Der Holocaust

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Der Holocaust
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DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN
Hausmitteilung
6. September 1999
Betr.: Titel, Dagestan, Brussig
D
W. BAUER
R. OLBINSKI
er gebürtige Pole Rafal
Olbinski, 54 – einer der
weltweit bedeutendsten Illustratoren –, lebt in New York
und arbeitet für Magazine
wie „Time“, „Newsweek“
oder „New Yorker“. Auch für
den SPIEGEL hat der vielfach ausgezeichnete Künstler
schon etliche Titelbilder illu- Olbinski
striert – das aktuelle Cover
ist ebenfalls sein Werk. Surrealist Olbinski führt
dabei eine Idee weiter, mit der New York im vergangenen Jahr für die amerikanische „Hauptstadt der Welt“ warb. Nun bekommt New York
Konkurrenz: „New Berlin“. Die Anlehnung ist
gewollt, hat die deutsche Kapitale doch im 21. Jahrhundert
alle Chancen, für Europa das zu werden, was New York für
die Neue Welt im ausgehenden Millennium war: eine kreative, pulsierende Metropole, die Menschen – Licht- wie
Schattengestalten – aller Kulturen, Religionen und Ethnien anzieht. Noch herrsche in der Stadt eine „reizvoll-unbestimmte“ Atmosphäre, schreibt die Berliner Autorin Tanja Dückers, 30. Aber schon sei „Berlin wieder ganz
Deutschland geworden und Deutschland Berlin“, meint
Schriftsteller Cees Nooteboom, 66, in seinem Beitrag. Er
glaubt, dass der Traum von einem wirklich vereinten Europa erst dann in Erfüllung gehen werde, „wenn diese
Stadt, ohne sich vom Fleck zu rühren, weiter in die Mitte
Dückers
rutscht“ (Seite 33).
I
n der Kaukasusrepublik Dagestan versuchen russische Verbände, die islamistischen
Rebellen militärisch zu vertreiben, und greifen dabei auch muslimisch geprägte
Gebiete im Inneren des Landes an. „Anders als es Moskau darstellt, findet die Lehre des Propheten ein breites Fundament in der Bevölkerung“, berichtet SPIEGELRedakteur Christian Neef, 47. Im Ort Karamachi konnte er beobachten, wie nach
der Scharia Recht gesprochen wird und religiöse Führer die öffentlichen Aufgaben regeln. Kurz nachdem Neef Karamachi verlassen hatte, bombardierten
russische Flugzeuge die Stadt. „Ein für Moskau aussichtsloser Kampf“, urteilt Neef
(Seite 180).
D
as erste Mal traf SPIEGEL-Redakteur Volker Hage, 49, den jungen Schriftsteller
Thomas Brussig, 33, im Herbst 1995. Der ostdeutsche Nachwuchsliterat brachte sein Erstlingswerk mit ins „Café Pasternak“ am Berliner Prenzlauer Berg. Es hieß
„Wasserfarben“, war kurz nach der Wende unter Pseudonym erschienen und
hatte kaum Leser gefunden. Brussig hatte große Pläne: Zu gern, erzählte er damals
dem SPIEGEL-Mann, würde er auch Drehbücher schreiben. Vier Jahre später ist
Brussig am Ziel: Sein Erfolgsroman „Helden wie wir“ kommt in Kürze ins Kino und
auch der Streifen „Sonnenallee“. Für den schrieb er zunächst am Drehbuch, dann
folgte der Roman. „Brussig ist eine Art Chronist der untergegangenen DDR“,
sagt Hage, „augenzwinkernd nostalgisch und mit einem Faible für skurrile Einfälle“ (Seite 252).
Im Internet: www.spiegel.de
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In diesem Heft
Eine Metropole entsteht:
Das neue Berlin
Deutschland
Panorama: Mini-Entschädigung
für Zwangsarbeiter? /
CDU-Berichte über Ostbürger .......................... 17
Regierung: Jobs schaffen – aber wie? .............. 22
Außenpolitik: Neue Nähe zu Polen ................ 25
Politiker: Oskar Lafontaine beim
Zigarrenhändler................................................ 26
Grüne: Interview mit Fraktionschef Rezzo
Schlauch über Rente und grüne Strategien ....... 28
Städte: Wahl-Chaos in Köln ............................ 29
Prozesse: Vor dem
Urteil im Balsam-Verfahren ............................ 108
Affären: Wie die Polizei den CSU-Amigo
Karlheinz Schreiber schnappte ........................ 112
Hochschulen: Professoren-Gehälter
nach Leistung .................................................. 114
AP
W. BAUER
W. BAUER
Hauptstadt: Der neue Regierungssitz
wird zur Zukunftswerkstatt......................... 33
Kanzler: Gerhard Schröder in Berlin .......... 44
Essay: Cees Nooteboom über
sein verändertes Deutschlandgefühl............ 48
Abgeordnete: Bonn in der
Ost-Wirklichkeit .......................................... 54
Literaturtipps............................................. 57
Architektur: Einheitsware und
Meisterwerke .............................................. 60
Mitte: Vom Szeneviertel
zur Touristenmeile ...................................... 64
Vergangenheit: Die „Hauptstadt der
DDR“ lebt................................................... 70
Sprache: Der berüchtigte Schnodderton .... 71 Reichstagskuppel
Ost-West: Noch immer verläuft
die Grenze in den Köpfen ........................... 74
Kultur: Orientierungshilfe für
Neu-Berliner ............................................... 77
Wissenschaft: Innovationen aus
Adlershof .................................................... 80
Presse: Der teure Zeitungskrieg ................ 84
Zeitgeschichte: Eine junge
Jüdin führt durch die Vergangenheit............ 90
Integration: Die schrille Szene
der Jungtürken ............................................ 94
Radio: Ein türkischer Sender
in Berlin ...................................................... 95
Denker: Intellektuelle aus
dem Osten bleiben unter sich...................... 98
Fußball: Ein Aufsteiger für
die Metropole ............................................ 100
Szene: Tanja Dückers über
die Berlin-Generation ................................ 102
Szenetipps................................................ 104 Schröder
Potsdamer Platz
Glücksritter am Neuen Markt
Zwei Jahre lang boomte der Neue Markt, die Frankfurter Börse für junge Wachstumsunternehmen – zur Freude aller Beteiligten. Doch nun folgt die Ernüchterung:
Viele Unternehmer können ihre vollmundigen Versprechen nicht halten, die Flops
häufen sich. Die Glitzerwelt schneller Gewinne lockte auch Glücksritter und zwielichtige Geschäftemacher an, in einigen Fällen ermittelt schon der Staatsanwalt.
Der lange Arm der Stasi
Seite 154
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HEGGEMANN / STERN
Wirtschaft
Trends: Streit um Hypo-Gutachten /
Die Schmiergelder der ABB /
Rückschlag für Veba-Chef................................ 117
Geld: Chancen mit Blue Chips /
Lukrative Fonds fürs Alter............................... 119
Börse: Dubiose Geschäfte am Neuen Markt .... 120
Sozialpolitik: Der CDU-Politiker
Gunnar Uldall fordert radikale Reformen ....... 123
Online-Dienste: AOL attackiert T-Online ....... 124
Telefon: Hohe Mieten für alte Apparate ......... 128
Computer: Der Aufstieg des deutschen
Software-Unternehmers Marco Börries........... 129
Korruption: Die Gefälligkeiten des
BBV-Chefs Schweickert und seiner Freunde ... 130
Seite 120
Ballonflüchtlinge (1979)
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Vor 20 Jahren düpierten zwei
DDR-Familien das SED-Regime: Mit einem Heißluftballon flohen sie in den Westen.
Das Spektakel blamierte OstBerlin, Hollywood drehte über
die Flucht einen Film. Doch die
Stasi rächte sich: Sie schleuste den besten Freund des Ballonpiloten als IM in dessen
Firma; die ging kurz darauf
Pleite. Eine deutsch-deutsche
Tragödie.
Medien
Indien: Sieg der Nationalisten?
Trends: Milliarden für Kirch /
Aus für „Mallorca“?........................................ 133
Fernsehen: Mehr Information bei ARD und
ZDF / Grimms Märchen als Zeichentrick ........ 134
Deutsche Welle: Krach um die Sparpläne ..... 136
Zeitschriften: Seriöse „Neue Revue“?........... 151
Seite 164
Star-Philosoph Sloterdijk auf Abwegen
Gesellschaft
Szene: Dessous mit „Wellness“-Effekt /
Eine Bar als Transvestiten-Bühne.................... 153
Stasi: Wie sich Ost-Berlin
an den Ballonflüchtlingen rächte..................... 154
Adel: Die reitende Prinzessin Haya von
Jordanien wirbt für ihr Land ........................... 157
AFP / DPA
In Indien, dem bevölkerungsreichsten demokratischen Staat
der Welt, wird vier Wochen
lang gewählt. Umfragen zufolge liegt der Hindu-Nationalist
Vajpayee deutlich vor Sonia
Gandhi, der Kandidatin der
Kongress-Partei. Nach dem
siegreich überstandenen Konflikt mit Pakistan könnte die
Parlamentswahl auch über
Krieg und Frieden auf dem
Subkontinent entscheiden.
Anhänger von Premier Vajpayee in Neu-Delhi
Seite 268
Peter Sloterdijk verprellt seine Anhänger. In einer skandalösen Rede schwadronierte der prominente Philosoph über genetische „Züchtung“ und vorgeburtliche „Selektion“ zum Wohle der Menschheit. Der einst linke Denker auf rechtem Holzweg?
Ausland
Panorama: Streit um den Terrorpaten Carlos /
Osttimor – Uno-Truppen Gewehr bei Fuß....... 161
Indien: Sieg der Hindu-Nationalisten?............ 164
Venezuela: Zerschlagene Demokratie ............ 170
Europa: Neue Kommissare unter Verdacht...... 172
Russland: Milliarden-Skandal
weitet sich aus ................................................. 174
Türkei: Interview mit Staatsminister
Mehmet Ali Irtemçelik .................................... 176
Katastrophen: Massenbegräbnis für die
Opfer des abgestürzten Swissair-Jets ............... 178
Dagestan: Russlands Krieg gegen die Muslime.. 180
Kosovo: Das deutsche Protektorat.................. 183
Das neue Image der Bundeswehr .................... 190
Spiegel des 20. Jahrhunderts
Sturz in den Schlaf
Seite 238
P. PLAILLY / SPL / AGENTUR FOCUS
Patientin im Schlaflabor
Das Jahrhundert des Faschismus:
Götz Aly über den Holocaust ...................... 195
Standpunkt: Ralph Giordano über
die deutsche Wehrmacht ............................. 207
Tausende Deutsche werden von eigenartigen Attacken geplagt: Mitten im
Gespräch oder auch beim Vorspiel zum
Geschlechtsverkehr übermannt sie urplötzlich der Schlaf. Auch Napoleon
und Hitchcock litten offenbar unter
der Plage, die unter dem Namen Narkolepsie bekannt ist. Jetzt haben die Genforscher den Ursprung der Krankheit im
Gehirn dingfest gemacht.
Milliarden aus dem Holocaust
Sport
Fußball: Ralf Rangnicks schwierige
Mission beim VfB Stuttgart ............................. 208
Olympia: IOC-Reformer Jacques Rogge über
Doping und die Samaranch-Nachfolge ............ 214
Wissenschaft + Technik
Prisma: Laserpulse gegen Hirntumoren /
Giftloser Kampf gegen Insekten ...................... 219
Prisma Computer: Telefonbuch mit Bilddatei /
Grafik-Chip für neue Spiele-Welten ................. 220
Umweltschutz: Milliarden zur
Sanierung der Emscher .................................... 222
Gentechnik: Intelligente Bio-Labormäuse ..... 230
Tiere: Ein Leben mit Schimpansen ................. 232
Medizin: Die Leiden der Schlafsüchtigen ....... 238
Psychologie: Wozu Geheimnisse?.................. 244
Seite 195
Kultur
Ein riesiges Vermögen nahmen die Nazis den Holocaust-Opfern
ab: Bargeld, Aktien, Policen und Immobilien im Wert von über
26 Milliarden Reichsmark kamen dem Volk der Täter zugute.
Seite 157
Sie trainiert im Stall Schockemöhle und
startet auf internationalen Turnieren, um
Marketing zu betreiben. Die Springreiterin
Prinzessin Haya, Tochter des verstorbenen
Königs Hussein, will mit sportlichen Erfolgen Touristen und Investoren auf ihr Land
aufmerksam machen: „Jordanien ist ein
sehr moderner Staat.“
Haya Bint al-Hussein
BONGARTS
Die PR-Prinzessin
Szene: Traumstart für Reich-Ranickis
Memoiren / Neuer Roman von Isabel Allende... 249
Schriftsteller: DDR-Nostalgie mit Witz –
Thomas Brussigs „Sonnenallee“-Roman......... 252
Interview mit Brussig...................................... 255
Krimis: Patrícia Melos „Wer lügt gewinnt”...... 258
Bestseller ...................................................... 259
Kino: „Wenn der Nebel sich lichtet“ .............. 260
Musical: Der Pop-Impresario Robert
Stigwood und sein „Saturday Night Fever“..... 264
Intellektuelle: Mode-Philosoph
Peter Sloterdijk über „Menschenzüchtung“ ...... 268
Ausstellungen: Volker Stelzmann in Leipzig .. 272
Fernsehen: Thriller mit Peter Maffay ............. 276
Briefe ................................................................. 8
Impressum................................................ 14, 280
Leserservice .................................................. 280
Chronik ........................................................... 281
Register ......................................................... 282
Personalien .................................................. 284
Hohlspiegel/Rückspiegel ............................. 286
7
Briefe
Jürgen Wittmann aus Mülheim/Ruhr zum Titel „Der LKWahnsinn“
SPIEGEL-Titel 34/1999
Massiv über den Geldbeutel
Nr. 34/1999, Titel: Der LKWahnsinn – Unfalltote,
Staus, verpestete Luft, zerstörte Straßen; die Republik
leidet unter der Landplage Lastwagen
Ihr wollt alle versorgt sein! Ihr wollt auf
nichts verzichten müssen! Wir sorgen dafür,
dass es Euch an nichts fehlt, und wie dankt
Ihr es uns??? Unsere Parkplätze werden
von Pkw mit und ohne Anhänger zugestellt
– wir können keine gesetzlichen Pausen
machen! Wir werden lebensgefährlich ausgebremst! Ihr hetzt uns doch von einem
Termin zum anderen! Jeder will sein Zeug
zuerst. Nichts, was Ihr anhabt, esst, lest, besitzt, womit Ihr spielt, womit Ihr fahrt, wurde nicht irgendwann mal mit einem Lkw
transportiert! In jedem Beruf gibt es schwarze Schafe und vermeidbare Unfälle, aber
ausgerechnet uns das Leben und die Arbeit
derart zur Hölle zu machen ist schlimmer
als ein Schlag unter die Gürtellinie!
Hammersbach (Hessen)
Sandra Zeller
Int. Kraftfahrerin
Da regen sich Hinz und Kunz darüber auf,
dass auf Deutschlands Straßen tausende
von Lkw unterwegs sind, aber niemand
fragt danach, was die Millionen von Pkw
auf der Autobahn zu suchen haben.
Röhrmoos (Bayern)
Martin v. der Einöde
Die Einführung einer Schwerverkehrsabgabe (SVA) in Deutschland hat eine europäische Dimension. Gerade die europäischen Transitländer Deutschland, Schweiz
und Österreich werden besonders von
der Lkw-Flut überrollt. Deshalb ist dringend politisches Handeln erforderlich. Dies
fordert der VCD vehement ein. Bis zur
Entscheidung über die Ausgestaltung der
deutschen SVA im April nächsten Jahres
machen wir Druck auf die Politik. In die
Berechnung der Abgabenhöhe müssen
nicht nur die Entfernung, sondern auch das
zulässige Gesamtgewicht sowie Lärm und
Abgas-Emissionen einfließen. Außerdem
will der VCD eine Einführung auf allen
Straßen, nicht nur auf Autobahnen.
Bonn
8
Petra Niß
Verkehrsclub Deutschland (VCD)
Für einen Kunden in Altenkirchen/Westerwald sollten Acrylplatten geliefert werden. Der Bahnhof Bonn-Beuel liegt knapp
900 Meter vom Produktionsort entfernt.
Eine Verladung wäre kein Problem gewesen. Aber die Bahn wollte sich für die
Strecke von 90 Kilometern 52 Stunden Zeit
lassen. Denn der Güterwagen
wäre erst von Bonn-Beuel nach
Köln-Gremberg Gbf und von
dort nach Au/Sieg gebracht
worden. Dort wäre der Güterwagen dann nach Altenkirchen
Bf überstellt worden. Der Lkw
schaffte dies in drei Stunden inklusive Auf- und Abladen. Der
Expressgutversand wird bei der
Deutschen Bahn AG per Lkw
abgefahren. Die Güterverladung in Bonn-Beuel ist wegen
Nichtinanspruchnahme stillgelegt worden. Zukunft Bahn?
Bad Honnef
Sven-Dirk Kreuz
ten gegen die geradezu selbstverständliche,
24-stündige Unmenschlichkeit des Güterverkehrs auf der Straße führen. Beschleunigt werden müsste dieser Prozess noch
durch die Erfahrung mit geschwindigkeitsüberschreitenden Lastern, etwa noch beladen mit Gefahrgut, in engsten Ortsdurchfahrten. Wann kommt die Tonnen-Kilometer-abhängige Schwerverkehrsabgabe, wann
das europaweite Nachtfahrverbot?
Burgwald (Hessen)
Prof. Jürgen Rochlitz
Verein „Förderg. d. Güterverkehrs a. d. Schiene“
Der Straßengüterverkehr ist lebensnotwendig für eine Exportnation wie Deutschland. Die Einstellung eines großen Teils
der Deutschen dazu ist jedoch „typisch
deutsch“. Das heißt, der Strom kommt aus
der Steckdose, das Wasser aus dem Hahn,
und Hauptsache ist, die Regale in den Geschäften sind voll. Egal, wer wie lange und
unter welchen Bedingungen dafür zu sorgen hat.
Dettenheim (Bad.-Württ.)
Thomas Czemmel
C. AUGUSTIN
„Es ist ein Skandal, dass mit Steuermitteln erbaute angeblich hochmoderne
Verladebahnhöfe schon nach einem Jahr
wieder geschlossen werden sollen.
Nicht immer mehr Straßen und Schienen
ist die Devise, sondern die bessere
Nutzung der vorhandenen Kapazitäten.“
Lkw-Verkehr in Hamburg: Druck auf die Politik
Es ist nur zu hoffen, dass sich Verkehrsminister Müntefering, Bahn-AG-Vorstand und
Aufsichtsrat, die Verkehrspolitiker der Bundestagsfraktionen und der ADAC-Vorstand
diesen vorzüglichen, exzellent recherchierten Titel zur täglichen Erinnerung an ihre
Pinnwand heften. Wahlweise oder zusätzlich bietet unser Verein für diesen Personenkreis einen mindestens einstündigen
Aufenthalt in einem von Lkw-Lärm und -erschütterungen gepeinigten Haus an einer
Bundesstraße an, die von den Lastern als
Ausweichroute für Autobahnstaus benutzt
wird. Das Erlebnis von zig Lastern pro Stunde und Ihr Artikel könnten zu ersten Schrit-
Trotz der Nachteile des Fernverkehrs ist
zugleich jedes zusätzliche Prozent Besteuerung beziehungsweise Verteuerung des
Betriebs von Lkw ein weiterer Kostenfaktor für die deutsche Wirtschaft, die mit den
ohnehin schon hohen Steuern international
kaum mehr wettbewerbsfähig ist.
Buenos Aires
Johannes P. Faber
Während die Speditionen um ihre Kunden
kämpfen und bei den Preisen immer etwas
Luft ist, beharrt die Bahn auf ihren überteuerten Tarifen. Es fehlt an fähigen Disponenten, die Restkapazitäten vermarkten.
Stuttgart
Gabriel Habermann
Vor 50 Jahren der spiegel vom 8. September 1949
Theodor Heuss wird der erste Bundespräsident Der FDP-Vorsitzende hat
sich als „Vater des Grundgesetzes“ einen Namen gemacht. Der frühere
Reichstagspräsident Paul Löbe ist der letzte Traditionssozialist Jetzt
eröffnet er als Alterspräsident den Deutschen Bundestag. Geheimnis um
Molotows Ablösung als Außenminister gelüftet Er stürzte über den
Ehrgeiz seiner Frau. Schließung deutscher Schulen in Süddänemark
Deutschfeindliche Stimmung in Nord-Schleswig. US-Dollar als führende
Währung Britisches Pfund durch Zweiten Weltkrieg ruiniert.
Diese Artikel sind im Internet abzurufen unter http://www.spiegel.de
Titel: Schauspielerin Hannelore Schroth, Regisseur Akos von Ratony
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Briefe
Man sollte einmal den Verkehr für einige
Stunden anhalten und die Planen anheben.
Das Erstaunen wäre groß: Auf mehr als 50
Prozent der transportierten „Güter“ könnte die Menschheit getrost verzichten. Und
ein Großteil vom Rest könnte genauso gut
im Zielgebiet selbst hergestellt werden.
Klaus Ankenbrand
Wenn Autofahrer am Stammtisch darüber
lamentieren, dass die von ihnen erbrachte
Steuerleistung weit über den von ihnen
verursachten Kosten liegt, dann vergessen
sie gern, dass die nicht in Euro und Cent
quantifizierbaren Kosten (wie Verlust an
Lebensqualität oder Verschwendung des
öffentlichen Raumes) auch in die Rechnung einbezogen werden müssten. Die
richtige Belastung ist erst dann erreicht,
wenn es sich nicht mehr lohnt, Büsumer
Krabben zum Pulen nach Polen zu karren!
Hannover
Marc Seidel
Ein überfälliger Artikel, denn mehr und
mehr ist der Güter- und Personenverkehr
über die Straße statt Bahn das große Problem zur Zerstörung unserer Umwelt. Und
das nicht nur wegen der menschlich verständlichen Auto-Manie. Denn wir werden
über fast alle Unfälle der Bahn informiert,
aber nur wenig über Autounfälle.Was fehlt,
ist Verdeutlichung und Bewusstmachen,
dass der Prozentsatz der Unfälle mit der
Bahn weit geringer ist als der auf der Straße.
ULLSTEIN BILDERDIENST
Dörzbach (Bad.-Württ.)
Sat-1-Zentrale in Berlin
Hochgradig neurotischer Jugendwahn
Nur die Harten komm’n in’n Garten
Nr. 34/1999, Karrieren: Privat-TV-Sender profitieren
von der Arbeitswut junger Berufseinsteiger
Leider erwähnen Sie kaum eine nahe liegende umwelt- und Kosten schonende Alternative, die offenbar in England schon
stärker unterstützt wird, nämlich die Binnenschifffahrt. Sie ist für Massengüter aller
Art die einzig vertretbare Alternative.
Hier wird wunderbar klar und deutlich,
mit was für Bonsai-Intellektuellen wir es
bei manchen Privatsendern zu tun haben.
Und ebenso klar und deutlich wird, dass
obige Sender einem Jugendkult und Jugendwahn verfallen sind, den ich nur als
hochgradig neurotisch empfinden kann.
Nun gut, ich bin Jahrgang ’45 und gehöre,
natürlich, nicht jener Zielgruppe an, die
sich der größenwahnsinnige „Bureau
chief“ Calsow, 29, auf seine Sat-1-Fahne
gepappt hat. Aber Achtung und Warnung.
Dieses permanente Leben auf der Überholspur der TV- und Online-Junkies da in
leitender Position in ihren klimatisierten
Studios wird Opfer fordern: Drogen, Tabletten, Alkohol, Depressionen und Ängste
werden für viele so genannte jugendliche
TV-Macher tägliche Begleiter werden. Einige werden dabei, pardon, draufgehen.
Viele Macher und Macker werden einige
Betten in einschlägigen psychosomatischen
Kliniken voll machen. Und andere, wie angenehm, werden Bio-Bauern in der Toskana. Und wer bleibt übrig? Klar: Nur die
Harten komm’n in’n Garten.
Hannover
Bad Zwischenahn (Nieders.)
Selb (Bayern)
Prof. Philip Rosenthal
Staatssekretär a. D.
Keine Fluggesellschaft käme wohl auf die
Idee, eine ihrer Maschinen leer zurückfliegen zu lassen. Lkw dagegen transportieren zu 60 bis 70 Prozent doch nur Luft.
Nufringen (Bad.-Württ.)
Dr. Ernst Selter
Dr. Jochen Ohling
Europaweit müssen wieder zwei Fahrer auf
den Bock! Das bringt tausende neue Jobs
und macht die Straßen sicherer; die Verbraucher kostet das nur unerheblich mehr.
Wiesbaden
Ulrich Hegenberg
Ich bemühe mich seit 21 Jahren, als Betriebsrat die Interessen der Lkw-Fahrer zu
vertreten, wobei ich die Erfahrung machen
musste, dass die größeren Widerstände seitens der Kollegen kamen. Denn das mangelnde rechtliche Wissen, die ausgeprägte
Neigung zum Tricksen, gepaart mit fehlender Zivilcourage, der sich selbst bedauernden Kraftfahrer, hat an den Manipulationen und den daraus folgenden gefährlichen Missständen den größten Anteil.
Wieselburg (Österreich)
12
Peter Martin
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H.-D. Schmidt
„Die vom Radio sind Schnarcher“, sagt
RTL-Moderatorin Claudia Hessel. Woher
sie das nimmt, ist mir schleierhaft; gerade
beim Radio müssen Moderatoren heute unglaublich viel leisten. Sie sind nämlich nebenbei noch Techniker und müssen ihre
Sendungen selbst fahren. Man muss nicht
anderer Leute Licht auspusten, um das eigene leuchten zu lassen.
Hamburg
Ulf Ansorge
Sat 1: „17:30 Live aus Hamburg“
Die beschriebenen Praktiken kann ich bestätigen, leider wirken sie sich verheerend
auf die journalistische Qualität aus. Im Vorgespräch wird schnell deutlich, dass der Fragesteller das Interview nicht vorbereitet hat,
seine Allgemeinbildung eigentlich nur über
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Lücken verfügt und möglichst jedes Thema
auf Sensation getrimmt werden soll. Ein Bekannter hat ein Interview abgebrochen, als
die Fragestellerin seinen gängigen Namen
auch im dritten Anlauf nicht fehlerfrei mit
Titel aussprechen konnte. Ich habe ein
„Live“-Interview viermal aufzeichnen müssen, da die Journalistin die Fragen nicht mal
vom Teleprompter ablesen konnte. Den Vogel schoss eine Produktionsfirma für RTL
ab: „Jetzt brauchen wir noch ein 30-Sekunden-Statement. Bitte sagen Sie ungefähr …
Ich überlege mir gleich mal die Frage dazu.“
Hamburg
Jörn Müller
Pastor, Beauftr. f. Weltanschauungsfragen
Unter voller Zustimmung
Nr. 33/1999, Panorama: Kroatien
Sie zitieren den Haager Ankläger Gregory
Kehoe, der behauptet, der Plan für die Vertreibung von Muslimen „wurde von Franjo Tudjman entwickelt“ und General Bla∆kiƒ sei lediglich das „Werkzeug Zagrebs“
bei den Gräueltaten in Bosnien-Herzegowina gewesen. Die kroatische Staatspolitik,
geführt von Präsident Tudjman, hat sich
am aktivsten an der Schaffung der Föderation Bosnien-Herzegowina beteiligt. Fast
die ganze humanitäre Hilfe sowie die Belieferung mit militärischer Ausrüstung zur
Verteidigung von Bosnien-Herzegowina,
das heißt, zur Erhaltung des kroatischen
wie des bosnischen Volkes, wickelte sich
unter voller Zustimmung der kroatischen
Behörden über das kroatische Territorium
ab. Was die Zusammenarbeit mit dem Haager Tribunal betrifft, wird Kroatien die bisherige Ebene trotz großer Bestürzung über
das Plädoyer des Anklägers im Fall Bla∆kiƒ
erhalten. Kroatien hat das Recht zu erwarten, dass das Tribunal seine Entscheidungen auf Tatsachen begründet und nicht
auf Hypothesen und Spekulationen, die
den Rahmen des Prozesses sprengen.
Bonn
Stjepo Bartulica
1. Botschaftssekretär der Republik Kroatien
Planvoll bearbeitet
Nr. 34/1999, Geologie: Japanische UnterwasserPyramide begeistert die Esoteriker
T. MEYER / ACTION PRESS
Im Hochland von Peru, oberhalb der Stadt
Cuzco, liegt der „Kenko Grande“. Dies ist
ein gewaltiger Felsbrocken aus Granit,
der von den Ureinwohnern
planvoll bearbeitet wurde.
Auch dort zeigen die Plateaus Gefälle, auch dort
„steht keine Wand im rechten Winkel“. Auch dort enden „Treppen im Nichts,
und andere winden sich
wie Hühnerleitern“. Der
„Kenko Grande“ ist nur eines der Beispiele für unDäniken
verständliche Felsbearbeid e r
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tungen aus vorgeschichtlicher Zeit. Der
Geologe Wichmann würde wohl auch in
Peru „nichts Künstliches entdecken“.
In doppelter Hinsicht bürgerfeindlich
Wie Bilanzposten behandelt
Mainz
sicht bürgerfeindlich verwendete. Ein Staat,
der um die EU-Mitgliedschaft buhlt, darf
nicht Menschenrechte und die Sicherheit
seiner Bürger wie Bilanzposten behandeln.
Nr. 34/1999, Türkei: Die Wut des Volkes nach
dem großen Beben
Wächtersbach (Hessen) Karl-Heinz Grasselt
Tausende Menschen, die unter den Trümmern waren, hätten gerettet werden können, wenn der Staat rechtzeitig reagiert
hätte. Die Türkei hat über 800000 Soldaten,
und die Hälfte davon hätte sie sofort dort
einsetzen können. Sie hat dies nicht getan.
Jetzt werden weltweit Spenden gesammelt.
Werden sie die Verletzten und Obdachlosen erreichen? Gebt der türkischen Mafia
keine Chance.
Barbarische städtebauliche Ignoranz
Ottobrunn (Bayern)
Ismail Sahin
Statt Katastrophenvorsorge zu betreiben,
war es den Machthabern in Ankara wichtiger, einen teuren Krieg gegen einen Teil
der eigenen Bevölkerung kurdischer Abstammung zu führen. Dieser dem Völkerrecht Hohn sprechende ethnische Kampf
wurde und wird zum Teil mit Waffen aus
Deutschland geführt. Für die alte Bundesregierung war das eine gute Gelegenheit,
überflüssige NVA-Waffen zu verramschen.
Damit sorgte unsere alte Regierung dafür,
dass die mit uns verbündete Türkei einen
Großteil ihrer Einnahmen in doppelter Hin-
Nr. 34/1999, Panorama: Hauptstadt
Kaum zu glauben, was die Amerikaner da
vorhaben um die geplante Botschaft herum
am Pariser Platz – Betonkübel und Zäune
ausgerechnet an der Stelle, an der es schon
einmal Beton und Zäune gab. Wie das aussieht, erkennt man am jetzigen Sitz der
Botschaft. Grausig, grausig! Abgesehen von
der geradezu barbarischen städtebaulichen
Ignoranz, ist ihre historische Sensibilität
offenbar auf dem Nullpunkt. Dort, wo einst
Präsident Reagan das Verschwinden der
Mauer gefordert hat, soll wieder ein streng
bewachter Sicherheitsbereich mit einer Art
Betonmauer entstehen.
Berlin
Ting Chen
In dem Artikel wird ausgeführt: „Bis heute kann niemand erklären, warum Stephen
… überhaupt noch lebt“. Diese Ausführung ist mir unverständlich. Hätten Sie etwas recherchiert, hätten Sie festgestellt,
dass in der BRD circa einer von 100 000
Menschen an der Muskellähmung Amyotrophische Lateral-Sklerose (ALS) erkrankt. Wie Stephen überleben 10 bis 15
Prozent die ersten drei Jahre und können
durchaus mit der Krankheit alt werden.
Lübeck
Hans-Adolf Fretwurst
Wenn die 612 Seiten umfassende „Abrechnung“ der Ex-Frau keine belastenderen Passagen enthält als die erwähnten,
dann ist das Buch allerdings eines der besten Leumundszeugnisse, die ein Mann sich
nur wünschen kann. Zumal explizit erwähnt wird, dass die Ehe schließlich „über
Uwe-M. Troppenz
Der Streit um die Sicherheit der US-Botschaft in Berlin ist mir unverständlich.
Wenn die Amerikaner den Abriss des Brandenburger Tores und des Hotels Adlon verlangen, dann hat es eben zu geschehen.
Den Anordnungen der Besatzungsmacht
ist widerspruchslos Folge zu leisten.
Mannheim
Dr. Edgar Tomson
ACTION PRESS
Franz Hegele
Erdbebenopfer in Adapazari (Türkei)
Auch in unserem Jahrhundert hat es nicht
an genialen Physikern gefehlt, die ein vorbildliches Eheleben hatten. Zu nennen sind
hier der indischstämmige US-Physiker und
Nobelpreisträger Subrahmanyan Chandrasekhar, der sich ebenfalls mit Schwarzen
Löchern beschäftigt hatte und ein Wegbereiter für Hawking war, der Mitbegründer
der Quantenmechanik Niels Bohr und das
Physiker-Ehepaar Joliot-Curie. Auch geniale Physiker sind Menschen, haben menschliche Stärken und Schwächen. Auch geniale Physiker sind vom Charakter so vielfältig wie die Menschen, die uns umgeben.
L. HILTON / SOLO
Dass nicht sein kann, was nicht sein darf,
lässt sich auch in Giseh besichtigen: Die Innenflächen des Sarkophags in der Cheopspyramide sind bis in die Ecken ohne sichtoder fühlbare Bearbeitungsspuren, wie
rechtwinklig aneinander gefügte Glasplatten, nur aus einem Stück „gehauen“. Ebenso unglaublich präzise gefertigt wurden die
Granitquader des großen Tempels. Vielleicht ließe eine mikroskopische Untersuchung der innen liegenden Kontaktflächen
dieser Blöcke Rückschlüsse auf ihre Bearbeitung zu und damit auch auf die technischen Fertigkeiten einer „Superzivilisation“, die solches zu Wege brachte.
Grasbrunn (Bayern)
Nr. 34/1999, Klatsch: Die Ex-Frau des Physik-Genies
Stephen Hawking rechnet ab
Erich von Däniken
AFP / DPA
Beatenberg (Schweiz)
Auch geniale Physiker sind Menschen
Jane Hawking, Ex-Ehemann Stephen
Bestes Leumundszeugnis
VERANTWORTLICHER REDAKTEUR dieser Ausgabe für Panorama,
Außenpolitik, SPD, Politiker, Grüne, Titelgeschichte, Hochschulen:
Michael Schmidt-Klingenberg; für Regierung, Trends, Geld, Börse,
Sozialpolitik, Online-Dienste, Telefon, Computer, Deutsche Welle,
Zeitschriften: Armin Mahler; für Städte, Prozesse, Affären, Korruption,
Stasi, Kosovo (S. 190), Chronik: Ulrich Schwarz; für Fernsehen, Szene,
Schriftsteller, Krimis, Bestseller, Kino, Musical, Intellektuelle, Ausstellungen: Dr. Mathias Schreiber; für Panorama Ausland, Indien,
Venezuela, Europa, Russland, Türkei, Dagestan: Erich Wiedemann; für
Katastrophen,Prisma,Umweltschutz,Gentechnik,Tiere,Medizin: Johann
Grolle; für Spiegel des 20.Jahrhunderts: Dr.DieterWild; für Fußball,Olympia: Alfred Weinzierl; für die übrigen Beiträge: die Verfasser; für Briefe,
Register, Personalien, Hohlspiegel, Rückspiegel: Dr. Manfred Weber; für
Titelbild: Stefan Kiefer; für Layout: Rainer Sennewald; für Hausmitteilung:
Hans-Ulrich Stoldt; Chef vom Dienst: Thomas Schäfer (sämtlich Brandstwiete 19, 20457 Hamburg)
TITELILLUSTRATION: Rafal Olbinski für den SPIEGEL
Großer Respekt
Nr. 34/1999, Luxus: Prada greift nach Jil Sander
Freiburg
Meine von Ihnen stark gekürzten Zitate
unterschlagen leider den großen Respekt,
den ich vor der Leistung meiner Kollegin
Jil Sander habe; bedenkt man allein die
Tatsache, dass es für unseren Beruf damals
keinen Background und keine Vorbildung
gab. Erregung und Streitlust waren mir bei
meinen Äußerungen Ihren Redakteuren
gegenüber völlig fern.
Potsdam
14
die Pflege des Schwerkranken zerbricht“ –
also nicht an seiner „üblen Tyrannei“.
d e r
Wolfgang Joop
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Sascha Lang
Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit Anschrift und Telefonnummer – gekürzt zu veröffentlichen.
In der Heftmitte befindet sich in einer Teilauflage ein
zwölfseitiger Beihefter von C&A, Düsseldorf. In einer
Teilauflage klebt ein Prospekt der NKL Werbegemeinschaft Nord, Kiel, sowie eine Postkarte des SPIEGEL-Verlages/Abo, Hamburg, bei. Einer Teilauflage liegen Beilagen
der Firmen Gruner + Jahr, Hamburg, sowie der Niedersächsischen Sparkassenstiftung, Hannover, bei.
Werbeseite
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Werbeseite
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Deutschland
Panorama
Z WA N G S A R B E I T E R
Zehn Milliarden
oder mehr
CDU
Berichte für Pieroth
E
ine clevere Wahlkampf-Idee des
früheren Berliner Senators und heutigen Osteuropa-Beauftragten des Regierenden Bürgermeisters, Elmar Pieroth
(CDU), droht nun dessen
Ansehen im Osten Berlins zu
gefährden. Pieroth hatte
1995 sogenannte Wohnzimmergespräche initiiert, bei
denen Westpolitiker und
Prominente Ost-Berlinern in
deren Wohnungen begegnen.
Dabei, so das Versprechen,
wolle man offen miteinander
reden. Inzwischen fanden
mehrere hundert solcher
Gespräche statt – aus Grün- Pieroth
dass sich weitere Betriebe der Stiftung
anschließen, damit die Einlage steigt. Die
Stiftung rechnet aber damit, dass sich in
diesem Fall die Beiträge der einzelnen
Unternehmen verringern.
Um das drohende Scheitern der Verhandlungen zu verhindern, die auf USSeite der stellvertretende Finanzminister
Stuart Eizenstat führt, trifft Bundeskanzler Gerhard Schröder an diesem
Montag in Berlin die Vertreter der
Industriestiftung. Schröder will mit ihnen klären, wie weitere deutsche Betriebe zu Zahlungen veranlasst werden kön-
den der Vertraulichkeit generell ohne
Presse.
Was die Ost-Berliner, die den Westbesuch einließen, nicht wussten: Für
Pieroths Ehefrau Hannelore, die für die
Organisation verantwortlich war, fassten die Gäste Berichte über
die Begegnungen ab. Die
Texte wecken zum Teil böse
Erinnerungen an DDR-Zeiten. So schrieb Finanzstaatssekretär Peter Kurth
über sein Treffen mit einem
Ehepaar aus Berlin-Hellersdorf: Die Frau sei eine „interessante Schlüsselfigur für
Hellersdorf“. Sie und ihr
Gatte hätten offensichtlich
sehr lebhaften Kontakt zur
katholischen Kirchengemeinde. „Welche Kontakte
gibt es dorthin?“, fragte der
d e r
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AP
Zwangsarbeiter in Bremen (1943)
DPA
ei den Gesprächen über die Entschädigung für ehemalige NS-Zwangsarbeiter droht ein kaum zu lösender Konflikt um die zu zahlenden Summen. Nach
Berechnungen des Historikers Lutz Niethammer, der die Bundesregierung berät,
müsse von bis zu 875 000 „Bezugsberechtigten“ ausgegangen werden, darunter rund 232 000, die in Konzentrationslagern einsaßen.Würden diese jeweils mit
15 000 Mark und die anderen IndustrieZwangsarbeiter mit 10 000 Mark entschädigt, müsse ein „Gesamtaufwand von
9,922 Milliarden Mark ohne Verwaltungskosten“ einkalkuliert werden. Die
amerikanischen Anwälte der Opfer verlangen sogar 30 Milliarden Mark.
So viel will die Industrie keinesfalls zahlen: Die 16 deutschen Konzerne, die sich
bisher der „Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft“ angeschlossen haben,
wollen im Höchstfall drei Milliarden
Mark bereitstellen – und damit nach
Niethammers Berechnungen pro KZHäftling nur wenige tausend Mark. Dies,
so fürchtet der Historiker, würde die
„Akzeptanzschwelle vor allem in den
Vereinigten Staaten bei weitem verfehlen“. Der VW-Konzern zahlt seinen
früheren Zwangsarbeitern 10 000 Mark.
Der Verhandlungsführer der Bundesregierung, Otto Graf Lambsdorff, verlangt,
STAATSARCHIV BREMEN
B
Lambsdorff, Eizenstat
nen. Zudem soll besprochen werden, wie
Bund und Industrie sich die Entschädigungsleistungen aufteilen.
Berichterstatter bei Pieroth nach. Es sei
um „ein bisschen Rückkopplung“ gegangen, erklärt Pieroth das Berichtswesen. Jeder Westler habe den Auftrag
gehabt, herauszufinden, welche OstBerliner zu Wohnzimmergesprächen bereit wären. Einer der Besuchten sieht
das nicht so locker: „Das liest sich wie
meine Stasi-Akte.“
Zitat
»Bundespräsident Roman
Herzog hat nicht gesagt,
es soll ein Struck durchs
Land gehen.«
Der grüne Bundestagsabgeordnete Werner
Schulz über das Sommertheater des
SPD-Fraktionsvorsitzenden Peter Struck
17
Panorama
B I O WA F F E N
Nicht geimpft
V
S. SCHULZ / RETRO
or wachsenden Risiken durch
biologische und chemische Waffen warnt der stellvertretende Chef
der Bundeswehr-Sanitätsakademie,
Thorsten Sohns. Fortschritte in der
Biotechnologie machten es immer
leichter, heimlich solche tückischen
Substanzen herzustellen. Die Frage
sei nicht mehr, „ob“ sie von diktatorischen Regimen, Terroristen oder
Verbrechern eingesetzt würden, sondern „wann und wo“. Laut Sohns
hat die Bundeswehr zur Abwehr
zwar „Konzeptionen aufgeschrieben“, aber im Verteidigungshaushalt Bundeswehrsoldaten bei einer Übung in ABC-Schutzanzügen
gebe es nicht einmal einen „eigenen
Etatposten“. Besonders bei Friedenseinsätzen fern der Heimat 700 Millionen Dollar zum Schutz vor chemischen und biologisei die Truppe gefährdet, erklärte der Oberst-Arzt bei einer schen Waffen ausgeben.
Fachtagung in Bonn: Nach einem Bio-Angriff mit Seuchen- Auch die jugoslawische Armee habe Kampfstoffe produziert.
Erregern könnten sich „Epidemien weltweit ausbreiten und Eine „Garantie“, dass „alle sicher unter Verschluss“ lägen,
gebe es nicht, so der Wehrmediziner. Daher sei „nicht auszuauch die Zivilbevölkerung bedrohen“.
Die Vereinigten Staaten von Amerika wollen ihre Truppen schließen“, dass sie „in die Hände von Bürgerkriegsparteien
jetzt gegen Milzbrand impfen lassen und im nächsten Jahr oder Terroristen fallen könnten“.
FUSSBALL
Plädoyer für Fitmacher
A
GES
nabolika für Berufsfußballer sollten
kontrolliert freigegeben werden.
Das fordert der Sportmediziner Wilfried
Schießler, der seit 1994 die Spieler des
1. FC Nürnberg mit betreut. Profikicker
sollen sich nach einer Verletzungspause
mit Anabolika in Form bringen dürfen,
so Schießler, um wieder den Anschluss
an ihr vormaliges Leistungsniveau zu
schaffen.
Die legalisierte Verabreichung verhindere, dass Kicker während der Rehabilitationsphase auf dem
Schwarzmarkt zu vermeintlichen Fitmachern
greifen. Denn dort, weiß
Schießler, „werden sogar
Viehmastmittel gemahlen
und in Tablettenform gepresst“. Zu Spielen antreten dürften die Spieler
aber erst wieder, wenn
sich die Mittel nicht mehr
nachweisen lassen. Entfacht wurde die Dopingdiskussion durch den positiven Test des Nürnberger
Profis Thomas Ziemer.
Der Schützling Schießlers
war vier Wochen verletzt
gewesen, bevor im ersten
Spiel nach der Genesung
in seinem Urin anabole
Substanzen nachgewiesen
wurden. Der Fußballer
bestreitet indes, verbotene Mittel genommen zu
haben.
Ziemer
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d e r
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B U N D E S H AU S H A LT
Keine Abgabe, keine
Vermögensteuer
B
undesfinanzminister Hans Eichel
(SPD) hat trotz des Drängens zahlreicher Linker in der SPD-Bundestagsfraktion nicht vor, eine Abgabe auf Vermögen – etwa auf Haus- und Grundbesitz – einzuführen. „Wir werden das
prüfen“, heißt zwar die Linie im Finanzministerium. Aber Eichel lehne, so
ein Mitarbeiter, die Abgabe ebenso ab
wie die Vermögensteuer. Zunächst hatten die Linken die Steuer gefordert, waren aber am Argument von Eichel und
Bundeskanzler Gerhard Schröder gescheitert, diese nutze nur den Länderhaushalten, nicht dem Bund. Außerdem
gebe es selbst unter den Ländern keine
Mehrheit für die Wiedereinführung der
1997 abgeschafften Steuer. Eine Vermögensabgabe dagegen könnte der Bund
allein einführen, allerdings nur unter
drei Bedingungen: Sie müsste einen triftigen Grund haben, zeitlich befristet
sein, und ihr Aufkommen müsste einer
fest umrissenen Gruppe zugute kommen. Die „Gruppennützlichkeit“ hatte
das Bundesverfassungsgericht in mehreren Entscheidungen zwingend vorgeschrieben.
Deutschland
GELDPOLITIK
Mark im Kosovo
D
AFP / DPA
ie Deutsche Mark, ohnehin das
gängige Zahlungsmittel im Kosovo,
ist nun von der Uno faktisch zur Hauptwährung gemacht worden. Vergangenen
Freitag führte die Uno-Verwaltung im
Kosovo die Mark als Zahlungsmittel für
ihre offiziellen Transaktionen ein. Der
Wechselkurs zum jugoslawischen Dinar
wird fortan durch den freien Markt fest-
gelegt und nicht mehr von Belgrad.
Auf die deutsche und europäische Geldmengenpolitik hat das nach Meinung
von Experten keinen Einfluß: Schon
bisher sind große Teile des deutschen
Bargeldbestands im Ausland im Umlauf.
Allerdings, so sagt ein Mitglied des
Frankfurter Zentralbankrats, wäre eine
„monetäre Komplettabkopplung“ des
Kosovo von Jugoslawien politisch bedeutsam: Die „monetäre Grenze“
könnte als Vorbote einer faktischen
Staatsgrenze interpretiert werden – vor
allem, wenn die Hauptwährung von
der Siegermacht eingeführt werde.
Die Serben könnten sich in dem
Verdacht bestätigt sehen, die Uno
betreibe mit ihrer Geldpolitik die
Loslösung des Kosovo. Wie die Kosovaren später ihr deutsches Geld in
Euro umtauschen sollen, ist noch
unklar: Der Umtausch wird zum
1. Januar 2002 nötig. Wie dann das
Bankensystem im Kosovo arbeitet,
weiß niemand. „Wir haben schließlich keine Landeszentralbank in
Pri∆tina“, so der Bundesbanker.
Kosovaren beim D-Mark-Tausch
AU S B I L D U N G
Große Worte – kleiner Etat
M
it dem Slogan „Ausbilden werden wir alle“ wirbt die Bundesregierung derzeit
in Anzeigenkampagnen um zusätzliche Lehrstellen in der Wirtschaft – und baut
währenddessen selbst Ausbildungsplätze ab. Vom kommenden Jahr an will das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, das dem Innenministerium
(BMI) untersteht, die Ausbildung Jugendlicher einstellen. Derzeit gibt es 164 Auszubildende in dem Amt. In einem 16-seitigen Brief hatte dessen Präsident Hans Georg
Dusch dem BMI dargelegt, dass seine Behörde die geforderten rund 47 Millionen
Mark zusätzlicher Einsparungen „nur über Personalabbau“ erbringen könnte. Weil
die Mitarbeiter durch Arbeits- und Beamtenrecht geschützt sind, konnte Dusch nur
einen konkreten Sparvorschlag in Höhe von 8,8 Millionen Mark bis 2003 machen:
keine Lehrstellen mehr. Und das, obwohl sich die Bundesregierung eigentlich dafür
ausgesprochen habe, „auch in den öffentlichen Verwaltungen über Bedarf“ auszubilden. Das Innenministerium stimmte zu.
Hombach ohne Vertrag
B
islang arbeitet der Balkan-Koordinator der
EU, Bodo Hombach, ohne
gültigen Arbeitsvertrag. Die
Kommission in Brüssel zögert mit der Vorlage eines
Angebots. Ex-Kanzleramtschef Hombach will sich
deshalb in dieser Woche zu
einem Gespräch mit dem
designierten Kommissionspräsidenten Romano Prodi
treffen. Streit gibt es beiHombach
spielsweise um seinen
d e r
Brüsseler Amtssitz. Mitte September
will das Europäische Parlament über
einen Antrag abstimmen, wonach
Hombachs Amtssitz nicht in Brüssel,
sondern im griechischen
Thessaloniki liegen soll.
Diesen Ort hatten sich die
Griechen ausbedungen, als
Bundeskanzler Gerhard
Schröder die Zusage für
den Koordinatorenjob
Hombachs in Südosteuropa erhielt. Im Auswärtigen
Ausschuss des EU-Parlaments wird sich der neue
Balkan-Beauftragte am
22. September einem Hearing stellen.
s p i e g e l
REUTERS
E U R O PA
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Panorama
Deutschland
Am Rande
Witze leben von
Vorurteilen, zum
Beispiel
dieser
hier: Was ist der
Unterschied zwischen einem Türken und einem
Sachsen?
Ganz
einfach: Der Türke
hat Arbeit und
kann Deutsch.
Gegen Präjudizien muss man
kämpfen, und da steht dem Lande Sachsen ein schwerer Kampf
bevor. Die Einwohner des Freistaats sind nämlich gleich zweifach stigmatisiert: Sie sind –
schlimm genug – Ossis, und sie
pflegen eine Sprache, die nur erträglich ist, wenn sie von einem
Gebärdendolmetscher vorgetragen wird. Soweit die Vorurteile.
Nun zur Gegenstrategie: Eine Initiative „Sachsen für Sachsen“ hat
in einer Anzeigenkampagne als
„Argumente für den Standort
Sachsen“ bis zu 176 Bürger abgebildet und je ein Sprüchlein aufsagen lassen – was wohl authentisch wirken soll, in Wahrheit aber
so aussieht wie ein Plakat vom
Suchdienst des Roten Kreuzes.
Außerdem sagen die Bürger nur
mäßig kluge Sätze – was zwar
womöglich authentisch ist, aber
im Sinne der Standortwerbung
eher kontraproduktiv.
In der „FAZ“ gibt es etwa das
Statement eines Mannes aus
Brockwitz: „Sachsen, wo die schönen Mädchen wachsen“, sagt er.
Das wäre ein akzeptabler Werbespruch gewesen, hätte der Mann
nicht angefügt: „Seit Jahren suche
ich die Bäume ab, ohne Erfolg,
aber es hält mich auf Trab.“ Daraus lernt der Nicht-Sachse folgendes: a) Es gibt keine schönen Frauen in Sachsen; b) Sachsen wollen
immer nur das Eine; c) Sachsen
wohnen auf Bäumen – oder wahlweise d) Sachsen glauben, dass
Sachsen auf Bäumen wohnen.
Wer, bitte, hat hier Vorurteile?
20
K.-D. FRANCKE / BILDERBERG
Schönes Vorurteil
Island-Pferde
Z O L L FA H N D U N G
Weit unter Marktpreis
M
ehr als 1000 Besitzer von importierten Island-Pferden sind bundesweit ins Visier der Zollfahndung geraten. Ihnen wird Betrug und Steuerhinterziehung vorgeworfen. Sie sollen die
Kleinpferde zu einem Scheinwert von
etwa 1000 Mark gekauft und die fälligen
Abgaben – 18 Prozent Einfuhrzoll und 7
Prozent Mehrwertsteuer – lediglich auf
diese Summe gezahlt haben. Tatsächlich
liegt der Marktpreis der Rasse-Tiere jedoch zwischen 5000 und 250 000 Mark.
P I E TÄT
Bahn sprengt Gruft
Die Differenz, vermuten die Ermittler,
sei jeweils schwarz geflossen. Der Steuerkasse entgingen so mehrere Millionen
Mark.
Die vermutlichen Drahtzieher, ein
Spediteur aus Nienburg/Weser und ein
isländischer Kaufmann, sollen die Rechnungen gefälscht und so die Zollbehörden bei der Einfuhr der Tiere getäuscht
haben. Neben Abgabenhinterziehung
ermittelt der Zoll auch wegen Geldwäsche. So soll ein norddeutscher Gastronom durch den Kauf der Tiere zum offiziellen Scheinwert und den späteren
Verkauf zum tatsächlichen Wert sein
Schwarzgeld „gewaschen“ haben.
könne durch die Arbeiten gestört werden. Die Bahn hatte den Kritikern stets
versichert, es gebe keinen Grund für
solche Befürchtungen.
B
eim Bau der neuen ICE-Strecke
Köln–Rhein/Main ist der Bahn eine
makabre Panne unterlaufen: Während
der Bohrungen für einen Tunnel unter
dem Friedhof in Sankt Augustin bei
Bonn schoss plötzlich aus einem Grab
Bohrflüssigkeit mit Hochdruck nach
oben und übergoss rund 20 weitere
Gruften mit Betonitschlamm. Das verwüstete Grab gehört ausgerechnet dem
verstorbenen Kirchenvorstands-Vize
Andreas Schmitz – einst Wortführer gegen die umstrittene Untertunnelung
von Gotteshaus und Friedhof. Vor seinem Tod Anfang 1998 hatte sich
Schmitz mit der Unterstützung des
Bistums Köln im Planfeststellungsverfahren entschieden für eine andere Tunnel-Trasse ausgesprochen. Der Sankt
Augustiner Ehrenbürger hatte sich unter anderem gesorgt, die Totenruhe
d e r
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Nachgefragt
Wenig exponiert
Welches internationale Großereignis findet im Jahr 2000 in
Hannover statt?
Angaben in Prozent
GESAMT Männer Frauen
richtige Antwort
„Expo 2000“
51
61
42
falsche Antwort
7
7
6
weiß nicht
41
30
52
Emnid-Umfrage für den SPIEGEL vom 31. August und 1. September; rund 1000 Befragte; an 100 fehlende Prozent: ist mir egal
Werbeseite
Werbeseite
Deutschland
REGIERUNG
Raus aus der Jobfalle
Die von der Koalition versprochene Wende auf dem Arbeitsmarkt ist bisher ausgeblieben –
und sie wird auch weiter auf sich warten lassen. Namhafte Ökonomen mahnen
deshalb dringend Reformen an, das Sparen allein schaffe noch keine neuen Arbeitsplätze.
H
ARIS
einer Flassbeck, ehedem Staatssekretär
und
ökonomischer
Vordenker Oskar Lafontaines,
sieht seit dem Abgang seines
Mentors in der deutschen
Wirtschaftspolitik nur noch
die Kräfte des Bösen am
Werk. Bundeskanzler Gerhard
Schröder und sein neuer Kassenwart Hans Eichel praktizierten einen neoliberalen
Kurs so radikal wie sonst nirgendwo auf der Welt.
„Deren ganzes Programm
besteht doch nur aus Sparen,
Sparen, Sparen“, schimpft der
stets um die Nachfrage bangende Privatgelehrte. Das
eigentliche Ziel der Wirtschaftspolitik habe die Bundesregierung dabei völlig aus
den Augen verloren: „Von der
Beseitigung der Arbeitslosigkeit redet niemand mehr.“
Ähnlich kritisch fällt das
Urteil der Opposition aus.
„Die haben ihr angeblich
wichtigstes Ziel, die Arbeits- Kanzler Schröder mit Arbeiterinnen*: „Dann haben wir es nicht verdient, wieder gewählt zu werden“
losigkeit zu senken, komplett
verdrängt“, höhnt Wolfgang Schäuble, der über den Umweg niedriger Steuern und publik wurden, hatten sich die GewerkPartei- und Fraktionschef der Union. Und Sozialversicherungsbeiträge die Unter- schaften geweigert, darüber zu diskutieren.
Der eigene Anspruch ist hoch. Am Abein Beamter aus dem Kanzleramt bekennt: nehmen und Arbeitnehmer auch entlastet,
„In unseren internen Debatten spielt das werde erst in ein, zwei Jahren die lahmen- bau der Arbeitslosigkeit wolle er sich mesde Jobmaschine der Deutschland AG in sen lassen, hatte der Wahlkämpfer Schröganze Thema längst keine Rolle mehr.“
Der Kampf gegen das Übel der Massen- Gang bringen. Und so fürchten die Exper- der versprochen. „Wenn wir in vier Jahren
arbeitslosigkeit hat derzeit keine rechte ten, dass das eigentliche Ziel des Kanzlers, die Arbeitslosigkeit nicht wirklich signifiKonjunktur. Seit Monaten wird das Regie- nämlich mehr Jobs zu schaffen, beim ver- kant zurückgeführt haben, dann haben wir
rungshandeln bestimmt von den immer balen Schlagabtausch ums Sparen zuse- es nicht verdient, wieder gewählt zu werden.“ Schröders damaliger Mitregent Lagleichen Themen: vom eisenharten Kon- hends in den Hintergrund gerät.
Vor allem Schröders Prestigeobjekt, das fontaine legte sogar noch einen drauf:
solidierungskurs des Finanzministers, vom
öffentlichen Zank um die Rente oder die Bündnis für Arbeit, dümpelt ziemlich ori- „Nach vier Jahren muss eine zwei vor dem
entierungslos vor sich hin. Erst in einigen Komma stehen“, kündigte der damalige
Kürzungen bei der Bundeswehr.
Dass Eichel, anders als sein Vorgänger Wochen soll die Spitzenrunde wieder ta- Parteivorsitzende an. Weniger als drei MilLafontaine, den Haushalt sanieren will, gen. Noch immer sind dutzende Beamte, lionen Arbeitslose soll es demnach im Jahbringt dem korrekten Kassenwart zwar Wirtschaftsvertreter und Gewerkschafter re 2002 geben.
Doch zum Besseren gewendet hat sich
auch manches Lob aus der skeptischen in neun Arbeitsgruppen dabei, sich auf eine
Ökonomenzunft ein; selbst die regierungs- Problemanalyse für den maladen Arbeits- bislang wenig, im Gegenteil. Seit einem
kritische „Frankfurter Allgemeine“ adelte markt zu einigen. Derweil verschwanden halben Jahr steigen die Arbeitslosenzahlen,
vergangene Woche den eisernen Hans für die Pläne des Kanzleramts für einen sub- wenn man sie von allen jahreszeitlichen
sein 30-Milliarden-Paket: „Als Bettvorle- ventionierten Niedriglohnsektor wieder in Einflüssen bereinigt, wieder stetig an (sieder Schublade. Weil die Details vorher he Grafik). Erst bremsten die Spätfolgen
ger gesprungen, als Tiger gelandet.“
der Asienkrise den Export, dann irritierte
Doch Sparen allein, so mahnen die Auguren in den Forschungsinstituten, genüge * Beim Besuch der Eko Stahl AG Eisenhüttenstadt am das nervige Gezerre um Steuerreform und
630-Mark-Jobs die Investoren.
auf Dauer nicht. Denn der Sparkurs, der Mittwoch vergangener Woche.
22
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Dezember
4,15
Oktober
1998
November
4,12
4,12
Juni
Juli
4,12
4,12
Mai
4,11
April
Januar
1999
März
4,08
4,08
4,09
F. R O G N E R / N E T Z H A U T ; W. M . W E B E R /A R G U S
4,08
Februar
Ziel verfehlt
Arbeitslose seit der Bundestagswahl
in Millionen; saisonbereinigt
Angaben gerundet
Deshalb kann Bernhard Jagoda vorerst
keine Entwarnung nach Berlin melden.
Wenn er diese Woche die neuesten Zahlen
aus Nürnberg vorlegt, werden erneut rund
4,03 Millionen Menschen ohne Arbeit sein,
genauso viele wie im Juli. Der Präsident
der Bundesanstalt für Arbeit wird wahrscheinlich von einer „Seitwärtsbewegung“
sprechen, saisonbereinigt wird die Zahl sogar wieder steigen.
Die trübe Lage ficht Schröder vorerst
nicht an. Trotz anhaltender Beschäftigungsflaute ging er in der vergangenen
Woche bei seiner ersten Pressekonferenz
in Berlin in die Offensive. Im Vergleich zum
Vorjahr werde die durchschnittliche
Arbeitslosenzahl 1999 um 200 000 Personen sinken, stellte er in Aussicht: „Wir
werden in der zweiten Hälfte dieses Jahres
ein Wachstum haben, das uns insgesamt
über das Jahr gesehen eher an 2 Prozent
als an 1,6 Prozent heranbringen wird, was
wir zu Beginn des Jahres prognostiziert
hatten“, so der Bundeskanzler zuversichtlich. Noch besser sehe es im nächsten
Jahr aus.
Wirtschaftsfreund Schröder lässt sich
mitreißen vom Optimismus der Deutschen
Bank. Deren Frankfurter Ökonomen sagen für das Jahr 2000 ein Wirtschaftswachstum von drei Prozent voraus. „Die
Stimmung ist ins Positive gekippt“, glaubt
Ulrich Beckmann, Chef der bankeigenen
Konjunkturforschung. Alle Welt sei dabei,
die Prognosen nach oben zu korrigieren.
Doch während die Banker in Optimismus machen, bleiben die Experten der
Regierung skeptisch. Derzeit sprächen
politische Gründe dafür, die Wachstumsprognose der Bundesregierung für 1999 aufrechtzuerhalten, heißt es in einem internen
Vermerk des Bundeswirtschaftsministeriums. Es dürfte schwierig werden, überhaupt
1,6 Prozent zu erreichen, geschweige denn
die vom Kanzler prophezeiten 2 Prozent.
„Bereits ein Jahresdurchschnittswert von
1,3 Prozent setzt eine spürbare Belebung im
weiteren Verlauf dieses Jahres voraus“,
schreiben die Beamten von Wirtschaftsminister Werner Müller.
Erst im kommenden Jahr werde sich die
Konjunktur wirklich beschleunigen. Die
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Müller-Beamten machen dabei zwei Szenarien auf: Wächst die Wirtschaft im Jahr
2000 um 2,4 Prozent, werde die Arbeitslosigkeit erstmals seit 1996 wieder unter die
Vier-Millionen-Marke rutschen, auf durchschnittlich 3,91 Millionen. Doch liege auch
„ein günstigeres Ergebnis in der Größenordnung von drei Prozent durchaus im Bereich des Möglichen“. Dies könnte „zu einer weiteren Reduktion der Arbeitslosigkeit um rund 50 000 führen“. Allerdings
mahnen Müllers Experten zur Vorsicht:
„Da sehr viel davon abhängt, dass die erwartete Entwicklung im 2. Halbjahr 1999
tatsächlich eintritt, ist es für öffentliche
Ankündigungen noch zu früh.“
Auch der Rückgang der Arbeitslosigkeit
in diesem Jahr, den der Kanzler fröhlich
vermarktet, hat wenig mit dem „Paradigmenwechsel“ (Schröder) in der Politik zu
tun. Dass die Arbeitslosenzahl in diesem
Jahr um 200 000 zurückgeht, ist nicht viel
mehr als eine optische Täuschung. „Der
einzige Grund dafür ist das Schrumpfen
des Erwerbspersonenpotenzials um 200000
Personen“, weiß Joachim Scheide, Kon23
Deutschland
U. BAATZ
doch solch ein Boom muss, wie das
Vorbild USA anzeigt, sehr lange
anhalten, damit sich Erfolge auf
dem Arbeitsmarkt zeigen. Der
strikte Sparkurs, der den Kapitalmarkt entlastet und so die Zinsen
für Investitionen niedrig hält, kann
dazu einen Beitrag leisten. Einen
zusätzlichen Schub soll, so hofft
Schröder, die versprochene Unternehmensteuerreform 2001 bringen.
Egal wie, beide Varianten sind mit
Einschnitten in Besitzstände verbunden. Der Protest der Betroffenen ist
programmiert: Arbeitsminister Walter Riester erlebt dies gerade exemplarisch bei seinen Bemühungen, das
Rentensystem zu reformieren. „Es
ist das Dilemma einer solchen beschäftigungsfördernden Politik, dass
die Belastungen sofort als schmerzlich empfunden werden, die Erfolge
sich aber erst nach einigen Jahren
herausstellen“, merkt Rüdiger Pohl,
Präsident des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH), an.
Die Regierung Schröder habe mit
ihrer Entscheidung, die Reformen der
alten Koalition zurückzunehmen, gleich zu
Anfang die falschen Signale gesetzt, meint
der frühere Wirtschaftsweise, den die Gewerkschaften Mitte der achtziger Jahre in
den Sachverständigenrat entsandten. Erst in
jüngster Zeit sei die Regierung mit dem
Sparpaket auf dem richtigen Weg. Sie habe
aber versäumt, der Öffentlichkeit klarzumachen, dass die Konsolidierung der Staatsfinanzen eine Voraussetzung auch für den
Aufschwung am Arbeitsmarkt sei.
Ganz ungewohnte Anerkennung wird
Schröder und seinem Sanierer Eichel erstmals auch aus Washington zuteil. In seinem
noch unveröffentlichten „World Economic
Outlook“, der Prognose für die Weltwirtschaft, lobt der Internationale Währungsfonds (IWF) das Sparpaket der Bundesregierung. Das Ziel eines ausgeglichenen
Haushalts, das Eichel für das Jahr 2006 anstrebt, findet ausdrückliche Unterstützung.
Zwar seien auch die von der Bundesregierung angestrebten Reformen des Steuer- und Sozialsystems notwendig, um die
Arbeitslosigkeit zu senken, heißt es da. Getan sei es damit aber noch lange nicht.
Vor allem müsse die Regierung die Reform des Arbeitsmarkts angehen, mahnen
die IWF-Ökonomen. Dazu gehörten Änderungen bei der Arbeitslosenunterstützung, beim Kündigungsschutz und beim
Tarifverhandlungs-System. Diese Maßnahmen seien „längst überfällig“, so der
Bericht.
Die Empfehlungen zur Flexibilisierung
des Arbeitsmarkts seien im umstrittenen
Schröder-Blair-Papier zumindest angedeutet, findet IWH-Präsident Pohl. Für den
Kanzler und seine Mannschaft gelte jetzt
das Motto: „Nun macht doch mal.“
Arbeitsminister Riester: Erst Einschnitte, dann Erfolge?
junkturexperte am Kieler Institut für Weltwirtschaft.
Der sperrige Fachbegriff beschreibt eine
Folge der alternden Gesellschaft: Immer
mehr Erwerbstätige oder Arbeitslose verlassen den Arbeitsmarkt, weil sie das Rentenalter erreichen, immer weniger Junge
rücken nach. Dieses Phänomen werde sich
auch in den kommenden Jahren fortsetzen, sagt Scheide voraus. Bis zum Jahr 2002
könnte die registrierte Arbeitslosigkeit allein durch diesen Effekt auf 3,5 Millionen
Personen sinken. „Das sieht dann natürlich
eindrucksvoll aus“, sagt Scheide, „passiert
wäre aber gar nichts.“
Deshalb sollten Politiker und Bevölkerung nicht allein auf die Arbeitslosenstatistik starren, empfehlen Wissenschaftler. Viel aussagekräftiger sei die Entwicklung der Beschäftigung – doch auch die
schwächelt. Deshalb wollen Schröder und
Eichel, trotz aller Sparzwänge, nun die Mittel für ABM-Kräfte auf sechs Milliarden
Mark aufstocken. Das soll einen Schub am
zweiten Arbeitsmarkt bringen, vor allem
auch in Ostdeutschland; dort hatte Helmut
Kohl die Fördergelder passend zur Wahl
kräftig angehoben, im Haushalt 1999 dagegen wollte Finanzminister Theo Waigel
den Posten wieder zusammenstreichen.
Gleichwohl muss die Regierung auf einen außergewöhnlichen Wirtschaftsboom
hoffen, damit mehr Jobs entstehen. Erst ab
einem Plus von merklich über zwei Prozent schaffen deutsche Unternehmen neue
Arbeitsplätze. In Ländern mit flexibleren
Arbeitsmärkten, zum Beispiel in Holland
und den USA, liegt diese Schwelle deutlich
niedriger (siehe Tabelle).
Dass der Jobmotor in Deutschland spät
anspringt, hat nach Ansicht konservativer
24
Ökonomen vor allem mit den hohen Löhnen und dem unflexiblen Arbeitsmarkt zu
tun. Als Beispiele nennen sie etwa den
stark reglementierten Ladenschluss. Oder
auch den verschärften Kündigungsschutz:
Bevor die Bosse bei steigender Auftragslage neue Leute einstellten, so lautet das
Argument, ließen sie lieber die vorhandene Belegschaft Überstunden machen.
Aus der Jobfalle gibt es für die Regierung deshalb nur zwei Auswege:
π Zum einen kann Schröders Truppe versuchen, das Wirtschaftswachstum jobintensiver zu machen. Dazu müsste der
Arbeitsmarkt flexibler werden. Auch das
starre Tarifrecht müsste durchforstet und
durchlässiger werden. In letzter Konsequenz bedeutet dies, dass Betriebsrat
und Firmenleitung ganz legal aus dem
Flächentarifvertrag aussteigen können
und vor Ort die Löhne aushandeln.
π Zum anderen könnte der Kanzler auf
ein gewaltiges Wachstumsplus bauen –
Wachstum und Arbeitsplätze
Was bringt ein Prozent Wirtschaftswachstum jährlich für den
Zu- und Abnahme
Arbeitsmarkt?
der Erwerbstätigen
Basis: 1990 bis 1997, Quelle: OECD
Niederlande
USA
Österreich
Dänemark
Großbritannien
Frankreich
Deutschland
Italien
d e r
s p i e g e l
+0,68%
+0,54%
+0,18%
+0,08%
–0,04%
–0,09%
–0,18%
–0,60%
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Christian Reiermann, Ulrich Schäfer
AU S S E N P O L I T I K
Ein latenter Verdacht
Sechzig Jahre nach dem deutschen Überfall auf Polen werben Bundespräsident Rau,
Bundeskanzler Schröder und Außenminister Fischer
um gute Nachbarschaft. Viele Menschen in beiden Ländern bleiben misstrauisch.
A. VOELKEL / MELDEPRESS
F
ast wirkte es schon alltäglich. Zum
zweiten Mal in einer Woche schüttelte der polnische Präsident Aleksander
Kwaśniewski demonstrativ herzhaft die
Hand eines Staatsgastes aus der Bundesrepublik und sprach ihn in einer Mischung
aus Polnisch und Deutsch an: „Ich möchte
Sie auch mit ,Guten Tag‘ begrüßen“, sagte er, „und damit meine ich auch ,Vielen
Dank‘.“
Zwei Tage bevor der deutsche Regierungschef Gerhard Schröder am Freitag
vergangener Woche in Warschau eintraf,
hatte Kwaśniewski mit nahezu identischem
Zeremoniell Bundespräsident Johannes
Rau in Polen empfangen. Am 1. September,
60 Jahre nach dem deutschen Überfall auf
Polen und dem Beginn des Zweiten Weltkriegs, kam der Pole dem deutschen Präsidenten mit ausgestreckter Hand auf der
Friedensbrücke zwischen Frankfurt an der
Oder und Slubice entgegen.
Das Händedrücken wollte kaum enden.
Vierhändig – mit den Ehefrauen – an der
Oder, zweihändig noch einmal in Danzig.
Die Gesten, so banal sie als Fernsehroutine wirken mochten, waren von zielgerichteter Symbolik. Als Kwaśniewski
auf der Westerplatte die Rechte des Deutschen ergriff, mutete es wie eine Kopie
der Versöhnung über den Gräbern von
Verdun an, wo sich 1984 der französische
Präsident François Mitterrand und Kanzler Helmut Kohl bei den Händen gefasst
hatten.
Als erster deutscher Präsident war Rau
zur nationalen Gedenkfeier der Polen auf
die Westerplatte geladen, wo am 1. September 1939 die ersten deutschen Granaten, abgefeuert vom Kriegsschiff „Schleswig-Holstein“, einschlugen.
„Das war keine Floskel“, sagte der polnische Präsident später über die Begrüßungsworte, „darin sollte sich das Wesen unserer Beziehungen ausdrücken.“
Zum ersten Mal in der Geschichte stünden heute Polen und Deutsche als Verbündete „Schulter an Schulter“. Kwaśniewski:
„Und ich bin stolz, Freunde sagen zu können.“
Die Parallele war gewollt. Wie die
deutsch-französische Freundschaft gehöre
auch die deutsch-polnische zu den Fundamenten jener Politik der guten Nachbarschaft, die auch von Berlin aus die Außenpolitik bestimmen werde, sagte Rau.
Präsidenten Rau, Kwaśniewski in Frankfurt (Oder)*: Stolz auf die Freundschaft
Warschau, seit März Mitglied in der
Nato, will nun so bald wie möglich Mitglied in der EU sein. Sieben von zehn
Aufnahmekriterien haben die Polen schon
erfüllt, 2002 wollen sie „beitrittsfähig“
(Kwaśniewski) sein.
Die politische Dramaturgie der deutschpolnischen Woche war in Berlin sorgsam
entwickelt und mit den Polen einvernehmlich abgestimmt worden. Rau deckte mit
seinem Besuch der Westerplatte den düsteren Part der Beziehung ab. Noch zehn Jahre zuvor waren viele der ersten Opfer des
Nazi-Überfalles zu einer derart versöhnlichen Geste nicht in der Lage gewesen.
Damals hatte der nordrhein-westfälische
Ministerpräsident Johannes Rau in Warschau gesagt: „Es gibt noch viel Hass, und
es gibt noch viel Bitterkeit in den Herzen
der Menschen.“ Damals musste er noch
beteuern: „Wir stellen keine Gebietsansprüche, wir rühren nicht die Trommeln
des Vorbehalts.“
Inzwischen haben Raus Vorgänger Richard von Weizsäcker und Roman Herzog
* Mit Ehefrauen Christina und Jolanta.
d e r
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so viel Vertrauensarbeit geleistet, dass der
neue Präsident sich „stärker auf die Zukunft konzentrieren“ kann.
Bundeskanzler Gerhard Schröder, der
Berliner Außenpolitik im „aufgeklärten Eigeninteresse“ Deutschlands betreiben
möchte, dämpfte vergangenen Freitag in
einer Diskussion mit Studenten in der neuen Warschauer Universitätsbibliothek jedoch die Hoffnungen, dass der Nachbar
bald in die EU aufgenommen werden
kann: „Es wird wesentlich an den Polen
selbst liegen, ob sie ihr Wunschziel schaffen.“ Eine Terminzusage gab Schröder
nicht: „Alle Diskussionen um ein Zieldatum bringen zur Zeit überhaupt nichts.“
Polens Wirtschaftsminister Janusz Steinhoff sieht das ganz anders: „Wir erwarten
den Beitritt für das Jahr 2003“, sagt er im
SPIEGEL-Interview (siehe Seite 161).
Im Vergleich zu Schröder ist Außenminister Joschka Fischer den Beitrittswünschen um einiges gewogener. Beim Treffen
mit seinem polnischen Kollegen Bronislaw
Geremek und Frankreichs Hubert Védrine
in Weimar vergangene Woche gab er die
staatsmännische Formel aus: „Das Ver25
Deutschland
sagt Schröders außenpolitischer Berater
Michael Steiner, „da nimmt die Zustimmung ab.“
In der deutschen Bevölkerung gab es
andererseits schon immer Vorbehalte gegen den EU-Beitritt Polens. Für manche
Deutsche hört die Zivilisation an der OderNeiße-Grenze auf. Der Untergang des
Abendlandes scheint ihnen nahe, wenn sie
sich vorstellen, künftig mit dem Land der
Schwarzen Madonna und der Autodiebe
Währung und Arbeitsplätze teilen zu müssen. Mit der Öffnung der Grenze fürchten
sie den massenhaften Zustrom billiger Arbeitskräfte aus dem slawischen Kulturkreis.
Kanzler Schröder gilt in Polen als nüchterner Sachwalter deutscher Interessen, der
keine Geschenke Richtung Osten verteilt.
Viele empfanden es als Zurückweisung,
dass Schröder als EU-Ratspräsident gebremst hatte: Vor der Ost-Erweiterung der
Union müsse Europa erst einmal „seine
Hausaufgaben machen“.
Der Besuch des Kanzlers sollte dem
nächsten Nachbarn des neuen deutschen
Regierungssitzes zeigen, dass Schröder
durchaus ein Freund der Polen ist. Doch
manchmal klappte es mit der
freundschaftlichen Herzlichkeit noch nicht ganz. Nach
der Diskussion mit den Studenten ergriff Regierungschef Jerzy Buzek die Gelegenheit zu einer Geste und
erklärte dem Deutschen: „I
am Jerzy.“ Der verdutzte
Schröder begriff nicht auf
Anhieb, streckte dem Polen
dann jedoch umso heftiger
seine Hand entgegen: „I am
Gerd“, willigte er ein, „but
we don’t kiss.“
POLITIKER
Das Gespenst
der SPD
Oskar Lafontaine amtierte
als Festredner auf einem „GenussSymposium“, bei Zigarren
und Wein: Rückkehr in die Politik
oder PR für sein neues Buch?
E
DPA
hältnis zu Polen kann nur noch im europäischen Kontext gedacht werden.“ Dabei ist der Deutsche offenbar in Gedanken
schon eine Etappe weiter: „Ich muss von
meinen Beamten gelegentlich daran erinnert werden, dass Polen noch gar kein EUMitglied ist.“
So weit ist es noch lange nicht. Derzeit
wächst in Polen die Skepsis gegenüber einem EU-Beitritt. Nur etwa die Hälfte der
Bürger ist dafür – mit weiter fallender
Tendenz, wie polnische Meinungsforscher
glauben.
Die Beitrittsskeptiker fürchten eine neue
deutsche Gefahr: Die verlockende Mitgliedschaft in der EU sei womöglich nichts
weiter als eine Falle der Deutschen.
Der polnische Intellektuelle Kazimierz
Wóycicki sieht bei seinen Landsleuten
„eine latente Verdachtsstruktur gegen
Deutsche“ wirken. Winkten nicht am
Straßenrand in Danzig auffällig viele betagte Deutsche ihrem Präsidenten zu? Viele von denen, argwöhnten die Polen, halten nach ihren ehemaligen Immobilien
Ausschau. Die Angst geht um, dass deutsche Vertriebene mit dem polnischen EUBeitritt einen Rechtsanspruch auf Rückga-
Deutscher Überfall auf Polen 1939: „Es gibt noch viel Hass“
26
GAMMA / STUDIO X
be ihres ehemaligen Besitzes in Polen erlangen könnten.
Joschka Fischer nennt solche Absichten
und Forderungen zwar „anachronistisch
und absurd“, aber die „Aufrechnungsgelüste“ kennt er sehr wohl. 40 000 Formulare
für „Eigentumsvorbehalte“ will allein der
rechtsradikale Duisburger „Bund für Gesamtdeutschland“ in einer breit angelegten
Kampagne an Vertriebene verteilt haben.
Reiche Deutsche, so gehen die Angstszenarien weiter, könnten nach einem EUBeitritt in großem Umfang Land, Häuser
und Unternehmen aufkaufen und so große
Teile Polens zurückerobern – auf zeitgemäß kapitalistische Weise.
Dass ein möglicher EU-Beitritt nicht jedem Vorteile bringt, schwant ohnehin den
meisten Polen. Das Erklimmen der westeuropäischen Standards bedeutet zwangsläufig den Bruch mit traditioneller und
sozialistisch fundierter Wirtschaftsweise.
„Jetzt sehen die Leute, dass sie keinesfalls ein Paradies umsonst bekommen“,
Jürgen Hogrefe,
Jürgen Leinemann
Mitterrand und Kohl in Verdun 1984
Versöhnung über den Gräbern
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s ist ihm peinlich, ganz klar. Mit säuerlichem Grinsen stapfte er in den
Festsaal des Züricher Edelhotels Dolder, erleichtert, dass nur zwei Fernsehteams und zwei Fotografen seinen Auftritt
für die Ewigkeit festhalten. Vor ein paar
Monaten noch verkehrte Oskar Lafontaine
auf Weltwirtschaftskonferenzen, jetzt lässt
sich der Politpensionär als Unterhaltungskünstler vom Geldadel beschäftigen.
Die Sponsoren des „Dolder GenussSymposiums“, Firmen wie Mövenpick,
Crossair oder die Brauerei Feldschlösschen, haben sich für eine Menge Geld einen besonderen Spaß gegönnt und jenen
Mann als Redner engagiert, den sie fürchteten, bis er im März plötzlich aus seinen
Ämtern als Finanzminister und SPD-Chef
geflohen ist.
Motto der gequälten Veranstaltung am
Freitag vergangener Woche: „In einer Welt,
in der alle materiellen Werte schon da sind,
ist es eine gute Zeit für Impulse zu einer
echten Genusskultur in Politik und Wirtschaft.“
Da juchzt der Arbeiterführer. Immerhin
kann der Politflüchtling schon mal fühlen,
was ihm eine Zukunft als Vortragsreisender
bringen könnte. Derzeit wird er noch in der
Genscher-Klasse, bei etwa 30 000 Mark, gehandelt.
Aber bleibt der Marktwert auch in Zukunft stabil, wenn Lafontaine gemeinsam
mit Eppler oder Bahr wie die alten Herren
aus der Muppet-Show vom hohen Balkon
pestet?
Jetzt sitzt Lafontaine, dunkelgrauer Anzug, weißes Hemd, tiefblaue Krawatte mit
roten Tupfen, leibhaftig in der ersten Reihe und lässt erst mal eine Reihe von Referaten, darunter den Vortrag des Verlegers
und Veranstalters Daniel Eggli, über sich
ergehen. Der mollige Mann aus Winterthur
gibt die Fresspostille „Salz & Pfeffer“ heraus und findet es witzig, dass er „märssi“
schreibt, wenn er „danke“ meint.
So dröge Eggli als Vortragender ist, so
brillant ist er als Marketingmensch. „Wir
haben Champagner getrunken wie die Kälber“, berichtete er, nachdem der einstige
deutsche Finanzminister seine Zusage als
Festredner gegeben hatte.
Warum nur halten es die Schweizer für
Genuss, zum Preis von 460 Franken in ei-
M. DARCHINGER
M. LIMINA / KEYSTONE PRESS ZÜRICH
beitslosigkeit nicht dem flexiblen „hire and fire“ verdanken, sondern der Geld-,
Haushalts- und Finanzpolitik.
Die vergleicht der Weltökonom mit „drei Pedalen,
mit denen man Gas geben
und bremsen kann. In Europa neigt man zum Sparen,
hier tritt man auf die Bremse“. Die Amerikaner aber,
behauptet er kühn und ohne
Quelle, senkten „die Zinsen
für Kurzfristkredite auf null
Prozent, gleichzeitig verschuldeten sich die USA um
4,6 Prozent“. Die deutschen
Stabilitätswächter mit ihrer
Hochzins- und Sparpolitik
bräuchten sich, „wie die Zahl
4711, nur zwei Ziffern merken: 0 und 4,6“. Und dann
aufs Gaspedal treten.
Nach dieser kleinen Nachhilfe für die Bundesregierung
Festredner Lafontaine, Veranstalter Eggli: Champagner getrunken wie die Kälber
aber fehlt es an der richtigen
Spitze. Einmal nimmt er sich
nem unterkühlten Raum mehr oder weniseinen alten Rivalen Schröger gelungenen Referaten zu lauschen,
der vor, ohne ihn jedoch zu
während es draußen umsonst Ruhe und
nennen: „Mein großes TheSpätsommersonne gibt?
ma ist die Bekämpfung der
Das Publikum nämlich ist entzückt ob
Arbeitslosigkeit. Ich bin
des Nervenkitzels. Verstohlen gucken die
überzeugt, dass das nicht das
130 Gäste immer wieder zu dem rundliAnliegen eines jeden ist. Es
chen Saarländer, den das britische Masgibt Menschen, die ihr eigesenblatt „Sun“ vor gar nicht so langer Zeit
nes Interesse verfolgen, die
noch zum „gefährlichsten Mann Europas“
dieses Problem nie beschäfernannt hatte. Ein Schwätzchen gönnt der
tigt hat.“
teure Gast dem Publikum aber nicht mal in
Wenig später ist Hans Tietder Pause.
meyer an der Reihe, bis zur
Während sich die Teilnehmer auf die
vergangenen Woche Chef
Gratis-Zigarren im Foyer stürzen, hastet Autor Lafontaine, Ehefrau Christa: Hysterie geschürt?
der Bundesbank: „Neulich
Lafontaine die Treppe empor. Oben plauIn der vergangenen Woche versprach hat sich bei seinem Abschied einer gebrüsdert er mit einem seiner beiden Bodyguards. Der Ökonom weiß, dass er nicht sein ehemaliger Staatssekretär Claus Noé tet, dass in seiner Amtszeit der Geldwert
übermäßig präsent sein darf. Mangel treibt in der „Zeit“, dass sich der Yesterday Hero sehr stabil geblieben sei. Über die Entdie Neugier hoch und damit vielleicht die alsbald wieder in die deutsche Politik ein- wicklung der Arbeitslosigkeit hat er nichts
gesagt.“
Auflage seines drohenden Erinnerungs- mischen werde.
Richtig lebhaft wird Lafontaine bei den
Ist der Auftritt im provozierenden Ambandes. Einer, hat der Ex-Politiker schon
mal streuen lassen, werde vom Buch nicht biente von teuren Zigarren und Weinen viel- Zockern an der Börse, „die immer nur auf
leicht ein Signal an die einstigen Freunde Erwartungen setzen, aber nicht auf reale
begeistert sein. Der Lektor?
Lafontaine ist das Schlossgespenst der auf der Linken – Schröder hat doch Recht? Daten“. So ähnlich verhält es sich allerEndlich ist es Zeit für seinen Auftritt. dings auch mit Buchautoren, von denen
SPD. Er genießt das Spiel mit der Angst, die
die Genossen umtreibt. In vier Wochen er- Poltergeist Oskar rasselt mit den Ketten. die Erwartungen der Leserschaft gekitzelt
scheint „Das Herz schlägt links“, und der Die Zähne gebleckt, strebt er zurück in werden, bevor sie tatsächlich Geschriebealte Populist schürt die Hysterie so plan- den Saal. Artig posiert er vor dem „Möven- nes liefern. Seinen nur 40 Minuten währenpick“-Logo, dann kommt schon die erste den Vortrag – die Minute also zu 750 Mark
mäßig wie die Macher von „Godzilla“.
– schließt der Redner mit den Worten: „Ich
Der Fotograf Konrad Müller, der aus sei- Überraschung.
Frührentner Lafontaine, der monatlich weiß nicht, ob ich Ihren Erwartungen genem Fundus ein Bild für das Cover stellte,
mußte schriftlich zusichern, dass er kein 15724 Mark Pension aus Steuergeldern kas- recht geworden bin.“
Offenbar schon, denn dem Publikum
Detail über den Einband verrate – andern- siert, gibt bekannt, dass er sein Honorar
der Stiftung seiner Frau Christa Müller fällt nicht mal ein halbes Dutzend Fragen
falls drohe ihm eine Konventionalstrafe.
Vor zwei Wochen hatte Lafontaine be- spendet, welche die Genitalbeschneidung ein. Die einzig spannende („Wie bewerten
reits vor 400 Gästen der DG Bank in Ber- afrikanischer Frauen bekämpft. Applaus. Sie die Sparpolitik Ihres Nachfolgers“) belin für 20 000 Mark referiert, Vorfreude auf Dann droht der Referent zum wohligen antwortet der Finanzexperte a. D. nur
sein Schriftwerk weckend. Im Oktober Schaudern der Zuhörer, dass er „nicht die knapp: „Sie sind ja ein ganz Schlauer.“
Dann zieht sich Lafontaine wieder
zum Buch-Herbst tritt er reihenweise im gängige Meinung herunterbeten will“.
Doch darauf folgt nur ein endloser Ex- zurück in die Präsidentensuite – Preis: 2000
Fernsehen auf – Sabine Christiansen, Rupkurs, warum die USA ihre niedrige Ar- Franken pro Nacht.
recht Esers „Halb 12“, „Boulevard Bio“.
Hajo Schumacher
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27
Deutschland
GRÜNE
„Schwarz-Grün ist illusionär“
Der Grünen-Fraktionsvorsitzende Rezzo Schlauch
über Rentensenkungen und grüne Strategien
Schlauch: Diese Diskussion ist nachvollziehbar.Aber in der Sache ist sie völlig überzogen. Wir können nicht nur die heutigen
Rentner im Auge haben und die nachfolgenden Generationen vergessen. Das ganze
System gerät dann in Gefahr.Was das Sparpaket angeht: Es wäre viel unsozialer, wenn
wir den Verschuldungskurs fortsetzen würden. Wir wollen neue Gestaltungsspielräume für eine aktive Sozialpolitik eröffnen.
M. URBAN
SPIEGEL: Herr Schlauch, die Grünen stiften
Verwirrung mit neuen Rentenkonzepten –
obwohl der Kanzler Kurshalten befiehlt.
Schlauch: Auch der Kanzler weiß, dass die
mäßige Rentenerhöhung für die nächsten
zwei Jahre nur der erste Schritt sein kann.
Spätestens im Herbst geht es um den nächsten, da wird Walter Riester uns brauchen.
SPIEGEL: Und dann wird der SPD-Arbeitsminister sich an die Grünen erinnern?
Fraktionssprecher Schlauch: „Wir müssen sparen und nicht Steuern erhöhen“
Schlauch: Riester wollte ja ursprünglich
eine obligatorische private Vorsorge. Das
ist jetzt vom Tisch. Wir wollen private Altersvorsorge durch steuerliche Anreize fördern. Ich gehe davon aus, dass zumindest
Elemente von uns in dem neuen Konzept
enthalten sein werden.
SPIEGEL: Die Expertin der Grünen Katrin
Göring-Eckardt nennt eine Absenkung
des Rentenniveaus von 70 auf 65 Prozent der Nettolöhne als Zielgröße. Wie
passt eine solche Radikalkur mit den
Vorstellungen der Sozialdemokraten zusammen?
Schlauch: Wir wollen glaubwürdig bleiben,
deshalb! Immer weniger Beitragszahler
müssen für immer mehr Rentner aufkommen. Ohne umfassende Strukturreformen
ist das nicht zu machen.
SPIEGEL: Ihre Rentenanpassung und die
große Sparaktion passen schlecht zur Gerechtigkeitsdebatte in der SPD.
28
SPIEGEL: Sind die Grünen unempfindlich
geworden für soziale Ungerechtigkeit?
Schlauch: Wieso ist denn die Politik der
Regierung sozial ungerecht? Wir haben die
kleinen und mittleren Einkommen durch
die Steuerreform entlastet, das Kindergeld
erhöht, 100 000 Arbeitsplätze für Jugendliche geschaffen. Wir haben die Zuzahlungen für Medikamente im Gesundheitswesen zurückgeführt. Die aktive Arbeitsmarktpolitik, insbesondere auch für die
neuen Bundesländer, haben wir nicht wie
die alte Regierung zurück-, sondern hochgefahren.
SPIEGEL: Rot-Grün hat die Abgabenlast für
Unternehmen gesenkt und will auch die
Unternehmensteuer noch senken. Als Ausgleich fordern einige Sozialdemokraten die
Wiedereinführung der Vermögensteuer,
eine Vermögensabgabe oder eine höhere
Erbschaftsteuer. Für Letzteres ist auch Ihre
Vorstandssprecherin Antje Radcke.
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Schlauch: Vermögensteuer und Vermögensabgabe werden als Zauberinstrumente gehandelt, aber der Ertrag steht in keinem Verhältnis zum Aufwand, den man betreiben muss, um sie zu erheben. Und
außerdem: Wir müssen sparen und nicht
Steuern erhöhen.
SPIEGEL: Wie erklären Sie denn die Diskussion darüber?
Schlauch: Ich glaube, das ist ein Ersatz für
die längst fällige Debatte über die Grundlinien der SPD.
SPIEGEL: Bei den Grünen ist ein klares Profil auch nicht zu erkennen.
Schlauch: Meinen Sie. Unser Profil ist klar.
Wir sind die Partei der Generationengerechtigkeit in der Umwelt-, Sozial- und
Finanzpolitik.
SPIEGEL: Auf einem Strategietreffen hat der
Grünen-Vordenker Ralf Fücks unlängst erklärt, es gebe kein Rechts-links-Schema
mehr, sondern nur noch sozialdemokratische und ökolibertäre Grüne. Wo ist für
Sie der Standort der Partei?
Schlauch: Ich kann mich nach keinem dieser Etiketten einordnen. Sie sind nicht sehr
sinnvoll auf dem Weg einer Selbstbestimmung. Verschiedene Strömungen aber gibt
es in jeder Partei, sonst gibt es keine Entwicklung.
SPIEGEL: Gerade in der Doppelspitze von
Partei und Fraktion sind die Strömungen
immer noch verankert. Wie lange noch?
Schlauch: Die anderen Parteien haben auch
Doppelspitzen, bei der Union in Person
von Herrn Schäuble und Herrn Stoiber.
SPIEGEL: Könnten Sie sich auch einen der
jungen Nachwuchskräfte an der Parteispitze vorstellen, zumal wenn Gunda
Röstel nach verlorenen Wahlen in Sachsen
das Handtuch werfen muss?
Schlauch: Mit Verlaub! Gunda Röstel ist
nach Kurt Biedenkopf die bekannteste Politikerin in Sachsen. Sie macht einen guten
Wahlkampf. Es wäre deshalb töricht, sie für
die Schwierigkeiten unserer Partei im Osten
insgesamt verantwortlich zu machen. Dass
junge Leute kommen, die uns alten Säcken
das Revier streitig machen, finde ich gut.
SPIEGEL: Gehört zur neuen Identitätsfindung Ihrer Partei vielleicht auch die Perspektive einer schwarz-grünen Koalition?
Schlauch: Ich verfolge die Entwicklung der
Union genau. Die Reformer sind auf dem
Rückmarsch in die Bedeutungslosigkeit.
Spärliche Ansätze zur Modernisierung werden in dem schwarzen Koloss alle erdrückt.
Schwarz-Grün halte ich zum jetzigen Zeitpunkt für vollkommen illusionär.
SPIEGEL: Sie bleiben lieber in der babylonischen Gefangenschaft der SPD?
Schlauch: Ich fühle mich nicht als Gefangener, trotz aller Schwierigkeiten mit dem Partner.Aber ich kann auch nicht verstehen, dass
die Sozialdemokraten, die in Köln ihren
Oberbürgermeisterkandidaten verloren haben, nicht beherzt für die grüne Kandidatin
werben. Rot-Grün ist keine Einbahnstraße.
Interview: Paul Lersch, Hajo Schumacher
S TÄ D T E
Auf der Titanic
Nach dem Debakel des OBKandidaten der SPD herrscht in
Köln politisches Chaos –
nun darf eine Grüne auf rote
Stimmen hoffen.
KRACKHARDT / KÖLNER EXPRESS
G
Heugel-Plakat
H. SACHS / VERSION
enerationen lang hatte zu Köln am
Rhein die Allgemeine Lebensregel
Nummer eins Bestand: „Et hätt
noch immer jot jejange.“
Doch nun ist er da, der Fall der Fälle: In
Deutschlands viertgrößter Stadt herrscht
das blanke Chaos.
Am Sonntag sind in Nordrhein-Westfalen
Kommunalwahlen, und auf den Stimmzetteln für die 714000 wahlberechtigten Kölner
Bürger wird der Name des Sozialdemokraten Klaus Heugel, 63, ganz obenan stehen,
obwohl der Kandidat für das Amt des Oberbürgermeisters zurückgetreten ist.
Ein folgenschwerer Schritt: Genossen
prügeln Genossen, Christdemokraten fabulieren nach Jahrzehnten erzwungener
Enthaltsamkeit über die absolute Mehrheit,
selbst die grüne OB-Prätendentin hat plötzlich Siegeschancen – im rheinischen Dreieck von Kirche, Karneval und Kommerz
ein eigentlich unvorstellbarer Gedanke.
Kölner Wirren anno 1999. Noch am vorvergangenen Wochenende, nach seiner
Beichte über verbotene Insidergeschäfte
und dem damit verbundenen Gewinn von
knapp 15000 Mark (SPIEGEL 35/1999), hatte Heugel den Macher markiert – trotz
staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen,
trotz Hausdurchsuchung. Er bleibe Spitzenkandidat, „das ist gar keine Frage“.
Während die Kölner SPD-Führung
zunächst schützend an Heugels Seite stand,
machte sich bei den sozialdemokratischen
Landesherren in Düsseldorf Entsetzen
breit. Stündlich wuchs der Druck – bis sich
Heugel bereit erklärte, „alle Aktivitäten
als Direktkandidat einzustellen“.
Laut NRW-Kommunalwahlgesetz dürfen Kandidaten, wenn die Frist verstrichen
ist, nicht ausgetauscht werden. Es sei denn,
der Bewerber stürbe oder würde in dieser
Zeit rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe
von mehr als einem Jahr verurteilt.
So entfaltete Heugels Rückzug politische, aber keine rechtliche Wirkung: Er
kann und wird am Sonntag Stimmen bekommen; rund 20 000 sollen ihn per Briefwahl bereits gewählt haben.
Der unverhofft zum aussichtsreichsten
Anwärter avancierte CDU-Mann Harry
Blum, 54, genießt derweil, milde lächelnd,
den ungewohnten Rummel um seine Person. Im Kölner Senats-Hotel posierte er
mit einem neuen Werbeplakat, das Heugels
Aktienaffäre persifliert – Slogan: „Der
Kurs von Köln muss wieder steigen“.
Grüne Lütkes
Kölner OB-Kandidaten
„Et kütt, wie et kütt“
Das Reden überließ er lieber seinem
umfänglichen Hofstaat aus Abgesandten
der Kölner und nordrhein-westfälischen
CDU-Spitze. Während Blum ein Rosinenküchlein knabberte, referierten die
Mitglieder seiner Entourage, der Fall Heugel sei nur „die Spitze des Eisbergs“ gewesen. Und aufs Stichwort präsentierte
der Kandidat eine Papptafel mit dem passenden Werbespruch „Die Spitze ist weg,
der Eisberg nicht“. Plakate von Blum-Kontrahent Heugel werden indessen mit Bananen verziert – als liege Köln in der
gleichnamigen Republik.
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Kandidatin Nummer drei, die bis zur
Heugel-Demission chancenlose grüne Juristin Anne Lütkes, 51, frohlockt derweil
über die „irre neue Situation“. Erstmals in
der Republik könnte eine Grüne vielleicht
sogar die Regentschaft einer Millionenstadt
übernehmen. Das „Mehrheitspotential“ sei
„völlig orientierungslos“, sagt Lütkes und
schwenkt ein Kölsch-Glas mit der Aufschrift: „Voll dabei“.
Nach Heugels Verzicht ging die Anwältin Lütkes mit sich selbst ins Gericht. Prüfend stellte sie die Frage, ob bei ihr nicht
auch „noch ’ne Leiche im Keller“ sei. Bei
der Gewissenserforschung fielen ihr zwei
Prozesse ein, die sie gegen Mieter ihrer
Wohnungen geführt hatte. Einmal habe ein
Mieter ausziehen müssen, weil ihre Mutter
in das „unheimlich schöne Haus“ einziehen wollte. Im anderen Fall sei für ihre
Schwägerin Platz gemacht worden. Der
Mieter habe wohl „um eine Abfindung gepokert“, erinnert sich Lütkes. Beide Male
kam es zum Vergleich. Auch sei sie wegen
angeblicher Urkundenfälschung angezeigt
worden.
Vielleicht macht sie sich zu viele Gedanken – denn ohne SPD-Unterstützung
ist das OB-Amt für die Grüne trotz des
Heugel-Debakels noch in weiter Ferne.
Die Kölner SPD hat den Bürgern vorerst
nur empfohlen, wen sie nicht wählen sollen – ihren Heugel. Offen hat sich bislang
allein der Kölner SPD-Regierungspräsident
Franz-Josef Antwerpes dafür ausgesprochen, nun bei der Grünen das Kreuz zu
machen. Die Kritik, die er dafür auch von
Parteifreunden bezog, sei ihm „scheißegal“, verkündete der für seine pralle Sprache berühmte Rheinländer.
Ohne ein sozialdemokratisches Votum
für Lütkes, lästert der grüne NRW-Bauminister Michael Vesper, steuere die Kölner
SPD auf „Titanic-Kurs“. In Stuttgart sei
vor drei Jahren ein blasser Unionsmann
Oberbürgermeister geworden, nur weil die
Sozialdemokraten sich zierten, den Grünen Rezzo Schlauch zu unterstützen. „Wir
stellen ihnen ein Rettungsboot zur Verfügung“, spottet Vesper, „aber sie wollen lieber Musik hören – bis zum Untergang.“
Schafft am 12. September kein OB-Kandidat in Köln die absolute Mehrheit,
kommt es 14 Tage später zur Stichwahl unter den beiden Bestplatzierten. Sollte Heugel darunter sein, müsste auch er wohl oder
übel in die zweite Runde.
Falls er dabei die meisten Stimmen bekommen sollte, wird er die Wahl nicht annehmen. Das zumindest hat sein Kölner
Parteichef versprochen. Dann müsste der
Stadtrat eines seiner Mitglieder wählen –
vielleicht sogar einen Sozialdemokraten.
In diesem Fall träte zu Köln die Allgemeine Lebensregel Nummer zwei in Kraft:
„Et kütt, wie et kütt“, in freier Übersetzung: Gewisse Wege sind unergründlich.
Georg Bönisch, Barbara Schmid,
Andrea Stuppe
29
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Das
Deutschlandgefühl
P. ADENIS / G.A.F.F.
Wird Regieren anders, wenn in dieser Woche die Abgeordneten aus
Bonn im Reichstag ihre Arbeit beginnen? Von der hektisch-kreativen
Baustelle der Nation könnte eine neue Aufbruchstimmung ausgehen.
Reichstag, Brandenburger Tor
INHALT
W. BAUER
Die neue Zukunftswerkstatt . . . . . . . . . 34
Stadtplan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40
Gerhard Schröder in Berlin . . . . . . . . . . 44
Cees Nooteboom über sein verändertes
Deutschlandgefühl . . . . . . . . . . . . . . . 48
Bonner in der Ost-Wirklichkeit . . . . . . . . 54
Literaturtipps . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57
Meister-Bauwerke und Einheitsware . . . 60
Szene und Touristen in Berlin-Mitte . . . . 64
Die Hauptstadt der DDR lebt . . . . . . . . 70
Der berüchtigte Schnodderton . . . . . . . 71
Die Grenze in den Köpfen. . . . . . . . . . . 74
Orientierungshilfe für Neu-Berliner . . . . . 77
Innovationen aus Adlershof . . . . . . . . . 80
Der teure Zeitungskrieg . . . . . . . . . . . . 84
Eine junge Jüdin und die Vergangenheit . 90
Die schrille Szene der Jungtürken . . . . . 94
Ein türkischer Sender in Berlin . . . . . . . 95
Ost-Intellektuelle bleiben unter sich . . . 98
Der Aufsteiger-Club Hertha BSC . . . . . 100
Tanja Dückers über die Berlin-Generation 102
Szenetipps . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105
Besucher in der Reichstagskuppel
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33
Metropole
Labor
der Zukunft
Bonn ist in Berlin angekommen. Noch wissen die Zuzügler nicht recht,
wie sie mit der quirligen, unberechenbaren Metropole leben sollen.
Sicher aber ist: Die neue alte Hauptstadt ist die Werkstatt, in der schon
heftig am Deutschland des 21. Jahrhunderts gebastelt wird.
eit nach Mitternacht ist es
plötzlich so weit: Berlin ist
im Netz. Musik, aufgelegt
von DJs im Club „Maria am
Ostbahnhof“, ist samt Bildern weltweit im Internet zu
hören und zu sehen.
Vielleicht lauscht und guckt jetzt gerade
ein Team von Aktien-Analysten an der Wall
Street, eine Horde neureicher indischer Kids
aus Bangalore oder ein einsamer australischer Surfer auf der Homepage „betalounge.com“, was in dem Berliner Club abgeht.
Die Tüftler der Nacht heißen Ian Raikow, 32, und Ole Lütjens, 32. Dank einer
von ihnen entwickelten Hard-and-Software-Technik können nun Freaks in aller
Welt, wenn sie denn wollen, den Klängen
vom „Ostbahnhof“ lauschen. Solche Neuerungen sind es, die Berlin zu einer der aufregendsten Städte der Welt machen werden. In der alten, neuen deutschen Haupt-
REUTERS
W
stadt versammelt sich, was man bislang
nur in den USA vermutete: Ideen, Hightech, Tempo und manchmal sogar Geld.
Da „basteln Gründer an Entwürfen für
die Märkte von morgen und die Techniken
von übermorgen“, schwärmt Bundeskanzler
Gerhard Schröder über die Helden der Hinterhöfe. So wünschen sich Wirtschaft und
Regierungschef den deutschen Nachwuchs:
kreativ, international und immer vorn –
Symbolfiguren der Berliner Republik.
Raikow und Lütjens haben eine Firma
mit Sitz in Hamburg und San Francisco.
Aber nirgendwo finden sie so gute Voraussetzungen für ihre Kreativität wie im quirligen Berlin. Hier, sagt Lütjens, „triffst du im
Moment die meisten verrückten Kreativen“. Und darauf sind seine Bekannten aus
dem Silicon Valley neidisch. Sie halten Berlin für den „hippsten“ Ort der Welt.
Das neue Berlin. Der große Ideologienkampf des 20. Jahrhunderts, zwischen Ka-
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pitalismus und Kommunismus, der hier so
schroff und direkt wie nirgends sonst ausgetragen wurde, ist vorbei. Die Stadt ist so
plötzlich aus der lähmenden Vergangenheit erwacht, als hätte sie ein Medien-Prinz
geküsst. Überall wird an der Zukunft gebastelt. Neue Hauptstadt, neue Regierung,
neues Jahrtausend und jeden Tag eine neue
Umleitung – in einem Kreis von fünf Kilometern rund ums Brandenburger Tor sucht
man vergebens nach Deutschlands trübstem Markenzeichen, dem Stillstand.
Wo sonst Skepsis herrscht, ist hier Aufbruch, wo sonst Lähmung lastet, blüht der
Spaß am Neuen, vor allem aber die Lust
am Tempo.
