in der deutschen Gegenwartsliteratur etwas tut. Die Leute haben ja den größten angelsächsischen Schrott gekauft. Auch da gibt es eine Wende, glaube ich. Es entsteht eine lesbare, aber auch gehaltvolle Literatur – also im schönsten Sinne Belletristik. Das wünsche Interview: Volker Hage ich mir. d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 Kultur José in der Schlangengrube Eine brasilianische Autorin macht den Krimi zu einem kritischen, sarkastischen Kunstwerk: Patrícia Melo und ihr Roman „Wer lügt gewinnt“. J mehr an, obgleich sie allesamt bei edlen Vorbildern abgeschrieben sind, von Agatha Christie bis Fjodor Dostojewski. Mittlerweile hat, wie geplant, den Ehemann eine Schlange gebissen, aber der Tölpel überlebt. José wechselt das Genre, den Verleger und die Bücher, die er abschreibt. José schreibt nun Selbsthilfe-Literatur, ein boomendes Geschäft nach US-amerikanischem Vorbild. „Reichen Sie sich selbst die Hand“ heißt Josés Bestseller, und jetzt ist er auch so weit, eine Pistole zu nehmen und Fúlvia die Hand zu reichen. Die verwitwete Fúlvia wird seine Frau. Nun ist er reif für die dritte Stufe, für Esoterisches, Spirituelles, Mystisches. José wächst zum Guru heran, „Im Gespräch mit dem Schöpfer“ wird sein Buch heißen, eine blonde Deutsche steht und liegt ihm mittlerweile zur Seite. Aber irgendetwas schlägt ihm auf den Magen. osé Guber, ein brasilianischer KrimiSchreiber, sucht den Plot für seinen nächsten Fall.Was mit Gift und Schlange soll es diesmal sein, und so kommt es, dass er die Schlangenzüchterin und Giftexpertin Fúlvia kennen und lieben lernt. Fúlvia, selbst eine Natternnatur, holt für José auch gleich den fertigen Plot aus dem Giftschrank: Eine Schlangenzüchterin bringt, mit Hilfe einer Schlange und ihres Geliebten, ihren Ehemann um die Ecke. José ahnt bang, dass in seinem Schreiberleben eine neue Seite aufgeschlagen wird. Aber er ist betört von Fúlvia. „Glattes Haar, dichte Augenbrauen, ganz mein Fall“, so beschreibt er sie. Auch die „weißen Zähne“, die „muskulösen Arme“ fesseln ihn, dazu „zierliche Hände, unlackierte Nägel, so wie ich sie mochte“. Wie sich die Bilder gleichen: Fúlvia ähnelt verblüffend der brasilianischen Krimi-Autorin Patrícia Melo, 36. Ein Selbstporträt? Denn Patrícia Melo ist die Schöpferin des Ich-Erzählers José und Autorin des Krimis „Wer lügt gewinnt“, in dem José in allerlei Schlangengruben fällt. Und wenn sich das Original so liest wie die deutsche Übersetzung (Barbara Mesquita), nämlich so lakonisch-ironisch und satirisch-sarkastisch, dann ist Patrícia Melo eine begnadete Autorin Melo: Begnadete Sprachhexe Sprachhexe*. „Wer lügt gewinnt“ ist ihr dritter Roman. Fúlvia, die „Menschen so betrachtet wie Der Vorgänger „O Matador“, das Porträt die Mäuse, die sie den Schlangen in den eines Killers, hatte ihr den internationalen Schlund“ wirft, appliziert offenbar auch Durchbruch und 1998 den „Deutschen Kri- etwas in den Schlund ihres Gatten José, mi Preis“ beschert. Und in diesem Jahr wur- Arsen. Doch ehe der Schöpfer seinen José de sie vom US-Magazin „Time“ zu einem zum Gespräch bittet, wird José Witwer. der 50 „Leaders for the New Millennium“ Patrícia Melo, mit einem FernsehproduLateinamerikas befördert. Wer schreibt ge- zenten verheiratet, hatte früh als TV-Drehwinnt. buch-Autorin begonnen; die Technik der José, in den Fängen Fúlvias, verliert erst schnellen Schnitte, der verschwimmenden mal. Seine Krimis, Meterware für den Übergänge, der paradoxen Kombinationen Kiosk, kommen bei seinem Verleger nicht gibt ihrem Text ein furioses Tempo. Und ihr kritischer, zeitkritischer, satirischer Biss ist tödlich. * Patrícia Melo: „Wer lügt gewinnt“. Aus dem BrasiliaZiemlich dumm schaut die Welt aus, die nischen übersetzt von Barbara Mesquita. Verlag Klettsie malt, gewalttätig, opportunistisch, verCotta, Stuttgart; 220 Seiten; 32 Mark. 258 d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 M. VARELLA KRIMIS logen. Heller Wahnsinn flackert in Köpfen und Kontoren, hypnotisiert sinkt Fúlvia vor ihren Schlangen nieder, vor der „zwiegespaltenen Zunge“, der Lüge. Und fragt ihren José: „Ein wohlgeplantes Verbrechen ist doch ein Kunstwerk, findest Du nicht?“ Eine Frau beschreibt die Welt, die Frauen und die Männer. Der kleine Unter- schied: Ein Dunst von Dämlichkeit umgibt die Männer, ein Glitzer von Gerissenheit die Frauen. Welche Art von Frieden der José an der Seite seiner blonden Deutschen finden wird, lässt Patrícia Melo offen. Ingrid, so heißt sie, sagt: „Alle Frauen träumen davon, ihren Ehemann umzubringen.“ Fritz Rumler Bestseller Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin „Buchreport“ Belletristik Sachbücher 1 (1) Donna Leon Nobiltà Diogenes; 39,90 Mark 1 (1) Sigrid Damm Christiane und Goethe 2 (2) John Irving Witwe für ein Jahr 2 (2) Waris Dirie Wüstenblume Diogenes; 49,90 Mark Schneekluth; 39,80 Mark 3 (4) Henning Mankell Die falsche Fährte Zsolnay; 45 Mark 3 (3) Corinne Hofmann Die weiße Massai A1; 39,80 Mark 4 (3) Günter Grass Mein Jahrhundert Steidl; 48 Mark 4 (4) Ruth Picardie Es wird mir fehlen, das Leben Wunderlich; 29,80 Mark 5 (6) Isabel Allende Fortunas Tochter Suhrkamp; 49,80 Mark 5 (6) Dale Carnegie Sorge dich nicht, lebe! 6 (5) Henning Mankell Die fünfte Frau Zsolnay; 39,80 Mark 6 (7) Klaus Bednarz Ballade vom Baikalsee Europa; 39,80 Mark Insel; 49,80 Mark Scherz; 46 Mark 7 (7) Walter Moers Die 131/2 Leben des 7 (5) Tahar Ben Jelloun Papa, was ist Käpt’n Blaubär Eichborn; 49,80 Mark ein Fremder? Rowohlt Berlin; 29,80 Mark 8 (8) John Grisham Der Verrat 8 (8) Daniel Goeudevert Mit Träumen beginnt die Realität Hoffmann und Campe; 44,90 Mark Rowohlt Berlin; 39,80 Mark 9 (10) Marianne Fredriksson Simon W. Krüger; 39,80 Mark 10 (13) Birgit Vanderbeke Ich sehe was, was du nicht siehst Fest; 29,80 Mark 9 (9) Jon Krakauer In eisige Höhen Malik; 39,80 Mark 10 (10) Guido Knopp Kanzler – Die Mächtigen der Republik C. Bertelsmann; 46,90 Mark 11 (9) Johannes Mario Simmel Liebe ist die letzte Brücke 11 (11) Bodo Schäfer Der Weg zur finanziellen Freiheit Droemer; 44,90 Mark Verbrechen und großes Geld: ein Star-Informatiker zwischen Liebe und Kriminalität Campus; 39,80 Mark Versprechen vom großen Geld: „Power-Ideen“ eines Finanzgurus 12 (12) Paulo Coelho Der Alchimist Diogenes; 32 Mark 13 (11) Maeve Binchy Ein Haus in Irland Droemer; 39,90 Mark 14 (14) Terry Brooks Star Wars – Episode 1: Die dunkle Bedrohung 12 (12) Peter Kelder Die Fünf „Tibeter“ Integral; 22 Mark 13 (13) Gary Kinder Das Goldschiff Malik; 39,80 Mark Blanvalet; 29,90 Mark 14 (14) Jon Krakauer Auf den Gipfeln der Welt Malik; 39,80 Mark 15 (–) John le Carré Single & Single 15 (15) Gerd Ruge Sibirisches Tagebuch Kiepenheuer & Witsch; 45 Mark Berlin; 39,80 Mark d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 259 Kultur KINO Gemeinsam einsam D SYGMA rei Menschen stehen dicht aneinander gepresst an einem Inselstrand und starren in den bedeckten Himmel. Das Brummen eines Wasserflugzeugs wird lauter und lauter, schwillt an zu einem Dröhnen. Gebannt warten die drei auf den Flieger, denn er ist ihre einzige Hoffnung: Ohne fremde Hilfe können sie die Insel- Sayles-Film „Wenn der Nebel sich lichtet“*: Familie Robinson auf Segeltour wildnis im nördlichen Alaska nicht verlassen. Sie sind krank, hungrig und verzwei- war doch Joe ihr heimlicher Schwarm. Mit dition beginnt. Die drei Flüchtigen hunfelt. Es bleibt nur der Flieger, doch es ist Schmollmund und schwarzen Locken sitzt gern und frieren. Sie fangen Lachse und esnicht klar: Bringt er Retter oder Killer? sie vor einem Spiegel und ritzt sich mit ei- sen Seetang. Gemeinsam einsam, lassen sie ihre Angst und Verzweiflung aneinanIn „Wenn der Nebel sich lichtet“ reißt ner Rasierklinge den Oberarm auf. der amerikanische Independent-Regisseur Eine knappe Stunde nimmt sich John der aus. Unumgänglich, dass sie eine HütJohn Sayles, 48, drei ganz normal un- Sayles („Passion Fish“, „Lone Star“) Zeit, te finden und darin zu allem Überfluss glückliche Menschen unverhofft aus ihrem um das Gefühlsgeflecht zwischen seinen noch das Tagebuch eines jungen MädAlltag heraus – und wirft sie in einen Aus- Hauptfiguren wachsen zu lassen. Er zeigt chens, natürlich nicht in einer simplen Plasnahmezustand, in dem nur noch das Über- sie mit all ihren Macken, drei lädierte Ge- tiktüte, sondern in Leder eingeschlagen. leben zählt. Die Zukunft lässt sich nicht stalten, deren Leben von Enttäuschungen Am Lagerfeuer liest Noelle jeden Abend vorhersehen und schon gar nicht planen, durchzogen ist, die sich abstrampeln und daraus vor. Dicke Tränen kullern über ihre scheint der Film zu sagen, denn jeden Au- trotzdem nicht recht vom Fleck kommen. Wangen. Schon in „Passion Fish“ (1992) hatte genblick kann der Zufall alles umstoßen. Ihre private Geschichte bettet Sayles ein in „Wenn der Nebel sich lichtet“ will ein Film den Makrokosmos Alaskas: