Stereotypen über psychische Erkrankungen und klinische

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Stereotypen über psychische Erkrankungen und klinische
Corrigan & Rüsch: Stigma und Behandlung
Stereotypen über psychische Erkrankungen und klinische Versorgung:
Vermeiden Menschen Behandlung wegen Stigmatisierung?
Patrick W. Corrigan
University of Chicago Center for Psychiatric Rehabilitation and
Chicago Consortium for Stigma Research
Nicolas Rüsch
Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie
Universität Freiburg
[Dies ist die deutsche Übersetzung, besorgt von N. Rüsch, folgenden Artikels:
P.W. Corrigan, N. Rüsch (2002). Mental illness stereotypes and clinical care: Do people avoid treatment
because of stigma? Psychiatric Rehabilitation Skills 6(3), 312-334.]
Copyright 2004 from Psychiatric Rehabilitation Skills by P.W. Corrigan and N. Rüsch. Reproduced by
permission of Taylor & Francis, Inc., http://www.routledge-ny.com
Englischsprachige Korrespondenz an:
Patrick W. Corrigan, University of Chicago Center for Psychiatric Rehabilitation, 7230 Arbor Drive,
Tinley Park, IL 60477, USA. email: p-corrigan@uchicago.edu
Deutschsprachige Korrespondenz an:
Nicolas Rüsch, Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie, Universität Freiburg, Hauptstraße 5, D-79104
Freiburg. email: nicolas_ruesch@psyallg.ukl.uni-freiburg.de
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Corrigan & Rüsch: Stigma und Behandlung
Zusammenfassung:
Trotz Belegen für den signifikanten Nutzen pharmakologischer und psychosozialer Behandlungen vieler
psychischer Störungen suchen viele Menschen, die ansonsten von einer Behandlung profitieren könnten,
keine Hilfe auf oder brechen begonnene Behandlungen vorzeitig ab. Im Rahmen eines Modells
subjektiver Überzeugungen bezüglich der eigenen Gesundheit scheint das Stigma psychischer
Erkrankungen und ihrer Behandlungen eine wichtige wahrgenommene Hürde darzustellen, die die
Behandlungsteilnahme untergräbt. Belege für diese Vermutung werden in diesem Artikel referiert. Wir
beginnen mit einem kurzen Überblick empirischer Modelle, die Stigma beschreiben. Wir geben dann
einen Überblick über Forschungsarbeiten, die untersuchen, wie wahrgenommene Stigmatisierung die
Teilnahme an Behandlungen verringern kann. Trotz einigen Studien, welche die Verbindung zwischen
Stigma und Vermeidung von Behandlung unterstützen, ist die Forschung in diesem Gebiet
bemerkenswert spärlich, besonders angesichts der Ausführungen über die Wic htigkeit dieses Themas im
Bericht der amerikanischen Gesundheitsbehörde (Surgeon General‘s 1999 Report). Mögliche
Ausrichtungen künftiger Forschung werden skizziert. Schließlich bieten wir einen Überblick über
Strategien, Stigma zu verändern, und ihrer vermutlichen Auswirkungen auf die Inanspruchnahme von
Behandlung.
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Corrigan & Rüsch: Stigma und Behandlung
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Stereotypen über psychische Erkrankungen und klinische Versorgung:
Vermeiden Menschen Behandlung wegen Stigmatisierung?
Die Forschung hat gezeigt, daß psychiatrische Symptome, psychisches Leid und Beeinträchtigungen, die
durch viele psychische Erkrankungen verursacht werden, signifikant verringert werden können durch eine
Vielzahl psychopharmakologischer und psychosozialer Behandlungen. Was wir mit „Behandlungen“
meinen, wird verdeutlicht durch die evidenz-basierten Angebote, die in einer Serie von Artikeln
beschrieben werden, veröffentlicht in der Zeitschrift Psychiatric Services (Torrey et al., 2001). Von
zentraler Bedeutung für den Erfolg dieser Behandlungen ist offensichtlich, daß Menschen mit
psychischen Erkrankungen teilnehmen müssen, um einen Nutzen davon zu haben. Leider deuten
Forschungsergebnisse darauf hin, daß viele Menschen, die die Kriterien für eine Behandlung erfüllen und
denen es wahrscheinlich nach einer Behandlung besser gehen würde, sich entweder entscheiden, keine
Behandlung aufzusuchen, oder an der Behandlung nicht bis zum Ende teilnehmen, nachdem sie begonnen
hat. Theoretiker subjektiver Gesundheitsüberzeugungen haben gezeigt, daß eine rationale Abwägung der
Kosten und Nutzen der Teilnahme an spezifischen Behandlungen einen direkten Einfluß darauf hat, ob
eine bestimmte Behandlungsform weiter verfolgt wird. Die Rolle der Modelle von
Gesundheitsüberzeugungen wird im weiteren Verlauf dieses Artikels noch genauer diskutiert. In ihrem
Bericht von 1999 stellte die amerikanische Gesundheitsbehörde (Satcher, 1999) fest, daß das mit der
Behandlung verbundene Stigma in der Wahrnehmung Betroffener ein signifikanter Kostenpunkt der
Teilnahme an psychiatrischen Behandlungen ist. Viele Menschen entscheiden sich, Behandlungsangebote
für psychische Erkrankungen nicht wahrzunehmen, weil sie nicht als „psychisch kranker Patient“
etikettiert werden wollen und nicht unter den Vorurteilen und der Diskriminierung le iden wollen, die aus
der Etikettierung folgen.
Das Ziel dieses Artikels ist es, einen Überblick über die Forschungsliteratur zu geben, die die inverse
Beziehung zwischen dem Stigma psychischer Erkrankungen und der Teilnahme an Behandlung
untersucht. Wir beginnen mit einem Überblick über die Natur des Problems, und zwar, daß „mögliche
Patienten“ entweder Behandlungsangebote nie aufsuchen oder diese nach ihrem Beginn nicht vollständig
zu Ende führen. Bisher fehlt in der Literatur eine klare Verbindung zwischen der Erfahrung von Stigma
und der Nichtteilnahme an Behandlungen. Daher beschreiben wir Stigma als einen möglichen Grund,
warum Behandlungsoptionen von vielen nicht weiterverfolgt werden. Diese Beschreibung ist wichtig als
eine Basis für das Verständnis der Phänomene von Stereotypen, Vorurteilen und Diskriminierung, die zu
unvollständiger Behandlungsteilnahme führen. Anschließend geben wir einen spezifischen Überblick
über die Literatur, die Sorgen über Stigma in Verbindung bringt mit der Entscheidung, nicht an
Behandlungsangeboten für psychische Erkrankungen teilzunehmen. Weil die Evidenz für diese
Verbindungen noch begrenzt ist, machen wir Vorschläge für künftige Forschung auf diesem Gebiet.