Die 669 Abgeordneten des
Deutschen Bundestages, die
Plenarsaal
im Reichstag sich in dieser Woche zur ersUnbestimmtes ten regulären Arbeitssitzung
in Berlin versammeln, mögen
Gefühl von
sich noch ängstigen über den
Aufbruch
W. BAUER
Täglich bis zu 60 000 BundesUmzug ins Ungewohnte, den Ver- Inlineskater
bürger standen in der vorverganlust der Bonner Heimeligkeit. Un- vor dem
sicher und ungewiss gucken sie Brandenburger genen Woche geduldig vor dem
Reichstag Schlange, um das Parlasich um, was das Neue wohl bringt. Tor
ment zu besichtigen. Bis spät in
Eine klare Richtung hat die Der hippste Ort
die Nacht schraubte sich, kilo
neue Zentrale nicht, aber gewiss der Welt
meterweit sichtbar, eine endlose
ist: Hier beginnt eine Zukunft.
Veränderung ist vorerst die einzige Kon- Prozession aufwärts durch die strahlend
stante. Vielleicht ergreift die positive Stim- helle Kuppel des Reichstagsgebäudes, das
mung der Hauptstadt, aus der nach Mei- seit der Erbauung 1894 „Dem Deutschen
nung Restdeutschlands bislang nie Gutes Volke“ gewidmet ist. Immer ringsherum
um den gewaltigen bespiegelten Zapfen
kam, noch die ganze Republik.
Die Neugier auf das Neue ist da – dieses zog es die Menschen in die Spitze der
ganz andere Deutschlandgefühl. Als woll- Macht, bis ganz oben.
In Berlin können die Deutschen ihren
ten sich die Bürger im Spiegel ihrer Metropole ein Bild verschaffen von sich selbst, Volksvertretern aufs Dach steigen. Das und
strömen sie in diesem Sommer in Scharen der Blick auf die historischen Stätten und
herbei und inspizieren ihre Kanzleramts- die gigantischen Baustellen in der Umgebaustelle, ihr Bundespräsidenten-Oval und bung verdichten sich zu einem unbedas Sonntagsshopping am Potsdamer Platz. stimmten Gefühl von Aufbruch und Stolz.
Schon jetzt ist die Kuppel im SpreeIst das auch wirklich alles echt, was zu Haubogen zum Symbol der Berliner Republik
se über ihre Bildschirme flimmert?
d e r
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geworden. Wenn die ach so stabile Deutsche Mark der Inbegriff des Wirtschaftswunderlandes war, dann könnte die
transparente Aufwärtsspirale der neuen
Hauptstadt Signal sein für das vereinigte Deutschland und seine Suche nach
Zukunft.
Wer vom Reichstag über Berlin blickt,
bekommt die volle Dosis Metropole. Vor
ihm breitet sich – vom Pariser Platz am
Brandenburger Tor, dem künftigen Holocaust-Mahnmal und dem Ehrenmal des
russischen Soldaten bis zur Siegessäule
und der fernen Gedächtniskirche – nicht
nur das Panorama der unheilvollen deutschen Geschichte aus. Der Berlin-Besucher sieht auch – vom Potsdamer und
Leipziger Platz im Süden, auf dem Areal
des Lehrter Bahnhofs in nördlicher Nachbarschaft, am Alexanderplatz im Osten
und am Bahnhof Zoo im Westen – eine
neue Skyline heranwachsen. Nahezu wö35
W. BAUER
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konnte wohl nicht anders sein. Das war
nicht mehr sein Berlin. Dieser aufgekratzten Stadt gehörte die Zukunft, einer Generation, die er nicht verstand und die in
ihm weniger einen Politiker als einen altmodischen Onkel sah.
Tränenden Auges hatte der mächtige
CDU-Kanzler in der Nacht zum 3. Oktober
W. BAUER
chentlich verändert sich derzeit TV-Aufnahmen war nie ein populäres Gebäude,
nicht im preußischen und nicht im
die Silhouette der Stadt.
vor dem
Weimarer Berlin. Zwar galt die
Die Nachbarn aus Warschau Reichstag*
Ruine der Roten Armee 1945 noch
und Prag werden dieses Berlin, das Jagd nach
als die eigentliche Siegestrophäe
natürlich immer auch Synonym für der exklusiven
bei der Niederringung des HitlerPreußen, Hitler, Ulbricht und den Topstory
Regimes, doch im geteilten Berlin
Kalten Krieg bleibt, kaum wieder
erkennen. Die Stadt, vom deutschen Dog- der Nachkriegszeit staubte der in den sechma der Planbarkeit scheinbar wundersam ziger Jahren rigoros renovierte Bau unemanzipiert, erzeugt pausenlos neue und mittelbar westlich der Mauer vor sich hin.
Bis Christo und Jeanne-Claude kamen.
außerordentliche Gefühlswallungen.
Nicht, dass der alte Glanz zurückgekehrt Wenn es – nach dem Fall der Mauer – eiwäre, wie es sich die Berliner seit Jahr und nen Moment gab, an dem sich das träge
Tag von ihren Leierkastenspielern vordu- alte, in seine Vergangenheit verstrickte
deln lassen. Die einst größte Industriestadt Berlin in eine Stätte der Hoffnung verDeutschlands ist nahezu vollständig ge- wandelte, dann waren es diese Sommerschleift. Die Banken bleiben in Frankfurt. wochen 1995. Gegen den Willen von BunFast jeder sechste Berliner ist arbeitslos. Der deskanzler Helmut Kohl, aber mit ZuHaushalt ist ruiniert und das politische Per- stimmung der Mehrheit des Bonner Bunsonal ohne Flair. Und trotzdem: „Berlin liebt destages verwandelten die Aktionskünstler
den zum Umbau vorbereiteten Reichstag
dich!“, singt das örtliche Trio „Surrogat“.
Das neue Berlin ist vor allem ein Le- mit 100 000 Quadratmetern Silberstoff in
bensgefühl. Die deutsche Demokratie ein riesiges Überraschungspaket.
Insgesamt fünf Millionen Besucher feidrückt sich ausgerechnet in jenem Spreebogen als Architektur aus, wo Hitlers Bau- erten Tag und Nacht das glänzende Raummeister Albert Speer den triumphalen Mit- schiff im Spreebogen. Was hernach ausgetelpunkt seiner Nazi-Hochburg „Germa- packt wurde, das spürten sogar die anfangs
skeptischen Berliner, war nicht mehr Ruinia“ gestalten wollte.
Vorhersehbar war das nicht. Der Reichs- ne, sondern Bauplatz, leere
tag, der nach der Machtübernahme der Stelle im Herzen der Stadt, Besucher im
Nazis 1933 abgefackelte Parlamentspalast, die darauf wartete, mit Sinn
Reichstag
aufgeladen zu werden.
Die volle
Dass Helmut Kohl die
Dosis
* Interview mit Wolfgang Thierse für das ZDF-„Morgenmagazin“.
Christo-Aktion verteufelte,
Metropole
M. DARCHINGER
M. DARCHINGER
1990 vor dem Reichstag die
Deutsche Einheit gefeiert,
Extreme ein pfälzischer Bismarck,
Erfahrungen sentimental und ambitioallenthalben niert. Ihn faszinierte mehr
die gebaute Ordnung der
alten Preußen-Herrlichkeit, die mit ihrer
Säulenpracht wenigstens ein bisschen an
London, Paris und vor allem Washington
erinnert, als die Aussicht auf eine unfertige,
widersprüchliche, laute Metropole, die Berlin jetzt zu werden verspricht.
Helmut Kohl wollte keine „Berliner Republik“. Er wollte eine vergrößerte Festspiel-Version des Bonner Alltags, an den
sich die Deutschen so gewöhnt hatten.
In Bonn warf sich die Macht im geduckten braunen Kanzleramt aus den Zeiten von Helmut Schmidt den trügerischen
Gestus der Bescheidenheit über, dort stand
jede Antwort fest, bevor die Frage überhaupt gestellt war, dort versicherte sich
das Land, dass alles schon fertig sei.
Alles Vergangenheit. Der historische Zufall, dass sich mit dem Umzug auch ein
Generationenwechsel in der politischen
Führung vollzogen hat, macht den Aufbruch leichter. „Wir wissen um das, was
war“, sagt der Bundeskanzler. Aber es
hemmt nicht mehr (siehe Seite 44).
„Wenn die Medien künftig von Berlin
sprechen, dann ist nicht mehr nur die Stadt
gemeint“, sagt Schröder ganz unbefangen,
„der Name wird eine Kurzformel für die
deutsche Politik, so wie es in Bonn war.“
So nett wie am Rhein wird es freilich nie
wieder. In Bonn bedurfte es schon eines
besonderen Geschicks, um nicht an jeder
Grüne Fischer,
Künast*
* Links: am 23. August bei Fischers Amtsantritt in Berlin, mit einem von den dortigen Grünen geschenkten
Präsentkorb; rechts: auf dem Weg zur ersten Kabinettssitzung im neuen Kanzleramt, dem mit ArbeiterkampfSzenarien geschmückten ehemaligen Staatsratsgebäude.
Ecke auf Abgeordnete, Minister Koalitionäre
nisteriums Joseph Goebbels’, das
und Spitzenbeamte zu stoßen. Im Müller,
nun zum Arbeitsministerium WalHauptstadtgewusel gehen die Poli- Schlauch*
ter Riesters wird, in Hermann Götiker im Publikum auf. Die Men- Denken in
rings ehemaligem Reichsluftfahrtschen sind nicht mehr „draußen im Optionen und ministerium – jetzt Sitz des Hans
Lande“, sondern gleich nebenan. Experimenten Eichel – lauert die Versuchung, sich
Das könnte viele an Abstand geden Realitäten zu entziehen.
wöhnte Regierende verschrecken und verDoch sobald die neuen Berliner Herren
leiten, sich im Spreebogen und den neuen etwa die gemauerte „Gigantomanie“ (Eiministeriellen Herrschaftsburgen gegen Le- chel) des Göring-Bauwerks an der Wilben und Medienneugier zu verschanzen.
helmstraße verlassen, stoßen sie wieder
Neben den überregionalen Blättern wer- auf das richtige Leben.
den täglich zehn lokale Zeitungen, mehr
Zu laut, zu krass und zu eng drängt sich
als ein Dutzend Rundfunkstationen und in Berlin die Großstadt an die Politik hersieben Fernsehsender auf Jagd nach der an. Während in Bonn Blumenkübel und
exklusiven Topstory sein, werden Neben- Zierhecken das Bild bestimmten, guckt in
sätze zu Staatsaffären hochpusten.
Berlin die Bildungsministerin Edelgard
Schon wird in Parteien, Ministerien und Bulmahn auf die Straßenhuren an der OraFraktionen beratschlagt, wie der medialen nienburger Straße. Innenminister Otto
Hyperfunktion zu begegnen sei. Sicher Schily teilt sich die Einfahrt zu seinem
scheint, dass es jene Transparenz des Poli- Dienstsitz mit den Einkäufern des betischen, die Architekt Axel Schultes mit nachbarten Supermarkts.
seinem durchsichtigen Kanzleramt suggeExtreme Erfahrungen allenthalben. Für
rieren will, in der Hauptstadt nicht geben den ostdeutschen SPD-Abgeordneten Marwird. Wie die Regierenden in Paris, Lon- kus Meckel ist sein Gang vom Abgeordnedon oder Washington werden auch die tenbüro Unter den Linden zum Plenum
Berliner Amtsinhaber weiter nichts sa- im Reichstag, auch zehn Jahre nach dem
gende Soundbites fallen lassen, noch mehr Fall der Mauer, noch täglich mehrmals ein
Events für noch weniger Informationen „staunenswerter Übergang von Ost nach
kreieren und sich zurückziehen hinter West“. Drei Minuten zwischen zwei Welelektronische Wachanlagen und gebaute ten, immer noch.
Schlupfwinkel.
Die grüne Abgeordnete Margareta Wolf
Die Hauptstadt-Architektur ermöglicht war „tief berührt“, als sie am Bahnhof
der Politik auch Flucht vor dem Wähler. Im Friedrichstraße von einem freundlichen älReichstag, sagt der Pariser Politologe Alfred teren Herrn angesprochen wurde, der sich
Grosser, haben „die Abgeordneten durch als Jude zu erkennen gab und seinen Stolz
Übergänge, durch Untergänge, durch Zwi- bekundete über die moderne, lebendige,
schengänge die Möglichkeit, sich zu bewe- offene Stadt. Seit 30 Jahren fühle er sich,
gen, ohne dem Bürger zu begegnen“.
wie es John F. Kennedy damals formuliert
Und auch die zu Bundesministerien um- hatte: „Ich bin ein Berliner.“
funktionierten Hitler-Bauten bieten sich
Wenn sich Bürger und Staatsmacht in
als Trutzburgen an. Hinter den dicken Berlin näher kommen, ist das eine Chance
Mauern des vormaligen Propagandami- für die ganze Republik. Denn die Abged e r
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gefällig. Aber in der neuen Hauptstadt kreuzen sich eben auch die
Wege der Geheimdienste, der
Drogen- und Waffenschieber, hier
schlagen sich die Schwarzarbeiter
aus Osteuropa durch – und jeder
hat seine eigene kleine Welt.
Toleranz, auf Kirchentagen oft
eingefordert, wird in Berlin überlebensnotwendige Praxis. Zwei
maßgebliche Strömungen der
Postmoderne, die Angst vor den
Fremden und die Lust am Fremden, wechseln in der Hauptstadt
derart schnell, dass sich Hass bisher nicht zur politischen Haltung
verfestigen konnte. Rechte Parteien hatten in Berlin, wo jeder
siebte keinen deutschen Pass hat,
bislang kaum eine Chance.
Dafür wächst die Attraktivität
des neuen Berlin weltweit. An jedem Wochenende wird die Vielfalt
noch um hunderttausende zusätzlich bereichert – 400000 kamen zur
Homosexuellen-Parade am Christopher Street Day, 1,5 Millionen
verspaßter Kids zur Love Parade.
Doch die Wiederauflage der Ri- Neu-Berliner
Hier, vermuten immer mehr Neuvalität aus der grauen Vorzeit, als Eichel*
gierige aus allen Teilen der Repunoch die Mauer stand, ist bizarr. Phase des
Im Berliner Wahlkreis Mitte/Prenz- unberechenbaren blik und den Nachbarländern,
geschehen Dinge, die sie zu Haulauer Berg, in dem das Regierungs- Schicksals
se nicht erleben. Mehr als 8000
viertel liegt, gaben bei der Bundestagswahl 27,5 Prozent dem SED-Erben Bonner, bislang gewohnt, sehr wichtig zu
sein, fallen nicht weiter auf. Und sie wissen
Gregor Gysi und seiner PDS die Stimme.
Das globalisierte Berlin, viel zu unor- auch noch gar nicht, wie sie mit dieser Stadt
dentlich für eine deutsche Stadt, beher- zurechtkommen sollen.
Nichts leichter, als diesen kulturellen
bergt heute eine große, zufällige Zahl von
Stämmen, die ziemlich friedlich nebenein- Boom, dieses Multi-Media-Lebensgefühl
ander an den Baugruben vorbei balancie- mit tristen Statistiken zu widerlegen oder
ren. Der Mix entfaltet eine anregende bitter zu verhöhnen. Denn bis in die WohnKraft, doch gute Nerven braucht man auch. bezirke in Kreuzberg, bis nach Neukölln
Nicht nur zwei deutsche Gesellschaften oder nach Hellersdorf ist der Aufbruch nicht
muss die 3,4-Millionen-Stadt aushalten, die gekommen. Armut, Bildungsnot und ein
sich zehn Jahre nach der Einigung gewiss hoffnungsloser Rückstand in Sachen Zunicht herzlicher zugetan sind als davor. Eine kunft bleiben Berlins Alltag. So ist die Stadt
dritte Gesellschaft von fast einer halben vor allem eine Projektionsfläche für WünMillion nichtdeutscher Bürger kommt dazu. sche und Erwartungen, eine Stadt im Futur.
Aber die Aufbruchssignale zu überhören
Am 30. Juni dieses Jahres waren laut Statistischem Landesamt in Berlin 132306 Tür- und zu übersehen ist schwer: So undeutsch
ken, 27 970 Polen, 10 059 Amerikaner, 6895 optimistisch scheinen sich Tüftler und TauIraner, 7035 Libanesen, 8111 Vietnamesen, genichtse, Kapital-Youngster und Künstler,
67 683 Menschen aus dem ehemaligen Ju- Ossis und Wessis, Deutsche und Ausländer
goslawien, 14 289 Russen und Ukrainer, insgeheim darauf verständigt zu haben, auf
14 518 Afrikaner, 18 Turkmenen und 11 012 den Brachen der Nachwendezeit die ZuMenschen ungeklärter Herkunft gemeldet. kunft möglichst groß, lärmend und schnell
Die Illegalen mitgerechnet, dürften es anzuschieben.
Nichts, was derzeit in dieser Hauptstadt
noch mal so viele sein. Zuweilen liest sich
der Polizeibericht wie eine Multi-Kulti-Par- im Umbruch abläuft, taugt als direktes Vorodie: „Wedding – Durch die Aufmerksam- bild für Feuchtwangen oder Buxtehude.
keit eines Iraners konnten zwei Algerier Und doch hat die Stadt als Versuchslabor
gestellt werden. Diese hatten einer Mon- für überfällige Veränderungen in der
golin unbemerkt die Geldbörse gestohlen.“ gelähmten Republik eine neue, wichtige
Politisch klingen die Floskeln von der Rolle. „Berlin ist deutsch-deutsche Über„Menschenwerkstatt“ Berlin und der gangsgesellschaft en miniature“, sagt der
Drehscheibe zwischen Ost und West sehr Historiker Karl Schlögel, „die Folgen des
weltgeschichtlichen Wandels vollziehen
sich in nächster Nachbarschaft.“
* Mit Berlins Regierendem Bürgermeister Eberhard
REUTERS
ordneten, die sich freuen, noch
abends im Kulturkaufhaus an
der Friedrichstraße Bücher kaufen zu können, kriegen zugleich eine Ahnung von jener umwälzenden Neuordnung des Lebens,
wie sie dem ganzen Land bevorsteht.
Schätzungsweise gerade mal die Hälfte
aller Berliner Arbeitsverhältnisse entspricht
noch der Legende vom unbefristeten Vollerwerbsjob, den Gewerkschaften und traditionelle Sozialdemokraten aus einer fernen Zeit ins nächste Jahrtausend hinüberretten wollen. Von den vielen anderen, die
sich durchschlagen mit zwei, drei, vier Jobs,
sind die Politiker mit ihrem 14-StundenTag so weit entfernt wie selten zuvor.
Das aufkommende pulsierende, quirlige
Neu-Berlin ist von der alten Tristesse der
restlichen Republik nicht minder weit weg.
Wen trifft schon das Sparpaket, die Rentenund Steuerreform? Die meisten Mitglieder
jener Computerszenen, von deren Pioniergeist Kanzler Schröder schwadroniert, haben in ihrem Leben bislang weder viel Steuern noch Sozialbeiträge bezahlt. Von der
staatlichen Wohlfahrt verlangten sie auch
kaum etwas. Sparen mussten sie schon immer. „Soziale Gerechtigkeit“ halten sie für
eine schöne, aber wirklichkeitsfremde Idee.
So tickt die „Generation Berlin“, die der
Soziologe Heinz Bude in den dynamischen
Labors der Postmodernen entdeckt hat.
Der „schicksalsfreie Wohlstand“ der Bonner Ära werde von einer Phase des „unberechenbaren Schicksals“ abgelöst, die
Ähnlichkeiten hat mit den zwanziger Jahren. Budes Fazit: „Es wird härter als früher,
aber auch spannender.“
Damit wird die Bestimmung dessen, was
das Neue sein soll, zu einer der Hauptaufgaben der Regierung Schröder. Statt einer
„kritischen wird sie eine definitorische
Haltung einnehmen müssen“, glaubt Forscher Bude. Was heißt soziale Gerechtigkeit, was individuelle Freiheit, was sind
Pflichten des Staates und welche fallen
dem Bürger zu?
Vom Dogma der Unfehlbarkeit staatlichen Entscheidens wird man Abschied
nehmen müssen. Bude erwartet „vermehrtes Denken in Optionen und Experimenten unter bewusster Inkaufnahme gelegentlichen Scheiterns“. Das wäre der
wahre Ruck, den Ex-Präsident Roman Herzog immer gefordert hatte.
Und der Staat? Welcher Staat überhaupt? In das Leben der meisten Menschen
mischt er sich im Übermaß. Aus dem anderer klinkt er sich aus.
Es gehört zu den zahllosen Paradoxien
der Stadt, dass der lebendigste Flecken der
Republik immer noch den Status quo verteidigt und vom grauesten Personal verwaltet wird. Der antiquierte Wahlkampf
zwischen den Beharrungskünstlern Eberhard Diepgen (CDU) und Walter Momper
(SPD) gibt sich zwar poppig als Show-Wettlauf zwischen Ebi, dem Jogger, und der
Glatze – diesmal ohne roten Schal.
Diepgen.
d e r
Jürgen Leinemann, Hajo Schumacher
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Werbeseite
Werbeseite
A r c h i t e k t u r , Po l i t i k u n d K u l t u r
Lenin-Büste im Hof der russischen Botschaft
Kartengrundlage: GrafikBüro Adler & Schmidt
FOTOS: W. BAUER
Die Mitte
der Hauptstadt
Neptunbrunnen vor dem Roten Rathaus
Regieren in Berlin
Neubau (ab 1990)
Bestand (bis 1989)
Regierung, Bundestag, Ministerien
Botschaften, Landesvertretungen
Parteien, Stiftungen, Verbände
sonstige Gebäude
500 Meter
Lehrter
Bahnhof
Innenministerium
Alt-Moab
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Kanzlerpark
S-Bahnhof
Bellevue
Abgeordneten-Büros an der Spree
S
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Bundeskanzleramt
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1
Wohnungen für
Bundesbedienstete
Bundespräsidialamt
Tunnelprojekte
unter dem
Regierungsviertel
Schloss
Bellevue
Straße des 17.
Juni
Siegessäule
TIERGARTEN
Grabung am Schlossplatz, Dom, Palast der Republik
Philharmonie
Tiergartenstraße
Botschaftsviertel
Verteidigungsministerium
Land
Gendarmenmarkt mit Deutschem Dom
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d e r
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2
wehrkanal
Danzige
Prenzlauer Berg
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Kollwitzplatz
Wirtschaftsministerium
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Innenministerium
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Verkehrsministerium
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Bildungs- und
Forschungsministerium
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Mauerverlauf
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Markt
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Bahnhof
Friedrichstraße
Bundestagsbüros
Umweltministerium
Schillingstraße
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Bundespresseamt
9
Palast der
Republik
Berlin-Mitte
Ebertstraß
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Brandenburger Tor
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Unter den Lin
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Pariser
Platz
Landwirtschaftsministerium
Arbeitsministerium
Potsdamer
Platz
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Wilhe
Bundesrat
11
Friedrichstraße
Bundestag
Schlossplatz
10
Auswärtiges
Amt
ehemaliges Staatsratsgebäude der DDR/
provisorisches
Kanzleramt
Jannowitzbrücke
Familienministerium
Kultur im Zentrum
Gesundheitsministerium
1 Haus der Kulturen der Welt
2 Neue Nationalgalerie
3 Martin-Gropius-Bau
4 Deutsches Theater
Justizministerium
ße
Leipziger Stra
5 Berliner Ensemble
6 Komische Oper
7 Friedrichstadtpalast
Finanzministerium
8 Museumsinsel
9 Maxim-Gorki-Theater
3
10 Staatsoper
Ministerium
für wirtschaftliche
Zusammenarbeit
Unter den Linden
11 Deutsches Historisches
Museum
12 Volksbühne
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Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Ka n z l e r
dass die Berliner frischgrünen Rollrasen in
sein Blickfeld drapiert und eine Baumreihe gepflanzt haben, wo einst das Schloss
stand. Schröder braucht keine ondulierte
Natur, die langweilte ihn schon in Bonn.
Ihn reizt der leere Platz. Auf dem könnte man was machen. Warum nicht wieder
ein Schloss? Über Drahtzäune, Bretterwände und Steinhaufen hinweg schweift
der Blick hunderte von Metern bis zum
barocken Zeughaus, den Säulen des Alten
Museums und dem wilhelminischen
Schwulst des Berliner Doms.
Der Mann am Fenster kann sich nicht
satt sehen an dieser chaotischen Stätte.
„Glücklich“ fühlt er sich. Es ist, als ob er
Energie aus den Schründen des Platzes anBundeskanzler Gerhard Schröder ist „glücklich“ in Berlin. Er liebt das
sauge. Es geht nicht um die Welt der Markgrafen, Kurfürsten, Kaiser und Könige, die
Tempo von heute und die Erfolgsmythen von gestern. Die Dynamik der
einst den Ort bevölkerten. Ihn fasziniert,
dass Touristen winken, Arbeiter herüberStadt soll seiner Politik Auftrieb geben. Von Jürgen Leinemann
starren, Autos vorbeirauschen. Leben, Abchlossplatz Nr. 1, eine Adresse cher Freude über die weite wüste Brache, wechslung, Bewegung. So hat er sich die
wie aus dem Monopoly-Spiel. auf der einmal das Palais der Hohenzollern neue Hauptstadt vorgestellt. Und er mitGewinner ist Gerhard Schröder, gestanden hat. „Berlin“, sagt er, „fand ich tendrin. „Es ist ja nicht so sehr der Ort, der
für mich Berlin ausmacht“, sagt er, „es ist
Bundeskanzler, der in einer Ba- immer schon doll.“
Gewiss, wenn da das Schloss stände, mit das Tempo.“
racke am Rande eines dörflichen
Dass der Kanzler, dessen Amtssitz für
Fußballplatzes aufwuchs. Vor ei- seinen Türmen, Giebeln und Portalen, das
ner halben Stunde ist er einge- würde ihm noch besser gefallen als der das neue Jahrtausend noch nicht fertig ist,
zogen ins ehemalige Staatsratsgebäude der Blick auf den bräunlich-trüben Torso des Unterschlupf findet in Erich Honeckers altem Herrschaftsgebäude, das längst
DDR, jetzt steht er hinter der mächtigen abgewrackten Palastes der ehemamuseal verstaubt ist, beschäftigt
Panzerglasscheibe seines provisorischen ligen deutschen Republik Ost am Neu-Berliner
Schröders Phantasie nicht wegen
Büros in Berlin und blickt mit fast kindli- Rand des Platzes. Das sagt er auch Schröder*
an diesem Tag ganz unverhohlen. Sehen
irgendwelcher historischer DelikaUm
Schönheit
geht
es
ihm
dabei
tessen – Geschichte ist ihm piepe,
und
gesehen
* Ende August mit Ehefrau Doris bei einer Stadtrundnicht. Letztlich ist es ihm auch egal, werden
wie die Berliner sagen. Ihn törnt
fahrt am Brandenburger Tor.
Das Neue ist
die Größe
S
A. SCHOELZEL
ULLSTEIN BILDERDIENST
W. BAUER
das Unfertige an, der Um-,
Ab- und Aufbruch.
Links hämmern die
Triumph und
Verfall, live Handwerker an Joschka Fiaus Berlin schers Außenamtsneubau,
der sich mächtig vor Hjalmar Schachts Nazi-Reichsbank auftürmt.
Rechts rattern Saugrotoren, die den „Palazzo Prozzo“ der einstigen Arbeiter-undBauern-Macht vom Asbest befreien und
zum Skelett abtakeln. Arbeitsalltag. Und
zugleich ein aufdringliches Gleichnis für
das Drama der Macht – Triumph und Verfall, live aus Berlin.
Der Kanzler, dem bis zu seiner Ankunft
wahrlich wenig Erfolg beschieden war,
scheint aufzuleben im neuen Ambiente.
Die aggressive Dynamik der Stadt inhaliert
er wie eine Droge. Seine Instinkte reagieren präziser, als er mit Worten auszudrücken vermag. Fast unwillig fährt
seine Hand über eine Büste Willy
Brandts, die neben ihm am Fenster steht,
den Blick auf seinen Schreibtisch gerichtet. „Den will ich austauschen“, sagt er
abrupt.
Es ist aber nicht „der Alte“, der den politischen Enkel stört, es ist die behäbig
pausbäckige Version eines jungen melancholischen Willy. Im Parteivorstand suchen
sie jetzt einen Brandt nach seinem Geschmack. Kraftvoll und voller Spannung
sollte die Büste sein, zu allen dreien müsste sie passen, lässt Schröder durchblicken:
zu Willy, zu Berlin und zu ihm.
In der lokalen Presse wird Gerhard
Schröder in den folgenden Tagen wahrgenommen, wie er es gern hat: als Berühmtheit zwar, aber als eine wie du und ich.
Umgekehrt lässt sich gewiss nicht sagen,
dass der Zugereiste aus der Provinz sich
der alten Reichs- und neuen Bundeshauptstadt Berlin mit besonderer Ehrfurcht
genähert hätte. Als handele es sich quasi
Neubau des
Kanzleramtes*
um eine Begegnung von Gleich zu Gleich, auf. Händeschütteln. Lächeln. Triumphale
turtelt er mit der Stadt herum.
Selbstbestätigung.
Berlin und er brauchten sich nicht zu suEinen Tag später, als ihn am Brandenchen, um sich zu finden, heißt die Botschaft, burger Tor Berlin-Besucher mit „Gerhard“in Wahrheit sind sie von gleicher Art. So Sprechchören feierten, drehte er sich trienergiegeladen und respektlos, so show- umphierend zu den Journalisten um:
gierig, zäh und rüde, so stillos und erfolgs- „Also, irgendwie haben die Meinungsumbesessen, auftrumpfend und zugleich un- fragen nicht Recht.“
aufgeblasen wie diese Stadt sieht Schröder
Seinen von Diepgen erwarteten „Beitrag
sich auch. Was Theodor Fontane 1870 über zur Identitätsfindung der Stadt“ blieb
den Berliner Ton geschrieben hat, gilt ohne Schröder zunächst allerdings schuldig. Im
jeden Abstrich für Gerhard Schröder heute: Gegenteil – er bewegte sich auf seinen
„Offen sein, wahr sein. Dahinter verbirgt „Entdeckungsreisen“ durch die Stadt wie
sich viel Schlauheit.“ Und die hat Methode. jemand, der umgekehrt von Berlin AnreMacht braucht und schafft Distanz. Das gungen zur eigenen Rollenfindung erhofft.
gilt für Monarchien und Diktaturen wie für
Der Kanzler spielte ein bisschen Staatsdemokratische Systeme. Die Kanzler der mann und ein bisschen Tourist, gab ein weBundesrepublik, von Adenauer bis Kohl, nig den Wahlkämpfer und auch den Geauch die Sozialdemokraten Willy Brandt schäftsreisenden, der im ersten Haus am
und Helmut Schmidt, wussten im näheseli- Gendarmenmarkt wohnt und sich nebengen Bonn durchaus auf Abstand zu halten. an zum Arbeitsessen verabredet, mit RotSchröder hatte damit Schwierigkeiten. wein und Zigarre. Dass Walter Momper,
Einerseits nervte ihn „dieses enge Aufein- der SPD-Bürgermeister-Kandidat, zu einer
andersitzen“, das dazu führte, „dass jeder Stadtrundfahrt die Schröders mit den Worvon jedem etwas wusste“. In Berlin, glaubt ten willkommen hieß: „Ich begrüße Doris
er, „wird man sich mit anderen Dingen aus- und den Bundeskanzler“, machte die Uneinander setzen müssen als mit der Frage, deutlichkeiten unfreiwillig kenntlich.
wer wann vom Unterabteilungsleiter zum
Gerhard Schröder selbst irritiert sein
Abteilungsleiter befördert werden wird und schillerndes Bild nicht im Geringsten. Im
welche Gründe das wohl haben könnte“.
Gegenteil – er fühlt sich mit seiner LässigAndererseits war es ihm lästig, sich in keit, einer ebenso demonstrativ zur Schau
seinem Kanzleramt im schönen Bonner getragenen wie tatsächlich genossenen EntPark vor solchen Klüngeleien zu ver- spanntheit, in Berlin richtig. Ob im Reichsstecken, an denen er ja als junger Abge- tag oder am Brandt-Grab, beim Zwetschordneter reichlich beteiligt gewesen war. genkuchen im Garten mit Genossen oder
Schröder braucht Öffentlichkeit als Bühne. winkend auf der Friedrichstraße – immer
Er muss raus. Sehen und gesehen werden, hat er den passenden Ausdruck im Gesicht.
nicht nur im Wahlkampf.
Er weiß instinktsicher, wann er grimmig
Am Tage seiner Ankunft in Berlin streb- gucken und kantig aussehen muss, wann
te der Kanzler, kaum hatte ihn der Regie- sein Tonfall besser bescheiden unwissend
rende Bürgermeister Eberhard Diepgen und charmant neugierig ist, wann ruppig
mit einer Marzipantorte und süßlichen Re- und kalt.
den im Hof des Staatsratsgebäudes
Hat er Visionen, wenn er durchs
begrüßt, zielstrebig durch die Hal- Reichskanzler Brandenburger Tor fährt? Fühlt er
le seines neuen Amtssitzes zur Vor- Ebert*
sich ein bisschen wie Wilhelm Zwo,
dertür, wo sich Berliner Bürger und Unheilvoll
der einst hier durchritt? „Nee, nee.
Touristen die Nasen an der Glas- aufgeladene
Ich kann ja nicht reiten.“ Auch sind
scheibe platt drückten. Macht mal Bilder
Uniformen und mit Federbüschen
* Oben: mit Ausblick auf das Reichstagsgebäude; unten:
im Dezember 1918 bei der Begrüßung von Frontsoldaten aus dem Ersten Weltkrieg.
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rung und zur Auseinandersetzung mit dem Teil der
deutschen Geschichte, der
mehr als unglücklich gelaufen ist.“
Nein, Schröder ist weder
Willy Brandt noch Wilhelm
Zwo. Er hat kein geschlossenes Weltbild und keine reflektierte Sicht auf die Geschichte. Sein postmoderner
Politikstil benutzt SprachEhepaar
bilder und Beispiele aus der
Schröder*
Historie unbekümmert um
„Ich fand
ihre emotionale Aufladung.
Berlin schon
Vor zehn Jahren hat Friedimmer doll“
rich Dürrenmatt „Deutschland“ einen Begriff genannt, „den es nur
noch in der Erinnerung gibt, in der Nostalgie, im Sentimentalen, in der Vergangenheit endlich“. Mit dem Umzug nach Berlin und der Diskussion um die „Berliner
Republik“ ist er zurückgekommen, und
Schröder, der Enkel, verwendet ihn ohne
Zaudern: „Das Deutschland, das wir repräsentieren, wird unbefangen sein, in einem guten Sinne vielleicht deutscher sein.“
Jeden Umzugsgegner, der Berlin als Stätte unheilvoller Wiedergeburten beargwöhnt, müssen solche Sätze alarmieren.
Denn aus ihnen scheinen die Geister des
preußischen Zentralismus und die wilhelminischer Großmannssucht zu sprechen,
die angeblich noch hinter Säulen und Fassaden in mächtigen Gebäuden lauern.
Ist nicht schon jetzt der freie Atem des
Bundestags hinter den klotzigen Mauern
des Reichstages schwächer geworden? Mit
schwarz-rot-goldenen Kordeln versuchen
sie die Journaille auf Distanz zu halten.
Undenkbar in Bonn. Freilich auch erfolglos in Berlin, bis jetzt.
Und wird nicht auch dieser Kanzler
künftig aus einem Amt regieren, dessen
pathetische Machtgeste sich im Rohbau
provokant ausnimmt? „Ein bisschen arg
monumental“ findet auch Schröder das
Bauwerk. Von der Qualität und den Plänen
seiner Schöpfer Axel Schultes und Charlotte Frank ist er beeindruckt, zumal das
künftige Berliner Kanzleramt deutlicher
auf Öffentlichkeit angelegt ist als das Bonner. Trotzdem: „Wenn ich dabei gewesen
wäre, hätte ich gesagt: Haben Sie es nicht
ein bisschen kleiner?“
Wahr ist wohl, dass kein sozialdemokratischer Kanzler sich getraut hätte, so
klotzig Staat zu machen, auch Schröder
nicht. Es war Helmut Kohl, der erregt die
Pläne der Architekten verwarf, das Kanzleramt ästhetisch und räumlich an die Bundestagsbauten anzuhängen, gleich hoch.
Er wolle „einen Solitär“, polterte er, doppelt so hoch wie vorgesehen und in klarem
Abstand zu den Parlamentsbauten.
Jetzt hat ihn Schröder, der seinem Einzug mit gemischten Gefühlen entgegensieht: „Je mehr er Gestalt annimmt, um
so mehr haut es einen um.“
M. URBAN
„Machtworten“ zunimmt und er selbst den
Deutschen flott die „Normalität“ einer „erwachsenen Nation“ bescheinigt, die schon
mal wilhelminisch kräftig das Wort führen
darf.Was neu sein wird in Berlin, hat Schröder vor seinem Umzug gesagt, „ist Größe.
Das Deutschland ist größer geworden“.
Ist das die Sprache der „Berliner Republik“? Der Kanzler offenbart eine Unbefangenheit gegenüber der deutschen Geschichte, die einen das Gruseln lehren
könnte, stünde dahinter eine andere Person. Für das Nachkriegskind Schröder indes ist der Frieden in Europa so sehr eine
Selbstverständlichkeit, dass ihm der Gedanke an ein neues deutsches Vormachtstreben gar nicht kommt. Die KonkurrenzGeneration der Enkel findet ihren robusten
Redestil einfach „modern“.
Als Walter Momper bei einer Stadtrundfahrt dem Kanzler die Siegessäule auf
der Straße des 17. Juni erklären wollte –
„Die erinnert an den deutsch-französischen Krieg von 1870/71“ – fragte Schröder
fröhlich: „Gewonnen?“ „Ja.“ Na bitte, signalisierte da die Mimik des Neu-Berliners, es geht doch.
Ein Tabubruch? Helmut Kohl wäre
schockiert gewesen. Genau solche Reaktionen will Schröder provozieren. Für ihn
ist die Nachkriegszeit endgültig vorbei, das
tragische Geschichtspathos seines Vorgängers hat sich überlebt. 70/71? Ein Krieg von
anno dunnemals. Schröder redet darüber
wie über ein Fußball-Länderspiel.
In einer Mischung aus Unschuld und Provokation steht er zu seiner Gleichgültigkeit
gegenüber der Vergangenheit.
„Ich bin schließlich nicht Willy,
der das alles miterlebt hat“,
pflegt sich das Nachkriegskind
Schröder zu rechtfertigen, als
könne er sich damit aus der
Verantwortung für die deutsche
Geschichte herausstehlen.
Warum sollte es ihn beeinflussen, wenn er Deutschland
aus historisch kontaminierten
Gebäuden regiert? Im Staatsratsgebäude empfindet er
nichts, selbst in Hitlers Reichskanzlei, stünde die noch, wäre er wohl eingezogen. „Das
zwingt doch auch zur ErinneF. OSSENBRINK
verzierte Helme wirklich nicht
seine Requisiten der Macht.
Das Deutschland, von dem Schröder an
der Spree schwärmt, wenn er über Vergangenheit redet, ist keine politische Größe:
Sein historisches Berlin ist eine vage kulturelle Zauberformel, nostalgisch verklärte
Beschwörung der „Goldenen Zwanziger“,
mehr Stimmung als Realität, Selbstanfeuerung zwischen historischen Kulissen. Irgendwie ändert sich alles, nur Berlin bleibt
doch Berlin. Und Schröder Kanzler.
Schon jetzt ist absehbar, wie der NeuBerliner Regierungschef den bunten Hintergrund der Metropole, die kulturellen
und sozialen Umbrüche und Übergänge,
den Glanz von damals und den Flitter von
heute, zu einer neuen Inszenierung seiner
Person benutzen wird.
Die Politiker werden sich hier ändern
müssen, glaubt er, die „kulturelle Vielfalt
der Stadt, das Aufeinanderprallen unterschiedlicher Kulturen“ zwingen der Politik
einen veränderten Stil auf. „In Berlin wird
die Dynamik sichtbar, die in unserem Lande steckt“, sagt Schröder. Und keine Frage, er wird sie verkörpern.
Schröders Herrschaftsinsignien sind Mikrofone und TV-Kameras, in die er seine
Einschätzungen locker hinein sagt. Mag er
auch noch so sehr tun, als sei er eins mit seiner Umwelt, Gerhard Schröder ist sich immer bewusst, dass diese Gemeinsamkeit
künstlich ist. Er ist der Star, ist zugleich Inhalt und Verkäufer seiner Politik, die als permanente Vorabendserie verabreicht wird:
„Unter den Linden“ – statt „Lindenstraße“.
Säkularer Kult. Der Kanzler als poppigprofaner Ersatzheiliger. Das mochte harmlos, ja liebenswert provinziell wirken vor
dem Hintergrund der rheinischen Idylle.
Aber mit den historisch unheilvoll aufgeladenen Bildern der ehemaligen
Schröder- Reichshauptstadt im HinterVilla* grund, könnte das Schröder-Bild
Glanz von leicht bedrohliche Züge kriegen.
damals, Flitter Vor allem, wenn das Geschrei
von heute nach „kraftvoller Führung“ und
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* Oben: Ende August im Garten von
SPD-Bürgermeister-Kandidat Walter
Momper; unten: in Berlin-Dahlem.
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Essay
Berlin meldet
Z
Von Cees Nooteboom
ULLSTEIN BILDERDIENST
weimal ist es in den letzten Wochen vorgekommen,
Form von Autos und Heerscharen von Urlaubern in das kleine,
zunächst in einer spanischen, danach in einer amerikanivom Krieg herabgewürdigte und in seiner Souveränität verletzte
schen Zeitung. Beim ersten Mal ging es um die deutsche
Nachbarland strömten, was natürlich auch wieder Konsequenzen
Weigerung, entgegen den Ukassen der Europäischen
in Form rachsüchtiger Bemerkungen und bitterer Scherze hatte,
Union britisches Rindfleisch zu importieren. Beim
so dass es schien, als werde sich das Verhältnis zum früheren
zweiten Mal um eine Entschädigung für Holocaust-Opfer in MilFeind und neuen, mächtigen europäischen Verbündeten nie wieliardenhöhe, die die deutsche Regierung zu leisten hätte. Nur, in
der normalisieren.
beiden Fällen stand nicht mehr „Deutschland“ oder „die deutWährenddessen war mir 1956 in Budapest exemplarisch vor Ausche Regierung“ da, sondern einfach „Berlin“, ein metonygen geführt worden, wie ein Heilssystem, an das so viele meiner
mischer Gebrauch dieses zweisilbigen Wortes, das man seit
Freunde bis dahin geglaubt hatten, in Wirklichkeit aussah, eine Erdem Zweiten Weltkrieg so nicht mehr gehört hatte. „Berlin May
fahrung, die bei Besuchen in Ost-Berlin noch bestätigt wurde, wo
Pay Billions to Holocaust Survivors.“ Es war also so weit. BerDeutsche lebten, die so taten, als hätten sie mit dem ganzen Krieg
lin war wieder ganz Deutschland geworden und Deutschland
nichts zu tun gehabt – oder es sogar glaubten, und sich folglich
Berlin.
an der Grenze in ihren Uniformen unbekümmert so aufführten
Das letzte Mal, als ich das
wie die Klischees unserer bittersgehört hatte, war als Kind
ten Witze, mitsamt Hunden und
während des Krieges: Berlin
Gewehren und Stimmen, mit desagt, Berlin meldet – Berichte in
nen sie vom Fleck weg als Statisdem wenigen, was noch als Zeiten für den erstbesten stumpftung übrig war, Stimmen im Rasinnigen Kriegsfilm hätten engadio. Danach zerbrach nicht nur
giert werden können. Es ist nicht
das Land, sondern auch die
immer von Vorteil, so lange zu
Stadt. Wenn jetzt von Berlin geleben, dass man das alles noch
sprochen wurde, so waren es
weiß, vor allem nicht, weil es
Stimmen aus Washington, Paris,
später so unvorstellbar wird: UlMoskau, London sowie aus eibricht, Grotewohl, die freudigen
ner komischen kleinen ProvinzGesichter der an den Ehrenstadt, deren Name nicht in die
tribünen Vorbeimarschierenden
Reihe dieser Metropolen zu
auf der einen Seite, die nackten
gehören schien. Rom blieb Rom
Studentinnen auf dem Podium
und Tokio Tokio, Deutschland
bei Adorno, die Berufsverbote,
Hitler am Brandenburger Tor (1939)
hingegen hatte sich versteckt
Baader/Meinhof, Morde und
oder ging auf Zehenspitzen umGeiselnahmen auf der anderen.
her, Militärs in fremden Uniformen hatten ein wachsames Auge
Unterdessen jedoch lief die träge, oft so langweilige, uninterauf alles, und der neue Mann an der Spitze war ein Kölner Oberessant wirkende Maschinerie weiter, die des besten aller schlechbürgermeister unverdächtiger Provenienz, der so nahe bei den
ten Systeme, der Demokratie. Häufig besetzt mit mittelmäßigen,
Niederlanden wohnte, dass fürs Erste niemand mehr auf den
kleinkarierten Maschinisten mit hie und da einer genialen AusGedanken an Macht oder an Berlin verfiel.Was vor noch gar nicht
nahme, ohne machtpolitische und globale Prätentionen, noch
so langer Zeit ein Reich gewesen war, wurde jetzt eine getarnte
immer leicht getarnt.
Provinz, in der schweigend, aber mit einer unvorstellbaren EnerWas mich selbst betrifft, so wurde ich 1989 vom Deutschen
gie der Wiederaufbau in Angriff genommen wurde.
Akademischen Austauschdienst nach Berlin eingeladen, und ich
Den Rest der Geschichte kennen wir, ich jedenfalls kenne ihn
nahm diese Einladung an, eine der besten Entscheidungen, die
auswendig: Wirtschaftswunder und Mauer, Luftbrücke und RAF,
ich in meinem Leben getroffen habe. Für einen anarchistischen
die Gruppe 47 und Willy Brandts Kniefall in Warschau, die RadiAmsterdamer galt es anfangs, sich umzustellen: Als Fußgänger
kalisierung der Studenten, die in einer Generation alles wieder
an der roten Ampel warten, auch wenn nichts kommt, die eigegutmachen wollten, was ihre Väter falsch gemacht hatten, die Inne Frau nicht mehr auf dem Gepäckträger mitnehmen (verbotellektuellen, die aus falsch verstandenem Schuldbewusstsein die
ten!), an den Marktständen vorsichtig das genaue Ende der
wahre Natur des Zwangssystems, neben dem sie lebten, nicht erSchlange suchen, um keine protokollarischen Fehler zu machen.
Doch schon bald fand ich es wunderbar und begann die Stadt zu
kennen wollten – ich sah es, las es, und zugleich blieb es weit weg.
lieben. Die geschichtlichen Ereignisse überstürzten sich, und ich
Zwar reiste ich ein paarmal nach Deutschland, doch seinem
saß in der Loge.
Kern kam ich nicht auf die Spur, ich hatte Freunde, die im KonVon einer Unfähigkeit zu trauern, die etliche Jahre zuvor
zentrationslager gewesen waren, in meinem Land gab es endlose
noch so viel Staub aufgewirbelt hatte, merkte ich nichts, im
Dokumentarberichte im Fernsehen, die die Unterdrückung und
Gegenteil, es schien, als nehme die Beschäftigung mit der
den Widerstand beleuchteten, es gab die alljährliche TotengeVergangenheit bisweilen fast orgiastische Formen an, als könne
denkfeier, die die Gefühle verschärfte, Meldungen über Nazis in
kein Mahnmal groß genug sein, um der Trauer über das Unneuen deutschen Regierungen oder in deren Nähe sowie breit
denkbare Form zu geben. Vergessen wurde dabei Nietzsches
ausgewalzte Berichte über die NPD. Zudem wurde schon bald eine
Warnung, dass die vitale Kraft zum Handeln verliert, wer sich
neue Wirtschaftsmacht erkennbar, deren ostentative Symbole in
obsessiv in der Vergangenheit verankert, wobei natürlich daÜbersetzung: Helga van Beuningen.
hingestellt bleibt, ob Nietzsche sich diese Vergangenheit hätte
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J. RÖTZSCH / OSTKREUZ
MELDEPRESS
vorstellen können und was er in dem Fall gesagt
ich von diesem schmelzenden Land Abschied nehmen muss,
hätte.
aber ich kann es noch nicht, zu viel ,unfinished business‘ gibt es
Im Übrigen schien es an dieser vitalen Kraft nach wie vor nicht
noch. Kennen wir Deutschland? Kennt es sich selbst? Weiß es, was
zu mangeln, Deutschland war zum wirtschaftlichen Motor Euroes werden will, wenn es groß ist?“
pas geworden, während es noch immer auf Strümpfen zu gehen
Verschiedene Male bin ich seitdem wieder in Berlin gewesen.
schien, die in einer Bonner Fabrik gestrickt worden waren. Doch
Beim Anblick des Potsdamer Platzes hatte ich das Gefühl, dass an
auf der anderen Seite hatte es Zeitungen, die zu den besten und
einem Turm zu Babel gebaut wurde (oder an einem Tunnel nach
bestinformierten ganz Europas gehörten, großartiges Theater,
Moskau). Bei einer dieser Gelegenheiten wurde ich in einer Talkeine Fülle beneidenswerter Kunstfördermaßnahmen. Kurzum,
show gefragt, was ich bei dem Satz „Die Deutschen kommen“
das Land war zu beneiden, gerade diese Bonner Politik hatte es
dächte. Meine Antwort lautete, das hätte ich schon einmal erlebt,
in den Kreis der Völker Europas zurückgeführt. Es setzte sich für
als ich sechs Jahre alt war. Die nächste Frage betraf das neue Selbstdie Einheit ein, war sogar bereit, seine heilige Mark dafür zu opbewusstsein, von der die neue Regierung spreche. Meine Antwort
fern, man brachte ihm Vertrauen und Respekt entgegen. Nur
darauf war, wenn man es hätte, bräuchte man nicht darüber zu sprezweifelte es noch ein wenig an sich selbst und wollte daher imchen, und meines Wissens habe Kohl nie darüber gesprochen.
mer von Ausländern hören, was diese nun eigentlich von ihm
Heute lese ich in meiner spanischen Zeitung, dass der Bunhielten, eine Frage, die einem Engländer nie in den Sinn käme, weil
deskanzler seine Amtsgeschäfte in Berlin aufnimmt. Daneben ist
es ihm gleichgültig ist, wie andere über ihn denken.
ein Foto von ihm auf dem Fahrrad, in Hemdsärmeln, wie es sich
Da war nur noch eines: dieses
gehört. Wie es aussieht, fährt er
merkwürdige Schwesterland,
so schnell, dass er an seinem
das sich an den Rücken des
Büro vorbeizufahren droht, was
großen Landes schmiegte, und
ich verstehen kann, warten dort
in ihm Berlin als geteilter Zankdoch etliche heikle Probleme
apfel. Man fuhr mit einem leichauf ihn, wie die spanische Zeiten Schauder dorthin und kehrtung fein bemerkt, zum Beispiel
te mit einem Gefühl der Bestürdie unterschiedlichen Gehälter
zung zurück. Es schien normal,
bei seinen eigenen Beamten,
konnte es aber unmöglich sein.
wobei die aus dem Westen mehr
Plötzlich geschah das ganz
bekommen als die aus dem
und gar Unerwartete, der töOsten, die im selben Gebäude
nerne Koloss begann zu tauarbeiten, oder der Streit in seimeln. Dann war es so weit, und
ner eigenen Partei, der darum
ich war dabei. Sich zu freuen
geht, den Mitgliedern zu sagen,
war nicht schwer: Erstens hatte
dass das böse 21. Jahrhundert
ich das wahrscheinlich absurde
nun tatsächlich begonnen hat.
Bundeskabinett im Staatsratsgebäude
Gefühl, der Krieg sei nun endDas Geheimnis jenes Dritten
lich vorbei, zweitens, dass EuWeges, den der Bundeskanzler
ropa jetzt die Chance habe, wirklich vereint zu werden. Doch da
und sein englischer Kollege Tony Blair jetzt entdeckt haben, hätwar auch noch etwas anderes, und das hing mit einem Gefühl für
te ihnen allerdings schon vor Jahren der niederländische Premier
Logik zusammen, etwas, das schwieriger zu erklären ist. Große
Wim Kok verraten können.
Länder haben ein spezifisches Gewicht, und das bedeutete, ohne
Die vorläufige Antwort auf meine rhetorische Frage damals in
dass ich dafür eine Gesetzmäßigkeit anführen könnte, dass es in
den „Berliner Notizen“ ist also fürs Erste ein Mann auf dem Fahrdiesem Fall nur natürlich wäre, wenn dieses geteilte Land wierad, der, auch wenn er noch so viel tun kann, genauso wie ich
der eine Einheit würde. So hatten auch stets alle Lippenbewird abwarten müssen, was geschieht, da die Demokratie nun mal
kenntnisse gelautet.
ein Spiel oder Kampf zwischen Kräften ist, die ein Mann, und
Doch nun war es auf einmal so weit, die Geschichte hatte eine
mag er noch so mächtig sein, nicht alle in einer Hand halten kann.
rasend schnelle Pirouette gedreht, und plötzlich zeigte sich, dass
Ich meine, er steht nun buchstäblich vor der wirklich großen poder Status quo vielen wunderbar in den Kram gepasst hatte. Für
litischen Herausforderung seiner Regierung, der Erweiterung der
viele Intellektuelle aus dem Westen wäre diese Vereinigung abEuropäischen Union nach Osten.
solut nicht nötig gewesen, was dem niederländischen Historiker
Als die Mauer gerade gefallen war, zeichnete ein deutscher
und Chef des Deutschland-Instituts in Amsterdam, Maarten
Freund eine Karte des neuen, wieder vereinigten Deutschland auf
Brands, zufolge von einem frustrierten Verhältnis in Deutschland
einen Bierdeckel. Unangenehm nahe der Linie, die die Grenze
zwischen „Geist“ und „Macht“ beziehungsweise zwischen Inzu Polen darstellen sollte, malte er einen kleinen Punkt. Das
tellektuellen und dem Staat herrührt, wobei der Staat in den Auwar Berlin, die Stadt, deren Name nun als Pars pro toto für ganz
gen der Intellektuellen für gewöhnlich wenig richtig machen
Deutschland benutzt wird. Der
kann. „Nach der Wende“, schreibt Brands in seinem Essay, „sind
Traum von einem wirklich vereinsie durch die neue Situation, die sie ja gerade nicht gewollt hatten Europa wird erst in Erfüllung
ten, offensichtlich in Verlegenheit gebracht worden. Dies fällt
gehen, wenn diese Stadt, ohne sich
am stärksten bei sogenannten Linksintellektuellen auf. Gerade
vom Fleck zu rühren, weiter in die
bei ihnen schien der Ideenreichtum vor 1989 so groß, während
Mitte rutscht.
sie jetzt zur Diskussion über Deutschlands gegenwärtige Position
und angestrebte Zukunft sehr wenig beitragen. Schweigende
Nooteboom, 66, lebt als Schriftsteller in
Wortführer werden sie genannt.“
Amsterdam und in Spanien. Von 1989
Jedenfalls erinnere ich mich, dass ich Schwierigkeiten damit
bis 1993 wohnte der Niederländer in
hatte, weil hier ein großer historischer Augenblick, dessen BeBerlin. Er beschrieb seine Erfahrungen
deutung weit über die spezifisch deutsche Wirklichkeit hinausaus der Zeit der Wiedervereinigung in
ging, von kleinlichem Gezänk zwischen Ossis und Wessis über
den „Berliner Notizen“. Dieses Jahr erGeld und über unterschiedliche Vergangenheiten getrübt wurde,
schien bei Suhrkamp sein überwiegend
und ich fragte mich, wie das weitergehen würde. Nicht ohne Pain der Hauptstadt spielender Roman
thos schrieb ich in meinen „Berliner Notizen“: „Ich weiß, dass
„Allerseelen“.
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A b g e o rd n e t e
Umzug ins
echte Leben
D
sich in der Hauptstadt im ver- Abgeordnete
trauten Westen oder den Janz, Niehuis,
schon gewesteten Bezirken SonntagPrenzlauer Berg oder Mitte Wolgast
niedergelassen.
Sehn se mal,
Der Bundeskanzler a. D. wat hier im
Helmut Kohl etwa kaufte sich Osten los is
eine Wohnung im teuren Grunewald, wo die West-Berliner Baulöwen
und andere Besserverdiener residieren.
Wolfgang Schäuble zog ebenfalls nach
Grunewald; Gerhard Schröder ins ebenso
noble Dahlem. Rita Süssmuth und Franz
Müntefering haben sich in Plattenbauten
unweit des Brandenburger Tores eingemietet; die Grüne Antje Vollmer erwarb
eine Altbauwohnung im bürgerlichen
Charlottenburg.
Antje-Marie Steen hingegen hatte sich
schon unmittelbar nach dem Umzugsbeschluss von 1991 vorgenommen, in den
Osten zu ziehen. Die Probleme der neuen
Bundesbürger den Parlamentariern auch
im Alltag nahe zu bringen war
schließlich das wichtigste Argument für die alte und neue
Hauptstadt. Und in Friedrichshain, wo seit der Wende über
20 000 Industrie-Jobs verloren
gingen, sind die Volksvertreterinnen dem Volk entschieden
näher als der Kaschmir-Kanzler und seine „neue Mitte“.
Ilse Janz, SPD-Linke und
Kind einer Arbeiterfamilie,
sagt: „Ich mag es, eine normale Umgebung zu haben.“
Die Bewohner des Samariterviertels, hat Janz beobachtet,
„sind gelassener und weniger
hektisch als im Westen“.
Edith Niehuis stellte im Gegensatz zu den verbreiteten
Bonner Ängsten vor den ungehobelten Berlinern fest: „Die
Leute hier sind ausgesprochen
nett und offen.“ Auch Cornelie Sonntag-Wolgast, die anW. BAUER
as Samariterviertel rund um die sche Bundestagsabgeordnete vor ein paar
Bänschstraße im Ost-Berliner Be- Wochen zur Avantgarde der Berliner Subzirk Friedrichshain wirkt wie kultur gestoßen.
Aus der Loggia eines 1902 im Jugendstil
Kreuzberg in den siebziger Jahren
– nur ohne Türken. Von Rudeln erbauten Mietshauses in der Bänschstraße,
großer Hunde umlagert, vor bunt bemal- die nach einem von den Nazis ermordeten
ten und mit Graffiti überzogenen Häu- antifaschistischen Schlosser benannt ist,
sern, hängen Punks ab. Arbeitslose nähren blickt Antje-Marie Steen aus Holstein auf
sich strikt nach der Devise: Bier is och die backsteinrote Samariterkirche. Zu
Stulle. Der Naturkostladen „Grünezeiten“ DDR-Zeiten organisierte ihr heutiger CDUwirbt für das Brot der Woche, gleich da- Kollege Rainer Eppelmann dort Bluesneben offeriert der „Mami-Grill“ fettigen messen, Umwelttage und andere dissidenDöner oder der „Lolly-Pub“ billigen te Veranstaltungen.
Im selben Hause haben sich die ParlaAlkohol.
In dem traditionsreichen Arbeiterquar- mentarische Geschäftsführerin Ilse Janz
tier, inzwischen der viertärmste Bezirk der und die beiden Abgeordneten und StaatsHauptstadt, haben sich seit der Wende Au- sekretärinnen Cornelie Sonntag-Wolgast
tonome, Alternative und Raver, Studenten und Edith Niehuis eingemietet. Ein Beamund Singles angesiedelt. Friedrichshain ist ter des Auswärtigen Amtes und eine Fraktionsmitarbeiterin komplettieren
hip wie kein anderer Berliner Bedie kleine Bonner Kolonie im
zirk, weit mehr als die moderni- Bänschstraße
Samariterviertel.
sierten und von Touristen über- in Friedrichshain
Mit der Wahl ihres Quartiers
rannten einstigen Trendquartiere Vorstoß zur
fallen die Neu-Friedrichshainer
Mitte und Prenzlauer Berg.
Avantgarde
deutlich aus dem Rahmen, denn
Ohne dies zu beabsichtigen, der Berliner
die meisten Abgeordneten haben
sind auch vier sozialdemokrati- Subkultur
ARIS
Viele Bonner Politiker zogen in bürgerliche Viertel West-Berlins oder in die
verwestlichte Mitte. Vier SPD-Abgeordnete und Staatssekretärinnen
haben sich in Friedrichshain eingemietet, wo der Osten noch Osten ist.
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Literaturtipps
(„Sie sind alle gleich und
alle gleich schlimm“) und
Mit 1000 Adressen und
verraten die Orte, an denen
Empfehlungen. Rowohlt Ver- sich schon mancher sponlag; 1999; 39,80 Mark.
tan und nachhaltig in Berlin
Wer vor dem Verschwinden verliebte – ein amüsanter
der Currywurst noch mal
Klassiker für Ankömmlinge.
dieses Traditionsgericht genießen will, wird zu den ver- Rosemarie Köhler
meintlich besten Buden ge- BRENNESSELSUPPE UND
ROSINENBOMBER
führt. Neben weiteren RatDas Berliner Notkochbuch.
schlägen zum Essen viele
Eichborn Verlag; 1999;
klassische Einkaufstipps.
39,80 Mark.
Michael Bienert
Tagebuchnotizen und
BERLIN – WEGE DURCH DEN
Zeitungsschnipsel schildern
TEXT DER STADT
den Überlebenskampf
Klett-Cotta Verlag; 1999;
während der Hungerjahre
36 Mark.
von 1945 bis 1949. Bei
Bei sieben Stadt-Spazierden mehr als 200 Originalgängen stellt der Autor lirezepten schwankt der
terarische Texte vor, die in
Leser zwischen Schaudern
Berlin oder über Berlin geund Neugier. Es muss nicht
schrieben wurden: Er illugerade Tee aus Tannennastriert den Kreuzberger
deln des Grunewalds oder
„Bosporus“ anhand von
Grieß mit Gräten als Ersatz
Theodor Fontane, erlebt
für Kaviar sein. Aber warum
den Wilden Osten durch
nicht mal den Salat aus
Alfred Döblins Franz BiberGänseblümchen probieren?
kopf oder inspiziert mit
Michael Sontheimer
Uwe Kolbe den früheren
BERLIN, BERLIN
DDR-Grenzübergang BornDer Umzug in die Hauptholmer Straße.
stadt.
Wolfram Mach, Bernd Tonn
SPIEGEL-Buchverlag; 1999;
BERLIN IM INTERNET
29,90 Mark.
Bebra-Verlag; 1998;
Pünktlich zum Beginn der
19,90 Mark.
„Berliner Republik“ läßt
Ein immer noch informatiSPIEGEL-Autor Sontheimer
ver Helfer für Einsteiger und die Ereignisse seit dem BerKenner, die im virtuellen
lin-Beschluss des BundestaBerlin.de surfen möchten.
ges 1991 Revue passieren.
Enthält wichtige Adressen
Das Geschichten-Buch zum
aus Politik, Wirtschaft und
„Jahrhundertumzug“.
Kultur – von hoch offiziell
SECOND HAND STADTPLAN
bis tief untergründig.
Herausgegeben von Frank
Carmen Böker, Silvia Meixner Schumacher.
WIE WERDE ICH EIN
1998; 9,80 Mark.
BERLINER?
Wer gute Augen hat, findet
In 55 Schritten zum Haupt- in diesem Faltblatt jede
städter.
Menge Antiquariate, TröBostelmann & Siebenhaar
delläden und Geschäfte für
Verlag; 1999; 24,80 Mark. gebrauchte Designer-Mode,
Frech und lebensnah beRäder, Computer, Schmuck
schreiben die Autorinnen
oder Teddys.
alle zutreffenden Klischees
KÜNSTLER-LITERATEN-STADT(„Die Freundlichkeit wurde
PLAN VON BERLIN
in Berlin nicht erfunden“),
Edition Gauglitz; 1998;
warnen vor Zielen wie den
24,80 Mark.
permanenten Volksfesten
BERLIN IM GRIFF
d e r
In welchem Haus hat Albert
Einstein gewohnt? Wo ließ
Friedrich Ludwig Jahn den
ersten öffentlichen Sportplatz errichten? Was ist
noch zu sehen von Heinrich
Heines Stammlokal, wo liegt
Marlene Dietrich begraben?
KIND IN BERLIN
Ausgabe 1999/2000.
Herausgegeben von Mars.
Companions Verlag; 1999;
19,80 Mark.
Windelservice, Bauernhöfe
und Bäder, Drachenläden,
Oma-Hilfsdienst, Museen,
Rummel und Rikscha –
nützliche Informationen für
Kids und ihre Eltern. Leider
fehlt das Thema Schule.
BAHNHOF BERLIN
Herausgegeben von Katja
Lange-Müller. dtv; 1997;
16,90 Mark.
In dieser Anthologie mit
Texten aus den neunziger
Jahren erzählen 35 Schriftsteller und Dichter – darunter viele Shooting Stars –
von „ihrem“ Berlin.
BERLIN: OFFENE STADT
Herausgegeben von den
Berliner Festspielen und
der Architektenkammer Berlin; 1999; 24,80 Mark.
Fußgänger können auf zehn
Routen die Veränderungen
Berlins seit dem Mauerfall
erkunden. Wer sich für Architektur und Städtebau interessiert, kommt an diesem Buch kaum vorbei. Es
besticht durch eine gelungene Auswahl sowie gute
Karten und Beschreibungen
der Bauprojekte.
Claudia Wahjudi
METROLOOPS
Berliner Kulturentwürfe.
Ullstein Verlag; 1999;
22 Mark.
Die Autorin, Jahrgang
1965, führt durch Galerien,
Clubs, Kneipen und Lounges der „unabhängigen Kulturszene“. Eine etwas wirre
Collage über wirre Zeiten.
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W. BAUER
Julius Grützke, Thomas Platt
sonsten im vornehmen Har- Abgeordnete
vestehude in Hamburg behei- Steen,
matet ist, fühlte sich auf An- Nachbar
hieb in Friedrichshain wohl. Gelassen
„In sechs Wochen“, sagt sie, und weniger
„habe ich hier schon mehr hektisch
vom echten Leben mitgekriegt
als all die Jahre im Bonner Regierungsviertel.“
Dass die vier Sozialdemokratinnen so
tief im Osten gelandet sind, haben sie
ihrem Genossen Eckhard Fischer zu verdanken. Der Referent der SPD-Fraktion
für Wirtschaft und Tourismus kaufte im
Sommer 1996 das Haus in der Bänschstraße
und sanierte es mit viel eigener Arbeit und
tatkräftiger Unterstützung seiner Eltern.
„Ich bin Sozialdemokrat“, sagt er, „und
strebe keine Gewinnmaximierung an.“
Die Mieten in seinem Haus liegen so
auch nach der Modernisierung bei unter
zehn Mark warm pro Quadratmeter und
sind sozial gestaffelt: Die Abgeordneten
zahlen mehr, bei angestammten Bewohnern wird nur ein Teil der Sanierungskosten umgelegt. Die Mieter sind zufrieden.
Auch die Nachbarn reagieren freundlich
auf den Zuzug. Birgit Bosse, Geschäftsführerin eines Sozialprojekts, wohnt im
Haus nebenan und sagt: „Ich finde es gut,
wenn die Bonner sich hier untermischen.“
Selbst die Bierbüchsenhalter haben keine Einwände: „Mir is det zwar schleierhaft, warum die gerade zu uns kommen“,
sagt einer von ihnen vor dem „Lolly-Pub“,
„aber von mir aus könn’ se ruhig. Sehn se
mal, wat hier im Osten los is.“
Das größte Problem haben die Bonnerinnen bislang mit ihren Dienstwagen.
Ilse Janz, die tapfer eine halbe Stunde zu
ihrem Büro Unter den Linden radelt, riet
ihrer Mitbewohnerin Niehuis: „Lass dich
hier bloß nicht ständig mit dem Dienstwagen abholen.“ Die Kollegin Steen lässt die
Limousine der Bundestagsfahrbereitschaft
vorsichtshalber schon ein paar Straßen vorher stoppen und läuft dann zu Fuß in die
Bänschstraße.
Michael Sontheimer
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Werbeseite
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Architektur
die neue, helle Architektur des Plenarsaals
von Günter Behnisch und die konservativen Wahrer der traditionell steinernen Architektur Berlins gegenüber. Es ging darum, ob Avantgarde und Experiment die
baulichen Formen bestimmen sollten oder
„neue Einfachheit“ und „preußischer Stil“,
ob geschwungene Form und Leichtigkeit
aus Glas und Stahl oder Disziplin, Geradlinigkeit, Schwere und Solidität sich durchsetzen könnten.
Das Unglück der von Widersachern als
„Blockwarte“ verhöhnten Traditionalisten:
Sie zogen aus der richtigen Analyse die
Berlin, die Baustelle der Nation, sucht zwischen Vergangenheit und
falschen Schlüsse. Da sie die BauverbreZukunft eine neue Identität. Neben der Einheitsware der Investoren-Ästhetik chen, von der Nachkriegszeit bis in die
siebziger Jahre, nicht wiederholen wollten,
entstehen auch eigenwillige Meisterwerke. Von Jürgen Neffe
entzogen sie der modernen Architektur
inmal mehr erhebt sich diese Stadt len historischen Phasen sind zumindest und ihrem Formenkanon generell das Verüber ihre Vergangenheit. Auf der Fragmente erhalten, Ruinen hier, restau- trauen. Gleichwohl behielten die VerfechSuche nach einer Identität und rierte Bauten dort. Triumphe und Desaster ter der „Europäischen Stadt“ die Obergefangen im eigenen Mythos, der spiegeln sich im Stadtbild wider. Die ganze hand – was den Büros ihrer Propagandisten
ohnehin nie mehr war als eine Verwirrung der Welt im 20. Jahrhundert, wie Oswald Mathias Ungers, Jürgen SaMetapher für unbestimmte Sehnsüchte, auch sie gebündelt in dieser Stadt. Doch so wade, Josef Paul Kleihues und Hans Kolldurchlebt Berlin seine Metamorphose gut sie ihr Woher kennt, so schwer tut sie hoff einträgliche Aufträge bescherte.
Die von ihnen geforderte „kritische Rezur europäischen Hauptstadtmetropole sich nach wie vor mit dem Wohin.
Über diese Frage entlud sich der Berli- konstruktion“ der Stadt mit einheitlicher
im Taumel zwischen Befreiung und Niener Architekturstreit, ein ideologischer Traufhöhe und geschlossener Blockbederlage.
bauung auf altem Grundriss wurde
Wenn es stimmt, dass „eine Stadt“, wie Grabenkrieg, wie ihn die Republik
als neue Berliner Baupolitik von
Wolf Jobst Siedler in seinem 1998 erschie- in Sachen Städtebau noch nicht er- Neubauten
nenen Buch „Phoenix im Sand“ anmerkt, lebt hat. In der seit 1993 äußerst am Potsdamer der Verwaltung streckenweise mit
eiserner Hand durchgesetzt – und
„die steingewordene Gesellschaft der in polemisch geführten Debatte über Platz
zwar nirgendwo so konsequent wie
ihr Lebenden“ ist, dann ist Berlin das deut- den Neuaufbau der Hauptstadt Mirakel und
in der Friedrichstadt, dem Viertel
sche Troja, in dem die Schichten der Ge- standen sich die Vertreter des pro- Debakel dicht
zwischen Brandenburger Tor und
schichte offen zu Tage liegen. Aus fast al- gressiven Bonn unter Berufung auf beieinander
Metamorphose der
Metropole
E
W. BAUER
grammdisketten für FassaDagegen herrscht selbst in der neuen
dengestaltung stammen, Daimler-Stadt am Potsdamer Platz trotz
wie sie die Flachglasin- ihrer missglückten Shopping-Arkaden seit
dustrie an ihre Kunden dem Eröffnungstag quicklebendige Aktiverschickt. Selbst die noch vität. Dort haben Kinos, Kasino, Musical,
zu DDR-Zeiten entstande- Geschäfte, Gaststätten und Hotel bei hoher
nen historisierenden Plattenbauten am Bürodichte offenbar die richtige Mischung
Gendarmenmarkt machen gegen die Kon- und kritische Masse für Magnetwirkung
sum- und Büroklötze keine schlechte Figur. erreicht. Das ist vor allem dem italieniAldo Rossi versuchte im „Quartier schen Stararchitekten Renzo Piano zu verSchützenstraße“, wenn auch puppenstu- danken. Mit der scheinbaren Leichtigkeit
benhaft verspielt, gegen den Trend anzu- seiner voluminösen Bauten und seinen mebauen und die frühere Struktur der Fried- diterran anmutenden Plätzen und Innenrichstadt aufzugreifen. Seinen Block hat er höfen ist es ihm gelungen, dem steinernen
konsequent wieder in teilweise äußerst Berlin eine fast heitere Note zu geben.
schmale Parzellen zerlegt und collagenhaft
Rund um den Potsdamer Platz lassen
mit unterschiedlichen Haustypen bebaut. sich Mirakel und Debakel der jüngsten BerDeren oft übertrieben wirkende Farbig- liner Gründerzeit in direkter Nachbarkeit, ein Markenzeichen des Italieners, lässt schaft in Augenschein nehmen. Mehr als
das Ensemble allerdings mitunter wie eine sechs Millionen Menschen haben die rote
Persiflage wirken – kitschige statt kritische „Info-Box“ auf dem Leipziger Platz bislang
Rekonstruktion.
aufgesucht, um draußen den Baufortschritt
Überzeugender gelingt den
und drinnen die fertigen Viertel per
Ost-Berliner Architekten Götz DG Bank am
Computer-Animation zu begutachten.
Bellmann und Walter Böhm, Pariser Platz Ein herber Verlust für Berlin, wenn dieRossis früheren Mitarbeitern, im Aufregende
se architektonische Einmaligkeit Ende
„Neuen Hackeschen Markt“ un- Architektur ins nächsten Jahres ihren Dienst getan haweit des Alexanderplatzes eine Innere verlegt ben und abgerissen werden wird.
Rückbesinnung auf den traditionellen Städtebau. Ihr Spiel mit
der Kleinteiligkeit innerhalb dieses in acht Vorderhäuser gegliederten Komplexes mit unterschiedlichen Dächern, Farben,
Geschoss- und Traufhöhen fügt
sich mit geschickter Vermischung
von Läden, Kneipen, Büros und
Wohnungen bestens in die enorme bauliche Dichte der Gegend,
die ganz Schnelle schon zum
Soho Berlins erklärt haben.
In der Friedrichstadt dagegen
findet solche Differenzierung
vor allem unter der Erde statt,
in den Kellern jener drei monumentalen Quartiere, die zu den
„Friedrichstadtpassagen“ verbunden sind. Gleichsam als
Kompensation für die Deckelung himmelwärts setzen sich
etliche Häuser des Viertels unterirdisch über drei bis fünf Tiefetagen fort – in der Gesamtheit
mit zwei Sockel-, vier Ober- und
zwei bis drei Staffelgeschossen
nichts anderes als eingegrabene
kleine Hochhäuser.
Die zur „Flaniermeile“ hochstilisierte Friedrichstraße, die
sich in puncto Urbanität mit
dem Kurfürstendamm im Westen nicht messen kann, zerrt ihre
Passanten in die Tiefe. Statt Urbanität zu schaffen, wie sie die
Gegend um den Zoo auszeichnet, wird hier die Idee von der
Shopping Mall auf grüner Wiese
in verfeinerter Form in die Tiefe der Stadt transformiert.
Friedrichstraße
Gendarmenmarkt, Unter den Linden und
Checkpoint Charlie.
So richtig es war, gerade dort Wildwuchs
zu verhindern und das Gedächtnis des
historischen Kerns zu bewahren, so fatal
nehmen sich die Resultate von städtebaulicher Planwirtschaft und ästhetischen Säuberungskampagnen nun aus. Nicht Bauherren, die neben ihrem Geld auch ein wenig Stolz in die Gestaltung von Gebäuden
stecken, haben die meisten der neuen
Baukörper errichtet, sondern Investorengemeinschaften, die sich für Renditen interessieren, nicht für das Gesicht einer
Siedlung. Zwar ließen sich namhafte Baumeister aus der ganzen Welt gewinnen,
doch unter dem Druck der strengen Vorschriften und vor allem dem Zwang, maximale Nutzflächen zu erzielen, lieferten die
Koryphäen Architektur von der Stange,
kalt und charakterarm.
Das Bild, welches Friedrichstraße und
Umgebung heute abgeben, straft das Konzept der kritischen Rekonstruktion Lügen.
Formalitäten wie alte Straßenführung oder
maximale Gebäudehöhe können allein den
Geist einer Gegend, ihre Vitalität und Vielfalt nicht wiederbeleben. Vor dem Zweiten
Weltkrieg gab es in der Straße mehr Lokale
als Hausnummern. Ein Häuserblock war
selber ein Stück Stadt, das aus einer Vielzahl unterschiedlich bebauter Parzellen bestand. Jede Fassade war anders beschaffen, die Häuserhöhen variierten.
Da der Senat in Aufbau-Eile allen Warnungen zum Trotz oft ein ganzes Straßenkarree nur einem Bauträger überließ, ist
die Parzelle heute verschwunden – der gesamte Block ist nun das Gebäude. Mögen
diese in ihrem Innern teilweise auch ansprechend gestaltet sein – die Außenhäute
mit ihren notorischen Steintapeten aus vorgehängtem Travertin, Granit oder Sandstein in nichts sagender Repetition immer
gleicher Raster könnten von den Pro-
W. BAUER
P. LANGROCK / ZENIT
Städtebauliche
Planwirtschaft,
ästhetische
Säuberung
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ARCHITEKTUR-TOUREN
W. BAUER
Der Blick von deren Dachterrasse macht in der Praxis
deutlich, worum es im Architekturstreit
noch theoretisch ging: Gleich im Süden entstehen nach den Plänen von Giorgio Grassi die „Park Kolonnaden“, ein disziplinierter Riegel gleichförmiger düsterer Bauten in
roter Backsteinverkleidung. Der Mailänder
hielt sich streng an die Vorgaben der Traditionalisten – sein Ensemble wird nicht zu
Berlins einladendsten Quartieren gehören.
Wie schön, stil- und detailsicher trotz Architekten Schultes, Frank
der enormen Masse das steinerne Bauen
sein kann, zeigt Hans Kollhoffs Kopfbau chen der Kriegsbombardements einen
zum Potsdamer Platz. Das Hochhaus von eigenen, zukunftweisenden Platz. Beim
fast 100 Meter Höhe mit seinen sorgfältig Neubau der DG Bank am Pariser Platz
in der Klinkerfassade versenkten großen musste der Amerikaner Frank Gehry sein
Holzfenstern und seinen horizontalen gestalterisches Können ins Innere des
Feingliederungen erinnert an das Chi- Gebäudes verlegen – aufregende Archilehaus in Hamburg. Mit seinen nach tektur versteckt sich nun hinter einer langWesten ausgerichteten, in zwei Stufen weiligen Hülle.
Als Altmeister Philip Johnson den
abfallenden Flügeln wirkt es wie ein
freundlicher Riese, der vor der legendären Auftrag bekam, in der Friedrichstadt einen Bürokomplex zu errichten, empfahl
Kreuzung auf die Knie gegangen ist.
Das glasharte Sony Center des Deutsch- der New Yorker den Stadtplanern, Beramerikaners Helmut Jahn auf der anderen lin ein Wahrzeichen zu geben. „Wir
Straßenseite dagegen lässt die Vorbehalte brauchen Masse, keine Wahrzeichen“,
der Traditionalisten im Nachhinein verste- bekam er zur Antwort und stellte den
hen. Seine entnationalisierte Architektur Berlinern am Checkpoint Charlie sein
setzt sich eitel und eiskalt über alles hin- klobiges, blutleeres „American Business
weg, was das Ideal der „Europäischen Center“ hin.
Wie recht Johnson hatte, zeigt sich wie
Stadt“ ausmachen soll.
Spannend wird die neue Berliner Archi- nirgendwo sonst am Reichstag mit seiner
tektur dennoch meistens dort, wo kritische neuen Kuppel. Das gläserne Halb-Ei des Sir
Rekonstruktion und steinernes Berlin nicht Norman Foster ist zum Symbol des neuen
hinreichen, wo eher Künstler als Ingenieu- Berlin geworden, Einheimische und Gäste
re am Werk sind und Bauwerke errichten, drängen seit der Eröffnung in Schlangen
nach denen sich die Menschen umsehen – über die Rampen nach oben.
Das Regierungsviertel hält sich bewusst
etwa das von den Berlinern „Gürteltier“
getaufte Ludwig-Erhard-Haus am Zoo nicht an das Korsett der „Kritischen Reoder das GSW-Hochhaus am Rande der konstruktion“ – die Wettbewerbssieger
Axel Schultes und Charlotte Frank haben
Friedrichstadt.
Einige der neuen Botschaftsgebäude ihr 100 Meter breites, ein Kilometer langes
wie das Ensemble der Vertretungen Skan- „Band des Bundes“ über den Spreebogen
mit Kanzleramt, Abgeordnetenhaus
dinavischer Staaten am Tiergarten oder – noch im Entwurf – Skandinavische und Parlamentsbibliothek gegen
den historisch belasteten StadtRem Koolhaas’ spektakulärer Botschaften
grundriss geplant.
Würfel für die niederländische Zukunft
Die neue Mitte des Staates disGesandtschaft an der Spree, auf der
tanziert sich von der Berliner Bauschaffen sich auf den Leerflä- Leerfläche
tradition ebenso deutlich wie von
der Architektur der Bonner Republik. Schultes baut dem Kanzler ein Amt des Dritten Wegs,
einen orientalisch anmutenden,
stellenweise märchenhaft verspielten Palast, der in seiner Wuchtigkeit allerdings mit dem nahen
Reichstag symbolträchtig konkurriert.
Ein solches Gebäude haben die
Bundesrepublik und erst recht Berlin noch nicht gesehen. Ein Träumer hat die Regierungszentrale des
neuen Deutschland entworfen –
und Schultes’ Motto als Architekt
klingt arglos: „Nur Narr, nur Künstler“. Das kann aber auch eine Drohung sein.
KULTUR BÜRO BERLIN
Das „Kultur Büro Berlin“ (030/444 09 36)
bietet während der Berliner Mammutausstellung „Das XX. Jahrhundert“ vom
4. September 1999 bis zum 9. Januar
2000 Busführungen zur Architektur in
Berlin. Da die Stadt für eine KomplettTour zu groß ist, stehen die vier Himmelsrichtungen oder die Route „Zentrum“
zur Wahl.
STATTREISEN
Von April bis September macht
„StattReisen“ (030/455 30 28) Spaziergänge durch Berlin. Neben ungewöhnlichen Stadtteil-Touren wie „Steile Platte.
Marzahns Zukunft“ und diversen
Themenrundgängen werden auch literarische Abendspaziergänge und Einblicke in die „Nachtwelten“ der
Szene-Bezirke Mitte und Kreuzberg geboten.
GANGART BERLIN
Mit „Gangart Berlin“ (030/32 70 37 83)
lassen sich die „Großbaustelle Spreebogen“ erkunden, alte und neue Regierungsbauten besichtigen oder per Bus
die Spuren der Mauer verfolgen. Wer
schon immer mal Fernsehen live erleben
wollte, kann die Tour „Film, Fernsehen
und Kulisse“ buchen, die unter anderem
in die Studios des Filmparks Babelsberg
führt.
ART:BERLIN
Einen Blick in feine Berliner Hotels,
Salons und Kunstgalerien erlaubt
„art:berlin“ (030/ 28 09 63 90). Architekturführungen, Mauerspaziergänge
oder ein Rundgang durch die russische
Kolonie in Potsdam stehen ebenso auf
dem Programm.
REBELLISCHES BERLIN
Wer Berlin am liebsten per Schiff und
am Sonntag erkunden möchte, kann von
Mai bis September Orte des „Rebellischen Berlins“ vom Wasser aus betrachten, mehr vom jüdischen Leben
in Berlin erfahren oder sich zu Themen
wie „Immer den Frauen nach!“ oder
„Hoppla, wir sind vereinigt“ durch
die Kanäle schippern lassen von der
„Berliner Geschichtswerkstatt“
(030/215 44 50).
PLUS PUNKT
Mit Bus, Schiff, Fahrrad oder zu Fuß
durch Berlin führen die Touren von „plus
punkt“ (030/774 40 81). Angeboten
wird eine reiche Auswahl zum Thema
Architektur und Städtebau, aber auch
zur Kulturgeschichte der alten, neuen
Hauptstadt.
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Werbeseite
FOTOS: W. BAUER
tumsverhältnisse der Häuser
abschließend geklärt waren,
erstritt Weitz für ihre Interessenten geeignete Objekte:
etwa die Bar „Hackbarth’s“
des Ost-Berliner Künstlers
Uwe Redigd, heute 37, und
des West-Berliner Sozialarbeiters Jörg Breburda, 43.
Einst eine muffige Ladengruft, ist die frühere Bäckerei
mit dem üppigen Messingtresen und den goldumränderten blauen Fliesen an der
Wand heute die Kultstätte in
der inzwischen berühmten
Auguststraße.
Im „Hackbarth’s“, wo es
bis jetzt keine ordentliche
Registrierkasse gibt und sich
die Bedienungen am Ende
der Nacht selbst das Honorar
ausbezahlen, herrscht noch
immer ein wenig die Illusion,
Szene-Viertel dass alles ist wie damals, am
Mitte Anfang in Mitte: ein Raum
Die Claims ohne Regeln, ohne Zwang
sind und Hierarchie.
„Hier war nichts, und nieabgesteckt
mand hatte was zu sagen, wir
haben uns jeden Tag selbst neu erfunden,
und wir allein waren der Boss“, erinnert
sich der inzwischen ebenfalls zu Ruhm gekommene Galerist Harry „Judy“ Lybke,
38, dem Weitz zu Wendezeiten unweit vom
„Hackbarth’s“ zu Ausstellungsräumen verhalf. Die von Lybke Betreuten, darunter
viele Unbekannte aus dem subversiven
Künstlermilieu der DDR, gehören heute
fast schon zu den Saturierten des Kunstbetriebs.
Viele der damals von Abenteurern aus
Ost und West besetzten Wohnruinen in
Mitte sind nun frisch getünchte YuppieResidenzen. Dazwischen erhält das Amt
für Denkmalschutz eine der abgeblätterten
Häuserfassaden im Originalzustand – als
Andenken an die wilden Zeiten.
Da wurden noch fast alle
Bar-Besitzer Kneipen illegal betrieben wie
zuletzt die sogenannte MonBreburda
Illusion eines tagsbar. Im Drei-Tage-Takt
wechselten dort höchst eiRaums ohne
genwillige Ausstellungen und
Regeln
Theaterexperimente. Inzwischen sind in den einstigen Raum der OffKultur-Szene Architekten gezogen, der
frühere Mitbetreiber und Filmwissenschaftler Marc Glöde, 30, stieg zum Kurator und Lehrbeauftragten an der Kunsthochschule in Dresden auf.
Professionalisierung und „Vermainstreamung“ ist in Mitte voll im Gange,
beobachtet der gelernte Autoschlosser
und diplomierte Philosoph Olaf „Gemse“
Kretschmer, 37, aus Chemnitz, der 1993
das legendäre „Delicious Doughnuts“ in
der Rosenthaler Straße eröffnete. In dem
mit witzigen 60er-Jahre-Möbeln zusam-
Andenken an
die wilden Zeiten
Vom Szene-Geheimtip zur Touristenmeile: Im Viertel um die Oranienburger
Straße prallen die Gegensätze der Hauptstadt voll aufeinander.
lötzlich war Mitte das neue Mitte.
Das Zentrum des Ostens direkt
hinter der Mauer wurde in wenigen
Monaten nach der Grenzöffnung
zum magischen Quartier der Ateliers, Galerien, Bühnen und Bars – und das
verdankt Berlin-Mitte einer zierlichen
blonden Frau aus der Gewerberaumabteilung der Kommunalen Wohnungsverwaltung der DDR.
Jutta Weitz, 50, verfügte über
2000 meist baufällige, leer stehende Läden und Fabriken im
alten Herzen von Berlin rund
um die Oranienburger Straße.
Und als Mitte nun wieder wirklich die Mitte der vereinten
Stadt war, lenkte die Sachbearbeiterin unauffällig, aber energisch die Entwicklung des Viertels, so dass heute die Touristen
noch staunend die Spuren der
In-Szene suchen.
Kommerz und Kapital, SexShops und Videotheken hatten
bei der im Sozialismus sozialisierten Raumverwalterin keine
Chance. Von Kunst und Punks
hatte sie kaum eine Ahnung,
P
64
aber dass man „den Lebensentwürfen der
Menschen einen Platz“ geben müsse, davon war die DDR-Bürgerin überzeugt. Wer
hier heute etwas hat und etwas ist, verdankt es meist der heimlichen Macherin
von Mitte.
In nächtelangen Konferenzen mit dem
Bezirksamt und meist bevor die Eigen-
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Werbeseite
G.A.F.F.
mengezimmerten LiveMusik-Club entstanden damals noch Gegenwelten zur
kommerziellen Musikszene des
Techno, sogenannter Acid Jazz. Alles Geschichte. „Heute ist das
Nachtleben ein Industriezweig“,
sagt „Gemse“. Orte, an denen „etwas wirklich Neues beginnt“, gibt
es nur noch wenige.
Im Jahre zehn nach der Wende
ist die Experimentierphase in
Mitte so gut wie abgeschlossen,
die Claims sind abgesteckt. „Wir
Älteren, die wir zuerst hier waren, haben den Finger am Colt,
damit die jüngere Generation nicht
zu schnell nach oben kommt“,
bekennt sich Galerist Lybke
zur Verteidigung der eroberten Auguststraße eleganten Ausstellungsort gemacht
Pfründen.
hat, stellt Biesenbach für verschieNirgendwo
Kunst aus Berlin-Mitte ist in- so krasse
dene Veranstaltungen zur Verfüzwischen ein nachgefragter Arti- Gegensätze
gung: mal gegen Entgelt wie für
kel geworden, weltweit. Niemand
eine Kommerz-Party von Wolfhat dafür mehr getan als der ehemalige gang Joop, mal kostenlos wie für einen KulMedizinstudent Klaus Biesenbach, der seit tur-Event der Berliner CDU.
der Wende eine atemberaubende KarrieLangsam erwacht auch das jüdische Lere vom interessierten Laien zum interna- ben wieder, das in Berlin-Mitte sein deuttionalen Kunstmanager vollzog: Der sches Zentrum hatte und bis zur Nazi-Zeit
Rheinländer erfand die „Berlin Bienna- die flirrende Vielfalt des gesellschaftlichen
le“, eine Schau von Nachwuchskünstlern, Lebens prägte. Dass die Deutschen offenund ist mit 33 Jahren bereits „Senior-Cu- bar weit entfernt sind vom selbstverständrator“ im New Yorker Ausstellungszen- lichen Umgang mit den Juden, zeigt nicht
trum PS1.
nur die massive Polizeipräsenz vor den jüDurch seine Kontakte zur internationa- dischen Gebäuden.
len Kunstszene entscheidet Biesenbach
Lara Dämmig, 35, im Ostteil der Stadt
heute mit, ob Christoph Schlingensief ans aufgewachsen und heute Mitarbeiterin der
Museum of Modern Art nach „Ronald S. Lauder Foundation“ des New
„Newton“- New York gelangt oder Chris- Yorker Kosmetik-Erben, stört mittlerweile
Bar tine Hill zur Documenta nach schon die „Folklorisierung“ des Jüdischen.
Fama von Kassel. Seine „Kunst-Werke“, Plötzlich spielten Nichtjuden zur Unterder ewigen eine ehemalige Margarinefa- haltung nichtjüdischen Publikums die geParty brik in Mitte, aus der er einen rade angesagte Klezmer-Musik. Jedes zwei-
te Café auf der Oranienburger Straße werde wie das „Silberstein“ oder „Mendelssohn“ nach berühmten Juden benannt, kritisiert Dämmig, auch wenn man dort
Schweinegeschnetzeltes serviere und es
keinerlei Bezug zum jüdischen Leben gebe.
Kreative und In-People aus der ganzen
Welt hat die Fama angelockt von der ewigen
Party, die jeden Tag neu gefeiert wird. Geborene Berliner sind in Berlin-Mitte ohnehin
eine rare Spezies. Über 10 000 der 74 500
Einwohner ziehen jährlich wieder von dort
fort, dafür kommen mehr als 9000 neue.
Seit fast 200 Jahren lockt das Zentrum
die mobilen, unruhigen Wahlberliner an.
Hier hat 1838/39 der Jurastudent Karl Marx
aus Trier gewohnt. Der junge Feuerkopf
verkehrte im „Doktorclub“ und dichtete:
„Alles möcht ich mir erringen. Nur nicht
dumpf so gar nichts sagen und so gar nichts
wolln und tun.“
Bis heute gibt es in der mehr als DreiMillionen-Stadt Berlin nirgendwo sonst so
krasse soziale Gegensätze wie in Mitte.
Rund um die Hackeschen Höfe und das
Scheunenviertel hinter der Oranienburger
Straße leben die gut verdienenden Singles
neben Studenten, Kreativen und kleinen
Angestellten. Arbeitslose versammeln sich
hier morgens um neun Uhr am Elektrizitätskasten zum Bier, die schönen SzeneMenschen abends in der „Newton“-Bar.
Gleiche Chancen für alle, weiß Jutta
Weitz, bis heute Mitarbeiterin der Wohnungsbaugesellschaft Mitte, wird es hier
so schnell wohl nicht wieder geben. „Zehn
intensive Jahre waren das“, sagt sie, „was
jetzt kommt, ist nicht aufzuhalten.“ Vor
ihrer kleinen Wohnung in der Auguststraße
parken inzwischen die roten Sportcabriolets der In-People, und demnächst zieht
Außenminister Joschka Fischer auf den
Kiez.
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Ve r ga n g e n h e i t
schleift wird, hat es die von Ulbricht erbaute Prachtstraße der Arbeiter zum „Europäischen Kulturdenkmal“ gebracht. Der
Hauptweg des Arbeiter-und-Bauern-Staates trägt heute unverfänglichere Namen:
Karl-Marx- und Frankfurter Allee.
Die Besitzerin des Zeitungsladens dort
am U-Bahnhof Weberwiese wirkt wie ein
Ausstellungsstück aus dem DDR-Freiluftmuseum. Selbst in der Sanierung des
Straßenzuges kann sie westdeutsche
Knechtung erkennen.
Das mit dem Denkmalschutz, erklärt die
studierte Psychologin und Ökonomin, die
seit der Wende ihre Kenntnisse über Marktwirtschaft erfolgreich anzuwenden weiß,
Löffeln auf
Ostdeutsch
FOTOS: W. BAUER
Überall im Ostteil Berlins finden sich die Reste der „Hauptstadt der DDR“ –
nicht nur zu Stein geworden in der einstigen Stalinallee
oder am Majakowskiring, sondern auch in den Köpfen der Menschen.
ahnenmasten stehen Spalier in Pankow, am Schloss Niederschönhausen, vor verlassenen Gästehäusern
am Majakowskiring und im Garten
des Wohnhauses mit dem Metallschild „Ulbricht“ an der Pforte. Die Fahnenmasten stehen stramm, als sei der dunkelblaue Volvo noch unterwegs, der
schwarze Tschaika oder die graugrüne
Staffel der Volkspolizei.
Doch nur eine kleine Frau mit weißem
Haar dreht eingehakt in den Arm ihrer Begleiterin ihre Runde an der einstigen Protokollstrecke der DDR. „Das ist unsere
Lotte“, erklärt die Frau von der benachbarten Bundesforstverwaltung.
Lotte Ulbricht, 96, die Witwe des einstigen Staatsratsvorsitzenden Walter, wohlauf, aber nicht so gesprächig wie in der
Pankower PDS-Basisgruppe, schlurft durch
jenes Viertel, das Konrad Adenauer veranlasste, die DDR das „Pankower Regime“
zu schimpfen. Dem Bundesvermögensamt,
dem hier fast alles gehört, was sich einst die
DDR angeeignet hatte, sei Dank: Der Renovierungswahn kapitalistischer Investoren konnte sich in dem beamtenverwalteten Viertel noch nicht austoben. So bleibt
F
70
in der Hauptstadt der Berliner Republik ein Stück
„Aufopfernde Hauptstadt der DDR erhalten.
Arbeit der
Überall im Ostteil der
SowjetStadt gibt es solche Markmenschen“
steine einer gar nicht so vergangenen Epoche: Von den Helden der Arbeit, in Bronze gegossen und in die Parks
verteilt, bis zum Überschuss an Kindergartenplätzen reicht das DDR-Angebot.
Stalins Sprüche über die „aufopfernde
Arbeit der Sowjetmenschen“ leuchten
noch immer in Blattgold am Treptower Ehrenmal für die sowjetischen Soldaten –
nicht mal eine kleine Tafel hingegen erinnert am Schloss Niederschönhausen an den
„Runden Tisch“, der die Demokratisierung
der DDR hier voranbrachte.
Gerüste stehen am „Palast der Republik“, verspottet als Erichs Lampenladen,
Gerüste auch an der einstigen Stalinallee,
durch die Berliner Bauarbeiter am 17. Juni
1953 demonstrierend zogen. Doch während
der Palast, in dem die ersten und letzten
frei gewählten Volkskammerabgeordneten
sich 1990 kurz in Demokratie übten, von
Asbest befreit und dann wohl ganz geThälmannDenkmal
d e r
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sei der neueste Kniff der Weltzeituhr am
Wessis: „Die mauern uns Alexanderplatz
sogar die Müllschlucker „Die mauern
zu.“ Aus Gründen der Hy- uns zu“
giene? „Angeblich“, kontert sie knapp und verzieht vielsagend den
Mund.
Gewiss kommen Ost und West in Berlin
auch zusammen, an den Universitäten,
an denen Dozenten nicht mehr nach der
Herkunft der Studenten fragen, oder im
Grünen-Kreisverband von Prenzlauer
Berg, der inzwischen mehr west- als ostdeutschstämmige Mitglieder hat und in
dem mehr Schwäbisch als Sächsisch gesprochen wird.
Doch wie in keiner anderen Stadt hält
sich in Berlin, der einstigen DDR-Vorzeigemetropole, neben der neuen Normalität
zugleich ein Bewusstsein, das in der DDR
nicht nur wurzelt, sondern auf dem alten
Humus weiterwächst. Dietrich Mühlberg,
früher der Papst der DDR-Kulturwissenschaftler an der Humboldt-Universität und
nun abgewickelter Professor, hat die ostdeutschen Besonderheiten zu einer Art
Rassentheorie des Ossis verquirlt. Was ostdeutsch ist und wer ostdeutsch ist, erkennt
er wenigstens auf den zweiten Blick. Und
natürlich ist es besser als westdeutsch.
Seine Tochter, erzählt Mühlberg, wolle
nichts mehr mit dem Osten zu tun haben.
„Da habe ich ihr gesagt: Alle zehn Sekunden kann ich dir anmerken, dass du aus
dem Osten kommst.“ Er nimmt den Löffel
in die Hand und führt vor, wie östlich und
wie westlich eine Suppe gelöffelt wird. Der
Westler führe den Löffel vom Körper weg
in den Teller, dann weit weg und erst im hohen Bogen in den Mund. Der Ostler hingegen löffle zügig in sich hinein. „So löffeln
eben kleine Leute.“
Westler sagen Sex mit hartem, Ostler mit
weichem S, Westler brauchen mehr Platz,
größere Arbeitszimmer („Sonst fühlen die
sich eingesperrt“), Westler haben kein gutes Verhältnis zum Körper. Mühlberg ist
heute wieder wer: In der einstigen Hauptstadt der DDR, in der nun auch Rheinländer heimisch werden wollen, organisiert er
„Ostdeutsche Kulturtage“.
Von seinen schlagenden Beweisen ist es
nur ein Steinwurf bis zu offenem Hass gegen die Wessis. In den dicht besiedelten
und immer wieder als „Szeneviertel“ titulierten Bezirken Friedrichshain und Prenzlauer Berg haben sich vermeintlich linke
Aktivisten an die Spitze einer Bewegung
gesetzt, die sich gegen die Verdrängung sozial Schwacher aus den Quartieren wehrt.
Ideologisch aufbereitet, wird aus dem
berechtigten Protest ein verdächtig völkisches Aufbegehren: gegen die angeblich
nicht einzudämmende Flut von Westdeutschen, die gen Osten strömt.
Solche Sorgen kennt man nicht am Majakowskiring. Die öffentliche Hand als Vermieter oder Hausbesitzer ist nicht viel anders als die KWV, die Kommunale Wohnungsverwaltung der DDR.
Alte Mietverträge sichern alten Kadern
einen ruhigen Lebensabend rund um den
Majakowskiring. In dem Haus, in dem einst
Justizministerin Hilde Benjamin wohnte,
lebt heute ihr Sohn Michael. Der sitzt nun
an demselben Schreibtisch, an dem vormals Hilde arbeitete, die rote Hilde,
berüchtigt für ihre harte Prozessführung
in den fünfziger Jahren. Zwei Todesurteile
hat sie verhängt.
Benjamin junior arbeitet an einer Biografie seiner Mutter, die mit dem Bruder
des Schriftstellers Walter Benjamin verheiratet war. Er will seine Mutter nicht reduziert sehen auf ihre Zeit als Richterin
und Ministerin. Schließlich hat sie nicht
nur harte Urteile verfasst, sondern auch
einfühlsame Erinnerungen an die jüdische
Dichterin Gertrud Kolmar.
Auch Benjamin, Mitglied der „Kommunistischen Plattform“ und des Parteivorstandes der PDS, ist ein Teil der DDR, die
Bestandteil der Bundesrepublik Deutschland geworden ist. Mit der Ost-Berliner
Straßenbahn kann er nun vom Majakowskiring bis in den West-Berliner Wedding
vordringen.
Stefan Berg
Lizenz zum Meckern
Seit der Wende breitet sich der Berliner Schnodderton wieder aus. Nun hat
der gefürchtete Witz ein neues Hassobjekt: die Ankömmlinge aus Bonn.
angsam einsteigen is nich. „Wird dit türlichen Feind des neuen Berlin. Autonoheute noch ma wat? Komm inne me und Normalos, Ossis und West-BerliHufe!“ U-Bahnstation Hermann- ner, so sehr sie einander auch verachten,
platz, Neukölln. „Ssurückbleim!“ kennen ihre Gegner:
Ist es vielleicht doch die falsche
Modernisierer und Dynamiker allgeRichtung? Suchender Blick auf den U- meiner Art. Dazu jene, die Berlin nicht für
Bahnplan an der Waggondecke. Ellenbogen den einzig lebbaren Ort der nördlichen
bohren sich in den Rücken, drücken ins Hemisphäre halten. Und schließlich alle,
Abteil. „Gloobs wohl, du biss alleene uff die durch schiere Anwesenheit die Idylle
der Welt, wa?“
im Kiez bedrohen.
Die echten Balina. Bei Tucholsky kamen
So weben von Charlottenburg bis Kösie noch aus Posen oder Breslau und hat- penick Visionäre am real existierenden
ten keine Zeit. Heute stammen sie von vor Angstszenario der Hauptstadtwerdung:
oder hinter der Mauer und wissen nicht Schlipstragende Karrieristen machen die
mehr, wo’s langgeht. Also sind sie ruppig. Mieten kaputt und ziehen in DachwohUnverdrossen sagt ihnen der Volksmund nungen. Da wohnt er am liebsten, der BonHerz hinter der Schnauze nach. Verborgen ner. Dachgeschosse sind sein „Terraing“.
unter einem proletenhaften Panzer aus res- Als Chef im Büro oder als Kundin im Lapektloser Schnodderigkeit soll irgendwo den terrorisieren sie die Alteingesessenen
das Gute sitzen. Nähere Auskünfte erteilt und führen dabei Tabuwörter wie „SerIhre freundliche Berlin-Werbung.
vice“ im Mund. Een Service kommt aba
Seit jeher fühlt sich der Balina als Held
aus Meißen und steht bei Omma innen
des Alltags. Gewappnet mit sarkastischSchrank.
lakonischen Sprüchen à la Heinrich
Kein Zweifel, seit der Wende ist
Zille, hat er preußische Zensur
Berlinern wieder auf dem Vorund die Blockade ausgesesmarsch. Vom Ostteil der
sen, die Bomben und die
Stadt, wo das Berlinische viBonzen. Wie ein Fluch hängt
taler geblieben ist, erobert es
über der Stadt, dass alle undie Stadtsprache im Westen –
jemein jewitzt sein müssen.
als Lizenz zum Meckern.
Und schlagfertig.
Gut genörgelt ist halb
Humoa? Grobheit,
kommuniziert. Beim genicht selten gefolgt
meinsamen Schimpfen
kommt man sich schnell
von Nötigung, Körnahe. Man kann sagen,
perverletzung und
dass Konversation in Berlin
Sachbeschädigung.
meist über etwas Drittes,
„Du verschissene
störend dazwischen GerateRussenfotze,
du
nes erfolgt. Darüber regen
Scheiß-Sau.“ Wie
sich alle Beteiligten auf, um
von Sinnen tobte ein
dann zufrieden gegenüber
Kreuzberger Rentner,
Neuankömmlingen auszuals er sah, wie eine
rufen: Sehn Se, dit is Balin!
Lada-Fahrerin ein VorMeckern und das Bederauto beim Einparken
leicht touchierte. Es war nicht
Zille-Figuren meckerte lieben. Nach Ordnung schreien und das Chaos
mal sein eigenes. Und wenn sich
ein Türke vor dem scharf gemachten Pit- dulden. Hauptstädter sein wollen und probull gerade noch in sein Auto retten kann, vinziell denken. Hilfsbereitschaft mit
feixt dessen Neuköllner Herrchen breit- Schnoddrigkeit übertünchen. Das ist die
beinig: „Verstehen keen Spaß, die Ka- berlinische Dialektik.
„Jeht’s nich noch größer?“, nörgelte ein
nacken, der will doch nur’n Döner!“
Allen Mythen zum Trotz ist der Berliner Busfahrer, als ein Fahrgast nur mit einem
gleichwohl kein Großstadtbürger. Sein Hundertmarkschein bezahlen konnte. UnMisstrauen gilt dem Neuen. Seine Frem- ter Maulerei über fehlendes Wechselgeld,
denfeindlichkeit ist solide. Sorgsam hegt die Dreistigkeit und überhaupt wurde der
er eine Kleinstadtborniertheit, die er nach Fahrgast schließlich durchgewinkt und um30 Jahren Inseldasein für seine Mentalität sonst transportiert. Sehn Se, ooch dit is
hält. Das macht den Alt-Berliner zum na- Berlin!
Adrienne Woltersdorf
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Ost-West
Trotz und Vorurteil
Wo einst die Mauer stand, ist kaum noch zu erkennen. Doch Ost- und WestBerliner fremdeln noch immer.
s war einer dieser warmen SommerVieles hat sich im vergangenen JahrSonntage. Der West-Berliner Kunst- zehnt getan. Und doch ist „der Graben“
historiker hatte sich mit Ostver- zwischen der alten Frontstadt West-Berlin
wandten an einem See getroffen, und der ehemaligen Hauptstadt der DDR
man hatte zusammen gegessen, ge- „tiefer geworden“, sagt Axel Schmidt-Göredet, gelacht. Wir können doch mal delitz, Leiter des Berliner Büros der Friedschnell baden gehen, schlug schließlich ei- rich-Ebert-Stiftung.
ner vor, und eh der Charlottenburger so
Der Abgrund existiert vor allem in den
richtig begriff, hatten sich seine Ostbesu- Köpfen. Besonders wer auf der einen oder
cher schon splitternackt ausgezogen.
der anderen Seite der geteilten Stadt bis
Er war fassungslos. Nicht dass er prü- zur Lebensmitte geprägt wurde, „lauert“
de wäre, nackt baden am FKK-Strand, oftmals, so Schmidt-Gödelitz, „nur auf
bitte sehr, aber „so überall und an jedem zwei, drei Stichworte, die alles, was an VorOrt“, das sei doch nun wirklich „eine Stil- urteilen schon da war, bestätigen“.
frage“.