den Alltag der Sayles sich gefragt, was mit Menschen geüber die Größe des Schicksals und die Fischer, die Arbeitslosigkeit in den Lachs- schieht, die in eine neue, unbekannte ExisHilflosigkeit der Menschen sein. fabriken, die drohende Verwandlung der tenz katapultiert werden. Damals war es Da ist Joe (David Strathairn), der sich Natur in einen touristischen Themenpark. ein Fernsehstar, der durch einen Unfall nach 25 Jahren immer noch schuldig fühlt, Gerade hat sich der Zuschauer darauf ein- querschnittgelähmt wurde. Glamour, Karweil zwei Freunde einst auf seinem Kutter gelassen, Joe, Donna und Noelle gemäch- riere, Ruhm – auf einmal war alles vorbei. ertranken, und der seitdem nicht mehr als lich durch ihre kleine, ärmliche, nach Salz- Und schon in „Passion Fish“ zwang Sayles Fischer gearbeitet hat. Lustlos hangelt er wasser und Motoröl riechende Welt zu be- Menschen gegen ihren Willen zusammen: sich mit Hilfsjobs durchs Leben. „Joe ist gleiten, da bricht Sayles seine Geschichte die Gelähmte und ihre Pflegerin, die gemeinsam einen Neuanfang wagen mussten. nicht mehr der Alte“, heißt es in der Ha- abrupt ab. fenkneipe. Die Schuld quält Joe, lähmt ihn, Unerwartet taucht Joes längst verschol- Was „Passion Fish“ so reizvoll machte, war hat ihn zerfressen. lener Halbbruder auf, berichtet von rätsel- seine Schlichtheit, das Naheliegend-UnIn diesem Zustand lernt ihn Donna ken- haften Geschäften und bittet Joe, ihn bei spektakuläre: Ein Rollstuhl reichte, um nen, die es mit ihrer Tochter Noelle nach einer Segeltour zu begleiten. Wieder fährt eine Flucht zu verhindern. In „Wenn der Nebel sich lichtet“ aber Alaska verschlagen hat. Donna (Mary Joe aufs Meer hinaus, diesmal zusammen Elizabeth Mastrantonio) verdient ihren Le- mit Donna und Noelle; wieder endet es in muss es gleich eine ganze Insel sein. Sayles, bensunterhalt als Sängerin. An ihr Pech einer Katastrophe. Unerwartet wird der sonst ein Meister der kleinen, feinen Bemit Männern hat sie sich mittBruder abgeknallt von einem obachtungen, spuckt hier die ganz großen lerweile gewöhnt; ebenso an der Drogendealer, die er heim- existenzialistischen Töne: Höhere Gewaldie zahlreichen Umzüge, die lich treffen wollte. Joe, Donna ten! Ewige Ungewissheit! Im Original heißt auf ihre Trennungen vom jeund Noelle retten sich vor den der Film „Limbo“ (eigentlich: Limbus), weils letzten Liebhaber folgen. Kriminellen auf eine einsame nach christlicher Lehre ein Ort zwischen Leben und Tod, Himmel und Hölle. Der Doch irgendwann hat sogar sie Insel. mal Glück: Ein Auftritt bei eiInnerhalb von wenigen Mi- Limbus bezeichnet einen Schwebezustand, ner Hochzeit bringt sie mit nuten hat Sayles damit seine und genau einen solchen will Sayles herdem hilfsbereiten Joe zusamLiebesgeschichte aus ihrer Ver- stellen. Aber um zu schweben, braucht es men – der Beginn einer zögerankerung gerissen. Der Film eine Leichtigkeit, die dem Film an seiner lichen Liebesgeschichte. setzt bedeutungsschwer neu Sollbruchstelle abhanden kommt. Jeder träumt einmal in seinem Leben Tochter Noelle (eine Entan: Ein Survival-Training in deckung: Vanessa Martinez), bester Robinson-Crusoe-Tra- von einer einsamen Insel. Und wer dort angekommen ist, würde sich von jedem pubertierend-orientierungslos, abholen lassen, auch wenn vielleicht ein ist wenig begeistert von der * Mit Mastrantonio, Strathairn, MartiMörder anrückt. neuen mütterlichen Liaison – Regisseur Sayles nez. Christina Berr 260 d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 COLUMBIA TRI-STAR In John Sayles’ Alaska-Drama „Wenn der Nebel sich lichtet“ wird aus einer Liebesgeschichte ein Kampf um Leben und Tod. Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite G. KRAUTBACHER Kölner „Saturday Night Fever“-Inszenierung: Glitzernde Spiegel, wildes Posieren und famose Tanzszenen MUSICAL Willkommen im Disco-Delirium Mit „Saturday Night Fever“ gelang dem Pop-Impresario Robert Stigwood 1977 sein Meisterstück – nun präsentiert der Mann, der einst die Bee Gees groß machte, Musicalversionen des Kinohits in Köln und New York. 264 D. BENETT / ALPHA A nfang der Achtziger war die große Party erst mal vorbei. „Ich hatte genug von Popstars, die nachts um halb vier anrufen, um mir zu erzählen, dass sie sich sofort von ihrer Band trennen müssen“, sagt Robert Stigwood. „Ich hatte genug von Popstar-Ehefrauen, die auf der Flucht vor ihren Männern mitsamt ihren Kindern in meinem Haus einziehen. Und ich hatte genug von Popstars, die im Morgengrauen mit einem geladenen Gewehr in den Händen vor meinem Schlafzimmerfenster aufkreuzen, um ihre Frauen und Kinder nach Hause zu holen.“ Stigwood, 65, ist zu diskret, um Namen zu nennen – schließlich möchte er nur erklären, warum er sich in den Achtzigern ganz auf die Bermudas zurückzog. Dort besaß er nicht bloß ein Haus, sondern dazu eine ganze Halbinsel mit grünen Wiesen, schroffen Felsen und geschützten Badebuchten sowie zwei Rennboote namens „Superstar“ und „Superstar II“. Zu seinen Gästen gehörten neben allen möglichen Pop- und Hollywood-Berühmtheiten auch Prinz Andrew und Prinzessin Margaret, die sich nicht daran störten, dass Produzent Stigwood (r.) bei Londoner Party* „Ich bin ein Mann des Kommerzes“ ihr Gastgeber zugab: „Ich musste mein Geld vor den britischen Sozialisten und ihren Horror-Steuersätzen in Sicherheit bringen.“ Allerdings hatten die Bermudas auch manche Nachteile. Zum Beispiel sind auf der Insel nur kleine Autos erlaubt, weshalb Robert Stigwood seine Lieblingskarosse, einen ursprünglich für Ali Khan gefertigten 1961er Rolls Royce, die ganze Zeit über in Los Angeles parken musste. * Mit den Bee Gees. d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 So kam es, dass Robert Stigwood seit ein paar Jahren wieder zurück in Großbritannien ist – und zurück im Geschäft. Der Mann, der in London einst Eric Clapton und die Bee Gees groß herausbrachte, der zeitweise Mick Jagger und David Bowie zu seinen Klienten zählte und mit Filmen wie „Jesus Christ Superstar“ und „Tommy“ viele Millionen einspielte, gehört in den Neunzigern wieder zu den Großverdienern der Entertainment-Industrie. Mit der Bühnenversion von „Grease“ legte er 1993 los, mit „Evita“ (und Madonna in der Hauptrolle) meldete er sich 1997 zurück im Filmgeschäft, und mit zwei neuen Adaptionen seines wohl größten Coups geht er in diesen Wochen an den Start: „Saturday Night Fever“ hat am Wochenende im Musical Dome Köln Premiere und sechs Wochen später am New Yorker Broadway. In Köln ist Stigwood Koproduzent einer weitgehend deutsch finanzierten Unternehmung, in New York ist er der alleinige Geldgeber einer 16,5Millionen-Mark-Produktion. „Saturday Night Fever“ ist nicht bloß der Film, der John Travolta (in der Rolle Kultur des Vorstadtgigolos Tony Manero) zum Star machte und die zuvor eher als Kitschbrüder verlachten Bee Gees zu Superhelden des weltweiten Disco-Irrsinns, sondern der Film ist vor allem das Meisterstück des Entertainment-Tycoons Robert Stigwood. Es war Stigwood, der dem US-Journalisten Nik Cohn die Rechte an einer Magazinstory über das wilde Treiben in einem Tanzclub in Brooklyn abkaufte, um daraus einen Musikfilm zu machen; es war Stigwood, der John Travolta bereits als 17Jährigen vortanzen sah und der ihm ein paar Jahre später gegen den Rat aller Fachleute einen Vertrag über drei Kino-Hauptrollen in die Hand drückte; und es war Stigwood, der die Bee Gees zwang, sich in Miami von den schwarzen Pionieren der Disco-Musik Nachhilfeunterricht geben zu lassen, und ihnen dann die Story von „Saturday Night Fever“ erzählte: „Ich hätte ihnen natürlich auch das Drehbuch schicken können – aber lesen war nicht unbedingt ihre Stärke.“ Der Film „Saturday Night Fever“ wurde 1978 zum globalen Erfolg – auch deshalb, weil die geschickt vorab veröffentlichte Musik zum Film schon vor dem Kinostart in den Hitparaden war. Hinzu kommt, dass der Film selbst ein großartiges Delirium aus glitzernden Spiegelflächen und bunten Flackerlichtern, Schlaghosen und verwegenen Haartollen ist, zwei Feierstunden lang nichts als Stil-Geprotze, wildes Posieren und famose Tanzszenen. Nur Buchhalterseelen können angesichts dieser Pracht mäkeln, die Jungs-Freundschafts- und Liebesgeschichte des Films sei eine „West Side Story für Hirntote“, wie der „International Herald Tribune“ einmal schrieb. Soziale Konflikte, die nicht mit der Faust, sondern beim Tanzwettstreit in einer Discothek ausgetragen werden: Schon in den ersten Tagen der Kinosensation „Saturday Night Fever“ erkannten ganz Schlaue (darunter Andy Warhol, der ebendies in seinem Tagebuch notierte), dass der Stoff ideal ist für die Musicalbühne. Stigwood aber zögerte: „Ich dachte mir, dazu brauchst du einen Tony Manero, der gegen John Travolta bestehen kann.