Unter der Annahme, daß zusätzliche Forschung den Zusammenhang zwischen Stigma und
Inanspruchnahme von Behandlung weiter stärkt, werden Anti-Stigma-Programme nötig sein, um die
Offenheit der Bevölkerung gegenüber psychiatrischen Behandlungen zu erhöhen. Der Artikel endet mit
einer kurzen Forschungsübersicht über mögliche Wege, auf denen der Einfluß von Stigma verringert
werden kann, so daß Zugang zu und Teilnahme an Behandlungen besser verwirklicht werden.
Das Problem der Inanspruchnahme von Behandlungen
Diejenigen, die mit der Forschung über Behandlungsangebote vertraut sind, kennen zwei wesentliche
Probleme: Viele Menschen mit psychischen Erkrankungen begeben sich nie in Behandlung, während
andere zwar Behandlungen beginnen, sich jedoch nicht vollständig an die Behandlung halten, wie sie
empfohlen wird. Die epidemiologische Forschung gibt Daten über Zugang zu und Teilnahme an
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Behandlungen (Epidemiologic Catchment Area Study; Regier, Narrow, Rae et al., 1993). Ergebnisse
dieser Studie zeigen, daß weniger als 30% der Menschen mit psychischen Erkrankungen Behandlungen
aufsuchen. Eine Nachfolgestudie über die Epidemiologie von Psychopathologie unter Erwachsenen zeigte
ähnliche Ergebnisse (National Comorbidity Survey, Kessler et al., 2001). Weniger als 40% derjenigen
6,2% der Bevölkerung mit schweren psychischen Erkrankungen im vergangenen Jahr erhielten dauerhafte
Behandlung. Vielleicht stellen diese geringen Quoten lediglich den Anteil derjenigen mit relativ geringen
Anpassungsstörungen dar, die sich entscheiden, eher kurzzeitig psychisches Leid auszuhalten als sich in
professionelle Behandlung zu begeben. Jedoch zeigten zusätzliche Analysen der epidemiologischen
Daten, daß nur 60% der Menschen mit Schizophrenie an Behandlungen teilnahmen (Regier et al., 1993)
und daß Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen nicht in höherem Ausmaß an einer
Behandlung teilnahmen als solche mit relativ leichten Störungen (Narrow, Regier, Norquiest et al., 2000).
Ein neuerer Überblick, der von der Behörde für Substanzmißbrauch und Versorgung psychischer
Erkrankungen durchgeführt wurde, ergab ähnlich ernüchternde Resultate (Substance Abuse and Mental
Health Services Administration; Willis, Willis, Male et al., 1998). Nur etwa 19% der Menschen mit
psychischen Einschränkungen erhalten nach ihrer Diagnose indizierte Angebote wie berufliche
Rehabilitation, Fallmanagement oder tagesklinische Behandlung. Eine Analyse auf der Basis einer
nationalen Übersicht durch eine Arbeitsgruppe zu Behandlungsergebnissen bei Schizophrenie zeigte, wie
die Teilnahme von Patienten sich unterscheidet abhängig davon, welche Art von Behandlung untersucht
wird (Schizophrenia Patient Outcome Research Team; Lehman, Steinwachs et al., 1998). Über 90% der
Betroffenen in dieser Übersicht gaben an, neuroleptische Dauerbehandlung zu erhalten. Jedoch war die
Teilnahme an evidenz-basierten psychosozialen Behandlungen weitaus niedriger. Weniger als die Hälfte
der Teilnehmer an dieser Übersicht waren in angemessenen Psychotherapien, weniger als ein Viertel
waren an Familientherapie beteiligt und unter 10% erhielten intensives Fallmanagement.
Diese Problematik wird weiter verschärft durch die Anzahl von Menschen, die zwar Zugang zu
Behandlungsangeboten für psychische Erkrankungen finden, jedoch die verordneten
Behandlungselemente nicht voll einhalten (Corrigan, Liberman, Engel, 1990). Eine neuere Übersicht von
34 Studien über die Befolgung (Compliance) psychiatrisch-medikamentöser Behandlungen ergab, daß
durchschnittlich über 40% der Personen, die antipsychotische Medikation erhalten, die
Einnahmevorgaben nicht vollständig einhalten (Cramer und Rosenbeck, 1998). Antipsychotische
Medikation nicht einzunehmen, steigerte Rehospitalisierungen um das Dreifache und führte zu einem
Anstieg stationärer Behandlungskosten um 800 Millionen Dollar weltweit (Weiden und Olfson, 1995).
Nichtbefolgung (Non-Compliance) tritt auch auf, wenn ambulante Nachsorgetermine versäumt werden.
Forschungsergebnisse sprechen dafür, daß von Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen
weniger als die Hälfte ambulanter Termine nach Entlassung aus stationärer Behandlung wahrgenommen
werden (Chameides und Yamamoto, 1973). Zusätzlich verlassen viele Personen psychosoziale
Interventionen, bevor diese beendet sind (Falloon, Lindley, McDonald et al., 1977; Jaffe und Carlson,
1976; Tarrier, Yusupoff, Kinney et al., 1998).
