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Texte aus
der VELKD
152/2010 Februar 2010
„Woher wir kommen
– wer wir sind!“
– der Weg der evangelischen
Kirche in Ost- und
Westdeutschland von
1989 bis 2009
Dokumentation eines
Studienkurses im Theologischen
Studienseminar der VELKD
in Pullach vom 26.4. bis 1.5.2009
Inhaltsverzeichnis
VORWORT.................................................................................................................. 5
EINFÜHRUNG ............................................................................................................ 7
DAS GESICHT DER EVANGELISCHEN KIRCHE IN DEUTSCHLAND....................... 11
20 Jahre nach der „Wende“ Wahrnehmungen aus östlicher Perspektive
Wolf Krötke
Vorbemerkung....................................................................................................................................................................11
1. Ein Blick zurück: Freie Theologie – freie Kirche.............................................................................................................11
2. Der kirchliche Auftrag in fremder Hand: Die Theologischen Fakultäten .......................................................................13
3. Die „Volkskirche“ und der „Massenatheismus“.............................................................................................................15
4. Missionarische Kirche? ...................................................................................................................................................18
5. Minderheit mit Zukunft..................................................................................................................................................19
HOFFNUNGEN – BEFANGENHEITEN – KLÄRUNGEN........................................ 23
Anmerkungen zum Weg der evangelischen Kirche seit 1989
Bischof em. Dr. Hartmut Löwe
1. Die Zeit des öffentlichen Ansehens der evangelischen Kirche: Von der Öffnung der Mauer
bis zur März-Wahl der Volkskammer.............................................................................................................................23
2. Rückkehr in den Alltag, oder: Nach dem herausragenden Ansehen der evangelischen Kirche. Von der
Berufung der Gemeinsamen Kommission von EKD und BEK zum Vollzug der kirchlichen Einheit. ...........................28
3. Unbewältigte Aufgaben. Die evangelischen Kirchen in Deutschland vor bitteren Realitäten. .......................................31
„IRRITIERUNGEN AUF DEM WEG ZUR KIRCHLICHEN VEREINIGUNG“............... 35
Generalsuperintendent i.R. Martin-Michael Passauer
Vorwort...............................................................................................................................................................................35
1. Die Kirche als juristische Person und konfessioneller Interessenverband, als Körperschaft öffentlichen Rechtes...........38
2. Die Kirche als Steuerverband..........................................................................................................................................39
3. Die Kirche als Wirtschaftsunternehmen mit gewerblichen Aktivitäten..........................................................................40
4. Die Kirche als diakonisches und karitatives Werk ..........................................................................................................40
KIRCHE FÜR ANDERE – KIRCHE IM SOZIALISMUS................................................ 42
Das unabgegoltene Potential einer kontextuellen Theologie in der DDR
Dr. Michael Haspel
I.
Kirchliche und gesellschaftliche Transformationsprozesse als Thema der Ekklesiologie..........................................42
II.
„Kirche für andere – Kirche im Sozialismus” als theologische Kontextualisierung zu Beginn der siebziger Jahre...44
III. Elemente einer theologischen Konzeption einer „Kirche der Freiheit”....................................................................48
KIRCHE ZWISCHEN INSTITUTION UND ORGANISATION ANMERKUNGEN IM
KONTEXT DER GEGENWÄRTIGEN KIRCHENREFORMDEBATTEN ....................... 52
Klaus-Dieter Kaiser
1. Das Projekt „Nordkirche“...............................................................................................................................................52
2. Kirchengrenzen sind ein weltlich Ding? Oder: Kirchenorganisation zwischen pragmatischer Rationalität und
theologischer Grundlegung.............................................................................................................................................55
3. Kirche in der Pluralität von Gemeinden gestalten ..........................................................................................................57
4. Kirchen auf dem Weg.....................................................................................................................................................60
3
DIE UNTERSCHIEDE ZWISCHEN OST- UND WESTDEUTSCHEN ALS AUSDRUCK
VERSCHIEDENER KULTURELLER IDENTITÄTEN ................................................... 62
Matthias Rein
1. Einführung......................................................................................................................................................................62
2. Identität – Kultur – kulturelle Identität aus der Sicht von Soziologie und Kulturwissenschaft...........................................63
3. Kulturelle Abgrenzungen zwischen Ost und West im öffentlichen Diskurs zwischen 1990 und 2002........................65
4. Kritische Würdigung und Fazit.......................................................................................................................................69
TEXTE AUS DER VELKD .......................................................................................... 73
AKTUELLE PUBLIKATIONEN
„Wochenschluss und Sonntagsbegrüßung“ ........................................................................................... 77
„Die Visitation – Eine Studie des Theologischen Ausschusses der VELKD“ ......................................... 78
„Alle Achtung“ ...................................................................................................................................... 79
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Texte aus der VELKD Nr. 152
Vorwort
Die VELKD besitzt mit dem Theologischen Studienseminar Pullach einen wertvollen Ort der
Fortbildung und theologischen Reflexion. Dort vollziehen sich – weithin unbemerkt von der
medialen Öffentlichkeit – für die jeweiligen Kursteilnehmerinnen und -teilnehmer vertiefende
Verstehensprozesse und Zugewinn an Erfahrung, die indirekt, aber nicht weniger bedeutsam in
die kirchliche Arbeit zurückfließen.
Mit diesem Heft der „Texte aus der VELKD“ wird ein Reflexionszusammenhang dokumentiert,
der von einem Interesse ist, das deutlich über die unmittelbare Teilnehmerschaft hinausreicht.
An dem Weg der Kirche in Ost- und Westdeutschland von 1989 bis 2009 lassen sich gleichsam
potenziert Fragestellungen erkennen und verstehen, die den Weg der Kirche unter den
Bedingungen der Gegenwart überhaupt betreffen. Auch wenn das Leben der Kirche rückwärts
verstanden wird und vorwärts gelebt werden muss (vgl. S. Kierkegaard), hilft das „rückwärts
verstehen“ doch dazu, bewusster in die Zukunft zu gehen. Dem Theologischen Studienseminar
Pullach gebührt der Dank dafür, zu einem wichtigen Klärungsprozess einen bedeutsamen Beitrag geleistet zu haben.
Dr. Friedrich Hauschildt
Leiter des Amtes der VELKD
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Texte aus der VELKD Nr. 152
Einführung
20 Jahre nach dem Mauerfall unterscheiden sich Lebensstile und Weltsichten der Menschen in
Ost und West deutlich, wie aktuelle Umfragen zeigen. Es gibt Unterschiede im Blick auf die
Vergangenheit, die sich bis heute auswirken: verschiedene politische und wirtschaftliche
Systeme, andere biografische Muster, unterschiedliche Werteskalen, verschiedene Kommunikationsstrategien, verschiedene soziale Verhältnisse.
Der Studienkurs 362 im Theologischen Studienseminar der VELKD unter dem Thema „Woher
wir kommen – wer wir sind! – der Weg der evangelischen Kirche in Ost- und Westdeutschland
von 1989 bis 2009“ fragte vor diesen Hintergründen nach dem Weg der evangelischen Kirchen
in Ost und West seit 1989: Wie sind die Religions- und Kirchenkulturen in Ost und West zu
charakterisieren? Was haben ostdeutsche und westdeutsche Kirchen in die gesamtdeutsche
Kirche eingebracht? Was bestimmt den Weg der evangelischen Kirche in Deutschland seit
1989?
Hilfreiche Aufschlüsse boten dazu zwei ostdeutsche Positionspapiere zum Weg der Kirche nach
1989. Der Text „Minderheit mit Zukunft“ (epd-dokumentation 3a/1995) bedenkt die Situation
einer in DDR-Zeiten marginalisierten Kirche in einer nun pluralistischen Gesellschaft als Kirche
auf dem Markt und formuliert Überlegungen und Vorschläge zu Auftrag und Gestalt der
ostdeutschen Kirchen unter den neuen Bedingungen. Kirche ist nun ein gesellschaftspolitischer
Faktor mit größeren Gestaltungsmöglichkeiten, muss sich aber auch der Konkurrenz der
Weltanschauungen, Heilslehren und Religionen stellen. Die Leitlinien künftiger kirchlicher
Arbeit in Ostdeutschland „Kirche mit Hoffnung“ (epd-dokumentation 17/1998) stellen das
Leitbild einer Beteiligungskirche in den Mittelpunkt und skizzieren Ideen zur Präsenz von
Gemeinde in der Region, zum Miteinander von Haupt- und Ehrenamtlichen und zur
Finanzstruktur einer „Minderheits-Kirche“. Manche Überlegungen aus diesen Jahren sind
inzwischen Realität im Alltag der Kirche in Ost und West (Stichworte Regionalisierung,
Verantwortungsübertragung an Ehrenamtliche, Öffentlichkeitsorientierung, missionarische
Ausrichtung kirchlicher Arbeit). Andere Anfragen und Probleme sind in den Hintergrund
getreten (Verhältnis Christenlehre/RU, Aufbau eines unterschiedlich strukturierten
Finanzsystems, vom öffentlichen Dienst unabhängiges Dienstrecht und Gehaltsstruktur für
kirchliche Mitarbeiter). Beide Texte dokumentieren Stationen des Umbaus der evangelischen
Kirche in Ostdeutschland nach 1989 und stellen Fragen, die für die evangelischen Kirchen in
ganz Deutschland relevant sind.
Der Kurs wurde von Prof. Dr. D. Wolf Krötke und Studienleiter Dr. Matthias Rein konzipiert
und geleitet. Ein leitender Gedanke war, Menschen zu Wort kommen zu lassen, die die Zeit
des Mauerfalls und der ersten Jahre des Miteinanders der ost- und westdeutschen Kirche aus
kirchenleitender Sicht erlebt und mitgestaltet haben und die das Leben im jeweils anderen Teil
Deutschlands aus eigener Erfahrung kennen.
Prof. Dr. Wolf Krötke wirkte von 1967 bis 1973 als Pfarrer der Evangelischen Kirche der
Kirchenprovinz Sachsen, von 1973 bis 1991 als Dozent des kirchlichen Lehramtes für
systematische Theologie am Sprachenkonvikt in Berlin und von 1991 bis 2004 als Professor für
systematische Theologie an der Humboldt-Universität Berlin. In seinem Vortrag im Kurs blickt
er auf den Weg der theologischen Fakultäten und kirchlichen Hochschulen in Ostdeutschland
zur DDR-Zeit und nach der Wende. Unter den Stichworten Volkskirche, Massenatheismus,
Missionarische Kirche und Minderheit mit Zukunft geht er auf aktuelle Fragen der Kirche in
Ostdeutschland (und zugleich in Westdeutschland) ein und plädiert für die Ermutigung und
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Texte aus der VELKD Nr. 152
Befähigung aller Christen zum zeugnisfähigen Leben des Glaubens an den Orten des
Lebensvollzuges, für starke Anstrengungen zur Vermittlung eines erlebbaren Glaubens an
Kinder und Jugendliche und eine geistliche und geistige Konzentration der Kirche zur
reflektierten Verantwortung der Wahrheit des christlichen Glaubens.
Bischof i.R. Dr. Hartmut Löwe war Pfarrer in Treisbach bei Marburg (1966–1969), Leiter der
Vikarsausbildung der Bremischen Kirche (1969–1972), Jugendpfarrer und Ausbildungsreferent
in der Kirche von Kurhessen-Waldeck (1972–1980) und Präsident im Kirchenamt der EKD
(1980–1992). Von 1993 bis 1999 wirkte er als Bevollmächtigter des Rates der EKD bei der
Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Gemeinschaft und von 1994 bis 2003 als
evangelischer Militärbischof. Er beschreibt in seinem Beitrag die Debatten im Zusammenhang
mit der Zusammenführung des ostdeutschen Bundes der Evangelischen Kirchen und der
westdeutschen EKD aus der Sicht des Präsidenten des EKD-Kirchenamtes. Manche
Kontroversen aus der Zeit des Zusammengehens sind inzwischen Geschichte (Kirchensteuer,
Religionsunterricht, Militärseelsorge, Eigentumsfragen, Schwangerschaftsabbruch). Der Umgang
mit der tiefgreifenden Entkirchlichung Ostdeutschlands stellt sich bis heute als große
Herausforderung dar, wie Dr. Löwe anschaulich darlegt.
Generalsuperintendent i.R. Martin-Michael Passauer übernahm 1969 seine erste Pfarrstelle in
Berlin-Weißensee. Von 1976 bis 1984 war er Stadtjugendpfarrer für Berlin (Ost) und beteiligte
sich aktiv an der kirchlichen Friedensbewegung und in der „Offenen Arbeit“. Im Jahre 1984
übernahm Passauer eine Pfarrstelle an der Berliner Sophienkirche in Berlin-Mitte und wurde
von 1988 bis 1990 persönlicher Referent von Bischof Gottfried Forck der Evangelischen Kirche
Berlin-Brandenburg – Region Ost. 1992 übernahm Passauer das Amt des Superintendenten für
den Kirchenkreis Berlin-Stadt III (Region Mitte und Prenzlauer Berg). Von 1996 bis 2008
wirkte er als Generalsuperintendent des Sprengels Berlin der Kirche Berlin-Brandenburg.
Passauer geht in seinem Beitrag Irritationen auf dem Weg zur kirchlichen Vereinigung nach. In
den Blick kommen dabei die Stasi-Verdächtigungen gegen viele kirchliche Mitarbeiter Anfang
der 90er Jahre, die Neuregelung der rechtlichen Verfasstheit der ostdeutschen Kirche als
Körperschaft öffentlichen Rechts, die Kirchensteuer und die Übernahme vieler staatlicher
Einrichtungen aus dem Gesundheitswesen der DDR durch die Diakonie. Passauer ist dankbar
für umfassende Hilfe der westdeutschen Kirchen, fragt aber auch, ob die ostdeutschen Kirchen
manches allein besser geschafft hätten.
Akademiedirektor PD Dr. Michael Haspel ist gebürtiger Württemberger, absolvierte eine
Ausbildung zum Krankenpfleger und studierte Evangelische Theologie, Allgemeine Rhetorik
und Jura in Tübingen, Bonn und Cambridge (USA). Er hat 1995 in Marburg mit einer Arbeit zu
politischem Protestantismus und gesellschaftlicher Transformation, in der er die evangelischen
Kirchen in der DDR mit den schwarzen Kirchen in der Bürgerrechtsbewegung in den USA
verglich, promoviert und habilitierte sich 2002 zu Fragen protestantischer Sozialethik am
Beispiel der Friedensethik. Zwischenzeitlich arbeitete er als freier Dozent, Publizist und Trainer.
Von 2004 bis 2006 absolvierte er das Vikariat in der thüringischen Landeskirche und leitet seit
2006 die Evangelische Akademie Thüringen.
Die Kirchen in der DDR bestimmten das theologische Selbstverständnis und ihren Auftrag als
„Kirche für andere durch Christus befreit“, analysierten die gesellschaftliche Situation,
bemühten sich, ihre Strukturen auf Auftrag und Situation zu beziehen und hielten gegen
staatlichen Druck an ihrem Anspruch, Kirche in der Öffentlichkeit zu bleiben, fest. So gelang
ihnen eine erfolgreiche theologische Kontextualisierung, so Haspel. Er fordert analoge
Fragerichtungen und Klärungen im Blick auf aktuelle Bemühungen, die beschreiben, was eine
„Kirche der Freiheit“ im Kontext einer globalisierten, konsumorientierten pluralen Gesellschaft
ist und zu tun hat.
Akademieleiter Klaus-Dieter Kaiser stammt aus Dresden, studierte dort vier Semester
Mathematik und dann Evangelische Theologie am Sprachenkonvikt in Berlin. Er begann mit
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Texte aus der VELKD Nr. 152
dem Pfarrdienst in einer Ostberliner Stadtrandgemeinde und war von 1990 bis 1996
Generalsekretär der Evangelischen Studentengemeinden in der BRD (Sitz in Berlin). 1996 bis
2004 wirkte er als Oberkirchenrat für theologische Grundsatzfragen und ausgewählte Bereiche
der öffentlichen Verantwortung der Kirchen im Kirchenamt der EKD in Hannover. Seit 2004
leitet er die Evangelische Akademie Mecklenburg-Vorpommern in Rostock. Kaiser beleuchtet
aktuelle Fragen der Gestaltung von Kirche auf dem Hintergrund der Unterscheidung von
Institution und Organisation. Er fragt, welche Strukturen kirchlicher Arbeit und Verfasstheit
dem Wesen von Kirche entsprechen und der lebensnahen Verkündigung des Evangeliums
dienen. Damit gibt er einen aktuellen Einblick in die theologischen Debatten um den avisierten
Zusammenschluss von zwei ostdeutschen und einer westdeutschen Landeskirchen.
Rektor Dr. Matthias Rein hat in Halle/Saale von 1985 bis 1990 Evangelische Theologie
studiert, wurde dort 1994 promoviert. Er absolvierte in Halle das Vikariat und war im Zeitraum
von 1995 bis 2001 Gemeindepfarrer in einer mecklenburgischen Dorfgemeinde. Von 2001 bis
2009 arbeitete er als Studienleiter am Theologischen Studienseminar der VELKD in Pullach bei
München und leitet das Studienseminar seit dem 1.8.2009 als Rektor. Er versucht in seinem
Beitrag, die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen als Ausdruck verschiedener
kultureller Identitäten zu verstehen und von daher nachvollziehbar zu machen. Als anregend
und hilfreich erweisen sich dabei neuere Untersuchungen der Kulturanthropologie.
Der intensive Austausch im Kurs sowohl zwischen den ost- und westdeutschen
Teilnehmer/innen als auch innerhalb der beiden Gruppen über die eigene Geschichte und die
aktuellen Aufgaben kirchlichen Handelns führte zu Erträgen, die hier kurz angedeutet werden
sollen:
Die evangelischen Kirchen in Ost- und Westdeutschland unterscheiden sich im Blick auf das
Umfeld ihres Wirkens: Kirche kommt in vielen ostdeutschen Biographien nicht vor, im Westen
gehört die Mehrheit der Bevölkerung einer christlichen Kirche an. Aufgabe der Kirchen in
beiden Regionen ist, die spezifische Situation der Menschen genau wahrzunehmen und die
Evangeliumsverkündigung je konkret zu verorten. Die Kirche muss nahe bei den eigenen
Gliedern und zugleich nahe bei den Konfessionslosen sein (Beispiele: biografische Begleitung,
Seelsorge, adäquate Gemeinschaftsformen finden, Sprachfähigkeit im Blick auf Glaube und Bibel
entwickeln). Dies wird gefördert, indem Pfarrerinnen und Pfarrer phantasievoll und flexibel
arbeiten, Zeit für Beziehungsarbeit haben, den Schwerpunkt auf Angebote geistlichen Lebens
legen und Gemeinschaft als Ort lebendiger Glaubenserfahrung und Glaubensweitergabe
stärken.
Profiliert evangelisch sein, als Kirche öffentlich wirken, passende Formen von Gemeindearbeit
finden, Glauben neu buchstabieren, neue Finanzierungsformen kirchlicher Arbeit entwickeln,
Kirchenmitglied sein ohne Kirchensteuer zu zahlen(?), Kirche als Trägerin von Schulen – in den
gegenwärtigen Suchbewegungen zu diesen Themen setzen sich Debatten fort, die in Ost und
West vor 1989 wichtig waren. Viele grundlegende Positionen, die in Ost und in West vor 1989
gefunden wurden, haben auch heute orientierende Kraft. Dies zeigte der Kurs eindrücklich.
Ich danke den Referenten, die sich gerne auf das Thema einließen und engagierte und
weiterführende Beiträge vortrugen. Ich danke besonders Prof. Dr. Krötke für Rat und
Begleitung bei der Vorbereitung und Durchführung des Kurses.
Pullach, den 17.11.2009
Matthias Rein
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Texte aus der VELKD Nr. 152
Das Gesicht der evangelischen Kirche in Deutschland
20 Jahre nach der „Wende“ Wahrnehmungen aus östlicher Perspektive
Wolf Krötke
Vorbemerkung
Wie wir ein Gesicht wahrnehmen, ist immer davon abhängig, von welcher Seite wir es
anschauen, aber auch, in welchem Lichte es auf uns wirkt und vor welchem Hintergrund wir es
anschauen. Man kann ein Gesicht nicht gleichzeitig von allen Seiten und in jedem denkbaren
Lichte wahrnehmen. Wer das versucht, dem geht es nicht mehr um ein Gesicht, sondern um so
etwas wie ein abstraktes Gesamt- oder um ein bunt-konkretes Panaromabild. Beides hat sein
Recht, wenn es um die Rechenschaft darüber geht, wie sich die Evangelische Kirche in
Deutschland 20 Jahre nach der „Wende“ oder genauer: fast 20 Jahre nach der deutschen
Vereinigung, welche die kirchliche Vereinigung nach sich zog, darstellt. Wenn ich vom
„Gesicht“ der Evangelischen Kirche rede, dann geht es mir jedoch nicht um ein derartiges
allumfassendes Gesamtbild, das möglichst „objektiv“ sein soll und die Perspektive des
Betrachters – so weit das geht – auszublenden hat. Die regelmäßigen EKD-Überblicke mit den
vielen Statistiken versuchen das ja auf ihre Weise. Sie sind auch hilfreich, wenn man sich über
das vielfältige Erscheinungsbild unserer Kirche auf den vielen und verzweigten Ebenen ihres
Daseins informieren will.
Unser Gesamtthema „woher wir kommen und wohin wir gehen“ aber ruft eher danach,
das Erscheinungsbild unserer Kirche in die Perspektiven zu stellen, in denen es an konkreten
Orten, in bestimmten kirchlichen Landschaften und auch im persönlichen Erleben
wahrgenommen wurde und wird. In diesem Sinne will ich versuchen, das Gesicht der
Evangelischen Kirche in den letzten 20 Jahren, wie es sich an den Orten zeigte und zeigt, an
denen ich mich aufgehalten habe und aufhalte, ein wenig zu portraitieren. Es ist ganz klar, dass
dem andere Portraits zur Seite treten müssen. Ein Gesicht können wir – wie gesagt – immer
nur aus einem bestimmten Blickwinkel und in einem bestimmten Lichte wahrnehmen und es
ist gar nicht ausgemacht, dass die Blickwinkel, die ich habe, das wirklich charakteristische
Gesicht unserer Kirche erfassen. Alles, was ich zu unserem Thema zu sagen habe, ist darum
dringend ergänzungsbedürftig, aber in meinem Sinne für das Portraitieren des Gesichts unserer
Kirche auch dringend berücksichtigungsbedürftig.
1. Ein Blick zurück: Freie Theologie – freie Kirche
Ich beginne mit einer Perspektive, die bei den Rückblicken dieses Jahres eher nicht oder nur
marginal vorzukommen pflegt, tatsächlich aber von eminenter Bedeutung für den 40-jährigen
Weg der evangelischen Kirchen in der DDR und danach war. Das ist die Perspektive eines
wissenschaftlichen Theologen aus dem Osten Deutschlands. Ich war in der DDR-Zeit ein
solcher Theologe; allerdings im Raum der Kirche. Denn die Evangelischen Kirchen sahen sich in
dieser Zeit genötigt, nicht weniger als drei Kirchliche Hochschulen zu errichten. Diese Nötigung
entstand, weil die sechs Theologischen Fakultäten, die 1970 zu „Sektionen“ wurden, an der
sozialistischen Universität einerseits nicht alle aufnahmen, die Theologie studieren wollten. Das
waren in der Anfangszeit der DDR z.B. solche Bewerber, die einige Semester an einer
westlichen Hochschule studiert hatten. Hinzu gesellten sich Wehrdienstverweigerer und
Bausoldaten, politisch oder wegen ihrer Herkunft missliebige, ältere Bewerber, die schon etwas
anderes studiert hatten, und eine zeitlang die Absolventen kirchlicher Proseminare, an denen
Kinder, die nicht zur Oberschule zugelassen wurden, ein vom Staat nicht anerkanntes
kirchliches Abitur ablegen konnten. Andererseits boten die allein unter staatlichen Direktiven
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Texte aus der VELKD Nr. 152
stehenden Fakultäten bzw. Sektionen nicht mehr die Gewähr, bei der Ausbildung genuin auf
den Auftrag der Kirche bezogen zu sein und ein wirklich freies wissenschaftliches Studium zu
gewährleisten.
Die Kirchlichen Hochschulen haben demgegenüber Standards sowohl im Hinblick auf die
kirchliche Funktion wie auf die freie wissenschaftliche Verantwortung der Grundlagen und des
Wesens christlichen Glaubens bzw. der kirchlichen Praxis gesetzt, die auch auf die Fakultäten
zurückwirkten. Es konnte dort nicht mehr alles gemacht werden, was Partei und Regierung mit
den Fakultäten/Sektionen vorhatten, wenn sich die dort stattfindende Theologenausbildung
nicht als untauglich für die Kirche erweisen sollte. Denn diese Theologenausbildung stand vom
Anfang bis zum Ende der DDR unter einer klaren Direktive von Partei und Regierung. Sie sollte
für die Zukunft eine staatstreue Pfarrerschaft heranbilden. Nur weil das die Absicht war, sind
Pläne zur Ausgliederung der Theologischen Fakultät aus der sozialistischen Universität immer
wieder verworfen worden.
Was man sich unter solcher Pfarrerschaft vorzustellen hat, ist in einem Perspektivplan des
Staatsekretariats für das Hoch- und Fachschulwesen 10.4.1958 richtungsweisend festgehalten.
Als Erziehungsziel wird das Bild eines „neuen Typs von Pfarrern“ bezeichnet. Pfarrer dieses
Typs seien solche, „die in der DDR ihr Vaterland sehen, die den Friedenskampf und den Aufbau
des Sozialismus in Worten und Taten unterstützen, die aus ihrem christlichen Glauben keine
reaktionäre Philosophie und keine antikommunistischen Thesen ableiten, sondern erkennen,
dass die von ihrer ‚Heiligen Schrift’ geforderte Nächstenliebe am besten im sozialistischen
Humanismus konkretisiert und in der sozialistischen Gesellschaft verwirklicht wird; Pfarrer, die
daher weitgehend den proletarischen Klassenstandpunkt einnehmen, die ökonomischen und
politischen Ziele der SED bejahen und mit ihren Kräften unter den Christen für diese Ziele
wirken; Pfarrer, die das religiöse Opium denjenigen reichen, die seiner noch bedürfen, aber
nicht mehr Starke durch dieses Opium zu schwächen versuchen“1.
An der Berliner Sektion Theologie, an der dieses Erziehungsziel besonders konsequent zu
verwirklichen getrachtet wurde, sind die Grundzüge dieses Bildes eines neuen Typs von
Pfarrern in das berüchtigte „Absolventenbild“ eingegangen, das 1970 die ideologische
Grundlage der Umwandlung der Fakultät in eine von einem staatlichen Einzelleiter geführte
Sektion Theologie wurde. Es klingt in seinem ersten Teil wie die Anweisung für einen FDJFunktionär und in seinem zweiten wie die Karikatur eines Pfarrers.2 Dieses „Absolventenbild“
ist nach ernsten Protesten aus dem Raum der Kirche heraus zwar öffentlich nicht mehr
1 BArch, DR-3, 5595.
2 Es heißt dort: „Der Absolvent der Sektion Theologie fühlt sich mit der sozialistischen Staats- und
Gesellschaftsordnung, der ersten wahrhaft menschlichen Gesellschaftsordnung in der Geschichte, fest verbunden.
[...] Er hat erkannt, dass der Imperialismus der erwiesene Feind von Frieden und gesellschaftlichem Fortschritt in
unserer Epoche ist. Er hat aus der Geschichte gelernt, dass sich nur die Arbeiterklasse konsequent für Frieden und
gesellschaftlichen Fortschritt eingesetzt hat und einsetzt. Von daher ist ihm klar, dass der Sozialismus nur dort
verwirklicht wird, wo die Arbeiterklasse im festen Bündnis mit allen Werktätigen durch ihre marxistischleninistische Partei die Gesellschaft führt. [...] Er studiert nach Abschluß seiner Hochschulausbildung intensiv die
wissenschaftlichen Erkenntnisse des Marxismus-Leninismus von der Gesetzmäßigkeit der gesellschaftlichen
Entwicklung, um sich einen begründeten parteilichen Standpunkt in der Klassenauseinandersetzung zwischen
Sozialismus und Imperialismus ständig neu erarbeiten zu können. Dies befähigt ihn, seinen Gemeindegliedern [...]
auf ihrem Wege in der sozialistischen Menschengemeinschaft zu helfen und dem Mißbrauch von Kirche und
Theologie durch die imperialistische Globalstrategie, insbesondere der Verbreitung antikommunistischer Parolen
und konvergenztheoretischer Spekulationen wirksam entgegenzutreten. Im gesellschaftlichen Engagement für den
Sozialismus wird er seiner Gemeinde ein Beispiel geben.“ Es folgt dann eine Aufzählung von Kenntnissen und
Fertigkeiten, die im engeren Sinne zur Theologie und Gemeindearbeit gehören. Das Alles ist freilich zurück
bezogen auf die ersten Aussagen und gipfelt in dem schönen Satz: „Vor innerkirchlichen Anfeindungen, die ihn
deshalb treffen könnten, schreckt er nicht zurück“ (Zur Geschichte der Theologischen Fakultät Berlin,
Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität 7, 1985, 609f.)!
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Texte aus der VELKD Nr. 152
verbreitet worden, war aber in Geltung und wurde noch im Herbst 1989 vom Direktor für
Erziehung und Ausbildung Studienbewerbern zur Unterschrift vorgelegt.
Es ist in praxi dann nicht alles so heiß gegessen worden, wie es hier gekocht wurde. Aber es ist
ganz unzweifelhaft, dass das Gesicht der evangelischen Kirche bei der Wende völlig anders
ausgesehen hätte, wenn die Pfarrerschaft aus jenem „neuen Typ“ bestanden hätte. Neben
wahrheitsbewussten Hochschullehrern an den Universitäten ist es den Kirchlichen
Hochschulen zu danken, dass es nicht dazu gekommen ist. Sie haben, obwohl sie keine
Hochschulrechte hatten und die Organe des Staates bis Mitte der 80er Jahre unablässig Pläne
geschmiedet haben, wie ihnen das Lebenslicht auszublasen sei, unter sehr schwierigen
Bedingungen für die geistige Freiheit in dieser Kirche gesorgt. Auch das offiziöse Konzept einer
„Kirche im Sozialismus“, welches die Kirche in der sozialistischen Gesellschaft beheimaten
sollte, hat niemals den freien Spielraum eigenständiger Urteilsbildung in theologischen und
gesellschaftlichen Fragen eingeschränkt, der von der Ausbildung an das Gesicht der Kirche in
der Breite prägte. Nur so ist es überhaupt erklärlich, dass die evangelische Kirche eine
eigenständige, freie geistige Kraft in dieser monistischen Gesellschaft blieb. Nur so ist es auch
erklärlich, dass diese Kirche, deren Pfarrerinnen und Pfarrer weitaus überwiegend in der DDR
ausgebildet wurden, 1989 zum Zentrum des freien Dialogs und zum Konzentrationspunkt des
gesellschaftlichen Wandels werden konnte.
2. Der kirchliche Auftrag in fremder Hand: Die Theologischen Fakultäten
Knapp anderthalb Jahre nach dem Herbst 1989 war im Amtsblatt der Evangelischen Kirche von
Berlin-Brandenburg in dürren Worten und ohne Kommentar zu lesen, ich sei aus dem Dienst
der Evangelischen Kirche „entlassen“ worden. Viele Freundinnen und Freunde, die seit dem
Studium, im Studentenpfarramt in Halle/Saale und am Sprachenkonvikt mit mir in der Kirche
unterwegs gewesen sind, waren regelrecht entsetzt, als sie das lasen. Für sie gehörten –
fokussiert in meiner Person – „kirchlicher Dienst“ und freie, wissenschaftlich-theologische
Ausbildung zusammen. Im Geiste galt das natürlich auch für die Kirchen weiter, die sich die
Strukturen und die Gesetzlichkeit der Kirchen des Westens Deutschlands zu eigen gemacht
hatten. In der Realität aber galt es nicht mehr. Alle drei Kirchlichen Hochschulen in der DDR
wurden sofort und im Eiltempo aufgelöst.
Im Grunde kann man sagen: das Ganze in der DDR gewachsene Ausbildungswesen der Kirche
wurde beendet. Die Predigerschulen wie das Berliner „Paulinum“, an dem auf dem zweiten
Bildungswege in der Weise einer Fachhochschulausbildung Theologie studiert werden konnte,
wurden geschlossen. Die Institutionen der katechetischen Ausbildung wurden drastisch
minimiert und dem religionspädagogischen Ausbildungstyp, der auf die Schule konzentriert ist,
angeglichen. Die kirchliche „Christenlehre“, die es in unterschiedlicher Intensität noch in nicht
wenigen Gemeinden gibt, trägt die Zukunft des Berufsstandes der Katechetin und des
Katecheten nicht mehr. Die theologische Ausbildung aber hat der Staat an den Theologischen
Fakultäten der Universitäten übernommen. Ich wurde mit dem Wechsel an die Universität ein
vereidigter Staatsbeamter.
Warum die Kirchlichen Hochschulen aufgegeben wurden, ist klar. Sie waren nicht mehr
zu finanzieren. Das hat auch zwei westliche Kirchliche Hochschulen betroffen: Die Kirchlichen
Hochschulen in Berlin-Zehlendorf und in Bethel. Letztere ist jetzt mit der Kirchlichen
Hochschule in Wuppertal fusioniert. Davon zu erzählen, wie sich die Auflösung der östlichen
Kirchlichen Hochschulen damals abgespielt hat und was das für viele verdiente Lehrerinnen
und Lehrer der Kirche bedeutete, die es nicht schafften, an die Universität zu kommen, würde
hier zu weit führen. Das Ende des Berliner Sprachenkonvikts, des DDR-Ortes meiner
theologischen Existenz, ist allerdings insofern erwähnenswert, als das Kollegium hier noch zu
Zeiten der ersten frei gewählten DDR-Regierung im Zusammenklang mit der Kirchenleitung
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Texte aus der VELKD Nr. 152
selbst die Initiative ergriffen und die Fusion der ganzen Hochschule mit der Theologischen
Fakultät der Humboldt-Universität in die Wege geleitet hat. Die kirchliche Ausbildung ging in
der staatlichen Ausbildung auf. Die Kirche war eine ihrer ureigensten, aber auch teuersten
Verpflichtungen los, nämlich selbst für den theologischen Nachwuchs zu sorgen. Was mich
damals gewundert hat und zeitweise heute auch noch verwundert, war, dass dieser Vorgang
eigentlich auf allen kirchlichen Ebenen quasi als etwas Selbstverständliches angesehen wurde
und jedenfalls von keinem irgendwie breiterem Murren begleitet war. Denn die Theologischen
Fakultäten gehören ja wie der Religionsunterricht, wie der staatliche Kirchsteuereinzug, die
Militärseelsorge und manche andere staatliche Unterstützungen der Kirche im Bereich der
Diakonie und der Kulturpflege zu den Staat-Kirche-Kooperationen in der Bundesrepublik, mit
denen sich viele in den Kirchen der neuen Bundesländer schwer getan haben und noch immer
schwer tun. Von den Problemen mit der Militärseesorge werden wir noch hören. Aber auch der
Religionsunterricht ist 20 Jahre nach der Wende noch längst nicht im Bewusstsein der
Gemeinden angekommen. Die Unwilligkeit, sich für sein Gedeihen einzusetzen, ist aus Anlass
des Berliner Volksbegehrens für den Religionsunterricht als Wahlpflichtfach in einer so nicht
erwarteten Breite in den Ostberliner Gemeinden zu Tage getreten. Dieser Unterricht sei Sache
der Kirche und nicht des Staates, konnte man hier hören. Er verletze das Prinzip der Trennung
von Staat und Kirche. Eine Kirche, die sich Kampagnen für dererlei Verbandelungen von Staat
und Kirche zu eigen mache, sei überhaupt nicht mehr die Kirche, in der man sich zu DDRZeiten zu Hause gefühlt habe.
Genau genommen müsste dies alles auch gegen die Theologischen Fakultäten
eingewendet werden, wird es in merkwürdiger Inkonsequenz aber nicht. Wenn die
Theologischen Fakultäten in Frage gestellt werden, dann geschieht das heute in der Universität
von seiten der anderen Wissenschaften bzw. Wissenschaftler und außerhalb der Universität von
politischer Seite. In Zeiten der Sparzwänge hat sich das so ausgewirkt, dass das
Ausbildungspotenzial der Theologischen Fakultäten durch Sach- und Personaleinsparungen in
den letzten 20 Jahren kontinuierlich und drastisch reduziert wurde. Die Erwartung, dass der
Staat die Theologischen Fakultäten hegen und pflegen würde, ist heute reiner Illusionismus. Die
Kirchen haben, wie es z.B. in Berlin der Fall ist, Mühe, dem Staat in Staatskirchenverträgen
gerade einmal ein Minimum der Ausstattung der Theologischen Fakultäten mit Professuren und
Stellen für den wissenschaftlichen Nachwuchs abzuhandeln. Auf einem diese Fakultäten
tragenden gesellschaftlichen Konsensus können sie sich durchaus nicht mehr ausruhen.