Die Westler sind berechnend, oberDie fehlende Badehose als Ost-West- flächlich und arrogant, heißt es im Osten.
Konflikt – selbst in der Sprechstunde der Und im Westen wollen viele einfach nicht
Ost-Berliner Familientherapeutin Anna- verstehen, warum „die da drüben“ nicht
Margarete Krätschell, 56, war der textile endlich so sind „wie wir“.
Unterschied schon mehrmals heiß umFür den „normalen West-Berliner“, sagt
kämpftes Thema. West-Partner kämen Klaus Schütz, 72, zwischen 1967 und 1977
„mit dem freien Umgang“ ihrer Ost-An- Bürgermeister der Teilstadt, finden die Vergetrauten nicht klar, hat die Beraterin fest- änderungen rund um den Potsdamer Platz
gestellt. „Die sind viel prüder als die DDR- „eigentlich nicht statt“. Das, so der SoziLeute“, glaubt sie, und ihr Mann Werner, aldemokrat, „ist ein reiner Tourismusvorein 59jähriger Theologe, fügt hinzu: „Die gang“.
Westler halten uns für Affen, die sich ins
Hatte man sich in den ersten Jahren
Wasser stürzen, ohne Rücksicht auf das nach dem Fall der Mauer noch gestritten
Schamgefühl der Menschen.“
und gegenseitig gekränkt, so gehen sich
Berlin, zehn Jahre nach dem Fall der Ost- und West-Berliner inzwischen am liebMauer. Der ehemalige Grenzstreifen ist sten ganz aus dem Wege.
fast zugebaut, in der Ost-Berliner FriedUnd wer sich doch jenseits der imarichstraße funkeln die Kontor- und die ginären Grenze auf ein Fest verirrt, dem
Konsumpaläste, in Marzahn haben
kann es passieren, dass er den Vorsich die riesigen Plattenbauten mit Wandspruch in stoß schnell wieder bereut.
freundlich-hellem Anstrich und Ost-Berlin
Immer wieder müsse er auf
großen Balkonen eine heitere „Was ist denn da West-Partys „gleich für den
Note zugelegt.
ganzen Osten geradestehen“, sagt
bei euch los?“
FOTOS: W. BAUER
E
Dabei sind die Krätschells alles
andere als DDR-Nostalgiker. Im
zweiten deutschen Staat waren
der ehemalige Superintendent
von Pankow und seine Frau Mittelpunkt einer aktiven Friedens- und
Oppositionsbewegung. Aber wie
vielen, die sich jahrelang an der
DDR gerieben haben, war ihnen
lange nicht bewusst, dass ihnen
mit dem Staat auch ihr vertrautes Wertesystem verloren gehen
könnte.
Eine „merkwürdige Identitätskonstruktion“ hat der Ost-Berliner
Kunsthistoriker Matthias Flügge,
47, ausgemacht: „Bei allem Abstand und Widerwillen, bis hin zum
Kotzen, wenn man den Fernseher
anmachte“, habe man eben doch
„viel Strahlung von Nestwärme in
sich aufgenommen“, sagt der Vizepräsident der Berliner Akademie
der Künste.
Auf eine verquere Art geht es
den West-Berlinern ganz ähnlich. Jahrzehntelang konnten sich
Dietmar Volk, 37, Ost-Berliner Grü- Straßenfest die Bewohner der von ostdeutnen-Abgeordneter im Stadtparla- in Ost-Berlin schen Kommunisten umstellten
ment. Rechtsradikale in Branden- „Unter uns ist Teilstadt besonderer, vor allem
auch finanzieller Fürsorge vom
burg? Unfreundliche Kellner auf Rü- es doch am
Rhein sicher sein. Die Folge: In
gen? Alle gucken ihn empört an: schönsten“
West-Berlin ging es immer et„Sag mal, was ist denn da bei euch
los?“ „Wieso denn bei euch?“, fragt er was gemächlicher zu als in der Bundesdann entgeistert zurück und versucht, nicht republik.
Nun, nach dem Fall der Mauer, ist die
allzu beleidigt dreinzuschauen. Schließlich
will er am Ende nicht auch noch als „Jam- alte Gemütlichkeit weg und die Berlin-Zulage auch. Stattdessen sind die Ost-Berliner
mer-Ossi“ einsortiert werden.
Wenn Familienberaterin Krätschell und dazugekommen, und die erscheinen den
Ehemann Werner zum Jahresende zu Westbewohnern enttäuschend undankbar:
Weihnachtsplätzchen und Christstollen in Mehr als 40 Prozent votierten bei der Euihr Haus nach Pankow einladen, werden ropawahl für die PDS. „Dafür“, sagt der
Westler so fein dosiert dazugebeten, als West-Berliner Schütz, „gibt es hier kein
gelte es, ein bedrohtes Biotop vor dem Verständnis.“
In Wahrheit, meint Hans-Henner Becker,
Umkippen zu bewahren. Mehr als ein,
zwei Ehepaare West, sagen die Krätschells, der das Ost-Berliner Wahlkreisbüro des Soseien nicht zu verkraften. Und das auch zialdemokraten Wolfgang Thierse leitet,
nur, wenn die Gäste Ost-Erfahrung mit- seien Ostler und Westler in ihren Alltagssorgen nicht mehr zu unterscheiden – wohl
brächten.
Meist kracht es dennoch. Etwa wenn die aber in der Art ihrer Wahrnehmung. Bei
ehemaligen DDR-Bürger in Erinnerungen Ost-Berlinern, so der gebürtige Rheinlänan ihr privates Glück im untergegangenen der mit Wohnsitz Prenzlauer Berg, sei die
Staat schwelgen und davon, wie sehr man Erwartung an die Politiker deutlich hösich gegenseitig geholfen habe, und die her als im Westen – und die Enttäuschung
Westler meinungsstark mit Bemerkungen über unerfüllte Wünsche auch erheblich
über Schießbefehl und Mauer dazwi- größer.
„Wir sind groß geworden mit dem Geschengehen.
Die aus dem Westen brächten „ständig fühl, es gibt irgendwo die ideale Geselldie Ebenen durcheinander“, ärgert sich schaft“, sagt die Ost-Berliner Grüne MariWerner Krätschell dann. „Die wissen nicht, anne Birthler, und die Sehnsucht danach
was kaputtgegangen ist in diesen Menschen habe die DDR überlebt.
Eine „Wolke von Schwermut“ registriert
hier.“
Doch es sind nicht nur Verständnis- die ehemalige Bürgerrechtlerin deshalb geprobleme, die das Ost-Berliner Ehepaar legentlich in ihren Versammlungen. „Ist
schließlich zu dem Bekenntnis verlei- es nicht alles schlimm“, frotzelt die Ostten: „Unter uns ist es doch am schönsten.“ Berlinerin dann ihre Zuhörer an, „und
Sie wollten da „wohl auch noch was man kann nicht mal einen Ausreiseanfesthalten“, hat Werner Krätschell er- trag stellen.“ Die Antwort ist ein tiefes
Seufzen.
kannt.
Karen Andresen
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Kultur
Sexy Shaker Nights
W. BELLWINKEL
Berlins Kulturleben zwischen Staatsoper, Hanf-Parade und
Techno-Club ist so vielfältig wie chaotisch. Eine kleine
Orientierungshilfe für den aufgeschlossenen Neu-Berliner.
herzliche Freude, daß die
Welt nicht untergegangen
ist.“
Es ist also alles schon mal
Erlebnissucht
da gewesen, jede Angst und
der neuen
jedes Glück. Jeden MittMitte
woch aber findet die einzige Berliner BLADE-NIGHT statt, zu der sich
mehrere tausend Inline-Skater aller Klassen, Geschlechter und Altersstufen spontan
gegen 21 Uhr am S-Bahnhof Tiergarten versammeln, um dann in wilden Haufen die
Straße des 17. Juni in Richtung Siegessäule hinunterzufahren, rechts am Brandenburger Tor vorbei, das Hotel Adlon umkurvend, schließlich Unter den Linden weitersausend bis fast vor den frisch verlegten
Rollrasen am provisorischen Bundeskanzleramt.
Wer’s etwas gemächlicher mag, umkreist
zu Fuß die MUSEUMSINSEL zwischen Lustgarten und Monbijoupark, um dann ins Innerste der „Stiftung Preußischer Kulturbesitz“ vorzustoßen: Pergamonmuseum,
Altes Museum, Bodemuseum – die alte Nationalgalerie ist wegen Sanierung geschlossen.
Ein paar Schritte weiter, im Kronprinzenpalais gegenüber dem Zeughaus Unter
den Linden 3, residiert vorübergehend das
DEUTSCHE HISTORISCHE MUSEUM (DHM),
das seit 1988 interessante, teils umstrittene zeitgeschichtliche Ausstellungen realisiert hat – von der „Auftragskunst“ in
der DDR bis zur aktuellen Schau der
besten Fotografien von Barbara Klemm
zwischen 1968 und 1998. Titel: „Unsere
Jahre“.
Im MARTIN-GROPIUS-BAU an der Wilhelmstraße, gleich neben der Gedenkstätte „Topographie des Terrors“, ist noch bis
zum 3. Oktober die spektakuläre Revue
zum 50. Geburtstag der Bundesrepublik
zu sehen, die das DHM in zweijähriger Arbeit zustande gebracht hat – ein beeindruckender Erlebnispark der jüngsten
deutschen Geschichte, kaum 50 Meter
entfernt von den Resten der GestapoZentrale.
Solange es noch warm ist, hält sich der
Berliner gern draußen auf – am Wochen-
W. BELLWINKLEL
Galerie
Neugerriemschneider
er neu ist in Berlin und sich für
Kulturelles interessiert – von der
großen Operninszenierung bis
zum intimen Club-Event –, dem
ergeht es nicht viel anders als
neugierigen Stadtnovizen in Paris, London
oder New York: Die schiere Fülle des Angebots, nimmt man es zum Nennwert, erzeugt Augenbrennen, Herzrasen und Ohrensausen. Frei nach Ernst Bloch: Wohin
gehen wir bloß?
Auch der geübte Pfadfinder im Großstadtdschungel, der sich mit Hilfe von
Stadtillustrierten, Broschüren aller Art,
„Underground“-Flyern, Mundpropaganda
und Internet zu orientieren versucht, erlebt
den Overkill als ständige Herausforderung.
Denn wer weiß schon, ob man die „Sexy
Shaker Night“ in der GOLDMINE (Mitte,
Dircksenstraße 37) ansteuern soll, die
„Glam-Fashion“-Party im 90 GRAD (Schöneberg, Dennewitzstraße 37) oder doch lieber die „Tiger-Lillies“, die in der BAR JEDER
VERNUNFT (Wilmersdorf, Schaperstraße 24)
gastieren.
Dann aber hätte man schon die „1. Potsdamer Schlössernacht“ verpasst, die Ende August immerhin 40 000 kunstsinnige
Nachtwandler anzog. Gleichzeitig rief die
„Akademie der Künste“ zum „Internationalen Tanzfest“ und die „Kalkscheune“,
direkt hinter dem Friedrichstadtpalast, zum
W
„Bimmler von West-Bérlôen“ mit Special Guest
Biggy van Blond. Und drei
Orientalische
Wochen lang feiern nun
Konzertnächte auch noch die 49. Berliner
und EventFestwochen „Junges TheaKultur überall ter aus Osteuropa“.
Schon genug?
Zwei Grundregeln sollte der Neu-Berliner beherzigen. Erstens: Die Stadt ist nur
zu Fuß und per Fahrrad zu entdecken. Hier
hilft der gerade erschienene Bildband
„Sprung in die Zukunft. Das neue Berlin:
Die Veränderungen im Stadtbild“ (JaronVerlag). Zweitens: Auch in schwierigen Augenblicken, etwa, wenn wieder einmal
schwebende Teile der Fensterfront von den
Galeries Lafayette auf die Friedrichstraße
stürzen, gilt es, gelassen zu bleiben. Die
Tugend des Gleichmuts, die prinzipielle
Unerschrockenheit des Metropolenbewohners, lehrt schon ein kurzer Blick
zurück. „Wo liegt Berlin?“, fragte bereits
vor 100 Jahren Alfred Kerr ahnungsschwanger, dessen „Briefe aus der Reichshauptstadt“ im Aufbau-Verlag erschienen
sind. „In der Mentalität seiner Bewohner“,
könnte die Antwort lauten. Wenige Tage
vor dem Jahrhundertwechsel, am 19. November 1899, notierte der Theaterkritiker
und leidenschaftliche Flaneur kurz und
trocken: „In Berlin herrscht allgemeine
Performance
im Jüdischen
Museum
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Das nicht weit entfernte HAUS
DER KULTUREN DER WELT (John-Fos-
W. BAUER
ter-Dulles-Allee 10) wiederum, ein
Ort ebenso vielseitiger wie anspruchsvoller Veranstaltungen –
von orientalischen Konzertnächten
mit männlichen Bauchtanzvirtuosen bis zu internationalen Symposien über den „Clash of Civilizations“ –, hat viele kleine Dirigenten
und feiert dennoch dieser Tage sein
zehnjähriges Jubiläum. An seiner
bemerkenswerten architektonischen Sprache, die vom Berliner
Volksmund im Bild der „schwangeren Auster“ dechiffriert wurde,
ist es unschwer zu erkennen.
Am frühen Abend, wenn Rembrandt, Raffael und die Orient/Okzident-Problematik die Kehlen
ausgetrocknet haben, ist es Zeit für
ein Kölsch. Der kürzeste – und sicherste – Weg dahin führt an den
Schiffbauerdamm vis-à-vis dem
S-Bahnhof Friedrichstraße. STÄNDIGE VERTRETUNG , kurz „StäV“,
heißt der geräumige, stets gut gefüllte Laden, der Exil-Bonnern und
nicht nur ihnen das Gefühl vermittelt, daß der Westen den Kalten
Krieg doch nicht verloren hat: ein
lukullischer wie innenarchitektonischer Triumph des rheinischen
Kapitalismus mit jeder Menge
Adenauer, Brandt, „halven Hahn“ und
Riefkooche.
Doch diese krude Mischung hat nach
wie vor ihre unerbittlichen Feinde. Rechtzeitig zur Jahrtausendwende ruft das BERLINER ENSEMBLE am Bertolt-Brecht-Platz,
nur ein paar Kölsch-Längen von der StäV
entfernt, unter seinem neuen Chef Claus
Peymann zum zeitkritischen Gegenwartsstück à la Peter Handke – wie ein widerständiger „Reißzahn“, so der vom Wiener
Burgtheater an die Spree gewechselte StarIntendant, solle das altehrwürdige, aber
runderneuerte Brecht-Heiligtum die politische Kultur der frisch gebackenen Hauptstadt aufmischen.
Weniger verbalradikal, dafür mehr auf
direkte Schockeffekte abonniert, ist das jugendlich-freche Tandem Thomas Ostermeier/Sasha Waltz, das die traditionsreiche West-Berliner SCHAUBÜHNE am Lehniner Platz übernimmt. Unvergessen bleibt,
wie Sigrid Löffler im „Literarischen Quartett“ gar nicht genug davon kriegen konnte, Ostermeiers Aufsehen erregende Inszenierung des britischen Stücks „Shoppen
und Ficken“ immer wieder wohl artikuliert beim Namen zu nennen.
Gespannte Erwartung also hier wie dort.
Ihren Ruhm geerntet hat dagegen längst
die blühende Galerienszene rund um August-, Linien- und Sophienstraße im alten jüdischen Scheunenviertel. So beherbergt die
SAMMLUNG HOFFMANN (Sophienstraße 21) einen der größten deutschen Privatschätze
W. BAUER
Pergamonmuseum
Kunst am Bau in der Kollwitzstraße (Prenzlauer Berg)
ende, wenn nicht gerade Love Parade,
Christopher Street Day, Karneval der Kulturen oder Hanf-Parade ist, auch „janz weit
draußen“, kurz „jwd“, sprich „jotwedee“.
Wochentags heißt das: auf den holzbankbestückten Bürgersteigen, wo noch irgend
Platz ist zwischen Zehlendorf und Pankow
oder an der ORANIENBURGER STRASSE, der
Rennstrecke für erlebnissüchtige Besserverdienende zwischen dem Zentralorgan
der neuen Mitte, den HACKESCHEN HÖFEN,
und der alternativ geschäftstüchtig belebten TACHELES-Ruine. Auch am POTSDAMER
PLATZ, der dabei ist, trotz aller Kulissenhaftigkeit ein wirklicher Anziehungspunkt
des neuen Berlin zu werden, trifft sich das
Freiluft-Berlin.
Im Februar 2000 werden dort erstmals
die Internationalen Filmfestspiele der
„Berlinale“ stattfinden – in unmittelbarer
Nähe eines weiteren Zentrums der Künste,
dem ewig unvollendeten Ensemble des KULTURFORUMS (Matthäikirchplatz 8) am südlichen Rand des Tiergartens. Dort locken,
auch ohne das erhitzte Event-Marketing
einer „Langen Nacht der Museen“ mit integriertem Shuttle-Service, die 1998 eröffnete „Gemäldegalerie“ klassischer Meister, die NEUE NATIONALGALERIE des Moderne-Pioniers Mies van der Rohe und Hans
Scharouns PHILHARMONIE an der Herbertvon-Karajan-Straße 1, Heimstätte der legendären Berliner Philharmoniker – Simon
Rattle will hier von 2002 an als Chefdirigent für ganz neue Töne sorgen.
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moderner Kunst, darunter Werke von Sigmar Polke,A. R. Penck, Gerhard Richter und
Andy Warhol. Unter derselben Adresse
zeigt die Galerie CONTEMPORARY FINE ARTS
junge britische Kunst. In der Auguststraße
69, einer ehemaligen Margarinefabrik mit
barockem Vorderhaus, präsentiert die Galerie KUNSTWERKE Arbeiten des Amerikaners Dan Graham – ein Café im prunkvoll
restaurierten Hof ist Teil des Gesamtkunstwerks. Alterspräsident der Szene ist Judy
Lybke (EIGEN+ART, Auguststraße 26), der als
Pionier aus Leipzig kam, sah und siegte.
„Asphalt, Straßenspülung, Haustorschlüssel, Luftheizung, Warmwasserleitung“, so hat Karl Kraus einmal seine Ansprüche an die urbane Organisation des
modernen Lebens formuliert und mürrisch
hinzugefügt: „Gemütlich bin ich selbst.“
Wie von selbst gemütlich aber, soviel
steht fest, ist es nach wie vor im alten Westen der unruhigen Hauptstadt, in Charlottenburg – sieht man von jenen Ecken in
Wilmersdorf ab, wo sich die letzten Kriegerwitwen „Gute Nacht“ sagen. Ob im LITERATURHAUS in der Fasanenstraße, im
ZWIEBELFISCH am Savignyplatz oder im
englisch-eleganten Jazzclub A-TRANE, Ecke
Bleibtreu-/Pestalozzistraße – das Leben
erscheint hier, allen hektischen Umbrüchen der „Berliner Republik“ zum
Trotz, doch wieder wie ein langer ruhiger
Fluss.
Reinhard Mohr
MUSICAL-TIPPS
MUSICAL THEATER BERLIN
Potsdamer Platz, Telefon 0180/544 44
„Der Glöckner von Notre Dame“.
Victor Hugo mag sich im Grabe
umdrehen – die Schnulze läuft.
THEATER DES WESTENS
Im Theater der Freien Volksbühne,
Schaperstraße 24, Telefon 0180/599 89 99
„Rent“
Junkies, Transvestiten und Aids-Kranke
kämpfen um ihr prekäres Glück im New
Yorker East Village.
FRIEDRICHSTADTPALAST
Friedrichstraße 107,
Telefon 030/23 26 22 84
„Elements“
Mega-Revue mit Unterwasserballett und
tänzerischer Akrobatik.
RENAISSANCE-THEATER
Hardenbergstraße 6, Telefon 030/312 42 02
„Marlene“
Judy Winter in der Paraderolle des Filmstars Marlene Dietrich.
GRIPS THEATER
Altonaer Straße 22, Telefon 030/391 40 04
„Linie 1“
Mit Tempo, Witz und Musike einmal quer
durch Berlin.
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Wissenschaft
Wilde Mischung
Auf dem Gelände der früheren DDR-Akademie der Wissenschaften
in der Forschungsstadt Adlershof machen einstige
Tüftler des Sozialismus ihre ersten Millionen mit Hightech-Apparaten.
P. LANGROCK / ZENIT
universitäre Forschungseinrichtungen. Von der angewandten Chemie über
die Photovoltaik bis zur
Rechnerarchitektur
und
Planetenerkundung sind gut
zwei Dutzend Disziplinen
vertreten. In den kommenden drei Jahren werden
die naturwissenschaftlichen
Fakultäten der HumboldtUniversität hinzukommen.
Mit dem Fachbereich Informatik ist der Nachwuchs
für die derzeit wichtigste Boombranche schon
vor Ort.
Daneben haben die staatlichen Zukunftsvisionäre
Forscher
unter Einsatz von knapp eiJaeschke*
ner halben Milliarde SteuGute Laune,
er-Mark eine fast schon luPioniergeist
xuriöse Infrastruktur für
und Erfolg
Unternehmensgründer und
Hightech-Firmen aller Art geschaffen. An
die hundert Forscherunternehmer sind im
Innovations- und Gründerzentrum (IGZ)
untergekommen, wo sie Labortechnik und
teure Messgeräte günstig mieten können
sowie eine kostenlose Rundumberatung
erhalten.
Auch die 1998 eröffneten Fachzentren
für Informatik, Photonik sowie Umweltund Energietechnologie sind schon zu 80
Prozent ausgebucht. Allein in den vergangenen sechs Monaten haben sich 30 neue
Gründer eingemietet.
er Physiker und weltweit anerkannte Fachmann für Ionenforschung
schwärmt von der „extremen Brillanz“ des Röntgenlichts und „dem
ganzen Zoo von Computern“.
Die Begeisterung von Eberhard Jaeschke gilt einem ringförmigen Teilchenbeschleuniger, eingebaut in einen futuristisch anmutenden Kreisbau mit 120 Meter
Durchmesser. „Bessy II“ ist das technologische Herz eines in Deutschland und Europa einmaligen Projekts: der Forschungsstadt Adlershof. Und für die schwärmt
Jaeschke auch, für das „einmalig breite
Forschungsspektrum, das hier zusammenkommt“.
Am Südostrand Berlins, nicht weit vom
Flughafen Schönefeld, bauen Bund und Senat seit acht Jahren am – neben dem Regierungsviertel – wichtigsten Entwicklungsvorhaben der Stadt. Gleich hinter
dem S-Bahnhof Adlershof, westlich der
Bahnstrecke nach Grünau, empfängt den
Besucher eine wilde Mischung aus preisgekrönter Glas-, Stahl- und Farben-Architektur und aufgepeppten Plattenbauten.
Da harren auf der einen Seite der Straße
noch die Kasernen des einstigen StasiWachregiments „Feliks Dzierzynski“ der
Sanierung, und gegenüber steht auf gut 100
Meter Länge Berlins größtes Gründer- und
Ost-West-Kooperationszentrum, mal in
blendendem Weiß, mal in dunkel getöntem Backstein gehalten.
Insgesamt konzentrieren sich auf dem 78
Hektar großen Gelände zwölf große außer-
D
Max-Born-Institut für
Nichtlineare Optik
und Kurzzeitspektroskopie
Institut für
Kristallzüchtung
Wista-Management GmbH
Institut für Spektrochemie und angewandte Spektroskopie
Forschungsstadt
Adlershof
Institut für RechnerInstitut für Gewäsarchitektur
serökologie und
Hahn-MeitnerBinnenfischerei InstitutsgeInstitut, Abtlg.
bäude der
Photovoltaik
HU Berlin
Zentrum für
Photonik
Innovations- und
Gründerzentrum
Ost-West-Kooperationszentrum
Deutsches Zentrum für
Luft- und Raumfahrt
Te lto wkan al
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Zentrum für Umweltund Energietechnologie
Brandenburgische Technische
Universität Cottbus, Arbeitsgruppe Luftchemie
ee
Rudower Chauss
Bessy II
Zentrum für
Ferdinand-Braun- Institut für AngeInformatik
Institut für Höchst- wandte Chemie
frequenztechnik
Adlershof
* Vor dem Speicherring der Anlage „Bessy II“.
80
Wissenschaft und Wirtschaft, Forscher
und Unternehmer im großen Stil zusammenzuführen und den Erfolg an der Fortschrittsfront gewissermaßen planmäßig
herbeizuführen, so etwa lautet das Konzept Adlershof. Und das Erstaunliche ist: Es
funktioniert. „Adlershof kann eines der
ganz großen europäischen Projekte werden“, urteilt Jenoptik-Chef Lothar Späth.
Noch 1990 sprach wenig für diese Vision.
Geboren wurde die Idee aus der Not nach
der Abwicklung der DDR-Akademie der
Wissenschaften. Zwar überlebten noch elf
Institute die Prüfung durch den bundesdeutschen Wissenschaftsrat.Aber über 3000
Wissenschaftler, Techniker und Angestellte
verloren ihre Arbeit.
Vielen blieb keine andere Wahl, als sich
selbständig zu machen, um ihr Know-how
auf dem Markt zu Geld zu machen. Der Senat wollte Hilfestellung leisten, und so entwickelte der damalige Berliner WirtschaftsStaatssekretär Hans Kremendahl den Plan
vom staatlichen Wissenschaftsbetrieb mit
angeschlossenem Gründerzentrum. BessyTechnikchef Jaeschke und seine Kollegen
schließlich entdeckten Adlershof und das
Wissen vieler DDR-Wissenschaftler für
ihren ohnehin geplanten Elektronenbeschleuniger der zweiten Generation.
Die Adlershofer Mischung beherbergt
eine für Berlin ganz ungewöhnlich hohe
Dichte von guter Laune, Pioniergeist und
Erfolg – bei immerhin jetzt gut 4500 Beschäftigten.
Schon rund drei Dutzend der bislang
knapp 300 ansässigen neuen Unternehmen
„sind echte High Flyer mit Wachstumsraten
von 30 Prozent und mehr“, schätzt der Patentanwalt Jürgen Hengelhaupt, dessen
Kanzlei eigens ein Büro mit zwei Anwälten
auf dem Gelände unterhält, um den Tüftlern die rechtliche Absicherung ihrer Erfindungen zu verschaffen.
Die Erfolgreichsten sind bislang jene
Ostdeutschen, die unter dem Druck des
Hightech-Embargos gegen den Ostblock
zum Erfinden verdammt waren.
Gert Kommichau, 47, beispielsweise.
Wenn der einstige „Technologe“ des DDR-
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Bundesanstalt für
Materialforschung
und Prüfung
* Fachzentrum für Photonik.
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BEGREIFBARE TECHNIK
W. BAUER
Gut bedient fühlt sich auch Izzet Furgaç, dessen Firma Alligator Sunshine gerade durchstartet und gemeinsam mit
dem Baustoffkonzern Eternit in die Serienproduktion besonders preiswerter
und kompakter Solarheizungen einsteigt.
„Vor vier Jahren haben wir hier wie Bill
Gates in einem alten Schuppen aus Akademie-Zeiten angefangen zu basteln“, erzählt Furgaç stolz. Jetzt residiert seine
Firma im Dachgeschoss des repräsentativen Zentrums für Umwelttechnologie.
Der Business-Plan an der Wand kalkuliert zehn Millionen Mark Umsatz im
kommenden Jahr.
Die meisten Firmen am Ort sind Lehrbuchbeispiele für die neue Netzwerk-Ökonomie. Vielfach besorgen sie selbst nur
noch einen geringen Teil der eigentlichen
Produktherstellung. Stattdessen organisieren sie das Know-how und die Vermarktung, sind selbst entweder Teil oder Steuerkopf eines weit gespannten Firmennetzwerks. Die meisten neuen Jobs schaffen
sie gar nicht in Adlershof selbst, sondern
bei ihren Auftragnehmern.
Das erklärt wohl auch, warum bislang
außer der Siemens-Tochter für Postautomation keiner der großen Namen aus der
Konzernwelt auf den Firmenschildern
prangt. „Die Vorstellung von konzerneigenen Forschungszentren ist veraltet“, erklärt Adlershof-Fan Späth. „Die kaufen die
Innovationen aus solchen Forschungs-Clustern, das ist billiger und flexibler.“
An neuen Ideen jedenfalls scheint in Adlershof kein Mangel. „Eine solche Grundsubstanz haben wir in Europa nirgendwo“,
versichert Stefan Jähnichen, Direktor des
Instituts für Rechnerarchitektur und Softwaretechnik und derzeit Sprecher der Adlershofer Forschergemeinde. Die Resonanz
im Ausland sei „viel größer, als wir je erwartet haben“. Die beiden neuen Gästehäuser für ausländische Wissenschaftler
sind das ganze Jahr über
ausgebucht.
Neubau in
Den großen Durchbruch
Adlershof*
zur internationalen SpitZoo von
zenstellung, so hofft JähniComputern
chen, werde die Einbindung
studentischen Nachwuchses
in die Großinstitute bringen.
„Die jungen Leute sind das
Salz in der Suppe.“
Nicht immer freilich
kommen die Ergebnisse der
staatlich herbeisubventionierten Ideenschmiede auch
dem Standort zugute. Jähnichens Doktorand Bernhard Schölkopf, dessen Dissertation als beste Informatikstudie des Jahres 1997
ausgezeichnet wurde, hat
Berlin verlassen. Schölkopf
arbeitet jetzt für Microsoft
in den USA.
W. BAUER
Zentrums für wissenschaftlichen Gerätebau seine Geschichte erzählt, kommt er
aus dem Lächeln gar nicht mehr heraus.
Gerade mal 98 000 Mark Startkapital
brachten er und seine zwölf Partner aus eigenen Ersparnissen zusammen; damals,
1991, als sie beinahe über Nacht ihre Firma
Röntec gründen mussten.
Weil die DDR keine Großrechner importieren konnte, hatten sie einen Weg gefunden, die komplexen Signale eines Rasterelektronenmikroskops mit Hilfe einfacher PC zu verarbeiten. Das war für den
Start genau das richtige Produkt.
Nun, acht Jahre später, sind die 13 Partner Inhaber eines weltweit präsenten Hightech-Unternehmens. Auf drei Etagen des
Photonik-Zentrums beschäftigt die Röntec
heute 46 Mitarbeiter und erzielt mit ihren
Röntgenspektrometern acht Millionen
Mark Jahresumsatz in 18 Ländern.
„Dieser Standort war unsere große Chance“, freut sich Kommichau, „wir ahnten,
dass hier was Irres entstehen würde.“ Die
Zusammenarbeit mit den Forschern des
Bessy und der angeschlossenen Institute
bringe „mehr Erfindungen hervor, als wir allein auf den Markt bringen können“. Mit
drei Weltneuheiten ist die Firma im Markt.
Nun hat sich eine Venture-Capital-Firma
beteiligt, der Börsengang wird vorbereitet.
Auf den Aktienmarkt wollen irgendwann
auch die Informatikexpertin Petra Werr und
ihre Kollegen. In ihrer Firma Verysys haben
31 Fachleute aus den USA und Europa den
neuesten Hit der Mikrochip-Fertigung ausgebrütet: ein mathematisch abgeleitetes
Programm, verspricht sie, „mit dem wir die
Fehlerfreiheit neuer Chip-Konstruktionen
garantieren können“. Zwei Investmentgesellschaften haben bereits „mehrere Millionen Mark“ bereitgestellt.
Vorsichtshalber gründeten Werr und ihre
Partner parallel eine Niederlassung in Kalifornien. „Aber hier war es unbürokratischer“, versichert sie und lobt das Adlershofer Beraterteam: „Das ist das bestgeführte Gründerzentrum Deutschlands.“
Deutsches Technikmuseum
COMPUTER- UND VIDEOSPIELE MUSEUM
Rungestraße 20 (Mitte)
Telefon 279 33 51
Das kleine, aber liebevoll gestaltete Museum zeigt die Entwicklung der elektronischen Spiele und Geräte. Ausprobieren
ist erlaubt.
DEUTSCHES TECHNIKMUSEUM BERLIN
Trebbiner Straße 9 (Kreuzberg)
Telefon 25 48 40
„Warum ist der Himmel blau?“ Diese und
viele weitere Fragen werden im Science
Center Spectrum (Eingang Möckernstraße 26) beantwortet. Dazu historische
Exponate aus Verkehr und Technik von internationalem Rang.
ZEISS-GROSSPLANETARIUM
Prenzlauer Allee 80 (Prenzlauer Berg)
Telefon 42 18 45 12
Eines der größten und modernsten
Sterntheater Europas mit dem rechnergesteuerten Planetariumsprojektor „Cosmorama“ von Zeiss Jena. Dazu Naturwissenschaft als unterhaltsames Programm
mit Lesungen und Musik.
MUSEUM FÜR NATURKUNDE
Invalidenstraße 43 (Mitte)
Telefon 20 93 85 44
Mit rund 25 Millionen Objekten das größte seiner Art in Deutschland: Mineralien,
Meteoriten und der berühmte Sauriersaal.
BERLINER MEDIZINHISTORISCHES MUSEUM
AN DER CHARITÉ
Schumannstraße 20/21 (Mitte)
Telefon 28 02 25 42
Der Horror der Anatomie: deformierte
Schädel, entstellte Embryonen und jede
Menge Skelette sowie chirurgische Instrumente aus dem Nachlass von Rudolf
Virchow.
BOTANISCHER GARTEN
Königin-Luise-Straße 6 (Steglitz)
Telefon 83 00 60
Ein Park als Zentralinstitut der Freien Universität: unter anderem Gartenkunst im
Stil von Peter Lenné und ein Duft- und
Tastgarten für Sehbehinderte.
Harald Schumann
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81
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W. BAUER
Presse
„Wohin
mit dem Papier?“
Jahrelang stritten die Berliner Blätter mit riesigem Aufwand um den
ominösen Titel der „Hauptstadtzeitung“ – die Leser flohen in Scharen.
en Beweis hat er immer griffbereit
im Schrank – falls wieder mal
Zweifel aufkommen, wer den Berliner Zeitungskrieg vom Zaun gebrochen hat. „Das war wohl ich“,
sagt Torsten-Jörn Klein, Verlagsleiter der
„Berliner Zeitung“, und zieht den roten
Prospekt aus einer Tüte. Fett gedruckt steht
da „ANGRIFF!“. Der bestand darin, dass
Klein die Immobilienanzeigen fast verschenkte und der Konkurrenz so das Geschäft verdarb.
Nirgendwo wurde in den vergangenen
Jahren aggressiver um Leser und Anzeigenkunden geworben als in der Hauptstadt, wo gleich zehn Zeitungen erscheinen. Von der alternativen „taz“ über das
PDS-Organ „Neues Deutschland“, vom
ehemaligen FdJ-Sprachrohr „junge Welt“
bis zu den Boulevardzeitungen „Berliner
Kurier“ (Gruner + Jahr) und „B.Z.“ (Springer) reicht das Angebot.
Zu schätzen wissen es die Berliner bislang nicht: In kaum einer anderen deutschen Großstadt wird so wenig Zeitung ge-
D
84
lesen wie hier. Allein in den letzten fünf
Jahren entschied sich eine viertel Million
Leser, auf die tägliche Lektüre ganz zu verzichten. Woran die Verlage nicht unschuldig sind.
Den Umzug der Regierung vor Augen,
rüsteten sie zum Kampf um einen Titel,
den sie sich selbst ausgedacht hatten: den
der „Hauptstadtzeitung“. Doch jetzt, wo
die Regierenden angekommen sind,
schwant den Weltblatt-Machern, dass es im
Zeitungskrieg keine Sieger gibt.
Laut Prognosen wird die Einwohnerzahl
in den nächsten Jahren eher sinken als steigen, und nicht mal die zuziehenden Beamten müssen unbedingt ein Regionalblatt
abonnieren, schließlich sind selbst die
Überregionalen der „Berlinmania“ („Weltwoche“) anheim gefallen. Die „Süddeutsche Zeitung“ erscheint mit einer täglichen
kolumnensatten Berlin-Seite. Die „Frankfurter Allgemeine“ klotzt mit einem sechsseitigen Hauptstadtteil, in dem selbst die
Fütterungszeiten der Krokodile im Zoo
nicht fehlen.
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s p i e g e l
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„Der Kuchen, um den sich in Berlin alle
balgen, wird verdammt klein“, bekannte
der „Welt“-Chefredakteur Mathias Döpfner schon vor Monaten. Nach immensen
Investitionen wildert der Springer-Verlag
lieber im Segment der Überregionalen. In
der Hauptstadt muss schon die kiezselige
„Berliner Morgenpost“ Federn lassen.
Besonders hart trifft das weitgehende
Ausbleiben neuer Leser die „Berliner Zeitung“, in die Gruner + Jahr etliche Millionen gesteckt hat. Der damalige Chefredakteur Michael Maier – inzwischen fulminant beim „Stern“ gescheitert – hatte
viele Ost-Redakteure durch teure WestImporte ersetzt und dem ehemaligen SEDBlatt ein edles Layout verordnet. Damit
auch dem Letzten klar war, wohin die Reise geht, klemmte sich der Österreicher gern
ein „Wall Street Journal“ unter den Arm.
So vertrieb der Ösi nicht
Chefredakteure nur die Ossis in der Redaktion, sondern auch in
Süskind,
der Leserschaft. Seit der
di Lorenzo
Im Zeitungskrieg Wende verlor die „Berliner Zeitung“ fast die Hälfgibt es
te der Alt-Abonnenten –
keine Sieger
die Auflage sank während
der letzten fünf Jahre um über 40 000 – auf
209574 Exemplare im vergangenen Quartal.
Ein Ende der Talfahrt ist nicht abzusehen.
„Wir waren zu betont ein West-Blatt“,
sagt der neue Chefredakteur Martin E. Süskind, zuvor Chef des „Kölner Stadt-Anzeigers“. Nun predigt er Umkehr: „Es
Marktführer unter Druck
Auflagen Berliner Tageszeitungen und
der Berlin-Ausgaben überregionaler
Tageszeitungen in Tausend
jeweils 2. Quartal
343,6
301,7
279,3
236,3
209,6
185,6
170,9
163,6
144,5
132,8
137,8
125,9
31,8
21,1
14,4
1991 92 93 94 95 96 97 98 99
25,0
16,6
13,0
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früher nicht mal unter Folter eingefallen“,
frohlockt der Chef, aber nun strahle man
„in den besten Momenten neben Seriosität sogar etwas wie Wärme aus“.
Verglichen mit den Bemühungen der
Konkurrenz, sind die Ausgaben beim „Tagesspiegel“ gering, die Neugestaltung des
Blattes geht vorsichtig voran. Neue Leser
gewinnt man so nicht, aber wenigstens bleiben die alten. Seit Jahren stagniert der Absatz bei rund 130 000 Exemplaren.
Die Verlage sind bescheiden geworden:
„Die Auflagen werden nicht dramatisch
nach oben gehen“, sagt Gruner + JahrMann Klein, sein Kollege beim „Tagesspiegel“ sieht es ähnlich. Dort freut man
sich schon, dass die Leser neuerdings mal
schmunzeln können – der „Berliner Zeitung“ wäre es einstweilen genug, die am
stärksten politische Stimme unter den Regionalblättern zu werden. Sollte die Auflage trotzdem weiter fallen, darf Besuch aus
Gütersloh fest eingeplant werden. Denn
noch vor dem Hauptstadtfieber kommt bei
der Konzernmutter Bertelsmann die Gesamtkapitalrendite.
Vergebens war die Presseschlacht dennoch nicht. Unter dem Konkurrenzdruck
sind die Zeitungen eher besser geworden –
und zum Teil wuchsen ganz seltene Blüten
heran. Der „B.Z.“-Chefredakteur FranzJosef Wagner etwa, der Springers Traditions-Boulevardblatt seit Mitte letzten Jahres leitet und sich Tag für Tag eine eigene
Metropole erschafft. Ein Berlin wie in den
zwanziger Jahren, in dem gehurt, gesoffen
und gescheitert wird – und der Mann im
Chefredakteursbüro so aussieht, als würde
er dabei ordentlich mittun.
„Pandabärin unfruchtbar – Aber Schumi
zweites Baby“: Über solche Schlagzeilen
freuen sich des Abends beim Ruccola-Salat
die versammelten Hauptstadtjournalisten.
Doch was nützt es Wagner. Auch bei
ihm fällt die Auflage heftig – so dass er
sich bisweilen zu später Stunde fragt, wer
eher die Nerven verliert: „der Verlag oder
ich“.
Oliver Gehrs
mangels Recycling-Container panisch fragt:
„Wohin mit dem Papier?“
Auf Frau Gutzmann ist man beim „Tagesspiegel“ gar nicht scharf. „Wir brauchen
nicht jeden, sondern die besten Leser“, sagt
Geschäftsführer Joachim Meinhold – wo er
die findet, weiß er ziemlich genau. Mitten in
Hellersdorf (Ost) gebe es inzwischen eine
ganz interessante Gruppe – wogegen ganz
Neukölln (West) mit rund 300000 Einwohnern bisher eine „komplette Nullfläche“ sei.
Zu viele Ausländer, zu wenig Entscheider.
Um auf die anrückende
Bonner Intelligenzia nicht
zu lustlos zu wirken, engagierte der Holtzbrinck-Verlag mit Giovanni di Lorenzo
immerhin einen neuen
Chefredakteur, der nun
mühelos die Klatschspalten
der anderen Zeitungen füllt.
Einen Jaguar als Dienstwagen soll der ehemalige Ressortleiter der „Süddeutschen Zeitung“ und charmante Talkmaster („III nach
neun“) fahren, eine PradaHandtasche für 3000 Mark
spazieren führen.
Soviel Glamour sorgt in
„Bulgarien“ – wie der stilsichere Chef das hässliche
Redaktionsgebäude getauft
hat – zuweilen für Irrita„B.Z.“-Cheftionen. Denn dort sitzt
redakteur
zum größten Teil noch die
Wagner
alte Truppe, die ihr Leben
Tag für Tag
lang für den Rechtsanwalt
die eigene
aus Zehlendorf geschrieMetropole
ben hat und für niemanden
schaffen
sonst.
Immerhin darf sie nun unter der Aufsicht von neu installierten „Redakteuren
für besondere Aufgaben“, die sich di Lorenzo von der „Süddeutschen“ mitgebracht hat, die eine oder andere lustige
Überschrift basteln. „Dem ,Tagesspiegel‘
Sinnlichkeit zu attestieren wäre einem
R. LUTTER / BZ
macht wenig Sinn, seine Herkunft zu verschweigen. Die
alten Leser werden verärgert, und den neuen macht man was vor.“
Dass die Zeiten, zu denen man die Abbestellungen aus Marzahn eher als Lob
denn als Mahnung nahm, endgültig vorbei
sind, wurde den Redakteuren vor drei Wochen bewusst: Da tauchte Verlagsleiter
Klein plötzlich in der Konferenz auf und
beschwor die Anwesenden, nicht mehr von
„den Ostdeutschen“ zu schreiben, sondern
besser: „von den Leuten in den neuen Bundesländern“.
Immerhin darf die „Berliner“ für sich in
Anspruch nehmen, die einzige gesamtstädtische Tageszeitung zu sein. Denn
während der Abonnentenstamm im Osten
wegbrach, schaffte man im Westteil der
Stadt einen ansehnlichen Zugewinn von
nahezu 50 000 Käufern.
Zur Zeit gilt folgende Arbeitsteilung: Im
Blatt elaborieren die Feuilletonisten seitenweise für die neue Mitte, derweil der
Chefredakteur am Lesertelefon abtrünnige Ost-Abonnenten beruhigt. Wie etwa
„Frau Gutzmann aus Berlin-Buch“, die sich
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Potsdamer Platz ausgehängt. Das Foyer
ist ständig für Besucher geöffnet.
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Zeitgeschichte
Jung, jüdisch,
deutsch
M. TRIPPEL / OSTKREUZ
Die Neue Synagoge an der Oranienburger Straße ist zur Touristenattraktion geworden. Eine jüdische Studentin konfrontiert die Besucher
mit der Nazi-Vergangenheit – und wird damit konfrontiert.
einer Nacht mitten in Berlin. Die 1866 an
Stelle der alten, zu klein gewordenen, fertig gestellte Neue Synagoge in Berlin-Mitte, Oranienburger Straße – von den Nazis
angezündet, von alliierten Bomben zerstört –, hat nicht nur eine dramatische Geschichte, sondern auch eine schillernde,
irritierende Gegenwart, als eine Art irisierende „Dauerpräsentation unserer Schande“ (Martin Walser).
Julia Friedrich, deren Mutter in Israel
geboren wurde, repräsentiert eine neue
Generation in Deutschland: jung, jüdisch,
deutsch. Sie lebt in der Gegenwart der beginnenden „Berliner Republik“ und wird
immer wieder konfrontiert mit der Vergangenheit „ihres“, des jüdischen Volkes.
Bis 1945 wurden von Berlin aus 55 000 Juden in den
Tod geschickt – daran erinnert ein schlichter Gedenkstein an der Großen Hamburger Straße, auf den täglich tausende von Szenegängern und Touristen schauen.
Die Synagoge im selben
Viertel galt einst als Zeichen
eines emanzipierten und zugleich integrativen Judentums in Berlin. Bismarck
wohnte ihrer feierlichen
Einweihung bei, Albert Einstein schaute während eines
Konzertes Anfang 1930 auf
ihren
kostbaren
ToraSchrein, Erich Honecker legte 1988 den Grundstein für
die Rekonstruktion, und Kofi
Annan, Uno-Generalsekretär, hat ihr jüngst einen Besuch abgestattet.
Einst zählte die Synagoge
mit über 3000 Sitzplätzen zu
den größten jüdischen Gotteshäusern Europas. Nachdem sie 1995 in Teilen aufwendig wiederhergestellt
wurde, ist sie zur gut beNeue
wachten Touristenattraktion
Synagoge
Ein Fanal, das geworden. Über 700 000
Vergangenheit Menschen haben sie inzwischen besichtigt. Wie ein Faund Zukunft
nal, das Vergangenheit und
verbindet
Zukunft verbindet, leuchtet
die große goldene Kuppel der Neuen Synagoge über Berlins alter, neuer Mitte.
„Woran erkennt man denn überhaupt Juden?“, fragt Julia Friedrich unverblümt die
Schüler einer neunten Klasse aus Ost-Berlin,
die sie durch Eingangshalle, Männervestibül
und Vorsynagoge führt. „Dunkle Haare“
und „krumme Nase“ kommt als Antwort
zurück – „das klassische ,Stürmer‘-Bild“,
kommentiert sie später. „Sie wissen es eben
nicht besser.Aber das lässt sich ja beheben.“
Seit eineinhalb Jahren erklärt sie Besuchergruppen aus aller Welt die Geschichte
des Hauses – ob Gymnasiasten aus BerlinGrunewald, amerikanischen Juden aus Chi-
ie alte Dame ist gerührt. Sie erinnert das „alles so an Israel“. Als
Mitglied einer katholischen Katechetengruppe hat sie gerade eine
Führung durch die Neue Synagoge
glücklich hinter sich gebracht. Aber Julia
Friedrich, 23, Studentin der Kunstgeschichte und Jüdischer Studien, die gerade
eine Stunde lang über dieses Stück Berliner Geschichte doziert hat, muss lachen.
Denn sie ist geborene Deutsche und hat
von ihrem Land, von Deutschland erzählt.
Doch die begeisterte Dame ist nicht zu
bremsen. Sie kann sich kaum satt sehen an
all den restaurierten Säulen und Kapitellen,
den prächtigen Treppenaufgängen, den orientalischen Fresken, den
Stuckfragmenten und der
Studentin
nur leicht beschädigten silFriedrich
bernen „Ewigen Lampe“.
Selbstbewusst
Ein kleines Erweckungsinmitten von
wunder aus Tausendund- Widersprüchen
90
W BELLWINKEL
D
Werbeseite
Werbeseite
cago oder Hausfrauen aus Degerloch.
„Die meisten, vor allem die Jugendlichen aus Marzahn oder Treptow, haben in
ihrem Leben noch keinen einzigen Juden
gesehen. Deshalb sind sie vorurteilsgeprägt, aber auch offener und direkter als
Erwachsene.“ Beim Fall der Mauer 1989
lebten etwa 5000 Juden in Berlin – Anfang
1933 waren es 160 000.
Schlimmer noch als die monströse Unbildung der Schüler – „selbst Jesus und die
Rolle der Bibel sind vielen unbekannt“ –
sei die Ignoranz etlicher Lehrer: „Viele
wissen absolut nichts und haben sich auch
kein bisschen vorbereitet.“
Stets sorgt eine eigenartige Mischung
aus Neugier und Befangenheit dafür, dass
die Ebene der musealen Information rasch
verlassen wird und die Grundakkorde
anklingen: Auschwitz, Holocaust-Mahnmal, Walser/Bubis-Streit, Israel und, oft im
Flüsterton vorgetragen: „Juden in Deutschland – wie ist das überhaupt?“
Schließlich kommt es heraus: Das blonde, blauäugige „Kindchen“, wie ältere
Frauen Julia Friedrich titulieren, ist selbst
Jüdin, geboren und aufgewachsen im grünen Westen Berlins. „Plötzlich kann man
das Schild ,Vorsicht!‘ aufleuchten sehen,
die meisten treten im Geiste einen Schritt
zurück, die Befangenheit wächst.“ Und es
stimmt ja: Vor fast 60 Jahren wurden hun-
derttausende solcher Kindchen in die Vernichtungslager deportiert.
Dabei versucht gerade diese junge Deutsche aus Berlin-Wilmersdorf, die viele
nichtjüdische Freunde hat und „deutsche
Pünktlichkeit und Verlässlichkeit“ schätzt,
so sachlich wie möglich zu bleiben. Doch
unweigerlich und wider Willen fungiert sie
als Projektionsfläche aller möglichen Ressentiments und Ängste, Schuldgefühle und
Erlösungswünsche.
Auffallend sei, dass weniger Fragen gestellt als Statements abgegeben würden. „Es
ist ja schön, dass sich die Juden nicht wieder so abschließen“, heißt es öfter, wenn
von der benachbarten Schule die Rede ist,
in der jüdische und nichtjüdische Kinder
gemeinsam unterrichtet werden. Eine subtile, wahrscheinlich unbewusste, jedenfalls
ungeheuerliche Geschichtsklitterung.
Unvermeidlich auch die Spezies der von
Philosemitismus durchdrungenen schwäbisch-protestantischen Mittsechzigerin, die
ihre persönlichen Israel-Erfahrungen ausbreitet – „ein wunderschönes Land“ – und
begeisterte Zustimmung erwartet; ähnlich
jener beichtstolzen Bekennerin, die erzählt: „Meine Mutter hat ja so geweint,
als ihre beste jüdische Freundin abtransportiert wurde.“ In solchen Augenblicken,
sagt Julia Friedrich, „fühle ich mich wie
ein Priester, der die Absolution erteilen
soll“.
Manchmal kommt es aber auch ganz anders. Da bricht die verfolgte deutsche Unschuld mit Macht aus tiefsten Tiefen hervor: „Sie junges Gemüse, ich werde Sie
feuern lassen!“, rief hoch erregt ein Rentner aus der früheren DDR, als sie den
latenten Antisemitismus im SED-Staat zur
Sprache brachte. Immerhin hielt ein WestPensionär dagegen: „Seien Sie doch froh,
dass Sie hier überhaupt Ihre Meinung frei
sagen können.“ Das konnte freilich den
DDR-Veteranen nicht davon abhalten,
sich bei der Direktion des Hauses zu beschweren.
„Wie kannst du als Jüdin überhaupt hier
leben?“, fragen jüdische Besucher aus
Amerika. Ihre Antwort ist eindeutig: Sie
fühlt sich wohl in Berlin. „Deutschland ist
meine Heimat“, sagt sie, „hier wird meine
Sprache gesprochen, hier leben meine
Freunde.“ Und, nicht ohne Ironie:
„Deutschland braucht seine Juden – zum
Beweis der Läuterung und als unfreiwillige moralische Instanz.“
Freilich kennt sie auch junge Juden, „die
sich auf ihrem Jüdisch-Sein ganz humorlos
ausruhen“ und ernsthaft an ihre selbst entwickelte Sicherheitsformel glauben: „In
Deutschland kann dir als Jude nichts passieren“ – eben weil schon alles passiert ist.
Verrückte Dialektik der Geschichte.
Julia Friedrich mag dieses arrogante Elitebewusstsein nicht, das Herkunft und Re-
LEBEN UND VERGANGENHEIT DES JÜDISCHEN BERLIN
NEUE SYNAGOGE
BETH-CAFE
Oranienburger Straße 28
Die einstige Hauptsynagoge
zeigt nun eine Dauerausstellung des Centrum Judaicum über die Geschichte
des Ortes und des jüdischen Lebens in Berlin.
Tucholskystraße 40
Koscheres Essen und Trinken in Mitte.
RESTAURANT OREN
JÜDISCHER FRIEDHOF
PRENZLAUER BERG
M. WEISS / OSTKREUZ
Oranienburger Straße 28-30
Nicht nur koschere Speisekarte. Mit Innenhof neben
der Synagoge.
Restaurant Oren
ligion plötzlich selbst zum wesentlichen
Unterscheidungsmerkmal erklärt und seinerseits die Schoah mythisch überhöht.
Viele von ihnen, etwa die Mitglieder im jüdischen Studentenverband, leben fast ausschließlich in einem homogenen jüdischen
Freundes- und Bekanntenkreis.
Wie sehr diese Art von „hermetischer
Öffentlichkeit“ zur Falle werden kann,
zeigt ein Beispiel aus der jüdischen Künstlergruppe „Meshulash“: Eltern verboten
ihrer Tochter, sich öffentlich als Jüdin zu erkennen zu geben. Schwer zu sagen, was
hier Hysterie und Paranoia, was Angst und
JÜDISCHER FRIEDHOF
WEISSENSEE
BAGELS + BIALYS
Rosenthaler Straße 46-48
Imbiss à la New York.
Schönhauser Allee 23-25
Besteht seit 1827, mit den
Gräbern der Verlegerfamilie
Ullstein, des Komponisten
Trauma sind. Ein Zeichen von Souveränität, gar Normalität ist es sicher nicht.
Julia Friedrich jedenfalls lebt selbstbewusst inmitten jener Widersprüche und
Ambivalenzen, die sie bei sich wie anderen
kritisch registriert: Hier der ganz normale
Antisemitismus, mit dem sie bei ihren
Führungen durch die Synagoge konfrontiert wird, dort die Wahrnehmungen einer
allzu bequemen, manchmal selbstgerechten Haltung jüdischer Würdenträger. Da
rutscht ihr schon mal das Wort von der
„Auschwitzkeule“ heraus. Doch dann
braucht nur irgendein Mitglied einer so-
Giacomo Meyerbeer und
des Malers Max Liebermann.
Herbert-Baum-Straße 45
Großanlage der Gemeinde
seit 1880. Zahlreiche Pioniere der Moderne sind
dort begraben wie der Maler Lesser Ury oder Eugen
Goldstein, dessen Entdeckungen zur Entwicklung
des Fernsehens führten.
zialdemokratischen Besuchergruppe an sie
heranzutreten und zu brummen: „Warum
muss man eigentlich das Holocaust-Mahnmal unbedingt auf das wertvolle Gelände
am Brandenburger Tor bauen?“ – und
schon rollt sie, die das Denkmal gar nicht
unbedingt verteidigen möchte, mit ihren
blauen Augen und verzeichnet die Worte in
ihrer imaginären Ewigenliste unseliger
Sprüche.
Diesen Monat tritt sie einen einjährigen
Studienaufenthalt in Venedig an. Auch eine
Möglichkeit, Abstand von Deutschland zu
gewinnen.
Reinhard Mohr
I n t e g ra t i o n
Erregend anders
Die jungen Türken in Berlin haben eine Welt für sich gegründet – weder
türkisch noch deutsch. Sie betreiben Bars und Baufirmen und sorgen
mit ihrer Musik für heiße Ohren in der Stadt. Von Alexander Smoltczyk
Manche bildeten Banden
zur Selbstfindung wie die
„36er“ oder die „Warriors“.
Erotik des
Irgendwann fuhren sie in
Zeigens und
die Türkei und merkten,
Versteckens
dass es kein Zurück mehr
gab: „Du Türke? Du bist Deutschländer.“
Und heute fühlen sie sich zu Hause in ihrer Hybridkultur: „Icke bin icke.“
Die Grenzen sind gewandert. Fatma
Souad sagt, er laufe auch tagsüber als
Transvestit durch die Oranienstraße. „Auch
die Türkenmama vom Fenster gegenüber
grüßt mich.“ Aber durch den Ostteil Berlins würde er nicht laufen, nicht nachts.
Auch durch die Waldemarstraße nicht. Die
liegt zwei Ecken vom „SO 36“ entfernt.
Da sieht die Welt anders aus.
Alles fließt, nichts ist so, wie es scheint.
Ein paar Leute von den Warriors, der
Kreuzberger Streetgang, nennen sich jetzt
„Frankfurter Schule“ und sehen sich von
dem Amerikaner Daniel Goldhagen bestätigt: Den Deutschen liegt ihr Nationalismus in den Genen. Kann man nichts machen. Muss man mit leben. Muss man selbst
was unternehmen: „Kanak attak!“
Das ist die Parole. Der Kieler Autor Feridun Zaimoglu hat sie ausgegeben: Gegen
„gramschnäuzende Alt-Exilanten, MultiTutti-Frutti-Lallerköppe und goldbehängte
Spielotheken-Mahmuts“. Es sollte eine Bewegung werden. Eine Art Black Power, nur
bunter. Mit dem Ghettoslang aus Comicblasen, frisch geschöpften Stegreifwörtern und die Sätze rhythmisiert von „ey, alter Mann“.
Aus der Bewegung ist bisher nichts geworden. Man ist wohl zu verschieden. Zu
unübersichtlich. Was haben eine lesbische
Inderin und ein Muckibuden-Youngster
schon gemein? Aber mit dem Manifest
„Kanak Attak“ ist ein neuer Ton angegeben worden. Zaimoglu schreibt: „Es gibt
im Moloch Metropole weder Identität noch
Kultur im Plural, aber den harten Beat,
den Rhythmus, das Stakkato, das heiße
Ding, den supercleveren Abzock.“
Gefährlich fremd? Erregend anders und
fremd nur dem, der nicht sieht, wie sich mit
jeder Generation das Bild weiter auffächert, aus der Nähe verwirrend unscharf
und nur von weitem klar konturiert.
Einer der „36er“-Straßenkrieger macht
jetzt Filme: Neco Çelik, der sein Leben im
DJ H-Khan
(im „Limon“)
FOTOS: K. THIELKER
m Rinnstein der Oranienstraße sitzt
eine Person. Es ist zwei Uhr morgens
vorbei, und niemand würde jetzt auf
die Idee kommen, Fatma Souad mit
„Ey, Türke“ oder Ähnlichem Reverenz
zu erweisen. Nicht bei dem Tante-KätheDutt. Nicht bei dem Rock, dem Lidschatten und den lippenstiftverschmierten Bartstoppeln.
„Deutsch und türkisch, Mann und Frau,
Schein und Sein, Tuntigkeit und Transendasein – such dir aus, was du willst: Ich bin
alles zusammen“, sagt er und sagt sie, und
irgendwann ist das Make-up wirklich nicht
mehr zu halten, löst sich auf bei der Hitze,
wie sich alles auflöst, wenn im „SO 36“,
dem früheren Punk-Schuppen in Kreuzberg, einmal im Monat „Gayhane“ ist.
I
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Da tanzen TürkentranTürkische
sen und das Pärchen um Transvestiten
die Ecke, Heten und LesWie Black
ben und Machos und ein
Power, nur
Mädchen, dessen Kopftuch
bunter
in der Garderobe hängt.
Ein Araber tanzt mit einer Colaflasche
auf der Stirn, auf der Bühne schlängeln
sich Haremsjünglinge, und als Live-Act
gibt es anatolischen Halay-Tanz. Das ist
Gayhane, und Fatma Souad hat es organisiert.
Er erzählt vom Mauerfall und der anschließenden Immigration von 17 Millionen Ostdeutschen. Da wurde alles anders
für die jungen Türk-Berliner. Erst versuchten sie, sich türkischer zu fühlen, als sie
waren: „Ich bin Türke.“
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Günaydin, Kreuzberg
In Berlin sendet die erste türkische Radiostation außerhalb der Türkei:
94,8 Metropol FM macht Quote mit viel Service und wenig Politik.
W. BAUER
Kreuzberger Straßendreieck Pückler, Köpenicker, Skalitzer verbracht hat und zu
gut aussieht, um unter die Räder gekommen zu sein. Neco ist gelernter Schildermaler, heute Sozialarbeiter im Jugendtreff
Naunynritze und gerade dabei, einen Film
für den WDR zu drehen: „Keinen sozialkritischen Scheiß, keine Folklore. Harte
Unterhaltung. In der die Power der Leute
zu spüren ist.“ Wie die Briten das machen.
Und die Berlin-Türken. Filme mit wahren
Geschichten und echten Gesichtern. Thomas Arslan („Dealer“), Kutlug Ataman
(„Lola und Bilidikid“) und Yüksel Yavuz
(„Aprilkinder“).
Necos Frau ist Info-Telekom-Kauffrau.
Sie trägt Kopftuch. Freiwillig, sagt sie. Sie
ist Deutsche.
Wo ist das Klischee? Natürlich gibt es die
„B-MW“-Jungtürken, die schon auf dem
Nummernschild mit der Marke ihres Autos
protzen. Die sperren in der Niemetzstraße
in Neukölln ihre Köter in die Wagen und
trommeln auf dem Dach herum, bis die
Tiere genauso durchdrehen wie die Nachbarn. Neuköllner Brauchtum eben.
Aber es gibt auch die „Abitur-Türken“.
Die wurden Unternehmer und schufen Arbeitsplätze, weil sie die Uni nicht schaffen
würden. Aus den Kasetçi, den Kassettenbuden ihrer Väter, machen sie moderne
CD-Läden. Sie werden Optiker, Unternehmensberater, Spediteure, gründen
Dampfbäder oder handeln mit Software.
Die neue Generation will nicht mehr nur
den Döner-Spieß drehen. Mehr als 5000
deutschtürkische Betriebe gibt es in Berlin,
mehr als 5000 Hybridmotoren der hiesigen verschlafenen Wirtschaft.
Man muss schon zweimal hinschauen.
Die Jazzkneipe „A Trane“, die „Rote Laterne“ am Heinrichplatz, das Touristen„Café Orange“ in der OraFilmemacher nienburger, die Kreuzberger
Çelik (mit „Mokkabar“, das „Ossena“
Familie) – alles Türkencafés und so gut
Wahre getarnt als Szenekneipen, ItaGeschichten lo-Restaurants, Rockerschupohne Folklore pen, dass Wurzelschau und
Der Nachrichtenblock bei 94,8
er Ort, von dem aus Berlins Moderatorin
Radiomarkt aufgemischt Baldede (r.), fängt immer mit Berlin an, dann
kommt Deutschland, dann Eurowird, ist gut 15 Quadratme- Kollegin
ter groß und hat ein Fenster Gefühlvolles pa, dann erst die Türkei. Auch beim
Wetter: „Berlin 30 Grad, Antalya
zu einem schäbigen Innenhof. Im aus dem
32.“ Nicht kommentiert werden
hintersten Zimmer einer Jugend- hintersten
kontroverse politische Themen wie
stilwohnung mit hohen Decken Zimmer
etwa der Prozess gegen PKK-Chef
sitzt Jale Baldede, 28, und lächelt
wie eine Märchenfee. Sie hat rehbraune Abdullah Öcalan. Fast jeder fünfte Türke
Augen und ist der Star von 94,8 Metropol in Berlin ist Kurde, und „diese Gruppe
FM, der einzigen türkischsprachigen Ra- wollen wir nicht ausgrenzen“, erklärt
Nachrichtenredakteur Ceyhun Kara, doch
diostation außerhalb der Türkei.
„Günaydin“, sagt Jale. Das heißt „Guten über eine einheitliche Sprachregelung
Morgen“, und so ist auch der Titel ihrer zum Thema PKK ist nie richtig diskutiert
Frühsendung von montags bis freitags. Am worden.
Wichtiger für 94,8 ist der Service, und
Wochenende von 20 Uhr bis 1 Uhr moderiert Jale „Ak≠ami“, eine Sendung, in der das heißt vor allem Erklären: Was ist
„ich meine Lieblingslieder spiele und wit- eine Verbraucherzentrale, wie funktioniert
das neue Staatsbürgerschaftsrecht, wie
zig bin“.
Jale hat Arzthelferin gelernt, aber das wirkt sich die Rentenreform aus? „So etlangweilte sie. Über ein Praktikum kam was steht nie in den Zeitungen“, sagt
sie zum Radiosender Kiss FM, wo sie ein- Kara.
Der Privatsender zielt auf die zweite
mal in der Woche die „Turkish Kisses“
moderierte – unter jungen Türkberlinern Generation der deutschen Türken, will
eine Kultsendung, die aber eingestellt wur- aber auch die Jüngeren erreichen, die fest
de, als sie nicht mehr ins Konzept passte. in der deutschen Kultur verwurzelt sind
und nicht einmal richtig Türkisch spreAlso ging Jale zu 94,8.
„Diesen Sender musste es endlich ge- chen. Moderatorin Jale sieht darin kein
ben“, sagt sie. Berlin hat die größte türkische Problem: Sie selbst fühlte sich anfangs
Gemeinde außerhalb der Türkei, 170 000 sehr türkisch, dann sehr deutsch, bis sie
Berliner sind Türken. Für Jale gibt es 56 Mo- feststellte, „dass es die beiden Extreme
scheen und seit Anfang Juni den Radiosen- gar nicht gibt“.
Entscheidend ist die Abgrenzung zum
der auf UKW 94,8. Durchschnittlich rund
45 000 Hörer pro Stunde zählt das Non- deutschen Einerlei. „Türken wollen türkiStop-Programm, Tendenz steigend. Auch sche Lieder hören“, sagt Jale Baldede,
Werbekunden fanden sich schnell unter den „und keine Ballermann-Hits.“ Die Lieder
mehr als 5000 türkischen Firmen in Berlin: müssen schmachtvoll ans Herz gehen:
Immerhin gehören 82 Prozent der Türken, „Was sich für deutsche Ohren wie Geleier
die in der Hauptstadt leben, zur umworbe- anhört – für uns Türken ist es gefühlvoller
Gesang.“
nen Gruppe der 14- bis 49-Jährigen.
Maik Großekathöfer
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Werbeseite
Werbeseite
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dung gefragt vor allem im Bauchbereich. In
jeder Straße der Innenbezirke stehen die
Bräunungszentren und Muskelbuden. Aber
türkische Buchläden gibt es gerade zweieinhalb in der Stadt.
„DJ H-Khan“ kam 1986 nach Berlin, da
hieß er noch Harkan und war 17. Er jobbte tagsüber als Detektiv beim KaDeWe und
legte nachts schwarze Musik auf in den
Ku’damm-Discos, wo für seinesgleichen
galt: Wir müssen draußen bleiben. „Vor
sechs Jahren machte die erste türkische
Disco in Berlin auf. Da liefen noch diese
Dorf-Lieder. Dann boomte die Popmüzik
in der Türkei. Wir haben House-Beats und
Black Music druntergemischt, und die Leute
wurden verrückt danach.
Das ist Orient House. Typisch Berlin.“
Wenn DJ H-Khan im
Club „Limon“ auflegt, direkt gegenüber der Deutschen Oper, dann ist da
kein autistisches Massenpendeln über eiskaltem
Beat. Bei Orient House
kommt es vor, dass die
Texte mitgesungen werden. Man tanzt in Ketten,
fasst sich an.
Im „Limon“ trifft sich
auch das „Neuköllner
Fräuleinwunder“, das der
Berliner Sittenforscher
Helmut Höge ausgemacht
hat: hoch gewachsene,
vollkommene Gestalten,
mit makellosem Make-up,
High-Heels und hautKünstler
engen Bodys, das Haar
Cantürk (im
versteckt unterm Tuch,
„Tacheles“)
Nicht mehr nur der Bauchnabel frei. Gefährlich fremd in der Berden Dönerliner Stillosigkeit. Sie traSpieß drehen
gen das Tuch, um von den
Testosteron-Schwitzern im „Café Marmara“ nicht angemacht zu werden. Das Kopftuch ist Tarnkappe, Code und Fashion. Es
sagt: Wir sind anders. Anders als die Deutschen. Anders als die Türken.
Sie sind die Meisterinnen in der Erotik
von Zeigen und Verstecken. Ihr Privatleben
organisieren sie sich per Handy, damit
die Eltern nicht merken, dass es nicht die
beste Freundin ist, wo Töchterchen heute
nacht schläft.
Die Mädchen wissen, was sie wollen.
„Vor allem einen Mann und Familie. Daran
hat sich nichts geändert“, sagt DJ H-Khan.
„Die kommen nachts in die Disco, sind
gepierced und haben Sex und alles. Aber
sobald sie verheiratet sind, ist Schluss damit. Die meisten sind dorfmäßig in ihrem
Kopf. Die denken wie ihre Mütter.“
Und wie verträgt sich das mit Sex?
„Junge, es gibt Möglichkeiten.“
Und seien es die Jungfernhaut-Feinstopfer vom Kottbusser Damm.
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K. THIELKER
Herkunftsgrübelei wirklich
keinen Sinn mehr machen.
Es gibt die Schauspieleragentur „Foreign
Faces“. Es gibt im „Tacheles“, der alternativen Kulturruine an der Oranienburger
Straße, einen russischen Künstler, der ist
gar kein Russe, sondern heißt Kemal
Cantürk. Die ganze Organtransplantation
in Berlin wird von einem 33jährigen
Anästhesisten namens Onur Küçük koordiniert. Es gibt türkischstämmige Rechtsanwältinnen in Mitte und gleich um die
Ecke, in der Tucholskystraße, eine Cocktail-Jazz-Bar „Jubinal“, mitgegründet von
Perri Aliabbasaglu, einer türkischen Kurdin alewitischen Glaubens
und aufgewachsen in
Oberbayern.
Perri sagt: „Für junge
Türken hört Berlin in
Mitte auf. Der Osten ist
bedrohlich, nur in Mitte
trifft sich die türkische
Intelligenz. Sofern sie
nicht schon nach Zehlendorf emigriert ist. In
Kreuzberg sind die Fronten klar. In Mitte nicht.
Hier fängt jeder von vorn
an.“
Das „Jubinal“ ist die
neue Mitte. Hier sitzt der
Schauspieler Birol Ünel,
der in Heinrich Breloers
„Todesspiel“ einmal Captain Mahmud in der entführten „Landshut“-Maschine war und Kafka
fürs Theater bearbeitet:
„Türke? Deutscher? Ich bin Fellache,
Alter.“
Das neue Selbstbewusstsein der jungen
Deutschtürken ist die Sonnenseite einer
ansonsten gescheiterten Integration. Fast
die Hälfte der Berliner Türken ist jünger als
25. Es knirscht an allen Ecken. In Berlin haben mehr als die Hälfte der jungen Frauen
ohne deutschen Pass keine abgeschlossene
Ausbildung.
Seit Anfang der Neunziger verschlechtert sich das Deutsch der türkischen
Schulanfänger. Schuld sind, diesmal wirklich, die Medien: „Wir von der zweiten Generation kamen als Kinder nach Deutschland. Wir mussten Deutsch lernen. Es gab
keine türkischen Medien. Wer es schaffen
wollte, der musste besser sein als die Deutschen“, sagt Sermin Döganan vom Bezirksamt Kreuzberg. „Seit es türkisches
Kabelfernsehen gibt und rund um die Uhr
94,8 Metropol FM, werden die Türkischkenntnisse der Leute hier immer besser.
Außerdem kommt man in Kreuzberg auch
ohne Deutsch bestens durch.“
Die dritte Generation will nicht sein wie
irgendjemand anderes. Sie will sie selbst
sein, und das heißt vor allem: Aussehen.
Gut aussehen. Bodystyling machen, Tanzen. Der Körper ist alles und gute Ausbil-
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Geist und Stütze
Wie zu Beginn des Jahrhunderts ist Berlin wieder Anziehungspunkt
für Intellektuelle aus Osteuropa. Doch ihr Einfluss auf das Kulturleben der
Hauptstadt ist minimal.
ut aufgehoben und von zwei Bordellen in die Mitte genommen,
steht das „Hegel“ am Savignyplatz, eigentlich viel zu verbraucht
als Existenzbeweis einer „Intelligenzija-Szene in Berlin“ – säße da nicht
Mascha am Klavier: Absolventin des Moskauer Konservatoriums, entschwunden
nach Jerusalem und von dort wieder aufgetaucht in Berlin, weil Berlin Europa ist.
Im Antlitz alter „Prawda“-Titelseiten
lässt Mascha Chopin durch den Kneipenrauch ziehen, dass es Gänsehaut macht.
„Hegel“-Wirtin Lucinka Wichmann lauscht
verzückt. Am Tresen steht Software-Entwickler Oleg, dessen Frau acht Sprachen
spricht, aber nicht arbeiten darf.
Ist das „Russki Berlin“?
Oder doch eher das „Russische Haus“
an der Friedrichstraße, einst Hort der
„Deutsch-Sowjetischen-Freundschaft“, wo
neun Mitarbeiter durch 29 000 Quadratmeter bester Lage gespenstern, wo die Lifte knirschen und die Räume anheimelnd
sind wie ein verlassener Bahnhof?
Seit Kriegsende haben nie so viele Osteuropäer in Berlin gelebt: 24 000 Exilanten aus der ehemaligen Sowjetunion (nicht
gezählt die klandestinen), 28 000 Polen sowie 8000 Tschechen, Bulgaren, Ungarn und
Slowaken. Es sind auch große Namen darunter. Doch stehen sie an den Klingelschildern der Sozialwohnungen, nicht in
den Veranstaltungshinweisen.
Alexander Askoldows Film „Die Kommissarin“ lief in den Berliner Kinos, als
Gorbatschow ein Popstar war. Jetzt lebt
Askoldow in Berlin, und keiner nimmt von
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K. THIELKER
W. BAUER
ihm Notiz. Ebenso wenig
wie von den Schriftstellern
Friedrich Gorenstein, Giwi Markwilaschwili, Boris
Rochlin, alles Neu-Berliner,
die mit den Möbeln und
Freunden auch ihren Ruhm
hinter sich gelassen haben.
Zu Zeiten von „Charlottengrad“, in den Zwanzigern, lebten mehr als
300 000 Russen in Berlin; es
gab 86 russische Verlage in
der Stadt. Russen waren
spannend, den Rechten als
Schreckgestalten, der linken
Boheme als Botschafter eines Neuen. Mit Russen ließ
sich im Café „Prager Diele“
über die Zukunft reden wie
Wirtin
heute mit Bewohnern des
Wichmann
Silicon Valley.
Ist das
Heute sind die KulturRusski Berlin?
häuser der osteuropäischen
Staaten verwaist, die Dissidentenzirkel
arbeitslos und ihrer Aura verlustig. Dass
die Akademie der Künste vom Ungarn
György Konrád geleitet wird, täuscht über
die wirkliche Ausstrahlung der Exil-Intelligenz hinweg. György Dalos, der jetzt
die Leitung des ungarischen Kulturzentrums abgibt, sagt: „Seit Radio Freies Europa eingestellt wurde, kommt die ungarische Wirklichkeit nur noch veraltet hier
an. Die Zeitungen brauchen eine Woche.
Budapest ist heute weiter von Berlin weg
als je zuvor.“
Kein osteuropäisches Projekt, das nicht
mit einem Bein im Grabe stünde. Selbst
das hoch gerühmte „Theater Kreatur“ von
Andrej Woron, wo alle Völkerschaften Europas auf der Bühne stehen, ist gefährdet.
Die russisch-deutschen Kulturzeitschriften
in Berlin, „Serkalo Sagadok“ oder „Studija“, sind außerhalb ihres Zirkels unbekannt. Der Verleger von „Studija“ lebt von
Sozialhilfe.
Frank Berberich, Herausgeber der Kulturzeitschrift „Lettre International“, sagt:
„Ein wenig ist die Neugier mit dem Geheimnis verschwunden.“ Früher vermuteten viele West-Berliner Intellektuelle hinter dem Schleier der politischen Kontrolle
eine Schattenhöhle der Geistesgenies.
Aus dem Osten erwartet man nun nichts
außer guten Musikern und Tänzern. Die
Russen-Kneipen der Stadt sind ausgestattet wie Kostümfilme. Sie heißen „Voland“,
„Gorki Park“ oder „Nostalghia“ und sind
voll mit Deutschen, die Russland mit der
Seele suchen und dabei Borschtsch löffeln
wollen. Von Avantgarde keine Spur.
Es gibt Cliquen, keine Szene. Da sind
die Kontingent-Juden, die Russlanddeutschen und die Georgier, da sind die
Nostalgiker, eingepuppt in ihre Verachtung
des Westens, da sind übrig gebliebene
Nomenklatura-Russen und Neu-Russen
von der Kantstraße und junge hungrige
Maler aus Odessa – und keiner möchte mit
den anderen auch nur zusammen genannt
werden.
„Intellektuellen-Szene in Berlin? Alle,
die etwas können und mehr wollen als nur
Sozialhilfe, gehen nach New York. In
Deutschland bleibt das Mittelmaß“, sagt
Sonja Margolina, eine der wenigen OstIntellektuellen, die an deutschen Debatten
beteiligt ist. „Aber das ist die Schuld der
Deutschen. Das Ausländerrecht verhindert,
dass die Intelligenz aus Osteuropa einen
Platz findet.“
Igor Chamiev vom „Jüdischen Kulturverein“ hält die Erwartung einer osteuropäischen Boheme in Berlin für verfrüht:
„Die russischen Zuwanderer haben alles
zurückgelassen. Sie sprechen kein Deutsch.
Sofern sie nicht sehr berühmt sind, brauchen sie Jahre, um überhaupt auf die Füße
zu kommen.“ Chamievs Vater war Chefarzt in Baku. Jetzt, mit 77 Jahren, muss er
zum Sozialamt. „Wir sind noch nicht lang
genug in Berlin“, sagt Chamiev. „Unsere
Kinder werden ihren Platz finden. Sie werden Deutsche sein.“
Und keine Exil-Bohemiens. Wie jetzt
schon Wladimir Kaminer von der Dichtergruppe „Neue proletarische Kunst“:
Von Dalos oder Konrád hat er noch nie
etwas gehört und findet im Übrigen, dass
Exil-Zeitschriften Auslaufmodelle sind:
„Ich will ein breites Publikum, keinen SubkulturDichter
Mief.“ Wladimir Kaminer
Kaminer
Verschwundenes schreibt auf Deutsch.
Geheimnis
Alexander Smoltczyk
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Fußball
Hertha-Zauber in
Blau-Weiß
FOTOS: W. BAUER
Zum Regierungsumzug hat die Hauptstadt nun auch einen Erfolgsclub
in der Bundesliga.
er Stadionsprecher kennt seine alten Hertha-Fans: „Die Toilettenbenutzung im Olympiastadion ist kostenlos. Für den Fall der Fälle.“ Der
einstige Proletenverein Hertha BSC
will Hauptstadtclub werden, und das Publikum muss sich mit ihm nach oben entwickeln. Dass Schiedsrichter bei Fehlentscheidungen nicht mit „Jude, Jude“-Rufen
bedacht werden sollen, wissen schon die
meisten Zuschauer, aber die verfeinerten
Umgangsformen der Harn-Entsorgung in
geschlossenen Räumen müssen noch gepaukt werden. Doch solche Rückfälle sind
selten geworden.
Hertha BSC Berlin, die ehemalige Skandalnudel der Liga mit schlechtem Ruf
und schlechten Finanzen, von Lizenzverweigerungen regelmäßig stärker bedroht
als von Leistungssteigerungen, hat sich
aufgeschwungen zum Himmelsstürmer
der Bundesliga. In der Saison 1998/99
spielte sich die Mannschaft unter Trainer Jürgen Röber – hinter den Erfolgsclubs Bayern und Bayer – an die Tabellenspitze und in die Herzen der Fans.
Rechtzeitig zum Regierungsumzug nach
Berlin hat die Stadt einen Club, passend
zu ihrem neuen Image als internationale
Metropole.
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Der Kaiser höchstpersönlich adelt die
Alles ohne Berliner Fußballer mit
Rücksicht seltenem Lob: „Herauf Traditionen tha BSC“, so Franz
umgekrempelt Beckenbauer, „könnte
uns irgendwann mal
den Rang ablaufen.“ Schon bieten die Herthaner auf der Homepage des „Fanclubs
Schlumpfhausen“ Devotionalien der ganz
Großen des Weltfußballs für ein Stück vom
Hertha-Zauber in Blau-Weiß: „Tausche
Brasilien, Juventus Turin oder Roberto
Baggio Trikots“, schreibt da ein Maximillian, „gegen Hertha BSC Trikot.“ Woche
Hertha-Spielstätte
Olympiastadion
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für Woche bejubeln jetzt im Schnitt 50 000
Fans die neuen Stars: Torschützenkönig
Michael Preetz, Mittelfeld-Wiesel Dariusz
Wosz und Jungstar Sebastian Deisler (von
der „BZ“ liebevoll „Basti Fantasti“ getauft). Und sie feiern den Abschied von
der eigenen Mittelmäßigkeit.
Fünf Jahre ist es erst her, da kannte Hertha außer ein paar hartgesottenen Fans nur
der Gerichtsvollzieher. In das gigantische
Olympiastadion verloren sich an manchen
Wochenenden gerade mal 3000 bis 4000 unverbesserliche Zuschauer. Aber just als der
Verein an seinem sportlichen wie finanziellen Tiefpunkt angelangt schien, investierte
das Bertelsmann-Vermarktungsunternehmen Ufa Sports GmbH 1994 in den maroden
Club an der Spree. 4,5 Millionen Mark
steckte der Konzern in das Projekt und bis
heute rund 35 Millionen. Dafür kassieren
die Bertelsmänner bis zum Jahr 2009 jährlich 40 Prozent der Marketingeinnahmen.
Seither ist die Lachnummer der Zweiten
Liga systematisch zum professionellen Erfolgskonzern aufgebaut worden. Mit dem
sagenumwobenen Robert Schwan kam ein
ebenso skurriler wie ambitionierter Aufsichtsratsvorsitzender, der den Club wie
einst die Bayern auf Erfolgskurs manövrieren sollte. Dieter Hoeneß wurde als Manager für eine rentable Einkaufspolitik verpflichtet. Außerdem setzten die Ufa-Bosse
ihre eigenen Leute in die
muffige Geschäftsstelle.
Fans von
Bald schon protestierte
Hertha BSC
die Basis gegen das FaceAbschied von
Lifting der alten Dame
der eigenen
Mittelmäßigkeit Hertha: „Die kamen hin
und ham allet umjekrempelt, ohne Rücksicht auf Traditionen.“ Aber zwischen den
Sehnsüchten der alten Fans, die
Fußball als proletarisches Volksgut verehren, und den Visionen
der Strategen, die im Fußball die
kalkulierte Investition in der Unterhaltungsbranche sehen, steht
Trainer Jürgen Röber als Symbol der echten Hertha.
Allen Anfeindungen und
Demütigungen zum Trotz hat
Röber den Club vom 10. Tabellenplatz der Zweiten in die Erste Liga und in die Geld verheißende Champions League geführt. Röbers Meisterstück verdankt der Club dem
Aufstand der Basis – denn erst die StreikDrohungen der Fans und die Solidaritätsbekundungen der Spieler haben den ruhigen, aber kompetenten Röber in Berlin
gehalten.
Der pessimistischen Kritik der notorischen Nörgler hat Röber ebenso wenig
Glauben geschenkt wie dem euphorischen
Wahn der Fans – er weiß, dass der Weg
von der Königsliga zurück in die Kreisklasse schneller ist als der mühsame Kampf
nach oben. Von Mailand nach Meppen ist
es näher als umgekehrt.
Carolin Emcke
Werbeseite
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Szene
Spaßhaus Mitte
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Von Tanja Dückers
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meine Entspanntheit ausgebreitet; das persönliche Wohlbefinden
im Augenblick – in dieser Wohnzimmerbar auf dem etwas zerschlissenen Brokatsofa mit Blubber-Musik und netten Freunden
– steht über beruflichem Ehrgeiz oder dem Engagement für kollektive Ziele. Man tuckert zwischen One-Night-Stand und Langbeziehung, zwischen Single-Haushalt und Friedrichshainer
Chaos-WG, zwischen Open-Air-Concert und Kellerloch-Event,
zwischen Ecstasy und Vitamin C,
gurkt nach Indien oder an die Ostsee, man kriegt Kinder oder lässt
es bleiben – ohne eine Ideologie
daraus zu destillieren.
Und jedes Jahr scheint es eine
neue Parade zu geben. Nachdem
die Love Parade immer mehr
zum Kommerz-Touristen-Blödmann-Event verkommen ist, zu
dem die Junge Union einen Wagen schickt, ist man auf den Christopher Street Day (ob schwullesbisch oder nicht) und den
„Karneval der Kulturen“ (dieses
Jahr 300 000 Feiernde), die „SexParade“ und die „Hanf-Parade“
umgestiegen.
Spanische Verhältnisse in Berlin: jede Woche Fiesta. Südliches
Flair hat die Stadt ergriffen, allerorts eröffnen brasilianische, mexikanische und spanische Restos
und konkurrieren mit den hiesigen Buletten-Bars, jede zweite
Kneipe stellt Stühle auf den Bürgersteig, und auch die Bordsteinkante ist von den Kids wiederentdeckt worden. Anstatt teure
Drinks in blöden Stehlocations,
die eigens für abgehetzte Yuppies
geschaffen worden sind, hinunterzukippen, gehen wir zum Spätkauf auf der Kastanienallee, setzen uns mit Freunden, Bier und
Gummibärchen an den Straßenrand und labern bis zum Morgengrauen.
Das Lebensgefühl der Teens,
Twens und Young Thirts findet
sich zum Beispiel in den ehemals
besetzten Häusern. Ihre Bewohner sind keineswegs, wie noch in
den Achtzigern und zu Wendezeiten, schwarzgekleidete PolitRhabarberer, sondern Leute mit Sony-Discman und BlinkerTurnschuhen, und ihre Buden etablieren sich zu richtigen
Spaßhäusern. In den kalt-heißen Achtzigern (jetzt ist die Temperatur sommerlich-mild) und auch noch zu Beginn der Neunziger herrschte ein anderer Tenor vor, die besetzten Häuser am
Einsteinufer oder in der Marchstraße umwehte ein trüber Nihilismus, ein pathetischer Ernst schwang mit auf den großen, von
der damaligen U-Bahnlinie 2 für jeden zu lesenden Plakaten. Eine
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REUTERS
ls mich im Mai 1990 ein Trupp von Hausbesetzern fragte,
ob ich einen Bau in Berlin-Mitte mitbeziehen wollte,
überlegte ich nicht lange und entschied mich stattdessen
für eine Hinterhauswohnung in Neukölln. Nein, mir war
Mitte damals viel zu grau und trostlos. Da gibt’s doch
kaum eine Bar, kaum ein Resto, nicht mal eine Straßenlaterne,
dachte ich, und jeder nickte zustimmend. Gerade mal neun Jahre
ist dies nun her. Heute unvorstellbar, dass jemand den „Slumbezirk“ Neukölln – damals noch Einzugsgebiet von Kreuzberg als
Mekka der Nacht – dem Szeneviertel Mitte vorziehen könnte.
Die Öffnung des Ostens –
räumlich und kulturell – war für
die West-Teens und -Twens erst
mal eine enorme Erweiterung ihres Freizeitangebots. Ost-Berlin
wurde zu einer Art großem Abenteuerspielplatz. Jede Woche
machte eine neue illegale Bar auf,
zu der man nur über ein Dach
oder ein Kellerloch Zugang hatte,
wurde ein neues Haus gefunden,
besetzt, gefeiert. Auch ich zog
dann doch hinüber an die Schönhauser Allee. Wir fanden alte OstAkten, kurioses Geschirr, Sportmedaillen und Kleidung in haarsträubenden Farben, kletterten
halsbrecherisch durch Dachluken, schleppten den gefundenen
Krempel mit selbstgebauten Flaschenzügen ab und fühlten uns
ein bisschen wie Tarzan und Jane.
Mittlerweile herrscht im Ostteil
der Stadt ein verwirrend-betörendes Nebeneinander von neu eröffneten Banken und ehemals besetzten Häusern mit bunten Fassaden, von Ost-Bierstuben und
Feinschmecker-Restos. In der U 2
tuckern Rasta-Tanten und Bürolinge Side by Side. Die Parallelität
von Trash und Money, von Bonzen- und Ranzbackentum macht
die Stadt spannender denn je. Da
geben Freunde 200 Mark für eine
Sonnenbrille aus, aber kurven auf
Love Parade (im Juli)
einem von einem Junkie für 25
Mark abgekauften Klapperrad herum. Sie shoppen im „Eisdieler“ (teurer Klamottenladen in Mitte) und bei „Rudis Reste Rampe“, probieren den „Modellhut“ (schickes Resto in der Alten
Schönhauser) und lassen auch den Nachtisch „Mandel-Brotpudding mit grünem Oliveneis“ nicht aus. Doch die nächsten Wochen wird wieder gedönert und geburgert.
Teens und Twens führen den Lebensstil vor, den sich viele
1968 gewünscht haben. Ohne zwanghafte Polygamie, Gemeinschaftsküche oder Kinderladen hat sich in der Stadt eine allge-
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auf das (vermeintlich) Wesentliche reduzierte PolitSprache, das Leben mit extrem begrenztem finanziellen Spielraum, die Abschottung gegenüber der Außenwelt –
so war diese Epoche der Berliner Linken. Ganz anders die von
Vitalität, Neugierde, Hedonismus in den Osten getragene Hausbesetzerszene der Neunziger. In einem dieser Häuser in Mitte
habe ich kaum einen Politspruch, kein „Bullen – verpisst Euch“,
keinen „Schwanz ab“-Spruch gelesen, sondern schlicht: „Wir
sind Gott.“
Jeder lebt in seinem Kosmos, macht Kunst oder das, was er
oder sie dafür hält, „verwirklicht sich selbst“, egal, was dabei
rauskommt, geht zu Demos, meist ohne konkrete Anliegen, freut
sich, Leute wieder zu treffen, hofft dort, einen Kneipenflirt wieder zu sehen und sich zu amüsieren, während „Spießer“ grimmig-neidisch von Balkons herunterlugen.
Die meisten dieser Besetzerkids, die mir über den Weg liefen,
kamen Anfang der Neunziger aus dem Westen. Wenn der Ostteil
der Stadt zu anstrengend oder bedrohlich wurde, konnten sie immer noch bei den Eltern oder Freunden in W-Berlin kurz ein
Wochenende abspannen, dreckige Sachen in die Waschmaschine und sich selbst in die Badewanne befördern. Ich kannte jemanden, der eine Wohnung in Schöneberg angemietet hatte
und gleichzeitig ein oder mehrere Zimmer in einem besetzten
Haus für sich in Anspruch nahm. Allerdings wurden solche
Auswüchse an Egoismus meist doch mit Rauswurf aus der WG
geahndet.
Schien die Suche nach politischer Freiheit in den Sechzigern,
Siebzigern und Achtzigern oft ein Vorwand, um in Ruhe seinen
Privatismus, wie auch immer er sich gestaltete, zu zelebrieren,
schämt sich jetzt niemand mehr, dies offen zuzugeben. Die Leute verbrämen ihre ureigenen Träume, Konflikte und Pläne nicht
mehr mit geborgten Parolen, sondern krakeln einfach
„Spaßhaus“ an den Schornstein. Der gemeinsame Feind aller
Kids, ob aus dem Westen oder Osten, ob turnschuhmäßig drauf
oder in Nostalgie-Oma-Tripplern, sind die „Spielverderber“; das
können je nach Lage Skinheads, Lehrer, Polizisten, lärmempfindliche Nachbarn, BVG-Ärsche oder Eltern sein.
Für die jetzt 20-Jährigen ist die Geschichte des vereinten
Deutschland genauso lang wie die des geteilten Landes.Viele wissen nicht mehr, wo genau die Mauer verlief, und oft lässt es sich
wirklich nicht mehr an den Häusern, den Geschäften, den Menschen ablesen.
Es gibt eine Art internationaler Jugendkultur, die auf Raves
geht oder Drum’n’Bass hört, bunte T-Shirts von H & M und
fette Turnschuhe trägt, die wirkliche und virtuelle Grenzen
schlicht ignoriert. Viel Charme hat diese naive Vergesslichkeit, die
den Mauerfall zu einem Datum unter vielen anderen im Geschichtsbuch werden lässt. Kirchenspaltung, Wiener Kongress,
Weimarer Republik, Hitler und Co., Mauer hin, Mauer weg, FreiZeit.
Es gibt Tausende Ost-West-Beziehungen, man feiert und arbeitet zusammen, manchmal macht man gute oder doofe Witze
übereinander, so richtig interessiert das nicht mehr, ob jemand
östlich oder westlich der Mauer seinen Hintern in die Welt gesetzt hat. Natürlich gibt es jammernde Nischenbewohner auf
beiden Seiten. Leider müssen in diesem Zusammenhang ein paar
Kreuzberger Provinzeier erwähnt werden, die sich und 80 Millionen anderen allen Ernstes die Mauer wieder an den Hals wünschen, um das Gefühl, am Rande der Gesellschaft zu leben, aufrechterhalten zu können.
Dennoch bekennt „die Szene“ sich – das steht nicht in einem
Gegensatz zur übernationalen Clubculture, sondern ergänzt sie
hier zu einer „besonderen Mischung“ – zum regionalen Standort.
In Bars hängt nicht Brad Pitt, sondern Gorbatschow an den Wänden, in der „Hohen Tatra“ spielten die Hamburger „Sterne“, OstGut wie Plastikspieße im Fernsehturmdesign stecken in FruchtCocktails, und der absolute Kultclub derzeit in Friedrichshain hat
keinen weltläufigen englischen No-Name, sondern heißt schlicht:
„Maria am Ostbahnhof“.
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Berlin für Neugierige
Kneipen, Bars und Clubs in der Szene
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CHARLOTTENBURG
GAINSBOURG – BAR AMERICAIN
Savignyplatz 5,
S-Bahnhof Savignyplatz.
On aime Serge! Chef Frido
Keiling gehört zu den Dauersiegern bei Cocktail-Wettbewerben.
SCHLEUSENKRUG
Müller-Breslau-Straße/Tiergartenschleuse, S-Bahnhof Tiergarten.
Auf drei Terrassen gemütliches
West-Berlin. Selbstbedienung
bei Lamm und Würstchen vom
Grill.
FRIEDRICHSHAIN
DIE TAGUNG / CUBE CLUB
Wühlischstraße 29,
S-Bahnhof Warschauer Straße.
Für Ostalgiker die Friedrichshainer Szenekneipe schlechthin:
Honecker-Porträt mit Trauerflor!
Ein Stock tiefer kann getanzt
werden.
im „Privat Club“ Konzerte,
Versteigerungen und Lesungen
statt.
WÜRGEENGEL
Dresdner Straße 122,
U 1/8/15 Kottbusser Tor.
Gemütlich-elegante Bar in
sattem Bordeaux-Rot.
MITTE
BAUHÜTTE GEMÜTLICHKEIT
SCHMALZWALD
Schlegelstraße 26/27,
U 6 Oranienburger Tor.
Szenetreff in einer ehemaligen
Garage der Betriebsfeuerwehr.
Alltagsmuseum und Work-inProgress-Kulturstätte.
CAFE ADLER
Friedrichstraße 206,
U 6 Kochstraße.
Direkt gegenüber dem ehemaligen Checkpoint Charlie
gelegene Gemütlichkeitsoase.
MARIA AM OSTBAHNHOF
SUPAMOLLY
Straße der Pariser Kommune 8 - 10.
S-Bahnhof Ostbahnhof. Konzerte von Dub bis Minimal Techno,
Drinks in der Flittchenbar.
KREUZBERG
Jessner Straße 41,
U 5/S-Bahnhof Frankfurter Allee.
Angesagter Konzertkeller mit
Hausbesetzer-Flair. Musikalisches von Reggae über Punk
zu Techno.
ANKERKLAUSE
HACKBARTH’S
Maybachufer/Ecke Kottbusser
Damm, U 8 Schönleinstraße.
Von Seemannsliedern bis Easy
Listening. Szenepromi-Treff in
ehemaliger Prolltränke. Donnerstags die beste Funk-TrashPop-Party der Stadt.
Auguststraße 49a,
S 1/2/25 Oranienburger Straße.
Erst Bäckerei, dann Yuppie-Eckkneipe, jetzt meist knüppelvoll.
Trotz schlechtem Service guter
Zwischenstopp auf Mittes
„In“-Straße.
FÔGO
JUBINAL
Arndtstraße 29, U 7 Gneisenaustraße.
Karibisch angehauchte
Strandbar mit Sandfußboden.
Häufig spontane Live-Sessions
mit Seventies-Touch.
August-/Ecke Tucholskystraße,
U 6 Oranienburger Tor.
Cocktails und ausgezeichnete
Weine, siebziger Jahre Ambiente. Zeitgemäßer, unaufdringlicher Live-Jazz.
FRIENDS OF ITALIAN OPERA
Fidicinstraße 40,
U 6 Platz der Luftbrücke.
Kleines englischsprachiges
Theater mit internationalen
Gastspielen vielversprechender
Künstler.
HAIFISCHBAR
Arndtstraße 25, U 7 Gneisenaustraße.
Blue-Note-Ambiente.
Cocktail-Bar mit Sushi-Tresen.
WELTRESTAURANT MARKTHALLE
Pücklerstraße 34,
U 1/15 Görlitzer Bahnhof.
Deftiges an großen Wirtshaustischen. Einen Stock tiefer finden
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JULIETTES LITERATURSALON
Gormannstraße 25,
U 8 Weinmeisterstraße.
Buchangebot kleiner Verlage
jenseits des Mainstreams.
Regelmäßig Literaturprojekte mit
Lesungen und Inszenierungen.
KURVENSTAR
Kleine/Ecke
Große Präsidentenstraße 3,
S-Bahnhof Hackescher Markt.
Kühle Angelegenheit für
markenbewußte HipHopper.
Angesagte Club-Location mit
Sushi-Bar.
REINGOLD
Novalisstraße 11,
U 6 Oranienburger Tor.
Coole Cocktail- und Austernbar
im Leder- und Samtstil der
dreißiger Jahre. Einlass nur mit
gepflegtem Äußeren.
WMF
Johannisstraße 20,
U + S-Bahnhof Friedrichstraße.
Ehemaliges Gästehaus des
DDR-Ministerrats. Jeden ersten
Mittwoch im Monat: Mikro
Lounge. Internationale Gäste
diskutieren das Zeitalter des
Internets. Hochkarätige Musik
aus zwei Bars.
NEUKÖLLN
CAFE RIX IM SAALBAU NEUKÖLLN
Karl-Marx-Straße 141,
U 7 Karl-Marx-Straße.
Trutzburg wider das (verrufene)
Neukölln! Gemütliches Café im
aufwendig restaurierten Jugendstilsaal. Gute Tageskarte.
CAFE XENZI
Selchower Straße 31,
U 8 Boddinstraße.
Anachronistisches Einraumerlebnis mit Bollerofen, erfreut
sich seit Jahren geradezu
unwirklicher Beliebtheit.
PRENZLAUER BERG
LA BODEGUITA DEL MEDIO
Lychener Straße 6,
U 2 Eberswalder Straße.
Hemingway lässt grüßen. Kubanische Kneipe im Stil der zwanziger und dreißiger Jahre. Hier
soll es die besten Mojitos Berlins geben.
wer, wie auf dem Sozialamt,
eine Nummer gezogen hat.
KONNOPKES IMBISS
Schönhauser Allee,
U 2 Eberswalder Straße.
Ost-Berlins unter der Hochbahn
gelegene Kult-Wurstbraterei.
Beste Currywurst der Stadt!
MARY JANE BAR
Kastanienallee 24,
U 2 Eberswalder Straße.
Spaciger Tip für frühe Morgenstunden: Chill-out am PlüschTresen mit Drum’n’Bass und
House-Musik.
PRATER/BASTARD
Kastanienallee 7-9,
U 2 Eberswalder Straße.
Für Liebhaber Alt-Berliner Wirtshäuser. Das Bastard ist eigentlich das Foyer einer Spielstätte
der Volksbühne, fungiert an Wochenenden als Club.
SCHÖNEBERG
CAFE SAVARIN
Kulmer Straße 17,
U + S-Bahnhof Yorckstraße.
Köstliche Pasteten, Gemüsetorten und Kuchen. Schlemmen
wie in Omas guter Stube.
GREENDOOR
Winterfeldtstraße 50,
U 1/2/4/15 Nollendorfplatz.
Unter Cocktailfans und Liebhabern eleganter Innenarchitektur
absolut bekannt.
LUKILUKI
Motzstraße 28, U 1/2/4/15.
Herren bedienen als Damen
oder mit nacktem Oberkörper.
Nette Stimmung bei schlechtem
Essen.
HEADHUNTER
PINGUIN CLUB
Stargarder Straße 76,
S-Bahnhof Schönhauser Allee.
Alle Frisuren zum Einheitspreis
von 20 Mark, bedient wird nur,
Wartburgstraße 54,
U 7 Eisenacher Strasse.
Reminiszenz der Amerikaverehrung des alten West-Berlin.
d e r
Dückers, 30, wurde in West-Berlin
geboren und lebt als Autorin in
Prenzlauer Berg. Sie veröffentlichte dieses Jahr im Aufbau-Verlag einen Roman über die neue BerlinGeneration, „Spielzone“.
s p i e g e l
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W. BAUER
K. THIELKER
Szenetreff „Bauhütte Gemütlichkeit Schmalzwald“
Vielleicht wird Berlin nie eine „Weltstadt“? Aber wie definiert
sich das schon, Glastürme statt Ruinen, Anglizismen statt „Treptower Park“ („Treptowers“-Kreation der Immobilienwerbung),
Fußbodenheizung statt Kachelöfen?
So ostzugewandt und gleichzeitig international, so reiselustig
und mondän sich viele junge Berliner geben, so wenig interessieren sie sich für „Restdeutschland“ (=Westdeutschland). Nicht
ohne Arroganz lässt man sich höchstens mal zu einem WeekendTrip nach Hamburg überreden, weil dort ein berühmter DJ auflegt oder Massive Attack spielt, aber andernorts hat man, abgesehen von weihnachtlichen Elternbesuchen, nichts verloren. Bayern ist ferner als das Mittelmeer, Budapest und Prag näher als der
Rhein.
Lange wird sich das reizvoll-unbestimmte „Alles ist möglich“
in dieser Stadt mit permanentem Baustellenstatus wohl nicht
mehr halten. Den massiven Umbau ihrer Stadt betrachten viele
Leute, die ich kenne, skeptisch bis wütend: Sie haben das ungute
Gefühl, einfach nie dazu gefragt worden zu sein. Seit Jahren
kannten die jungen Berliner ihre Stadt, ob Heimat oder
Wahlheimat, als Ort der Unbestimmtheit, der chronische Baustellenstau wurde ihr Markenzeichen. War in dieser Unbestimmtheit noch Raum für die verschiedensten Vorstellungen
von „Berlin“, jagt die Konkretisierung dieser Ideen, die mit dem
Umzug des Regierungssitzes einen weiteren Meilenstein passiert, Angst ein.
Natürlich fürchten die jüngeren Berliner auch, die lieb gewonnenen Spaßnischen zu verlieren. Die illegale „Montagsbar“,
ein Kellerloch um die Ecke mit Sixties-Mobiliar, hat dichtgemacht, den Trödelmarkt am Tacheles gibt es nicht mehr, stattdessen nervt ein blinkender Rummel, die blöde Hausverwaltung
reißt den netten quietschorangenen Kachelofen aus der Wand
und setzt eine teure, hässliche Zentralheizung in die Bude, und
nebenan macht ein von dicken Krawattis bevölkertes Stehlokal
mit bescheuertem französischen Etepetete-Namen auf.
Doch auf das „neue Berlin“ entstehen auch wieder ganz eigene
ironische Antworten. Schuppen machen auf, die sich „DaimlerChrysler“ oder knapp „Die Schweiz“ nennen, Besetzer in der
Tucholskystraße verpackten ihr Haus in frappierend ähnlicher Silberfolie wie Christo zeitgleich den Reichstag (Es gehen Gerüchte um, dass mancher Japaner mit Fotos von diesem Christo nach
Hause flog) und hängten in Augenhöhe für Touristen ein Schild
vor ihre Tür: „Abenteuersafari Tucholsky 30 – Erleben Sie freilebende Hausbesetzer – Bei einer Führung lernen Sie prickelnd
hautnah eine der seltensten Menschengattungen in ihrem natürlichen Lebensraum kennen!
Tucho Tours: 39,90 Mark für
jeden Teilnehmer.“
Die Subkultur reagiert ironisch-witzig, nicht depressivverstimmt, heimlich fühlt sie
sich den Neuankömmlingen
überlegen. Wenn die sich für
Berlin und seine Bewohner
interessieren, ist man ihnen
einigermaßen freundlich gesinnt, wenn sie aber mit dem
Gestus des Rattenlochsäuberers auftreten, wünscht man
sie schleunigst zurück in das
Unland der Fußbodenheizungen und elektrischen EiAnpiker.
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Werbeseite
Deutschland
Angeklagter Balsam (M.), Verteidiger, Prozessakten: „Es muss endlich Schluss, Schluss,
PROZESSE
„Irgendwo steckt noch Geld“
Der spektakulärste deutsche Wirtschaftsprozess geht zu Ende.
Doch der Haupttäter ist verschwunden, und viele
Rätsel der Milliardenpleite der Balsam AG bleiben ungeklärt.
A
FOTOS: TEUTOPRESS
m 190. Verhandlungstag bat der An- Blatt Beweismaterial gesichtet. Der Mamgeklagte mit der schmalen Lese- mutprozess offenbarte, dass deutsche Gebrille die Richter um Gehör. Lang- richte selbst bei sorgfältigster Arbeitsweiatmig trug er der 9. Großen Strafkammer se überfordert sind, komplexe Betrügereides Landgerichts Bielefeld zunächst Alt- en von Spitzenmanagern aufzuklären.
bekanntes vor: Er habe sich nie etwas zu
In der Balsam AG wurde so filigran mit
Schulden kommen lassen, und „von den Luftbuchungen, gefälschten Belegen und
Machenschaften“ in seinem Betrieb habe Urkunden jongliert, dass selbst der vom
er nichts gewusst.
Gericht eingesetzte Wirtschaftsprüfer nicht
Dann brach es aus dem ehemaligen Un- mehr durchblickte. Kleinlaut musste der
ternehmer Friedel Balsam, 57, heraus. „Es bestellte Sachverständige seinen Vortrag
muss Schluss, Schluss, Schluss sein“, rief er vor Gericht nachträglich in mehreren
aufgeregt. Noch immer werde der Name Punkten revidieren.