“ Was die Sache noch komplizierter machte: Während die Akteure im Film nur zur Musik der Bee Gees tanzen, müssen sie in der Musicalversion alle Songs selber singen – und noch ein paar Zugaben obendrein. Sechs Jahre lang dokterte Stigwood an der Bühnenfassung herum, reicherte sie mit ein paar weiteren Bee-Gees-Hits an (etwa mit dem für Celine Dion geschriebenen „Immortality“) und sichtete Bewerber für die Hauptrolle des Tony Manero. Im Frühjahr 1998 präsentierte Stigwood dann sein erstes „Saturday Night Fever“Musical im Londoner Westend; und selbst wenn das schnörkelige Palladium Theatre fast eineinhalb Jahre nach der Premiere nicht mehr jeden Abend bis zum letzten Platz ausverkauft ist, verwandelt das Publid e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 kum das Finale der Show regelmäßig in len, „aber es geht um eine Mischung aus eine Party: Teenager und ihre Mütter sprin- beidem“. Vor 43 Jahren brach er aus seiner gen von ihren Sitzen und stürmen tanzend australischen Heimat auf, wo er als junger zur Bühne. Werbemann keine Lust mehr hatte, „mit Auf solchen generationenübergreifenden schlauen Sprüchen für Kühlschränke zu Disco-Taumel hofft man nun auch in Köln, werben“. Er fuhr auf einem Frachter nach wo Stigwood den beiden deutschen Finan- Indien und von dort aus per Anhalter nach ziers Michael Brenner und Thomas Krauth London. Für Rupert Murdochs „The Adeals Koproduzent beisteht: „Disco ist heute laide News“ zu Hause in Australien schrieb ein Pop-Phänomen, das die 15-Jährigen ge- er Reiseberichte von unterwegs, und doch nauso begeistert wie die 50-Jährigen“, hatte er, als er nach drei Monaten in Longlaubt Stigwood, die Übersetzung der ge- don ankam, „nicht mehr als fünf Pfund in sprochenen Texte ins Deutsche sei brillant meiner Tasche“. und „sehr witzig – ich habe sie von einem Erst als Schauspieler-Agent, bald als Mudeutschen Freund gegenlesen lassen“. sik- und Filmproduzent setzte Stigwood Die Musiktitel werden auch in Köln im ein Konzept um, das er sich in den USA abenglischen Original gesungen – schließlich geschaut hatte und bald zur Perfektion entsind gleich ein halbes Dutzend von ihnen wickelte. „Cross-media marketing“ nennt (das unterscheidet „Saturday Night Fever“ er es, den genreübergreifenden Einsatz von von fast allen anderen Musicals) Welthits wie „How Deep is Your Love“, „Night Fever“ und „If I Can’t Have You“: „Mit diesem Kapital kann gar nichts schief gehen“, sagt Stigwood. Und was die Kritiker schrieben, sei ihm seit jeher egal: „Ich war immer ein Mann des Kommerzes, und wissen Sie was? Ich bin verdammt stolz darauf.“ Stigwood residiert heute auf einem altehrwürdigen Landsitz auf der Isle of Wight. Einst gehörte Barton Manor Queen Victoria, die dort ihre Gäste einquartierte. Mehr als ein Dutzend Bedienstete, darunter zwei Butler, kümmern sich um das Wohlergehen des Hausherrn sowie seiner drei Hunde – und um die Pflege eines riesigen Gartens mit Hecken-Labyrinth, einem En- Theatergast Stigwood, Begleiterin: Ruhm und Rum tenteich in Badesee-Größe und kilometerlangen Kieswegen zwischen Stars und Stoffen in Fernsehen, Film und akkurat gestutzten Rasenflächen. auf der Musikbühne. Er wurde Partner des Natürlich könnte Stigwood sich längst legendären Beatles-Managers Brian Epzur Ruhe setzen, könnte damit zufrieden stein und kam mit dem jungen Musicalsein, sich schon mittags sein Lieblingsge- mann Andrew Lloyd Webber ins Geschäft, tränk Bacardi-Rum mit Cola servieren zu und er nahm 1967 die gerade aus Australassen und die rund 200 Goldenen Schall- lien eingetrudelten Bee Gees unter Vertrag platten, die Filmplakate und anderen Tro- – der Rest ist ein schönes Märchen von phäen abzustauben, die er in einer sorg- Traumhäusern und eleganten Autos, ein fältig renovierten steinernen Scheune auf paar üblen Flops und noch mehr tollen Erseinem Landsitz an die Wände gehängt hat. folgsstorys. Er könnte sich darüber freuen, dass die Die große Party hat Robert Stigwood „Sunday Times“ ihn in der Liste der 1000 auch nach seiner Rückkehr von den Berbestverdienenden Briten mit einem ge- mudas nicht wieder aufleben lassen. Aber schätzten Jahreseinkommen von 600 Mil- er hat all die irren Popstars wiedergetroflionen Mark auf Platz 108 notiert – ein fen, die ihm einst das Leben zur Hölle Ranking, das „definitiv falsch ist“, wie er machten und die er auf den Bermudas mit einem Lächeln eingesteht: Ein Großteil doch viel zu selten gesehen hat. Ihm habe seines Vermögens arbeitet weiter für ihn in der Stress gefehlt, sagt Robert Stigwood, einem auf den Bermudas angesiedelten und der Streit mit seinen Schützlingen, für Trust. den es seiner Meinung nach immer nur eiStigwood sagt, er rackere heute weder nen Grund gab: „Ich habe sie zu reich geum des Geldes noch um des Ruhmes wil- macht.“ Wolfgang Höbel 266 d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 D. BENETT / ALPHA Kultur Werbeseite Werbeseite Kultur INTELLEKTUELLE Züchter des Übermenschen Der Philosoph Peter Sloterdijk propagiert „pränatale Selektion“ und „optionale Geburt“: Gentechnik als angewandte Gesellschaftskritik. Seine jüngste Rede über „Menschenzucht“ trägt Züge faschistischer Rhetorik. Von Reinhard Mohr K. SCHOENE / ZEITENSPIEGEL E inst hatte der Philosoph treffend den Zeitgeist der späten neunziger Jahre antizipiert: „Zynismus ist das aufgeklärte falsche Bewusstsein“, schrieb Peter Sloterdijk, 52, in seiner 1983 erschienenen „Kritik der zynischen Vernunft“, ohne die „Harald Schmidt Show“ voraussehen zu können. Die Diagnose war brillant: „Es ist das modernisierte unglückliche Bewusstsein, an dem Aufklärung zugleich erfolgreich und vergeblich gearbeitet hat. Gut situiert und miserabel zugleich fühlt sich dieses Bewusstsein von keiner Ideologiekritik mehr betroffen; seine Falschheit ist bereits reflexiv gefedert.“ Nach fast tausend Seiten, die ihn mit einem Schlag berühmt machten, kam Sloterdijk zu einem visionären Schluss schon ganz im Tonfall Nietzsches: „Jede bewusste Sekunde tilgt das hoffnungslose Gewesene und wird zur ersten einer Anderen Geschichte.“ Sechzehn Jahre später erhält diese „Andere Geschichte“ eine gruselige Konkretion: In Zukunft werde es darauf ankommen, so trug der Philosoph kürzlich bei einem internationalen Symposion im oberbayerischen Schloss Elmau vor, „einen Codex der Anthropotechniken zu formulieren“: Ob diese „bis zu einer expliziten Merkmalsplanung“ vordringen, ob also „die Menschheit gattungsweit eine Umstellung vom Geburtenfatalismus zur optionalen Geburt und zur pränatalen Selektion wird vollziehen können“, das seien Fragen, in denen sich, „wie auch immer verschwommen und nicht geheuer, der Philosoph Sloterdijk „Regeln für den Menschenpark“ evolutionäre Horizont vor uns zu lichten beginnt“. Als Sloterdijk seinen 43 Schreibmaschinenseiten umfassenden Vortrag – Titel: „Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortbrief über den Humanismus“ – vor einem internationalen Fachpublikum im Juli hielt, regte sich schon hier und da leiser Widerspruch. Erst im Verlauf einiger Wochen sorgten Berichte in der „Frankfurter Rundschau“ und der „Süddeutschen Zeitung“ für eine größere – und kritische – Öffentlichkeit. Sloterdijk selbst antwortete seinen Kritikern mit Gegenvorwürfen an die „Junge Ahnungslosigkeit“ der Feuilletonisten. Doch damit lenkte der seit Jahren zu allen denkbaren Themen der Zeit befragte Philosoph nur vom Kern der Sache ab, die er in seiner Kritikerschelte als „Ethik des anthropotechnischen Machtgebrauchs“ verklausuliert. Inzwischen hat Sloterdijk der Seminarleitung von Schloss Elmau die Weitergabe seines Textes strikt untersagt. Er will auch nicht mehr dazu Stellung nehmen – der Text, heißt es, werde für ein kommendes Buch überarbeitet. Aber es hilft nichts: Zu viel wurde bisher davon bekannt, zu viele Hörer haben sich auch Notizen gemacht. Sichtbar bleibt ein intellektueller Skandal: Der einst linke Vordenker Sloterdijk, Liebling erlesener Debattierzirkel und zeitgeistsatter Fernseh-Talkshows, redet ungeniert von „Menschenzucht“ und vom „Diskurs der Verschränkung von Zähmung und Züchtung“, kurz: von der gezielten genetischen Selektion unter Führung einer kulturellen Elite. Auch wer wenig mehr verabscheut als klischeehafte ideologische Denunziationen und beim Begriff der „Selektion“ nicht nur an die „Eugenik“ der Nazis und die Rampe von Auschwitz-Birkenau denkt, sieht sich genötigt, in Argumentation und Sprache Sloterdijks faschistische Anklänge auszumachen. Sein Hinweis, über weite Strecken nur die Positionen seiner philosophischen Lehrmeister Platon, Nietzsche und Heidegger referiert zu haben, verfängt nicht und führt in die Irre. Denn unzweifelhaft paraphrasiert er, trotz relativierender Kritik hier und da, entscheidende Motive seiner Meisterdenker in pointierter, auch zustimmender Weise – ob es um Platons „züchterisches Königswissen“ geht, wie „die ungeeigneten Naturen auszukämmen“ seien, um Nietzsches „Übermenschen“ oder Heideggers zivilisationsfeindliche These, „dass