Auf der anderen Seite habe ich als Beamter eines demokratischen Staatswesens aber
auch eine Erfahrung gemacht, die mich das spezifische ostdeutsche und da und dort auch
westdeutsche Ressentiment gegen das Übernehmen kirchlicher Aufgaben durch den Staat nicht
teilen lässt. Dieses Ressentiment nährt sich ja aus der Befürchtung, die Kirche würde sich
dadurch von der Macht oder von Machtinteressen des Staates abhängig machen. Mehr oder
weniger schimmert dort, wo es lebendig ist, auch das Ideal einer Freikirche durch, die allein aus
den Möglichkeiten und damit auch aus den Mitteln lebt, die ihr das Evangelium und der
Glaube durch die Existenz der Gemeinden erschließen. Dieses Kirchenideal war in der DDR
durchaus verbreitet, obwohl die Kirchen auch hier Staatszahlungen und erhebliche
Unterstützung aus dem Westen erhalten haben. Außerdem darf nicht vergessen werden, dass
die sog. Trennung von Staat und Kirche, die keinen Rechtsrahmen für die Beziehungen von
Staat und Kirche hatte, gerade den diktatorischen Staat nicht gehindert hat, zu versuchen,
kräftig in die Kirche hinein zu regieren. Die mehr oder weniger grauen Kooperationen mit
Teilen der Kirche, die dabei entstanden, sind uns nach der Wende kräftig genug auf die Füße
gefallen und haben den guten Ruf, den sich die Kirche bei der „friedlichen Revolution“
erworben hat, ziemlich beschädigt.
Die Rechtsstellung, welche eine Theologische Fakultät in unserer Demokratie hat, aber
gewährleistet eines vollständig. Das ist die Freiheit des Lehrens und Forschens im kirchlichen
14
Texte aus der VELKD Nr. 152
Interesse. Sie wird auch dadurch nicht aufgehoben, dass den Fakultäten im Zuge des sog.
Bolognaprozesses verschulte Studiengänge aufgedrängt wurden, die nicht für das Pfarramt
qualifizieren. In die Inhalte der Lehre aber hat mir an der Universität nie jemand hinein geredet.
Ich habe – wenn auch auf einem Niveau der „Ausstattung“, von dem wir in der DDR nicht
einmal zu träumen gewagt hatten – genauso weiter gemacht, wie am Sprachenkonvikt. Wenn
der Staat bei seinen Kooperationen mit der Kirche diese Freiheit garantiert, dann ist m.E. nichts
dagegen einzuwenden, dass Kirche die Möglichkeiten nutzt, die er ihr einräumt. Sie kann die
ererbte Struktur einer über das ganze Land verbreiteten Institution auch sonst überhaupt nur
aufrechterhalten, indem sie derartige Möglichkeiten nicht nur im Hinblick auf die theologische
Ausbildung in Anspruch nimmt. Gefährdet wird ihre Freiheit nur dann, wenn sich z.B. die
Theologie selbst in die Abhängigkeit etwa von wissenschaftlichen, aber auch gesellschaftlichen
Interessen begibt, welche ihre Bezogenheit auf den Auftrag der Kirche ruiniert.
Doch selbst, wenn diese Bezogenheit und sogar Verbundenheit da ist, wird immer
wieder auch spürbar, dass man sich in der Universität an einem Ort außerhalb der Kirche
befindet, an dem einem die Institution Kirche auch mit einem befremdlichen Gesicht begegnet.
Dass z.B. die Generation der Studierenden, die wir vom Sprachenkonvikt mit an die
Theologische Fakultät genommen haben, im Zuge des Stellenkürzungsprozesses beinahe
gänzlich nicht in den Vorbereitungsdienst übernommen wurde, war bitter. Es bleibt bitter,
wenn ihnen heute erklärt wird, unterdessen seien sie zu alt. Hier hat diese Kirche ein
phantasieloses, bürokratisches Gesicht gezeigt, das wir so in der DDR nicht kannten. Man
schickt Menschen an einen Ort, an den sie eigentlich nicht wollten und lässt sie dann fallen.
Ein ganzes Potenzial an theologischer Kompetenz und existenziell verwurzelter Bereitschaft, in
den Dienst der Kirche zu treten, ist so nicht nur im Osten, sondern in ganz Deutschland
verloren gegangen.
An der Universität aber hat man mit Recht gefragt, ob es sinnvoll ist, der Kirche die
Ausbildungsarbeit abzunehmen, wenn die Ausgebildeten ohne Berufschancen in der Kirche
sind. Natürlich hat sich das auch bei den Interessenten für das Theologiestudium herum
gesprochen. Die Bewerberzahlen gingen durch kirchliches Verschulden erheblich zurück.
Unterdessen aber wird angesichts eines in Zukunft zu erwarteten Personalloches mit
Hochglanzbroschüren wieder Werbung für dieses Studium gemacht. Diese nicht gerade mit
Weitblick gesegnete Zukunftsgestaltung der Institution Kirche aber ist nur ein Indiz für eine
gewisse Hilflosigkeit angesichts einer viel weiter reichenden Problematik, vor der vor allem die
Kirchen im Osten Deutschlands stehen.
3. Die „Volkskirche“ und der „Massenatheismus“
Der Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR hat sich mit Dietrich Bonhoeffers Wort
programmatisch eine „Kirche für Andere“ genannt. Doch das hat für das strukturelle
Erscheinungsbild der in diesem Bund vereinigten Kirchen eigentlich gar keine Konsequenzen
gehabt – schon gar nicht die, welche Dietrich Bonhoeffer vorschwebten. Niemand hat ernstlich
erwogen, allen Besitz der Kirche an die Armen zu verschenken, allein von den „freiwilligen
Gaben“ der Gemeinde zu leben und den Pfarrberuf in der Freizeit anzusiedeln, die neben
einem weltlichen Beruf bleibt. Diese Formel wurde – wie übrigens auch im sog. EKDImpulspapier von 2006 „Kirche der Freiheit“– im abgeschwächten Sinne einer Richtungsangabe
des Daseins der Kirche für die Menschen in dieser Gesellschaft verwendet. Das war für die
DDR-Gewaltigen provozierend genug. Denn es bedeutete: kirchliche Einmischung in die
gesellschaftlichen Verhältnisse. Es wurde aber in der DDR kein neues Kirchenmodell gegenüber
der ererbten Gestalt der Landeskirchen und des Parochialprinzips entwickelt. Die Kirche blieb
eine über das ganze Land verbreitete Institution. Ja, sie blieb sogar eine „Volkskirche“, obwohl
15
Texte aus der VELKD Nr. 152
deren Ende vom Cottbusser Generalsuperintendenten Günther Jacob in den sechziger Jahren in
Orwellscher Prophetie für das Jahr 1984 prognostiziert worden war.
Jacob hatte damit, was den Vollsinn des Begriffs „Volkskirche“ betrifft, sicherlich nicht einfach
Unrecht. Eine „Volkskirche“, der noch nicht einmal ein Viertel des Volkes angehört, verdient
diesen Namen im Grunde nicht. Das institutionelle Gerüst der kirchlichen Präsenz bei allem
Volk klapperte darum gewaltig und tut das bis heute. Nicht Recht hatte er dagegen in einer
anderen Hinsicht. Für die Kirchen in der DDR blieb auch auf dem dramatisch zusammen
geschrumpftem Niveau der Zahl ihrer Mitglieder ein Wesensmerkmal der Volkskirche
charakteristisch, nämlich ein kleiner engagierter Kern und darum herum die Meisten, die nur
locker, unverbindlich und passiv dazu gehörten. Die manchmal geäußerte Vermutung, unter
DDR-Bedingungen würde die Kirche mit den wahrhaft Glaubenden und Bekennenden identisch
sein, traf und trifft nicht zu. Die Kirche hat sich nicht „gesund geschrumpft“.
Zwar erforderte es zur DDR-Zeit durchaus ein gewisses Maß an Zivilcourage, auch in lockerer
Weise der Kirche anzugehören. Kirchenzugehörigkeit konnte auch bei geringer Anteilnahme
am Leben der Gemeinden heißen, auf Lebenschancen und das Nutzen von Begabungen zu
verzichten und vielen unberechenbaren Benachteiligungen und Schikanen des ideologisierten
Machtstaates ausgesetzt zu sein. Dass die Courage, dennoch Glied der Kirche zu bleiben, sich
aber bei Allen aus einem lebendigen Glauben im eigentlichen Sinne speiste, wird man nicht
sagen können. Es waren auch hier Gründe der Gewohnheit, der Tradition, der Kultur im Spiele,
die den Menschen aber immerhin so wertvoll waren, dass sie jene Courage aufbrachten. Im
Ganzen aber zeigte sich und zeigt sich bis heute, dass in Hinblick auf die Teilnahme der
Kirchenmitglieder am Gottesdienst, am Leben der Gemeinde und am Engagement für die
Kirche prozentual betrachtet ungefähr die gleichen Verhältnisse anzutreffen sind, wie im
übrigen Deutschland auch.
Die Vergleichbarkeit der Kirchen in Ost und West war außerdem durch die rechtliche
Verfassung der Kirchen in der DDR gegeben. Sie trug die Merkmale einer Körperschaft des
öffentlichen Rechts wie das Erheben von Kirchensteuern, das Beamtenrecht oder die eigene
Gerichtsbarkeit. Deshalb passte bei der rechtlichen Vereinigung der Kirchen von Ost und West
strukturell auch Vieles zusammen. Die Idee einer völlig anders verfassten „Ostkirche“ erwies
sich dagegen angesichts der Evidenz der aus der Weimarer Zeit durchgehaltenen
Kirchenverfassung als nicht tragfähig. Zwar wäre damals durchaus die Chance gewesen, einiges
anders zu regeln, als es dann geschah, wie z.B. die Angleichung der Pfarrgehälter an die
Beamtenbesoldung der Bundesrepublik und die nur zu beklagende geringe Veranschlagung der
Bedeutung der „Christenlehre“ gegenüber dem Religionsunterricht. Aber 1990 war bei der
rechtlichen Vereinigung der Kirchen von West und Ost zweifellos die Erwartung im Spiele, dass
sich die Menschen nach dem Zusammenbruch einer vierzigjährigen atheistischen
Weltanschauungsdiktatur wieder den Kirchen zuwenden und ihr eine starke Basis geben
würden.
Doch diese Erwartung trog. Der Osten Deutschlands ist ein religiös dürres Land geworden.
Selbst Sekten fassen hier keinen Fuß, wie anfänglich befürchtet. Während sich die sogenannten
„Errungenschaften des Sozialismus“ im Eiltempo verflüchtigt haben, ist eine besondere Art von
Atheismus des überwiegenden Teils der Bevölkerung seine gewissermaßen erfolgreichste
Hinterlassenheit. Er hat ein gesellschaftliches Klima geschaffen, in dem das Leben ohne die
Kirche und ohne den Glauben zur Selbstverständlichkeit geworden ist. Der größte Teil der
Bevölkerung hat sich auf die Dauer an das Leben ohne den Glauben an Gott und damit ohne
die christliche Kirche einfach gewöhnt. In Ostberlin gehören 10 % der Bevölkerung der
evangelischen Kirche an; in manchen Stadtteilen sind es so gar unter 5 %.
Diese Gewöhnung hat im geistigen Haushalt der Menschen zu einem tief greifenden
Traditionsabbruch der christlichen Überlieferungen und Lebensorientierungen und zur
Entfremdung von den kulturellen Prägungen der Gesellschaft durch das Christentum geführt.
16
Texte aus der VELKD Nr. 152
Christlicher Glaube oder christliche Frömmigkeit kommen in den Familien nicht mehr vor.
Schon die Großeltern, vielleicht sogar die Urgroßeltern, waren nicht in der Kirche; die
Nachbarn, Freunde und Arbeitskollegen sind es auch nicht. So ist ein hartwandiges
gesellschaftliches Milieu entstanden, das Alles, was ausdrücklich mit „Religion“ zu tun hat, von
sich abweist. Dieses Milieu regeneriert sich über den Umbruch der Gesellschaft vor 20 Jahren
hinweg beständig selbst. Unterstützt wird das bei der heranwachsenden Generation heute in
nicht geringem Maße durch die Lehrerinnen und Lehrer an den Schulen, von denen die große
Mehrheit nach der „Wende“ weitermachen konnte. Sie sind aus alter Gewohnheit
selbstverständlich Trägerinnen und Träger atheistischer Überzeugungen. Das Urteil z.B., dass
Religion „unwissenschaftlich“ sei und einer vergangenen Zeit angehöre, findet hier immer neue
Belebung. Lehrer und Eltern sind weitaus überwiegend der Meinung, dass „Religion“ nicht an
die Schule gehört.
Es wäre jedoch verkehrt, angesichts des Widerstandes, der sich hier gegen die Bildungsaufgabe
der Kirchen im öffentlichen Raum zeigt, die Glaubensferne der konfessionslosen Bevölkerung
mit einer kämpferischen Wendung gegen den Glauben gleichzusetzen. So etwas gibt es auch,
z.B. bei einigen alten SED-Kadern in der Linkspartei und im „humanistischen Verband“. Vom
Freiheits- und Emanzipationspathos des europäischen Atheismus ist der Gewohnheitsatheismus
als Massenerscheinung, von dem wir hier reden, jedoch ziemlich weit entfernt. Dergleichen
treffen wir heute eher weiter westlich an, wie z.B. jetzt gerade bei den sogenannten „neuen
Atheisten“ oder „brights“, welche über die Verderblichkeit von Religion und Gottesglaube
aufklären wollen. Die atheistische Konfessionslosigkeit im Osten Deutschlands aber hat im
Ganzen keine Aufklärungsinteressen. Sie zeichnet sich vielmehr durch eine gänzliche
Gleichgültigkeit gegenüber dem Gottesglauben aus. Die Menschen machen sich nicht mehr die
Mühe, an die Frage der Widerlegung des Gottesglaubens oder die Begründung des Atheismus
noch irgendwelchen Schweiß zu verschwenden. Für sie ist der Glaube an Gott unter die
Schwelle der Konfliktfähigkeit gesunken. Charakteristisch ist die Äußerung von Jugendlichen
bei einer Befragung auf dem Leipziger Hauptbahnhof. Auf die Frage, ob sie sich „eher christlich
oder eher atheistisch“ verstehen, haben sie geantwortet: „Weder noch, normal halt“.3
Angesichts dessen kann in den neuen Bundesländern schwerlich von einer „Wiederkehr der
Religion“ die Rede sein. Jenes Impulspapier setzt darauf ja ziemliche Hoffnungen. Gleich zu
Beginn heißt es: „Die gesellschaftliche Situation ist günstig“.4 „Es wird neu nach Gott gefragt.
Religiöse Themen ziehen hohe Aufmerksamkeit auf sich. [...] Eine in den zurückliegenden
Jahrzehnten verbreitete Gleichgültigkeit gegenüber den im christlichen Glauben gegebenen
Grundlagen des persönlichen wie des gemeinsamen Lebens weicht (!) einem neuen Interesse
für tragfähige Grundeinstellungen und verlässliche Orientierungen“. In einer Münchener
Dogmatik können wir sogar lesen, der „Gewohnheitsatheismus“ komme nur noch in
„Rudimenten“ vor. Das ist für den Osten Deutschland schlicht falsch und befördert einen
religiösen Illusionismus, der sich um das massenhafte atheistische Umfeld der Kirche kaum
schert. In „Kirche der Freiheit“ kommt noch nicht einmal das Wort „Atheismus“ vor.
Ich dagegen scheue mich nicht, zu sagen, dass die geschilderte Art von Gottesgleichgültigkeit
die Herausforderung schlechthin für eine Kirche ist, die sich entschieden hat, in der
überkommenden Struktur und Organisationsform mit allen Äußerlichkeiten, die daran hängen,
Kirche für das ganze Land, für die Menschen an allen Orten und nicht nur für einen
bestimmten Personenkreis zu sein. Was ist nötig, um die Nebelwand des atheistischen Milieus,
die schwerlich „religiös“ grundiert ist, zu lichten?
3
Vgl. Monika Wohlrab-Sahr, Religionslosigkeit als Thema der Religionssoziologie, Pastoraltheologie 90 (2000),
152.
4
Kirche der Freiheit. Perspektiven für die Evangelische Kirche im 21. Jahrhundert. Ein Impulspapier der EKD,
Hannover 2006, 14.
17
Texte aus der VELKD Nr. 152
4. Missionarische Kirche?
Summa summarum muss für die vergangenen 20 Jahre gelten, dass sich die Kirchen und
Gemeinden im Osten Deutschlands – alle leuchtenden Ausnahmen sofort zugegeben! – mehr
mit sich selbst als mit der Frage beschäftigt haben, wie den nichtglaubenden Menschen
außerhalb der Kirche der Glaube nahe zu bringen ist. In gewisser Weise war das auch
unvermeidlich. Gegenüber den kirchlichen DDR-Verhältnissen mussten Strukturen und
Organisationsformen der Dienste der Kirche gefunden werden, die bezahlbar waren. Das
Personal aller hauptamtlichen Dienste wurde, wie wir uns schon am Geschick des
theologischen Nachwuchses in jenen Jahren klar gemacht haben, deshalb drastisch reduziert.
Ganze Arbeitsbereiche wurden eingestellt oder erheblich gekappt, ohne dass dadurch finanzielle
Selbstständigkeit erreicht wurde. Der überaus dankenswerte sog. „Finanzausgleich“ durch die
westlichen Kirchen bleibt unentbehrlich, obwohl die Spendenbereitschaft in den Gemeinden
beachtlich ist, das Kirchgeld neben der Kirchensteuer eine wichtige Einnahmequelle bildet und mit
der Gründung von Vereinen nicht nur zur Kirchgebäudeerhaltung, sondern auch zur Förderung von
Gemeinden neue Finanzierungsmöglichkeiten erschlossen werden.
Es macht sich bei alledem leider immer noch bemerkbar, dass sozial starke Schichten in den
Kirchen der neuen Bundesländer unterrepräsentiert sind. Denn eine ganze Palette von Berufen
in Politik, Justiz, Wirtschaft, Wissenschaft und Ausbildung (um von Militär und Polizei zu
schweigen) konnte von Christinnen und Christen in der DDR nicht wahrgenommen werden.
Kinder christlicher Eltern kamen nur vereinzelt in den Genuss, die Oberschule besuchen zu
können. Im Bildungssystem selbst waren nur sehr wenige Glieder der Kirche tätig. In der
Wirtschaft, jedenfalls auf den höheren Ebenen, hatten sie keine Chance zum Aufstieg. Das
dadurch geschaffene soziale Erscheinungsbild der Kirchenmitgliedschaft ändert sich durch
Zuzug und die Wahrnahme beruflicher Chancen durch Christinnen und Christen da und dort –
vor allem in den Städten – zwar langsam. Dieser Zuzug kommt dort, wo er bemerkbar ist, auch
auf erfreuliche Weise dem Leben der Gemeinde zugute. Ihm steht auf der anderen Seite neben
den negativen Effekten der demographischen Entwicklung in ganz Deutschland aber die
anhaltende Abwanderung von jungen und leistungsfähigen Menschen in Richtung Westen
entgegen, unter denen die Gemeinden nicht nur in den wirtschaftlich schwächsten Regionen
des Ostens auch sonst zu leiden haben. Was also ist angesichts dessen zu tun?
Die Kirchen in den neuen Bundesländern haben, in den letzten beiden Jahrzehnten auf die
entstandene Lage mit Großraumstrategien der Organisation ihrer Dienste, zu reagieren
versucht. D.h. sie kompensierten und kompensieren die schwache Basis der
Gemeindewirklichkeit in der Gesellschaft durch ihre Vergrößerung bzw. Ausweitung der
Dienstbereiche. „Fusionierungen“ von alleine nicht mehr lebensfähigen Gemeinden fanden in
Fülle statt. „Fusionierung“ von Kirchenkreisen und sogar Landeskirchen ist auch sonst der
Ausweg, mit dem die Kirchen die Realität ihrer schwachen Basis im Einzelnen in eine Stärke im
Ganzen zu verwandeln versuchen. Was jenes Impulspapier für die nächsten 30 Jahre
prognostiziert, hat im Osten schon angefangen.
Doch so sinnvoll das auf dieser institutionellen Ebene auch sein mag, so problematisch stellt
sich die Großraumstrategie der Zusammenlegung von Parochien auf die Dauer an der Basis dar.
Die Gemeinden müssen viel größer sein als in der DDR-Zeit, um eine Pfarrstelle zu tragen.
Teilweise sind Gemeinden entstanden, die zur DDR-Zeit flächenmäßig fast einen ganzen
Kirchenkreis ausmachten. Die hauptberuflichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aber – nicht
nur die Pfarrerinnen und Pfarrer – , die sich anderen Menschen zuwenden können, aber
werden immer weniger. Eine ähnliche Entwicklung gibt es ja in ganz Deutschland. Aber im
Osten vollzieht sie sich auf einem Niveau, das den Auftrag der Kirche im Hinblick auf alle
Menschen in diesem Lande tangiert. Vielerorts kann gerade so das Nötige getan werden, um
das Leben der Gemeinde aufrecht zu erhalten. Besonders in ländlichen Gegenden, die noch
18
Texte aus der VELKD Nr. 152
dazu besonders mit der erwähnten kontinuierlichen Abwanderung gestraft sind, kommt es
faktisch schon zur Entstehung von weißen Flecken auf der kirchlichen Landkarte.
Schwerpunktbildung und Konzentration des kirchlichen Dienstes an bestimmten Orten ist im
Zuge der Regionalisierung der Parochien unvermeidlich.
Das aber reicht nicht, um in einem zu 75 % entchristlichten Lande Menschen, denen Gott
nichts bedeutet, den Glauben an Gott wieder nahe zu bringen. Die von vielen Seiten in Kirche
und Theologie mit Recht erhobene Forderung, wir müssten im atheistischen Umfeld eine
missionarische Kirche sein, wird von anderer Seite darum auch mit einem gewissen Recht als
neuer Illusionismus im Gewande abstrakt-theologischer Richtigkeit kritisiert. So wie die
Gemeinden und Kirchen im Osten Deutschlands das Erbe einer für alle Menschen gedachten
Kirchenstruktur verwalten und gestalten, bindet es die Kräfte zur Selbsterhaltung. Mission aber
bedeutet seit den Zeiten der Urchristenheit, dass die Verkündigung Gottes durch das Gehen der
Apostel der Christenheit zu den Nichtglaubenden geschieht, dass die Christenheit in ihrer
Lebenswelt einwohnt. Genau das müsste angesichts der dickwandigen Atmosphäre der
spezifischen Religionslosigkeit des Ostens geschehen.
Denn von außen lässt sich diese Atmosphäre nicht behämmern und weich klopfen, auch nicht
mit religiöser Medienbeschallung. Das prallt ab. Der religiöse Pluralismus unserer Gesellschaft,
der natürlich auch im Osten angekommen ist, bewirkt hier keinesfalls, was seine Theoretiker
sich davon versprechen, nämlich einen breiten Aufschwung des individualisierten Glaubens
und eine Kulturliebhaberei des sog. Christentums. Darum ist das Christentumsmodell Dietrich
Rösslers, welchem das Impulspapier der EKD ekklesiale Bedeutsamkeit zuspricht, auch nicht
geeignet, der Zukunft der Kirche in der geschilderten Situation den Weg zu weisen. Es rechnet
nämlich mit dreierlei Art „Christentum“, einem „kirchlichen“, einem „öffentlichen“ in
„kulturellen Zusammenhängen“ und einem „individualisierten Christentum“ in „privater
Frömmigkeit“. Für die zwei Drittel Kultur- und Privatchristen ohne Gemeindebindung bildet
nach dieser Anschauung die Gesamtkirche das Dach, unter dem sie sich als Christen fühlen
können. Um das letzte, kirchliche Drittel kümmern sich dagegen die Gemeinden mit ihren
„Kernkompetenzen“.
Es ist nach dem, was wir uns über die lockere Kirchenzugehörigkeit auch im Osten klar
gemacht haben, sicherlich nicht zu bestreiten, dass es in schmaler Weise ein sog. öffentliches
und privates Christentum auch hier gibt. Hinzu kommt ein Hof von Menschen, die das
Kulturangebot der Kirche durchaus zu schätzen wissen oder eine gewisse, religiös angetörnte
Sympathie mit der Ethik des Christentums hegen. Der Unterschied zur westlichen Situation
besteht nur darin, dass solche Menschen nicht Glieder der Kirche sind und auch nicht
beabsichtigen, es aufgrund dieses ihres Sympathisierens zu werden. Die Distanziertheit zur
Kirche ist hier nicht unfreundlich, wie denn dem Gewohnheitsatheismus des Ostens – bis auf
einige der erwähnten Erscheinungen offenkundiger Verstocktheit – überhaupt das GiftigAggressive fehlt. Aber man möchte von größerer Verbindlichkeit der persönlichen Beziehung
zur Kirche entschieden nichts wissen. Diese Art partieller Sympathie für die Kulturseite der
Kirche oder für ein vages religiöses Flottieren als solches programmatisch zu befördern, hieße
darum, die „Konfessionslosigkeit“ zu bestärken. Wenn es wirklich zu einem zahlenmäßigen
Wachstum der Kirchen der durch den „real existierenden Sozialismus“ schwer angeschlagenen
Kirchen Deutschlands kommen soll, dann wird der Schwerpunkt des Dienstes der Kirche
einseitig auf der Aufbauung der Gemeinden liegen müssen, die mit dem Angebot der Taufe auf
eine verbindliche Kirchenzugehörigkeit zielen.
5. Minderheit mit Zukunft
Nach Lage der Dinge und nach menschlichem Ermessen wird es in absehbarer Zeit im Osten
Deutschlands keinen „Megatrend“ der Hinwendung der atheistisch-konfessionslosen
19
Texte aus der VELKD Nr. 152
Bevölkerung zum Glauben und zur Kirche geben. Wir müssen damit rechnen, dass für ganze
Generationen dieser konfessionslosen Bevölkerung das Leben ohne Glaube und Kirche
endgültig ist. Ob es auch für künftige Generation beim verfestigten Klima oder Milieu der
atheistischen Konfessionslosigkeit bleibt, kann man allerdings fragen. Denn dieser
Konfessionslosigkeit, die sich vor allem in Gleichgültigkeit gegenüber Glaube und Kirche äußert,
ist keine geistige oder kulturelle Kraft zur Zukunftsgestaltung eigen. Sie ist ja als solche nur eine
Negation. Sie braucht ethische und kulturelle Anleihen von anderswo, um sich als
zukunftsorientiert empfehlen zu können. Man kann das gut an der religiösen Ersatzhandlung
der weiterhin florierenden Jugendweihe erkennen. Das ist ein patchwork ohne Mitte. Die Kraft
zur Selbstorganisation des Atheismus, wie es die Minigruppe des humanistischen Verbandes,
die sich zur Sprecherin aller Konfessionslosen macht, gerne möchte, aber hat sie nicht. Die
atheistische Konfessionslosigkeit zeigt in all ihrer Milieuverschlossenheit ein diffuses Gesicht.
Demgegenüber repräsentiert die Minderheit der christlichen Gemeinden immer noch
ein beachtliches religiöses, geistiges und kulturelles Potenzial mit einem Vorsprung an
gesammelter menschlicher Erfahrung mit Tiefgang, der schon heute gar nicht zu unterschätzen
ist. Dieses Land sähe völlig anders aus, wenn es die Kirche nicht gäbe. In diesem Sinne hat das
östliche Impulspapier von 1995 mit der Überschrift „Minderheit mit Zukunft“ nicht nur den
Glaubenssatz wiederholt, quod una sancta ecclesia perpetuo mansura sit. Es hat auch im
Hinblick auf die faktische Situation deutlich gemacht, dass für die Kirche kein Grund zur
Resignation besteht. Sie hat die lebenskräftigere Substanz in ihren Gliedern und den längeren
Atem für die Zukunft, als der Glaube an Nichts oder irgendeine Ersatzreligiosität. Mit diesem
Vertrauen kann und wird sie versuchen, über die Phase der Selbsterhaltung hinauszukommen
und jetzt schon beginnen, Schwerpunkte zu setzen, die dem Vertrautmachen mit dem Glauben
an Gott in der atheistisch-konfessionslosen Bevölkerung des Ostens Deutschlands dienlich sind.
Ich kann jetzt unmöglich einen Überblick geben, was in dieser Hinsicht landauf-landab
in den Gemeinden und den aus ihnen hervorgehenden Initiativen wie z.B. der Gründung und
dem Ausbau christlicher Schulen und Kindergärten alles Gutes, Phantasievolles und Neues
geschieht, um die Menschen auf die Kirche aufmerksam zu machen, Berührungsängste
abzubauen und den christlichen Glauben in die Gesellschaft hinein ausstrahlen zu lassen. Wir
haben darüber hinaus allen Grund, dankbar zu sein, was alles in den letzten Jahren geschaffen
wurde, um den Gemeinden auch äußerlich ein einladendes Gesicht zu geben. Ein bestimmter
muffiger Geruch verschwindet immer mehr aus den Gemeindehäusern, Pfarrhäusern und
Kirchen. Drei Schwerpunkte, die auf dem Hintergrund der Geschichte von 40 Jahren DDR nach
meiner Meinung aber noch viel mehr Aufmerksamkeit verdienen, möchte ich aber abschließend
unterstreichen.
1) Die Tatsache, dass der kirchliche Auftrag alleine durch die hauptamtlichen
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – vor allem durch die Pfarrerinnen und Pfarrer – alleine nicht
mehr erfüllt werden kann, hat zur verstärkten Beförderung des sog. „Ehrenamtes“ in der Kirche
geführt. Es ist auch ganz erfreulich, wie viele Gemeindeglieder dazu bereit sind. Ich habe mir
erzählen lassen, dass sich in manchen Gegenden die Prädikanten regelrecht drängeln müssen,
um zum Einsatz zu kommen. Wir sollten aber im Bewusstsein halten, dass „Ehrenamt“
eigentlich eine Kategorie aus dem Vereinswesen ist und dem internen Florieren des Vereins
dient. Die reformatorische Grundeinsicht vom „Priestertum aller Glaubenden“ aber bedeutet,
dass alle Glaubenden sich für die Verkündigung des Evangeliums verantwortlich wissen und in
der Lage sind, ihren Glauben in ihrer Lebenswelt, die sie mit Nichtglaubenden teilen, zu
artikulieren und darzustellen. Weil es an dieser Fähigkeit mangelte, genügte in der DDR schon
verhältnismäßig geringer Druck von Seiten des Staates, um die Kirchengliedschaft fahren zu
lassen. Die Gemeinden sollten deshalb alles daran setzen, ein Verständnis des Christseins zu
befördern, zu dem das Eintreten für den Glauben außerhalb des kirchlichen Raums in der
Berufs-, Freizeit- und Privatwelt fundamental hinzu gehört. Es ist im Osten Deutschlands
20
Texte aus der VELKD Nr. 152
wesentlich, dass der Glaube auf diese Weise an den Orten des Lebensvollzuges der
kirchenfernen Menschen vorkommt. Schon bei der Taufe, bei Christenlehre und
Konfirmandenunterricht und möglichst auch im Religionsunterricht sollte zu diesem aktiven
Verständnis des Christseins ermutigt und befähigt werden. Der lässig-passive Nutznießer eines
religiösen Angebots der institutionalisierten Kirche bringt die Kirchen in den neuen
Bundesländern dagegen nicht voran.
2) Die Erwähnung der Kinder- und Jugendarbeit, zu der die Elternarbeit und die Arbeit
mit jungen Erwachsenen gehört, ist in diesem Zusammenhang nicht zufällig. Sie wird
angesichts der geschilderten Situation geradezu logisch der Schwerpunkt des Dienstes der
Kirche vor Ort sein. Im Blick auf die konfessionslose Bevölkerung in ihrer Breite gilt mein häufig
zitierter Satz: Die Menschen sind der Kirche zwar massenhaft verloren gegangen, sie werden
aber nur alle einzeln wieder gewonnen. Das ist mühselig genug und dauert in langwierigen
persönlichen Begegnungen lange. Es kann sein, dass es erst die Kinder und Kindeskinder der
heutigen Konfessionslosen sein werden, denen sich der lebenstragende Sinn des christlichen
Glaubens erschließt. Schon heute ist es in Ostberlin durchaus nicht unüblich, dass nahezu die
Hälfte einer Konfirmandengruppe Eltern hat, die nicht in der Kirche sind, und die erst getauft
werden müssen. Freundinnen und Freunde bringen sie mit, so dass die Kinder dann diejenigen
sind, welche das, was Glaube und Kirche für sie bedeutet, in das atheistisch-konfessionslose
Milieu hineintragen.
Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen muss deshalb noch viel intensiver und breiter
das erlebbare Wesen des christlichen Glaubens vermittelt werden, als das nach meiner
Beobachtung heute der Fall ist. Hier zu sparen, wie z.B. bei den Studentengemeinden, ist
eigentlich durch nichts zu rechtfertigen. Denn im Hinblick auf die heranwachsende Generation
besteht die Chance, noch einmal in Breite und ohne den Ballast von Vorurteilen und schlechten
Erfahrungen mit der Stärke der christlichen Botschaft Kirche anzufangen, nämlich dass Gott in
seiner Menschlichkeit all das zum Leben erweckt, was uns wahrhaft menschlich sein lässt; um
es kurz zu sagen: Den Glauben an seine göttliche Klarheit, die Hoffnung auf seine Zukunft und
die Liebe zu unseren Mitmenschen.
3) Um das zusammenzuhalten – Gott und das wahrhaft Menschliche – bedarf es der
geistlichen und geistigen Konzentration unserer Kirche. Der religiöse Pluralismus unserer
Gesellschaft lädt auch die östlichen Gemeinden in Deutschland zum Herumprobieren mit
mancherlei Annäherungen an Transzendentes, Mysteriöses, Esoterisches, Sinngebendes,
Erhebendes usw. ein. Das ist nicht schlechthin zu negieren, weil die Entdeckung, dass wir
Menschen mehr sind als das, worüber wir verfügen, der Wahrheit des Glaubens zu assistieren
vermag. Diese Entdeckung kann aber ebenso in einen Urwald voller religiöser Schlingpflanzen
führen, die der Stimme des Evangeliums die Luft abdrücken. Man denke nur an die von vielen
begrüßten Vorschläge meines ehemaligen Berliner Kollegen Klaus Peter Jörns, den Kanon der
Bibel als Grundlage der christlichen Botschaft durch ein Konglomerat von religiösen Texten aus
allen Religionen zu ersetzen, das Verständnis des Menschen als Gottes Ebenbild zu beseitigen,
den Glauben an Gott als Person aufzugeben und dem naturreligiösen Heidentum wieder Raum
zu verschaffen. Man denke aber auch an fundamentalistische Gegenbewegungen dazu und das
Befördern einer ekstatischen Frömmigkeit, die unmittelbare Berührungen mit Gott verspricht.
Das alles und noch viel mehr kommt in den Gemeinden des Ostens auch vor. Und es lockt,
weil es Erfolg verspricht.
Hier einen klaren Blick für das Mögliche und das nicht gut Mögliche zu behalten, ist in
gewisser Weise schwieriger, als es im Gegenüber zu einer monistischen Weltanschauung in der
DDR war. In jedem Fall erfordert es die Fähigkeit in der Kirche auf allen Ebenen, die Wahrheit
des christlichen Glaubens kritisch und im Hinblick auf die eigene religiöse Praxis selbstkritisch
zu verantworten. Damit komme ich wieder an den Anfang meines Vortrages zurück. Diese
Fähigkeit und Willigkeit zur theologischen Verantwortung unserer Praxis ist angesichts der
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Texte aus der VELKD Nr. 152
Fülle der Aufgaben, vor denen die Menschen im Dienste der Kirche stehen, – gelinde gesagt –
in den Jahren nach 1989 nicht gewachsen. Wenn ich daran denke, wie einem in der DDR-Zeit
theologische Bücher, die durch die Mauer gelangten, geradezu aus der Hand gerissen wurden,
dann stimmt das Desinteresse an der Theologie, das sich heute vielerorts ausgebreitet hat, schon
bedenklich. Denn es ist nicht gut, dass wir uns gerade in der von mir skizzierten schwierigen
Situation in unseren alltäglichen, schwierigen Dienst gewissermaßen verstricken und vergraben.
Die Theologie ist da kein Wundermittel. Sie kann weder Glaube, Liebe, Hoffnung noch das
geistliche Leben ersetzen. Aber sie hilft der Kirche, die geistige Spannkraft zu behalten, die sie
braucht, um ihrem großen Auftrag treu zu bleiben.
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Texte aus der VELKD Nr. 152
HOFFNUNGEN – BEFANGENHEITEN – KLÄRUNGEN
Anmerkungen zum Weg der evangelischen Kirche seit 1989
Bischof em. Dr. Hartmut Löwe
Tage und Wochen, manchmal sind es auch Jahre, verlaufen im Gleichmaß. Die Wasser fließen
ruhig dahin. Es scheint kaum Veränderungen zu geben. Plötzlich aber ist alles anders geworden. Aus Flüssen werden reißende Ströme. Das Land steht unter Wasser. Wohin es fließen will,
ist noch nicht klar zu erkennen. Sicher ist nur: In das alte Bett kehrt es nicht wieder zurück.
Die Geschichte nimmt einen Verlauf, den niemand erwartet hatte.
1. Die Zeit des öffentlichen Ansehens der evangelischen Kirche:
Von der Öffnung der Mauer bis zur März-Wahl der Volkskammer
1.1 Am 9. November 1989 war die Synode der EKD im badischen Bad Krozingen am äußersten
südwestlichen Zipfel Deutschlands versammelt. Die Schweiz ist nahe, das Elsaß. Da reicht einer
einen Zettel auf den Tisch des Präsidiums. Die Tagesordnung wird unterbrochen durch die
Mitteilung: „Die Mauer trennt die Menschen nicht mehr. In Berlin herrscht Reisefreiheit
zwischen dem östlichen und westlichen Teil der Stadt. Anträge und Genehmigungen sind
überflüssig geworden. Es werden Freudenfeste gefeiert. Das Volk tanzt auf dem
Kurfürstendamm.“
Die Reaktionen im Saal bleiben verhalten. Einige klatschen, aber Begeisterung kommt nicht auf.