Modelle subjektiver Gesundheitsüberzeugungen werden häufig verwendet, um sowohl die geringe
Teilnahme an als auch die geringe Befolgung von Behandlungsangeboten für psychische Erkrankungen
zu erklären (Fenton, Blyler und Heinssen, 1997; Rüsch und Corrigan, 2002). Modelle zu
Gesundheitsüberzeugungen entwickelten sich ursprünglich aus Theorien über öffentliche Gesundheit in
den 50er Jahren (Rosenstock, 1975) und untersuchten Werterwartungen, die gesundheitsbezogenes
Verhalten beeinflussen. D.h., Menschen entscheiden sich, eine spezifische Behandlung aufzusuchen oder
fortzuführen, wenn sie erwarten, daß diese Behandlung die Last der Erkrankung verringert ohne
wesentliche schädliche Nebenwirkungen. Als grundsätzlich kognitiver und interpersoneller Ansatz
betrachten Modelle von Gesundheitsüberzeugungen Menschen als rationale Wesen, die sich auf eine
Weise verhalten, die wahrgenommene Bedrohungen (hier: Krankheitssymptome) verringert und
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wahrgenommenen Nutzen (hier beispielsweise Verringerung von Symptomen und psychischem Leid
nach der Behandlung) steigert. Kelly und Kollegen (Kelly, Mammon und Scott, 1987) gebrauchten das
Modell von Gesundheitsüberzeugungen, um die Befolgung der Medikation vorherzusagen; 20% der
Varianz bei der Bevölkerung wurde auf solche rationalen Erwartungen zurückgeführt. Eine
Schlüsselkomponente in der rationalen Gleichung, die zu Gesundheitsüberzeugungen führt, sind die
schädlichen Auswirkungen von Behandlungen. Diese können einschließen Nebenwirkungen von
Medikation (Aquila, Weiden und Emanuel, 1999) und die Überstimulation, die aus einigen psychoszialen
Behandlungen folgt (Drake und Sederer, 1986). Wir argumentieren, daß Stigma ein dritter Typ
unbeabsichtigter und negativer Wirkung von Behandlung ist. Die wahrgenommenen Nachteile,
stigmatisiert zu werden, halten viele Menschen von möglicherweise nützlichen Behandlungsangeboten
ab.
Das Stigma psychischer Erkrankungen verstehen
Wir beschreiben die Psychologie des Stigma vor einer weiteren Diskussion der Beziehung zwischen
Stigma und Behandlungssuche, -teilnahme und -befolgung. Forscher unterscheiden zwischen öffentlicher
Stigmatisierung (Weisen, in denen die allgemeine Öffentlichkeit auf eine Gruppe reagiert auf der Basis
des Stigma über diese Gruppe) und Selbststigmatisierung (die Reaktionen, die einzelne gegen sich selbst
wenden, weil sie Mitglieder einer stigmatisierten Gruppe sind) (Corrigan, 2000; Corrigan und Watson,
2002). Wie in unserer Zwei-Faktoren-Theorie in Abbildung 1 skizziert, haben Sozialpsychologen
verschiedene kognitive und Verhaltenselemente identifiziert, aus denen Stigma besteht. Für den Entwurf
von Forschungsprogrammen, die die Beziehung zwischen Stigma und Zugang zu Behandlung
untersuchen, ist es wichtig, diese theoretischen Strukturen zu verstehen. Stereotypen sind wirksame
Wissensstrukturen über Gruppen von Menschen (Esses, Haddock und Zanna, 1994; Hilton und von
Hippel, 1996; Judd und Park, 1993; Krueger, 1996; Mullen, Rozell und Johnson, 1996). Beispielsweise
ist es ein Stereotyp, daß Polizisten die richtigen Leute sind, die man in Gefahr aufsuchen kann.
Stereotypen werden als wirksam betrachtet, weil sie relativ mühelose und leicht zugängliche Prozesse
darstellen, die das Verständnis einer sozialen Gruppe erleichtern (Hamilton und Sherman, 1994). Die
Forschung hat vier Gruppen von Stereotypen identifiziert, die besonders problematisch für psychische
Erkrankungen sind (Brockington, Hall, Levings et al., 1993; Taylor und Dear, 1980). Erstens, Menschen
mit psychischen Erkrankungen sind gefährlich und sollten gemieden werden. Zweitens sind Menschen
mit psychischen Erkrankungen schuld an ihren Einschränkungen, die aus ihrem schwachen Charakter
entstehen. Drittens sind sie inkompetent und brauchen Autoritätsfiguren, die für sie entscheiden. Viertens
werden sie als kindlich angesehen und profitieren von Elternfiguren, die für sie sorgen.
-- Abbildung 1 etwa hier einfügen -Ein Stereotyp zu kennen, bedeutet nicht notwendigerweise, mit ihm übereinzustimmen (Jussim, Nelson,
Manis et al., 1995). Viele Menschen kennen die genannten vier Stereotypen über psychische
Erkrankungen, unterstützen sie jedoch nicht. Ein Vorurteil ist die Übereinstimmung mit negativen
Stereotypen („Das stimmt! Alle Menschen mit psychischer Erkrankung sind gefährlich.“), die zu einer
emotionalen Reaktion führt („ ... und ich habe Angst vor all diesen gefährlichen psychisch Kranken!“)
(Devine, 1988, 1989, 1995; Hilton und von Hippel, 1996; Krueger, 1996). Diskriminierung ist die
Verhaltensfolge von Vorurteilen (Crocker, Major und Steele, 1998), zum Beispiel: „Ich werde diese
gefährlichen psychisch kranken Menschen meiden, weil sie mir Angst machen!“. Die Bandbreite
gegenwärtiger Verhaltensreaktionen auf öffentliche Stigmatisierung psychischer Erkrankungen läßt sich
unterteilen in vier Bereiche: Vorenthalten von Hilfe (beispielsweise die Entscheidung, eine Person mit
einer psychischen Erkrankung nicht zu unterstützen aus der Überzeugung, daß sie verantwortlich für ihr
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Los ist); Meidung (ein häufiges Beispiel sozialer Meidung sind Vermieter, die nicht an Menschen mit
psychischer Erkrankung vermieten, oder Arbeitgeber, die sie nicht einstellen); Absonderung (Aktionen,
die die Entfernung von Menschen aus ihrer Umgebung in Institutionen fördern, wo sie besser behandelt
oder kontrolliert werden können); und Zwang (Zwangsbehandlung oder Verhalten aus dem Strafvollzug,
gegründet auf die Überzeugung, daß Menschen mit psychischen Erkrankungen nicht in der Lage sind,
kompetent über ihr Leben zu entscheiden) (Corrigan, Swantek und Watson, unveröffentlichtes
Manuskript; Corrigan und Watson, 2002).
Wie in dem Zwei-Faktoren-Modell von Abbildung 1 illustriert, umfassen Stereotypen, Vorurteile und
Diskriminierung die spezifischen Erfahrungen sowohl öffentlicher als auch Selbststigmatisierung.