nicht der Mensch das Wesentliche ist, sondern das Sein als die Dimension des Ekstatischen der Eksistenz“. Keine Frage, Sloterdijk spricht Klartext in eigener Sache: Nur in einer „Grundlagenreflexion über Regeln für den Betrieb von Menschenparks“, nur in genetisch „wirkungsvollen Verfahren der Selbstzähmung“, behauptet er, könne die „alltägli- che Bestialisierung der Menschen in den Medien der enthemmenden Unterhaltung“ eingedämmt werden. Der abendländische Humanismus hingegen, dessen Bildungsideal an Lektüre und Aufklärung gebunden war, habe das „barbarische Potenzial“ und die „aktuellen Verwilderungstendenzen“ nicht überwinden können: im Gegenteil. Der Humanismus selbst, ob er sich nun im Christentum oder im Marxismus manifestiere, habe „mitsamt seinen Systemen metaphysischer Selbstüberhöhung“ Katastrophen und Gräuel aller Art hervorgebracht. Er also ist die Ursache dessen, was er zu bekämpfen vorgibt. Bemerkenswert bei alldem ist das Gespenstische des Vorgangs: Bislang hat sich alles weitgehend in den Kulissen des Wissenschaftsbetriebs und in den geisteswissenschaftlichen Nischen einiger Feuilletons, fast heimlich, abgespielt. Noch vor zehn Jahren hätte ein derartiges „Zarathustra-Projekt“ („Die Zeit“) in der breiten Öffentlichkeit Zorn und Empörung ausgelöst. Doch die intellektuelle Hegemonie einer gesellschaftskritischen „politischen Kultur“ ist längst Geschichte. Die linke Selbstmarginalisierung des vergangenen Jahrzehnts hat zu einer neuen, bunten Gleichgültigkeit geführt – es sei denn, der deutsche „Großmachtchauvinismus“ oder der „US-Imperialismus“ erhöben wieder einmal frech ihr Medusenhaupt, um den Rest der Welt zu unterjochen. Es ist kein Zufall, dass das einstige Flaggschiff der linken Intelligenz, der Suhrkamp-Verlag mit sei- Nietzsche nem Präzeptor Siegfried Unseld, nun zwei prominente Autoren beherbergt, die mit Verve antidemokratische, antiwestliche, ja totalitär-faschistoide Bekenntnisse ablegen: Peter Sloterdijk und Peter Handke. Mag Handke als irrlichternder Poet und gläubiger Hooligan des serbischen Kriegsverbrechers Milo∆eviƒ ein besonderer Fall sein, so steht Sloterdijk für eine Gruppe ehemals linker Intellektueller, die ihre eigene Desillusionierung nicht aushalten und in den Wahn flüchten. AKG Denker Heidegger (Kreis) bei Nazi-Kundgebung in Leipzig (1933): Dimension des Ekstatischen Ob Ex-RAF-Mitglied Horst Mahler oder Dutschke-Freund und SDS-Vordenker Bernd Rabehl – das offenkundige Scheitern aller utopischen Weltentwürfe, theoretischen Großsysteme und politischtheologischen Erlösungshoffnungen lässt sie nicht etwa zu aufgeklärten Skeptikern werden, sondern zu frisch bekehrten Gläubigen. Jetzt glauben sie nicht mehr an die Weltrevolution, den Sozialismus oder den Humanismus, sondern an die „nationale Wiedergeburt Deutschlands“, an die schädlichen Einflüsse des globalen „Amerikanismus“ und den „Kampf zwischen den Kleinzüchtern und den Großzüchtern des Menschen“, „zwischen Humanisten und Superhumanisten, Menschenfreunden und Übermenschenfreunden“ (Sloterdijk). Gentechnologie statt Gesellschaftskritik: Der Uterus wird zum Utopieersatz. Nicht mehr der berechtigte intellektuelle Zweifel, etwa an den zivilisierenden, „zähmenden“ Wirkungen des bürgerlichen Humanismus und der Aufklärung in Zeiten „telekommunikativer Massengesellschaften“, meldet sich zu Wort, sondern der uralte, pseudoreligiöse Wunsch nach Gewissheit, ominöser Tiefe des Seins, endgültiger Wahrheit. Neu daran ist nicht der ewige deutsche Kulturpessimismus, in dem es zwickt und zwackt und dräut und raunt. Neu und ungeheuerlich ist die philosophisch drapierte Aggressivität, mit der, den fälligen Untergang des Abendlandes vorausgesetzt, die Wiedergeburt der Menschheit aus dem Geiste des Reagenzglases gefordert wird – im Bündnis zwischen geistiger Elite und den neuesten Erkenntnissen der Gen- und Biotechnologie. Eine faschistische Horrorvision, gegen die jeder beliebige Zynismus des Zeitgeists sich noch wie ein Ausweis von Aufklärung und Menschenfreundlichkeit ausnimmt. ™ Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite VG BILD-KUNST, BONN 1999 Stelzmann-Triptychon „Varieté“ (1994/95): Akrobatische Verrenkungen in der modernen Ungesellschaft AU S S T E L L U N G E N Heilige und Narren E s ist schon eine irre Truppe, die da im Gemälde umhertaumelt: Ein blondes Biest mit roter Pappnase reitet grinsend auf dem Rücken eines kriechenden Mannes, und ein schmieriger Soldat umschlingt plump tanzend eine langbeinige Zicke. Partylaune schwingt trotzdem nicht mit, eher der finale Wahnsinn. Denn im Hintergrund saust eine Schreckensgestalt mit einem Totenkopf vorbei, eine Engelsfratze trompetet, und ein düsterer Heiliger in Mönchskutte hält warnend die Hand über alle, als wolle er die Apokalypse verhüten. Auf zwei Seitentafeln setzt sich das bizarre Gewusel fort, ein saufender Penner links, eine Frau in Portiersjäckchen und Hot Pants rechts. Für den Berliner Maler Volker Stelzmann ist die Welt eine Bühne voller schräger Typen. Und er kann nicht genug von ihnen zeigen. „17 Figuren“, so der Titel des Triptychons, sind es auf diesem Gemälde. Sie schaffen trotz knallbun272 ter Anschaulichkeit vor allem eines: das Publikum restlos zu verwirren. Auch weil die Gestalten seltsam vertraut wirken, so, als hätte sie der Maler mal eben aus altbekannten Gemälden geborgt. Die aufgetakelten Weiber, zu Karikaturen erstarrt, verbiegen sich wie auf den Bildern des Realsatirikers Otto Dix, der in den zwanziger Jahren das Publikum schockte. Der kuttentragende Moralapostel erinnert an die religiösen Asketen barocker Spanier. Und das Motiv vom ungleichen Pärchen – er angegraut und am Boden, sie jung und auf ihm hockend – florierte auch schon vor Urzeiten: Die Legende vom greisen Aristoteles, der sich für die schöne Phyllis zum Narren macht, spukt seit dem späten Mittelalter durch die Kunstgeschichte. Stelzmann, 58, hat sein Rätselstück aber erst 1998 gemalt. Überhaupt sind in seiner Ausstellung im Leipziger Museum der Bildenden Künste nur Werke aus den neund e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 VG BILD-KUNST, BONN 1999 Leipzig feiert den Maler Volker Stelzmann. Der einstige Vorzeigekünstler der DDR schafft es mit seiner bizarren Figurenmalerei noch immer, sein Publikum zu verwirren. Selbstporträt Stelzmanns (1996) Meister der Irritation ziger Jahren zu sehen*. Und der opulente Dreiakter ist nicht das einzige Bild, auf dem er sich an alten Meisterwerken berauscht, um einen eigenen Kunstkosmos zusammenzuzaubern. Der Maler, lange Jahre als Vorzeigekünstler der DDR gehandelt, hat nie verhehlt, wer seine Helden sind. Auf dem Gemälde „Konspiration I“ hat er sie an einem Tisch versammelt. Unter ihnen der Dürer-Zeitgenosse Mathias Grünewald, der * „Versuchsanordnungen/Figurenbilder 1990-98“. Bis 31. Oktober. Katalog 60 Seiten; 20 Mark. Kultur Er wolle auch, sagt er, die hysterische Untergangsstimmung zum Ende des Jahrhunderts persiflieren. Unbekümmert schiebt er deshalb eine punkige Hexe im schwarzen No-Future-Look ins Bild, allerdings mit einer Frisur, die dem Schopf des Modeexzentrikers Rudolph Moshammer ähnelt. Auf dem „Triumphzug“ – die Satire auf eine Festtagsgesellschaft – flaniert ein krötengesichtiger Jüngling neben seiner verblüffend ebenso hässlichen Mutter; ein Gnom im grauen Anzug schleicht sich flugs aus dem „Varieté“-Bild, um vor dem messerwerfenden Vamp mit den wuchtigen Zellulitisschenkeln zu verschwinden. So lockt Stelzmann den Betrachter mit skurrilen Sonderlingen und witzigen Details in seine Bildwelt – und lässt ihn dann ratlos stehen. Warum ragen in den „Handkuss“ zwei losgelöste rote Damenbeine hinein? Weshalb taucht der Maler selbst als Toulouse-Lautrecartiger Winzling auf? Und warum malt er am Ende des 20. Jahrhunderts spätgotisch anmutende Kreuzigungen, die zwar nicht mehr religiös wirken, aber noch die pure Marter zeigen? Es sind die symbolgeladenen Umwege, die er immer schon ging. Bereits zu DDR-Zeiten bequemte sich Stelzmann nur selten zu sozialistisch kompatiblen Themen wie „Der Schweißer“ oder „Fabrik in Plagwitz“. Allerdings war er nicht der einzige, der sich im atheistischen Sozialismus über religiöse Motive eine gefühlvollere Kunstwelt erschlich, in der Zerrissenheit und Zweifel vorkommen durften. Aber er entwickelte dabei einen besonderen Sinn für bissige Seitenhiebe. So hat er bereits in den siebziger Jahren Kreuzabnahmen in bester Cranachscher Manier gemalt – um einen Genossen in die Mitte zu stellen, der mit verkniffenem Gutachterblick über der Knubbelnase die zerschundene Leiche beäugt. Und er dürfte die DDR-Oberen vor Ausschnitt aus „17 Figuren“ (1998): Irres Wuseln ein weiteres Rätsel gestellt hahebt er Hauptfiguren hervor, schließlich ben, als er den Apo-Märtyrer Rudi Dutschsind alle gleich verrückt. Oft klafft genau ke als Leiche in der Badewanne zeigte. Stelzmanns Szenen sind inzwischen im Zentrum des Bildes, zwischen all der schreienden Theatralik, in der sich alles kompakter geworden, seine Farben manchdreht und verrenkt, ein menschenleeres mal irreal bunt, die Kontraste fast schon surreal – das Kunstmagazin „Art“ freut und seelenloses Loch. Stelzmanns hadernde Allegorie der mo- sich schon auf ein „furioses Alterswerk“. dernen Ungesellschaft spielt mit unmo- Dennoch: Einen Bruch mit seiner frühedernen Formeln. Aber mag er sich selbst ren Malerei gab es nicht. noch so grimmig porträtieren – er sieht die Den gab es in seiner Biografie. 