Die meisten begreifen noch nicht, was sie eben gehört haben. „Was sollen wir nun dazu
sagen?“ fragen sich die Synodalen mit dem Apostel Paulus. Verwundert. Ratlos. Sprachlos.
Der Ratsvorsitzende, Bischof Kruse, tritt ans Rednerpult. Er versucht in Worte zu fassen, was
gerade gemeldet worden ist. Zum Abschluss bittet er die Synode zu singen: „Erhalt uns in der
Wahrheit, / gib ewigliche Freiheit, / zu preisen deinen Namen / durch Jesus Christus. Amen.“
(EG 320,8; damals EKG 227,8)
Früher hätte man das im Gesangbuch nächste Lied gesungen: „Nun danket alle Gott / mit
Herzen, Mund und Händen, / der große Dinge tut / an uns und allen Enden ...“ (EG 321 =
EKG 228). Oder: „Großer Gott, wir loben dich; / Herr, wir preisen deine Stärke. / Vor dir neigt
die Erde sich / und bewundert deine Werke ...“ (EG 331 = EKG 449).
Aber man will besonnen reagieren. Aus der inzwischen aufgekommenen Freude sollen keine
Begeisterungsstürme werden. Nationaler Taumel – nur das nicht. Wir sind gebrannte Kinder.
Der Pressesprecher des Bundes – Gast der Synode, er sitzt neben mir – sagt: „Ihr habt
gewonnen.“ Ich frage zurück: „Wie meinen Sie das?“, begreife nicht, was er da gesagt hat. Viel
später erst habe ich es verstanden.
Bischof Kruse verlässt die Synode. Der West-Berliner Bischof und Vorsitzende des Rates der
EKD fliegt nach Berlin. Ich denke: Er wird sich wohl mit dem Ost-Berliner Bischof Forck
treffen. Und mit dem Vorsitzenden des BEK/DDR, Landesbischof Leich aus Eisenach.
Hoffentlich bringt das Fernsehen bald Bilder von ihnen. Und zu den Bildern vielleicht folgende
Sätze: Der Spuk ist vorüber. Die Berlin-Brandenburgische Kirche ist nicht mehr geteilt. Das
1969 erzwungene Ausscheiden der östlichen Gliedkirchen aus der gemeinsamen EKD ist zu
Ende. Was das alles rechtlich und organisatorisch heißt, wissen wir jetzt noch nicht. Das wird
sich ergeben. Heute ist nur dieses wichtig: Wir gehören wieder zusammen in BerlinBrandenburg und in der EKD. Noch ein Händedruck. Das war´s.
Aber das war es eben nicht. Zu der erhofften Szene ist es nicht gekommen. Die Synode setzt
ihre Beratungen fort.
23
Texte aus der VELKD Nr. 152
1.2 Zwei Monate später, für den 15.-17. Januar 1990, ist eine Konsultation vereinbart worden
zwischen Vertretern der EKD und des BEKDDR. Es soll Bilanz gezogen werden über die seit
Jahren miteinander geführten Gespräche. Der Termin stand fest, lange bevor die Weltgeschichte
einen solchen Sprung machte. Als im niedersächsischen Loccum die Bischöfe Leich und
Demke, Hempel, Schönherr, Kruse, Hirschler, von Keler, (Präses) Linnemann mit den Präsides
der Synoden Gaebler und Schmude, dazu Vertreter der Amtsstellen zusammen kommen, ist
allen klar: Wir können jetzt nicht Bilanz ziehen und zurückblicken. Wir müssen die Zukunft in
den Blick nehmen: Was bedeuten die offenen Grenzen für unsere beiden Kirchen(bünde)? Was
soll werden aus den zwei deutschen Staaten auf deutschem Boden?
Nach intensiven, nur selten kontroversen Gesprächen wird eine Erklärung verabschiedet. Zwei
Vertreter aus dem Osten enthalten sich, keiner aus der ersten Reihe. Alle anderen sind sich
einig geworden:
„In unseren kirchlichen Verfassungen haben wir uns zu der „besonderen Gemeinschaft der
ganzen evangelischen Christenheit in Deutschland“ bekannt. Diese besondere Gemeinschaft
wurde jahrzehntelang in zahllosen Verbindungen gelebt. Damit wurde der kirchliche
Zusammenhalt gewahrt und das Verlangen nach weiterer Gemeinschaft gestärkt. So hat sich
diese Gemeinschaft als kräftige Klammer zwischen den Menschen im geteilten Deutschland
erwiesen. Das hat sich politisch ausgewirkt.
Das Bewusstsein der Zusammengehörigkeit der Deutschen in beiden Staaten ist für die Kirchen
eine wichtige Grundlage ihres gemeinsamen Wirkens. Wir haben dieses Gefühl gestärkt, wir
empfinden es selbst. Wir wollen, dass die beiden deutschen Staaten zusammenwachsen ...
Während der langen Trennungszeit haben sich die Verhältnisse in beiden deutschen Staaten
unterschiedlich entwickelt. Unsere Interessen und Überzeugungen stimmen nicht immer
überein. Das muss berücksichtigt werden ...
Die besondere Gemeinschaft der evangelischen Christenheit in Deutschland ist trotz der
Spaltung des Landes und der organisatorischen Trennung der Kirche lebendig geblieben. Wie
sich auch die politische Entwicklung künftig gestalten mag, wir wollen der besonderen
Gemeinschaft der ganzen evangelischen Christenheit in Deutschland auch organisatorisch
angemessene Gestalt in einer Kirche geben. Mit den während der Zeit der Trennung
gewachsenen Erfahrungen und Unterschieden wollen wir sorgsam umgehen ...
... Wir empfehlen, nun eine gemeinsame Kommission der evangelischen Kirchen in beiden
deutschen Staaten zu bilden. Sie soll gemeinsame Aufgaben benennen, weitere Schritte der
Zusammenführung beraten und dazu Vorschläge machen.“ (Text nach : Kirchliches Jahrbuch
1990/1991, 1995, S. 184)
Das Echo der Öffentlichkeit auf diese Erklärung ist enorm. Der Text wird in vielen Zeitungen
vollständig abgedruckt und gründlich kommentiert. Die evangelische Kirche befindet sich nicht
wie so oft in der Nachhut. Sie formuliert, was an der Zeit ist, politisch und kirchlich. Die Leute
merken auf. Man hatte das der evangelischen Kirche nicht zugetraut.
Aber es gibt auch Widerspruch, vor allem innerkirchlich. Der emeritierte Bonner Dogmatiker
Prof. Dr. Walter Kreck sieht die Erklärung „in der Tradition eines deutsch-christlichen
Denkens.“ Er vergleicht sie mit der Parole von 1933 „Ein Volk, ein Reich, eine Kirche“. Die
Fraktionssprecherin der Grünen im Bundestag, Antje Vollmer, ehemalige westfälische Pastorin,
bescheinigt der Loccumer Zusammenkunft eine vom Zeitgeist diktierte „opportunistische
Haltung“, die keine geistige Unabhängigkeit bekunde und die Gründung des DDRKirchenbundes von 1969 in Frage stelle.
1.3 In den letzten Januar-Tagen, sind wie alle zwei Jahre, die Leitungen der West- und OstKirchenbünde mit den Leitenden Geistlichen vor den Toren Berlins im Kloster Lehnin
versammelt. Nachdem Landesbischof Leich die Zusammenkunft eröffnet hat, meldet sich die
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Texte aus der VELKD Nr. 152
Frau des Magdeburger Bischofs Demke zu Wort. Ihre „Herrenrede“ wird zur Philippika. Sie
komme sich vor wie ein armes Bauernmädchen, das ein reicher Mann zur Ehe begehre – ein
aparter Vergleich bei einer Frau, die selbst aus dem Adel kommt. Das arme Bauernmädchen
brauche Bedenkzeit, es lasse sich weder blenden noch übertölpeln. Die Versammlung nimmt
die Rede mit einigem Befremden auf. Es werden die innerkirchlichen Widerstände sichtbar, die
durch die Loccumer Erklärung ausgelöst worden sind.
Zehn Tage später liegt eine „Berliner Erklärung von Christen aus beiden deutschen Staaten“ auf
dem Tisch (9. Februar). Ulrich Duchrow, Konrad Raiser, Heino Falcke, Joachim Garstecki
(katholischer Konfession, aber gleichwohl Referent für Friedensfragen beim BEK) sind die
Initiatoren. Sie werben um Zustimmung durch Unterschriften, veranstalten so etwas wie ein
Volksbegehren. Die Einmütigkeit der in Loccum Versammelten trifft auf einen gemeinsamen
west-östlichen Widerspruch; die Wortführer kommen aus dem Westen. Der Streit um ein neues
Miteinander in einer wiedervereinigten EKD bringt ältere, vor allem politische und
kirchenpolitische Gegensätze an den Tag, die mehr noch im Westen als im Osten zuhause
waren und in der Genfer Ökumene ein Sammelbecken gefunden hatten. Aus der Ablehnung
der westdeutschen Demokratie mit ihrer Gottseibeiuns-Wirtschaftsform des Kapitalismus folgte
dabei nicht die Zustimmung zu dem im Ostblock gegebenen Sozialismus. Aber Präferenzen für
einen anderen, einen besseren Sozialismus verbanden diese Ökumeniker. Sie suchten einen
dritten Weg; der sollte sozialistisch sein.
Die Autoren bemängelten, „dass die Loccumer Erklärung in der deutsch-deutschen
Öffentlichkeit nicht das Signal setze, das jetzt an der Zeit ist und von unseren Kirchen ausgehen
muss.“ Anstelle einer Beförderung von schnellen Einheitserwartungen müsse die besondere
Gemeinschaft der evangelischen Kirche in Ost und West „sich umgekehrt bewähren im
stellvertretenden Aushalten der noch bestehenden Trennungen um des Zusammenwachsens in
Frieden und Gerechtigkeit willen.“ Auf solch eine Idee muss man erst einmal kommen!
Niemand kann sie den Leuten auf der Straße plausibel machen. Kopfgeburten sind das, ihre
Urheber leben meilenweit entfernt vom Denken ideologisch nicht korrumpierter Normalbürger.
Ulrich Duchrow und seine Freunde beschworen gegen „das Bewusstsein der
Zusammengehörigkeit der Deutschen in beiden Staaten“ als einer problematischen nationalen
Größe den „eigenen Weg, den die Kirchen in der DDR gegangen sind. Diese sind bewusst einen
Weg in der sozialistischen Gesellschaft der DDR gegangen. Sie haben versucht, in der Trennung
vom Staat eine glaubwürdige Gestalt von Kirche zu entwickeln (nicht staatlich eingezogene
Kirchensteuer, sondern freiwillige Beiträge der Gemeindeglieder; Christenlehre in der
Verantwortung der Gemeinde, kein Religionsunterricht in staatlichen Schulen; Seelsorge an
Wehrpflichtigen, aber keine „Militärseelsorge“). Sie haben aus der Minderheitssituation im
Gegenüber zum Staat politische Verantwortung wahrgenommen. Sie haben sich bemüht, die
historische Kluft zwischen Kirchen und kommunistischer Bewegung in „kritischer Solidarität“
zu überbrücken.“ (KJ 188-193)
Der Aufruf „Für unser Land“ vom 26. November 1989, mit dem große Teile der intellektuellen
Eliten der alten DDR, übrigens auch einige evangelische Kirchenleute, ihren Staat als
sozialistische Alternative zur Bundesrepublik hatten retten wollen, bekam eine kirchliche
Entsprechung. Es zeigte sich, dass in der evangelischen Christenheit im Osten wie im Westen
eine trotz aller konkreten Erfahrungen nicht enttäuschte Sozialismussehnsucht lebendig, die
Ablehnung von zwei deutschen Staaten, die nach 1949 alle verband, geschwunden, die
Westbindung der Bundesrepublik Deutschland nicht allgemein akzeptiert waren – „in Rom
gezeugt, in Washington zur Welt gekommen“ hatte Martin Niemöller den Bastard genannt.
Die traurige Minorisierung der Christen in der Gesellschaft der DDR erhielt
überraschenderweise eine positive Wertung gegenüber einer volkskirchlich hohen
Mitgliedschaft. Die vom Staat verordnete Trennung von Staat und Kirche mit der Verbannung
der rechtlosen, der Willkür des Staates ausgelieferten Kirche in Nischen der Gesellschaft galt als
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Texte aus der VELKD Nr. 152
Vorzug gegenüber einer ebenfalls vom Staat unabhängigen, aber in Verträgen auf Kooperation
mit ihm angelegten Kirche. Der in der öffentlichen Schule als allgemeiner Bildungsauftrag
wahrgenommene Religionsunterricht erhielt negative Zensuren gegenüber einer auf nur geringe
Teile der Heranwachsenden beschränkten Einführung in das Leben mit der Kirche. Die
christliche Mitverantwortung gegenüber der sensiblen Institution von Streitkräften wurde
reduziert auf die Seelsorge an den Christen unter den wehrpflichtigen Soldaten; die Streitkräfte
insgesamt kamen nicht oder nur kritisch in den Blick. Wenn man schon seinen Missmut gegen
die Praxis der vom Staat hilfsweise eingezogenen Kirchensteuer ausdrücken wollte und
zugunsten des freiwilligen Beitrags des einzelnen Christen plädierte, hätte man sich wenigstens
ehrlicherweise eingestehen müssen, in den zurückliegenden Jahrzehnten in den östlichen
Kirchen nur aufgrund der beträchtlichen, vom westlichen Kirchensteuerzahler bereitgestellten
Mitteln zahlungsfähig geblieben zu sein, gewiss unterschiedlich – Sachsen, das am wenigsten
gegen das westliche System der Kirchensteuer einzuwenden hatte, hatte den normalen
kirchlichen Haushalt auch in der Zeit der DDR aus eigenen Mitteln bestritten, andere Kirchen
waren bis zur Hälfte ihrer Etats und darüber hinaus auf Gelder aus der EKD angewiesen
gewesen. Hier wiederholte sich, was manche Ökumeniker auch im Blick auf Genf in ein
seltsames Licht stellte: Sie traten ein für freiwillige Kirchenbeiträge, verlangten aber gleichzeitig
von der EKD, die ohnehin den Haushalt des ÖRK zu 50% bestritt, ein immer größeres
finanzielles Engagement.
Alle Themen, die später das Zusammenführen von Kirchenbund und EKD anstrengend
machten, sind in der Berliner Erklärung bereits aufgeführt. Die Verteidigung der dort genannten
Errungenschaften war freilich, ich wiederhole das der Klarheit wegen, nicht einfach die Position
der östlichen Kirchen. Es gab dafür Anwälte auf beiden Seiten, besonders hartnäckig bei dem
ideologisch hochbesetzten Thema Militärseelsorge. Wie schon einmal nach 1945 rangen zwei
Flügel des Protestantismus miteinander. Die Nachfahren der damals Unterlegenen sahen jetzt
eine Chance, doch noch mit ihren Vorstellungen zum Zuge zu kommen.
Natürlich gab es Befangenheiten gegen eine schnelle Vereinigung, die Gewicht hatten. Ein
kleinerer Partner ist leicht in der schwächeren Position. Man wollte sich der gerade erst
gewonnenen Freiheit freuen und nicht in neue Abhängigkeiten geraten. Das eigene, wenn auch
beengte Leben darf gegenüber Lebensentwürfen größeren Zuschnitts nicht gering geachtet
werden. Wenn man auch bisherige Horizonte überschreiten möchte, so wecken gleichwohl
unbegrenzt erscheinende Möglichkeiten Besorgnisse, ja Ängste: Bin ich ihnen gewachsen?
Werde ich die richtige Wahl treffen? Solche Befangenheiten konnten niemanden verwundern.
1.4 In Loccum gemeinsame Ziele zu verabreden, war nicht schwierig gewesen. Die Probleme
begannen bei ihrer Verwirklichung. Der Rat der EKD äußerte zwar Bedenken zum Verfahren.
Die in Loccum nicht dabei gewesen waren und die Beschlüsse aus der Zeitung erfahren hatten,
fühlten sich überfahren. Die Absichten jedoch fanden einhellige Zustimmung. Dagegen griff die
Synode des Bundes die in der Berliner Erklärung geäußerten Bedenken auf und düpierte den
Vorsitzenden der Konferenz der Kirchenleitungen des BEK: Niemand habe die in Loccum
Versammelten zu ihren Vorschlägen ermächtigt. Man hätte gefälligst die Tagung der Synode des
Kirchenbundes abwarten sollen, die doch schon für den 23. Februar anberaumt war. Man
übersah, welch lange Spanne vier Wochen in Zeiten sind, in denen sich die Ereignisse
überschlagen. Revolutionäre Phasen werfen die üblichen Zeitvorstellungen über den Haufen.
Bürokratien kommen da mit ihren Einsprüchen immer zu spät. Schließlich war Loccum keine
beliebig zusammengesetzte Konferenz gewesen. Es lag damals nicht nur nahe, es war
unerlässlich, gegenüber der Öffentlichkeit zu sagen, welche Absichten man verfolgte.
Die BEK-Synode verlangte, sich Zeit zu lassen, zunächst in Ruhe die Situation zu klären, nicht
sogleich bestimmte Ziele anzusteuern. Das Gefühl der Überforderung, der Wunsch nach Ruhe
wurde von vielen geteilt; auch von manchen, die gegen Loccum prinzipiell nichts einzuwenden
26
Texte aus der VELKD Nr. 152
hatten. Also erklärte die Synode: „Wir werden sorgfältig die Angemessenheit unserer einzelnen
Schritte prüfen. Wir wollen uns die Zeit lassen, die anstehenden Entscheidungen, die Sache
unserer Synoden sind, sorgsam miteinander zu beraten.“ (KJ 200) Das klang nicht schlecht, war
aber illusionär. Denn was es nicht gab, was keiner sich selbst und den anderen geben konnte,
das war – Zeit. Wer sich nicht abhängen lassen, wer einigermaßen Herr des Verfahrens bleiben
wollte, musste dort dabei sein, wo die Weichen gestellt wurden. Jetzt hätte man noch
Veränderungen verlangen, sogar Bedingungen stellen können – etwa den Wegfall der
konfessionellen Bünde zugunsten einer Stärkung der gemeinsamen Kirche – später war das zu
spät. Denn das war ja zweifellos eine Errungenschaft des DDR-Kirchenbundes: die
Verschlankung der Strukturen, ein realistischer und schonender Umgang mit den personellen
Ressourcen, eine Konzentration auf die inhaltlichen Aufgaben. Das alles ist dann erst 15 Jahre
später unter viel schwierigeren Bedingungen und mit nur halbherzigen Lösungen nachgeholt
worden.
Mit dem Wunsch nach Bedachtsamkeit, dem Plädoyer für eine Entschleunigung, hatte man sich
auch von der Bevölkerung weit entfernt. Es war ja keineswegs so, dass der Westen – dafür hat
man besonders den bei Kirchenleuten nicht beliebten Bundeskanzler verantwortlich gemacht –
auf eine schnelle Einheit drängte. Dort dachte man zunächst an eine Föderation der beiden
deutschen Staaten. Was das Volk aber wollte, zeigte sich bei den Wahlen zur Volkskammer am
18. März. Es gab denen seine Stimme, bei denen es sein Verlangen nach einem raschen Ende
der DDR am besten aufgehoben sah.
Fragt man, wie es geschehen konnte, dass die anfangs mit Lob und Anerkennung geradezu
überschüttete evangelische Kirche -– „Kirche, wir danken dir“ stand auf den Plakaten – so
schnell ins Abseits geriet, so gibt es sicher vielfältige Gründe. Ein entscheidender ist m.E. das
Zögern der Kirche im Blick auf eine neue staatliche Einheit. Die Absicht, die kirchliche Einheit
zu verlangsamen, war ja nur der Anschauungsunterricht dafür. Anfang Februar noch war der
Evangelische Arbeitskreis der CSU Mittelfranken an den Vorsitzenden der CDU/CSUBundestagsfraktion herangetreten mit der Empfehlung, den evangelischen Kirchenbund der
DDR für die Auszeichnung mit dem Friedensnobelpreis vorzuschlagen. Vier Wochen später
schon erschien eine solche Idee eher kurios. Vor der Öffnung der Grenzen und dem Fall der
Mauer konnte man die evangelische Kirche in der DDR in der Tat als Sprachrohr der Sorgen,
Hoffnungen und Wünsche des überwiegenden Teils der Bevölkerung ansehen. Jetzt war es mit
dieser Stellvertreterrolle vorbei. Besonders deutlich wurde das noch einmal im Zusammenhang
mit der Währungsunion am 1. Juli. Dem Berliner Konsistorialpräsidenten Manfred Stolpe, der
im „Spiegel“ von einer „zwiespältigen Situation“ sprach, fiel sein Interviewer ins Wort: „So
richtig traurig klingt das nicht, dass die DDR am Ende ist und nach 40 Jahren zugrunde geht.“
(KJ 213) Dabei gehörte Stolpe zu der in verantwortlichen Positionen der Kirche seltenen
Spezies mit realpolitischem Instinkt. Bischof Demke aus Magdeburg meinte etwas grämlich, die
künftige Ordnung in Mitteleuropa dürfe sich nicht auf der Schwäche der Schwachen aufbauen.
Wer denn wollte das? Und weiter: Im Blick auf die Währungsunion stünden den Menschen
harte Monate und Jahre bevor. (ebd.)
Das war alles nicht einfach verkehrt. Aber es war gleichwohl der völlig falsche Ton. Die
Kirchenleute hatten Mühe, ihrer Freude über die Entwicklung Ausdruck zu geben. Sie
formulierten sehr viel besser Bedenken und Hemmnisse und Sorgen als Zustimmung zum
beschrittenen Weg und seinen neuen Chancen. Aus der Not der Abwanderung des Bürgertums
aus der DDR und ihren Kirchen zusammen mit marxistischen Vorhaltungen gegen das
reaktionäre Bürgertum war ein antibürgerlicher Affekt entstanden, der Missbrauch des
Nationalen hatte blind gemacht für die auch für Christen wichtig gebliebenen Größen Volk und
Nation, das Engagement in der Friedensfrage hatte den Blick für sicherheitspolitische
Notwendigkeiten verstellt. Wenn Alexander Mitscherlich bei den Deutschen im Blick auf ihren
Umgang mit der Vergangenheit eine „Unfähigkeit zu trauern“ diagnostiziert hatte, so
27
Texte aus der VELKD Nr. 152
korrespondierte dieser häufig nach 1989 im Blick auf die Zukunft eine seltsame „Unfähigkeit,
sich zu freuen“.
2. Rückkehr in den Alltag, oder: Nach dem herausragenden Ansehen der
evangelischen Kirche. Von der Berufung der Gemeinsamen Kommission von EKD und
BEK zum Vollzug der kirchlichen Einheit.
2.1 Die in Loccum vorgeschlagene Gemeinsame Kommission aus EKD und BEK war bis zum
März gebildet worden. Jede Seite entsandte aus den Kirchenleitungen und den Synoden acht
Mitglieder. Dazu kamen noch die Chefs der Amtsstellen und, zusätzlich, der Bevollmächtigte
der EKD in Bonn. Anstelle von Vorsitzenden gab es „Sprecher“: Landesbischof Dr. Johannes
Hempel für den BEK, Präses Dr. Jürgen Schmude für die EKD. In der Folgezeit fanden auch
Zusammenkünfte der Präsidien beider Synoden und der Leitungen statt, dazu wechselseitige
Teilnahme an den Sitzungen der Partner. Die neue Einheit der EKD ist jedoch im wesentlichen
von der Gemeinsamen Kommission vorbereitet worden.
Liest man heute die in der 1. Sitzung vom 27.-30. Mai zusammengestellten „Empfehlungen“,
so wundert man sich über die lange Auflistung wichtiger und zweitrangiger Aufgaben. Der
Eindruck täuscht nicht: Die lange Liste der Themen sollte eine zu schnelle Einheit verhindern.
In der Tat wollte man sich drei Jahre Zeit lassen. Die Atmosphäre war anfangs gespannt,
entkrampfte sich aber bald. Schließlich kannten sich die, die hier zusammensaßen, seit vielen
Jahren. Sie hatten in schwierigen Zeiten viel vorangebracht, vor allem finanzielle Hilfen besorgt
und verteilt.
Den Auftakt bildeten komplizierte Verfassungsdebatten. Die Vertreter des BEK wollten auf
keinen Fall unmittelbar an die Zeit vor der Trennung – also vor 1969 – anknüpfen. Sie
verlangten anstatt der von ihnen 1948 in Eisenach mit beschlossenen, eine neue
Grundordnung. Sie dachten an eine Föderation der beiden Kirchenbünde. Der BEK sollte also
erhalten bleiben, vielleicht der EKD-Verfassung inkorporiert werden. Nicht nur der BEK, auch
die EKD müsse sich verändern. Die andere Seite gab zu bedenken: Solche Absichten verlangten
nicht nur sehr viel Zeit, vor allem sei der Ausgang ungewiss. Schließlich sei man schon einmal
auf jeder Seite mit neuen Verfassungsvorhaben gescheitert. Alles, was jenseits der
Paktierungsgrenze läge, verlange Zweidrittelmehrheiten in allen 24 Synoden. Da könne leicht
ein Unglück geschehen.
Allmählich kehrte Realismus ein. Östliche Landeskirchen gaben zu verstehen: Dauere das alles
zu lange, schließe man sich eben ohne die anderen wieder der EKD an. So wurde deutlich, dass
während der Zeit der DDR der BEK zweifellos ein wichtiges Instrument gewesen war: Zur
einheitlichen Vertretung der föderativ verfassten kirchlichen Landschaft gegenüber einem
zentralistischen Staat, zur Wahrnehmung weltweiter ökumenischer Verbindungen, zur
Absprache gemeinsamer Vorhaben. Jetzt aber hatte der Bund seine Aufgaben erfüllt, man
brauchte ihn nicht mehr. Die Gliedkirchen gingen wieder ihre eigenen Wege. Manche waren
erschrocken, zumal die, die für den Bund gearbeitet hatten, verbanden mit ihm Emotionen.
Institutionen jedoch wollen nüchtern gesehen werden. Fallen ihre Funktionen weg, hat der
Mohr seine Schuldigkeit getan. Er kann gehen.
2.2 Die Einheitsdebatte bekam eine neue Wendung, als der Tübinger Kirchenrechtler Prof. Dr.
Martin Heckel am 31. August ein Gutachten vorlegte: „Die Vereinigung der evangelischen
Kirchen in Deutschland“. (die erweiterte Fassung erschien 1990 als Buch in der Reihe Ius
Ecclesiasticum als Nr. 40) Für Heckel stellte sich der Sachverhalt juristisch einfach und klar dar:
Die Mitgliedschaft der östlichen Gliedkirchen in der EKD hat niemals aufgehört, sondern
lediglich geruht. Denn der Rat der EKD habe weder 1969 noch danach die östlichen
Gliedkirchen aus ihrer Zugehörigkeit zur EKD entlassen, sondern nur die Feststellung getroffen,
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Texte aus der VELKD Nr. 152
dass die östlichen Mitglieder gehindert seien, in den gemeinsamen Gremien ihre Funktionen
auszuüben. Im übrigen habe er die Gründung des BEK zur Kenntnis genommen und
respektiert, sich aber niemals förmlich und rechtserheblich zu ihm verhalten.
Ein Sturm der Entrüstung brach los. Der BEK sei durchaus nicht bloß vom DDR-Staat
erzwungen worden. Er sei viel mehr als eine Notlösung gewesen etc. etc. Aber die 20 Jahre
später geäußerten Absichten und vermuteten Motive – schon 1969 waren sie in Thüringen und
Sachsen, aber auch bei verschiedenen Personen derselben Kirche durchaus unterschiedlich
gewesen – zählten nicht gegenüber den juristischen Fakten und der nüchternen Expertise von
Heckel. Sie kam zudem dem Wunsch einiger östlicher Landeskirchen nach einer baldigen
Lösung der Probleme entgegen. Als schließlich Mitglieder des Rechtsausschusses der EKDSynode aufgrund des Heckel-Gutachtens einen Gesetzestext für die Synoden Ost und West zur
Wiederherstellung der Einheit der EKD formulierten, war der Weg vorgezeichnet. Einigen
östlichen Mitgliedern in der Gemeinsamen Kommission fiel die Zustimmung nicht leicht, aber
andere zustimmungsfähige Vorschläge konnten sie auch nicht machen. Eine wichtige Änderung
der Grundordnung gab es. In Artikel 1 wurde die durch die Leuenberger Konkordie erreichte
Abendmahlsgemeinschaft zwischen lutherischen, reformierten und unierten Kirchen
aufgenommen. 1948 war die fehlende Abendmahlsgemeinschaft das entscheidende Hindernis,
die EKD eindeutig als Bundeskirche zu konstituieren. So schwankte sie zwischen Kirche und
Kirchenbund.
2.3 Die Verständigung über den staatlichen Einzug der Kirchensteuer und über den
Religionsunterricht in den öffentlichen Schulen gelang leichter als erwartet. Die Militärseelsorge
dagegen wurde zum Zankapfel. Bereits in der 1. Sitzung der Gemeinsamen Kommission am 30.
Mai war das Kirchenamt der EKD beauftragt worden zu prüfen, „wie verhindert wird, dass
nach einem Beitritt nach Artikel 23 GG die Militärseelsorge auch für die Kirchen des Bundes
wirksam wird.“ (KJ 253) Die Argumente wiederholten sich, es gelang kein Fortschritt in der
Sache, so dass die Gemeinsame Kommission am 12. September ein „Votum betr.
Militärseelsorge“ abgab:
„Die GK akzeptiert den einmütigen Wunsch der Kirchen des BEK, auch aufgrund ihrer
geschichtlichen Erfahrung den Auftrag zur Seelsorge an Soldaten in eigener Verantwortung
wahrzunehmen und dafür eigene Formen zu entwickeln. Den Militärseelsorgevertrag wollen
diese Kirchen nicht in Anspruch nehmen. Die GK bittet den Rat der EKD, die Gliedkirchen des
BEK bei der Verwirklichung ihrer Vorstellungen auch dadurch zu unterstützen, dass der
Bevollmächtigte darüber unter Mitwirkung des BEK mit der Bundesregierung verhandelt. Die
grundsätzliche Aussprache über Gestaltung und eventuelle Veränderungen der Militärseelsorge
soll nach der Zusammenführung der Kirchen weitergeführt werden.“ (KJ 264)
Während die katholische Kirche unmittelbar nach dem 3. Oktober 1990 ihre Militärseelsorge
auf das Gebiet der östlichen Bundesländer ausdehnte, suchten die östlichen evangelischen
Kirchen einen eigenen Weg. Der Militärseelsorgevertrag von 1957 war für sie zum Symbol
einer EKD geworden, die sich von ihren östlichen Gliedkirchen abgewendet und diese ihrem
Schicksal überlassen hatte. Denn der DDR-Staat hatte mit dem Hinweis auf die durch den
Militärseelsorgevertrag gegebene Allianz von EKD und NATO von den evangelischen Kirchen
in der DDR die Aufkündigung der Gemeinschaft mit der EKD verlangt. Die kirchlichen
Positionen in der Friedensfrage besonders seit den 70er Jahren und die faktische Distanz zu
allem Militärischen – es gab in der NVA keine Offiziere, die Mitglieder einer Kirche waren und
in kirchlichen Gremien mitarbeiteten – machten die Existenz eines zwischen Staat und Kirche
abgeschlossenen Militärseelsorgevertrags und die Präsenz der Kirche in den Streitkräften immer
mehr zum Problem. Manche jungen Gemeindeglieder absolvierten zwar den von ihnen
29
Texte aus der VELKD Nr. 152
geforderten Wehrdienst in der NVA. Das verurteilte man nicht. Aber als das „deutlichere
Zeichen“ galt der Dienst ohne Waffe, im Osten bei den Bausoldaten, also immer noch im
militärischen Bereich, im Westen getrennt von ihm als Zivildienst. Seelsorge an einzelnen
Wehrpflichtigen, sofern sie den Gemeindepfarrer aufsuchten, hatte es in der DDR gegeben. Jetzt
war sie ohne Behinderung sogar auf militärischem Gelände möglich. Dafür wurden auch Pfarrer
beauftragt oder sogar freigestellt. Gegen förmliche Vereinbarungen mit dem Staat hatte man
keine Einwendungen. Aber der Status eines staatlichen Beamten für den in den Streitkräften
tätigen Pfarrer und eine dem Verteidigungsministerium nachgeordnete staatliche Behörde als
Verwaltungsstelle lehnte man strikt ab. Die Praxis ökumenischer Partner, bei denen die Pfarrer
als Soldaten sehr viel stärker in das Militär eingebunden waren, wurde gar nicht zur Kenntnis
genommen. Schon gar nicht die Wege, die man in Polen und Ungarn ging; dort fand man ohne
Skrupel Anschluss an die Üblichkeiten vor 1945 und orientierte sich an der amerikanischen
Armee.
Es wurde ein langer und mühsamer Weg bis zu einer einheitlichen Seelsorge an Soldaten.
Kommissionen arbeiteten, Synoden debattierten, Verhandlungen mit dem Staat wurden
erbeten. Der Bundeskanzler jedoch sah keine Veranlassung, den Militärseelsorgevertrag für die
westliche EKD zu ändern. Es war ja auch niemand in der Lage, über Einschränkungen der
kirchlichen Freiheit Klagen vorzubringen; immerhin lagen Erfahrungen aus 35 Jahren vor. Der
Staat war aber bereit, für die östlichen Kirchen eine befristete besondere Vereinbarung zu
treffen.
Vieles war nicht nur für die Vertreter des Staates schwer zu begreifen. Während der Gespräche
über die besondere „Rahmenvereinbarung Ost“ zum Beispiel beanstandete ein aus BerlinBrandenburg entsandtes Kommissionsmitglied die vorgesehene Erstattung der Personal- und
Sachkosten durch den Staat. Als der Staatssekretär nachfragte, ob man denn die Pfarrer selbst
bezahlen könne und wolle, und der Angesprochene antwortete, nein, das Geld habe man
nicht, mussten die Teilnehmer des Gesprächs tief durchatmen. Der Staat stimmte zu, die in den
neuen Bundesländern tätig werdenden Pfarrer nicht in das Beamtenverhältnis aufzunehmen
und sie nicht dem Kirchenamt für die Bundeswehr zu unterstellen. Der Militärbischof sollte die
Klammer sein für die nach dem Vertrag und nach der Vereinbarung tätigen Pfarrer.
Die bis zum 31.12.2003 befristete Rahmenvereinbarung schuf die Möglichkeit, die Praxis der
Militärseelsorge kennen zu lernen und eigene Erfahrungen zu sammeln. Pfarrer, die gewonnen
werden konnten, ließen sich zunächst meist skeptisch auf ihre Aufgaben in der Bundeswehr
ein. Bald aber nahmen sie die Gelegenheiten zur Seelsorge, zur Präsenz in der Bundeswehr
gerne und dankbar wahr. Das Misstrauen gegenüber dem Militärseelsorgevertrag baute sich ab.
Nach einiger Zeit trugen sie ihren Kirchenleitungen vor, keine Einwände gegen die Übernahme
des Vertrags auch für den Bereich der östlichen Kirchen zu haben. Er sichere ihre
Unabhängigkeit und ihre Wirkungsmöglichkeiten besser als die Rahmenvereinbarung. Neben
der Zeit, die ins Land gegangen war, und den jetzt auch von der Bundeswehr geforderten
Auslandseinsätzen waren die Voten der eigenen Pfarrer die größte Hilfe, zum 1.01.2004 den
Militärseelsorgevertrag auf die östlichen Gliedkirchen der EKD auszudehnen. Einige
Änderungen, die ausgehandelt worden waren, betrafen nicht die Substanz der Abmachungen
von 1957; sie waren Anpassungen an inzwischen sinnvolle Veränderungen.
Die neue Einheit der EKD wurde von den Synoden des BEK und der EKD am 24.02.1991 mit
Wirkung vom 26.06. beschlossen. Die erste gemeinsame Synode trat am 28. Juni in Coburg
zusammen. Wie 1948 in Eisenach stimmte man kein Tedeum an. Die evangelische Christenheit
in Deutschland zeigt in Sachen kirchlicher Institutionen keine Emotionen. Die Nüchternheit hat
auch Vorteile. Anziehend jedoch ist sie weder für Außenstehende noch Zaungäste.
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Texte aus der VELKD Nr. 152
2.4 Zuvor hatte sich die Gemeinsame Kommission noch zu zwei Themen äußern müssen, die
im Prozess der staatlichen Einheit eine zentrale Rolle spielten: Abtreibung und Eigentum.
In der DDR hatte die Fristenlösung gegolten, in der Bundesrepublik setzte ein straffreier
Abbruch einer Schwangerschaft besondere Notlagen (Indikationen) voraus. Wie energisch
Bischöfe und ihre Kirchenleitungen gegen die Fristenlösung des DDR-Staats protestiert hatten,
war dem Gedächtnis entfallen. Sicher, in den Kirchenleitungen und Synoden gab es auch jetzt
kein einfaches Ja zur Abtreibung. Den Schwangerschaftsabbruch als Mittel der
Geburtenregelung, wie er von nicht wenigen geübt wurde, sah man vielmehr mit großer Sorge.
Aber die Fristenlösung mutierte jetzt zu so etwas wie einer Errungenschaft der DDRVergangenheit. Dagegen hatte sich die EKD mehrfach gegen eine Fristenlösung ausgesprochen,
im Herbst 1989 noch einmal zusammen mit der katholischen Deutschen Bischofskonferenz in
einer viel beachteten Denkschrift „Gott ist ein Freund des Lebens“. Es ist schließlich eine
gemeinsame Stellungnahme zustande gekommen. Der Weg zu ihr war freilich mühsam.