Balsam regelmäßig durch den Schmutz geSchon vor den prozessualen Diskussiozogen, die Belastungen seien „unerträg- nen um das Zahlen-Wirrwarr hatte sich der
lich, alle sind ausgelaugt“.
Korruptionsskandal in einen spielfilmreifen
Nach dem Wortschwall nahmen Bal- Wirtschaftskrimi gewandelt. Am 16. Nosams Anwälte alle zuvor gestellten Be- vember des vergangenen Jahres war bei den
weisanträge zurück. Kommende Woche Richtern ein Brief eingegangen: Absender
wird das Verfahren über die Pleite des Klaus Schlienkamp, der Hauptbeschuldigte.
ostwestfälischen Sportbodenherstellers, In krakeliger Schrift teilte der ehemalige Fibei dem rund zwei Milliarden Mark ver- nanzchef der Strafkammer mit: „Wenn Sie
sickert sind, zu Ende gehen – und damit diesen Brief erhalten, werde ich nicht mehr
einer der spektakulärsten deutschen Wirt- am Leben sein.“ Mit seinem Geständnis
habe er einen „Schlussstrich unter die Verschaftsprozesse.
Nach über drei Jahren
Dauer sitzt von ursprünglich sieben Beschuldigten
nur noch Balsam auf der
Anklagebank, die anderen
sechs wurden zuvor freigesprochen oder milde abgeurteilt – der Hauptangeklagte aber ist verschollen.
Rund zehn Millionen
Mark kostete das Verfahren, fast 200 Zeugen wurden befragt und 400 000 Schlienkamp, Firmengelände: Flucht oder Selbstmord?
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d e r
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FOTOS: B. THISSEN
Schluss sein“
gangenheit ziehen wollen“. Doch dies sei
wohl nicht möglich gewesen: „Ich will nicht
mehr, für mich ist alles zu Ende.“ Seitdem
rätseln Ermittler, Richter und Anwälte, ob
sich Schlienkamp in die Karibik abgesetzt
oder tatsächlich Selbstmord begangen hat.
In seinen 20 Arbeitsjahren bei Balsam
hatte Schlienkamp Aufstieg und Fall des
Unternehmens betrieben. Mit einem Bruttogehalt von 2000 Mark fing der Industriekaufmann 1974 als Kalkulator bei dem von
ihm als „Motzkopf“ gefürchteten Balsam
an. Die Firma expandierte, Schlienkamp
übernahm neue Geschäftsfelder in den
USA und bald auch die Verantwortung, als
der einstige Familienbetrieb durch rapides
Wachstum in „Liquiditätsenge“ geriet.
Schlienkamps Methoden der „wundersamen Geldvermehrung“ waren anfangs
noch völlig legal: Eingegangene Auftragsbestätigungen schickte er an die Wiesbadener Finanzierungsfirma Procedo weiter.
Der Inkassobetrieb streckte vor und lieh
sich seinerseits das ausgelegte Geld bei verschiedenen Banken.
Aufsteiger Schlienkamp fühlte sich als
Retter der angeschlagenen 1600-Mann-Firma, als eine „Figur wie Robin Hood“. Im
Betrieb habe das Motto gelautet: „Kläuschen, du machst das schon.“
Als das Unternehmen immer mehr Kapital benötigte, manipulierte Schlienkamp
die Auftragsbestätigungen. Ein Geschäft in
den USA erhöhte er kurzerhand von
569 000 auf 9,56 Millionen Dollar. Und als
die Fälschungen nicht mehr ausreichten,
erfand Schlienkamp Projekte irgendwo auf
der weiten Welt. Regelmäßig bekämpfte er
samstags seine Skrupel mit Rotwein, Obstbrand und Cognac, fuhr ins Büro und erstellte am Schreibtisch virtuelle Aufträge.
Im Juni 1994 brach Schlienkamps
Münchhausen-Gebilde zusammen. Der Finanzvorstand war geständig: Unter der
Überschrift „Das Milliardengrab“ verfasste
er in der Untersuchungshaft ein 230-seitiges Werk über die Abzockerei.
Die Tatsache, dass ein alkoholkranker
Kaufmann mit simplen Tricks fast 50 Band e r
ken betrügen konnte, habe, so Oberstaatsanwalt Klaus Pollmann, „die Finanzwelt
zutiefst erschüttert“. Doch schon kurz
nachdem die Wirtschaftsstrafkammer im
April 1996 mit der Aufarbeitung begann,
war klar, dass es dem Gericht nicht gelingen würde, der Wahrheit auf den Grund zu
kommen. Nach und nach dünnte sich bei
allerdings noch nicht rechtskräftigen Urteilen die Anklagebank aus:
π Wirtschaftsprüfer Rolf Muscat, Bilanzprüfer von Procedo, wurde im Mai vom
Vorwurf des Betrugs freigesprochen.
π Die Verfahren gegen die Balsam-Vorstände Dietmar Ortlieb und Horst Bert
Schultes wurden im Juni gegen Zahlung
von je 100 000 Mark eingestellt.
π Procedo-Chef Dieter Klindworth und
sein Prokurist Ulrich-Helmut Brandenberger erhielten am 1. Juli wegen
Kreditbetrugs zweieinhalb Jahre beziehungsweise 21 Monate Haft.
Schlienkamp hatte nach seinem umfänglichen Geständnis auf einen Deal mit
den Richtern, zumindest aber auf eine
schnelle Aburteilung gebaut. Als Vorbild
sah er das Verfahren gegen den englischen
Finanzjongleur Nick Leeson, der mit seinen Devisenspekulationen die Londoner
Barings Bank in den Ruin getrieben hatte.
Der geständige Banker war von einem Gericht in Singapur nach nur einem Verhandlungstag zu sechseinhalb Jahren Haft
verurteilt worden.
Aber die Bielefelder Richter bestanden
darauf, dass sich Schlienkamp in die Reihe
der Angeklagten, die jede Mitschuld bestritten, einzureihen habe. Mit der Zeit
wurde er immer ungeduldiger. „Egal, ob er
am Ende geflüchtet ist oder ob er sich getötet hat“, sagt Schlienkamps Anwalt Michael Rietz, „alle Prozessbeteiligten müssen
sich fragen, ob sie nicht dazu beigetragen
haben, dass er verschwunden ist.“
Er mache keinen Hehl aus seinem Glauben, sagt Staatsanwalt Pollmann, dass
Schlienkamp noch lebt und „dass irgendwo
noch Geld steckt“. Doch obwohl seine Leute jedem Hinweis nachgegangen seien, hätten sie dies bis heute nicht belegen können.
Nur in der Heimat kamen die Ermittler
Schlienkamp noch einmal auf die Schliche.
Zumeist bei Bekannten hatte er mit Hilfe
seiner Ehefrau 1,8 Millionen Mark eingesammelt, um zu spekulieren. Im letzten Oktober war das Geld bis auf 78 000 Mark verzockt – einen Monat später verschwand er.
Mit all diesen unappetitlichen Vorgängen
werde er als Namensgeber des Verfahrens
immer in Verbindung gebracht, beschwerte sich Friedel Balsam, für den die Staatsanwaltschaft neun Jahre und sechs Monate
Haft beantragt hat. Selbst als sich kürzlich
Dieter Zurwehme in Ostwestfalen herumgetrieben hat, sei er sofort ins Visier der
Öffentlichkeit geraten. Wie selbstverständlich sei sein ehemaliges Anwesen „als Zufluchtsort“ für den flüchtigen Mörder ausgemacht worden.
Udo Ludwig
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M. STILLER / SÜDDEUTSCHE ZEITUNG
Geschäftspartner Schreiber, Max Strauß*: „Fanatiker der Diskretion“
A F FÄ R E N
„Ganz schön Bewegung“
Nach der Verhaftung des CSU-Amigos Karlheinz Schreiber wird
es für dessen Vertrauten Pfahls eng: Auch der flüchtige
Ex-Verfassungsschutzchef muss die BKA-Zielfahnder fürchten.
* 1979 in Mexiko.
112
gen Flugzeug- und Panzergeschäften die vielleicht entscheidende Wende. „Wir haben nun
die zentrale Figur des gesamten
Komplexes“, konstatiert der
Chef der Augsburger Staatsanwaltschaft, Reinhard Nemetz,
48. „Deshalb könnte jetzt ganz
schön Bewegung in die Sache
kommen.“
Insbesondere die Spitze der
Christsozialen im Freistaat muss
vor dem Fortgang des Ermittlungsverfahren 502 Js 127135/95
bangen – schließlich sollen sich
gleich drei prominente Parteimitglieder von Schreiber mit Millionen haben schmieren lassen:
Max Josef Strauß, 40, Sohn des
früheren Ministerpräsidenten,
soll wenigstens 500 000 Mark,
Ludwig-Holger Pfahls, 56, Strauß’
einstiger Bürochef in der Staatskanzlei, 3,8 Millionen, und der
ehemalige Bundestagsabgeordnete Erich Riedl, 66, eine halbe
Million Mark kassiert haben.Alle
drei beteuern ihre Unschuld.
Besonders eng dürfte es für
Pfahls werden, der seit Frühjahr
wegen Bestechlichkeit und Steuerhinterziehung mit internationalem Haftbefehl gesucht wird Panzer „Fuchs“, CSU-Mann Pfahls (in Singapur 1998)
und in Südostasien unterge- „Verteidigungsbereitschaft gefährdet“
S. MÜLLER-JÄNSCH
D
er ältere, 1,70 Meter große, kräftige
Herr mit den braunen Augen und
dem kanadischen Reisepass Nr. EM
258819 hatte gerade sein RauchfleischSandwich verzehrt und dazu ein Bier getrunken. Seinem Gegenüber, einem Reporter der Zeitung „National Post“, schilderte er – wieder einmal –, dass er zu Unrecht verfolgt werde. Da näherten sich im
Restaurant des Prince Hotel in Toronto
zwei Beamte der Royal Canadian Mounted
Police (RCMP) und setzten sich unaufgefordert an den Tisch.
„Herr Schreiber, Sie sind verhaftet“,
eröffnete einer der beiden Polizisten das
Gespräch. Der Mann erhielt kurz Gelegenheit, über Handy seinen Anwalt in Edmonton und seine Frau Barbara anzurufen.
Dann führten ihn die Beamten ab.
Seit Dienstagabend vergangener Woche
sitzt Karlheinz Schreiber, 65, in der kanadischen Metropole im Gefängnis. Dort
muss der CSU-Amigo und einstige Spezl
des verstorbenen bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß nun erst
mal darauf warten, ob Kanada ihn an seine Heimat ausliefert.
Mit der Verhaftung Schreibers nimmt
die seit Jahren schwelende Affäre um angeblich millionenschwere Schmiergeldzahlungen an deutsche Politiker und Industrielle im Zusammenhang mit fragwürdi-
taucht ist. Der einstige Verfassungsschutzchef soll nach Erkenntnissen der Augsburger Ermittler von Schreiber die Millionen
dafür kassiert haben, dass er sich 1990 und
1991 als Rüstungs-Staatssekretär im Bonner
Verteidigungsministerium für die Lieferung
von „Fuchs“-Spürpanzern nach Saudi-Arabien einsetzte (SPIEGEL 29/1999).
Pfahls habe sich für die Ausfuhr der von
Thyssen Henschel hergestellten Kriegswaffen verwendet, so die Ermittler, „obwohl er wusste, dass es von Seiten des
Heeres erhebliche Widerstände gegen die
Lieferung dieser Panzer aus Bundeswehrbeständen gab und das Heer die Verteidigungsbereitschaft der Bundesrepublik
Deutschland durch die Abgabe der Panzer
als gefährdet ansah“.
Durch die Verhaftung Schreibers, hoffen die Fahnder, hat sich für sie auch die
Chance verbessert, Pfahls ausfindig zu machen. Dessen Spur verliert sich bislang am
Abend des 5. Juli im Transitbereich des
Flughafens Hongkong.
Um Schreiber zu fassen, brauchten die
Fahnder Jahre. Nach der Durchsuchung seines Hauses und seiner Firmen im bayerischen Kaufering im Oktober 1995 setzte er
sich zunächst nach Pontresina in der Schweiz
ab, wo er eine Wohnung besitzt. Vor dreieinhalb Monaten floh Schreiber nach Kanada, weil er sich auch in der Alpenfestung
nicht mehr sicher fühlte. In Übersee, ließ
Schreiber Bekannte wissen, könne ihm
d e r
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Deutschland
nichts passieren. Schließlich sei er nicht nur
kanadischer Staatsbürger, sondern habe in
dem Land auch einflussreiche Freunde.
Zu denen zählen der konservative frühere Regierungschef Brian Mulroney und
Frank Moores, Ex-Premier der Provinz
Neufundland. Doch ob die ihm jetzt helfen,
ist fraglich. Schließlich haben auch sie Ärger mit der Justiz. Die prüft, ob die beiden,
ebenfalls von Schreiber, im Zusammenhang mit Airbus-Geschäften Geld bekommen haben, was beide energisch bestreiten.
Die deutschen Behörden haben 45 Tage
Zeit, Kanada die Unterlagen für das Auslieferungsverfahren gegen Schreiber vorzulegen. Schon der Antrag auf „vorläufige
Inhaftnahme“, den das Bundeskriminalamt (BKA) am Freitag vorvergangener Woche nach Ottawa geschickt hatte, hat es in
sich. Insbesondere der Haftbefehl des
Amtsgerichts Augsburg vom 7. Mai 1997
Schreiber trug bei
der Verhaftung 37 000 Mark
an Bargeld bei sich
enthält Vorwürfe gegen Schreiber, die –
sollten sie stimmen – in Deutschland für bis
zu 15 Jahre Gefängnis reichen könnten.
Demnach hat der einstige Teppichhändler und spätere Airbus-Verkäufer allein
zwischen 1988 und 1993 mehr als 46 Millionen Mark Provision bei fünf Großprojekten eingestrichen und vor dem Fiskus
verheimlicht. Dadurch habe er binnen
sechs Jahren 25,7 Millionen Mark Steuern
hinterzogen. Um die Zahlungen „zu verschleiern“, habe Schreiber ein „Lügengebäude“, bestehend aus zwei von ihm beherrschten Briefkastenfirmen, errichtet:
der International Aircraft Leasing (IAL) in
Vaduz in Liechtenstein sowie der ATG Investment in Panama. An die seien die Gelder jeweils auf dem Papier geflossen.
Konkret wirft die Staatsanwaltschaft
Schreiber in den Auslieferungsunterlagen
unter anderem vor, für die Vermittlung des
Verkaufs von 34 Flugzeugen des Typs Airbus A 320 an die Air Canada 6,8 Millionen
US-Dollar kassiert zu haben. Weitere zwei
Millionen US-Dollar habe er für den Abschluss eines Airbus-Vertrages mit der Thai
Airways International erhalten, an dessen
Zustandekommen auch Max Strauß beteiligt gewesen sei. Die größte Summe, 24,4
Millionen Mark, soll Schreiber von 1991 bis
1993 von der Essener Thyssen Industrie AG
„für die erfolgreiche Vermittlung eines Vertrags über die Lieferung“ von 36 „Fuchs“Panzern von Thyssen Henschel nach Saudi-Arabien erhalten haben.
Einen Großteil hiervon leitete Schreiber
laut den Ermittlungen jedoch weiter: Neben Pfahls habe der einstige CDU-Schatzmeister Walther Leisler Kiep, 73, eine Million Mark kassiert. Elf Millionen beziehungsweise 1,5 Millionen Mark hätten die
damaligen Thyssen-Manager Jürgen Maßd e r
mann, 56, und Winfried Haastert, 58, bekommen, beide derzeit gegen Kaution auf
freiem Fuß. Auch diese drei bestreiten, von
Schreiber Zahlungen erhalten zu haben.
Schreiber selbst beteuert, keine Schmiergelder verteilt zu haben. Außerdem stecke
er weder hinter der IAL noch der ATG.
Auf Schreibers Spur kamen Zielfahnder
des BKA. Bis Mitte Mai, soviel wussten die
Beamten auf Grund von Telefonüberwachungen, hielten sich Schreiber und seine
Frau in Pontresina auf. Mehrmals täglich
erhielten sie dort Anrufe aus Deutschland.
Auf einmal jedoch verlor sich, für zwei Monate, die Fährte des Gesuchten. Es gab keine registrierten Telefonate mehr. Schreiber reiste zu dieser Zeit durch Kanada, um
eine neue Spaghetti-Maschine an Restaurants zu verkaufen.
Mitte Juli konnten die Zielfahnder, die
mittlerweile auch Pfahls nachspüren,
Schreiber plötzlich wieder orten. Seine Familie rief aus Kaufering mehrfach die Nummer eines Mobiltelefons an, das einem Kanadier namens Greg A., einem SchreiberFreund in Toronto, gehört.
Am Montag vergangener Woche schließlich gelang es den BKA-Beamten gemeinsam mit kanadischen RCMP-Kollegen,
Schreiber in einem luxuriösen Appartementkomplex in der Bloor Street West in
Toronto ausfindig zu machen. In die Suite
Nummer 511 waren der Geschäftsmann aus
Bayern und seine Frau unter dem Namen
„Hermann“ eingezogen. Einen Tag lang
observierte die RCMP Schreiber, dann griffen die Beamten zu.
Umgerechnet rund 37 000 Mark in bar in
acht verschiedenen Währungen trug der
Gesuchte in diesem Moment bei sich, dazu
zwei Pässe. Außerdem führte er Wecker,
Kompass und eine Notdecke zur Übernachtung im Freien mit.
Als der Mann aus Kaufering tags darauf,
die Hände in Handschellen auf dem
Rücken, ohne Gürtel, erstmals dem Haftrichter vorgeführt wurde, murmelte er:
„Ich weiß nicht, was ich Ihnen sagen soll“
und verwies auf seinen Anwalt.
Schreiber, soviel wurde bei der zweiten
Haftprüfung am Freitag in Toronto klar,
wird sich der Auslieferung nach Deutschland mit allen Mitteln widersetzen. Nach
Einschätzung von Experten könnte er das
Verfahren auf bis zu drei Jahre hinauszögern. Am Dienstag will der Haftrichter seine Entscheidung verkünden, ob er Schreiber gegen Kaution freilässt.
Die für den Fortgang der Ermittlungen
entscheidende Frage ist, ob Schreiber nun
redet. Vertrauten freilich gilt es als unwahrscheinlich, dass der umtriebige Geschäftsmann über das bayerische AmigoGeflecht auspackt. Schließlich sei der Kaufmann nicht nur heimatverbunden („Ich liebe den Freistaat Bayern“), sondern geradezu ein „Fanatiker der Diskretion“.
s p i e g e l
Wolfgang Krach, Georg Mascolo,
Mathias Müller von Blumencron
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Deutschland
HOCHSCHULEN
Geld für die
Guten
A
n amerikanischen Elite-Universitäten wie Yale oder Harvard müssen
Professoren mindestens einmal im
Jahr zum Rapport beim Chef: „Wie viele
Aufsätze haben Sie publiziert? Wie viele
Examensarbeiten und Promotionen betreut? Wie viele Drittmittel eingeworben?“
Wer gut arbeitet, bekommt viele Dollar
– bei den Faulen wird gestrichen. Die Bezahlung der meisten US-Hochschullehrer
ist von ihrem wissenschaftlichen Erfolg abhängig. Unterschiede von über 100 Prozent sind keine Seltenheit.
Was die Mehrheit der deutschen Professoren als Angriff auf die Freiheit von
Forschung und Lehre versteht, soll nun
auch an den Hochschulen zwischen Kiel
und Konstanz eingeführt werden: das leistungsbezogene Gehalt.
Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn (SPD) plant, das starre und überkommene Dienstrecht für Hochschullehrer
zu erneuern. Eine Expertenkommission
wird bis Mitte nächsten Jahres Vorschläge
erarbeiten. Im Jahr 2001 soll dann ein flexibleres Besoldungssystem verabschiedet
werden. „Mein Ziel ist es, leistungssteigernde Bestandteile in das Gehalt einzuführen“, so Bulmahn. Oder wie der Berli-
K.-B. KARWASZ
Professoren sollen
endlich nach ihrer Leistung
bezahlt werden. Vielen
Experten geht die geplante
Reform nicht weit genug.
Ministerin Bulmahn, Professoren (an der Universität Greifswald*): „Wie viele Aufsätze haben
ner Wissenschaftssenator Peter Radunski
(CDU) formuliert: „Die Guten soll man
belohnen, die Schlechten bestrafen.“
Bisher gilt an deutschen Universitäten
und Fachhochschulen die Maxime: Dienstlich unauffällig altern und mehr verdienen
– in 15 Stufen steigt das professorale Salär
alle zwei Jahre. Dabei spielt es keine Rolle, ob ein Dozent in der Science Community als internationale Kapazität gilt oder
als akademischer Tiefflieger, ob er 50 oder
keinen Studenten pro Jahr durchs Examen
bringt.
Erst vor kurzem erregte Klaus Landfried, Präsident der Hochschulrektorenkonferenz, Aufsehen mit der Forderung,
„faule Professoren“ als „allerletztes Mittel“ auch entlassen zu können. Immer
noch gehen Dozenten während des Semesters auf Vortragsreise, legen sich in Forschungssemestern in die Sonne oder lassen
ihre Vorlesungen vorsätzlich ausfallen. Ex-
perten schätzen, dass mindestens 10 bis 15
Prozent der Hochschullehrer ihren Dienstpflichten nicht oder nicht vollständig nachkommen. Den akademischen Drückebergern drohen künftig empfindliche Sanktionen.
Für die Fleißigen gibt es hingegen Belohnungen. Alle Professoren sollen in Zukunft ein festes Grundgehalt bekommen:
wahrscheinlich zwischen 7000 und 8500
Mark. Die Erhöhungen entsprechend dem
Dienstalter entfallen. Stattdessen sind, so
die Absicht von Ministerin Bulmahn, je
nach Leistung Zulagen von mehr als 20
Prozent vorgesehen. Hamburgs grüne Wissenschaftssenatorin Krista Sager schlägt
gar Prämien von bis zu 60 Prozent vor.
Als Kriterien für die Bewertung der Professoren sind im Gespräch: die Zahl ihrer
Studenten, Doktoranden und Prüfungen,
* 1994 bei der Einführung des Rektors.
M. MEYBORG / SIGNUM / LAIF
Sie publiziert?“
die Qualität der Lehre, die Zahl der Forschungsprojekte, die Bedeutung der Veröffentlichungen und die Höhe der Drittmittel, die sie lockermachen konnten. Prüfen soll nicht die Verwaltung, sondern die
jeweilige Hochschulleitung zusammen mit
anderen Professoren, auch von fremden
Universitäten, und den Studenten.
Die Chancen für eine Reform stehen
gut: Bund und Länder sind sich über die
Parteigrenzen hinweg weitgehend einig.
Das Bundesinnenministerium, zuständig
für das Beamtenrecht, hat sein Wohlwollen
bekundet, die Hochschulrektorenkonferenz zieht mit. Selbst der Hochschulverband, das Kartell der professoralen Besitzstandswahrer, kommt in Bewegung –
wenn auch nur, um noch einschneidendere
Veränderungen zu verhindern.
Alle Beteiligten wissen: Die Zeit drängt.
Bis zum Jahr 2005 gehen rund 50 Prozent
aller Professoren in den Ruhestand. Ge-
chen Dienstes sein, wie etwa der Parlamentarische Staatssekretär im Bildungsministerium Wolf-Michael Catenhusen
(SPD) meint.
Viele Fachleute halten weit höhere Zulagen für nötig. Schon heute unterscheiden sich die Einkünfte von Professoren oft
um ein Vielfaches – allerdings nicht durch
das staatliche Gehalt, sondern auf Grund
von Nebentätigkeiten, die oft zu Lasten
des Lehrauftrags gehen.
So kassieren Naturwissenschaftler mehrere zehntausend Mark für ein Gutachten.
Chefärzte an Uni-Kliniken verdienen nicht
selten über eine Million Mark jährlich
mit Privatpatienten. Volkswirte beraLohn der Wissenschaft
ten Interessenverbände der Industrie,
Architekten wickeln Bauvorhaben ab –
Was Professoren an Hochschulen verdienen
alles hoch bezahlte Jobs.
monatliches Grundgehalt einer C4- Professur, Stand Juni 1999
Die geplanten Unterschiede bei der
staatlichen Besoldung von 20 oder auch
WEST- OSTDEUTSCHLAND
mehr Prozent sind da nach Auffassung
Anfangsgehalt
von Hans-Dieter Daniel, Hochschulwächst automatisch
6791 Mark 5874 Mark
mit den Dienstjahren
forscher an der Universität Kassel, viel
zu gering. Zwar kann ein anerkannter
Endgehalt
nach 30 Dienstjahren 11 111 Mark 9611 Mark
Wissenschaftler durch geschickte Berufungs- und Bleibeverhandlungen einige tausend Mark mehr im Monat verDazu kommen Familienzuschläge, für jedes
dienen. „Das“, so Daniel, „spiegelt
Kind rund 200 Mark monatlich. Erfolgreiche
aber nicht im Geringsten die wissenHochschullehrer können ihr Einkommen
schaftlichen Leistungsunterschiede
durch Berufungs- und Bleibeverhandlungen
zwischen den Professoren wider.“
darüber hinaus um bis zu 8000 Mark
Aus Dozentenbefragungen in den
monatlich steigern.
achtziger und neunziger Jahren hat
Daniel die Erkenntnis gewonnen, dass
ist das Beamtenrecht mit seiner lebens- produktive Hochschullehrer zum Teil
langen Unkündbarkeit ein „Relikt aus dem zehnmal mehr Vorträge halten und Bücher
schreiben als ihre Kollegen. Einige Profes19. Jahrhundert“.
Doch bei dem alten Brauch wird es soren würden 20- oder 30-mal mehr Kanwohl bleiben – die mächtige Lobby der didaten prüfen als andere.
„Von einer leistungsorientierten BezahBeamten wird die Abschaffung unter allen
Umständen verhindern. Denn das neue lung“, so Daniel, „kann bei der geplanten
Dienstrecht für Professoren kann ein Mo- Reform noch längst nicht die Rede
dell für die Reform des gesamten Öffentli- sein.“
Joachim Mohr
lingt es nicht, vor diesem Generationswechsel ein neues Dienstrecht zu installieren, sind die jetzigen Regelungen für
die nächsten Jahrzehnte zementiert. Denn
für bestehende Verträge gilt Bestandsschutz.
Zahlreiche Experten halten die angestrebte Reform jedoch bei weitem noch
nicht für ausreichend. So fordern die meisten Wissenschaftsminister mehr oder weniger offen, den Beamtenstatus der Professoren abzuschaffen. Für Michael Daxner, Soziologe in Oldenburg und Mitglied
der Expertenkommission für die Reform,
Werbeseite
Werbeseite
Wirtschaft
Trends
A F FÄ R E N
ABB zahlte 21 Millionen
D
N. NORDMANN
Ehemalige Hypo-Zentrale in München
BANKEN
Vertraulichkeit verletzt?
Z
wischen der HypoVereinsbank nen Objekte nur pauschal analysiert
(HVB) und der Wirtschaftsprüfer- haben. Juristen der fusionierten Bank
firma Wedit bahnt sich ein Rechtsstreit unter Leitung von Albrecht Schmidt
um das 3,5-Milliarden-Loch aus riskan- prüfen zurzeit, ob sie die Wedit wegen
ten Immobiliengeschäften der früher Rufschädigung verklagen. In dem Gutvon Eberhard Martini geachten werden erstmals Zahführten Hypo-Bank an. Auslen zu einzelnen Objekten
löser ist ein Gutachten, das
und die kompletten Wertdie Wedit bei zwei bayeriberichtigungen ausgebreitet.
schen Wirtschaftsprofessoren
Nach Ansicht der HVB wain Auftrag gegeben hat. Mit
ren die Wedit-Prüfer zur Verder Fleißarbeit wollte die
traulichkeit verpflichtet. Die
Gesellschaft testierte noch
Wedit den Verdacht der
1998 zusammen mit der
Staatsanwaltschaft entkräfPrüffirma KPMG den Jahten, sie habe die Immobilien
resabschluss des fusionierin der 97er-Bilanz der Hypo Martini, Schmidt
ten Instituts. Sollten potenviel zu hoch bewertet. Kritiker sehen die Arbeit als Gefälligkeits- zielle Käufer das Gutachten nutzen, um
gutachten, seit bekannt wurde, dass ei- die Verkaufspreise der Immobilien zu
ner der Autoren im Wedit-Aufsichtsrat drücken, erwägt die HVB sogar, bei der
sitzt und die Wissenschaftler die einzel- Wedit Schadensersatz einzufordern.
DPA
P. REINHARDT / ZEITENSPIEGEL
er ABB-Konzern hat nicht nur für
Aufträge des General-Motors- und
des VW-Konzerns Provisionen gezahlt,
sondern auch für Verträge mit Chrysler
und der französischen Firma LAB in
Lyon. Das ergeben Ermittlungen in der
Schmiergeldaffäre „Netzwerk“. So zahlte ABB für einen Auftrag des mexikanischen Chrysler-Werks 575 000 Mark Provisionen. Für Aufträge der Firma LAB
überwies ABB 2, 3 Millionen Mark Provisionen. Die Firma geht davon aus, dass
der Ex-Chef der ABB-Oberflächentechnik, Michael Rudnig, zumindest einen
Teil dieser Provisionen nicht weitergereicht, sondern in die eigene Tasche geleitet habe. ABB reichte Klage gegen
Rudnig ein und setzte beim Landgericht
Darmstadt ein Verfügungsverbot durch,
das es Rudnig untersagt, seine Wohnungen zu verkaufen. ABB zahlte von April
1994 bis März 1995 Provisionen über
21 ,1 Millionen Mark – für Aufträge
der VW-Tochter koda 4,8 Millionen,
der GM-Tochter Saab 4,6 Millionen,
eines GM-Werks in Mexiko 4,6 Millionen, der VW-Fabrik Emden 3 047 500,
des Opel-Werks Bochum 724 500 Mark
und der GM-Fabrik in Portugal 424 925
Mark. Rudnig bestreitet, das Geld teilweise für sich behalten zu haben.
ABB-Firmensitz in Mannheim
T V- K A B E L
Deutsche Bank kauft zu
m Kaufverfahren um das TV-Kabelnetz hat die Deutsche Bank mit ihrer
Tochter DB Investor neue Maßstäbe gesetzt. So bot das Finanzhaus, das sich
um alle neun Regionalgesellschaften bewirbt, allein für das Berliner Kabelnetz
über drei Milliarden Mark. Offenbar
geht es der Bank im Kampf gegen Mitbewerber wie der niederländischen Kabelgesellschaft UPC, Mannesmann und
Rupert Murdoch darum, auf die „Short
list“ zu gelangen – die Liste mit den Fir-
R. ZENSEN
I
Sommer
d e r
s p i e g e l
3 6 / 1 9 9 9
men, die für die nächste Runde in Frage
kommen. Gleichzeitig will die Bank
das Kabelnetz TSS des Augsburger Kabelunternehmers Peter Stritzl mit 1,4
Millionen Haushalten kaufen; sie akquirierte bereits das Netz von Telecolumbus (1,7 Millionen Haushalte). Telekom-Chef Ron Sommer will nach den
neuesten Plänen in allen Regionen eine
Sperrminorität halten und nirgendwo
einen Mehrheitsgesellschafter zulassen.
Überall soll je eine Finanz- und eine
Kabelfirma zum Zuge kommen. Für die
Bewertung der Angebote sollen unter
anderem externe Unternehmensberater
hinzugezogen werden.
117
Trends
SPONSORING
Glauben verloren
D
SPORTIMAGE
Radprofi Pascal Richard
118
Großflughafen Berlin-Schönefeld (Simulation)
F L U G H A F E NA F FÄ R E
Massive Forderungen
N
ach einem Scheitern der Privatisierung des Flughafens Berlin-Schönefeld kommen auf die beteiligten Länder Berlin und Brandenburg massive Schadensersatzforderungen der Investorenkonsortien zu. Kilian Krieger, Finanzvorstand der
Flughafengesellschaft BBF, nannte Mitgliedern des Aufsichtsrats jetzt eine Größenordnung von 120 Millionen Mark. Das brandenburgische Oberlandesgericht hatte
den Verkauf und damit den weiteren Ausbau des Flughafens im vergangenen Monat gestoppt. Die Richter monierten schwere Verfahrensfehler bei der beabsichtigten Vergabe an ein Konsortium um den Baukonzern Hochtief. Sowohl die Hochtief-Gruppe als auch das unterlegene Konsortium um den Mischkonzern IVG werden voraussichtlich ihre bisher entstandenen Planungs- und Personalkosten geltend
machen, falls die Flughafenprivatisierung komplett neu aufgerollt wird.
KONZERNE
Hartmann ausgebremst
V
eba-Chef Ulrich Hartmann musste
vergangene Woche bei dem Spitzengespräch in der Bayerischen Staatskanzlei über die geplante Fusion mit
der Münchner Viag-Gruppe eine herbe
Niederlage einstecken. Der ehrgeizige
Konzernchef hätte seinem Aufsichtsrat
am liebsten schon am Mittwoch dieser
Woche eine Einigung präsentiert. Bei
der Sitzung soll auch sein Vorstandsvertrag verlängert werden. Doch Bayerns
Ministerpräsident Edmund Stoiber
machte dem Veba-Chef einen Strich
durch die Rechnung. Der CSU-Chef
möchte sich nicht unter Zeitdruck setzen lassen und erst abwarten, ob VebaKonkurrenten wie der französische
Gigant Eléctricité de France bereit sind,
für das 25,1-Prozent-Paket des Freistaats an der Viag einen höheren Preis
zu zahlen. Der französische Energieriese will sich ohnehin um die geplante
Privatisierung des baden-württembergischen Regionalversorgers EnBW bewerben und in Deutschland eine Südallianz bilden. Auch die Telekommunid e r
s p i e g e l
3 6 / 1 9 9 9
DPA
ie Dopingskandale im Radsport
zeigen bei Sponsoren Wirkung:
Credit Suisse steigt nach 22 Jahren als
Geldgeber der Tour de Suisse aus. Das
Schweizer Bankinstitut reagiert damit
auf eine zunehmende Zahl von Kundenbeschwerden und auf Meinungsumfragen, nach denen 90 Prozent der Befragten glauben, „dass Doping im Radsport gang und gäbe sei“. Die Basis des
Geschäfts, argumentieren die Bankmanager, sei Vertrauen – es gehe schließlich um das Geld der Kunden. „Wir haben den Glauben verloren, dass in absehbarer Zeit eine Besserung eintreten
würde“, sagt Urs Wyss, bei der Credit
Suisse für Sportsponsoring verantwortlich. Die Leute im Radsportgeschäft,
klagt Wyss, „haben den Ernst der Lage
nach wie vor nicht begriffen“. In
Deutschland ist die Meinung über den
Profiradsport geteilt. Teambesitzer wie
die Deutsche Telekom oder der
Getränkehersteller Gerolsteiner stehen
in Treue fest zu ihren Fahrern. Auch
langjährige Sponsoren wie die Frankfurter Brauerei Henninger halten die
Schweizer Zahlen für „nicht übertragbar auf Deutschland“. Neue Werbepartner wird die Branche indes künftig
kaum akquirieren können. Laut einer
Studie der Vermarktungsfirma ISPR sahen von 189 Unternehmen und Agenturen voriges Jahr 73 Prozent im Radsport
„hervorragende Entwicklungsperspektiven“. In diesem Jahr halten nur noch
44 Prozent der Manager die Rennfahrer
für ein lohnendes Medium.
Simson, Hartmann
kationstochter Viag Interkom erwies
sich bei dem Gespräch als Knackpunkt.
Hartmann möchte sich aus der heiß umkämpften Branche langfristig zurückziehen, nachdem ihm das Telefongeschäft in der Vergangenheit Milliardenverluste beschert hat. Doch Stoiber und
Viag-Chef Wilhelm Simson wollen, dass
die Viag Interkom in einem fusionierten
Konzern verbleibt und nicht verkauft
wird. Derart unter Druck gesetzt, musste Hartmann schließlich einlenken. Die
Düsseldorfer würden auf jeden Fall mitbieten, signalisierte Hartmann gegen
Ende des Treffens, wenn der Freistaat
sich gegen die Fusion entscheidet und
sein Viag-Paket meistbietend verkauft.
Geld
Highflyer an der Wall Street in Dollar
70
70
70
60
60
60
60
50
50
50
50
40
40
40
40
30
30
30
30
20
20
20
20
10
10
10
10
1980
1990
1999
1980
1990
1999
US-AKTIEN
Knick in den Charts
J
ahrzehntelang galt alles als richtig, was der Multimilliardär
Warren Buffett anfasste. Zur Freude der Börsianer stiegen die
Kurse von Walt Disney, Coca-Cola oder Gillette schier unaufhaltsam. Doch inzwischen sind die einstigen Wachstumschampions weit von ihren Höchstständen entfernt, die Kurse etlicher
Blue Chips sind um mehr als 25 Prozent eingebrochen. Der
Knick in den Charts sei eher zufällig, erklären Analysten: Beim
in Millionen
23
19
17
1
11
0,5
0,3
Quelle: Thieme Associates
70
80
90
00
10
PROGNOSEN
Goldene Zeiten
B
W
2
rechte Skala
örsenguru Heiko Thieme ist für
seinen notorischen Optimismus
berühmt – in der Vergangenheit hat er
Recht behalten. Jetzt legt er nach: Sein
bisheriges Kursziel für den amerikanischen Dow-Jones-Index von 25 000
Punkten im Jahr 2010 sei wohl „zu konservativ“, sagt der New Yorker Börsenexperte, ein Anstieg von derzeit knapp
11 000 auf 50 000 Punkte sei denkbar.
Thiemes These: Seit 1950 sei ein enger
Zusammenhang zwischen dem US-Aktienindex und der Zahl der 45- bis 50jährigen Amerikaner erkennbar. Diese
20
2030
Thieme
aktive Bevölkerungsgruppe aber wachse
im kommenden Jahrzehnt weiterhin
kräftig, bevor dann auch in den Vereinigten Staaten der Pillenknick einsetzt.
Entsprechend stark, folgert der Guru,
werde auch der Dow Jones zulegen. Ob
die versprochenen goldenen Zeiten
wirklich anbrechen, ist Glaubenssache.
Ganz so eng, wie Thieme suggeriert, ist
der Zusammenhang nämlich, rein statistisch betrachtet, nicht (siehe Grafik):
Er vergleicht eine normale lineare
(links) mit einer logarithmischen Skala
(rechts), bei der sich die Abstände nach
oben immer weiter verengen. Dadurch
wird der eigentlich noch viel steilere
Anstieg der Aktienkurse optisch abgebremst.
d e r
1999
Gut gestartet
5
13
1990
AS-FONDS
10
Dow Jones
Index
15
1980
Medien-Multi Walt Disney fehlen derzeit die Kassenschlager
und beim Rasierklingen-Konzern die Absatzmärkte für elektrische Zahnbürsten. Der gute Ruf von Coca-Cola ist durch belgische Abfüllanlagen beschädigt, und der Zigarettenproduzent
Philip Morris muss viel Schadensersatz zahlen. Außerdem
schichten Großanleger wie Fondsmanager ihre Depots kräftig
um, weiß Pierre Drach von Independent Research. Die alten soliden Papiere würden oft achtlos liegen gelassen, frische Mittel bevorzugt in vermeintliche Zukunftswerte gesteckt, etwa in
Internet-Aktien. Doch das könnte sich ändern. Die Kurse einiger Blue Chips wie Pepsico, Boeing oder Exxon haben sich von
den Rückschlägen fast schon wieder erholt.
50
30
20
US-Bevölkerung
zwischen 45 und 50 Jahren
60
1999
in Tausend
linke Skala
9
1950
1990
D. OTFINOWSKI
21
1980
American Home
Products
Quelle: Datastream
70
s p i e g e l
3 6 / 1 9 9 9
er jeden Monat 500 Mark in einen
AS-Fonds zur Alterssicherung anlege, rechnet der Bundesverband Deutscher Investment-Gesellschaften vor,
verfüge nach 30 Jahren über ein Endkapital von mehr als 1,3 Millionen Mark.
Das lehre die Erfahrung mit deutschen
Aktienfonds. Tatsächlich sind die meisten AS-Fonds, die erst 1998 aufgelegt
wurden, gut gestartet. Mehr als die
Hälfte der rund 40 Fonds glänzen sogar
mit zweistelligen Zuwachsraten. Nun
bieten auch Konzerne wie DaimlerChrysler ihren Mitarbeitern AS-Fonds
zur betrieblichen Altersvorsorge an.
Die fünf besten AS-Fonds
seit Anfang 1999
Veränderung
in Prozent
DWS Vorsorge AS-Dynamik
+33
DWS Vorsorge AS-Flex
+24
Adig-Zukunft 1
+21
AS-Aktiv Dynamik
+19
Deka-Privat-Vorsorge AS
+19
Quelle: Datastream
119
AP
Wirtschaft
TV-Star Feldbusch an der Frankfurter Börse*: Viele Unternehmen können ihr Versprechen nicht halten
BÖRSE
Die Geldmaschine stottert
Der Neue Markt, der Umschlagplatz für Wachstumsaktien, fasziniert
solide Investoren wie geldgierige Spekulanten. Doch bei vielen stellt sich inzwischen
Enttäuschung ein: Auch Reichwerden will gelernt sein.
R
eto Francioni, der stellvertretende
Vorstandsvorsitzende der Deutschen
Börse, liebt flotte Sprüche. „Wettbewerb ist kein Nullsummenspiel, sondern
eine Win-Win-Situation“, sagte der Schweizer gern, wenn er den Erfolg der Wachstumsbörse Neuer Markt erklären sollte.
Lange Zeit sah es wirklich so aus, als
wären am Neuen Markt die Gesetze der
Marktwirtschaft aufgehoben. So mancher
Jungunternehmer, der kaum mehr als eine
Idee und seine Träume mitbrachte, wurde
durch den Börsengang ein reicher Mann.
Banken verdienten stattliche Provisionen.
Anleger fühlten sich wie Lottogewinner,
wenn sie bei den Neuemissionen ein paar
Aktien zugeteilt bekamen, deren Kurs sofort zu klettern begann.
Der Neue Markt verblüffte und faszinierte Profis und solide Sparer gleichermaßen. Hier schien eine Geldmaschine zu
arbeiten, die nicht nur jungen Unternehmen die Chance zum Aufbruch und zur
Expansion bot, sondern auch Gewinne versprach, die mit keiner Lebensversicherung
* Bei der Einführung der Telegate-Aktie am Neuen
Markt am 22. April.
120
Grenzen des Wachstums
Neuer-Markt-Indizes
Nemax 50
Die 50
wichtigsten
Unternehmen am
Neuen Markt
4000
3000
2000
Nemax
All Shares
Alle Unternehmen
am Neuen Markt
1000
Quelle: Datastream
1998
d e r
s p i e g e l
1999
3 6 / 1 9 9 9
und mit dem Sparbuch schon gar nicht zu
erzielen sind.
Der Neue Markt veränderte und belebte den Geldbasar. Er wurde zugleich zum
Tummelplatz von Zockern und Abenteurern. Die Kurssprünge schlugen alle bisherigen Rekorde an den Börsen, es schien
nur noch nach oben zu gehen.
Im vergangenen Jahr stiegen die Kurse
am Neuen Markt um 174 Prozent und bis
Ende Februar noch einmal um 40 Prozent.
Die Stars unter den Neulingen, wie Mobilcom-Chef Gerhard Schmid und die Familie Haffa, Mehrheitseigentümer der
Medienfirma EM-TV, wurden praktisch
über Nacht Börsenmilliardäre. Auch Anleger, die auf den Boom setzten und rechtzeitig wieder ausstiegen, konnten Millionen verdienen.
Doch seit einigen Monaten stottert die
Geldmaschine. Manche Unternehmen verloren innerhalb weniger Wochen mehr als
die Hälfte ihres Firmenwertes. Bei hoch
gehandelten Aktien wie der Internet-Bank
Consors oder Mobilcom schrumpfte der
Marktwert gleich um mehrere Milliarden.
Börsenneulinge wie Wizcom, ein israelischer Hersteller von elektronischen Über-
Absteiger am Neuen Markt
Unternehmen am Neuen Markt, deren Aktienkurs um mehr
als 50 Prozent unter den ersten Schlusskurs gerutscht ist
Stand: 3. September 1999, Kursangaben in Euro
37,30
7,14
Beta Systems 52,66
16,44
Artnet
50,20
18,45
Graphisoft
34,26
13,60
117,34
49,40
Transtec
98,68
45,00
Technotrans
94,08
43,00
Utimaco
218,00
100,00
Wizcom
16,50
8,00
Elsa
Veränderung
in Prozent
–80,9
–68,8
–63,3
–60,3
–57,9
–54,4
–54,3
–54,1
–51,5
Oft sorgt die Gier der Altaktionäre, die
hohe Aktienkurse möglichst schnell zum
Ausstieg nutzen wollen, für die größten
Probleme in den Unternehmen. So wirft
die Deutsche Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz (DSW) einigen Altaktionären
des Internet-Kunsthändlers Artnet und von
Metabox, eines Herstellers von InternetTV-Hardware, vor, dass sie nicht einmal
die Sperrfrist von sechs Monaten eingehalten haben.
Die Deutsche Börse prüfte die Vorwürfe, konnte aber bisher niemandem ein Vergehen nachweisen. Da sich die Kontrollmöglichkeiten als mangelhaft erwiesen,
will das für den Neuen Markt zuständige
Vorstandsmitglied Francioni diese Woche
schärfer gefasste Regeln veröffentlichen.
Fast schon Tradition ist es, dass die Unternehmer nach der Sperrfrist eilig Kasse
machen. In Deutschland muss das im Gegensatz zu den USA bei kleineren Aktienverkäufen nicht offen gelegt werden – „ein
Anachronismus“, sagt Ulrich Hocker von
der DSW. So wurde etwa der geplante Teilausstieg der LHS-Altaktionäre erst in den
USA bekannt, weil das Software-Haus
auch an der Wall Street notiert ist. Der Aktienkurs sackte daraufhin ab.
Zurzeit verschafft der Berliner Hersteller
von Logistik-Software PSI vielen Altaktionären die Möglichkeit, aus dem Unternehmen auszusteigen. Pierre Drach, Chef
der Analysefirma Independent Research,
vermutet, dass der Aktienkurs bis zum Ende
der Umplatzierung eines großen Aktienpakets künstlich hochgehalten wird. Das wäre
der Anlass für einen weiteren Kurssturz.
„Wir meiden Unternehmer, bei denen
das eigene pekuniäre Interesse im Vord e r
s p i e g e l
71
125
3 6 / 1 9 9 9
WestLB
Deutsche Bank
159
Kling, Jelko, Dr. Dehmel;
Robert Fleming Deutschland
275
Deutsche Bank
335
Dresdner Bank
297
HypoVereinsbank
168
Dresdner Bank
350
Sal. Oppenheim jr. & Cie.
122
Bank J. Vontobel & Co.;
Sal. Oppenheim jr. & Cie.
40
Tiptel
35
in Euro
30
25
20
3. Sept.
1999
15
10
5
13. Mai 1998
Tiptel-Aufsichtsrat Erhard Schäfer
28
Netlife
in Euro
24
3. Sept.
1999
20
16
Netlife-Chef Claus Müller
55
12
Quelle: Datastream
Juni
Juli
Aug.
Refugium
45
in Euro
35
3. Sept.
1999
25
15
5
25. Aug. 1997
Ex-Refugium-Chef Paul Kostrewa
121
DPA; R. BRAUN; J. H. DARCHINGER
Tiptel
aktueller
Kurs
UR
F
Erstnotierung
Marktkapitalisierung in
Millionen
Mark
Konsortialführer
EN
TW
setzungshilfen, oder der Spezialist für elektronischen Zahlungsverkehr OTI fielen,
kaum waren sie an der Börse notiert, unter den Emissionskurs.
„Es war ein Kettenspiel“, kommentiert
ein Banker. „Die Letzten beißen die Hunde.“ Viele Anleger sind zu Höchstkursen
eingestiegen und warten nun oft vergebens
darauf, dass die Kurse sich wieder erholen.
„Allenfalls 30 Prozent der Unternehmen
werden sich auf Dauer positiv entwickeln“,
sagt Kurt Ochner, Fondsmanager beim
Bankhaus Julius Bär. Zunehmend werde
sich die Spreu vom Weizen trennen.
Vor zweieinhalb Jahren gründete die
Frankfurter Börse den Neuen Markt als
Kapitalquelle für Unternehmen mit großen
Wachstumsaussichten. Doch Wachstum ist
nicht garantiert, viele Unternehmen können ihre Versprechen nicht halten. Und hier
wie überall sind unter den vielen Unternehmern auch einige, die nur schnell und
auf Kosten anderer reich werden wollen.
So muss bisweilen schon der Staatsanwalt eingreifen. Gegen Paul Kostrewa
etwa, den langjährigen Vorstandsvorsitzenden und einstigen Großaktionär des
Seniorenheimbetreibers Refugium AG,
wird in Bonn ermittelt. Ihm werden fortgesetzte Bilanzmanipulationen zur Täuschung der Aktionäre vorgeworfen, ein
neu berufener Vorstand musste für das erste Halbjahr einen Verlust von 72,1 Millionen Mark ausweisen.
Emissionsberater der Gold-Zack-Gruppe hatten das Unternehmen 1997 an die
Börse gebracht, zunächst den Aufsichtsratsvorsitzenden gestellt und im Frühjahr
auch noch eine Kapitalerhöhung im Markt
platziert. Seitdem fiel der Aktienkurs von
Refugium noch einmal um 44 Prozent.
Der Vorstandsvorsitzende der Datadesign, Stefan Pfender, 28, musste zurücktreten. Statt eines angekündigten Gewinns
von 4,5 Millionen Mark plant das Münchner Software-Haus, ein weiterer GoldZack-Kunde, nun einen Verlust von 8,1 Millionen Mark ein. „Pfender landete in unserer Folterkammer unter der Knute“, sagt
Lothar Mark, Chef der Gontard & Metallbank und Aufsichtsratsvorsitzender bei
Datadesign.
Immerhin wird Pfender, der mit seiner
Familie 39 Prozent der Aktien hält, vom
Misserfolg seines Unternehmens genauso
hart getroffen wie die übrigen Aktionäre.
Durch einen Poolvertrag gebunden, darf
er in den nächsten Jahren nur in Abstimmung mit Gold-Zack ein größeres Aktienpaket verkaufen.
So wie Gold-Zack griff auch die Deutsche Bank bisweilen daneben. Kaum hatte
sie den Software-Hersteller Graphisoft an
den Neuen Markt gebracht, musste die Firma eine Gewinnwarnung abgeben. Eine
andere Neuemission der Deutschen Bank,
FortuneCity, die virtuelle Städte im Internet bauen will, notiert inzwischen weit unter Ausgabekurs.
122
d e r
s p i e g e l
3 6 / 1 9 9 9
W. M. WEBER
dergrund steht“, sagt Investmentbanker Goldrausch hätte langfristig nur der verElmar Thöne, der für die DG Bank schon dient, der die Werkzeuge verkaufte.
Einige Banker, die den Eingang in die
viele Unternehmen an die Börse begleitet hat. Schließlich müsste den Firmen, Goldmine offenbar nur unzureichend kondie in zukunftsträchtigen Branchen wie trollieren, werden angesichts überzogener
dem Internet arbeiten und manchmal Ausgabekurse unruhig. „Die Emissionsmehr Verluste als Umsätze vorweisen, je- banken haben eine treuhänderische Verde Mark für Investitionen zur Verfügung pflichtung nicht nur gegenüber den Unternehmen, sondern auch gegenüber den Anstehen.
Doch je höher die Emissionserlöse im legern“, warnt Stefan Jentzsch, Managing
Neuen Markt, desto mehr scheint aus- Direktor von Goldman Sachs.
Rund 15 Unternehmen aus den USA, Isschließlich die Aussicht auf schnelles Geld
viele Unternehmer beim Gang an die Bör- rael oder der Schweiz sind mittlerweile am
se zu motivieren. Dabei gehen sie durchaus Neuen Markt verzeichnet, weil nirgendwo
sonst auf der Welt der Firmenwert so draerfindungsreich vor.
Die vier Gründungsgesellschafter des matisch hochschnellen kann. Viele von ihSoftware-Hauses Netlife verkauften zum nen notieren unter Ausgabekurs, weil die
Beispiel Ende vergangenen Jahres für 100 Anleger mit Recht fragen, warum nicht geMillionen Mark ihre Netlife GmbH an die nug Kapital an den Heimatmärkten der
Netlife AG, die dafür einen Kredit auf- Unternehmen aufzutreiben war.
nahm. Als am 1. Juni der Börsengang gelang, flossen vom
Emissionserlös rund 16 Millionen Mark auf die Konten
der Jungunternehmer, weitere vier Millionen an einige
Mitarbeiter und Risikoinvestoren. Die restlichen 80
Millionen Mark Schulden sollte das Unternehmen im Laufe
der nächsten Jahre an seine
Großaktionäre rückerstatten.
Die Zinszahlungen von rund
drei Millionen Mark im Jahr
entsprechen fast dem Umsatz,
den die Netlife im vergangenen Jahr erzielt hat.
„Das hatte rein steuerliche EM-TV-Großaktionär Haffa: Über Nacht Börsenmilliardär
Gründe“, behauptet der Netlife-Vorstandsvorsitzende Claus Müller,
Firmen wie die Telekommunikationsfirdas sei im Emissionsprospekt sauber dar- ma Tiptel lassen sich von anderen Teilgelegt worden. Erst als viele Aktionäre märkten auf den Neuen Markt umbuchen,
empört absprangen und der Kurs steil in der Hoffnung auf eine bessere Börsennach unten sackte, verzichteten die Groß- zukunft. Tiptel hatte nur kurzfristig etwas
aktionäre auf die Rückzahlung von 63,5 davon: Seit März 1998 fiel der Kurs zeitMillionen Mark.
weise senkrecht von 70 auf 14 Mark.
Solche Tricks werden öfter angewandt.
Zu oft lässt die Zulassungskommission
Auch die sechs Gründungsgesellschafter der Deutschen Börse, bei der sich die Kandes Unternehmens Das Werk, das die digi- didaten für den Neuen Markt vorstellen
tale Bildbearbeitung revolutionieren will, müssen, offensichtlich ungeeignete Kandiverkauften ihre GmbHs an die AG und kas- daten passieren. „Da ist kein Qualitätsfilsierten zusammen 28 Millionen Mark.
ter mehr“, sagt Markus Straub, VorstandsTrotz aller Pannen, trotz dubioser Ge- mitglied der Schutzgemeinschaft für
schäfte und flüchtiger Gewinne hat der Kleinaktionäre. Das Regelwerk des Neuen
Neue Markt an Reiz für Investoren und Marktes, immerhin 33 Seiten stark, müsse
Spekulanten nicht verloren. Die 150 Un- dringend überholt werden.
ternehmen, die inzwischen an der neuen
Die wirksamste Kontrolle werden aber
Börse notiert sind, haben Vermögen im letztlich die Anleger ausüben, wenn sie
Wert von 59 Milliarden Dollar geschaffen, auch bei Neuemissionen nicht mehr unberechnet das US-Magazin „Business Week“ sehen zugreifen. Außerdem hilft es gerade
vor. Im September wollen weitere 20 Un- bei Wachstumsunternehmen, immer wieternehmen an die Wachstumsbörse.
der die Versprechen mit dem Erreichten
Doch warnende Stimmen werden lau- zu vergleichen. Wird die Diskrepanz zu
ter. „Schon im nächsten Frühjahr werden groß, „muss man auch einmal einen satten
viele Seifenblasen platzen“, sagt Ulrich Verlust in der Spekulationsfrist realisieHocker, Geschäftsführer der DSW. Dann ren“, rät Aktienexperte Hocker. Seit Anmüssten die Unternehmen testierte Bilan- fang des Jahres, so sein Trost, können diezen vorlegen und könnten oft ihre Ver- se Verluste steuerlich mit anderen Gewinsprechungen nicht einhalten. Auch beim nen verrechnet werden. Christoph Pauly
Wirtschaft
Entfesselte
Kräfte
Der CDU-Politiker Gunnar
Uldall hat sich den Sozialstaat
vorgenommen: Er fordert die
Abkehr von alten Dogmen – und
schlägt radikale Rezepte vor.
LASA
D
er Mann fürs Soziale war irritiert.
Christian Wulff, Chef der niedersächsischen CDU, wusste nichts
von jenem provokanten „Diskussionspapier“ zur Sozialpolitik, das in den Schubladen der Unions-Bundestagsfraktion in
Berlin lagert.
Dabei soll Wulff im Auftrag des Parteivorsitzenden und Fraktionschefs Wolfgang
Schäuble genau dieses Thema für die CDU
besetzen: „Sozialstaat 21“ heißt die Kommission, die er leitet, zuständig für alles,
was mit Rente, Arbeitsmarkt, Pflege- oder
Krankenversicherung zu tun hat. Erst 2001
soll die Runde ihre Ergebnisse abliefern.
Allzu genau dürften die Konzepte ohnehin nicht ausfallen, wenn es nach
Schäuble geht. „Unser Koordinatensystem
wird nicht verändert“, sagt der Unionschef
gebetsmühlenartig. Nur die grobe Richtung
will er beschreiben, aber keine konkreten
Gesetzentwürfe vorlegen.
Doch vielen in der Fraktion reicht das
nicht. Und so prescht nun ausgerechnet
Gunnar Uldall mit eigenen Vorschlägen
vor – jener Mann, der als Verfechter einer
radikalen Steuerreform von sich reden gemacht hatte. Gemeinsam mit Bernd Protzner, dem einstigen Generalsekretär der
CSU, hat der wirtschaftspolitische Sprecher der Bundestagsfraktion heikle Sozialstaatsthesen verfasst. Sie könnten seine
Partei zu einer ähnlich heißen Debatte
zwingen, wie sie in der SPD zwischen Modernisierern und Traditionalisten läuft.
Die beiden Parlamentarier fordern
nichts anderes als die Abkehr von traditionellen Dogmen, die bei den sozialdemokratischen Dreßlers ebenso galten wie
bei den christdemokratischen Blüms. Frech
postulieren sie: „Sozialpolitik darf nicht
länger gegen den Markt gerichtet werden“;
sie dürfe die Marktkräfte nicht einengen,
sondern müsse sie entfesseln. In der Praxis
gebe es einfach zu viele Fehlanreize.
Letztlich unterstellen Uldall und Protzner der eigenen Partei sogar, dass sie sich
in 16 Regierungsjahren in Bonn peu à peu
vom Erbe Ludwig Erhards verabschiedet
habe. So heißt es in dem Thesenpapier über
das „Grundprinzip der Sozialen Marktwirtschaft“ wörtlich:
Der Einzelne soll sich in der Gesellschaft frei entfalten können, er trägt für
Sozialreformer Uldall
„Rückgriff auf Reserven“
π bei der Sozialhilfe „den Anreiz zur Arbeitsaufnahme für alle, die arbeitsfähig
sind“, wieder in den Mittelpunkt zu stellen; so sollte gelten: „Wer öffentliche
Leistungen erhält, muss dafür auf jeden
Fall öffentliche Arbeit verrichten.“
Einen Kurswechsel fordern Uldall und
Protzner auch bei der Rente. Während
Norbert Blüm sich stets gegen einen Wechsel des Systems wehrte („Die Rente ist sicher“), fordern die beiden Unionsleute nun
eine „Überleitung zum Kapitaldeckungsverfahren“, also den Aufbau eines Kapitalstocks fürs Alter: „Jeder Arbeitnehmer,
Selbständige, Beamte, Student etc. muss
neben seiner bisherigen Altersvorsorge einen festen Betrag pro Monat zur Altersversicherung anlegen.“
Das klingt bei Walter Riester ganz ähnlich, doch stärker noch als der SPD-Arbeitsminister fordern die beiden Unionsleute „weitgehende Gestaltungsfreiheit
hinsichtlich der Anlageform“.
Am besten solle gleich auch noch die
Pflegeversicherung durch einen privaten
Kapitalstock ergänzt werden: Uldall und
Protzner wollen dazu als „Einstieg“ die
bislang aufgelaufenen Überschüsse der
Pflegekasse auf die einzelnen Versicherten
verteilen; diese sollen auch in Zukunft privat für eventuelle Pflegefälle sparen. „Tritt
ein Pflegefall nicht ein, kann das Guthaben
vererbt werden“, heißt es.
Geradezu apodiktisch fordern die Unions-Vordenker zudem eine „Neuverschuldung gleich null“. Während Hans
Eichel einen ausgeglichenen Haushalt
frühestens im Jahr 2006 für machbar
hält, fordern Uldall und Protzner: „In
Deutschland muss dieses Ziel in vier bis
sechs Jahren zu ereichen sein“ – also
womöglich schon 2004. Schließlich gehe
es darum, Sozial- und Finanzpolitik „engstens“ zu verzahnen.
Dass der Unionsspitze diese Thesen ungelegen kommen, wissen Uldall und Protzner nur zu genau. Doch forsch fordern sie,
die Union müsse ihre Rolle als Opposition
endlich annehmen. Dazu gehörten nun mal
„kreative Ideen“ und eine „klare Profilierung“. Tina Hildebrandt, Ulrich Schäfer
sich die Verantwortung. Die Gemeinschaft hilft dem Einzelnen, wenn er
nicht für sich selber sorgen kann, und
gleicht soziale Ungerechtigkeiten aus.
Dieses Prinzip, das immer wieder als
Basis unserer Politik beschrieben wurde,
gilt in der realen Unionspolitik schon
lange nicht mehr.
Deshalb sei eine radikale Wende vonnöten: Sozialpolitik müsse „die Eigenvorsorge wieder in den Vordergrund rücken“, sie
solle lediglich „die Risiken des Einzelnen
sichern und so seine Risikobereitschaft erhöhen“ – das wäre die Abkehr vom staatlich alimentierten Fürsorge-Modell.
Wie das konkret aussehen könnte, haben
Uldall und Protzner Punkt für Punkt aufgezählt. So schlagen sie etwa vor,
π in der Arbeitslosenversicherung „nicht
länger Arbeitslosigkeit zu subventionieren“; so sollten Arbeitslose im ersten
Monat ohne Job keine
Leistungen mehr erhalten und diese Zeit durch
den „Rückgriff auf Reserven“ überbrücken;
π in der Krankenversicherung alle Leistungen zu
begrenzen, „die über
das notwendige Maß
hinausgehen“; so sollten
die Zuzahlungen für
Medikamente erhöht
werden, jeder solle zudem, wie bei einer Teilkaskoversicherung für
Autos, einen jährlichen
Selbstbehalt von 300
Mark übernehmen;
CDU-Politiker Schäuble, Wulff: „Koordinaten nicht ändern“
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W. SCHMIDT / NOVUM
SOZIALPOLITIK
Wirtschaft
ONLINE-DIENSTE
„Operation Jump“
Preiskrieg im Internet, die Tarife sind im freien Fall: Mit gewaltigem Aufwand und aggressiven
Angeboten versucht AOL, die Vorherrschaft von T-Online zu brechen.
Die Telekom-Tochter schlägt zurück, auch sie baut ihr Geschäft im Netz kräftig aus.
D
merce-Anbieter, die Provisionen gewähren, wenn die
Online-Kunden bei ihnen per
Mausklick direkt bestellen.
Auf diese Weise erwirtschaftet AOL in den USA bereits
eine Milliarde Dollar pro Jahr.
Deutschland hinkt hinterher: Hier bremsten bis vor
kurzem die hohen Telefonpreise den schnellen Siegeszug des Internet. Viele
gingen deshalb nur abends
online, wenn die Telefongebühren niedriger waren. Es
habe „in der Vergangenheit
Preissünden gegeben“, sagt
selbst T-Online-Chef Wolfgang Keuntje, 42.
Nun aber sind die Tarife im
freien Fall, und das liegt am
harten Wettbewerb der Vermittler von Online-Zugängen
(Internet Service Provider)
wie Nacamar und Okay.Net.
Gegen spezielle Online-Gebühren und Telefonkosten
AOL-Manager Schmidt: „Langfristig die Nummer eins“
bringen sie die Kunden ins
der Deutschen Telekom sowie dem Ge- Netz, ohne jegliche Zusatzleistungen.
spann Bertelsmann, America Online Zudem müssen sich diese Firmen der
(AOL), das in Europa eine Gemeinschafts- Attacken von Telefongesellschaften wie
firma betreibt, begonnen. In der Online- Mannesmann Arcor erwehren, die ihre freiWelt werden künftig, so die Szenarien en Kapazitäten zunehmend mit Angeboten
der Konzerne, viele Millionen Menschen für Internet-Nutzer auslasten – zu einem
E-Mails und Faxe verschicken, Nachrichten günstigen Komplettpreis.
Anschluss gesucht
Eine Kaarster Werbeagentur will ihren
lesen und Börsenkurse beschauen, Kleider
Online-Kunden sogar Geld zahlen, wenn
bestellen und mit Freunden plaudern.
Weil vielen die Welt im Netz zu un- sie den eigenen Internet-Service „Adone“
3,4
durchsichtig ist, abonnieren sie Online- benutzen – für ein Kleinhonorar von 60
3,0
2,7
Dienste wie AOL oder T-Online: Die bie- Pfennig pro Online-Stunde wird der Klien2,5 Mitglieder
ten neben dem Zugang ins Internet eine tel freilich reichlich Werbung aufgezwunin Deutschland
1,9
Vielzahl eigener Online-Unterhaltungs- gen, die am unteren Bildschirmrand per2,0 in Millionen
und -Serviceangebote, eine geordnete klei- manent eingeblendet wird.
1,35
1,5
Die Deutsche Telekom, jahrelang ein
ne Parzelle im weltweiten Dschungel.
0,97
0,9
Natürlich müssen die Kunden diese Diens- Hüter hoher Preise, musste auf die neuen
1,0
0,6
0,4
te bezahlen, aber das richtige Geld bringen Herausforderer reagieren. Seit April ver0,5
künftig die großen Konzerne, die in dieser langt sie von ihren Online-Kunden nur
0,15
August
Netz-Welt werben wollen, sowie E-Com- noch sechs Pfennig pro Minute, ein Nach1995
96
97
98
99
lass von bis zu 50 Prozent. „Wir machen
Deutschland zum Internet-Valley“, verMonatliche
Kosten
für...
TarifGrundpreis Verbindungs- Kosten
spricht Vorstandschef Ron Sommer, 49.
beispiele im Monat aufbau
pro Minute ... 5 Std.
...10 Std. ...50 Std.
Im Sommer kündigte Online-Manager
Keuntje zudem Sonderkonditionen für die
T-Online eco 8,00 DM
6 Pf
6 Pf
19,40 DM
38,00 DM
186,80 DM
Handynutzer der Telekom an. Wer künftig
über den konzerneigenen Mobilfunkdienst
6 Pf
3,9 Pf
22,20 DM
34,50 DM
132,90 DM
AOL 9,90 DM
D1 ins Internet geht, soll für Online-Mi-
124
O. JANDKE / CARO
er frühere Bundesgrenzschützer
Andreas Schmidt, 38, liebt große
und deftige Worte. Zum Beispiel
„Guerrilla-Marketing“: den Feind attackieren, wo er es am wenigsten erwartet.
Die jüngste Attacke lässt der Europachef des Online-Unternehmens AOL Bertelsmann in Fernsehspots und Zeitschriftenanzeigen gar als „Revolution“ feiern.
Noch nie, so die Botschaft, war es so billig,
im Internet zu surfen, noch nie war es so
einfach, einen Computer zu bekommen.
Mit massivem Geldeinsatz – allein die
klassische Werbung in den nächsten Monaten kostet 50 Millionen Mark – will der
Ex-Chefredakteur der Zeitschriften „TV
Movie“ und „TV Today“ die Deutschen
überzeugen, ins Netz zu gehen. Die „Operation Jump“ (interner Aktionsname) soll
den bisher eher bescheidenen AOL-Kundenstamm bis Mitte 2000 um fast 80 Prozent auf 1,6 Millionen hieven.
In vier Jahren will das Unternehmen sogar den Marktführer T-Online, eine Tochter der Deutschen Telekom, überholen.
Das ist noch ein weiter Weg: Der Telefonkonzern, mit dem Online-Vorläufer Btx
schon seit 1983 auf dem Markt, erreicht
rund 3,4 Millionen Kunden. „Wir weichen
deren Monopol auf“, sagt Schmidt, „langfristig sind wir die Nummer eins.“
Eine beispiellose Materialschlacht um
den Zukunftsmarkt Internet hat zwischen
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Werbeseite
Werbeseite
Wirtschaft
nuten nichts extra zahlen müssen – Internet zum Nulltarif.
Der studierte Nachrichtentechniker
Keuntje, der lange Zeit beim Konzern Alcatel SEL arbeitete, hat für die Attacke von
AOL („unser größter amerikanischer Wettbewerber“) nur milden Spott übrig. Der Abstand sei riesengroß, sagt Keuntje: „Die
müssen jetzt etwas tun, sonst werden sie
sich aus dem Markt herauskatapultieren.“
„Die Telekom war schon immer ein
Ankündigungsweltmeister“, kontert AOLChef Schmidt, „wir aber setzen Fakten.“
Sein letzter Fakt: Preise runter um bis zu
46 Prozent. Von Oktober an verlangt AOL
für die Online-Nutzung nur noch eine
Monatspauschale von 9,90 Mark – bislang
hängen diese Kosten von der Nutzungszeit ab. „Wir haben eine Uhr abgeschaltet“, freut sich Schmidt. Eine andere Uhr
freilich tickt weiter: Für Telefondienste sind
weiterhin 3,9 Pfennig pro Minute zu zahlen. Erst mittelfristig soll es eine totale Pauschale von rund 30 Mark im Monat für
Telefon und Online geben.
Mit der Preisattacke, die AOL publikumswirksam auf der Internationalen
Funkausstellung in Berlin startete, kappte
Schmidt gleichzeitig fast alle Geschäftsbeziehungen mit der Telekom. Er will nun
mit anderen Netzbetreibern kooperieren –
Sommers Truppe gehen somit über 100 Millionen Mark Umsatz im Jahr verloren.
Unter dem großen AOL-Dach hat
Schmidt („Wir sind einer der wenigen Blue
Chips in Europa“) drei Marken gebündelt:
AOL für die Familie, Compuserve für Geschäftskunden, Netscape für junge Internet-Freaks. Ein Marketing-Etat von stolzen 200 Millionen Mark soll den Deutschen
dieses Angebot näher bringen; als großer
Handelspartner ist dabei die Metro-Gruppe („Media-Markt“) verpflichtet. Schmidt:
„Man wird AOL überall sehen können.“
Voraussichtlich im Oktober, rechtzeitig
zum Weihnachtsgeschäft, will AOL den po-
„Das Produkt muss
für die Leute so einfach wie
ein Radio sein“
tenziellen Online-Surfern Computer zu extrem günstigen Preisen offerieren – wenn
sie mehrjährige Serviceverträge unterschreiben. Potenzieller Partner: der japanische Computerbauer Fujitsu.
Das Modell praktiziert AOL mit Erfolg
in den USA. Dort erhalten Neukunden,
die einen Dreijahresvertrag für AOL signieren, in bestimmten PC-Handelsketten einen 400-Dollar-Gutschein.
In der weltweit größten Internet-Nation
sind solche Angebote gang und gäbe. Das
Unternehmen Directweb etwa verschenkte 25 000 Computer mit einer Bedingung:
Der Weg ins Internet musste für die Beschenkten über die Directweb-Startseite
führen. Und bei der New Yorker Firma One
Stop Communications verpflichteten sich
die Empfänger von 25 000 Gratis-Computern, im firmeneigenen Online-Kaufhaus
monatlich für mindestens 100 Dollar zu
shoppen – und das drei Jahre lang.
Auch in Deutschland breiten sich solche
Angebote aus. So übernahm die Schleswiger Telefonfirma Mobilcom die Computerkette Comtech, um dort ihren Internet-Kunden künftig PC zum Nulltarif zu liefern.
Von den 38 Millionen deutschen Haushalten haben mittlerweile zwar 24 Prozent
einen Computer – aber nur 13 Prozent einen Internet-Anschluss. Doch das soll sich
schon bald ändern: „Das ist ein beginnender Massenmarkt“, glaubt Schmidt, „das
Produkt muss für die Leute nur so einfach
wie ein Radio sein.“
Sein Großgesellschafter Bertelsmann
soll ihm dabei helfen. Die Verlagsblätter
von Gruner + Jahr („Stern“, „Geo“, „Brigitte“) sollen tüchtig werben, Abonnenten
gewinnen und Inhalte beisteuern. Und wer
künftig CDs von Stars der Bertelsmann
Music Group wie Whitney Houston oder
Puff Daddy kauft, kann die Silberscheiben
auch in den Computer einlegen – und damit AOL starten.
Um die Kunden noch stärker in der geschlossenen AOL-Welt zu halten, arbeitet
zu dem inzwischen über 200 Shops
gehören. Dort gibt es unter anderem handgearbeitete spanische
Schuhe, bügelfreie Hemden im
Dreier-Pack sowie viele Dessous
(„außergewöhnliche Wäsche für
eine außergewöhnliche Nacht“).
Spezielle Angebote für Jugendliche („Fun & Action“) und Geschäftsleute sollen folgen, und für
Stadtmenschen will T-Online zusammen mit dem Axel Springer
Verlag Internet-Startseiten mit
regionalen Informationen entwickeln. Keuntjes Konzept: „Das
Internet ist eine Programmzeitschrift.“
Auch ein neues Tarifmodell hat
sich die Telekom ausgedacht: 20
Online-Stunden pro Monat sollen
künftig, alles inklusive, nur 39,90
Mark kosten, wieder ein Nachlass von
50 Prozent.
Im erbitterten Preiskampf verfolgt T-Online ein ehrgeiziges Ziel: Ende des Jahres
will die Telekom-Tochter unbedingt 4 Millionen Kunden haben, und nur wenige Jahre später sollen es 15 Millionen sein.
Das Geld für die Expansion will sich die
Firma im nächsten Jahr an der Börse holen
– so wie auch Rivale AOL. Schon beginnt
der nächste Wettlauf gegen die Zeit.
OGANDO / LAIF
das Unternehmen an neuen Angeboten
wie ausführlichen Aktienanalysen und
Computer-Tipps. Drei Dutzend Journalisten wurden eingestellt. Auch die eigene
Startseite ins Internet soll schöner werden:
Dort lockt als Highlight heute die „Nachricht des Tages“, etwa dass Modell Naomi
Campbell ein eigenes Parfum auf den
Markt bringt.
„AOL ist wie RTL, modern und schnell“,
bilanziert Schmidt, „T-Online dagegen ist
wie das ZDF: immer korrekt, oft aber
staubtrocken.“
Die Spitze zielt auf das alte Btx-Image
der Telekom, jenen alten Datendienst, der
schon Ende der achtziger Jahre antiquiert
wirkte, der jedoch lange Zeit als Einziger
Homebanking ermöglichte. Seitdem es für
solche Geldgeschäfte aber einen offenen
technischen Standard gibt, bieten viele
Internet-Firmen diesen Service an – und
T-Online verlor seinen Hauptvorteil.
Die Telekom entschloss sich zum Strategiewechsel. Nun sieht sie ihre Zukunft als
weltweit größter Internet-Zugangsanbieter, als Lotse für die Geschäfte im Netz
der Computernetze.
Die eigene Online-Redaktion verschwindet zum Jahresende. Künftig sollen die Kunden über rund 20 spezielle Internet-Startseiten („Portale“) an das Unternehmen gebunden werden, die T-Online mit Partnern
produziert. Durch solche „Mehrwerte“
T-Online-Manager Keuntje: „Führendes Tor“
sieht Keuntje sein Unternehmen „hervorragend positioniert“, die Marke T-Online
sei „das führende Tor zum Internet“.
Eine interne Studie der Telekom hatte
Ende 1998 schonungslos die eigenen
Schwächen bei Inhalten, E-Commerce und
Internet-Service aufgezählt. Die Expertise
ergab auch: Hauptgegner sind AOL und
Bertelsmann – das „in Deutschland im Internet-Geschäft aktivste Verlagshaus“.
Seit Mai hält T-Online mit einem speziellen Online-Einkaufsangebot dagegen,
Hans-Jürgen Jakobs
TELEFON
Sofortiger
Austausch
T. BARTH / ZEITENSPIEGEL
Noch immer benutzen Millionen
Verbraucher gemietete Telekom-Apparate – für den Ex-Monopolisten ein gutes Geschäft.
S
chon in der alten Wohnung hatte Jörg
Tauss sein Sinus 11 gemietet. Seit über
zehn Jahren zahlt der Karlsruher
Bundestagsabgeordnete Monat für Monat
25 Mark für das mittlerweile ziemlich altmodische Telefon, zunächst an die Bundespost, später an die Telekom. „Auf meiner
Rechnung war mir dieser Posten bisher nie
aufgefallen“, sagt der SPD-Politiker, der
sich im Forschungsausschuss besonders für
neue Kommunikationstechniken engagiert.
Tauss will die Telekom bitten, ihm das
Gerät zu schenken. Immerhin hat er dem
Konzern über all die Jahre insgesamt mehr
als 3000 Mark für den längst veralteten Apparat überwiesen.
Neun Jahre nach der Liberalisierung des
Endgerätemarkts kassiert die Telekom
noch immer reichlich Miete für Telefone,
von denen viele noch aus den Zeiten der
alten Post stammen. Die meisten Kunden
nehmen den monatlichen Posten nicht zur
Kenntnis – und die einstige Monopolfirma
unternimmt kaum etwas, um den Verbrauchern klar zu machen, dass die aufgelaufene Gesamtmiete den Wert der Geräte oft
erheblich übersteigt.
Der Telekom ist das Thema peinlich, genaue Zahlen will das Bonner Unternehmen nicht verraten. Schließlich sei man
keine „gläserne Behörde“ mehr, sondern
stehe im harten Wettbewerb, erläutert ein
Telekom-Sprecher die Zurückhaltung.
Firmen-Insider schätzen, dass an mindestens der Hälfte der rund 30 Millionen
Privatanschlüsse in Westdeutschland noch
Telekom-Kunde Tauss
Erstaunliche Preise
Mietgeräte hängen. Es könnten aber auch
zwei Drittel sein, wie die Regulierungsbehörde für Telekommunikation und Post
schätzt.
Viele Telekom-Kunden haben sich auch
ein modernes schnurloses Gerät gekauft,
aber den alten Apparat nicht zurückgegeben – die Miete läuft weiter. Selbst bei vorsichtiger Hochrechnung summieren sich
deshalb leicht Einnahmen von über 500
Millionen Mark pro Jahr, den die Altgeräte der Telekom bescheren – wahrscheinlich
aber sind es noch viel mehr.
In Deutschland begann die Liberalisierung des Telekommunikationsmarktes im
Juli 1990, bei den Endgeräten fiel das Postmonopol zuerst. Bis dahin hatten nahezu
alle Privatkunden ihr Telefon vom Staatsunternehmen gemietet, seither können sie
selbst entscheiden, von wem sie ihr Telefon
beziehen.
Bei den Mietgeräten blieb die Monopolstellung im Privatkundenbereich jedoch
de facto bestehen, da nur die Telekom über
die Möglichkeit verfügt, die häufig niedrigen Mieten zusammen mit der Telefonrechnung einzuziehen. Um die technischen
Voraussetzungen für einen Wechsel des
Kaufen oder mieten?
Die „Innovationsmiete“
der Deutschen Telekom
Bei einer Vertragslaufzeit von
fünf Jahren kann der TelekomKunde sein altes Mietgerät
nach drei Jahren gegen ein
neues eintauschen.
128
T-Concept CPA720
T-Easy C310
T-Easy P210
ISDN-Telefon,
Kombinationsgerät
schnurloses
Telefon
einfaches Telefon,
schnurgebunden
Kaufpreis
799,95 Mark
219,95 Mark
49,95 Mark
monatlicher Mietpreis
Mietpreis für fünf Jahre
45,30 Mark
12,70 Mark
4,50 Mark
2718,00 Mark
762,00 Mark
270,00 Mark
Reparaturservice inbegriffen
Grundservice inklusive
Gerät abgezahlt ab
18. Monat
18. Monat
12. Monat
Einsparung durch Kauf
1918,05 Mark
542,05 Mark
220,05 Mark
d e r
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Endgeräts zu schaffen, begann die Bundespost bereits 1987 mit dem Einbau von
Telekommunikations-Anschluss-Einheiten
(TAE), die nicht nur den problemlosen Austausch der Telefone ermöglichen, sondern
es dem Kunden auch erlauben, Zusatzgeräte wie Fax oder Anrufbeantworter
zu nutzen.
Doch bei der Öffnung des Endgerätemarktes 1990 waren erst acht Millionen der
damals 28 Millionen Hauptanschlüsse mit
einer solchen TAE-Buchse ausgestattet.
Fast drei Viertel der Anschlussinhaber blieben also zunächst technisch von einem
Wechsel ausgeschlossen. Das Bundesministerium für Post und Telekommunikation
forderte die Telekom zwar auf, bis Ende
1994 alle Anschlüsse umzustellen, aber vier
Jahre nach der Marktöffnung waren die
Telefone immer noch in 44 Prozent der
Privathaushalte in Westdeutschland ohne
Stecker an der Buchse befestigt.
So öffnete sich der Markt nur schleppend, und nur zögernd nahmen die Verbraucher die neue Freiheit wahr und kauften sich ein eigenes Telefon.
Auch heute noch vermietet die Telekom
Telefone. Zu erstaunlichen Preisen: Das
Telekom-Telefon T-Easy P 210 wird in den
T-Punkt-Läden für 49,95 Mark angeboten.
Mietet man dagegen das Telefon mit einer
Mindestlaufzeit von fünf Jahren, werden
jährlich 54 Mark fällig. Zwar ist im Mietpreis ein Serviceangebot enthalten, aber
der unterscheidet sich kaum vom einjährigen Garantieanspruch des Kaufgeräts.
Bei Altverträgen, die noch vor der Liberalisierung abgeschlossen wurden, bietet
die Telekom meist überhaupt keinen Service mehr. Weil bei den Postgeräten keine
„Mindestüberlassungsdauer“ mehr besteht, kündigt sie den Vertrag im Schadensfall auf und bietet ihren Kunden statt
dessen ein neues Miettelefon zu neuen
Konditionen an.
Wie wenig Interesse das Kommunikationsunternehmen auch an funktionierenden Geräten hat, bekam der Kölner Dietrich Woermann zu spüren. Als er sich im
März dazu entschloss, sein „farngrünes“
Posttelefon FeTAp 11 A abzubestellen,
wollte niemand den alten Apparat bei ihm
abholen. Dass Woermann jedoch nicht zum
Monatsersten, sondern erst am 5. März
gekündigt hatte, stellte ihm die Telekom
äußerst penibel in Rechnung: 48 Pfennig
sollte er für die fünf Tage bezahlen.
Von der Möglichkeit, dass er sein altes
Telefon auch für sechs Monatsmieten kaufen kann, hatte Woermann – wie die meisten Kunden – all die Jahre nichts gehört.
Unternehmenssprecher Walter Genz erklärte nun gegenüber dem SPIEGEL, dass
die Telekom die Geräte, „die älter als zehn
Jahre sind“, bei künftigen Kündigungen
dem Kunden kostenlos überlassen werde.
Bisher wissen das aber weder die Mieter
noch die Mitarbeiter in den T-PunktLäden.
Peter Onneken
Wirtschaft
COMPUTER
Brücke in die
neue Welt
A. GARRELS / ACTION PRESS
Mit dem Kauf der deutschen
Software-Firma Star
Division will der US-Konzern
Sun die Vorherrschaft
von Microsoft brechen.
A
AP
n Visionen hat es Marco Börries nie
gefehlt. Schon als 16-Jähriger war
sein Lebensweg für ihn klar: Er
wollte Software-Unternehmer werden. Bei
einem Besuch in Kalifornien hatte er erkannt, wie leicht und schnell man „mit der
richtigen Software Geld verdienen kann“.
„Die Welt“, verkündete Börries fortan,
„will eine Alternative zu Microsoft.“ Verbissen bemühte er sich jahrelang, die
Alternative zu entwickeln. Doch kaum
jemand nahm den Unternehmer aus Hamburg richtig ernst, und außerhalb Deutschlands blieb Börries ein Nobody.
Vergangene Woche war plötzlich alles
anders. Börries, 31, stand im Rampenlicht
der Computerwelt. In fließendem Amerikanisch verkündete er in einem Fernsehstudio in New York: „Wir bauen die Brücke
von der alten in die neue Software-Welt.“
Die von Börries gegründete Star Division wird dabei nur noch Historie sein. Für
einen dreistelligen Millionenbetrag hat der
Hamburger seine Firma an den Computerkonzern Sun verkauft. Gleichzeitig soll
er als einer der Vizepräsidenten unter SunChef Scott McNealy die Internet-Strategie
der US-Firma weiterentwickeln.
Kontrahenten Gates, McNealy
Empfindliche Stelle getroffen
In Wahrheit war er von der
Traummarke weit entfernt. Erst
mit sechs Jahren Verspätung erreichte Börries das für 1992 anvisierte Ziel.
Dabei war es fast ein Wunder,
dass die Firma so lange durchhielt. Denn selbst weit größere
Konkurrenten wie Corel oder
Lotus gaben unter dem Druck
von Microsoft auf oder wurden
geschluckt. Mit einem Marktanteil von gut 90 Prozent beherrscht
Bill Gates heute den Weltmarkt
für Bürosoftware.
Das Wunder verdankt Börries
seiner Weitsicht. Anfang der
neunziger Jahre beschloss er,
seine zum Office-Paket gewachsene Programmsammlung als so
genannte Objekt-orientierte SoftFirmengründer Börries: „Stern im Sonnensystem“
ware völlig neu zu konzipieren.
„Nicht des Geldes wegen“, versichert Diese Programmiertechnik erlaubt es nun,
Börries, habe er den Deal abgeschlossen, binnen kurzer Zeit neue Versionen von
sondern „um meine Vision weiterzuent- „Star Office“ zu entwickeln und gleichwickeln“. Und die hat sich nicht verändert. zeitig für verschiedene Computersysteme
Nur die Möglichkeiten seien größer ge- auf den Markt zu bringen.
Die Flexibilität will jetzt auch Sun nutworden, glaubt der neue Multimillionär:
„Jetzt sind wir ein glänzender Stern im zen, um sich gegen den Erzrivalen Microsoft zu profilieren. Die Verbindung des
Sonnensystem.“
Sun will die von Börries übernommene deutschen Software-Unternehmens mit der
Software-Sammlung „Star Office“, die ne- US-Firma hat Tradition. Schon 1992 hatte
ben der Textverarbeitung auch eine Tabel- Andreas von Bechtolsheim, einer der
lenkalkulation, ein Präsentationsprogramm Gründer von Sun, eine 20-Prozent-Beteilisowie Terminkalender und Datenbanken gung an Star Division erworben. Und vor
enthält, im Internet für jedermann kosten- vier Jahren gab es erste Übernahmeverlos zur Verfügung stellen. Und dabei, be- handlungen. Doch da passte Bürosoftware
tont McNealy, „geht es nicht um eine Start- noch nicht in die Strategie der Kalifornier.
Das hat sich durch den Run auf das Inup-Firma, wir haben ein ausgereiftes Proternet geändert. In McNealys Vorstellungen
dukt gekauft“.
Der Deal mit dem US-Konzern ist der ist der Anwender bald nicht mehr auf
lang ersehnte Ritterschlag für den ehrgei- schwerfällige Endgeräte und teure Softzigen Deutschen, der 1985 im heimatlichen ware angewiesen, sondern arbeitet mit
Lüneburg mit 2000 Mark Startkapital, das Netzcomputern oder Multimedia-Handys.
er zur Konfirmation geschenkt bekommen Die für die jeweilige Arbeit nötige Softhatte, ins Software-Business eingestiegen ware lädt er aus dem Netz. Sun verdient
war. Das Geschäft mit einem kleinen am Service und am Verkauf leistungsstarSchreibprogramm, das ein befreundeter ker Rechner, die das Internet steuern.
Sollte der von McNealy propagierte „PaProgrammierer entwickelt hatte, begann
beachtlich. Schon nach einem Jahr setzte radigmenwechsel“ gelingen, würde Microdie Star Division genannte Firma mehr als soft an einer empfindlichen Stelle getrofeine Million Mark um, und bald musste so- fen. Denn mit der Bürosoftware verdient
gar Papas Garage als Warenlager herhalten. Microsoft fast die Hälfte seines Umsatzes.
Der Riese aus Redmond reagierte
Zur Entschädigung schenkte der Teenie
schnell. Während Gates vor drei Jahren
seinem Vater einen Mercedes.
Zwei Jahre vor dem Abitur schmiss der monatelang tatenlos zusah, wie der NewSternenkämpfer die Schule. Er verließ die comer Netscape mit einem kostenlosen
Garage, um sich in eigenen Büroräumen Browser das Internet-Geschäft aufrollte,
selbständig zu machen, denn nun war er ließ er dem neuen Herausforderer nur zwei
Tage Zeit. „Wir werden aggressiv investieauch offiziell geschäftsfähig.
Da sein Programm deutlich billiger war ren“, kündigte Vizechef Steve Ballmer an,
als Microsofts „Word“ oder das damals und „bestimmt auch Büroanwendungen im
noch führende „Word Perfect“ von Corel, Netz zur Verfügung stellen.“
Börries lässt sich von der Drohung nicht
fand „Star Writer“ vor allem bei Studenten
und PC-Discountern Freunde. Und Bör- beirren. „Wir haben ein Jahr Vorsprung“,
ries hob ab: „Wenn das Auslandsgeschäft meint er. Und die schnelle Reaktion von
hinzukommt, werden wir spätestens Ende Gates beweise doch nur eins: „Wir sind
1992 weltweit 100 Millionen Mark Umsatz ganz sicher auf dem richtigen Weg.“
machen“, verkündete er 1990.
Klaus-Peter Kerbusk
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129
Wirtschaft
KORRUPTION
Persönliche
Geste
Der Skandal um den BBV-Chef
Schweickert und seinen
Spezi Kaaf zieht weitere Kreise:
Von den Machenschaften
profitierten Manager und Politiker.
zwei Millionen Mark. Für die ausgebufften
Immobilienprofis Kaaf und Ernst war der
Erwerb ein Verlustgeschäft; beim Weiterverkauf 1994 sollen sie rund 300 000 Mark
verloren haben.
Zimmermann beteuert, es gebe „keinerlei Zusammenhang“ mit dem Objekt
Grillparzerstraße. Außerdem habe er seinen Vorgesetzten, den damaligen Thyssen
Handelsunion-Chef Dieter Vogel, persönlich über das Privatgeschäft mit Kaaf und
Ernst informiert.
Vogel, heute Aufsichtsratsvorsitzender
der Deutschen Bahn AG, bestreitet das.
er 1998, kurz vor seinem Tod, unplanmäßig
zurückzahlte. Die übliche Strafgebühr
musste er vertragsgemäß nicht berappen.
Auch Streibl-Freund Schweickert achtete im Geschäftsleben stets auf Occasionen.
Bevor er 1990 für die BBV Aktien der Heidelberger Textilholding Pegasus kaufte,
stellte der Assekuranz-Chef in Anbahnungsgesprächen lapidar fest, es müsse sich
auch für ihn lohnen, wie sich der damalige Verkäufer erinnert.
So blieb es nicht bei einigen zehntausend Aktien für die BBV zum Stückpreis
von 300 Mark; gleichzeitig gingen 1500 Ak-
W. v. BRAUCHITSCH
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G. LUKAS
M
it Verdruss liest Hans Jakob Zimmermann, 55, jeden Tag die
Schlagzeilen über die Korruptionsaffäre rund um den Immobilienmakler Berthold Kaaf. Der Bonner
Grundstückshändler und dessen Geschäftspartner Klaus Dieter Schweickert, früherer Chef der Bayerischen
Beamten Versicherung (BBV), sitzen seit
Wochen in Haft. Beide stehen im Mittelpunkt einer der größten Schmiergeldskandale der Republik (SPIEGEL
33/1999).
Zu denen, die von Kaafs Geschäftsgebaren profitierten, gehörte offenbar auch
Manager Zimmermann, seit einem Jahr
Geschäftsführer bei einer Tochter der
Frankfurter Metallgesellschaft.
Zimmermann, bis Ende
1995 Vorstandsmitglied der
Dortmunder Thyssen Schulte GmbH, hatte Kaaf bei einem Millionendeal kennen
gelernt. Beim profitablen
Ehemalige Zimmermann-Villa in Euskirchen: Aufschlag für Eiche rustikal
Verkauf eines ThyssenSchulte-Grundstücks an der
Zimmermann habe ihn nur tien zum Vorzugspreis von 240 Mark an
Grillparzerstraße in Münbeiläufig über den Verkauf die Liechtensteiner Briefkastenfirma Botchen waren sich die Herren
seines Privathauses unter- tag Anstalt, die Schweickert über einen
näher gekommen. Ende Seprichtet und dabei keine Na- Treuhänder installiert haben soll – Preistember 1990 erwarb die Immen genannt. Jedenfalls er- vorteil: 90 000 Mark. Auch die damaligen
mobilienfirma Terreno, an
fuhr die Thyssen-Innen- BBV-Vorstände Wolfgang Werner und
der Kaaf und der Heidelberrevision nichts von der Eus- Heinz Scheller freuten sich über 500 Billigger Bauträger Roland Ernst
kirchener Transaktion, als aktien, der Prokurist und spätere Finanzbeteiligt waren, das Areal Manager Zimmermann
Zimmermann 1995 unter vorstand Josef Dinauer immerhin noch
von Thyssen für rund 72 MilDruck den Konzern verließ, über 200. Der Fakt sei „nicht zu leugnen“,
lionen Mark, um dort einen gigantischen weil er beim Bau seiner neuen Villa in Es- konstatiert Dinauer und will den kulanten
Bürokomplex hochzuziehen.
sen von einer Baufirma bevorzugt behan- Kauf als „persönliche Geste“ des Verkäufers verstanden haben.
Just drei Monate später hatte Zimmer- delt worden sein soll.
Zu einer persönlichen Geste ähnlicher
mann ein weiteres Erfolgserlebnis: Für 1,85
Das Gemauschel hatte in Kaafs Kreisen
Millionen Mark kauften Kaaf und Ernst im offenbar Methode: Auch Kaafs Geschäfts- Art sah sich auch die frisch gegründete
Dezember 1990 privat Zimmermanns Eus- partner Schweickert war bei privaten Pro- Leasing-Gesellschaft BBV Finanz GmbH
kirchener Villa. Die hatte der Thyssen- blemen gern gefällig, etwa dem damaligen 1990 veranlasst, an der die BBV 41 ProMann zwei Jahre lang über Makler und bayerischen Ministerpräsidenten Max zent hielt. Als Firmensitz in repräsentativer
Zeitungsannoncen feilgeboten – ohne Er- Streibl. Der hatte ihm im Juli 1992 den Lage konvenierte just ein Haus aus
folg. Für die Innenausstattung, darunter Bayerischen Verdienstorden verschafft. Im Schweickerts Privatvermögen an der RuKüchenzeilen in Eiche rustikal, spendierten Februar 1993 erhielt Streibl für sein Haus an gendasstraße im Münchner Stadtteil Solln.
die Baulöwen 250 000 Mark extra.
der Malsenstraße 72 im noblen Münchner Bis heute tappt die BBV im Dunkeln, wie
Bei dem Deal waren auch zwei hoch- Viertel Gern ein günstiges Baudarlehen der hoch die Miete für das Objekt ihres inzwirangige Thyssen-Mitarbeiter zu Diensten. BBV: Ein Kenner des Vertrags berichtet von schen entlassenen Vorsitzenden war.
Was man von dem Vorgang zu halHausjurist Burkhardt Höper prüfte den pri- rund 900 000 Mark Kredit zu sechs Prozent
vaten Kaufvertrag. Thyssen-Immobilien- effektivem Jahreszins – rund 1,8 Prozent- ten hat, weiß Konzernsprecher Peter
experte Klaus Tiedemann erstellte in seiner punkte unter dem damaligen Marktniveau, Nützel heute immerhin: „Das war
Freizeit unentgeltlich ein Wertgutachten fest auf zehn Jahre. Rund 80 000 Mark Er- saublöd.“
Jürgen Dahlkamp,
Felix Kurz,Wilfried Voigt
und taxierte die Zimmermann-Villa auf sparnis hatte das Streibl schon gebracht, als
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Medien
Trends
FILMHANDEL
J. OBERHEIDE / ARGUM
Neue Fusion in München?
E
inen starken Partner will der Medien-Unternehmer Herbert Kloiber
aufnehmen. Potenziellen Interessenten
gegenüber nannte er bereits einen Wert
von zwei Milliarden Mark für seine
Tele-München-Gruppe. Den Filmstock
bewerteten die Wirtschaftsprüfer von
KPMG, andere Firmenteile die Investmentbanker von Morgan Stanley. Am
weitesten fortgeschritten sind die Gespräche mit dem Börsen-Aufsteiger EMTV des Münchner Unternehmers Thomas Haffa. Die bisher auf den Kinderund Jugendmarkt spezialisierte EM-TV
soll, so der Plan, einen Minderheitsanteil übernehmen. Als weitere Kandidaten für Tele-München (Umsatz
1998: über 400 Millionen Mark) sind
die Bertelsmann-Tochter CLT-Ufa, die
Kirch-Gruppe und TV-Tycoon Rupert
Murdoch im Gespräch, dem Kloiber bereits 66 Prozent des Senders TM 3 verkauft hat. Die dort nötigen Investitionen
für die Champions League sowie der
geplante Aufbau einer Pay-TV-Plattform belasten die
Bilanz. Kloiber bestätigt, er werde „im
Laufe des Herbstes ohne tunliche
Eile“ vielleicht einen Neu-Gesellschafter finden, „wenn
sich denn einer anbietet, bei dem das
sinnvoll ist“. TeleMünchen müsse bei
Produktionen stärker werden. Ein Börsengang sei nicht geKloiber
Kirch
PAY- T V
Milliarden für Kirch
D
PWE VERLAG
er TV-Unternehmer Leo Kirch will
über den Kapitalmarkt sechs Milliarden Mark für den Ausbau des PayTV-Senders Premiere World finanzieren
– und sich damit aller Finanzsorgen entledigen. Die Bayerische Landesbank,
die zu 50 Prozent dem Freistaat Bayern
gehört, teilt sich das Risiko mit internationalen Banken in einem Kreditkonsortium; vier Milliarden Mark sollen zusammenkommen. Damit wird eine Milliarden-Bürgschaft der Landesbank für
den Kauf von Premiere abgelöst. Eine
Hauptrolle spielt die Investmentbank
Morgan Stanley Dean Witter, die zudem
eine hochverzinsliche Anleihe über
rund zwei Milliarden Mark begibt.
Kirch hofft nun auf einen geglückten
Neustart seines Pay-TV-Geschäfts im
Oktober. Der Start der Fußball-Bundesliga jedenfalls war, anders als früher,
diesmal kein Knüller: Der Sender gewann in den ersten beiden Wochen
brutto nur 25 000 neue Abonnenten.
DA I LY S O A P
Stars am Strand
N
PRO 7
achdem die tägliche Pro-Sieben-Soap „Mallorca“ als
Mega-Flop in die Sendergeschichte einzugehen droht, soll
nun nachgebessert werden. Die Serie sei
bisher zu kompliziert und negativ gewesen,
kritisiert Programmdirektor Borris Brandt
– zudem seien 18 Hauptakteure einfach zu
viel. „Die sterben jetzt wie die Fliegen.“
Auch Pro-Sieben-Fernsehvorstand Ludwig
Bauer möchte die Daily Soap „konsequenter an die Lebenswelten der Zuschauer anpassen“ und sonnige Urlaubsgeschichten
erzählen lassen. Außerdem sollen Stars mit
Szene aus „In bed with Madonna“
plant, im Sommer hätten Banken nur
ihre Ideen dazu präsentiert. Kloiber ist
an den Sendern RTL 2, Wien 1 und TV 2
(Ungarn) beteiligt; im Filmhandel ist er
mit 4800 Spielfilmen (zum Beispiel „In
bed with Madonna“) und 19 300 Programmstunden zweitgrößter Anbieter.
Gastauftritten für das ersehnte Quotenhoch sorgen. So wird
für eine der neuen Folgen, die von September an laufen, die
Schlager-Fee Nicole zum Urlaubsflirt an der Strandbar ausrücken. Am liebsten wäre es Programmchef Brandt, „wenn
irgendwann mal Mario Basler auftaucht“. Viel Zeit zur Neupositionierung hat die Produktionsfirma Grundy / Ufa allerdings nicht. Bereits Mitte Oktober will
der Vorstand über die Zukunft der Soap
entscheiden. Für eine Fortsetzung muss
die Quote dann bei zehn bis zwölf Prozent
der 14- bis 49-Jährigen liegen – ungefähr
das Doppelte des derzeitigen Marktanteils. Sonst geht die südliche Sonne für
immer unter.
Pro-Sieben-Serie „Mallorca“
133
Medien
QUOTEN
Dumme Hunde
Mehr Information bei ARD und ZDF
W
Programmarten in der Hauptsendezeit Anteile in Prozent; 1998
ARD
ZDF
11,0
37,0
28,6
10,9
ProSieben
9,2
10,3
22,3
46,4
25,5
23,6
26,6
4,0
26,6
8,5
39,7
9,7
4,0
50,5
21,6
4,9
49,9
Quelle: Media Perspektiven
Information und Bildung
Fiction
Unterhaltung
PROJEKTE
Die mit dem Wolf fühlen
P
sychoanalytiker wie Bruno Bettelheim („Kinder brauchen Märchen“)
sind sich sicher: Gerade in der Härte
der von den Brüdern Grimm gesammelten Geschichten liege deren reinigende
und Kinderseelen stärkende Kraft. Erzieherisch gut gemeinte Abschwächungen, Mitleid mit dem Bösen oder die
Verbannung tödlicher Strafen nähmen
den lieben Kleinen die Möglichkeit, den
Zugang zu den eigenen Ängsten und
Phantasien zu finden. Wenn vom Herbst
einige Journalisten geführt hat –
und zwar an der Nase herum.
„Simsala Grimm“-Trickfilmszene
134
Sat 1
5,9
6,8
16,7
RTL
Sport
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Sonstiges/Werbung
an im Kinderkanal 26 Zeichentrickfilme
mit Grimmschen Märchen laufen, dürfte von der archetypischen Deutlichkeit
der Geschichten wenig übrig bleiben.
Unter dem Orient und Okzident vermischenden Titel „Simsala Grimm“ hat
die Münchner Produktionsfirma Greenlight eine Welt bewegter Cartoons zusammengemixt, die die Märchen dem
modernen Infotainment ausliefern:
Schneewittchen ist nicht nur von sieben
Zwergen umgeben, sondern auch von
einem Harlekin namens Yoyo und einem Bücherwurm. Zwischendrin gibt’s
Actionszenen. Sozialpädagogisch verwässert wird das Märchen vom Rotkäppchen: Um die Großmutter aus dem Bauch des
Wolfs zu holen, kommt
nicht der Jäger mit dem
Gewehr, sondern der Arzt.
Auf dem Operationstisch
unter Vollnarkose wird die
Oma befreit. In der anderen Grimmschen Geschichte „Der Wolf und die sieben Geißlein“ wird für
Verständnis für Isegrimms
Mordlust geworben – er
sei leider in einer Fleischfresser-Gesellschaft sozialisiert worden.
GREENLIGHT MEDIA
Die schönsten Geschichten schreibt
immer noch das Leben, die zweitschönsten aber stehen im Berliner
Boulevardblatt „BZ“. Vergangene
Woche beispielsweise berichtete
die „BZ“ von dem wahrscheinlich
dümmsten Blindenhund der Welt,
einem Labrador namens Lucky.
Der Hund hat das Pech, nun schon
sein fünftes Herrchen zu bekommen, er selber kann aber auch nicht
gerade als Glücksbringer bezeichnet werden: Die ersten vier führte
er geradewegs in den Tod. Nummer eins leitete er gegen einen fahrenden Bus, mit Nummer zwei ging
er auf einem Pier spazieren – und
darüber hinaus, was Herrchen nicht
überlebte. Mit dem dritten stand
Lucky auf einem Bahnsteig. Als der
Zug einlief, sprang der Hund vor
Freude am Herrchen hoch – bis dieser das Gleichgewicht verlor und
auf die Gleise stürzte. Nummer
vier schließlich sollte von Lucky
über eine verkehrsreiche Straße geführt werden, auf einer Verkehrsinsel verlor der Hund die Orientierung und irrte so lange hin und her,
bis Herrchen tot war.
Nun wird Lucky nachgeschult,
Herrchen Nummer fünf wartet
schon – angeblich.
Die „BZ“-Meldung stammt aus einer englischen Zeitung, die hat sie
von der Agentur Reuters. Allerdings lief dieselbe Meldung 1998
schon einmal durch die Gazetten
und im Internet findet sich eben
diese Geschichte bereits mit Datumsangabe Oktober 1993. Damals
war Lucky noch ein Schäferhund
und kein Labrador. Man darf also
annehmen, dass Lucky niemals
einen Blinden, sondern allenfalls
enn die Statistiker nachzählen, kommt bisweilen anderes heraus als das, was den
Zuschauer dünkt: Ausgerechnet das ZDF war im vergangenen Jahr der Sender mit
dem höchsten Informationsanteil in der Hauptsendezeit (46,4 Prozent), deutlich vor der
ARD (37,0). Bei den Privaten führt in dieser Kategorie RTL (25,5) mit Abstand vor Sat 1
(9,2). Nach den Berechnungen des Fachblatts „Media Perspektiven“ waren 1998 die
Fiction-Programmanteile der öffentlich-rechtlichen Anstalten im Vergleich zu 1997 rückläufig: bei der ARD minus 9,5 Prozent, beim ZDF minus 8 Prozent. Serien, TV-Movies
und Action-Formate machten dagegen bei Sat 1 (50,5) und RTL (39,7) den Löwenanteil
aus. Die Präsenz dieses Genres hatte sich gegenüber 1997 sogar noch ausgeweitet.
Fernsehen
Vo r s c h a u
Einschalten
Fußball
Mittwoch, 20.15 Uhr, ARD
Aus Dortmund: EM-Qualifikation
Deutschland – Nordirland.
Diamanten küsst
man nicht
Dead Man Walking
Dienstag, 20.15 Uhr,
Sat 1
Tim Robbins’ aufwühlender Film (USA
1995) gegen die Todesstrafe – mit Susan
Sarandon in der Rolle einer kämpferischen Nonne.
Meret Becker, die
unglückliche Lesbe
aus Helmut Dietls
„Rossini“, spielt in
diesem gelungenen
TV-Stück (Buch:
Martin Rauhaus,
Regie: Uli Stark)
eine Diamantendiebin, die die Finger
einfach nicht von
den Klunkern lassen
kann. Sie besticht
durch anrührende
Direktheit – immer
Becker
ein wenig gerupfter
Vogel, den man allerdings nicht zu sehr
bemitleiden sollte, denn er hat es faustdick hinter den Ohren.
Themenabend: Picasso
Dienstag, 20.45 Uhr, Arte
Am Ende dieser Hommage an den großen Maler, um 0.10 Uhr, Henri-Georges
Clouzots und Claude Renoirs Film von
1956: „Das Wunder Picasso“ – genial
und im Unterhemd wirft der Meister
mit den alles sehenden Augen seine
Figuren auf eine Glasscheibe vor der
Kamera.