Forschungsergebnisse sprechen dafür, daß die Mehrheit der Öffentlichkeit die Stereotypen gegenüber
psychischer Erkrankung kennen (Brockington et al., 1993; Bhugra, 1989; Greenley, 1984; Hamre, Dahl
und Malt, 1994; Link, 1987; Madianos, Madianou, Vlachonikolis et al., 1987; Phelan, Link, Stueve et al.,
2000; Rabkin, 1974; Roman und Floyd, 1981). Diejenigen, die die Stereotypen unterstützen, neigen dazu,
in diskriminierender Weise zu reagieren (Corrigan et al., unveröffentlichtes Manuskript). Von besonderer
Bedeutung für Menschen mit psychischen Erkrankungen ist diskriminierendes Verhalten von Gruppen in
einflußreichen Schlüsselpositionen (Fiske, 1993), u.a. Vermietern, Arbeitgebern, Mitgliedern des
Justizsystems, Gesetzgebern und im Gesundheitssystem Tätigen. Im Bereich von Selbststigmatisierung
sind sich viele Menschen mit psychischer Erkrankung des Stigmas über ihre Gruppe bewußt (Bowden,
Schoenfeld und Adams, 1980; Kahn, Obstfeld und Heiman, 1979; Shurka, 1983; Wright, Gronfein und
Owens, 2000). Wie in der Öffentlichkeit werden einige dieser Personen mit dem Stigma übereinstimmen
(Hayward und Bright, 1997) und es gegen sich wenden, wodurch sie verringerten Selbstwert und
verringerte Selbstwirksamkeit erleiden (Corrigan und Watson, 2002). Menschen mit verringerter
Selbstwirksamkeit als Folge von Selbststigmatisierung werden sich weniger wahrscheinlich um Arbeit
oder Wohnungen bewerben („Jemand, der psychisch krank ist wie ich, kann einen normalen Beruf nicht
bewältigen!“) (Link, 1987).
Die Erfahrungen von Menschen, die Stigmatisierung vermeiden wollen, indem sie psychiatrische
Behandlungen nicht aufsuchen oder abbrechen, bestehen aus beiden Elementen der Zwei-FaktorenTheorie; wir nennen diese Gruppe „mögliche Inanspruchnehmer“. Mögliche Inanspruchnehmer sind
generell Mitglieder der „normalen Öffentlichkeit“, die sich nicht als Teil der „psychisch kranken“
Minderheit bezeichnen. Sie sind sich der verschiedenen Stereotypen über psychische Erkrankungen
bewußt und unterstützen möglicherweise manche oder alle der entsprechenden Vorurteile. Mögliche
Inanspruchnehmer kennen ebenso die negativen Ergebnisse, die daher rühren, Teil einer als psychisch
krank etikettierten Minderheit zu sein und wollen die diskriminierenden Folgen vermeiden: den Verlust
an vorteilhaften Gelegenheiten, die ansonsten von anderen angeboten würden, und den verringerten
Selbstwert und die verringerte Selbstwirksamkeit in Bezug auf sich selbst. Daher wollen mögliche
Inanspruchnehmer nicht öffentlich als Teil der als psychisch krank etikettierten Minderheit identif iziert
werden.
Als eine Minderheit sind Menschen mit psychischer Erkrankung verschieden von vielen anderen
stigmatisierten Gruppen, weil die Eigenschaft, aus der das Stigma resultiert, nicht offensichtlich zu Tage
tritt (Corrigan, 2000; Goffman, 1963). Geschlechtsbezogenes Stigma resultiert aus der Differenz
zwischen den Geschlechtern und viele ethnische Stigmata resultieren aus Hautfarbe und anderen
körperlichen Unterschieden. Dagegen kann die Öffentlichkeit typischerweise nicht aus dem Anblick oder
Umgang sagen, daß eine Person „psychisch krank“ ist. Forschungsergebnisse sprechen dafür, daß der
stärkste Hinweis, der zu öffentlicher Stigmatisierung führt, die Etikettierung ist (Link, 1987), d.h. eine
öffentliche Feststellung, daß eine spezifische Person eine psychische Erkrankung hat. Mögliche
Inanspruchnehmer können als psychisch krank etikettiert werden infolge verschiedener sozialer Prozesse;
am wichtigsten ist die Teilnahme an psychiatrischer Behandlung. Daher könnten mögliche
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Inanspruchnehmer sich entscheiden, sich nicht in Behandlung zu begeben, und so versuchen, diese
Etikettierung zu vermeiden.
Einfluß von Stigma auf Teilnahme an der Behandlung
Bisher haben wir einen Überblick über zwei Forschungsbereiche gegeben: Erstens, daß viele Menschen
mit psychischen Einschränkungen nicht an Behandlungen teilnehmen oder sich nicht an sie halten; und
zweitens, daß Vorurteile und Stereotypen zu öffentlicher und Selbststigmatisierung führen. Um die These
dieses Artikels zu unterstützen, sollten wir eine Verbindung zwischen Stigma und Behandlungsteilnahme
zeigen (Rogler und Cortes, 1993), und zwar daß Stigma einen Einfluss darauf hat, ob Menschen
psychiatrische Behandlungen aufsuchen. Frühe Forschungen in diesem Bereich (siehe für einen Überblick
Lorion, 1974) versuchten, die Auswirkungen stigmatisierender Haltung zur Behandlung (beispielsweise
„Wenn ich Beratung brauche, muß ich ein Schwächling sein.“) zu unterscheiden von anders gearteten
Fehleinschätzungen über die Behandlung („Psychotherapeuten glauben nicht an Gott und mißachten
spirituelle Fragen“). Ethnographisch orientierte, empirische Forschung kam zu der Schlußfolgerung, daß
viele Menschen Angst oder Scham vor der Behandlung empfinden, was die Inanspruchnahme von Hilfe
erschwert (Lorion, 1974; Kadushin, 1969). Jedoch schienen neuere Untersuchungen diese früheren
Beobachtungen nicht zu unterstützen.
Zuvor in diesem Artikel stellten wir die Hypothese auf, daß die Auswirkungen von Stigma auf
Behandlungsteilnahme verstanden werden können im Rahmen des Modells von
Gesundheitsüberzeugungen. D.h. eine rationale Bewertung der negativen Folgen von Behandlung (u.a. als
'psychisch krank' etikettiert zu werden und im Folgenden durch Stigma geschädigt zu werden) wird
Menschen dazu führen, sich zu entscheiden, diese Behandlung zu vermeiden. Bayer und Peay (1997)
testeten diese Hypothese mit ihrer Theorie der bewußten Handlung (Theory of Reasoned Action; Ajzen
und Fishbein, 1980; Fishbein und Ajzen, 1975) als eine Annäherung an Gesundheitsüberzeugungen. Nach
dieser Theorie ist die Intention einer Person, ein Verhalten auszuführen (wie das Einnehmen einer
verschriebenen Medikation oder die Teilnahme an einer Therapiesitzung) eine Funktion der Einstellungen
zu Verhalten und subjektiven Normen (die Wahrnehmung der Person bezüglich dessen, was wichtige
andere Personen über das Verhalten denken). Ergebnisse einer Untersuchung an 137 Erwachsenen einer
australischen allgemeinmedizinischen Klinik zeigten, daß Einstellungen und subjektive Normen
prädizierten, ob eine Person bei einem Spezialisten Hilfe für psychische Erkrankungen suchen würde,
wenn sie in persönliche Schwierigkeiten geriete. Einschränkend muß hinzugefügt werden, daß ein
genauerer Blick auf die Ergebnisse keine Einstellungen oder subjektive Normen in Bezug auf
Stigmatisierung ergibt, sondern daß in dieser Studie Einschätzungen über die Wirksamkeit der
Behandlung wichtig waren. Obwohl daher das Modell von Gesundheitsüberzeugungen
Hilfesuchverhalten zu erklären schien, zeigte die Studie von Bayer und Peay nicht, daß Angst vor
Stigmatisierung eine für die Entscheidung relevante Bewertung war.