Zur Regelung der Eigentumsfrage ist am 6. Oktober 1990 von der EKD und der Konferenz der
Kirchenleitungen des BEK ein gemeinsames Wort veröffentlicht worden „Unrecht überwinden,
Frieden erhalten“. Erst jetzt bei der Vorbereitung dieses Vortrags sehe ich, dass Jürgen
Schmude, der den Entwurf geschrieben hat, voll und ganz der Position von Richard Schröder
gefolgt war, die dieser für die Ost-SPD vor der Volkskammerwahl im März 1990 erarbeitet
hatte (vgl. R. Schröder, Deutschland schwierig Vaterland, 1993, S. 62-70).
An die Stelle von altem Unrecht sollte kein neues Unrecht treten, der Schutz redlichen Erwerbs
sollte Vorrang haben vor etwaiger Rückgabe. Wörtlich heißt es:
„... Die Erwartung wäre falsch, dass sich die Jahre und Jahrzehnte der ungerechten Verhältnisse
auslöschen ließen und eine volle Wiederherstellung des früheren Zustandes zu erreichen wäre.
In begrenztem Maße, zumal bei Eigentumsentzug, aber ist Wiedergutmachung vorstellbar ...
Den Kränkungen durch das alte Unrecht dürfen durch die Wiedergutmachung nicht neue
Feindschaft und Verbitterung folgen. Die Neuordnung wäre misslungen, wenn sie zum Anlass
für langjährige Unruhen und unfriedliche Auseinandersetzungen geriete ...
Redlicher Erwerb durch den jetzigen Eigentümer hat in der Regel Vorrang vor dem
Rückgabeanspruch des früheren Eigentümers. Dafür sind vor allem Umstände zu
berücksichtigen, wo der jetzige Eigentümer auf das Eigentum zur Erhaltung seiner
wirtschaftlichen Lebensgrundlage angewiesen ist, während der frühere Eigentümer das
Eigentum zur Sicherung seines Lebenszuschnitts nicht benötigt ...“ (KJ 223f)
3. Unbewältigte Aufgaben. Die evangelischen Kirchen in Deutschland vor bitteren
Realitäten.
3.1 Die Erkenntnis war ein Schock. Dabei hätte es jederman(n) und jedefrau längst wissen
können. Aber die Tatsachen waren verdrängt worden im Osten wie – vielleicht noch stärker –
im Westen: Die Zahl der Kirchenmitglieder war in den 40 Jahren DDR-Geschichte dramatisch
geschrumpft. Das dichte Netz der Pfarrstellen war dagegen erhalten geblieben. Die Gehälter
waren ja gering. Das nötige Geld ließ sich verhältnismäßig einfach beschaffen. Noch in den 50er
Jahren unterschied sich die Mitgliedschaft in beiden Teilen Deutschlands kaum. Im Osten
freilich dominierte die evangelische, im Westen herrschte Parität mit der katholischen Kirche.
Genaue Zahlen lagen 1990 nicht vor. Aber mindestens 60% der Bevölkerung gehörten keiner
Kirche mehr an. Vor allem die jungen Leute fehlten. Die Zahl der Taufen, Konfirmationen und
Trauungen hatte ständig abgenommen. Dabei waren die regionalen Unterschiede beträchtlich.
Im Erzgebirge und der Rhön konnte man noch von volkskirchlichen Verhältnissen sprechen.
Vollends im katholischen Eichsfeld waren die Menschen mit ihrer Kirche eng verbunden
geblieben. Am Montag nach dem Weißen Sonntag hatten dort die Erstkommunionkinder
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Texte aus der VELKD Nr. 152
schulfrei. Daran wagte der Staat nicht zu rühren. Doch in Pommern und Brandenburg und
Mecklenburg sah das anders aus. Da nahm man keine Rücksicht mehr auf kirchliche Sitten.
Vollends in den Großstädten Berlin-Ost, Halle, Karl-Marx-Stadt, Leipzig sah die Bilanz düster
aus. In ihnen gehörten vielleicht noch 10% einer Kirche an. Mehr nicht.
Anfangs hoffte man, mit dem Ende der DDR kehrten viele in die Kirche zurück. So war das ja
auch nach 1945 gewesen. Der thüringische Landesbischof zum Beispiel war da guter Dinge.
Aber man vergaß, dass 40 Jahre eine ungleich stärkere Gewöhnung sind als 12. Der Glaube, die
Kirchenzugehörigkeit müsse von einer auf die nächste Generation weiter gegeben werden.
Bricht diese Tradition erst einmal ab, ist der Bruch nur schwer zu heilen. Kirchliche Bräuche
werden nicht mehr gepflegt. Es breitet sich Gottvergessenheit aus, nicht einmal kämpferischer
Atheismus. Jedenfalls fanden die Menschen nach 1989 nicht zurück in die Kirche. Sie hatten
sich ohne Religion eingerichtet. Sie sahen keine Veranlassung, das zu ändern. Zumal in dem
Teil Deutschlands, dem man beitreten wollte, der Glaubenseifer und die Liebe zur Kirche auch
sehr begrenzt waren. Die übrig gebliebenen, überalterten, kleinen Gemeinden hatten sich aber
keineswegs hin zu einem freikirchlichen Typus entwickelt. Das hätten einige Kirchenleute
gerne gesehen. Aber die überkommenen volkskirchlichen Verhaltensweisen dominierten. Neue
Verbindlichkeiten, das Gemeindeleben zu tragen und sich finanziell stark zu engagieren, waren
die Ausnahme. Der fromme Eifer hielt sich in Grenzen.
Im evangelischen Deutschland herrschten andere Verhältnisse als im katholischen Polen oder
orthodoxen Rumänien. Die Ausdünnung der Kirchenmitgliedschaft konnte man auch nicht
einfach dem DDR-Staat anlasten. Für sie gab es Vorboten. Der Westen mit seinen seit den 70er
Jahren hohen Kirchenaustrittszahlen zeigte, wie labil auch hier die Verankerung der Kirche in
der Bevölkerung war. Nicht erst seit gestern. Unter ungünstigeren Bedingungen wäre der
lautlose Abschied nicht anders als im Osten verlaufen. Sobald die Kirchenzugehörigkeit zu viel
kostete – im wörtlichen und im übertragenen Sinn – gab man sie ohne Skrupel und ohne
Schmerzen auf.
Schon in den 20er Jahren hatte der spätere Berliner Generalsuperintendent und Oldenburger
Bischof Gerhard Jacobi in seinem anonym publizierten „Tagebuch eines Großstadtpfarrers“ den
radikalen Traditionsbruch vor Augen geführt. Der Glaube der Christen, kirchliche Bräuche
waren unbekannt geworden. In Halle machte nur noch ein Teil des Bürgertums von der Kirche
Gebrauch. Die Mehrheit brauchte sie nicht mehr. Günther Dehn hat denselben Sachverhalt für
Berlin beschrieben in seinen schönen Erinnerungen „Die alte Zeit, die vorigen Jahre“. Die DDROberen ratifizierten, was lange schon unterwegs gewesen war.
Der Prozess der Entkirchlichung fand aber nicht nur in den Großstädten statt. Carl Büchsel
erzählt in seinen „Erinnerungen aus dem Leben eines Landgeistlichen“, wie er im Vikariat ein
Dorf in der Mark Brandenburg vorgefunden hatte (als Buch erschienen 1861, die einzelnen
Kapitel waren zuvor Beiträge in Hengstenbergs Evangelischer Kirchenzeitung). Büchsel
schreibt: „... Der Kirchhof war wüste, die Kirche unreinlich, und von der ganzen großen
Gemeinde kamen vier Männer zum Gottesdienst, kein Kind und kein Weib“(S.4). Auf dem
Rückweg tröstet der Küster den Vikar damit, „dass er oft mit dem Pastor zurückgekehrt sei,
ohne den Gottesdienst abzuhalten, weil keiner gekommen sei.“ Als es im Sommer etwas besser
aussah und der Vikar sich bei einem Bauern, der während des Gottesdienstes stets schlief und
laut schnarchte, nach seinen Gründen für den Kirchgang erkundigte, erhielt er zur Antwort:
„Zu Hause setzen einem die Fliegen so viel zu, dass man nicht zur Ruhe kommt, in der Kirche
dagegen ist es so schön kühl; im Winter gehe ich auch nicht in die Kirche.“ (S.17)
3.2 Ich will Sie nicht länger mit dergleichen Anekdoten unterhalten. Immerhin sorgen sie für
einige Anschauung über die tatsächlichen Verhältnisse Anfang des 19. Jahrhunderts. Bereits
Luther hatte über seine Wittenberger geklagt, sie verstünden die evangelische Freiheit als
Erlaubnis, auf den Besuch des Gottesdienstes zu verzichten.
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Texte aus der VELKD Nr. 152
Warum es so weit kam? Natürlich gibt es da mehr als nur einen Grund. Von einiger Bedeutung
scheint mir dieser zu sein: Das evangelische Kirchenwesen ist seit seinen Anfängen weniger fest
als das orthodoxe und das katholische in der Geschichte verankert. Überkommene Bräuche gibt
es nicht viele. Oder sie sind intellektuell ziemlich anspruchsvoll wie das tägliche Lesen in der
Heiligen Schrift. Traditionen haben, so jedenfalls die Theorie, wenig Gewicht gegenüber der
Ursprungsgeschichte und der aktuellen Auslegung. Wird aber die Gegenwart wichtiger als die
Vergangenheit, werden die Inhalte des Glaubens zu leicht dem Geist der jeweiligen Gegenwart
angepasst. Der Zeitgeist hat dann kein Widerlager mehr in den Urkunden des Glaubens und in
den Bekenntnissen der Kirche.
Konkret: Als die biblischen und reformatorischen Inhalte an Strahlkraft einbüßten, verband man
sie oder ersetzte sie zuerst mit nationalen und später sogar nationalistischen Parolen und
Träumen. Der Kulturprotestantismus versöhnte die Welten des Christentums und Bürgertums
um den Preis einer Verharmlosung und Domestizierung des biblischen Glaubens; er wurde
eingepasst und verlor seine kritischen Potenzen. Auf die deutschchristliche Versuchung folgte
eine Phase sozialistischer Hoffnungen. Die Hochschätzung der Menschenrechte rückt sie
plötzlich ins Zentrum christlicher Verkündigung. Ein neuer Blick auf die beklagenswerte
Geschichte der Unterdrückung der Frauen ist Motor einer feministischen Theologie, die nicht
nur die Geschichte des Glaubens und seiner Urkunden neu schreiben, sondern sogar die
überlieferten liturgischen Ordnungen in der Substanz ändern will. Es ist jeweils der gleiche
Vorgang: Strömungen, Errungenschaften der Gegenwart werden als Folgen des christlichen
Glaubens gedeutet und rücken auf zu Inhalten der um Aktualität bemühten Verkündigung.
Eine Kirche aber, die als ihre Botschaft die Themen der Zeit lediglich wiederholt, ist den
Zeitgenossen zwar nicht fremd, trifft aber nicht einmal auf neugieriges Interesse. Sie wird
belanglos.
3.3 Vielleicht sind das für uns hier zu große Themen. Deshalb will ich zum Schluss uns Pfarrer
zum Thema machen, über unseren Anteil an der Misere nachdenken. Von weither kommende
geistesgeschichtliche Bewegungen können wir ja nicht umkehren und schon gar nicht
ungeschehen machen. Aber wie wir Pfarrer wahrgenommen werden, das muss uns zu denken
geben. Da können wir reagieren.
Julius Schniewind wurde nach 1945 neben seinem Beruf als Professor für Neues Testament
zusätzlich mit dem Amt eines Propstes der provinzsächsischen Kirche betraut. Seine Besuche in
den Pfarrhäusern beunruhigten ihn und führten zu der noch heute lesens- und
beherzigenswerten Schrift „Von der geistlichen Erneuerung des Pfarrerstandes“. Ohne eine
solche Erneuerung sah er keine Zukunft für seine Kirche.
Günter de Bruyns Lebensbericht „Vierzig Jahre“ (1996) hält uns Heutigen den Spiegel vor, legt
den Finger in eine Wunde. Er erzählt, wie er – als Katholik – in Kontakt gekommen ist mit der
evangelischen Kirche, wie er in christlichen Friedensgruppen mitgearbeitet hat, Lesungen in
märkischen und mecklenburgischen Dorfkirchen hielt, „wo die überfüllten Emporen immerfort
knarrten, die dicken Feldsteinmauern vor der feindlichen Welt zu schützen schienen und ein
barocker Kanzelaltar an die Bedeutung des wahren Wortes gemahnte.“ Das alles, sagt er, gehört
für ihn zu den schönsten Erinnerungen dieser Jahre. Dann folgt eine Passage, die mir den Atem
nimmt: „Der Wahrheit wegen muss aber auch erwähnt werden, dass einer wie ich, der von
Kindheit an Theologen als Verwalter der Sache Gottes auf Erden betrachtet und entsprechend
verehrt hat, im Umgang mit ihnen manchmal enttäuscht worden war. Pfarrhäuser, die ich
betreten durfte, entsprachen oft nicht dem Bild, das ich mir von ihnen aufgrund ihrer
Bedeutung für die deutsche Literatur- und Bildungsgeschichte gemacht hatte. Ich traf auf eitle
oder beschränkte Pfarrer, die meinem Idealbild wenig entsprachen, und auch auf solche, für die
der Glauben nur eine Berufsangelegenheit zu sein schien. Sie erweckten zumindest den
Eindruck, dass sie ohne Talar als Christen nicht erkannt werden wollten. Vielleicht taten sie das
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Texte aus der VELKD Nr. 152
in dem Bestreben, sich nicht durch christliches Bekennen, Mahnen und Lehren über die
Mitmenschen zu erheben, vergaßen darüber aber, dass man doch in ihnen gerade den Mahner,
Bekenner und Lehrer sucht. Dass die tradierte Ehrfurcht vor den Pastoren schwindet, hat in
erster Linie sicher mit dem Schwinden des kirchlichen Einflusses, daneben aber auch etwas mit
der Anpassungssucht der Pastoren zu tun“ (S.235).
Günter de Bruyn sind diese Mitteilungen und Überlegungen so wichtig, dass er sie drei Jahre
später in seinem Buch „Deutsche Zustände“ (1999) noch einmal aufgenommen, unterstrichen
und in einen größeren Zusammenhang gestellt hat (S.29-39, Punkte 6. und 7.).
Man kann natürlich sagen, de Bruyn übertreibe. Er habe ein falsches, ein katholisches
Pfarrerbild etc. etc. Ich jedoch fände es besser, ließen wir uns von ihm zur Ordnung rufen, zu
unserer Sache. Jedenfalls ist die Mahnung richtig, uns vom Sog der Säkularisierung nicht mit
einer, wie das Wolfgang Huber genannt hat, Selbst-Säkularisierung mitreißen zu lassen. Wir
leben in dieser Welt. Aber wir sollen uns ihr, sagt der Apostel, nicht gleichstellen (Röm 12,2).
Die in der Zeit von 1945 bis 1989 als Christen im Osten Deutschlands, in der DDR, gelebt
haben, waren uns im Westen in diesem Verzicht auf Anpassung in vielem voraus. Wir müssen
jetzt gemeinsam jede Mühe aufwenden, ehrliche Zeitgenossen zu sein, Zeitgenossen jedoch, die
zugleich aus den Quellen einer anderen Zeit leben.
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Texte aus der VELKD Nr. 152
„Irritierungen auf dem Weg zur kirchlichen Vereinigung“
Generalsuperintendent i.R. Martin-Michael Passauer
Vorwort
I
Die Publikation „Zwischen Anpassung und Verweigerung“, in der sich Dokumente aus der
Arbeit des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR finden, beginnt mit dem Satz:
„Die Wiederherstellung der deutschen Einheit hat auch ihre kirchlichen Folgen gehabt. Die
ostdeutschen Landeskirchen, die 1969 den Bund der Evangelischen Kirchen in Deutschland
bildeten, gehören wieder der Evangelischen Kirche in Deutschland an. Sie ist zur
Rechtsnachfolgerin des Kirchenbundes geworden. Dieser hat mit dem 30.06.1991 seine Arbeit
beendet.“
Der damalige Ratsvorsitzende der EKD, Bischof Martin Kruse, hat diesem gemeinsamen Weg
gleichsam als Erbe mit auf den Weg gegeben: „Der kirchliche Einigungsprozess braucht Zeit,
wie das Zusammenwachsen der Menschen auch und zusammenwachsen können wir nur, in
dem wir zusammen wachsen.“
Wie ist das Zusammen wachsen gelungen, fragen wir, welche Irritationen auf dem Weg gab es
und gibt es immer noch und wo stehen wir heute?
Ich will zunächst mit einer kurzen Erinnerung beginnen:
Im September 1987 fand in Görlitz die Bundessynode statt, d.h. die Synode des Bundes aller
Ev. Kirchen in der DDR. Und diese Synode verabschiedete fast einstimmig eine klare Absage an
den Geist und die Logik und die Praxis der Abschreckung. Der Friede in Europa und das Leben
in unserem Land wird nicht dadurch sicherer, so äußerte sich die Synode, dass immer mehr
aufgerüstet und gegenseitig ein hohes Potential an Abschreckung aufgebaut wird. Stattdessen
braucht der Friede einen anderen Halt, als sich auf Waffengewalt zu stützen. In der Erklärung
von Görlitz stand dann auch der von der DDR-Regierung später heftig angegriffene Satz: „Die
Verweigerung des Wehrdienstes ist das deutlichere Zeichen des Christen“ Das war ein klares
Plädoyer für einen Wehrdienst ohne Waffen, der ja in den Einheiten der Bausoldaten möglich
war.
Fast zeitgleich tagte in Dresden die erste Ökumenische Versammlung für „Gerechtigkeit,
Frieden und Bewahrung der Schöpfung“. Ausgehend von einem Grundgedanken Dietrich
Bonhoeffers, der Bedrohung durch Kriege ein Friedenskonzil entgegen zu setzen, regte die
Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Vancouver 1983 ein solches Konzil
an. Der Stadtökumenekreis aus Dresden schlug den DDR-Kirchen 1986 vor, ein solches
Friedenskonzil einzuberufen. 1987 fand die erste Versammlung statt. Sie erhielt ihre Brisanz
dadurch, dass im Vorfeld dieser Versammlung alle Christen, Gemeinden und Basisgruppen in
der DDR aufgerufen wurden, zu zwei Fragen schriftlich Stellung zu nehmen:
1.
Welche Aufgaben der Gerechtigkeit, des Friedens und der Schöpfungsbewahrung soll
die Versammlung beraten?
2.
Was sollen Christen in ihren Kirchen in der DDR in diesen Aufgabenbereichen tun?
Etwa 13.000 schriftliche Eingaben wurden nach Dresden geschickt. Sie alle enthielten einen
Spiegel von Fragen, die sowohl die innerkirchlichen Themen ansprachen, als auch Fragen der
inneren Demokratisierung, der Grund-und Freiheitsrechte und des DDR-Alltages. Die Fragen,
die am heftigsten diskutiert wurden, hießen: Mehr Gerechtigkeit in der DDR, unsere Aufgabe,
unsere Erwartung. Im Februar 1988, im Oktober 1988 und im April 1989 folgten drei weitere
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Texte aus der VELKD Nr. 152
Versammlungen in Dresden, Magdeburg und wieder Dresden. Am Ende standen 12 Texte zu
allen wichtigen Lebensfragen in der DDR und ganz Europa, wie Umweltverschmutzung,
Rüstung, Demokratie, Gerechtigkeit, Zusammenleben in der Gesellschaft u.a.m. Es gibt heute
viele Christen aus der DDR, die sich wünschen, dass wir uns in diesem Jahr des Erinnerns vor
allem dieser Texte der Ökumenischen Versammlung annehmend fragen, was heute daraus
geworden ist.
Mit dem Aufwind dieses konziliaren Prozesses gingen wir in den Herbst 1989. Der Slogan:
„Keine Gewalt“ war gleichsam die Magna Charta unseres Handelns.
Viele Erkenntnisse des konziliaren Prozesses fließen im Herbst 1989 vielfach in die
Forderungen der Reformgruppen, wie „Neues Forum“, „Initiative Frieden und
Menschenrechte“ „Demokratischer Aufbruch“ und die Arbeit der Runden Tische ein.
Im Hintergrund stand eine Kirche, die mit einer inzwischen fast untauglich gewordenen
Standortbeschreibung von der Kirche im Sozialismus, nach einer neuem Identität suchte. Dabei
bewahrte sie ihren Glaubens- und Lebenssatz von der Evangelischen Kirche in der DDR als der
„Zeugnis und Dienstgemeinschaft.“ Diesen Leitsatz hat sie versucht zu leben. Seine
Ausdrucksformen fand er in der Bereitschaft der Kirche, Menschen Raum und Stimme zu
geben, die für sich keinen anderen Ort in der Gesellschaft mehr fanden. Ziel von allem
gesellschaftskritischen Handelns war eine Demokratisierung des bestehenden Gesellschaftssystems im Rahmen der vorgegebenen Koordinaten.
Vom 15.01 – 17.01 1990 fand in Loccum eine erste gemeinsame Klausurtagung von Vertretern
der EKD und des BEK statt.
In ihr hieß es u.a. „In der Öffentlichkeit beider Staaten wurde mit großer Hochachtung der
Beitrag gewürdigt, den die evangelische Kirche zum Wandel in der DDR geleistet hat.
Vieles ist hier zu nennen: die Friedensgebete und Fürbittgottesdienste, die Gespräche in den
Gotteshäusern, die Erklärungen der evangelischen Synoden und der Ökumenischen
Versammlung und besonders der persönliche Einsatz vieler Mitarbeiter und
Gemeindeglieder...“. Und am Ende heißt es: „trotz aller verständlicher Aufmerksamkeit, die
derzeit den deutsch-deutschen Themen gilt, bitten wir, die Aufgaben, die wir gegenüber den
Armen in unserer Welt haben, nicht zu vernachlässigen. Wir bitten die Gemeinden weiterhin
für die Gerechtigkeit, den Frieden und die Bewahrung der Schöpfung zu beten und zu
arbeiten.“
Das war das Gepäck, das viele von uns in die Wiedervereinigung – auch der Kirchen – trugen.
Dazu kam eine Hoffnung mit fast messianischem Charakter. Es sollte eine Gerechtigkeit für
erfahrenes Unrecht geben.
Ich selber war Vorsitzender einer großen Untersuchungskommission in Berlin, die von 1989 bis
1990 fast ein Jahr lang Anklagepunkte gegen Politbüromitglieder und andere leitende Genossen
aus den Sicherheitsapparaten gesammelt hatte. Viele Politbüromitglieder mussten vor dieser
Kommission Rede und Antwort stehen. In der Hoffnung, dass diese Verbrechen gegen die
Menschlichkeit, wie wir sie nannten, nun einer gerechten Strafe zugeführt werden, gingen wir
fröhlich in die Deutsche Einheit. Es hat nicht einen einzigen Prozess aufgrund unseres Materials
gegeben. Aus dieser Enttäuschung heraus mag wohl auch der Satz geboren worden sein, der in
gewissem Sinne auch auf die Kirche übertragen werden könnte: „Wir hofften auf Gerechtigkeit
und bekamen den Rechtsstaat.“
Behalten Sie diesen – sicher nicht sehr tragfähigen – Satz im Ohr, wenn ich jetzt einige Wege
auf dem Weg zur kirchlichen Vereinigung skizziere.
36
Texte aus der VELKD Nr. 152
II.
Es kam zunächst der Schock der Stasi-Verdächtigungen gegenüber vielen kirchlichen
Mitarbeitern und damit eine völlig unvermutete Debatte. Die Öffnung der Stasiakten und die
zügige freie Einsicht vor allem für Journalisten brachten sogenannte Enthüllungen und damit
eine Sprachlosigkeit der Kirche mit sich, von der wir uns lange nicht erholt haben. Berechtigte
und völlig unberechtigte Vorwürfe wurden in die Öffentlichkeit gebracht. Es galt nicht – wie
sonst üblich – bei ersten Verdächtigungen das Prinzip der Unschuldsvermutung. Sondern wer
öffentlich angeklagt wurde, musste selber den Gegenbeweis liefern. Leider sind die
Unschuldsbeweise dann fast gar nicht mehr öffentlich bekannt gemacht worden, sodass auf
manchen bis heute ein Vorwurf sitzt, den er nicht los wird und der ihn tief verletzt hat. So
mancher hat sich deshalb völlig zurückgezogen oder ist verbittert.
Es ist aber auch nicht zu leugnen, dass sich manche bewiesene Zuarbeit für die Staatssicherheit
von kirchlichen Mitarbeitern verheerend für unsere ganze Kirche ausgewirkt und Vertrauen
zerstört hat. Ereignisse aus DDR-Zeiten erscheinen nun mit der Kenntnis von Zuträgerdiensten
in einem anderen Licht, manche behaupten gar, die ganze Kirche wäre fehlgeleitet worden.
Dieser Vorwurf ist falsch und längst widerlegt. Auch wenn jeder einzelne Fall von konspirativer
Stasimitarbeit in der Kirche immer einer zuviel ist, ist die Zahl derer, die, wie wir sagen,
wirklich belastet sind, gering, sie liegt unter 1%. Unsere Kirche hatte eine
Untersuchungskommission eingesetzt, der sich alle Mitarbeiter stellen mussten. Begleitet wurde
diese Kommission von Seelsorgern, die für Gespräche zur Verfügung standen. Noch heute muss
jeder, der in ein leitendes Amt in unserer Kirche gewählt wird, sich einer solchen Untersuchung
stellen. Ich habe sie schon viermal durchlaufen müssen.
Dieser immer noch vorgetragene Vorwurf scheinbarer Unterwanderung der Kirche, ihre
scheinbare Staatsnähe, ihre Art der Konfliktlösung, ihr öffentliches Auftreten zu DDR-Zeiten,
ihre eigene Standortbestimmung: „Kirche im Sozialismus“ und der Umgang mancher
kirchenleitenden Persönlichkeiten mit kritischen Gruppen und Geistern, hat die Position der bis
eben noch so starken DDR-Kirche in vielen Gesprächen geschwächt. Misstrauen machte sich
breit und das Bild der DDR-Kirche als wackerer Bekenntnisgemeinschaft hing kräftig schief.
III.
Dazu kamen massive Probleme aufgrund einer neuen Rechtsordnung und eines damit
erweiterten Kirchenverständnisses.
Hatten wir bis dahin gelernt und gelebt, dass die Kirche nach der Confessio Augustana von
1530, Art. 7 von der Kirche: „... alle Zeit eine Heilige christliche Kirche sein und bleiben muss,
die die Versammlung aller Gläubigen ist, bei denen das Evangelium rein gepredigt und die
Heiligen Sakramente laut dem Evangelium gereicht werden." kam es nun anders. Es wurde
offenbar zu schnell vorausgesetzt, dass wir alle anderen Beschreibungen ebenso
selbstverständlich mit übernehmen.
Im Laufe der Zeit haben wir nach meiner Kenntnis aber lernen müssen, dass es innerhalb des
nun gesamtdeutschen Sprachgebrauchs neben der von uns gelebten und praktizierten Kirche
getreu unseres Bekenntnisses als Bekenntnisgemeinschaft – oder Zeugnis – und
Dienstgemeinschaft vor allem noch vier weitere Inhalte von Kirche gibt, die wir zu lernen
hatten.
Da ist zunächst:
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Texte aus der VELKD Nr. 152
1. Die Kirche als juristische Person und konfessioneller Interessenverband, als
Körperschaft öffentlichen Rechtes
Das war nicht nur schwierig zu verstehen, sondern auch schwer zu lernen.
Wir haben zum Beispiel nun endlich in allen neuen Bundesländern einen Staat-Kirche-Vertrag,
der viele Dinge einschließlich finanzieller Verbindlichkeiten regelt. Die sogenannten
Staatsdotationen – Verpflichtungen des Staates gegenüber der Kirche, die auch die DDRRegierung anerkennen musste, beschreiben nun Verbindlichkeiten gegenüber der
Pfarrbesoldung, des Bischofgehaltes, des Religionsunterrichtes und der Stiftungsaufsicht. Nach
einem strengen Reglement kann nun nicht mehr nach Belieben und eigenem Ermessen das
Staat-Kirche-Verhältnis beschrieben und gelebt werden. Es ist alles geregelt. Gemeindeglieder
nahmen an den Verhandlungen zum Staat-Kirche-Vertrag nur dann teil, wenn sie zur Leitung
der Kirche gehörten.
Zu der Kirche als juristischer Person gehörte auch die Übernahme des Beamtengesetzes,
einschließlich der Beamtenbesoldung. Aus einem beamtenähnlichen Verhältnis kommend,
haben wir die Beamtenverhältnisse der EKD übernommen. Vielen ist erst später bewusst
geworden, was das heißt. Der Pfarrbeamte hat nun z.B. auch ihm zustehende Rechte, die er
gegen seine Kirche vor jedem Gericht einklagen kann – in der Regel mit Erfolg. Initiativen der
DDR-Kirchen, von denen ich weiß, die den Austritt aus der Beamtenordnung forderten,
scheiterten an dem energischen Widerstand vieler Kirchen aus den alten Bundesländern.
Neu war z.B. für uns in der EKBO ein neuer Tarifvertrag, der heute noch mit drei
Gewerkschaften, ausgehandelt und unterzeichnet, umfassend alle Rechte und Pflichten der
Mitarbeiter regelt. Er gleicht heute dem TVL, dem Tarifvertrag der Länder. Der Vorteil: eine
Sozialarbeiterin kann mühelos aus dem öffentlichen Dienst in ein Dienstverhältnis der Kirche
wechseln, ohne Nachteile befürchten zu müssen. Die Gehaltseinstufung ist verlässlich und fern
ab von jeder Willkür. Der Nachteil: Bei finanzieller Notlage der Kirche kann man z.B. an die
Sonderzuwendungen (Urlaubs- und Weihnachtsgeld) nur durch eine Notlagenregelung heran,
die ausschließlich mit den Gewerkschaften ausgehandelt werden muss. Ein mühsamer Prozess.
Dieser Tarifvertrag befördert in vielen Gemeinden und kirchlichen Einrichtungen eine Flut von
Schiedsverfahren, weil es bei den Leitungsgremien immer noch zu viel Unkenntnis gibt.
Ein weiteres Gesetz von erheblichem Umfang, dass die allerwenigsten kennen, ist das
Mitarbeitervertretungsgesetz (MVG), es regelt die Arbeit von Mitarbeitervertretungen auf allen
kirchlichen Ebenen. So kann z.B. heute kein/e Mitarbeiter/Mitarbeiterin angestellt werden,
ohne dass die entsprechende MAV ihr Mitspracherecht in Anspruch nimmt. Das gilt auch für
Arbeitsverhältnis von Geringverdienern oder MAE-Kräften.
Heftigen Streit – vielleicht neben der Einführung des Kirchensteuergesetzes der Heftigste – hat
es bei der Einführung der Rechtsverordnung über die Seelsorge für Soldaten gegeben.
(Allgemein bekannt als Militärseelsorgevertrag). Das natürliche Misstrauen gegenüber jeder
Uniform, das wir in der DDR gleichsam mit der Muttermilch eingesaugt haben, brachte
erhebliche Distanz zur Bundeswehr. Außerdem drückte sich das unbändige Unabhängigkeitsbestreben auch in der Furcht aus, man könnte vereinnahmt werden( „Wes Brot ich ess, des
Lied ich sing“). Zusätzlich kam eine Hoffnung hinzu, dass es nach dem Erleben der friedlichen
Revolution und dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes eigentlich keine Wehrpflicht
mehr zu geben brauchte.
In meinem Umfeld erlebe ich bis heute bei etlichen Christen aus der DDR, dass dieser
Seelsorgevertrag ein großer Stachel in ihrer Seele ist.
Alles in allem musste gelernt werden, dass nun ein juristischer Ton in die Kirche eingezogen ist,
der viele zu dem Satz veranlasst: „Das ist nicht mehr meine Kirche.“ Die Rechtsordnung der
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Texte aus der VELKD Nr. 152
Bundesrepublik macht auch vor der Kirche nicht Halt. Die Kirchen haben ihre Monopolstellung
als einzige institutionelle Kritikinstanz gegenüber dem Staat verloren. Im Vollzug der
Pluralisierung und Demokratisierung des gesellschaftlichen Diskurses hat die Kirche nur noch
eine Stimme unter vielen. Wir nehmen nun hoheitliche Aufgaben wahr. Wir sind
Verhandlungspartner am Tisch von Verträgen. Wir sind juristische Personen. Der
Gemeindekirchenrat als die Gemeindeleitung schließt Pacht- oder Miet- oder andere Verträge
ab, die rechtsverbindlichen Charakter haben. Vor den Folgen, besonders möglicher Haftungen,
scheuen sich viele Laien.
Ich kann mich nicht erinnern, dass für diesen Bereich im Zuge des Zusammenwachsens
inhaltliche Alternativen ernsthaft im Gespräch waren. Auch hier hatte sich die Grundtendenz
durchgesetzt: wenn wir Alternativen überlegten, können diese für uns nur mit Einbußen
verbunden sein. Deshalb wollen wir an dem strukturellen Modell Kirche aus den alten
Bundesländern nichts verändern, weil es sich bewährt hat.
2. Die Kirche als Steuerverband
Die Kirche ist auch eine Zwangsgemeinschaft zur Erhebung der sogenannten Mitgliedsbeiträge
nach eigenem Besteuerungsrecht. Der Staat ist für sie als Inkassounternehmen tätig. Katholische
wie evangelische Kirchen nehmen z. B. 7 Milliarden € jährlich an Kirchensteuern ein. Um sie
einzunehmen, brauchen wir als Kirche ein Instrumentarium, das uns der Staat an die Hand
gibt. So sind wir als Kirche ein Steuerverband, der besonders in dieser Zeit darauf achtet, dass
der Staat nicht weiter seine Steuerpolitik orientiert auf die Verlagerung von direkten zu
indirekten Steuern. Je stärker der Staat Steuerpolitik über die Mehrwertsteuer betreibt, verlieren
wir Einnahmen, weil wir an der Lohn- und Einkommensteuer hängen.
Im Vereinigungsprozess heftig umstritten. Dadurch, dass wir als DDR-Kirche immer Empfänger
von Geld waren (50% von allen Geldern kamen aus dem Westen) lebten wir in dem
Bewusstsein, mit den freiwilligen Spenden der Gemeindeglieder auskommen zu können. Hier
dominierten nun in den Ost/West-Auseinandersetzungen die Finanzdezernenten.
Ökonomische Lehrstunden waren an der Tagesordnung, der Wert des Geldes verdrängte lange
Zeit alle anderen Wertedebatten, das Messen aller kirchlichen Arbeit an ihrer finanziellen
Leistbarkeit verdrängte nun auch jede Diskussion über den Wert der „Sola Gratia“. In dieser
Zeit haben viele die Binnenorientierung verloren. Weil das Geld und seine Kraft in den Kirchen
der DDR eine untergeordnete Rolle spielte. Nun, nachdem für die Kirchen aus den neuen
Bundesländern der EKD-Finanzausgleich fast als einzige Quelle außerhalb der eigenen
Möglichkeiten übriggeblieben ist, steigt die Sorge, wie es mit der Kirche wohl weitergehen
könnte. Dennoch erlebe ich bei Debatten über Arbeitszweige, dass immer noch der Schlachtruf
ertönt: „Aber dafür muss doch Geld da sein.“
So musste das äußere Haus der Kirche in den letzen 15 Jahren kräftig umgebaut werden.
Konzentration hieß das Stichwort, die Verhältnismäßigkeit wahren, Strukturen den
Gegebenheiten anpassen, und nur das Geld ausgeben, was wir auch einnehmen. Dadurch kam
es zu oft unverständlichen Maßnahmen. Kirchenkreise und Gemeinde wurden zusammengelegt,
Pfarrsprengel ausgeweitet, Baumittel für Sanierungen gekürzt und Stellen gestrichen.
Arbeitsbereiche wurden zusammengelegt, Ausbildungsstätten, wie die Predigerschule Paulinum
geschlossen, das Kinderdiakoninnenseminar oder das Sprachenkonvikt mit der Theologischen
Fakultät der Humboldt-Universität zusammengelegt, die Kirchenzeitung auf Westberliner
Niveau gebracht und Gebäude veräußert. Gleichzeitig entstand mit dem Religionsunterricht in
der Schule und Berufsschule ein neuer Arbeitsbereich, in dem heute, neben der Diakonie, die
meisten Mitarbeiter arbeiten. Die Verlegung der Hauptstadt des Vereinten Deutschlands nach
Berlin brachte für unsere Kirche weitere, neue Erwartungen und Herausforderungen. Die
Politik und die Politiker haben Erwartungen an die Kirche, die wir als DDR-Kirche nicht
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kannten. Gottesdienste zum Beginn einer Legislaturperiode des Bundestages, Gottesdienste zu
aktuellen politischen Daten, Gottesdienste, die einem Staatsakt glichen, oder Trauerfeier für den
Bundespräsidenten, Bundesbürger aus den alten Bundesländern zogen in unsere Regionen,
engagierten sich in den Gemeinden und übernahmen in den Ortsgemeinden und der
Landeskirche Verantwortung. Damit entstand auch noch mal eine neue geistliche Erwartung,
die viele zunächst mehr als Bedrohung denn als Geschenk betrachteten.