Freitag, 22.45 Uhr, ZDF
Stahlnetz – Die Zeugin
Sonntag, 20.15 Uhr, ARD
und bedrückende Atmosphäre. Dem
Regisseur Thomas Bohn ist es
streckenweise gelungen, an den Geist
der famosen Geschichten um den englischen Psychowühler „Fitz“ zu erinnern, den Robbie Coltrane grimmig,
stiernackig und virtuos vor einiger Zeit
auch vor dem deutschen TV-Publikum
hingelegt hatte. Die beiden Polizisten,
die blonde Andrea (Suzanne von Borsody) und Rudolf (Michael Roll),
kämpfen bei ihren Ermittlungen mit
der eigenen Verzweiflung. Es geht um
Mord, aber in Wahrheit um das Erziehungselend und die Einsamkeit eines
jungen Mädchens (Julia Hummer), die
unter einer überforderten Mutter (Brigitte Karner) leidet.
Unter alten Hüten schlummern oft
Kostbarkeiten. Wer hätte gedacht, dass
ausgerechnet unter dem Logo aus sehr
alten Fernsehzeiten – „Stahlnetz“, von
Jürgen Roland und Wolfgang Menge entwickelt,
war in den frühen sechziger Jahren einer der
ersten StraßenfegerKrimis – eine aufregende
TV-Innovation steckt.
Von ihren Vorgängern
haben die neuen „Stahlnetz“-Geschichten zwei
Dinge übernommen: Sie
arbeiten mit einem Erzähler aus dem Off, und
sie konzentrieren sich
auf die Polizeiarbeit.
Doch dann hören die
Gemeinsamkeiten auf:
Besonders das heutige
Stück mit dem Untertitel
„Die Zeugin“ vermittelt eine sehr dichte
Borsody, Roll mit Kai Maertens (M.) in „Stahlnetz“
Ausschalten
Die MorningShow
Montag, 6.30 Uhr,
Pro Sieben
Wer im Frühtau zu Berge nur höchst ungern
das Fallera schmettert,
hat nun noch mehr
Grund, die Finger von
der Fernbedienung zu
lassen. Denn seit heute
gibt es zum Tagesbeginn eine wochentägliche Comedy-Morgensendung, in der Komiker wie Wigald Boning, Steffen Hallasch- Hallaschka, Jebsen, Boning, Bazman in „MorningShow“
ka und Ken Jebsen als
Bei Aufschlag Mord
schräge Reporter ihre Scherze treiben
Mittwoch, 20.15 Uhr, Sat 1
und Arzu Bazman den Scherzkeksen
Ein Leibwächter (Hansa Czypionka),
den Kaffee kocht. Die Comedy findet
eine ehrgeizige Tennisdame (Katja
solche Frauenrolle komisch.
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Studt), ein cholerischer Onkel (Diether
Krebs) und eine mysteriöse Entführung
– Sat 1 will mit diesem Film (Regie:
Bernhard Stephan) das Match um die
Zuschauer gewinnen. Leider entdecken
nicht nur Sportfreunde schnell, dass
Katja Studt trotz noch so verbissener
Bemühungen dem Publikum nicht
weismachen kann, dass sie wie eine
Spitzenspielerin aufschlägt. Vielleicht
grinst der Leibwächter der Tennisdame
deshalb den ganzen Film über so satt
in sich hinein, die Handlung jedenfalls
erschließt seine stille Dauerfreude leider nicht.
Bärbel Schäfer
Freitag, 15.00 Uhr, RTL
„Ich will deinen Body und nicht dein
Herz!“ Bodysmus – die letzte Religion
nach allen Religionen.
135
OGANDO / LAIF
Intendant Weirich (vor dem Kölner Funkhaus der Deutschen Welle): Schwarzen Peter nach Berlin weitergereicht
DEUTSCHE WELLE
Das Krawall-Konzept
Die Deutsche Welle muss kräftig sparen, doch dagegen wehrt sich Intendant
Dieter Weirich. Im erbitterten Streit mit Schröders Kulturminister
Michael Naumann bleibt eine Frage offen: Welchen Sinn hat dieser Sender?
136
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Drei Tage später, am Mittwoch
vergangener Woche, hat er es sich
anders überlegt. „Ich lege ausdrücklichen Wert darauf festzustellen“, schreibt Naumann dem
SPIEGEL, „dass weder Sie noch
einer Ihrer Kollegen im SPIEGEL
oder aus anderen Medien diesen Satz von mir gehört haben
können.“
Zu spät. Längst schon haben
„Frankfurter Rundschau“ und „Kölner Stadtanzeiger“ die Äußerung
weiterverbreitet, mit der Naumann
den Konflikt um die Deutsche Welle (DW) auf die Auseinandersetzung
zweier Männer mit gesteigertem
Geltungsdrang reduziert.
Der Gegner des Staatsministers residiert
im 31. Stock eines hässlichen Hochhauses
am Rande von Köln: Dieter Weirich, 54,
früherer CDU-Bundestagsabgeordneter
und seit zehn Jahren Intendant der öffentlich-rechtlichen Deutschen Welle, deren gesetzlicher Auftrag es ist, den „Rundfunkteilnehmern im Ausland ein umfassendes
Bild des politischen, kulturellen und wirtT. RÜCKEIS / DER TAGESSPIEGEL
E
ine tolle Erfindung, dieses Online-Suchsystem, das die Deutsche Welle mit EU-Fördermitteln entwickelt hat. Stichwort in den
Computer eingeben, und schon
spuckt die Maschine alle Beiträge
aus, die Europas Rundfunkanstalten
zu diesem Thema gesendet haben.
Wunderbar geeignet, die eigene Bedeutung abzufragen.
„Naumann“, tippt Naumann ein
und lässt die großen, braunen Staatsministeraugen erwartungsfroh auf
dem Bildschirm ruhen. Bingo – ein
Treffer! Leider der Falsche: Naumann, Klaus (Ex-General). Das urlaubsgebräunte Gesicht von Nau- Minister Naumann*: „Ökosteuer für Kurzwelle“
mann, Michael, 57 (Staatsminister
für Kultur und Medien), verdüstert sich. Probleme der Deutschen Welle“, sagt der
Sein segensreiches Wirken ist von den eu- Herr Staatsminister, und ein halbes Dutropäischen Rundfunkanstalten offensicht- zend Journalisten schreibt mit, „lassen sich
auf zwei Punkte reduzieren: Es gibt einen
lich nicht wahrgenommen worden.
Seit über zehn Minuten besucht er nun Sparzwang, und es gibt einen Intendanten.
schon den Stand des deutschen Auslands- Damit ist alles gesagt.“
senders auf der Berliner Funkausstellung,
und es ist höchste Zeit, ein Statement * Am vergangenen Montag am Stand der Deutschen
grundsätzlicher Natur abzusondern. „Die Welle auf der Internationalen Funkausstellung in Berlin.
Medien
Im Sender hat man Weirichs Strategie durchschaut. Bei seinem „KraDie Deutsche Welle, der öffentlich-rechtliche Auslandssender
wall-Konzept“ gehe es ihm ausDeutschlands, beschäftigt derzeit rund 1700 Mitarbeiter aus
schließlich darum, „dass das Blut
70 Nationen in der Kölner Zentrale und in Berlin.
an den Richtigen spritzt“, sagt ein
Mitarbeiter.
Programme
Zwar rufen die Gewerkschaften
DW-Radio seit 1953
650
nun zum Marsch aufs Kanzleramt –
Hörfunk-Programme weltweit in Deutsch und
Gesamtetat der
samt begleitendem Motorrad-Kor631 627
Englisch, regional in 34 weiteren Sprachen von
Deutschen Welle
so. Der Zorn der Belegschaft richtet
Albanisch bis Urdu; Empfang über Kurzwelle
in Millionen Mark
sich aber vor allem gegen den eige606
oder Satellit
600
nen Chef. Anstatt an der aufgeblähDW-TV seit 1992
ten Verwaltung zu sparen, kürze
581
Informations- und Nachrichtensendungen,
Weirich fast ausschließlich am Pro563
Dokumentationen und Magazine in Deutsch
gramm, mäkelt der Personalrat.
556
550
und Englisch, in Nord- und Südamerika auch in
546
Auch im Kanzleramt wird WeiSpanisch; Empfang über Satellit und Kabel
richs Schnellschuss eher als Arbeitsverweigerung denn als ernst
DW-online seit 1994
Kürzung gegenüber
zu nehmendes Angebot gesehen.
Internet-Angebot mit Programmvorschau,
500
dem Haushalt 1999
Abteilungsleiter Nevermann rechInformationsseiten und der Möglichkeit DWnet fest damit, dass sich der kalBeiträge zu laden („Audio- und Video-on-Demand“)
–25 –43 –50 –60 kuliert aufgebrachte Intendant bis
Millionen Mark
zur Sitzung von Verwaltungs- und
450
Rundfunkrat am 6. Oktober – ebenso kalkuliert – wieder beruhigt.
1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003
Schließlich weiß auch Weirich,
dass seine Unions-Parteifreunde in
schaftlichen Lebens in Deutschland“ zu das einen „Angriff auf die Freiheit und den Aufsichtsgremien die Mehrheit verUnabhängigkeit der Presse“ witterte.
loren haben.
vermitteln.
Dass aus den Kürzungen „ein in
„Die Weirich-Vorlage wird das Licht der
Mit einem Etat von über 600 Millionen
Mark und 1700 Mitarbeitern produziert die der Geschichte des öffentlich-rechtlichen Welt nicht erblicken“, sagt Bremens StaatsDeutsche Welle Radioprogramme in 36 Rundfunks bisher einmaliger Vorgang rat Erik Bettermann (SPD), der als Vertreverschiedenen Sprachen (von Albanisch wird“ – wie Weirich in einem Brandbrief ter des Bundesrates dem DW-Verwalbis Urdu), einen Fernsehkanal (in Deutsch, an die „lieben Kolleginnen und Kollegen“ tungsrat angehört. Und: „Man muss ihn
Englisch und Spanisch) und ein aufwendi- schäumt –, dafür sorgte der Intendant frei- dazu bringen, diese polarisierenden Spielges Online-Angebot. Im Gegensatz zu lich höchstpersönlich: Als bekennender chen aufzugeben.“
Selbst der langjährige VerwaltungsratsARD und ZDF wird der Sender nicht durch Nahkämpfer ersann er gemeinsam mit seiGebühren, sondern durch den Bundes- nen Direktoren einen Sparplan, der Politi- vorsitzende Franz Schoser, der der Union
zugerechnet wird, mahnt – von
haushalt finanziert – und ist damit Opfer kern und Mitarbeitern einen
maximalen Schrecken einjagen „Der Sparplan den Streitigkeiten zwischen
der Berliner Sparpolitik.
Auf dem Schreibtisch von Naumanns soll: Gleich 745 Arbeitsplätze soll Politikern Naumann und Weirich dauerhaft genervt – zur Vernunft:
Kultur-Abteilungsleiter Knut Nevermann will Weirich an den Standorten
und
muss es heißen: runter
schrumpft das Problem DW auf eine Ma- Köln und Berlin einsparen – darMitarbeitern „Jetzt
von den Bäumen und über ein
thematikaufgabe zusammen. Wenige Zei- unter 163 Festangestellte.
einen
mittelfristiges Konzept nachgeMit feinem Gespür für die
len unter dem Etat fürs Egerland-Museum
maximalen
dacht. Wir brauchen keinen
(500 000 Mark) oder den ostdeutschen Ga- außenpolitische Tagesordnung
Schrecken
kurzfristigen Krisenplan.“ Den
lerien (null) stehen jene Zahlen, die den setzte Weirich genau dort den
einjagen“
benötigt man allenfalls für die
Mitarbeitern des Senders seit Monaten den Rotstift an, wo er mit lautem Wiinformellen Treffen, bei denen
Schlaf rauben: 606 Millionen für dieses derspruch rechnen konnte. So
Jahr, nur noch 546 Millionen für 2003. „Ge- sollen ausgerechnet die Hörfunksendun- viel Zeit dafür aufgewandt wird, Naumann
nau so viel weniger“, freut sich Never- gen in Polnisch, Tschechisch, Slowakisch und Weirich auf Distanz zu halten. Schomann, „wie vom Finanzminister vorge- und Ungarisch eingestellt oder reduziert ser: „Ich weiß auch nicht, warum die sich
werden – was hinsichtlich einer Osterwei- so verharkt haben.“
schrieben.“
Wahrscheinlich wissen sie es selbst nicht.
Hans Eichel dürfte also zufrieden sein, terung der EU besonders wenig Sinn
dafür hat Gerhard Schröders Naumann macht. Außerdem auf Weirichs Abschuss- Mit der Sache hatte es auf jeden Fall wenun den DW-Intendanten Weirich am Hals liste: Programme für Indonesien, Albanien nig zu tun – von Anfang an. So schwadro– und gegen den ist der Finanzminister ein und Serbien, allesamt Krisenregionen, in nierte Naumann bereits in einer Bundesdenen kein freier Informationszugang tagssitzung am 2. Dezember vergangenen
Ausbund an Gemütlichkeit.
Jahres über „solare Flecken“ und eine
„Offen und direkt (Nahkämpfer)“, ant- gewährleistet ist.
Prompte Proteste sind Weirich hoch will- Ökosteuer für Kurzwellen-Transmitter.
wortete der kettenrauchende Senderchef
Auf die Frage nach dem TV-Programm
vor vier Jahren auf die Frage des „FAZ- kommen: Sie ermöglichen es ihm, den
Magazins“ nach seinem Hauptcharakter- Schwarzen Peter umgehend nach Berlin der DW wusste er von einer „Dekultiviezug („Wie möchten Sie sterben?“ „In den weiterzureichen. So ließ er den wegen der rung“ zu berichten – „um es einmal ganz
Sielen“). Dieser Selbsteinschätzung ver- Streichungen im spanischsprachigen Pro- krass auszudrücken“. Jedenfalls habe er
gramm protestierenden Botschafter von das „aus der Deutschen Welle und übrigens
sucht er nun gerecht zu werden.
„Naumann nutzt die Deutsche Welle als Venezuela wissen, dass er dessen Unmut auch von Schriftstellern gehört“.
Schon einen Monat zuvor hatte SchröSteinbruch für neue Subventionen im Kul- teile, aber – leider, leider – durch Nauturbereich“, poltert der Intendant – se- mann zu „radikalen Schritten“ gezwun- ders Mann fürs Kulturelle auf einer Podiumsdiskussion Bemerkenswertes zu bekundiert vom CSU-Organ „Bayernkurier“, gen sei.
Neue Spar-Welle
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137
richten: Die Äthiopien-Redaktion der – rechtlich fragwürdige – Zusammenarbeit
Deutschen Welle („wunderschöne Men- mit ARD und ZDF.
schen“) habe mit ihren Sendungen auf KosDabei hatte der ARD-Vorsitzende Peter
ten des deutschen Steuerzahlers den da- Voß bereits vor Wochen klargestellt, man
maligen Kaiser Haile Selassi gestürzt. Im wolle nicht den finanziellen Lückenbüßer
Übrigen übertrage die DW eine halbe spielen, um Etatprobleme des Bundes zu
Stunde täglich Sendungen in Sanskrit, ei- kompensieren.
ner Schriftsprache: „Man könnte genauso
Auch bei den anderen öffentlich-rechtligut auch Maya-Hieroglyphen versenden.“ chen Anstalten hält sich – aus Sorge um das
DW-Intendant Weirich wies die Behaup- pralle Gebührensäckel – die Begeisterung
tungen in einem Brief erbost zurück – und für den Auslandsfunk in überschaubaren
reizte den Bildungsbürger Naumann damit Grenzen. ZDF-Chef Dieter Stolte könnte
umso mehr: „Über Sanskrit müssen Sie sich zwar eine umfangreichere Programmmich nicht belehren…Ihre Behauptung, die zulieferung vorstellen, macht aber deutPhonetik von Sanskrit sei identisch mit der lich, dass attraktive Sendungen auch entvon Hindi, ist spekulativ. Wir wissen auch sprechend teuer sind. Und dem NDRnicht, wie die Römer gesprochen haben.“
Intendanten Jobst Plog schwebt gar ein
Naumann, der in den
sechziger Jahren als freier
Mitarbeiter bei der Deutschen Welle gearbeitet hatte, legte sich auch weiter
keinerlei Zurückhaltung auf.
Mal bezeichnete er den Sender als „eine der teuersten
und größten Rundfunkanstalten in Europa“ (Weirich:
„In der Liste der 20 größten
Sendeanstalten Europas tauchen wir gar nicht auf“),
dann wieder bezichtigte er
den Intendanten, viele Bereiche in GmbHs ausgliedern zu wollen.
„Vermutlich haben Sie die Radiohörer (in Afrika): Sendungen in 36 Sprachen
Deutsche Welle mit dem
Mitteldeutschen Rundfunk verwechselt“, paneuropäischer TV-Kanal vor, zu dem
mutmaßte der Verwaltungsratsvorsitzende die Auslandssender des Kontinents verFranz Schoser in einem Brief an den Kul- schmelzen sollen – ein bürokratischer Koturbeauftragten.
loss der Sonderklasse.
Den jüngsten Fauxpas lieferte Naumann
Schließlich legte eine gemeinsame Aram Dienstag vergangener Woche in Ber- beitsgruppe, besetzt mit Vertretern von
lin. Ihm sei es völlig egal, ob an der DW- ARD, ZDF und DW, Ende Juni ein Konzept
Spitze ein CDU-Mann stehe, sagte der vor, das einen gemeinsam gestalteten TVStaatsminister. Der Sparzwang sei schließ- Auslandskanal vorsieht, der sich an Toulich nicht parteipolitisch motiviert. „Von risten, Auslandsdeutsche und – selbstvermir aus kann der Intendant auch in der ständlich – „die Eliten von Politik, Kultur
DVU sein“, zitiert ihn der Berliner „Ta- und Wirtschaft der Bestimmungsländer“
gesspiegel“.
richtet. Was die mit volkstümlichen ZDFDer Ego-Streit der beiden „Brummkrei- Serien wie „Der Landarzt“, „Unser Lehrer
sel“ (Verwaltungsrat Bettermann) verhin- Dr. Specht“, „Schlosshotel Orth“ oder der
dert bisher, dass man sich gemeinsam Ge- windigen Teenie-Klamotte „Die Stranddanken über ein vernünftiges Konzept zur clique“ anfangen sollen, lässt das ThesenZukunft des Auslandsrundfunks macht – papier offen.
in Zeiten knapper Kassen.
Fraglich ist auch, ob sich die beiden
Welche Aufgabe kann er erfüllen, wenn Kontrahenten Weirich und Naumann tatdie Zuschauer in aller Welt ohnehin bald sächlich dazu durchringen können, geARD und ZDF über Satellit empfangen meinsam an der Zukunft der Deutschen
können? Wer soll mit den Auslandspro- Welle zu arbeiten.
grammen erreicht werden: die Eliten oder
Mit Naumann habe sich Schröder
die Massen? Und welchen Sinn macht ein schließlich bewusst einen „bunten Vogel“
Fernsehprogramm, das schon aus Budget- ins Kabinett geholt, sagt sein Mitarbeiter
gründen (Branchenspott: „CNN light“) Nevermann. „Er kann doch kein Interesse
qualitativ weit hinter den Weltkanälen daran haben, dass aus Naumann jetzt ein
CNN und BBC zurückbleiben muss?
Brathähnchen wird.“ Nevermann denkt
Auf diese Fragen gibt es bisher keine kurz nach – von seiner eigenen FormulieAntworten, stattdessen wird ein Sammel- rungskraft berauscht. „Poularde“, sagt er
surium von Vorschlägen debattiert, darun- dann, „Poularde ist noch besser.“
ter ein Notgroschen für die DW oder eine
Oliver Gehrs, Konstantin von Hammerstein
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F. STARK / DAS FOTOARCHIV
Medien
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Medien
Stabreim und
Stutenkrieg
Ex-„Bild“-Chef Peter Bartels
will der Sexpostille „Neue
Revue“ zu neuer Illustriertenherrlichkeit verhelfen – mit
Politprosa und Tiergeschichten.
N
eulich hat sich Peter Bartels wieder ärgern müssen. Als er am Flughafenkiosk nach der „Neuen Revue“ suchte und sie nicht zwischen
„Stern“ und „Bunte“ fand, sondern wie
gehabt in der Ecke mit den Schmuddelblättchen.
Obwohl doch keine halbnackte Frau den
Titel schmückte, sondern ein respektabler
Coverboy. „Es ist mir ein Rätsel, wie man
den Kennedy zwischen all die Brüste
stecken kann“, wundert sich der ehemalige „Bild“-Chefredakteur.
Der hatte die „Neue Revue“ erst im Mai
übernommen – mit dem Auftrag, dem über
Jahrzehnte zum bedeutungslosen Sexheftchen verkommenen Traditionstitel aus
dem Bauer-Verlag zu alter Illustriertenherrlichkeit aufzuhelfen. In seinen besten
Tagen verkaufte das Blatt mit einer Mischung aus politischen Reportagen, Sex
und Crime bis zu 1,7 Millionen Exemplare
– danach ging’s bergab. Erfolglos versuchte man mit bumsfidelen Rubriken wie
„Rudi Rammlers Rüttelreimen“ gegen die
Konkurrenz zu bestehen. Im Laufe der Jahre schrumpfte der Absatz
auf derzeit rund 360000 verkaufte Exemplare. Das Anzeigenaufkommen tendiert
gar gegen null.
Den wohl letzten Versuch, das Blatt neu zu positionieren, wagt nun der
Boulevard-Rambo Bartels.
Der tunkte einst die „Bild“Zeitung gemeinsam mit
Hans-Hermann Tiedje in
Schwarzrotgold und machte mit schlichten Schlagzeilen wie „Jaaa! Deutschland balla, balla!“ ordentlich Auflage. Nach Querelen mit
Tiedje zog Bartels samt 4,5 Millionen Mark
Abfindung zum Ossi-Krawallblatt „Super“.
Einer der letzten ganz großen Krachmacher also, dessen bloße Nennung in der
„Neue Revue“-Redaktion bereits im Früh-
Für derartige Stammeleien ist unter anderem Bartels Spezi Reginald Rudorf zuständig, im Hauptberuf Chefredakteur des
Medien-Dienstes „rundy“, in dem die neue
„Neue Revue“ bereits als „journalistisch
perfekt“ gewürdigt wird.
Beim Stopfen der „Lücke zwischen
‚Stern‘ und ‚Bunte‘“ (Bartels) hilft neuerdings auch ein Tierarzt aus der Lüneburger Heide, der die Leser darüber aufklärt,
ob „Hühner Pipi machen“ und, wenn ja,
wie. Auch was galoppiert oder erhaben
in der Savanne herumsteht, bekommt
viel Platz eingeräumt. So gibt es im hinteren Teil des Heftes Neues aus der Welt der
Büffel und Zebras – praktisch für die
Großwildjäger unter den Lesern, also
zum Beispiel für Bartels selbst.
Quasi als Allzweckwaffe fungiert der
„Bild“-Fernsehkritiker Josef Nyary, der für
„Neue Revue“ exklusiv an und unter der
Gürtellinie arbeitet. Da werden aus
Fernsehmoderatoren „SpaßSpastis“, die „herumzappeln,
als säße Michael Jackson auf
dem elektrischen Stuhl“. Für
Bartels „köstlichster Lesestoff“, den er der Redaktion
schon mal als Lehrmaterial
empfiehlt.
Die steht dem Krawallkurs
von Bartels’ betagtem Freundeskreis eher skeptisch gegenüber. Zum einen fürchtet
sie angesichts der wöchentlichen Verbalausfälle die Rache
der Promis, zum anderen fühlt
sie sich seit Bartels’ Amtsantritt schlichtweg überflüssig.
„Der haut zwar jedem hier auf
die Schulter, nimmt aber niemanden ernst“, sagt ein Redakteur, dem es zu peinlich ist,
sich mit „Neue Revue“ am Telefon zu melden. Bauer Verlag
klingt besser.
Bartels ficht die Kritik nicht
an. Solange er die Krankengeschichte von Raissa Gorbatschowa vor „Bunte“ und
Chefredakteur Bartels: „Wie eine Bazooka“
„Gala“ im Blatt hat, kann so
Agitation („Grün, rot, tot“), Tier- viel nicht falsch laufen. „Wir haben uns
geschichten und Frontberichten von der alten Tittentradition verabschieaus dem „Stutenkrieg zwischen det“, frohlockt der spät berufene MagaVerona & Naddel“, der Ex- und zinmacher und prophezeit gar „ein Revival
der gegenwärtigen Gespielin von Popgröße der Wundertüte“. Immerhin ist die steile
Abwärtsbewegung der Auflage einem ZickDieter Bohlen.
Wo früher die nackten Pärchen von ne- zackkurs gewichen. Ausschläge nach oben
benan in den Nahkampf gingen, darf nun signalisieren dem verunsicherten Verlag:
die Ex-Grüne Jutta Ditfurth ihren einstigen Das Blatt zuckt noch.
„Die Auflage interessiert im Augenblick
Parteifreunden „einen Geruch von Verwesung“ attestieren und so für ein bisschen nicht“, macht sich Bartels Mut – in zwei
Wirbel im Sommerloch sorgen. Die Dit- Jahren aber will er den Verkauf am Kiosk
furth habe „eingeschlagen wie eine Ba- verdoppelt haben. Und wenn er sein Heft
zooka“, freut sich Bartels, der in manchen am Kiosk eigenhändig zwischen „Stern“
Randspalten sogar in Reimform gegen die und „Bunte“ legen muss.
Oliver Gehrs
Regierung schießen lässt: „Morgens pafft
Schröder Havanna, abends kreischt die
Röstel Banana.“
jahr für „Herzflimmern“ gesorgt hatte, wie
sich ein Redakteur schaudernd erinnert.
Umso erstaunter war man, als Bartels,
statt zu brüllen, so leise sprach, als habe er
es mit Schwerkranken zu tun – und im
Halfter am Kroko-Gürtel nur ein Handy
stecken hatte.
Das wahre Erweckungserlebnis aber ereilte die Redaktion wenige Wochen später, als Verleger Heinz Bauer persönlich
durch die Räumlichkeiten schritt. „Früher
haben wir Staub gedruckt“, sagt Vize-Chefredakteur Armin Zipzer – immerhin mehrere Jahre dabei –, aber nun sei „die Luft
wie Superbenzin“. Auch Bartels ist voll des
Lobes. „Ich dachte, ich komme auf ein Totenschiff, statt dessen finde ich starke Ruderer vor. Die durften nur nicht, wie sie
konnten.“
Nun dürfen sie immerhin Bartels Bekannten dabei zuschauen, wie die das Heft
füllen – mit einer Mischung aus politischer
W. GRITZBACH
ZEITSCHRIFTEN
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Werbeseite
Werbeseite
Gesellschaft
Szene
LEBENSHILFE
DESSOUS
Gelassener warten
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ie Wartezeit zu verkürzen sei, darüber wird
immer neu nachgedacht, denn Wartezeit
gilt als tote Zeit. Dass dem nicht so sein muss,
lehrt der Essay „Einer wartet immer“ der Publizistin Emma Godeau (Aufbau-Verlag), deren
Pseudonym als Hommage an Flaubert und Beckett
zu verstehen ist. Die Autorin, die von sich behauptet, den Weg von einer nervösen zur gelassenen Wartenden hinter sich gebracht zu haben,
analysiert typisches Warteverhalten wie hektisches
Telefonieren, unkonzentriertes
Zeitunglesen oder ergebnisloses
Grübeln und sucht Rat in der Literatur, auf der Bühne und im Film.
Bei ihren Streifzügen entdeckt sie
unterschiedliche Archetypen des
Wartens und der darin sich offenbarenden Illusionen: von Flauberts
Emma Bovary, die sich durch einen
Geliebten Erlösung aus ihrem
Ehealltag erhofft, über Tschechows
drei Schwestern, die von einem
erfüllteren Leben in Moskau träumen, bis zu
Becketts Figuren, bei denen Warten zum Selbstzweck geworden ist, da nicht einmal sie mehr
wissen, wer der stoisch erwartete Godot sein
könnte. Im Italo-Western „Spiel mir das Lied vom
Tod“ bringt es Charles Bronson auf den Punkt:
„Einer wartet immer.“ Der Essay zeigt, dass sich
wenig geändert hat an der Befindlichkeit der Wartenden – trotz Fax, Handy und E-Mail. Warten
sollte als Chance begriffen werden, lautet der
diskrete Vorschlag der Autorin, denn es biete
Gelegenheit, einmal „guten Gewissens nichts zu
tun“ – nicht einmal zu warten.
Carola Josten, 40, über ihre Berliner
Transvestiten-Bar Carolas Treff
SPIEGEL: Frau Josten, Sie haben in Berlin eine Bar für Transvestiten eröffnet.
Gibt es dafür genügend Publikum?
Josten: Wir haben 40 Stammgäste, jedes
Wochenende kommen neue dazu. Inzwischen rufen auch Geschäftsleute aus
dem Ausland an, die auf Dienstreise in
Berlin sind und kurz mal als Transvestit
Kraft schöpfen wollen. Manche Besucher trauen sich nicht sofort rein, sondern beobachten das Ganze erst mal
skeptisch von außen.
SPIEGEL: Die gehen vor dem Lokal auf
und ab?
Josten: Ja, oder sie bleiben eine Stunde
im Auto sitzen, bis ich auf sie zugehe
und sie hereinhole. Oft sind es Ehepaare, die das mal ausprobieren wollen.
is vor kurzem galt auch für
Unterwäsche: Wer schön
sein will, muss leiden. Es gab
solche, die Männern gefiel, und
solche, die Frauen gern auf der
Haut trugen. Seit das harte
Sprichwort durch das aus den
Vereinigten Staaten importierte Zauberwort „Wellness“ abgelöst wurde, bemühen sich
Designer, aus Strumpfmaterial
Unterwäsche zu entwickeln,
die den Körper nicht malträtiert. Der Konkurrenzkampf
um die sanfteste Art, den weiblichen Körper zu modellieren,
ist hart. Erste Erkenntnis:
Nahtlos muss das Körbchen
sein und weich wie Samt, dann
stellt sich ein „unvergleichliches Wohlgefühl ein“ (Wolford, Österreich) oder einfach
ein „neues Gefühl des Wohlbefindens“ (Lovable, Italien).
Das Ziel: Wäsche sollte sich so
wenig bemerkbar machen, dass
man glatt vergisst, dass man
sie überhaupt angezogen hat.
Deutsche Firmen können in
diesem Sinnlichkeitswettbewerb offenbar noch nicht mithalten.
Model in „Wolford“-Dessous
Der Mann hat seine Kleider mit, möchte aber erst wissen, ob es bei uns eine
Garderobe gibt, in der er sich umziehen
kann. Die gibt es selbstverständlich.
SPIEGEL: Die Ehefrau spielt mit?
Josten: Natürlich, meistens schminken
die Frauen ihre Männer.
SPIEGEL: Und dann kommen zwei Frauen da wieder raus?
Josten: Das ist der Sinn der Sache.
SPIEGEL: Sie selbst sind Transvestit, aber
heterosexuell. Was sagt Ihre Freundin
zu Ihrem Hobby?
Josten: Die ist noch ein bisschen unsicher auf dem Parkett. Den Liebsten
mit Perücke und in Frauensachen zu
sehen ist ja auch ziemlich gewöhnungsbedürftig.
Josten
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A. HAUSCHILD / OSTKREUZ
Frau schminkt Mann
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A. HAUSCHILD / OSTKREUZ
H AU P T S TA D T
Unvergleichliches Wohlgefühl
Gäste bei Carolas Treff
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Gesellschaft
S TA S I
„Was habe ich verbrochen“?
Vor 20 Jahren flohen zwei Familien mit einem selbstgebauten Heißluftballon
aus der DDR nach Bayern. Die Stasi rächte sich für die spektakuläre Blamage: Sie schleuste
einen Freund des Ballonpiloten in dessen Firma, die wenig später pleite ging.
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STERN
W. SCHREIBER / INTERNEWS
Die Stasi sorgte dafür, dass Dier wegen marode Unternehmen. Und Strelzyk musser kleine Laden am Ende der Ludwigstraße in Bad Kissingen wirbt „Fluchthilfe“ ins Gefängnis kam. Alles, was te sich einen Job suchen, bei dem er mögmit schlichten Angeboten um mit der Ballonflucht zusammenhing, war lichst viel Geld verdienen konnte, um seiKundschaft. Toaster, Rasierapparate und inzwischen zu einem deutsch-deutschen ne Schulden abtragen zu können. 1986 sieKaffeemaschinen stehen dicht beieinander Politikum geworden. Strelzyk („Lasst end- delte er mit seiner Familie ins schweizeriin der Auslage. Auch gebrauchte Fernseh- lich meinen Freund raus“) intervenierte schen Liestal über.
Die Männerfreundschaft zu Dier hatte
geräte führt Elektro Dier in der Fußgän- bei Bundeskanzler Helmut Schmidt. Der
Bad Kissinger CSU-Abgeordnete Eduard sich mittlerweile eingetrübt, die Familien
gerzone des bayerischen Kurorts.
Hinter der Ladentheke bedient der Chef Lintner, damals deutschlandpolitischer sahen sich kaum noch. Doch dann fiel die
selbst. Jürgen Dier, 57, ein Mann in karier- Sprecher der Union, reiste in die DDR, um Mauer, und Strelzyk beantragte Einsicht
tem Baumwollhemd und mit grauem Voll- Dier öffentlichkeitswirksam zu besuchen. in seine Stasi-Akte.
Anfang 1982 kam Dier frei, wenige MoIrgendwie hatten die Strelzyks immer
bart, nimmt sich Zeit für seine Käufer, ohne
nate später durfte er in den Westen aus- geargwöhnt, dass die Stasi sie auch im Wesihnen etwas aufdrängen zu wollen.
„Man darf sich selbst nicht
so wichtig nehmen“, sagt er,
„immer unauffällig bleiben
und bescheiden.“ So ist auch
sein ganzes Leben in der Provinz: Privat fährt Dier einen
Audi A4 und bewohnt eine
Doppelhaushälfte.
Mit der Unauffälligkeit
dürfte es jetzt vorbei sein: Die
Vergangenheit holt den bescheidenen Geschäftsmann
aus dem ostdeutschen Pößneck ein. Dier spielt die
Hauptrolle in einer der abenteuerlichsten Episoden der
deutsch-deutschen Geschichte – er ist darin Täter und Op- Familie Strelzyk in ihrem Elektroladen (1981), Todesstreifen an der DDR-Grenze, Fluchtballon, Strelzyk-Freund
fer in einem.
Am 16. September 1979 flohen zwei Fa- reisen. Strelzyk, der sich in der Zwi- ten unter Kontrolle hatte. In den dicken
milien mit einem selbstgebastelten Heiß- schenzeit selbständig gemacht hatte, war Bänden der Gauck-Behörde fanden sie die
luftballon aus der DDR nach Bayern. Es glücklich. Er stellte ihn sofort bei sich ein. Beweise. Insgesamt sieben Aktenordner
Dass er sich damit quasi die Stasi ins hatte das MfS über sie angelegt, alles abwar einer der spektakulärsten Wechsel
über die mit Stacheldraht, Minen und Haus geholt hatte, ahnte Strelzyk nicht. geheftet im Operativen Vorgang „Birne“.
Die Passagen über „Diener“ trafen DoSelbstschussanlagen gesicherte Grenze. So- Dier hatte sich im Knast dem Ministerium
gar Hollywood fand die Geschichte aufre- für Staatssicherheit als Inoffizieller Mitar- ris und Peter Strelzyk wie ein Schlag. In
gend und drehte einen Film („Mit dem beiter verpflichtet – das war eine Bedin- Ost-Berlin, Neustadt/Orla, Pößneck und
Wind nach Westen“) über den rund 30 Ki- gung für Freilassung und Übersiedlung in Salzwedel, so steht es in den Akten, hatte
lometer langen Nachtflug der vier Er- den Westen. Als Deckname wählte er sich sich der IM nach seiner Ausreise immer
den Namen „Karl Diener“.
wieder heimlich mit seinen Führungsoffiwachsenen mit vier Kindern.
Ab 1984 berichtete „Diener“ seinen Auf- zieren getroffen und dabei haarklein über
In der Bundesrepublik wurde die waghalsige Flucht zur „Hymne auf die Frei- traggebern in Ost-Berlin über viele Details den geschäftlichen Misserfolg von Strelzyk
heit“ („Süddeutsche Zeitung“) hochstili- im neuen Leben des Ballonflüchtlings. Ne- geplaudert. 120 000 Mark Schulden habe
benher vermeldete er seinen Führungsof- der Flieger nach Aufgabe des Geschäfts gesiert, die Ballonfahrer waren Helden.
Der Osten hingegen empfand den Flug fizieren stolz, er habe es in Strelzyks Elek- habt. Nur Spenden aus der bayerischen
in den Westen als üble Schmach. Die trogeschäft bis zum Geschäftsführer ge- Staatskanzlei von Franz Josef Strauß und
vom Verleger Axel Springer hätten eine
Stasi fahndete nach Helfern und Mitwis- bracht.
Wenig später ging Strelzyks Laden plei- Katastrophe verhindert.
sern und stieß dabei auch auf Jürgen
Auch über intime Einzelheiten wusste
Dier. Der Elektrofachmann war ein Freund te – sehr zur Freude der Genossen, die jevon Peter Strelzyk, dem Initiator der des Scheitern eines Flüchtlings im Westen die Stasi Bescheid. IM „Diener“ lieferte
Ballonreise. Beide arbeiteten im VEB als Beweis der eigenen Überlegenheit pro- Skizzen von der Wohnung und berichtete
pagandistisch feierten. Dier übernahm das über das politische Engagement des DDRPolymer.
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STERN
E. BARTL
schäft sitzt, „aktiv den Niedergang des
Elektroladens betrieben“?
Der Treuebruch des Freundes ist nicht
die einzige Hiobsbotschaft, die von den
Flüchtlingen in ihrer Stasi-Akte gefunden
wurden. Auch Strelzyks Schwester (IM
„Sabine Unger“) und sein Bruder (IM
„Klaus Voght“) haben sich der Stasi zur
Verfügung gestellt. Doch das kann das Ehepaar noch verstehen: Ganz klar, die beiden
seien „unter Druck gesetzt worden“. Dier
aber habe sich im Westen „ohne eigene
Not“ hergegeben, um „eine ganz normale
Familie auszuhorchen“.
Aber der ehemalige Spitzel wehrt sich.
Er könne ja die Enttäuschung verstehen,
sagt Jürgen Dier, natürlich habe „ich versagt, moralisch betrachtet“. Doch was ihm
nun widerfahre, sei ebenfalls „eine RiesenSchweinerei“; er werde fertig gemacht mit
Lügen und Verleumdungen – Methoden,
mit denen auch die Stasi gearbeitet habe.
Dier vor seinem Geschäft in Bad Kissingen: „Wenn ich dem erzählt hätte, was ich gemacht habe, hätte der mich platt gemacht“
Flüchtlings. Er informierte die Stasi, dass
Strelzyk „große Mengen starken Bohnenkaffee trinkt“, wie viel Alkohol er zu sich
nahm und dass ihn der Magen plagte. Der
Ballonfahrer beabsichtige, nach Südafrika
überzusiedeln, wo er mehr Geld verdienen könne.
Auch beruhigende Kunde hatte der IM
für Ost-Berlin. Strelzyk, so seine Botschaft,
sei dank seiner psychisch miserablen Verfassung „nicht in der Lage, Vorträge über
seine Ballonprovokation zu halten oder
anderweitig öffentlichkeitswirksam in Erscheinung zu treten“.
Strelzyk hat den Verrat bis heute nicht
verkraftet. Dier, so glaubt er, habe aus
„enormer Geldgier“ gehandelt – und um
sich an ihm zu rächen. Sein ehemaliger
Freund habe ihm immer übel genommen,
dass er wegen der Ballonflucht ins Gefängnis gekommen sei.
Seit er seine Stasi-Akte gelesen hatte,
hat Strelzyk einen bösen Verdacht: dass
sich „Diener“ bei ihm eingenistet habe, um
ihn im Auftrag der Stasi zu ruinieren. Als
Beleg dient ihm dafür ein Plan des Ministeriums für Staatssicherheit. Darin heißt
es, dass Dier, „auf die Geschäftstätigkeit
der Firma des Strelzyk derartig Einfluss
nehmen wird, dass es spätestens im Jahre
1985 zu einem Konkurs mit den ungünstigsten Bedingungen für Strelzyk kommt“.
Strelzyk erinnert sich an seltsame Dinge: Nachdem Dier bei ihm angefangen hatte, habe auf einmal Geld in der Kasse gefehlt. Auch hätten sich hohe Benzinrechnungen in den Büchern gefunden, die
durch Diers „private Spritztouren“ verursacht worden seien.
Strelzyk kehrte nach der Wende in seine thüringische Heimat zurück und arbeitet dort als Vertreter eines Kunststoffmaschinen-Herstellers. Ihn quält nach wie vor
die Frage: War die Pleite von Bad Kissingen nur eigenes Unvermögen, oder hat der
Mann, der noch heute in seinem alten Ged e r
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„Fakt bleibt doch“, dass er wegen
Strelzyk zwei Jahre gesessen habe. Im Gefängnis sei auch er massiv unter Druck gesetzt worden. Mitmachen oder seine Familie aufs Spiel setzen, sei damals seine
Alternative gewesen.
„Ich hatte immer Angst“, beteuert Dier,
vor der Stasi im Osten wie im Westen, später auch vor dem Zorn des unberechenbaren Freundes. „Wenn ich dem erzählt hätte, was ich gemacht habe, hätte der mich
platt gemacht“, sagt er leise und holt einen
Ordner mit Bilanzen und Verträgen aus der
untersten Schublade seines Schreibtisches.
Die Dokumente sollen belegen, dass nicht
er für den Ruin des Ballonfliegers verantwortlich ist.
Als er nach Bad Kissingen gekommen
sei, habe Strelzyk schon 500 000 Mark
Schulden gehabt. Als Geschäftsführer, so
sieht Dier die Dinge, hätte er im Namen
von Strelzyk einen vernünftigen Vergleich
herausgehandelt. Zum Preis von rund
155
100 000 Mark habe er seinem in Not geratenen Arbeitgeber schließlich die Firma abgekauft.
Dann kommt der Satz, den (fast) jeder
ertappte Stasi-Spitzel sagt: „Was habe ich
denn verbrochen? Ich habe ihm nicht geschadet, habe mir eher auf die Zunge gebissen, als ihn in die Pfanne zu hauen.“
Und wie alle Zuträger der Stasi hoffte er,
dass die von ihm angefertigten Berichte
vernichtet worden seien – vergeblich.
Als sich Dier und Strelzyk im Januar
1995 das letzte Mal trafen, war es längst zu
spät für ein Versöhnungsgespräch. Über
die Unterhaltung in einem Restaurant in
Bad Kissingen gehen die Erinnerungen auseinander. Strelzyk berichtet, Dier habe gesagt: „Ich gebe dir Geld, wenn du die Klap-
„Das kann zu meinem
Ruin führen, ich müsste
den Laden aufgeben“
pe hältst.“ Dier behauptet, Strelzyk habe
„120 000 von mir verlangt, sonst würde er
die Sache publik machen“.
Dier zeigt einen Einschreibebrief vom
März 1995 vor. „Konzept zu einer außergerichtlichen Rehabilitierung“ lautet die
Überschrift auf dem Papier, das „eine wirtschaftliche Lösung für die Stasi-Problematik“ fordert. Darin heißt es: Unter „Einhaltung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit mahne ich ein Schmerzensgeld
von 120 000 DM an“. Absender, sagt Dier,
sei Peter Strelzyk aus Pößneck gewesen.
Zwei Monate später kommt eine letzte
Mahnung. Doch Dier „will sich nicht erpressen lassen“. Zwei Wochen nach Ablauf der Frist erscheint im Lokalblatt von
Bad Kissingen eine ganzseitige Enthüllungsgeschichte mit dem Titel: „Die
Stasi, der IM, der Flüchtling“. Den Klarnamen nennt die Zeitung nicht, doch in
Bad Kissingen wissen die Leute, wer gemeint ist.
Lintner, der noch im Bundestag sitzt, ist
auch ein Opfer Diers geworden. Die beiden
freundeten sich an, die Stasi befahl Dier,
ihn auszuhorchen. Dennoch ist Lintner
zurückhaltend: „Natürlich bin ich enttäuscht, aber ich will ihn nicht verurteilen.“ Bis heute kauft er bei Dier ein.
Wirtschaftlich habe er die Attacke von
1995 überstanden, sagt Dier. Doch ihn
treibt die Furcht, ob er so etwas noch einmal überlebt: Doris und Peter Strelzyk haben ein Buch* geschrieben, in dem sie mit
der Stasi und mit IM „Diener“ abrechnen.
Dier: „Das kann zu meinem Ruin führen,
ich müsste den Laden aufgeben.“
Dann hätte die Stasi – später Sieg – ihr
Plansoll übererfüllt.
Udo Ludwig,
Georg Mascolo
* Doris und Peter Strelzyk: „Schicksal Ballonflucht. Der
lange Arm der Stasi“. Ullstein-Verlag, Berlin; 192 Seiten;
39,90 Mark.
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Gesellschaft
ADEL
„Mein Vater wollte das so“
J. RÖTTGER / VISUM
Sie reitet auf internationalen Turnieren, hofft auf einen Start in Sydney und betreibt
Marketing besonderer Art: Prinzessin Haya von Jordanien, Tochter
des verstorbenen Königs Hussein, wirbt um Investoren und Touristen für ihr Land.
gungen für Einzelreiter. „Trotzdem“, sagt
sie, „kann ich es noch schaffen. Ich bin in
einer guten Position.“
Natürlich ist sie das. Sie ist schließlich
Prinzessin und hat ein paar Probleme weniger als gewöhnliche Athleten. Die Pferde
zum Beispiel. Weder der Iraner noch der
Ägypter haben bisher eines, das die Olympia-Norm erfüllt. Wenn das so bleibt bis
zum 1. Januar 2000, sieht Prinzessin Haya
ihre Chance – denn: „Ich habe vier.“
Ein trüber Tag in Mühlen, in der nieselnden norddeutschen Tiefebene; eine
braunäugige, 1,58 Meter große Prinzessin
mit Armmuskeln wie ein Möbelpacker
empfängt im Schockemöhle-Gestüt und
erzählt die traurige Geschichte, wie kurz
vor Falsterbo ihre Pferde eines nach dem
anderen krank geworden sind. Wie sie gezwungen war, den unzuverlässigen „Let’s
Talk About“ zu satteln. Wie sie bewiesen
hat, dass sie eine Kämpferin ist: „Niemand
hat geglaubt, dass ich den Parcours überhaupt zu Ende bringen würde, Paul nicht,
meine Familie nicht. Aber ich kam durch.“
Paul: Das ist Schockemöhle. Die Familie:
Das ist das jordanische Königshaus. Verständlich, dass Veranstalter sie gern mitreiten sehen. 25 ist sie, sehr hübsch und
Tochter des verstorbenen Königs Hussein
und seiner dritten Frau Alija; sie hat einen
Stammbaum, der rund 1400 Jahre direkt
auf den Propheten Mohammed zurückgeht
– so jemand macht sich gut im Starterfeld.
Seit Anfang der neunziger Jahre reitet die
Prinzessin auf internationalen Turnieren;
ihr größter Erfolg war eine Bronzemedaille bei den Panarabischen Spielen in Damaskus vor sieben Jahren. „Ihr Charme“,
schrieb die „Süddeutsche Zeitung“, „übertrifft ihre reiterlichen Erfolge bei wei-
Sportlerin Haya Bint al-Hussein: „Ich bin hier, um Neugierde zu wecken“
gen ist Haya Bint al-Hussein nach Deutschland gezogen. Deswegen trainiert sie im
Stall von Paul Schockemöhle im oldenburgischen Mühlen. Deswegen reiste sie
mit dem störrischen „Let’s Talk About“
nach Falsterbo, wo die Springreiter des Nahen Ostens um ihre Olympia-Tickets
kämpften. Leider holten sich ein Ägypter
und ein Iraner die beiden Startberechti* Mit Halbbruder König Abdullah, Königin Rania und
Bruder Prinz Ali im Juni.
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SYGMA
A
ls Nummer 41 kamen sie ins Ziel: eine kleine, erschöpfte Prinzessin auf
einem großen, widerborstigen Pferd.
Am ersten Hindernis schon hatte „Let’s Talk
About“ verweigern wollen, Nummer zwei
und drei nahm er gerade noch so eben, beim
vierten blieb er stehen: Sehr eindrucksvoll
hat der braune Wallach beim Grand Prix im
schwedischen Falsterbo verhindert, dass
sich seine Reiterin für Sydney qualifiziert.
Da will sie unbedingt hin, zu den Olympischen Spielen im Sommer 2000. Deswe-
Prinzessin Haya, Familie*
Abgesandte der Monarchie
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A. RENTZ / BONGARTS
unter der Armutsgrenze
lebt.
König Hussein hat es 46
Jahre lang regiert, nach Patriarchenart – er ließ mehr
Bürgerrechte zu als viele
Nachbarstaaten, aber er änderte nichts daran, dass der
jordanische König das Recht
hat, Minister zu ernennen
und das Kabinett aufzulösen. Jetzt, nach seinem Tod,
ist sein ältester Sohn Abdullah an der Macht. Der verspricht Reformen, verhandelt mit Staatschefs im Westen um Schuldenerlass und
wirbt für die ökonomische
Zukunft seines Landes. Dasselbe tut seine Halbschwester Haya, nur auf anderem
Parkett.
Sie wisse, sagt die Prinzessin, dass es „ganz und
gar nicht denselben Effekt
hätte, wäre einer meiner
Brüder in Europa als Springreiter unterwegs“. Immer
noch staunen die Leute,
wenn sie eine arabische
Frau in engen Hosen auf
einem Pferd sitzen sehen,
Reiterin Haya, Hengst „Come On“: „Er passt auf mich auf“ das hat sie häufig erlebt:
„Die sagen: Sie müssen aber
tem.“ Aber das macht nichts. Nicht viel modern sein. Wie kommt es, dass Sie das
dürfen?“
jedenfalls.
Man darf alles Mögliche, als Tochter aus
Sie hat einen anderen Job als Kollegen
wie Ludger Beerbaum oder Franke Sloot- königlich haschemitischem Haus. Sie war
haak oder Helena Weinberg, die gewinnen sechs, als sie von ihrem Vater das erste Pony
wollen und können. Bei ihr geht es nicht bekam; mit zwölf ritt sie das erste Pferd aus
bloß um Oxer und Wassergräben. Haya der Schockemöhle-Zucht, später wollte sie
Bint al-Hussein ist nicht nur Athletin, son- Dressurreiterin werden, bis sie merkte, „dass
dern eine Hoheit, die sich nützlich macht: das zu langweilig ist für einen arabischen
„Ich bin hier, um Neugierde zu wecken. Hitzkopf wie mich“. So entschied sie sich
Auf mich, auf mein Land, auf alles, was für den Springsport. Ihr Vater hatte nichts
dagegen, nur sagte er: „Gut. Aber wenn du
Geschäftsleute interessiert.“
Sie ist nicht das erste Mitglied eines Herr- es machen willst, dann mach es richtig.“
Richtig, das hieß: als Abgesandte der heischerhauses, das sich um einen Platz für
Olympia bewirbt, aber sie tut das mit neu- mischen Monarchie. Sie war in England
er Intention. Wenn Albert von Monaco in zur Schule gegangen, hatte in Oxford Poliseinen Vierer-Bob stieg oder Anne von tik, Philosophie und Wirtschaft studiert
Großbritannien aufs Military-Pferd, dann und zog nach Irland zum Trainer Paul Dardiente das ihrem Vergnügen am Sport, sonst ragh, um professionelle Springreiterin zu
nichts. Der Fall Haya Bint al-Hussein liegt werden: „Weil es ein kleines Land ist und
anders. Jordanien braucht PR, braucht In- ein sehr traditionelles. Und weil Darragh
vestoren und Handelspartner, braucht das auf mich aufpassen konnte – ein Mann aus
Erstaunen über diese orientalische Prin- guter Familie, der mir sagen konnte, mit
zessin, die in Europa auf Tour geht und welchen Leuten man sich einlässt im Proüberall mit reizendem Lächeln verkündet: fi-Sport und mit welchen besser nicht. Mein
Vater wollte das so.“
„Jordanien ist ein sehr moderner Staat.“
Stil. Eleganz. Guter Sitz im Sattel. Das
Jordanien – das ist dieses Stück Land
im Vorderen Orient, eingeklemmt zwi- vor allem war wichtig in den Augen des
schen Saudi-Arabien, Israel, Syrien und Trainers Darragh. Kopf hoch, Fersen runter,
dem Irak; abhängig von irakischem Erd- Hände ruhig halten, das predigte er seiner
öl, von israelischem Wasser und vom Wohl- Schülerin. Wenn sie vom Pferd fiel, war das
wollen der USA. Ein armes Land, mit nicht so schlimm – solange das auf damen7 Milliarden Dollar Auslandsschulden, mit hafte Weise geschah. Sie sollte nicht siegen
offiziell 14 Prozent Arbeitslosen und lernen damals, sondern vor allem gut ausmit einer Bevölkerung, die zu 30 Prozent sehen auf dem Pferd. Sie habe immer ge158
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wusst, sagt Prinzessin Haya, „wenn man
gewinnen will, dann muss man die Ärmel
aufkrempeln und kann nicht dauernd daran denken, eine Lady zu sein. Vielleicht
klappt es ja sogar – aber vielleicht endest du
auch auf dem Boden, mit dem Gesicht im
Matsch“.
Sie kauft Pferde auf, gründet ihr „Team
Harmony“, das finanziert wird von einer
Gruppe jordanischer Geschäftsleute, aus
der Tourismusbranche vor allem – Unternehmer, die sich durch die reitende Prinzessin PR versprechen. Sie besucht Turniere, wird bestaunt und befragt und als exotische Neuheit bewundert, aber dann reicht
es bald nicht mehr, dass sie als schlichte
Teilnehmerin dabei ist. „Es wurde Zeit“,
sagt sie, „dass ich nicht nur mitreite, sondern weiter vorn mitmischen kann.“
Deshalb Schockemöhle. Der hat ja nicht
nur Stars wie Sloothaak und Beerbaum
ausgebildet, sondern kann auch mit Amateuren: mit den Saudi-Arabern zum Beispiel, die hat er zur Olympiareife gebracht.
Im Schockemöhle-Stall wird sie nicht umhegt und beschützt wie im Palast und später auch in Irland noch, Prinzessin hier,
Prinzessin da. Mühlen, sagt Haya Bint alHussein, sei „der härteste Trainingsort in
Europa“, und Paul Schockemöhle sagt:
„Ich habe von Anfang an klar gemacht,
dass ich mich nicht um alles kümmern
kann. Es gibt keine Sonderbehandlung.
Das hat sie akzeptiert.“
Jetzt also Deutschland. Das ist für Jordanien „eines der wichtigsten Länder“, ein
bedeutender Markt. Haya Bint al-Husseins
Job ist es, Kontakte herzustellen zu jordanischen Hotelbesitzern oder Schiffsfrachtunternehmern; wie andere für Milchschokolade oder Armbanduhren, so wirbt sie
für ein ganzes Land. Vermitteln will sie, so
sagt sie, „dass ich nicht anders bin als die
anderen Frauen in meinem Land“.
Schwierig, dieses Deutschland. Da spukt
immer noch das Bild der Prinzessin aus
1001 Nacht durch die Köpfe, da wundert
man sich wortreich, dass keine verhüllte
Person mit Scheich und Schleier auftritt.
Da soll sie dauernd erzählen, wie sie gerade kochen, putzen und bügeln lernt in ihrer Mühlener Zweizimmerwohnung. Und
dann kommen ständig diese Fragen über
die Frauenrechte in ihrem Land.
Jordanien, sagt sie dann immer, hat doch
längst schon ein Gleichberechtigungsgesetz verabschiedet. Frauen dürfen wählen
und Auto fahren, sie selbst hat den LkwFührerschein und ist Ehrenvorsitzende der
Transportgewerkschaft, und früher hat sie
in der Jugendliga Fußball gespielt. Frauen
„können alles werden, was sie wollen“, betont die Prinzessin, „im Gericht, im Senat,
in der Politik“.
Aber es gibt noch Überreste aus dem
traditionellen Stammesrecht, den Artikel 340 zum Beispiel, der sich auf die „Tötung aus Ehrengründen“ bezieht. Diese
Vorschrift lässt einen Mann mit milder
Gesellschaft
trifft, so hat sie beschlossen, das als Vorteilzu betrachten: „Jetzt kann mir niemand
mehr vorwerfen, dass ich nicht stilistisch
perfekt geritten bin.“ Sie habe, so sagt sie,
mit „Come On“ einen Kompromiss ausgehandelt: „Ich
lasse ihn ausschlagen. Er lässt
mich reiten.“
Bei der Olympia-Qualifikation im Juli in Falsterbo war
der Hengst leider nicht einsatzfähig, bei den Panarabischen Spielen im August, die
zu Ehren des verstorbenen
König Hussein in Jordanien
stattfanden, war er auch noch
nicht so weit. So muss sie zufrieden sein mit dem vierten
Platz der Jordanier im Nationenpreis.
Sie muss hoffen, dass
„Come On“ bald wieder fit ist,
denn ein bisschen Erfolg
braucht sie schon. Wenn sie
Sydney vollends abschreiben muss, wenn
sie bei den wichtigen Ereignissen nur kläglich abschneidet, dann wird sie ihr wichtigstes Ziel nicht erreichen. Und das ist,
sagt Haya Bint al-Hussein, „dass ich bekannt werde als Frau aus meiner Region,
die es wirklich geschafft hat im internationalen Sport. Und nicht als eine Prinzessin,
die gescheitert ist“.
Barbara Supp
P. BISCHOFF
Strafe oder straffrei davonkommen, wenn perten fanden. Obendrein hat er eine üble
er seine Frau beim Ehebruch erwischt und Gewohnheit: Er schlägt aus.
tötet. Er schützt auch einen Bruder, der
„Das macht Spaß“, sagt die Reiterin und
seine Schwester umbringt, weil sie verge- lächelt fein. „Jeder sagte: Das ist verrückt.
waltigt worden ist. Der Artikel soll jetzt, möglicherweise,
abgeschafft werden, Frauengruppen kämpfen seit langem
darum, Prinzessin Haya kommentiert das lieber nicht:
„Das ist ungeheuer kompliziert.“
Sie darf, das weiß sie,
„nicht Partei sein“. Sie muss
sich zurückhalten, muss aufpassen, dass sie die Menschen
zu Hause im Palast nicht
zu sehr erschreckt. Sie darf
nicht zu europäisch werden,
sie hat sich ja schon verändert. „Ich bin nicht mehr
so höflich und abwartend,
sondern kann eine ausgewie- Hussein-Besuch im Schockemöhle-Stall*: „Mach es richtig“
sene Nervensäge sein, wenn
ich etwas brauche, und man gibt es Und jetzt?“ Jetzt schwärmen die anderen
mir nicht.“
mit ihr vom perfekten Galopp des SchimGelegentlich gestattet sich die Prinzessin mels, von der Sprungkraft, der eleganten
kleine Rebellionen, die Vorliebe für „Come Statur.Von seinem Charakter, sagt die PrinOn“ beispielsweise, von dem fast sämtliche zessin, der so sanftmütig sei: „Er passt auf
Fachleute ihr abgeraten hatten. Das ist mich auf.“ Was das lästige Gezappel bedieser 14-jährige Schimmelhengst, ein riesiges Tier, das „überhaupt nichts für * Tochter Haya, Vater König Hussein, Trainer Paul
eine Amazone“ sei, wie wohlmeinende Ex- Schockemöhle im April 1998 in Mühlen.
Werbeseite
Werbeseite
Ausland
Panorama
OSTTIMOR
Chaos auf der
Kaffee-Insel
AP
ndonesiens Armeeführung will nun
doch „unter Umständen einer schnellen Entsendung von Uno-Friedenstruppen“ nach Osttimor zustimmen. Truppen
dafür stehen schon bereit: In der Nähe
der australischen Hafenstadt Darwin trainieren seit Wochen Eliteeinheiten für einen möglichen Einsatz auf der unruhigen
Insel. Bis nach Dili, der Hauptstadt Osttimors, sind es von Darwin gerade 90 Flugminuten. Noch bevor das Ergebnis des
Referendums bekannt gegeben wurde –
78,5 Prozent der Bevölkerung stimmten
für die Unabhängigkeit –, mussten gut 500 Pro-indonesische Miliz im Straßenkampf
unbewaffnete Uno-Beobachter mit ansehen, wie pro-indonesische Milizen die Insel erneut mit Terror „Wir werden es rückgängig maüberzogen. Inzwischen bereitet die indonesische Armee eine chen.“ Viele der Milizionäre
große Evakuierungsaktion für bis zu 250 000 Menschen vor. sind ehemalige Soldaten der
Schon vor der Abstimmung hatten die Milizen mit Bürgerkrieg indonesischen Armee, die seit
auf der Kaffee-Insel gedroht – falls sich eine Mehrheit der gut 1975 in einem blutigen Krieg Getöteter Einwohner in Dili
800 000 Einwohner für die Lostrennung von Indonesien ent- die Unabhängigkeitsbewegung
scheide. „Das Referendum ist nichts anderes als eine Ver- niederzuschlagen versuchten. Wenn Osttimor selbständig wird,
schwörung der Uno, um den indonesischen Staat zu Fall zu müssen sie damit rechnen, dass sie für ihr brutales Vorgehen zur
bringen“, erregte sich Milizensprecher Basilio Dias Araujo: Rechenschaft gezogen werden.
E U R O PA
Polen setzt auf den
Kompromiss
Der polnische Wirtschaftsminister Janusz Steinhoff, 53, über die Forderung
seines Landes nach Sonderregelungen
für den EU-Beitritt
soll die Übergangsfrist immerhin 18 Jahre betragen. Mit freier Marktwirtschaft
hat das nichts zu tun.
Steinhoff: Der Bodenpreis in Polen ist
sehr niedrig und entspricht bei weitem
nicht dem tatsächlichen Wert. Dies ist
der einzige Grund für diese relativ lange Frist.
SPIEGEL: Herr Minister, wann wird Polen
Mitglied der EU?
das Jahr 2003. Jede Verschiebung dieses
Termins würde negative Reaktionen der
polnischen Bevölkerung auslösen.
SPIEGEL: Polen verlangt zahlreiche Sonderregelungen und Übergangsfristen.
Der einheitliche Binnenmarkt kann so
nicht funktionieren.
Steinhoff: Wir brauchen in einigen Bereichen Übergangsfristen. Konsequent
zum Beispiel liberalisieren wir den
Außenhandel, obwohl unser Defizit
1999 fast elf Milliarden US-Dollar betragen wird. Wir finanzieren so 440 000 Arbeitsplätze in den EU-Ländern.
SPIEGEL: Für den freien Erwerb von
landwirtschaftlichen Böden in Polen
R. KLIMKIEWICZ / FORUM
Steinhoff: Wir erwarten den Beitritt für
Präsident Kwaśniewski, Steinhoff*
SPIEGEL: Baut Polen Maximal-Positionen
auf, um der EU Konzessionen beim freien Personenverkehr abzupressen?
Steinhoff: Polen führt die Verhandlungen mit dem Willen zum Kompromiss.
* Mit Opel-Generaldirektor Gary Cowger (r.), bei
der Eröffnung einer Opel-Fabrik in Gliwice 1998.
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Ich halte die Furcht vor einer Welle billiger polnischer Arbeitskräfte für unberechtigt.
SPIEGEL: Wie auch die Ängste Polens
über den Ausverkauf seines Bodens?
Steinhoff: Ich will das nicht ausschließen. Beide Seiten fürchten sich vor
großen Problemen.
SPIEGEL: Es gibt sie gewiss in der unproduktiven polnischen Landwirtschaft, in
der immer noch 25 Prozent der Erwerbstätigen des Landes beschäftigt sind?
Steinhoff: Die Umstrukturierung unserer Landwirtschaft wird umso schneller
vorangehen, je größer das Engagement
der EU-Länder ist. Der polnische Staat
kann seine Bauern auch nicht annähernd so stark unterstützen, wie die
EU-Bauern durch Brüssel subventioniert werden. Wir wollen als EU-Mitglied voll gleichberechtigt sein.
SPIEGEL: Das wird zu teuer. Die EUKommission argumentiert, der polnische Landwirt produziere unterhalb des
Weltmarktpreises, brauche also die direkten Einkommensbeihilfen nicht.
Steinhoff: Das akzeptieren wir nicht. Polens Bauern dürfen nicht diskriminiert
werden. Polen muss die gleichen Subventionen erhalten wie alle anderen.
161
REUTERS
I
Panorama
FRANKREICH
Gerangel um Carlos
F
SIPA PRESS
rankreich, Österreich und Venezuela streiten um den in Paris
zu lebenslanger Haft verurteilten Terroristen Ilich Ramírez
Sánchez alias Carlos. Am Donnerstag entscheidet die französische Justiz, ob sie den Venezolaner an Österreich ausliefert – das
ihn wegen der Geiselnahme
der Opec-Ölminister 1975 in
Wien vor Gericht stellen will.
Die Franzosen wären den
lästigen Gefangenen gern los,
können aber mit Rücksicht
auf die Öffentlichkeit einen
zweifachen Polizistenmörder
nicht ohne weiteres an einen
anderen Staat weiterreichen.
Carlos selbst will unbedingt
in Frankreich bleiben. Er hofft
auf seinen größten Fan – Venezuelas Staatspräsidenten Verletzter Terrorist Klein nach Anschlag auf das Opec-Gebäude 1975
Terrorist Carlos (1998)
dient kolumbianischen Guerrilleros,
Drogenhändlern und Paramilitärs als
Korridor zum Schmuggel von Waffen
und Kokain. Washington fürchtet, dass
die Guerrilleros den Kanal blockieren
könnten – durch den auch Tankschiffe
aus Venezuela Öl an die amerikanische
merikanische Kongressabgeordnete
Westküste befördern. Bislang überwaund Drogenexperten drängen darchen die USA das Grenzgebiet von ihauf, auch nach der Übergabe des Panarer Luftwaffenbasis Howard in Panama,
makanals Ende des Jahres Soldaten in
die vertragsgemäß im November gedem mittelamerikanischen Land zu staschlossen werden soll. Der Wunsch der
tionieren. Sie sollen verhindern, dass
Amerikaner, auch nach dem 31. Dezemder kolumbianische Bürgerkrieg auf
ber vor Ort zu bleiben, könnte Panamas
Panama übergreift. Das Grenzgebiet
Präsidentin Mireya Moscoso in BeUSA
drängnis bringen. Moscoso, die erst
1000 km
vorige Woche das höchste Staatsamt
übernahm, hat Nachverhandlungen
Mexiko
Atlantischer
mit den Amerikanern stets ausgeOzean
schlossen. Nun will die neue PräsiPanamakanal
dentin den US-Militärs angeblich
Landepisten in Panama vermieten.
PA N A M A
USA
Amerikaner wollen
Bleiberecht am Kanal
Wahlkampfhilfe für
Hillary Clinton
Panama
Bürgermeister Giuliani, Autor Koch
N
Kolumbien
Brasilien
M. GONZALEZ / LAIF
Pazifischer
Ozean
FOTOS: N. BERMAN / SIPA PRESS (li.); D. OTFINOWSKI
A
Panamakanal
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ew Yorks ruppiger Bürgermeister
Rudy Giuliani, republikanischer
Kandidat für die Senatorenwahl im November 2000, verspürt neuen Gegenwind. Nachdem mit First Lady Hillary
Clinton eine ernsthafte Konkurrentin in
den Kampf um den wichtigen Posten
einsteigen will, hat sich nun Ex-Bürgermeister Ed Koch massiv in den Wahlkampf eingeschaltet. Das New Yorker
Original, das die Stadt von 1978 bis 1989
regierte, warf vorige Woche sein neuestes Buch auf den Markt. Titel: „Giuliani:
Ein abscheulicher Mensch“*. Es enthält
eine Sammlung unterhaltsamster Beschimpfungen, die Kolumnist Koch für
die Boulevard-Blätter „New York Post“
und „Daily News“ verfasste. Einst hatte
UPI
Ausland
UNO
Hugo Chávez, der dem Landsmann per Brief seine Solidarität
versicherte und ihn heimholen
will. Chávez setzt Paris mit Protesten zu: Die Franzosen hätten
Carlos 1994 im Sudan einfach
gekidnappt. Er dürfe zudem
nicht in Wien vor Gericht, weil
das exterritoriale Opec-Gebäude nicht österreichischem Recht
unterliege. Die Wiener bedrängen ebenfalls Paris: Sie wollen
von Carlos wissen, welcher Staat
hinter dem Anschlag 1975 stand.
24 Jahre nach der Tat kennen sie
als Verantwortliche nur den Rädelsführer Carlos und den Deutschen Hans-Joachim Klein. Carlos-Anwältin Isabelle CoutantPeyre zum SPIEGEL über das
Gerangel um ihren Mandanten:
„Nichts weiter als politische Machenschaften.“
Schuldenberg in
Milliardenhöhe
D
en Vereinten Nationen droht Zahlungsunfähigkeit, wenn die säumigen Mitglieder nicht endlich ihre ausstehenden Beiträge – fast drei Milliarden
Dollar – überweisen. Die Weltorganisation selbst schuldete Ende 1998 insgesamt 73 Ländern, die Truppen und Material für Friedensmissionen bereitstellten, über 870 Millionen Dollar. Im Sommer mussten sich Uno-Vertreter Klagen
über Zahlungsverzögerungen, so beim
Aufbau einer Zivilverwaltung im Kosovo, gefallen lassen. Mit Abstand größter
Schuldner (aber auch Beitragszahler) ist
seit Jahren die US-Regierung. Ende Juli
stand sie noch immer mit rund 1,7 Milliarden Dollar in der Kreide. Das sind
etwa zwei Drittel der gesamten UnoAußenstände. Es folgten Japan, Russland und Brasilien. Deutschland ist nur
noch mit rund acht Millionen Dollar
Altlasten aus DDR-Zeiten im Debet.
Die Mitgliedsbeiträge setzen sich aus
Geldern für den normalen Uno-Haushalt, für Tribunale und für Friedenseinsätze zusammen. Manche Staaten,
wie Frankreich, löhnen nur für das „regular budget“ pünktlich. Die USA machen ihre ordnungsgemäßen Zahlungen
schon seit Jahren von einer Reform der
Uno abhängig, insbesondere von drastischen Personaleinsparungen und einer
Neubemessung der Beitragssätze. Sie
wollen ihren Anteil von 25 auf 20 Pro-
Kandidatin Clinton
Koch gegen den schwarzen Mayor David Dinkins gestänkert und sich für
dessen Herausforderer Giuliani stark
gemacht: Dinkins habe die Stadt verkommen lassen. Bald jedoch ging er auf
Distanz zu dem Mann, der die Stadt mit
eiserner Faust regiert und Bürgerrechtler zu Protestmärschen provoziert. Giuliani ist heute für Koch ein kleinlicher
Tyrann, „der seine Gegner zerstören
will und als Kind wahrscheinlich Fliegen die Flügel ausgerissen hat“. Insgesamt: „ein Versager als Bürgermeister“.
Nach letzten Umfragen liegt Giuliani
hinter Hillary Clinton zurück.
* Ed Koch: „Giuliani: Nasty Man“. Barricade Books,
New York; 14,95 Dollar.
Palästinas Fahne über
Ost-Jerusalem?
K
1700
USA
Japan
Russland
Brasilien
Frankreich
Argentinien
296
139
61
28
22
Finanzierung der Uno
Die größten
Schuldner
der Uno
Ausstehende Beträge
in Millionen Dollar
Angaben gerundet
USA
Japan
25,0%
19,9%
Deutschland
9,8%
25,7%
übrige
Länder
Spanien 2,6%
Frankreich
6,5%
5,4% Italien
5,1%
Großbritannien
von PLO-Chef Jassir Arafat bevorzugten Vorort Abu Dis werden sich lediglich einige Ministerien etablieren. Seine
Residenz könnte der Palästinenser-Präsident im heftig umstrittenen Orienthaus nehmen. Im Gegenzug verzichtet
Arafat bis auf weiteres auf die einseitige
Ausrufung eines Palästinenser-Staates.
Die Vereinbarungen über Jerusalem
sind in dem Abkommen vom Freitag
aber noch nicht schriftlich fixiert.
urz vor Beginn des jüdischen Sabbats haben Israelis und Palästinenser doch noch eine Einigung über das
Zusatzprotokoll zum Wye-Abkommen
erzielt. In letzter Minute wurden die
zwei Hauptstreitpunkte geklärt:
Statt der geforderten 400 werden
nun 356 palästinensische Häftlinge
aus israelischen Gefängnissen entlassen; Ende Oktober beginnt die
Endphase der Friedensgespräche.
Auch im Streit um Jerusalem fand
sich offenbar ein Kompromiss: Über
der Aksa-Moschee und der Grabeskirche wird die palästinensische
Fahne gehisst, verwaltet aber wird
der islamische Ostteil der Stadt gemeinsam mit den Israelis. In dem
Aksa-Moschee
A. BRUTMANN
REUTERS
NAHOST
zent kürzen – vor allem zu Lasten der
EU-Staaten. Deutschland liegt schon
jetzt mit 9,8 Prozent auf Platz drei hinter Japan. Inzwischen hat der US-Senat
seine Bereitschaft signalisiert, in den
nächsten drei Jahren gut 800 Millionen
Dollar nachzuzahlen, doch ist die endgültige Entscheidung im Repräsentantenhaus umstritten. Zumindest ein Teilbetrag bis zum Jahresende würde, wie
schon öfter in der Vergangenheit, Washington vor Sanktionen schützen: Länder, deren Schulden zwei Jahresbeiträge
überschreiten, müssen eine Einschränkung ihres Stimmrechts fürchten.
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163
Ausland
INDIEN
Ein Mann für
eine Milliarde
Dramatische Vorzeichen für die Wahlen im volkreichsten
demokratischen Land der Welt: Nach dem Sieg im
Grenzkrieg gegen Pakistan schwappt eine nationalistische
Welle über Indien. Erhält die Aufrüstung mit
Atomraketen Vorrang vor dem Kampf gegen die Armut?
E
unuchen kandidieren, „weil in der
indischen Politik erkennbar beide
Geschlechter versagt haben“. Verbrecher schicken aus dem Gefängnis ihre
Verwandten ins Rennen, um „alle juristischen Fehlurteile dieses Landes zu korrigieren“. Gurus bewerben sich um einen
Parlamentssitz mit dem Versprechen, „jedem Interessierten das Schweben“ beizubringen.
Die alteingesessene Janata-Dal-Partei
will, wie schon 1996, Ornithologen anheuern, die mehreren hundert Papageien politische Slogans eintrichtern sollen, auf dass
die bunten Vögel die wahre Botschaft bis
ins letzte Dorf tragen. Neue Gruppen streiten um das attraktivste Symbol für den
Stimmzettel, das die 48 Prozent Analphabeten beeindrucken könnte – gerade hat
sich bei der staatlichen Kommission jemand die Krawatte als Kennzeichen gesichert. Große Parteien wie die BJP und der
Kongress treten mit ihren traditionellen
Logos an, mit Lotusblüte beziehungsweise
Hand. Sie sind auch sonst weiter: Sie werben mit eigenen Websites im Internet.
Wahlkampf in Indien, dem bevölkerungsreichsten und gleichzeitig ärmsten
demokratischen Staat der Welt: Das ist
Vishnu und Video, Schlangenbeschwörung
und Software; das ist eine Mischung von
Auftritten politischer Clowns und seriöser
Gladiatoren, die in einer karnevalistischen
Show um die Gunst ihres Volkes buhlen.
In diesen Tagen sind 606 Millionen Inder
zum Urnengang aufgerufen. Sie werden aus
Sicherheitsgründen nicht gleichzeitig, sondern vom 5. September bis zum 3. Oktober
– an fünf aufeinander folgenden Wochenenden – aus über 4000 Kandidaten 543 Abgeordnete für die Lok Sabha, das Unterhaus, wählen. Ausgezählt werden die versiegelten Umschläge erst nach der letzten
Stimmabgabe. Spannung bis zum Countdown: Nach dem 6. Oktober dürfte klar
sein, welche Regierung das Milliardenvolk
der Inder ins nächste Jahrtausend führt.
164
Der Wahlsieger von Neu-Delhi muss die
Welt diesmal besonders interessieren: Er
könnte die Weichen für den ersten Krieg
zwischen zwei Atommächten stellen. Seit
ihren erfolgreichen Tests im Mai 1998
gehören Indien und sein Erzfeind Pakistan
zu den Nuklearstaaten. Sie haben sich gerade einen erbitterten konventionellen
Grenzkrieg geliefert. Wie der Abschuss eines pakistanischen Spionageflugzeugs vor
rund vier Wochen durch die indische
Armee zeigt, kann der Konflikt jederzeit
wieder aufflammen. Im eisigen Himalaja
verläuft die „heißeste“ Grenze der Welt.
Wahlhelfer schwärmen aus. Sie bringen
die eng bedruckten Zettel und Urnen mit
Ponys in die abgelegenen Täler von
Kaschmir. Im Kanalland des südlichen Kerala benutzen sie schlanke Boote, in der
Thar-Wüste Landrover. Sie kämpfen sich
durch den Dschungel auf den AndamanenInseln und die Slums der Megastädte Bombay und Kalkutta. Manchmal geht es nur
noch zu Fuß weiter: In einsamen Regionen von Madhya Pradesh ist der Weg zum
Wahllokal bis zu 55 Kilometer weit.
Indiens Ministerpräsident Atal Behari Vajpayee,
Auch 1999 sind in Indien wieder alle Zutaten vorhanden für ein elektrisierendes
Spektakel, für einen Zirkus Nationale.
Doch diesmal wollen die Funken nicht so
sprühen, Veranstaltungen vor allem der
kleineren Parteien sind schlecht besucht.
Mit Apathie dürfe das nicht verwechselt
werden, meint der Sozialwissenschaftler
George Mathew in Neu-Delhi. Er hält es
für möglich, dass die Wahlbeteiligung 62
Prozent wie im Jahr 1998 erreicht – eine
Quote, von der Politiker in den USA nur
träumen können.
Es sind schon die dritten Parlamentswahlen in drei Jahren, und das ermüdet
Gute Aussichten für Vajpayee
Indischer Babyboom
SITZVERTEILUNG im indischen Unterhaus
BEVÖLKERUNG in Millionen
Wahl
1998
274
BJP und
Allianz
145
1999
KongressPartei und
Allianz
1266,8
1500
1477,7
1250
Prognose
CHINA
124
1528,9
sonstige
1000
543 gewählte Sitze
1999
Prognose im August
Allianz:
BJP und
12 weitere
Parteien
1999
322
132
bis
bis
336
146
Allianz:
KongressPartei und
5 weitere
Parteien
sonstige
70 bis 80 Parteien
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750
INDIEN
500
554,8
357,6
1950 60 70 80 90 2000 10
Quelle: „India Today“
d e r
998,1
Quelle: Uno
20 30 40 2050
250
FOTOS: REUTERS (li.); AP (re.)
Konkurrentin Sonia Gandhi (mit Tochter Priyanka): Vishnu und Video, Schlangenbeschwörung und Software im Wahlkampf
selbst die wahlerprobten Inder: Die Menschen lassen sich nicht mehr mit jedem
Seiltrick in die Arena zerren. Viel spricht
dafür, dass die meisten ihre Entscheidung
diesmal frühzeitig getroffen haben. Gute
Nachricht ist das nur für einen – für den
Regierungschef, der nach gerade 13 Monaten Amtszeit im April eine Vertrauensabstimmung im Parlament verlor und seither
ein Interimskabinett führt. Glaubt man den
Berechnungen des Nachrichtenmagazins
„India Today“, steht Atal Behari Vajpayee
mit seiner hinduistisch-nationalistischen
BJP vor einem Triumph.
Die Meinungsforscher trauen der BJP
im Verbund mit ihren Alliierten 330 Unterhaussitze zu. Das wäre ein Fünftel mehr
als bei ihrem knappen Wahlerfolg im März
1998. Der oppositionelle Kongress mit seinen Verbündeten verliert nach diesen Voraussagen einige Mandate und dürfte im
neuen Parlament nur noch mit 140 Abgeordneten vertreten sein. Die anderen Parteien, unter ihnen die Kommunisten, müssen damit rechnen, dass sich ihr Delegiertenanteil stark reduziert. Sie kommen
kaum mehr auf 80 Sitze.
Der Premier ist weit beliebter als seine
Partei; selbst ein Viertel derer, die die Opposition wählen, würden ihn gern als Regierungschef behalten. Intellektuelle und
Analphabeten, Frauen wie Männer aller
Altersstufen feiern ihn wie einen Nationalhelden. Selbst Skeptiker schwören auf
den Politiker, den sie früher für einen gefährlichen Fundamentalisten hielten. Da-
mals grassierte die Angst, eine Hasswelle
gegen die Muslime und andere Minderheiten würde unter seiner Führung über das
Land schwappen und den säkularen Staat
zerstören.
Wer ist dieser Atal Behari Vajpayee, 72,
der es vom Schattenmann zum Supermann
der indischen Politik brachte? Hat er sich
so gewandelt – oder sein Volk?
Drei Gründe könne man für die enorme
Popularität des Premiers nennen, für dessen neuerdings unumstrittenen Status als
seriöser Staatenlenker, sagen indische
Kommentatoren: Kargil, Kargil und Kargil.
Das ist der Ort im Himalaja, den islamistische Freischärler vor vier Monaten mit der
logistischen Hilfe der pakistanischen Armee überfielen. Er liegt in dem Teil des
umstrittenen Kaschmir, der von Indien verwaltet wird. Eine von der Uno seit 1948
geforderte Volksabstimmung in dem
hauptsächlich von Muslimen bewohnten
Gebiet hat Delhi immer verhindert.
Pakistan hat schon zwei ausgewachsene
Kriege wegen Kaschmir gegen Indien verloren. Dass die Kampfhandlungen diesmal
– trotz ihrer Dauer von über 60 Tagen,
trotz mehr als 1300 Opfern – relativ begrenzt blieben, ist Vajpayee zu verdanken.
Er zeigte sich entschlossen bei der Rückeroberung der Gebiete und widerstand der
Versuchung, Landgewinne zu machen, als
die militärische Überlegenheit Indiens klar
wurde. Es war ein Sieg ohne Triumphgeheul: So sah es jedenfalls nach außen
hin aus.
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Innenpolitisch freilich schürte die BJP
den patriotischen Taumel. Ein Erfolgsrezept, das jetzt für die Regierung aufzugehen scheint. Indien ist zwar nicht im Wahlfieber, aber es kocht vor Nationalstolz – ein
Land mit gefährlich erhöhter Temperatur.
Ganz Jodhpur steht Kopf: Er kommt.
Die staubige Metropole im Bundesstaat
Rajasthan ist in ein Meer von Safrangelb
getaucht, die Farbe der Hindu-Partei. „Unsere Nation, unsere Armee, unser Premier:
Dreieinigkeit“, steht auf Wahlplakaten. Sie
zeigen nie eine Mannschaft, sondern immer nur den Ministerpräsidenten.
Vorredner heizen die Spannung an und
versprechen, der hohe Gast werde pünkt-
Intellektuelle und
Analphabeten feiern den Premierminister als Nationalhelden
lich ankommen. Kaum einer nimmt das
ernst, in Indien ist auf wenig so viel Verlass
wie auf Verspätung. Doch dann ertönt
tatsächlich auf die Minute genau Hubschrauberlärm, Türen werden aufgerissen,
ein Raunen geht durch die Menge. Vajpayee steigt aus dem Helikopter herab wie
ein Deus ex Machina. Winkt huldvoll in
die Menge. Befiehlt als erstes, dass die in
der Hitze wartenden Fotografen Wasserflaschen bekommen – ein Gott auch der
kleinen Dinge.
Vajpayee ist kein Volkstribun, der die
Massen aufpeitscht. Er wirkt eher wie der
165
DPA
J. LEIGHTON / NETWORK / AGENTUR FOCUS
muslimischen und den 23 Millionen christlichen Bürgern Indiens machte diese religiöse Spielart des Nationalismus Angst.
Vajpayee praktiziert als Regierungschef
Toleranz, wo das Parteimanifest Intoleranz
predigte. Er verurteilte vereinzelte Übergriffe gegen Christen wie Muslime scharf.
Er stellte den provozierenden Bau eines
Tempels in Ajodhja – eine Forderung
früherer BJP-Parteiprogramme – auf unbestimmte Zeit zurück. An dieser mehreren Religionen wichtigen Stätte hatte 1992
ein aufgehetzter Hindu-Mob eine Moschee
abgerissen und eine anschließende Gewaltorgie gegen Muslime provoziert.
Pragmatisch schob Vajpayee auch das
Wirtschaftsprogramm seiner Partei beiseite. Er pocht nicht mehr auf „Swadeshi“, die
Eigenständigkeit Indiens um jeden Preis.
Mit diesem ökonomischen Konzept sollte
nur ausgesuchten Firmen Zugang zum indischen Markt verschafft werden. Stattdessen schraubte der Regierungschef den
Protektionismus zurück und öffnete die
Pakistanische Kanonen in Kaschmir: 62 Tage Krieg mit über 1300 Opfern
Wirtschaft in vorsichtigen Schritten
nette Onkel von nebenan, in dessen Obhut
auch den Multis.
Nachbarn gern ihre Kinder lassen. Der
Die heimische InLehrersohn hat sich frühzeitig für Politik
dustrie zeigte sich
interessiert. 1942 wurde er wegen Agitain Branchen wie
tion von der britischen Kolonialmacht inder Computertechhaftiert, 1957 schaffte der studierte Jurist
nik durchaus konerstmals den Sprung ins Parlament von
kurrenzfähig. Der
Delhi. Berühmt wurde Vajpayee durch sei„Sensex“, der Akne Gedichte – kaum einer schreibt und
tienindex der Börse
spricht ein so gepflegtes Hindi wie er, savon Bombay, schoss
gen indische Intellektuelle.
seit Beginn des JahIn Jodhpur zischelt es vom Podium, als
res um fast 50 Prohätte der Redner gerade seine zweiten
zent in die Höhe.
Zähne verloren: Das ist Teil des VajpayeeVajpayee würdigt
Geheimnisses. Er spricht so undeutlich und
bei seinem Wahlso leise, dass sich alle anstrengen müssen,
kampfauftritt die
ihn zu verstehen. Und er lässt Gedanken in
politische Konkurder Luft hängen, die das Publikum zu Ende
denken soll – ein Meister-Rhetoriker, der Indischer Atombombentest (im Mai 1998): „Eine Lektion erteilen“ renz keines Wortes.
Erst eine Minute bedie Menschen in seinen Bann ziehen kann.
Wie er etwas sagt, ist allerdings eindrucks- vorragende Ernte. Indien kann sich selbst vor er wieder entschwebt, macht er eine
ernähren. Die staatlichen Devisenreserven Bemerkung, die sich auf die Opposition
voller als das, was er sagt.
Der Premier beginnt und endet mit den haben beachtliche 31 Milliarden Dollar er- münzen lässt: „Die großen Führer für
dieses Land werden auch in diesem Land
„Märtyrern“ von Kargil, die im Kampf ge- reicht.
Aber wie so viele indischen Politiker geboren.“ Eine Spitze gegen die einzige
gen Pakistan „so heldenhaft ihr Leben
ließen“. Das Vaterland werde sich auch verspricht dann auch Vajpayee das Blaue Person, die Vajpayee bei den Wahlen noch
künftig „mit allen Mitteln“ gegen Angrif- vom Himmel: Trinkwasser für alle Dörfer, gefährlich werden könnte: Sonia Gandhi,
fe verteidigen. Sein zweites großes Thema Elektrizität, Schulen. Wie er das schaffen die neue Kongress-Präsidentin mit dem
ist Stabilität: Nur er sei im Stande, eine will, verschweigt er. Ideologisches klam- magischen Familiennamen – gebürtig aus
starke und dauerhafte Regierungskoalition mert er ganz aus, von den Grundsätzen Orbassano bei Turin.
Gandhi, 52, tourt wie ihr großer Gegenzu bilden und damit den Kreislauf der seiner Hindu-Partei ist nicht die Rede.
Kein Wunder, denn Vajpayee ist als spieler in den Tagen vor der Wahl durch
schnellen Neuwahlen zu durchbrechen.
Von einer Alleinregierung der BJP ist nicht Regierungschef deshalb erfolgreich, weil Rajasthan. Der Terminplan für den „Sonia
die Rede – der Premier gibt sich als er ziemlich genau das Gegenteil dessen Blitzkrieg“ (so heißt der Kongress-Wahlmachte, was seine BJP immer gefordert kampf parteiintern) ist noch hektischer als
Brückenbauer und Integrationsfigur.
bei der Konkurrenz. Mehr HelikopterVajpayee muss die Wahrheit nicht allzu hatte.
„Hindutva“ hieß der Begriff für die Vor- Stopps, weniger Redezeit. 40000 Menschen
sehr verbiegen, wenn er von „rosigen ökonomischen Aussichten“ spricht. Nachdem herrschaft der Hindu-Kultur in der indi- haben sich in der Wüstenstadt Sikar zu
noch im letzten November die rapide an- schen Nation. Das BJP-Manifest las sich ihrem Empfang versammelt; das ist einsteigenden Zwiebelpreise die Menschen wie ein fundamentalistischer Gegenent- drucksvoll, aber nicht überwältigend.
Sie kommt im Sari, ganz Landeskind.
auf dem Land so aufbrachten, dass sie bei wurf zum weltlichen und multikulturellen
Regionalwahlen die BJP abstraften, ist die Staatskonzept der Nehrus und Gandhis, Und gibt sich auch so, obwohl ihre KenntInflation 1999 unter zwei Prozent gefallen. das Indien bisher geprägt und zusammen- nisse des Hindi alles anderes als perfekt
Dank eines guten Monsuns gab es eine her- gehalten hat. Vor allem den 120 Millionen sind: „In Indien habe ich geheiratet, hier
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Ausland
starben meine Schwiegermutter Indira
Gandhi und mein Mann Rajiv ihren Opfertod. Jeder Blutstropfen sagt mir: Das ist
mein Land.“ Die Witwe erobert die Sympathien des Publikums – aber deshalb noch
lange nicht seine Stimmen. Viele wollen
nicht begreifen, warum eine politisch unerfahrene, in Italien geborene Frau, die bei
einem Sprachkurs in England zufällig den
Spross der Nehru-Gandhi-Dynastie kennen gelernt hat, Indiens Ministerpräsidentin werden soll.
Gegen den übermächtigen Premier Vajpayee hat sie es schwer. Sie versucht es mit
einem schier unmöglichen Seiltrick: Sie
preist die „Märtyrer“ und Indiens siegreiche Armee, verurteilt gleichzeitig ihren
Konkurrenten aufs Schärfste. Vajpayee sei
für die hohe Anzahl der indischen Opfer
verantwortlich, weil der militärische Geheimdienst den Angriff der Guerrilleros
nicht früher entdeckt hätte. Sicherheitsexperten halten den Vorwurf sogar für berechtigt. Für den Wahlkampf taugt er denkbar schlecht: Die Nation feiert ihren Sieg,
sie will nichts hören von eigenen Fehlern.
Und welchen Trost soll es den Frauen der
Gefallenen bieten, dass ihre Männer ihr
Leben wegen der Schlafmützigkeit der eigenen Landsleute verloren?
Sie spricht leise, gehetzt, fast scheu, als
erfülle sie eine Pflicht, die ihr aufgelegt
Die indische Nation feiert ihren
Sieg über Pakistan und will nichts
hören von eigenen Fehlern
wurde. Sie will die Armen von ihrer Not
befreien, Brunnen graben und Schulen
bauen lassen. Selbstverständlich verspricht
auch sie Stabilität. Kein Wort dazu, wie
sich ihre Wirtschaftspolitik von der Vajpayees unterscheiden würde. Nach 18 Minuten Ansprache ist alles vorbei. Höflicher,
aber distanzierter Beifall begleitet sie zu
ihrem Hubschrauber.
Sonia Gandhi hofft wohl, dass die
notorisch unberechenbaren indischen
Wähler in letzter Minute die Seiten wechseln. Wie eine Siegerin wirkt sie nicht.
Wenn sie bei ihren Auftritten mal liebevoll, mal Hilfe suchend zu ihrem Sohn
Rahul und zu ihrer Tochter Priyanka blickt,
ist zu spüren, dass sie diese Tortur nur der
Kinder wegen auf sich nimmt: Als Kongress-Präsidentin kann sie den politisch
interessierten Youngstern den Weg ebnen.
Sie selbst bewies bisher wenig Gespür für
die Windungen und Winkelzüge der indischen Politik.
Da war ihr Streit mit Sharad Pawar, dem
mächtigen Ex-Chefminister des Bundesstaates Maharashtra. Sie konnte ihn nicht
in den Reihen der Partei halten und muss
nun fürchten, dass Pawar ihr mit seiner
neu gegründeten Partei wichtige Stimmen
abspenstig macht. Dann die peinliche Anbiederung bei Jayalalitha, der zwielichtigen
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Ex-Chefministerin von Tamil Nadu. Im bevölkerungsreichsten Bundesstaat Uttar
Pradesh schließlich, der mit seinen 150 Millionen Einwohnern 85 Unterhaus-Mandate vergibt, fand die Kongress-Vorsitzende
gar keine nennenswerten Partner.
Weil sie nicht wusste, in welchem Wahlkreis sie kandidieren sollte, ließ sie sich
nach langem Zögern in zweien nominieren.
Meinungsforscher halten für möglich, dass
sie sowohl im nordindischen Amethi wie
auch im südlichen Bellary scheitert. Würde landesweit direkt zwischen ihr und Vajpayee als Premier gewählt, läge die Kongress-Kandidatin um bis zu 30 Prozentpunkte zurück.
Ein Erdrutschsieg der BJP könnte gefährliche Folgen haben. Zwar hat sich Vajpayee als Gemäßigter gezeigt, aber die dubiosen Parteiideologen hinter dem Premier
werden im Falle eines totalen Triumphes
nicht mehr lange stillhalten. Sie verlangen
neue Prioritäten in der indischen Politik:
eine sofortige Aufrüstung mit Nuklearraketen, die zu Land und zur See in permanenter Einsatzbereitschaft gehalten werden sollen. Eines ihrer Sprachrohre ist die
Zeitschrift „Panchjanya“, die jetzt öffentlich den Abwurf von Atombomben auf den
Feind forderte: „Wenn Pakistan nicht hört,
müssen wir ihm eine Lektion erteilen.
Wozu haben wir sonst die Bombe?“
Die Scharfmacher haben Vajpayee einen
Spitznamen verpasst: „die Maske“. Als
das wahre Gesicht der BJP sehen sie
sich selbst. Sie haben die militante Hinduisierung Indiens nur hintangestellt, solange sie in Koalitionen eingebunden sind.
Die Ideologen schleusen ihre Leute als Abteilungsleiter ins Innenministerium. Sie
schreiben an neuen nationalistischen
Schulbüchern.
In Uttar Pradesh, wo die BJP regiert,
hatte der Marsch in die Intoleranz schon
begonnen: An den dortigen Schulen sollte
den Kindern ein hinduistisches Gebet aufgezwungen werden – auch den 17 Prozent
Muslimen.
Die Radikalen zählen auf L. K. Advani,
den Innenminister. Er gilt als großer Gegenspieler des Premiers, obwohl er öffentlich jede Meinungsverschiedenheit mit ihm
leugnet. Hinter den Kulissen drängt Advani den Premier, er solle doch um Himmels
willen nicht Indiens Atomwaffenprogramm
international einschränken lassen.
Vajpayee scheint bereit, zumindest den
Teststoppvertrag zu unterschreiben. Er hat
die einmalige Chance erkannt, die eine veränderte weltpolitische Konstellation Indien bietet: Die USA, langjährige Verbündete Pakistans, sind nach der Aggression im
Mai offensichtlich zu einem dramatischen
Schwenk in Richtung Indien bereit.
Washington sieht Islamabad in das Fahrwasser der radikalen Islamisten abgleiten.
Die US-Regierung sucht in Asien auch wegen der immer selbstbewusster auftretenden Volksrepublik China einen mächtigen
Partner. Bill Clinton hat sich in Delhi für
Anfang nächsten Jahres zum Staatsbesuch
angesagt, Indien winken Milliardenkredite
– wenn es sein Atomwaffenprogramm einfriert und auf die Stationierung von Raketensystemen verzichtet.
Indien könnte einen solchen Schub von
außen dringend gebrauchen. Das Volk
wächst so schnell, dass ein sechsprozentiges Wirtschaftswachstum wie 1998 kaum
mehr als ökonomischen Stillstand bedeutet. Ein Meilenstein ist erreicht: In diesen
Tagen wurde nach Uno-Berechnungen der
milliardste Inder geboren. Weil Indiens Geburtenrate noch immer viel höher ist als
die im bevölkerungsreichsten Staat der
Erde, könnte es um das Jahr 2040 sogar
mehr Inder als Chinesen geben.
Noch leben 74 Prozent auf dem Land,
und so spricht viel dafür, dass das Milliarden-Baby in einem Dorf zur Welt kam – in
einem Kaff wie Khetolai.
Die einzige asphaltierte Straße nach
Khetolai geht in einen staubigen Feldweg
über, am Horizont ein paar Steinhäuser,
ein Brunnen, eine Schule. Zwischen halbnackten Kindern traben Ochsen und heilige
Glühende Erde sollte vom
Testgelände gekratzt und durch
ganz Indien geschickt werden
Kühe. Khetolai in Rajasthan ist ein
bisschen besser dran als ein indisches
Durchschnittsdorf. Die hier lebende Glaubensgemeinschaft der Bishnois ist umweltbewusst; die Ur-Grünen verbieten das
Abhacken von Bäumen und haben so ihre
Wasserversorgung gesichert. Khetolai ist
aber aus anderen Gründen ein ganz besonderer Ort, eine Front-Siedlung: Keine
zehn Kilometer von hier detonierte am 11.
Mai 1998 die unterirdische Atombombe.
In den Häusern sind noch viele Risse zu
sehen. Die Armee hat die Menschen an
dem Tag, als die Erde bebte, mit vorgehaltenen Waffen auf den Dorfplatz getrieben.
Keiner erklärte den Bauern, was vor sich
ging. Sie bekamen später einige der Schäden ersetzt – 25 Prozent der Reparationskosten, insgesamt 70 000 Mark für 2000
Menschen. Dass fast alle im Dorf seit den
Detonationen unter Hautkrankheiten leiden, scheint niemanden zu interessieren.
Die Regierung war so stolz, dass
glühende Erde vom Testgelände gekratzt
und durch ganz Indien geschickt werden
sollte. Bauer Hanuman Ram berichtet
von missgebildeten neugeborenen Kälbern.
Er ist ein Patriot, aber ohne Illusionen:
„Was da passiert ist, war vielleicht gut für
unser Land, aber für uns eine Katastrophe.“
Erich Follath
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REUTERS
AP
Polizeiwache vor dem Parlament, Präsident Chávez: Kein Platz mehr für die Abgeordneten
VENEZUELA
Orkan Hugo
Staatspräsident Chávez entmachtet das Parlament
und die Justiz. Sein Volk
ist begeistert.
J
eden Donnerstag erteilt der Comandante Lebenshilfe. Im Fernsehprogramm „Von Angesicht zu Angesicht
mit dem Präsidenten“ nimmt Hugo
Chávez, 45, Anrufe der Zuschauer entgegen. Ein Mann klagt über die bestechlichen Zöllner; eine Lehrerin bittet um Versetzung; eine Mutter will ihren Sohn für
eine Operation nach Kuba schicken. Der
Präsident lässt alle Anrufe notieren und
verspricht Hilfe.
Sechs Stunden pro Woche ist der Comandante auf Sendung. Neben der Fernsehshow hat er noch ein Radioprogramm
und eine eigene Zeitung. In allen Medien
führt „Rambo“, wie er sich gern nennen
lässt, einen Kreuzzug für die „Wiederauferstehung Venezuelas“.
Wenn das rote Klage-Telefon neben ihm
nicht klingelt, liest er aus der Bibel, singt
patriotische Lieder und schimpft auf „korrupte Minister“.
Zum Leitmotiv hat sich der ehemalige
Troupier den Kampf gegen die Vetternwirtschaft gewählt. Wie ein Wirbelsturm
fegt der von den heimischen Medien als
„Orkan Hugo“ titulierte Militär durch die
Institutionen der Republik.
Nach seinem überwältigenden Sieg bei
den Wahlen zu einer Verfassunggebenden
Versammlung Ende Juli hat Chávez damit
begonnen, systematisch alle Gewalt im
Staate an sich zu reißen. Das fiel ihm nicht
schwer. Denn 120 der 131 Mitglieder
zählenden „Constituyente“ sind seine Parteigänger.
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Zunächst unterstellte er das Oberste Gericht einer Kontrollbehörde. Aus Protest
trat dessen Präsidentin zurück. Sie sagte
zum Abschied, das Gericht begehe „Selbstmord, um nicht ermordet zu werden“.
Dann entmachtete die Verfassunggebende Versammlung per Notverordnung
das Parlament. Für die Abgeordneten sei
kein Platz mehr, beschieden die ChávezAnhänger die Politiker. Ob sie ihr Mandat
behalten dürften, hänge vom Ergebnis einer Volksbefragung ab. Die Gesetze macht
nun allein die Chávez hörige Truppe.
Der nächste Schritt zur totalen Machtübernahme ist schon vorbereitet: Die Constituyente arbeitet an einer Notstandsverordnung, die alle Staatsangestellten
zwingen soll, sich einer dauernden „Überprüfung durch das Volk“ zu unterziehen.
Und die Mehrzahl der Venezolaner findet
das offenbar richtig. Umfragen zeigen, dass
Chávez Rückhalt bei 70 Prozent seiner
Bürger hat.
Die Bevölkerung ist der als korrupt verschrieenen Parteien, die seit dem Ende der
Diktatur 1958 das Land regieren, überdrüssig. Politiker und Staatsbeamte haben
den reichen Ölstaat zielstrebig ausgeplündert. Über 80 Prozent der Venezolaner verfügen heute nicht mehr über die Mittel,
ihre Grundbedürfnisse zu finanzieren.
Als Anführer einer Gruppe rebellierender Offiziere hatte Chávez 1992 versucht,
den damaligen Präsidenten Carlos Andrés
Pérez zu stürzen. Doch Pérez entkam
durch einen Seitenausgang aus dem Präsidentenpalast, Chávez wurde zu zwei Jahren Haft verurteilt.
Im Gefängnis plante Chávez dann seine
friedliche Machtübernahme. Während der
Haft wuchs sein Mythos. Im Dezember
1998 wurde er zum Präsidenten gewählt.
Wie Perus Staatsoberhaupt Alberto Fujimori, der die demokratischen Institutionen seines Landes ebenfalls bald nach seiner Wahl im kalten Putsch vom April 1992
aushebelte, will auch Chávez viele Jahre an
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der Macht bleiben. Doch anders als der
Peruaner, der die Wirtschaft mit einer neoliberalen Rosskur sanierte, kann Chávez
nicht auf die Unterstützung durch die Unternehmer bauen.
Seit seinem Amtsantritt sind die Investitionen dramatisch zurückgegangen. Mit einem Gesetzesvorhaben, das Enteignungen
für „soziale Zwecke“ vorsieht, hat der Präsident die Wohlhabenden und potenziellen
Arbeitgeber gegen sich aufgebracht. Hunderttausende Stellen gingen seit Februar
verloren. Weil er den Grenzverkehr ins
Guerrilla-umkämpfte Nachbarland Kolumbien stark einschränkte, hat der venezolanische Außenhandel empfindliche Einbrüche erlitten.
Chávez zieht unermüdlich gegen den
Neoliberalismus zu Felde. Er trifft damit einen empfindlichen Nerv: Nach einem Jahrzehnt der Stabilisierungs-Experimente
schlägt das Pendel in den meisten lateinamerikanischen Ländern nun zurück. Von
Ecuador bis Argentinien herrscht Arbeitslosigkeit; breite Schichten der Bevölkerung
rutschten in Armut ab. Gebannt blicken
die Regierenden deshalb nach Caracas.
Wenn Chávez sich durchsetzt, könnte er
Nachahmer in Lateinamerika finden.
Brasiliens Arbeiterführer Luís Inácio
Lula da Silva ergeht sich ebenso in Lobeshymnen auf den Venezolaner wie Kolumbiens gefürchteter Guerrillaführer Manuel
Marulanda, genannt „Sicherer Schuss“.
Auch zu Fidel Castro pflegt Chávez exzellente Beziehungen.
In seinen Reden appelliert der Populist
an den volkstümlichen Nationalismus der
Venezolaner und ihre Verehrung für den
Befreiungshelden des Halbkontinents vom
Joch der Kolonialherren, Simón Bolívar.
Nun möchte er sein Land in „Bolivarianische Republik Venezuela“ umtaufen.
Doch das geht selbst seinen Anhängern zu
weit. Sie sagen, die Neubeschriftung aller
staatlichen Publikationen und Symbole sei
viel zu teuer.
Jens Glüsing
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W. v. CAPPELLEN / REPORTERS / LAIF
Ausland
Europäisches Parlament in Brüssel: „Das Letzte, was wir gebrauchen können, ist eine hässliche Überraschung“
E U R O PA
Gelbe Karte
für Prodi
Risiko-Kandidaten, von peinlichen Affären umwittert,
erschweren den Start der neuen
EU-Kommission.
G
rillfest der Demokratie: Drei Stunden lang heizten die Abgeordneten
des Europäischen Parlaments (EP)
am vergangenen Mittwoch dem belgischen
Kandidaten Philippe Busquin ein.
Und immer wieder tat der Anwärter auf
das Forschungsressort in der neuen EU-
Kommission den Mitgliedern des Industrieausschusses kund, dass er keine Ahnung habe – weder von seinem künftigen
Fachgebiet noch von den unappetitlichen
Schmiergeld- und Korruptionsaffären seiner wallonischen Sozialisten.
Busquins Hände begannen sichtbar zu
zittern, als er stets nur wiederholte: Die
Vorgänge seien ihm unbekannt oder sie
seien von ihm nicht zu verantworten, er sei
nicht angeklagt worden.
Dann musste der Belgier vor die Tür, die
Parlamentarier fällten ihr Urteil in Klausur.
Die Sprecher der Konservativen, der Grünen, der Liberalen wie der Unabhängigen
hatten schwerste Bedenken.
„Eine ganz klare Mehrheit“, berichtete
der CDU-Abgeordnete Werner Langen,
habe sich gegen die Berufung Busquins gewandt. Aber der Ausschussvorsitzende, der
spanische Sozialist Carlos Westendorp,
weigerte sich beharrlich, in seinem Bewertungsbrief an die Parlamentspräsidentin
von einer Mehrheit gegen den Parteifreund
Busquin zu berichten. Stattdessen schrieb
er, „viele“ Ausschussmitglieder hätten Busquins Befähigung angezweifelt, „viele andere“ hätten ihn jedoch für kompetent gehalten. Deshalb könne er keine Stellungnahme abgeben.