Analysen der Daten aus epidemiologischen Studien über die Psychopathologie bei Erwachsenen ergaben
Hinweise für den Zusammenhang zwischen Stigma und Behandlungsteilnahme. Ergebnisse aus dem
Bereich Yale der epidemiologischen Untersuchungen (Epidemiologic Catchment Area; Leaf, Bruce und
Tischler, 1986) zeigten, daß Teilnehmer mit psychischen Erkrankungen dann wahrscheinlicher
Behandlung vermieden, wenn sie selbst Vorurteile gegen die Behandlung hatten (und beispielsweise
zustimmten, daß Menschen keine Behandlung aufsuchen sollten, wenn sie ein psychisches oder
emotionales Problem hätten) oder glaubten, daß Familie nangehörige negativ auf diese Behandlung
reagieren würden. Diese Einstellungen zeigten einen Zusammenhang mit dem Geschlecht: Männer, die
diese Meinungen unterstützten, nahmen weniger wahrscheinlich an Behandlungen teil. Eine zweite
Studie, durchgeführt von derselben Arbeitsgruppe an etwa 3000 Einwohnern, zeigte ähnliche Ergebnisse,
und zwar, daß negative Einstellungen die Inanspruchnahme von Behandlung einschränken bei Menschen,
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die ein hohes Risiko für eine psychische Erkrankung haben (Leaf, Bruce, Tischler et al., 1987).
Ergebnisse einer Übersichtsstudie über Erkrankungshäufigkeiten (National Comorbidity Survey; Kessler,
Berglund, Bruce et al., 2001) legen nahe, daß verschiedene Überzeugungen Menschen von Behandlungen
abhalten. Zu diesen Überzeugungen gehören die Sorge darüber, was andere denken könnten, und der
Wille, die Probleme selbst zu lösen. Schließlich waren positive Einstellungen von Familienangehörigen
mit größerer Inanspruchnahme von Behandlungsangeboten assoziiert in einer repräsentativen Stic hprobe
von über 1000 Einwohnern und einer Gruppe aus einem psychiatrischen Krankenhaus (Greenley,
Mechanic und Cleary, 1987).
Jedoch bleibt festzuhalten, daß „negative Einstellungen zu einer psychischen Erkrankung“ nicht
notwendigerweise gleichbedeutend mit Stigma sind. In einem Test dieser Annahme stellte Alvidrez
(1999) wie frühere Forscher fest, daß negative Einstellungen stark assoziiert waren mit der fehlenden
Inanspruchnahme von Behandlungsangeboten für psychisch Kranke. Weitergehende Analysen zeigten,
daß zu den negativen Einstellungen Überzeugungen zählten, die Familie würde eine psychische
Erkrankung mißbilligen oder die psychische Erkrankung sei Folge persönlicher Schwäche. Obwohl dieses
Ergebnis nahelegt, daß Furcht vor öffentlicher Ablehnung zusammenhängt mit der Vermeidung von
Behandlung, spiegeln diese Einstellungen nicht eindeutig viele der stigmatisierenden Stereotype und
Vorurteile wider, die zuvor in diesem Artikel diskutiert wurden. Hinzu kommt, daß ein spezif isches Maß
von Stigma aus der Alvidrez-Studie (beispielsweise „eine psychische Erkrankung zu haben, ist sehr
beschämend“) nicht signifikant assoziiert war mit Behandlungsteilnahme.
Eine Studie zeigte eine direkte Beziehung zwischen erwarteter Stigmatisierung und
Behandlungsteilnahme (Sirey, Bruce, Alexopoulos et al., 2001b). In dieser Studie wurde Stigma erfaßt
mit der Skala wahrgenommener Stigmatisierung (Scale of Perceived Stigma; Link, Struening, Cullen et
al., 1989), einer Skala aus 20 Punkten, die Überzeugungen über Abwertung und Diskriminierung von
Menschen mit psychischer Erkrankung erfaßt. Werte auf dieser Skala wahrgenommener Stigmatisierung
waren assoziiert damit, ob 134 Erwachsene die empfohlene antidepressive Medikation drei Monate später
einhielten.
Wahrscheinlich wird der Einfluß wahrgenommener Stigmatisierung und Teilnahme an Behandlung
modifiziert durch eine dritte Gruppe von Variablen, und zwar demographischen Faktoren. Eine Studie an
92 ambulanten Patienten mit Depression überprüfte diese Hypothese durch eine Untersuchung der
Auswirkung von Alter auf die Wahrnehmung von Stigma und die Teilnahme an Behandlung (Sirey,
Bruce, Alexopoulos et al., 2001a). Die Ergebnisse zeigten, daß jüngere Patienten (unter 65 Jahren) stärker
die Stigmatisierung von Menschen mit psychischen Erkrankungen wahrnahmen als eine
Vergleichsgruppe von über 65 Jahren. Jedoch zeigte nur die ältere Gruppe einen signifikanten
Zusammenhang zwischen wahrgenommener Stigmatisierung und Vorbehalten, an der Behandlung
teilzunehmen. In einer anderen Studie zeigte sich, daß ältere Erwachsene mit negativen Einstellungen zu
Behandlungsangeboten für psychische Erkrankungen weniger wahrscheinlich mit ihren Hausärzten über
psychische Symptome sprachen (Corrigan et al., unveröffentlichtes Manuskript).
