Stereotypen über psychische Erkrankungen und klinische
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Stereotypen über psychische Erkrankungen und klinische
Corrigan & Rüsch: Stigma und Behandlung Stereotypen über psychische Erkrankungen und klinische Versorgung: Vermeiden Menschen Behandlung wegen Stigmatisierung? Patrick W. Corrigan University of Chicago Center for Psychiatric Rehabilitation and Chicago Consortium for Stigma Research Nicolas Rüsch Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie Universität Freiburg [Dies ist die deutsche Übersetzung, besorgt von N. Rüsch, folgenden Artikels: P.W. Corrigan, N. Rüsch (2002). Mental illness stereotypes and clinical care: Do people avoid treatment because of stigma? Psychiatric Rehabilitation Skills 6(3), 312-334.] Copyright 2004 from Psychiatric Rehabilitation Skills by P.W. Corrigan and N. Rüsch. Reproduced by permission of Taylor & Francis, Inc., http://www.routledge-ny.com Englischsprachige Korrespondenz an: Patrick W. Corrigan, University of Chicago Center for Psychiatric Rehabilitation, 7230 Arbor Drive, Tinley Park, IL 60477, USA. email: p-corrigan@uchicago.edu Deutschsprachige Korrespondenz an: Nicolas Rüsch, Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie, Universität Freiburg, Hauptstraße 5, D-79104 Freiburg. email: nicolas_ruesch@psyallg.ukl.uni-freiburg.de 1 Corrigan & Rüsch: Stigma und Behandlung Zusammenfassung: Trotz Belegen für den signifikanten Nutzen pharmakologischer und psychosozialer Behandlungen vieler psychischer Störungen suchen viele Menschen, die ansonsten von einer Behandlung profitieren könnten, keine Hilfe auf oder brechen begonnene Behandlungen vorzeitig ab. Im Rahmen eines Modells subjektiver Überzeugungen bezüglich der eigenen Gesundheit scheint das Stigma psychischer Erkrankungen und ihrer Behandlungen eine wichtige wahrgenommene Hürde darzustellen, die die Behandlungsteilnahme untergräbt. Belege für diese Vermutung werden in diesem Artikel referiert. Wir beginnen mit einem kurzen Überblick empirischer Modelle, die Stigma beschreiben. Wir geben dann einen Überblick über Forschungsarbeiten, die untersuchen, wie wahrgenommene Stigmatisierung die Teilnahme an Behandlungen verringern kann. Trotz einigen Studien, welche die Verbindung zwischen Stigma und Vermeidung von Behandlung unterstützen, ist die Forschung in diesem Gebiet bemerkenswert spärlich, besonders angesichts der Ausführungen über die Wic htigkeit dieses Themas im Bericht der amerikanischen Gesundheitsbehörde (Surgeon General‘s 1999 Report). Mögliche Ausrichtungen künftiger Forschung werden skizziert. Schließlich bieten wir einen Überblick über Strategien, Stigma zu verändern, und ihrer vermutlichen Auswirkungen auf die Inanspruchnahme von Behandlung. 2 Corrigan & Rüsch: Stigma und Behandlung 3 Stereotypen über psychische Erkrankungen und klinische Versorgung: Vermeiden Menschen Behandlung wegen Stigmatisierung? Die Forschung hat gezeigt, daß psychiatrische Symptome, psychisches Leid und Beeinträchtigungen, die durch viele psychische Erkrankungen verursacht werden, signifikant verringert werden können durch eine Vielzahl psychopharmakologischer und psychosozialer Behandlungen. Was wir mit „Behandlungen“ meinen, wird verdeutlicht durch die evidenz-basierten Angebote, die in einer Serie von Artikeln beschrieben werden, veröffentlicht in der Zeitschrift Psychiatric Services (Torrey et al., 2001). Von zentraler Bedeutung für den Erfolg dieser Behandlungen ist offensichtlich, daß Menschen mit psychischen Erkrankungen teilnehmen müssen, um einen Nutzen davon zu haben. Leider deuten Forschungsergebnisse darauf hin, daß viele Menschen, die die Kriterien für eine Behandlung erfüllen und denen es wahrscheinlich nach einer Behandlung besser gehen würde, sich entweder entscheiden, keine Behandlung aufzusuchen, oder an der Behandlung nicht bis zum Ende teilnehmen, nachdem sie begonnen hat. Theoretiker subjektiver Gesundheitsüberzeugungen haben gezeigt, daß eine rationale Abwägung der Kosten und Nutzen der Teilnahme an spezifischen Behandlungen einen direkten Einfluß darauf hat, ob eine bestimmte Behandlungsform weiter verfolgt wird. Die Rolle der Modelle von Gesundheitsüberzeugungen wird im weiteren Verlauf dieses Artikels noch genauer diskutiert. In ihrem Bericht von 1999 stellte die amerikanische Gesundheitsbehörde (Satcher, 1999) fest, daß das mit der Behandlung verbundene Stigma in der Wahrnehmung Betroffener ein signifikanter Kostenpunkt der Teilnahme an psychiatrischen Behandlungen ist. Viele Menschen entscheiden sich, Behandlungsangebote für psychische Erkrankungen nicht wahrzunehmen, weil sie nicht als „psychisch kranker Patient“ etikettiert werden wollen und nicht unter den Vorurteilen und der Diskriminierung le iden wollen, die aus der Etikettierung folgen. Das Ziel dieses Artikels ist es, einen Überblick über die Forschungsliteratur zu geben, die die inverse Beziehung zwischen dem Stigma psychischer Erkrankungen und der Teilnahme an Behandlung untersucht. Wir beginnen mit einem Überblick über die Natur des Problems, und zwar, daß „mögliche Patienten“ entweder Behandlungsangebote nie aufsuchen oder diese nach ihrem Beginn nicht vollständig zu Ende führen. Bisher fehlt in der Literatur eine klare Verbindung zwischen der Erfahrung von Stigma und der Nichtteilnahme an Behandlungen. Daher beschreiben wir Stigma als einen möglichen Grund, warum Behandlungsoptionen von vielen nicht weiterverfolgt werden. Diese Beschreibung ist wichtig als eine Basis für