1986 Welt auf keinen Fall bloß düster. Über- kehrte Stelzmann nach dem Besuch seiner haupt, und das macht den Reiz seiner Bil- Oberhausener Ausstellung nicht mehr in der aus, wehrt er sich gegen jede Eindeu- die DDR zurück. Die Flucht war, sagt er, tigkeit. Im Gegenteil, seine vielen An- weder langfristig geplant noch raffiniert spielungen sprengen fast den Rahmen. eingefädelt. Er habe sich dazu entschlosVG BILD-KUNST, BONN 1999 italienische Manierist Pontormo oder eben Otto Dix. Stelzmann malt Kreuzigungen wie zu Lutherischen Reformationszeiten und Varietészenen mit Akrobaten und messerwerfenden Mann-Frauen, die geradewegs aus den zwanziger Jahren stammen könnten. Oder auch nicht. Trotz aller malerischen Zitate wirkt Stelzmanns Welttheater erstaunlich zeitlos. Seine oft altbackenen Figuren, mit ebenso altmodisch gekonntem Pinselstrich gemalt, schaffen zwar Distanz zum Jetzt. Doch die wirklichen Dramen, glaubt Stelzmann, „sind ohnehin immer die gleichen“. Das „große Durcheinander“ seiner Bilder, auf so viel Interpretation lässt er sich ein, spiegele auch das „verwirrend unübersichtliche Heute“. Selten d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 273 Kultur sen, weil seine damalige Freundin und heutige Frau im Westen lebte. Sie war der Anlass, sagt er, aber nicht der einzige Grund. Die Chefetage der DDR fluchte. Der Westen war erst angetan, vermisste dann aber öffentliche Ohrfeigen für den sozialistischen Staat. Galt Stelzmann zuvor als ruhmreiches Ausnahmebeispiel unter den Ost-Malern, das mit vielsagender Ironie das Regime aufs Korn nahm – die „Frankfurter Rundschau“ schwärmte ob seiner „verschlüsselten Verwegenheiten“ –, war er nun der DDR-untertänige Buhmann. Als er 1988 zum Professor an die WestBerliner Hochschule der Künste berufen wurde, uferte das Unbehagen zum Skandal aus. Georg Baselitz, selbst sehr viel früher von Ost nach West gezogen, verkündete erbost, er gebe wegen des systemkonformen Neuzugangs seine eigene Professur auf. Andere Kollegen hetzten via Zeitung. Stelzmanns Vita, so hieß es, mache es dem Maler unmöglich, „das Vertrauen einer kritischen Jugend zu gewinnen“. Dieser Mann sei bloß ein „Talent der Anpassung“. Tatsächlich malte Stelzmann so figurativ und realistisch, wie es der ostdeutsche Nachbarstaat gern gesehen hatte. Und er hatte eine steile DDR-Karriere hinter sich: 1978 wurde er, von Haus aus Grafiker, zum Vorsitzenden der „Zentralen Sektionsleitung des Verbandes für Malerei und Grafik“ ernannt, ab 1982 lehrte er als Professor in Leipzig, ein Jahr später nahm er den „Nationalpreis“ entgegen. Längst genoss er zudem das rare Privileg, ins kapitalistische Feindesland reisen zu dürfen. Er habe sich, sagt Stelzmann, aber nie als „Offiziellen“, sondern „immer nur als Maler“ gesehen. Als solcher will er über seine Bilder wahrgenommen werden. Doch bis heute pappen die Klischees an ihm. Dabei habe es, ärgert er sich, keine DDR-Kunst gegeben, die man pauschal aburteilen könne, sondern nur viele Einzelfälle. Eine Ideologie zu illustrieren wäre ihm schon aus künstlerischer Sicht „zu langweilig gewesen“ – Kritik an frühen Kollegen, die der staatstragenden Thematik riesige Schinken abgewinnen konnten? Angebiedert, sagt er, habe er sich nie. Auch im Westen nicht. Es sei ein großes Risiko gewesen, mit 45 Jahren neu anzufangen. Zumal er weiter auf die vertrauten Bildformeln setzte. Dass seine traditionelle Figurenmalerei nicht in die Zeit von Video- und Installationskunst zu passen scheint, stört ihn nicht. Er zeigt, dass auch erzählstarke Malerei noch fesseln kann. Vor allem bleibt er ein Meister der Irritation: Das „Sinken“, 1993 gemalt, ist eine Art bunter Höllensturz im schwarzen Nichts. Doch kein Erzengel stößt seine Figuren brutal in ein Fegefeuer. Die Gestalten schweben im schwerelosen Raum. Die Gefahr, sagt Stelzmann, dass sie fallen, ist stets präsent: „Doch ebenso gut können sie auch glorreich wieder aufsteigen.“ Ulrike Knöfel 274 d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite PRO 7 Kultur „Gefangen im Jemen“-Star Maffay: Ein Mann wie eine Distel FERNSEHEN Die Wüste bebt Im Pro-Sieben-Thriller „Gefangen im Jemen“ braust Peter Maffay auf dem Motorrad durch die Wildnis. Bei so viel Tempo bleibt die Logik auf der Strecke. W enn die Bilder wirklich laufen gelernt hätten, sie würden zum Münchner Sender Pro Sieben eilen und bei der Abteilung für TV-Movies anklopfen. Falls man da überhaupt anklopfen muss, denn selbst Entscheidungsträger haben das Alter von Praktikanten – ein lockeres „Hey“ dürfte reichen. Fest steht, dass sich die Optik nirgends so in ihrer ganzen Pracht, in ihrem ganzen Pathos entfalten kann wie bei Pro Sieben. Die Fesseln einer Handlungslogik, die Rücksichten auf die Konturen eines Milieus – sie gelten in München-Unterföhring wenig. Vor Jahren surften in der Pro-SiebenReihe „Alles außer Mord“ ein Psychoanalytiker und ein verschusselter Privatdetektiv durch zuschauerverwirrende Kriminalfälle – in Erinnerung blieben schöne Aufnahmen von Hamburg bei Tag und bei Nacht. Der Werbefilmer Roman Kuhn flutete den Bildschirm mit einer grünstichigen Bilderorgie aus der Welt der Psychose. Was und warum etwas in seinem Thriller „Die Schläfer“ geschah, blieb ein Rätsel. Wenn an diesem Sonntag um 20.15 Uhr „Gefangen im Jemen“, Auftakt zu einer 276 Reihe von Pro-Sieben-Eigenproduktionen, über den Sender geht, dann sollte der Zuschauer die Augen weit aufmachen und jene unangenehm hartnäckige Stimme im Kopf, die immer fragt, warum da einer auf dem Schirm tut, was er tut, zum Schweigen bringen. Derart präpariert, gibt’s das volle Pfund auf die Netzhaut – die Wüste bebt. Motorräder dröhnen, Hubschrauber schwirren wie todbringende Libellen über die Dünen, arabische Männer in malerischen Gewändern würgen mit kehligem Stakkato Sätze, die wohl von List und Männerehre handeln. Das herbeste Gewächs aber, das dieser auf Wüstensand gebaute Film hervorbringt, ist der Sänger Peter Maffay. Ein Mann wie eine Distel: trockenhart die Gesichtszüge, in denen sich die Augen – stimmig zum arabischen Ambiente – hinter die scharfe Lidersichel eines schwindenden Mondes verkrochen haben. Seine Sprache passt zur Kargheit des Wüstenbiotops: kein Wort zu viel, alle Laute überrollt sein R. Irgendwo unter der rrrauhen Schale steckt wohl ein weicher Kern. So soll es sein. Ein wenig lässt sich die Handlung doch rekonstruieren: Eine Gruppe junger Menschen aus Deutschland landet samt Motorrädern im Jemen, eine Spritztour durch die Wüste soll den ultimativen Kick bringen. Von irgendwoher angeweht, steht Marc (Maffay) am Startpunkt der Tour. Ihn hat es vor Jahren in den Jemen verschlagen, hier lebt er und weiß seinen Sohn, den er einst in Deutschland zurückließ, unter den Mitgliedern der Gruppe. Und, wie der Drehbuchzufall es will, machen es ziemlich komplizierte logistid e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 sche Probleme notwendig, dass sich – sehr zum Unwillen seines Sohns – dieser verwitterte Marc auf den Bikerbock schwingt und mit auf Tour geht. Die Konflikte sind programmiert: Da ist der greenhornige Anführer der Gruppe auf der einen Seite, und da ist der Jemen-erfahrene Marc auf der anderen Seite. Dessen Warnungen bewahrheiten sich schneller als erwartet: Der Norden des Jemen wird von regierungsfeindlichen Stämmen beherrscht, die von Entführungen leben. Außerdem gibt es jede Menge Minen im Gelände. So kommt es, wie es kommen muss: Gegen Schutzgeld übernimmt der Abgesandte eines Stammes das Geleit. Doch die deutschen Youngster benehmen sich nicht ordentlich: Ein Pärchen tut’s auf heißem Sand im Abendsonnenschein vor den Augen des indignierten Wüstensohns. Die Gruppe wird gefangen genommen. Marc, der Scout, dessen Ratschläge die teutonischen Jungbiker zuvor leichtfertig in den Wind geschlagen hatten, will das geforderte Lösegeld zahlen, doch einige der jungen Deutschen, die die besonderen Gesetze des Jemen immer noch nicht verstanden haben, stecken in einem Telefonat einer Mitarbeiterin der deutschen Botschaft, ohne dass es die Entführer merken, die Koordinaten des Ortes, an dem man sie gefangen hält. Die Folgen dieser List sind mörderisch. Die Regierung rückt mit Hubschraubern gegen den Stamm vor, der unbelehrbare junge Reiseführer fährt auf der Flucht auf eine