3. Die Kirche als Wirtschaftsunternehmen mit gewerblichen Aktivitäten
Die Kirche in den neuen Bundesländern ist auch wieder Besitzerin von Feldern, Wäldern, Seen,
Campingplätzen, Weinbergen, Bauland, Brachland, Häusern, Straßen, Plätzen, Verlagen,
Fabriken, Sportplätzen und vielem anderen. Wir sind als ostdeutsche Kirchen und Christen über
Nacht als Wirtschaftsunternehmen tätig geworden und unterliegen deshalb selbstredend den
Gesetzen eines Wirtschaftsunternehmens. Dazu braucht es Berater, Supervisoren,
Rechtsanwälte, Banken und Politiker, die in der Regel alle aus den alten Bundesländern
kommen. In den kirchlichen Kreisen, die den wirtschaftlichen Gesetzen verpflichtet sind, ist das
Bild von einer solidarischen Kirche, die z.B. den Inhalten der Ökumenischen Versammlung
folgt, völlig fremd. Es wird nach Erfolgen gemessen, nach Effektivität und Rentabilität, nach
Gewinnmaximierung und guter Anlagenpolitik. Wer Gewinn erwirtschaftet oder gute
Rücklagen von den Vätern ererbt hat, musste es – so war die Beratung der Experten – zu 70%
in Festgeld und 30% in Fonds anlegen. Geld soll arbeiten.
Mitglieder in der Leitung der Kirche wurden nun auch nach Qualitätsmerkmalen ausgesucht,
die in DDR-Gemeindekirchenräten oder Presbyterien nicht vorkamen. Juristen, Finanzer,
Wirtschaftler, Unternehmer oder Sozialwissenschaftler. Damit machte sich auch ein neues
Leitungsverhalten bemerkbar. Die eingeübte menschliche Wärme und die auf solidarisches
Handeln ausgerichtete Entscheidungswilligkeit wurden teilweise durch das Insistieren auf Recht
und Ordnung verdrängt. Es ist sicher nicht nur falsch zu behaupten, dass in der
Zusammensetzung heutiger Leitungsgremien der Kirche manche Entscheidung im Herbst 89
nicht hätten getroffen werden können. Zu viele juristische und andere Bedenken hätten
schnelle Entscheidungen blockiert.
4. Die Kirche als diakonisches und karitatives Werk
Die Kirche ist inzwischen sozialer Anbieter für alle Bereiche menschlichen Lebens geworden.
gleichsam von der Wiege bis zur Bahre: von Geburtenkliniken über Jugendeinrichtungen und
Schulen, Frauenhäuser, Männererholungsheime und Freizeitstätten, Diakoniestationen,
Krankenhäuser, Senioreneinrichtungen, Sterbehäuser und Beratungsstellen.
Die Kirche ist – wie es heute heißt – Marktanbieter – und inzwischen ein unüberhör- und
unübersehbarer. Manche großen diakonischen Träger machen sich untereinander Konkurrenz –
zu DDR-Zeiten undenkbar –, nur um Marktanteile zu sichern. In vielen Gegenden
Ostdeutschlands ist die Kirche als diakonischer Träger der größte Arbeitgeber. Alle unseren
diakonischen Einrichtungen und Stiftungen mussten nach der friedlichen Revolution das
wirtschaftliche Einmaleins neu lernen. Durch die Trägerübernahme vieler sozialer
Einrichtungen, die sich in kommunaler Hand befanden, arbeitet nun auch ein hoher
Prozentsatz von Mitarbeitern bei der Diakonie, die nicht der Kirche angehören. Ein völlig neues
Mitarbeiter- und Dienstverständnis macht sich breit. Zwar hängen in den Dienststuben auch
sogenannte Leitsätze der Diakonie. Aber danach gearbeitet werden kann kaum, weil mehr und
mehr auch das „Hauptsache satt und sauber“-Prinzip Einzug gehalten hat. Gestandene
Mitarbeiter in der Diakonie, die den Beruf immer auch als Berufung verstanden haben,
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verstehen die Welt und ihren Arbeitgeber nicht mehr. „Das ist nicht mehr die Einrichtung, für
die ich mal durch dick und dünn gegangen bin“.
Dazu kommt, dass durch die Situation auf dem Arbeitsmarkt, durch die neue Armut in
Deutschland und die Demontage der klassischen Familienstruktur, die Diakonie vor ganz neue
Aufgaben gestellt ist. So müssen immer mehr entgeltfinanzierte Arbeitsbereiche einzelnen
Projekten finanziell unter die Arme greifen.
Die Entwicklung in diesem Bereich hat wohl alle überrannt. Um geeignetes Leitungspersonal zu
finden, bietet die Diakonische Akademie zusammen mit einzelnen Landeskirchen
Weiterbildungen an, um qualifiziert handeln zu können.
Das alles kann man beklagen. Und viele tun dies auch, weil sie die Zeit, die Welt und ihre
Kirche nicht mehr verstehen. Dazu kommt die in dieser Erinnerungszeit gern gestellte Frage,
wo denn die Kraft der Kirche aus den Wendetagen geblieben ist. Die Qualitäten, die sie
eingebracht hat in den Vereinigungsprozess, dürfen doch nicht verhallen, ihre Glaubenskraft
nicht verstummen.
Ich finde, wir sind auf gutem Weg. Wir fangen wieder an, über die Kirche der Freiheit zu reden
und die Kraft, die uns durch das Bildwort vom Salz der Erde zugesprochen wird. Ich habe bei
manchen Irrungen und Wirrungen der vergangenen Jahre gefragt, warum wir uns als DDR für
Kirche fast alle Overhead-Aufgaben westliche Importe geholt haben. Wer das tut, kann sich
hinterher nicht beklagen. Zu fragen ist auch, was geworden wäre, hätten wir die Hilfe auch auf
diesem Gebiet nicht gehabt. Erinnern kann ich mich, dass wir uns manchmal nach einer
sogenannten Krisenintervention oder Nachbarschaftshilfe gesagt haben: „Ach, das hätten wir
wohl besser auch alleine geschafft.“
Inzwischen ist das Selbstbewusstsein gewachsen, die Vermischung von Ost und West intensiv
verwachsen und die Kirchen sind in gutem Sinne zusammengewachsen.
Die Erfahrungen der letzten 20 Jahre haben uns gelehrt, dass gerade heute 40 Jahre Kirche und
Christsein in der DDR ein Pfund sind, mit dem wir wuchern können. Denn mein Glaubenssatz,
dass es gestern nicht schlechter gewesen ist als heute und auch morgen nicht schlimmer
kommen kann, speist sich aus der biblischen Zusage: „Jesus Christus, gestern, heute und
derselbe auch in Ewigkeit“
41
Texte aus der VELKD Nr. 152
Kirche für andere – Kirche im Sozialismus
Das unabgegoltene Potential einer kontextuellen Theologie in der DDR5
Dr. Michael Haspel
I.
Kirchliche und gesellschaftliche Transformationsprozesse als Thema der
Ekklesiologie
Gegenwärtig können wir einen Prozess mit verfolgen, in dem die evangelischen Kirchen in
Deutschland versuchen, sich auf dramatisch verändernde Rahmenbedingungen einzustellen.
Diese Transformationsprojekte sind dabei von einem Ausmaß und von einer zu erwartenden
Reichweite, wie sie wohl seit der Reorganisation des Protestantismus in Deutschland nach dem
Zweiten Weltkrieg beispiellos sind. Die Stichworte der demographischen Entwicklung und im
Osten Deutschlands vor allem auch der Abwanderung sowie fortschreitende Prozesse der
Entkirchlichung müssen hier als kurze Hinweise ausreichen.
Die Gestaltung dieses Prozesses ist zunächst eine Aufgabe der Kirchenleitung im engeren Sinne,
also eine in die Verantwortung der Synoden und gewählten Kirchenleitungen fallende
Herausforderung. Insofern aber in dieser Umwandlung die Frage nach der Gestalt und nach
dem Wesen der Kirche implizit und explizit berührt ist, ist es auch eine Herausforderung für die
akademische Theologie im Rahmen der Lehre von der Kirche danach zu fragen, welche
ekklesiologischen Leitbilder in einem solchen Prozess Orientierung geben können, sowie nach
den Methoden zu suchen, mit denen normative theologische Orientierungen und empirische
gesellschaftliche Entwicklungen zueinander ins Verhältnis gesetzt werden können. Will man die
gestellte Aufgabe also in diesem Sinne adäquat lösen, wird man nicht nur fragen müssen:
Welches Bild von einer Kirche der Zukunft haben wir?, sondern auch: Welche Wahrnehmung
und Deutung von Gesellschaft setzen wir dabei voraus? Und schließlich: Wie bestimmen wir
das Verhältnis von gesellschaftlichen Transformationen und Herausforderungen und einer
Kirche, die sich in dieser Dynamik selbst verändern und entwickeln muss und im Kontext sich
verändernder sozialer Bedingungen Kirche Jesu Christi sein und bleiben will?
Es geht im folgenden also weniger um kirchenleitende Fragen im engeren Sinne. Dafür mag
vielleicht die eine oder andere Anregung entstehen, aber dies ist nicht der wesentliche Kern
meiner folgenden Überlegungen. In diesem Sinne kann auch der gegebene Titel präzisiert
werden: Wenn ich darin von den evangelischen Kirchen in der DDR rede, dann beziehe ich
mich nicht primär auf die Ebene der Kirchenleitungen und der Kirchenpolitik nach innen und
außen, sondern auf exemplarische theologische Diskurse, insbesondere in den siebziger und
achtziger Jahren.
Dabei will ich keinesfalls zu einer Romantisierung des Weges der evangelischen Kirchen in der
DDR beitragen. Vielmehr denke ich, dass in bestimmten Bereichen von manchen in der
Erinnerung ein allzu positives Bild der Kirchen im nie real existierenden Sozialismus gezeichnet
wird. Deshalb möchte ich, bevor ich mich dann konstruktiv auf exemplarische theologische
Diskurse beziehen werde, auf vier Bereiche hinweisen, die m. E. immer mit gedacht werden
müssen, wenn man sich an eine Analyse des Weges der evangelischen Kirchen in der DDR
macht.
1.
Wenn man die Entwicklungen in den evangelischen Kirchen in der DDR analysiert,
muss man mit in den Blick nehmen, dass sie zu keinem Zeitpunkt aus sich selbst heraus
lebensfähig gewesen wären. Sie sind über die ganze Zeit der DDR und im Laufe der Zeit
5
In der vorliegenden Fassung werden nur die direkten Zitate nachgewiesen. Für weitere Belege vgl.
Haspel, Michael: Politischer Protestantismus und gesellschaftliche Transformation. Ein Vergleich der Rolle der
evangelischen Kirchen in der DDR und der schwarzen Kirchen in der Bürgerrechtsbewegung in den USA,
Tübingen/Basel 1997.
42
Texte aus der VELKD Nr. 152
zunehmend von direkten und indirekten Transferzahlungen der EKD und ökumenischer
Partnerkirchen konstitutiv abhängig gewesen. Eine Verklärung zu einem Idealmodell verbietet
sich schon von daher. Und wer die landeskirchlichen Haushalte kennt, weiß, dass sich daran
strukturell bis heute nichts geändert hat.
2.
Des weiteren ist empirisch überwiegend nicht eingetreten, was man sich als sekundären
Krankheitsgewinn der staatlich induzierten Entkirchlichung erwartet hatte: Die kleiner
werdenden Gemeinden sind in der Regel nicht zu einer Schar bekenntnisfester und aktiver
Kirchenglieder geworden, sondern Identifikation und Partizipationsverhalten auch innerhalb der
weniger werdenden Gemeindeglieder sind im wesentlichen volkskirchlich geblieben und sind
es noch heute, so dass auch für die evangelischen Kirchen im Osten Deutschlands galt und gilt,
dass das sogenannte „distanzierte Milieu” die stabilste Gruppe der Kirchenmitglieder ist.
3.
Zum Dritten ist m. E. darauf hinzuweisen, dass die oft als solche formulierte Alternative
von „Anpassung” und „Widerstand” aufgelöst werden muss in die Frage nach der Bestimmung
der Grenzen der Anpassung. Eine gewisse Anpassung an das System der DDR war
Voraussetzung für das Überleben in dieser Gesellschaft und zwar individuell wie auch für die
Organisation Kirche. Das macht die Debatte um die Frage nach dem angemessenen Verhalten
vor allem der Kirchenleitungen so schwer, weil es keine Schwarz-Weiß-Alternative gab, sondern
es galt und gilt, Abstufungen von Grau von einander zu unterscheiden. Dies ist allerdings
notwendig. In diesem Sinne war, so könnte man zugespitzt formulieren, eine gewisse
Akkomodation an das herrschende System die Bedingung der Möglichkeit für Widerstand im
Raum der Kirche. Man könnte also sogar davon sprechen, dass das vorsichtige Agieren von
Kirchenleitungen und der zunehmende Widerstand der Gruppen im Raum der Kirche in
analytischer Perspektive als komplementär angesehen werden können. Dies ist selbstverständlich keine generelle Exkulpation von kirchenleitender oder sonstiger Anpassung,
sondern der Hinweis auf die Notwendigkeit genau zu fragen, ob die jeweilige Anpassung (noch)
der Wahrung des Auftrags und der Selbstbestimmung der Kirche gedient oder diese untergraben
hat. Dass letzteres immer wieder passiert ist, wissen wir nicht nur aus dem Kontext der StasiDebatte.
4.
Schließlich ist m. E. noch auf eine simple Tatsache hinzuweisen, die aber all zu oft
übersehen wird und die viele Urteile ex post hervorbringt, die ex ante nicht absehbar waren:
Zumindest bis in den Oktober 1989 wäre eine chinesische Lösung gegen die sich formierende
Oppositionsbewegung nicht nur möglich, sondern von Seiten der politischen Führung der DDR
sogar eher wahrscheinlich gewesen. Wenn im Oktober 1989 die Demonstrationen blutig
niedergeschlagen worden wären, hätte man vielleicht denen, die heute als zögerlich
wahrgenommen werden, unverantwortlichen Leichtsinn attestiert. Es ist anders gekommen.
Dafür können wir dankbar sein und all denen Respekt zollen, die dies mutig mit bewirkt haben.
Wenn man (mindestens) diese vier Aspekte im Blick behält, dann meine ich, kann man sich
bestimmten theologischen Entwicklungen in den evangelischen Kirchen in DDR mit der
Absicht zuwenden, von ihnen etwas für die oben formulierte Fragestellung zu lernen. Im
Folgenden möchte ich so vorgehen, dass ich zwei exemplarische Texte, die in der Diskussion
um Zeugnis und Dienst der Kirche in der sozialistischen Gesellschaft der DDR eine wichtige
Rolle gespielt haben, hinsichtlich ihrer theologischen Grundstruktur analysiere. Danach werde
ich untersuchen, inwiefern diese Grundmuster in den weiteren Entwicklungen wieder zu
entdecken sind. Dabei ist klar, dass es sich immer nur um eine Strömung neben anderen
gehandelt hat, die auch zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten unterschiedlich
bedeutsam war. Schließlich möchte ich versuchen, von den erhobenen theologischen
Grundmustern aus nach Impulsen zu fragen, die für heute relevant sein könnten.
43
Texte aus der VELKD Nr. 152
II.
„Kirche für andere – Kirche im Sozialismus” als theologische
Kontextualisierung zu Beginn der siebziger Jahre
Der Übergang von den sechziger zu den siebziger Jahren war eine echte Umbruchszeit im
politischen wie im kirchlichen Bereich der DDR. Die neue Verfassung trat in Kraft. Ulbricht
wurde von Honecker abgelöst. Die Entspannung nach außen wurde durch erhöhten
ideologischen Druck nach innen kompensiert, der wiederum durch eine letztlich ruinöse
Erhöhung der Konsumgüterproduktion abgefedert werden sollte.
Im kirchlichen Bereich trat die Generation, die noch durch das Kaiserreich geprägt war,
langsam ab und jüngere übernahmen verantwortliche Positionen. Die evangelischen Kirchen in
Ostdeutschland haben sich aus verschiedenen Gründen 1969 zum Bund der evangelischen
Kirchen in der DDR zusammengeschlossen und damit de facto die Mitarbeit in der EKD
eingestellt. Diese organisatorische Veränderung ging einher mit dem Versuch, sich auch
theologisch auf die veränderte Situation in der DDR einzustellen, den Auftrag der Kirche im
Kontext der sozialistischen Gesellschaft spezifisch zu bestimmen. Im Hintergrund stand der
Aufbruch der theologischen Debatte in der Ökumene um Mission, die Herausforderung der
Säkularisierung, ein angemessenes Verständnis der modernen Gesellschaft und schließlich auch
um das auf Bonhoeffer zurückgehende Konzept der Kirche für andere.
Insbesondere in der ersten Hälfte der siebziger Jahre wurde auf den Bundessynoden und in den
Arbeitsgremien des Bundes theologisch daran gearbeitet, wie Zeugnis und Dienst in der konkret
vorfindlichen Gesellschaft konzeptionell beschrieben und gestaltet werden könnten. Zwei
Formeln haben dabei besondere Bedeutung erlangt: Zum einen das Konzept der „Kirche für
andere”, zum anderen die Kurzformel „Kirche im Sozialismus”. Ich stimme übrigens dem Urteil
von Detlef Pollack zu, dass diese beiden Programmformeln immer im Zusammenhang gesehen
werden müssen, da sie sich wechselseitig bestimmen und ergänzen. Dies wird leider in der
Diskussion um die Formel „Kirche im Sozialismus” nicht immer ausreichend berücksichtigt und
führt dann – bei aller möglichen Kritik – häufig zu unsachgemäßen Fehlurteilen. Das kann
jedoch hier nicht weiter verfolgt werden. Ich werde im folgenden einen wichtigen Text von der
Bundessynode 1972 untersuchen, der das Konzept der Kirche für andere entfaltet und im
Zusammenhang mit ihm die Freiheit der Kirche und die Kirche der Freiheit Gestalt werden
lässt.
Der theologische Hauptvortrag der Bundessynode 1972 wurde von Heino Falcke gehalten und
war überschrieben mit dem Titel „Christus befreit – darum Kirche für andere”. Er hatte die
Aufgabe, die konzeptionelle Debatte für die Gestaltung von Zeugnis und Dienst in einer
sozialistischen Gesellschaft, die besonders mit der Gründung des Kirchenbundes 1969 an
Intensität gewonnen hatte, voran zu bringen. Die staatliche Seite hat dieser Vortrag so irritiert,
dass sie alle Hebel in Bewegung setzte, um eine Verabschiedung durch die Synode oder gar eine
Publikation zu verhindern. So war der Vortrag im Osten Deutschlands bis zur Wende nicht
gedruckt worden, hat allerdings durch Hektographien und Reimporte aus dem Westen weite
Verbreitung gefunden und nicht geringen Einfluss ausgeübt. Die Herausgeber der Dokumente
der Arbeit des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR haben sicher nicht zu unrecht
entschieden, diesen Vortrag der Textsammlung voranzustellen, gleichsam als Grundlage, auf
der die weiteren Entwicklungen aufbauen.6 Insofern können wir hier von einem
exemplarischen Text ausgehen.
Der Vortrag Falckes bietet uns quasi die linksbarthianische Variante einer Kontextualisierung
der Theologie im Rahmen der spezifischen gesellschaftlichen Situation in der DDR. Er setzt
streng christologisch ein und stellt in Entsprechung zu Paulus Freiheitskapitel im Römerbrief die
Befreiung durch Christus von den Mächten der Welt, mithin der Macht der Sünde, an den
6
Demke, Christoph, Falkmann, Manfred; Zeddies, Helmut (Hg.): Zwischen Anpassung und Verweigerung.
Dokumente aus der Arbeit des Bundes der Evangelische Kirchen in der DDR, Leipzig 1994, pp. 14-33.
44
Texte aus der VELKD Nr. 152
Beginn seiner Ausführungen und in das Zentrum seiner Argumentation. Dieser
christozentrische Ansatz entwickelt allerdings ein theologisches Verständnis von Freiheit, das
über die Dimension der Innerlichkeit und auch den Raum der Kirche konstitutiv hinausgreift
und damit das Evangelium als Befreiungsbotschaft in die Welt hineintragen will, indem das
Reich der Freiheit für alle Menschen als Ziel der Befreiung durch Christus verstanden wird. Aus
der vielschichtigen und komplexen Argumentation möchte ich zwei zentrale Motive
herausgreifen, die für die weitere Gedankenentwicklung im Zusammenhang mit dem hier
behandelten Thema wichtig sind: Das erste Axiom ist: Indem Christus uns Menschen frei
macht, werden wir frei für andere. Die so verstandene Freiheit ist also keine hin zum
Solipsismus, sondern eine, die auf Beziehung und Verantwortung angelegt ist. Dazu heißt es:
„Weil die Freiheit als Liebe gekommen ist, ist sie Freiheit für andere mit anderen.”7
Das zweite Axiom ist, dass durch das Wirken Jesu Christi nicht nur die einzelnen, sondern die
ganze Welt befreit wird. Falcke spricht hier von der „verbesserlichen Welt”8 in dem Sinne, dass
die Welt, als unter der Herrschaft Christi stehend, nicht so bleiben muss wie sie ist, sondern
dass in ihr die Freiheit Folgen haben muss, etwa als Befreiung von Krieg, Ausbeutung und
Diskriminierung. Dieses zweite theologische Axiom besagt also: Weil die Welt nicht ohne Gott
ist, sondern Gottes Herrschaft in ihr offenbar ist, hat eine Kirche für andere in Entsprechung zu
Gottes Befreiungstat Anteil am Prozess der Befreiung. Daraus folgt für Falcke „die Befreiung der
Kirche zum Dienst”9, dem zweiten Hauptteil des Vortrages.
Wenn Sie sich bislang gefragt haben, was denn an diesem Modell kontextuell sein soll, dann
bekommen Sie jetzt die Antwort. Systematisch eingebunden in die streng christologische
Begründung folgen für Falcke zwei konstitutive Aufgaben: Zum einen muss die Kirche ihre
Struktur der Aufgabe, Kirche für andere in dem dargelegten Sinne zu sein, funktional zuordnen.
Die Struktur der Kirche muss sich – vielleicht darf man ergänzen: idealtypisch – an ihrer
Aufgabe ausrichten und nicht an den historisch gewachsenen Gegebenheiten. Hier rechnet
Falcke, in Analogie zur „verbesserlichen Welt” mit einer „verbesserlichen Kirche”, also einer
Kirche, die sich in Orientierung auf die Herrschaft Christi entwickelt.
Zum anderen wird in der Logik dieser theologischen Argumentation die konkrete Situationserkundung zur conditio sine qua non für Theologie und Kirche. Um Kirche für andere sein zu
können, um Zeugnis und Dienst in einer verbesserlichen Welt geben und tun zu können, um
im Prozess der Befreiung teilhaben zu können, sind genaue, man könnte sagen empirische
Kenntnisse der lokalen und globalen gesellschaftlichen Situation notwendig. Sie müssen
theologisch verantwortet im Dialog mit den Natur-, Human-, Kultur- und Sozialwissenschaften
gewonnen werden. Nur so könne das Evangelium für eine bestimmte Situation angemessen
bezeugt werden. Insofern ist die Kontextanalyse kein opus alienum von Theologie und Kirche,
vielmehr ist die Kirche gerade mit ihr bei ihrem Thema: „Denn”, so führt Falcke aus, „die
solidarische Liebe muss so fragen, und die Situationserkundung gehört zum Dienst am Wort.”10
Dies führt zum dritten Hauptabschnitt: „Die Kirche im Dienst der Befreiung”, in dem konkrete
Herausforderungen für die evangelischen Kirchen in der DDR in ihrem gesellschaftlichen
Kontext benannt werden. Die theologische Voraussetzung für diese Konkretionen ist die
vielfach kritisierte und m. E. ebenso oft missverstandene Rede vom „verbesserlichen
Sozialismus”. So wie in der christologischen Argumentation die Welt und die Kirche im Lichte
7
A.a.O., p. 18. Damit ist auch ein wesentlicher Einwand gegen die Formel „Kirche für andere”
aufgenommen. An ihr wird immer wieder kritisiert, dass sie auf einer Unterscheidung von „die anderen” und
damit auch „die einen” beruhe, die theologisch aber nicht haltbar sei. Damit würden „die anderen” quasi zum
Objekt „der einen”. Mit der Formulierung Falckes „für und mit anderen” scheint mir die zu Recht monierte Gefahr
eines Missverständnisses ausgeräumt zu sein.
8
A.a.O., p. 20.
9
A.a.O., p. 21.
10
A.a.O., p. 24.
45
Texte aus der VELKD Nr. 152
der Befreiung durch Christus als verbesserlich, also als nicht optimal und zugleich veränderlich
angesehen werden, so gilt dies auch für die konkrete gesellschaftliche Situation in der DDR.
Wörtlich heißt es: „Unter der Verheißung Christi werden wir unsere Gesellschaft nicht loslassen
mit der engagierten Hoffnung eines verbesserlichen Sozialismus.”11 Sowohl vom Schriftsinn, als
auch vom Kontext her, in dem Missstände der damaligen sozialistischen Gesellschaft deutlich
benannt werden, sowie unter rezeptionshermeneutischen Gesichtspunkten – die staatliche
Seite hat dies als Affront gesehen und mit dem Verdikt des staatsfeindlichen
„Sozialdemokratismus” belegt – wird man diese Formulierung schwerlich als Beleg für eine
Sozialismus-Affinität deuten können. Vielmehr ist es die Infragestellung der Definitionsmacht
der marxistisch-leninistischen Staatspartei, die ein Deutungsmonopol nicht nur über den
Sozialismus, sondern die Analyse und Interpretation der Gesellschaft insgesamt erhob. Zwar
handelt es sich für unseren Zusammenhang dabei zunächst um einen Nebenschauplatz, aber
diese Erläuterung scheint mir notwendig, wird doch dieses Schlagwort der Sozialismus-Affinität
immer wieder allzu leichtfertig zur Diskreditierung der hier dargestellten theologischen
Positionen ins Felde geführt. Hier jedenfalls greift es nicht.
Die für unsere Themenstellung bedeutende Argumentationslinie des dritten Hauptteils lässt sich
folgendermaßen rekonstruieren: Die theologische Voraussetzung, dass die konkret vorfindliche
Gesellschaftsordnung verbesserlich sei, führt in die konkrete Aufzählung von Missständen der
sozialistischen Gesellschaft der DDR in der frühen Honecker-Ära und mündet in die m. E. nicht
sozialethisch eng zu führende, sondern als ekklesiologisch-konstitutiv anzusehende Forderung:
„So könnte es in der Kirche eine kritische Öffentlichkeit, eine Stätte des freien Wortes, eine
Offenheit für radikale Fragen und angstfreie Lernbereitschaft geben. Das wäre ein eminent
wichtiger Beitrag zur mündigen Mitverantwortung in der Gesellschaft.”12 Hier wird also – so
wird man zugespitzt sagen können – die Öffentlichkeitsfunktion der Kirche zu einer nota
ecclesiae der Kirche für andere.
Wenn wir nun in einem Zwischenschritt festhalten wollen, was man von dem von Heino
Falcke auf der Bundessynode 1972 proponierten Konzept einer Kirche der Freiheit lernen
könne, dann wäre dies Folgendes:
1.
Die Kirche der Freiheit ist von ihrer theologischen Begründung her zu entfalten. Diese
theologische Grundlegung geht allen Strukturdebatten und Kontextanaylsen voraus und
bestimmt diese.
2.
Die Kirche der Freiheit ist notwendig eine Kirche für andere, indem die Befreiung in
Christus nicht in der Kirche zu ihrem Ziel kommt, sondern der ganzen Welt gilt.
3.
Weil die Kirche der Freiheit Kirche für andere ist, bedarf sie einer theologisch
begründeten, aber interdisziplinär durchgeführten Gesellschaftsanalyse. Die konkreten
Herausforderungen in der Gesellschaft sind der Ort für Zeugnis und Dienst. Dabei sind
die globalen Zusammenhänge zu berücksichtigen.
4.
Die Struktur der Kirche hat sich ausschließlich an ihrem so bestimmten Auftrag in der so
bestimmten Gesellschaft auszurichten.
5.
Die Öffentlichkeitsdimension der Kirche gehört ursprünglich zu ihrem Dienst am Wort
und ist eine Dimension ihres Zeugnisses.
6.
Diese Struktur kann man als theologisch begründete Kontextualisierung bezeichnen.
Nach diesem Zwischenergebnis möchte ich die Analyse des ungefähr zeitgleich entstandenen
sogenannten „Profilpapiers” des BEK anfügen. Im Vergleich mit diesem Dokument, das nicht
von einem einzelnen, sondern einem gesamtkirchlichen Ausschuss erarbeitet wurde, lassen sich
Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausarbeiten, anhand derer dann meine These, dass
11
12
A.a.O., p. 28.
A.a.O., p. 30.
46
Texte aus der VELKD Nr. 152
Anfang der siebziger Jahre im Rahmen der evangelischen Kirche in der DDR theologischekklesiologische Konzepte erarbeitet wurden, deren Potential bis heute unabgegolten ist,
überprüft werden kann. Die Analyse wird – aus verschiedenen Gründen – etwas knapper
ausfallen können.
Der Titel des Papiers „Zeugnis und Dienst der evangelischen Kirche und Christen in der
sozialistischen Gesellschaft der DDR”13 ist im Prinzip eine Explikation dessen, was mit der
Formel „Kirche im Sozialismus” gemeint war. Es ist im gleichen Zeitraum entstanden wie der
Synodalvortrag Falckes und wurde im Januar 1973 von der Konferenz der Kirchenleitungen als
Diskussionspapier freigegeben. Es gibt deutliche Bezüge in Inhalt und Struktur des
Profilpapieres zum Synodalvortrag Falckes, wohl nicht nur deshalb, weil der Autor des einen
auch in der Autorengruppe des anderen Mitglied war. Freilich gibt es auch signifikante
Unterschiede. Eine Gemeinsamkeit ist, dass auch das Profilpapier zu DDR-Zeiten nie publiziert
werden konnte und somit nur innerkirchlich Verbreitung gefunden hat. Die genaueren Bezüge
dieser beiden Papiere und die Entstehungsgeschichte des Profilpapiers sind m. W. noch nicht
aufgeklärt und stellen ein wichtiges Forschungsdesiderat für die jüngere Theologiegeschichte
dar.
Hatte ich oben Falckes Entwurf als linksbarthianisch bezeichnet, so könnte man wohl das
Profilpapier als die spätkulturprotestantische Variante begreifen, also auch mit der Gefahr
behaftet, die notwendige Distanz zur herrschenden Kultur manchmal aus dem Blick zu
verlieren. Die Struktur hat Anklänge an Tillichs Korrelationsmethode. Im ersten Teil wird die
„Situation als Herausforderung” beschrieben. Dem folgt im zweiten Teil die theologische
„Begründung für Zeugnis und Dienst” und mündet im abschließenden Teil in exemplarische
Konkretionen. Der signifikanteste Unterschied in der Systematik ist, dass hier die
Situationsanalyse am Anfang steht. Diese wird mit dem theologischen Auftrag konfrontiert,
woraus schließlich die Antworten und Konsequenzen erwachsen. Im Synodalvortrag stand ja
am Anfang die theologische Begründung und die Situationsanalyse war in ihre Entfaltung hinein
genommen.
Auch sonst gibt es beträchtliche Unterschiede, die nicht zuletzt damit zusammenhängen, dass
das Profilpapier ein kirchenpolitisches Gremien- und Konsenspapier ist. Das Ringen um
Positionen und Formulierungen ist dem Text, zumal durch gewisse Inkonsistenzen und
sprachliche Disparität, abzuspüren. Auch wird man fragen müssen, ob die Deskription der
Situation nicht manchmal in der Gefahr steht, affirmativ zu klingen, wo wir uns ex post wohl
nur wundern können. Freilich ist auch hier der historische Kontext zu berücksichtigen. Anfang
der siebziger Jahre war ja z. B. die wirtschaftliche Situation noch nicht vergleichbar mit jener
Ende der achtziger Jahre, wenngleich gerade die von Honecker veranlasste erhöhte und
subventionierte Konsumgüterproduktion auf Pump, langfristig die ökonomische Funktionsfähigkeit untergraben hat.
Dies alles zugegeben, bleibt doch festzuhalten, dass auch das Profilpapier für das Bemühen
steht, in der spezifischen Situation in der DDR eine theologisch verantwortete Orientierung für
Kirchen und Christen zu entwickeln. Gerade weil es auch deutlich vom Synodalvortrag Falckes
abweicht, scheint es mir umso mehr ein Beleg dafür zu sein, dass die von mir oben in der
Analyse heraus gearbeiteten Gesichtspunkte, keine zufällige Einzelmeinung darstellen, sondern
exemplarisch stehen für einen breiten konzeptionellen theologischen Diskurs.
Im Profilpapier wird die Begründung für Zeugnis und Dienst im wesentlichen mit dem
theologischen Konzept der Sendung entfaltet: „Die Kirche hat ihren Auftrag aus ihrer Sendung
13
Demke, Christoph, Falkmann, Manfred; Zeddies, Helmut (Hg.): Zwischen Anpassung und Verweigerung.
Dokumente aus der Arbeit des Bundes der Evangelische Kirchen in der DDR, Leipzig 1994, pp. 172-192. Die
Bezeichnung „Profilpapier” taucht in der Edition nicht auf, obwohl dies die damals gebräuchliche
Kurzbezeichnung war.
47
Texte aus der VELKD Nr. 152
durch Gott in Jesus Christus zu verstehen.”14 Diese Sendung wird ausdrücklich als missio, als
Mission der Kirche angesehen und mit Rekurs auf Bonhoeffer als Kirche für andere bestimmt
und durch den Dienst der Versöhnung konkretisiert. Letzteres immer wieder in deutlicher
Anspielung gegen das antagonistische Verständnis gesellschaftlicher Kämpfe in der marxistischleninistischen Ideologie. So schillernd die Situationsbeschreibungen im ersten Abschnitt
teilweise erscheinen, umso klarer sind die kritischen gesellschaftlichen Konkretionen im
Schlussteil.
Trotz aller Differenzen im Konkreten, lassen sich doch Entsprechungen des Profilpapiers zum
Synodalvortrag im Systematisch-strukturellen extrahieren: Die theologisch als notwendig
angesehene Situationserkundung, die theologische Begründung einer Kirche für andere, ein
offener Kirchenbegriff, die Strukturentwicklung ausgerichtet an diesem Ziel, wobei im
Profilpapier explizit auch die Überwindung innerprotestantischer konfessioneller Abgrenzungen
genannt wird, die Konkretion öffentlicher Verantwortung in der konkret vorfindlichen
Gesellschaft. Auch hier scheint es mir angemessen, von theologischer Kontextualisierung zu
sprechen.
Nachdem ich nun wesentliche Elemente der theologischen Standortbestimmung im Raum der
evangelischen Kirchen in der DDR Anfang der siebziger Jahre an zwei exemplarischen Texten
erhoben und zur Darstellung gebracht habe, wird es im Schlussteil darum gehen, zu
überprüfen, ob und inwiefern diese theologischen Entwicklungen auch Wirkung in den
evangelischen Kirchen in der DDR entfaltet haben. Ich werde es methodisch so halten, dass ich
die Darstellung der Wirkungsgeschichte zugleich mit der Frage verknüpfe, inwiefern diese
Erträge für heute Relevanz haben können. Ich werde es unterlassen, den allfälligen
Kommentaren zum Impulspapier der EKD mit dem Titel „Kirche der Freiheit” einen weiteren
hinzuzufügen, meine aber gleichwohl, dass der Ertrag meiner Untersuchung im Zusammenhang
gegenwärtiger Reform-, Fusions- und Transformationsprozesse mit Gewinn gehört werden
kann.
III.
Elemente einer theologischen Konzeption einer „Kirche der Freiheit”
1.
Die erste Einsicht aus dem bisher Gesagten kann direkt und einfach zusammengefasst
werden: Es ist grundlegend für das Kirchesein der Kirche, dass ihr Auftrag jeweils theologisch
diskutiert und begründet wird. Vielleicht wird man sogar sagen können, dass eine gewisse
Kultur des theologischen Diskurses in der Kirche selbst Voraussetzung ist für die Fähigkeit der
Kirche, ihren Auftrag sachgemäß, also evangeliumsgemäß zu bestimmen. Deshalb wird man
sich fragen müssen, wo eigentlich die Strukturen und Akteure sind, die Orte und Zeiten, die
den theologischen Diskurs in der Kirche ermöglichen und tragen.
2.
Der Grundimpuls, der von den hier dargestellten theologischen Diskursen der frühen
siebziger Jahre ausgegangen ist, den Auftrag der Kirche von ihrer Sendung in die Welt, von
ihrem Kirchesein für andere her zu bestimmen, hat auf dem selbst vielfältigen und wohl auch
nicht immer geradlinigen Weg der evangelischen Kirchen in der DDR vielfältige Spuren hinterlassen. Die Rede von der Lerngemeinschaft, das Konzept der Zeugnis- und Dienstgemeinschaft,
die Aufnahme ökumenischer Debatten, das Engagement für Kriegsdienstverweigerer, die
diakonische Arbeit können hier als Ausläufer und wohl auch als Auswirkungen der streng
christologischen Bestimmung des Auftrags der Kirchen angesehen werden.
Für die gegenwärtigen Debatten könnte die triviale, aber gleichwohl grundlegende Konsequenz
gezogen werden, dass vor und während jeder Organisationsentwicklung der ecclesia visibilis
der grundlegende Auftrag klar und konkret theologisch bestimmt und kommuniziert werden
muss: Was heißt es heute, Kirche für andere zu sein? Welche Sendung hat die Kirche?
14
A.a.O., p. 177.
48
Texte aus der VELKD Nr. 152
3.
Die grundlegende Einsicht, dass die gesellschaftliche Situationserkundung theologisch
notwendig ist, hat in den evangelischen Kirchen in der DDR weiter gewirkt. Die Herausforderungen im Bildungsbereich, die Monopolisierung von Information, der ideologische
Anspruch des Marxismus-Leninismus, die Friedensfrage und die Umweltsituation sind nicht nur
als sozialethische Einzelprobleme wahrgenommen worden, sondern als Kontextbedingungen
des Kircheseins. Auf ihre Erkundung wurden methodische Finesse, Zeit und Energie verwendet.