das Verständnis der Phänomene von Stereotypen, Vorurteilen und Diskriminierung, die zu unvollständiger Behandlungsteilnahme führen. Anschließend geben wir einen spezifischen Überblick über die Literatur, die Sorgen über Stigma in Verbindung bringt mit der Entscheidung, nicht an Behandlungsangeboten für psychische Erkrankungen teilzunehmen. Weil die Evidenz für diese Verbindungen noch begrenzt ist, machen wir Vorschläge für künftige Forschung auf diesem Gebiet. Unter der Annahme, daß zusätzliche Forschung den Zusammenhang zwischen Stigma und Inanspruchnahme von Behandlung weiter stärkt, werden Anti-Stigma-Programme nötig sein, um die Offenheit der Bevölkerung gegenüber psychiatrischen Behandlungen zu erhöhen. Der Artikel endet mit einer kurzen Forschungsübersicht über mögliche Wege, auf denen der Einfluß von Stigma verringert werden kann, so daß Zugang zu und Teilnahme an Behandlungen besser verwirklicht werden. Das Problem der Inanspruchnahme von Behandlungen Diejenigen, die mit der Forschung über Behandlungsangebote vertraut sind, kennen zwei wesentliche Probleme: Viele Menschen mit psychischen Erkrankungen begeben sich nie in Behandlung, während andere zwar Behandlungen beginnen, sich jedoch nicht vollständig an die Behandlung halten, wie sie empfohlen wird. Die epidemiologische Forschung gibt Daten über Zugang zu und Teilnahme an Corrigan & Rüsch: Stigma und Behandlung 4 Behandlungen (Epidemiologic Catchment Area Study; Regier, Narrow, Rae et al., 1993). Ergebnisse dieser Studie zeigen, daß weniger als 30% der Menschen mit psychischen Erkrankungen Behandlungen aufsuchen. Eine Nachfolgestudie über die Epidemiologie von Psychopathologie unter Erwachsenen zeigte ähnliche Ergebnisse (National Comorbidity Survey, Kessler et al., 2001). Weniger als 40% derjenigen 6,2% der Bevölkerung mit schweren psychischen Erkrankungen im vergangenen Jahr erhielten dauerhafte Behandlung. Vielleicht stellen diese geringen Quoten lediglich den Anteil derjenigen mit relativ geringen Anpassungsstörungen dar, die sich entscheiden, eher kurzzeitig psychisches Leid auszuhalten als sich in professionelle Behandlung zu begeben. Jedoch zeigten zusätzliche Analysen der epidemiologischen Daten, daß nur 60% der Menschen mit Schizophrenie an Behandlungen teilnahmen (Regier et al., 1993) und daß Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen nicht in höherem Ausmaß an einer Behandlung teilnahmen als solche mit relativ leichten Störungen (Narrow, Regier, Norquiest et al., 2000). Ein neuerer Überblick, der von der Behörde für Substanzmißbrauch und Versorgung psychischer Erkrankungen durchgeführt wurde, ergab ähnlich ernüchternde Resultate (Substance Abuse and Mental Health Services Administration; Willis, Willis, Male et al., 1998). Nur etwa 19% der Menschen mit psychischen Einschränkungen erhalten nach ihrer Diagnose indizierte Angebote wie berufliche Rehabilitation, Fallmanagement oder tagesklinische Behandlung. Eine Analyse auf der Basis einer nationalen Übersicht durch eine Arbeitsgruppe zu Behandlungsergebnissen bei Schizophrenie zeigte, wie die Teilnahme von Patienten sich unterscheidet abhängig davon, welche Art von Behandlung untersucht wird (Schizophrenia Patient Outcome Research Team; Lehman, Steinwachs et al., 1998). Über 90% der Betroffenen in dieser Übersicht gaben an, neuroleptische Dauerbehandlung zu erhalten. Jedoch war die Teilnahme an evidenz-basierten psychosozialen Behandlungen weitaus niedriger. Weniger als die Hälfte der Teilnehmer an dieser Übersicht waren in angemessenen Psychotherapien, weniger als ein Viertel waren an Familientherapie beteiligt und unter 10% erhielten intensives Fallmanagement. Diese Problematik wird weiter verschärft durch die Anzahl von Menschen, die zwar Zugang zu Behandlungsangeboten für psychische Erkrankungen finden, jedoch die verordneten Behandlungselemente nicht voll einhalten (Corrigan, Liberman, Engel, 1990). Eine neuere Übersicht von 34 Studien über die Befolgung (Compliance) psychiatrisch-medikamentöser Behandlungen ergab, daß durchschnittlich über 40% der Personen, die antipsychotische Medikation erhalten, die Einnahmevorgaben nicht vollständig einhalten (Cramer und Rosenbeck, 1998). Antipsychotische Medikation nicht einzunehmen, steigerte Rehospitalisierungen um das Dreifache und führte zu einem Anstieg stationärer Behandlungskosten um 800 Millionen Dollar weltweit (Weiden und Olfson, 1995). Nichtbefolgung (Non-Compliance) tritt auch auf, wenn ambulante Nachsorgetermine versäumt werden. Forschungsergebnisse sprechen dafür, daß von Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen weniger als die Hälfte ambulanter Termine nach Entlassung aus stationärer Behandlung wahrgenommen werden (Chameides und Yamamoto, 1973). Zusätzlich verlassen viele Personen psychosoziale Interventionen, bevor diese beendet sind (Falloon, Lindley, McDonald et al., 1977; Jaffe und Carlson, 1976; Tarrier, Yusupoff, Kinney et al., 1998). Modelle subjektiver Gesundheitsüberzeugungen werden häufig verwendet, um sowohl die geringe Teilnahme an als auch die geringe Befolgung von Behandlungsangeboten für psychische Erkrankungen zu erklären (Fenton, Blyler und Heinssen, 1997; Rüsch und Corrigan, 2002). Modelle zu Gesundheitsüberzeugungen entwickelten sich ursprünglich aus Theorien über öffentliche Gesundheit in den 50er Jahren (Rosenstock, 1975) und untersuchten Werterwartungen, die gesundheitsbezogenes Verhalten beeinflussen. D.h., Menschen entscheiden sich, eine spezifische Behandlung aufzusuchen oder