Mine. Eine Blondine in der deutschen Botschaft treibt ein intrigantes Spiel, das in seinen Winkelzügen nicht mal mehr die Verantwortlichen des Senders Pro Sieben erklären können. Holm Dressler, einstiger GottschalkManager und Produzent, hat den Sender mit der Wüstenidee überrannt. Peter Patzak, der Regisseur, war wohl schon mit dem begeisterten Motorradfreak Maffay – Patzak hatte den Sänger 1987 im Actionthriller „Der Joker“ bereits als Schauspieler eingesetzt – über alle sieben Brücken der Begeisterung für das Wüstenprojekt gegangen, als das Drehbuch noch Stückwerk war und Nachbesserer daran herumdokterten. Was zählt’s. Wie gern tauscht der Zuschauer logische Erleuchtung gegen die Erhabenheit einer Szene, in der Maffay eine Mine in den Abgrund entsorgt und so die Liebe des Sohnes zurückgewinnt. Da schwillt die Brust, und von irgendwoher tönt tief drinnen der alte Maffay-Hit „Und es war Sommer“, das Lied vom Knaben, der bei der reifen Frau die Liebe kennen lernt: „Doch als ein Mann sah ich die Sonne aufgeh’n“. So schön pubertär und abenteuerlich kann Fernsehen im Land jenseits des Sinns sein. Nikolaus von Festenberg Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite SERVICE Leserbriefe SPIEGEL-Verlag, Brandstwiete 19, 20457 Hamburg Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: leserbriefe@spiegel.de Fragen zu SPIEGEL-Artikeln Telefon: (040) 3007-2687 Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: artikel@spiegel.de Nachbestellung von SPIEGEL-Ausgaben Telefon: (040) 3007-2948 Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: nachbestellung@spiegel.de Nachdruckgenehmigungen für Texte und Grafiken: Deutschland, Österreich, Schweiz: Telefon: (040) 3007-2869 Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: nachdrucke@spiegel.de übriges Ausland: New York Times Syndication Sales, Paris Telefon: (00331) 47421711 Fax: (00331) 47428044 für Fotos: Telefon: (040) 3007-2869 Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: nachdrucke@spiegel.de DER SPIEGEL auf CD-Rom / SPIEGEL TV-Videos Telefon: (040) 3007-2485 Fax: (040) 3007-2826 E-Mail: service@spiegel.de Abonnenten-Service SPIEGEL-Verlag, Postfach 10 58 40, 20039 Hamburg Reise/Umzug/Ersatzheft Telefon: (040) 411488 Auskunft zum Abonnement Telefon: (040) 3007-2700 Fax: (040) 3007-2898 E-Mail: aboservice@spiegel.de Abonnenten-Service Schweiz: DER SPIEGEL, Postfach, 6002 Luzern, Telefon: (041) 3173399 Fax: (041) 3173389 E-Mail: leserservice@dcl.ch Abonnement für Blinde Deutsche Blindenstudienanstalt e. 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Dietmar Pieper; Wolfgang Bittner, Felix Kurz, Christoph Pauly, Wolfgang Johannes Reuter, Wilfried Voigt, Oberlindau 80, 60323 Frankfurt a. M., Tel.(069) 9712680, Fax 97126820 H A N N O V E R Hans-Jörg Vehlewald, Georgstraße 50, 30159 Hannover, Tel. (0511) 36726-0, Fax 3672620 K A R L S R U H E Postfach 5669, 76038 Karlsruhe, Tel. (0721) 22737 M Ü N C H E N Dinah Deckstein, Wolfgang Krach, Heiko Martens, Bettina Musall, Stuntzstraße 16, 81677 München, Tel. (089) 4180040, Fax 41800425 REDAKTIONSVERTRETUNGEN AUSLAND BAS E L Jürg Bürgi, Spalenring 69, 4055 Basel, Tel. (004161) 2830474, Fax 2830475 B E L G R A D Renate Flottau, Teodora Drajzera 36, 11000 Belgrad, Tel. (0038111) 669987, Fax 3670356 B R Ü S S E L Dirk Koch; Winfried Didzoleit, Sylvia Schreiber, Bd. Charlemagne 45, 1000 Brüssel, Tel. (00322) 2306108, Fax 2311436 I S T A N B U L Bernhard Zand, Ba≠kurt Sokak No. 79/4, Beyoğlu, 80060 Istanbul, Tel. (0090212) 2455185, Fax 2455211 J E R U S A L E M Annette Großbongardt, 16 Mevo Hamatmid, Jerusalem Heights, Apt. 8, Jerusalem 94593, Tel. (009722) 6224538-9, Fax 6224540 J O H A N N E S B U R G Birgit Schwarz, P. O. Box 2585, Parklands, SA-Johannesburg 2121, Tel. (002711) 8806429, Fax 8806484 K A I R O Volkhard Windfuhr, 18, Shari’ Al Fawakih, Muhandisin, Kairo, Tel. (00202) 3604944, Fax 3607655 L O N D O N Hans Hoyng, 6 Henrietta Street, London WC2E 8PS, Tel. (0044207) 3798550, Fax 3798599 M O S K A U Jörg R. Mettke, Uwe Klußmann, 3. Choroschewskij Projesd 3 W, Haus 1, 123007 Moskau, Tel. (007095) 9400502-04, Fax 9400506 N E W D E L H I Padma Rao, 91, Golf Links (I & II Floor), New Delhi 110003, Tel. (009111) 4652118, Fax 4652739 N E W YO R K Thomas Hüetlin, Mathias Müller von Blumencron, 516 Fifth Avenue, Penthouse, New York, N Y 10036, Tel. (001212) 2217583, Fax 3026258 PA R I S Lutz Krusche, Helmut Sorge, 17 Avenue Matignon, 75008 Paris, Tel. (00331) 42561211, Fax 42561972 P E K I N G Andreas Lorenz, Ta Yuan Wai Jiao Ren Yuan Gong Yu 2-2-92, Peking 100600, Tel. (008610) 65323541, Fax 65325453 P R A G Jilská 8, 11000 Prag, Tel. (004202) 24220138, Fax 24220138 R I O D E J A N E I R O Jens Glüsing, Avenida São Sebastião 157, Urca, 22291-070 Rio de Janeiro (RJ), Tel. (005521) 2751204, Fax 5426583 R O M Hans-Jürgen Schlamp, Largo Chigi 9, 00187 Rom, Tel. (003906) 6797522, Fax 6797768 S A N F R A N C I S C O Rafaela von Bredow, 3782 Cesar Chavez Street, San Francisco, CA 94110, Tel. (001415) 6437550, Fax 6437530 S I N G A P U R Jürgen Kremb, 15, Fifth Avenue, Singapur 268779, Tel. (0065) 4677120, Fax 4675012 T O K I O Dr. Wieland Wagner, Chigasaki-Minami 1-3-5, Tsuzuki-ku, Yokohama 224, Tel. (008145) 941-7200, Fax 941-8957 WA R S C H A U Andrzej Rybak, Krzywickiego 4/1, 02-078 Warschau, Tel. 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Schierhorn, Ekkehard Schmidt, Thomas Schmidt, Andrea Schumann-Eckert, Margret Spohn, Rainer Staudhammer, Anja Stehmann, Claudia Stodte, Stefan Storz, Rainer Szimm, Dr. Wilhelm Tappe, Dr. Eckart Teichert, Dr. Iris Timpke-Hamel, Heiner Ulrich, Hans-Jürgen Vogt, Carsten Voigt, Peter Wahle, Ursula Wamser, Peter Wetter, Andrea Wilkens, Holger Wilkop, Karl-Henning Windelbandt B Ü R O D E S H E R A U S G E B E R S Irma Nelles I N F O R M A T I O N Heinz P. Lohfeldt; Andreas M. Peets, Kirsten Wiedner, Peter Zobel K O O R D I N A T I O N Katrin Klocke L E S E R - S E R V I C E Catherine Stockinger S P I E G E L O N L I N E (im Auftrag des SPIEGEL: a + i art and information GmbH & Co.) Redaktion: Hans-Dieter Degler, Ulrich Booms N A C H R I C H T E N D I E N S T E AP, dpa, Los Angeles Times / Washington Post, New York Times, Reuters, sid, Time Nachdruck und Angebot in Lesezirkeln nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages. 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Postmaster: Send address changes to: DER SPIEGEL, German Language Publications, Inc., 153 South Dean Street, Englewood, NJ 07631. d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 Chronik SAMSTAG, 28. 8. FUNKAUSSTELLUNG In Berlin eröffnet die 42. Internationale Funkausstellung. Erster Besucher des weltweit größten Branchentreffens ist Bundeswirtschaftsminister Werner Müller. BALKAN Brigadegeneral Friedrich Riech- mann löst Helmut Harff als nationaler Befehlshaber der deutschen Kfor-Einheiten im Kosovo ab. RAUMFAHRT Nach mehr als 13 Jahren im All ist die russische Raumstation „Mir“ verlassen. Die letzte Crew landet wohlbehalten in der Steppe Kasachstans. SONNTAG, 29. 8. RÜCKTRITT Der unter Verdacht illegaler Börsengeschäfte stehende Kölner Oberstadtdirektor Klaus Heugel (SPD) verzichtet auf seine Kandidatur zum Oberbürgermeister bei der Kommunalwahl. MONTAG, 30. 8. 28. August bis 3. September FESTNAHME Der wegen mutmaßlicher Schmiergeldzahlungen für Rüstungsexporte gesuchte bayerische Geschäftsmann Karlheinz Schreiber geht der Polizei in Kanada ins Netz. MITTWOCH, 1. 9. GEDENKEN Mit einer Kranzniederlegung DONNERSTAG, 2. 9. POLIZEI Die erste gemeinsame niederländisch-deutsche Polizeidienststelle wird in der Doppelgemeinde Dinxperlo/BocholtSuderwick eröffnet. KÄMPFE In Osttimor, wo 78,5 Prozent der Bevölkerung für die Unabhängigkeit stimmten, haben proindonesische Milizen weite Teile des Landes unter ihre Kontrolle gebracht und mindestens vier einheimische Uno-Mitarbeiter getötet. übernimmt die Mehrheit des Unternehmens der Hamburger Modedesignerin Jil Sander. DIENSTAG, 31. 8. UNGLÜCK In Buenos Aires sterben min- destens 69 Menschen, als eine Boeing 737 der argentinischen Fluggesellschaft Lapa über die Startbahn hinausrast. Der 150 Meter hohe Nachbau des Eiffelturmes ist die Attraktion des Hotels „Paris“, das der Hilton-Konzern für 800 Millionen Dollar in der Zocker-Metropole Las Vegas gebaut hat. REPORTAGE Wie aus Kindern Profikicker werden Matthias Sammer und Ulf Kirsten haben hier gelernt, fast die Hälfte aller Kicker der deutschen Nationalelf wurden hier Türkei zum Tode verurteilten PKK-Chefs Abdullah Öcalan, erklärt den bewaffneten Kampf der PKK für beendet. FREITAG, 3. 