Dies ließe sich an vielen Beispielen belegen. Der Prozess der Ökumenischen Versammlungen in
Dresden, Magdeburg und Dresden in den Jahren 1988 und 1989 ist vielleicht das
frappierendste Beispiel. Nicht nur die Empfehlungen, die dort gegeben wurden, sondern auch
die gesellschaftliche Situationsanalyse ist heute noch lesenswert.
Für die gegenwärtigen Herausforderungen wäre hier wohl bedenkenswert, dass man die
Situationsanalyse nicht auf den religiösen Markt in der Gesellschaft begrenzt, sondern die
Analyse der Gesellschaft insgesamt, und das wird man heute wohl nicht mehr nationalstaatlich
begrenzen können, als Bedingung der Möglichkeit für die Bestimmung und Erfüllung des
Auftrags der Kirche ins Auge fasst. Obwohl das sehr vollmundig klingt, legt sich die These nahe,
dass die Analyse der globalen und lokalen Dimensionen und Vernetzungen der gegenwärtigen
Gesellschaft notwendige Voraussetzung für Zeugnis und Dienst der Kirche ist, die von Christus
befreit und in die Welt gesandt ist.
4.1. Schon die Gründung des Bundes der evangelischen Kirchen in der DDR im Jahre 1969
wird man als Ausdruck dessen verstehen können, dass die Struktur und Gestalt der Kirche sich
an ihrem Dienst und ihrer Sendung zu bemessen hat. Es wird zwar immer wieder eingeworfen,
hier hätten sich die Kirchen im Osten Deutschlands in unzulässiger Weise staatlichem Druck
gebeugt und damit nicht der 3. These der Barmer Theologischen Erklärung gemäß gehandelt.
Ich halte dies aber bei genauerer Analyse für nicht haltbar. Der Weg, der beschritten wurde, um
eine Vereinigte Evangelische Kirche in der DDR zu gründen, auch wenn dies schließlich nicht
erfolgreich war, und zum Glück in diesem Falle nicht am Thüringer Sonderweg, sondern an der
Berlin-Brandenburgischen Kirche scheiterte, ist ein deutliches Indiz für diesen Versuch,
Strukturen nicht ausschließlich von der Tradition her zu begründen, sondern am Auftrag
auszurichten.
Dies hat für die gegenwärtige Debatte m. E. eminente Auswirkungen. Macht man mit dem
Prinzip ernst, dass die kirchliche Struktur nicht primär an Tradition und dem Ziel der
kirchlichen Selbsterhaltung orientiert sein soll, sondern Struktur und Gestalt der Kirche an
ihrem Auftrag, Kirche für andere zu sein, gewonnen werden muss, dann würden sich noch viel
weiterreichende Konsequenzen, als derzeit debattiert, ergeben. Die bisweilen anzutreffende
Argumentation, dass die theologische Bestimmung der Kirche weitreichenden Strukturveränderungen entgegenstünde, also die Theologie in ihrer Alt-Ehrwürdigkeit wohl konservatorische Potentiale freilegen könne, scheint mir zumindest im Rahmen der hier analysierten
Konzepte irreführend.
4.2. Darüber hinaus verdient die Überwindung innerprotestantischer konfessioneller Abgrenzungen besondere Erwähnung. Der Weg zu einer Vereinigten Kirche wäre ja von vorneherein
verstellt gewesen, wenn die Trennung der lutherischen, unierten und reformierten Gemeinden
und Kirchen nicht überwunden worden wäre. Neben den gesamtdeutschen und europäischen
Gesprächsprozessen fanden in der DDR eigenständige Lehrgespräche zwischen den lutherischen und unierten Kirchen statt, die jetzt in einer Neu-Edition vorliegen. Diese mündeten in
die „Gemeinsame Erklärung zu den theologischen Grundlagen der Kirche und ihrem Auftrag in
Zeugnis und Dienst.” Diese wurde bis 1986 von allen Synoden beschlossen. Damit war das
kirchlich Trennende zwischen den evangelischen Konfessionsfamilien doppelt überwunden.
Zum einen durch den Rezeptionsprozess der Leuenberger Konkordie, zum anderen durch
diesen Rezeptionsprozess der Ergebnisse der umfassenden Lehrgespräche.
49
Texte aus der VELKD Nr. 152
Vor diesem Hintergrund scheint es mir schwer nachvollziehbar, wenn in den aktuellen
Debatten der Kirchenreform, insbesondere hinsichtlich der Fusion zweier ehemaliger Gliedkirchen des Bundes der evangelischen Kirchen in der DDR, die vermeintlichen theologischen
Differenzen zwischen Unierten bzw. Reformierten und Lutheranern als Hemmschwelle für eine
gemeinsame Kirche angeführt werden. Dies ist nicht nur theologisch schwer nachzuvollziehen,
auch kirchenrechtlich ist nicht recht vorstellbar, wie diese Bedenken begründet werden können
sollen. Zumindest müssten vorher die Synoden ihre Zustimmung zur genannten gemeinsamen
Erklärung von 1985 revozieren, wenn nicht gar die zur Leuenberger Konkordie. Hier scheint es
in der Tat so zu sein, dass die evangelischen Kirchen in der DDR ein Stück weiter waren.
4.3. Auch die zumindest partielle Öffnung der Kirche für nicht-traditionelle Gemeindeformen
ist in diesem Zusammenhang zu nennen. Dabei ist besonders an die Studentengemeinden, die
offene Arbeit, vor allem aber auch an die sogenannten sozialethischen oder alternativen
Gruppen zu denken, die sich im Raum der Kirche gebildet und unter ihrem Dach mit Themen
wie Frieden, Umwelt, Menschenrechten, Ausreise und avant la lettre Gender befasst haben.
Das Verhältnis von ihnen zur sogenannten Kerngemeinde und zu Kirchenleitungen war nicht
selten spannungsreich, insbesondere als die gesellschaftlichen Konflikte in der zweiten Hälfte
der achtziger Jahre zunehmend offen zutage traten und sich quasi stellvertretend in der Kirche
manifestierten. Gleichwohl ist zu konstatieren, dass es eine deutlich wahrzunehmende theologische Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Gruppen gab und etliche Positionen
entwickelt wurden, die sie ekklesiologisch als legitime Form von Gemeinde anerkannt haben.
Auch faktisch wurden sie, selbst dort wo es zum offenen Konflikt kam, ganz überwiegend als
Teil der Kirche angesehen, wenn auch bisweilen als ungeliebter. Dies wird man nicht zuletzt
damit erklären können, dass vor dem Hintergrund der oben dargestellten Situationserkundung
in der Gesellschaft die Anliegen der Gruppen als im Prinzip nicht nur legitim, sondern als
notwendig angesehen werden mussten, auch dort, wo sie als kirchenpolitisch störend
wahrgenommen wurden.
Fragt man hier nach Applikationsmöglichkeiten für die zeitgenössische Debatte, so scheint mir
die Frage nach dem Gemeindeverständnis von besonderer Bedeutung. Organisationen reagieren
auf Stress in der Regel mit Abschließungstendenzen. Davor scheinen auch die Kirchen nicht
gefeit zu sein. Wenn in den, meist durch Sparzwänge ausgelösten Reformdebatten über
Profilierung gesprochen wird, verbirgt sich dahinter nicht selten eine Tendenz, den Blick nur
noch auf die sogenannte Kerngemeinde zu verengen. De facto werden damit 90% unserer
Gemeindeglieder übersehen, die andere Beteiligungsformen bevorzugen. Dass gerade dies für
den Protestantismus und die evangelische Kirche konstitutiv ist, wird man im Blick behalten
müssen, ganz zu schweigen vom Auftrag zum öffentlichen Zeugnis, zum publice docere, auf
das wir gleich noch zu sprechen kommen müssen. Strukturell betrachtet hatten die alternativen
Gruppen in der DDR kerngemeindliche Charakteristika, wenn auch die Frömmigkeitsstile
signifikant unterschiedlich waren. Sie waren gemeinschaftsorientiert und zeichneten sich durch
aktives Partizipationsverhalten aus. In gewisser Weise hatten sie damit eine Affinität zu einem
Gemeindeverständnis, das sich mehr den romantischen Gemeinschaftsidealen und dem
bürgerlichen Vereinswesen des 19. Jahrhunderts verdankt als ihm oft bewusst ist. Die
gegenwärtige Herausforderung wäre wohl, sich kirchlich-ekklesiologisch auf gelebtes
evangelisches Christentum einzustellen, das sich zwar durch zurückhaltendes Teilnahmeverhalten – etwa nur jahres- oder lebenszyklisch – und eine distanziert-reflektiert gebrochene
Identifikation auszeichnet, aber – so sagen uns das alle neueren Studien – äußerst stabil ist.
Dass es gerade diese Milieus sind, die finanziell die evangelischen Kirchen tragen, halte ich
nicht nur für organisationssoziologisch relevant, sondern auch für theologisch bedenkenswert.
5.
Dass die Öffentlichkeitsdimension der Kirche ursprünglich zu ihrem Dienst am Wort
gehört und eine notwendige Dimension ihres Zeugnisses ist, lässt sich in der Geschichte der
evangelischen Kirchen in der DDR wie ein roter Faden nachvollziehen. Vielleicht könnte man
50
Texte aus der VELKD Nr. 152
dies sogar als ihr Grundthema benennen, dass sie es nie aufgegeben haben, gegen die von der
staatlichen Seite intendierte Zurückdrängung in einen Bereich rituell-spiritueller Religiosität
anzukämpfen. Die Beispiele, natürlich auch der Rückschläge, sind hier Legion. Es sei erinnert
an den Kampf um Konfirmation, Junge Gemeinde und Studentengemeinde, der Widerstand
gegen die Veranstaltungsverordnung und die Wehrerziehung. Die Synoden als Orte alternativer
und kritischer Öffentlichkeit, die Kirchentage, die Rüstzeiten, die Vernetzungen der alternativen
Gruppen, die kirchliche Presse, die graue Literatur zum innerkirchlichen Dienstgebrauch, die
Präsenz in Hörfunk und Fernsehen nach dem 6. März 1978 bis hin zur schon erwähnten
Ökumenischen Versammlung, die per se die Konstitution einer sonst in der Gesellschaft nicht
möglichen kritischen Öffentlichkeit im Raum der Kirchen war. Dabei wird man unterscheiden,
aber letztlich nicht trennen können zwischen dem öffentlichen Zeugnis, der Übernahme von
öffentlicher Verantwortung durch die Kirche und dem Verständnis der Kirche selbst als
kritischer Öffentlichkeit.
Alle drei Punkte scheinen mir auch für die Gegenwart relevant, wenn man Kirche für andere
als eine Kirche der Freiheit im Dienst der Befreiung sein will. Manchmal erscheint es mir so,
dass hier Positionen, die in der DDR mühsam und mit großem Mut erkämpft wurden, de facto
freiwillig geräumt werden, und dass manche unreflektierten Sparprozesse letztlich zu einer
selbstgenügsamen Kirche führen könnten, wie sie die SED in über vier Jahrzehnten vergeblich
zu erzwingen versucht hatte. Auch hier hilft es natürlich nichts, das Vergangene zu
romantisieren, aber die Chance bestünde, aus diesem Prozess Impulse für die gegenwärtigen
Herausforderungen unter veränderten Rahmenbedingungen zu gewinnen.
6.
Das bisher Gesagte möchte ich in der Schlussthese zusammenfassen und zuspitzen, die
nun gleichsam die beiden Ebenen, die historische und gegenwärtige, aufhebt in eine m. E.
verallgemeinerbare theologische These: Theologische Kontextualisierung ist die Bedingung der
Möglichkeit, dass die evangelische Kirche Kirche für andere und zugleich Kirche der Freiheit
sein kann. Der Begriff der theologischen Kontextualisierung steht für das Gesamtkonzept, das
ich hier herauszuarbeiten versucht habe, und das theologische Grundlegung, Situationserkundung usw. umfasst. In historischer Perspektive ist meine These, dass die hier analysierten
theologischen Diskurse im Raum der evangelischen Kirchen in der DDR so wirkmächtig waren,
weil ihnen die theologische Kontextualisierung gelungen ist.
Heute wäre also die Herausforderung, nicht wie in der DDR nach Zeugnis und Dienst der
Kirche in der sozialistischen Gesellschaft zu fragen, sondern nach Zeugnis und Dienst im
globalen Konsumkapitalismus. Dabei ist die Kontextangabe „globaler Konsumkapitalismus”
nicht pejorativ gemeint, sondern deskriptiv. Das wäre die Voraussetzung, um Kirche für andere,
um Kirche der Freiheit sein zu können. Dazu braucht es Orte der Freiheit, an denen diese
kontextuelle Bestimmung des Auftrags der Kirche Jesu Christi kommunikativ Gestalt gewinnen
kann.
51
Texte aus der VELKD Nr. 152
Kirche zwischen Institution und Organisation
Anmerkungen im Kontext der gegenwärtigen Kirchenreformdebatten*
Klaus-Dieter Kaiser
In der Auseinandersetzung um die Kirchengestalt des Protestantismus im Norden Deutschlands,
meiner gegenwärtigen Heimat und somit meinem aktuellen Erfahrungshorizont, also im
derzeitigen kontroversen Nachdenken um die sogenannte Nordkirche, wird von den
besinnlicheren Stimmen mit Recht vor einer theologischen, präziser ideologischen Überhöhung
der Argumente im Pro und Kontra gewarnt. Rationalität ist gefragt, wenn es um das Ziehen von
Kirchengrenzen geht, um die Strukturen der Institution Kirche. Sie sollen eine dienende
Funktion haben, damit die Voraussetzungen verbessert werden, das Evangelium unter die
Menschen zu bringen. Dennoch predigen auch Strukturen. Und die Frage der Effektivität, der
Arbeitserleichterung in der Kirche ist letztlich auch eine theologische Kategorie.
Deshalb ist es angebracht, sich dieser Spannung zwischen Pragmatismus und theologischer
Überzeugung, zwischen Organisation und Institution in der Kirche im gegenwärtigen
Fusionsprozess zu stellen. Ich möchte dies im Zentrum, also im mittleren Teil meiner
Ausführungen – sozusagen als unterbrechende Reflexion – tun. Zunächst möchte ich einige
Anmerkungen zum bisherigen Weg zur „Nordkirche“ und dabei auch kurz auf die aus meiner
Sicht strittigen Punkte, auf dem Weg zu einer angemessenen Kirchengestalt im Norden,
eingehen. Im zweiten Teil, wie gesagt, folgt ein Nachdenken über Institution und Organisation
und um dann im dritten Abschnitt einige Herausforderungen zu benennen und diese viertens
noch einmal im Blick auf den „Nordkirchen“-Prozess als Fragen zu formulieren.
1. Das Projekt „Nordkirche“
1.1. Jede Entscheidung bringt die Last der eigenen Geschichte mit: zum bisherigen
Verlauf des Fusionsprozesses
Zur Hintergrundgeschichte des gegenwärtig mit den zustimmenden Beschlüssen der drei
Synoden der beteiligten Landeskirchen (Evangelisch-Lutherische Landeskirche Mecklenburgs,
Pommersche Evangelische Kirche und Nordelbische Evangelisch-Lutherische Kirche)15 für einen
Verbund dieser Kirchen eingeschlagene Weg, gehören der seit einigen Jahren existierende
Kooperationsvertrag zwischen diesen Kirchen, die gescheiterte Fusion zwischen der ELLM und
der PEK (einschließlich der Hinwendung nicht unbeträchtlicher Stimmen der PEK in Richtung
der Evangelischen Kirche von Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz). In dieser Situation
erfolgte im Frühjahr 2007 durch einen Brief von Bischof Dr. Knuth (NEK) an die beiden
anderen Kirche eine Einladung zu Gesprächen über eine vertiefte Kooperation. Alle drei
Synoden stimmten daraufhin auf ihren Frühjahrstagungen diesem Ansinnen mit großer
Mehrheit zu und beauftragten ihre Kirchenleitungen, in entsprechende Verhandlungen
einzutreten. Auch in der ELLM wurde so verfahren, obwohl seit Herbst 2006 noch eine andere
Beschlusslage galt: die Fusion zwischen ELLM und PEK, die aber kurz vor dem Ziel zu
scheitern drohte. Von den drei beteiligten Kirchenleitungen wurde eine Steuerungsgruppe
eingerichtet, wobei sich aber noch vor der nächsten Synodentagung deren Auftrag veränderte.
Von einer Kooperation hin zur einer geplanten Fusion. Das Projekt „Nordkirche“ bekam so eine
Eigendynamik, die aber nachträglich von den Mehrheiten in den beteiligten Synoden bestätigt
*
Referat im Kurs „Woher wir kommen – wer wir sind!“ – der Weg der evangelischen Kirche in Ost- und
Westdeutschland von 1989 bis 2009“ des Theologischen Studienseminars der VELKD am 30. April 2009 in
Pullach; der Vortragssstil ist beibehalten.
15
Im weiteren abgekürzt als ELLM, PEK und NEK.
52
Texte aus der VELKD Nr. 152
wurde. Dennoch blieb das Problem, dass bei einer Entscheidung solcher Tragweite die
Souveränität der Synoden berührt war.
1.2. Wo ist der Steuermann auf dem Kirchenschiff?
Die hohe Geschwindigkeit und die damit einhergehende Eigendynamik solcher Prozesse
gewinnt eine eigene Macht über den Verlauf. Unter Organisationsgesichtspunkten ist zu
fragen: Wer sind die Subjekte, die hier selbstverantwortet und verantwortlich steuern? Und in
der Perspektive der Institution ist zu fragen: Mit welchem Mandat und zu welchem Ziel
werden hier Weichen gestellt? Also: wird der Prozess noch gesteuert, welches sind die dabei
leitenden Kriterien (Orientierungsmarken) und wer steuert ihn oder steuert sich der Prozess
bereits selbst?
Wie berechtigt diese Fragen leider sind, zeigte sich daran, dass sich seitens der
Kirchenleitungen, die viel Kraft und Zeit in diesen Prozess investiert haben, das Leitkriterium
zum Beurteilen von Argumenten verschob. Es lautete im Verlauf des Fusionsprozesses verstärkt:
Dient eine Entscheidung dem Prozess oder nicht. Damit ist aber die Gefahr des
Selbstreferenziellen verbunden.
1.3. Synodenbeschlüsse
Im Herbst 2007 erfolgen dann Synodenbeschlüsse zu Sondierungsgesprächen. Als Synodaler der
ELLM stelle ich diesen Prozess nun vor allem aus der Sicht meiner Landeskirche und der
entsprechenden Beschlüsse vor:
„1. Die Synode nimmt den Bericht der von den Kirchenleitungen der Evangelisch-Lutherischen
Landeskirche Mecklenburgs, der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche und der
Pommerschen Evangelischen Kirche eingerichteten Steuerungsgruppe mit Dank zur Kenntnis.
2. Die Kirchenleitung wird beauftragt, mit der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche,
der Pommerschen Evangelischen Kirche auf der Grundlage des Berichtes der Steuerungsgruppe
verbindliche Verhandlungen aufzunehmen mit dem Ziel, miteinander eine gemeinsame Kirche
im Norden zu bilden.
3. Die Kirchenleitung wird gebeten, zusammen mit den beiden anderen Landeskirchen zum
September/Oktober 2008 einen Fusionsvertrag zu erarbeiten.
4. [...] - September/ Oktober 2008: Beschlussfassung über den Fusionsvertrag und über ein
verbindliches Verfahren mit dem Ziel, bis zum Jahr 2011 eine Vorlage für eine gemeinsame
Verfassung den Synodalen zur Beschlussfassung vorzulegen.“16
Dieser anspruchsvolle Zeitplan wurde im wesentlichen beibehalten, auch wenn es zu leichten
Terminverschiebungen kam und im Herbst 2008 zunächst ein Entwurf des Fusionsvertrages
diskutiert wurde und erst auf den Frühjahrstagungen 2009 der Synoden der Vertrag zur
Abstimmung vorlag und die notwendigen Mehrheiten fand.
In Mecklenburg werden über diesen textgleichen Beschluss der drei Synoden hinaus folgende
Fragen gestellt und in einem Beschluss den Verhandlungspartnern mit auf den Weg gegeben:
Bei den Verhandlungen zwischen den drei Kirchen ist insbesondere zu beachten:
1. Welche Schlussfolgerungen ergeben sich aus unterschiedlichen Auffassungen über das
Kirchenverständnis und den daraus abgeleiteten Konsequenzen für die Struktur der Kirche?
2. Welche Konsequenzen hat die „Auflösung“ unserer Kirche und die Überleitung in einen
Kirchenkreis innerhalb einer großen Nordkirche? Welche Auswirkungen hat dies für die
16
Beschluss der XIV. Landessynode der ELLM (4. Tagung): Beschluss XIV/4-5 vom 17. November 2007.
53
Texte aus der VELKD Nr. 152
Stellung der Kirche in der Gesellschaft in Mecklenburg-Vorpommern? Welches sind die Folgen
für das Verhältnis von Staat und Kirche?
3. Welche Konsequenzen hat die Bildung einer Nordkirche für den EKD-Finanzausgleich?
4. Wie soll das Verhältnis zwischen künftiger Nordkirche und den Kirchenkreisen gestaltet werden?
5. Wie können die Erfahrungen unserer Landeskirche in der besonderen säkularen Situation in
den neuen Bundesländern und ihrer spezifischen gesellschaftspolitischen Situation in die
Nordkirche und in den deutschen Protestantismus (EKD, VELKD) eingebracht werden?
6. Welche Auswirkungen hat eine Fusion zur Nordkirche auf die langjährigen Partnerschaftsbeziehungen zwischen der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburg und der
Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Bayern?
Die Punkte 2, 3 und 6 sind bis zur Frühjahrssynode zu klären. Ergebnisse sollen in der 5.
Tagung der Synode vorgestellt werden.“17
Die weitere Arbeit geschah durch die Steuerungsgruppe und verschiedene Untergruppen, die
alle paritätisch zusammengesetzt waren. Es galt der Grundsatz des Verhandelns auf Augenhöhe.
1.4. Synopse der von den Kirchen angesprochenen Probleme:
• Standortfragen zwischen symbolischer Präsenz (Bischofssitz, Vertretung gegenüber dem
Land), Arbeitsfähigkeit und Sozialverträglichkeit
• Theologische Begleitung / Fundierung des Fusionsprozesses (einschließlich
Bekenntnisfragen)
• Leitungsstruktur der neuen Landeskirche (Gliederungen, Ämter)
• Ökumenische Dimension
• Arbeitsrechtssetzung (Dritter Weg), Selbstverständnis und Gemeinschaft der Dienste
• Finanzen (Machbarkeit, Gehaltsangleichungen)
• Jugenddelegierte
Wir haben es hier also mit einer Mischung aus theologischen, institutionellen (einschließlich
Selbstverständnis) und rein organisatorischen (pragmatischen) Fragen zu tun.
Kurz vor der Unterzeichnung des Fusionsvertrages durch die drei Kirchenleitungen wurden, um
eine Zustimmung zu erreichen, noch entscheidende Punkte verändert (Standortfragen) oder nur
scheinbar verschoben (Tarifrecht). Aus meiner Sicht bestimmten diese Entscheidungen weder
Überzeugung noch Folgeabschätzung, sondern allein das mögliche Erreichen einer erhofften
größtmöglichen Zustimmung. Ein Verfahren des notwendigen Interessenausgleiches, dem aber
auch etwas Beliebiges anhaftet.
Um die Eigendynamik solcher Prozesse einzudämmen, um zu entschleunigen, ist ein kurzes
Innehalten, ein Unterbrechen ganz sinnvoll. Dies will ich nun in meinem Referat mit einigen
Ausführungen zum Kirchenverständnis jenseits der Grundlegung des Kirchenverständnisses
nach CA 7 tun.
17
Beschluss der XIV. Landessynode der ELLM (4. Tagung): Beschluss XIV/4-12 vom 17. November 2007.
54
Texte aus der VELKD Nr. 152
2. Kirchengrenzen sind ein weltlich Ding? Oder: Kirchenorganisation zwischen
pragmatischer Rationalität und theologischer Grundlegung
2.1. Vom gegenwärtigen Sog zur Organisation
Auch im derzeitigen EKD-weiten Reformprozess, auf den sich ja immer wieder in der
„Nordkirchen“-Debatte bezogen wird, geht es um diesen Spannungsbogen. Auf dem
Wittenberger Zukunftskongress im Januar 2007 ist davon gesprochen worden, dass sich nicht
nur viele Bereiche der bundesdeutschen Gesellschaft, sondern eben gleichermaßen die Kirchen
auf einem einseitigen Weg von der Institution zur Organisation befinden. Das hat zur Folge,
dass gerade in den Reformdebatten der Kirche gegenwärtig stärker organisationsförmige
Überlegungen eine tragende Rolle spielen; so auch im Impulspapier „Kirche der Freiheit“18. Das
heißt aber, es kommt vor allem auf die Tätigkeiten Führen und Leiten innerhalb der Kirche an.
Oder anders, mit den Worten von Niklas Luhmann gesprochen: „Reformen behandeln
Glaubensfragen als Beschlusssache.“19 Bei mancher Diskussion in den drei Synoden der ELLM,
der NEK und der PEK habe ich genau diesen Eindruck gewonnen. Der Theologe Friedrich
Hauschildt hat dies im EKD-Reformprozess mit Bezug auf Überlegungen von Hans Joas und in
der Tradition Friedrich Schleiermachers so beschrieben: „Diese Konzentration auf nützliches
Handeln lässt andere Formen des Handelns (routiniertes, sinnerfülltes, kreatives oder
existentiell reflektiertes Handeln) zurücktreten. Natürlich ist die utilitaristische Perspektive in
bestimmter Hinsicht aufschlussreich. Wenn diese Perspektive sich aber faktisch absolut setzt,
wirft sie in problematischer Weise, „über die phänomenale Vielfalt des Handelns sogleich ein
wertendes Raster.“20 Kirchliches Handeln ist – mit Schleiermacher gesprochen – ganz
wesentlich darstellendes Handeln, es ist Ausdruckshandeln. Die Wirksamkeit kirchlichen
Handelns vollzieht sich im Wesentlichen nach den Gesetzen der symbolischen Interaktion. ...
Das kirchliche Teilnahmeverhalten kann man nur verstehen, wenn man es nicht ausschließlich
als von Nützlichkeitserwägungen bestimmt versteht.“ 21
Organisationen aber sind durch komplexe, arbeitsteilige und hierarchische Strukturen geprägt.
Es sind Bürokratien im Sinne von Max Weber. Gesteuert werden Organisationen durch –
möglichst zweckrationale – Entscheidungen. Effektivität und Nützlichkeit werden zum allein
bestimmenden Maßstab. Organisationen unterscheiden sich deshalb von Gemeinschaften, seien
diese traditional bestimmt oder seien diese informal-spontan. In beiden Fällen (traditional oder
informal-spontan) leben Institutionen jeweils von ihrer Unveränderbarkeit, theologisch
gesprochen, der Sakralität, die diese Existenzweise gewährleistet. Oder sie lösen sich auf.
Derzeit leben wir in einer Situation, die von der Tendenz bestimmt ist, dass Organisationen als
Leitvorstellung die gesamte Gesellschaft durchdringen.
2.2. Organisation und Institution sind zu unterscheiden
Organisationen haben ein Programm, ein Personal und entsprechende Stellen. Damit sind
Steuerungsmechanismen für eine Organisation gegeben, denn alle drei Momente sind variabel.
Einziges Kriterium ihrer Veränderung oder ihrer Stabilität ist das Erreichen des vorgenommenen
Zweckes. Institutionen dagegen haben ihren Zweck in sich (vgl. die ersten zehn Artikel des
Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland). Organisationen müssen sich deshalb
permanent selbst beobachten, am effektivsten mittels Tabellen.
18
Kirche der Freiheit. Perspektiven für die evangelische Kirche im 21. Jahrhundert. Ein Impulspapier des Rates der
EKD, Hrsg. vom Kirchenamt der EKD, Hannover, 2006.
19
LUHMANN, Niklas: Die Religion der Gesellschaft, (hrsg. von André KIESERLING), Frankfurt am Main, 2000, 245.
20
JOAS, Hans: Die Kreativität des Handelns, Frankfurt am Main, 19992, 214.
21
HAUSCHILDT, Friedrich: Materialien für eine Stellungnahme zum Impulspapier der EKD „Kirche der Freiheit“,
überarbeitete Fassung vom 20. Oktober 2006, in: Kirchenamt der EKD (Hg.): Materialband Diskussion des
Impulspapiers, Hannover, o.J. (2007), 60.
55
Texte aus der VELKD Nr. 152
Versteht sich die Kirche, die als Teil der Gesellschaft und in der Welt existiert, und so auch
immer Anteil an deren Organisationsformen hat und haben muss, nun aber primär oder völlig
als Organisation, ergeben sich mehrere Probleme:
•
Erstens haben Organisationen eine „künstliche“ Mitgliedschaft. Man muss aus ihnen
ohne weiteres ein- und vor allem auch austreten (bzw. ausgeschlossen werden) können.
Die Freiheit des Kirchenaustrittes gehört dazu; aber der character indelebilis der Taufe22
steht dem entgegen. Mitgliedschaft in einer Kirche ist eben mehr – und damit ist ein
Beschreiben der Kirche allein als Organisation für diese unterbestimmt. Kirche ist eben
mehr als ein Interessenverein, ist mehr als ein Verbund Gleichgesinnter. Kirche ist
Kirche für alle Menschen.
•
Zweitens ermöglicht ein Begreifen der Kirche als Organisation eine effektivere
Kommunikation der Kirche mit anderen Teilsystemen der Gesellschaft, die ja ebenfalls
organisationsorientiert arbeiten. Aber damit besteht die Gefahr für die Kirche,
ununterscheidbar von der Welt zu werden, ihre Selbstunterscheidung preiszugeben und
damit zur Selbstsäkularisierung beizutragen. Das organisationsförmige Bild einer
Einrichtung, so auch der Kirche, wird dann zum Leitbild der Kirche. Ironisch
gesprochen: Welche Erwartungen an die Kirche werden enttäuscht, wenn man im
Oberkirchenrat einen Kirchenbeamten aufsucht, weil man eine Auskunft will, und
diesen statt über den Akten im Gebet vertieft vorfände. Die Verwunderung über ein
solches Verhalten sagt einiges über unser Kirchenbild aus. „Andererseits ist es aber auch
schwer vorstellbar, dass Entscheidungen, die die Organisation binden, in der Form eines
gemeinsamen Gebets getroffen werden“23, so Niklas Luhmann. Aber welche Rolle haben
dann die Gottesdienste und Andachten innerhalb der Sitzungen; z.B. unserer Synoden?
Sie halten diese Balance in den kirchlichen Entscheidungsgremien offen. Kirche ist in
der Welt und zugleich etwas Fremdes in dieser rationalen Welt.
•
Drittens hat Kirche durch ihre Organisationsfähigkeit Anteil an einer arbeitsteiligen
Struktur und damit der Professionalität ihrer Arbeit. Gleichzeit steht das Priestertum
aller Glaubenden quer zu dieser Gestaltform der Kirche. Kirche kann und darf nicht –
bei aller Bedeutung der symbolischen Präsenz z.B. durch Pastorinnen und Pastoren,
durch Kirchengebäude und anderes, in Stellenplänen und Bauplänen aufgehen. Kirche
lebt von einem Interaktionssystem, kann also nicht primär als Dienstleistungsgewerbe
beschrieben werden, das statt Teilnehmende und damit (in welcher Intensität auch
immer) Dazugehörende nur noch als Kunden mit ihren Wünschen kennt. Effektivität
und Kundenorientierung kann also nicht das alleinige und auch nicht das bestimmende
Merkmal von Kirche sein. Denn die Kirche lebt aus der Gnade Gottes, vollzieht also in
Entsprechung zu diesem Geschenk eine Ökonomie des Verschwendens.
•
Kirchen sind aber, im Unterschied zu zweckrationalen Organisationen (an deren
Charakter sie natürlich Anteil haben) Glaubens- und Gesinnungsgemeinschaften. Sie
haben primär Personen als Adressaten ihrer Arbeit. Nimmt nun viertens der
Organisationsanteil in der Kirche zu, kann dies zu einer Schwächung des Glaubens
22
Vgl. Stellungnahme der Kammer für Theologie der EKD: Taufe und Kirchenaustritt (EKD-Texte 66), Hannover,
2000. Dort heißt es unter III. 8. (S. 13): „In evangelischer Verantwortung muss die Rede vom ‚character
indelebilis‘, den die Taufe den Getauften verleiht, in fünffacher Weise entwickelt werden: 1. als bleibende
Zugehörigkeit des Ausgetretenen zu Jesus Christus und damit als unzerstörbaren Indikativ des Heilszuspruchs; 2.
als Hinweis auf den unheilvollen Widerspruch des Ausgetretenen zu dieser ihm geltenden Verheißung; 3. als seine
bleibende Ansprechbarkeit auf den Glauben hin; 4. als bleibende Anfrage an die Identität des Ausgetretenen, die
ihm durch die Taufe als die Würde eines Christenmenschen zugesprochen ist; 5. als bleibende Bezogenheit der
Gemeinde auf alle Getauften, also auch auf die, die die Kirche verlassen haben.“
Siehe auch: Die Taufe. Eine Orientierungshilfe zu Verständnis und Praxis der Taufe in der evangelischen Kirche,
hrsg. vom Rat der EKD, Hannover, 2008; hier bes. 36.
23
LUHMANN, aaO. (Anm. 5), 226.
56
Texte aus der VELKD Nr. 152
•
führen. Damit würde sich aber die Kirche als Gesamtheit (Institution und Organisation)
schwächen. Schärfer gesagt: Das sogenannte Kerngeschäft der Kirche (Glaube, Hoffnung
und Liebe) ist letztlich(!) nicht organisierbar. Glaube entzieht sich einer totalen
Planbarkeit, hat stattdessen Geschenkcharakter, ist unverfügbar. Glaube unterbricht
unser weltliches Tun mitten in der Welt. Die Kategorie des Unterbrechens steht aber
quer zur an Berechenbarkeit orientierten Organisation.
Fünftens gilt, wenn Organisationen vor allem durch ihre effektiven Entscheidungsstrukturen bestimmt sind – und die Kirchen, auch meine mecklenburgische
Landeskirche, hier sicher nicht an einem Zuviel leiden – , auch hier die Warnung vor
einem Übergewicht an Organisationsförmigkeit im Leben der Kirche. Entscheidungen
können und müssen zwar korrigierbar sein, also sind Organisationen durchaus etwas
Lebendiges. Aber Korrekturen sind etwas völlig anderes als das Vergeben von Schuld.
Dies nun macht das Wesen des kirchlichen Lebens nach innen wie nach außen aus. Das
damit verbundene Unterbrechen der Wirklichkeit mit ihren (Organisations-)Gesetzen
macht das Wesen von Religion aus, ist aber das Gegenteil einer funktionierenden
Organisation. Organisationen stehen für Sicherheit, die Kirche für die christlich zu
charakterisierende besondere Form der Freiheit. Eine Kirche der Freiheit unterläuft jede
Stabilität von organisationsgeprägten Strukturen. Die Kirchen sind Sand im Getriebe der
Welt.
Das alles wiederum heißt nicht, ganz auf Organisation und Planung bei den
Rahmenbedingungen zu verzichten. Aber der Organisation sind Grenzen gesetzt. Sie eröffnet
Gestaltungsräume, bestimmt aber nicht das Wesen der Kirche. Nur dann kann sie von Nutzen
sein. Dann tragen organisationsförmige Gestaltungskriterien dazu bei, dass die Kirchen ihre
Aufgaben erfüllen können.
In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass es in der Kirche eine Balance von segmentären
und funktionalen Tätigkeiten geben muss. Segmentär meint, dass diese von der Wiederholung
der gleichen Form an allen Orten leben (Liturgie). Hierin besteht ihre Erkennbarkeit. Zugleich
müssen sie funktional sein, zumal sie sich gesamtgesellschaftlich in einer Wettbewerbssituation,
und vor allem auch Kommunikationssituation befinden.
Die Kirche will den Menschen Halt und Orientierung geben. In den
Ermöglichungsbedingungen muss sie dies effektiv tun, also organisationsbestimmt. Aber
zugleich bedarf es dabei mehr als einer je nach den vorfindlichen Bedingungen veränderbaren
Botschaft. Sie braucht Stabilität – genau das, was sich die Menschen in ihren Nöten und in ihrer
Freude von ihr erhoffen. Glaube, Hoffnung und Liebe; darauf wollen sich die Menschen
verlassen können. Oder, um es noch einmal mit Luhmann zu sagen: „Aber die Religion will
sich auf das, was sie schon ist, verlassen können.“24 Die christliche Kirche eben auf den, der
sich selbst offenbart hat als der, der er sein wird.
Wir brauchen deshalb ein neues Verständnis der Volkskirche.
3. Kirche in der Pluralität von Gemeinden gestalten
Ich möchte nun mit einigen konkreten Überlegungen für die Struktur von Gemeinden bei uns
in Mecklenburg Konsequenzen aus diesen (kirchen-)soziologischen Vorüberlegungen
anschließen.
1.
Die Kirche muss für die Menschen, gerade im ländlichen Raum, erfahrbar bleiben (vgl.
Motiv der Nachbarschaft). Dies erfordert vor allem einen überschaubaren Raum, in
24
LUHMANN, aaO. (Anm. 5), 249.
57
Texte aus der VELKD Nr. 152
2.
3.
welchem die Kirche lebt und unterschiedliche Beteiligungsformen für alle ermöglicht.
Dieser Nahbereich ist für die Menschen entscheidend.