fortzuführen, wenn sie erwarten, daß diese Behandlung die Last der Erkrankung verringert ohne wesentliche schädliche Nebenwirkungen. Als grundsätzlich kognitiver und interpersoneller Ansatz betrachten Modelle von Gesundheitsüberzeugungen Menschen als rationale Wesen, die sich auf eine Weise verhalten, die wahrgenommene Bedrohungen (hier: Krankheitssymptome) verringert und Corrigan & Rüsch: Stigma und Behandlung 5 wahrgenommenen Nutzen (hier beispielsweise Verringerung von Symptomen und psychischem Leid nach der Behandlung) steigert. Kelly und Kollegen (Kelly, Mammon und Scott, 1987) gebrauchten das Modell von Gesundheitsüberzeugungen, um die Befolgung der Medikation vorherzusagen; 20% der Varianz bei der Bevölkerung wurde auf solche rationalen Erwartungen zurückgeführt. Eine Schlüsselkomponente in der rationalen Gleichung, die zu Gesundheitsüberzeugungen führt, sind die schädlichen Auswirkungen von Behandlungen. Diese können einschließen Nebenwirkungen von Medikation (Aquila, Weiden und Emanuel, 1999) und die Überstimulation, die aus einigen psychoszialen Behandlungen folgt (Drake und Sederer, 1986). Wir argumentieren, daß Stigma ein dritter Typ unbeabsichtigter und negativer Wirkung von Behandlung ist. Die wahrgenommenen Nachteile, stigmatisiert zu werden, halten viele Menschen von möglicherweise nützlichen Behandlungsangeboten ab. Das Stigma psychischer Erkrankungen verstehen Wir beschreiben die Psychologie des Stigma vor einer weiteren Diskussion der Beziehung zwischen Stigma und Behandlungssuche, -teilnahme und -befolgung. Forscher unterscheiden zwischen öffentlicher Stigmatisierung (Weisen, in denen die allgemeine Öffentlichkeit auf eine Gruppe reagiert auf der Basis des Stigma über diese Gruppe) und Selbststigmatisierung (die Reaktionen, die einzelne gegen sich selbst wenden, weil sie Mitglieder einer stigmatisierten Gruppe sind) (Corrigan, 2000; Corrigan und Watson, 2002). Wie in unserer Zwei-Faktoren-Theorie in Abbildung 1 skizziert, haben Sozialpsychologen verschiedene kognitive und Verhaltenselemente identifiziert, aus denen Stigma besteht. Für den Entwurf von Forschungsprogrammen, die die Beziehung zwischen Stigma und Zugang zu Behandlung untersuchen, ist es wichtig, diese theoretischen Strukturen zu verstehen. Stereotypen sind wirksame Wissensstrukturen über Gruppen von Menschen (Esses, Haddock und Zanna, 1994; Hilton und von Hippel, 1996; Judd und Park, 1993; Krueger, 1996; Mullen, Rozell und Johnson, 1996). Beispielsweise ist es ein Stereotyp, daß Polizisten die richtigen Leute sind, die man in Gefahr aufsuchen kann. Stereotypen werden als wirksam betrachtet, weil sie relativ mühelose und leicht zugängliche Prozesse darstellen, die das Verständnis einer sozialen Gruppe erleichtern (Hamilton und Sherman, 1994). Die Forschung hat vier Gruppen von Stereotypen identifiziert, die besonders problematisch für psychische Erkrankungen sind (Brockington, Hall, Levings et al., 1993; Taylor und Dear, 1980). Erstens, Menschen mit psychischen Erkrankungen sind gefährlich und sollten gemieden werden. Zweitens sind Menschen mit psychischen Erkrankungen schuld an ihren Einschränkungen, die aus ihrem schwachen Charakter entstehen. Drittens sind sie inkompetent und brauchen Autoritätsfiguren, die für sie entscheiden. Viertens werden sie als kindlich angesehen und profitieren von Elternfiguren, die für sie sorgen. -- Abbildung 1 etwa hier einfügen -Ein Stereotyp zu kennen, bedeutet nicht notwendigerweise, mit ihm übereinzustimmen (Jussim, Nelson, Manis et al., 1995). Viele Menschen kennen die genannten vier Stereotypen über psychische Erkrankungen, unterstützen sie jedoch nicht. Ein Vorurteil ist die Übereinstimmung mit negativen Stereotypen („Das stimmt! Alle Menschen mit psychischer Erkrankung sind gefährlich.“), die zu einer emotionalen Reaktion führt („ ... und ich habe Angst vor all diesen gefährlichen psychisch Kranken!“) (Devine, 1988, 1989, 1995; Hilton und von Hippel, 1996; Krueger, 1996). Diskriminierung ist die Verhaltensfolge von Vorurteilen (Crocker, Major und Steele, 1998), zum Beispiel: „Ich werde diese gefährlichen psychisch kranken Menschen meiden, weil sie mir Angst machen!“. Die Bandbreite gegenwärtiger Verhaltensreaktionen auf öffentliche Stigmatisierung psychischer Erkrankungen läßt sich unterteilen in vier Bereiche: Vorenthalten von Hilfe (beispielsweise die Entscheidung, eine Person mit einer psychischen Erkrankung nicht zu unterstützen aus der Überzeugung, daß sie verantwortlich für ihr Corrigan & Rüsch: Stigma und Behandlung 6 Los ist); Meidung (ein häufiges Beispiel sozialer Meidung sind Vermieter, die nicht an Menschen mit psychischer Erkrankung vermieten, oder Arbeitgeber, die sie nicht einstellen); Absonderung (Aktionen, die die Entfernung von Menschen aus ihrer Umgebung in Institutionen fördern, wo sie besser behandelt oder kontrolliert werden können); und Zwang (Zwangsbehandlung oder Verhalten aus dem Strafvollzug, gegründet auf die Überzeugung, daß Menschen mit psychischen Erkrankungen nicht in der Lage sind, kompetent über ihr Leben zu entscheiden) (Corrigan, Swantek und Watson, unveröffentlichtes Manuskript; Corrigan und Watson, 2002). Wie in dem Zwei-Faktoren-Modell von Abbildung 1 illustriert, umfassen Stereotypen, Vorurteile und Diskriminierung die spezifischen Erfahrungen sowohl öffentlicher als auch Selbststigmatisierung. Forschungsergebnisse sprechen dafür, daß die Mehrheit der Öffentlichkeit die Stereotypen gegenüber psychischer Erkrankung kennen (Brockington et al., 