Der Anwärter sei also nicht förmlich abgelehnt worden, folgerte am Donnerstagabend der designierte Kommissionspräsident Romano Prodi, als er im Kreise von
Vertrauten seine Chancen kalkulierte. Laut
EU-Vertrag kann das Plenum des Europäischen Parlaments nur die ganze Kommission akzeptieren oder ablehnen, nicht aber
einzelne Kommissare.
Sicher ist sich Prodi seiner Sache dennoch nicht, obgleich bislang keiner der Nominierten durchfiel. Die vom Europapar-
REUTERS
ter ihres Ministeriums unrechtmäßig an
EU-Subventionen für den Flachsanbau bedienten. Barsch und arrogant wies die konservative Kommissionsnovizin jegliche politische Verantwortung von sich: Ein Untersuchungsausschuss zu Hause habe ihr
Freispruch erteilt. Doch sie verschwieg,
dass jenes Votum von Madrid mit denkbar
knapper Mehrheit durchgepeitscht wurde.
Der spanische Generalstaatsanwalt ermittelt jetzt.
„Die Europäer haben die Skandale einfach satt. Das Letzte, was wir gebrauchen
können, ist eine hässliche Überraschung in
einigen Monaten oder Jahren“, warnt die
linksliberale Abgeordnete Lousewies van
der Laan aus den Niederlanden. An diesem
Montag wird ihr Landsmann, der designierte Binnenmarktkommissar Frits Bolkestein, von den Ausschüssen befragt – auch er ein
Mann mit Vergangenheit.
Bolkestein, ein bekennender Anti-Europäer, hatte noch vor wenigen Jahren sein Amt als liberaler
Fraktionsvorsitzender im
Haager Parlament mit einer bezahlten Tätigkeit
als Pharma-Lobbyist verquickt. Er hatte die niederländische Gesundheitsministerin Els Borst um den
Gefallen gebeten, ein bestimmtes Blutdruckmittel
Kandidat Busquin, designierter Präsident Prodi
auf die Positivliste der
Lasten der Vergangenheit
Krankenkassen zu setzen.
„Davon können wir noch eingeholt wer- Bolkestein rechtfertigte sich mit der Deviden“, warnt die Vorsitzende des EP-Haus- se, was in einer Demokratie nicht verboten
haltskontrollausschusses, die deutsche sei, sei erlaubt.
Ein verschwundenes Protokoll belastet
Christdemokratin Diemut Theato. 30 AltAffären hängen beim EU-Betrugsbekämp- den Amtsantritt des neuen Handelsfungsamt an, und einige davon reichen tief kommissars und französischen Sozialisten
in die Sphäre der kommenden Top-Leute Pascal Lamy. In dem Papier geht es um einen Ablasshandel in Lamys Ära als
der Gemeinschaft.
Die künftige Verkehrs- und Energie- Kabinettschef des früheren Kommissionskommissarin Loyola de Palacio geriet als präsidenten Jacques Delors. Im Januar 1994
ehemalige spanische Landwirtschaftsminis- war einer französischen Exportfirma, die
terin in den Verdacht, sie habe wegge- bei Butterbetrügereien mit Russland und
schaut, als sich die Familien hoher Beam- Polen aufgefallen war, großzügig die fälliA. ROMANELLI / MODUS
lament durchgesetzten Hearings haben, demokratisch vorbildlich für andere Parlamente, Klarheit geschaffen: Auch in der
neuen Kommission sind Risikokandidaten.
Es wird kein Start, frei von den Lasten der
Vergangenheit.
Selbst wenn er den Belgier in seiner
Equipe halte, rechnete der Italiener, bleibe
ihm eine Mehrheit mit den Stimmen der
Sozialisten, der Grünen und auch der Liberalen. Der irische Liberalen-Fraktionschef Pat Cox hatte Prodi signalisiert, man
werde der Mannschaft „die gelbe Karte,
nicht aber die rote“ zeigen, trotz Busquin.
Die deutschen Christdemokraten und die
britischen Tories würden ihm wohl die Zustimmung verweigern; vielleicht bekomme er, so Prodi, etwa die Hälfte der konservativen Fraktion auf seine Seite.
ge Strafgebühr reduziert worden. Zuvor
hatten französische Politiker zu Gunsten
der Firma in Brüssel interveniert, das Kabinett Lamy riss die Sache an sich.
Dem Chefjuristen der Kommission wurde seinerzeit ein Schlüssel aus dem Büro
entwendet, ein anderer Mitarbeiter fand
seine Computerprogramme zerstört vor.
Die EU-Betrugsbekämpfer ermitteln noch
im Butterfall, vergangene Woche wurde
auch der Rechnungshof eingeschaltet.
Lamy will selbst in die Angelegenheit nie
verwickelt gewesen sein. Er habe lediglich
delegiert, sagt er – zuständig waren immer
die anderen.
Mit solchen Argumenten wand sich
bisher auch Busquin aus den belgischen
Parteienfinanzierungsskandalen. Ausgerechnet er soll nun das von Affären gebeutelte Forschungsressort der Französin
Edith Cresson übernehmen und über einen
Etat von fast vier Milliarden Euro gebieten.
Zu seiner Zeit als wallonischer Minister
waren engste Mitarbeiter in der sogenannten Inusop-Affäre ins Visier geraten,
unter anderem wegen Scheingutachten eines Forschungsinstituts, über die sich sozialistische Politiker in Belgien finanzieren ließen. Weil Verjährungsfristen verstrichen waren, wurde Busquin juristisch nicht
belangt.
In den nächsten Monaten wird ein neuer Prozess gegen den Schatzmeister der
sozialistischen Partei in der Schmiergeldaffäre der Rüstungskonzerne Agusta
und Dassault eröffnet. Busquin übernahm
1992 den Vorsitz der wallonischen Sozialisten, sein Schatzmeister ein schwarzes
Millionen-Konto bei einer Luxemburger
Bank. Dass dort Korruptionsgelder geparkt
waren, will keiner gewusst haben.
Im Fall Busquin sind auch Prodi Zweifel
gekommen. Ins Wochenende nach Italien
nahm er Videokassetten von der dreistündigen Anhörung des Belgiers mit.
Gelangt er zu tief greifenden neuen Erkenntnissen über Mängel des Kandidaten,
will er die belgische Regierung um den
Austausch ihres Kommissionsvertreters ersuchen.
Dirk Koch, Sylvia Schreiber
Ausland
RUSSLAND
Märchen für den
Kindergarten
K
reditklau, Geldwäsche, Kumpanei
von Staat und Kriminellen. Den Internationalen Währungsfonds (IWF)
focht das alles nicht an. Trotz der Affäre um
die Schweizer Baugesellschaft Mabetex,
die Korruption im Kreml und die Milliarden-Transfers über die Bank of New York
will IWF-Generaldirektor Michel Camdessus die nächste Kredittranche von 4,5 Milliarden US-Dollar für Russland pünktlich
anweisen. Die schweren Vorwürfe, so sagt
Camdessus, müssten erst mal bewiesen
werden.
Das hört Außenminister Igor Iwanow
gern. Er hat sein Urteil zur Sache längst gefällt: „Bestimmte Kreise, die nicht wollen,
dass unser Land seine ihm angemessene
Rolle als Großmacht in dieser Welt spielt“,
hätten eine monströse Schmierenkampagne inszeniert.
Russische „bisnesmeni“ fanden die Reaktionen ihrer Politiker noch viel zu lasch. Milliardär Boris Beresowski, Mitglied des Jelzin-Clans, der
selbst im Verdacht millionenschwerer Durchstechereien
steht, ließ über seine Zeitung „Kommersant“ erklären:
„Nach der sowjetischen Gefahr
kommt jetzt eine neue Mode
auf – die russische Mafia“, mit
diesem Klischee lasse sich
„gutes Geld verdienen“, wenn
nur lange genug behauptet
werde, die „russische Mafia
und russisches Unternehmertum seien ein und dasselbe“.
Das Volk hat – unbeschadet
aller bitteren Erfahrungen
mit der Moral der Obrigkeit –
keine Freude an der KremlSchelte aus dem Westen. Im
Jubeljahr des 200. Geburtstags ihres Nationaldichters und
-helden Alexander Puschkin
mag es sich an dessen Credo
halten: „Ich verachte mein
Vaterland natürlich von Kopf
bis Fuß. Aber es ist mir unangenehm, wenn ein Ausländer
mein Gefühl teilt.“
* Mit Bank-of-New-York-Großaktionär
Bruce Rappaport (Mitte).
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REUTERS
Die Kreml-Nomenklatura
reagiert auf den Moskauer
Milliarden-Skandal: mit
Propaganda gegen die Ermittler.
Ermittler Wolkow, Kollegin Del Ponte
Ein Zimmer voller Akten
Dabei sind gewisse Grundtatbestände
unter Kennern nicht strittig. Es darf als verbürgt gelten, dass gigantische Summen illegal aus Russland abgeflossen sind und
dass die russische Zentralbank einen Teil
ihrer Devisenreserven auf der Kanalinsel
Jersey parkte.
Kein Zweifel auch, dass die Einlassungen des schwer belasteten KremlGeschäftsführers Pawel Borodin zur
Sache „Märchen für den Kindergarten“
sind, wie Staatsanwalt Georgij Tschuglasow dem SPIEGEL sagte. Wenn in der
Schweiz ein Konto auf seinen Namen
existiere, so hatte Borodin erklärt, dann
müsse es wohl ein Unbekannter für ihn
eröffnet haben.
US-Finanzminister Larry Summers ist –
anders als Camdessus – für eine harte
Gangart. Er tönte letzte Woche vollmundig,
er werde angesichts der Vorwürfe gegen
den Kreml und russische Regierungsbeamte weitere Kredite an Russland nicht
mehr befürworten – zumindest nicht ohne
ausreichende Sicherheiten.
Schweizer Bankern geht das amerikanische Handling der Affäre gegen den Strich.
„Die Amerikaner sind doch eine scheinheilige Bande“, schimpft der Chefsyndikus einer Züricher Bank, „jahrelang kam
das meiste kriminelle Geld aus den USA zu
uns – und selbst heute ist der Anteil noch
beträchtlich.“
Die Bank of New York hat, nachdem die
Bombe geplatzt war, ihre Londoner Osteuropa-Referentin Lucy Edwards wegen
angeblicher Fälschung von Unterlagen gefeuert. Frau Edwards hatte Konten der von
ihrem Ehemann geleiteten Firma Benex
Worldwide geführt, auf denen die Milliarden angekommen und von wo sie weitergeleitet worden waren.
Benex-Kompagnon Semjon („Sewa“)
Mogiljewitsch, 53, soll mit gleich zwei Industrie- und Mediengruppen verbunden
sein, die sich gegenseitig bekämpfen: mit
dem Jelzin-Finanzier Boris Beresowski und
mit der Firmengruppe „Sistema“, die zum
Teil Eigentum der von Oberbürgermeister
Jurij Luschkow geführten Moskauer Stadtverwaltung ist.
Nikolai Wolkow, Ermittler
für Sonderangelegenheiten
der russischen Generalstaatsanwaltschaft, war vorige Woche bei seiner Kollegin Carla
Del Ponte in Bern, um sich ein
Zimmer voller Akten in Sachen Mabetex anzusehen. Sein
Kollege Tschuglasow, der erheblich besser im Stoff steht
und der für den Fall eigentlich
zuständig ist, durfte nicht mit.
Er bekam einen Tag vor dem
geplanten Abflug in die
Schweiz Reiseverbot.
Sicher scheint: Die Affäre
hat ihren Höhepunkt noch vor
sich. Das US-Magazin „Newsweek“ zitierte vorige Woche
eine Geheimdienstquelle, nach
der Mogiljewitsch auch Geschäftsbeziehungen zu Ex-Premier Tschernomyrdin und zu
Ex-Vizepremier Tschubais unterhalten hat. Am Freitagabend teilte der vom Dienst
suspendierte Generalstaatsanwalt Juri Skuratow mit, er sei
im Besitz von Dokumenten,
aus denen hervorgehe, dass
Jelzin und seine Töchter Geld
von Mabetex erhalten hätten.
Kreml-Chef Jelzin hat dies
stets bestritten. Jörg R. Mettke,
Außenminister Iwanow, Chef Jelzin*: Kampagne inszeniert?
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Fritjof Meyer, Wolfgang Reuter
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Ausland
TÜRKEI
„Ein neues Zeitalter“
Irtemçelik, 49, Abgeordneter der Mutterlandpartei (Anap), ist
türkischer Staatsminister für EuropaAngelegenheiten und
Menschenrechte.
Jetzt ist der Zeitpunkt, das Steuer herumzureißen.
SPIEGEL: Eine Naturkatastrophe als Beginn
einer politischen Katharsis?
Irtemçelik: Absolut. Für uns hat ein neues
Zeitalter begonnen. Ich würde die Auswirkungen dieses Erdbebens fast mit dem Einschlag der Atombomben in Hiroschima und
Nagasaki vergleichen.Wir wissen nun, dass
wir unsere Probleme – auch im Südosten
der Türkei – jenseits von politischem Opportunismus lösen und unser Land auf den
Stand der modernen Zivilisation bringen
müssen. Dabei brauchen wir Europas Hilfe, aber auch unsere Unabhängigkeit.
SPIEGEL: Der Erfolg der Nationalisten bei
den Wahlen im April war doch ein deutliches Signal des Protestes gegen Europa.
Irtemçelik: Die Europäische Union hat uns
auf dem Gipfel von Luxemburg 1997 ohne
Angabe von Gründen zurückgewiesen …
SPIEGEL: … und Sie fühlten sich in Ihrer nationalen Ehre gekränkt.
Irtemçelik: Wir waren verletzt, ja geschockt, doch diese Gefühle lassen nach.
Die Erdbebenhilfe hat dazu enorm beigetragen, sie war ein sehr positives Signal.
SPIEGEL: Herr Minister, geologisch ist Anatolien nach dem Erdbeben vom 17. August
Europa zwei Meter näher gerückt. Hat sich
die Türkei auch politisch nach Westen
bewegt?
Irtemçelik: Das kann man wohl sagen. Die
humanitäre Hilfe, die Großzügigkeit und
die emotionale Wärme der Europäer haben
uns sehr berührt und beeindruckt. Eines
unserer Sprichwörter heißt: „Der Türke
hat keinen Freund außer dem Türken.“
Dieses Vorurteil ist in den vergangenen
Wochen gründlich revidiert worden.
SPIEGEL: In Deutschland gibt es eine Debatte, ob Berlin ausreichend Hilfsleistungen bewilligt hat.
Irtemçelik: Alle westlichen Länder, auch
Deutschland, haben getan, was sie konnten. Das lässt sich von unseren muslimischen Nachbarn nicht im gleichen
Maße sagen, auch wenn einzelne –
Ägypten, selbst Syrien, Iran und der
Irak – vorbildlich waren.
SPIEGEL: Die Probleme zwischen
Brüssel und Ankara bleiben auch
nach der Katastrophe dieselben:
Menschenrechte, Demokratie, der
Kurden-Konflikt, Zypern, der Streit
um die ägäischen Inseln.
Irtemçelik: Sogar in diesen Fragen
hat die Tragödie ein neues Bewusstsein geschaffen. Europa nämlich hat
erkannt, wie nahe wir in Wirklichkeit beieinander sind – geografisch,
menschlich, kulturell. Die Türkei
wiederum sieht deutlicher denn je, Bebenschäden bei Izmit: „Das Steuer herumreißen“
wie sehr sie auf eine demokratische,
sozial gerechte, zivile Gesellschaftsord- SPIEGEL: Ihr Kollege, Außenminister Ismail
nung angewiesen ist.
Cem, hat allerdings vergangenen Freitag
SPIEGEL: Den Opfern des Erdbebens nützen offen gedroht, den Antrag auf Mitgliedschaft in der EU zurückzuziehen, falls
solche Einsichten wenig.
Irtemçelik: Die Leistungen des Staates Brüssel die Türkei weiter hinhalte.
bei der Katastrophenhilfe waren wahrlich Irtemçelik: Wir erwarten, dass man uns den
nicht sehr erfolgreich, die Anstrengungen Status eines Kandidaten einräumt – ohne
des Volkes und aller zivilen Vereine und Wenn und Aber. Wir sind keine Kinder.
Stiftungen hingegen schier übermensch- Wenn man uns weiter hinhält, werden wir
lich. Mittlerweile ist allen klar: Unser Land unser europäisches Engagement völlig neu
ist viel zu groß geworden, als dass man bewerten und auch zu neuen Schlüssen
es nur noch von oben regieren könnte. kommen.
Interview: Bernhard Zand
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DPA
M. GÜLBIZ / AGENTUR FOCUS
Staatsminister Mehmet Ali Irtemçelik über
die Auswirkungen des Erdbebens auf
die Beziehungen Ankaras zur Europäischen Union
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AP
SYGMA
Ausland
Bergung von MD-11-Wrackteilen (1998), Gedenkstein am Grab der Opfer: Nur ein Passagier war erkennbar
K ATA S T R O P H E N
Eine Tonne
Mensch
Monatelang mühten sich
Gerichtsmediziner, die Opfer des
Swissair-Absturzes vor Halifax
zu identifizieren – die letzten
Überreste wurden jetzt beigesetzt.
S
ie waren Teil der See und des Himmels; mögen sie in Frieden ruhen.“
So lautet die Inschrift auf dem grauen Granitblock am Westufer der Bucht von
St. Margaret in der kanadischen Provinz
Neuschottland. Die Grundlinie des Gedenksteins weist auf den fünf Seemeilen
entfernten Ort, an dem vor einem Jahr ein
Swissair-Jet vom Typ MD-11 vom Himmel
stürzte und auf dem Meer zerschellte. Die
Namen von 227 der 229 Opfer des Flugs SR
111 sind auf der glänzenden Oberfläche
eingemeißelt; zwei Namen fehlen auf
Wunsch der Angehörigen.
Auf der meerabgewandten Seite des
Denkmals waren am Dienstag letzter Woche Gräben für 24 Metallsärge ausgehoben. Zu Grabe getragen wurden kleine, namenlose Haut- und Knochenteile. Vor der
Aufgabe, sie alle zu identifizieren, hatten
die Gerichtsmediziner kapituliert.
Mit der Zeremonie am SR-111-Memorial nahe des Fischerdorfs Bayswater wurde gleichsam der menschliche Teil der Katastrophe beendet, deren technische Ursachen bislang nur annähernd geklärt sind.
Wie Glas war das 230 Tonnen schwere
Flugzeug beim Aufprall aufs Wasser zersplittert. Die meisten Wrackteile sind in
dutzenden von aufgestapelten Pappkartons in einem Hangar der nahe gelegenen
178
kanadischen Luftwaffenbasis Shearwater
archiviert.
In einem zweiten Hangar richtete der leitende Gerichtsmediziner der Provinz Neuschottland, John Butt, noch in der Nacht
des Absturzes ein behelfsmäßiges Labor
ein. Dorthin lieferten die Tauchtrupps die
schauerlichen Überreste, die allein sie von
Passagieren und Besatzung bergen konnten – abgerissene Arme und Rumpfteile,
Unterkiefer, Füße, gebrochene Schienbeine. Schließlich waren 15 000 einzelne Körperteile erfasst, viele davon so klein, dass sie
in honigtopfgroßen Gläsern Platz hatten.
Nur ein einziger toter Passagier konnte
„durch Inaugenscheinnahme“ identifiziert
werden, wie es im Jargon der forensischen
Medizin heißt. Um Name und Leichenteile der anderen 228 Opfer einander zuzuordnen, kurbelten die kanadischen Mediziner ein bisher wohl einmaliges Untersuchungsprogramm an.
Eine Einheit der Royal Canadian Mounted Police bat Angehörige um medizinische Unterlagen: Röntgenaufnahmen der
Zähne, Hinweise auf verheilte Knochenbrüche oder Operationsnarben. Verwandte spendeten Blut, ihre Erbsubstanz wurde
mit derjenigen der Opfer verglichen.
Auf DNS-Suche gingen auch Polizisten
in zwölf Heimatländern der Opfer. Sie sammelten in deren Wohnungen etwa Zahnund Haarbürsten ein, die Partikel zur Erbgut-Analyse enthalten mochten. Zudem
suchten die Fahnder nach Fingerabdrücken: 200 dieser individuellen Linienbilder
sandten sie an ihre Kollegen in Halifax.
Amtshilfe leistete das FBI in Washington, das Namen und Fingerabdrücke mit
den Daten seiner Computer verglich. Insgesamt 22 der Opfer ließen sich anhand
von Fingerabdrücken identifizieren. In 12
dieser Fälle steuerte das FBI den entscheidenden Nachweis bei.
Erfolgreicher waren die Röntgenologen:
Beim Abgleich von prä- und postmortalen
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Zahnaufnahmen gelang es ihnen, 90 Insassen des abgestürzten Jets zu benennen. Bei
8 Opfern halfen Spuren vergangener Operationen, wie ein Nagel im Oberschenkelknochen, eine Schraube im Fuß oder ein
amputierter Zeh.
Am hilfreichsten erwies sich die DNSAnalysetechnik. 1370 DNS-Proben schleusten die Experten durch ihre Geräte. Am
Ende hatten sie, oft mit Hilfe der Blutproben von nächsten Verwandten, charakteristische Erbgutmerkmale von mehr als 100
Opfern aufgespürt, unter anderem auch
die sämtlicher Kinder, einschließlich der
beiden Zwillingspaare an Bord.
Schon zehn Wochen nach dem Unfall
waren 90 Prozent der Opfer identifiziert
und einzelne Körperteile zusammengeführt. Inzwischen konnten die Gerichtsmediziner jeder der hinterbliebenen Familien zumindest ein Stück Körper ihrer
verstorbenen Angehörigen zusenden, damit diese es nach den Riten ihres Glaubens bestatten konnten.
Trotzdem blieben Überreste der Toten
übrig, die mit der DNS-Technik zu bestimmen einige Jahre gedauert und die Labors überlastet hätte. Chefuntersucher Butt
empfahl daher, die verbliebene Tonne
Mensch in einem würdevollen Massenbegräbnis beizusetzen. Die Angehörigen
stimmten mehrheitlich zu, ebenso, allerdings nach längerer Bedenkzeit, die Vertreter der Kirchen, denen die Opfer angehört hatten.
Angehörige mosaischen Glaubens müssen beispielsweise in einem schlichten,
ohne Nägel gezimmerten Holzsarg beerdigt werden, der zerfällt und dem Verstorbenen die Wiederauferstehung ermöglicht.
Diesem Wunsch der Rabbis mochte die
Provinzregierung nicht folgen. Sie verfügte eine Beisetzung in Metallsärgen, um die
Möglichkeit einer späteren Exhumierung
sicher zu stellen.
Rainer Paul
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Ausland
RUSSLAND
„Wir bitten nicht um Gnade“
FOTOS: P. J. KASSIN
Moskaus Jubel über den Sieg in Dagestan
war voreilig. Die Muslime haben weite Gebiete der
bettelarmen Kaukasusrepublik islamisiert.
Russische Soldaten in Dagestan: „Es gibt hier keinen Hausherrn mehr“
D
ie erste Begrüßung in Gimry ist
freundlich. „Allahu akbar“ steht
mit grüner Schrift auf einer Tafel,
die das Ortsschild ersetzt: „Allah ist groß“.
Die Russen in ihren Panzerwagen, die
nach Dagestan gekommen sind, um „islamistische Terroristen“ zu jagen, nehmen
es als Folklore. Sie lassen sich auch vom
zweiten Schild nicht irritieren. Darauf steht
ein Spruch des Propheten: „Jeder muss
sterben, aber nicht alle haben wirklich gelebt.“
Die Panzer sind auf dem Weg in die Berge: Der Konflikt mit den muslimischen Rebellen an der Grenze zu Tschetschenien,
der von der Armeeführung schon für
„weitgehend“ beendet erklärt worden war,
ist gleich an mehreren Stellen wieder aufgeflammt.
In Gimry kam einst der Imam Schamil
zur Welt. Der legendäre Feldherr hatte bereits vor anderthalb Jahrhunderten den Widerstand gegen die „Ungläubigen“, damals
die zaristischen Eroberer, organisiert.
Jetzt stehen Gimrys Einwohner stumm
vor ihren Häusern und beobachten, wie
der gepanzerte Wurm der Russen Schlag180
löcher in die mühsam planierte Schotterstraße reißt. Nicht, dass sie überschäumende Sympathie für den Tschetschenen
Schamil Bassajew empfänden, dessen
Freischärler seit Wochen Dagestan in Aufregung versetzen. Aber die Russen sind
hier schon gar nicht erwünscht. Was haben sie Dagestan bisher auch gebracht?
„Nichts“, sagt Mohammed Abdulhadschijew, ein Arbeiter aus dem Wasserkraftwerk,
der die stählerne Prozession vor der Dorfmoschee verfolgt. Das Bethaus mit angeschlossenem „islamischem Bad“ ist ein
Werk seines Ururgroßvaters Scheich Abdul
Hadschi. Der war in Gimry zur Jahrhundertwende Imam, er hat die Straße für den
Viehauftrieb gebaut und Weingärten angelegt, bevor ihn die Russen deportierten.
„Seitdem hat niemand mehr irgendetwas für Gimry getan“, sagt Abdulhadschijew. „Die Sowjets haben in ihren 70 Jahren
kein Haus und keine Schule erbaut, und
auch der dagestanische Staat war hier nie
präsent.“ Mohammed fährt nicht mehr in
das abgelegene Kraftwerk, seit 20 Monaten
schuldet ihm die Führung in der Hauptstadt Machatschkala den Lohn. Die meisd e r
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ten Kollegen haben den Job aus Angst vor
Kidnappern quittiert.
Dagestan, das kaukasische Babylon, in
Russlands Wohlstandsstatistik auf dem
drittletzten Platz aller 89 Provinzen, versinkt in Korruption und Kriminalität. Ohne
Bakschisch geht nichts in Machatschkala.
Ethnische Clans haben Ölwirtschaft, Fischerei und Banken, auch die Schlüsselposten in Politik, Polizei und Justiz unter
sich aufgeteilt. Opposition wird gnadenlos
bestraft: In der neuerbauten Dschuma-Moschee von Machatschkala ermordeten Unbekannte voriges Jahr den dagestanischen
Mufti. Ein Sprengsatz, der dem Bürgermeister zugedacht war, verfehlte nur knapp
sein Ziel. Dafür blieben 17 tote Anwohner
und mehrere zerstörte Häuser zurück.
„Es gibt hier in Dagestan keinen Hausherrn mehr“, sagt Scharullah Hadschibagomedow, „und daran sind die Russen
Schuld.“ Neulich erst war er in Wolgograd,
dem ehemaligen Stalingrad. Dort sei inzwischen die ganze Bevölkerung dem Suff
verfallen. Warum? „Wenn sie nüchtern seien, würden sie von den alltäglichen Problemen erdrückt, haben mir die Russen
geantwortet. Von diesem Volk, den Okkupanten des Kaukasus, wollen wir Dagestaner nicht mit in die Tiefe gerissen werden.“
Scharullah ist 34, sieht mit seinem wuschigen schwarzen Bart aber eher aus wie
50. Er trägt eine kurzläufige MPi neben
dem Sprechfunkgerät, genagelte Springerstiefel und ein grünsamtenes Barett. Im
Dorf nennen sie ihn „General Scharullah“,
er ist Militärkommandant von Karamachi,
einer 5000-Seelen-Gemeinde im Hochland
von Zentraldagestan. Karamachi versteht
sich seit vorigem Jahr als „unabhängiges islamisches Territorium“. „Achtung!“, warnt
ein Schild am Ortseingang: „Alle Verletzungen der öffentlichen Ordnung werden
vor einem Scharia-Gericht verhandelt.“
Das Kampfgebiet der BassajewFreischärler ist 100 Kilometer entfernt.
Doch auch hier, eine Autostunde südlich
von Machatschkala, dröhnen jetzt Kanonen. Fauchend bohren sich Fliegerraketen
in die Felder vor dem Dorf. Wie das benachbarte Tschabanmachi gilt Karamachi
als Hort des puritanischen Islam – ein Zentrum des „Wahhabismus“, wie die Russen
in schlichter Vereinfachung sagen. Sie nutzen die Gunst der Stunde, um unter dem
Vorwand, tschetschenische Invasoren zu
bekämpfen, im Landesinnern die Islamisten auf Vordermann zu bringen. Doch
jetzt haben es die Soldaten mit eingesessenen Bauern zu tun, die ihren eigenen
Grund und Boden verteidigen.
Viele dagestanische Gemeinden haben
die Lehre des Propheten zur einzig gültigen Ideologie erklärt. Moskaus Bemühen,
den Muslimen mit Feuer und Schwert beizukommen, ist so aussichtslos wie der
Kampf mit dem siebenköpfigen Drachen.
Karamachi galt bis vorige Woche als das
bekannteste islamische Dorf. Bevor die
50 km
Kaspisches
Meer
R U S S L A N D
Tschetschenien
D a g es ta n
Grosny
Botlich
Machatschkala
Buinaksk
Tschabanmachi
Karamachi
GEORGIEN
Tiflis
ASERBAIDSCHAN
„Islamisches Territorium Karamachi“ in Zentraldagestan: „Auch Russlands Rettung liegt in Allahs Hand“
Die Machthaber in Machatschkala, die
Russen kamen, wehte vor dem Gebäude sucht. Auch ihm verhelfen die grünen Richdes alten Dorfsowjet die grüne Fahne des ter zu seinem Recht. „Sieben Jahre hat die noch vor wenigen Jahren den Bau von MoPropheten. Die Baracke nebenan, früher Staatsanwaltschaft die Sache nicht geklärt, scheen verhinderten und Bärtige für voein Dorfladen, war Behelfsmoschee – „da- wir haben es an einem Tag geschafft“, freut gelfrei erklärten („Ein Wahhabit ist schlimmit die Händler vom Markt schnell mal be- sich General Scharullah. „Die Menschen mer als hundert Ungläubige“), hatten vor
ten gehen konnten“, sagt der General. Er wollen ehrlich leben, der Glaube an Allah genau einem Jahr die Oberhoheit über Karamachi zurückzugewinnen versucht – mit
streift die Schuhe ab und verneigt sich gen hilft ihnen dabei.“
Mekka, als säße er noch immer am SchreibSeine Leute haben im Nachbarort einem Großaufgebot an Polizei und einer
tisch des ehemaligen Dorfvorsitzenden.
Waruch auch die Felder abgemäht, auf de- wilden Schießerei. Dann willigten sie in eiDabei hat er diesen Platz inzwischen mit nen sechs Bauern für die Mafia der Kreis- nen Kompromiss ein: Im Sowjet, im Zimeiner Hügelstellung einen Kilometer wei- stadt Buinaksk Opium-Mohn anbauten. mer neben Scharullah, amtierte pro forma
ter östlich vertauscht. Als die Russen an Jahrelang sah die Polizei tatenlos zu. Dann ein weltliches Dorfoberhaupt. „Der Mann
der tschetschenischen Grenze ihre Panzer nahm sich Scharullahs Trupp der Schutz- kümmerte sich um Renten und Kinderbeiwendeten, um auch mit den „Extremisten“ gelderpressung auf der Kreisstraße an, wo hilfen und führte den Briefverkehr mit den
von Karamachi abzurechnen, hat Scharul- Kriminelle vorbeifahrende Lkw auszu- Behörden, das war’s“, sagt der General.
Die Herren im fernen Moskau freilich
lah das Dorf räumen lassen. „Sie verstehen rauben pflegten. Er machte die Erpresser
nichts von uns“, seufzt der General. „Wir ausfindig, brachte sie in die Moschee von haben sich nie mit den Feinheiten kaukawollen hier die Gesetze Allahs durchset- Karamachi und drohte, sie vor versam- sischer Lebensart befassen mögen. So wie
zen. Es geht nicht darum, allein den meltem Volk in Stücke zu hauen. Die der Kreml die Tschetschenen mit den Folgen des letzten Krieges allein ließ und daRücken in der Moschee zu beugen, uns Wegelagerei ließ spürbar nach.
geht es um eine neue Lebensweise.“
Die Dörfler hatten das Land der Kolcho- mit Muslim-Zeloten wie Bassajew Zulauf
Was das in der Praxis bedeutet, kann se „Leninscher Komsomol“ unter sich auf- verschaffte, verweigert er jetzt in Dagestan
man im Scharia-Gericht besichtigen. Eine geteilt, das Inventar verkauft und für den jeden Dialog mit den Islamisten.
Kaum glaubten die Russen, die tscheFrau aus Karamachi hat einen Hirten auf Erlös eine Gasleitung in den Ort gelegt.
Schadensersatz verklagt, sie hatte ihm eine Bis vorvoriges Wochenende noch buddel- tschenischen Stoßtrupps besiegt zu haben,
Kuh anvertraut. Doch während der Hirte ten sie neben prachtvollen Kohlfeldern die setzten sie zum Schlag gegen die islamischlief, fraß sich die Kuh auf dem Nachbar- neuen Kartoffeln aus. Das Gemüse war bei schen Dörfer in Innern des Landes an. Raacker so mit Kartoffeln voll, dass sie an russischen Händlern begehrt, im Sommer masan Abdulatipow, einziger dagestaniqualvollen Blähungen verstarb. Das Gericht mussten Saisonkräfte angeheuert werden. scher Minister im Jelzin-Kabinett, hatte
vor einer solchen Wende gekommt schnell zum Urteil: Der
warnt: In Dagestan werde miMann habe die Kuh zu ersetzen.
litärische Gewalt nichts bewirDie Frau ist zufrieden, früher
ken, sondern sämtliche ethnihätte sie hunderte Rubel Beschen Geschwüre des Vielvölstechungsgeld gebraucht, um
kerstaates aufbrechen lassen.
vielleicht nach Monaten in der
„Wir bitten nicht auf Knien
Kreisstadt überhaupt bis zum
um Gnade“, sagt Scharullah,
Gerichtssekretär vorzudringen.
der seit einer Woche mit
Der Hirte nimmt den Spruch
Maschinengewehren und Graohne Widerstand hin – die neue
natwerfern den Widerstand geörtliche Macht, mit den Waffen
gen die russische Armee dirider voriges Jahr aus dem Dorf
giert. Auf beiden Seiten gibt es
gejagten Polizisten ausgerüstet,
bereits über 50 Tote. Der Gelässt nie mit sich spaßen.
neral spürt trotzdem Rückhalt:
Dann kommt ein Mann aus
„Nur Allah weiß, wie es weiWolgograd zu Wort, er hat seit
tergehen wird.“ Auch Russlands
1992 bei einem der Bauern verRettung liege allein in Allahs
gebens Geld für geliefertes
Hand.
Viehfutter einzutreiben ver- Straßenposten bei Karamachi: „Sie verstehen nichts von uns“
Christian Neef
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FOTOS: K. MÜLLER / MAGMA
Bundeswehr-Löschtrupp, brennendes Serben-Haus in Prizren: „Die Stadt schluckt unheimlich viele Kräfte“
KO S OVO
„Wo war denn hier der Krieg?“
Im erstaunlich vitalen deutschen Sektor der jugoslawischen Provinz läuft
fast nichts ohne das Know-how der Bundeswehr. Die dankbaren Albaner umarmen ihre
Beschützer – aber die Stimmung könnte kippen. Von Hans-Joachim Noack
A
uf der Fahrt in die Ortschaft Mush- sen ans Gehirn gedacht“, wie sich der heitisht, wo er mit seinem Team ausge- kle Job am besten erledigen lasse, sagt im
brannte Häuser in Stand setzt, gerät Hauptquartier der Brigade in Prizren der
der kleine Mann ins Schwärmen. Rupert Presseoffizier Peter Michalski – und nun
Neudeck, unter den Repräsentanten der solche Elogen. Vor Ort dürfen sich die Solweltweit operierenden Hilfsorganisationen daten aus Schwerin oder Schweinfurt einer
eine der streitbaren Figuren, bekennt sich größtenteils dankbaren albanischen Bevölkerung gegenüber immer noch als Bemilde zu seinen „völlig neuen Gefühlen“.
Schon ziemlich eigenartig, wenn einer freier empfinden, während in der Heimat
wie er – „und das noch bei meiner die Fronten erstaunlich ruhig blieben.
Dass die Berliner Republik auf dem BalHerkunft!“ –, wundert sich der bärtige
Sprecher des Komitees Cap Anamur kan „derzeit im Wesentlichen mit Olivgrün
und bekennende Pazifist, die Bundes- assoziiert wird“, bestätigt auch der Vertrewehr lobe. So sei das aber: „Ich bin sogar ter des Auswärtigen Amtes Bernd Borchardt – eine Entwicklung, die dem proein bisschen stolz auf die Jungs.“
Neudecks überraschende
Töne gelten dem deutschen
Kontingent der Kfor, das seit
Mitte Juni im Kosovo stationiert ist. Der erste Einsatz out
of Area, bei dem den annähernd 5000 Mann starken
Truppen im Südwesten der jugoslawischen Chaos-Provinz
die schwierigen Aufgaben einer Ordnungsmacht zuerteilt
worden sind, stimmt jetzt
selbst die vormals ärgsten Bedenkenträger um.
Man habe sich die Köpfe
darüber zermartert und „Bla- Einkaufsstraße in Prizren: Bezahlt wird in D-Mark
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fessionellen Wohltäter Rupert Neudeck allerdings weniger behagt. Er attackiert die
Bundesregierung, weil sie von Anfang an
darauf verzichtete, wie im bosnischen
Mostar eine politische Autorität zu benennen („Ein kapitaler Fehler“).
Denn bei der deutschen Präsenz im Kosovo – und dort vor allem in ihrem eigenen,
von rundum 400 000 Menschen bewohnten
Sektor – geht es ja nicht nur um das rein
militärische Engagement. Die maßgebliche
Resolution 1244 des Uno-Sicherheitsrats
vom 1o. Juni verpflichtet die Staatengemeinschaft zugleich zu enormen zivilen
Anstrengungen.
In der darniederliegenden Region soll
eine Übergangsverwaltung aufgebaut werden, die die Merkmale eines halbwegs intakten Gemeinwesens trägt, nur bis auf
weiteres laufen alle Fäden beim Befehlshaber der multinationalen Brigade, General Wolfgang Sauer, 55, zusammen.
Der in seinem Habitus bedächtige Bayer und die ihm anvertrauten Einheiten haben ein Gebiet zu befrieden, das infolge
seiner Nähe zu Albanien jahrelang die blutigsten Auseinandersetzungen erlebte, und
daran wird er gemessen. Als Konsequenz
daraus ergibt sich, wie zum Beispiel der in
Orahovac eingesetzte Leiter des Technischen Hilfswerks, Klaus Buchmüller, leise
183
Ausland
Nächtliches Stadtzentrum von Prizren: Ein endloses Open-Air-Festival
klagt, ein „viele andere Initiativen erstickender militärischer Überhang“.
Natürlich macht in Prizren und Umland
auch die schillernde und zuweilen mit berechtigtem Argwohn beäugte Helferszene
auf sich aufmerksam. Da die spendablen
Deutschen für die leidgeprüfte Provinz
mehr als 200 Millionen Mark herausrückten, halten die sogenannten Non-Government Organizations vom Roten Kreuz bis
zu den ungezählten kleinen und winzigen
Gruppen nach geeigneten Projekten Ausschau.
Doch in einem im direkten wie übertragenen Sinne gefährlich verminten Gelände
ist die Kfor Dreh- und Angelpunkt. Soldaten erproben sich nicht nur als Feuerwehr
oder Polizisten respektive im Notfall als
Gefängniswärter. Sie legen sich darüber
hinaus für eine im Wesentlichen funktionierende Infrastruktur ins Zeug – vom
kenntnisreich reparierten Elektrizitätswerk
bis zur Müllabfuhr.
Eine ähnlich durchschlagende Wirkung
wie zurzeit das deutsche Militär erzielt zumindest in den Städten allein die deutsche
Währung. In den verblüffend gut gefüllten
Läden wird für alle Erzeugnisse von einigem Wert nur noch bei älteren Leuten der
heimische Dinar und fast nie der Dollar
akzeptiert. Als Zahlungsmittel – und das
bis in die Pfennigbeträge hinein – gilt die
begehrte D-Mark.
Was den Handel und die Geschäftigkeit
anbelangt, entwickelt sich das Zentrum des
von der Bundeswehr unter Kontrolle gehaltenen Bezirks, das früher „Kleinparis“
geheißene Prizren, zu einer Art Boomtown. Auf beinahe schon irritierende Wei184
se scheinen sich die Zukunftsängste, wie sie
unmittelbar nach der Rückkehr tausender
geflüchteter Kosovo-Albaner grassierten,
erledigt zu haben.
Allabendlich ergießt sich stattdessen
bei sinkender Sonne zu beiden Seiten des
von Kirchen und Moscheen gesäumten
Flüsschens Bistrica ein gewaltiger Strom
seltsam heiter anmutender flanierender
Menschen. Die Straßencafés in der stark
orientalisch geprägten Innenstadt sind
stets besetzt – während bis zur Ausgangssperre um Mitternacht im Freien
immer gleichzeitig mehrere Kapellen wie
zu einem endlosen Open-Air-Festival
aufspielen.
Kann es da verwundern, wenn sich in
der zersplitterten serbischen Provinz zunehmend herumspricht, in „Deutsch-Südwest“ („Die Zeit“) werde eifrig an einem
Musterländle gearbeitet? In und um Prizren ist es spürbar sauberer als in den an-
Kfor-Zonen
im Kosovo
SERBIEN
Frankreich
Mitrovica
MONTENEGRO
Italien
Großbritannien
Peƒ
Pri∆tina
K O S O V O
USA
Deutschland
ALBANIEN
Prizren
MAZEDONIEN
25 km
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deren Regionen. In keinem
Sektor weht zum Zeichen
bereits fertig gestellter
Dachstühle in größerer
Zahl die vor kurzem noch
verbotene rote Flagge mit
dem schwarzen Doppeladler.
Sicher hatten es die
Deutschen von der ersten
Stunde an leichter als die
übrigen Kfor-Truppen. Deren Parteinahme zu Zeiten
Hitlers für die Unabhängigkeit der Albaner haben
die heute noch lebenden
Jahrgänge absichtsvoll zu
einer geschichtlich beglaubigten Bruderschaft verewigt und an ihre Enkel
weitergereicht. Ehrensache
selbst für die Jüngsten, die
auf ihren Kleinpanzern,
Typ „Wiesel“, patrouillierenden Soldaten mit einem
lauten „Hallo, wie geht’s?“
zu begrüßen.
Die derart fest ans Herz
gedrückten vermeintlichen
Freunde fühlen sich ermuntert. Ihre Bestrebungen, nicht allein
den Albanern, sondern der Menschheit insgesamt nahe zu bringen, „was wir hier für
tolle Sachen machen“ (so der Oberleutnant Michael Godel), geben sich in einem
eigenen Rundfunkprogramm zu erkennen.
Jeweils von 18 bis 21 Uhr verantwortet der
Soldat aus Oldenburg auf dem einzigen
verfügbaren Kanal von Radio Prizren die
„operative Information“.
Neben viel frischer Musik werden die
Einheimischen zur immerhin besten Sendezeit (und in dieser Phase ohne Alternative) „ein bisschen auf die pädagogische
Schiene“ gehoben. Um „langfristig Verhaltensänderungen zu erzeugen“, lässt
Godel im Plauderton über die schöne Bundesrepublik und die Demokratie berichten. Den Abschluss bildet der offenbar
unsterbliche Hit der Lale Andersen von
„Lili Marleen“.
Die Albaner zeigten sich „hellauf begeistert“, sagt Godel, und überhaupt kann
man mit ihnen die nötigen Konzepte vorantreiben. Wie gelehrig die sich anstellen
und welche „prima Mentalität“ denen eigen ist, hat in Mushtisht der von Cap Anamur engagierte Zimmermann Hubertus
Thoennes aus Köln erfahren: „Im Grunde
sind das Deutsche.“
Zumindest scheint sie ein tief sitzender
Wunderglaube an die Power und die
Managementfähigkeiten ihrer gegenwärtigen Schirmherren zu beseelen. Schon
am ersten Tag seines neuen Jobs in Prizren wird dem privat wohnenden Abgesandten des Berliner Presseamtes Klaus
Brambach der bestens versorgte Sohn des
Vermieters vorgestellt: Dessen Bekleidung
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im Grunde überforderten Mistammt ebenso aus Spenden
litärs sehen das ebenso. Er ervon Bundesbürgern wie die
achte die Beziehungen in der
Milchration.
von ihm zu überschauenden Re„Aus Ihrem Lande kommt algion für „zu vergiftet“, sagt achles Gute“, lobt der dankbare
selzuckend selbst der undramaGastgeber, während er seinen
tische General Wolfgang Sauer.
Filius in einen von der Kfor und
„Ein Leben mit den Serben ist
den Johannitern gemeinsam erda nicht mehr vorstellbar.“
richteten Kindergarten schickt.
Denn jenseits der ermutigenDas Militär und in seinem
den Bilder von der in Prizren
Schlepptau zivile Organisatioüberschäumenden Lust an der
nen leiten in der Kreisstadt das
Krankenhaus – sie finanzieren Flussbettreinigung in der Bistrica: „Im Grunde sind das Deutsche“ neuen Freiheit, die man die Tagseite der Stadt nennen könnte,
aber auch albanische Gelegenheitsarbeiter, die das Flussbett der Bistrica ge-Bezirk gepäppelt, drohe der ungebrems- gibt es nach wie vor die ziemlich erte Zuzug aus anderen Regionen – ein im schreckenden Nächte. Noch immer und
reinigen.
„Sollen die Germanen den Distrikt doch allgemeinen Durcheinander „gefährlicher unter den Augen andächtig verharrender
Schlachtenbummler fackeln vermutlich
gleich ganz übernehmen“, fordert allen Ehrgeiz“.
Und die Anzeichen dafür, dass auf die von der UÇK gesteuerte Albaner die
Ernstes ein aus Traunstein in seine Geburtsstadt Suva Reka heimgekehrter junger omnipräsente Kfor nach den Monaten ei- verbliebenen Häuser ihrer ehemaligen
Gaststättenbesitzer. „Für ein, zwei Jahr- ner überraschend harmonisch verlaufenen Peiniger ab.
„Die Stadt schluckt unheimlich viele
zehnte ein in den Süden verlängertes Bay- Besetzung fremden Terrains ernste Schwieern“ zu schaffen würde nicht allein nach rigkeiten warten, häufen sich ja auch be- Kräfte“, sorgt sich Sauer – er müsse sie leiseiner Überzeugung dem maroden Balkan reits. Vor allem die in den letzten Wochen der „zusperren, weil wir sonst der Feuer
deutlich aggressiver auftretende kosovo- und der Toten nicht mehr Herr würden“.
am ehesten aufhelfen.
Doch die zunehmend sich verbreitende albanische Befreiungsarmee UÇK denkt Und er hat ja schließlich noch einen poliMeinung, die Deutschen seien halt tüchti- nicht daran, sich den Staat aus der Hand tischen wie humanitären Auftrag zu erfüllen: Um den an die Kfor gestellten Anforger als etwa die Franzosen oder Briten, nehmen zu lassen.
Die Vorgaben der Vereinten Nationen derungen wenigstens einigermaßen gerecht
könnte Folgen haben. Der Koordinator der
Gesellschaft für Technische Zusammenar- und der Nato, der jugoslawischen Provinz zu werden, schützen seine Soldaten die
beit (GTZ) Paul Weber spricht bereits von ihren multiethnischen Ursprung zu be- nun ihrerseits um ihr Leben bangenden
wachsender Unzufriedenheit im Lande. wahren, stoßen sich immer empfindlicher Serben oder löschen unermüdlich die
Werde der Sektor weiter zu einem Vorzei- an den herrschenden Realitäten – und die Brände.
erheblich ramponierten Häuser
In solchen Augenblicken, in
und zum Teil völlig ausgebranndenen etwa den Feldwebel aus
ten Bergdörfer hält er durchaus
dem Thüringischen „die Sinnfür schlimm, doch „makroökofrage“ seines Einsatzes quält,
nomisch nicht so relevant“.
schwindet bei manchen KosovoWeit wichtiger erscheint dem
Albanern die vielbeschworene
Experten aus Hessen „die AbNähe zu ihren deutschen Mittrennung des Kosovo von Serstreitern. Greifen die Feldjäger
bien“ – eine Annahme, die die
einen der noch bewaffneten
Vereinten Nationen und die
Guerrilleros auf und konfiszieNato bisher zwar noch strikt
ren, was sie bei ihm finden, entzurückweisen – , die er aber um
steht nun schon viel zu oft eider „Arbeitshypothese“ willen
ne regelrecht feindselige Atmo- Party im Hotel Theranda: „In den Süden verlängertes Bayern“
als sicher unterstellt. Und das
sphäre.
Mit der UÇK und ihrem Verhalten, lau- an dem vorbeizugehen sich nur „die umso mehr, als die von ihm analysierte
„absolute Albanisierung“ in gerade mal eitet einer der Lehrsätze unter den Friedens- Blauäugigen“ leisten.
Der weit gereiste Agrar-Ingenieur, der nem Vierteljahr eine Energie freigesetzt
truppen, stehe und falle das von beträchtlichen Hoffnungen begleitete Kosovo- im Namen eines vom Bund betriebenen hat, die er „einfach umwerfend“ findet.
Der Wirklichkeit im deutschen Sektor
Projekt. „Eine glaubwürdige Bereitschaft Instituts die Entwicklungsfähigkeit der
dieser Leute, ihre Selbstauflösung zu be- heimgesuchten Provinz taxiert, kommt des Kosovo nachzuspüren ist so offenbar
treiben, erkenne ich nicht“, sagt der Kfor- auch ansonsten in vielerlei Hinsicht zu eine Frage der „speziellen Draufschau“.
General – seine bis auf weiteres augen- höchst eigenen und überraschenden Er- Nördlich von Prizren liegt das Dorf Bela
gebnissen. Sosehr ihn die unsäglichen Cerkva, ein einziger Steinhaufen, und dascheinlich größte Sorge.
Was darf man einer immerhin nach tau- menschlichen Schicksale anrühren, sieht neben eines der größten Massengräber.
senden zählenden Gruppe von Menschen er zum Beispiel in der Notwendigkeit, die 64 Menschen starben hier bei einem Masabverlangen, die sich schließlich als Be- Infrastruktur zu erneuern, keinen über- saker nach den ersten Bombenangriffen
auf Serbien.
freier ihres Landes empfindet und nicht mäßigen Schwierigkeitsgrad.
„Wo war denn hier der Krieg?“, fragte
Die in einem Weindepot am Ortsausgang
zuletzt als deren eigentliche Elite? Selbst in
den Kreisen der deutschen Helfer schei- sich Weber nach seiner ersten Erkundungs- lagernden Zigmillionen Liter „Amselfelder“
den sich in der heißen Diskussion darüber tour durch den deutschen Sektor, auf der er sind dagegen unversehrt geblieben. Noch ist
mehr und mehr die Geister. Für den GTZ- weder zerstörte Brücken noch im Umfeld nicht endgültig geklärt, wem sie gehören –
Mann Paul Weber etwa ist die einstige Un- von Prizren irgendwelche anderen gravie- aber aus der Bundesrepublik melden sich
tergrundorganisation schlicht ein Faktor, renden Schäden entdeckte. Die Zahl der schon die potenziellen Aufkäufer.
Ausland
wendig“. Und die Menschen vor den Bildschirmen beschlich ein zartes Gefühl von
Stolz, dass es den Gegner und nicht die eigenen Jungs erwischt hatte.
Der geschmeidige General verkörperte
bis zuletzt, als er sich in Prizren von seinen
Soldaten verabschiedete, den modernen
Führer. Sein Auftrag ist erfüllt: Die BunMit einem moderaten Führungsstil, modernem Management
deswehr im Auslandskampfeinsatz ist Norund cleverer Medienpolitik im Kosovo gelang
malität. Doch der Kommandeurswechsel
ist mehr als nur ein routinemäßiger Persoes der Bundeswehr, ihr Ansehen in der Heimat aufzubessern.
naltausch – er bedeutet auch einen Programmwechsel. Denn ganz so geschlossen,
wie es nach außen erscheint, ist die neue
Truppe im Innern nicht.
Was zu Hause in den Medien als Diplomatie und Umsicht ihrer Führung interpretiert wurde, erschien vielen Soldaten,
die täglich im Kampf gegen Plünderer,
Brandstifter und Mörder den Kopf hinhalten müssen, nicht selten als Entscheidungsschwäche. Sie bauen darauf, dass
Korffs Nachfolger, Brigadegeneral Wolfgang Sauer, die Defizite vor Ort beseitigt
– nach bewährter Art: weniger Diplomatie,
mehr Befehle.
Die elektrisierende Spannung am Anfang und der glühende Eifer der Soldaten,
die in diesem Chaos virtuos improvisierten
und einen beeindruckenden Balanceakt
zwischen Sensibilität und Stärke demonstrierten, weichen langsam der Alltagsroutine. Für alles gibt es jetzt ein Formular
und eine Regel. Die Feldjäger schreiben in
Prizren jeden Falschparker unter den Kameraden auf, vor dem Stabsgebäude werden Fußgänger zurückgepfiffen, wenn sie
Deutsche Truppen beim Einmarsch in Prizren*: „Diesmal waren wir die Guten“
nicht den Bürgersteig benutzen.
Während die ersten Soldaten von Beitze flirrt auf dem Asphalt des Mi- der Heimat zu einer Art Pop-Star der Melitärflughafens von Skopje. Die dien. Beinahe täglich war er, zur besten ginn an bis zur Erschöpfung dafür sorgten,
deutschen Soldaten des ersten Sendezeit, auf allen Kanälen ein begehrter Ordnung und Sicherheit in Prizren so weit
wie möglich zu garantieren, jäten ihre
Kosovo-Kontingents stehen dem Alphabet Gesprächspartner.
Vor wenigen Jahren noch hatte das Bun- Nachfolger heute vor den Zelten Blumennach in einer Reihe und verstauen ihre
Sturmgewehre G36 in Kisten – die Stim- desverfassungsgericht entschieden, dass die beete und entstauben im Hauptquartier
mung ist heiter, nach wochenlangem Ein- Äußerung „Soldaten sind Mörder“ nicht Blatt für Blatt die Zierpflanzen. Für den
unbedingt strafbar sei. Jetzt erklärte Korff hauseigenen Teich wird stadtweit nach
satz im Kosovo geht es nach Hause.
„Ich kann jetzt sagen, dass ich stolz bin, der Fernsehnation in ruhigem, ernstem Goldfischen gesucht. „Bald steht der erste
ein Deutscher zu sein, ohne dafür in die Ton, warum deutsche Soldaten am 13. Juni Gartenzwerg“, prophezeit Kommandeur
rechtsradikale Ecke gestellt zu werden“, um 19.40 Uhr – erstmals seit Ende des Sauer, „so sind wir halt.“
Die Truppe ist immer weniger bereit, an
sagt Heimflieger Ralf Herrmann, 26, Ober- Zweiten Weltkriegs – im Auslandseinsatz
feldwebel aus München, der bislang eher einen Menschen erschießen mussten: ei- einer medienwirksamen Inszenierung für
links als konservativ wählte. Auch Haupt- nen serbischen Freischärler. „Tragisch“ sei „karrieregeile Offiziere“ mitzuwirken, wie
gefreiter Tino Kempf, 23, aus dem baden- dies gewesen, aber auch „richtig und not- sich ein Soldat vom Fallschirmjägerbataillon aus Wildeshausen bei
württembergischen Hartheim ist mit seiBremen ärgert. Feldjäger-Manem Werk zufrieden: „Diesmal waren wir
jor Andreas Naschke, 38, aus
auf der richtigen Seite. Wir waren die Gudem mecklenburgischen Haten – und alle haben es gesehen.“ Im Ferngenow hält den „Schmusesehen.
kurs“ gegenüber den AlbaJubelnde Albaner beim Einzug der
nern ohnehin für gescheitert:
Deutschen – solche Aufnahmen haben das
„Wir sind kein Stück weiter
öffentliche Bild der Bundeswehr nachhalals noch vor ein paar Wotig verändert. Die neue Truppe bewies
chen, da muss man endlich
nicht nur als Ordnungshüter Qualität, sie
hart durchgreifen.“
war auch an der medialen Front ungeWochenlang kritisierte in
wöhnlich erfolgreich. Der erste deutsche
seinen täglichen LageberichKommandeur der Multinationalen Brigade,
ten an die Militärchefs FallGeneral Fritz von Korff, 56, avancierte in
schirmjäger-Zugführer Ober* Mitte Juni.
Bundeswehrsoldaten beim Essenausteilen: Zwei Gesichter leutnant Konstantin SpalM. MATZEL / DAS FOTOARCHIV
„Möglichst gut rauskommen“
K. MÜLLER / MAGMA
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lek, 29, die „Handlungsunsicherheit“ befahl Harff serbischen Offizieren den Abseiner Leute. Es änderte sich nichts, vor zug aus dem Grenzgebiet. „Jetzt sind es
allem nicht am in Bonn durchaus gebillig- noch 28 Minuten.“
ten zurückhaltenden Umgang mit der KoEr („Ich argumentiere nicht als Diplosovo-Untergrundarmee UÇK. Korff, glau- mat, sondern als Christ“) hat nie ein Geben die Soldaten, habe notwendige Kon- heimnis daraus gemacht, dass er den Luftfrontationen gescheut, „um hier möglichst krieg für „unmoralisch und falsch“ hielt,
sauber rauszukommen“.
weil dabei unschuldige Menschen starben.
Mitunter bekamen die Soldaten täglich Während der Kosovo-Massaker dachte
neue Anweisungen, wie mit Gesetzesbre- Harff gegenüber politischen Besuchern laut
chern zu verfahren sei. Zunächst befahl über den Einmarsch von Bodentruppen
der Einsatzstab in Prizren etwa, den Treib- nach: „Ist das Leben einer vergewaltigten,
stoffverkäufern aus Albanien, den „fah- massakrierten Frau etwa weniger wert als
renden Benzinbomben“, die Kanister ab- das eines Soldaten, der zur Verteidigung
zunehmen, dann wurde die Order rück- ausgebildet ist?“
gängig gemacht. Die Grenzstation war bis
Die zwei Gesichter dieser Armee finunters Dach mit Benzinkanistern gefüllt den sich auch bei der jungen Generation.
und drohte selbst in die Luft zu fliegen. Am deutlichsten bei Leutnant David F.,
Fortan wurden die Kraftstoffhändler ein- 24, vom Gebirgsjägerbataillon aus Schneefach wieder zurückgeschickt.
Eigentlich hatten die
Soldaten Befehl, an der
albanischen Grenze jedem Kosovaren, der
mehr als fünf Stangen
Zigaretten besitzt, die
Ware abzunehmen. Dann
schnappten sie Schmuggler mit 8000 Kartons. Es
dauerte Stunden, bis der
Stab darüber entschied,
was mit ihnen geschehen
sollte. Die Schmuggler
mussten am Ende mitsamt der Ware laufen ge- Scheidender General von Korff*: Pop-Star der Medien
lassen werden.
Welcher Führergeist dieser Armee im berg, der am Tag nach dem Einzug das
Grunde ihres Soldatenherzens lieber ist, Gefühl genoss, als Befreier der Stadt Prizzeigt die Doppelstrategie der ersten Wo- ren willkommen zu sein. Wenige Stunchen: Der Inspekteur des Heeres, Helmut den später gab er den Schießbefehl, als
Willmann, hatte durchgesetzt, dass neben zwei serbische Freischärler aus ihrem geldem jovialen Frontmann und Medienlieb- ben Lada das Feuer auf seine Leute erling Korff stets von Mazedonien aus der öffneten.
Nationale Befehlshaber Helmut Harff, 60,
Anschließend rekapitulierte F. seine Entals Zuchtmeister im Hintergrund wachte. scheidung mit beachtlicher Sachlichkeit:
Der Fallschirmjäger-General ist ein Hau- „Es ist nichts Persönliches zwischen mir
degen vom alten Schlag, der auch vor dra- und diesem Menschen gewesen. Ich habe
matischen militärischen Aktionen nicht nicht getötet, weil ich es wollte, sondern
zurückschreckt.
weil ich es musste – und glatt getroffen.
Zwei Ein-Sterne-Generale – einer für die Wenn schon, denn schon.“ HeeresinspekMedien und einer für die Pflicht. Allzu häu- teur Willmann verlieh ihm bei einem Befig waren sich die beiden uneins über such in Prizren die höchste Auszeichnung,
Arbeitsteilung und die Umsetzung des Auf- die die Bundeswehr zu vergeben hat: das
trags und machten sich gegenseitig das Ehrenkreuz in Gold.
Leben schwer. Der Abgesandte aus dem
Mit Genugtuung registrieren die SoldaVerteidigungsministerium für humanitäre ten die aktuelle Aufwertung ihres BerufsAufgaben, Walter Kolbow, kündigte bereits standes. „Wir wurden früher lächerlich
an, dass es eine solche Konstellation „nie gemacht“, sagt der Kommandeur des Fallschirmjägerbataillons 313 aus Varel, Oberstwieder“ geben dürfe.
Seinen berüchtigten Führungsstil („Heu- leutnant Peer Luthmer, 42. Dennoch prete schon geharfft worden?“) hatte die Fern- digt er seinen Soldaten, sich von der
sehnation bereits am ersten Tag des Ein- öffentlichen Meinung unabhängig zu mamarsches der Bundeswehr in das Kosovo chen. Ihm sei es lieber, „auf dem Kölner
miterlebt. „Sie haben 30 Minuten Zeit, Bahnhof wegen der Uniform mit Bier überEnde der Diskussion“, mit diesen Worten gossen, als zu Hause auf dem Marktplatz
mit Blumen empfangen zu werden“, sagt
Luthmer, „Heldenverehrung ist mir pein* Am 3. August in Prizren mit dem Kfor-Oberkommanlich.“
dierenden Michael Jackson und Nachfolger Sauer.
Susanne Koelbl
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FOTOS: GREENWOOD / GAMMA / STUDIO X (li. o.); JAD WASCHEM (li. u.); GAMMA / STUDIO X (re. o.); EUPRA PRESS SERVICE (re. u.)
XI. DAS JAHRHUNDERT DES FASCHISMUS:
1. Von Weimar zu Hitler (33/1999); 2. Europas Verführer (34 /1999);
3. Hitler und die Deutschen (35/1999); 4. Der Holocaust (36/1999)
Judenstern; Opfer im Konzentrationslager Dachau (1945); brennende Synagoge (in Siegen 1938); Hitler, Himmler auf dem Reichsparteitag (1938)
Das Jahrhundert des Faschismus
Der Holocaust
Die beispiellose Ermordung von sechs Millionen europäischen
Juden während des Dritten Reiches entsprang Hitlers
rassenpolitischem Wahn. Aber der konfiszierte Besitz der Opfer
brachte dem nationalsozialistischen Staat und damit
Millionen Volksgenossen auch gewaltigen materiellen Nutzen.
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Das Jahrhundert des Faschismus: Der Holocaust
Das unbewältigte Verbrechen
Die Ausrottung der europäischen Juden / Von Götz Aly
Noch vergeht kein Tag, an dem nicht
in Europa über die Folgen des deutschen
Rassenkrieges geschrieben, gesprochen
und diplomatisch verhandelt würde. Mehr
als ein halbes Jahrhundert danach können
die zwölf kurzen Jahre des Dritten Reichs
noch immer nicht zur Geschichte gerechnet werden. Die Unfähigkeit der nachgeborenen Generationen, das Geschehene
zu begreifen, lässt diese zwölf Jahre
Gegenwart bleiben. Die vergleichsweise
folgenarme Diktatur Ulbrichts verfestigt
sich längst zur Geschichte, ebenso die
Ära Adenauer – nicht die Regierungszeit Hitlers.
Noch immer ist der Skandal notwendig,
um einzelne Menschen, Banken oder Unternehmen, die Wehrmacht oder selbst die
Historikerschaft zum Nachdenken zu bewegen. Noch immer ist es notwendig, mit
denjenigen zu streiten, die es sich in einsichtsarmen Vorstellungen von den „braunen Machthabern“ bequem gemacht haben, die noch immer von der unbefleckten
Soldatenehre oder wahlweise von der vergewaltigten, allenfalls verführten Arbeiterklasse erzählen.
Ganz gerecht geht es in der Hitze der
Debatte nicht immer zu. Falsch ist es zum
Beispiel, wenn in der aktuellen öffentlichen Diskussion der Eindruck erweckt
wird, als hätten von Zwangsarbeit und Arisierung in erster Linie Großkonzerne profitiert und seien allein dafür haftbar. Wer
nicht von den Vorteilen spricht, die Millionen sogenannter Volksgenossen aus
dem kollektiven Raubmord wie auch der
Massenverschleppung von Arbeitssklaven
gezogen haben, wird die innere Logik
des nationalsozialistischen Umverteilungsstaates nicht verstehen.
Heinrich Himmler bezeichnete dieses
Prinzip als „Sozialismus des guten Blutes“
und sorgte dafür, dass die Vernichtung der
europäischen Juden dem Volkswohl zugute
kam: „Wir haben das ganze Vermögen, das
wir bei den Juden beschlagnahmten – es
ging in unendliche Werte –, bis zum letzten
JAD WASCHEM
Spiegel des 20. Jahrhunderts
O
hne Inschrift wird vorläufig das
Mahnmal bleiben, das im neuen
Berliner Parlaments- und Regierungsviertel an das frühere, durchaus
volksverbundene Regierungsprojekt „Endlösung der Judenfrage“ erinnern soll. So als
gelte Himmlers Verbot noch immer, über
die Ausrottung der europäischen Juden öffentlich zu sprechen, so als handle es sich
um ein außergeschichtliches Ereignis, an
dem jeder Versuch einer Aufklärung scheitern müsste.
Wie also könnte die Inschrift lauten?
Zwischen 1941 und 1945 ließ die deutsche
Regierung sechs Millionen Menschen ermorden, weil sie Juden waren. Sie starben
durch Hunger, Massenexekutionen und in
Lagern, deren einziger Zweck die Vernichtung war. Hunderttausende Deutsche halfen mit – jeder an seiner Stelle –, dieses beispiellose Verbrechen zu begehen. Die Täter
verstanden ihre Tat als Teil eines Jahrhundertwerks zur ethnischen und sozialen
Neuordnung.
Ungarische Juden an der Rampe des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau (1944): Kollektiver Raubmord
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BPK
Pfennig an den Reichswirtschaftsminister abgeführt.“
Das stimmte zwar nicht ganz, weil
Bereicherung und Unterschlagung auch
in der SS verbreitet waren, bezeichnet
aber die Tendenz. Am Ende waren allein aus jüdischem Besitz Summen erbeutet worden, die die Höhe des Jahreshaushalts des Deutschen Reiches
von 1939 – 26,6 Milliarden Reichsmark
– weit überstiegen.
Im Kleinen fand die Raublust ihren
Ausdruck in der Versteigerung von jüdischem Hausrat auf dem Treppenabsatz. Sonderzuweisungen von Mangelwaren aus jüdischem Besitz gingen an
die NS-Volkswohlfahrt und das Winterhilfswerk. Die Konfiszierung von
Pelzmänteln im eiskalten Warschauer
Ghetto nützte den Soldaten an der Ostfront. Jüdische Kleinkinder bekamen
keine Milch, damit ihre gutrassigen Altergenossen in den Zeiten des Mangels
mehr hatten.
In das von Luftangriffen schwer getroffene Hamburg wurden zwischen
März 1942 und Juli 1943 allein aus
Holland 45 Schiffsladungen mit insgesamt 27 227 Tonnen „Judengut“ transportiert – Möbel, Einrichtungsgegenstände, Kleidung. Die Reichsbahn lenkte 2699 Waggons mit ähnlicher Ladung
dorthin, zum Teil aus Frankreich – unbürokratische Soforthilfe für Bombengeschädigte. Mindestens 100 000 Haushalte aus dem Raum Hamburg profitierten damals auf diese Weise von der
Ermordung der europäischen Juden,
wie der Historiker Frank Bajohr in seiner Studie „Arisierung in Hamburg“
herausgearbeitet hat.
Für Zwangsarbeiter entrichteten die
Unternehmen in aller Regel Lohn, und
zwar an die Staatskasse, für polnische
und jüdische Arbeitssklaven seit 1940
zusätzlich zu allen üblichen Abgaben
eine weitere „Sozialausgleichsabgabe“
in Höhe von 15 Prozent.
Sie bezweckte die Sanierung der infolge des Krieges stark strapazierten
Unfall-, Kranken- und Rentenversicherungen zum Nutzen der arischen Solidargemeinschaft. Auch die einbehaltenen Pensions- und Rentenansprüche der vertriebenen und später in den Tod deportierten
Juden speisten die sozialen Sicherungssysteme. Die angesparten Lebensversicherungen waren oft in Dollar, Pfund oder
Schweizer Franken abgeschlossen worden.
Einbehalten haben die Assekuranzgesellschaften davon nichts – doch sie wurden ihrer jüdischen Versicherungsnehmer entledigt. Die waren schließlich, rein versi-
Antisemitisches Plakat (1937)
„Sozialismus des guten Blutes“
Verhöhnung jüdischer Opfer in Polen (1939)
„Durch schnell wirkendes Mittel erledigen“
cherungstechnisch gesprochen, zu schlechten Risiken geworden.
Sieht man von wenigen nachrichtenlosen Policen ab, so überwiesen die Versicherer den Rückkaufswert jeder von einem Juden abgeschlossenen Lebensversicherung an die zuständige Oberfinanzdirektion. Jeder Krankenhausaufenthalt eines Deutschen, jede Rente, jede Soldzahlung wurde zu einem nicht unerheblichen
Teil aus solchen Staatseinnahmen finanziert.
Ähnlich verhält es sich mit dem Beutegold. Die Organisatoren der Vernichtung führten es an die Reichsbank ab.
Die Privatbanken, die diese Bestände
dann zum Teil übernahmen, bezahlten
dafür. Ihre Gewinnspannen waren
enorm; sie betätigten sich, das verdient
keine Nachsicht, als Hehler.
Für die erlösten Devisen oder für das
Gold selbst wurde in Schweden Eisenerz erworben, in der Schweiz Butter
und Maschinen, in Ungarn Getreide,
Speiseöl und Aluminium. Am Ende hatte jeder Deutsche etwas von dem auf
seinem Teller, was mit den Barschaften, Guthaben, Eheringen und Goldfüllungen der Ermordeten bezahlt worden war.
Der Nationalsozialismus gewann seinen Rückhalt aus der betonten Orientierung am Gemeinwohl der deutschen
Mehrheit. Die Politik der Massenvernichtung stand im Dienst dieses Zieles
und machte sie, ohne dass die Begünstigten darüber reden und nachdenken
mussten, mehrheitsfähig.
Im Sommer 1942 setzte der spätere
Kriegsernährungsminister
Herbert
Backe die Lieferung riesiger Mengen
von Getreide und Kartoffeln durch, und
zwar aus dem besetzten, vom Hunger
schon schwer betroffenen Zentralpolen
(„Generalgouvernement“). Er begründete das am 23. Juni, einen Tag nach einem Treffen mit Himmler: „Im Generalgouvernement befinden sich noch
3,5 Millionen Juden. Polen soll noch in
diesem Jahre saniert werden.“
Die Zahl war stark übertrieben, oder
es handelt sich um einen Schreibfehler.
Jedenfalls gab Backes Verhandlungspartner in Krakau neun Wochen später
die richtigen Zahlen mit derselben,
deutlicher ausgesprochenen Begründung zu Protokoll: „Die Versorgung der
bisher mit 1,5 Millionen Juden angenommenen Bevölkerungsmenge fällt
weg, und zwar bis zu einer angenommenen Menge von 300 000 Juden, die
noch im deutschen Interesse als Handwerker oder sonst wie arbeiten.“
Das war die Grundlage, auf der Backes
Forderungen erfüllt wurden. Die älteren
Deutschen erinnern sich auf ihre Weise an
den Erfolg dieser Politik, wenn sie mit anklagendem Unterton erzählen: „Im Krieg
haben wir nie gehungert, erst danach!“
Liest man dazu das 53 Seiten lange Wirtschaftsgutachten, das das Reichskuratorium für Wirtschaftlichkeit (RKW) im Februar 1941 über das Warschauer Ghetto erstellte, dann wird auch hier der Zusammenhang von materiellem Nutzen und
„Die Belagerung hat gegenwärtig den Zweck,
die Juden zur Herausgabe ihrer Waren, Gold und Devisenvorräte zu zwingen.“
Aus einem Gutachten über das Warschauer Ghetto, Februar 1941
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Rassenmord deutlich: „Der j. W. (jüdische
Wohnbezirk) gleicht in seiner heutigen
Konstruktion einer belagerten Festung. Die
Belagerung hat gegenwärtig den Zweck,
die Juden zur Herausgabe ihrer Waren,
Gold und Devisenvorräte zu zwingen. Ist
dies erfolgt, so tritt als wirtschaftliche Aufgabe die Ausnutzung der im j. W. vorhandenen Arbeitskraft in den Vordergrund.
Zur Zeit ist aber im Generalgouvernement,
von Facharbeitern abgesehen, kein Mangel
an Arbeitskraft, sondern ein starker Überschuss vorhanden. Es darf daher bei der
Versorgung mit Arbeit nicht eine einseitige Bevorzugung des j. W. erfolgen.“
Ungelöst blieb für den Gutachter, der
schon die rücksichtslose Arisierung in Wien
besorgt hatte, neben dem Problem des
Überschusses von Arbeitskräften das der
Ernährung, für das er zwei politische Entscheidungsalternativen anbot: Entweder
man versuche „durch eine einigermaßen
ausreichende Ernährung die Arbeitskraft
der Insassen bezw. besonders bevorzugter
Teile zu erhalten“, oder man sehe „den
j. W. als ein Mittel an, das jüdische Volkstum zu liquidieren“.
Am Ende schlug der Gutachter des
RKW drei politische Entscheidungsmöglichkeiten vor. Die radikalste lautete: „Man
lässt Unterversorgung eintreten ohne
Rücksicht auf die sich ergebenden Folgen.“
Von solchen Wirtschaftsexpertisen war
es nicht weit zu dem oft zitierten Brief vom
16. Juli 1941, in dem der Verwaltungsjurist
Rolf-Heinz Höppner, der für das Ghetto
Lodz zuständig war, an seinen Dienstvorgesetzten Adolf Eichmann schrieb: „Es besteht in diesem Winter die Gefahr, dass die
Juden nicht mehr sämtlich ernährt werden
können. Es ist ernsthaft zu erwägen, ob es
nicht die humanste Lösung ist, die Juden,
soweit sie nicht arbeitseinsatzfähig sind,
durch irgendein schnell wirkendes Mittel
Deportation Würzburger Juden (1942), Auktionsbesichtigung von konfisziertem jüdischem
ropäischen Juden begann erst zu dem Zeitpunkt, als sich die wirtschaftlichen, sozialpolitischen und kriegerischen Interessen mit
der antisemitischen Staatsideologie trafen.
Am 11. April 1942 beschwerte sich Carl
Lehmann, ein Galiziendeutscher, beim
Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop tief erschüttert über die weithin öffentlichen Erschießungen
von mehreren zehntausend Juden in und um
Stanislau: „Dieselbe Taktik hat der Herr Krüger
auch in anderen Ortschaften des Kreises Stanislau geübt, nämlich in
Tatarow, Delatyn, Kossow, Kolomea, Rohatyn
und anderen Städten, wo
tausende von Juden wurden hingeschossen und
lebendig begraben.“
Einer der Referenten
Ribbentrops nahm das
Himmler in Dachau (1938): Beispielloses Verbrechen
Schreiben mit folgender
zu erledigen. Auf jeden Fall wäre dies an- Randnotiz zu den Akten: „Über die gegen
die Juden im Generalgouvernement ergenehmer, als sie verhungern zu lassen.“
Es ist lange behauptet worden, das Be- griffenen Maßnahmen dürfte an zust. Stelsondere am Holocaust sei die Vernichtung le hinreichende Kenntnis bestehen.“
So und nur so konnte das Projekt „Endum der Vernichtung willen gewesen, das
Fehlen jedes materiellen Interesses. Davon lösung“ funktionieren, das hohe SS-Führer
kann, das hat die neuere Forschung gezeigt, und Ministerialbeamte am 20. Januar 1942
keine Rede sein: Die Ausrottung der eu- auf der Wannseekonferenz besprochen hatGAMMA / STUDIO X
Spiegel des 20. Jahrhunderts
Das Jahrhundert des Faschismus: Der Holocaust
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ten: arbeitsteilig im normalen ministerialen
Ablauf, kaltherzig in der sterilen Sprache
der Maßnahme. Was Carl Lehmann vom
Berliner Ministerialbeamten unterschied,
war seine Herzensbildung.
Der in dem Brief erwähnte Herr Krüger
hieß mit Vornamen Hans, damals 33 Jahre
alt, Angehöriger der Sicherheitspolizei und
1941 Leiter des Grenzpolizei-Kommissariats Stanislau. Er war im Gymnasium gescheitert und hatte dann eine Landwirtschaftslehre absolviert; das Landgericht
Münster verurteilte ihn 1968 zu lebenslanger Haft, aus der er erst 1986 entlassen
wurde. Eine typische SS-Karriere in dieser
Zeit – doch hinter den Schreibtischen saß
der akademische Nachwuchs.
In der Zivilverwaltung des besetzten
Ostgalizien waren die Landräte, nach
der österreichischen Verwaltungstradition
Kreishauptleute genannt, für den Massenmord administrativ zuständig – überwiegend Juristen. Anders als die Chargen der
Polizei wurde nach 1945 nicht einer von
ihnen bestraft.
Ihre soziale Zusammensetzung zeigt sich
in den Nachkriegsfunktionen: Oberregierungsrat in Hildesheim Heinz Albrecht,
Kreisdirektor von Wipperfürth Viktor von
Dewitz, Rechtsanwalt in Düsseldorf Hermann Görgens, angesehener links-liberaler
Journalist in Hamburg Klaus Peter Volkmann (Pseudonym Peter Grubbe), Staats-
YIVO / USHMM PHOTO ARCHIVES
Besitz: „Unendliche Werte bis zum letzten Pfennig beschlagnahmt“
sekretär in Niedersachsen Otto Wendt, Leiter des Deutschen Industrie-Instituts Ludwig
Losacker (ehemals Amtschef beim Distriktgouverneur in Lemberg), Geschäftsführer
der Gesellschaft für Kernforschung Josef
Brandl, Richter am Bundesverwaltungsgericht Hans-Walter Zinser, Sozialminister in
Schleswig-Holstein Hans-Adolf Asbach.
Diese Herren, die in den ersten Jahrzehnten zur Elite der Bundesrepublik
gehörten, hatten sich alle kraft Amtes mit
der Vernichtung von insgesamt 500 000 ostgalizischen Juden befasst. Sie waren es, die
laut Protokoll in „stürmischen Beifall“ ausbrachen, als der Generalgouverneur des
besetzten Polen, Hans Frank, nach den
großen Deportationen das Thema „Juden“
im Lemberger Opernhaus mit dem ihm eigenen Ton streifte: „Es war heute keiner
mehr zu sehen. Ihr werdet doch am Ende
nicht böse mit denen umgegangen sein?
(Große Heiterkeit).“
Einer dieser heiteren Kreishauptleute
hatte zuvor nach Hause geschrieben: „Zur
Zeit siedle ich meine 7000 Juden um. Wie
das geschieht, muss ich einmal mündlich
berichten.“ Ein anderer hatte einschlägige
Völkermordsonette verfasst: „Kugeln klatschen pfeifend in das Nackte.“
In Ostgalizien, das bis zum Juni 1941 sowjetisch besetzt gewesen war, hatte man
aus dem Ghettogutachten des RKW für
Warschau und einem ähnlichen des Reichsrechnungshofs für Lodz gelernt. Deshalb
zeichneten dort bald die Leiter der deutschen Arbeitsämter für die Abwicklung des
Mordens verantwortlich. Als Herren über
Leben und Tod schritten sie in Ostgalizien
zur sogenannten ABC-Registrierung der jüdischen Bevölkerung. „A“ stand für Facharbeiter in deutschen Institutionen, „B“ für
allgemein Arbeitsfähige, „C“ für nicht Arbeitsfähige. Folgerichtig bezeichnete man
die beschleunigte Massenexekution selbst
der Kinder als „Arbeitsamtsaktion“.
Am 15. März 1942 begann in Ostgalizien
die Deportation „aller entbehrlichen Juden“, nachdem die Erschießungen im Dezember unterbrochen worden waren, weil
der Frost das Ausschachten der Massengräber behinderte. Das Vernichtungslager
Belzec, in dem die Juden mit Hilfe von
Motorabgasen erstickt wurden, war mittlerweile fertig gestellt worden.
Bald registrierte die Oberfeldkommandantur in Lemberg die Niedergeschlagenheit der dort beschäftigten jüdischen
Zwangsarbeiter: „Es dürfte sich inzwischen
herumgesprochen haben, dass die Evakuierten das Aussiedlungsgebiet niemals erreichen.“
Ein Unteroffizier notierte im August
1942 über die Bahnfahrt von Lemberg nach
Lublin: „Wir sind am Lager Belzec vorbeigefahren“, plötzlich rief eine Mitreisende:
„Jetzt kommt es!“ Zu sehen war dem Bericht zufolge nur eine Hecke und ein offener, mit Kleidung gefüllter Schuppen, zu
bemerken aber „ein starker süßlicher Geruch“. – „Die stinken ja schon, sagte die
Frau. Ach Quatsch, das ist das Gas, lachte
der Bahnpolizist.“
In den gehobenen Kreisen von Partei
und Staat kommunizierten die Beteiligten
sachlicher. Zum Beispiel berichtete Reinhard Heydrich, Chef des Reichssicherheitshauptamts, am 6. Mai 1942 in Paris im
kleineren Kreis deutscher Diplomaten und
Offiziere über den Stand der „Endlösung“.
Einer der Zuhörer notierte: „Busse, die für
den Transport von Juden bestimmt sind
und in die man während der Fahrt tödliches Gas einströmen lässt. Ein Versuch, der
zum Leidwesen von Heydrich an unzureichender Technik scheitert. Die Busse sind
zu klein, die Todesraten zu gering, dazu
kommen noch andere ärgerliche Mängel.
Weshalb er zum Schluss größere, perfektere, zahlenmäßig ergiebigere Lösungen
ankündigt.“
Tatsächlich begannen die Massenvergasungen in Auschwitz im März 1942. Das
Vernichtungslager Belzec wurde gleichzeitig in Betrieb genommen, Mitte April aber
bereits für sechs Wochen geschlossen, um
die tägliche Tötungskapazität auf 2000 Personen zu erhöhen, sie also zu verdreifachen. Die Vernichtungsfilialen Sobibór und
Treblinka waren im Bau.
Auch die von Heydrich erwähnten Gaswagen wurden verbessert – in einer Expertise vom 5. Juni 1942 fachsimpelte der
zuständige SS-Offizier über die technischen Probleme, Begriffe wie „Beschickung“ und „Stückzahl“ umschreiben
Juden: „Die Beschickung der Wagen beträgt normalerweise 9 – 10 pro m2. Bei
großräumigen Saurer-Spezialwagen ist
eine Ausnutzung in dieser Form nicht möglich, weil dadurch zwar keine Überlastung eintritt, jedoch die Geländegängigkeit sehr herabgemindert wird. Vorstehende Schwierigkeit ist nicht, wie bisher,
dadurch abzustellen, dass man die Stückzahl vermindert. Bei einer Verminderung
der Stückzahl wird nämlich eine längere
Betriebsdauer notwendig, weil die freien
„Es wird hier ein ziemlich barbarisches Verfahren
angewandt, und von den Juden selbst bleibt nicht mehr viel übrig.“
Joseph Goebbels, Tagebuch, 27. März 1942
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sekranken mindestens zweimal diskutiert die Hypothese begründen, dass der Mord
worden, deutsche Amtsärzte und Fürsor- an den europäischen Juden der unter
gebeamte erwogen, „mit ihnen so zu ver- Kriegsbedingungen vorgezogene und am
fahren wie mit den Juden“. Im Sommer weitestgehend realisierte Teil viel größerer
1941 erstellten deutsche Wissenschaftler Vernichtungspläne war. Allerdings sollten
ein Gutachten zum Thema „Die Aussied- die Millionen Nichtjuden, die zu Objekten
lung aller Polen“.
deutscher Rassenpolitik wurden, nicht
Ende November desselben Jahres no- prinzipiell und nicht insgesamt ausgerottet
tierte sich der Hamburger Bürgermeister werden. Vielmehr wurden die Praxis und
Carl Vincent Krogmann
über die von der Wehrmacht beabsichtigte Konsequenz der Belagerung
Leningrads: „Man nimmt
an, dass der größte Teil
der Menschen, ca. 5 1/2
Millionen, verhungern
werden.“
Schon zu Anfang des
Russlandfeldzuges hatte
ein Vertreter der Einsatzgruppen gegenüber Führungsoffizieren der Heeresgruppe Mitte den Plan
erwogen, dass in einem
„Brandstreifen“ um Moskau 20 Millionen MenExekution in Lettland (1941): „Ausrottung des jüdischen Volkes“
schen mittels einer organisierten Hungersnot den Tod finden soll- Planung des Mordens je nach Kriegs- und
ten. Am weitesten wurden diese Pläne im Interessenlage korrigiert.
rückwärtigen Besatzungsgebiet ebendieDas trifft auch auf die verfolgten Sinti
ser Heeresgruppe realisiert, in Weiß- und Roma zu. Die mittlerweile immer öfrussland: In diesem Land, das 9,2 Millio- ter wiederholte Behauptung, der nazistinen Einwohner zählte, ermordeten Wehr- schen Zigeunerpolitik seien „eine halbe
machts-, Polizei- und SS-Truppen in knapp Million“ Menschen zum Opfer gefallen, ist
drei Jahren 700 000 sowjetische Kriegsge- deutlich zu hoch gegriffen. Realistisch kann
fangene, mindestens 500 000 Juden, 340 000 angenommen werden, dass etwa 200 000
Bauern und 100 000 Angehörige anderer Sinti und Roma im Namen der deutschen,
Bevölkerungsgruppen. Gleichzeitig wur- slowakischen, rumänischen und kroatiden 380 000 weißrussische Männer und schen Rassenpolitik ermordet wurden. In
Frauen zur Zwangsarbeit ins Reich ver- den deutsch besetzten Ländern schonte
schleppt.
man die sozial angepassten, die sesshaften
Bezieht man diese hier nur angedeute- Roma nicht selten; seit 1943 gab es dafür
ten Ausrottungsprojekte ein, so lässt sich eine ganze Serie ausdrücklicher Befehle.
Das ändert nichts an der Schwere auch
dieses Völkermordes – jedoch sind im Fall
der europäischen Juden solche Einschränkungen nicht erlassen worden. Die Besonderheit dieses Verbrechens ergibt sich aus
der Konsequenz der Mörder, aus dem
1941/42 endgültig formulierten Ziel, ausnahmslos alle Menschen auszurotten, die
als Rassejuden eingestuft wurden. Wie
schlimm die Lage einzelner Völker unter
deutscher Herrschaft auch immer war, die
Juden hatten die mit Abstand geringsten
Überlebensaussichten.
Ebendeshalb liegt in ihrem Schicksal etwas Absolutes. Es wird schamhaft-abstrakt
als Holocaust eher umschrieben als bezeichnet, weil es die Vorstellungskraft
sprengt und jede Annäherung bis heute
fragmentarisch bleiben lässt.
Die Zeitgenossen der Tat hielten sich an
die Beschönigung „Judenevakuierung“.
Deutsche Verwaltungsbeamte benutzten
den etwas deutlicheren Begriff „Endlösung
der Judenfrage“. Selbst in seinem Tagebuch behielt Joseph Goebbels die indirekJüdische Zwangsarbeiter in Weißrussland (1941): „Ausnutzung der Arbeitskraft“
Räume auch mit CO angefüllt werden
müssen.“
Bei Christian Gerlach, einem hervorragenden Kenner der nationalsozialistischen
Gewaltpolitik, findet sich die folgende kontrafaktische Überlegung: „Hätte das NSRegime im Mai 1941 ein plötzliches Ende
gefunden, wäre es vor allem durch die
Morde an 70 000 Kranken und Behinderten, an mehreren zehntausend jüdischen
und nichtjüdischen Polen und an vielen
tausend Konzentrationslagerinsassen im
Deutschen Reich berüchtigt geblieben.
Zum Ende des Jahres 1941 war die Zahl der
Opfer der deutschen Gewaltpolitik um
über drei Millionen Menschen angewachsen (die Gefallenen der Roten Armee nicht
gerechnet) – darunter etwa 900 000 Juden,
neun Zehntel davon in den besetzten sowjetischen Gebieten, und annähernd zwei
Millionen sowjetische Kriegsgefangene.“
Erst danach, im Laufe des Jahres 1942,
wurden die europäischen Juden zur größten Gruppe unter den Opfern der deutschen Vernichtungspolitik.
Man kann noch weiter gehen und fragen, was wäre geschehen, wenn NaziDeutschland sich nicht 12, sondern 24 Jahre gehalten hätte.Viel spricht dafür, dass die
Vernichtungspolitik dann noch erheblich
ausgeweitet worden wäre. Innenpolitisch
stand seit 1941 die Beseitigung von zwei
Millionen „Asozialen“ zur Diskussion. In
den besetzten Gebieten des Ostens sollten
die slawischen Völker um mindestens 30
Millionen Menschen „reduziert“ werden,
wobei nicht wenige Bevölkerungsökonomen die Meinung vertraten, die Zahl sei
aus Gründen der Nahrungsmittelversorgung, des deutschen Lebensstandards und
der für die Ostsiedlung vorgesehenen Hofgrößen deutlich zu niedrig angesetzt.
Seit 1942 war im besetzten Polen die
Vergasung aller ansteckenden Tuberkulo-
BUNDESARCHIV
A. BRUTMANN
Spiegel des 20. Jahrhunderts
Das Jahrhundert des Faschismus: Der Holocaust
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Werbeseite
Werbeseite
te Redeweise bei: „Es wird hier ein ziemlich barbarisches, nicht näher zu beschreibendes Verfahren angewandt, und von den
Juden selbst bleibt nicht mehr viel übrig.“
Heinrich Himmler, der diese Aufgabe
federführend, aber in Kooperation mit
anderen Behörden übernommen hatte,
sprach nur einmal, im allerengsten Kreis
seiner SS-Führer, wortwörtlich von der
„Ausrottung des jüdischen Volkes“. Ansonsten achtete er peinlich genau auf
sprachliche Sterilität.
Die Technik der geheimen Maßnahme
war bereits 1939 für die „Euthanasie“-Morde entwickelt worden. Vor der politischen
Entscheidung zur Ermordung geistig Be-
1
jüdische Bevölkerung
wird vielleicht in ganz später Zeit sich einmal überlegen können, ob man dem deutschen Volke etwas mehr darüber sagt. Ich
glaube, es ist besser, wir – wir insgesamt –
haben das für unser Volk getragen, haben
die Verantwortung auf uns genommen (die
Verantwortung für eine Tat, nicht nur für
eine Idee) und nehmen dann das Geheimnis mit in unser Grab.“
Die breite Akzeptanz in der deutschen
Gesellschaft konnte nur in einer passiven,
unausgesprochenen Komplizenschaft erreicht werden. Mehr war aber auch nicht
nötig. Die Vernichtungsprogramme mussten daher, wie durchsichtig auch immer,
als kriegsbedingte Maßnahmen verschlei-
Norwegen
Jahr der Volkszählung
1359
758
Zahl der von den Nazis ermordeten
Juden (realistische Schätzung nach
1
Wolfgang Benz „Dimension des Völkermords“)
Sowjetunion
Niederlande
111917
102000
1
Deutsches Reich
Belgien
Staatsgrenzen 1939
Polen
499682 3
165000
3020171 6
2100000
2732573 2
2700000
90000 7
Tschechoslowakei
28518 Luxemburg 4
3144
356830 1
1200
143000
Österreich
Frankreich
Ungarn
206000 5
300000 7
725000 8
65459
76134
550000
Rumänien
756930 1
211214
Jugoslawien
Italien
46656
6513
Jahr der Volkszählung
1 1930 5 1938
2 1931 6 1939
3 1933 7 1940
4 1935 8 1941
68405 2
60000 bis
65000
Griechenland
69591 7
59185
hinderter in Gaskammern hatte sich Hitler
von seinem Leibarzt Theo Morell eine
sächsische Umfrage aus den zwanziger Jahren auswerten lassen.
Damals waren die Eltern schwer behinderter Kinder – ausdrücklich hypothetisch
– von einem Anstaltsdirektor gefragt worden, ob sie „in die schmerzlose Abkürzung
des Lebens ihres Kindes einwilligen“ würden. Die Antworten hatten ergeben, dass
eine Reihe der Befragten durchaus einverstanden gewesen wären, aber Wert darauf
legten, nicht in die Entscheidung einbezogen zu werden. Ihnen sei es lieber, hatten
sie gesagt, wenn man ihnen mitteilte, ihr
Kind sei den Folgen seiner schweren Leiden erlegen.
Morell folgerte daraus für seinen überlieferten Vortrag bei Hitler: „Man darf
nicht denken, dass man keine heilsame
Maßnahme ohne das Placet des Souveräns
Volk ausführen könnte.“
Ganz ähnlich argumentierte Himmler,
als er 1943 den Reichs- und Gauleitern über
die Judenvernichtung berichtete: „Man
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ert bleiben. In der sprachlichen Tarnung, in
der Deklarierung als „Geheime Reichssache“, lag eine Offerte an jeden Einzelnen:
Er brauchte sein Gewissen damit nicht zu
belasten und konnte sich so aus der Mitverantwortung stehlen.
Wenn später fast alle damals erwachsenen Deutschen auf den Vorwurf „Ihr müsst
das gewusst haben!“ mit selbstsicherem
„Nein“ reagierten, dann deshalb. Die richtige Frage lautet: Warum wollte die Mehrheit der Deutschen so wenig wissen?
Die Diskussion der letzten Jahre um die
Restitution jüdischen Eigentums brachte
Belege dafür, dass die Komplizenschaft
über die Deutschen hinausging. Bürger
und Institutionen vieler Staaten dieses
Kontinents profitierten von der deutschen
Judenverfolgung. In Warschau, Amsterdam oder Paris gelangten jüdische Wohnungen, Läden und Kleinbetriebe, Gemälde, Schmuck und Antiquitäten vielfach
unter deutscher Besatzung in einheimischen Besitz. Nur deshalb hält zum Beispiel die Tschechische Republik die Ari-
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Deutsche beim Anblick ermordeter russischer Gefangener, US-Soldaten (1945)*: Unausgesprochene Komplizenschaft
* Auf amerikanischen Befehl hatten zuvor Zivilisten aus
dem westfälischen Suttrop die Leichen aus einem
Massengrab geborgen.
LITERATUR
Saul Friedländer: „Das Dritte Reich und die Juden.
Die Jahre der Verfolgung 1933 – 1939“. C. H. Beck Verlag, München 1998; 458 Seiten – Die für diesen Zeitabschnitt beste Synthese.
Christian Gerlach: „Krieg, Ernährung, Völkermord.
Forschungen zur deutschen Vernichtungspolitik im
Zweiten Weltkrieg“. Hamburger Edition, Hamburg
1998; 308 Seiten – Aufarbeitung bisher unbekannter
Quellen.
belegen diese Zusammenhänge.Viele deutsche Historiker übergehen solche Dokumente, mitunter weil sie nicht in ihr
Weltbild passen, meistens aber um den
Eindruck nationaler Selbstentlastung zu
vermeiden. Es stellt sich jedoch die Frage,
inwieweit das Projekt „Endlösung“ die
deutsche Gewaltherrschaft im besetzten
Europa stabilisierte und eher zur Integration als zum Widerstand der unterworfenen Völker beitrug.
In diesem Zusammenhang müssen auch
am Volkswohl orientierte Ideen zur Eigentumsumverteilung gesehen werden, die
ganz Europa beherrscht haben. So gingen
die politischen Leitbegriffe des gemeinnützigen Raubes – in Russland die „Sowjetisierung“, in Polen die „Polonisierung“, in der Tschechoslowakei die „Tschechisierung“ – dem erst später entwickelten
Schlagwort „Arisierung“ um mehr als ein
Jahrzehnt voraus.
Die Enteignung stigmatisierter Minderheiten und Klassen gereichte, bei aller Unterschiedlichkeit der jeweiligen Praxis, stets
zum Vorteil des kollektiv geadelten Staatsvolks. Sie war lange vor der NS-Herrschaft
in vielen Staaten Europas populär.
Für den Erfolg der NSDAP bildete die
Idee vom nationalen Sozialismus die wichtigste politische Grundlage. Sie stützte sich
auf die Lehre von der Ungleichheit der Rassen und versprach den Angehörigen der
Herrenrasse – und das war die übergroße
Mehrheit der Deutschen – im selben Atemzug mehr Chancengleichheit und bessere
Aufstiegsmöglichkeiten als während der
Kaiserzeit und noch in der Republik.
So gesehen ist der Rassismus – einschließlich des beispiellosen Staatsverbrechens der
„Endlösung der Judenfrage“ – eine Spielart
des Egalitarismus, also einer der stärksten
Tendenzen des 20. Jahrhunderts.
Wassili Grossman, Ilja Ehrenburg (Hrsg.): „Das
Schwarzbuch. Der Genozid an den sowjetischen
Juden“. Rowohlt Verlag, Reinbek 1994; 1150 Seiten – 1944/45 im Auftrag des Jüdischen Antifaschistischen Komitees, Moskau, erarbeitete Dokumentation.
Raul Hilberg: „Die Vernichtung der europäischen
Juden“. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am
Main 1994; drei Bände, 1350 Seiten – Pionierwerk
von 1961.
Dieter Pohl: „Nationalsozialistische Judenverfolgung
in Ostgalizien 1941 – 1944. Organisation und Durchführung eines staatlichen Massenverbrechens“.
Oldenbourg Verlag, München 1996; 456 Seiten – Die
bislang gründlichste Regionalstudie.
Leni Yahil: „Die Shoah. Überlebenskampf und Vernichtung der europäischen Juden“. Luchterhand
Verlag, München 1998; 1056 Seiten – Gesamtdarstellung, die viele Zeugnisse der Ermordeten und Entronnenen berücksichtigt.
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Der Autor
Götz Aly, 52, Privatdozent an der FU
Berlin und Redakteur der „Berliner
Zeitung“, veröffentlichte „‚Endlösung‘.
Völkerverschiebung
und der Mord an den europäischen
Juden“ (S. Fischer Verlag, 1995).
BERLINER ZEITUNG
sierungsakten bis heute eisern unter
Verschluss.
Die Ablehnung der Deportation ihrer
jüdischen Staatsbürger durch die dänische
Regierung oder durch das faschistische Italien blieben Ausnahmen. Französische
Polizisten trieben die todgeweihten Juden
im besetzten und unbesetzten Frankreich
zusammen. Holländische Bürokraten lieferten den Besatzungsherren jene Personendateien aus, die Auskunft über das religiöse Bekenntnis gaben. Lettische und
ukrainische Hilfsverbände stellten die
Mannschaften zahlloser Exekutionskommandos, bald schon wurden „fremdvölkische Hiwis“ des Völkermords aus den Reihen gefangener Rotarmisten angeworben.
Die Deportation von 440 000 ungarischen
Juden bewältigte Adolf Eichmann 1944 binnen drei Monaten mit einem Stab von 60
deutschen Mitarbeitern, gestützt auf die
hoch motivierte Gendarmerie des Landes.
Unzählige Primärquellen, Zeugenvernehmungen und Berichte Überlebender
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Spiegel des 20. Jahrhunderts
XXP / DER SPIEGEL
Das Jahrhundert des Faschismus: Der Holocaust
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Das Jahrhundert des Faschismus: Der Holocaust
STANDPUNKT
Des Teufels Armee
Von Ralph Giordano
Spiegel des 20. Jahrhunderts
von ihnen missachteten Paragrafen Widerstand leistende Okkupierte wahllos
zu erschießen (während bei umgekehrtem Kriegsverlauf natürlich jeder deutsche Partisan als Nationalheld gefeiert
worden wäre). Auch die Männer des 20.
Juli sind längst missbraucht als Galionsfiguren eines nie exemplarischen Widerstands der Hitlerwehrmacht.
Subjektiv: Natürlich ist die Verantwortungsskala für den Angriffskrieg, für
Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit hierarchisch abgestuft. Ganz oben auf der Leiter steht
die politische und die militärische Führung, auf den
unteren Sprossen vor allem
die jungen Soldaten, die von
Kind an der NS-Indoktrination ausgesetzt waren.
Und natürlich ist deshalb
auch kein wahres Wort an
dem absichtsvoll diskriminierenden Anwurf der
Wehrmachtsapologeten, die
Wehrmachtskritiker stempelten jeden Soldaten zum
Verbrecher.
Doch wenngleich die
Kampfmotivation des Wehrmachtsmuschiks und vieler
Offiziere wohl kaum darin bestanden
haben dürfte, Himmlers Mordgesellen
und Tätern in den eigenen Reihen den
Raum freizuschießen – genau das war
die Folge ihres Kampfes unter dem
Hakenkreuz.
Es gab Adolf Hitler nicht zweimal –
der Bauherr von Auschwitz war in Personalunion auch Schöpfer der Wehrmacht und ihr Oberster Befehlshaber.
Mag die Erkenntnis angesichts so vieler
eigener Gefallener noch so bitter sein –
die Wehrmacht war, in Abwandlung eines berühmten Zuckmayerschen Dramentitels, nie etwas anderes als „des
Teufels Armee“.
BPK
W
ehrmacht und Krieg sind, torialgewinne der Wehrmacht – erst ihre
wenngleich neuerdings ziem- Siege schufen die Voraussetzungen für
lich abgemagert, die letzten die ungeheuerliche Ausweitung des
Heiligen Kühe in der langen Chronik Opferpotenzials.
Der Massenmord war arbeitsteilig
deutscher Verdrängungskünste nach
1945. Ihre Codewörter: „Sauberer Waf- zwischen Wehrmacht und SS geregelt.
fenrock“, „Wertfreier Kampf“, „Zeitlo- Dazu zählten von der Wehrmacht in
se soldatische Tugenden“ – als hätte der jeder eingenommenen Ortschaft angeAnschlag Hitlerdeutschlands auf die brachte Aufforderungen zur RegistrieWelt in einer Art historischem Vakuum rung aller Juden.
Diese Maßnahme befähigte die perstattgefunden.
Dazu ist objektiv festzustellen: Die sonell eher schwach ausgestatteten TöWehrmacht war das Schwert, das ge- tungskommandos der vier Einsatzgrupfährlichste Instrument in den Händen pen A, B, C und D nach ihren eigenen
der verbrecherischen NSReichsführung zur Realisierung ihres Angriffskrieges
und seiner Eroberungs-,
Raub- und Unterdrückungspläne. Die Wehrmacht hat
das kriminelle Nazi-System
mit Waffengewalt über die
deutschen Grenzen hinaus
bis an die Wolga und den
Polarkreis, den Rand der
Sahara und die Atlantikküste katapultiert, vom ersten
Schuss an unermessliches
Leid über die langjährig besetzten Völker gebracht und Exekution von Russen (1942): Himmlers Mordgesellen
durch ihren militärischen
Kampf Millionen Menschen Leben, Ge- Ereignismeldungen an die Schaltzentrale Reichssicherheitshauptamt, 1941/42
sundheit, Hab und Gut gekostet.
Unabhängig davon, dass es bis auf den hinter der Ostfront innerhalb weniger
heutigen Tag der weiße Fleck im histo- Monate Hunderttausende, meist Juden,
rischen Bewusstsein einer deutschen umzubringen.
Nur wo zuvor der Landserstiefel hinMehrheit geblieben ist: Der Krieg war
das NS-Hauptverbrechen, selbst wenn getreten hatte, konnten die mobilen
die Wehrmacht keinem einzigen Zivili- Mordkommandos der SS operieren, die
sten auch nur ein Haar gekrümmt hätte. stationären Todesfabriken errichtet werDas Hauptverbrechen war der Krieg, den, und schließlich, überwältigend doaber auch deshalb, weil er den Rahmen kumentiert, auch Teile der Wehrmacht
für den industriell betriebenen Massen- unvorstellbare Verbrechen an Zivilisten
und Völkermord abgesteckt hat – der begehen, vor allem unter dem DeckRadius des Vernichtungsapparats war bei mantel der Partisanenbekämpfung.
Die gleichen Okkupanten, deren AnVormarsch und Rückzug stets identisch
griffskrieg jedes Völkerrecht und alle inmit dem der deutschen Fronten.
Kein Holocaust, keine Massaker an ternationalen Abmachungen gebrochen
nichtjüdischen Slawen, an Kriegsgefan- hatte, fühlten sich makabrerweise begenen, Sinti und Roma ohne die Terri- rechtigt, unter Berufung auf ebendiese
Giordano, 76, ist Schriftsteller („Die
Bertinis“).
DIE THEMENBLÖCKE IN DER ÜBERSICHT: I. DAS JAHRHUNDERT DER IMPERIEN; II. … DER ENTDECKUNGEN;
III. … DER KRIEGE; IV. … DER BEFREIUNG; V. … DER MEDIZIN; VI. … DER ELEKTRONIK
UND DER KOMMUNIKATION; VII. … DES GETEILTEN DEUTSCHLAND: 50 JAHRE BUNDESREPUBLIK;
VIII. … DES SOZIALEN WANDELS; IX. … DES KAPITALISMUS; X. … DES KOMMUNISMUS; XI. DAS JAHRHUNDERT
DES FASCHISMUS; XII. … DES GETEILTEN DEUTSCHLAND: 40 JAHRE DDR; XIII. … DER MASSENKULTUR
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Sport
FUSSBALL
Philosoph in der A-Klasse
FOTOS: H. RUDEL
Mit Ralf Rangnick als Trainer sollte alles besser werden beim VfB Stuttgart. Doch hinter
dem missionarischen Eifer des Sportlehrers steckt auch Naivität. Die
Mannschaft ist Tabellenletzter, etliche seiner Ideale hat der Coach bereits zurückgestellt.
Trainer Rangnick, VfB-Spieler Dundee, Bordon, Balakow: Seltsame Mischung aus Innovationseifer und konservativen Gesten
D
er Mann verspricht Wiedergutmachung. Sein Gesicht erscheint überlebensgroß auf der Videowand des
Gottlieb-Daimler-Stadions. Der Blick ist
ernst und entschlossen, aber nicht unfreundlich. „Wir alle wissen, dass wir in
Hamburg einen Riesenscheiß zusammengespielt haben“, schallt es durch das Oval.
Und: „Wir sind heute hier, um diese Scharte auszuwetzen.“
Zwei Stunden später ist der Blick noch
ernster. Es hat wieder nicht geklappt. Wie
er so dasteht in den Katakomben der
Arena, in der langen roten Turnhose, die
ein, zwei Nummern zu groß ist, den weißen
Joggingschuhen und der einfachen Sportuhr am Handgelenk, sieht Ralf Rangnick,
41, aus wie ein Mitglied des Betreuerstabs,
das für die Zubereitung der isotonischen
208
Getränke Verantwortung trägt. Aber er ist
der Trainer des Bundesligavereins VfB
Stuttgart, der sich gerade einem Fernsehinterview stellt.
Der Flur ist schrecklich schmal. Zweimal muss die Befragung unterbrochen werden, weil dienstbare Geister dicke Alukoffer durch die Menge bugsieren.
Rangnick lässt sich dadurch in seiner
wohlformulierten Analyse nicht stören. Als
das Gespräch vorbei ist, nickt er dem Journalisten kurz zu, dreht sich um und geht.