Eine notwendige Mindestgröße einer Gemeinde, um die Vielfalt und Aufgaben einer
Gemeinde kompetent wahrnehmen zu können, ist dabei zweitrangig. Wohl brauchen
wir bestimmte Ressourcen, die es im Zusammenspiel zu organisieren gilt, aber diese
Organisationsformen sind keine geistlichen Kriterien. Gleichzeitig gilt: Auch Strukturen,
auch das Kirchenrecht, sagt etwas über das Wesen der jeweiligen Kirchengestalt aus.
Stattdessen sollen durch verbindliche Kooperationen zwischen Gemeinden und durch
die Zurüstung von Ehrenamtlichen die hierfür nötigen Kompetenzen und Ressourcen
erreicht werden. Dabei gilt: Gerade Ehrenamtliche brauchen die Unterstützung durch
arbeitsfähige Strukturen und durch hauptamtlich Tätige (in wechselseitiger
Wertschätzung). D.h.:
a)
Nicht jede Kirchgemeinde muss alle Dienste vorhalten. In der jeweiligen Region
bzw. Propstei25 sind Schwerpunkte in den einzelnen Gemeinden zu setzen. Dies
verlangt, auch im Blick auf die Besetzung von hauptamtlichen Stellen, klare und
uneigennützige Absprachen. Die verschiedenen Ebenen kirchenleitenden
Handelns sind dabei gefragt. Es muss klare Regularien hierfür geben. Die
Propstei und der Kirchenkreis sind die entsprechenden Ebenen, wo nötige
Entscheidungen getroffen werden. Gerade die Propsteien benötigen hierfür eine
Mindestgröße, die z. Z. nicht überall gegeben ist. Hier handelt es sich um Fragen
der effektiven Organisationsformen, weniger um Fragen zum Leben der
Gemeinden. Egoistische Eigeninteressen von Gemeinden müssen dabei hinter
den Gesamtinteressen zurücktreten. Dies erfordert u. U. einen entsprechenden
rechtlichen Rahmen im kirchenleitenden Handeln, um zu Entscheidungen zu
kommen.
b)
Die sich ergänzende Schwerpunktsetzung soll im Blick auf die räumliche
Struktur durch Koordination und Netzwerkstrukturen erreicht werden. Das
Modell von Zentren mit allen Angeboten kirchlichen Lebens sowie einer großen
Ausstrahlung einerseits und einer Peripherie andererseits, in der dann das
sogenannte kleine Standardprogramm ohne größere Ausstrahlung im Sinne einer
Grundversorgung zum Tragen kommt, ist dafür aber nicht geeignet. Menschen
wollen Kirche als Teil der Nachbarschaft und in der Form symbolischer Präsenz
an allen Orten, also auch und vor allem in ihrer Nachbarschaft.
c)
Im Sinne der symbolischen Präsenz (und nicht als Aushöhlung des Priestertums
aller Glaubenden missdeutet) ist es sinnvoll, möglichst flächendeckend
Pastorinnen und Pastoren unabhängig von der Gemeindegliederzahl
einzusetzen. Sie sind dann neben dem Parochialdienst notwendigerweise mit
anderen übergemeindlichen Diensten nach ihren Begabungen und Kompetenzen
zu beauftragen. Auch dies verlangt ein enormes Maß an Steuerungselementen
und kirchenleitendem Handeln; auch hier haben wieder die Aspekte einer
Organisation ihren sinnvollen Ort.
Um die Ausstrahlungskraft von Kirche zu steigern ist es nicht sinnvoll, sich aus Teilen
der Fläche zurückzuziehen und primär auf die Anziehungskräfte von Zentren zu setzen.
Vielmehr sollte statt einer Strukturierung im Raum ein Gestalten in der Zeit erfolgen.
Dies nimmt ernst, dass Menschen in ihrem Alltag einen Rhythmus brauchen. So sollte
es durch Absprachen zwischen den Gemeinden und der damit verbundenen Nutzung
jeweiliger Ressourcen gelingen, in allen(!) Kirchgemeinden im Laufe eines Jahres
25
Die verwendeten Begrifflichkeiten für kirchliche Struktureinheiten beziehen sich auf die in der derzeitigen
ELLM.
58
Texte aus der VELKD Nr. 152
4.
5.
6.
7.
26
Höhepunkte im Gemeindeleben zu schaffen, die eine weiterwirkende
Ausstrahlungskraft besitzen. Dies ist in weiten Teilen der mecklenburgischen
Landeskirche bereits gute Praxis, sollte sich aber (theologisch reflektiert) auch in der
Agenda des derzeitigen kirchlichen Reformprozesses niederschlagen. Solche
Höhepunkte geben dann auch neue Impulse in das jeweilige Gemeindeleben und
stärken es. Es gilt also, nicht unsere geringer werdenden Kräfte räumlich zu zentrieren,
sondern sie zeitlich zu konzentrieren. Damit leistet die Kirche auch einen Dienst an und
in der Welt, indem sie einem gängigen Trend der räumlichen Konzentration (Schließung
von Geschäften, Schulen, Bahnhöfen, Buslinien usw.) praktisch entgegenwirkt. Kirche
wird so über die Kerngemeinde hinaus öffentlich wahrgenommen und tritt einer
Privatisierung des Lebens entgegen.
Glauben muss in allen seinen drei26 Dimensionen von kirchlichem, öffentlichem und
persönlichem (auch biografischem) Bezug in der jeweiligen Gemeinde lebbar sein.
Gemeinde ist also interaktiv, braucht das verantwortliche Miteinander der Beteiligten.
Gemeinde ist für die Menschen auch außerhalb der Kirche in der Welt da, bringt sich
dort ein. Gemeinde ist für die persönliche Lebensbegleitung da, ist manchmal auch
Kirche bei Gelegenheit. Damit ereignet sich Gemeinde in der Spannung von
Beheimatung der Menschen, Verantwortungsübernahme in der Welt aus christlicher
Perspektive und gelebter Frömmigkeit bzw. Lebensbegleitung. Es gilt dabei die Vielfalt
der Gemeindeformen zu erhalten. Hier sollte also die Dimension der
organisationsgeleiteten Entscheidungen eher in den Hintergrund treten.
Gleiches gilt für die Vielfalt der Beteiligungsformen der Menschen am Gemeindeleben.
Im Blick auf die Rede von den Kernaufgaben dürfen diese Unterschiede nicht
hierarchisch gewertet werden. Kirche ist eben mehr als eine auf Effektivität
ausgerichtete Organisation. Sie ist vielmehr, wie bereits ausgeführt, eine Institution, die
Teilhabe ermöglicht, ohne sie gleichzuschalten. Diese Unterschiede in der Teilhabe, die
mitunter auch mit einem schmerzlichen Mangel an Kompetenz verbunden ist, dürfen
nicht vorschnell gewertet werden. Eine rein finanzielle Bindung an die Kirche über das
Zahlen der Kirchensteuer oder die sogenannten Heilig-Abend-Christen sind zu achtende
Beteiligungsformen. Gleichfalls gilt: Die Menschen dürfen nicht überfordert werden. Die
Kirche ist also weder reine Dienstleistungsinstitution noch reine Zusammenkunft der
sich selbst verwaltenden Aktiven. Sie ist eher eine Hülle, um Glaube, Hoffnung und
Liebe mitten in der Welt zu erfahren.
Die Kirche geht deshalb nicht in der (aktiven) Gemeinde auf, sondern repräsentiert das
Geschenk der Gnade, indem sie Gottesdienst feiert (Bedeutung der Liturgie). Ohne
dieses Feiern verliert die Kirche ihr Zentrum, wird zur bloßen Organisation. Passivität in
diesem Sinne gehört zur Teilhabe an Kirche dazu. Kirchen müssen zu Symbolorten des
Glaubens in seiner pluralen Gestalt in der Öffentlichkeit werden.
Dabei ist das Kriterium der Erreichbarkeit von Kirche hilfreich (in beide Richtungen
zwischen den Menschen und der Kirche). Kirche lebt von der permanenten (und sich
wiederholenden) Präsenz, als sichtbare Gestalt mitten im Dorf, mitten in der Stadt. Mit
Erreichbarkeit ist sowohl die räumliche Erreichbarkeit gemeint als auch die von
Menschen, die in sehr unterschiedlichen Milieus leben.
a)
Deshalb braucht diese Erreichbarkeit die Form der Parochie
b)
als auch die Form der Profilgemeinde bzw. spezifischer kirchlicher Dienste und
Werke.
Will Kirche flächendeckend präsent sein, bezieht sich dies nicht allein auf den Raum,
sondern auch auf die vielfältigen Mentalitäten und Einstellungen von Menschen;
Vgl. Kirche der Freiheit, aaO. (Anm. 4), 44.
59
Texte aus der VELKD Nr. 152
ansonsten verlieren wir als Kirche den Zugang zu bestimmten Milieus. Auch im Blick
auf Profilgemeinden und spezifische Dienste ist ein Rückzug aus der Fläche keine
sinnvolle Alternative. Deshalb ist nach Modellen zu suchen, die die Parochie und andere
spezifische Sozialgestalten von Kirche miteinander verbindet.
8.
Priorität in allen Gemeindeformen hat die Gestaltung von Kirche als Lernort der
Sprache des Glaubens. Wir müssen wieder neu lernen, über unseren Glauben zu reden,
öffentlich und privat, in den Schulen, auf den Straßen und Plätzen, in den Medien, und
auch in den Familien. Das Reden über den Glauben darf nicht auf Grund eines Gefühls
der Peinlichkeit verstummen. Hier ist Ermutigung in doppelter Hinsicht nötig: zur
Kompetenz und zum Ablegen der Scheu, über die eigene Trias von Glaube, Hoffnung
und Liebe zu reden.
So wird das Wesen der Kirche, wie es in CA 7 beschrieben ist, lebendig gestaltet: „Es wird auch
gelehret, dass alle Zeit musse ein heilige christliche Kirche sein und bleiben, welche ist die
Versammlung aller Glaubigen, bei welcher das Evangelium rein gepredigt und die heiligen
Sakrament lauts Evangelii gereicht werden. Dies ist genug ...“27 Dabei ist zwischen Kirche und
Gemeinde zu unterscheiden. Gemeinde ist nur eine (unter anderen) Formen der
Vergesellschaftung (Geselligkeit) von Kirche.
4. Kirchen auf dem Weg
Kommen wir nun zum Schluss auf das Projekt „Nordkirche“ zurück.
Die äußere Form, insbesondere die Größe einer Landeskirche ist – im Unterschied zur inneren
Struktur, die theologisch begründet sein muss – nach pragmatischen Kriterien zu gestalten.
Hauptkriterium ist dabei die Frage, welche Rahmenbedingungen am besten der Verkündigung
der befreienden Botschaft des Evangeliums von Jesus Christus den Menschen in einer
bestimmten Region dienen.
Aus mecklenburgischer Sicht sind m. E. im Blick auf die Konzeption einer „Nordkirche“
folgende Fragen zu beantworten:
1.
Ist im Zusammenspiel von Parochialgemeinden, gesamtkirchlichen Werken und
Diensten mit der Leitungs- und Verwaltungsebene unter den Bedingungen der
„Nordkirche“ eine Erreichbarkeit und Nähe der Menschen in den Kirchgemeinden der
ELLM durch haupt- und ehrenamtliche Mitarbeitende besser gegeben als bisher?
Werden die Menschen in unseren Gemeinden diese neue Landeskirche als ihre Kirche
annehmen oder nimmt der Abstand zur Landeskirche angesichts einer Zentralisierung in
einem weiten Raum eher zu?
2.
Können wir in einer „Nordkirche“ die besonderen Erfahrungen einer Kirche in einem
spezifisch geprägten säkularisierten Umfeld (anders als in Hamburg oder in SchleswigHolstein) besser einbringen?
3.
Geht eine ostdeutsche Stimme im Konzert der Kirchen der EKD nun eher unter?
4.
Werden wir dann von großen Teilen auch und gerade der nichtkirchlichen Bevölkerung
Mecklenburgs als nicht mehr zur Region gehörig wahrgenommen? Ist es nicht vielmehr
unsere Aufgabe, auch von der äußeren Struktur her klar erkennbar „Kirche im Land“ zu
sein, um unserem Kernanliegen, „die Botschaft von der freien Gnade Gottes
auszurichten an alles Volk“ (Theol. Erklärung von Barmen) in MecklenburgVorpommern gerecht zu werden?
5.
Verlieren wir in der Perspektive der zivilgesellschaftlichen Akteure und auch des Staates
unseres Bundeslandes an gesellschaftlicher Relevanz, obwohl wir als eine der wenigen
27
BSLK, Bd. 1, Göttingen, 1939, 59f.
60
Texte aus der VELKD Nr. 152
6.
Institutionen im Bundesland flächendeckend arbeiten? Gerade die gegenwärtige
Föderalismusdebatte zeigt dies: Bildung und Kultur liegen eindeutig in der Hoheit der
Bundesländer. Also: Ein Bundesland und eine Landes(!)kirche.
Findet hier, auch wenn dies nur ein – leider schwer zu entkräftendes – Vorurteil ist, ein
faktisch so wahrgenommener bzw. so interpretierter Entsolidarisierungsvorgang im
Bundesland statt? Sind wir also als zukünftige „Nordkirche“ im Wahrnehmen vieler
Menschen in unserem Bundesland dann gar Teil einer fremden, großen und „reichen“
westdeutschen Kirche (im Sinne eines Vorurteils)? Die Stärkung der Ost-WestBeziehungen geschieht jedenfalls in den Gemeinden vor Ort (Partnerschaften) und in
den Veranstaltungen der Dienste und Werke und nicht primär im Kirchenamt in Kiel.
Um diese und weitere Fragen zu beantworten, müssen wir klären, was wir als Kirche wirklich
wollen und in einen Fusionsprozess einbringen möchten. Erst wenn dies jede Kirche für sich
und im Gespräch miteinander geklärt hat, können auch belastbare Aussagen darüber getroffen
werden, welche Formen einer gemeinsamen Kirchengestaltung im Norden Deutschlands
sinnvoll ist! Dies könnte eine gemeinsame „Nordkirche“ sein. Dies können aber auch
Kooperationen in der Verwaltung im Sinne der Entlastung zwischen den drei Kirchen im
Norden sein, sowie Vertiefung und weiterer Ausbau von Kooperationen in den Diensten und
Werken bei vorläufiger weiterer Selbständigkeit, der beiden Kirchen in MecklenburgVorpommern.
Die kommenden Verhandlungen zur neuen Verfassung werden es zeigen, ob uns in den drei
Kirchen ein wirklicher Neuanfang gelingt, oder ob die in der NEK bisher in den letzten 30
Jahren nicht gelösten Probleme fortgeschrieben werden und die zukünftigen Tagesordnungen
bestimmen. Nutzen wir die Möglichkeiten im Miteinander der drei Kirchen bei der Gestaltung
der zukünftigen Kirchengestalt beherzt und in aller Offenheit im gemeinsamen Gespräch ohne
vorschnelle Denkverbote: um der Menschen im Norden willen, auch wenn wir hier im tiefsten
Bayern in Pullach zusammengekommen sind.
61
Texte aus der VELKD Nr. 152
Die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen als Ausdruck
verschiedener kultureller Identitäten
Matthias Rein
1. Einführung
Nach dem Fall der innerdeutschen Mauer zeigte sich stärker als von vielen erwartet, dass die
Grenze zwischen Ost- und Westdeutschland bis 1989 nicht nur eine Territorialgrenze, sondern
auch eine kulturelle Grenze war. In den vierzig Jahren der Teilung haben sich unterschiedliche
Kulturen in Ost und West herausgebildet. Die kulturellen Unterschiede zwischen West und Ost
verschwanden nicht einfach nach dem Mauerfall, sondern setzen sich fort, haben Bestand,
modifizieren sich in je verschiedener Weise. Auch das überrascht viele. Manche in Ost und
West fragen, wann sich Mentalitäten und Werthaltungen in Ostdeutschland „endlich“ dem
westdeutsch Normalen angleichen. Ob diese Erwartung berechtigt ist, darf bezweifelt werden.
Ausgeprägte kulturelle Unterschiede zwischen Regionen in Deutschland gibt es auch
unabhängig von den Ost-West-Differenzen. Das katholische Oberbayern unterscheidet sich
kulturell und im Blick auf Mentalitäten vom evangelischen Franken und z.B. vom kirchlich
schwach geprägten Südniedersachsen. Innerhalb eines Landes mit gemeinsamer Geschichte und
gleichen politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen können verschiedene regionale
kulturelle Identitäten zeitgleich nebeneinander existieren und Bestand haben.
Der Hamburger praktische Theologe Peter Cornehl beschreibt spezifische Unterschiede
zwischen Ost und West folgendermaßen:
„Vierzig Jahre getrennter Entwicklung im geteilten Deutschland haben Spuren hinterlassen. Die
Folgen sind auch zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung noch wirksam. Es haben sich in
Ost und West sehr unterschiedliche Lebenseinstellungen herausgebildet. Joachim Gauck spricht
von „zwei Kulturen“. Die Tradition obrigkeitlicher Verhaltensdispositionen und ihrer
„Anpassungsrationalität“ - betont Gauck - ist noch älter. Der Alltag in einer nicht-demokratischen Gesellschaft produziert nahezu zwangsläufig so etwas wie eine „Kultur der Ohnmacht",
von der auch die oppositionellen Kräfte mitbestimmt worden sind.28 So tapfer viele Christen in
der DDR dem Diktat des von der Staatspartei verordneten weltanschaulichen Atheismus und
seinem Totalitätsanspruch in Schulen und Hochschulen, Betrieben und Kulturbetrieb
widerstanden haben, es blieb denen, die sich verweigerten, kaum etwas anderes übrig als der
Rückzug in die Gemeindenischen und kleinen kirchlichen Subkulturen. Dort war man unter
sich. Kirche war ein Schutzraum. Das war viel. Und doch war allen klar, dass man gegen „die
da oben“ wenig tun konnte. Sie hatten die Macht, und es bestand keine Aussicht auf
Veränderung der Gesellschaft im Ganzen.
Auch heute herrscht noch eine gewisse Ängstlichkeit, in die Öffentlichkeit zu gehen. Dazu
kommen neben den nachwirkenden alten die vielfältigen neuen Ohnmachtserfahrungen, die
nach der Wende durch das neue System der kapitalistischen Leistungsgesellschaft, durch
Arbeitslosigkeit und Armut die Menschen belasten.“29
28
Vgl. dazu Gaucks „Berliner Rede zur Freiheit“, die er in einer Veranstaltung der Friedrich-Naumann-Stiftung am
26.4.2009 hielt. In Auszügen unter www.welt.de/wams_print/article3624334/Nur-der-Kapitalismus-kann-sicheinen-Sozialstaat-leisten.html (Zugriff am 3.6.2009).
29
Cornehl, Peter: Perspektiven, Chancen und Grenzen. Theologische Betrachtung der Nordkirche, in: Forum
Nordkirche, Sonderbeilage der Arbeitsstelle Gemeinsame Nordkirche im Norden, Mecklenburgische und
Pommersche Kirchenzeitung vom 23.11.2008, 8f.
62
Texte aus der VELKD Nr. 152
20 Jahre nach dem Mauerfall verharren die ostdeutschen Christen ängstlich in
Gemeindenischen und Subkulturen. Sie haben Angst vor Öffentlichkeit. Sie leben wie vor der
Wende in einer Kultur der Ohnmacht, so Cornehl. Was in den letzten 20 Jahren für die
Ostdeutschen geschah, welche Entwicklungen im Blick auf Mentalität und Identität es seit dem
Mauerfall gab, wird von Cornehl nicht angesprochen.
Zu fragen ist, welchen Maßstab Cornehl seinem Urteil über die Ostdeutschen zugrunde legt. Zu
fragen ist, welche Erfahrungen und Wahrnehmungen ihn bewegen, ein solch negatives Bild von
den Ostdeutschen zu zeichnen. Cornehl geht von seinen westdeutschen Erfahrungen und
Gewohnheiten aus. Daran misst er die Ostdeutschen und kommt zu einer grundsätzlich
negativen Bilanz.30 Zu fragen ist weiter, wie ostdeutsche Christen sich selbst wahrnehmen und
wie sie in ihrem Umfeld wahrgenommen werden.31
Die folgenden Ausführungen wollen helfen zu verstehen, worin die kulturellen Unterschiede
zwischen Ost und West bestehen, wie sie entstanden sind und welche Bedeutung sie
gegenwärtig für die Menschen in Ost und West haben. Dem liegt die These zugrunde, dass eine
Reihe von Unterschieden zwischen Ost- und Westdeutschen auf zu unterscheidende kulturelle
Identitäten zurückgehen, die auch nach dem Mauerfall Bestand haben und tradiert werden. Die
Wahrnehmung dieser Unterschiede als kulturelle Differenzen hilft, diese zu verstehen und mit
ihnen besser umgehen zu können.
2. Identität – Kultur – kulturelle Identität aus der Sicht von Soziologie und Kulturwissenschaft
Was ist aus soziologischer und kulturwissenschaftlicher Perspektive unter kultureller Identität
zu verstehen? Dazu kommen zwei Stimmen aus aktuellen Veröffentlichungen zu Wort.
a) Was ist Identität? Wie entsteht Identität?
„Die Identität ist die Antwort auf die Frage: Wer bin ich?, und wenn es um die kollektive
Identität geht, wird das „wir“ thematisiert: Wer sind wir? Identität ist nie einfach gegeben, sei
es durch die Natur oder durch eine unveränderliche Schöpfungsordnung, auch wenn sich viele
genau darauf beziehen und sich dadurch zu stabilisieren versuchen, sondern Identität wird
konstruiert. Die Vorstellungen vom Ich und die Vorstellungen vom Wir sind aktive
Herstellungsprozesse und haben die Aufgabe, Sinn herzustellen, der wiederum die Basis für die
individuelle und kollektive Handlungsfähigkeit bildet. Identitätskonstruktionen begründen eine
sinnhafte Ordnung darüber, dass sie Grenzen ziehen für das, was mich oder uns betrifft und sie
tun das durch Abgrenzung zum Anderen, durch Differenzsetzungen. Sie schaffen claims, die
wir für uns beanspruchen, sie definieren Rechte, die daraus folgen, sie produzieren
Motivationen für die Verteidigung oder Ausweitung von claims. Sie schaffen mit anderen
Worten Zugehörigkeiten und sichern darüber Verortung und Beheimatung.“32 „Die
Konstruktion von Identitäten bezieht ihre Baumaterialien aus Geschichte, Geografie, Biologie,
30
So begegnet es nicht selten in der Darstellung und Beurteilung der ostdeutschen Verhältnisse durch
Westdeutsche, vgl. Seibt, Gustav: Harzreise im Sommer, Druckausgabe der Süddeutschen Zeitung vom 9.6.2008.
Maxim Billers Beitrag „Deutsche deprimierende Republik“ aus der FAZ vom 22.3.2009 lässt fragen, was an der
klischeehaften karikierenden Darstellung der Ostdeutschen ernst zu nehmen ist und was ins Kabarett gehört.
Interessant an dem Text ist, dass hier eine westdeutsche Sicht der Dinge explizit (und überzogen) zur Sprache
kommt. Ob Biller mit dem Text mehr will und erreicht als zu provozieren, bleibt offen.
31
Vgl. dazu Rein, Matthias: „20 Jahre nach dem Fall der Mauer: Woher wir kommen – wer wir sind!“. Ost-/WestDifferenzen in der nichtkirchlichen und kirchlichen Binnen- und Außenwahrnehmung. Materialien und Thesen,
Texte aus der velkd 146/2008, 18-21.
32
Keupp, Heiner: Identitätspolitik zwischen kosmopolitischer Euphorie und fremdenfeindlicher Ausgrenzung, in:
Kalscheuer, B. u. Allolio-Näcke, L. (Hg.): Kulturelle Differenzen begreifen. Das Konzept der Transdifferenz aus
interdisziplinärer Sicht, Frankfurt/New York 2004, 147-166, 154.
63
Texte aus der VELKD Nr. 152
von produktiven und reproduktiven Institutionen, aus dem kollektiven Gedächtnis und aus
persönlichen Phantasien, von Machtapparaten und aus religiösen Offenbarungen“.33
„Identitätspolitik sind nun alle symbolischen und realen Handlungen, über die anderen und
einem selbst angezeigt werden soll, wo das Eigene vom Fremden abgegrenzt werden muss, wo
Bedrohungen dieser Grenzziehungen gesehen und abgewehrt werden müssen. Identitätspolitik
findet jeden Tag und überall statt, in der Mikropolitik persönlicher Begegnungen, in der
Kommunikation zwischen Gruppen und Organisationen, in den Beziehungen zwischen Staaten.
Sie wird uns meist aber nur darin bewusst, wenn eingeschliffene Identitätskonstruktionen
bedroht sind und neu verhandelt werden müssen.“34
b) Was ist Kultur? Wie entsteht kulturelle Differenz?
„In den modernen Gesellschaften dient der Begriff der Kultur der Beschreibung kohärenter
individueller und gesellschaftlicher Handlungs- und Deutungsmuster. In kommunikativen
Prozessen der Selbstbeschreibung „materialisiert“ sich Kultur demnach sowohl in den Formen
der Wahrnehmung von Welt als auch in konkreten menschlichen Tätigkeiten. Ein wichtiges
Merkmal von Kultur ist ihre Kontinuität, die jedoch von sehr unterschiedlicher Dauer sein
kann. Sie ist offensichtlich dort am stärksten ausgeprägt, wo ihr das Attribut der Tradition
zugeschrieben wird. Bei Traditionen handelt es sich um verfestigte kulturelle Praxen, deren
zentrales Merkmal ihre „Invarianz“ bildet. ... Bei „kulturellen Traditionen“ handelt es sich
demnach um erstarrte Formen kultureller Praxen, durch die die gegenwärtigen, aktuellen
Handlungs- und Deutungsmuster beeinflusst und strukturiert werden. Kultur kann damit als der
Schnittpunkt „synchroner“ und „diachroner“ Kommunikationsstrukturen charakterisiert
werden. Während sich die „synchronen“ Kommunikationsstrukturen auf die Parallelität und
Vielfalt von Ereignissen und Erfahrungen innerhalb der gegenwärtigen gesellschaftlichen
Verhältnisse beziehen, sind die „diachronen“ Kommunikationsstrukturen das Resultat
historischer Entwicklungen. ...
Kulturen werden in ambivalenter Weise sowohl als aktuelle Referenzsysteme für Deutungs- und
Handlungsprozesse als auch als Differenzsystem beschrieben, die die Individuen und
Gemeinschaften in ihren Deutungen orientieren. ...
Kultur wird als ein ambivalenter Zusammenhang beschrieben, durch den sich den Menschen
einerseits ein reichhaltiger Kosmos an (Welt-)Erfahrungen und (Welt-)Deutungen erschließt, der
andererseits jedoch zugleich auch eine kulturelle Begrenzung von Welt darstellt. Das zentrale
Prinzip der Generierung kultureller Deutungen und Muster bildet das Mittel der Beurteilung
zum Zwecke der Differenzierung, etwa in Trennendes und Gemeinsames. Die „Produktion“
kultureller Unterscheidungen erfolgt also nicht allein aufgrund der Beschreibung objektiver,
„(wert-)neutraler“ Differenzen, sondern durch die bewusste und (be-)urteilende Wertung.
Kulturelle Differenzen sind damit von Anfang an in widersprüchlicher Weise eingeschrieben in
die gesellschaftlich geltenden Norm- und Wertesysteme. Widersprüchlich sind sie deshalb, weil
es sich bei den Kulturen selbst nicht um eine homogene Einheit des Wertens und Urteilens
handelt, sondern weil innerhalb der Kulturen konkurrierende Deutungen auf widersprüchliche
Weise mit enthalten sind und Geltung beanspruchen.“35
33
Castells, M.: Das Informationszeitalter, Bd.2: Die Macht der Identität, Opladen 2002, 9.
Keupp aaO., 155. Keupp hat als Psychologe und Soziologe eine Professur für Sozial- und Gemeindepsychologie
an der LMU München inne.
35
Geisen, Thomas: Kultur und Identität – Zum Problem der Thematisierung von Gleichheit und Differenz in
modernen Gesellschaften, in: Kalscheuer, B. u. Allolio-Näcke, L. (Hg.): Kulturelle Differenzen begreifen. Das
Konzept der Transdifferenz aus interdisziplinärer Sicht, Frankfurt/New York 2004, 167-188, 173-175. Geisen ist
Soziologe, Politikwissenschafter und Pädagoge und arbeitet als Dozent an der Uni Zürich. Er forscht zu Migration,
Mobilität und Identitätspolitik.
34
64
Texte aus der VELKD Nr. 152
c) Zum Verhältnis von territorialen und kulturellen Grenzen
Kulturelle Grenzen unterscheiden sich von nationalstaatlich-territorialen Grenzen nach
Osterhammel durch folgende Sachverhalte: Kulturelle Grenzen beziehen sich auf die
Konstruktion von Differenzen zwischen zivilisatorischen Einheiten. Kulturelle Grenzen
orientieren sich an geografischen und politischen Grenzen, stimmen aber nicht immer mit
ihnen überein. Kulturelle Grenzen sind selbst Teil einer Kultur und somit nicht einfach
selbstverständlich durch Kultur gegeben, sondern veränderbar.36
Für die Beschreibung kultureller Identitäten in Ost- und Westdeutschland erscheint mir wichtig,
dass kulturelle Identitäten eine gewisse Invarianz haben, also nicht sofort verschwinden, wenn
sich territoriale Vorgaben ändern. Kulturelle Identitäten entstehen in längeren Zeiträumen und
setzen sich je aktuell mit anderen Kulturen auseinander, denen sie begegnen. Die Abgrenzung
der eigenen kulturellen Identität von der Identität anderer ist wichtig für die eigene
Identitätsbestimmung. Kulturelle Identitäten verändern sich bewusst und unbewusst. Sie sind
vorgegeben und können doch auch beeinflusst werden.
3. Kulturelle Abgrenzungen zwischen Ost und West im öffentlichen Diskurs zwischen
1990 und 2002
In einer 2007 veröffentlichten Studie zeichnet der Psychologe und Kulturanthropologe Lars
Allolio-Näcke Stationen zunehmender kultureller Grenzziehung zwischen Ost- und
Westdeutschen nach 1989 nach.37 Er bezieht sich dabei zunächst auf den öffentlichen Diskurs
in den Medien und in politischen Debatten, der von den Sozialwissenschaften rezipiert und
reflektiert wurde. Dieser Diskurs wirkt wiederum zurück auf Urteile und Überzeugung der
Menschen im alltäglichen Miteinander. Wichtige Ergebnisse seiner Untersuchung seien hier
kurz dargestellt und kommentiert.
Als die ostdeutschen Demonstranten im Herbst 1989 „Wir sind ein Volk!“ riefen, sprachen sie
auch der großen Mehrheit der Westdeutschen aus tiefster Seele. Die Westdeutschen, so AllolioNäcke, meinten, die Ostdeutschen seien so wie sie, 40 Jahre Teilung konnten daran nichts
ändern. Die Ostdeutschen nahmen ihrerseits an, ihre Schwestern und Brüder im Westen leben
zwar in größerem Wohlstand, tragen modische Kleidung und fahren bessere Autos, im Blick auf
Überzeugungen, Werte und Alltagsverhalten seien sie so wie sie. Diese Annahme stellt einen
Grundmythos der deutsch-deutschen Wahrnehmung dar. Aber es sollte sich bald herausstellen,
dass beide Seiten zwar annahmen den anderen zu kennen, weil er einem gleich sei. Wie der
Andere tatsächlich ist, wusste indes keiner genauer.38 In Westdeutschland gehörte es über die
persönliche und allgemeine Meinung hinaus zum Selbstverständnis von Gesellschaft, Staat und
tragenden politischen Kräften, dass beide Teile Deutschlands eine nationale und kulturelle
Einheit bilden.39
Nach dem Fall der Mauer wurde der direkte Vergleich der Menschen in Ost und West möglich.
Nun allerdings traten Animositäten, Ressentiments und gegenseitige Vorwürfe zutage, die sich
als Mentalitätsgräben darstellten. Die nun wahrnehmbaren mentalen Unterschiede, die unter
dem Eindruck der gewaltsamen Trennung nur geringe Relevanz hatten, wurden als Fakten ins
36
Osterhammel, Jürgen: Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaates. Studien zu Beziehungsgeschichte und
Zivilisationsvergleich, Göttingen 2001, 216-218.221.
37
Ders.,: Ostdeutsche Frauen haben (k)eine Chance. Doing Identity 15 Jahre nach der deutsch-deutschen
Vereinigung, Hamburg 2007, besonders das Kapitel Die Ostdeutschen, 145-182, ders.: Ostdeutsche Identität als
kulturelle Grenzziehung, in Psychologie & Gesellschaft 2/2004, 43-60.
38
Vgl. Allolio-Näcke, Ostdeutsche Frauen, 151.
39
Vgl. dazu weiter die Ausführungen des Autors zum Verständnis von Kulturnation und Staatsnation, aa0., 146148.
65
Texte aus der VELKD Nr. 152
Leben gerufen.40 Mit dem formalen Beitritt der fünf neuen Bundesländer zum Gebiet der
Bundesrepublik Deutschlands am 3.10.1990 veränderte sich die gegenseitige Wahrnehmung
der Ost- und Westdeutschen, so Allolio-Näcke. Jetzt wurde sichtbar, was man vorher nicht
sehen konnte.
In einem Exkurs geht der Autor der Frage nach, wie nach 1989 das Selbstverständnis der
Bewohner der neuen Bundesländer als Ostdeutsche entsteht. Spätestens seit der ersten freien
Wahl in der DDR am 18.3.1990 wurde zwischen der ehemaligen DDR, dem sozialistischen
Staat, und der gewendeten DDR, die von einer durch freie Wahlen hervorgegangenen
Regierung regiert wurde, unterschieden. Diese „neue“ DDR existierte formal bis zum
3.10.1990. Wer damals als DDR-Bürger im Ausland nach seiner Herkunft gefragt wurde, sagte,
durchaus auch mit Stolz, sofern er den Sturz der alten DDR-Regierung und die politischen
Umwälzungen begrüßte, er sei DDR-Bürger, und zwar Bürger der neuen, demokratischen DDR.
Zu diesem Zeitpunkt bezeichneten sich Menschen aus der neuen DDR noch nicht als
Ostdeutsche. Der Terminus Ostdeutschland wird zu dieser Zeit noch zur Bezeichnung der
Gebiete östlich von Oder und Neiße verwendet, die bis 1945 zum Deutschen Reich gehörten.
Mit der Unterzeichnung der Zwei-plus-Vier-Verträge und dem endgültigen völkerrechtlichen
Verzicht Deutschlands auf die Gebiete östlich von Oder und Neiße wird der Begriff
Ostdeutschland territorial neu zugeordnet. Er wird nun zur Bezeichnung der vor dem Krieg als
mitteldeutsche Gebiete bezeichneten Regionen verwendet. Diese neue Zuordnung wird
zunächst von den (westdeutschen) Medien vorgenommen und dann auch von der Politik
übernommen. Allolio-Näcke meint, diese Zuordnung sei in erster Linie eine mediale
Konstruktion. Die Bürger in den neuen Bundesländern hätte diese Bezeichnung kaum
verwendet. Der Begriff „ostdeutsch“ entwickelt sich dann von einem politisch-medialen
Alltagsbegriff zu einem sozialwissenschaftlichen Terminus. Ostdeutsch wird zur Bezeichnung
einer kollektiven Identität, die sich territorial, sprachlich, gesellschaftlich und wirtschaftlich von
der westdeutschen Identität unterscheidet.41 Die Identität des DDR-Bürgers verschwindet und
wird in der Identität des Ostdeutschen konserviert. Gestützt wird die nun entstehende
ostdeutsche Identität durch die den Ostdeutschen gemeinsame Erfahrung des Verlusts der
Heimat und durch die soziale Ungleichheit zwischen Ost und West. Zu fragen wäre an dieser
Stelle, wie stark das Moment der willkürlichen oder unwillkürlichen Konstruktion bei der
Entstehung der ostdeutschen Identität ist.
Interessant sind die Rückwirkungen dieser Prozesse auf die Identität der Menschen, die bisher
in der „alten“ Bundesrepublik gelebt haben. Es entsteht nun die Identität der Westdeutschen.
Zugespitzt heißt dies, eine dezidiert westdeutsche Identität in Abgrenzung zu den Ostdeutschen
gibt es erst, seitdem es Ostdeutsche gibt und seitdem sich Westdeutsche von Ostdeutschen
unterscheiden müssen und wollen.42
Nach dem Beitritt der ostdeutschen Bundesländer zur Bundesrepublik übernehmen Experten
aus Westdeutschland fast alle leitenden Funktionen in staatlichen und nichtstaatlichen
Organisationen. Ostdeutsche bleiben von diesen Positionen in den nächsten Jahren fast gänzlich
ausgeschlossen. Das instrumentelle und implizite Wissen der Menschen, die in der DDR
aufgewachsen sind, verliert damit von heute auf morgen an Bedeutung und Relevanz:43
40
Vgl. aaO., 153.
Vgl. aaO., 156-158.
42
Was die Identität der Westdeutschen im Unterschied zu den Ostdeutschen ausmacht, beschreibt z.B. Maxim
Biller in seiner polemischen Rede, s.A. 3.
43
Vgl. Allolio-Näcke, Ostdeutsche Frauen 159f.