1993; Bhugra, 1989; Greenley, 1984; Hamre, Dahl und Malt, 1994; Link, 1987; Madianos, Madianou, Vlachonikolis et al., 1987; Phelan, Link, Stueve et al., 2000; Rabkin, 1974; Roman und Floyd, 1981). Diejenigen, die die Stereotypen unterstützen, neigen dazu, in diskriminierender Weise zu reagieren (Corrigan et al., unveröffentlichtes Manuskript). Von besonderer Bedeutung für Menschen mit psychischen Erkrankungen ist diskriminierendes Verhalten von Gruppen in einflußreichen Schlüsselpositionen (Fiske, 1993), u.a. Vermietern, Arbeitgebern, Mitgliedern des Justizsystems, Gesetzgebern und im Gesundheitssystem Tätigen. Im Bereich von Selbststigmatisierung sind sich viele Menschen mit psychischer Erkrankung des Stigmas über ihre Gruppe bewußt (Bowden, Schoenfeld und Adams, 1980; Kahn, Obstfeld und Heiman, 1979; Shurka, 1983; Wright, Gronfein und Owens, 2000). Wie in der Öffentlichkeit werden einige dieser Personen mit dem Stigma übereinstimmen (Hayward und Bright, 1997) und es gegen sich wenden, wodurch sie verringerten Selbstwert und verringerte Selbstwirksamkeit erleiden (Corrigan und Watson, 2002). Menschen mit verringerter Selbstwirksamkeit als Folge von Selbststigmatisierung werden sich weniger wahrscheinlich um Arbeit oder Wohnungen bewerben („Jemand, der psychisch krank ist wie ich, kann einen normalen Beruf nicht bewältigen!“) (Link, 1987). Die Erfahrungen von Menschen, die Stigmatisierung vermeiden wollen, indem sie psychiatrische Behandlungen nicht aufsuchen oder abbrechen, bestehen aus beiden Elementen der Zwei-FaktorenTheorie; wir nennen diese Gruppe „mögliche Inanspruchnehmer“. Mögliche Inanspruchnehmer sind generell Mitglieder der „normalen Öffentlichkeit“, die sich nicht als Teil der „psychisch kranken“ Minderheit bezeichnen. Sie sind sich der verschiedenen Stereotypen über psychische Erkrankungen bewußt und unterstützen möglicherweise manche oder alle der entsprechenden Vorurteile. Mögliche Inanspruchnehmer kennen ebenso die negativen Ergebnisse, die daher rühren, Teil einer als psychisch krank etikettierten Minderheit zu sein und wollen die diskriminierenden Folgen vermeiden: den Verlust an vorteilhaften Gelegenheiten, die ansonsten von anderen angeboten würden, und den verringerten Selbstwert und die verringerte Selbstwirksamkeit in Bezug auf sich selbst. Daher wollen mögliche Inanspruchnehmer nicht öffentlich als Teil der als psychisch krank etikettierten Minderheit identif iziert werden. Als eine Minderheit sind Menschen mit psychischer Erkrankung verschieden von vielen anderen stigmatisierten Gruppen, weil die Eigenschaft, aus der das Stigma resultiert, nicht offensichtlich zu Tage tritt (Corrigan, 2000; Goffman, 1963). Geschlechtsbezogenes Stigma resultiert aus der Differenz zwischen den Geschlechtern und viele ethnische Stigmata resultieren aus Hautfarbe und anderen körperlichen Unterschieden. Dagegen kann die Öffentlichkeit typischerweise nicht aus dem Anblick oder Umgang sagen, daß eine Person „psychisch krank“ ist. Forschungsergebnisse sprechen dafür, daß der stärkste Hinweis, der zu öffentlicher Stigmatisierung führt, die Etikettierung ist (Link, 1987), d.h. eine öffentliche Feststellung, daß eine spezifische Person eine psychische Erkrankung hat. Mögliche Inanspruchnehmer können als psychisch krank etikettiert werden infolge verschiedener sozialer Prozesse; am wichtigsten ist die Teilnahme an psychiatrischer Behandlung. Daher könnten mögliche Corrigan & Rüsch: Stigma und Behandlung 7 Inanspruchnehmer sich entscheiden, sich nicht in Behandlung zu begeben, und so versuchen, diese Etikettierung zu vermeiden. Einfluß von Stigma auf Teilnahme an der Behandlung Bisher haben wir einen Überblick über zwei Forschungsbereiche gegeben: Erstens, daß viele Menschen mit psychischen Einschränkungen nicht an Behandlungen teilnehmen oder sich nicht an sie halten; und zweitens, daß Vorurteile und Stereotypen zu öffentlicher und Selbststigmatisierung führen. Um die These dieses Artikels zu unterstützen, sollten wir eine Verbindung zwischen Stigma und Behandlungsteilnahme zeigen (Rogler und Cortes, 1993), und zwar daß Stigma einen Einfluss darauf hat, ob Menschen psychiatrische Behandlungen aufsuchen. Frühe Forschungen in diesem Bereich (siehe für einen Überblick Lorion, 1974) versuchten, die Auswirkungen stigmatisierender Haltung zur Behandlung (beispielsweise „Wenn ich Beratung brauche, muß ich ein Schwächling sein.“) zu unterscheiden von anders gearteten Fehleinschätzungen über die Behandlung („Psychotherapeuten glauben nicht an Gott und mißachten spirituelle Fragen“). Ethnographisch orientierte, empirische Forschung kam zu der Schlußfolgerung, daß viele Menschen Angst oder Scham vor der Behandlung empfinden, was die Inanspruchnahme von Hilfe erschwert (Lorion, 1974; Kadushin, 1969). Jedoch schienen neuere Untersuchungen diese früheren Beobachtungen nicht zu unterstützen. Zuvor in diesem Artikel stellten wir die Hypothese auf, daß die Auswirkungen von Stigma auf Behandlungsteilnahme verstanden werden können im Rahmen des Modells von Gesundheitsüberzeugungen. D.h. eine rationale Bewertung der negativen Folgen von Behandlung (u.a. als 'psychisch krank' etikettiert zu werden und im Folgenden durch Stigma geschädigt zu werden) wird Menschen dazu führen, sich zu entscheiden, diese Behandlung zu vermeiden. Bayer und Peay (1997) testeten diese Hypothese mit ihrer Theorie der bewußten Handlung (Theory of Reasoned Action; Ajzen und Fishbein, 1980; Fishbein und Ajzen, 1975) als eine Annäherung an