Stigma und die Inanspruchnahme von Behandlung scheinen außerdem zusammenzuhängen mit dem
ethnischen Hintergrund der betroffenen Person. Analysen der oben erwähnten epidemiologischen Daten
zeigen beispielsweise, daß Personen mit psychischen Erkrankungen psychiatrische Behandlungsangebote
wahrscheinlicher in Anspruch nehmen wenn sie kaukasischen Ursprungs als wenn sie afroamerikanischen
oder hispanischen Ursprungs sind (Narrow et al., 2000). Es muß noch untersucht werden, welcher Anteil
dieses Ergebnisses auf öffentliche Stigmatisierung im Vergleich zu Selbststigmatisierung in ethnischen
Minderheiten zurückgeführt werden kann. Es gibt jedoch einige Belege, daß Nicht-Weiße weniger dazu
neigen zu denken, daß das Medizinsystem eine nützliche Quelle für die Behandlung psychischer
Erkrankungen ist. Dazu kommt, daß Menschen mit kürzerer Ausbildung oder geringerem Einkommen
größere Sorge um die familiäre Reaktion haben (Leaf et al., 1987).
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Schließlich scheint Stigma mit dem beruflichen Hintergrund zusammenzuhängen. Viele
Medizinstudenten sind besorgt über das Stigma, Behandlung für psychische Erkrankungen aufzusuchen
(Dickstein und Hinz, 1992), so daß nur ein Drittel derjenigen, die in klinisch relevantem Ausmaß über
psychisches Leid berichten, Behandlung in Anspruch nehmen (Ey, Henning und Shaw, 2000). Dies ist ein
besonders ernüchternder Befund, da man erwarten sollte, daß die über psychische Erkrankungen besser
Informierten Behandlungsangeboten gegenüber offener eingestellt sind. Eine weitere Studie zeigte, daß
die meisten Mitglieder der US-amerikanischen Luftwaffe der Überzeugung waren, Behandlungsangebote
für psychische Erkrankungen seien in hohem Maße stigmatisierend und wenig hilfreich (Stone, 1998). In
beiden Fällen vermuteten die Autoren, daß Druck in jeder Berufsgruppe dazu führte,
Behandlungsangebote für psychische Erkrankungen zurückzuweisen.
Implikationen für künftige Forschungen
Die genannten Forschungsergebnisse unterstützen teilweise die Verbindung zw ischen Stigma und
Inanspruchnahme von Behandlung. Wichtig ist, daß Begrenzungen einzelner Studien einige Hinweise für
künftige Untersuchungen dieses Zusammenhanges nahelegen. Erstens muß Forschung „generelle
negative Einstellungen“ durch ein klar definiertes Konstrukt von Stigma ersetzen. Wie wir oben diskutiert
haben, können negative Einstellungen eine Vielfalt von Kognitionen darstellen, die nicht spezifisch für
das Stigma psychischer Erkrankungen sind; beispielsweise könnten mögliche farbige Inanspruchnehmer
denken, das System psychiatrischer Gesundheitsversorgung sei beherrscht von Weißen, die unsensibel
gegenüber den kulturellen Bedürfnissen Farbiger seien. Zusätzlich legen „generelle negative
Einstellungen“ nahe, Stigma sei ein einheitliches Phänomen, während es in Wirklichkeit viele Facetten
hat. Künftige Studien sollten übereinstimmende Forschungsergebnisse berücksichtigen, die zeigen, daß
das Stigma psychischer Erkrankungen in vier Arten repräsentiert ist: Menschen mit psychischer
Erkrankung sind gefährlich, inkompetent, kindlich und schuldig. Zusätzlich hat sich das in diesem Artikel
vorgestellte Zwei-Faktoren-Modell von öffentlicher und Selbst-Stigmatisierung als konzeptuell und
methodisch fruchtbar erwiesen, um weitere wichtige Fragen über das Stigma psychischer Erkrankungen
zu beantworten (Corrigan, 2000; Corrigan, Edwards, Green et al., 2001; Corrigan und Penn, 1999;
Corrigan, River, Lundin et al., 2001; Corrigan und Watson, 2002). Zum Beispiel ließen sich mit dem
Zwei-Faktoren-Modell konzeptuell die Wissensstruktur im Zusammenhang mit Stigma (Stereotypen), die
nachfolgende Evaluation und emotionale Reaktion auf das Stereotyp (Vorurteil) und Verhaltensfolgen
dieses Vorurteils (Diskriminierung) unterscheiden. Künftige Forschung sollte ähnliche Modelle für die
Definition von Stigmaaspekten heranziehen.
Die Behandlungsteilnahme sollte ebenso differenziert erfaßt werden. Bisher verwendete ein Großteil der
Forschung zu Stigma und Inanspruchnahme von Behandlung nur die Berichte der Behandelten über ihre
Teilnahme an den Behandlungsangeboten. Forscher sollten zur Kenntnis nehmen, daß eigene Berichte der
Betroffenen nicht gleichbedeutend sind mit tatsächlichem Verhalten in der Behandlung, und daher Maße
verwenden, die sowohl die Quantität als auch die Qualität der Behandlungsteilnahme abbilden. Außerdem
sollte die Forschung globale Konstrukte wie „Behandlungsteilnahme“ ersetzen durch verschiedene
Aspekte, beispielsweise durch die Unterscheidung zwischen anfänglicher Aufnahme von Behandlung im
Gegensatz zum Durchhalten einer einmal begonnenen Behandlung.
Die bisherige Forschung legt nahe, daß die Beziehung zwischen Stigma und Behandlungsteilnahme
beeinflußt werden könnte durch eine dritte Gruppe von Variablen. Bis jetzt zeigte sich, daß
demographische Größen in signifikantem Zusammenhang mit Stigma und Behandlungsteilnahme stehen.
Künftige Forschung sollte diese Variablen im Rahmen eines theoretischen Modells erfassen. Worin liegt
der Zusammenhang zwischen Geschlecht oder Zugehörigkeit zu einer ethnischen Minderheit und
geringerer Inanspruchnahme von Behandlung? Auch externe Validität sollte ein wichtiges Forschungsziel
im Bereich von Stigma und Inanspruchnahme von Behandlung sein. Studienteilnehmer sollten
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repräsentativ sein für die wichtigen demographischen Charakteristika, die in diesen Modellen untersucht
werden. Schließlich muß die Richtung des Zusammenhangs zwischen Stigma und Inanspruchnahme von
Behandlung überprüft werden. Wir nehmen an, daß Angst vor Stigmatisierung Menschen dazu bringt,
Behandlungen psychischer Erkrankungen zu vermeiden, von denen sie profitieren könnten. Andererseits
könnten Menschen, die Behandlung nicht in Anspruch nehmen, ihre Entscheidung rationalisieren in Form
stigmatisierender Einstellungen. Forschungsmodelle, die die kausale Beziehung zwischen Stigma und
Inanspruchnahme von Behandlung klären, sind notwendig, um diese Frage zu beantworten.