9. MODE Die italienische Prada-Gruppe SPIEGEL TV KURDEN Osman Öcalan, Bruder des in der verschiebt die Entscheidung über die Neugliederung der Parteispitze auf den nächsten Sonntag. Eichel (SPD) verknüpft die Zustimmung zu den Sparplänen mit der Fortsetzung des Solidarpakts über 2004 hinaus und sorgt damit für Unmut. MONTAG 23.00 – 23.30 UHR SAT 1 am Denkmal Westerplatte bei Danzig gedenkt Bundespräsident Johannes Rau des 60. Jahrestags des deutschen Überfalls auf Polen, dem Beginn des Zweiten Weltkriegs. SPD Bundeskanzler Gerhard Schröder REGIERUNG Bundesfinanzminister Hans SPIEGEL TV ERMITTLUNG Die französische Justiz stellt ihre Ermittlungen zum tödlichen Unfall von Prinzessin Diana ein. Schuld sei allein der Fahrer, der unter dem Einfluss von Alkohol und Medikamenten gestanden habe. WÄHRUNG Die Uno-Verwaltung im Kosovo hat die Deutsche Mark zur Hauptwährung in ihrem Zuständigkeitsbereich erklärt und Zollkontrollen in der Provinz eingeführt. Amsterdamer Jungkicker J. MÜLLER / VISUM ausgebildet: Die Fußballinternate der ehemaligen DDR waren Kaderschmieden für den Kampf auf dem grünen Rasen. Beobachtungen in den Fußballschulen von Dynamo Dresden, Bayer Leverkusen und Ajax Amsterdam. DONNERSTAG 22.05 – 23.00 UHR VOX SPIEGEL TV EXTRA Tierische Liebe – vom Umgang der Deutschen mit animalischen Hausgenossen Ob Riesenalligator oder Frettchen, Ferkel oder Affe: Insgesamt 21 Millionen Haustiere tummeln sich in deutschen Heimen. Ganze Wirtschaftszweige reagieren auf die manchmal extreme Zuneigung des Menschen zum Tier. Und weil wahre Liebe den Tod überdauert, hat auch das Bestattungswesen tierische Dimensionen erreicht. SAMSTAG 22.40 – 23.45 UHR VOX SPIEGEL TV SPECIAL Blut und Eisen – die deutsche Rüstungsmaschinerie vom Kaiser bis zum Führer Vom Giftgas bis zur V2, Deutschland hat sich im 20. Jahrhundert vor allem in der Entwicklung neuer Kriegswaffen hervorgetan. Eine Dokumentation über Magnaten, Erfinder und Technologien „im Dienste des Todes“. SONNTAG 21.55 – 22.45 UHR RTL REUTERS SPIEGEL TV MAGAZIN Ab durch die neue Mitte – die SPD und der Kanzler auf der Suche nach dem Wahlvolk; Im Labyrinth der Lügen – die schwierige Wahrheitssuche im Fall Monika Weimar; Vorsicht Kamera! – Deutschland wird überwacht. 281 Register Gestorben Spiegle Willcox, 96. Kaum zu glauben, dass es noch einen Mann gab, der mit dem legendären Kornettisten Bix Beiderbecke in einer Band (angeführt von Jean Goldkette) gespielt hatte. Bix soff sich zu Tode, noch ehe er 30 war, und auch die übrigen Musiker, die Mitte der zwanziger Jahre zu Goldkettes Truppe gehörten, sind längst nicht mehr unter den Lebenden: der Gitarrist Eddie Lang, die Brüder Tommy und Jimmy Dorsey, der Geiger Joe Venuti. Nachdem er bei Goldkette ausgeschieden war, trat Willcox lange Zeit mit seiner Posaune nur unregelmäßig auf. Erst als alter Mann, 1975, wurde er für ein Bix-Gedenkkonzert auf die Bühne der Carnegie Hall geholt. Danach tourte er bis zum Schluss durch Europa und die USA und ließ sich auf Festivals feiern. Spiegle Willcox starb am 25. August in Cortland, New York. JAZZ ARCHIV ziger Jahre, als die Kirche in Südamerika die Ideen der katholischen Soziallehre aufgriff und zur treibenden Kraft der gesellschaftlichen Veränderung wurde, entwickelte sich der brasilianische Erzbischof zur Hauptfigur der Bewegung der Basisgruppen. Europäische Theologen schwärmten alsbald von einer „Theologie der Befreiung“. Unermüdlich setzte Câmara sich für die Menschenrechte ein und lehnte Gewalt entschieden ab. Für die Militärs war der international angesehene Geistliche daher Staatsfeind Nummer eins. Anfang der siebziger Jahre entfachten sie eine geheime Kampagne gegen seine Kandidatur für den Friedensnobelpreis, den er tatsächlich nie erhielt; stattdessen wurde ihm 1974 der Alternative Friedenspreis verliehen.Verleumdung und Verfolgung war Câmara gewöhnt. „Wenn ich den Armen zu essen gebe, dann nennen sie mich einen Heiligen. Wenn ich frage, warum die Armen kein Essen haben, nennen sie mich einen Kommunisten“, pflegte er den Umgang der Machthaber mit ihm zu kommentieren. Dom Hélder Câmara starb am 27. August in Recife. C. HIRESBRE / GAMMA / STUDIO X Dom Hélder Câmara, 90. Ende der sech- Lilo Hardel, 85. Generationen ostdeutscher Raymond Poïvet, 89. Der künstlerische Vater von Asterix und Obelix, Albert Uderzo, nannte ihn „meinen Meister“. Tatsächlich hat kein Zeichner die in Frankreich hoch 282 d e r Urt ei l H. GOLTZ Kinder sind mit ihren Büchern aufgewachsen. „Pieps und Hanna“, „Der freche Max“ und „Das schüchterne Lottchen“ hießen die ersten in den fünfziger Jahren, „Die lustige Susanne“, „Otto und der Zauberer Faulebaul“ und die Erzählung „Hannchens Träume“ folgten. Die überzeugte Kommunistin verstand ihre Bücher als Begleiter auf dem Weg ins Leben, um Kindern Geschichte und Gegenwart verständlich zu machen. So schrieb sie 1964 in „Das Mädchen aus Wiederau“ über Clara Zetkins Studienjahre, später folgte ein Porträt von Lenins Lebensgefährtin Nadeschda Krupskaja, „Nadja, mein Liebling“. Mit 20 Buchtiteln in einer Gesamtauflage von über 1,5 Millionen Exemplaren beim Berliner Kinderbuchverlag gehörte sie zu den erfolgreichsten Autoren der DDR. Lilo Hardel starb am 26. August in Berlin. geschätzten und populären Comics so beeinflusst wie dieser selbst wenig bekannte Pionier der „bandes dessinées“. Schon 1945 erfand Poïvet für das von ihm mitgegründete Comic-Heft „Vaillant“ die Helden des Raumschiffs „l’Espérance“ – in bewusster Abgrenzung zu den US-Sternenkriegern rauschten die in Friedensmission durchs All. Der aus Nordfrankreich stammende Pazifist zeichnete für Werbung und Mode und wurde dann Mitarbeiter bei Pariser Tageszeitungen und so ziemlich allen Comic-Magazinen, von „Pilote“ über „Métal Hurlant“ bis „Okapi“. Er illustrierte Klassiker und erregte Aufsehen mit Bühnenbildern. In seinem Zeichenatelier erhielten spätere Große der Branche wie Uderzo, Mandryka, JeanClaude Forest oder Paul Gillon Schliff. Raymond Poïvet starb am 29. August in Paris. Piotr Laskowski, 33, wegen Geiselnahme und Beihilfe zum erpresserischen Menschenraub angeklagter Pole, ist im Prozess um die Entführung des Multimillionärs Jan Philipp Reemtsma vergangene Woche vom Hamburger Landgericht zu sechs Jahren Haft verurteilt worden. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass Laskowski am 25. März 1996 zusammen mit Thomas Drach Reemtsma entführte und in ein Geiselversteck im niedersächsischen Garlstedt brachte. Die Richter begründeten ihr „sehr maßvolles Urteil“ damit, daß Laskowski aus eigenem Willen zu einem Zeitpunkt aus dem Verbrechen ausgestiegen war, als es noch nicht zu einer Geldübergabe gekommen war, er sich freiwillig gestellt und ein weitgehendes Geständnis abgeliefert hatte. s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Personalien NATIONAL ENQUIRE Jack Nicholson, 62, amerikanischer Schauspieler („Einer flog über das Kuckucksnest“, „Besser geht’s nicht“) und Golf-Narr, der sich schon mal ganz unkonventionell ins Gras legt, bis der nächste Abschlag frei ist, gebärdet sich auch sonst recht ungehörig auf dem Gelände. Einen Tag nachdem er in dem ultraexklusiven Sherwood Country Club mit einem Mitglied gegolft hatte, erschien Nicholson der Golf-Freak wieder – diesmal solo. Beim ersten Loch geriet Nicholson in Wut, als ihn ein Club-Angestellter von der Seite ansprach: „Sorry, Mr. Nicholson, aber dieser Club ist nur für Mitglieder.“ „So“, knurrte der Mime, „was kostet denn der Beitritt?“ Der Platzwart, der den großen Filmstar nicht beleidigen wollte, schluckte: „Zweihundertfünfzigtausend.“ Der grimme Jack ging zu seinem Auto, holte sein Scheckbuch und stellte einen Scheck auf 250 000 Dollar aus, sofort auszahlbar. „Hier“, schnauzte der GolfIrre den verblüfften Club-Angestellten an, „verschwinden Sie, und belästigen Sie die Mitglieder nicht.“ standhaft. Der österreichische Ex-Rennfahrer Niki Lauda, 50, Mitinhaber der Lauda-Air, der seine Flugzeugflotte mit einer neuen Boeing 767 weiter aufgerüstet hat und ihr den Namen des amerikanischen Sängers Frank Sinatra gab, feierte dieses Ereignis bei einem PR-Termin am vergangenen Montag in Frankfurt. Stilgerecht streckte Lauda eine Flasche von FrankieBoys Lieblingsgetränk „Jack Daniels“ in die Kamera. Der einst als deutscher Sinatra gefeierte PR-Gast Juhnke weigerte sich indes, gemeinsam mit Lauda die Whiskeyflasche in die Höhe zu halten. Juhnke, seit zwei Jahren trocken: „Nee, das nehme ich nicht mehr in die Hand.“ Harald Juhnke, 70, Schauspieler („Der Trinker“), Entertainer und Sänger, blieb als Gast bei einer PR-Aktion mit Alkohol Lauda, Juhnke der Bundesregierung, zieht ins Kloster. Für die Zeit der Sitzungswochen in Berlin hat sich die gelernte Krankenschwester im Charlottenburger Herz-Jesu-Kloster ein Zimmer gemietet. Bevor Nickels aufgenommen wurde, musste sich die fromme Rheinländerin einem ausführlichen Bewerbungsgespräch unterziehen. Nach einer Woche Beratungszeit stimmten die katholischen Klosterfrauen schließlich zu. Herrenbesuch ist in Nickels’ karger Kemenate nicht erlaubt. Wenn Nickels’ Ehemann am Wochenende anreist, muss er im Hotel nächtigen. Tyra Banks, 25, amerikanisches Model, musste aus Gründen der Pietät in letzter Minute einen Film nachsynchronisieren. In der romantischen Komödie „Love Stinks“, die am 10. September in die US-Kinos kommt, diskutiert sie mit einer Freundin ein Kardinalproblem: Wie angle ich mir den perfekten Mann? Ursprünglich sagt Banks: „Ich sehe dich immer mit diesen sportlichen Typen, die mit bloßem Oberkörper auf Rädern durch den Central Park sausen und aussehen wie JFK Junior.