Gesundheitsüberzeugungen. Nach dieser Theorie ist die Intention einer Person, ein Verhalten auszuführen (wie das Einnehmen einer verschriebenen Medikation oder die Teilnahme an einer Therapiesitzung) eine Funktion der Einstellungen zu Verhalten und subjektiven Normen (die Wahrnehmung der Person bezüglich dessen, was wichtige andere Personen über das Verhalten denken). Ergebnisse einer Untersuchung an 137 Erwachsenen einer australischen allgemeinmedizinischen Klinik zeigten, daß Einstellungen und subjektive Normen prädizierten, ob eine Person bei einem Spezialisten Hilfe für psychische Erkrankungen suchen würde, wenn sie in persönliche Schwierigkeiten geriete. Einschränkend muß hinzugefügt werden, daß ein genauerer Blick auf die Ergebnisse keine Einstellungen oder subjektive Normen in Bezug auf Stigmatisierung ergibt, sondern daß in dieser Studie Einschätzungen über die Wirksamkeit der Behandlung wichtig waren. Obwohl daher das Modell von Gesundheitsüberzeugungen Hilfesuchverhalten zu erklären schien, zeigte die Studie von Bayer und Peay nicht, daß Angst vor Stigmatisierung eine für die Entscheidung relevante Bewertung war. Analysen der Daten aus epidemiologischen Studien über die Psychopathologie bei Erwachsenen ergaben Hinweise für den Zusammenhang zwischen Stigma und Behandlungsteilnahme. Ergebnisse aus dem Bereich Yale der epidemiologischen Untersuchungen (Epidemiologic Catchment Area; Leaf, Bruce und Tischler, 1986) zeigten, daß Teilnehmer mit psychischen Erkrankungen dann wahrscheinlicher Behandlung vermieden, wenn sie selbst Vorurteile gegen die Behandlung hatten (und beispielsweise zustimmten, daß Menschen keine Behandlung aufsuchen sollten, wenn sie ein psychisches oder emotionales Problem hätten) oder glaubten, daß Familie nangehörige negativ auf diese Behandlung reagieren würden. Diese Einstellungen zeigten einen Zusammenhang mit dem Geschlecht: Männer, die diese Meinungen unterstützten, nahmen weniger wahrscheinlich an Behandlungen teil. Eine zweite Studie, durchgeführt von derselben Arbeitsgruppe an etwa 3000 Einwohnern, zeigte ähnliche Ergebnisse, und zwar, daß negative Einstellungen die Inanspruchnahme von Behandlung einschränken bei Menschen, Corrigan & Rüsch: Stigma und Behandlung 8 die ein hohes Risiko für eine psychische Erkrankung haben (Leaf, Bruce, Tischler et al., 1987). Ergebnisse einer Übersichtsstudie über Erkrankungshäufigkeiten (National Comorbidity Survey; Kessler, Berglund, Bruce et al., 2001) legen nahe, daß verschiedene Überzeugungen Menschen von Behandlungen abhalten. Zu diesen Überzeugungen gehören die Sorge darüber, was andere denken könnten, und der Wille, die Probleme selbst zu lösen. Schließlich waren positive Einstellungen von Familienangehörigen mit größerer Inanspruchnahme von Behandlungsangeboten assoziiert in einer repräsentativen Stic hprobe von über 1000 Einwohnern und einer Gruppe aus einem psychiatrischen Krankenhaus (Greenley, Mechanic und Cleary, 1987). Jedoch bleibt festzuhalten, daß „negative Einstellungen zu einer psychischen Erkrankung“ nicht notwendigerweise gleichbedeutend mit Stigma sind. In einem Test dieser Annahme stellte Alvidrez (1999) wie frühere Forscher fest, daß negative Einstellungen stark assoziiert waren mit der fehlenden Inanspruchnahme von Behandlungsangeboten für psychisch Kranke. Weitergehende Analysen zeigten, daß zu den negativen Einstellungen Überzeugungen zählten, die Familie würde eine psychische Erkrankung mißbilligen oder die psychische Erkrankung sei Folge persönlicher Schwäche. Obwohl dieses Ergebnis nahelegt, daß Furcht vor öffentlicher Ablehnung zusammenhängt mit der Vermeidung von Behandlung, spiegeln diese Einstellungen nicht eindeutig viele der stigmatisierenden Stereotype und Vorurteile wider, die zuvor in diesem Artikel diskutiert wurden. Hinzu kommt, daß ein spezif isches Maß von Stigma aus der Alvidrez-Studie (beispielsweise „eine psychische Erkrankung zu haben, ist sehr beschämend“) nicht signifikant assoziiert war mit Behandlungsteilnahme. Eine Studie zeigte eine direkte Beziehung zwischen erwarteter Stigmatisierung und Behandlungsteilnahme (Sirey, Bruce, Alexopoulos et al., 2001b). In dieser Studie wurde Stigma erfaßt mit der Skala wahrgenommener Stigmatisierung (Scale of Perceived Stigma; Link, Struening, Cullen et al., 1989), einer Skala aus 20 Punkten, die Überzeugungen über Abwertung und Diskriminierung von Menschen mit psychischer Erkrankung erfaßt. Werte auf dieser Skala wahrgenommener Stigmatisierung waren assoziiert damit, ob 134 Erwachsene die empfohlene antidepressive Medikation drei Monate später einhielten. Wahrscheinlich wird der Einfluß wahrgenommener Stigmatisierung und Teilnahme an Behandlung modifiziert durch eine dritte Gruppe von Variablen, und zwar demographischen Faktoren. Eine Studie an 92 ambulanten Patienten mit Depression überprüfte diese Hypothese durch eine Untersuchung der Auswirkung von Alter auf die Wahrnehmung von Stigma und die Teilnahme an Behandlung (Sirey, Bruce, Alexopoulos et al., 2001a). Die Ergebnisse zeigten, daß jüngere Patienten (unter 65 Jahren) stärker die Stigmatisierung von Menschen mit psychischen Erkrankungen wahrnahmen als eine Vergleichsgruppe von über 65 Jahren. Jedoch zeigte nur die ältere Gruppe einen signifikanten Zusammenhang zwischen wahrgenommener Stigmatisierung und Vorbehalten, an der Behandlung teilzunehmen. In einer anderen Studie zeigte sich, daß ältere Erwachsene mit negativen Einstellungen zu Behandlungsangeboten für psychische Erkrankungen weniger wahrscheinlich