41
66
Texte aus der VELKD Nr. 152
„Die Ostdeutschen mussten sich nunmehr am westdeutschen Wirklichkeitswissen orientieren,
was eben nicht nur eine Neuorientierung im Bereich instrumentellen Wissens meint, sondern
auch den großen Bereich impliziten Wissens, also jene schwer thematisierbaren
Wissenssegmente einer Kultur, die reflexiv nicht ohne weiteres verfügbar sind und daher bei
jeder Person, die zum „Eigenen“ gerechnet wird, vorausgesetzt werden. Der Zwang zur
Wertschätzung westdeutschen Wissens bedeutet für die Ostdeutschen gleichzeitig die
Entwertung eigener Wissensstrukturen (also auch: eigener Vergangenheit und eigener
Wertorientierung) und ist damit in hohem Maße selbstwert- und identitätsbedrohend.“44
Wer aus dem Westen kam, konnte in Ostdeutschland als Experte für Wirklichkeitswissen
auftreten. Wer aus dem Osten stammte, war qua Herkunft Laie in dieser Hinsicht. Dieses
Gefälle bestimmt bis heute den Alltag in Ostdeutschland und spielt nach wie vor eine wichtige
Rolle bei der Besetzung von Leitungspositionen. In Ostdeutschland lebt und arbeitet eine
Führungselite, die nicht aus den Regionen stammt, in denen sie wirkt.
Deutlich sichtbare Unterschiede zwischen Ost und West bestehen nach wie vor im Blick auf die
Einkommen und das verfügbare Vermögen der Bevölkerung. Begründet werden die geringeren
Pro-Kopf-Gehälter u.a. mit einer niedrigeren Arbeitsproduktivität im Vergleich zum
westdeutschen Durchschnitt. Wie Wolfgang Engler zeigt, befinden sich nach wie vor die
wichtigsten Bereiche der Wertschöpfung in Westdeutschland. Ein angemessener Vergleichswert
wäre deshalb der Umsatz pro Beschäftigten. Und da erreichen ostdeutsche Firmen gleiche
Werte wie westdeutsche.45
Diese Faktoren lassen besser verstehen, warum sich viele Ostdeutsche nach der Wende als
unterprivilegiert und depriviert fühlen. Die gesellschaftlichen Statusunterschiede im Blick auf
Einkommen, Vermögen und Führungspositionen sind nach der Vereinigung nicht
verschwunden, sondern haben sich verschärft.46
Wie ostdeutsche Wissensformen hat die „Ostsprache“ an Relevanz verloren. Der Gebrauch
typischer Begriffe und Wendung wird vermieden, gleiche Wörter haben mitunter in Ost und
West verschiedene Semantik, was zu Kommunikationsproblemen führt. Auch im Blick auf die
Sprache dominiert die Kultur der alten Bundesländer. Auch hier besteht eine Experten/LaienKonstellation.47
So ist nüchtern festzustellen, dass sich kurz nach der Wende 2/3 der Ostbürger in erster Linie
als Deutsche fühlten. Nun, etwa 12 Jahr später fühlt sich die Mehrheit der Ostdeutschen
zunächst als Ostdeutsche.48 Michael Thomas kommt 1998 zu folgendem Schluss: „Seit Ende
der 1990iger Jahre hat sich ein anhaltender, sich verschärfender sozialer und kultureller
Trennungsprozess zwischen Ost- und Westdeutschland aufgetan.“49 Eine nicht unwesentliche
Rolle in diesen Prozessen hat die westdeutsch dominierte Medienlandschaft gespielt, die die
gesellschaftliche Meinungsbildung bestimmt, widerspiegelt und verstärkt.50
Alloloi-Näcke charakterisiert den öffentlich-dominanten Ost-West-Diskurs anhand kultureller
Grenzlinien, die aus den Diskursen über „Fremde“ stammen.
44
Strenger, Horst, Lüchauer, Annemarie: Verweigerte Gleichwertigkeit. Zur Reproduktion des Ost-WestUnterschiedes unter Wissenschaftlern, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 3/1998, 490516, 499, zit. nach Allolio-Näcke, Ostdeutsche Frauen, 159.
45
Vgl. Allolio-Näcke, Ostdeutsche Frauen, 160f. Vgl. weiter Engler, Wolfgang: Die Ostdeutschen als Avantgarde,
Berlin 2002, 85ff.
46
Vgl. Allolio-Näcke, Ostdeutsche Frauen, 161.
47
Vgl. aa0., 162f.
48
Vgl. aaO., 164, A. 166.
49
Thomas, Michael: Paradoxien in der deutschen Transformationsdebatte, in Berliner Debatte Initial, 2-3/1998,
104-116, 106, zit. Allolio-Näcke, Ostdeutsche Frauen, 165.
50
Vgl. Allolio-Näcke, Ostdeutsche Frauen, 165.
67
Texte aus der VELKD Nr. 152
a) Verweigerte Gleichwertigkeit:
Westdeutsche Einstellungen und Werte werden in den Diskursen bewusst oder unbewusst als
Norm gesetzt. Einstellungen und Werte Ostdeutscher weichen von der Norm ab und gelten als
defizitär. Die Werte Ostdeutscher erscheinen in dieser Perspektive als traditionell, verzögert,
entwicklungsbedürftig, anpassungsbedürftig. Die eigene Geschichte der Ostdeutschen kommt
nicht in den Blick. Das Leben der Ostdeutschen wird vor allem als Leben in einer Diktatur im
Zeichen einer Unrechtsgeschichte wahrgenommen, positive Erfahrungen treten kaum zutage.
Solche Art verweigerter Gleichwertigkeit im Sinne von „Jeder hat seine eigene Erfahrungen und
eigene Geschichte“ erzeugt Widerstand bei denen, die der gesetzten Norm nicht entsprechen,
und vergrößert die Kluft zwischen Ost und West.51
b) Verweigerte kulturelle Gleichzeitigkeit:
Der Andere wird aus dem Hier und Jetzt in eine historisch vergangene Zeit versetzt, was ihm
eine zeitgleiche Entwicklung und somit legitime Existenzberechtigung in der gleichen Zeit wie
die des Wahrnehmenden abspricht. Lebensumstände und Prägungen des Anderen werden in
absehbarer Zeit von selbst untergehen, da sie überholt sind, so die Annahme. Die ostdeutsche
Teilgesellschaft gilt in diesem Sinne als vormodern und unmündig. Sie hat nachholende
Modernisierung nötig. Der Ostdeutsche wird als Exot wahrgenommen, der als Mensch aus
längst vergangenen Zeiten in die Gegenwart katapultiert wurde: „In aktuellen Diskursen
werden gern Eigenschaften, die als konstituierend für ostdeutsche Mentalitäten gelten,
unhinterfragt als Beleg für die Natürlichkeit gegen die morbiden Westler der Konsumwelt
ausgespielt: Aufgeschlossene Freundlichkeit contra Eiseskälte, Solidarität contra
Ellenbogengesellschaft, Familiennähe contra Vereinzelung ... Es erscheint der ostdeutsche
Wilde einer fast vorindustriellen Gesellschaft als Gegenbild zu einer kaputten, dekadenten
Zivilisation.“52
c) Verweigerte kulturelle und geografische Nähe:
Eine weitere Strategie zur Abgrenzung versucht, Distanz zu schaffen zwischen den Menschen
in Ost und West. Ostdeutsche werden dann zu einer eigenen Spezies erklärt, quasi ethnisiert.
So schreibt der Regensburger Politikwissenschaftler und Experte für Osteuropa und die
Totalitarismusforschung Jerzy Macków 2001 in der Wochenzeitung „Die Zeit“: „Ostdeutsche
sind atomisierte Menschen ohne Geschichtsbewusstsein und herkömmliche Wertesysteme,
ehrfürchtig den Staat anbetend, welcher ihr gesamtes Leben organisiert und ihre Existenz
sichert – solche Menschen nennt man Sowjetmenschen.“53
Eine Ethnisierung positiver Art betreibt der Sozialreport 1999, der die Bürger in Ostdeutschland
als Menschen ohne Rechte und ohne Eigentum darstellt.54
Allolio-Näcke resümiert: „Hatte es von Seiten der Bundesrepublik Deutschland vor der
Wiedervereinigung – wie dargestellt – keinen Zweifel an der gleichen Kulturzugehörigkeit
gegeben, so wendet sich das Bild nach 1990. Die gleiche kulturelle Zugehörigkeit wird mehr
und mehr verdrängt, ja sogar geleugnet. Auf der anderen Seite wird von ostdeutscher Seite die
kulturelle Gleichheit mehr und mehr betont, jedoch ab 1997 ebenfalls wieder infrage gestellt.
Macków reproduziert das Schema des Eisernen Vorhangs, der geteilten Welt, das vormals die
51
Vgl. aaO., 166-170.
Stecker, Karin: Zur Fragwürdigkeit des Erinnerns. Die selektive Wahrnehmung von DDR-Geschichte. In:
Diederich, U; Friese, Heidrun (Hg.): Veränderungen – Identitätsfindung im Prozess: Frauenforschung im Jahre
Sieben nach der Wende, Bielefeld 1997, 159-180 163f., zit. nach Allolio-Näcke, Ostdeutsche Frauen, 172.
53
Ders., Sowjetmenschen im Sozialstaat, Die Zeit 13/2001, 13.
54 www.sfz-bb.de/Aktuelles/sozialreport1999/sr1999.pdf
52
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Texte aus der VELKD Nr. 152
Welt in die Kultur des Sozialismus, die des Kapitalismus und der sogenannten blockfreien
Staaten einteilte. Zeichnete sich die kapitalistische Kultur durch ihren Individualismus, durch
ihre Orientierung auf Erfolg und Gewinn sowie dem Ideal der Freiheit aus, konnotierte man die
sozialistische Kultur mit Kollektivismus, der Orientierung am Gemeinwohl und dem Ideal der
Diktatur des Proletariats, die dem Kommunismus den Weg bereiten sollte. Lebensform und
Orientierung wurden – und werden hier auch bei Macków – dichotom als zwei Endpole
verschiedener Skalen gefasst, die sich niemals mischen werden können, so wie »oil and water«
(Hall 1999: 280). Folgt man dieser Logik, so ist ausgeschlossen, dass diese kulturelle Prägung
überwunden werden kann – zumindest nicht von denen, die in den alten Denkweisen erzogen
worden sind, ist sie doch Bestandteil der Identität des Einzelnen, wie Eriksons Identitätsmodell
(vgl. Erikson 1995) zu postulieren weiß. Setzt man voraus, dass die Ostdeutschen stabile
Identitäten entwickelt haben, so bedeutet das, dass die einmal entwickelte Identität als Kern der
Person stabil und unverändert bleibt. Kann so überhaupt ein kulturelles Gemisch entstehen?
Vielmehr noch, kann dann von einer gemeinsam geteilten Kultur oder einer gemeinsam zu
entwickelnden Kultur gesprochen werden?“55
„Für den Westen erscheint die Lage unproblematisch. Hier ist man der wahre Deutsche, der,
der diesen Namen auch verdient. Und die andere Seite? Wie begreift man sich in den neuen
Bundesländern? Welche Wahl zur Identität hat man hier, wenn man eigentlich nicht existiert,
wenn man weder Biografie noch Geschichte hat, weil diese nicht anerkannt wird und man sich
ihrer 1989 selbst entledigen wollte? Welche kulturellen Grenzziehungen sind aus der Position
des „Verdrängten“, des „Markierten“, des „Ausgeschlossenen“ noch möglich?“56
Antworten auf diese Fragen gibt die Sicht einer 23-jährigen ostdeutschen Frau, mit der der
Autor ein Interview geführt hat, das er in seiner Untersuchung dokumentiert und ausführlich
kommentiert. Sie kehrt die Wertzuschreibungen der öffentlichen Diskurse um: „Ostdeutsch“
besetzt sie positiv und verbindet es mit den Attributen „wärmer, freier, reflektierter,
hilfsbereiter“. Für sie gilt, dass jeder in Ost und West eine eigene biografische Geschichte hat,
die gleich viel wert ist. Und mittlerweile fällt es ihr schwer zu erkennen, woher jemand kommt:
„Es gibt Westdeutsche, die würd ich glatt für einen Ostdeutschen halten.“57 So werden die in
der Öffentlichkeit dominanten Diskurse individuell unterlaufen, infrage gestellt und kulturelle
Grenzen neu gezogen. Die Aufhebung der innerdeutschen kulturellen Grenzziehung scheint
aus der Sicht der Frau einfach: Nur die „hundertprozentige Akzeptanz gegenseitig, ... keine
Verurteilungen, keine Vorurteile, sondern einfach: Ich akzeptiere den anderen, so wie er ist,
ohne wenn und aber.“58
4. Kritische Würdigung und Fazit
Allolio-Näckes Untersuchungen beziehen sich auf den Zeitraum 1990 bis 2002. Die Stimmen
im öffentlich-dominanten Diskurs, die er aufgreift, sind vorwiegend westdeutscher Provenienz.
Manche Urteile und Bewertungen wirken aus heutiger Sicht überzogen und stark
emotionalisiert. Man hat den Eindruck, dass in den ersten 10 Jahren nach dem Mauerfall eine
gewisse Ernüchterung über den jeweils Anderen in Ost und West Einzug hielt, die auch mit
Enttäuschung, Verärgerung und dezidierter Abgrenzung verbunden war. Die Hinweise des
Autors über Verweigerung von Gleichwertigkeit, Gleichzeitigkeit und kultureller Nähe, die
vielen westdeutschen Wahrnehmungen im Blick auf Ostdeutsche zugrunde liegen, geben
55 Allolio-Näcke, Ostdeutsche Frauen, 17f,
56 AaO., 176.
57 Vgl. aaO., 180.
58 Allolio-Näcke, Ostdeutsche Identität, 55.
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Texte aus der VELKD Nr. 152
wichtige Verstehenshilfen für die Kommunikationsprobleme. Sie lassen verstehen, worauf sich
eine Haltung des Von-oben-herab mancher Westdeutscher bezieht. Sie lassen weiter verstehen,
warum Ostdeutsche zuweilen dünnhäutig auf solche Verweigerungen reagieren.
Sie zeigen, dass es sowohl dem Einzelnen als auch den öffentlichen Diskursen in
Westdeutschland schwer fällt, Prägung und Geschichte ihrer ostdeutschen Landsleute in einem
anderen Koordinatensystem als dem vertrauten wahrzunehmen und zu beurteilen. Zu fragen
ist, wie sich in den Jahren zwischen 2002 und 2009 Diskurse und Bewertungen weiter
entwickelt haben. Manches hat sich vielleicht entschärft. Kulturelle Unterschiede zwischen Ost
und West gibt es aber nach wie vor und es hat den Anschein, dass sie noch lange bestehen
werden.
Allolio-Näcke geht wenig auf die Diskurse innerhalb der Ostdeutschen zur Frage ihrer
kulturellen Identität ein. Diese Diskurse entzünden sich häufig an Fragen der Deutung der
eigenen Geschichte. War die DDR ein Unrechtsstaat? War sie eine Diktatur? Wie haben
Menschen in der Diktatur gelebt? Was prägt sie bis heute? In den Debatten über diese Fragen
unter den Ostdeutschen wird auch um die Deutungshoheit im Blick auf das eigene Leben und
die eigene Geschichte gekämpft. Und es geht um die Frage, was ostdeutsche Identität heute
ausmacht.59
Zu fragen ist, ob die Abgrenzungen zwischen Ost und West nach dem Mauerfall allein auf das
Agieren der Westdeutschen zurückzuführen sind. Auch auf ostdeutscher Seite gab es
Ressentiments und Pauschalisierungen gegenüber den Anderen, wurden Klischees erzeugt und
gepflegt. Eine eingehende Analyse dieser Entwicklungen bleibt Allolio-Näcke schuldig.
Wer in Ostdeutschland lebt und westdeutsche Verhältnisse kennt, wird kulturelle Unterschiede
benennen können. Dazu zählen der Umgang mit der Öffentlichkeit, der Stellenwert von
bezahlter Arbeit für den Einzelnen, der Umgang mit Konflikten z.B. in der Kommune und in
Institutionen, das Klima in den öffentlichen Schulen. Dazu gehört auch die Bewertung der
eigenen Milieuzugehörigkeit.60 Aufgabe ist, diese Unterschiede wahrzunehmen, zu verstehen
und mit ihnen umzugehen.
Allolio-Näckes Anliegen ist nicht, kulturelle Differenzen festzuschreiben, er verweist auf
Momente der Transdifferenz, die die bestehenden kulturellen Differenzen unterlaufen. Hier, so
der Autor, entstehen „Momente des ‚Neuen’, des ‚Anderen’, die einer Determination
kultureller Grenzverläufe zuwiderlaufen“61 und die Praxis der Grenzziehung verändern. Diese
Unterwanderungen bisheriger Differenzen lassen gespannt sein auf weitere Entwicklungen im
Blick auf die kulturellen Identitäten in Ost und West.
Richard Schröder beschreibt die Schwierigkeiten zwischen Ost und West im Blick auf die DDRGeschichte folgendermaßen:
„Es fällt nach wie vor vielen Westdeutschen schwer, sich vom Alltag in der DDR ein
zutreffendes Bild zu machen. Die einen halten die DDR für eine Bundesrepublik mit Ostgeld
und bröckelndem Putz. Andere werfen den Ostdeutschen vor, vor so miesen Typen gekuscht
zu haben. Ihr wart doch alle Stützen des Systems. Beides beruht auf Ahnungslosigkeit. Am
besten verstehen die DDR-Verhältnisse diejenigen, die aus der DDR geflohen oder
59 Den Beginn der offenen Debatte über diese Frage unter den Ostdeutschen im Zuge der Wende dokumentiert
z.B. Gruner, Petra (Hg.): Angepasst oder mündig? Briefe an Christa Wolf im Herbst 1989, Berlin 1990. Die Reden
von Joachim Gauck (s.A.1) und Richard Schröder: Einleitungsrede zur Verleihung des Nationalpreis 2009 für Erich
Loest, Monika Maron und Uwe Tellkamp, 16.6.2009, www.nationalstiftung.de/pdf/DNDNP09_Einleitung_
Schroeder.pdf, belegen eindrücklich, wie kontrovers dieser innerostdeutsche Diskurs nach wie vor geführt wird.
Vgl. dazu weiter die Ergebnisse einer Emnid-Umfrage zur Frage: „Wie bewerten die Deutschen die Ereignisse von
1989?“ unter www.bmvbs.de/Service/Mediathek-Publikationen/Fotoreihen-,2794.1083277/Ergebnisse-derEmnid-Umfrage-W.htm.
60 Vgl. näheres bei Rein, Ost-West-Differenzen, 12-15, A.4.
61 Ders., Ostdeutsche Identität, 56.
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Texte aus der VELKD Nr. 152
ausgewandert sind, weiter Kontakte zu ihren Ostverwandten gepflegt haben und beide Teile
Deutschlands aus erlebter Erfahrung kennen. Sie neigen am wenigsten zu DDR-Nostalgie oder
herablassender Verharmlosungen. ... Einen Zugang zur DDR-Wirklichkeit kann man nur durch
Erzählen gewinnen, in persönlichen Gesprächen oder im Film (Das Leben der anderen) oder im
Roman.“62
Dies lässt sich auf die Gegenwart übertragen: Am besten verstehen die Verhältnisse im jeweils
anderen Teil Deutschlands diejenigen, die eine Zeit lang im anderen Teil gelebt haben. Sie
haben verschiedene kulturelle Identitäten in einem Land erlebt und können beurteilen, was wie
zu verstehen und zu handhaben ist.
Neuere deutsche Filme lassen die Differenzen zwischen Ost und West sprechend werden für
existentielle Lebenserfahrungen von Menschen (Macht, Vertrauen, Liebe, Lebenssinn,
Heimat).63 Sie machen die spezifisch deutsche Situation durchsichtig für grundsätzliche
menschliche Fragen. Sie zeigen, dass es hier um mehr geht als um Übergangsprobleme. Es geht
um Menschen, um ihre Geschichte, ihre Identität, ihr Leben.
62
Vgl. A.31.
Siehe z.B. die Filme „Yella“ und „Jerichow“ von Christian Petzold und „Novemberkind“ von Christian
Schwochow.
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Bisher erschienen:
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Titel
Jahr
Teilnahme von Kindern am Abendmahl
Bibliographische Übersicht 1948
Bischofskonferenz der VELKD – Erklärung zur Ehe
Ordnungen für die Taufe von Kindern
Thesenreihe: Christliche Seelsorge heute
Theologischer Ausschuss der VELKD – Thesen zur Zwei-Reiche-Lehre
Bedeutung und Funktion der Confessio Augustana heute
Das Heilige Abendmahl in der Seelsorge an Alkoholgefährdeten
Freiheit und Bindung im Amt der Kirche
Das Herrenmahl – Arbeitshilfe zum Studiendokument
Gedanken und Maßstäbe zum Dienst von Homophilen in der Kirche
Das Leben bejahen – Aufgaben der Notlagenindikation
Stellungnahmen zum Jubiläum der Confessio Augustana
Die Confessio Augustana und die lutherische Kirche
Zur gastweisen Teilnahme an Eucharistie- bzw. Abendmahlsfeiern
Bibel – Gesangbuch – Gottesdienst – Stellungnahme der KL der VELKD
Baptisten und Lutheraner im Gespräch
Vertrauen wagen – Eine Orientierungshilfe aus dem LuKiA
Evangelischer Gottesdienst im Fernsehen – PA der VELKD und des DNK/LWB
Kirche und Frieden im atomaren Zeitalter
Zur Entwicklung von Kirchenmitgliedschaft
Martin Luther – Zeuge des Glaubens
Bericht des Arbeitskreises „Kirche und Judentum“ der KL der VELKD zum Verhältnis von
Christen und Juden
Vom Priestertum aller Gläubigen – LeiBi-Bericht Stoll - Generalsynode Coburg
Vorläufige Stellungnahme des Lima-Ausschusses der VELKD zu den Konvergenzerklärungen der
ÖRK „Taufe, Eucharistie und Amt“
Kundgebung der Bischofskonferenz „Einheit der Kirche“
Gegen Missverständnisse der „Lehre vom gerechten Krieg“
„Es muss die Kirche Kirche bleiben ...“ – LeiBi-Bericht Stoll Generalsynode Hildesheim
„Christus liebhaben ist viel besser als alle Weisheit“ – LeiBi-Bericht Stoll Generalsynode
Schleswig
Stellungnahmen der AKf und der VELKD zu den Konvergenzerklärungen von Lima zu Taufe,
Eucharistie und Amt
„...und willst das Beten von uns han“
„Du hast mich gebildet im Mutterleibe“ – Biotechnologie als Herausforderung
Stellungnahmen der VELKD zu den Dokumenten der Gemeinsamen römisch-katholischen/
evangelisch-lutherischen Kommission „Das Herrenmahl“ (1978) und „Das Geistliche Amt in der
Kirche“ (1981)
Ein Leib und viele Glieder - Lutherische Kirche zu Gemeinschaft berufen in Zeugnis und Dienst
(Stoll u. Fabiny) – Gen.Syn. Stadthagen
Ökumenische Bibelarbeiten: J. Gnanabaranam Johnson, Indien, Tasgara Hirpo, Äthiopien, Arteno
Spellmeier, Brasilien – Gen.Syn, Stadthagen
Ökumenischer Dialog über „Kirchengemeinschaft in Wort und Sakrament“
„Einheit vor uns“ - Stellungnahme der VELKD und des DNK/LWB zum Dokument der
Gemeinsamen römisch-katholischen/evangelisch-lutherischen Kommission „Einheit von uns
(1985)
Bibliographische Übersicht 1981-1990
„Hospiz-Bewegung“ - Ein Arbeitsbericht der Generalsynode der VELKD
Stellungnahme der Bischofskonferenz der VELKD zum Niagara-Bericht über Episkopé
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dto. in englischer Sprache
Der Mensch: Geschöpf oder Schöpfer? - Biotechnologie und christlicher Schöpfungsglaube
Stellungnahme zu „Lehrverurteilungen - kirchentrennend?“ (evang./röm.-kath.)
Gottes Wort bleibt in Ewigkeit – LeiBi-Bericht Müller - Gen.Syn. Königslutter
Bericht des Catholica-Beauftragten – Wilckens – Gen.Syn. Königslutter
Leben mit der Bibel – Prof. Hertzsch, Gen.Syn. Königslutter
Sakramentsverwaltung durch Vikarinnen und Vikare - Stellungnahme des Theol. Ausschusses der
VELKD
Die Hospizbewegung in der Bundesrepublik Deutschland
Stellungnahme der VELKD und des DNK zum lutherisch-reformierten Dialog
Stellungnahme der VELKD und des DNK zum baptistisch-lutherischen Dialog
„Glauben in unglaublicher Zeit“ (Hans Chr. Knuth) – Generalsynode Dresden
„Kirche und Stasi“ – Dokumentation von der Generalsynode Dresden
„Tier und Mensch“ – Interdisziplinärer Gesprächskreis der VELKD
Bericht vom Dialog VELKD/Mennoniten 1989 bis 1992
Materialsammlung über die Täuferbewegung / Anlage zu Nr. 53
Sterbenden Freund sein – Texte aus der Tradition der Kirche
Macht und Ohnmacht von Kirchenleitung / Hans Chr. Knuth
Catholica-Bericht der VELKD
Bericht des Leitenden Bischofs Hirschler – Gen.Syn. Schweinfurt
Konfirmation am Ende des 20. Jahrhunderts / Referate
„Macht Euch die Erde untertan“ – Sinn und Problematik eines Bibelwortes
Staat und Kirche in der DDR / Ernst-Heinz Amberg (Leipzig)
Bericht des Catholica-Beauftragten Dr. Knuth, Gen.Syn. Friedrichroda
Bericht des Leitenden Bischofs D. Hirschler, Gen.Syn. Friedrichroda
Von der Freiheit eines Christenmenschen / Hempel und Preiser
Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre (Entwurf aus Genf und Rom) Stellungnahme
des DNK/LWB vom 31. 01 1996
Gemeinschaft in versöhnter Verschiedenheit
Eucharistische Gastbereitschaft (VELKD und Mennoniten)
Die Anliegen des christlich-jüdischen Dialogs und der christliche Gottesdienst
Auf dem Weg zu neuen Arbeitsformen
Bericht des Leitenden Bischofs / Lüneburg
Bericht des Catholica-Beauftragten – Dr. Knuth, Gen.Syn. Lüneburg
Lutherisches Bekenntnis in ökumenischer Verpflichtung
Porvooer Gemeinsame Feststellung / Stellungnahme der VELKD
Dienst und Gestalt der Kirche / Bischofskonferenz der VELKD
Die Ehe als Leitbild... Gutachtliche Stellungnahme der VELKD
Leitlinien kirchlichen Lebens der VELKD (Entwurf)
Catholica-Bericht / Kühlungsborn
Bericht des Leitenden Bischofs / Kühlungsborn
Philipp Melanchton - Zur Erinnerung an einen Reformator und Lehrer der Kirche
Wozu brauchen wir Theologie?
GER - Stellungnahmen aus den Kirchen des DNK/LWB
Bericht des Leitenden Bischofs – D. Hirschler, Generalsynode Husum
Catholica - Bericht / Husum
Herausforderungen an die Gestaltung von Gottesdiensten / Dr. Ingrid Lukatis
Mensch – Gott – Menschwerdung – / Wiss. Symposion der VELKD in Tutzing
Die föderale Struktur des Protestantismus stärken
Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre. Alle offiziellen Dokumente von LWB und
Vatikan
Zur öffentlichen Wortverkündigung in den evangelisch-lutherischen Kirchen
Agende – Erneuerte Agende – Gottesdienstbuch / Ev. Agendenreform in der 2. Hälfte des
20. Jahrhunderts. von F. Schulz
Valentin Ernst Löscher (1673 bis 1749) - Texte zum 250. Todestag
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Catholica-Bericht / Braunschweig
Gottesdienst ohne Jugendliche!? – Vortrag von Prof. Dr. Christian Grethlein – Braunschweig
Bericht des Stellvertreters des Leitenden Bischofs – Landesbischof Roland Hoffmann /
Braunschweig
Auftrag, Aufgaben und Instrumente der VELKD, Strukturbericht von Präsident Friedrich-Otto
Scharbau
Kirche am Markt – Zum missionarischen Auftrag der VELKD – Bericht des bisherigen Leitenden
Bischofs, Landesbischof i.R. D. Horst Hirschler
Präsenzpflicht – Auf der Suche nach Leitmotiven für die Gestaltung des Pfarrerberufs –
Dokumentation des 46. Pastoralkollegs der VELKD
Festakt zur „Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ – Vollständige Dokumentation
Den Glauben weitergeben – Vorstellung der „Katechismusfamilie“ der VELKD
Bericht des Leitenden Bischofs, Bischof Dr. Hans Christian Knuth – Generalsynode 2000 in
Schneeberg
Unterwegs zur Gemeinschaft – Bericht des Catholica-Beauftragten, Landesbischof Dr. Johannes
Friedrich, Schneeberg
Der gemeinsame Auftrag der haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der
Kirche – Generalsynode Schneeberg
Mit Kindern Glauben leben – Konsultation vom 2. bis 4. November 2000 im Gemeindekolleg
der VELKD in Celle
40 Jahre Aus- und Fortbildung im Theologischen Studienseminar der VELKD in Pullach –
Dokumentation des. Festaktes am 24/25.11.2000
Leitlinien kirchlichen Lebens der VELKD – Kirchliche Lebensordnung (Entwurf)
Zum Thema Judenmission – Vortrag auf dem Kirchentag 2001 von Bischof Dr. Hans Christian
Knuth
Stellungnahme der Bischofskonferenz der VELKD zu Fragen der Bioethik – Klausurtagung der
Bischofkonferenz – 13. März 2001
Zum Gemeinsamen Zeugnis berufen – Bericht des Catholica-Beauftragten, Landesbischof
Dr. Johannes Friedrich, Bückeburg
Bericht des Leitenden Bischofs sowie Vorträge von Prof. Dr. M. Wolter und Prof. Dr. D. Korsch –
Generalsynode 2001 in Bückeburg
Vorträge der 6. Disziplinarrichtertagung der VELKD vom 8. bis 10. Juni 2001
Zur Bedeutung von Katechismen heute – Dokumentation einer Tagung des TKAB auf dem
Schwanberg im September 2001
Braucht die evangelische Kirche eine neue Struktur? Stellungnahme
Schranken der Religionsfreiheit – Vortrag von Axel Freiherr von Campenhausen
Bericht des Leitenden Bischofs der VELKD, Bischof Dr. Hans Christian Knuth (Schleswig) –
Bamberg
Vertrauen in die Ökumenische Gemeinschaft stiften – Bericht des Catholica-Beauftragten
Landesbischof Dr. Friedrich, Bamberg
Management und geistliche Kirchenleitung: Eine notwendige und beziehungsvolle
Unterscheidung v. Prof. Dr. Volker Weymann
Wenn Erwachsene (zurück) in die Kirche wollen – Konsultation zu Eintritt, Wiedereintritt und
Erwachsenentaufe
Worauf man sich verlassen kann – Festakt zur Verleihung des Valentin-Ernst-Löscher-Preises der
VELKD in Dresden
Leitlinien: Diskurs vor dem Wagnis der evangelischen Freiheit – von Landesbischof Dr. Friedrich
Weber (Wolfenbüttel)
Braucht die evangelische Kirche eine neue Struktur? Diskussionsbeiträge und Beschlüsse (Teil 2)
Zuversicht trotz Zwischentief – Bericht des Catholica-Beauftragten Landesbischof Dr. Johannes
Friedrich, Stade
Haushalter über Gottes Geheimnisse – Bericht des LeiBi der VELKD, Bischof Dr. H. Chr. Knuth,
Stade
Was ist zu bedenken, wenn eine Kirche nicht mehr als Kirche genutzt wird? – Leitlinien des
Theologischen Ausschusses
Ökumene nach evangelisch-lutherischem Verständnis – Positionspapier der Kirchenleitung der
VELKD
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Perspektiven der Liturgiewissenschaft – Festvortrag von Prof. Dr. Karl-Heinrich Bieritz
Fortschritte der Trauerforschung – Vortrag von Dr. Kerstin Lammer (Schwerte) –
Bischofskonferenz März 2004 in Bückeburg
Braucht die evangelische Kirche eine neue Struktur? Diskussionsbeiträge und Beschlüsse (Teil 3)
In ökumenischer Gesinnung handeln – Bericht des Catholica-Beauftragten, Landesbischof
Dr. Johannes Friedrich
Lutherische Spiritualität – Glauben im Alltag der Welt – Bericht des Leitenden Bischofs der
VELKD, Bischof Dr. H. Chr. Knuth
Dialogfähigkeit und Profil – Apologetik in biblisch-reformatorischer Orientierung
Allgemeines Priestertum, Ordination und Beauftragung nach evangelischem Verständnis –
Empfehlung der Bischofkonferenz der VELKD
Konsultation zu Fragen der Kirchenmitgliedschaft – Theologische und juristische Aspekte und
ihre praktisch-theologischen Konsequenzen
Den einmal begonnenen Weg im festen Blick auf die Zukunft fortsetzen – Bericht des CatholicaBeauftragten, Landesbischof Dr. J. Friedrich
Zuversicht allein auf Gott – Bericht des Leitenden Bischofs der VELKD, Bischof Dr. H. Chr.
Knuth
„... rechtmäßig Kriege führen ...“ – Lutherische Stellungnahme zur Bedeutung von Art. 16 des
Augsburger Bekenntnisses
Was ist „lutherisch“? – Feierstunde zum 70. Geburtstag von Präsident i.R. Dr. Friedrich-Otto
Scharbau
„Ordnungsgemäß berufen“ – Eine Empfehlung der Bischofskonferenz der VELKD zur Berufung
zu Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung nach evangelischem Verständnis
Es sind viele Glieder, aber der Leib in einer. – Bericht des Catholica-Beauftragten, Landesbischof
Dr. Friedrich Weber – Ahrensburg
Zeugen der Wahrheit Gottes – Bericht des Leitenden Bischofs der VELKD, Landesbischof Dr.
Johannes Friedrich – Ahrensburg
Ökumenisch den Glauben bekennen. Das Nicaeno-Constantinopolitanum von 381. Stellungnahmen der VELKD
„Breit aus die Flügel beide“ Dokumentation der Verleihung des Paul-Gerhardt-Preises der VELKD
Räume der Begegnung. Bericht des Catholica-Beauftragten der VELKD, Goslar
Ein Herr, ein Glaube, eine Taufe. Bericht des Leitenden Bischofs der VELKD, Goslar
Positionspapier zur Einbringung der ökumenischen Dimension in den EKD-Reformprozess –
Handlungsempfehlungen der Kirchenleitung der VELKD
„Können etwa zwei miteinander wandern, sie seien denn einig untereinander?“ - Bericht des
Catholica-Beauftragten, LB Prof. Dr. Friedrich Weber – Zwickau
Anvertraute Talente – von der Zukunftsfähigkeit des lutherischen Erbes – Bericht des Leitenden
Bischofs der VELKD, LB Dr. Johannes Friedrich, Zwickau
„20 Jahre nach dem Fall der Mauer: Woher wir kommen – wer wir sind!“ –
Ost-/West-Differenzen in der nichtkirchlichen u. kirchlichen Binnen- und Außenwahrnehmung
Konstituierende Sitzung der 11. Generalsynode der VELKD in Würzburg – 30. April bis 1. Mai
2009 – Vorträge und Berichte
„Das neue Lied als Lied vom Kreuz“ (Martin Luther)!? – Volker Weymann
„Es ist der Glaube aber eine feste Zuversicht“ – Bericht des Leitenden Bischofs vor der
Generalsynode der VELKD 2009 in Ulm
„Beziehungen vertiefen in einer komplexen ökumenischen Landschaft“ – Bericht des CatholicaBeauftragten der VELKD
„Familie – von der Bedeutung und vom Wandel einer elementaren Lebensform“ –
Bericht von der Klausurtagung der Bischofskonferenz der VELKD
„Woher wir kommen – wer wir sind!“ – der Weg der evangelischen Kirche in Ost- und
Westdeutschland von 1989 bis 2009, Dokumentation eines Studienkurses im Theologischen
Studienseminar der VELKD in Pullach vom 26.4. bis 1.5.2009
Ab Nummer 86 sind die Texte unter www.velkd.de abrufbar.
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2010
Texte aus der VELKD Nr. 152
Aktuelle Publikationen
„Wochenschluss und Sonntagsbegrüßung“
Diese liturgische Handreichung kann ab Dezember 2009 über das Amt der VELKD zum Preis
von 4,00 Euro zzgl. Porto angefordert werden.
Amt der VELKD
Herrenhäuser Str. 12
30419 Hannover
Tel.: (0511) 2796 – 438
Fax.: (0511) 2796 – 182
E-Mail: versand@velkd.de
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Texte aus der VELKD Nr. 152
„Die Visitation – Eine Studie des Theologischen Ausschusses der VELKD“
Die Studie kann über das Amt der VELKD zum Preis von 4,00 Euro zzgl. Porto angefordert
werden.
Amt der VELKD
Herrenhäuser Str. 12
30419 Hannover
Tel.: (0511) 2796 – 422
Fax.: (0511) 2796 – 182
E-Mail: versand@velkd.de
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Texte aus der VELKD Nr. 152
„Alle Achtung“
Zuvorkommend sein, meinen Mitmenschen Respekt erweisen, ihnen mit Achtung begegnen –
das sind keine verstaubten, altmodischen Höflichkeitsformen, sondern zukunftsweisende,
lebensbejahende Über-Lebens-Gesten.
Der Band „Alle Achtung! Respekt tut gut“ kann über den Buchhandel bezogen sowie direkt
beim Gütersloher Verlagshaus bestellt werden. Im Internet steht er unter
http://www.velkd.de/downloads/alleachtung.pdf kostenlos zum Download bereit.
Für weitere Fragen stehen Ihnen gerne Mitarbeiter des Amtes der VELKD zur Verfügung.
Tel.: (0511) 2796 – 421
Fax.: (0511) 2796 – 182
E-Mail: versand@velkd.de
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ISSN 1617-0733
Herausgeber/Bezugsadresse:
Amt der VELKD, Postfach 21 02 20, 30402 Hannover
Telefon: 0511/2796-533, Telefax: 0511/2796-182
E-Mail: versand@velkd.de