Kein Schulterklopfen, keine überflüssigen
Worte.
Ein neuer Ton ist eingezogen beim
schwäbischen Traditionsclub. Ausgerechnet ein Herr Unauffällig im Trainingsanzug
sollte die launische Diva aus Stuttgart wieder auf den rechten Weg führen. Doch
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nach drei Spieltagen hat sich der VfB auf
dem letzten Tabellenplatz eingenistet – ein
Vereinsrekord der negativen Art. Fast
zwangsweise fragt sich die kurzatmige
Fußballbranche, wie lange die Liaison
noch hält.
In der vergangenen Saison brauchte Präsident Gerhard Mayer-Vorfelder vier Trainer, um am letzten Spieltag den Abstieg zu
vermeiden. In seiner 24-jährigen Regentschaft ist Rangnick die Nummer 20.
Fußball-Pädagogen verschiedenster Prägung hat der Christdemokrat über die
Jahre an seinen Hof gelockt: Charmeure
und Dampfplauderer, Motivationskünstler
und Weltmänner – und nun einen examinierten Sport- und Englischlehrer, der nie
ein Spiel als Fußballprofi bestritten oder
gar eine Erstligamannschaft trainiert hat.
Joachim Löw, VfB-Trainer von 1996 bis
1998, war so ein Typ. Eigentlich sollte der
Assistent des zurückgetretenen Rolf Fringer nur bis zur Ernennung eines neuen
Chefs die Elf führen, doch dann geschah
Unverzeihliches: Das Team gewann Spiel
um Spiel – und Mayer-Vorfelder musste
den Interimscoach befördern. Als die Erfolgskurve dezent kippte, setzte der Vereinsboss den beliebten Löw vor die Tür.
Auch Rangnick hat so seine Erfahrungen
mit dem Führungsstil des politischen
Rechtsaußen. Anfang der neunziger Jahre
arbeitete er als A-Jugendtrainer und Jugendkoordinator für den VfB. Nach vier
Jahren zog Rangnick beleidigt davon, weil
er seine Vorstellungen nicht durchsetzen
konnte.
In Ulm durfte sich der ehemalige Amateurkicker verwirklichen. Den örtlichen
SSV von 1846 führte er rasch in die Zweite Bundesliga und an deren Tabellenspitze.
Das reichte, um als strategischer Genius in
die Schlagzeilen zu stürmen. Und es reichte, um von Mayer-Vorfelder – und auf
Druck von dessen Vorstandskollegen – als
neuer Heilsbringer für die marode VfBTruppe präsentiert zu werden.
Jetzt versucht Rangnick zu beweisen,
dass man „erfolgsorientierten“ Fußball
nicht nur in der beschaulichen Provinz,
sondern auch im ungemütlich anspruchsvollen Stuttgart „anders“ betreiben kann.
Während einige seiner Kollegen mit prall
gefüllten Geldkoffern durch die Welt reisen, predigt er seiner vergleichsweise namenlosen Mannschaft die „ballorientierte
Raumdeckung“ – seine Philosophie von
modernem Fußball, in der jeder Akteur
eine wichtige Rolle spielt, aber keiner unersetzbar ist. Der Star ist das System.
Rangnick ist kein impulsiver Gefühlsmensch. Worte wie „Der Rasen muss brennen“, die Vorgänger Schäfer so gern
bemühte, sind ihm ein Gräuel. Der Backnanger spricht zwar den Dialekt der Fans,
aber er spricht nicht ihre Sprache. Wenn
er über Fußball redet, könnte man meinen, er doziere über Schach: „Wenn der
Gegner den Ball besitzt, muss bei uns die
ganze Mannschaft mit einem gemeinsamen
Zug reagieren und entsprechend vorausdenken.“
Er ist ein akribischer Arbeiter, der einen Sportpsychologen der Uni Heidelberg
ins Trainingslager einlud, um seine Spieler
dafür „zu sensibilisieren, dass der Kopf
mitkicken muss“. Er ist ein Perfektionist,
bei allem, was er tut. Wenn er Autogramme gibt, schreibt er immer seinen Vornamen aus. Selbst das K des Nachnamens
bringt er noch so aufs Papier, wie er es in
der Grundschule gelernt hat.
Umso mehr wurmt es ihn, dass schon
nach drei Spieltagen sein ausgeklügeltes
System im Zentrum der Kritik steht. Nach
dem Totalausfall beim 0:3 in Hamburg
schienen ihm die ersten Profis bereits die
Gefolgschaft zu verweigern. „So geht es
nicht“, stöhnte Stürmer Pavel Kuka, „es
ist zu kompliziert, wir müssen wieder einfachen Fußball spielen.“ Rangnick kann so
etwas nicht nachvollziehen. Bayerns Trainer Ottmar Hitzfeld habe nach der Niederlage gegen Leverkusen doch auch niemand gefragt, ob er die richtige Spielform
gewählt habe.
Dass es bei Rangnick aber so gekommen ist, hat er sich selbst eingebrockt. Im
vergangenen Dezember trat er im „Aktuellen Sport-Studio“, damals noch in Diensten des SSV Ulm, an eine Magnettafel und
kündete der Nation von der richtigen Taktik für die Zukunft des Fußballs. Rangnick
hat seitdem nicht mehr nur noch Freunde.
In der Szene wird er von vielen zynisch
„Professor“ genannt; sogar DFB-Teamchef
Erich Ribbeck, dessen strategische Kreativität als leicht überschaubar gilt, tadelte
den Nobody. „Damit kann ich leben“, sagt
er tapfer. Aber es nervt.
Heute würde er eine solche OberlehrerNummer nicht mehr machen, auch wenn er
die ganze Aufregung nicht verstehen will.
Nach der Sendung, sagt er, hätten sich bei
ihm unheimlich viele Frauen gemeldet und
dafür bedankt, dass er ihnen die ballorientierte Raumdeckung etwas näher gebracht habe. „Vielleicht“, so Rangnick, sei
„die heftige Reaktion des DFB-Teamchefs
auch so zu erklären, dass ihn seine Frau
nachher gefragt hat: Warum habt ihr nicht
so gespielt?“
Mit einer seltsamen Mischung aus Innovationseifer und konservativen Gesten will
Rangnick auf der Bundesligabühne bestehen. Er setzt auf Werte, die im Fußballgeschäft nicht mehr zu den alltäglichen
Tugenden gehören: „Der gegenseitige
Respekt und das Interesse für den Mitspieler müssen vorhanden sein.“ Wenn er
morgens vor dem Training die Kabine
betritt, reicht er jedem Spieler die Hand
und erkundigt sich nach dem persönlichen
Befinden.
Am Anfang haben ihn einige Profis
ziemlich verdutzt angesehen, weil sie so
viel Zuwendung bisher nicht gewohnt waren. Für Rangnick ist das völlig normal,
„ein Teil meines Selbstverständnisses“.
Auch bei der Suche nach neuen Spielern ging der Fußball-Lehrer Wege, die
durchaus einleuchten – in der Branche aber
zu Irritationen führen: Rangnick klingelte
einfach bei einem Wunschkandidaten
durch. Kurz darauf bekam er einen Anruf
* Bei der Vorstellung von VfB-Trainer Winfried Schäfer
am 21. Mai 1998.
Präsident Mayer-Vorfelder*
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BAUMANN
„Wir waren uns in allen Gremien einig,
dass dieser Mann genau unser Anforderungsprofil des neuen Trainers erfüllt“, begründete Mayer-Vorfelder im Politjargon
die Wahl.
Das verblüfft insofern, weil der emeritierte Landesminister sich stets zu schillernden Persönlichkeiten wie Arie Haan,
Christoph Daum, Jürgen Sundermann oder
Winfried Schäfer hingezogen fühlte. Mit
feineren Charakteren vom Schlage Rangnicks konnte der derbe, trinkfeste Schwabe nie etwas anfangen.
Vier Trainer in einer Saison
209
ZDF
Sport
Studiogast Rangnick, Moderator Steinbrecher*: Nachhilfe vom Oberlehrer
von dessen Berater, der einen strengen
Tadel erteilte.
Rangnick ist im Schwabenländle forsch
angetreten. „Wenn Frank Verlaat geht,
gehe ich auch“, hatte er gedroht. Der Libero wurde für acht Millionen Mark an
Ajax Amsterdam verkauft; der Trainer ist
geblieben.
Es sollte, so wünschte er, kein Kicker verpflichtet werden, mit dem er nicht wenigstens auf Englisch kommunizieren könne.
Jetzt sind mit den beiden Brasilianern Marcelo Bordon und Didi und dem Rumänen
Viorel Ganea drei neue Spieler im Kader,
die weder Deutsch noch Englisch beherrschen. Dolmetscher vermitteln die Taktik.
Um den „Charakter der Mannschaft“
zu ändern, wollte der Reformer einige der
saturierten Stars loswerden. Für die
meisten fand sich jedoch kein Käufer – so
muss Rangnick mit einem auf 30 Mann aufgeblähten Kader arbeiten. Der Personalüberhang ist beim Einstudieren des fortschrittlichen Spielsystems eher hinderlich.
Der Neuaufbau, so hat Rangnick einsehen
müssen, dauert länger als vorgesehen.
Doch der Novize, der „jeden Samstag
ein Happening im Stadion“ angekündigt
hatte, genießt viel Kredit in Stuttgart. Mayer-Vorfelder weiß, dass ein erneuter Trainerwechsel ihn wohl sein Präsidentenamt
kosten würde. Der Aufsichtsrat will unter
allen Umständen an Rangnick festhalten.
Umso unbegreiflicher, dass sich der
Coach nach nur drei Spielen selbst in Frage stellte. Am kommenden Samstag in Unterhaching stehe nicht nur für die Mannschaft, sondern auch für den Trainer viel
auf dem Spiel. So reden Fußball-Lehrer,
die schon weidwund sind.
* Im „Aktuellen Sport-Studio“ des ZDF am 19. Dezember 1998.
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Offenkundig wollte Rangnick besonders
lebensnah wirken, als er betonte, dass „die
Mechanismen der Branche“ auch bei ihm
greifen werden. Die Äußerung geriet zum
Eigentor. Genüsslich nahm „Bild“ die Steilvorlage auf und titelte: „Rangnick weiß:
Es geht schon um seinen Job“ – und der
Trainer lamentierte über die böse Macht
der Medien.
So schimmert hinter dem sympathisch
Missionarischen an Rangnick bisweilen
Naivität durch. In einer Disziplin ist er
längst medaillenverdächtig: im Zurückrudern.
Um die Dekadenz im Bundesliga-Business zu bekämpfen, logiert der VfB im
„Natürlich werde ich einem
Balakow nicht vorschreiben, was
er für ein Auto fahren darf“
Hotel zwar jetzt mit einem Stern weniger.
Die Einzelzimmer für ein paar verwöhnte
Stars wurden gestrichen. Doch die Vision,
dass er seinem Personal die teuren Autos
und pausenlos klingelnden Handys abgewöhnen könne, hat er wie etliche andere
Vorsätze längst aufgegeben. „Natürlich
werde ich einem Balakow nicht vorschreiben, was er für ein Auto fahren darf.“
Dafür ist es längst zu spät.
Bei den jungen Spielern, immerhin, hofft
der Weltverbesserer noch Gehör zu finden. Bisher kam jeder Stuttgarter Spieler
nach seinem Bundesliga-Einsatz gleich in
den Genuss der großzügigen Leasing- und
Kaufkonditionen des DaimlerChryslerKonzerns. Künftig solle kein Spieler, der
am Freitag sein Debüt gibt, montags ein
teures Cabriolet bestellen. Solchen Kandidaten will Rangnick „zum Einstieg eine AKlasse“ anempfehlen.
Alfred Weinzierl
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Sport
O LY M P I A
„Den Gigantismus bekämpfen“
B. ESPOSITO / KEYSTONE PRESS ZÜRICH
IOC-Reformer Jacques Rogge über Korruption,
Doping und seine Ambitionen,
Präsident Juan Antonio Samaranch zu beerben
Olympia-Funktionär Rogge*: „Keine Gesellschaft ändert sich ohne Revolution“
Rogge, 57, nahm als Segler an drei Olympischen Spielen teil, wurde einmal Weltmeister im Finn-Dinghy. Der Chirurg aus
Gent, vom belgischen König zum Chevalier geschlagen, ist Mitglied der Exekutive
des Internationalen Olympischen Komitees (IOC). Er gehört zu einer Reform-Arbeitsgruppe, zu der auch Henry Kissinger
und Boutros Boutros-Ghali zählen, die die
künftige Struktur des IOC entwickelt.
SPIEGEL: Herr Rogge, schon im Dezember
soll die Vollversammlung die neue Struktur des IOC verabschieden. Haben es die
Olympier so eilig, weil sie sonst ihre Entmündigung fürchten?
Rogge: Weil es da eine Anhörung vor dem
Handelsausschuss des US-Senats gab? Weil
die Bundespolizei FBI ermittelt? Nein. Diese Gefahr sehe ich nicht, ich kann keine
Tendenz zur feindlichen Übernahme entdecken, weder durch die Wirtschaft noch
durch die Politik.
SPIEGEL: In den USA, wo die meisten
Olympia-Sponsoren sitzen, wird der Status
des IOC als gemeinnützige Organisation
* Am 28. April bei einer Pressekonferenz in Sydney.
214
von weit reichenden Reformen abhängig
gemacht.
Rogge: Verlieren wir diesen Status, dann
schadet das am Ende den US-Athleten. Das
kann gesunder Menschenverstand nicht
wollen. Das amerikanische Olympiakomitee erhält vom IOC mehr Mittel als alle
anderen 199 nationalen Komitees zusammen. Und was die Reformen betrifft, sagen
viele: Ihr ändert ja nur etwas, weil es Kritik gibt. Denen antworte ich: Natürlich.
Keine Gesellschaft der Welt ändert sich
ohne eine Revolution. Man brauchte die
Französische Revolution, um den König
enthauptet zu sehen.
SPIEGEL: Wozu braucht es eine Reformkommission in Kompaniestärke?
Rogge: Ich war auch anfangs skeptisch. 80
Leute – wie kann man da effektiv arbeiten?
Aber es funktioniert. Leute wie Kissinger,
Boutros-Ghali oder Gianni Agnelli geben
uns eine Menge Hilfe.
SPIEGEL: Welche zum Beispiel?
Rogge: Viele dachten, wir müssten künftig
zu hundert Prozent Repräsentations-Mitglieder im IOC haben. Also gewählte Vertreter der Nationalen Olympischen Komitees, der Athleten, der Verbände. Das sei
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total demokratisch. Der Rat dieser Leute
von außen aber war: Ihr braucht eine
Mehrheit von unabhängigen Mitgliedern,
die keiner Interessengruppe verantwortlich sind. Sonst, hieß es, werdet ihr sein
wie die Vereinten Nationen, wo eine Gruppe gegen die andere arbeitet.
SPIEGEL: Stimmt es, dass Sie selbst nie eine
Olympia-Bewerberstadt besucht haben?
Rogge: Ja, ich hatte immer schon das Gefühl, dass die ganze Atmosphäre rund um
diese Besuche für das IOC nicht gut sei.
Schon wegen der Gerüchte über Geschenke und Bestechung. Ich wollte damit nicht
in Verbindung gebracht werden und denke
noch immer: Ich kann über die Vergabe
der Spiele mit entscheiden, ohne die Städte besucht zu haben.
SPIEGEL: So denken nicht alle Ihre Kollegen.
Rogge: Ich verstehe das. Die beste Lösung
wären deshalb Gruppenbesuche. Alles bezahlt und kontrolliert vom IOC, nicht von
der Kandidatenstadt. Eine Art Guided Tour
also, bei der es keine Geschenke und damit
keine Probleme geben kann.
SPIEGEL: Haben die Korruptionsskandale
Ihre Ambitionen verstärkt, Präsident Samaranch in zwei Jahren zu beerben?
Rogge: Als ehemaliger Athlet habe ich den
Reflex eines Wettkämpfers. Und ich habe
den Reflex eines Arztes: Die Leute kommen mit Problemen zu mir, und ich versuche, sie zu lösen. Das ist in meinem Leben
hart trainiert worden, berufsmäßig bin ich
ein Troubleshooter. Ich liebe diese Periode
im IOC nicht. Ich war geschockt von den
Vorfällen, empört. Das hat aber nicht den
Willen gemindert, die Dinge zu lösen.
SPIEGEL: Also treten Sie an?
Rogge: Ich entscheide das nach den Spielen
in Sydney. Mein Job lehrt mich, im Leben
demütig zu sein. Auch meine Vergangenheit als Athlet: Ich habe mehr Rennen verloren als gewonnen. Was ich meine, ist:
Niemand würde antreten, der keine Chancen hätte, gewählt zu werden. Wir haben
viele gute Leute, und ich bin nicht so pessimistisch, dass ich dächte, die Zukunft des
IOC hinge von einem durch die Vorsehung
bestimmten Mann ab. Außerdem ist es kein
angenehmer Job, für die Lebensqualität
eher ein Desaster. Aber wenn man eigene
Visionen realisieren will, ist es nötig, in dieser Position zu sein.
SPIEGEL: Wie sieht das IOC in Ihren Visionen aus?
Rogge: Das IOC sollte sich darauf konzentrieren, die bestmöglichen Spiele für die
Athleten zu organisieren und die olympische Philosophie zu verbreiten. Das ist genug. Es ist falsch zu glauben, wir seien die
Regierung des Sports. Durch die Reformen
können wir uns in der Kommunikation verbessern, transparenter und nüchterner werden.Wir müssen den Gigantismus bekämpfen und neu definieren, wie groß die Spiele sein dürfen. Eine riesige Aufgabe ist es,
den Athleten nach der Karriere zu helfen,
in ein berufliches und soziales Leben zu
L. BONGARTS / BONGARTS
Weltmeister Anton*: „Wir haben unsere Lektion gelernt“
SPIEGEL: Politiker wie der deutsche Innen-
minister Otto Schily sehen das anders. Sie
wehren sich dagegen, dass die Agentur am
IOC-Sitz Lausanne installiert werden soll.
Rogge: Wir haben Herrn Schily erklärt,
dass wir in Fragen des Agentur-Sitzes keinerlei Forderungen stellen. Wir sind einverstanden, wenn es nicht Lausanne ist.
SPIEGEL: Wie gehen Sie mit den Boykottdrohungen mancher Politiker um, die Millionengelder in den Sport investieren?
Rogge: Manchmal ist es gar nicht so
schlecht, wenn die Staaten intervenieren.
Nehmen Sie die Doping-Verfolgung bei
der Tour de France im vergangenen Jahr.
Die Sportbewegung hat kein Recht, in
ein Hotelzimmer zu gehen und den
Koffer eines Athleten zu öffnen. Die Polizei kann das.
SPIEGEL: Die ethischen Werte wie Fair Play
sind beim IOC unter die Räder gekommen.
Wie kann die olympische Idee ihre
Glaubwürdigkeit zurückgewinnen?
Rogge: Wenn Sie mich fragen, ob der
Sport weniger glaubwürdig ist als
1920, dann ist meine Antwort: Nein.
Früher entschied das Geld, wer an
Olympischen Spielen teilnehmen
konnte. Das war die Zeit des Amateurismus. Es waren Aktivitäten von
Reichen, der Sport war sehr unsozial.
Und bis zu den Spielen in Los Angeles 1984 hatten die Entwicklungsländer praktisch keinen Zutritt. Wir hatA. HASSENSTEIN / BONGARTS
finden. Und in Sachen Doping kann sich
auch mehr bewegen.
SPIEGEL: Die olympische Kernsportart
Leichtathletik hat es da heftig erwischt.
Zuletzt berichtete der spanische Marathonläufer Pablo Sierra von organisiertem
Epo-Doping, der Portugiese Domingos
Castro hält 80 Prozent der Topathleten für
gedopt; auch Weltmeister Abel Anton wird
verdächtigt.
Rogge: Es wäre naiv zu glauben, irgendeine Sportart wäre von Doping-Problemen
unberührt. Leider wissen wir nicht, wie
groß das Problem wirklich ist. Wir können Epo und Wachstumshormone nicht
aufspüren. Deshalb hat das IOC entschieden, noch einmal zwei Millionen Dollar
in die wissenschaftliche Forschung zu
stecken.
SPIEGEL: Wird es bei Olympia in Sydney
Bluttests geben? Australiens Sportministerin Jackie Kelly sieht da gute Chancen.
Rogge: Wenn Frau Kelly Recht hat, bin ich
der glücklichste Mensch. Nur, als Mediziner muss ich Ihnen sagen: Ich wäre sehr
überrascht, wenn es bis Sydney so weit
wäre. Das Problem ist ja, künstlich hergestelltes Wachstumshormon von körpereigenem zu unterscheiden.
SPIEGEL: Der Münchner Endokrinologe
Christian Strasburger hat so ein Nachweisverfahren entwickelt.
Rogge: Das Wachstumshormon baut sich
im Körper schnell ab. Die Chance, dass ein
Athlet so dämlich ist, es kurz vor dem
Wettkampf zu nehmen, ist beinahe null.
Zum anderen können Mediziner leicht sagen, sie hätten einen Test mit 98 Prozent
Gewissheit. Aber der Richter, der einem
Athleten die Goldmedaille wegnehmen
muss, will 100 Prozent Gewissheit.
SPIEGEL: Wann endlich kommt die internationale Anti-Doping-Agentur?
Rogge: Ich fürchte, nicht vor Ende des Jahres. Nicht unseretwegen dauert das so lange. Es sind die Regierungen, mit denen wir
laut Resolution zusammenarbeiten wollen,
die uns wissen ließen: Wir brauchen Zeit.
Nun haben wir eine Menge Deklarationen,
aber es passiert nichts.
IOC-Präsident Samaranch (r.)*
„Der Stil muss sich ändern“
* Oben: bei seinem Sieg im Marathonlauf in
Sevilla am 28. August; links: bei einem Empfang
in der deutschen Botschaft mit LeichtathletikWeltverbandspräsident Premio Nebiolo und
Bundesinnenminister Otto Schily am 28. August
in Sevilla.
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ten die politische Ausnutzung der Spiele
1936 in Berlin, später die Periode der politischen Boykotte. Sie sehen, zu jeder Zeit
hatten wir Probleme mit der Gesellschaft.
Und was das IOC angeht: Wir haben unsere Lektion gelernt. Wir haben die Leute,
die unethisch gehandelt haben, ausgeschlossen.
SPIEGEL: Hätte Samaranch nicht zurücktreten müssen?
Rogge: Ein neuer Präsident braucht immer
ein paar Jahre, um seine Macht aufzubauen. Außerdem macht Samaranch in dieser
Sache einen guten Job. Als die Krise hochkam, hatten wir eine Exekutivsitzung.
Samaranch schaute während des Mittagessens in die Dokumente. Er kam zurück
und entschied sofort, dass wir den ganzen
Skandal aufklären und aufräumen müssten. Dies ist ja keine glückliche Periode
zum Ende seines insgesamt sehr erfolgreichen Mandats. Er hatte die Wahl, abzuhauen oder es anzupacken. Er packte es an
– meine Gratulation!
SPIEGEL: Worin sollte sich ein künftiger
IOC-Chef von dem Marques de Samaranch
unterscheiden?
Rogge: Er müsste Samaranchs Qualitäten
haben – und darüber hinaus ein leicht anderes Verhalten, einen zeitgemäßen Stil.
SPIEGEL: Inwiefern?
Rogge: Samaranch führt ein sehr einfaches
Leben. Er isst kaum etwas, geht jeden
Abend um halb zehn zu Bett, trainiert
jeden Morgen. Wenn ich Stil sage, meine
ich den Stil der Kommunikation und der
öffentlichen Darstellung. Das ist keine
Kritik. Samaranch hat seine Art zu kommunizieren, das ist die Art seiner Generation.
Interview: Jörg Kramer
215
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Wissenschaft
Prisma
MEDIZIN
Mikroexplosionen
zerstören Hirntumoren
D
V. STEGER
ie schonende und präzise Entfernung von lebensbedrohlichen Hirntumoren soll künftig ein computergesteuertes Lasersystem ermöglichen. Eine Arbeitsgruppe von
den Universitäten Bonn und Köln sowie vom Deutschen
Krebsforschungszentrum unter Leitung des Physikers Josef
Bille testet einen Pikosekunden-Laser, der das Krebsgewebe mit nur Billionstel von Sekunden währenden Pulsen
schichtweise wie eine Zwiebel abschält, ohne gesunde umliegende Regionen zu verletzen. Im Gegensatz zu gewebeschädigenden thermischen Laserstrahlen zerreißen die ultrakurzen Lichtblitze mit Mikroexplosionen die molekula- Laser-OP-Versuch (am Kalbshirn)
ren Strukturen des kranken Gewebes und zerbröseln es. Bei
dem neuen Verfahren wird durch eine nur wenige Millimeter große Schädelöffnung unter der Kontrolle eines Kernspintomografen
eine das Laserlicht leitende Sonde bis zur Geschwulst geführt. Störende, den Tumor durchziehende Blutgefäße zeigt ein LaserScanning-Mikroskop an, das in die Sonde integriert ist und zur Operationskontrolle eingesetzt wird. Darüber hinaus enthält die
Sonde eine Spül- und Absaugvorrichtung, mit der sich die abgelösten Partikel entfernen lassen. Nach Angaben der Forscher soll
schon im nächsten Jahr der erste Patient mit den kalten Strahlen behandelt werden.
MUSEEN
Sauerstoffentzug für Schädlinge
FRAUNHOFER INSTITUT
R
Alternative Stromerzeugung in Argentinien
SOLARENERGIE
Sauberes Wasser
mit Sonnenhilfe
W
eltweit haben 1,3 Milliarden Menschen keinen
Zugang zu sauberem Trinkwasser. Besonders in den
ländlichen Gebieten der Entwicklungsländer fehlt es an
Energie und technischen Mitteln, um das mit Schadstoffen
und Krankheitserregern verseuchte Wasser aufzubereiten. Wissenschaftler vom
Fraunhofer-Institut für Solare
Energiesysteme installierten
jetzt im argentinischen Wüstendorf Balde de Sur de Chucuma erstmals eine Solaranlage zur Wasserförderung
und -desinfektion. Bei dem
mit EU-Hilfe finanzierten
Pilotprojekt fördert eine mit
Solar- und Windstrom betriebene Pumpe Wasser aus einem Brunnen. Zugleich speist
der Strom auch eine Wasserentkeimungsanlage, die das
Trinkwasser der Dorfschule
durch Bestrahlung mit
UV-Licht keimfrei macht.
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abiat, aber umweltschonend geht eine italienische Ingenieursfirma mit ungebetenen Gästen in Museen und Bibliotheken um: Sie dreht Käfern und anderen niederen Kunstbanausen, die sich in Gemälden und Büchern einnisten, den
Sauerstoff zum Atmen ab. Das von dem Genueser Unternehmen Resource Group Integrator (RGI) entwickelte Verfahren
sieht vor, befallene Ausstellungsstücke luftdicht in Plastikfolie
zu verpacken. Dem Behältnis wird dann durch ein Spezialgerät von der Größe eines Hi-Fi-Lautsprechers („Veloxy“)
der Sauerstoff entzogen, bis auf ein Hundertstel der Ausgangskonzentration in der
Luft. „Nach zwei bis drei Tagen sterben alle ausgewachsenen Insekten, nach einer Woche alle Eier, nach 10 bis 14 Tagen alle Larven und Puppen“,
sagt RGI-Chef Ercole Gialdi.
Die Methode sei sanft, simpel,
ungefährlich und mache Insektenvernichtungsmittel überflüssig. Museen und Sammlungen in Italien, Schweden, Spanien und Großbritannien beteiligen sich Gialdi zufolge an
der Erprobung des AbsaugSystems. In der venezianischen Marciana-Bibliothek
etwa seien „600 000 extrem
wertvolle Bücher“ vor gefräßigen Käferlarven gerettet worden – „mit hundertprozentigem Erfolg, aber geringen Kosten“, wie Gialdi versichert.
Schädlingsbekämpfung im Archiv
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Prisma
Computer
PROZESSOREN
Chip fürs Detail
E
rst Anfang des Jahres befriedigten der „Voodoo3“- und der „Riva TNT2“-Chip den wachsenden Hunger nach potenter Grafikleistung für
immer realistischere Computerspiele. Schon im Von Grafikkarten berechnete Bilder (rechts mit „GeForce“-Chip, links ohne)
Herbst will Grafikprozessor-Hersteller „Nvidia“
nachrüsten. Der „GeForce 256“ erzeugt virtuelle Welten aus 15 brikanten herkömmlicher Prozessoren die Konkurrenz nicht
fürchten. Computerspiele der nächsten Generation sollen sich
Millionen Dreiecken mit zusammen 480 Millionen Bildpunkten
pro Sekunde. Für die Großrechnerleistung stopfte „Nvidia“ durch noch bessere Nachbildung physikalischer Gesetze ausdoppelt so viele Transistoren in den Chip, wie in die neueste zeichnen, die simulierten Monster durch gesteigerte RaffinesProzessor-Generation „Pentium III“. Die Transistormassen ent- se im Kampf gegen menschliche Spieler glänzen. Die neuen
falten, auf einer Steckkarte untergebracht, sehr gute Grafik- Grafikkarten können den Hauptprozessor des Systems entlasgeschwindigkeit auch auf älteren PC. Trotzdem müssen die Fa- ten und so für die notwendige Rechenkapazität sorgen.
INTERNET
MINIRECHNER
ARCHIVE
Online zur Hinterbank
Stift als Wort-Sauger
Harmlose Rundfahrt?
J
etzt erlaubt das Netz weltweite
Transparenz auch in der Politik: Das
Programm „GovernMail“ von der USSoftware-Firma „Vista X“ versammelt
die Regierungen der Welt an einem Online-Ort. Der Internet-Browser
hält die aktuellen,
offiziellen E-MailAdressen dutzender Regierungen
parat. Lettland ist
in „GovernMail“
vertreten, das Eu„GovernMail“
ropaparlament allerdings nicht. Darüber hinaus sorgen
Direkt-Verbindungen zu politischen
Online-Publikationen wie der „New
York Times“ und dem kanadischen
„Toronto Star“ für Hintergrundinformationen. Einen besonders direkten
Draht stellt das Programm zu US-Volksvertretern her. Gleich im Bündel kann
der Wähler Protestnoten als GruppenE-Mail schicken, wahlweise an alle Demokraten oder alle Republikaner.
M
anche lesen mit dem Finger, andere
folgen den Zeilen, indem sie farbige Markerstriche übers Papier verteilen.
Eine moderne Variante der Merk- und
Lesehilfe sind digitale Lesestifte. Die
schwedische Firma „C Technologies“
bringt nun den „C-Pen 200“ (499 Mark)
heraus. In ihm steckt ein vollständiger
Rechner, der Adressen und Notizen in
verschiedenen Sprachen verwaltet. Der
Leser muss dabei den Stift nur zeilenweise über den Text führen. Bis zu 100
Seiten speichert das Gerät. Per InfrarotVerbindung lassen sich die aufgesaugten
Buchstaben auf einen Tischrechner
übertragen. So erstaunlich der knapp 80
Gramm leichte Minirechner scheinen
mag: Wichtige Textpassagen möchte
man ihm nicht anvertrauen, dafür
C-Pen
macht er zu viele
Fehler.
www.governmail.com
220
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D
ie Datenschützer waren alarmiert.
Ein schwarzer Bus kurvte durch
deutsche Städte und fotografierte systematisch alle Straßen, alle Häuser. Unbeeindruckt von Gerichtsprozessen und
Bedenken, bringt die hannoversche Firma Tele-Info jetzt ihre Bilddatenbank
mit angeschlossenem Telefonbuch auf
den Markt. Die Software namens „Talk
Show“ (Motto: „Nicht kleckern, sondern klotzen“) liefert auf 11 CD-Roms
das Bild zur Telefonnummer. Auf 23 000
Straßenkilometern trugen die hannoverschen Sammler 1,5 Millionen Einzelbilder aus zehn Großstädten zusammen. Zum Ausspähen lohnender
Diebstahlsobjekte taugten die Scheiben indes schlecht. Das Material sei so
ausgedünnt, dass die Zuordnung von
Hausnummer und Bild so gut wie nie
möglich sei und die Aufnahmen nur in
schlechter Qualität auf dem Bildschirm
erschienen. Da die Lichtverhältnisse
nur im Sommer zum Fotografieren ausreichten, verdecken Bäume die oberen
Stockwerke der Gebäude. Das Projekt,
so ein Sprecher von Tele-Info, sei auch
mehr als Demonstration gedacht.
Werbeseite
Werbeseite
Wissenschaft
U M W E LT S C H U T Z
Kloaken in Bäche verwandeln
Das Ruhrgebiet macht sich daran, seine übelste Öko-Altlast zu sanieren: die Emscher.
Mit Milliardenaufwand wird der 80 Kilometer lange, biologisch tote Abwasserkanal in einen Fluss
zurückverwandelt. Was heute Tabuzone ist, soll zur Erholungslandschaft werden.
S
A L L E F OTO S : D AS F OTOA R C H I V
ie stinkt nicht mehr. Vorbei die Zeiten, als Anwohner ihre Fenster geschlossen halten mussten, wenn der
Wind vom Fluss her stand. Heute sondert
sie selbst bei Sommerhitze allenfalls einen
leichten Modergeruch ab. Wer die Augen
schließt, mag an Sumpfland denken, an
Röhricht und quakende Frösche.
Aber wenn man die Augen öffnet, ist da
noch immer diese Rinne, in der trübes
Wasser dahineilt, je nach Licht zwischen
schlammbraun und schiefergrau changierend. Mitunter treibt eine Damenbinde vorbei oder ein Stück Melonenschale, einem
Schiffchen gleich. Lebenszeichen geben einzig ein paar Möwen, die sich um ein aufgeweichtes Brötchen balgen.
Nein, auch wenn sie nicht mehr stinkt,
appetitlich macht das die Emscher noch
lange nicht. Wie seit den ersten Tagen des
Kohleabbaus im nördlichen Ruhrgebiet
schluckt sie nach wie vor alles, was an flüssigem Dreck aus Haushalten und Fabriken
quillt. Und doch markiert das Verschwinden der Fäulnisdämpfe den Beginn einer
fast unglaublichen Metamorphose: Der Abwasserkanal Emscher, die wohl übelste
Öko-Altlast Westdeutschlands, verwandelt
sich zurück in einen Fluss; die Kloaken,
die ihn speisen, werden wieder zu Bächen.
Wo heute Mauerwerk und Beton die Ufer
säumen, soll Röhricht wachsen; wo jetzt
Fäkalien schwimmen, sollen einmal Fische
gründeln.
Während der Traum vom „blauen Himmel über dem Revier“ fast von selbst wahr
wurde, weil der Strukturwandel Zechen,
Hüttenwerke und Kokereien zu Dutzenden dahinraffte, fordert das Projekt „blaue
Emscher“ enormen Einsatz: 8,7 Milliarden
Mark soll der ökologische Umbau des Emschersystems kosten, 1,8 Milliarden davon
sind bereits ausgegeben. Zwei neue Klärwerke verdauen schon jetzt genug Dreck,
um den Gestank zu tilgen. Im nächsten
Schritt gilt es, aus einer Emscher zwei zu
machen: einen sauberen, oberirdischen
Fluss und eine jaucheführende Rohrleitung
unter Tage, die längste der Welt.
Der Emscherumbau zählt zu den Kernideen der Internationalen Bauausstellung
(IBA) im Ruhrgebiet, die diesen Sommer
ihr Finale feiert. In 15 oder 20 Jahren werden die Grünstreifen entlang der heutigen
Abwasserkanäle das Flickwerk von Stadtparks, Naturschutzgebieten und Industriebrachen voller Wildwuchs zu einem „Emscher Park“ vernetzen. Dann sollen nicht
nur Tiere und Pflanzen, sondern vor allem
die Menschen das Niemandsland zurückerobern.
Denn obwohl sie auf ihrem Weg von
Dortmund-Holzwickede zum Rhein das
gesamte Ruhrgebiet der Länge nach quert,
ist die Emscher für die meisten Revierbewohner ein Phantom. Man sieht sie nicht,
allenfalls von Straßenbrücken aus, und wer
ihren Lauf verfolgen will, braucht einen
Stadtplan. Selbst Anlieger blicken meist
über den Fluss hinweg auf grünbegraste
Deiche. Ein Detektiv muss sein, wer sich
auf die Suche nach einem der Zuflüsse begibt. Wer kennt Läppkes Mühlenbach? Wer
weiß, wo der Ostbach bleibt, nachdem er
auf der einen Seite der Schillerstraße im
Gully verschwunden ist, auf der anderen
aber nicht wieder ans Licht kommt? Verrohrt fließt er durch die gesamte Herner Innenstadt, taucht unter dem Rhein-HerneKanal durch, um dann in die Emscher zu
münden.
Polder: Flächen, die ohne
dauerndes Abpumpen
unter Wasser stünden
RECKLINGHAUSEN
HERTEN
GLADBECK
DINSLAKEN
Emscher
Kläranlage
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Emscher
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2,5
Kilometer
5
FOTOS: R. MEISEL / PLUS 49 / VISUM (li.); EMSCHER GENOSSENSCHAFT (re.)
Kanalisierter Oberlauf der Emscher, Läppkes Mühlenbach nach Renaturierung: Von der „Köttelbecke“ zum Froschparadies
Stabile Zäune, insgesamt 700 Kilometer
lang, schirmen derzeit die Emscher und jeden einzelnen Bach von der Außenwelt ab.
„Trennende Systeme“ heißen sie in der
Sprache der Planer. Der „Meideraum“, den
sie eingrenzen, reißt Stadtviertel auseinander und zwingt Anwohner zu Umwegen, wollen sie nicht
die Warnschilder ignorieren: „Es besteht
Lebensgefahr“. Die
Variante für Analphabeten zeigt ein kreischendes Männchen,
das rücklings ins
Wasser purzelt. Wer,
zumal nach einem
Sturzregen, die steile Böschung hinab-
CASTROPRAUXEL
schlittert, hat wenig Chancen, sich aus der
reißenden Brühe zu retten.
Diese Tabuzone zum Naherholungsgebiet umgestalten zu wollen, mutet kühn
an. Doch es sind keine Visionäre, die der
Emscher ein grünes Make-up verpassen
wollen, sondern die nüchternen Wasserbauingenieure der Emschergenossenschaft.
Im Gegensatz zu den IBA-Planern schwärmen sie nicht vom „Neuen Emschertal“,
noch von Renaturierung. Sie reden von
Nachholinvestitionen. „Man darf die Erwartungen nicht zu hoch schrauben“, sagt
Werner Geisler.
Geisler leitet das Projekt „Abwasserschiene Emscher“, das Herzstück des Umbaus. Unter seiner Aufsicht entstehen 51
Kanalkilometer parallel zum Fluss, von
Dortmund zur neuen Bottroper Kläranla-
geplanter Abwasserkanal
Deininghau
se
Bach
r
Emscher
D O RTM U N D
Holzwickede
Gequältes Gewässer
Der Weg der Emscher durch das Ruhrgebiet
ge mit ihren Faultürmen, die verspiegelten
Riesenostereiern gleichen, in denen Myriaden von Bakterien sich an Schlamm laben, und weiter zum Klärwerk Emschermündung.
Von diesem „außergewöhnlichen Bauwerk“, so Geisler, werden 350 Kilometer
weitere Kanäle abzweigen, denn nicht nur
die Emscher selbst, auch jeder ihrer Zuflüsse erhält einen unterirdischen Zwilling.
Wie U-Boote wühlen sich bemannte Bohrköpfe bis zu 33 Meter tief in die Erde, um
Platz zu schaffen für Betonrohre, in denen
Spaziergänger bequem flanieren könnten –
und dies auch tun, wenn die Emschergenossenschaft mal wieder zum „Tag des offenen Kanals“ einlädt.
4,2 Milliarden Mark sind allein für den
Bau des Abwasserlabyrinths eingeplant.
Zur Finanzierung steuerte das Land Nordrhein-Westfalen in den letzten fünf Jahren
250 Millionen bei, den größten Teil der
Summe muss die Genossenschaft jedoch
selbst aufbringen. Einigen Spielraum bieten
die Abwassergebühren, denn das Entsorgungssystem Emscher war über Jahrzehnte hinweg konkurrenzlos billig. Letztes
Jahr zahlten Haushalte im Revier 4,08
Mark pro Kubikmeter Abwasser, der Landesdurchschnitt lag bei 5,77 Mark.
In etwa zwölf Jahren soll die Hauptader
der Schmutzpipeline fertig sein. Dann wird
die Emscher der Gewässergüteklasse 2-3
genügen („mäßig bis stark verunreinigt“).
Bislang entzieht sie sich der Berechnung ihrer Wasserqualität, weil kein Kleinlebewesen, geschweige denn ein Fisch, es als Indikator in der Giftbrühe aushält. Ab 2013
wollen die Bauingenieure mit dem ökologischen Feinschliff beginnen. „Wie der Fluss
letztendlich aussehen wird, ist noch nicht sicher“, erklärt Geisler, „wir arbeiten daran,
die Vision in eine Planung umzusetzen.“
Im Grunde betreibt Geisler nichts anderes, als die Aufgabe der Emschergenos223
Wissenschaft
und gründeten die Emschergesenschaft seit bald hundert JahNeu gebaute Natur
nossenschaft, den ersten Wasren fortzuführen: Wasserläufe
Emscher
serwirtschaftsverband Deutschhin- und herzuschieben, sie mal Bach
Deich
Hochwasser
Deich
Hochwasser
lands.
unter die Erde zu leiten und
Der Kaiser selbst besiegelte
dann wieder hinaufzupumpen.
mit
seiner Unterschrift unter das
Nur dass es heute nicht mehr
VORHER
Sondergesetz „betreffend Bildarum geht, den Dreck in den
In ihren gemauerten Betten strömen die Emscher und ihre Zuflüsse
dung einer Genossenschaft zur
Fluss zu bringen, sondern ihn
reißend schnell dahin, von Abwässern verunreinigt.
Regelung der Vorflut und zur
herauszuholen.
Abwässerreinigung im EmBis Mitte des letzten Jahrschergebiet“ die Vergewaltigung
hunderts standen dort, wo heueines ganzen Fluss-Systems. Es
te Asphalt und Abraumhalden
gab allerdings kaum eine Alterdie Landschaft prägen, üppige
Abwasserkanal
native: Das Abwasser musste an
Auwälder aus Schwarzerlen und
Abwasserkanal
der Oberfläche fließen, da unWeiden. In Schleifen strömte die
NACHHER
terirdische Kanäle wegen der
Emscher dem Rhein entgegen,
Nach dem Umbau fließt das Schmutzwasser unterirdisch ab.
Bergsenkungen auseinandergeträge wegen ihres geringen GeWährend sich die v-förmigen Bäche renaturieren lassen, bietet die
brochen wären.
fälles von nur 122 Metern auf
Emscher selbst nur innerhalb der Hochwasserschutz-Deiche Raum für
1906 begann die Emscherge109 Kilometer Fließstrecke.
eine naturnähere Gestaltung mit Tief- und Flachwasserzonen.
nossenschaft ihre Bauarbeiten,
Häufig trat sie über die Ufer. In
die bis heute kein Ende fanden.
dem Überschwemmungsgebiet
gab es keine größeren Orte, nur Wasser- benwasser ergoss sich in die Emscher. Die Im Laufe der Jahrzehnte verlegten die Inmühlen und ein paar Bauernkaten. So ab- aber spuckte den Dreck regelmäßig wieder genieure zweimal die Flussmündung –
gelegen war die Sumpfniederung, dass sie aus. Bei jedem Hochwasser stand der Un- einst traf die Emscher in Duisburg auf den
rat in den Straßen. Ruhr, Typhus und Cho- Rhein, heute mündet sie zehn Kilometer
Wildpferden ein Refugium bot.
Der Kohleboom tilgte diesen Rest Ur- lera grassierten, in den stinkenden Lachen stromabwärts bei Dinslaken. Sie bauten
Deiche und mauerten das Flussbett ein,
natur schnell und gründlich. Schlote und vermehrten sich Malariamücken.
Den Industriellen waren die Eskapaden schnitten Mäander ab und verkürzten den
Fördertürme bohrten sich in den Himmel,
rings um die Zechen wucherten Arbeiter- der Emscher lästig – die Seuchen schwäch- Flusslauf um ein Viertel auf 81 Kilometer.
siedlungen. Innerhalb von 50 Jahren ver- ten die Arbeitskraft ihrer Handlanger. Am Unter ihrem Regime behielt kein Bach sein
sechzehnfachte sich die Einwohnerzahl. 14. Dezember 1899 versammelten sich des- natürliches Gesicht.
Was übrig blieb, heißt im Volksmund
Ein Strom von Fäkalien und Fabrikabfäl- halb Abgesandte von Gemeinden, Zechen
len, von Schlämmen und salzigem Gru- und Fabriken im Bochumer Ständehaus „Köttelbecke“ – Schmutzfänger, wie mit
Meter hohen ehemaligen
Bahndamm abgetragen, um
Platz zu schaffen für die Wiedergeburt des Bächleins. Jetzt
hört Schwarz tagsüber zwar
den Autolärm herüberschallen, nachts aber kann er
Froschkonzerten lauschen:
„Dafür wohn ich doch auffem
Land.“
Nicht jeder Wasserlauf lässt
sich in ein ländliches Idyll
zurückverwandeln. Paradoxerweise drohen manche
Bäche gerade als Folge der
Säuberungsaktion zu versiegen. Denn da ein Drittel des
Ruhrgebiets begraben liegt unter Straßen, Eigenheimen und
Fabriken, läuft ein beträchtlicher Teil des Regenwassers an
der Oberfläche ab. Statt im
Erdreich zu versickern und
Bäche zu speisen, rauscht es
als Hochwasserwelle emscherabwärts. Mitunter schwillt der Kanalbau in Bottrop: Wie U-Boote durchs Erdreich
Fluss um das 20-fache an.
Und weil „Hochwasserschutz weiterhin bis zu 30 Meter abgesackt, ganze HäuserPriorität hat“, wie Genossenschaftsspre- blocks rutschten, sagt Höffeler, „wie mit
cher Höffeler beteuert, wird auch die schö- dem Fahrstuhl“ in die Tiefe. Eine Fläche
ne blaue Zukunftsemscher in Deiche ein- von 330 Quadratkilometern ist so zu Polgezwängt bleiben. Durch die Wühlarbeit dern geworden, über Wasser gehalten nur
der Bergleute sind Teile des Reviers um durch pausenlosen Einsatz von 95 Pump-
EMSCHER GENOSSENSCHAFT
dem Lineal in die Landschaft gekerbt.
Fachleute sprechen von Bächen mit „VProfil“, und allein dieser Begriff reicht, einem Gewässerökologen die Gänsehaut
über den Rücken zu treiben.
Nun, da sich die vielfach durchlöcherte
Erde des Reviers beruhigt hat, heißt es:
Kommando zurück. Nicht, dass sich die Dirigenten der Wasserläufe ihrer Vergangenheit schämten. „Damals ging es um trockene Füße“, sagt Sprecher Heinz-Gerd Höffeler, „aber heute können wir den
Menschen keine offenen Abwasserrinnen
mehr zumuten.“
Zu Füßen des Kohlekraftwerks „Gustav
Knepper“ in Castrop-Rauxel gluckst der
Deininghauser Bach, fast versteckt im dichten Klee. Stichlinge flitzen durchs Wasser,
Kamillenduft hängt über der Wiese, und
die Kühe sehen aus, als seien sie einer Allgäu-Postkarte entsprungen. Abgesehen von
dem geradezu alpin aufragenden Kühlturm
des Kraftwerks eine völlig unspektakuläre
Szenerie, trotzdem ein Wunder: Noch vor
fünf Jahren floss hier Abwasser durch eine
Betonrinne, eine Emscher en miniature.
„Frösche, Fische, wir ham alles“, sagt
Klaus Schwarz, Wirt vom nahe gelegenen
Gasthaus Lindenhofpark, „dat is doch härlich.“ Klar habe der Bachumbau „den
Wohnwert gesteigert“, auch wenn manch
ein Nachbar nörgelte, als die Erdarbeiten
begannen. Die Bagger haben einen fünf
Wissenschaft
Eine dritte Generation von Natur, nach
der ursprünglichen Vegetation und der
bäuerlichen Kulturlandschaft, wächst hier
heran – Tier- und Pflanzengesellschaften,
wie sie in dieser Zusammensetzung nirgendwo sonst auf der Erde existieren.
Obwohl die IBA eigens eine „Route
Industrienatur“ ausgewiesen hat, obwohl
naturkundliche Exkursionen zu ehemaligen Zechen und Sammelbahnhöfen viel
Zulauf finden, fehlt es vielen an Wertschätzung für die neu entstandenen Landschaften. Kommunalpolitiker möchten
auf ihren zahllosen Industriebrachen lieber Gewerbegebiete ausweisen, auch wenn
das Flächenangebot den Bedarf um wenigstens das Doppelte übersteigt. „Jeder
hofft, dass ausgerechnet seine Brache das
neue Silicon Valley wird“, klagt Biologe
Köhler.
M. VOLLMER / DAS FOTOARCHIV
werken. Dürfte die Emscher frei fließen,
verwandelte sich die Heimat von 2,4 Millionen Menschen in eine Seenplatte. Städte wie Bottrop und Gelsenkirchen versänken in den Fluten.
Keine Chance daher für die Rückkehr
von Auwäldern und Wildpferden. „Die
Emscher wird immer ein technisch geprägter Fluss bleiben“, erklärt Bauingenieur Geisler. Deshalb plädiere er dafür,
„die klare Linienführung“ beizubehalten.
Zwischen den Deichen aber könne man
ihr durchaus mehr Raum geben, die Böschungen sanfter modellieren und die symmetrische Rinne ersetzen durch Tief- und
Flachwasserzonen.
Naturschützer sind geteilter Meinung,
ob sich für ein so bescheidenes Ziel der
Aufwand lohnt. „Manche sagen, man sollte das schöne Geld dort investieren, wo
Faulturm der Bottroper Kläranlage: Myriaden von Bakterien laben sich am Schlamm
noch etwas zu retten ist“, sagt Richard
Köhler von der Biologischen Station Östliches Ruhrgebiet, „aber man darf eben
nicht mit dem klassischen Artenschutzansatz an die Sache herangehen.“ Zweck der
Übung sei vielmehr, eine „Grundausstattung von Natur“ in die Emscherödnis
zurückzuholen.
Wie schnell Tiere und Pflanzen die
scheinbar unwirtlichsten Relikte des Industriezeitalters in Besitz nehmen, ist
überall im Ruhrgebiet zu beobachten:
Turmfalke und Gartenrotschwanz nisten
auf dem Gelände stillgelegter Kokereien;
Königskerze, Natternkopf und Salbei färben Schotterflächen bunt, von denen noch
die Phenoldämpfe der Altlasten aufsteigen. Selbst Orchideen wurden schon gesichtet.
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Es fällt schwer umzudenken, wahrzunehmen, dass es überhaupt wieder so etwas wie Natur gibt im kaputten Ruhrgebiet. Vielleicht hängt es damit zusammen,
dass sich so wenige Revierbewohner interessieren für die Rückverwandlung der
„Schwatten“, deren Pesthauch sie all die
Jahre geärgert hat. Vielleicht können deshalb so viele nichts anfangen mit den Meter für Meter mühsam wiederhergestellten
Bächen, als Dosen hineinzuwerfen und
Kühlschränke.
„Das ärgert uns wirklich“, sagt HeinzGerd Höffeler, „aber dem Umbau der
Emscher muss wohl der Umbau in den
Köpfen folgen.“ Das Ufer des Deininghauser Bachs jedenfalls haben sie
erst mal wieder eingezäunt, sicherheitshalber.
Alexandra Rigos
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Wissenschaft
GENTECHNIK
Lernfähig bis
zum Tod
Amerikanische Biologen haben per
Genmanipulation schlauere
Mäuse produziert. Kann auch die
Intelligenz des Menschen
gentechnisch verändert werden?
D
ie Labormäuse von Joe Tsien bewiesen ihre Intelligenz durch zielgerichtetes Strampeln. „Schon beim
dritten Versuch“, schwärmt der amerikanische Neurobiologe, hätten die Nager in einem Becken mit trübem Wasser eine knapp
unter der Wasseroberfläche versteckte Platt-
Nager nicht nur in der Lage, sich schneller
als normale Mäuse aus ihrer feuchten Notlage zu befreien. Weitere Tests bewiesen:
Sie merken sich auch Gegenstände besser
und speichern neues Wissen länger.
Tsiens Studie, jetzt im Magazin „Nature“
veröffentlicht, zeigt erstmals zweifelsfrei,
dass Intelligenz gentechnisch beeinflusst
werden kann. „Einzelne Gene spielen eine
zentrale Rolle bei der Steuerung von Lernen
und Gedächtnis“, sagt der Forscher. Neue
Strategien im Kampf etwa gegen Schizophrenie oder Alzheimer seien denkbar.
Sollte eine Welt ohne Vergesslichkeit
möglich sein? Entstehen dereinst Genies
in den Petrischalen der Wissenschaft? Seit
einiger Zeit schon versuchen Forscher, geistige Fähigkeiten künstlich zu mehren. Bislang jedoch beschränkten sie sich dabei auf
die Entwicklung von Medikamenten.
So haben Pharmakologen der University of California in Irvine eine Substanz
Test-Maus*, Genforscher Tsien
form direkt angeschwommen.
Normale Mäuse brauchen sechs
Anläufe, um sich die Position des
rettenden Eilandes einzuprägen.
Der „Wasser-Labyrinth“ genannte Test aus dem Repertoire
der Verhaltensforscher zeigt:
Tsiens Mäuse, im Labor genetisch
verändert, sind schlauer als ihre
Artgenossen.
Ein einziges Gen hatten der Forscher
und seine Kollegen vom Institut für Molekularbiologie der Princeton University im
US-Bundesstaat New Jersey zum Erbgut
der Tiere hinzugefügt. Danach waren die
* Im Lernversuch bekommt die Maus fünf Minuten lang
zwei Objekte zu sehen. Einige Tage später wird sie erneut mit ihnen konfrontiert, aber eines von ihnen ist ausgetauscht. Untersucht das Tier das neue Objekt länger,
so zeigt es damit, dass es sich an das alte noch erinnert.
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entdeckt, die im Gehirn die Weiterleitung elektrischer Impulse beschleunigt.
Ratten verhalf der
chemische Schlaumacher zu Spitzenwerten im NagerIQ-Test. Inzwischen
wird das Medikament an AlzheimerPatienten erprobt.
Tsiens neue Studie geht jedoch einen
Schritt weiter: Im Kampf gegen die Vergesslichkeit griff er direkt ins Erbgut ein.
Das von den Forschern manipulierte Gen
mit dem Kürzel NR2B kontrolliert die
Fähigkeit des Gehirns, ein Ereignis mit einem anderen zu verknüpfen – die entscheidende Voraussetzung des Lernens.
Mit Hilfe seiner Mäuse, nach einer altklugen Figur aus dem US-Fernsehen „DooT. EVERKE
Genies aus der Petrischale?
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gies“ genannt, hat Tsien nicht nur die direkte Wirkung eines Gens auf das Lernen
nachgewiesen. Sein Versuch zeigt zudem,
dass im Gehirn offenbar ein einziger Mechanismus zur Speicherung unterschiedlichster Formen von Erinnerung existiert.
Egal, ob die Maus hört, sieht oder fühlt –
die Verknüpfung der Informationen funktioniert immer gleich.
Das von Tsien benutzte ErinnerungsGen steuert die Produktion eines Rezeptors, der die Verbindung zweier Reize, etwa
den Anblick eines brennenden Streichholzes und den dazugehörigen Schmerz, ermöglicht. Durch Wiederholung wird die
Verknüpfung verstärkt. Wer immer wieder
den Finger in die Flamme hält, legt gleichsam eine Dauerspannung an die beiden im
Gehirn beteiligten Nervenzellen an. Die
Folge ist Erinnerung.
Tsiens „Doogie“-Mäuse, mit Extrakopien des Gens NR2B ausgestattet, erinnerten sich ausnehmend gut
sowohl an Objekte als auch
an Töne und leichte Stromschläge, die ihnen im Lernversuch zugefügt wurden.
Das überraschendste Ergebnis jedoch: Sogar ausgewachsen behielten die Super-Mäuse ihr überdurchschnittliches
Lern- und Erinnerungsvermögen.
Normalerweise lässt die
Aktivität des ErinnerungsGens mit dem Alter nach – ein
Grund für Altersvergesslichkeit bei Mensch wie Maus. Bei
seinen Versuchstieren manipulierte Tsien das eingeschleuste Gen jedoch so, dass
mit fortschreitendem Lebensalter die Konzentration des
Erinnerungsschmierstoffs im
Gehirn nicht abnimmt. Die
Folge: Die Nager bleiben lernfähig bis zum Tod.
Wird sich der Rentner der Zukunft
also ohne Mühe dem Studium des Altchinesischen widmen können? Tsien
ist skeptisch. Zwar sei die Funktion
des Erinnerungs-Gens bei Mensch und
Maus „fast identisch“. Menschliche Intelligenz gentechnisch zu verändern hält
der Forscher jedoch noch für Zukunftsmusik.
Klar scheint allerdings, dass die Gentechnik das Verhalten von Tieren als neues Versuchsfeld entdeckt hat. Erst kürzlich rüsteten Wissenschaftler Labormäuse
mit einem Gen der Prärie-Wühlmaus auf,
deren Männchen in Monogamie leben und
bei der Pflege der Jungen helfen. Die Mäuseriche, sonst untreue Partner und achtlose Väter, legten nach der Genkur prompt
artfremdes Verhalten an den Tag: Fremde
Weibchen verschmähten sie, stattdessen
wandten sie sich plötzlich fürsorglich
ihrem Nachwuchs zu.
Philip Bethge
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FOTOS: M. NEUGEBAUER
decker von Urmenschenfossilien, zur Feldforschung inspirieren ließen: Weil sie geduldiger als ihre männlichen Kollegen und
teilnehmend, nicht unterwerfend beobachteten, schickte der Anthropologe drei
junge Frauen aus, das Verhalten der großen
Affenarten zu erkunden. Zunächst Goodall, dann die Amerikanerin Dian Fossey,
die Gorillas studierte, und schließlich die
Kanadierin Biruté Galdikas, die sich auf
Orang-Utans spezialisierte.
Auf der Suche nach ihren Studienobjekten kletterte und kroch die 26jährige
Jane durch den zerklüfteten Bergurwald
von Gombe, tagsüber reichte ihr eine Hand
voll Rosinen als Proviant. Nachts, mit einem Kessel, etwas Kaffee und Zucker ausgerüstet, lauschte sie den Rufen der Schimpansen, die in den Gipfeln ihre Schlafnester bezogen hatten, und spähte sie schon in
der ersten Dämmerung aus.
Allmählich, nach mehr als einem Jahr,
Autorin Goodall, Studienobjekt: „Uaah, uaah, uah uhhhh“
verloren die Tiere ihre Scheu vor dem
fremden weißen Affen, es begann „die Zeit
TIERE
der Entdeckungen“, in der Goodall täglich
„etwas spannendes Neues über die Schimpansen erfuhr“. „David Greybeard“, wie
sie ein älteres Männchen genannt hatte,
ließ es als Erster zu, dass die Forscherin
auf seinen Streifzügen durchs LianenEin Vierteljahrhundert forschte sie im Urwald, seither wirbt sie ihm
dickicht folgte. Eines Tages sah sie sich ihm
weltweit für ihre Affen: Jane Goodall, Primatologin und Kultunvermittelt an einem Bach gegenüber:
figur, hat den Bericht ihres abenteuerlichen Lebens geschrieben. „Er saß am Wasser, als hätte er auf mich gewartet,“ erinnert sich die Primatologin.
ane, glauben Sie, es besteht noch Hoff- und für die Forscherin „Grund zur Hoff- „Ich sah ihm in die großen, glänzenden,
nung?“ Auf die häufigste Frage, die der nung“. So überschreibt Goodall ihre jetzt weit auseinander stehenden Augen; sie
Forscherin auf ihren Weltreisen gestellt erschienene Autobiografie, die Geschichte schienen seine ganze Persönlichkeit auswird, kann Jane Goodall, 65, schwerlich einer einzigartigen Karriere*: Das Mäd- zudrücken, seine gelassene Selbstsicherchen von der Ärmelkanal-Küste, das sich heit, seine angeborene Würde.“
mit purem Optimismus antworten.
Mensch und Affe kommunizierten bei
Als die Engländerin 1960 zum ersten mit 13 Jahren in Tarzan verliebt und immer
Mal nach Tansania kam, um das Leben schon mit Menschenaffen leben wollte, ver- dieser Begegnung „in einer Sprache, die
der Schimpansen zu erkunden, waren wirklicht nach einigen Jahren als Kellnerin viel älter ist als Worte, einer Sprache, die
die Hänge am Tanganjika-See noch dicht und Sekretärin seinen Traum und taucht 25 uns mit unseren prähistorischen Ahnen
bewaldet. Heute erstreckt sich dort Jahre lang ins „grüne Dämmerdunkel“ verbindet“, erinnert sich Goodall. „David“
baumlose Ödnis. Mit jedem Regen wird (Goodall) des afrikanischen Urwalds. Un- griff aus ihrer Hand die angebotene reife
Erdboden in den See gespült, wo er als studiert und unerfahren, wird sie beste Ölpalmenfrucht. Dann ließ er die Gabe falSchlick die Brutstätten der Fische unter Kennerin und zugleich Gefährtin der len und „nahm dafür sanft meine Hand“ –
sich begräbt. Von Raubbau und Abholzung Schimpansen – eine Nähe, die zuvor kein eine beruhigende Geste, die zeigen sollte,
dass er die Nuss nicht wollte, aber wusste,
ausgespart blieb nur der Gombe-Na- Primatologe erreichte.
Goodall war die erste der später dass sein Gegenüber es gut meinte.
tionalpark, der auch zum Refugium für
„Flo“ mit der Knubbelnase, „William“
die einst weit verbreiteten Schimpansen berühmt gewordenen „Trimaten“, die sich
von Louis Leakey, 1972 gestorbener Ent- mit dem langen, traurigen Gesicht, die
wurde.
scheue „Olly“ mit ihrer elfenhaften,
„Wir haben nicht mehr viel Zeit“,
überschäumend fröhlichen Tochter
warnt die jung gebliebene Frau mit
„Gilka“, der kämpferische, kühne
dem grauen Pferdeschwanz. Des„Goliath“ oder der alte, kahl gehalb jagt sie in schonungslosem Mawordene „Mr. McGregor“, der stets
rathon von einem Vortrag und FundLust zum Streiten hatte – hinter jeraising-Dinner zum anderen. Überdem Namen, den Goodall ihren
all sind die Säle ausverkauft: Längst
Schimpansen gab, offenbarte sich ein
ist Goodall, die ihre Zuhörer mit
Individuum und intelligentes Wesen.
dem wilden Crescendo des SchimDoch mit dieser Sicht stieß sie in
pansenrufs begrüßt („Uaah, uaah,
den sechziger Jahren noch weitgeuah uhhhh“), zur internationalen
hend auf Ablehnung: „Affen hatten
Kultfigur geworden.
damals keine Persönlichkeit“,
„Jeder Einzelne kann etwas beschreibt Goodall, „das gab es nur
wirken“: Ihre Botschaft ist einfach
bei Menschen.“ Als sie ihre erste
Veröffentlichung für die Fachzeit* Jane Goodall: „Grund zur Hoffnung“. Riemann Verlag; 352 Seiten; 39 Mark.
Schimpansengruppe in Gombe: Leben im Dämmerdunkel schrift „Nature“ zur Durchsicht
Marathon für Schimpansen
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Wissenschaft
zurück bekam, fand sie ihre Schimpansen die Abkehr vom Leben und Forschen im
„sogar des Geschlechts beraubt“: Weil Tie- tansanischen Regenwald. In einer „radikare als Neutrum galten, waren „er“ und len Wende“ verschrieb sich die gefeierte
„sie“ jeweils zum „es“ geändert.
Wissenschaftlerin dem Arten- und NaturKühle Distanz zum tierischen For- schutz, nachdem Vorträge über den drastischungsgegenstand war damals selbstver- schen Rückgang der Schimpansen-Populaständlich, und so wurde die Einfühlsam- tionen in ganz Afrika die Tagungsteilnehkeit der Nichtakademikerin, die erst nach mer geschockt hatten: Etwa zwei Millionen
fünf Jahren der Feldforschung in Cam- Schimpansen hatten noch um die Jahrbridge Studium und Promotion nachholte, hundertwende in 25 afrikanischen Staaten
lange belächelt und zurückgewiesen.
gelebt. Nun waren die Bestände durch RoDoch die in Film und Foto festgehalte- dungen, kommerzialisierte Jagd und Tiernen Beobachtungen der Schimpansen- handel auf weniger als 150 000 gefreundin enthüllten Aufsehen erregende schrumpft, nur in 5 Ländern gab es noch
Erkenntnisse, etwa die Tatsache, dass die Populationen von mehr als 5000 Tieren.
Primaten Werkzeuge benutzen – eine
Der Schreck über das Leiden der nächsFähigkeit, die bislang dem Menschen als ten Menschen-Verwandten ließ die For„homo faber“ vorbehalten schien: „David scherin fortan nicht mehr los. Nur geleGreybeard“ riss Grashalme ab, um
im Termitenhügel nach Leckerbissen
zu angeln; auch knickten die Affen zu
diesem Zweck kleine belaubte Zweige ab und befreiten sie von ihren
Blättern.
Während sich in Gombe aus bescheidenen Anfängen ein interdisziplinäres Forschungszentrum entwickelte, musste die Wissenschaftlerin aber auch erfahren, dass die
Schimpansen „wie wir eine dunkle
Wesensseite haben“: Brutale Aggressionen, die in Mord und Kannibalismus kumulierten, zeigten, dass der
„edle Affe“ ebenso Mär ist wie der
„edle Wilde“: So wurden Goodall
und ihre Mitarbeiter Mitte der siebziger Jahre Zeugen des „vierjährigen
Krieges“, der ausbrach, als sich eine
ihr vertraute Schimpansengemeinschaft zu teilen begann.
Lange litt die Forscherin nach diesen Erlebnissen unter Alpträumen.
Bilder von Gewalt verfolgten sie: Das
Weibchen „Passion“, wie es mit blut- Drohender Schimpanse: „Dunkle Wesensseite“
verschmierten Lippen von einem toten Säugling aufblickt; das Männchen „Fa- gentlich kehrt sie noch ins Forschungscamp
ben“, wie es das gebrochene Bein des Fein- von Gombe zurück. Nach einem Vierteldes im Kreis herumdreht.
jahrhundert im Paradies, sagt Goodall,
Sie habe damals nur erkunden wollen, wohne sie nun im Flugzeug. Weltweit setzt
„wie weit die Schimpansen den menschli- sie sich durch persönliche Auftritte für Tierchen Weg, der zu Hass, Bosheit und Krie- rechte ein, sammelt Spenden und wirbt für
gen schlimmsten Ausmaßes geführt hat, die von ihr gegründete Jugend-Umweltschon gegangen“ seien, schreibt Goodall. organisation „Roots and Shoots“, die
Sie selbst glaubt, „dass es zwecklos ist, die schon zehntausende von Mitgliedern zählt.
angeborene Neigung des Menschen zur
Zu ihren vielen Zukunftszielen gehört
Aggressivität und Gewalt abzuleugnen“. auch die Einrichtung einer Stiftung, mit deDie Wut, die sie selbst instinktiv überkam, ren Hilfe die Arbeit in Gombe, auf den anwenn ihr in Afrika aufgewachsener klei- deren afrikanischen Affen-Schutzstationen
ner Sohn bedroht war, sei ihr dafür Beweis und die Hilfsprogramme für die Bewohgenug.
ner der angrenzenden Dörfer langfristig
Wissenschaftliche Versuche hätten je- fortgeführt werden kann.
doch auch gezeigt, „dass aggressive VerPathetisch und bescheiden zugleich ist
haltensmuster ziemlich leicht zu erlernen das Resümee, das Goodall am Ende des
sind“ – ein guter Grund, so mahnt die Pri- Berichts von ihrem abenteuerreichen
matologin, Kinder vor Gewalt im Fernse- Lebens zieht: Sie habe sich bemüht „ein
hen zu bewahren.
wenig von der Schuld abzutragen, in
„Gombe zu verlassen war immer der wir alle durch unsere Unmenschschmerzlich“, berichtet sie. Und doch lichkeit gegenüber Mensch und Tier stebrachte 1984 eine Konferenz in Chicago hen“.
Renate Nimtz-Köster
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Wissenschaft
MEDIZIN
Mächtige Kobolde im Kopf
Rund 50 000 Deutsche leiden an einer kaum bekannten Krankheit: Beim Essen, im Gespräch oder
beim Sex versinken sie unvermittelt in Schlaf. Auch Hitchcock und Napoleon sollen Opfer
der Schlafsucht gewesen sein. Jetzt wecken Funde von Genforschern Hoffnung auf eine Therapie.
tet soviel wie „vom Schlaf ergriffen“.
Zwischen 40 000 und 50 000
Narkoleptiker, so schätzen Experten, leben in Deutschland.
Das unheimliche Leiden ist der
zweithäufigste Grund für extreme Tagesmüdigkeit – nach der
„obstruktiven Schlafapnoe“,
den immer wieder auftretenden
Atemaussetzern der Schnarcher.
Die Krankheit gilt bis heute
als unheilbar. Jüngste Funde
von Genforschern wecken nun
erstmals Hoffnungen auf eine
Therapie. Bisher aber kennen
viele Mediziner die Symptome
des Schlummerleidens nicht
und bringen sie fälschlich mit
Erkrankungen wie Multipler
Sklerose, Depressionen, Schizophrenie, Schilddrüsen- und
Stoffwechselstörungen in Zusammenhang.
Nur in jedem zehnten Fall
von Narkolepsie stellen deutsche Ärzte die richtige DiaNarkolepsie-Patient im Schlaflabor: Sog in die Tiefe
gnose. In den USA versuchen
Schon vor über 100 Jahren hat der fran- Selbsthilfegruppen seit kurzem, mit bunzösische Neurologe Jean-Baptiste Gélineau desweiten „Weck-Aktionen“ auf die Prodas Krankheitsbild der Narkolepsie be- bleme der Kranken aufmerksam zu maschrieben. Der unglückliche Fasshändler, chen. Noch immer, so klagen Sprecher der
der ihm eines Tages auf der Schwelle ent- Selbsthilfe-Initiativen, „können 15 Jahre
gegentorkelte, war sein Modellpatient. Die vom Auftreten der ersten Symptome bis
Bezeichnung für die Krankheit, die Männer zur Diagnose vergehen“.
wie Frauen gleichermaßen befallen kann,
So drollig der Schlummerzwang scheistammt aus dem Griechischen und bedeu- nen mag, den Opfern der Krankheit maF. STOCKMEIER / ARGUM
E
r war ein Kraftkerl und Choleriker
gewesen. Bei Wirtshausdebatten
konnte er seine Gegner schon einmal mit der trocken geschlagenen Rechten auf die Dielen schicken. Doch seit einiger Zeit war der 38-jährige Fassverkäufer nur noch ein Schatten seiner selbst.
Orpheus saß dem Unglücklichen wie ein
Dämon im Nacken. Bis zu 200-mal am Tag
riss ihn ein unwiderstehlicher Zwang in
den Schlaf. Bleierne Müdigkeit stürzte wie
eine Urgewalt unvermittelt über ihn.
Kaum eine Mahlzeit, bei der ihm nicht
mehrmals Messer und Gabel aus der Hand
glitten. Einen gerade begonnenen Satz
konnte er oft nur mit Mühe vollenden,
dann fiel ihm der Unterkiefer herunter.
In einigen Situationen, so schien es, waren die Schlafkobolde in seinem Kopf
mächtiger als sonst. Schon beim Gedanken an ein gutes Geschäft etwa knickten
ihm die Beine weg. Ebenso erging es ihm,
wenn er lachte, beim Kartenspiel ein gutes
Blatt bekam oder einen Freund traf, den er
lange nicht mehr gesehen hatte.
Schließlich suchte er Rat beim Arzt: Sein
13-jähriger Sohn hielt ihn auf dem Weg
dorthin durch Schütteln und Zwicken
wach. Doch an der Schwelle zum Sprechzimmer wurde der Blick des Mannes unstet, er taumelte, schwankte und fiel schlafend in einen hingeschobenen Stuhl.
Auch sein jüngstes Kind, verriet er dem
Mediziner in einer kurzen luziden Phase,
habe er in einer Zwischenwelt aus Schlafen
und Wachen mehr schlecht als recht gezeugt.
AKG
zeichnen, reicht freilich nicht
aus, das rätselhafte Leiden zu
diagnostizieren. Andere Symptome müssen hinzukommen.
Bei über 80 Prozent der Narkoleptiker gesellen sich zu den
Schlafattacken sogenannte kataplektische Anfälle: Die Haltemuskulatur der Patienten erschlafft, die Kranken klappen
zusammen wie Marionetten, bei
denen die Schnüre durchtrennt
sind.
Narkoleptiker lallen bei einer Kataplexie wie hoffnungslos
Betrunkene, ihre Zunge schwillt
zu einem Bleiklumpen. Doch
nur die Muskeln versinken in
Schlafstarre, das Bewusstsein
ist, anders als bei einem epilepNarkoleptiker Napoleon: Schlafattacken bei Audienzen tischen Anfall, hellwach.
Erst wenn sie nach 10, 20 oder
30 Minuten von selbst wieder
auf die Beine kommen, können
sie die oft peinliche Situation
erklären. „Die Umstehenden“,
erläutert Geert Mayer, Neurologe an der Hephata-Klinik im
hessischen Treysa, „sind bei Kataplexien fast immer fassungslos. Auch im Repertoire der Rettungsdienste oder Notfallmediziner kommen diese Attacken
nicht vor.“
Heftige Emotionen sind, wie
bei Gélineaus Fasshändler, meist
die Auslöser für die Körperstarre. Narkoleptiker können nach
einem Kompliment „wie ein
Narkoleptiker Hitchcock: Alpvisionen beim Einnicken? nasser Sack“ zu Boden gehen, so
eine Betroffene. Sie entdecken
gen, sogar auf dem Höhepunkt von Ent- im Fußballmatch eine Lücke zum Tor oder
scheidungsschlachten. Gelegentlich gab er treffen beim Basketballspielen in den Korb
ihr nach und schlief 20 Minuten auf einem – und schon sinken sie mit erschlafftem KörBärenfell. Oder er verharrte quälend lang per in sich zusammen.
in merkwürdiger Starre, in der er nichts um
Ein guter Witz kann den „Lachschlag“
sich herum mehr wahrzunehmen schien.
auslösen, wie der Volksmund das Phäno„Imperative Tagesschläfrigkeit“, wie die men einst bezeichnete. Andere Opfer
Mediziner das Verschwimmen der Gren- sind unfähig, den in Flammen stehenden
zen zwischen Wachen und Schlafen be- Christbaum zu löschen, weil sie der Schreck
CORBIS
chen die Auswirkungen das Leben zur Hölle. Viele verfallen in Depressionen, kapseln sich ab oder müssen sich immer wieder Vorwürfe wegen ihrer Faulheit oder
ihres vermeintlich schlechten Lebenswandels gefallen lassen.
Mindestens alle zwei Stunden treten die
Schlafattacken auf. Die Opfer nicken bei
Gesprächen mit Kunden ein, brabbeln mitten im Satz wirres Zeug, fügen sinnlose
Wörter in Notizen und Manuskripte ein.
Die meisten Schlummersüchtigen sind
schon nach dem Frühstück so müde, dass ihnen die Augen zufallen. Sie überstehen keinen Kongress, keinen Gottesdienst, keine
Autofahrt wach: „Je stärker ich gegen den
Schlafzwang ankämpfe“, erzählt ein Narkolepsiepatient, „desto unaufhaltsamer
zieht er mich hinunter.“
Narkolepsiekranke Mütter verbinden ihr
Handgelenk und die Wohnungstür mit einer Schnur, um zu verhindern, dass ihre
Kleinen während eines Anfalls unbemerkt
auf die Straße laufen. Oft ist das Sexleben
der Kranken gestört, weil sie schon das
Vorspiel zum Geschlechtsverkehr nicht
wach überstehen. Innerhalb von Sekunden
verschlingt der Schlaf seine Opfer.
Auch vor Prominenten macht die Krankheit nicht Halt. Der Regisseur Billy Wilder
behauptete, die Hollywood-Legende Alfred
Hitchcock sei Narkoleptiker gewesen. Tatsächlich nickte der Meister der Suspense
häufig im Regiestuhl ein. Bei einem öffentlichen Essen sank sein schwerer Kopf
zum Erstaunen der Gäste in den Suppenteller.
Der französische Gelehrte Jean François
Champollion, Entzifferer der ägyptischen
Hieroglyphen, litt seit seinem 20. Lebensjahr unter extremen Schlafattacken. Oft fanden ihn seine Begleiter in den Grabmälern
der Pharaonen schlafend zwischen seinen
verstreuten Manuskripten. Selbst beim Disput mit Gelehrten rissen Champollion die
Anfälle wie ein Sog in die Tiefe.
Napoleon versank tagsüber immer wieder in minutenlangen lethargischen Schlaf.
Die Müdigkeit ereilte den französischen
Kaiser bei Audienzen, festlichen Empfän-
Wissenschaft
dest bei den ersten Attacken geraten sie in
panische Angst und fürchten, dass sie tagelang in der Wohnung liegen und sich wie
in einem Film beim Verhungern und Verdursten zusehen müssen – mindestens jeden vierten Narkoleptiker quälen derartige Scheintoderlebnisse am Morgen.
Die Mediziner können die Narkolepsie
nicht heilen, doch immerhin lindern Medikamente den Schrecken. Die Muntermacher Ephedrin und Amphetamine dämpfen
die Schläfrigkeit. Antidepressiva unterdrücken die mit dem Traumschlaf assoziierten Kataplexien, Schlaflähmungen und
Halluzinationen.
Auch die Kranken selbst entwickeln Strategien, den Angriffen aus der Schlafwelt
möglichst zu entgehen. Sie reduzieren den
Nachtschlaf und legen tagsüber bewusst
Nickerchen ein. Viele Opfer gehen intensiven Gefühlsregungen aus dem Weg, verlassen fluchtartig den Raum, wenn Witzbolde
zu einer komischen Geschichte ansetzen.
F. STOCKMEYER / ARGUM
innerhalb von Sekunden in Starre versetzt.
Auch Champollion versagten am 14. September 1822 die Beine den Dienst, jenem
Tag, an dem er seinem Bruder in einem
Brief vom Sieg über das Geheimnis der
ägyptischen Schriftzeichen berichtete. Hinter den angeblich epileptischen Anfällen
Napoleons, von denen manche Biografen
und Zeitgenossen sprechen, könnten sich in
Wirklichkeit Kataplexien verborgen haben.
Halluzinationen schieben sich bei über
40 Prozent der Kranken am Abend vor
dem Einschlafen oder beim Aufwachen am
Morgen wie Ausläufer einer Endmoräne
ins Wachsein. „Man sieht Bilder“, berichtet eine Narkoleptikerin, „von denen man
nicht sagen kann, ob sie Traum oder Wirklichkeit sind.“
Häufig sind die Einsprengsel aus der
Traumwelt bis zum Bersten mit Horrorszenarien gefüllt. Eine von Halluzinationen gequälte OP-Schwester beispielsweise
berichtet, dass sie immer wieder schmerz-
Neurologe Mayer, Narkolepsie-Patient: Dünner Vorhang zwischen Traum und Wirklichkeit
haft erlebt, wie Ärzte in ihren Körper
schneiden. Andere klagen darüber, dass
Ratten an ihnen nagen oder Schlangen
über ihren Körper kriechen. „Man spürt
es richtig“, erzählt eine Kranke.
Wieder andere sprechen in der Übergangswelt zwischen Traum und Wirklichkeit mit Menschen, die schon lange tot
sind. Das Treffen treibt ihnen eine Gänsehaut über den Rücken, ihr Herz jagt.
„Man hat das Gefühl, als würden sie kommen und einen holen, ich glaube, so muss
der Tod sein“, berichtet eine Frau.
Bei „Schlaflähmungen“ am Morgen sind
viele Kranke unfähig, sich zu bewegen oder
zu sprechen. Ihr Geist ist klar, nur ihr Körper weilt noch in Traumschlafregionen und
ist steif wie ein Waschbrett.
Die Opfer der Schlafstarre driften oft
bis zu einer halben Stunde in diesem Gruselszenario. Mayer: „Sie haben ein Gefühl,
als seien sie lebendig begraben.“ Zumin240
In den über 160 Schlaflabors in Deutschland lässt sich nachweisen, dass die Kranken nur ein fadenscheiniger Vorhang vor
dem Neuronengewitter der Träume
schützt: Während Gesunde bis zu zwei
Stunden benötigen, um aus den Tälern des
Tiefschlafs (Non-REM-Schlaf) in die
Traumwelten des REM- oder Traumschlafs
zu gelangen, durchrasen Narkoleptiker diesen Schritt in wenigen Minuten. Sie schlafen schneller ein, dafür ist ihre Nachtruhe
häufig von Wachphasen unterbrochen.
Gut jedes 20. Narkolepsieopfer ist ein
Kind unter zehn Jahren. Vor allem hinter
vielen hyperaktiven Kindern stecken Opfer der Schlafkrankheit, die in einer Art
von Autostimulation gegen die quälende
Müdigkeit anhampeln. „An Narkolepsie“,
kritisiert Mayer, „wird bei Kindern viel zu
wenig gedacht.“
Dennoch könnten auch die jüngsten Opfer der Orpheusschen Umarmungen ged e r
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nauso viel leisten wie gesunde Kinder,
wenn ihnen Lehrer oder Eltern die Möglichkeit gäben, mehrmals am Tag gezielt
ein wenig Schlaf zu tanken.
Schon lange vermuten die Mediziner,
dass das Schlummerleiden vererbt wird.
Die Krankheit tritt in vielen Familien
gehäuft auf. Nahe Verwandte von Narkoleptikern tragen ein hundertfach erhöhtes
Risiko, ihrerseits zu erkranken.
In den achtziger Jahren fanden japanische Forscher auf dem kurzen Arm des
Chromosoms 6 ein Gen, das für die SchlafWach-Störung verantwortlich sein könnte.
In 98,9 Prozent der Fälle fanden die Wissenschaftler bei Narkoleptikern diesen
Übeltäter, „die höchste Assoziation eines
Gens mit einer Erkrankung überhaupt“,
wie Narkolepsie-Experte Mayer beteuert.
Doch auch im Erbgut jedes dritten Gesunden gelingt es den Medizinern, das Gen
nachzuweisen. Der letzte Schlüssel zum
Narkolepsierätsel fehlt deshalb noch.
Den könnten US-Forscherteams vor wenigen Wochen unabhängig voneinander gefunden haben. Wissenschaftler der Stanford University entdeckten bei Dobermann-Pinschern und Labrador-Retrievern
nach zehnjähriger Forschungsarbeit ein
Gen, das die Erbinformation für einen speziellen Rezeptor auf der Oberfläche von
Neuronen im Hypothalamus enthält. Ein
zweites Team von der University of Texas
stieß bei Mäusen auf die schlafregulierende Wirkung eines Hormons (Hypocretin),
das zu ebendiesem Rezeptor im Hypothalamus passt wie der Schlüssel zum
Schloss.
Ist das Hormon nicht in ausreichender
Menge vorhanden oder kann es an die
Neuronen in der zwischen Hirnstamm und
Großhirn liegenden Steuerungszentrale für
den Schlaf nicht andocken, weil beim Bau
der Rezeptoren Fehler unterlaufen, dann
ist das Verhalten gestört, starreähnliche
Schlafphasen schieben sich immer wieder
übergangslos ins Wachsein.
Mit speziellen Medikamenten, die die
Hypocretin-Konzentration im Gehirn erhöhen, könnte sich die Narkolepsie deshalb eines Tages heilen lassen. „Ich bin sicher“, erklärt Stanford-Forscher Emmanuel Mignot, „dass Hypocretin auch beim
Menschen eine Rolle spielt.“
Stand Hitchcock, wie Wilder es meinte,
mit der Horrorwelt der Narkoleptiker auf
vertrautem Fuß? Hat der geniale Inszenator des Schreckens die Angstträume seiner
Filme aus dem Fundus von Halluzinationen
geschöpft?
Die Spekulation scheint zumindest nicht
ganz abwegig, denn die Angst etwa vor
dem Sturz ins Leere, wie sie in Hitchcocks
„Vertigo“ thematisiert ist, könnte nichts
anderes sein als das maßlose Entsetzen
des Schlummersüchtigen, bei einer Kataplexie wie in einem Aufzug, bei dem
die Seile gerissen sind, in die Tiefe zu
stürzen.
Günther Stockinger
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F. HELLER / ARGUM
experten. Zwei Mal haben sie sich bereits
zu „Workshops“ getroffen, jetzt auch ein
Buch zum Thema herausgegeben*.
Einig sind sich die Gelehrten nicht, denn
die Ergebnisse der Befragungen, Feldforschungen, Sozial- und Sprichwortanalysen sind voller Widersprüche. Ist am
Ende nur der verschwiegen, dem nichts
anvertraut wurde? Sind Geheimnisse segensreich?
Das glauben vor allem die staatstragenden Bürger, die von Amts wegen allerlei
Geheimnisse sammeln. „Arcana imperii“,
Geheimnisse der Herrschenden, gelten seit
der Antike als die bestbewachten; „Arcana naturae“ als weitgehend enträtselt;
Gottes Geheimnisse („Arcana dei“) interessieren nur mehr beamtete Theologieprofessoren.
Dem gewöhnlichen Bürger sichert der
deutsche Staat zwar eine Privatsphäre zu,
die offiziell – durch das Brief-, Steuer-,
Vom US-Geheimdienst CIA genutzte Abhöranlage in Bad Aibling bei München
Bank-, Beicht- und Ärztegeheimnis, den Datenschutz, die „informationelle
PSYCHOLOGIE
Selbstbestimmung“ – geschützt wird. Zugleich saugt
der Staat die Geheimnisse
seiner Bürger auf und archiviert sie in GeheimarchiWarum bleiben Geheimnisse
ven. Die Bundesrepublik
so selten geheim? Weil sie das Unschützt ihre „Arcana impeterfutter für Klatsch und
rii“ am liebsten mit einem
Tratsch, Lüge und Verrat sind.
doppelt gemoppelten Stempel: „Geheime Verschlusssache“.
uf der Wartburg beim BibelüberWie riskant ein Geheimsetzen hat sich der entlaufene Auniskult sein kann, lehrt das
gustiner-Eremit Martin Luther 1521
Beispiel der DDR. Alle Indas schöne deutsche Wort „Geheimnis“
formationen von Interesse
ausgedacht. Der vogelfreie Mönch, mit der Beichtstuhl in katholischer Kirche
waren dort geheim – die
„Reichsacht“ belegt und vor den kaiserliZahl der Geheimpolizisten
chen Häschern auf der Flucht, wählte als
des Ministerium für StaatsKern des neuen Begriffs das sehnsuchtssicherheit (90 000) und ihrer
volle Wort „Heim“. Es bedeutete ihm Verinoffiziellen Mitarbeiter
trautheit, Geborgensein, im übertragenen
(173 000) ohnehin; aber auch
Sinn: „nicht für andere bestimmt“.
Wohnort, Einkommen und
Darüber hat Sigmund Freud 1905 nur
Lebensstil der Partei- und
müde gelächelt. Der Entdecker des UnbeStaatsführer; das Sozialprowussten, der Männer und Frauen auf der
dukt und die StaatsschulCouch zum Reden brachte, urteilte: „Wer
den; sogar die Zahl der
Augen hat zu sehen und Ohren zu hören,
Selbstmörder und die Menüberzeugt sich, dass die Sterblichen kein
ge des Altpapiers.
Geheimnis verbergen können. Wessen LipWeil der DDR-Bürger 40
pen schweigen, der schwätzt mit den FinJahre lang auf Geheimhalgerspitzen.“
tung gedrillt wurde, herrscht
Dabei hat das gewahrte Geheimnis
in den neuen Bundesländurchaus gute Seiten: Es sichert dem Ge- Schließfächer in Schweizer Bank
dern auch heute noch ein
heimnisträger einen Wissensvorsprung, der Geheimnisvolle Orte: Segensreiche Errungenschaft?
nahezu vollständiges Beihm Vorteile verschafft; und wer etwas auszuplaudern hat, der nutzt es, um sein So- element, das Geheimnis, womöglich nur schweigen der Vergangenheit. So bleibt
zialprestige zu festigen. Auch Georg Sim- eine Fiktion ist, wird in Deutschland seit auch die Erkenntnis des Soziologen Simmel, Großvater der deutschen Soziologen, Jahren wissenschaftlich erforscht. Nestor mel unerörtert, dass eine von Geheimnishat sich noch zu Kaisers Zeiten für das Ge- der Geheimnis-Analytiker ist der Gieße- sen durchweg beherrschte Gesellschaft
heimnis mächtig begeistert: Es sei „eine ner Psychologe Albert Spitznagel, 70. Um nicht entwicklungsfähig ist. Offenbar ist
der größten Errungenschaften der Mensch- ihn scharen sich mehrere Enthüllungs- die Deutsche Demokratische Republik
auch an ihrer Geheimhaltungswut geheit“, denn es biete „die Möglichkeit einer
storben.
zweiten Welt neben der offenbaren.“
* Albert Spitznagel (Hrsg.): „Geheimnis und GeheimDieses Leiden ist jedoch kein Monopol
Wie groß diese unsichtbare Welt ist, ob haltung“. Hogrefe-Verlag, Göttingen; 340 Seiten; 59
der Realsozialisten. Derzeit grassiert das
sie zu- oder abnimmt und ob ihr Struktur- Mark.
Zweite Welt
P. VAUTHEY / SYGMA
GALAZKA
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Wissenschaft
Y. ARSLAN / DAS FOTOARCHIV
Übel in der Schweiz: Dort hat die Armee nach und nach gesprächsweise aufgeho– sie hält alles geheim, vor allem die 21 000 ben wird.
Bunker und Festungsanlagen – einen miSiebzig Prozent aller Gesprächsinhalte
litärischen Geheimdienst, der noch viel beschäftigen sich nach amerikanischen Ungeheimer agiert. Einer seiner Hauptmän- tersuchungen mit Beziehungen und perner namens Dino Belassi hat innerhalb sönlichen Erfahrungen – die Hälfte davon
von fünf Jahren gut acht Millionen Fran- gilt Personen, die gerade nicht anwesend
ken abgezweigt. Nur dieser Eidgenosse sind. Das sei lebenswichtig, sagt der USweiß, ob die 200 Pistolen und Gewehre, die Professor Robin Dunbar, denn nur so lerer unter der Hand gebunkert hat, das Ar- ne man eine möglichst große Zahl von
senal eines supergeheimen Geheimdiens- Menschen und unterschiedlichen Verhaltes sind, von dem der offizielle Geheim- tensweisen kennen – eine Art Überlebensdienst nichts wissen sollte.
training, das nicht ohne Geheimnisverrat
Noch hält der Delinquent mit der auskommt.
Wahrheit hinterm Berg. Womöglich
Weil jedes Geheimnis auf der Zunge
stärkt ihn die arabische Weisheit: „Hast juckt, hat auch die Lüge Konjunktur. Sie
du ein Geheimnis, ist es dein Gefangener. mildert den Schock bei der Aufdeckung des
Lässt du es frei, so bist du sein Gefan- Geheimnisses, beschleunigt die Abwicklung
gener.“
des Alltags, und befördert den sozialen AufIn einer Welt, in der, wie
stieg. Eine augenzwinkernneuere Forschungen zum
de
Zustimmung, die
Sprachverhalten der GeKlatsch und Tratsch freischlechter ergeben haben,
spricht, gibt es für die Lüge
der Mann täglich durchallerdings nicht. Diese beschnittlich rund 12 000
droht das Vertrauen und
Worte macht – die Frau
die persönliche Integrität.
23 000 –, ist die UnverDie strengste Ansicht
sehrtheit eines Geheimnisdazu hat der Philosoph
ses permanent bedroht.
Immanuel Kant (1724 bis
Als Viererbande, die fast
1804) hinterlassen: „Wahrjedem Mysterium den Garhaftigkeit in Aussagen, die
aus macht, gelten Klatsch
man nicht umgehen kann,
und Tratsch, Lüge und Verist formale Pflicht des Menrat.
schen gegen jeden, es mag
Erziehung und Benimmihm oder einem anderen
Bücher ächten all das undaraus auch noch so großer
terschiedslos. Doch Klatsch
Nachteil erwachsen.“ Das
und Tratsch sind oft wertist weithin Theorie, denn
volle Zugaben des Alltags. Autor Spitznagel
heutzutage gehen vier von
Sie dienen, darüber sind
fünf Lügen anstandslos
sich die Psychologen einig, dem Erhalt durch, vor allem deshalb, weil die Mobilität
sozialer Gruppen und bauen Aggressionen der Gesellschaft zu- und die Vorbildfunktion
ab. Für den Gießener Soziologen Jörg der Eltern und Lehrer abgenommen hat.
Bergmann ist „Klatsch die Sozialform der
Selbst schützenswerte Geheimnisse geldiskreten Indiskretion“. Albert Spitznagel ten den psychologischen Experten als zuist sich sicher, dass es „in westlichen nehmend gefährdet. Spitznagel hat volksKulturen inhaltsbezogene Geheimhal- tümliche Sprichwörter zu Geheimnissen
tungshierarchien“ gibt. Am riskantesten und Geheimnisverrat durch Befragungen
sei die Offenbarung „sexualitätsbezogener untersucht und dabei gefunden, dass der
Inhalte“.
Verrat im Sprichwort und im wirklichen
In jedem besseren Büro kommt in der Leben als der ärgste Feind jeder VertrauRangfolge des Interesses nach dem Sex die lichkeit gilt.
Verrat ist demnach keine entschuldbare
Gehaltsstruktur. Der Klatsch darüber kann
beide Themen entschärfen helfen und Form der List, wie das die Geheimdienste
Loyalitätskonflikte unter Freunden lindern den Überläufern suggerieren, sondern ein
– nur muss er halbwegs geheim geschehen Angriff auf zwei fundamentale menschliund offiziell geächtet bleiben. Wird Klat- che Kategorien: das Vertrauen und die
schen bewusst zu einer Psycho-Strategie Treue. Die Treue – definiert als Tugend der
erwählt, verliert es seine wohltätige Wir- Beständigkeit im sittlichen Leben, der Zuverlässigkeit und des Festhaltens an einer
kung.
Auch in Familien bestimmen, wie die versprochenen Bindung – wird durch den
amerikanische Therapeutin Evan Imber- Verrat ausgehebelt.
Im traditionsbewussten England gilt
Black lehrt, „Wissen und Nichtwissen
um Geheimnisse“ die Choreografie. der Verrat noch immer als das schlimmste
Stigmatisierende Episoden – dazu zählen aller Verbrechen (in Frankreich ist es der
Drogenmissbrauch, Adoption, Abtreibung, Vatermord, bei uns der Sexualmord an
Gemütskrankheit, Aids, Sterbehilfe – wer- Kindern). Einig sind sich die Völker im
den nicht mehr schmerzvoll als Tabu Sprichwort: „Vom Verräter frisst kein
durchlitten, wenn die Geheimhaltung Rabe.“
Hans Halter
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Kultur
Szene
FILM
Fernsehen 2000
DANA PRESS
ährend im
deutschen
Fernsehen hirntote Musiksendungen
und
seichte Serien
das Hauptabendprogramm dominieren, riskieren die TV-Sender in Dänemark ausgerechnet zur Jahrtausendwende, dem Regisseure Kragh-Jacobsen, Levring, Vinterberg, von Trier
Renommiertermin schlechthin, ein Experiment: Die für ihre radikale Schlicht- sammenzappen. Auch die britische BBC will Teile dieser Fernheit hoch gelobten dänischen Regie-Erneuerer der „Dogma seh-Innovation in ihr weltweit ausgestrahltes „Millennium’s
95“-Schule um Thomas Vinterberg und Lars von Trier („Das Day Broadcast“-Programm aufnehmen. „Die Handlung kenFest“, „Idioten“) sollen zum Jahreswechsel das Programm ge- nen wir selbst noch nicht“, erläutert Vinterberg, „es soll ein
stalten. Dazu schicken Trier, Vinterberg sowie Sören Kragh-Ja- Spiel sein, ein Dogma-Spiel.“ Später wollen die vier Dogmacobsen und Kristian Levring in der Silvesternacht je einen Filmer aus den insgesamt 280 Fernsehminuten einen Kinofilm
Schauspieler los, von der Kamera begleitet; am Neujahrsabend zusammenstellen. Auch ein Scheitern des mit umgerechnet
werden diese vier Filme zur besten Sendezeit parallel in vier knapp 900 000 Mark vergleichsweise günstigen Filmexperidänischen TV-Programmen ausgestrahlt. Die Fernsehzuschau- ments hat Trier einkalkuliert: „Dann brauchen wir nur 1000
er können sich so ihren individuellen Dogma-Film selbst zu- Jahre zu warten, bis wir den Versuch wiederholen können.“
BUCHMARKT
KLASSISCHE MUSIK
Sein Leben,
sein Erfolg
Sopran für Archäologen
M. KLIMEK
enn er in seiner Kritikersendung Bücher lobt, werden am
folgenden Tag die Buchhandlungen
gestürmt, so heißt es schon lange
in der Verlagsbranche, und Marcel
Reich-Ranicki, 79, hätte vielleicht
früher darauf kommen sollen, dass er
sich die Bestseller am besten selbst
schreibt. Mit seiner Autobiografie
jedenfalls, erst seit drei Wochen im
Handel, macht der temperamentvolle
Literaturjournalist ordentlich Kasse.
Am achten Verkaufstag war die gesamte Startauflage (75 000) vergriffen, Ende vergangener Woche waren 160 000 Exemplare weg, weitere
70 000 im Druck, und der Verlag
bestellt bereits Papier für die vierte
Auflage. Damit sich nicht alle die
Mühe machen müssen, sein Leben
nachzulesen, gibt der SelbstdarstelBestsellerautor Reich-Ranicki
lungsprofi bereitwillig mündlich Auskunft: In diesen Wochen wird er in allen wichtigen Talkshows von
Böhme bis Biolek zu sehen sein – fehlt eigentlich nur noch, dass die
Kritikerkollegen Hellmuth Karasek und Sigrid Löffler sich im „Literarischen Quartett“ zu „Mein Leben“ äußern.
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S
o etwas hatten die verwöhnten New Yorker noch
nicht erlebt: Da trat die kleine Marcella Sembrich
mit einer Violine aufs Podium der Metropolitan Opera
und geigte bravourös ein hochromantisches Konzert.
Dann wurde ein Flügel hereingerollt, und sie spielte mit
Verve Masurkas von Chopin. Schließlich kehrte die
26-jährige Polin noch einmal wieder, sang in glockenreinem Koloratursopran eine schwere Rossini-Arie – und
erntete zu Recht Orkane von Beifall. All das passierte
1884, kurz nach Gründung der Met, und die Sängerin
gilt bei Kennern seither als Geheimtipp unter den Diven
der Jahrhundertwende. Jetzt
können Gesangs-Archäologen das Stimmwunder endlich wieder würdigen: Die
Firma Nimbus hat soeben in
ihrer „Prima Voce“-Serie
eine CD mit Aufnahmen von
1904 bis 1912 herausgebracht.
Verblüffend rauschfrei erklingen Opern-Kraftstücke, aber
auch „Home Sweet Home“
und ein Schubert-Lied; dazu
die Koloratur-Fassung von Johann Strauß’ „Frühlingsstimmen“-Walzer, die der begeisterte Komponist eigens für
Sembrich (1887)
Madame Sembrich schrieb.
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AKG
W
ARTHAUS
W
Szene
L I T E R AT U R
KUNST
Küchenlatein
des Lebens
Horror im Kinderzimmer
Isabel Allende: „Fortunas Tochter“. Aus dem Spanischen von Lieselotte Kolanoske. Suhrkamp Verlag,
Frankfurt am Main; 496 Seiten; 49,80 Mark.
250
D
VG BILD-KUNST, BONN 1999; FOTO: M. WITT
as Labyrinth wirkt noch harmlos. Der Besucher flaniert durch verschachtelte hüfthohe Gänge, tapeziert mit rosafarbenen Kristallen. Doch dann muss er noch durch
einen engen, schwarzen Tunnel kriechen. An dessen Ende blinkt in einem Aluminiumraum ein durchgedrehtes Polizeilicht, strahlt abwechselnd rot und blau auf eine Folterbank und ein Regal mit Sexspielzeugen. Der amerikanische Provokations-Künstler
Mike Kelley, 45, ließ sich für seine raumgreifende Installation „Sublevel“ vom Grundriss einer Kunstakademie in Los Angeles inspirieren, die er einst besuchte; für ihn ist
sie der Inbegriff eines typischen Schulgebäudes. Mit seiner skurrilen Hommage will er
auf drastische Weise auch an dokumentierte Fälle von Misshandlungen in US-Schulen
Kelleys Plüschtiere-Objekt „Deodorized Central Mass with Satellites“ (1991/99)
Kino in Kürze
„Der dreizehnte Krieger“. „Das Einzige, was diesen Film sehenswert macht, ist die
drastische Darstellung von Enthauptungen und ähnlicher Gewalt“, teilt ein Amateur-Filmkritiker aus dem amerikanischen Mittelwesten der Welt per Internet mit.
„Blut spritzt aus Hälsen, und Köpfe werden weggeschleppt.“ Mehr Erfreuliches weiß
aber selbst dieser Splatter-Fan nicht über das abenteuerlich zusammengehauene
Leinwandgemetzel zu berichten, das tapfer als mittelalterliches Action-Drama angepriesen wird: „Braveheart“ trifft „Beowulf“ und „Highlander“. Zwischen dem
Filmemacher John McTiernan („Stirb langsam“) und dem Autor der Buchvorlage
Michael Crichton („Jurassic Park“) kam es offenbar während des Drehs zu heftigen Kämpfen – das Ergebnis ist epischer Murks. Budget: rund hundert Millionen
Dollar. Zwölf Krieger hätten auch gereicht.
KINOWELT
E
liza ist ein Geschöpf voller wunderbarer Widersprüche, ausgestattet mit
einer berauschend abenteuerlichen Vita.
Eliza ist eben eine typische Romanheldin von Isabel Allende, 57, sie ist „Fortunas Tochter“,
Titelfigur des
neuesten Romans
der Chilenin. Als
Findelkind lag
Eliza am 15. März
1832 halbnackt in
einem Seifenkarton
vor der Tür der
wohlhabenden Geschwister Jeremy
und Rose Sommers
in der britischen
Kolonie der chilenischen Stadt Valparaíso. Die skurrile, unverheiratete Rose
will das Mädchen zu einer englischen
Oberschicht-Lady ausbilden lassen, aber
der bedächtige Jeremy glaubt, dass man
der Adoptivtochter immer ihre armselige Abstammung anmerken werde. Und
wirklich, Eliza lässt das Erziehungsprogramm mit Klavierstunden und Haltungstraining nur widerwillig über sich
ergehen, stattdessen treibt sie sich lieber in der Küche herum, bei Mama Fresia, die ihr das Kochen und das Küchenlatein des Lebens beibringt. Eliza wird
beides brauchen. Denn als in Kalifornien der Goldrausch ausbricht, zieht sie
ihrem Geliebten hinterher, dem Glücksritter Joaquín Andieta. Und zwischen
Abenteurern und Halunken reift die
Halbwüchsige zur selbstbewussten
Frau.
Fast so kitschig und klischeebeladen,
wie sie die Eckpunkte des Roman-Lebens dieser Pendlerin zwischen den
Welten konstruiert hat, malt die Allende auch deren Geschichte mit bunten
Bildern im Detail aus. Ausladend und
mit unnützen historischen Exkursen befrachtet, kommt dieser Entwicklungsund Emanzipationsroman nur mühsam
in Gang. Die Autorin gibt ihrem Roman,
dem ersten nach sieben Jahren, eine
dramatische Dimension, die sie aber auf
die große erzählerische Distanz nicht
zu meistern versteht. Und am Ende
bleiben Heldin und Leser gleichermaßen die Erkenntnis, die jede bewältigte
Krise zu einem biografischen Bonus
veredelt: „Jetzt bin ich frei …“
Szene aus „Chucky …“
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„Chucky und seine Braut“. Wenn die Heldin eines Horrorfilms zu einem Ratgeber namens
„Voodoo für Idioten“ greifen muss, kann es
nicht allzu gruselig zugehen. Diese vierte Folge
der 1988 gestarteten Filmserie um die Killerpuppe Chucky profitiert vom Revival der Gattung – und hat seine Grundidee erfolgreich bei
„Scream“ abgeschaut: immer kräftig zitieren,
und alles nicht so ernst nehmen. Diesmal hat
der Mini-Killer eine Lebenspartnerin (Jennifer
Tilly), mit der er durch Blut und Böse waten
darf; darum ist „Chucky“ (Regie: Hongkong-Filmer Ronny Yu) eigentlich ein erbaulicher Lehrfilm über die Freuden der Liebe und die Gefahren der Ehe: Auch ein Serienkiller kann sich
nicht ungestraft um den Abwasch drücken.
Kultur
erinnern. Seine SchockStrategie, mit der er das
kollektive Verdrängen bezwingen will, nennt er
„schwarze Nostalgie“. Mit
Vorliebe benutzt er als Gedächtnisstützen auch putzige Plüschtiere – die er als
300 Kilo schwere Knäuel
an Decken hängt und vom
Parfum einer Elektroduftmaschine umwehen lässt.
Knopfäugige Teddybären,
so sieht es jedenfalls Kelley,
sind nur das Symbol eines
idealisierten, sauberen
Kindchenschemas: Spielzeug, das nicht den Kleinen, sondern deren Eltern
gefallen soll – und dem
Künstler den Ruf eines gehobenen Kinderzimmerfetischisten einbrachte. In seiner aktuellen Ausstellung
im Kunstverein Braunschweig (bis 31. Oktober)
hat er seine neuesten Kindheitsdevotionalien, darunter auch Fingermalereien,
versammelt und mit ihnen
ein buntes Schreckenskabinett gebaut.
Kelley-Installation „Sublevel“ (1999)
AU S S T E L L U N G E N
Eine militärische
Karriere
E
MUSEUM KARLSHORST BERLIN
r hat in der
Geschichte
Berlins nur für
gut sieben Wochen eine Rolle
gespielt, aber
diese Zeit war
„ein Moment
der grundsätzlichen Weichenstellung“:
Der sowjetische Generaloberst Nikolai
Bersarin war
Bersarin (1945)
vom 24. April
1945 bis zu seinem tödlichen Motorradunfall am 16. Juni 1945 Berliner Stadtkommandant. Während dieser Zeit ließ
er Trümmer beseitigen und stellte eine
– wenn auch knappe – Lebensmittelversorgung her. In den Wohnungen gab es
wieder fließendes Wasser und für ein
paar Stunden elektrisches Licht. Mit Fotos, Plakaten und Originaldokumenten
erinnert von Montag an das deutsch-
Am Rande
Monas Neurose
M. WITT
S
russische Museum Berlin-Karlshorst an
das Leben des Soldaten, der 1975 vom
Ost-Berliner Magistrat zum Ehrenbürger der Stadt ernannt wurde (bis 22.