mit ihren Hausärzten über psychische Symptome sprachen (Corrigan et al., unveröffentlichtes Manuskript). Stigma und die Inanspruchnahme von Behandlung scheinen außerdem zusammenzuhängen mit dem ethnischen Hintergrund der betroffenen Person. Analysen der oben erwähnten epidemiologischen Daten zeigen beispielsweise, daß Personen mit psychischen Erkrankungen psychiatrische Behandlungsangebote wahrscheinlicher in Anspruch nehmen wenn sie kaukasischen Ursprungs als wenn sie afroamerikanischen oder hispanischen Ursprungs sind (Narrow et al., 2000). Es muß noch untersucht werden, welcher Anteil dieses Ergebnisses auf öffentliche Stigmatisierung im Vergleich zu Selbststigmatisierung in ethnischen Minderheiten zurückgeführt werden kann. Es gibt jedoch einige Belege, daß Nicht-Weiße weniger dazu neigen zu denken, daß das Medizinsystem eine nützliche Quelle für die Behandlung psychischer Erkrankungen ist. Dazu kommt, daß Menschen mit kürzerer Ausbildung oder geringerem Einkommen größere Sorge um die familiäre Reaktion haben (Leaf et al., 1987). Corrigan & Rüsch: Stigma und Behandlung 9 Schließlich scheint Stigma mit dem beruflichen Hintergrund zusammenzuhängen. Viele Medizinstudenten sind besorgt über das Stigma, Behandlung für psychische Erkrankungen aufzusuchen (Dickstein und Hinz, 1992), so daß nur ein Drittel derjenigen, die in klinisch relevantem Ausmaß über psychisches Leid berichten, Behandlung in Anspruch nehmen (Ey, Henning und Shaw, 2000). Dies ist ein besonders ernüchternder Befund, da man erwarten sollte, daß die über psychische Erkrankungen besser Informierten Behandlungsangeboten gegenüber offener eingestellt sind. Eine weitere Studie zeigte, daß die meisten Mitglieder der US-amerikanischen Luftwaffe der Überzeugung waren, Behandlungsangebote für psychische Erkrankungen seien in hohem Maße stigmatisierend und wenig hilfreich (Stone, 1998). In beiden Fällen vermuteten die Autoren, daß Druck in jeder Berufsgruppe dazu führte, Behandlungsangebote für psychische Erkrankungen zurückzuweisen. Implikationen für künftige Forschungen Die genannten Forschungsergebnisse unterstützen teilweise die Verbindung zw ischen Stigma und Inanspruchnahme von Behandlung. Wichtig ist, daß Begrenzungen einzelner Studien einige Hinweise für künftige Untersuchungen dieses Zusammenhanges nahelegen. Erstens muß Forschung „generelle negative Einstellungen“ durch ein klar definiertes Konstrukt von Stigma ersetzen. Wie wir oben diskutiert haben, können negative Einstellungen eine Vielfalt von Kognitionen darstellen, die nicht spezifisch für das Stigma psychischer Erkrankungen sind; beispielsweise könnten mögliche farbige Inanspruchnehmer denken, das System psychiatrischer Gesundheitsversorgung sei beherrscht von Weißen, die unsensibel gegenüber den kulturellen Bedürfnissen Farbiger seien. Zusätzlich legen „generelle negative Einstellungen“ nahe, Stigma sei ein einheitliches Phänomen, während es in Wirklichkeit viele Facetten hat. Künftige Studien sollten übereinstimmende Forschungsergebnisse berücksichtigen, die zeigen, daß das Stigma psychischer Erkrankungen in vier Arten repräsentiert ist: Menschen mit psychischer Erkrankung sind gefährlich, inkompetent, kindlich und schuldig. Zusätzlich hat sich das in diesem Artikel vorgestellte Zwei-Faktoren-Modell von öffentlicher und Selbst-Stigmatisierung als konzeptuell und methodisch fruchtbar erwiesen, um weitere wichtige Fragen über das Stigma psychischer Erkrankungen zu beantworten (Corrigan, 2000; Corrigan, Edwards, Green et al., 2001; Corrigan und Penn, 1999; Corrigan, River, Lundin et al., 2001; Corrigan und Watson, 2002). Zum Beispiel ließen sich mit dem Zwei-Faktoren-Modell konzeptuell die Wissensstruktur im Zusammenhang mit Stigma (Stereotypen), die nachfolgende Evaluation und emotionale Reaktion auf das Stereotyp (Vorurteil) und Verhaltensfolgen dieses Vorurteils (Diskriminierung) unterscheiden. Künftige Forschung sollte ähnliche Modelle für die Definition von Stigmaaspekten heranziehen. Die Behandlungsteilnahme sollte ebenso differenziert erfaßt werden. Bisher verwendete ein Großteil der Forschung zu Stigma und Inanspruchnahme von Behandlung nur die Berichte der Behandelten über ihre Teilnahme an den Behandlungsangeboten. Forscher sollten zur Kenntnis nehmen, daß eigene Berichte der Betroffenen nicht gleichbedeutend sind mit tatsächlichem Verhalten in der Behandlung, und daher Maße verwenden, die sowohl die Quantität als auch die Qualität der Behandlungsteilnahme abbilden. Außerdem sollte die Forschung globale Konstrukte wie „Behandlungsteilnahme“ ersetzen durch verschiedene Aspekte, beispielsweise durch die Unterscheidung zwischen anfänglicher Aufnahme von Behandlung im Gegensatz zum Durchhalten einer einmal begonnenen Behandlung. Die bisherige Forschung legt nahe, daß die Beziehung zwischen Stigma und Behandlungsteilnahme beeinflußt werden könnte durch eine dritte Gruppe von Variablen. Bis jetzt zeigte sich, daß demographische Größen in signifikantem Zusammenhang mit Stigma und Behandlungsteilnahme stehen. Künftige Forschung sollte diese Variablen im Rahmen eines theoretischen Modells erfassen. Worin liegt der Zusammenhang zwischen Geschlecht oder Zugehörigkeit zu einer ethnischen Minderheit und geringerer Inanspruchnahme von Behandlung? Auch externe Validität sollte ein wichtiges Forschungsziel im Bereich von Stigma und Inanspruchnahme von Behandlung sein. Studienteilnehmer sollten Corrigan & Rüsch: Stigma und Behandlung 10 repräsentativ sein für die wichtigen demographischen