Abbau von Stigma, um die Inanspruchnahme von Behandlung zu verbessern
Falls künftige Forschung noch eindeutiger die kausale Verbindung zwischen wahrgenommener
Stigmatisierung und Inanspruchnahme von Behandlung aufzeigt, könnten Anti-Stigma-Programme ein
wichtiger Faktor sein, um die Teilnahme an Behandlung zu fördern. Solche Programme könnten
versuchen, stigmatisierende Einstellungen so zu verändern, daß Personen, die von psychiatrischen
Behandlungen profitieren könnten, diese bereitwilliger aufnehmen und vollständig zu Ende führen. Die
bisherige Stigmaforschung gibt uns eine vorläufige Orientierung für die Form dieser Programme.
Strategien, den Einfluß von Stigma zu verringern, lassen sich unterteilen nach ihrer Relevanz für
öffentliche oder Selbststigmatisierung. Über diese Strategien soll hier ein kurzer Überblick gegeben
werden mit spezieller Betonung des Aspektes, wie Stereotypen und Vorurteile so verändert werden
können, daß mögliche Inanspruchnehmer Gesundheitsüberzeugungen annehmen, die Teilnahme an und
fortdauerndes Einhalten von psychiatrischen Behandlungen fördern.
Veränderung öffentlicher Stigmatisierung
Wir haben argumentiert, daß Menschen wegen wahrgenommener Nachteile im Zusammenhang mit
Stigma Behandlungen psychischer Erkrankungen entweder nicht aufsuchen oder nicht zu Ende führen.
Daher könnte eine umfassende Änderung öffentlicher Einstellungen zu psychischen Erkrankungen
wahrgenommene Nachteile der Teilnahme an Behandlungen verringern und das Ausmaß der Teilnahme
an solchen Behandlungen erhöhen. Die verschiedenen Ansätze zur Verringerung öffentlicher
Stigmatisierung lassen sich in drei Gruppen gliedern: Protest, Edukation und Kontakt (Corrigan und Penn,
1999). Proteststrategien betonen die Ungerechtigkeit spezifischer Stigmata und führen zu einem
moralischen Appell an Menschen, nicht mehr so zu denken: „Schande über uns für solche respektlosen
Ideen über psychische Erkrankungen!“. Ironischerweise zeigte sich, daß diese Art von
Einstellungsunterdrückung zu einem Verstärkungseffekt (Rebound) führen kann, so daß Vorurteile über
eine Gruppe unverändert bleiben oder sogar schlimmer werden (Corrigan et al., 2001; MacRae,
Bodenhausen, Milne et al., 1994). Für diesen Rebound-Effekt gibt es sowohl kognitive als auch soziale
Erklärungen. Vielleicht die einfachste ist das Konstrukt psychologischer Reaktanz: „Sag mir nicht, was
ich denken soll!“ (Brehm und Jones, 1970). Daher scheint Protest keine gangbare Strategie zu sein, um
die Stereotypen möglicher Inanspruchnehmer so zu verändern, daß sie offener gegenüber psychiatrischen
Behandlungsangeboten werden.
Edukation und Kontakt haben zu signifikanten Verbesserungen in öffentlichen Stereotypen und
Vorurteilen geführt. Forschung zu Strategien der Erwachsenenedukation konzentrierte sich meist darauf,
emotional aufgeladene Mythen über psychische Erkrankungen (z.B. „Psychisch Kranke sind hoch
gefährlich!“) zu ersetzen durch Fakten, die die Mythen korrigieren (z.B. „Im Durchschnitt sind Menschen
mit psychischen Erkrankungen nicht gefährlicher als der Rest der Bevölkerung“). Edukationsprogramme,
die auf die Behandlung psychischer Störungen bezogenes Stigma schwächen, könnten sich auf
Botschaften konzentrieren wie „Zu einem Psychiater zu gehen bedeutet nicht, daß Du schwach bist“ oder
„Es ist nichts Schlechtes an Menschen, die zu Psychotherapeuten gehen“. Forschungsergebnisse weisen
darauf hin, daß relativ kurze Edukationsprogramme zu signifikant verbesserten Einstellungen zu
Corrigan & Rüsch: Stigma und Behandlung 11
psychischen Erkrankungen führen (Corrigan und Penn, 1999). Jedoch bleibt noch zu zeigen, daß eine
Einstellungsänderung zeitlich stabil bleibt und daß verbesserte Einstellungen auch zu einer Verringerung
diskriminierenden Verhaltens führen.
Kontakt mit Menschen mit einer psychischen Erkrankung ergibt ebenso signifikante Verbesserungen von
Einstellungen zu psychischen Erkrankungen. Die Forschung zeigt, daß Mitglieder der Öffentlichkeit, die
vertrauter mit psychischen Erkrankungen sind, weniger wahrscheinlich vorurteilsbeladene Einstellungen
unterstützen (Corrigan und Penn, 1999). Darüber hinaus zeigen Mitglieder der Öffentlichkeit, die im
Rahmen eines Anti-Stigma-Programmes mit einer Person mit einer psychischen Erkrankung in Kontakt
kommen, signifikante Veränderungen ihrer Einstellungen zu psychischen Erkrankungen (Corrigan et al.,
2001; Corrigan, Rowan, Green et al., 2002). Diese Studien zeigten, daß aus Kontakt hervorgehende
Einstellungsveränderungen über die Zeit stabil bleiben und im Zusammenhang stehen mit
Verhaltensänderungen. Kontaktprogramme, in denen sich Menschen mit psychischen Erkrankungen
ähnlich zeigen wie Vertreter der Bevölkerungsmehrheit und in denen Behandlungsangebote für
psychische Erkrankungen als alltäglich dargestellt werden wie andere Formen von Krankenbehandlung,
dürften am ehesten geeignet sein, negative Überzeugungen zu reduzieren und zu einer Verbesserung des
Inanspruchnahmeverhaltens zu führen.
Veränderung von Selbststigma
Ein weiterer Grund für die Nichtinanspruchnahme von Behandlungen für psychische Erkrankungen kann
internalisiertes Selbststigma sein. Menschen mit Selbststigma stimmen mit stereotypen Aussagen überein,
die ihre Selbstwirksamkeit untergraben (Corrigan und Watson, 2002). Beispielsweise könnten Menschen
glauben, ihr Zustand sei so hoffnungslos, daß Behandlung keinen wirklichen Nutzen ergeben könne.