November). Nikolai Bersarin, geboren
1904 in St. Petersburg, trat mit 14 in die
Rote Armee ein. Er kämpfte in Ostsibirien gegen die Japaner und wurde
im Mai 1941, kurz vor dem deutschen
Überfall auf die Sowjetunion, Oberkommandierender der 27. Armee. Als
Heerführer der 5. Stoßarmee war
Bersarin beteiligt an der Befreiung
Moldawiens, an der Oder-WeichselOperation und dem Sturm auf Berlin.
„In den Grenzen seiner historischen
Denk- und Handlungsmöglichkeiten“,
so heißt es im Vorwort des Begleitbandes zur Ausstellung, „war Bersarin vielleicht mehr als das Produkt und der
Funktionsträger eines abzulehnenden
Systems.“
Zitat
»Das Buch ist zum Lesen
das ideale Interface.«
Christof Erhart, Manager für Electronic
Commerce bei Bertelsmann, über die
Zukunft des gedruckten Wortes.
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o richtig schlau geworden ist man
ja noch nie aus ihr: Lächelt unentwegt, obwohl besorgte Liebhaber
sie eingesperrt haben hinter Panzerglas. Schweigt viel sagend, trotz täglich tausender Bewunderer, die sich
schwitzend vor ihr drängeln. Und
sieht eigentlich auch noch ganz gut
aus für ihr Alter – demnächst feiert
die Dame ihren 500. Geburtstag.
Nein, die Rede ist nicht von der offenbar unsterblichen Queen Mom;
die Unvergleichliche heißt Mona
Lisa, wurde gemalt von Leonardo da
Vinci, hängt seit Jahrhunderten faul
im Pariser Louvre herum. Und lächelt und lächelt.
Dachte man bisher. Doch jetzt hat
ein italienischer Dottore für alle Zeiten das sibyllinische Mona-Grinsen dechiffriert: Eine
Angstneurose sei ihr
ins Gesicht geschrieben, hat der Arzt Filippo Surano herausgefunden, „sie war
gestresst und sehr
unglücklich“. Deshalb
habe die gute Lisa
schon in jungen Jahren, vor allem nachts,
unbewusst mit den
Zähnen geknirscht. Kopfschmerzen
seien die Folge gewesen, außerdem,
igitt, eine Mundinfektion sowie eine
Nierenentzündung, die ihr Gesicht
und ihre Hände anschwellen ließ.
Mona Lisa, Traumfrau, schön und
schön still – ein Fall für die PsychoCouch? Doch vor wem oder was hatte sie Angst? Vor dem harten ModelAlltag im 16. Jahrhundert? Etatkürzungen bei der Künstlersozialkasse?
Dem Röntgenblick Leonardos?
Wir wissen es nicht, Dr. Surano weiß
es nicht, und auch Feldforschungen
bei zeitgenössischen Dauer-Grinsern
wie Gerhard Schröder und Peter
Hahne führen nicht weiter – das
sind echte Männer, und die kennen
keine Angst. Aber noch ist Hoffnung:
„Jahre opfern können für das
Lächeln einer Frau, das ist Glück“,
verheißt, nein, diesmal nicht Goethe,
sondern Hermann Hesse. In diesem
Sinne: Dr. Surano, forschen Sie weiter! Mona Lisa wird Ihnen dankbar
sein. Und am Ende, ganz bestimmt:
lächeln.
251
Kultur
SCHRIFTSTELLER
Der Westen küsst anders
Blick zurück ohne Zorn: Thomas Brussig hat die Vorlagen für zwei Spielfilme geschrieben,
in denen überraschend farbig vom Alltag in der DDR erzählt wird –
sein neues Buch erlaubt sich provozierend nostalgische Töne. Von Volker Hage
S
talin wollte unbedingt ein Stück von
ihr haben: von der Sonnenallee. Eine
Straße mit einem derart schönen Namen konnte man nicht einfach den Amerikanern überlassen.
Damals, im Sommer 1945, als er mit seinen alliierten Mitstreitern Truman und
Churchill in Potsdam zusammensaß, um
die Zukunft Deutschlands zu erörtern,
mühte Stalin sich zunächst vergebens, dem
US-Präsidenten die Straße abzuringen. Der
britische Premier stand gerade an der
Wandkarte, als ihm Stalin geistesgegenwärtig Feuer für die erloschene Zigarre gab
– der also beglückte Churchill verhalf
prompt dem Sowjet-Diktator zu einigen
Metern der fünf Kilometer langen Straße.
War es so? Der Schüler Michael Kuppisch
stellt es sich so vor. Der Held aus Thomas
Brussigs neuem Prosawerk „Am kürzeren
Ende der Sonnenallee“ muss nämlich mit
dem absurden Ergebnis der Straßenteilung
leben: in der DDR, direkt neben der Mauer, in einem Fragment von Straße**.Wie anders ließe sich so ein Unsinn sonst erklären?
Brussig, 33, bekannt durch seinen Roman „Helden wie wir“, ein Autor, der grelle Übertreibungen und skurrile Einfälle
liebt, hat sich zwar die Stalin-Szene, nicht
aber die aufgeteilte Sonnenallee ausgedacht. Sie existierte so bis zur Wende, sogar mit durchgehender Nummerierung:
Die Hausnummern 1 bis 370 gehörten zum
West-, die restlichen bis 411 zum Ostteil
* Mit Alexander Scheer, Teresa Weißbach (3. u. 4. v. l.)
als Micha und Miriam.
** Thomas Brussig: „Am kürzeren Ende der Sonnenallee“. Verlag Volk & Welt, Berlin; 160 Seiten; 28 Mark.
Autor Brussig: „Herzerfrischendes Gelächter“
Brussig-Verfilmung „Sonnenallee“*: „Es war von vorn bis hinten zum Kotzen, aber wir haben uns amüsiert“
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der Stadt – dazwischen stand die Mauer.
Das kürzere Ende der Sonnenalle: kein
schlechter Schauplatz für einen Blick
zurück auf die Jugendzeit im Arbeiter-undBauern-Paradies.
Der Berliner Schriftsteller hat die Geschichte von Michael und seinen Freunden, die im Schatten der Mauer heranwachsen und der Westmusik und den Ostmädchen (besonders einem) hinterherjagen, zunächst als reinen Kinostoff vor
Augen gehabt, als Stoff für einen „wirklich
liebevollen, bekennenden, nostalgischen
Film“ (siehe Interview Seite 255).
Und von dieser Idee konnte er
immerhin den Theaterregisseur
Leander Haußmann überzeugen,
der sich mit „Sonnenallee“ an
sein Spielfilmdebüt wagt: Am
7. Oktober soll das Werk in die
deutschen Kinos kommen.
Für die gemeinsame Arbeit am
Drehbuch wurden Brussig und
Haußmann zu Beginn dieses Jahres mit dem Drehbuchpreis der
Bundesregierung ausgezeichnet.
Dann aber packte Brussig offenbar die Lust, die Geschichte noch
einmal in eigener Regie zu erzählen, ohne Einspruch, allein am
Schreibtisch – und so entstand
ein eigenständiges und herrliches
Stück Prosa. Im Gegensatz zu
DELPHI
U. MAHLER / OSTKREUZ
Romane zur deutschen Einheit: Unbekümmert über die Zeiten nach der Wende
dem Bestseller „Helden wie wir“ ist es ein
sehr stilles Buch geworden.
Brussigs „Helden“-Roman von 1995 ist
das muntere Satyrspiel auf den Untergang
der DDR: klotzig, klamaukig, obszön. Der
Protagonist Klaus Uhltzscht, ein ehrgeiziger, um seine Manneskraft besorgter Bursche, der gern bei der Stasi Karriere gemacht hätte, leitet, so die Pointe des Buches, ungewollt das Ende der DDR ein: als
Exhibitionist, der mit seinem Riesenpenis
die Grenzwächter aus der Fassung bringt.
Kapitelüberschriften wie „Der geheilte
Pimmel“ (Verulkung des Romantitels „Der
geteilte Himmel“ von Christa Wolf) zeigen,
dass Brussig mit dem getragenen Ernst der
alten DDR-Literatur wenig am Hut hat.
Wolf Biermann begrüßte „Helden wie
wir“ denn auch als „ein herzerfrischendes
Gelächter“ (SPIEGEL 5/1996), und die
„Frankfurter Allgemeine“ erkannte darin
gar eine Groteske „von der intelligenten
Unverschämtheit und dem treffsicheren
Spott der Shakespeareschen Narren“. Nur
einige wenige Kritiker taten den Witz des
Romans als „Pubertätshumor“ („taz“) ab.
Das Buch, dessen Auflage heute bei 200000
Exemplaren liegt, ist ebenfalls verfilmt
worden und soll am 9. November, termingerecht zum zehnten Jahrestag des Mauerfalls, Premiere haben – auch hier wirkte
der fleißige Brussig am Drehbuch mit.
Gegen den vulgären Ich-Erzähler
Uhltzscht jedenfalls wirkt Michael, der Junge aus der Sonnenallee, den seine Freunde
Micha nennen, geradezu keusch und
romantisch. Seine Geschichte wird von
Brussig unspektakulär, in der dritten Person,
erzählt – vielleicht auch, weil ihm dieser
jugendliche Held näher steht als der monströse Verbalerotiker. Kein Wort mehr von
„Pimmel“ oder „Kolben“.
Das Gegenprogramm ist angesagt: Micha hat sich in seine Mitschülerin Miriam
verliebt und traut sich nicht, es ihr zu sagen.
Das Problem ist nämlich, dass sie, neu an
der Schule, die Begehrteste ist – sämtliche
Freunde Michas sind ebenfalls hoffnungslos
in sie verliebt. Und Miriam ermutigt die
Jungs aus der Sonnenallee nicht gerade.
Gleich auf der ersten Schuldisco knutscht
sie demonstrativ mit einem Jungen herum,
der, als die Schulleiterin empört das Licht
anknipst, nicht mehr verbergen kann: Er ist
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Westler. Der Bursche trägt nämlich ein
T-Shirt des John-F.-Kennedy-Gymnasiums.
Da trifft es sich gut, dass Micha längst
wegen antisozialistischer Unbotmäßigkeit
zu einer Rede vor versammelter Schülerschaft verdonnert worden ist: Miriam muss
ebenfalls antreten. Hinter der Bühne geschieht das Unfassliche. Sie nähert sich ihm
mit den Worten: „Die im Westen küssen
ganz anders“ – und will ihm das offenbar
gerade vorführen, als sie zum Rednerpult
gerufen wird. „Irgendwann zeig ich’s dir!“,
ruft sie ihm noch zu.
Dieses Versprechen lässt ihn nicht mehr
los, auch wenn Miriam gar nicht daran
denkt, es so bald einzulösen. Sie macht geradezu eine Philosophie daraus. „Dann
hast du immer etwas, worauf du dich freuen kannst“, sagt sie zu Micha, als er einmal
vergeblich daran erinnert. „Wenn du weißt,
dass ich dich irgendwann küssen werde,
wirst du nie traurig sein müssen.“
Brussig vermag es, dieser so unendlich
oft erzählten Geschichte von der ersten
großen Liebe Anmut und Witz zu geben.
Wie die ganze Jungenbande zur Tanzstunde marschiert und sich um Miriam balgt,
wie der den Ausweis kontrollierende ABV
(der Abschnittsbevollmächtigte) Micha ein
entscheidendes Rendezvous vermasselt, wie
schließlich noch ein Nebenbuhler aus dem
Westen auftaucht und mit immer teureren
Schlitten bei Miriam vorfährt (am Ende wird
er als hochstaplerischer Hotelboy enttarnt)
– das ist DDR-Nostalgie der feinen Art.
Die Figuren werden ganz von allein zu
komischen Gestalten, da muss Brussig nur
ein wenig nachhelfen: die Mutter, die den
Sohn zum Studium nach Moskau schicken
will und dafür sogar das „Neue Deutschland“ abonniert, die „Existenzialistin“, die
einen der Sonnenallee-Jungs verführt und
ihre Nische in der DDR gefunden hat –
auch der Westverwandte, der bei Besuchen
jedes Mal schweißgebadet die Grenzkontrolle passiert. Bisweilen ist der Prosa die
Herkunft vom Filmplot noch anzumerken:
ein wenig zu pointenselig, auch wackelt
die Erzählperspektive an einigen Stellen.
Vom Ende der DDR ist dabei gar nicht die
Rede – das wird bei Brussig als heimlicher
Fluchtpunkt der Geschichte vorausgesetzt.
Zehn Jahre ist es her, seit sich dieses
Ende mit der Maueröffnung konkret ab253
zuzeichnen begann. Brussigs Buch ist
denn auch nicht das einzige Werk der
Saison, in dem der Wende literarisch gedacht wird. „Deutsche Einheit“ nennt,
ganz ohne Scheu, der aus Hamburg stammende, in München lebende Schriftsteller
Joachim Lottmann seinen zweiten Roman;
„Das vereinigte Paradies“ heißt nicht ohne
Ironie der Erstlingsroman der Autorin
Marcia Zuckermann, die in Berlin aufwuchs*.
In beiden Fällen wird munter und unbekümmert von Nachwendezeiten in Berlin erzählt, und Vereinigung bedeutet jeweils auch deutsch-deutsche Paarung: Bei
Zuckermann, 42, ist es der arbeitslose Ossi
Frank, der sich Geld mit der Synchronisation von Pornofilmen verdient, und mit
Claudia, der Emanze aus dem Westen, seine Schwierigkeiten hat; bei Lottmann, 44,
greift der westliche Ich-Erzähler am Ende
gar zu Viagra, um die schöne Maren auf
ihren „hässlichen DDR-Karokissen“ von
sich zu überzeugen – hier wie dort wirkt
die Munterkeit im Erzählton bisweilen etwas angestrengt.
Getragen dagegen schon der Titel von
Jürgen Beckers erstem Roman: „Aus der
Geschichte der Trennungen“**. Becker,
67, bisher hauptsächlich als Lyriker bekannt, betreibt Spurensuche: Sein Alter
Ego Jörn Winter fährt seit dem Fall der
Mauer regelmäßig in den Osten, wo er einen großen Teil seiner Kinderjahre verbracht hat. Doch weder lassen sich Vergangenheit und Gegenwart, noch Ost- und
Westerfahrungen leicht miteinander versöhnen – Einheit, so zeigt dieses Buch, ist
psychisch nicht so einfach herzustellen. In
seiner ruhigen, mitunter fast schwerfälligen Art ist Beckers Roman das Gegenstück zu den Versuchen der jüngeren Autoren, das deutsche Thema von der leichten Seite zu nehmen.
Auf den umfassenden Roman über das
einst geteilte Land oder auch nur über die
in zwei Hälften getrennte Stadt Berlin, den
gerade erst wieder der US-Autor Tom
Wolfe im Fernsehen von den deutschen
Schriftstellern gefordert hat, müssen jene,
die ihn sich dringend wünschen, auch in
diesem Herbst vergebens warten.
Da kann selbst Brussigs „Am kürzeren
Ende der Sonnenallee“ nicht aushelfen.
Und doch lässt sich der DDR, die ein Kuriosum war wie die einst geteilte Sonnenallee, auf diese Weise wohl am besten
beikommen: fröhlich und mit Happy End
– zumindest für Micha und Miriam. „Es
war von vorn bis hinten zum Kotzen“, resümiert der junge Held später, „aber wir
haben uns prächtig amüsiert.“
* Joachim Lottmann: „Deutsche Einheit“. Haffmans
Verlag, Zürich; 384 Seiten; 39 Mark. Marcia Zuckermann: „Das vereinigte Paradies“. Deutscher Taschenbuch Verlag, München; 320 Seiten; 28 Mark.
** Jürgen Becker: „Aus der Geschichte der Trennungen“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M.; 344 Seiten;
39,80 Mark.
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Kultur
„Jubelfeiern wird’s geben“
Der Schriftsteller Thomas Brussig über die verflossene DDR,
die Zusammenarbeit mit Leander Haußmann,
über Ehrgeiz, Misserfolge und verkäufliche Literatur
SPIEGEL: Herr Brussig, gleich zwei Spiel-
Brussig: Der Misserfolg hat meinen Ehrgeiz angestachelt, das stimmt. „Wasserfarben“ war nicht so schlecht, dass es diesen
Misserfolg verdient hätte. Was die „Wasserfarben“ an Aufmerksamkeit zu wenig
gekriegt haben, das haben die „Helden wie
wir“ dann doppelt wieder reingeholt.
SPIEGEL: Nun ist Ihr drittes Buch da: „Am
kürzeren Ende der Sonnenallee“. Was war
zuerst da: die Film- oder die Buchidee?
Brussig: Mir kam die Idee zu diesem
Stoff 1992/93. Ich sah das als Film
vor mir: die DDR im Stil von Woody Allens „Radio Days“, in einem
wirklich liebevollen, bekennenden,
nostalgischen Film.Aber was nimmt
man anstelle des Radios, das bei Allen eine Art Leitmotiv ist? Die Mauer – für mich das DDR-Phänomen
schlechthin! Und die Sonnenallee
ist eine fünf Kilometer lange Straße
in Berlin, quer durch Neukölln – nur
die letzten Meter, die sind in Treptow, also im Osten. Ich dachte mir,
das wäre der richtige Ort für eine
Art Mauerkomödie: das kürzere
Ende der Sonnenallee. Ich bin damit
zu Leander Haußmann gegangen, und er
hatte Lust, das zu machen.
SPIEGEL: Immerhin Haußmanns Debüt als
Spielfilmregisseur.
Brussig: Ja, aber Mauerkomödie war nicht
so sein Ding. Er hat sich da auf ein paar
Episoden spezialisiert, die ihm besonders
gefallen haben. So sind während der Arbeit
am Drehbuch viele Episoden auf der
Strecke geblieben. Mein Verleger sagte:
„Mach doch ein Buch daraus!“ So konnte
ich end lich wieder am Schreibtisch sitzen,
ganz allein verantwortlich. Das ist also kein
Buch zum Film.
SPIEGEL: Aber es sind, laut Danksagung,
Ideen eingeflossen, die während der Drehbucharbeiten kamen. Wie gestaltete sich
die Zusammenarbeit mit Haußmann?
DELPHI
ULLSTEIN BILDERDIENST
film-Rückblicke auf die DDR sind jetzt
nach Ihren Vorlagen entstanden und werden im Herbst in die deutschen Kinos kommen: „Sonnenallee“ im Oktober, „Helden
wie wir“ im November. Sind Sie der Generalbevollmächtigte für Nostalgie zum
zehnten Jahrestag des Mauerfalls?
Brussig: Ich mache die Filme ja nicht. „Helden wie wir“ ist die Verfilmung meines 1995
erschienenen Romans, und der „Sonnenallee“-Stoff ist von Leander Haußmann, dem
Regisseur, stark mitgeprägt worden.
SPIEGEL: Ihre Bescheidenheit in allen Eh- Berliner Grenzübergang Sonnenallee (1972)
ren, aber ohne Sie würde es die Filme nicht „Die herrlichsten Storys von damals“
geben.
nachlässigter Geschichten. Und komiBrussig: Ich bin doch nur der Autor.
SPIEGEL: Und am liebsten ein Chronist der scherweise werden gerade die überall auf
der Welt verstanden.
untergegangenen DDR?
Brussig: Zu viel der Ehre. In beiden Fällen SPIEGEL: Ihr erfolgreicher Roman „Helden
ist die Geschichte fiktiv. Bei „Helden wie wie wir“ war nicht Ihr Debüt. Ihr Erstling
wir“ könnte man geradezu von einer Ge- „Wasserfarben“ erschien zunächst unter
schichtslüge sprechen: der Mauerfall als einem Pseudonym. Eine Art Stiefkind?
Werk eines Einzeltäters. Und auch der Brussig: Ich habe das in der DDR ge„Sonnenallee“-Stoff geht nicht in die ei- schrieben und bin mit dem Manuskript zum
gene Falle: Er versucht nicht zu schildern, Aufbau-Verlag gegangen, dem damals
wie die DDR war, sondern erzählt, wie sie wichtigsten Verlagshaus bei uns. Als das
gern erinnert wird.
Buch dort tatsächlich erschien, für mich
ein Traum, gab es die DDR nicht mehr,
SPIEGEL: Ist die DDR so spannend?
Brussig: „Oststoffe interessieren nicht“, und niemand wollte noch ein Buch von
sagte mir nach der Wende ein Fernseh- einem Ostdebütanten lesen.
redakteur. Und als ich „Helden wie wir“ SPIEGEL: Ihr Erstling ist ein stilles Buch. Hat
schrieb, glaubte ich das fast auch schon: Sie der Misserfolg beflügelt, bei „Helden
die DDR und Stasi – dafür interessiert wie wir“ mehr auf den Putz zu hauen?
sich kein Mensch. Ich war
vom Erfolg dieses Buches Brussig-Verfilmung „Sonnenallee“: „Erzählen, wie die DDR gern erinnert wird“
dann selbst überrascht. Möglich, dass ich wegen dieses Erfolgs später auf offene
Ohren gestoßen bin, als ich
mit dem „Sonnenallee“Stoff kam.
SPIEGEL: Was hat sich geändert?
Brussig: Als die DDR existierte, wurde sie ständig an
ihrem Selbstverständnis gemessen und tief schürfenden
Analysen unterzogen. Jetzt,
da es vorbei ist, bemerken
wir plötzlich, dass sich die
DDR ganz gut anhand ihrer
Profanitäten und Lächerlichkeiten erzählen lässt. Die
DDR hatte einen Alltag, und
sie hatte ein konkretes Interieur, und darin stecken jede
Menge guter, bislang ver-
Kultur
land der neunziger Jahre, und da der Osten
dazugekommen ist, muss er auch in
einer groß angelegten Chronik der Neunziger vorkommen. Dass wir zu verschiedenen Generationen gehören, ist der
geringere Grund. Ich denke, dass Edgar
Reitz, der 66 ist, mit seinem Feuereifer
und seiner geistigen Beweglichkeit zu den
jüngsten Filmemachern Deutschlands
gehört.
SPIEGEL: Mit welchem Gefühl blicken Sie
heute auf die DDR zurück?
Brussig: Sehr präsent ist sie nicht mehr,
aber sie beschäftigt mich ständig, und
viel mehr, als mir lieb ist. Dabei hat es
in den letzten zehn Jahren so viel interessante, geradezu umstürzende Veränderungen gegeben: Es gibt das Internet,
die digitale Revolution, es gibt Kleinanleger, Einschaltquoten, deutsche Soldaten
im Krieg und die neue Mitte. Aber im
SENATOR FILM
Brussig: Ich habe sehr gern mit Leander gearbeitet, weil wir so verschieden sind. Unvergessen ist, wie ich in seiner Bochumer
Wohnung am Computer schrieb, während er im Nebenzimmer auf dem Bett
lag und sich durch CD-Hören Erinnerungen heraufspülen ließ, die ich dann gleich
ins Drehbuch einarbeiten sollte. Aber ich
habe Leander auch als echten Leitwolf erlebt. Er hat den „Sonnenallee“-Stoff wirklich geliebt und sich in einem Maße engagiert, wie das keiner für möglich gehalten
hätte.
SPIEGEL: Es gibt noch ein drittes Filmprojekt, an dem Sie mitarbeiten.
Brussig: Ja, eines Tages rief Edgar Reitz
an und fragte, ob wir uns treffen könnten. Allein schon das hat mich stolz gemacht.
SPIEGEL: Es geht immerhin um die Fortsetzung seiner „Heimat“-Serie, um ein
Brussig-Verfilmung „Helden wie wir“*: „Es gibt genug Ostalgiekreise“
ambitioniertes, ehrgeiziges Projekt. Wie
arbeiten Sie zusammen?
Brussig: Wir sitzen meistens in München an
den Drehbüchern. Am Flughafen holt mich
ein Auto ab, dann geht es in Klausur. Ich
werde gewissermaßen eingesperrt. Ich kriege zwar gut zu essen, ich darf einmal am
Tag auch raus in den Englischen Garten.
Aber ansonsten wird nur geschrieben, geredet, gelesen, also wirklich gearbeitet.
Und das geht nun seit über zwei Jahren so.
Dann trennen wir uns wieder für ein paar
Wochen und kommunizieren per Telefon
oder per E-Mail.
SPIEGEL: Wie ist Reitz auf Sie gekommen?
Sind Sie auch für ihn der Ostexperte?
Brussig: Der Ostexperte ist sicher ein
Grund. Wir schreiben über das Deutsch* Mit Daniel Borgwardt und Xenia Snagowski.
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Osten wird immer nur über den Osten geredet, als wäre die Zeit stehen geblieben.
SPIEGEL: Immerhin machen Sie Ihre DDRVergangenheit literarisch fruchtbar.
Brussig: Ich werde die Herkunft nicht los
und sehe das auch als Chance. Es gibt da
die Erfahrung des Bruches. Aber in der Zusammenarbeit mit Edgar Reitz stehe ich
auch vor der Aufgabe, mich mit der Bundesrepublik auseinander zu setzen. Gewiss, Filme haben ihre eigenen Gesetze. In
der literarischen Arbeit hätte ich wahrscheinlich einen anderen Blickwinkel –
vielleicht hätte ich einfach andere Fragen
als die Westdeutschen, die in dieses System
hineingeboren wurden. Es gibt viele Dinge, die ich an der Bundesrepublik schätzen
gelernt habe. Man begegnet hier einer angenehmen Form von Zivilität. Oder auch
der Fähigkeit, genießen zu können.
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SPIEGEL: Ist mit der DDR-Literatur nach
der Wende zu streng umgegangen worden?
Brussig: Die Auseinandersetzung unter den
DDR-Intellektuellen um Mitverantwortung
und moralisches Versagen blieb leider aus.
Das Buch, das beispielhaft die Geschichte
der Verblödung erzählt – wie jemand in diese DDR-Ideologie hineingeriet, wieso sich
da so gut mitschwimmen ließ und wieso
sich die DDR so lange hinschleppen konnte –, ist leider von den DDR-Autoren nicht
geschrieben worden. Natürlich hat der Westen auch gern auf den Osten eingeschlagen,
um der Auseinandersetzung mit der eigenen
verkorksten Lebensweise, mit all der Verlogenheit, dem Zwang zur Verstellung, aus
dem Wege zu gehen. Die deutsche Einheit
gründet auf einer unseligen Allianz. Es
lässt sich benennen, aber nicht ändern.
SPIEGEL: Wird es in diesem Herbst Nostalgiefeiern für die DDR geben?
Brussig: Ich halte es fast für ausgeschlossen, dass es zu einer wirklichen Auseinandersetzung mit der DDR noch einmal
kommen wird. Das hätte längst passieren
müssen. Und die Jubelfeiern, das kann ich
Ihnen garantieren, die wird’s geben. Da gibt
es genug Ostalgiekreise. Doch die sind
längst nicht so politisch, wie sie aussehen.
Solche Ostalgiepartys zelebrieren die Vergangenheit genau wie eine Siebziger-JahreParty. Die DDR war immer noch harmlos
genug, so dass heute mit ihren Symbolen
halbwegs unschuldig Party gemacht werden
kann.
SPIEGEL: Sie haben gerade in Berlin erstmals aus dem Buch „Am kürzeren Ende
der Sonnenallee“ gelesen. Reaktionen?
Brussig: Schon bei Drehbuchbesprechungen erlebte ich, dass alles im fröhlichen
Erzählen von Geschichten mündete. Auch
nach der Buchpremiere kamen alle, aus
Ost und West, ins Erzählen. Die herrlichsten
Storys von damals. Alle waren entspannt
und fröhlich. Ich habe das Gefühl, dass im
„Sonnenallee“-Stoff etwas Krampflösendes
liegt, das über das Buch hinausgeht: ein
Friedensangebot an die DDR-Vergangenheit. Ich wollte ein Buch schreiben, mit dem
sowohl Wolf Biermann als auch Karl
Eduard von Schnitzler gut leben können.
SPIEGEL: Wie steht es mit der deutschen
Gegenwartsliteratur?
Brussig: Die jüngeren deutschen Autoren werden nicht mehr so leicht an die
Subventionstöpfe gelassen. Ich habe mich
mit einem Kapitel aus „Helden wie wir“
um ein Stipendium beworben – und es
natürlich nicht gekriegt. Also, ich freue
mich über Verkaufserfolge von Kollegen: Es soll sich unter den Lesern herumsprechen, dass sich in der deutschen Gegenwartsliteratur etwas tut. Die Leute
haben ja den größten angelsächsischen
Schrott gekauft. Auch da gibt es eine Wende, glaube ich. Es entsteht eine lesbare,
aber auch gehaltvolle Literatur – also im
schönsten Sinne Belletristik. Das wünsche
Interview: Volker Hage
ich mir.
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Kultur
José in der
Schlangengrube
Eine brasilianische Autorin macht
den Krimi zu einem
kritischen, sarkastischen Kunstwerk: Patrícia Melo und
ihr Roman „Wer lügt gewinnt“.
J
mehr an, obgleich sie allesamt bei edlen
Vorbildern abgeschrieben sind, von Agatha
Christie bis Fjodor Dostojewski. Mittlerweile hat, wie geplant, den Ehemann eine
Schlange gebissen, aber der Tölpel überlebt.
José wechselt das Genre, den Verleger
und die Bücher, die er abschreibt. José
schreibt nun Selbsthilfe-Literatur, ein boomendes Geschäft nach US-amerikanischem Vorbild. „Reichen Sie sich selbst die
Hand“ heißt Josés Bestseller, und jetzt ist
er auch so weit, eine Pistole zu nehmen
und Fúlvia die Hand zu reichen. Die verwitwete Fúlvia wird seine Frau.
Nun ist er reif für die dritte Stufe, für
Esoterisches, Spirituelles, Mystisches. José
wächst zum Guru heran, „Im Gespräch mit
dem Schöpfer“ wird sein Buch heißen, eine
blonde Deutsche steht und liegt ihm mittlerweile zur Seite. Aber irgendetwas
schlägt ihm auf den Magen.
osé Guber, ein brasilianischer KrimiSchreiber, sucht den Plot für seinen
nächsten Fall.Was mit Gift und Schlange soll es diesmal sein, und so kommt es,
dass er die Schlangenzüchterin und Giftexpertin Fúlvia kennen und lieben lernt.
Fúlvia, selbst eine Natternnatur,
holt für José auch gleich den fertigen Plot aus dem Giftschrank:
Eine Schlangenzüchterin bringt,
mit Hilfe einer Schlange und ihres
Geliebten, ihren Ehemann um die
Ecke. José ahnt bang, dass in seinem Schreiberleben eine neue Seite aufgeschlagen wird.
Aber er ist betört von Fúlvia.
„Glattes Haar, dichte Augenbrauen, ganz mein Fall“, so beschreibt
er sie. Auch die „weißen Zähne“,
die „muskulösen Arme“ fesseln
ihn, dazu „zierliche Hände, unlackierte Nägel, so wie ich sie
mochte“. Wie sich die Bilder gleichen: Fúlvia ähnelt verblüffend
der brasilianischen Krimi-Autorin
Patrícia Melo, 36.
Ein Selbstporträt? Denn Patrícia Melo ist die Schöpferin des
Ich-Erzählers José und Autorin
des Krimis „Wer lügt gewinnt“, in
dem José in allerlei Schlangengruben fällt. Und wenn sich das
Original so liest wie die deutsche
Übersetzung (Barbara Mesquita),
nämlich so lakonisch-ironisch
und satirisch-sarkastisch, dann ist
Patrícia Melo eine begnadete Autorin Melo: Begnadete Sprachhexe
Sprachhexe*.
„Wer lügt gewinnt“ ist ihr dritter Roman.
Fúlvia, die „Menschen so betrachtet wie
Der Vorgänger „O Matador“, das Porträt die Mäuse, die sie den Schlangen in den
eines Killers, hatte ihr den internationalen Schlund“ wirft, appliziert offenbar auch
Durchbruch und 1998 den „Deutschen Kri- etwas in den Schlund ihres Gatten José,
mi Preis“ beschert. Und in diesem Jahr wur- Arsen. Doch ehe der Schöpfer seinen José
de sie vom US-Magazin „Time“ zu einem zum Gespräch bittet, wird José Witwer.
der 50 „Leaders for the New Millennium“
Patrícia Melo, mit einem FernsehproduLateinamerikas befördert. Wer schreibt ge- zenten verheiratet, hatte früh als TV-Drehwinnt.
buch-Autorin begonnen; die Technik der
José, in den Fängen Fúlvias, verliert erst schnellen Schnitte, der verschwimmenden
mal. Seine Krimis, Meterware für den Übergänge, der paradoxen Kombinationen
Kiosk, kommen bei seinem Verleger nicht gibt ihrem Text ein furioses Tempo. Und ihr
kritischer, zeitkritischer, satirischer Biss ist
tödlich.
* Patrícia Melo: „Wer lügt gewinnt“. Aus dem BrasiliaZiemlich dumm schaut die Welt aus, die
nischen übersetzt von Barbara Mesquita. Verlag Klettsie malt, gewalttätig, opportunistisch, verCotta, Stuttgart; 220 Seiten; 32 Mark.
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M. VARELLA
KRIMIS
logen. Heller Wahnsinn flackert in Köpfen
und Kontoren, hypnotisiert sinkt Fúlvia
vor ihren Schlangen nieder, vor der „zwiegespaltenen Zunge“, der Lüge. Und fragt
ihren José: „Ein wohlgeplantes Verbrechen
ist doch ein Kunstwerk, findest Du nicht?“
Eine Frau beschreibt die Welt, die Frauen und die Männer. Der kleine Unter-
schied: Ein Dunst von Dämlichkeit umgibt
die Männer, ein Glitzer von Gerissenheit
die Frauen. Welche Art von Frieden der
José an der Seite seiner blonden Deutschen finden wird, lässt Patrícia Melo offen. Ingrid, so heißt sie, sagt: „Alle Frauen träumen davon, ihren Ehemann umzubringen.“
Fritz Rumler
Bestseller
Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich
ermittelt vom Fachmagazin „Buchreport“
Belletristik
Sachbücher
1 (1) Donna Leon Nobiltà
Diogenes; 39,90 Mark
1 (1) Sigrid Damm
Christiane und Goethe
2 (2) John Irving Witwe für ein Jahr
2 (2) Waris Dirie Wüstenblume
Diogenes; 49,90 Mark
Schneekluth; 39,80 Mark
3 (4) Henning Mankell
Die falsche Fährte Zsolnay; 45 Mark
3 (3) Corinne Hofmann
Die weiße Massai A1; 39,80 Mark
4 (3) Günter Grass
Mein Jahrhundert Steidl; 48 Mark
4 (4) Ruth Picardie Es wird mir fehlen,
das Leben Wunderlich; 29,80 Mark
5 (6) Isabel Allende Fortunas Tochter
Suhrkamp; 49,80 Mark
5 (6) Dale Carnegie
Sorge dich nicht, lebe!
6 (5) Henning Mankell
Die fünfte Frau Zsolnay; 39,80 Mark
6 (7) Klaus Bednarz Ballade vom
Baikalsee Europa; 39,80 Mark
Insel; 49,80 Mark
Scherz; 46 Mark
7 (7) Walter Moers Die 131/2 Leben des 7 (5) Tahar Ben Jelloun Papa, was ist
Käpt’n Blaubär Eichborn; 49,80 Mark
ein Fremder? Rowohlt Berlin; 29,80 Mark
8 (8) John Grisham Der Verrat
8 (8) Daniel Goeudevert
Mit Träumen beginnt die Realität
Hoffmann und Campe; 44,90 Mark
Rowohlt Berlin; 39,80 Mark
9 (10) Marianne Fredriksson
Simon W. Krüger; 39,80 Mark
10 (13) Birgit Vanderbeke
Ich sehe was, was du nicht siehst
Fest; 29,80 Mark
9 (9) Jon Krakauer
In eisige Höhen Malik; 39,80 Mark
10 (10) Guido Knopp Kanzler – Die
Mächtigen der Republik
C. Bertelsmann; 46,90 Mark
11 (9) Johannes Mario
Simmel Liebe ist die
letzte Brücke
11 (11) Bodo Schäfer
Der Weg zur
finanziellen Freiheit
Droemer; 44,90 Mark
Verbrechen und
großes Geld:
ein Star-Informatiker
zwischen Liebe
und Kriminalität
Campus; 39,80 Mark
Versprechen vom
großen Geld:
„Power-Ideen“ eines
Finanzgurus
12 (12) Paulo Coelho Der Alchimist
Diogenes; 32 Mark
13 (11) Maeve Binchy
Ein Haus in Irland Droemer; 39,90 Mark
14 (14) Terry Brooks Star Wars –
Episode 1: Die dunkle Bedrohung
12 (12) Peter Kelder
Die Fünf „Tibeter“ Integral; 22 Mark
13 (13) Gary Kinder Das Goldschiff
Malik; 39,80 Mark
Blanvalet; 29,90 Mark
14 (14) Jon Krakauer Auf den Gipfeln
der Welt Malik; 39,80 Mark
15 (–) John le Carré Single & Single
15 (15) Gerd Ruge Sibirisches Tagebuch
Kiepenheuer & Witsch; 45 Mark
Berlin; 39,80 Mark
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Kultur
KINO
Gemeinsam
einsam
D
SYGMA
rei Menschen stehen dicht aneinander gepresst an einem Inselstrand
und starren in den bedeckten Himmel. Das Brummen eines Wasserflugzeugs
wird lauter und lauter, schwillt an zu einem
Dröhnen. Gebannt warten die drei auf den
Flieger, denn er ist ihre einzige Hoffnung:
Ohne fremde Hilfe können sie die Insel- Sayles-Film „Wenn der Nebel sich lichtet“*: Familie Robinson auf Segeltour
wildnis im nördlichen Alaska nicht verlassen. Sie sind krank, hungrig und verzwei- war doch Joe ihr heimlicher Schwarm. Mit dition beginnt. Die drei Flüchtigen hunfelt. Es bleibt nur der Flieger, doch es ist Schmollmund und schwarzen Locken sitzt gern und frieren. Sie fangen Lachse und esnicht klar: Bringt er Retter oder Killer?
sie vor einem Spiegel und ritzt sich mit ei- sen Seetang. Gemeinsam einsam, lassen
sie ihre Angst und Verzweiflung aneinanIn „Wenn der Nebel sich lichtet“ reißt ner Rasierklinge den Oberarm auf.
der amerikanische Independent-Regisseur
Eine knappe Stunde nimmt sich John der aus. Unumgänglich, dass sie eine HütJohn Sayles, 48, drei ganz normal un- Sayles („Passion Fish“, „Lone Star“) Zeit, te finden und darin zu allem Überfluss
glückliche Menschen unverhofft aus ihrem um das Gefühlsgeflecht zwischen seinen noch das Tagebuch eines jungen MädAlltag heraus – und wirft sie in einen Aus- Hauptfiguren wachsen zu lassen. Er zeigt chens, natürlich nicht in einer simplen Plasnahmezustand, in dem nur noch das Über- sie mit all ihren Macken, drei lädierte Ge- tiktüte, sondern in Leder eingeschlagen.
leben zählt. Die Zukunft lässt sich nicht stalten, deren Leben von Enttäuschungen Am Lagerfeuer liest Noelle jeden Abend
vorhersehen und schon gar nicht planen, durchzogen ist, die sich abstrampeln und daraus vor. Dicke Tränen kullern über ihre
scheint der Film zu sagen, denn jeden Au- trotzdem nicht recht vom Fleck kommen. Wangen.
Schon in „Passion Fish“ (1992) hatte
genblick kann der Zufall alles umstoßen. Ihre private Geschichte bettet Sayles ein in
„Wenn der Nebel sich lichtet“ will ein Film den Makrokosmos Alaskas: den Alltag der Sayles sich gefragt, was mit Menschen geüber die Größe des Schicksals und die Fischer, die Arbeitslosigkeit in den Lachs- schieht, die in eine neue, unbekannte ExisHilflosigkeit der Menschen sein.
fabriken, die drohende Verwandlung der tenz katapultiert werden. Damals war es
Da ist Joe (David Strathairn), der sich Natur in einen touristischen Themenpark. ein Fernsehstar, der durch einen Unfall
nach 25 Jahren immer noch schuldig fühlt, Gerade hat sich der Zuschauer darauf ein- querschnittgelähmt wurde. Glamour, Karweil zwei Freunde einst auf seinem Kutter gelassen, Joe, Donna und Noelle gemäch- riere, Ruhm – auf einmal war alles vorbei.
ertranken, und der seitdem nicht mehr als lich durch ihre kleine, ärmliche, nach Salz- Und schon in „Passion Fish“ zwang Sayles
Fischer gearbeitet hat. Lustlos hangelt er wasser und Motoröl riechende Welt zu be- Menschen gegen ihren Willen zusammen:
sich mit Hilfsjobs durchs Leben. „Joe ist gleiten, da bricht Sayles seine Geschichte die Gelähmte und ihre Pflegerin, die gemeinsam einen Neuanfang wagen mussten.
nicht mehr der Alte“, heißt es in der Ha- abrupt ab.
fenkneipe. Die Schuld quält Joe, lähmt ihn,
Unerwartet taucht Joes längst verschol- Was „Passion Fish“ so reizvoll machte, war
hat ihn zerfressen.
lener Halbbruder auf, berichtet von rätsel- seine Schlichtheit, das Naheliegend-UnIn diesem Zustand lernt ihn Donna ken- haften Geschäften und bittet Joe, ihn bei spektakuläre: Ein Rollstuhl reichte, um
nen, die es mit ihrer Tochter Noelle nach einer Segeltour zu begleiten. Wieder fährt eine Flucht zu verhindern.
In „Wenn der Nebel sich lichtet“ aber
Alaska verschlagen hat. Donna (Mary Joe aufs Meer hinaus, diesmal zusammen
Elizabeth Mastrantonio) verdient ihren Le- mit Donna und Noelle; wieder endet es in muss es gleich eine ganze Insel sein. Sayles,
bensunterhalt als Sängerin. An ihr Pech einer Katastrophe. Unerwartet wird der sonst ein Meister der kleinen, feinen Bemit Männern hat sie sich mittBruder abgeknallt von einem obachtungen, spuckt hier die ganz großen
lerweile gewöhnt; ebenso an
der Drogendealer, die er heim- existenzialistischen Töne: Höhere Gewaldie zahlreichen Umzüge, die
lich treffen wollte. Joe, Donna ten! Ewige Ungewissheit! Im Original heißt
auf ihre Trennungen vom jeund Noelle retten sich vor den der Film „Limbo“ (eigentlich: Limbus),
weils letzten Liebhaber folgen.
Kriminellen auf eine einsame nach christlicher Lehre ein Ort zwischen
Leben und Tod, Himmel und Hölle. Der
Doch irgendwann hat sogar sie
Insel.
mal Glück: Ein Auftritt bei eiInnerhalb von wenigen Mi- Limbus bezeichnet einen Schwebezustand,
ner Hochzeit bringt sie mit
nuten hat Sayles damit seine und genau einen solchen will Sayles herdem hilfsbereiten Joe zusamLiebesgeschichte aus ihrer Ver- stellen. Aber um zu schweben, braucht es
men – der Beginn einer zögerankerung gerissen. Der Film eine Leichtigkeit, die dem Film an seiner
lichen Liebesgeschichte.
setzt bedeutungsschwer neu Sollbruchstelle abhanden kommt.
Jeder träumt einmal in seinem Leben
Tochter Noelle (eine Entan: Ein Survival-Training in
deckung: Vanessa Martinez),
bester Robinson-Crusoe-Tra- von einer einsamen Insel. Und wer dort
angekommen ist, würde sich von jedem
pubertierend-orientierungslos,
abholen lassen, auch wenn vielleicht ein
ist wenig begeistert von der
* Mit Mastrantonio, Strathairn, MartiMörder anrückt.
neuen mütterlichen Liaison – Regisseur Sayles
nez.
Christina Berr
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COLUMBIA TRI-STAR
In John Sayles’ Alaska-Drama
„Wenn der Nebel sich lichtet“
wird aus einer Liebesgeschichte
ein Kampf um Leben und Tod.
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G. KRAUTBACHER
Kölner „Saturday Night Fever“-Inszenierung: Glitzernde Spiegel, wildes Posieren und famose Tanzszenen
MUSICAL
Willkommen im Disco-Delirium
Mit „Saturday Night Fever“ gelang dem Pop-Impresario Robert Stigwood 1977
sein Meisterstück – nun präsentiert der Mann, der einst die
Bee Gees groß machte, Musicalversionen des Kinohits in Köln und New York.
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D. BENETT / ALPHA
A
nfang der Achtziger war die große
Party erst mal vorbei. „Ich hatte
genug von Popstars, die nachts um
halb vier anrufen, um mir zu erzählen, dass
sie sich sofort von ihrer Band trennen müssen“, sagt Robert Stigwood. „Ich hatte genug von Popstar-Ehefrauen, die auf der
Flucht vor ihren Männern mitsamt ihren
Kindern in meinem Haus einziehen. Und
ich hatte genug von Popstars, die im Morgengrauen mit einem geladenen Gewehr
in den Händen vor meinem Schlafzimmerfenster aufkreuzen, um ihre Frauen
und Kinder nach Hause zu holen.“
Stigwood, 65, ist zu diskret, um Namen
zu nennen – schließlich möchte er nur erklären, warum er sich in den Achtzigern
ganz auf die Bermudas zurückzog. Dort
besaß er nicht bloß ein Haus, sondern
dazu eine ganze Halbinsel mit grünen Wiesen, schroffen Felsen und geschützten Badebuchten sowie zwei Rennboote namens
„Superstar“ und „Superstar II“. Zu seinen Gästen gehörten neben allen möglichen Pop- und Hollywood-Berühmtheiten auch Prinz Andrew und Prinzessin
Margaret, die sich nicht daran störten, dass
Produzent Stigwood (r.) bei Londoner Party*
„Ich bin ein Mann des Kommerzes“
ihr Gastgeber zugab: „Ich musste mein
Geld vor den britischen Sozialisten und
ihren Horror-Steuersätzen in Sicherheit
bringen.“
Allerdings hatten die Bermudas auch
manche Nachteile. Zum Beispiel sind auf
der Insel nur kleine Autos erlaubt, weshalb
Robert Stigwood seine Lieblingskarosse,
einen ursprünglich für Ali Khan gefertigten
1961er Rolls Royce, die ganze Zeit über in
Los Angeles parken musste.
* Mit den Bee Gees.
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So kam es, dass Robert Stigwood seit
ein paar Jahren wieder zurück in Großbritannien ist – und zurück im Geschäft. Der
Mann, der in London einst Eric Clapton
und die Bee Gees groß herausbrachte, der
zeitweise Mick Jagger und David Bowie
zu seinen Klienten zählte und mit Filmen
wie „Jesus Christ Superstar“ und „Tommy“ viele Millionen einspielte, gehört in
den Neunzigern wieder zu den Großverdienern der Entertainment-Industrie.
Mit der Bühnenversion von „Grease“
legte er 1993 los, mit „Evita“ (und Madonna in der Hauptrolle) meldete er sich
1997 zurück im Filmgeschäft, und mit zwei
neuen Adaptionen seines wohl größten
Coups geht er in diesen Wochen an den
Start: „Saturday Night Fever“ hat am
Wochenende im Musical Dome Köln Premiere und sechs Wochen später am New
Yorker Broadway. In Köln ist Stigwood
Koproduzent einer weitgehend deutsch
finanzierten Unternehmung, in New York
ist er der alleinige Geldgeber einer 16,5Millionen-Mark-Produktion.
„Saturday Night Fever“ ist nicht bloß
der Film, der John Travolta (in der Rolle
Kultur
des Vorstadtgigolos Tony Manero) zum
Star machte und die zuvor eher als Kitschbrüder verlachten Bee Gees zu Superhelden des weltweiten Disco-Irrsinns, sondern
der Film ist vor allem das Meisterstück des
Entertainment-Tycoons Robert Stigwood.
Es war Stigwood, der dem US-Journalisten Nik Cohn die Rechte an einer Magazinstory über das wilde Treiben in einem
Tanzclub in Brooklyn abkaufte, um daraus einen Musikfilm zu machen; es war
Stigwood, der John Travolta bereits als 17Jährigen vortanzen sah und der ihm ein
paar Jahre später gegen den Rat aller Fachleute einen Vertrag über drei Kino-Hauptrollen in die Hand drückte; und es war
Stigwood, der die Bee Gees zwang, sich in
Miami von den schwarzen Pionieren der
Disco-Musik Nachhilfeunterricht geben zu
lassen, und ihnen dann die Story von „Saturday Night Fever“ erzählte: „Ich hätte ihnen natürlich auch das Drehbuch schicken
können – aber lesen war nicht unbedingt
ihre Stärke.“
Der Film „Saturday Night Fever“ wurde
1978 zum globalen Erfolg – auch deshalb,
weil die geschickt vorab veröffentlichte Musik zum Film schon vor dem Kinostart in
den Hitparaden war. Hinzu kommt, dass
der Film selbst ein großartiges Delirium aus
glitzernden Spiegelflächen und bunten
Flackerlichtern, Schlaghosen und verwegenen Haartollen ist, zwei Feierstunden lang
nichts als Stil-Geprotze, wildes Posieren
und famose Tanzszenen. Nur Buchhalterseelen können angesichts dieser Pracht
mäkeln, die Jungs-Freundschafts- und Liebesgeschichte des Films sei eine „West Side
Story für Hirntote“, wie der „International
Herald Tribune“ einmal schrieb.
Soziale Konflikte, die nicht mit der
Faust, sondern beim Tanzwettstreit in einer
Discothek ausgetragen werden: Schon in
den ersten Tagen der Kinosensation „Saturday Night Fever“ erkannten ganz
Schlaue (darunter Andy Warhol, der ebendies in seinem Tagebuch notierte), dass der
Stoff ideal ist für die Musicalbühne. Stigwood aber zögerte: „Ich dachte mir, dazu
brauchst du einen Tony Manero, der gegen John Travolta bestehen kann.“
Was die Sache noch komplizierter machte: Während die Akteure im Film nur zur
Musik der Bee Gees tanzen, müssen sie in
der Musicalversion alle Songs selber singen
– und noch ein paar Zugaben obendrein.
Sechs Jahre lang dokterte Stigwood an der
Bühnenfassung herum, reicherte sie mit
ein paar weiteren Bee-Gees-Hits an (etwa
mit dem für Celine Dion geschriebenen
„Immortality“) und sichtete Bewerber für
die Hauptrolle des Tony Manero.
Im Frühjahr 1998 präsentierte Stigwood
dann sein erstes „Saturday Night Fever“Musical im Londoner Westend; und selbst
wenn das schnörkelige Palladium Theatre
fast eineinhalb Jahre nach der Premiere
nicht mehr jeden Abend bis zum letzten
Platz ausverkauft ist, verwandelt das Publid e r
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kum das Finale der Show regelmäßig in len, „aber es geht um eine Mischung aus
eine Party: Teenager und ihre Mütter sprin- beidem“. Vor 43 Jahren brach er aus seiner
gen von ihren Sitzen und stürmen tanzend australischen Heimat auf, wo er als junger
zur Bühne.
Werbemann keine Lust mehr hatte, „mit
Auf solchen generationenübergreifenden schlauen Sprüchen für Kühlschränke zu
Disco-Taumel hofft man nun auch in Köln, werben“. Er fuhr auf einem Frachter nach
wo Stigwood den beiden deutschen Finan- Indien und von dort aus per Anhalter nach
ziers Michael Brenner und Thomas Krauth London. Für Rupert Murdochs „The Adeals Koproduzent beisteht: „Disco ist heute laide News“ zu Hause in Australien schrieb
ein Pop-Phänomen, das die 15-Jährigen ge- er Reiseberichte von unterwegs, und doch
nauso begeistert wie die 50-Jährigen“, hatte er, als er nach drei Monaten in Longlaubt Stigwood, die Übersetzung der ge- don ankam, „nicht mehr als fünf Pfund in
sprochenen Texte ins Deutsche sei brillant meiner Tasche“.
und „sehr witzig – ich habe sie von einem
Erst als Schauspieler-Agent, bald als Mudeutschen Freund gegenlesen lassen“.
sik- und Filmproduzent setzte Stigwood
Die Musiktitel werden auch in Köln im ein Konzept um, das er sich in den USA abenglischen Original gesungen – schließlich geschaut hatte und bald zur Perfektion entsind gleich ein halbes Dutzend von ihnen wickelte. „Cross-media marketing“ nennt
(das unterscheidet „Saturday Night Fever“ er es, den genreübergreifenden Einsatz von
von fast allen anderen Musicals) Welthits wie „How Deep
is Your Love“, „Night Fever“
und „If I Can’t Have You“:
„Mit diesem Kapital kann gar
nichts schief gehen“, sagt Stigwood.
Und was die Kritiker schrieben, sei ihm seit jeher egal:
„Ich war immer ein Mann des
Kommerzes, und wissen Sie
was? Ich bin verdammt stolz
darauf.“
Stigwood residiert heute
auf einem altehrwürdigen
Landsitz auf der Isle of Wight.
Einst gehörte Barton Manor
Queen Victoria, die dort ihre
Gäste einquartierte. Mehr als
ein Dutzend Bedienstete, darunter zwei Butler, kümmern
sich um das Wohlergehen des
Hausherrn sowie seiner drei
Hunde – und um die Pflege eines riesigen Gartens mit
Hecken-Labyrinth, einem En- Theatergast Stigwood, Begleiterin: Ruhm und Rum
tenteich in Badesee-Größe
und kilometerlangen Kieswegen zwischen Stars und Stoffen in Fernsehen, Film und
akkurat gestutzten Rasenflächen.
auf der Musikbühne. Er wurde Partner des
Natürlich könnte Stigwood sich längst legendären Beatles-Managers Brian Epzur Ruhe setzen, könnte damit zufrieden stein und kam mit dem jungen Musicalsein, sich schon mittags sein Lieblingsge- mann Andrew Lloyd Webber ins Geschäft,
tränk Bacardi-Rum mit Cola servieren zu und er nahm 1967 die gerade aus Australassen und die rund 200 Goldenen Schall- lien eingetrudelten Bee Gees unter Vertrag
platten, die Filmplakate und anderen Tro- – der Rest ist ein schönes Märchen von
phäen abzustauben, die er in einer sorg- Traumhäusern und eleganten Autos, ein
fältig renovierten steinernen Scheune auf paar üblen Flops und noch mehr tollen Erseinem Landsitz an die Wände gehängt hat. folgsstorys.
Er könnte sich darüber freuen, dass die
Die große Party hat Robert Stigwood
„Sunday Times“ ihn in der Liste der 1000 auch nach seiner Rückkehr von den Berbestverdienenden Briten mit einem ge- mudas nicht wieder aufleben lassen. Aber
schätzten Jahreseinkommen von 600 Mil- er hat all die irren Popstars wiedergetroflionen Mark auf Platz 108 notiert – ein fen, die ihm einst das Leben zur Hölle
Ranking, das „definitiv falsch ist“, wie er machten und die er auf den Bermudas
mit einem Lächeln eingesteht: Ein Großteil doch viel zu selten gesehen hat. Ihm habe
seines Vermögens arbeitet weiter für ihn in der Stress gefehlt, sagt Robert Stigwood,
einem auf den Bermudas angesiedelten und der Streit mit seinen Schützlingen, für
Trust.
den es seiner Meinung nach immer nur eiStigwood sagt, er rackere heute weder nen Grund gab: „Ich habe sie zu reich geum des Geldes noch um des Ruhmes wil- macht.“
Wolfgang Höbel
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Kultur
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Kultur
INTELLEKTUELLE
Züchter des Übermenschen
Der Philosoph Peter Sloterdijk propagiert „pränatale Selektion“
und „optionale Geburt“: Gentechnik als angewandte
Gesellschaftskritik. Seine jüngste Rede über „Menschenzucht“
trägt Züge faschistischer Rhetorik. Von Reinhard Mohr
K. SCHOENE / ZEITENSPIEGEL
E
inst hatte der Philosoph treffend den
Zeitgeist der späten neunziger Jahre
antizipiert: „Zynismus ist das aufgeklärte falsche Bewusstsein“, schrieb Peter
Sloterdijk, 52, in seiner 1983 erschienenen
„Kritik der zynischen Vernunft“, ohne die
„Harald Schmidt Show“ voraussehen zu
können. Die Diagnose war brillant: „Es ist
das modernisierte unglückliche Bewusstsein, an dem Aufklärung zugleich erfolgreich und vergeblich gearbeitet hat. Gut
situiert und miserabel zugleich fühlt sich
dieses Bewusstsein von keiner Ideologiekritik mehr betroffen; seine Falschheit ist
bereits reflexiv gefedert.“
Nach fast tausend Seiten, die ihn mit einem Schlag berühmt machten, kam Sloterdijk zu einem visionären Schluss schon
ganz im Tonfall Nietzsches: „Jede bewusste Sekunde tilgt das hoffnungslose Gewesene und wird zur ersten einer Anderen
Geschichte.“
Sechzehn Jahre später erhält diese „Andere Geschichte“ eine gruselige Konkretion: In Zukunft werde es darauf ankommen, so trug der Philosoph kürzlich bei
einem internationalen Symposion im oberbayerischen Schloss Elmau vor, „einen
Codex der Anthropotechniken zu formulieren“: Ob diese „bis zu einer expliziten
Merkmalsplanung“ vordringen, ob also
„die Menschheit gattungsweit eine Umstellung vom Geburtenfatalismus zur optionalen Geburt und zur pränatalen Selektion wird vollziehen können“, das seien Fragen, in denen sich, „wie auch immer
verschwommen und nicht geheuer, der
Philosoph Sloterdijk
„Regeln für den Menschenpark“
evolutionäre Horizont vor uns zu lichten
beginnt“.
Als Sloterdijk seinen 43 Schreibmaschinenseiten umfassenden Vortrag – Titel:
„Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortbrief über den Humanismus“ – vor einem internationalen Fachpublikum im Juli
hielt, regte sich schon hier und da leiser Widerspruch. Erst im Verlauf einiger Wochen
sorgten Berichte in der „Frankfurter Rundschau“ und der „Süddeutschen Zeitung“
für eine größere – und kritische – Öffentlichkeit. Sloterdijk selbst antwortete seinen Kritikern mit Gegenvorwürfen an die
„Junge Ahnungslosigkeit“ der Feuilletonisten. Doch damit lenkte der seit Jahren zu
allen denkbaren Themen der Zeit befragte Philosoph nur vom Kern der Sache ab,
die er in seiner Kritikerschelte als „Ethik
des anthropotechnischen Machtgebrauchs“
verklausuliert.
Inzwischen hat Sloterdijk der Seminarleitung von Schloss Elmau die Weitergabe
seines Textes strikt untersagt. Er will auch
nicht mehr dazu Stellung nehmen – der
Text, heißt es, werde für ein kommendes
Buch überarbeitet. Aber es hilft nichts: Zu
viel wurde bisher davon bekannt, zu viele
Hörer haben sich auch Notizen gemacht.
Sichtbar bleibt ein intellektueller Skandal: Der einst linke Vordenker Sloterdijk,
Liebling erlesener Debattierzirkel und zeitgeistsatter Fernseh-Talkshows, redet ungeniert von „Menschenzucht“ und vom „Diskurs der Verschränkung von Zähmung und
Züchtung“, kurz: von der gezielten genetischen Selektion unter Führung einer kulturellen Elite.
Auch wer wenig mehr verabscheut als
klischeehafte ideologische Denunziationen
und beim Begriff der „Selektion“ nicht nur
an die „Eugenik“ der Nazis und die Rampe von Auschwitz-Birkenau denkt, sieht
sich genötigt, in Argumentation und Sprache Sloterdijks faschistische Anklänge auszumachen.
Sein Hinweis, über weite Strecken nur
die Positionen seiner philosophischen
Lehrmeister Platon, Nietzsche und Heidegger referiert zu haben, verfängt nicht
und führt in die Irre. Denn unzweifelhaft
paraphrasiert er, trotz relativierender Kritik hier und da, entscheidende Motive
seiner Meisterdenker in pointierter, auch
zustimmender Weise – ob es um Platons
„züchterisches Königswissen“ geht, wie
„die ungeeigneten Naturen auszukämmen“ seien, um Nietzsches „Übermenschen“ oder Heideggers zivilisationsfeindliche These, „dass nicht der Mensch das
Wesentliche ist, sondern das Sein als die
Dimension des Ekstatischen der Eksistenz“.
Keine Frage, Sloterdijk spricht Klartext
in eigener Sache: Nur in einer „Grundlagenreflexion über Regeln für den Betrieb
von Menschenparks“, nur in genetisch
„wirkungsvollen Verfahren der Selbstzähmung“, behauptet er, könne die „alltägli-
che Bestialisierung der Menschen in den
Medien der enthemmenden Unterhaltung“
eingedämmt werden.
Der abendländische Humanismus hingegen, dessen Bildungsideal an Lektüre und
Aufklärung gebunden war, habe das „barbarische Potenzial“ und die „aktuellen Verwilderungstendenzen“ nicht überwinden
können: im Gegenteil. Der Humanismus
selbst, ob er sich nun im Christentum oder
im Marxismus manifestiere, habe „mitsamt
seinen Systemen metaphysischer Selbstüberhöhung“ Katastrophen und Gräuel aller Art hervorgebracht. Er also ist die Ursache dessen, was er zu bekämpfen vorgibt.
Bemerkenswert bei alldem ist das Gespenstische des Vorgangs: Bislang hat sich
alles weitgehend in den Kulissen des Wissenschaftsbetriebs und in den geisteswissenschaftlichen Nischen einiger Feuilletons, fast heimlich, abgespielt. Noch vor
zehn Jahren hätte ein derartiges „Zarathustra-Projekt“ („Die Zeit“) in der breiten Öffentlichkeit Zorn und Empörung ausgelöst.
Doch die intellektuelle Hegemonie einer gesellschaftskritischen „politischen
Kultur“ ist längst Geschichte. Die linke
Selbstmarginalisierung des
vergangenen Jahrzehnts
hat zu einer neuen, bunten
Gleichgültigkeit geführt –
es sei denn, der deutsche
„Großmachtchauvinismus“
oder der „US-Imperialismus“ erhöben wieder einmal frech ihr Medusenhaupt, um den Rest der
Welt zu unterjochen.
Es ist kein Zufall, dass
das einstige Flaggschiff der
linken Intelligenz, der
Suhrkamp-Verlag mit sei- Nietzsche
nem Präzeptor Siegfried
Unseld, nun zwei prominente Autoren beherbergt, die mit Verve antidemokratische,
antiwestliche, ja totalitär-faschistoide Bekenntnisse ablegen: Peter Sloterdijk und
Peter Handke.
Mag Handke als irrlichternder Poet und
gläubiger Hooligan des serbischen Kriegsverbrechers Milo∆eviƒ ein besonderer Fall
sein, so steht Sloterdijk für eine Gruppe
ehemals linker Intellektueller, die ihre eigene Desillusionierung nicht aushalten und
in den Wahn flüchten.
AKG
Denker Heidegger (Kreis) bei Nazi-Kundgebung in Leipzig (1933): Dimension des Ekstatischen
Ob Ex-RAF-Mitglied Horst Mahler
oder Dutschke-Freund und SDS-Vordenker Bernd Rabehl – das offenkundige
Scheitern aller utopischen Weltentwürfe,
theoretischen Großsysteme und politischtheologischen Erlösungshoffnungen lässt
sie nicht etwa zu aufgeklärten Skeptikern werden, sondern zu frisch bekehrten
Gläubigen. Jetzt glauben sie nicht mehr
an die Weltrevolution, den Sozialismus
oder den Humanismus, sondern an die
„nationale Wiedergeburt Deutschlands“,
an die schädlichen Einflüsse des globalen
„Amerikanismus“ und den „Kampf zwischen den Kleinzüchtern und den
Großzüchtern des Menschen“, „zwischen
Humanisten und Superhumanisten, Menschenfreunden und Übermenschenfreunden“ (Sloterdijk). Gentechnologie statt
Gesellschaftskritik: Der Uterus wird zum
Utopieersatz.
Nicht mehr der berechtigte intellektuelle Zweifel,
etwa an den zivilisierenden, „zähmenden“ Wirkungen des bürgerlichen
Humanismus und der Aufklärung in Zeiten „telekommunikativer Massengesellschaften“, meldet sich
zu Wort, sondern der uralte, pseudoreligiöse Wunsch
nach Gewissheit, ominöser
Tiefe des Seins, endgültiger
Wahrheit. Neu daran ist
nicht der ewige deutsche
Kulturpessimismus, in dem
es zwickt und zwackt und
dräut und raunt. Neu und ungeheuerlich
ist die philosophisch drapierte Aggressivität, mit der, den fälligen Untergang des
Abendlandes vorausgesetzt, die Wiedergeburt der Menschheit aus dem Geiste des
Reagenzglases gefordert wird – im Bündnis
zwischen geistiger Elite und den neuesten
Erkenntnissen der Gen- und Biotechnologie. Eine faschistische Horrorvision, gegen
die jeder beliebige Zynismus des Zeitgeists
sich noch wie ein Ausweis von Aufklärung
und Menschenfreundlichkeit ausnimmt. ™
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
VG BILD-KUNST, BONN 1999
Stelzmann-Triptychon „Varieté“ (1994/95): Akrobatische Verrenkungen in der modernen Ungesellschaft
AU S S T E L L U N G E N
Heilige und Narren
E
s ist schon eine irre Truppe, die da im
Gemälde umhertaumelt: Ein blondes
Biest mit roter Pappnase reitet grinsend auf dem Rücken eines kriechenden
Mannes, und ein schmieriger Soldat umschlingt plump tanzend eine langbeinige
Zicke. Partylaune schwingt trotzdem nicht
mit, eher der finale Wahnsinn. Denn im
Hintergrund saust eine Schreckensgestalt
mit einem Totenkopf vorbei, eine Engelsfratze trompetet, und ein düsterer Heiliger
in Mönchskutte hält warnend die Hand
über alle, als wolle er die Apokalypse
verhüten.
Auf zwei Seitentafeln setzt sich das
bizarre Gewusel fort, ein saufender Penner
links, eine Frau in Portiersjäckchen und
Hot Pants rechts. Für den Berliner Maler
Volker Stelzmann ist die Welt eine Bühne
voller schräger Typen. Und er kann nicht
genug von ihnen zeigen. „17 Figuren“, so
der Titel des Triptychons, sind es auf diesem Gemälde. Sie schaffen trotz knallbun272
ter Anschaulichkeit vor allem eines: das
Publikum restlos zu verwirren.
Auch weil die Gestalten seltsam vertraut wirken, so, als hätte sie der Maler mal
eben aus altbekannten Gemälden geborgt.
Die aufgetakelten Weiber, zu Karikaturen
erstarrt, verbiegen sich wie auf den Bildern des Realsatirikers Otto Dix, der in
den zwanziger Jahren das Publikum
schockte. Der kuttentragende Moralapostel erinnert an die religiösen Asketen barocker Spanier. Und das Motiv vom ungleichen Pärchen – er angegraut und am
Boden, sie jung und auf ihm hockend –
florierte auch schon vor Urzeiten: Die Legende vom greisen Aristoteles, der sich für
die schöne Phyllis zum Narren macht,
spukt seit dem späten Mittelalter durch
die Kunstgeschichte.
Stelzmann, 58, hat sein Rätselstück aber
erst 1998 gemalt. Überhaupt sind in seiner
Ausstellung im Leipziger Museum der Bildenden Künste nur Werke aus den neund e r
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VG BILD-KUNST, BONN 1999
Leipzig feiert den Maler Volker Stelzmann. Der
einstige Vorzeigekünstler der DDR schafft es mit seiner bizarren
Figurenmalerei noch immer, sein Publikum zu verwirren.
Selbstporträt Stelzmanns (1996)
Meister der Irritation
ziger Jahren zu sehen*. Und der opulente
Dreiakter ist nicht das einzige Bild, auf
dem er sich an alten Meisterwerken berauscht, um einen eigenen Kunstkosmos
zusammenzuzaubern.
Der Maler, lange Jahre als Vorzeigekünstler der DDR gehandelt, hat nie verhehlt, wer seine Helden sind. Auf dem
Gemälde „Konspiration I“ hat er sie an einem Tisch versammelt. Unter ihnen der
Dürer-Zeitgenosse Mathias Grünewald, der
* „Versuchsanordnungen/Figurenbilder 1990-98“. Bis
31. Oktober. Katalog 60 Seiten; 20 Mark.
Kultur
Er wolle auch, sagt er, die hysterische Untergangsstimmung zum Ende des
Jahrhunderts persiflieren. Unbekümmert
schiebt er deshalb eine punkige Hexe im
schwarzen No-Future-Look ins Bild, allerdings mit einer Frisur, die dem Schopf des
Modeexzentrikers Rudolph Moshammer
ähnelt. Auf dem „Triumphzug“ – die Satire auf eine Festtagsgesellschaft – flaniert
ein krötengesichtiger Jüngling neben seiner
verblüffend ebenso hässlichen Mutter; ein
Gnom im grauen Anzug schleicht sich flugs
aus dem „Varieté“-Bild, um vor dem messerwerfenden Vamp mit den wuchtigen
Zellulitisschenkeln zu verschwinden.
So lockt Stelzmann den Betrachter mit
skurrilen Sonderlingen und witzigen Details in seine Bildwelt – und lässt ihn dann
ratlos stehen. Warum ragen in
den „Handkuss“ zwei losgelöste rote Damenbeine hinein?
Weshalb taucht der Maler
selbst als Toulouse-Lautrecartiger Winzling auf? Und warum malt er am Ende des 20.
Jahrhunderts spätgotisch anmutende Kreuzigungen, die zwar
nicht mehr religiös wirken, aber
noch die pure Marter zeigen?
Es sind die symbolgeladenen
Umwege, die er immer schon
ging. Bereits zu DDR-Zeiten bequemte sich Stelzmann nur selten zu sozialistisch kompatiblen
Themen wie „Der Schweißer“
oder „Fabrik in Plagwitz“. Allerdings war er nicht der einzige,
der sich im atheistischen Sozialismus über religiöse Motive eine
gefühlvollere Kunstwelt erschlich, in der Zerrissenheit und
Zweifel vorkommen durften.
Aber er entwickelte dabei einen
besonderen Sinn für bissige Seitenhiebe. So hat er bereits in den
siebziger Jahren Kreuzabnahmen in bester Cranachscher Manier gemalt – um einen Genossen in die Mitte zu stellen, der
mit verkniffenem Gutachterblick
über der Knubbelnase die zerschundene Leiche beäugt. Und
er dürfte die DDR-Oberen vor
Ausschnitt aus „17 Figuren“ (1998): Irres Wuseln
ein weiteres Rätsel gestellt hahebt er Hauptfiguren hervor, schließlich ben, als er den Apo-Märtyrer Rudi Dutschsind alle gleich verrückt. Oft klafft genau ke als Leiche in der Badewanne zeigte.
Stelzmanns Szenen sind inzwischen
im Zentrum des Bildes, zwischen all der
schreienden Theatralik, in der sich alles kompakter geworden, seine Farben manchdreht und verrenkt, ein menschenleeres mal irreal bunt, die Kontraste fast schon
surreal – das Kunstmagazin „Art“ freut
und seelenloses Loch.
Stelzmanns hadernde Allegorie der mo- sich schon auf ein „furioses Alterswerk“.
dernen Ungesellschaft spielt mit unmo- Dennoch: Einen Bruch mit seiner frühedernen Formeln. Aber mag er sich selbst ren Malerei gab es nicht.
noch so grimmig porträtieren – er sieht die
Den gab es in seiner Biografie. 1986
Welt auf keinen Fall bloß düster. Über- kehrte Stelzmann nach dem Besuch seiner
haupt, und das macht den Reiz seiner Bil- Oberhausener Ausstellung nicht mehr in
der aus, wehrt er sich gegen jede Eindeu- die DDR zurück. Die Flucht war, sagt er,
tigkeit. Im Gegenteil, seine vielen An- weder langfristig geplant noch raffiniert
spielungen sprengen fast den Rahmen.
eingefädelt. Er habe sich dazu entschlosVG BILD-KUNST, BONN 1999
italienische Manierist Pontormo oder eben
Otto Dix. Stelzmann malt Kreuzigungen
wie zu Lutherischen Reformationszeiten
und Varietészenen mit Akrobaten und
messerwerfenden Mann-Frauen, die geradewegs aus den zwanziger Jahren stammen könnten.
Oder auch nicht. Trotz aller malerischen
Zitate wirkt Stelzmanns Welttheater erstaunlich zeitlos. Seine oft altbackenen Figuren, mit ebenso altmodisch gekonntem
Pinselstrich gemalt, schaffen zwar Distanz
zum Jetzt. Doch die wirklichen Dramen,
glaubt Stelzmann, „sind ohnehin immer
die gleichen“. Das „große Durcheinander“
seiner Bilder, auf so viel Interpretation
lässt er sich ein, spiegele auch das „verwirrend unübersichtliche Heute“. Selten
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273
Kultur
sen, weil seine damalige Freundin und heutige Frau im Westen lebte. Sie war der Anlass, sagt er, aber nicht der einzige Grund.
Die Chefetage der DDR fluchte. Der
Westen war erst angetan, vermisste dann
aber öffentliche Ohrfeigen für den sozialistischen Staat. Galt Stelzmann zuvor als
ruhmreiches Ausnahmebeispiel unter den
Ost-Malern, das mit vielsagender Ironie
das Regime aufs Korn nahm – die „Frankfurter Rundschau“ schwärmte ob seiner
„verschlüsselten Verwegenheiten“ –, war
er nun der DDR-untertänige Buhmann.
Als er 1988 zum Professor an die WestBerliner Hochschule der Künste berufen
wurde, uferte das Unbehagen zum Skandal
aus. Georg Baselitz, selbst sehr viel früher
von Ost nach West gezogen, verkündete
erbost, er gebe wegen des systemkonformen Neuzugangs seine eigene Professur
auf. Andere Kollegen hetzten via Zeitung.
Stelzmanns Vita, so hieß es, mache es dem
Maler unmöglich, „das Vertrauen einer kritischen Jugend zu gewinnen“. Dieser Mann
sei bloß ein „Talent der Anpassung“.
Tatsächlich malte Stelzmann so figurativ
und realistisch, wie es der ostdeutsche
Nachbarstaat gern gesehen hatte. Und er
hatte eine steile DDR-Karriere hinter sich:
1978 wurde er, von Haus aus Grafiker, zum
Vorsitzenden der „Zentralen Sektionsleitung des Verbandes für Malerei und Grafik“ ernannt, ab 1982 lehrte er als Professor in Leipzig, ein Jahr später nahm er den
„Nationalpreis“ entgegen.
Längst genoss er zudem das rare Privileg, ins kapitalistische Feindesland reisen
zu dürfen. Er habe sich, sagt Stelzmann,
aber nie als „Offiziellen“, sondern „immer
nur als Maler“ gesehen. Als solcher will er
über seine Bilder wahrgenommen werden.
Doch bis heute pappen die Klischees an
ihm. Dabei habe es, ärgert er sich, keine
DDR-Kunst gegeben, die man pauschal aburteilen könne, sondern nur viele Einzelfälle. Eine Ideologie zu illustrieren wäre
ihm schon aus künstlerischer Sicht „zu
langweilig gewesen“ – Kritik an frühen
Kollegen, die der staatstragenden Thematik riesige Schinken abgewinnen konnten?
Angebiedert, sagt er, habe er sich nie.
Auch im Westen nicht. Es sei ein großes
Risiko gewesen, mit 45 Jahren neu anzufangen. Zumal er weiter auf die vertrauten
Bildformeln setzte. Dass seine traditionelle Figurenmalerei nicht in die Zeit von Video- und Installationskunst zu passen
scheint, stört ihn nicht. Er zeigt, dass auch
erzählstarke Malerei noch fesseln kann.
Vor allem bleibt er ein Meister der Irritation: Das „Sinken“, 1993 gemalt, ist eine
Art bunter Höllensturz im schwarzen
Nichts. Doch kein Erzengel stößt seine Figuren brutal in ein Fegefeuer. Die
Gestalten schweben im schwerelosen
Raum. Die Gefahr, sagt Stelzmann, dass
sie fallen, ist stets präsent: „Doch ebenso
gut können sie auch glorreich wieder aufsteigen.“
Ulrike Knöfel
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PRO 7
Kultur
„Gefangen im Jemen“-Star Maffay: Ein Mann wie eine Distel
FERNSEHEN
Die Wüste bebt
Im Pro-Sieben-Thriller „Gefangen
im Jemen“ braust Peter Maffay
auf dem Motorrad durch die
Wildnis. Bei so viel Tempo bleibt
die Logik auf der Strecke.
W
enn die Bilder wirklich laufen gelernt hätten, sie würden zum
Münchner Sender Pro Sieben eilen und bei der Abteilung für TV-Movies
anklopfen. Falls man da überhaupt anklopfen muss, denn selbst Entscheidungsträger
haben das Alter von Praktikanten – ein
lockeres „Hey“ dürfte reichen.
Fest steht, dass sich die Optik nirgends
so in ihrer ganzen Pracht, in ihrem ganzen
Pathos entfalten kann wie bei Pro Sieben.
Die Fesseln einer Handlungslogik, die
Rücksichten auf die Konturen eines
Milieus – sie gelten in München-Unterföhring wenig.
Vor Jahren surften in der Pro-SiebenReihe „Alles außer Mord“ ein Psychoanalytiker und ein verschusselter Privatdetektiv durch zuschauerverwirrende Kriminalfälle – in Erinnerung blieben schöne
Aufnahmen von Hamburg bei Tag und
bei Nacht. Der Werbefilmer Roman Kuhn
flutete den Bildschirm mit einer grünstichigen Bilderorgie aus der Welt der Psychose. Was und warum etwas in seinem
Thriller „Die Schläfer“ geschah, blieb ein
Rätsel.
Wenn an diesem Sonntag um 20.15 Uhr
„Gefangen im Jemen“, Auftakt zu einer
276
Reihe von Pro-Sieben-Eigenproduktionen,
über den Sender geht, dann sollte der Zuschauer die Augen weit aufmachen und
jene unangenehm hartnäckige Stimme im
Kopf, die immer fragt, warum da einer auf
dem Schirm tut, was er tut, zum Schweigen bringen.
Derart präpariert, gibt’s das volle Pfund
auf die Netzhaut – die Wüste bebt. Motorräder dröhnen, Hubschrauber schwirren wie todbringende Libellen über die
Dünen, arabische Männer in malerischen
Gewändern würgen mit kehligem Stakkato Sätze, die wohl von List und Männerehre handeln.
Das herbeste Gewächs aber, das dieser
auf Wüstensand gebaute Film hervorbringt,
ist der Sänger Peter Maffay. Ein Mann wie
eine Distel: trockenhart die Gesichtszüge,
in denen sich die Augen – stimmig zum
arabischen Ambiente – hinter die scharfe
Lidersichel eines schwindenden Mondes
verkrochen haben. Seine Sprache passt zur
Kargheit des Wüstenbiotops: kein Wort zu
viel, alle Laute überrollt sein R. Irgendwo
unter der rrrauhen Schale steckt wohl ein
weicher Kern.
So soll es sein. Ein wenig lässt sich die
Handlung doch rekonstruieren: Eine
Gruppe junger Menschen aus Deutschland
landet samt Motorrädern im Jemen, eine
Spritztour durch die Wüste soll den ultimativen Kick bringen. Von irgendwoher
angeweht, steht Marc (Maffay) am Startpunkt der Tour. Ihn hat es vor Jahren in
den Jemen verschlagen, hier lebt er und
weiß seinen Sohn, den er einst in Deutschland zurückließ, unter den Mitgliedern der
Gruppe.
Und, wie der Drehbuchzufall es will,
machen es ziemlich komplizierte logistid e r
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sche Probleme notwendig, dass sich – sehr
zum Unwillen seines Sohns – dieser verwitterte Marc auf den Bikerbock schwingt
und mit auf Tour geht. Die Konflikte sind
programmiert: Da ist der greenhornige Anführer der Gruppe auf der einen Seite, und
da ist der Jemen-erfahrene Marc auf der
anderen Seite.
Dessen Warnungen bewahrheiten sich
schneller als erwartet: Der Norden des Jemen wird von regierungsfeindlichen Stämmen beherrscht, die von Entführungen leben. Außerdem gibt es jede Menge Minen
im Gelände.
So kommt es, wie es kommen muss:
Gegen Schutzgeld übernimmt der Abgesandte eines Stammes das Geleit. Doch
die deutschen Youngster benehmen sich
nicht ordentlich: Ein Pärchen tut’s auf
heißem Sand im Abendsonnenschein
vor den Augen des indignierten Wüstensohns.
Die Gruppe wird gefangen genommen.
Marc, der Scout, dessen Ratschläge die teutonischen Jungbiker zuvor leichtfertig in
den Wind geschlagen hatten, will das geforderte Lösegeld zahlen, doch einige der
jungen Deutschen, die die besonderen Gesetze des Jemen immer noch nicht verstanden haben, stecken in einem Telefonat
einer Mitarbeiterin der deutschen Botschaft, ohne dass es die Entführer merken,
die Koordinaten des Ortes, an dem man sie
gefangen hält.
Die Folgen dieser List sind mörderisch.
Die Regierung rückt mit Hubschraubern
gegen den Stamm vor, der unbelehrbare
junge Reiseführer fährt auf der Flucht auf
eine Mine. Eine Blondine in der deutschen
Botschaft treibt ein intrigantes Spiel, das in
seinen Winkelzügen nicht mal mehr die
Verantwortlichen des Senders Pro Sieben
erklären können.
Holm Dressler, einstiger GottschalkManager und Produzent, hat den Sender mit der Wüstenidee überrannt. Peter
Patzak, der Regisseur, war wohl schon mit
dem begeisterten Motorradfreak Maffay –
Patzak hatte den Sänger 1987 im Actionthriller „Der Joker“ bereits als Schauspieler eingesetzt – über alle sieben
Brücken der Begeisterung für das Wüstenprojekt gegangen, als das Drehbuch
noch Stückwerk war und Nachbesserer
daran herumdokterten.
Was zählt’s. Wie gern tauscht der Zuschauer logische Erleuchtung gegen die Erhabenheit einer Szene, in der Maffay eine
Mine in den Abgrund entsorgt und so die
Liebe des Sohnes zurückgewinnt. Da
schwillt die Brust, und von irgendwoher
tönt tief drinnen der alte Maffay-Hit „Und
es war Sommer“, das Lied vom Knaben,
der bei der reifen Frau die Liebe kennen
lernt: „Doch als ein Mann sah ich die Sonne aufgeh’n“.
So schön pubertär und abenteuerlich kann Fernsehen im Land jenseits des
Sinns sein.
Nikolaus von Festenberg
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Chronik
SAMSTAG, 28. 8.
FUNKAUSSTELLUNG In Berlin eröffnet die
42. Internationale Funkausstellung. Erster
Besucher des weltweit größten Branchentreffens ist Bundeswirtschaftsminister
Werner Müller.
BALKAN Brigadegeneral Friedrich Riech-
mann löst Helmut Harff als nationaler
Befehlshaber der deutschen Kfor-Einheiten im Kosovo ab.
RAUMFAHRT Nach mehr als 13 Jahren im
All ist die russische Raumstation „Mir“
verlassen. Die letzte Crew landet wohlbehalten in der Steppe Kasachstans.
SONNTAG, 29. 8.
RÜCKTRITT Der unter Verdacht illegaler
Börsengeschäfte stehende Kölner Oberstadtdirektor Klaus Heugel (SPD) verzichtet auf seine Kandidatur zum Oberbürgermeister bei der Kommunalwahl.
MONTAG, 30. 8.
28. August bis 3. September
FESTNAHME Der wegen mutmaßlicher
Schmiergeldzahlungen für Rüstungsexporte gesuchte bayerische Geschäftsmann Karlheinz Schreiber geht der Polizei in Kanada ins Netz.
MITTWOCH, 1. 9.
GEDENKEN Mit einer Kranzniederlegung
DONNERSTAG, 2. 9.
POLIZEI Die erste gemeinsame niederländisch-deutsche Polizeidienststelle wird in
der Doppelgemeinde Dinxperlo/BocholtSuderwick eröffnet.
KÄMPFE In Osttimor, wo 78,5 Prozent der
Bevölkerung für die Unabhängigkeit
stimmten, haben proindonesische
Milizen weite Teile des Landes unter
ihre Kontrolle gebracht und mindestens
vier einheimische Uno-Mitarbeiter
getötet.
übernimmt die Mehrheit des Unternehmens der Hamburger Modedesignerin
Jil Sander.
DIENSTAG, 31. 8.
UNGLÜCK In Buenos Aires sterben min-
destens 69 Menschen, als eine Boeing 737
der argentinischen Fluggesellschaft Lapa
über die Startbahn hinausrast.
Der 150 Meter hohe
Nachbau des Eiffelturmes ist die Attraktion
des Hotels „Paris“,
das der Hilton-Konzern für 800 Millionen Dollar in der
Zocker-Metropole Las
Vegas gebaut hat.
REPORTAGE
Wie aus Kindern Profikicker werden
Matthias Sammer und Ulf Kirsten haben
hier gelernt, fast die Hälfte aller Kicker
der deutschen Nationalelf wurden hier
Türkei zum Tode verurteilten PKK-Chefs
Abdullah Öcalan, erklärt den bewaffneten Kampf der PKK für beendet.
FREITAG, 3. 9.
MODE Die italienische Prada-Gruppe
SPIEGEL TV
KURDEN Osman Öcalan, Bruder des in der
verschiebt die Entscheidung über die
Neugliederung der Parteispitze auf den
nächsten Sonntag.
Eichel (SPD) verknüpft die Zustimmung
zu den Sparplänen mit der Fortsetzung
des Solidarpakts über 2004 hinaus und
sorgt damit für Unmut.
MONTAG
23.00 – 23.30 UHR SAT 1
am Denkmal Westerplatte bei Danzig
gedenkt Bundespräsident Johannes Rau
des 60. Jahrestags des deutschen Überfalls auf Polen, dem Beginn des Zweiten
Weltkriegs.
SPD Bundeskanzler Gerhard Schröder
REGIERUNG Bundesfinanzminister Hans
SPIEGEL TV
ERMITTLUNG Die französische Justiz stellt
ihre Ermittlungen zum tödlichen Unfall
von Prinzessin Diana ein. Schuld sei allein der Fahrer, der unter dem Einfluss
von Alkohol und Medikamenten gestanden habe.
WÄHRUNG Die Uno-Verwaltung im Kosovo hat die Deutsche Mark zur Hauptwährung in ihrem Zuständigkeitsbereich
erklärt und Zollkontrollen in der Provinz
eingeführt.
Amsterdamer Jungkicker
J. MÜLLER / VISUM
ausgebildet: Die Fußballinternate der
ehemaligen DDR waren Kaderschmieden
für den Kampf auf dem grünen Rasen.
Beobachtungen in den Fußballschulen
von Dynamo Dresden, Bayer Leverkusen und Ajax Amsterdam.
DONNERSTAG
22.05 – 23.00 UHR VOX
SPIEGEL TV
EXTRA
Tierische Liebe – vom Umgang der Deutschen mit animalischen Hausgenossen
Ob Riesenalligator oder Frettchen, Ferkel
oder Affe: Insgesamt 21 Millionen Haustiere tummeln sich in deutschen Heimen.
Ganze Wirtschaftszweige reagieren auf
die manchmal extreme Zuneigung des
Menschen zum Tier. Und weil wahre Liebe den Tod überdauert, hat auch das Bestattungswesen tierische Dimensionen erreicht.
SAMSTAG
22.40 – 23.45 UHR VOX
SPIEGEL TV
SPECIAL
Blut und Eisen – die deutsche Rüstungsmaschinerie vom Kaiser bis zum Führer
Vom Giftgas bis zur V2, Deutschland
hat sich im 20. Jahrhundert vor allem
in der Entwicklung neuer Kriegswaffen
hervorgetan. Eine Dokumentation über
Magnaten, Erfinder und Technologien
„im Dienste des Todes“.
SONNTAG
21.55 – 22.45 UHR RTL
REUTERS
SPIEGEL TV
MAGAZIN
Ab durch die neue Mitte – die SPD und
der Kanzler auf der Suche nach dem
Wahlvolk; Im Labyrinth der Lügen –
die schwierige Wahrheitssuche im Fall
Monika Weimar; Vorsicht Kamera! –
Deutschland wird überwacht.
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Register
Gestorben
Spiegle Willcox, 96. Kaum zu glauben,
dass es noch einen Mann gab, der mit dem
legendären Kornettisten Bix Beiderbecke
in einer Band (angeführt von Jean Goldkette) gespielt hatte. Bix soff sich zu Tode,
noch ehe er 30 war, und auch die übrigen
Musiker, die Mitte der
zwanziger Jahre zu
Goldkettes Truppe gehörten, sind längst
nicht mehr unter den
Lebenden: der Gitarrist Eddie Lang, die
Brüder Tommy und
Jimmy Dorsey, der
Geiger Joe Venuti.
Nachdem er bei Goldkette ausgeschieden
war, trat Willcox lange Zeit mit seiner Posaune nur unregelmäßig auf. Erst als alter
Mann, 1975, wurde er für ein Bix-Gedenkkonzert auf die Bühne der Carnegie Hall
geholt. Danach tourte er bis zum Schluss
durch Europa und die USA und ließ sich
auf Festivals feiern. Spiegle Willcox starb
am 25. August in Cortland, New York.
JAZZ ARCHIV
ziger Jahre, als die Kirche in Südamerika
die Ideen der katholischen Soziallehre aufgriff und zur treibenden Kraft der gesellschaftlichen Veränderung wurde, entwickelte sich der brasilianische Erzbischof zur
Hauptfigur der Bewegung der Basisgruppen.
Europäische Theologen
schwärmten alsbald
von einer „Theologie
der Befreiung“. Unermüdlich setzte Câmara sich für die Menschenrechte ein und lehnte Gewalt entschieden ab. Für die Militärs war der international angesehene Geistliche daher
Staatsfeind Nummer eins. Anfang der siebziger Jahre entfachten sie eine geheime
Kampagne gegen seine Kandidatur für den
Friedensnobelpreis, den er tatsächlich nie
erhielt; stattdessen wurde ihm 1974 der Alternative Friedenspreis verliehen.Verleumdung und Verfolgung war Câmara gewöhnt.
„Wenn ich den Armen zu essen gebe, dann
nennen sie mich einen Heiligen. Wenn ich
frage, warum die Armen kein Essen haben,
nennen sie mich einen Kommunisten“,
pflegte er den Umgang der Machthaber mit
ihm zu kommentieren. Dom Hélder Câmara starb am 27. August in Recife.
C. HIRESBRE / GAMMA / STUDIO X
Dom Hélder Câmara, 90. Ende der sech-
Lilo Hardel, 85. Generationen ostdeutscher
Raymond Poïvet, 89. Der künstlerische Vater von Asterix und Obelix, Albert Uderzo,
nannte ihn „meinen Meister“. Tatsächlich
hat kein Zeichner die in Frankreich hoch
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Urt ei l
H. GOLTZ
Kinder sind mit ihren Büchern aufgewachsen. „Pieps und Hanna“, „Der freche Max“
und „Das schüchterne Lottchen“ hießen
die ersten in den fünfziger Jahren, „Die
lustige Susanne“, „Otto und der Zauberer
Faulebaul“ und die Erzählung „Hannchens
Träume“ folgten. Die überzeugte Kommunistin verstand ihre Bücher als Begleiter
auf dem Weg ins Leben, um Kindern Geschichte und Gegenwart verständlich zu
machen. So schrieb sie
1964 in „Das Mädchen
aus Wiederau“ über
Clara Zetkins Studienjahre, später folgte ein
Porträt von Lenins Lebensgefährtin Nadeschda Krupskaja, „Nadja, mein Liebling“. Mit
20 Buchtiteln in einer Gesamtauflage von
über 1,5 Millionen Exemplaren beim Berliner Kinderbuchverlag gehörte sie zu den
erfolgreichsten Autoren der DDR. Lilo
Hardel starb am 26. August in Berlin.
geschätzten und populären Comics so beeinflusst wie dieser selbst wenig bekannte
Pionier der „bandes dessinées“. Schon 1945
erfand Poïvet für das von ihm mitgegründete
Comic-Heft „Vaillant“ die Helden des
Raumschiffs „l’Espérance“ – in bewusster
Abgrenzung zu den US-Sternenkriegern
rauschten die in Friedensmission durchs All.
Der aus Nordfrankreich stammende Pazifist
zeichnete für Werbung und Mode und wurde dann Mitarbeiter bei Pariser Tageszeitungen und so ziemlich allen Comic-Magazinen, von „Pilote“ über „Métal Hurlant“
bis „Okapi“. Er illustrierte Klassiker und erregte Aufsehen mit Bühnenbildern. In seinem Zeichenatelier erhielten spätere Große
der Branche wie Uderzo, Mandryka, JeanClaude Forest oder Paul Gillon Schliff. Raymond Poïvet starb am 29. August in Paris.
Piotr Laskowski, 33, wegen Geiselnahme
und Beihilfe zum erpresserischen Menschenraub angeklagter Pole, ist im Prozess
um die Entführung des Multimillionärs Jan
Philipp Reemtsma vergangene Woche vom
Hamburger Landgericht zu sechs Jahren
Haft verurteilt worden. Das Gericht sah es
als erwiesen an, dass Laskowski am 25.
März 1996 zusammen mit Thomas Drach
Reemtsma entführte und in ein Geiselversteck im niedersächsischen Garlstedt brachte. Die Richter begründeten ihr „sehr maßvolles Urteil“ damit, daß Laskowski aus eigenem Willen zu einem Zeitpunkt aus dem
Verbrechen ausgestiegen war, als es noch
nicht zu einer Geldübergabe gekommen
war, er sich freiwillig gestellt und ein weitgehendes Geständnis abgeliefert hatte.
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Werbeseite
Werbeseite
Personalien
NATIONAL ENQUIRE
Jack Nicholson, 62,
amerikanischer Schauspieler („Einer flog
über das Kuckucksnest“,
„Besser geht’s nicht“)
und Golf-Narr, der sich
schon mal ganz unkonventionell ins Gras legt,
bis der nächste Abschlag
frei ist, gebärdet sich
auch sonst recht ungehörig auf dem Gelände. Einen Tag nachdem
er in dem ultraexklusiven Sherwood Country
Club mit einem Mitglied
gegolft hatte, erschien Nicholson
der Golf-Freak wieder –
diesmal solo. Beim ersten Loch geriet
Nicholson in Wut, als ihn ein Club-Angestellter von der Seite ansprach: „Sorry, Mr.
Nicholson, aber dieser Club ist nur für Mitglieder.“ „So“, knurrte der Mime, „was
kostet denn der Beitritt?“ Der Platzwart,
der den großen Filmstar nicht beleidigen
wollte, schluckte: „Zweihundertfünfzigtausend.“ Der grimme Jack ging zu seinem
Auto, holte sein Scheckbuch und stellte einen Scheck auf 250 000 Dollar aus, sofort
auszahlbar. „Hier“, schnauzte der GolfIrre den verblüfften Club-Angestellten an,
„verschwinden Sie, und belästigen Sie die
Mitglieder nicht.“
standhaft. Der österreichische Ex-Rennfahrer Niki Lauda, 50, Mitinhaber der Lauda-Air, der seine Flugzeugflotte mit einer
neuen Boeing 767 weiter aufgerüstet hat
und ihr den Namen des amerikanischen
Sängers Frank Sinatra gab, feierte dieses
Ereignis bei einem PR-Termin am vergangenen Montag in Frankfurt. Stilgerecht
streckte Lauda eine Flasche von FrankieBoys Lieblingsgetränk „Jack Daniels“ in
die Kamera. Der einst als deutscher Sinatra gefeierte PR-Gast Juhnke weigerte sich
indes, gemeinsam mit Lauda die Whiskeyflasche in die Höhe zu halten. Juhnke, seit
zwei Jahren trocken: „Nee, das nehme ich
nicht mehr in die Hand.“
Harald Juhnke, 70, Schauspieler („Der
Trinker“), Entertainer und Sänger, blieb
als Gast bei einer PR-Aktion mit Alkohol
Lauda, Juhnke
der Bundesregierung, zieht ins Kloster. Für
die Zeit der Sitzungswochen in Berlin hat
sich die gelernte Krankenschwester im
Charlottenburger Herz-Jesu-Kloster ein
Zimmer gemietet. Bevor Nickels aufgenommen wurde, musste sich die fromme
Rheinländerin einem ausführlichen Bewerbungsgespräch unterziehen. Nach einer Woche Beratungszeit stimmten die katholischen Klosterfrauen schließlich zu.
Herrenbesuch ist in Nickels’ karger Kemenate nicht erlaubt. Wenn Nickels’ Ehemann am Wochenende anreist, muss er
im Hotel nächtigen.
Tyra Banks, 25, amerikanisches Model, musste aus Gründen
der Pietät in letzter Minute einen Film nachsynchronisieren.
In der romantischen Komödie „Love Stinks“, die am 10. September in die US-Kinos kommt, diskutiert sie mit einer Freundin ein Kardinalproblem: Wie angle ich mir den perfekten
Mann? Ursprünglich sagt Banks: „Ich sehe dich immer mit diesen sportlichen Typen, die mit bloßem Oberkörper auf Rädern
durch den Central Park sausen und aussehen wie JFK Junior.“
Regisseur Jeff Franklin: „Die Tragödie mit dem Absturz von
JFK passierte wenige Tage vor der Endabnahme des Films“,
so habe man den Satz noch ändern können. Jetzt sagt Banks:
„Ich sehe dich immer mit diesen sportlichen Typen, die mit
bloßem Oberkörper auf Rädern durch den Central Park sausen.“ Nach Meinung des Regisseurs „eine elegante Lösung“.
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OUTLINE / INTER-TOPICS (gr.); GLOBE / INTER-TOPICS (kl.)
DPA
Christa Nickels, 47, Drogenbeauftragte
Kennedy Jr., Banks
Ingrid Stolpe, 61, Ärztin und gewöhnlich
wohltuend unauffällige Gattin von Brandenburgs Ministerpräsidenten Manfred
Stolpe (SPD), mischte sich jetzt in die Politik ein. In einem Interview mit den „Potsdamer Neuesten Nachrichten“ gab sie zum
Besten, wie wenig sie von Bundeskanzler
Gerhard Schröder hält: „Er ist schön und
medienwirksam. Aber das war’s dann
auch.“ Auch bei landespolitischen Themen
blieb es der Ersten Dame Brandenburgs
vorbehalten, da Klartext zu reden, wo ihr
Mann schweigt. So erteilte sie – kurz vor
den Landtagswahlen – einer Koalition zwischen SPD und PDS eine Absage: „Rot-Rot
wird es nicht geben.“ Nicht einmal die Frage, wer Stolpe als Ministerpräsident nach-
Ehepaar Stolpe
folgen soll, ließ sie unbeantwortet: „Der
einzige, der mir einfällt, ist Platzeck.“
Schon nach dessen Wahl zum Potsdamer
Oberbürgermeister habe sie zu ihrem
Mann gesagt: „Lass doch den Platzeck Ministerpräsident werden, und mach du den
Oberbürgermeister in Potsdam.“ Aber das
habe ihr Mann nicht gewollt.
weltministerin, überrumpelte ihren politischen Intimfeind, Innenminister JeanPierre Chevènement, mit einer in der
Kabinettsrunde ungewöhnlichen Spontangeste: Die Grüne hauchte dem Linkskonservativen mit hellem Auflachen einen Kuss
auf die Wange. Anlass für den Versöhnungsakt gab eine Polizeirazzia während
eines Kongresses der „Verts“ im bretonischen Lorient: Ein rundes Dutzend Flics
hatte dort einen Stand gestürmt, auf dem
alternative Grüne Hanf-Lutscher, HanfBier und Hanf-Schokoladen feilboten. In
der Ministerrunde beteuerte der für seine
Reibereien mit der Kollegin – Monsieur ist
rabiat für, Madame heftig gegen Atomenergie – bekannte Macho beflissen: Nicht
etwa er habe seine „police nationale“ auf
die Umweltschützer gehetzt, sondern der
örtliche Staatsanwalt. Die Folgen der umgehenden Belohnung für den Polizeiminister durch die promovierte AnästhesieÄrztin schilderte ein Augenzeuge: „Das
war das erste Mal, dass ich Jean-Pierre mit
roten Ohren gesehen habe, und das will
bei dem etwas heißen.“
Aleksander Kwaśniewski, 44, polnischer
Staatspräsident, mochte sich als Gastgeber
von Bundespräsident Johannes Rau, 68,
auf dem Flug von Babimost nach Gdansk
nichts vorwerfen lassen. Kaum hatten die
Präsidentenehepaare das Flugzeug, eine Tupolew 154, betreten, da fragte Familie Rau
nach einem Kaffee. Doch die Stewardessen waren noch im hinteren Teil der Ma-
Willem-Alexander, 32, niederländischer
Thronfolger, ist verliebt. „Mam, dit is de
ware“, soll er laut „De Telegraaf“ seiner
Mutter gestanden haben. Immerhin ist die
Herzensangelegenheit tatsächlich ernst
und bereits ein Politikum.
„Der Kronprinz hat mir in
einem Gespräch seine
Freundschaft mit Máxima
Zorreguieta mitgeteilt“, erklärte Hollands Ministerpräsident Wim Kok: „Die
Beziehung mit der argentinischen jungen Dame ist besonders genug, dass ich sie
verkünden, aber nicht so ungewöhnlich, dass ich mehr
darüber sagen kann.“ Der
königliche Hof-Sprecher Eef
Brouwers dementierte derweil „auf Ehre und Gewissen“, dass es eine Verbindung mit einer Deutschen, Präsidentenehepaare Rau, Kwa´sniewski
einer gewissen „Herzog“
gebe, wie dies vergangene Woche etliche schine am Werkeln. Da erhob sich der
Medien berichteten: „Das ist eine Falsch- Staatspräsident mit rudernden Armen:
meldung.“ Auf einen möglicherweise pi- „Ah, Kaffee, kein Problem“, sagte Kwaśkanten Aspekt der neuen Verbindung niewski auf Deutsch, „ich werde organisiemachten niederländische Zeitungen auf- ren.“ Man möge sich in der „Zwischenzeit
merksam. Máxima Zorreguietas Vater war den Start der Maschine auf unserem FernWirtschaftsstaatssekretär in der blutigsten seher anschauen“. Dann verschwand der
Periode Argentiniens, als unter der Dikta- Präsident nach hinten, nahm seinen Bürotur von General Jorge Rafael Videla zehn- leiter mit, rief dem Personal zu: „Kaffee,
tausende entführt, gefoltert und ermordet schnell, schnell!“, und verkürzte sich die
wurden.
Wartezeit mit zwei Brandys.
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F. OSSENBRINK
M. EBNER
Dominique Voynet, 40, französische Um-
Hohlspiegel
Rückspiegel
Aus dem „Hamburger Abendblatt“:
„Kernstück ihres Konzepts ist eine ,allgemeine Energiesteuer‘. Fossile Brennstoffe
wie Kohle, Öl und Elektrizität sollen nach
dem Energiegehalt belastet, regenerative
Energien wie zum Beispiel die Solarenergie von der Steuer befreit werden.“
Zitate
Aus der „Rhein-Neckar-Zeitung“: „Die
Flugzeugcrew reichte dem Verstorbenen
Schwarztee und Cola.“
Aus dem „Weser-Kurier“
Aus der „Schwäbischen Zeitung“: „Dieses
Phantom-Bild wurde nach Zeugenangaben
vom Täter angefertigt.“
Aus dem „DAK-Magazin“: „Gesundheitsvorbeugend sind viele Obst- und Gemüsesorten bei regelmäßigem Verzehr.“
Aus dem „Illustrierten Buch der Philosophie“, Überreuter Verlag, von Jeremy
Weate über Simone de Beauvoir: „Obwohl
sie nie eigene Kinder hatte, galt sie als
,Mutter des Feminismus‘.“
Aus dem „Hamburger Abendblatt“: „Seit
der Änderung des BGS-Gesetzes im vergangenen Jahr dürfen die Bundes-Beamten
bei dem Verdacht der illegalen Einreise
auch verdachtsunabhängig kontrollieren.“
Aus der „Lebensmittel-Zeitung“
Aus der „Illertisser Zeitung“: „Jede fünfte der Befragten plane einen Autokauf in
den nächsten zwei Jahren – dagegen nur jeder vierte Mann.“
Aus der „Thüringischen Landeszeitung“:
„Goethes teilweise unschöner Umgang mit
seinen Kollegen und Nachbarn wie Schiller, Herder und Werther stößt beim Museumschef auf Ablehnung, aber auch auf
Verständnis.“
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Marcel Reich-Ranicki in seiner
Biografie „Mein Leben“:
Im September 1968 brachte der SPIEGEL
eine Rezension des Films „Die Artisten in
der Zirkuskuppel: ratlos“. In diesem Film
von Alexander Kluge hätte ich, konnte
man lesen, den Direktor des sowjetischen
Staatszirkus „sehr überzeugend“ verkörpert. Ich war glücklich, denn selten geschieht es, dass ein Anfänger der Schauspielkunst von der SPIEGEL-Kritik so vorbehaltlos gelobt wird. Allerdings wusste
ich gar nicht, dass ich je jemanden verkörpert hatte, weder auf der Leinwand
noch sonstwo. Erfreulicherweise konnte
man aber gleich erfahren, wie es zu der
schauspielerischen Leistung gekommen
war: Kluge hatte im Frühjahr 1968 eine
Schriftsteller-Tagung (nämlich der „Gruppe 47“ in dem Gasthof „Pulvermühle“ im
Frankenland) gefilmt und diese Aufnahmen für sein damals vieldiskutiertes
Werk „Die Artisten in der Zirkuskuppel:
ratlos“ verwendet: Den Ton weglassend,
hatte er die Tagung der „Gruppe 47“ als
einen Kongress von Zirkusdirektoren ausgegeben.
Die „Stuttgarter Zeitung“ zum
SPIEGEL-Bericht „Autoindustrie –
DaimlerChrysler plant weitere
Smart-Modelle“ (Nr. 35/1999):
Der Bericht des Nachrichtenmagazins
,,DER SPIEGEL“, dass eine neue SmartBaureihe möglicherweise in Kooperation
mit dem französischen PSA-Konzern (Citroën und Peugeot), Honda oder Fiat gebaut werde, hat gestern im Konzern einige Verwirrung ausgelöst. Nach Agenturmeldungen hat ein Sprecher des SmartProduzenten MCC zunächst bestätigt, dass
möglicherweise ein anderer Automobilhersteller die Plattform liefern werde. Entsprechende Gespräche führe DaimlerChrysler für seine Tochtergesellschaft
MCC. Man wäre dumm, so wird der MCCSprecher weiter zitiert, wenn man nicht
die Möglichkeit prüfe, von einem anderen
Autoproduzenten Baugruppen oder die
Plattform kaufen zu können. Ein Argument dafür sei der Zeitgewinn, der sich
durch den Verzicht auf eine eigene Entwicklung ergeben könnte. Entschieden sei
dies aber noch nicht, hieß es. Von dieser
Version rückte MCC gestern im Tagesverlauf wieder ab. Am Nachmittag wurde nur
noch bestätigt, dass es Kooperationsgespräche mit anderen Herstellern gebe.
Über den Inhalt wollte sich das Unternehmen nicht mehr äußern. Noch einsilbiger gab sich die Muttergesellschaft. Zu
Spekulationen, so hieß es, gebe man keine Stellungnahme ab.
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