Charakteristika, die in diesen Modellen untersucht werden. Schließlich muß die Richtung des Zusammenhangs zwischen Stigma und Inanspruchnahme von Behandlung überprüft werden. Wir nehmen an, daß Angst vor Stigmatisierung Menschen dazu bringt, Behandlungen psychischer Erkrankungen zu vermeiden, von denen sie profitieren könnten. Andererseits könnten Menschen, die Behandlung nicht in Anspruch nehmen, ihre Entscheidung rationalisieren in Form stigmatisierender Einstellungen. Forschungsmodelle, die die kausale Beziehung zwischen Stigma und Inanspruchnahme von Behandlung klären, sind notwendig, um diese Frage zu beantworten. Abbau von Stigma, um die Inanspruchnahme von Behandlung zu verbessern Falls künftige Forschung noch eindeutiger die kausale Verbindung zwischen wahrgenommener Stigmatisierung und Inanspruchnahme von Behandlung aufzeigt, könnten Anti-Stigma-Programme ein wichtiger Faktor sein, um die Teilnahme an Behandlung zu fördern. Solche Programme könnten versuchen, stigmatisierende Einstellungen so zu verändern, daß Personen, die von psychiatrischen Behandlungen profitieren könnten, diese bereitwilliger aufnehmen und vollständig zu Ende führen. Die bisherige Stigmaforschung gibt uns eine vorläufige Orientierung für die Form dieser Programme. Strategien, den Einfluß von Stigma zu verringern, lassen sich unterteilen nach ihrer Relevanz für öffentliche oder Selbststigmatisierung. Über diese Strategien soll hier ein kurzer Überblick gegeben werden mit spezieller Betonung des Aspektes, wie Stereotypen und Vorurteile so verändert werden können, daß mögliche Inanspruchnehmer Gesundheitsüberzeugungen annehmen, die Teilnahme an und fortdauerndes Einhalten von psychiatrischen Behandlungen fördern. Veränderung öffentlicher Stigmatisierung Wir haben argumentiert, daß Menschen wegen wahrgenommener Nachteile im Zusammenhang mit Stigma Behandlungen psychischer Erkrankungen entweder nicht aufsuchen oder nicht zu Ende führen. Daher könnte eine umfassende Änderung öffentlicher Einstellungen zu psychischen Erkrankungen wahrgenommene Nachteile der Teilnahme an Behandlungen verringern und das Ausmaß der Teilnahme an solchen Behandlungen erhöhen. Die verschiedenen Ansätze zur Verringerung öffentlicher Stigmatisierung lassen sich in drei Gruppen gliedern: Protest, Edukation und Kontakt (Corrigan und Penn, 1999). Proteststrategien betonen die Ungerechtigkeit spezifischer Stigmata und führen zu einem moralischen Appell an Menschen, nicht mehr so zu denken: „Schande über uns für solche respektlosen Ideen über psychische Erkrankungen!“. Ironischerweise zeigte sich, daß diese Art von Einstellungsunterdrückung zu einem Verstärkungseffekt (Rebound) führen kann, so daß Vorurteile über eine Gruppe unverändert bleiben oder sogar schlimmer werden (Corrigan et al., 2001; MacRae, Bodenhausen, Milne et al., 1994). Für diesen Rebound-Effekt gibt es sowohl kognitive als auch soziale Erklärungen. Vielleicht die einfachste ist das Konstrukt psychologischer Reaktanz: „Sag mir nicht, was ich denken soll!“ (Brehm und Jones, 1970). Daher scheint Protest keine gangbare Strategie zu sein, um die Stereotypen möglicher Inanspruchnehmer so zu verändern, daß sie offener gegenüber psychiatrischen Behandlungsangeboten werden. Edukation und Kontakt haben zu signifikanten Verbesserungen in öffentlichen Stereotypen und Vorurteilen geführt. Forschung zu Strategien der Erwachsenenedukation konzentrierte sich meist darauf, emotional aufgeladene Mythen über psychische Erkrankungen (z.B. „Psychisch Kranke sind hoch gefährlich!“) zu ersetzen durch Fakten, die die Mythen korrigieren (z.B. „Im Durchschnitt sind Menschen mit psychischen Erkrankungen nicht gefährlicher als der Rest der Bevölkerung“). Edukationsprogramme, die auf die Behandlung psychischer Störungen bezogenes Stigma schwächen, könnten sich auf Botschaften konzentrieren wie „Zu einem Psychiater zu gehen bedeutet nicht, daß Du schwach bist“ oder „Es ist nichts Schlechtes an Menschen, die zu Psychotherapeuten gehen“. Forschungsergebnisse weisen darauf hin, daß relativ kurze Edukationsprogramme zu signifikant verbesserten Einstellungen zu Corrigan & Rüsch: Stigma und Behandlung 11 psychischen Erkrankungen führen (Corrigan und Penn, 1999). Jedoch bleibt noch zu zeigen, daß eine Einstellungsänderung zeitlich stabil bleibt und daß verbesserte Einstellungen auch zu einer Verringerung diskriminierenden Verhaltens führen. Kontakt mit Menschen mit einer psychischen Erkrankung ergibt ebenso signifikante Verbesserungen von Einstellungen zu psychischen Erkrankungen. Die Forschung zeigt, daß Mitglieder der Öffentlichkeit, die vertrauter mit psychischen Erkrankungen sind, weniger wahrscheinlich vorurteilsbeladene Einstellungen unterstützen (Corrigan und Penn, 1999). Darüber hinaus zeigen Mitglieder der Öffentlichkeit, die im Rahmen eines Anti-Stigma-Programmes mit einer Person mit einer psychischen Erkrankung in Kontakt kommen, signifikante Veränderungen ihrer Einstellungen zu psychischen Erkrankungen (Corrigan et al., 2001; Corrigan, Rowan, Green et al., 2002). Diese Studien zeigten, daß aus Kontakt hervorgehende Einstellungsveränderungen über die Zeit stabil bleiben und im Zusammenhang stehen mit Verhaltensänderungen. Kontaktprogramme, in denen sich Menschen mit psychischen Erkrankungen ähnlich zeigen wie Vertreter der Bevölkerungsmehrheit und in denen Behandlungsangebote für psychische Erkrankungen als alltäglich dargestellt werden wie andere Formen von Krankenbehandlung, dürften am ehesten geeignet sein, negative