“ Regisseur Jeff Franklin: „Die Tragödie mit dem Absturz von JFK passierte wenige Tage vor der Endabnahme des Films“, so habe man den Satz noch ändern können. Jetzt sagt Banks: „Ich sehe dich immer mit diesen sportlichen Typen, die mit bloßem Oberkörper auf Rädern durch den Central Park sausen.“ Nach Meinung des Regisseurs „eine elegante Lösung“. 284 d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 OUTLINE / INTER-TOPICS (gr.); GLOBE / INTER-TOPICS (kl.) DPA Christa Nickels, 47, Drogenbeauftragte Kennedy Jr., Banks Ingrid Stolpe, 61, Ärztin und gewöhnlich wohltuend unauffällige Gattin von Brandenburgs Ministerpräsidenten Manfred Stolpe (SPD), mischte sich jetzt in die Politik ein. In einem Interview mit den „Potsdamer Neuesten Nachrichten“ gab sie zum Besten, wie wenig sie von Bundeskanzler Gerhard Schröder hält: „Er ist schön und medienwirksam. Aber das war’s dann auch.“ Auch bei landespolitischen Themen blieb es der Ersten Dame Brandenburgs vorbehalten, da Klartext zu reden, wo ihr Mann schweigt. So erteilte sie – kurz vor den Landtagswahlen – einer Koalition zwischen SPD und PDS eine Absage: „Rot-Rot wird es nicht geben.“ Nicht einmal die Frage, wer Stolpe als Ministerpräsident nach- Ehepaar Stolpe folgen soll, ließ sie unbeantwortet: „Der einzige, der mir einfällt, ist Platzeck.“ Schon nach dessen Wahl zum Potsdamer Oberbürgermeister habe sie zu ihrem Mann gesagt: „Lass doch den Platzeck Ministerpräsident werden, und mach du den Oberbürgermeister in Potsdam.“ Aber das habe ihr Mann nicht gewollt. weltministerin, überrumpelte ihren politischen Intimfeind, Innenminister JeanPierre Chevènement, mit einer in der Kabinettsrunde ungewöhnlichen Spontangeste: Die Grüne hauchte dem Linkskonservativen mit hellem Auflachen einen Kuss auf die Wange. Anlass für den Versöhnungsakt gab eine Polizeirazzia während eines Kongresses der „Verts“ im bretonischen Lorient: Ein rundes Dutzend Flics hatte dort einen Stand gestürmt, auf dem alternative Grüne Hanf-Lutscher, HanfBier und Hanf-Schokoladen feilboten. In der Ministerrunde beteuerte der für seine Reibereien mit der Kollegin – Monsieur ist rabiat für, Madame heftig gegen Atomenergie – bekannte Macho beflissen: Nicht etwa er habe seine „police nationale“ auf die Umweltschützer gehetzt, sondern der örtliche Staatsanwalt. Die Folgen der umgehenden Belohnung für den Polizeiminister durch die promovierte AnästhesieÄrztin schilderte ein Augenzeuge: „Das war das erste Mal, dass ich Jean-Pierre mit roten Ohren gesehen habe, und das will bei dem etwas heißen.“ Aleksander Kwaśniewski, 44, polnischer Staatspräsident, mochte sich als Gastgeber von Bundespräsident Johannes Rau, 68, auf dem Flug von Babimost nach Gdansk nichts vorwerfen lassen. Kaum hatten die Präsidentenehepaare das Flugzeug, eine Tupolew 154, betreten, da fragte Familie Rau nach einem Kaffee. Doch die Stewardessen waren noch im hinteren Teil der Ma- Willem-Alexander, 32, niederländischer Thronfolger, ist verliebt. „Mam, dit is de ware“, soll er laut „De Telegraaf“ seiner Mutter gestanden haben. Immerhin ist die Herzensangelegenheit tatsächlich ernst und bereits ein Politikum. „Der Kronprinz hat mir in einem Gespräch seine Freundschaft mit Máxima Zorreguieta mitgeteilt“, erklärte Hollands Ministerpräsident Wim Kok: „Die Beziehung mit der argentinischen jungen Dame ist besonders genug, dass ich sie verkünden, aber nicht so ungewöhnlich, dass ich mehr darüber sagen kann.“ Der königliche Hof-Sprecher Eef Brouwers dementierte derweil „auf Ehre und Gewissen“, dass es eine Verbindung mit einer Deutschen, Präsidentenehepaare Rau, Kwa´sniewski einer gewissen „Herzog“ gebe, wie dies vergangene Woche etliche schine am Werkeln. Da erhob sich der Medien berichteten: „Das ist eine Falsch- Staatspräsident mit rudernden Armen: meldung.“ Auf einen möglicherweise pi- „Ah, Kaffee, kein Problem“, sagte Kwaśkanten Aspekt der neuen Verbindung niewski auf Deutsch, „ich werde organisiemachten niederländische Zeitungen auf- ren.“ Man möge sich in der „Zwischenzeit merksam. Máxima Zorreguietas Vater war den Start der Maschine auf unserem FernWirtschaftsstaatssekretär in der blutigsten seher anschauen“. Dann verschwand der Periode Argentiniens, als unter der Dikta- Präsident nach hinten, nahm seinen Bürotur von General Jorge Rafael Videla zehn- leiter mit, rief dem Personal zu: „Kaffee, tausende entführt, gefoltert und ermordet schnell, schnell!“, und verkürzte sich die wurden. Wartezeit mit zwei Brandys. d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9 285 F. OSSENBRINK M. EBNER Dominique Voynet, 40, französische Um- Hohlspiegel Rückspiegel Aus dem „Hamburger Abendblatt“: „Kernstück ihres Konzepts ist eine ,allgemeine Energiesteuer‘. Fossile Brennstoffe wie Kohle, Öl und Elektrizität sollen nach dem Energiegehalt belastet, regenerative Energien wie zum Beispiel die Solarenergie von der Steuer befreit werden.“ Zitate Aus der „Rhein-Neckar-Zeitung“: „Die Flugzeugcrew reichte dem Verstorbenen Schwarztee und Cola.“ Aus dem „Weser-Kurier“ Aus der „Schwäbischen Zeitung“: „Dieses Phantom-Bild wurde nach Zeugenangaben vom Täter angefertigt.“ Aus dem „DAK-Magazin“: „Gesundheitsvorbeugend sind viele Obst- und Gemüsesorten bei regelmäßigem Verzehr.“ Aus dem „Illustrierten Buch der Philosophie“, Überreuter Verlag, von Jeremy Weate über Simone de Beauvoir: „Obwohl sie nie eigene Kinder hatte, galt sie als ,Mutter des Feminismus‘.“ Aus dem „Hamburger Abendblatt“: „Seit der Änderung des BGS-Gesetzes im vergangenen Jahr dürfen die Bundes-Beamten bei dem Verdacht der illegalen Einreise auch verdachtsunabhängig kontrollieren.“ Aus der „Lebensmittel-Zeitung“ Aus der „Illertisser Zeitung“: „Jede fünfte der Befragten plane einen Autokauf in den nächsten zwei Jahren – dagegen nur jeder vierte Mann.“ Aus der „Thüringischen Landeszeitung“: „Goethes teilweise unschöner Umgang mit seinen Kollegen und Nachbarn wie Schiller, Herder und Werther stößt beim Museumschef auf Ablehnung, aber auch auf Verständnis.“ 286 Marcel Reich-Ranicki in seiner Biografie „Mein Leben“: Im September 1968 brachte der SPIEGEL eine Rezension des Films „Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos“. In diesem Film von Alexander Kluge hätte ich, konnte man lesen, den Direktor des sowjetischen Staatszirkus „sehr überzeugend“ verkörpert. Ich war glücklich, denn selten geschieht es, dass ein Anfänger der Schauspielkunst von der SPIEGEL-Kritik so vorbehaltlos gelobt wird. Allerdings wusste ich gar nicht, dass ich je jemanden verkörpert hatte, weder auf der Leinwand noch sonstwo. Erfreulicherweise konnte man aber gleich erfahren, wie es zu der schauspielerischen Leistung gekommen war: Kluge hatte im Frühjahr 1968 eine Schriftsteller-Tagung (nämlich der „Gruppe 47“ in dem Gasthof „Pulvermühle“ im Frankenland) gefilmt und diese Aufnahmen für sein damals vieldiskutiertes Werk „Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos“ verwendet: Den Ton weglassend, hatte er die Tagung der „Gruppe 47“ als einen Kongress von Zirkusdirektoren ausgegeben. Die „Stuttgarter Zeitung“ zum SPIEGEL-Bericht „Autoindustrie – DaimlerChrysler plant weitere Smart-Modelle“ (Nr. 35/1999): Der Bericht des Nachrichtenmagazins ,,DER SPIEGEL“, dass eine neue SmartBaureihe möglicherweise in Kooperation mit dem französischen PSA-Konzern (Citroën und Peugeot), Honda oder Fiat gebaut werde, hat gestern im Konzern einige Verwirrung ausgelöst. Nach Agenturmeldungen hat ein Sprecher des SmartProduzenten MCC zunächst bestätigt, dass möglicherweise ein anderer Automobilhersteller die Plattform liefern werde. Entsprechende Gespräche führe DaimlerChrysler für seine Tochtergesellschaft MCC. Man wäre dumm, so wird der MCCSprecher weiter zitiert, wenn man nicht die Möglichkeit prüfe, von einem anderen Autoproduzenten Baugruppen oder die Plattform kaufen zu können. Ein Argument dafür sei der Zeitgewinn, der sich durch den Verzicht auf eine eigene Entwicklung ergeben könnte. Entschieden sei dies aber noch nicht, hieß es. Von dieser Version rückte MCC gestern im Tagesverlauf wieder ab. Am Nachmittag wurde nur noch bestätigt, dass es Kooperationsgespräche mit anderen Herstellern gebe. Über den Inhalt wollte sich das Unternehmen nicht mehr äußern. Noch einsilbiger gab sich die Muttergesellschaft. Zu Spekulationen, so hieß es, gebe man keine Stellungnahme ab. d e r s p i e g e l 3 6 / 1 9 9 9