Deshalb sei es sinnlos, an Behandlungen teilzunehmen oder sie fortzusetzen. Es gibt nur wenige Studien,
die versucht haben, Selbststigma zu verringern. In einem Ansatz verwendeten Kingdon und Turkington
(1991) einen kognitiv-behavioralen Ansatz, um Menschen zu helfen, Stigma als normales Ereignis neu zu
bewerten. Die Interventionen wurden von den Teilnehmern geschätzt und schienen zu einer höheren
Akzeptanz ihrer Erkrankung zu führen. Leider gibt der Artikel von 1991 keinen Bericht einer
Überprüfung der Normalisierungsstrategie in einer randomisiert-kontrollierten Studie. Folgestudien
untersuchten sorgfältiger den Einfluss ähnlicher kognitiver Therapien auf psychotische Symptome,
Selbstaussagen und Inanspruchnahme von Behandlung (Beck und Rector, 2000; Gould, Mueser, Bolton et
al., 2001; Sensky, Turkington, Kingdon et al., 2000). Obwohl diese Forschungsrichtung nicht wie die
1991 von Kingdon und Turkington durchgeführte Studie den Schwerpunkt legte auf die Veränderung von
Selbststigma, scheint sich zu bestätigen, daß kognitive Neubewertung ein nützliches Werkzeug sein
könnte, um Selbststigma zu verringern. Künftige Forschung sollte diese Annahme direkt überprüfen und
untersuchen, ob diese Interventionen zu verbesserten Gesundheitsüberzeugungen und verändertem
Verhalten bezüglich Zugang zu und Durchhalten von Behandlungen führen.
Eine weitere Studie von Link und Kollegen (Link, Mirotznik und Cullen, 1991) ergab weniger
ermutigende Befunde. Diese Forscher vermuteten, daß die Auswirkungen von Selbststigmatisierung
verringert werden könnten durch Schulung der Teilnehmer in Coping-Techniken. Das Coping-Programm
fokussierte auf folgende Themen: eigene psychische Erkrankungen geheim zu halten oder mitzuteilen;
auf effektive Wege, andere über die eigenen Erfahrungen zu informieren; und auf die Vermeidung von
Situationen, in denen Zurückweisung drohen könnte. Leider ergab die Intervention keine signifikanten
Veränderungen in so wichtigen Variablen wie durch Stigma mitverursachten Problemen wie sozialer
Ängstlichkeit, Demoralisierung und Arbeitslosigkeit. Link und Kollegen argumentierten, daß die Effekte
von Stigma nicht einfach durch das Coping-Verhalten einzelner Individuen überwunden werden können,
weil Stigma durch die Kultur gefestigt wird. Mit einem Zitat von C. Wright Mills‘ Unterscheidung (1967)
Corrigan & Rüsch: Stigma und Behandlung 12
schließen sie - und wir stimmen zu - , daß Etikettierung und Stigma soziale Probleme sind, die durch
öffentliche Initiativen behoben werden müssen, und nicht individuelle Schwierigkeiten, die durch
individuelle Therapie behandelt werden müssen. Diese Untersuchungen geben eine Richtung vor für
künftige Forschung über Veränderungen von Stigma, um die Inanspruchnahme von Behandlung zu
erhöhen. Nur durch diese empirische Arbeit werden wir wissen, ob Stigma ein wichtiges Konstrukt ist,
um Menschen zu helfen, die Behandlungen vollständiger in Anspruch zu nehmen, die ihren
psychiatrischen Symptomen und Einschränkungen dienen.
Schlußfolgerungen
Die Forschung zeigt, daß viele Menschen, die ansonsten von psychiatrischen Behandlungsangeboten
profitieren könnten, an diesen nicht teilnehmen. Ein Grund könnte sein, daß sie der Meinung sind, daß
das diese Behandlungen begleitende Stigma schwerer wiege als die Besserung der Symptome. Die
bisherige Forschung hat einige Belege für diesen Zusammenhang erbracht. Jedoch muß eine klare und
wiederholte Verbindung zwischen Stigma und Inanspruchnahmeverhalten noch gezeigt werden.
Insbesondere wird diese Forschung die Komplexität des Stigmakonzeptes berücksichtigen und versuchen
müssen, die genannte Beziehung auf verschiedenen Ebenen abzubilden. Nur mit dieser Art von
Information können dann Programme entwickelt werden, die das Stigma psychischer Erkrankungen zu
verringern und die Teilnahme an Behandlungsangeboten zu steigern versuchen.
Corrigan & Rüsch: Stigma und Behandlung 13
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Anmerkung der Autoren
Dieser Artikel wurde teilweise ermöglicht durch den NIMH grant MH62198-01 zur Förderung des
Chicago Consortium for Stigma Research. Wir sind Amy Watson dankbar für hilfreiche Kommentare zu
einer früheren Version dieses Artikels und Bettina Rüsch für die sorgfältige Durchsicht der deutschen
Übersetzung.
Corrigan & Rüsch: Stigma und Behandlung 17
Abbildung 1. Zwei-Faktoren-Theorie von Stigma: Stigma-Fokus (öffentlich/selbst) und sozial-kognitive
Komponente (Stereotypen, Vorurteile, Diskriminierung)
Öffentliche Stigmatisierung (public stigma)
Stereotypen:
Negative Meinungen über eine Gruppe,
z.B. Charakterschwäche,
Inkompetenz,
Gefährlichkeit
Selbststigmatisierung (self-stigma)
Selbst-Stereotypen:
Negative Meinung über sich selbst,
z.B. Charakterschwäche,
Inkompetenz
Vorurteile:
Zustimmung zu dem Stereotyp und/oder negative
emotionale Reaktion,
z.B. Ärger,
Furcht
Selbst-Vorurteile:
Zustimmung zu dem Stereotyp und/oder negative
emotionale Reaktion
z.B. niedriger Selbstwert,
niedrige Selbstwirksamkeit
Diskriminierung:
Verhaltensreaktion auf das Vorurteil,
z.B. Benachteiligung bei Vermietung oder
Arbeitsplatzvergabe,
Vorenthalten von Hilfe
Selbst-Diskriminierung:
Verhaltensreaktion auf das Vorurteil,
z.B. Aufgabe der Suche nach Arbeit oder Wohnung