Überzeugungen zu reduzieren und zu einer Verbesserung des Inanspruchnahmeverhaltens zu führen. Veränderung von Selbststigma Ein weiterer Grund für die Nichtinanspruchnahme von Behandlungen für psychische Erkrankungen kann internalisiertes Selbststigma sein. Menschen mit Selbststigma stimmen mit stereotypen Aussagen überein, die ihre Selbstwirksamkeit untergraben (Corrigan und Watson, 2002). Beispielsweise könnten Menschen glauben, ihr Zustand sei so hoffnungslos, daß Behandlung keinen wirklichen Nutzen ergeben könne. Deshalb sei es sinnlos, an Behandlungen teilzunehmen oder sie fortzusetzen. Es gibt nur wenige Studien, die versucht haben, Selbststigma zu verringern. In einem Ansatz verwendeten Kingdon und Turkington (1991) einen kognitiv-behavioralen Ansatz, um Menschen zu helfen, Stigma als normales Ereignis neu zu bewerten. Die Interventionen wurden von den Teilnehmern geschätzt und schienen zu einer höheren Akzeptanz ihrer Erkrankung zu führen. Leider gibt der Artikel von 1991 keinen Bericht einer Überprüfung der Normalisierungsstrategie in einer randomisiert-kontrollierten Studie. Folgestudien untersuchten sorgfältiger den Einfluss ähnlicher kognitiver Therapien auf psychotische Symptome, Selbstaussagen und Inanspruchnahme von Behandlung (Beck und Rector, 2000; Gould, Mueser, Bolton et al., 2001; Sensky, Turkington, Kingdon et al., 2000). Obwohl diese Forschungsrichtung nicht wie die 1991 von Kingdon und Turkington durchgeführte Studie den Schwerpunkt legte auf die Veränderung von Selbststigma, scheint sich zu bestätigen, daß kognitive Neubewertung ein nützliches Werkzeug sein könnte, um Selbststigma zu verringern. Künftige Forschung sollte diese Annahme direkt überprüfen und untersuchen, ob diese Interventionen zu verbesserten Gesundheitsüberzeugungen und verändertem Verhalten bezüglich Zugang zu und Durchhalten von Behandlungen führen. Eine weitere Studie von Link und Kollegen (Link, Mirotznik und Cullen, 1991) ergab weniger ermutigende Befunde. Diese Forscher vermuteten, daß die Auswirkungen von Selbststigmatisierung verringert werden könnten durch Schulung der Teilnehmer in Coping-Techniken. Das Coping-Programm fokussierte auf folgende Themen: eigene psychische Erkrankungen geheim zu halten oder mitzuteilen; auf effektive Wege, andere über die eigenen Erfahrungen zu informieren; und auf die Vermeidung von Situationen, in denen Zurückweisung drohen könnte. Leider ergab die Intervention keine signifikanten Veränderungen in so wichtigen Variablen wie durch Stigma mitverursachten Problemen wie sozialer Ängstlichkeit, Demoralisierung und Arbeitslosigkeit. Link und Kollegen argumentierten, daß die Effekte von Stigma nicht einfach durch das Coping-Verhalten einzelner Individuen überwunden werden können, weil Stigma durch die Kultur gefestigt wird. Mit einem Zitat von C. Wright Mills‘ Unterscheidung (1967) Corrigan & Rüsch: Stigma und Behandlung 12 schließen sie - und wir stimmen zu - , daß Etikettierung und Stigma soziale Probleme sind, die durch öffentliche Initiativen behoben werden müssen, und nicht individuelle Schwierigkeiten, die durch individuelle Therapie behandelt werden müssen. Diese Untersuchungen geben eine Richtung vor für künftige Forschung über Veränderungen von Stigma, um die Inanspruchnahme von Behandlung zu erhöhen. Nur durch diese empirische Arbeit werden wir wissen, ob Stigma ein wichtiges Konstrukt ist, um Menschen zu helfen, die Behandlungen vollständiger in Anspruch zu nehmen, die ihren psychiatrischen Symptomen und Einschränkungen dienen. Schlußfolgerungen Die Forschung zeigt, daß viele Menschen, die ansonsten von psychiatrischen Behandlungsangeboten profitieren könnten, an diesen nicht teilnehmen. Ein Grund könnte sein, daß sie der Meinung sind, daß das diese Behandlungen begleitende Stigma schwerer wiege als die Besserung der Symptome. Die bisherige Forschung hat einige Belege für diesen Zusammenhang erbracht. Jedoch muß eine klare und wiederholte Verbindung zwischen Stigma und Inanspruchnahmeverhalten noch gezeigt werden. Insbesondere wird diese Forschung die Komplexität des Stigmakonzeptes berücksichtigen und versuchen müssen, die genannte Beziehung auf verschiedenen Ebenen abzubilden. Nur mit dieser Art von Information können dann Programme entwickelt werden, die das Stigma psychischer Erkrankungen zu verringern und die Teilnahme an Behandlungsangeboten zu steigern versuchen. Corrigan & Rüsch: Stigma und Behandlung 13 Literatur Ajzen I, Fishbein M. Understanding attitudes and predicting social behavior. New Jersey: Prentice-Hall, 1980. 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Zwei-Faktoren-Theorie von Stigma: Stigma-Fokus (öffentlich/selbst) und sozial-kognitive Komponente (Stereotypen, Vorurteile, Diskriminierung) Öffentliche Stigmatisierung (public stigma) Stereotypen: Negative Meinungen über eine Gruppe, z.B. Charakterschwäche, Inkompetenz, Gefährlichkeit Selbststigmatisierung (self-stigma) Selbst-Stereotypen: Negative Meinung über sich selbst, z.B. Charakterschwäche, Inkompetenz Vorurteile: Zustimmung zu dem Stereotyp und/oder negative emotionale Reaktion, z.B. Ärger, Furcht Selbst-Vorurteile: Zustimmung zu dem Stereotyp und/oder negative emotionale Reaktion z.B. niedriger Selbstwert, niedrige Selbstwirksamkeit Diskriminierung: Verhaltensreaktion auf das Vorurteil, z.B. Benachteiligung bei Vermietung oder Arbeitsplatzvergabe, Vorenthalten von Hilfe Selbst-Diskriminierung: Verhaltensreaktion auf das Vorurteil, z.B. Aufgabe der Suche nach Arbeit oder Wohnung